Christus peregrinus: Christologie auf dem Weg in die Fremde 3374071198, 9783374071197

Jesus war ein Grenzgänger. Sein Weg führte ihn über Galiläa hinaus an fremde Orte. Eine Christologie, die an seinem Weg

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German Pages 488 [489] Year 2022

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Vorwort
Inhalt
Einleitung: Christologie auf dem Weg in die Fremde
A. CHRISTOLOGIE UNTERWEGS: AUF DEM WEG ZU EINER NARRATIVEN CHRISTOLOGIE
I. Christus peregrinus: Narrative Christologie als Christologie auf dem Weg in die Fremde
II. Christologie erzählen?: Dogmatische Explorationen zu einer narrativen Christologie im Gespräch mit Karl Barth und Friedrich Mildenberger
B. CHRISTOLOGIE INNERKONFESSIONELL: AUF EINEM REFORMIERTEN WEG ZU EINER TRINITARISCHEN HERMENEUTIK DER REDE VON CHRISTUS UND DEM GEIST
III. Der geistgesalbte Christus: Trinitätstheologische Erwägungen zur umstrittenen Geistchristologie
IV. Geistchristologie im Heidelberger?: Bemerkungen zu einer umstrittenen These
C. CHRISTOLOGIE INTERKONFESSIONELL: AUF EINEM ÖKUMENISCHEN WEG ZU EINER TRAGFÄHIGEN SOTERIOLOGIE
V. »Welch ein Freund ist unser Jesus«: Ein freundschaftstheologischer Zugang zur Lehre vom dreifachen Amt
VI. Wiedergeburt?: Erwägungen zur dogmatischen Revision eines diskreditierten Begriffs
D. CHRISTOLOGIE INTRADISZIPLINÄR: AUF DEM WEG ZU EINEM GESPRÄCH DER THEOLOGISCHEN DISZIPLINEN (EXEGESE UND PRAKTISCHE THEOLOGIE)
VII. Der sogenannte historische Jesus und der erinnerte Christus: Oder: Martin Kähler, der Jesus-Memory-Approach und das Chamäleon auf dem Holzweg
VIII. Vom Praktisch-Werden der Christologie: Oder: Wie Barth und Bultmann Weihnachten feiern
E. CHRISTOLOGIE RELIGIONSUNTERRICHTLICH: AUF DEM WEG ZU EINER CHRISTOLOGIEDIDAKTIK IM KONTEXT DER SCHULE
IX. Dem Geheimnis der Sohnschaft auf der Spur oder: Wer ist Jesus?: Annäherungen an eine Christologiedidaktik anhand biblischer Texte zum Sohn-Gottes-Prädikat im Markusevangelium
X. Jesus als Vorbild?: Christologische Impulse Dietrich Bonhoeffers zum ethischen Lernen anhand von kritisch-gebrochenen Vorbildern
F. CHRISTOLOGIE INTERKULTURELL: AUF DEM WEG ZU EINER KULTURELLEN BEGEGNUNG MIT KUNST, PHILOSOPHIE UND FUSSBALL
XI. »Der langhaarige Penner«. Oder: Wider die Verblüffungsresistenz Was ein Christ von einem »Heiden« kreuzestheologisch lernen kann
XII. Das Chalcedonense und die Kaninchenente: Ludwig Wittgensteins Vexierbild als Artikulationshilfe für die Zweinaturenlehre
XIII. Cristo y Cristiano, oder: Von der Menschwerdung des Fußballgottes Ronaldo: Ein profanes Gleichnis
G. CHRISTOLOGIE INTERRELIGIÖS: AUF DEM WEG ZU EINER THEOLOGIE DER RELIGIONEN
XIV. »Das gewisse Extra!« Oder: Christologie als »Türöffner«?: Das »Extra-Calvinisticum« und die »Lichterlehre« Karl Barths als Zugänge zu einer Theologie der Religionen
XV. »Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes«: Die christologische Pointe des Bilderverbots als Zentrum theologischer Religionskritik
Backmatter
Liste der Erstveröffentlichungen
Personenregister
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Christus peregrinus

Marco Hofheinz

Christus peregrinus Christologie auf dem Weg in die Fremde

EVANGELISCHE VERLAGS ANSTALT Leipzig

Marco Hofheinz, Dr. theol., Jahrgang 1973, studierte Evangelische Theologie in Wuppertal, Bonn, Tübingen, Lexington (Kentucky), an der Duke University (North Carolina) und in Göttingen. Er ist Professor für Systematische Theologie an der Leibniz Universität Hannover und Sprecher des Forschungsforums »Religion im kulturellen Kontext«.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2022 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig Printed in Germany Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt. Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig Satz: Anna Lena Schwarz, Siegen Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen ISBN Print 978-3-374-07119-7 // eISBN (PDF) 978-3-374-07120-3 www.eva-leipzig.de

Für Georg Plasger zum 60. Geburtstag

Vorwort

Antrittsvorlesungen haben in der Regel programmatischen Charakter. So war es auch in unserem Fall. Etwas verspätet konnte ich im Oktober 2019 an der Leibniz Universität Hannover gemeinsam mit meiner religionspädagogischen Kollegin Monika E. Fuchs und meinem neutestamentlichen Kollegen Nils Neumann meine Antrittsvorlesung mit dem Titel »Christus peregrinus. Narrative Christologie als Christologie auf dem Weg in die Fremde« halten.1 Dort habe ich erstmalig den Leitgedanken entfaltet, der auch diesem Band zugrunde liegt und ihn in verschiedene Richtungen entfaltet. Er besagt in nuce, was bereits im Titel Christus peregrinus zur Sprache kommt: Jesus war ein Grenzgänger. Sein Weg führte ihn über Galiläa hinaus an fremde Orte. Eine Christologie, die seinem Weg folgt, wird sich nicht scheuen, ihrerseits christologische Grenzgänge zu wagen. Sie öffnet sich interkonfessionell, interkulturell und interreligiös – auch innerkonfessionelle und intradisziplinäre Bezüge wird sie stark machen im Interesse an der Begegnung mit dem Fremden, als der sich Christus selbst immer wieder zeigt. Der Weg, den die Christologie dabei beschreitet, wird im vorliegenden Band gekennzeichnet als ein Weg zu einer narrativen Christologie, die sich aus einer trinitarischen Hermeneutik heraus entwickelt, eine freundschaftstheologische Soteriologie beinhaltet, als systematisch-theologischer Beitrag im freundschaftlich-kollegialen Gespräch mit Exegese und Praktischer Theologie steht, eine eigene Christologiedidaktik impliziert, eine reli­gionskritisch belehrte Theologie der Religionen fordert und kulturelle Begegnung mit Kunst und Fußball ermöglicht. Die einzelnen Aufsätze, die ich in diesem Buch zu einem Band zu komponieren versucht habe, sind in den letzten zehn Jahren zu ganz unterschiedlichen Anlässen verfasst worden; beginnend mit meinem Berner Habilitationsvortrag aus dem Jahr 2010, der damals den Auftakt bildete. Der vorgelegte Band möchte in seinen einzelnen Beiträgen und im Gesamt der Durchführung zeigen, dass die narrative Form umschließen kann, was sonst nicht zusammenkommen würde. Nur der Weg verbindet, was sonst disparat bliebe. Diese Einsicht möge jedenfalls 1

M.E. Fuchs / M. Hofheinz / N. Neumann, Unterwegs in die Fremde. Narrative Christologie im Gespräch der Disziplinen, Stuttgart 2021.

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Vorwort

im vorliegenden Band zutage treten. Sie gilt auch für Gott und Mensch. Beide kommen in einer Erzählung, nicht in irgendeinem denkbaren oder gegebenen Zusammenhang, zusammen vor, weil diese »story« von Gott selbst in Gang gesetzt ist. Das verstärkt und bestätigt die Wegmetapher. Insbesondere Karl Barth hat Theologie und Kirche daran nachdrücklich vor allem in der Versöhnungslehre seiner »Kirchlichen Dogmatik« erinnert. Besonders zupackend scheint mir an seiner Erinnerung der Einschluss der Ethik in die Beschreibung des In-die-Geschichte-Hineingezogen-Werdens zu sein. Ich danke allen, die mich ermutigt haben, diesen Weg zu betreten und einen narrativen Ansatz zu »gehen«, der beim Erzählen der Evangelien anknüpft. Hier sind als erstes meine Lehrer zu nennen: Wolfgang Lienemann (Bern) und Hans G. Ulrich (Erlangen). Beide haben Ethik nie mit Scheuklappen betrieben, sondern sich als theologische Ethiker getraut, in ihrer ethischen Urteilsbildung auch auf dogmatische Begründungszusammenhänge zurückzugreifen. Auch Eberhard Busch (Göttingen) erwähne ich in diesem Zusammenhang ausdrücklich, wenngleich er mit der reformierten Theologie einen anderen Arbeitsschwerpunkt hat. Alle drei gaben mir je auf ihre Weise thematisch-inhaltliche Wegweisung und – wann immer nötig – auch Geleitschutz, damit ich meinen Weg finden konnte. Dafür sei ihnen herzlich gedankt. Nicht minder ermutigend waren die Impulse, die ich von Georg Plasger (Siegen) empfing. Mit ihm habe ich viele der in diesem Buch entfalteten Gedanken gleichermaßen tentativ wie intensiv, tentativ-intensiv wie intensiv-tentativ, durchdacht. Georg ist dieser Band in Dankbarkeit für die langjährige Weggemeinschaft zum 60. Geburtstag gewidmet. Bereits als Student durfte ich ihm bei seiner Arbeit über die Schulter schauen. Ebenso wie meine Lehrer Eberhard Busch, Wolfgang Lienemann und Hans G. Ulrich hat er mich früh gefördert und bei allen Schritten ermutigt und unterstützt. Dafür sei ihm herzlich gedankt. Weggeleit empfing ich in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen von Heinrich Assel (Greifswald), Guido Bausenhart (Hildesheim/Rottenburg), Peter D. Browning (Springfield, Missouri), Peter Bukowski (Wuppertal), Jürgen Fangmeier (Wuppertal), Martin Hailer (Heidelberg), Stanley Hauerwas (Duke University), Gerard den Hertog (Apeldoorn), Otfried Hofius (Tübingen), George Hunsinger (Princeton), Reinhard Hütter (Washington/Durham), J. Christine Janowski (Bern/ Tübingen), Michael K. Kinnamon (Lexington, Kentucky), Bertold Klappert (Wuppertal), Johannes von Lüpke (Wuppertal), Ernstpeter Maurer (Dortmund), Hanna Roose (Bochum), Geoffrey Wainwright (Duke University), Michael Weinrich (Bochum) und Rolf Wischnath (Gütersloh). Gedankt sei für intensive Weggemeinschaft fernerhin der Eskorte von älteren und jüngeren Freundinnen und Freunden, die ich gerne nenne: Michael Coors (Zürich), Achim Detmers (Hannover), Margit Ernst-Habib (Saarbrücken/Hannover), Jens Heckmann (Dortmund), Wilhelm Hofius (Hilchenbach), Helmut Hollenstein (Bad Berleburg), Dieter Kuhli (Bad Laasphe), Ulf Lückel (Kloster Amelungsborn), Frank Mathwig (Bern), Christoph Meyer (Siegen) und Matthias Zeindler (Bern).

Vorwort

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Fernerhin möchte ich ausdrücklich meine aktuellen Mitarbeiter nennen und ihnen – ebenso wie meinen Hilfskräften Franziska Bruns, Patrick Franz, Lea Guthörl und Benjamin Teichrib – herzlich danken: namentlich Dr. Raphael Döhn, Dr. Kai-Ole Eberhardt, Dr. Hendrik Niether und Jan-Philip Tegtmeier. In den Dank sind auch meine Kollegin Monika E. Fuchs und mein Kollege Nils Neumann, unsere Sekretärin Frau Silvia Hermerding, sowie unsere Vorgänger Ulrich Becker, Friedrich Johannsen und Harry Noormann eingeschlossen. Für die verlegerische Betreuung danke ich sehr herzlich der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig und insbesondere Frau Christina Wollesky und Frau Dr. Annette Weidhas. Den Drucksatz hat dankenswerter Weise Frau Anna Lena Schwarz (Universität Siegen) erstellt. Für großzügige Druckkostenzuschüsse danke ich der Karl Barth-Gesellschaft, der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers, der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe und der Evangelisch-Reformierten Kirche mit Sitz in Leer. Einzigartig ist die Lebens- und Weggemeinschaft mit meiner Familie, meiner Frau Dörte und unseren Kindern Daniel, Hanna, Amelie und Jakob. Dankbar sind wir auch für das gemeinsame Leben in der Großfamilie unserer Eltern und Geschwister. Sie ist für uns ein besonderer Raum der Christo-Praxie. Schlussendlich möchte ich dem Präsidium der Leibniz Universität Hannover für die Gewährung eines Forschungssemesters im Sommersemester 2021 danken. Es hat mir ermöglicht, diesen Band zusammenzustellen, der meinen eigenen Denkweg dokumentiert. Wie bei allen theologischen Denkwegen geht es auch hier um jenes Zeugnis, das im Dienst der Wegbereitung steht: ‫» – ַּפּנּו־ֶּד ֶרְך‬Bereitet den Weg« (Jes 57,14).2 Hagenburg am Steinhuder Meer, am Sonntag Trinitatis 2021 Marco Hofheinz

2

Zur Wegbereitung vgl. D. Bonhoeffer, Ethik, DBW 6, hg. von I. Tödt u.a., München 1992, 153–160.

Inhalt Einleitung Christologie auf dem Weg in die Fremde..............................................................13

a. Christologie unterwegs Auf dem Weg zu einer narrativen Christologie I. II.

Christus peregrinus Narrative Christologie als Christologie auf dem Weg in die Fremde...... 39 Christologie erzählen? Dogmatische Explorationen zu einer narrativen Christologie im Gespräch mit Karl Barth und Friedrich Mildenberger.............................. 73

b. Christologie innerkonfessionell Auf einem reformierten Weg zu einer trinitarischen Hermeneutik der Rede von Christus und dem Geist III. Der geistgesalbte Christus Trinitätstheologische Erwägungen zur umstrittenen Geistchristologie............................................................................................ 103 IV. Geistchristologie im Heidelberger? Bemerkungen zu einer umstrittenen These.............................................. 129

c. Christologie interkonfessionell Auf einem ökumenischen Weg zu einer tragfähigen Soteriologie V. »Welch ein Freund ist unser Jesus« Ein freundschaftstheologischer Zugang zur Lehre vom dreifachen Amt................................................................................................................... 143 VI. Wiedergeburt? Erwägungen zur dogmatischen Revision eines diskreditierten Begriffs............................................................................................................ 165

d. Christologie intradisziplinär Auf dem Weg zu einem Gespräch der theologischen Disziplinen (Exegese und Praktische Theologie) VII. Der sogenannte historische Jesus und der erinnerte Christus Oder: Martin Kähler, der Jesus-Memory-Approach und das Chamäleon auf dem Holzweg............................................................................................ 189

12

Inhalt

VIII. Vom Praktisch-Werden der Christologie Oder: Wie Barth und Bultmann Weihnachten feiern............................... 217

e. Christologie religionsunterrichtlich Auf dem Weg zu einer Christologiedidaktik im Kontext der Schule IX. Dem Geheimnis der Sohnschaft auf der Spur oder: Wer ist Jesus? Annäherungen an eine Christologiedidaktik anhand biblischer Texte zum Sohn-Gottes-Prädikat im Markusevangelium........................ 251 X. Jesus als Vorbild? Christologische Impulse Dietrich Bonhoeffers zum ethischen Lernen anhand von kritisch-gebrochenen Vorbildern............................ 287

f. Christologie interkulturell Auf dem Weg zu einer kulturellen Begegnung mit Kunst, Philosophie und Fußball XI. »Der langhaarige Penner«. Oder: Wider die Verblüffungsresistenz Was ein Christ von einem »Heiden« kreuzestheologisch lernen kann.................................................................................................... 317 XII. Das Chalcedonense und die Kaninchenente Ludwig Wittgensteins Vexierbild als Artikulationshilfe für die Zweinaturenlehre.................................................................................... 347 XIII. Cristo y Cristiano, oder: Von der Menschwerdung des Fußballgottes Ronaldo Ein profanes Gleichnis.................................................................................. 373

g. Christologie interreligiös Auf dem Weg zu einer Theologie der Religionen XIV. »Das gewisse Extra!« Oder: Christologie als »Türöffner«? Das »Extra-Calvinisticum« und die »Lichterlehre« Karl Barths als Zugänge zu einer Theologie der Religionen........................................ 401 XV. »Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« Die christologische Pointe des Bilderverbots als Zentrum theologischer Religionskritik...................................................................... 449 Liste der Erstveröffentlichungen......................................................................... 455 Personenregister.................................................................................................... 459 Bibelstellenregister................................................................................................ 469 Sachregister............................................................................................................ 477

Einleitung Christologie auf dem Weg in die Fremde

1. Christologie… Christologie als Themaregel Christologie ist nicht einfach nur ein Locus der Theologie neben vielen anderen.1 Treffend hat jüngst Martin Hailer auch meine Überzeugung zur Sprache gebracht: »Mit ›Christologie‹ wird […] besser nicht ein tendenziell isolierbarer Topos der Dogmatik bezeichnet. Vielmehr steht der Terminus dafür, dass christliche Theologie nicht anders kann, als ihre Themen von der Selbsterschließung Gottes in Christus her zu gewinnen und/oder an ihr zu prüfen: Christologie ist eine Themaregel theologischen Räsonnements überhaupt, erst in zweiter Linie ein Paragraph oder ein Kapitel der Dogmatik neben anderen.«2

Themaregel, ein Dalferth’scher Diktion entspringender Terminus,3 den auch Heinrich Assel in seiner dreibändigen Christologie übernommen hat,4 meint nach Hailer »eine Festlegung, die nicht als Obersatz eines Schlusses oder als Definition gemeint ist, der aber wohl keine Aussage im ihr zugehörigen Bereich widersprechen darf: Bei weitem nicht alle Sätze der Theologie sind explizit christologisch, keiner aber bliebe theologisch, der den Basiseinsichten der Christologie widerspricht.«5 Doch um welche Basiseinsichten der Christologie handelt es sich dabei? Und von welcher Christologie ist überhaupt die Rede? Man muss nur die MacIntyre-Frage6 stellen und im übertragenen Sinne fragen: »Whose Jesus? Which Chris-

1

Vgl. zur Loci-Methode: D. Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 21988, 145–147. 2 M. Hailer, Christologie – judentumsvergessen, antijüdisch? Eine Sichtung neuerer Entwürfe, in: A. Deeg u.a. (Hg.), Dialogische Theologie. Beiträge zum Gespräch zwischen Juden und Christen und zur Bedeutung rabbinischer Literatur, Leipzig 2020, (89–107) 89. 3 Vgl. I.U. Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, 29. 4 H. Assel, Elementare Christologie. Erster Band: Versöhnung und neue Schöpfung, Gütersloh 2020, 32–35. 5 Hailer, Christologie, 89. 6 Vgl. A. MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame 1988.

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Einleitung

tology?«, um sofort in die Kontroverse einzutauchen, die die Themaregel umgibt. Sie bestimmt zweifellos die aktuelle Diskurslage.7 Hier sei auch auf die polyzentrische Realität von Christusbildern verwiesen, die durch postkoloniale und gendertheologische Fragestellungen immer mehr in den Fokus rücken.8 Insbesondere hinsichtlich der Basiseinsichten der Christologie besteht Unklarheit, Gesprächsbedarf, Vergessenheit – je nachdem, wie man akzentuieren möchte. Mir tritt unwillkürlich eine Lektüreerfahrung in Erinnerung, die ich bei zwei interessanten Vorträgen der beiden »Altmeister« Tübinger Exegese, nämlich der beiden protestantischen Neutestamentler Martin Hengel9 und Peter Stuhlmacher10, machte, die diese im Jahr 2008 auf einer Tagung über »Jesus von Nazareth« in Castelgandolfo hielten. Der damalige Papst Benedikt XVI. hatte beide und seinen Schülerkreis dorthin eingeladen. Die Aussprachen nach den Referaten sind gleichermaßen dokumentiert11 und gewähren Einblick in das ökumenische Gespräch. Es fällt auf, wie verschieden doch die prägenden konfessionellen Kontexte sind und wie stark sie die Interessen und Herangehensweisen der Exegetinnen und Exegeten präjudizieren. Insbesondere das Eingeständnis Martin Hengels gibt zu denken, das dieser ganz unverblümt im Nachgespräch formulierte und das mir hinsichtlich der eingangs erwähnten Themaregel nicht aus dem Sinn geht: »In Wirklichkeit ist der präexistente, menschgewordene, gekreuzigte und zu Gott erhöhte Herr als Person, auch im Blick auf die Trinität, dem Protestantismus teilweise abhanden gekommen.«12 Diese Aussage bezieht Hengel – notabene – nicht etwa auf jüngste Entwicklungen in den fachwissenschaftlichen Diskursen der Exegese und Systematischen 7

Vgl. zur aktuellen Diskurslage M. Hofheinz, »Wer ist Christus für uns heute?« (D. Bonhoeffer). Einleitung in die neuere christologische Debatte, in: M. Hofheinz / K.-O. Eberhardt unter Mitarbeit von J.-Ph. Tegtmeier (Hg.), Gegenwartsbezogene Christologie. Denkformen und Brennpunkte angesichts neuer Herausforderungen, Dogmatik in der Moderne (DoM) 29, Tübingen 2020, 3–42. 8 Vgl. M. Ernst-Habib, Salvator Mundi – Heiland der Welt? Christologische Motive und Anfragen für (postkoloniales) Theologisieren, in: M. Hofheinz / K.-O. Eberhardt unter Mitarbeit von J.-Ph. Tegtmeier (Hg.), Gegenwartsbezogene Christologie. Denkformen und Brennpunkte angesichts neuer Herausforderungen, Dogmatik in der Moderne (DoM) 29, Tübingen 2020, 209–242. 9 M. Hengel, Zur historischen Rückfrage nach Jesus von Nazareth. Überlegungen nach der Fertigstellung eines Jesusbuches, in: Gespräch über Jesus. Papst Benedikt XVI. im Dialog mit Martin Hengel, Peter Stuhlmacher und seinen Schülern in Castelgandolfo 2008, im Auftrag der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung hg. von P. Kuhn, Tübingen 2010, 1–29. 10 P. Stuhlmacher, Jesu Opfergang, Gespräch über Jesus. Papst Benedikt XVI. im Dialog mit Martin Hengel, Peter Stuhlmacher und seinen Schülern in Castelgandolfo 2008, im Auftrag der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung hg. von P. Kuhn, Tübingen 2010, 63–84. 11 Gespräch über Jesus. Papst Benedikt XVI. im Dialog mit Martin Hengel, Peter Stuhlmacher und seinen Schülern in Castelgandolfo 2008, im Auftrag der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung hg. von P. Kuhn, Tübingen 2010. 12 Hengel, Zur historischen Rückfrage nach Jesus von Nazareth, 46.

Christologie als Themaregel

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Theologie, ja auch nicht einfach auf Weichenstellungen der sog. »Bultmann-Debatte«13 der Nachkriegszeit, sondern auf eine viel weitreichendere theologiegeschichtliche Konstellation, die die Neuzeit14 charakterisiere: »Das geht freilich auf Bultmann zurück; vielmehr wäre zu fragen, welche Rolle etwa schon Schleiermacher auf diesem Wege gespielt hat. Um so mehr gilt es heute, am erhöhten Herrn und Gottessohn festzuhalten, weil in ihm, d.h. ›in Christus‹, sich die Restitution der gefallenen Menschheit ereignet hat. Dies ist zusammen mit dem Gedanken der Inkarnation des göttlichen Logos die entscheidende Aussage der neutestamentlichen Christologie, die die Grundlage zur altkirchlichen Lehrentwicklung legt.«15

Hengel spielt an auf Schleiermachers Christologie des urbildlichen Gottesbewusstseins. Schleiermacher wurde sich um die Wende vom 18. auf das 19. Jahrhundert dessen bewusst, dass die Zweinaturenlehre und die Satisfaktionslehre zu den »harten Brocken«16 der Christologie gehören. Die traditionelle Zweinaturenlehre etwa möchte Schleiermacher »dem Archiv der Dogmengeschichte übergeben«.17 So bemerkt er in seiner »Glaubenslehre«, dass aus »der hier dargelegten Beschaffenheit des Seins Gottes in Christo und der Notwendigkeit, die Behandlung des höchsten Wesens als eine Natur aufzugeben, so wie aus dem, was schon über die göttlichen Eigenschaften gelehrt worden, […] schon von selbst« folge, »daß die Theorie von einer gegenseitigen Mitteilung der Eigenschaften beider Naturen anei­ nander ebenfalls aus dem Lehrbegriff zu verweisen und der Geschichte desselben zu überliefern ist.«18

13

Vgl. M. Theobald, Bultmannrezeption in der Jesusforschung, in: Ch. Landmesser (Hg.), Bultmann Handbuch, Tübingen 2017, 416–422; K. Hammann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 32012, 433–441. 14 Vgl. J. Rohls, Mensch versus Gott – Die Entzauberung des christologischen Dogmas, in: L. Mödl u.a. (Hg.), Das Wesen des Christentums, Münchener Theologische Forschungen 1, Göttingen 2003, 231–257; Ch. Danz / G. Essen (Hg.), Dogmatische Christologie in der Moderne. Problemkonstellationen gegenwärtiger Forschung, ratio fidei 70, Regenburg 2019; Ch. Danz / M. Hackl (Hg.), Transformation der Christologie. Herausforderungen, Krisen und Umformungen, WFTR 17, Göttingen 2019; B. Dahlke, Theismus und Christologie. Zu einem spannungsreichen Verhältnis, in: T. Marschler / T. Schärtl (Hg.): Herausforderungen und Modifikationen des Klassischen Theismus. Bd. 2: Inkarnation, Studien zur systematischen Theologie, Ethik und Philosophie 16, Münster 2020, 43–74. 15 Hengel, Zur historischen Rückfrage nach Jesus von Nazareth, 46. 16 C. Schröder-Field, Jesus Christus – wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch, in: E. Maurer (Hg.), Grundlinien der Dogmatik, Rheinbach 2005, (161–180) 174. 17 So O. Bayer, Das Wort ward Fleisch. Luthers Christologie als Lehre von der Idiomenkommunikation, in: ders., Zugesagte Gegenwart, Tübingen 2007, (126–164) 155. 18 F.D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 2, hg. von M. Redeker, Berlin 1960, 74 (§ 97,5).

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Einleitung

Schleiermacher konstruiert eine geschichtliche Urbildchristologie19 des idealen Menschen,20 der zufolge Christus das Urbild des Gottesbewusstseins ist, das uns kraft des Eindrucks seines unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins hi­ neinziehe in die »Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins«.21 Es sind die Hemmungen und Trübungen dieses unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins auf Seiten des Menschen, weshalb dieser Christi als des Menschen mit dem maximalen Gottesbewusstsein bedürfe.22 Wolfhart Pannenberg gelangt zu einer ähnlichen Einschätzung wie Hengel, wenn er bemerkt: »Er [Schleiermacher] konstruiert die Christologie aus der Notwendigkeit eines Urhebers für das neue ›Gesamtleben‹ der Menschheit […]. Die aus diesem Ansatzpunkt nicht ableitbaren Elemente der christologischen Tradition überließ Schleiermacher der Kritik.«23 Die pointierte Lagebeurteilung Martin Hengels hat mich sehr nachdenklich gemacht; sie entspricht allerdings den Beobachtungen nicht weniger theologischer Zeitgenossinnen und -genossen und dies keineswegs weniger im Blick auf Kirche und Schule als auf die akademische Wissenschaft im engeren Sinne. Viele alltägliche Lese- und Hörerfahrungen bestätigen dies. Als resignierende altväterliche Larmoyanz möchte Hengel seine Aussage freilich nicht verstanden wissen, sondern viel eher als ein theologisches Desiderat, diesen Verlust nicht stehen zu lassen, ihn zu bearbeiten und womöglich abzubauen. Es geht Hengel – mit Karl Barth gesprochen – darum, sich kritisch zu verhalten, »das Gestrige kritisierend, um das Morgige zu korrigieren.«24 19

Zur Geschichtlichkeit des Urbildlichen vgl. Schleiermacher, Glaubenslehre 2, 34 (§ 93): »Soll die Selbsttätigkeit des neuen Gesamtlebens ursprünglich in dem Erlöser sein und von ihm allein ausgehen: so mußte er als geschichtliches Einzelwesen zugleich urbildlich sein; d.h. das Urbildliche mußte in ihm vollkommen geschichtlich werden, und jeder geschichtliche Moment desselben zugleich das Urbildliche in sich tragen.« 20 Vgl. Schleiermacher, Glaubenslehre 2, 77 (§ 98): »Christus war von allen andern Menschen unterschieden durch seine wesentliche Unsündlichkeit und seine schlechthinnige Vollkommenheit.« 21 Vgl. Schleiermacher, Glaubenslehre 2, 90 (§ 100): »Der Erlöser nimmt die Gläubigen in die Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins auf, und dies ist seine erlösende Tätigkeit.« Zur Auslegung dieses Paragraphen vgl. G. Hunsinger, Salvator Mundi – Drei Typen der Christologie, in: M. Hofheinz / K.-O. Eberhardt unter Mitarbeit von J.-Ph. Tegtmeier (Hg.), Gegenwartsbezogene Christologie. Denkformen und Brennpunkte angesichts neuer Heraus­ forderungen, Dogmatik in der Moderne (DoM) 29, Tübingen 2020, 43–66. 22 Vgl. zu Schleiermachers Christologie: M. Junker, Das Urbild des Gottesbewußtseins. Zur Entwicklung der Religionstheorie und Christologie Schleiermachers von der ersten zur zweiten Auflage der Glaubenslehre, Schleiermacher Archiv 8, Berlin / New York 1990; K.J. Bender, A Concluding Postscript to Schleiermacher’s Christology, in: ders., Confessing Christ for Church and World. Studies in Modern Theology, Downers Grove 2014, 353–384; B. Dahlke, Christologie in Schleiermachers Glaubenslehre, Cath(M) 70 (2016), 278–299. 23 W. Pannenberg, Art. Christologie II. Dogmengeschichtlich, RGG3 1 (1957), (1762– 1777) 1776. Vgl. ders., Grundzüge der Christologie, Gütersloh 21966, 293–295; ders., Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, UTB 1979, Göttingen 1997, 72f. 24 K. Barth, KD I/1, 74.

Christologie als Themaregel

17

Der Blick in die Tradition darf freilich nicht (ab)schrecken und dem des Kaninchens auf die Schlange gleichen – auch nicht der auf die Neuzeit.25 Die Geschichte der narrativen Christologie muss gewiss erst noch geschrieben werden. Dennoch lässt sich in allen Epochen der Kirchengeschichte ein Hören auf die Jesus-Erzählung (story) wahrnehmen, das seinen Ausgangspunkt bei den biblischen Erzählungen nimmt.26 Dies lässt sich bei aufmerksamem Hinschauen für die einzelnen Epochen zeigen. Narrative Christologie beginnt also keineswegs erst in den 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts, 27 als das Stichwort »Narrative Theologie« aufkam und narrative Christologie als deren Implikat auftrat.28 In der frühen Neuzeit etwa, genauer gesagt: der Reformation, finden sich bereits entsprechende Impulse. Der Zürcher Kirchengeschichtler Peter Opitz etwa hat in seiner Untersuchung zur Hermeneutik Johannes Calvins (1509–1564) gezeigt, dass bereits der Genfer Reformator mit der Frage rang, wie man etwa das reine »Dass« der hypostatischen Union der beiden Naturen Christi erzählen soll. Calvin wurde sich in Gestalt seiner Mittler-Christologie29 der Erzähl-Notwendigkeit bewusst: »Das konkrete und kontingente Handeln Gottes in der Person des Mittlers besteht […] nach Calvin nicht einfach in der Inkarnation als dem Faktum der ›hypostatischen Union‹, sondern in der ganzen Christusgeschichte und somit im ganzen Amt Christi, welches sich von der Inkarnation bis zur Erhöhung zur Rechten des Vaters erstreckt. Es ist und bleibt ein Geschehen, das von Gott initiiert und durchgeführt wird, das zugleich aber ein wirkliches irdisches Geschehen ist.«30

Bereits bei Calvin findet der Grundsatz esse sequitur operari seinen Niederschlag. Dieser besagt Calvin zufolge: Wenn Gottes Sein von Gottes Handeln erschlossen werden kann, dann gilt es von Gottes Handeln zu erzählen.31 Unsere Erzählungen

25

Vgl. D. Schellong, Art. Neuzeitliche Theologie B. Die evangelische Theologie, in: NHThG2 (1991), 47–62. 26 Vgl. J. Pelikan, Jesus Through the Centuries, His Place in the History of Culture, New Haven / London 1985; H. Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung I–IV, München 1990–2001. 27 B. Dahlke (Narrative Christologie. Katholische Entwürfe der Zwischenkriegszeit, TThZ 123 [2014], 133–147) hat »narrative Christologie« auch in verschiedenen römisch-katholischen Entwürfen der 1920er und 1930er Jahre in Deutschland, u.a. bei A. Reatz, F.M. William, K. Adam und R. Guardini, identifiziert. 28 Vgl. H.W. Frei, The Eclipse of Biblical Narrative, New Haven 1974; S. Hauerwas / L.G. Jones (Hg.), Why Narrative? Readings in Narrative Theology, Grand Rapids / Cambridge 1989; E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 41982, 409–430; J.B. Metz, Kleine Apologie des Erzählens, Conc 9 (1973), 334–341; B. Wacker, Narrative Theologie?, München 1977; H. Weinrich, Narrative Theologie, Conc 9 (1973), 329–333. 29 Vgl. J. Calvin, Inst. (1559), II,12–17. 30 P. Opitz, Calvins theologische Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1994, 146. 31 Vgl. a.a.O., 147.

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Einleitung

dürfen nach Calvin indes nicht mit dem Geheimnis selbst verwechselt werden. Aber Theologie sei und bleibe auf erzählerische Versuche angewiesen.32 Diese Überzeugung Calvins gehört zu den erstaunlichen Einsichten der Reformationszeit. Nicht zuletzt in seinen Predigten und Kommentaren hat Calvin die Christusgeschichte als Grund und Inhalt des Wortes Gottes zur Sprache zu bringen versucht.33 Der Blick in die Gegenwart mag demgegenüber ernüchtern: Hinsichtlich der zweiten theologischen Ausbildungsphase hat etwa der ehemalige Wuppertaler Predigerseminarsdirektor Peter Bukowski eine »praktische Christusverschwiegenheit« (etwa bei Vikarinnen und Vikaren) konstatiert – im Unterschied etwa zur Jesus-Frömmigkeit, die er im globalen Süden erlebt habe, wo man mit Begeisterung singe: »What a friend we have in Jesus«34 Nach Michael Welker hat diese westlich-europäische Verschwiegenheit sogar pathologische Züge angenommen. Welker spricht von einer regelrechten »Christophobie in Europa«.35 Es bedarf gewiss nicht der Dramaturgie einer weiteren rhetorischen Steigerung dieses Befundes. Er dürfte ohnehin evident sein: »Die Theologie des 21. Jahrhunderts ist von Verunsicherungen geprägt: im Blick auf das Reden von Gott überhaupt, im Blick auf die Christologie insbesondere.«36 Peter Bukowski macht klar, um was es angesichts dieses Befundes gehe: Es geht »darum, den Blick für die Wirkungsvielfalt und den Beziehungsreichtum des gegenwärtigen Christus zu öffnen.«37 Der Christus praesens muss mit anderen Wortes neu in den Blick genommen werden und das nicht nur hinsichtlich der dogmatischen Reflexion, sondern vor allem der christlichen Lebensvollzüge (etwa in Seelsorge und Predigt) und der Haftpunkte christlicher Frömmigkeit. Caroline Schröder-Field betont in ähnlicher Weise die Notwendigkeit, »Jesus von Nazareth nicht als eine beliebige Gestalt der Menschheitsgeschichte zu lehren, sondern als den Christus, zu dem sich Gottes Verheißung an Israel zuspitzen: der Eine, der in besonderer und einzigartiger Weise mit Gott verbunden, aus Gott hervorgegangen und zu Gott zurückgekehrt ist, und zwar so, daß sich durch das Kommen dieses Einen ein Raum von unermesslicher Weise eröffnet hat.«38 Dieser Raum dürfte als ein Resonanzraum zu verstehen sein,39 der einen Haftpunkt der Jesus-Frömmigkeit bildet und zu dem ganz gewiss auch der Gottesdienstraum gehört, um den herum auch das kirchliche Seelsorgegeschehen angesiedelt ist.

32

Vgl. a.a.O., 151. So Opitz, a.a.O., 118. 34 P. Bukowski, Wer ist Jesus Christus für uns heute?, in: ders., Theologie im Kontakt. Reden von Gott in der Welt, Göttingen 2017, (11–26) 10f. 35 M. Welker, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 22012, 29f. 36 Schröder-Field, Jesus Christus, 178. Zur Krise der Theologie im Allgemeinen vgl. M. Volf / M. Croasmus, Für das Leben der Welt. Ein Manifest zur Erneuerung der Theologie, hg. von W. Dürr / B. Hallensleben, Glaube und Gesellschaft 8 (Studia Oecumenica Friburgensia 89), Münster 2019, 39–68. 37 Bukowski, Wer ist Jesus Christus für uns heute?, 21. 38 Schröder-Field, Jesus Christus, 161. 39 Vgl. H. Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016. 33

… auf dem Weg

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In ihm und – wenn es gut läuft – auch um ihn herum wird die Jesus-Geschichte (story) erzählt.

2. … auf dem Weg. Oder: VerWEGenheit. Die Tugend Davids gegen Goliath In diesem Band wird einmal mehr die Wegmetapher strapaziert. Es mag sein, dass sie nicht nur als »bemüht«, sondern als regelrecht abgedroschen erscheint. Ich möchte dem auch gar nicht erst widersprechen. Gleichwohl glaube ich, dass sie alternativlos sein dürfte, insbesondere für den hier vertretenen Ansatz, der an das Erzählen der Evangelien anknüpft und es weiterführt. Die Christologie wird ja gerade durch das Weg-Motiv und die Weg-Struktur verflüssigt und geöffnet bzw. offengehalten. Das trägt methodisch hinsichtlich der Christologie der theologischen Erkenntnis Rechnung, dass zum Verstehen Jesu Christi ontologisch-substanzhafte Kategorien vergeschichtlicht werden müssen, wie insbesondere Karl Barth betont hat. Die Erzählung bleibt dabei primär, die christologische, in Begriffen und Formeln gefasste Konstruktion der Dogmatik hat Hilfsfunktion und ist als solche wichtig und (hoffentlich) als eine Art orientierendes Geländer für die fortgehende Erzählung hilfreich. Durch die Erzählung, die im Blick von Ostern her dem Weg Jesu folgt, lässt sich, wenn es gut geht, Eindeutigkeit und Bestimmtheit verbinden mit Deutungsoffenheit. Und es wird, wie in diesem Band angezeigt werden soll, Jesu Christi Weg in Hinwendung und Offenheit zu den Fremden sichtbar. Und damit auch die Verbindung von Christologie und Ethik. Wie ich gerne hervorhebe, bedeutet dies nicht nur, dem Erkenntnisobjekt der Theologie – auch in der theologischen Methode – kategorialen Vorrang vor deren Erkenntnissubjekt einzuräumen, sondern auch der (biblisch bezeugten) Wirklichkeit vor der Möglichkeit.40 Was die besondere narratologische bzw. theologische Dignität der Wegmetaphorik betrifft, muss man sich indes klarmachen, dass sich Kirche – mit Günter Thomas gesprochen – »inmitten der mythischen Erzählmaschinerie«41 der Gegenwart befindet. »Ins Erzählen flüchten«42 – dieser Weg gleicht keinem exklusiven Königsweg, sondern eher der A2 des alltäglichen Pendlerverkehrs am frühen Mor-

40

Treffend H.J. Iwand, Christologie. Die Umkehr des Menschen zur Menschlichkeit, Nachgelassene Werke N.F. 2, hg. von E. Lempp / E. Thaidigsmann, Gütersloh 1999, 455: »Es gehört also zu diesem durch das Wort qualifizierten ›ward‹ (egeneto), daß das Ereignis hier seiner eigenen Möglichkeit vorangeht, daß es also nicht als zuvor möglich begriffen werden kann, ehe es denn Realität ist, vielmehr birgt die Realität als solche in sich die Möglichkeit ihrer selbst.« 41 G. Thomas, Im Weltabenteuer Gottes leben. Impulse zur Verantwortung für die Kirche, Leipzig 2020, 34. 42 J. Lüscher, Ins Erzählen flüchten. Poetikvorlesung, München 2020.

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Einleitung

gen. Die Tendenz zum Narrativen ist inflationär geworden. Treffend hat Thomas darauf hingewiesen: »In einer Mediengesellschaft zu leben, heißt für die Kirche zunächst, in einer Erzählmaschinerie zu überleben. Das Denken und Erleben von Milliarden von Menschen wird wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte durch audiovisuell erzählte Geschichten geprägt – von den Abendnachrichten bis zu Fantasyfilmen, von Krimis bis Talkshows. Der Mensch war immer schon ein homo narrans, ein Geschichtenerzähler. Geschichten inspirieren und formen die Aspirationen von Menschen. Weil dem so ist, war das Erzählen von Geschichten schon immer eine Praxis der Machtausübung: der Macht der Deutung und Bestimmung von Wirklichkeit. Allerdings gab es noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte eine so vielstimmige wie multimediale, so tief beeindruckende wie machtvoll verohnmächtigende Erzählmaschinerie wie die Unterhaltungsindustrie und die Presse. Es wird nicht eine Geschichte, sondern es werden vielfältige Geschichten erzählt und dramatisch aufgeführt.«43

In postmoderner Beliebigkeit scheint alles Mögliche gerade recht zu sein. Thomas beschreibt die Gegenwartslage zeitdiagnostisch wie folgt: »Moderne Gesellschaften sind in gesteigertem Maße Schlachtfelder im Kampf der Erzählungen. Wahrheit entscheidet sich meist daran, ob etwas Resonanz findet. Siege im Kampf der Erzählungen sind nicht blutig, sondern resultieren im Schweigen derer, die nicht mehr erzählen können, weil sie nicht mehr gehört werden. Die moderne Gesellschaft vergisst und entledigt sich bestimmter Geschichten, indem sie aus dem Erzählhaushalt der Gesellschaft verschwinden oder zum Verschwinden gebracht werden. Auf einem Markt begrenzter Aufmerksamkeit und Zeit ersetzt Verdrängung Zensur. Was nicht kommuniziert wird, ist nicht mehr real. Säkularisierung ist auch der Problemtitel für die Niederlage der Kirchen im Kampf der Erzählungen.«44

Dass Kriterium des Resonanz-Findens lässt sich als quantitative Selbstblendung einer (letztlich durch und durch kapitalistischen) Lebenswelt verstehen, die das Wahre anhand von Zahlen ökonomisiert, rationalisiert und monetarisiert: »Die ökonomische Rationalität will alles in Zahlen fassen, und dieser Glaube ans Messbare führt zu einem verhängnisvollen Fehlschluss. Weil nicht alles Relevante messbar ist, wird das Messbare zum Relevanten erklärt.«45 Die narrative Gesellschaft bildet mit der imaginativen Kraft ihres Storytellings insofern nicht den Ausweg, sondern vielmehr eine Problemursache. Wie behauptet sich Kirche am besten auf diesem Kampfplatz, der durch die Inflation des Storytellings in Werbung, Politik etc. geprägt ist? Doch soll sie über-

43

Thomas, Im Weltabenteuer Gottes leben, 35. A.a.O., 37. 45 J. Hanimann, Gleitmittel für trockene Zahlen, Süddeutsche Zeitung Nr. 57 vom 9.3.2020, 11. 44

… auf dem Weg

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haupt mitkämpfen?46 Hat sie den Kampf nicht bereits längst verloren? Die naheliegende Antwort des »einfach Mitmachen« im Sinne des »Weiter im Weiter« bzw. »show must go on«, die auf das vermeintliche Wunderrezept des Erzählens setzt, auf Mythos statt Logos, Kontingenz statt Notwendigkeit, Besonderes statt Allgemeines, Literarisches statt Philosophisches, würde im Bereich der Christologie sicherlich eine Populärreligion nahelegen, mit der man sich der mythischen Erzählmaschinerie mittels eines entsprechend stilisierten Jesus an den Hals wirft.47 Kitsch und abgegriffene Erzählmuster wären gewissermaßen vorprogrammiert. Der Ruf nach irgendeiner narrativen Theologie oder auch irgendeiner narrativen Christologie würde sicherlich, ja ganz gewiss, zu kurz greifen.48 Das Ergebnis würde ebenso banal49 wie trivial ausfallen und könnte nur in einer Idealisierung bzw. Romantisierung Jesu bestehen. Gleichwohl wird man nicht einfach die Macht der Erzählungen ignorieren dürfen. Denn es stimmt nun einmal: »Was Menschen in den verschiedenen Bereichen ihres Lebens für wirklich, für möglich und für unmöglich halten, dies ist im Wesentlichen durch Erzählungen geprägt. Sogenannte letzte Gründe gründen sich nicht auf einleuchtende Gewissheiten. Sie wurzeln vielmehr in Erzählungen. Wer immer weiter nach Begründungen fragt, findet weder ein Fundament der Gewissheit noch letzte Gründe. Wer so fragt, endet irgendwann in einer Geschichte als Story.«50 Theologisch wird man ergänzen müssen: »Der Glaube findet sich in der erzählten Geschichte (Story) und der sich ereignenden Ereignisgeschichte (History). Die Spannung und der Zusammenhang zwischen Story und History, erzählter Erschließung und Ereignis, ist eine der Grundspannungen der christlichen Existenz. Glaube ist nicht einfach ein Abenteuer im Kopf. Die Story des Weltabenteuers Gottes ist ja nicht einfach eine Erzählung, die deshalb wahr ist, weil sie 46

So bemerkt etwa F. Wittekind, Theologie religiöser Rede Ein systematisch-theologischer Grundriss, Tübingen 2018, 29: »Das Christentum ist eine eigenständige Weise der Erzählung des Menschen von dem (religiösen) Sinn seines Lebens, die sich erhalten hat neben den sich ausdifferenzierenden anderen Weisen kultureller Weltgestaltung in der antik-abendländischen Zivilisation und deren weitere Existenz nicht als notwendig für das menschliche Leben behauptet werden soll.« Dass sich das Narrativ des Christentums innerhalb der anderen Narrative der (Post-)Moderne zu verlieren droht, diesen Umstand möchte Wittekind nicht perhorreszieren, sondern in affirmativer Weise beurteilen, sprich: wertschätzen. 47 Im Prinzip ist das ja auch der gegenseitige Vorwurf zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewesen, der entweder einen »ethisiert-doketischen« oder »moralisch-kitschigen« Jesus in den Blick nimmt oder eben den »dogmatisch verzeichneten« Christus. Hier wäre gewiss auch zu fragen, ob sich die Positionen jeweils dahingehend verzeichnen, dass sie zu sehr in ihre eigene (Master-)Erzählung kippen. Diesen Hinweis verdanke ich meinem Mitarbeiter J.-P. Tegtmeier. 48 So auch Thomas, Im Weltabenteuer Gottes leben, 37. 49 R. Frisch (Was fehlt der evangelischen Kirche? Reformatorische Denkanstöße, Leipzig 2017, 71) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Selbstbanalisierung »[k]eine geringe Gefahr des Protestantismus« darstellt. 50 Thomas, Im Weltabenteuer Gottes leben, 34.

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Einleitung eine immer gleiche Wahrheit über den Menschen, das Leben, die Welt oder den Kosmos erzählt. Dann wäre sie im besten Fall ein Mythos, der die Existenz, das Leben oder die Welt deutet. Die Pointe der Erzählung vom Weltabenteuer Gottes ist, dass sich dieses in und mit dieser Welt ereignet, und zwar nicht nur in den Köpfen der Menschen, sondern – so der Anspruch der Erzählung – auf allen Ebenen der Wirklichkeit. Der Glaube findet sich in eine Geschichte einbezogen, die in aller relativen und riskanten Offenheit nicht nur vom Menschen, nicht nur von der kosmischen Evolution, sondern von Gott vorangetrieben wird.«51

Um diese Geschichte nacherzählen zu können, braucht es auf Seiten der Nacherzählenden bestimmter Eigenschaften, Haltungen und Fähigkeiten, die man im Bereich der Ethik als Tugenden bezeichnet. Gewiss dürfte hier ein ganzer Tugendkanon erforderlich sein. Vordringlich scheint mir allerdings die Tugend der Verwegenheit zu sein. Der Nietzsche-Freund Franz Overbeck (1837–1905) räsonierte im Jahr 1919, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, aus gutem Grund: »Es mag ja wahr sein, daß anders als mit Verwegenheit eine Theologie nicht wieder zu gründen ist.«52 Karl Barth hat dieses skeptische Overbecksche Wort als »unerledigte Anfrage«53 ernst genommen und dahingehend produktiv (miss)verstanden, Theologie neu zu gründen.54 Jüngst hat der bereits ausführlich zitierte Günter Thomas diese Tugend aufgegriffen und das Erzählen im Sinne des Erläuterns55 (statt Übersetzens)56 gefordert:

51

A.a.O., 52. Vgl. auch Thomas’ Rede vom Risiko der Inkarnation in: ders., Gottes Lebendigkeit. Beiträge zur Systematischen Theologie, Leipzig 2019, 51–80. 52 F. Overbeck, Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie, hg. von C.A. Bernoulli, Basel 1919, 16. 53 Vgl. R. Brändle / E.W. Stegemann (Hg.), Franz Overbecks unerledigte Anfragen an das Christentum, München 1988; N. Peter, Im Schatten der Modernität. Franz Overbecks Weg zur »Christlichkeit unserer heutigen Theologie«, Stuttgart 1992. 54 So F.-W. Marquardt, Einleitung, in: ders., Verwegenheiten. Theologische Stücke aus Berlin 1981, (9–12) 11. 55 Das unterscheidet sich auch von Ch. Danz’ Funktionszuschreibung zur narrativen Dimension der Christologie, die eher auf den produktiven, denn auf den nachvollziehenden Charakter des Erzählens abzuzielen scheint, wenn er etwa schreibt: »Gerade die narrative Darstellung des Gottessohnes hat eine Funktion für die Beschreibung des christlichen Glaubens. Seine Wirklichkeit ist an einen verstehenden und symbolproduktiven Akt gebunden, der sich in einem Bild seiner selbst herstellt und veranschaulicht. […] Denn der Glaube als Wirklichkeit der christlichen Religion ist an das Gelingen der religiösen Kommunikation gebunden, also an die verstehende Aneignung der Erinnerung an Jesus Christus und deren darstellenden Gebrauch durch Einzelne.« Ch. Danz, Jesus von Nazareth zwischen Judentum und Christentum. Eine christologische und religionstheologische Skizze, Tübingen 2020, 172. 56 Vgl. zu Kritik an der beliebten Strategie des Übersetzens M. Hofheinz, Einfach von Gott reden. Von der »Unverschämtheit« der einfachen Gottesrede. Eine ZuMUTung, KuD 68 (1/2022), im Erscheinen.

… auf dem Weg

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»Die Kirche braucht Verwegenheit, um ihre Geschichte in ihrer Sprache zu erzählen. Nicht nur ihre Geschichte, auch ihre Sprache ist für das Erläutern der Geschichte notwendig! Im Unterschied zum Übersetzen vollzieht sich die Erläuterung in der gleichen Sprache wie die Erzählung. Erläutern ereignet sich im Umschreiben, im Wiederholen in anderen Worten, in der Suche von Vergleichen, im Finden und Erfinden von Metaphern, im Wechseln des Mediums (wie z.B. beim Gestikulieren und Zeigen), in der Entfaltung von Begriffen, im Knüpfen von Netzen der Bedeutung, im Suchen nach Worten; im Gebrauch von Theorien, im Ereignis von Metaphern, im Beobachten des ›Funktionierens‹ der Sprache, d.h. des Sprechens. Erläutern ist wie einsprachiger Fremdsprachenunterricht.«57

Ich teile diese Einschätzung von Günter Thomas und frage mich: Was tun nun Theologie und Kirche, indem sie in dieser Weise erzählen bzw. erläutern? Sie treten ein in den Kampf konkurrierender Erzählungen, wenn man so will der vielen »kleinen Erzählungen« nach dem »Ende der großen Erzählungen« (Jean-François Lyotard), die die Moderne kennzeichneten. Auch hier geht es wiederum – freilich über die Moderne hinaus – um ein Aufklärungsprogramm, wenngleich auch in einem anderen Sinne als das der klassischen Moderne: »Indem Theologie und Kirche die Gegenwart durch ihre eigenen Erzählungen betrachten, klären sie die Welt über sich selbst auf. Erläutern zielt nicht auf ein Verstehen des Glaubens im Raum der Kirche. Nein, es geht ganz wesentlich auch um ›theologische Aufklärung‹. Säkularisierung heißt, dass die Kirche mit der Erzählung von Weltabenteuer Gottes in einer scharfen Konkurrenz mit anderen Erzählern und mit anderen Erzählungen steht. Die audiovisuelle Erzählmaschine der Gegenwart ist ein Kampfplatz, auf dem die Kirche es mit mächtigen, nach menschlichem Ermessen haushoch überlegenen Gegnern zu tun hat, Jenseits von behäbiger Selbstsicherheit und Mutlosigkeit kann sich die Kirche mit Verwegenheit in das Getümmel der Erzählungen stürzen. Verwegenheit wird auch notwendig sein, wenn es gilt, nicht vorschnell wieder Verbündete in der Zivilgesellschaft oder unter den Religionsgemeinschaften zu sichern, sondern sich auf eigene Erzählungen zu besinnen. Es fordert Mut, David gegen Goliath zu spielen.«58

Wer sich auf diese Weise – um die bellikose Metaphorik von G. Thomas aufzugreifen – ins »Kampfgetümmel« stürzt, braucht Zurüstung, oder – weniger martialisch als vielmehr kulinarisch ausgedrückt – er braucht Wegzehrung. So wie der »Weg in die Fremde« nicht ohne Zurüstung und Wegzehrung angetreten werden kann (vgl. Elia in der Wüste: 1Kön 19,1–8), konnte ich selbst die Beiträge zu diesem Band nicht ohne Rückbindung an die biblischen Texte verfassen. Ihre Worte sind

57

Thomas, Im Weltabenteuer Gottes leben, 355. A.a.O., 356.

58

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Einleitung

in der Tat wie Lebensmittel59: »Dein Wort ward meine Speise, sooft ich’s empfing, und dein Wort ist meines Herzens Freude und Trost; denn ich bin ja nach deinem Namen genannt, Herr, Gott Zebaoth« (Jer 15,16). Mir ist es wichtig, dies zu betonen, wenngleich diese Form der Schriftbindung60 nicht im »Trend« liegen, als »old-fashioned« oder auch »old school« erscheinen mag. Eberhard Jüngel beobachtete bereits vor mehr als 10 Jahren: »Bei der Dogmatik, in der Systematischen Theologie[,] da gibt es ein Konstruieren unabhängig vom Text. Da wird konstruiert und entworfen. Doch die Rückbindung an die biblischen Texte geht oft verloren, nicht bei allen, aber bei vielen. Insofern habe ich den Eindruck, dass die Systematische Theologie zurzeit anfängt, Selbstzweck zu werden. Das ist nach meinem Urteil keine gute Richtung. Sie weist sich meist darin aus, dass sie sich als betont nichtkirchliche Wissenschaft versteht. ›Kirchliche Dogmatik‹ ist ein Horror für eine ganze Reihe jüngerer Theologen.«61

Was steckt dahinter? Etwa die Angst, gesellschaftlich, universitär oder geistesgeschichtlich die Anschlussfähigkeit zu verlieren, »fremd« zu werden?62 Vielleicht die Angst vor meterhohen hermeneutischen Zäunen, die überwunden werden müssen, um im Schriftgebrauch nicht als »vorkritisch« zu gelten?63 Es mag sein, dass für zu viele Kolleginnen und Kollegen meiner Genera­tion nach einschlägigen Erfahrungen, angefangen beim landeskirchlichen Assess59

M.L. Frettlöh, Worte sind Lebensmittel: Kirchlich-theologische Alltagskost, Erev-Rav-Hefte 8, Wittingen 2007. 60 Vgl. F.-E. Focken / F. van Oorschot (Hg.), Schriftbindung evangelischer Theologie. Theorieelemente aus interdisziplinären Gesprächen, ThLZ.F 37, Leipzig 2020. 61 E. Jüngel, Die Leidenschaft, Gott zu denken. Ein Gespräch über Denk- und Lebenserfahrungen, hg. von F. Ferrario, Zürich 2009, 28f. 62 Vgl. Wittekind, Theologie religiöser Rede, 16: »So kann als Ergebnis der Entwicklung des 19. Jahrhunderts über die Selbstdeutung der damaligen Theologen hinaus festgehalten werden, dass zwei Formen der Theologie nebeneinander existieren: Einerseits die direkt auf die geschichtliche und inhaltliche Identität des christlichen Glaubens bezogene (kirchliche) Theologie der Frömmigkeit, in der die alten Bestandteile der wissenschaftlichen Theologie, die pädagogisch-missionarische Abzweckung und eine voraussetzungsbezogen abgekürzter Begründungsgang aufgenommen werden, sowie eine im engeren Sinne sich wissenschaftlich verstehende Theologie, die auf freie Begründung sowie humane Allgemeingültigkeit der Argumente im Kontext der philosophischen Auffassung des menschlichen Geistes setzt. Die erstgenannte Theologie beherrscht die Ausbildung in den Kirchen, die in kirchlicher Trägerschaft sich befindenden freien Hochschulen oder die missionarisch ausgerichteten Predigerausbildungsstätten. Es ist auch (oder wieder) für den heutigen deutschen Kontext bemerkt worden, dass diese Theologie als eine ›Theologie light‹ zunehmend das Amtshandeln der Kirchen bestimmt, dass sie als Theologie für die Kirche zunehmend ohne universitären Kontakt in den Verwaltungsstuben der Kirche selbst entworfen wird, und dass die Differenz zwischen der universitären und der kirchlichen Theologie damit größer wird.« 63 Vgl. zur Orientierungshermeneutik der Bibel als Evangelium und Zeugnis: Assel, Elementare Christologie I, 35–60.

… in die Fremde

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ment-Center nach dem Studium, die real existierende Kirche nicht zum Hort, sondern zur Hölle wurde. Wohlfeile Aufforderungen, sich zur Kirche zu »bekehren«,64 sind angesichts dessen ebenso überflüssig wie ineffektiv. Ich möchte im Folgenden zu zeigen versuchen, dass die Wahrnehmung der Fremde jedoch zumindest eine eigene Herkunft, Heimat im besten Sinne des Wortes, voraussetzt und dass sich, so eine Bemerkung Eberhard Jüngels, »aus dem Text die Nötigung zur dogmatischen Verantwortung ergibt«.65

3. … in die Fremde. Unterwegs mit Karl Barth Karl Barth hat in seiner Versöhnungslehre dem § 59.1 in KD IV/1 (1953) in wirkmächtiger Weise den Titel »Der Weg des Sohnes Gottes in die Fremde« gegeben.66 Barth gebraucht diese Wendung, um das Inkarnationsgeschehen, also die Menschbzw. Fleischwerdung Gottes in Christus als Herablassung (Kondeszendenz) Gottes zu umschreiben.67 Zur Versöhnung gehört der Weg des Sohnes Gottes in die Fremde, insofern diese Metapher die Geschichte der Selbsterniedrigung Gottes in Jesus Christus pointiert, in der Gott sich in die menschliche Entfremdung erniedrigt und gerade darin sein wahres Gottsein keineswegs verspielt, sondern vielmehr erweist: »Versöhnung ist Gottes Grenzüberschreitung zum Menschen hin: höchst legitim, aber auch höchst unbegreiflich – oder eben begreiflich nur im Faktum seiner Macht- und Liebestat.«68 »Es kommt« – wie Barth sagen kann – »alles aus ›Gottes Menschenfreundlichkeit‹ (Tit 4,3).«69 Mit der Metapher vom »Weg in die Fremde« bringt Barth also das Geheimnis der Gottheit Christi, sofern es seine Erniedrigung betrifft, zur Sprache. Der Leitgedanke Barths ist – wie so oft – dialektischer Natur und wird von ihm im metaphorischen Spiel der Paradoxien von Erhöhung und Erniedrigung, Aufstieg und Abstieg, Größe und Kleinheit umschrieben: »Gott ist gerade darin groß, der wahre Gott erweist sich gerade darin als solcher, daß er sich in seiner Gnade das kosten lassen will und kann, daß er zu solcher Herablassung, zum Tun dieses Überschwängliche, zu diesem Weg in die Fremde fähig, willig und bereit ist.«70 Gott bleibt – wie Barth betont – »wohl bei sich. Er kann ja nicht aufhören, Gott zu sein. Aber er behält sich nicht, er geht, indem er dem Menschen in Jesus Christus gnädig ist, auch in die Fremde: in die schlechte Gesellschaft dieses ganz 64

Vielmehr muss die Kirche umkehren. Gerade dies macht ihre missionarische Existenz aus, wie D.L. Guder (The Continuing Conversion of the Church, Grand Rapids / Cambridge 2000) zeigt. 65 Jüngel, Die Leidenschaft, Gott zu denken, 28. 66 K. Barth, KD IV/1, § 59.1, 171–231. 67 Vgl. a.a.O., 172. 68 A.a.O., 86. 69 A.a.O., 36. 70 A.a.O., 173.

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Einleitung

anderen, nichtgöttlichen, ja widergöttlichen Wesens.«71 In einer der schier unendlichen gedanklichen Variationen Barths heißt es: »Er [der Sohn Gottes] erniedrigt sich selbst, er tat das aber nicht, indem er aufhörte zu sein, der er war. Er ging in die Fremde, er wurde aber auch in der Fremde und gerade in der Fremde kein sich selbst Fremder.«72 Barth kann anhand des Leitmotivs vom Weg in die Fremde nicht nur inkarnationstheologisch die johanneische Fleischwerdung des Wortes (Joh 1,14) mit der (vor-)paulinischen Entäußerung (Phil 2,7) im Philipperhymnus neutestamentlich in eins setzen, sondern gleichsam gesamtbiblisch das vielstimmige innerkanonische Zeugnis souverän orchestrieren und konzertant erscheinen lassen. So fällt in Barths Entfaltung des Leitmotivs vom »Weg des Sohnes Gottes in die Fremde« auf, wie sehr Barth – gerade auch in der Durchführung seiner Exegesen – höchsten Wert auf biblische Theologie, genauer gesagt: die Verklammerung von alttestamentlichem und neutestamentlichem Zeugnis legt: »Die ist nämlich der Sinn der vom Neuen Testament selbst unübersehbar vollzogenen Verklammerung seines eigenen Zeugnisses mit dem des Alten Testament: sie stört die Abrundung des Bildes Jesu in irgend ein Idealbild menschlicher Existenz, der ein freihändig, d.h. unter Absehen von der israelitischen Komponente des Neuen Testaments entworfenes Bild des Menschen, der Gottes Sohn war und ist, notwendig verfallen mußte. Sie hält die Aufmerksamkeit des Hörers und Lesers fest bei der Tatsache, daß das Telos und die Pointe des Evangeliums von Jesus Christus, seine im Evangelium dokumentierte Selbstverkündigung, der Nerv der in ihr geschehenen Geschichte zwischen Gott und Mensch und also die Heilsgeschichte wesentlich Passionsgeschichte ist. Gerade daß sie das wesentlich ist und also sein muß, gerade, daß sie nur in dieser Ausrichtung auch Siegesgeschichte ist, das wurde da, dem Neuen Testament selbst offenkundig zuwider, faktisch noch immer überhört, wo man das Alte Testament nicht als authentischen Kommentar mithören wollte, indem man das Neue hörte.«73

Es ist diese Verklammerung der beiden Testamente, die aktuell strittig geworden ist74 und die nicht einfach nur durch Beharrung auf Kanonizität des Alten Testaments zu postulieren ist, sondern die es praktisch neu zu buchstabieren und in bi-

71

Ebd. A.a.O., 196. 73 A.a.O., 183. Dort z.T. kursiv. 74 Vgl. N. Slenczka, Die Kirche und das Alte Testament, in: E. Gräb-Schmidt / R. Preul (Hg.), Das Alte Testament in der Theologie, MJTh 25, Marburger Theologische Studien 119, Leipzig 2013, 83–119. Vgl. zur inzwischen völlig unübersichtlich gewordenen Diskussion: F. Hartenstein, Zur Bedeutung des Alten Testaments für die evangelische Kirche. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Notger Slenczka, ThLZ 140 (2015), 738–751; L. Schwienhorst-Schönberger, Die Rückkehr Markions, Communio 44 (3/2015), 286–302; A. Deeg, Die zwei-eine Bibel. Der Dialog der Testamente und die offene christliche Identität, Zeitzeichen 16 (7/2015), 41–43. 72

… in die Fremde

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blisch-theologischen Exegesen zu demonstrieren gilt.75 Das christologisch-versöhnungstheologische Narrativ Barths ist, was seinen Referenzrahmen betrifft, Teil seiner Bundestheologie, insofern Jesus Christus nach Barth das Ziel des Bundes bzw. die Versöhnung die Erfüllung des Bundes ist und der Bund wiederum die Voraussetzung der Versöhnung bildet (vgl. Jer 31,31–34 im Verhältnis zu 2Kor 5,19): »Daß die Versöhnung des sündigen und verlorenen Menschen vor allem den Charakter einer göttlichen Herablassung hat, daß sie auf einem Weg Gottes in die Fremde Ereignis wird, das ist schon wegen dieser Partikularität des Menschen Jesu in seinem Hervorgang aus dem einen erwählten Volk Israel und als Bestätigung von dessen Erwählung entschiedene Sache. Der Vater, der mit dem Menschen Jesus als seinem Sohn eins ist (Joh 10,30) ist der Gott, der sich selbst schon zuvor nicht zu gut und dem es nicht zu gering war, sich dem Abraham und seinem Geschlecht zu verbünden und zu verpflichten und in dieser Besonderung und Beschränkung – ›Ich will euer Gott sein‹ – Gott zu sein.«76

Ganz im Sinne Barths betont Ernstpeter Maurer: »Gott selbst, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, JHWH, der sein Volk Israel erwählt hat, [verwickelt] sich in die menschliche Geschichte. Dafür gibt es ein schlichtes Indiz in den Texten: In allen Geschichten des Neuen Testaments tritt die Fremdheit Jesu hervor. Darin rückt Jesus Christus gleichsam auf die Seite Gottes – eine Linie, die sich schon in den alttestamentlichen Texten findet, wo die von Gott erwählten Personen in der Regel zu Außenseitern werden. Die keineswegs schlichte Verwicklung von Fremdheit und Nähe erweist sich als treibende Kraft der neutestamentlichen Geschichten und stellt die harmlose Unterscheidung zwischen einem ›transzendenten‹ Gott und unserem menschlichen ›Diesseits‹ gehörig in Frage.«77

Bereits der Weg Abrahams ist ein »Weg in die Fremde«. Gottes Aufforderung an Abram lautet nicht: »Bleibe im Lande und nähre dich redlich!« (Ps 37,3), sondern: »Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will« (Gen 12,1). Jürgen Ebach hat beobachtet, dass in dem berühmten Psalm 37, in dem sich das vielzitierte »Befiehl dem Herrn deine Wege« (Ps 37,5) findet, »viel von Gehen und von Wegen die Rede«78 ist – und dies aus gutem Grund. Denn hier manifestiert sich ein Heimatbegriff,79 der den der Fremde keineswegs als Gegenbegriff konterkariert: 75

Zu Barths Schriftauslegung vgl. G. Bergner, Um der Sache willen. Karl Barths Schrift­ auslegung in der Kirchlichen Dogmatik, FSÖTh 149, Göttingen 2015. 76 K. Barth, KD IV/1, 184. 77 E. Maurer, Kennwort: Jesus Christus, GuL 19 (1/2004), (5–14) 6f. 78 J. Ebach, Volk und Nation. Politische und theologische Bemerkungen, in: ders., Biblische Erinnerungen. Theologische Reden zur Zeit, Bochum 1993, (67–80) 79. 79 Vgl. A. Adamavi-Aho Ekué / F. Mathwig / M. Zeindler, Heimat(en)? Beiträge zu einer Theologie der Migration, Zürich 2017.

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Einleitung »Israels Heimatbegriff ist jeder Vorstellung des Autochthonen strikt entgegengesetzt. Heimat ist für Israel nicht das Land, in dem man immer schon war, sondern das, in das man gekommen ist, kommt, kommen wird. Heimat gibt es am Ende, nicht am Anfang einer Geschichte. Nicht das Recht dessen, der zuerst da war, bildet Heimat, auch keine blutmäßige Bindung von Volk und Erde. Vielmehr gilt für Israels Heimat ein Satz, den Horkheimer und Adorno in der ›Dialektik der Aufklärung‹ formulierten: ›Heimat ist das Entronnensein‹. Von diesem Satz her lässt sich die Exodusgeschichte als Heimatgeschichte beschreiben.«80

Auch hier wird eine theologisch hochbedeutsame Dialektik sichtbar: Der Weg ist die Fremde meint zugleich eine Heimkehr. Was bedeutet nun dieser christologische »Weg in die Fremde«? Vielfach wurde ein beliebter ekklesiologischer Kurzschluss vollzogen und Christi Weg in die Fremde als der Weg der sich auf ihn berufenden Kirche in die »Verweltlichung« interpretiert, verbunden mit der Forderung nach einer »Selbstsäkularisierung« als »Selbstentäußerung« (Kenosis) der Kirche.81 Ralf Frisch sieht die Kirche exakt hier gegenwärtig am Scheideweg und vor die Alternative gesteht: Verweltlichung oder Weltfremdheit?82 Er betont indes, dass es ihm »nach und nach immer klarer [geworden sei; M.H.], dass die Vision einer ihrer Weltfremdheit beraubten Kirche nicht die Therapie, sondern das Symptom und vielleicht sogar die Ursache der Malaise des modernen Protestantismus fünfhundert Jahre nach der Reformation darstellen könnte.«83 Um einen kirchlichen Exodus aus der Weltfremdheit darf es nach Frisch gerade nicht gehen.84 Der Weg in die Fremde meint mithin mitnichten »Verweltlichung« im Sinne einer Preisgabe aller Weltfremdheit. Die Frage lautet indes: Wieviel Weltfremdheit gehört zur Kirche?85 Quantifizierbar dürfte ein entsprechendes Maß schwerlich sein. Soviel lässt sich – ekklesiologischer Kurzschluss hin oder her – freilich sagen, nämlich dass die Kirche in der Nachfolge Jesu, der etwa mit 80

Ebd. Siehe M. Horkheimer / Th.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 132001, 86. 81 Vgl. dazu kritisch T. Jähnichen, Der Protestantismus zwischen »Selbstsäkularisierung« und Rückzug aus der »Welt«. Theologische Deutungen zur Rolle der evangelischen Kirche in der Gesellschaft, in: W. Damberg u.a. (Hg.), Gottes Wort in der Geschichte. Reformation und Reform in der Kirche, Freiburg i.Br. 2015, 226–250. 82 Frisch, Was fehlt der evangelischen Kirche?, 190. 83 Ebd. 84 W. Kreck, Grundfragen der Ekklesiologie, München 1981, 283–288 (»Fremdlingschaft der Kirche in der Welt«); M. Volf, Christliche Identität und Differenz. Zur Eigenart der christlichen Präsenz in den modernen Gesellschaften, ZThK 92 (1995), 357–375; E. Busch, Fremdlingschaft. Selbstbesinnung der Kirche am Ende ihrer anerkannten Weltgeltung, in: ders., Verbindlich von Gott reden. Gemeindevorträge, Neukirchen-Vluyn / Wuppertal 2002, 183–192. 85 So in Anlehnung an M. Hailer, Wie viel Weltfremdheit gehört zur Wiedergeburt? Ein Versuch, Nietzsches »Fluch auf das Christentum« ein wenig Segen abzugewinnen, in: R. Feldmeier (Hg.), Wiedergeburt, BThS 25, Göttingen 2005, 101–148.

… in die Fremde

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seiner Hinwendung zu der »fremden« Samaritanerin am Brunnen (Joh 4,1–42) oder zu den »fremden« Zöllnern und Sündern, mit denen er Tischgemeinschaft hat,86 zugleich kritische Distanz zur Welt und ihren (Funktions-)Eliten einnimmt.87 Insofern dürfte gelten: »Aus der kritischen Distanz ist die Welt nicht verschwunden oder unerheblich, wie es die Rede von Weltfremdheit als Vorwurf meint, sehr wohl aber werden die in ihr geltenden Selbstverständlichkeiten und Regeln unter dem Leitbegriff der Vorläufigkeit betrachtet.«88 Vorläufigkeit bezieht sich auf das kommende Reich Gottes.89 Aufgrund dieser Differenz ist die kritische Distanz vorläufig, d.h. for the time being, unaufgebbar. Es geht mit anderen Worten und ins Ethische gewendet darum, »Entsprechungen aufzusuchen, in denen eine Gestalt der Mensch und Natur gemeinsamen Lebenswelt sichtbar wird, welche gleichnishaft vorweg abbildet, was im Reich Gottes zu seiner Erfüllung und seiner Wahrheit kommt.«90 Im Lichte des Reiches Gottes wird die (Um-)Welt betrachtet »als gleichnisfähig und gleichnisbedürftig hin auf die Zukunft. […] Die Welt der Gegenwart ist einerseits so beschaffen, dass Gottes Zukunft nicht mit der totalen Abwendung von ihr identisch ist – sie ist gleichnisfähig, weil Nachfolge in ihr und für sie stattfindet. Nicht minder aber ist sie gleichnisbedürftig – wäre sie alles, was sub specie Dei der Fall ist, dann wäre dem schwärzesten Zynismus als Lebenshaltung kaum etwas entgegenzusetzen. In diesem Sinne tritt die biblische Perspektive […] ein in einen Streit 86

Vgl. O. Hofius, Jesu Tischgemeinschaft mit den Sündern, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, 19–37. 87 Das Motiv der Fremde wirft natürlich auch Fragen auf, vordringlich etwa die Frage: »Wie können wir JHWHs Lied singen in dem fremden Land?« (Ps 137,4) als Leitfrage einer Diasporatheologie. Zugleich handelt es sich um ein befreiungstheologisch bzw. vielleicht noch eher postkolonial anschlussfähiges Motiv, das – vereinfacht gesagt – besagt, dass Gott nicht in der Mitte der Gesellschaft zu finden ist, sondern am Rand eine neue Mitte begründet. So ähnlich jedenfalls auch M. Althaus-Reid (Der göttliche Exodus Gottes. Unfreiwillig an den Rand gedrängt, für die Marginalisierten Partei ergreifend oder wirklich marginal?, Conc 37 [1/2001], 18–25), die ebenfalls problematisiert, dass Gott nicht einfach nur als Option für die Marginalisierten an den Rändern der Gesellschaft gedacht werden darf, sondern eben in kritischer Distanz zur »Mitte« respektive den Eliten. 88 Hailer, Wie viel Weltfremdheit gehört zur Wiedergeburt?, 147. 89 M. Volf (Von der Ausgrenzung zur Umarmung. Versöhnendes Handeln als Ausdruck christlicher Identität, übers. von P. Aschoff, Marburg 2012, 62) gibt zu Recht zu bedenken: »Die Kinder Abrahams sind jedoch nicht schlicht und ergreifend Fremde. Ihr ›Fremdheit‹ resultiert nicht aus dem negativen Akt, alle Bindungen aufzugeben, sondern aus dem positiven Akt, sich Gott und seiner verheißenen Zukunft anzuschließen. Wenn sie aus ihrer Kultur heraustreten, treiben sie nicht in einem unbestimmten Raum und betrachten die Welt aus jeder möglichen Richtung. Stattdessen haben sie mit einem Fuß in ihrer Kultur und dem anderen in Gottes Zukunft – interne Differenz – einen Standpunkt, von dem aus sie das Selbst und den anderen erkennen und beurteilen können, nicht nur zu ihren eigenen Bedingungen, sondern im Licht der neuen Welt Gottes«. 90 Ch. Link, Überlegungen zum Problem der Norm in der christlichen Ethik, ZEE 22 (1978), (188–199) 198. Dort kursiv.

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Einleitung um die Wirklichkeit. Sie wird der Überhöhung des Faktischen als auch sich heraus gut genauso widersprechen wie dem Wahn, das Heil in der Abwendung zu suchen. Dass dies eine eminent konstruktive und mitnichten weltflüchtige Perspektive ist, sollte in den jeweiligen Konkretionen des christlichen Lebens erfahrbar sein.«91

4. Zur Disposition des vorliegenden Bandes Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928–2002) hat einem seiner Aufsatzbände den sprechenden Titel »Verwegenheiten« gegeben. Er betont in der Einleitung: »Die hier gesammelten Aufsätze und Ansprachen verfolgen einen Weg, wenn auch noch kein Ziel. Das ist einer der Gesichtspunkte unter denen man sie ver-wegen nennen kann.«92 Ich war versucht, mich diesem Statement inhaltlich anzuschließen und es dementsprechend auf diesen Band zu übertragen. Bei Lichte betrachtet, muss ich freilich konzedieren, dass dies einem »understatement« gleichkäme. Zwar handelt es sich beim vorliegenden Band nicht um ein »Lehrbuch«, sondern ein »Lernbuch«, das meinen eigenen Lernweg dokumentiert. Doch beschreibt es nicht nur eine Wegstrecke, sondern auch ein Programm. Es liefert zudem eine eigentümliche Problemexposition, die ich im Folgenden erläutern möchte.93 Sie wird gleich im Abschnitt A des vorliegenden Bandes geliefert. Dort lege ich die Karten auf den Tisch und stelle das Programm einer Narrativen Christologie als Christologie auf dem Weg in die Fremde anhand des Leitmotivs des Christus peregrinus gewissermaßen thetisch vor (A.I.). Der Christus peregrinus geht in die Fremde und begegnet als Fremder. Er identifiziert sich zugleich mit den Fremden und provoziert Gastfreundschaft. Eine narrative Christologie, die den Christus peregrinus in ihr Zentrum gestellt sieht und als solchen erzählt und reflektiert, fördert Gastlichkeit und Fremdenfreundlichkeit (Philoxenie)94 und wehrt – negativ gewendet – Fremdenfeindlichkeit ab, indem sie Gastlichkeit als Empfang des Christus repräsentierenden Anderen versteht: »Ich war fremd, und ihr habt mich nicht aufgenommen« (Mt 25,43). In A.II. erfolgt eine Vertiefung dieser besonderen christologia viatorum, indem ich Einwände gegen diesen programmatischen Aufschlag zur Sprache bringe und mich mit diesen auseinandersetze. Es geht mit anderen Worten um die Erörterung der Frage, ob Christologie tatsächlich erzählt werden soll. Meine Exploration geschieht im Gespräch mit den beiden narratologisch-christologischen Vordenkern Karl Barth und Friedrich Mildenberger, deren theologischem Denken ich mich – freilich in unterschiedlicher Intensität – verbunden weiß.

91

Hailer, Wie viel Weltfremdheit gehört zur Wiedergeburt?, 147f. Marquardt, Einleitung, 9. 93 Vgl. a.a.O., 11. 94 Vgl. E. Oeser, Die Angst vor dem Fremden. Die Wurzeln der Xenophobie, Darmstadt 2016. 92

Zur Disposition des vorliegenden Bandes

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Nach diesem eher thetischen Aufschlag erfolgt im weiteren Verlauf des Bandes in sechs eigenständigen Abschnitten (B–G) die Entfaltung und materiale Ausgestaltung des Programms. Es hat den Anschein, als würden in immer neuen Anläufen in den einzelnen Kapiteln im Sinne sich erweiternder konzentrischer Kreise die Radien größer und größer und die Kreise immer weiter, die die kirchlichen und gesellschaftlichen Bereiche mit ihren spezifischen Diskurslagen abbilden, in denen sich die entsprechenden Ausführungen bewegen. Ein Bild wie das von einem ins Wasser geworfenen Stein, der Kreise zieht, wäre jedoch irreführend. Denn inwiefern ist etwa die Extension der Theologie als Disziplin (siehe Abschnitt D: Christologie intradisziplinär) größer als die der Kirche, sei es der reformierten Kirche (siehe Abschnitt B: innerkonfessionelle Christologie) oder der Ökumene (siehe Abschnitt C: Christologie interkonfessionell)? Oder, um ein weiteres Gegenbeispiel anzuführen: Inwiefern ist die Extension des Bereichs Kultur (siehe Abschnitt F: Christologie interkulturell) kleiner als die des Bereichs Religion (siehe Abschnitt G: Christologie interreligiös)? Solche Größendimensionierungen wären mehr als fragwürdig und erlauben keine größentechnische Festschreibung, wie sie mit dem mehr oder weniger statischen Modell konzentrischer Kreise einhergeht. Insofern lässt sich die Komposition des vorliegenden Bandes nur sehr bedingt mit dem Bild der konzentrischen Kreise vergleichen. Den innersten, engen Kreis bildet meine eigene reformierte Konfession, in der ich in Siegen-Wittgenstein aufwuchs und religiös sozialisiert wurde. Die Pers­ pektive, die ich in diesem Abschnitt (B) einnehme, ist innerkonfessioneller Natur. Die Überschrift des zweiten Abschnitts lautet entsprechend: »Christologie innerkonfessionell: Auf einem reformierten Weg zu einer trinitarischen Hermeneutik der Rede von Christus und dem Geist«. In dem Beitrag »Der geistgesalbte Christus« (B.III.) setze ich mich im Sinne einer kritischen Würdigung mit der umstrittenen Geistchristologie des reformieren Theologen und langjährigen Moderators des Reformieren Bundes Hans-Joachim Kraus (1918–2000), einem der Pioniere des jüdisch-christlichen Dialogs in Deutschland, auseinander. Aus trinitätstheologischer Perspektive wird sein Anliegen gewürdigt, die Bedeutung des Geistes im Leben Jesu Christi hervorzuheben und den Exklusivismus der Reduktion christologischer Reflexion auf die Vater-Sohn-Relation zu überwinden. Zugleich erfolgt eine Kritik im Blick auf die adoptianischen und subordinatianischen Tendenzen seines geistchristologischen Denkens, das die beziehungsreiche Fülle der Trinität, sprich: die vielfältigen, reziproken trinitarischen Relationen nicht berücksichtigt. Es wird m.E. der gesamttrinitarischen Dimensionalität der Christologie nicht gerecht. Der nächste Beitrag (B.IV.) bildet gleichsam einen Exkurs zum vorausgehenden, indem ich dort die umstrittene These von Kraus kritisch evaluiere, dass sich im Heidelberger Katechismus (1560), dem weltweit verbreitetsten reformierten Katechismus, eine Geistchristologie manifestiere. Im Ergebnis wird diese These eher abschlägig beschieden. Dem Anliegen von Kraus weiß ich mich gleichwohl verbunden, das Christoph Schwöbel auf den Punkt gebracht hat: »Die Frage ›Wer ist Jesus für uns?‹ läßt sich nicht ohne Beziehung zu dem Gott Israels, den Jesus

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Einleitung

Vater nennt, und nicht ohne Beziehung auf die Gegenwart Gottes für uns, d.h. auf den Geist, beantworten.«95 Im dritten Abschnitt (C) geht es dann um eine inter- statt innerkonfessionelle Perspektive und zwar auf dem Weg zu einer tragfähigen Soteriologie. Diese Soteriologie wird zunächst (C.V.) freundschaftstheologisch entfaltet96 und zwar unter Rückgriff auf ein ökumenisch besonders wirkmächtiges Lehrstück, nämlich die Lehre vom dreifachen Amt Christi, das bis hinein in die römisch-katholische Kirche ausgestrahlt hat und sich auch in einem erwecklichen Lied wie »Welch ein Freund ist unser Jesus« widerspiegelt. Die traditionelle Lehre bedarf freilich der dogmatischen Revision. Ein freundschaftstheologischer Zugang zu diesem Lehrstück vermag, so meine Thesen, dessen systematisch-theologische Leistungsfähigkeit für die Gegenwart zu erschließen. Der johanneische Freundschaftsbegriff, wie er im Johannesevangelium explizit vor allem in der zweiten Abschiedsrede und implizit in der Fußwaschungserzählung entfaltet wird, erweist sich dabei als geeignetes Interpretament der Lehre vom dreifachen Amt Christi. Dessen drei Aspekte vermag das Freundschaftsprädikat zu erschließen: den prophetischen Aspekt der Kundgabe von Gottes Willen im Sinne des Erkenntnis- und Realgrundes der Freundschaft, den königlichen als »Umwertung aller Herrschaft« im Freundschaftsdienst der Fußwaschung und den priesterlichen als Gabe des eigenen Lebens für die Freunde im Akt inkludierender Stellvertretung. Ein weiteres traditionelles Lehrstück, das der Revision bedarf, bildet das der Wiedergeburt. Der einst dogmatisch populäre Wiedergeburtsbegriff ist im Zuge seiner politischen Vereinnahmung und seines theologischen Missbrauchs seitens neokonservativer und evangelikaler Christenmenschen diskreditiert worden, die ihn zur Selbstbezeichnung beanspruchen. Der Beitrag C.VI. versucht ihn im Zusammenhang eines alternativen theologischen Sprachspiels wiederzugewinnen, welches dem biblischen Gebrauch des Begriffs »Wiedergeburt« als Umschreibung der Neuschöpfung in Christus folgt. Im Abschnitt D folgt ein erneuter Perspektivenwechsel, weg von einer kirchlich-konfessionellen hin zu einer theologisch-intradisziplinären Fokussierung. Es geht mit anderen Worten um das intradisziplinäre Gespräch im Raum der akademischen Theologie. Dieses wird zuerst mit der neutestamentlichen Exegese im Blick auf die Frage nach dem historischen Jesus geführt (D.VII.). Von Martin Kählers (1835–1912) wegweisendem Vortrag »Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus« (1892) ausgehend, wird im Gespräch mit dem sog. Jesus-Memory-Approach (J.D.G. Dunn, J. Schröter) die Suche nach dem historischen Jesus als Holzweg dargestellt: »Der ›historische Jesus‹ kommt mir vor wie ein Chamäleon: Auf welche Farbe man ihn setzt, die nimmt er an.«97 95

Ch. Schwöbel, Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen 2002, 33. Bereits K. Barth (KD IV/1, 87) konnte vom Bundespartner auch als »Freund« sprechen. 97 D. Schellong, »Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?« Rückfragen zur Suche nach dem »historischen Jesus«, Einwürfe 6, hg. von F.-W. Marquardt u.a., München 1990, (2–47) 29. 96

Zur Disposition des vorliegenden Bandes

33

Eine weitere Dialogkonstellation wird sodann mit der Praktischen Theologie im Beitrag »Vom Praktisch-Werden der Christologie« (D.VIII.) gewählt. Es geht um eine Untersuchung, genauer gesagt einen Vergleich, wie Karl Barth und Rudolf Bultmann Weihnachten gefeiert haben. Christologie wird hier unter komparatistischem Zugriff als eine im wörtlichen Sinne praktische Theologie, als scientia eminens practica, sichtbar. Der Abschnitt E fokussiert den Religionsunterricht und die Religionspädagogik. Im religionspädagogischen Diskurs häufen sich die Stimmen derjenigen, die aus didaktischen wie theologischen Gründen gegenüber jesulogischen Ansätzen für eine veränderte religionsdidaktische Zugangsweise zur Christologie plädieren. Explizit wird die Forderung nach gemeinsamen Kraftanstrengungen über die theologischen Disziplinengrenzen hinweg zur Überwindung der problematischen Ansätze erhoben. In dem Beitrag E.IX. unternehme ich den Versuch, angeleitet von der markinischen Rede von Jesus als dem Sohn Gottes,98 eine Christologiedidaktik zu entwickeln, die sich sowohl in theologischer wie didaktischer Hinsicht als tragfähig erweist. Das integrale Bemühen, dabei nicht nur religionsdidaktische, sondern auch exegetische und dogmatische Grundeinsichten zu berücksichtigen, kennzeichnet den vorliegenden Versuch, dem Mysterium der Gottessohnschaft bibeldidaktisch auf die Spur zu kommen. Zur Konkretion werden Impulse für die Unterrichtspraxis aufgezeigt und eine Unterrichtsreihe avisiert. Auch der Beitrag E.X. greift das christologiedidaktische Anliegen anhand der Leitfrage »Jesus als Vorbild?« auf. Hier werden Impulse Dietrich Bonhoeffers (1906–1945) zum ethischen Lernen anhand von kritisch-gebrochenen Vorbildern aufgegriffen. Denn genau dazu sind Vorbilder – insbes. kritisch-gebrochene Vorbilder, d.h. Heldinnen und Heilige mit Macken und Fehlern, Schwächen und Schrullen – ja da, um zu bilden: »Ein gutes Vorbild ist ein Mensch, an dem man sich im besten Sinne bilden kann.«99 Gerade deshalb eignet sich Jesus Christus offenkundig gerade nicht als Vorbild, da er »ohne Sünde« (u.a. 2Kor 5,21; Hebr 4,15; vgl. auch Joh 18,38; 1Petr 1,18f.; 2,22; 1Joh 3,5) war.100 98

Th. Söding (War Jesus wirklich Gottes Sohn? Die neuere Debatte um Jesus und die Christologie, ZNT 4 [2001], 2–13, 2) verweist zu Recht auf die zentrale Bedeutung des Gottes Sohn-Prädikats: »In der Gottessohnschaft Jesu spitzt sich die Frage zu. Denn ›Sohn Gottes‹ ist in allen neutestamentlichen Schriften und für die gesamte Lehre der Kirche zu dem Hoheitstitel geworden. Seine Attraktivität resultiert daraus, dass er sowohl die essentielle Verbundenheit Jesu mit Gott, dem Vater, als auch die essentielle Verbundenheit mit den Menschen, den Söhnen und Töchtern Gottes, auszudrücken vermag, sowohl die Theozentrik Jesu als auch die Christozentrik des neutestamentlichen Heilsgeschehens. Der Gottessohntitel verbindet schon vor Paulus und besonders betont bei Johannes mit der Präexistenz Jesu. Die Gottessohnschaft Jesu bildet den Ausgangspunkt der altkirchlichen Trinitätstheologie. An der Gottessohnschaft macht sich deshalb auch die kritische Diskussion des Verhältnisses zwischen dem geschichtlichen Jesus und der neutestamentlichen Christologie fest.« 99 H. Prantl, Vorbilder, Süddeutsche Zeitung Nr. 176 vom 1./2.8.2020, 5. 100 Vgl. H. Gollwitzer, Zur Frage der »Sündlosigkeit Jesu«, EvTh 31 (1971), 496–506. In Kürze erscheint: E.L. Rehfeld, Sündlosigkeit und Existenzstellvertretung. Der Sohn Gottes

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Einleitung

Im Abschnitt F wird die kulturelle Begegnung mit Kunst, Philosophie und Fußball avisiert. »Christologie interkulturell« meint die Öffnung hin zu diesem Bereich, der exemplarisch a) als Kunst anhand der Karikatur »Der langhaarige Penner« von Miguel Fernandez (F.XI.), b) als (Bild-)Philosophie anhand des von Ludwig Wittgenstein in seiner Spätphilosophie verwendeten Vexierbildes der Kaninchenente (F.XII.) und c) als Fußball anhand des profanen Gleichnisses »Von der Menschwerdung des Fußballgottes Ronaldo« (F.XIII.) Konkretion erfährt. Kreuzestheologie (a bzw. F.XI.), Zweinaturenlehre (b bzw. F.XII.) und das Inkarnationsgeschehen (c bzw. F.XIII.) werden dabei »interkulturell« in den Blick genommen. Hier wird etwa deutlich, dass sich der Fußball in der medialen Berichterstattung nicht nur reli­giöser Bilder, nämlich christologischer Analogiebildungen und Metaphern bedient, sondern dass für eine »Christologie interkulturell« die an sich säkulare Welt des Fußballs durch Analogiebildung als Stoff für (post- oder spät-) moderne Gleichnisse dienen kann. Ähnliches gilt für Kunst und (Bild-)Philosophie, die ebenfalls auf ihre Weise helfen können, äußerst komplexe theologische Zusammenhänge wie die Kreuzestheologie oder die Zweinaturenlehre zur Sprache zu bringen. Abschließend erfolgt im Abschnitt G eine Hinwendung zur »interreligiösen Christologie«. Eine Theologie der Religionen wird hier weniger ausgeführt als vielmehr projektiert, indem zunächst als Zugang (»Türöffner«) zu derselben das Extra-Calvinisticum und die Lichterlehre Karl Barths gewählt werden (G.XIV.). Eine Theologie der Religionen wird von einer theologischen Religionskritik flankiert werden müssen (G.XV.). Das Zentrum theologischer Religionskritik bildet dabei das Bilderverbot, dessen christologische Pointe nach Kol 1,15 besagt: »Er [Christus; M.H.] ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes«. Theologische Religionskritik und eine Theologie der Religionen bilden die beiden Seiten einer Münze, nämlich der einen Münze »Religionstheologie«, also gleichsam Kopf und Zahl. Das heißt: Theologische Religionskritik ist die andere Seite der Religionstheologie, die jede Theologie der Religionen wird begleiten müssen. Umgekehrt gilt ebenso: Eine Theologie der Religionen stellt die Kehrseite der theologischen Religionskritik dar und wird diese als die andere Seite der Religionstheologie nun ihrerseits begleiten müssen. Beide, theologische Religionskritik und Theologie der Religionen, sind als unabweisliche Implikate der Religionstheologie zu verstehen. Ihr Verhältnis lässt sich formal als das reziproker Implikation bezogen auf die Religionstheologie verstehen. Dieser in seiner besonderen Disposition entfaltete Band bringt, sobald man das Augenmerk vom formalen hin zum inhaltlichen Arrangement der einzelnen Beiträge richtet, eines sehr deutlich zur Sprache: Dieser Band ist weder als Monolog angelegt, noch im Monolog entstanden, sondern vielmehr im Gespräch mit

als Repräsentant der Menschheit nach der Darstellung des Markusevangeliums, Habilitationsschrift TU Dortmund 2020.

Schlussbemerkung

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der Tradition.101 Theologen wie Johannes Calvin, Martin Kähler, Rudolf Bultmann, Hans Joachim Iwand, Dietrich Bonhoeffer, Hans-Joachim Kraus, Friedrich Mildenberger, Hans-Georg Geyer und vor allem Karl Barth kommen neben einem Denker wie Ludwig Wittgenstein und selbst »Künstlern« wie Miguel Fernandez und Cristiano Ronaldo (ein begnadeter »Ballkünstler«) zu Wort.

5.  Schlussbemerkung: Wegfindung durch VerWEGenheit Ich lasse mich darin von der talmudischen Weisheit und Verheißung leiten: »Wollest auf das Alte hören, so wirst du auf das Neue hören« (Brachot 40a). Anders gesagt, kann ich mich nur der Einschätzung Eberhard Jüngels anschließen, wobei ich den Vergleich mit ihm in wirklich jeder Hinsicht scheue: »Ich bin der verwegenen Meinung, daß meine Lehrer noch immer etwas mehr zu sagen haben als ich und daß das Potential ihrer Theologie noch nicht ausgeschöpft ist.«102 Ebenso treffend dürfte die ganz ähnlich gelagerte Bemerkung Friedrich-Wilhelm Marquardts sein, mit der ich mich ebenfalls identifizieren kann: »Gewiß scheint es eine besondere Verwegenheit zu sein, das Neue im Alten hören und entdecken zu wollen – statt dem Alten ein Neues einfach entgegenzustellen. Aber ich halte nichts von theologischer Freibeuterei.«103 Es bekäme der Theologie schlecht, ständig freihändig Fahrrad zu fahren. Das intensive Gespräch mit der Tradition »scheint mit nach wie vor ein Mittel, sich geschichtlich zu verantworten, und ist ein schwer verzichtbares Instrument der Wegfindung und Wegweisung.«104

101

Zum Traditionsbezug vgl. meine Ausführungen in: M. Hofheinz, Ethik – reformiert! Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert, FRTH 9, Neukirchen-Vluyn 2017, 1–5. 102 E. Jüngel, Beitrag, in: J. Moltmann (Hg.), Wie ich mich geändert habe, KT 151, Gütersloh 1997, (11–21) 11. 103 Marquardt, Einleitung, 9. 104 Ebd.

a. Christologie unterwegs Auf dem Weg zu einer narrativen Christologie

I. Christus peregrinus Narrative Christologie als Christologie auf dem Weg in die Fremde

»Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.« 1 (nach Sören Kierkegaard)

1. Plädoyer für eine narrative Christologie: Die Notwendigkeit des Erzählens Das Erzählen ist unverzichtbar – ob in Kirche oder Schule. Für beide gilt: »In unserer Schultradition ist die Erzählung die Form schlechthin, in der sich Christentum vermittelt.«2 »Einübung im Christentum«3 kann und wird es ohne Erzählen wohl nicht geben. Schon der Psalmist appelliert an den Erzählwillen: »Was wir gehört und erfahren haben, was unsere Vorfahren uns erzählten, wollen wir ihren Söhnen nicht verschweigen, sondern erzählen der künftigen Generation die Ruhmestaten des HERRN und seine Stärke und seine Wunder, die er getan hat« (Ps 78,3f.; Zürcher Bibel, 2007). Der Liederdichter Paul Gerhardt (1607–1676) steht in dieser biblischen »Erzähltradition«, wenn er singt: »Ich will dein Tun je mehr und mehr / aus hocherfreuter Seelen / vor Deinem Volk und aller Welt, / solang ich leb, erzählen.«4 Warum aber wird die Notwendigkeit des Erzählens in theologischen Zusammenhängen so sehr betont? Woher kommt die damit unterstellte besondere theologische Dignität des Erzählens? Woraus resultiert sie? Wir ahnen 1

Zit. nach J. Schubert, Heinrich Böll, hg. von der Heinrich-Böll-Stiftung, Darmstadt 2017, 265. Genau zitiert heißt es in den Tagebüchern (S. Kierkegaard, Die Tagebücher 1834–1855. Auswahl und Übertragung von Th. Haecker, Innsbruck 1923, 157): »Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, daß das Leben rückwärts verstanden werden muß. Aber darüber vergisst man den andern Satz, daß vorwärts gelebt werden muß.« 2 Ch. Bizer, Die Bibel als Form – in ihren Formen. Ein didaktischer Zugang zur Heiligen Schrift, JRP 18 (2002), (124–134) 131. Fernerhin: M.E. Fuchs, Bibel erzählen – Grundlagen, in: dies. / D. Schliephake (Hg.), Bibel erzählen, Neukirchen-Vluyn 2014, 15–18. 3 S. Kierkegaard, Einübung im Christentum (GW 26. Abt.), hg. von E. Hirsch / H. Gerdes, Gütersloh 21986. 4 EG 497,14 (»Ich weiß mein Gott, dass all mein Tun«).

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Christus peregrinus

vielleicht bereits, die Worte des Psalmisten und Paul Gerhardts noch im Ohr, dass die Notwendigkeit des Erzählens etwas mit Gott selbst, seiner Selbstbewegung und Menschlichkeit, zu tun hat, ohne deshalb schon sinnspruchhaft zuspitzen zu können: »Will das Denken Gott denken, muß es sich im Erzählen versuchen.«5 Es sind recht unterschiedliche Antworten auf diese Frage gegeben worden, die wir zunächst schlaglichtartig einblenden wollen. Der Bultmann-Schüler Ernst Käsemann (1906–1998) etwa hat auf seine Weise eine Antwort auf diese Frage gegeben: »Das Kerygma wird, sofern es nicht auch erzählt wird, Proklamation einer Idee und, sofern es nicht immer neu erzählend gewonnen wird, historisches Dokument.«6 Käsemann bezieht sich auf das Kerygma, also die Verkündigung des Evangeliums. Vielleicht ist seine kerygmatheologische Auskunft jedoch bereits etwas enggeführt, weil sie nur die Predigt, genauer gesagt: die lebendige Bekanntmachung des Evangeliums im Ereignis der christlichen Predigt fokussiert. Eine andere Antwort ist bibeldidaktischer Natur: »Erzählungen sind das exemplarische Lernfeld der Bibel, das Medium theologischer Erkenntnis. So pflegt sich auch sonst realitätsbezogenes Lernen zu vollziehen: ›verba movent, exempla trahunt‹«7 – die Worte bewegen, die Beispiele ziehen. Aber auch hier könnte eine Engführung vorliegen, die diesmal freilich lerntheoretisch erfolgt. Auch der von dem Husserl-Schüler Wilhelm Schapp (1884–1965) betonte anthropologische Sachverhalt, dass wir gleichsam »in Geschichten verstrickt«8 sind und zu erzählen beginnen, wenn wir nach unserer Identität gefragt werden, hilft – so richtig diese Auskunft auch sein mag – hier wohl kaum weiter, denn wir fragen schließlich nicht nach der allgemein anthropologischen, sondern der spezifisch theologischen Dignität des Erzählens. Keine der eingeblendeten Antworten lässt sich einfach als »falsch« (dis) qualifizieren. Jede versucht auf ihre Weise, dem Geheimnis der Erzählnotwendigkeit auf die Spur zu kommen, ohne jedoch bereits hinreichend auskunftsfähig zu sein. Vielleicht wird man zunächst einmal auf die »Urkunde« des christlichen Glaubens rekurrieren müssen und schlicht feststellen dürfen: Die Bibel ist randvoll mit Erzählung. »Wir finden in der Bibel eine Überfülle von Geschichten. […] Erzählung

5

E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 41982, 414. Nach E. Jüngel (ebd.) wird das Denken, das Gott verstehen will, »immer wieder auf das Erzählen zurückgeworfen. Der Gottesgedanke kann nur als – begrifflich kontrollierte – Erzählung von Geschichte gedacht werden.« 6 E. Käsemann, Die Anfänge christlicher Theologie, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 31970, (82–104) 95. 7 Ch. Link, Die Theologie vor der »linguistischen Wende«, in: ders., In welchem Sinne sind theologische Aussagen wahr? Zum Streit zwischen Glauben und Wissen. Theologische Studien II, Neukirchen-Vluyn 2003, (131–139) 139. 8 W. Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, 1953. Dazu: H.P. Lichtenberger, »In Geschichten verstrickt.« – Finden sich bei Wilhelm Schapp Ansätze zu einer narrativen Ethik?, in: M. Hofheinz u.a. (Hg.), Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, Zürich 2009, 191–206.

Plädoyer für eine narrative Christologie

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ist die sprachliche Grundhaltung des biblischen Zeugnisses.«9 Ist das aber nicht bereits eine recht willkürliche gattungsspezifische Reduktion? Wir haben es in der Bibel ja nicht nur, wie uns die Formgeschichte lehrt, mit Erzählungen, sondern auch Paränesen, einzelnen Apophthegmen, Epiphanieberichten, Peristasenkatalogen, Bekenntnisformeln etc. als Gegenüber zur Erzählung zu tun. Gemeint sein kann offenkundig nicht die literarische Gattung. Man wird indes festhalten können, dass auch alle anderen biblischen Texte in Geschichten eingebettet sind. Insofern ist zunächst »ganz einfach festzuhalten, dass auch die anderen Textgattungen – etwa die Gesetzescorpora im Pentateuch – gelesen werden müssen im Rahmen der Erzählungen – etwa von Auszug und Wüstenwanderung. Die Propheten reden in bestimmte Situationen hinein, auch wo sie nicht erzählen, und bestimmte Situationen sind stets unverwechselbar und unwiederholbar. Das gilt für Gebete, also etwa für die Psalmen, so sehr sich dabei bestimmte Grundsituationen und -typen herausbilden mögen. Mit ›randvoll‹ meine ich also eine Bibel, die überquillt von Geschichte, von Genesis 1 bis Apokalypse 22 die großen Taten Gottes erzählen will und dafür auch andere Textsorten verwendet.«10

Dieser weite biblisch-theologische Horizont ist wichtig, auch und gerade dann, wenn wir nach narrativer Christologie fragen. Wir zeigen damit nämlich bereits an, dass es uns nicht etwa um Leben-Jesu-Forschung11 und ihre Quellen geht, auch nicht um »Die Geschichte der synoptischen Tradition«12, sondern eine narrative Christologie, die auch andere biblische Traditionszusammenhänge in den Blick nimmt. Die Herausforderungen beginnen freilich bereits, wenn man den engeren Blick auf die Evangelien und deren narratives Christuszeugnis richtet. So hebt etwa Dietrich Ritschl (1929–2018) im Rahmen seiner »story-Konzeption«13 hervor: »Wenn die frühesten Christen sagen wollten, wer Jesus war, so erzählten sie viele Einzelgeschichten, wiederum komponiert und selektiert nach der Steuerung einer schwer oder gar nicht erzählbaren Gesamt- oder Meta-Story. Es ist kein Zufall, daß das Neue Testament vier solche Sammlungen statt einer definitiven (wie sie Tatian im 2. Jahrhundert in seinem Diatessaron anstrebte) darbietet. Man kann nicht

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E. Maurer, »… randvoll mit spannenden Geschichten«, ru intern 30, 4/2001, (2–4) 2. Ebd. Ähnlich M. Mühling, Liebesgeschichte Gott. Systematische Theologie im Konzept, FSÖTh 141, Göttingen 2013, 29f.; Vgl. E. Maurer, Dogmatik als Wissenschaft, in: ders., Geistreiche Vernunft. Dogmatik als lebendiges Denken, hg. von C.A. Schneider / L.C. Seelbach, Göttingen 2018, 15–27. 11 Vgl. A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, UTB 1302, Tübingen 91984. 12 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 12, Göttingen 2 1931. 13 Zur story-Konzeption vgl. D. Ritschl / H.O. Jones, »Story« als Rohmaterial der Theologie, TEH 192, München 1976; D. Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, KT 38, München 21988; ders., Bildersprache und Argumente. Theologische Aufsätze, Neukirchen-Vluyn 2008. 10

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kurz und bündig sagen, wer Jesus ist.«14 Von der »story« Jesu lässt sich sagen, dass sie »nicht nur der hinter den Evangelien erkennbare Grund ihrer Einheit, sondern der in ihnen repräsentierte Anlass ihrer Verschiedenheit«15 ist. Zudem stehen wir bereits vor unabweislichen Schwierigkeiten, wenn wir fragen, was mit dem narrativen Christuszeugnis der Evangelien im positiven Sinne gemeint ist. Die Abgrenzung im Negativen dürfte noch einigermaßen klar sein: »Bei den Evangelien handelt es sich weder um Biographien noch um eine bestimmte Form von Geschichtsschreibung«.16 Aber was dann? Gewiss ist dort nicht alles analogielos und völlig neu. Wir haben es mit Gattungsmerkmalen der Erzählung zu tun, mit mehr oder weniger typischen Erzählsituationen, die bestimmte Konstituenten aufweisen, etwa Oppositionen im Blick auf Personen, Perspektiven, Modi etc.17 Gleichwohl ist die Perspektive, aus der erzählt wird, und ist auch das Ereignis, das erzählt wird, neu und spezifisch, nämlich die Auferstehung Jesu Christi: »Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist ein Ereignis sui generis, das in seiner Einmaligkeit der auf Analogien und Korrelation angewiesenen historischen Wahrnehmung schlechthin entzogen ist«.18 Wie kann man indes diesem Ereignis im Rahmen einer narrativen Christologie Rechnung tragen und zwar einer narrativen Christologie, die nicht nur erzählt, sondern auch reflektiert, also einerseits reflektiert, indem und während sie erzählt, aber auch andererseits über 14

D. Ritschl, Zur Logik der Theologie, 46. Zum Verhältnis von Ritschls »story«-Konzeption und narrativer Theologie vgl. M. Hofheinz, Dogmatische Explorationen zu einer narrativen Christologie im Gespräch mit Karl Barth und Friedrich Mildenberger, in: Ch. Wiesinger / S. Ahrnke (Hg.), Erzählen. Ingrid Schoberth zum 60. Geburtstag, Göttingen 2019, (143–171) 144f.; 164f. Ähnlich wie Ritschl entwickelt auch S. Hauerwas (Jesus. The Story of the Kingdom, in: ders., A Community of Character. Toward a Constructive Christian Social Ethic, Notre Dame 1981, 36–52; 232–239) eine »story-Konzeption« bis in christologische Bezüge hinein. 15 M. Moxter, Erzählung und Ereignis. Über den Spielraum historischer Repräsentation, in: J. Schröter / R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Göttingen 2002, (67–88) 88. Dort z.T. kursiv. 16 O. Hofius, Die Frage nach dem »historischen Jesus« als theologisches Problem, in: H. Assel (Hg.), Leidenschaft für die Theologie, Leipzig 2012, (79–116) 91. So auch a.a.O., 115. 17 Vgl. F.K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen 82008. Fernerhin: S. Finnern / J. Rüggemeier, Methoden der neutestamentlichen Exegese. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Tübingen 2016, 173–235. 18 E. Jüngel, Thesen zur Grundlegung der Christologie, in: ders., Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen, München 1972, (274–295) 288 (Thesen 2.25 und 2.251). So auch B. Klappert, Einleitung. Diskussion um Kreuz und Auferstehung. Aspekte des Auferstehungsgeschehens, in: ders. (Hg.), Diskussion um Kreuz und Auferstehung. Auseinandersetzung in Theologie und Gemeinde, Wuppertal 61992, (9–52) 17f.: »Ist aber die Auferstehung ein analogieloses, d.h. jeglicher Entsprechung in der Geschichte ermangelndes Ereignis und hängt die historische Forschung an diesem Postulat einer allem Geschehen zugrundliegenden prinzipiellen Gleichheit, eines allem geschichtlichen Wechsel zugrundliegenden Kernes gemeinsamer Gleichartigkeit, so folgt daraus die Nichtverifizierbarkeit der Auferstehung, d.h.: die Auferstehung ist mit historischen Mitteln prinzipiell nicht faßbar.« Dort z.T. kursiv. Vgl. auch Barth, KD IV/1, 370.

Plädoyer für eine narrative Christologie

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das Erzählen hinaus reflektiert und argumentiert, jedoch dabei das Erzählen in der Reflexion und Argumentation nicht aus dem Blick verliert? Friedrich Mildenberger (1929–2012), der im Rahmen seiner »Biblischen Dogmatik« den Entwurf einer narrativen Geistchristologie vorgelegt hat, bemerkt treffend, dass sie »doch selbst nur sehr bedingt nacherzählen [kann] und dabei ihre Reflexionen mit einbringen [muß]. Sie darf aber andererseits die erschließende Macht solcher Geschichten nicht außer acht lassen.«19 Wer freilich nur erzählen kann, ist der Erzählung und ihrer suggestiven Metaphorik ausgeliefert.20 Insofern bleibt die begriffliche Arbeit indispensabel. Sie bezieht sich in ihrer klärenden und reflektierenden Intention und Funktion »auch auf die Erzählungen, Lieder und Bilder, die geeignetere Mittel der Beschreibung sind, aber nicht gefeit vor Irrtum und Mißbrauch. Insofern bedürfen auch sie der begrifflichen Reflexion und Überprüfung.«21 Erzählung und Argumentation, Mythos und Logos sind bleibend aufeinander angewiesen.22 Was die Stärke und besondere Wertigkeit der Erzählung ausmacht, hat Ingolf Dalferth wie folgt auf den Punkt gebracht: »Während sich begriffliches Denken in diskursivem Nacheinander und alternativen Argumentationen bewegt, vermag narratives Darstellen seine Text-Welt durch das kopräsente Beieinander solcher Gegensätze und ihre Kombination zu semantischen Kontrasten eines einheitlichen Sinnzusammenhangs zu strukturieren.«23 Dalferths Lehrer Eberhard Jüngel hat einmal bemerkt: »Im Begriff, so notwendig er ist, erstirbt das Ereignis sozusagen mitten in der Rede. Die erzählende Sprache hat die Chance, dass sich eine Entsprechung einstellt zu dem, wovon die Rede ist. Der Begriff wird deshalb keineswegs überflüssig. Er hat eine kontrollierende Funktion.«24

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F. Mildenberger, Biblische Dogmatik. Eine Biblische Theologie in dogmatischer Perspektive. Band 3: Theologie als Ökonomie, Stuttgart u.a. 1993, 173. 20 Vgl. M. Hailer, Glauben und Wissen. Arbeitsbuch Theologie und Philosophie, Göttingen 2006, 238. 21 W. Härle, Dogmatik, Berlin/Boston 42012, 251. 22 Anders F. Nietzsche (KSA 5, 402f.; Genealogie der Moral), der den »ächten Antagonismus« im Übergang vom Mythos zum Logos sieht. Vgl. Hailer, Glauben und Wissen, 182. 23 I.U. Dalferth, Gott. Philosophisch-theologische Denkversuche, Tübingen 1992, 242. 24 E. Jüngel, Die Leidenschaft, Gott zu denken. Ein Gespräch über Denk- und Lebenserfahrungen, hg. von F. Ferrario, Zürich 2009, 56.

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2. Die Osterperspektive und der Richtungssinn des Erinnerns. Erzähltheoretische Impulse Hans-Georg Geyers Hinter dem Anliegen einer narrativen Christologie steht die Einsicht, dass die Notwendigkeit des Erzählens nicht vor der theologischen Rede von Jesus Christus halt macht. Im Gegenteil. Wenn es denn »die Menschlichkeit Gottes« ist, die »wie jede Liebesgeschichte danach [verlangt], erzählt zu werden,«25 dann wird auch von Jesus Christus, in dem Gott Mensch wird und seine Menschlichkeit epiphan, ja profan werden lässt, zu erzählen sein. Narrative Christologie weiß darum, dass der Weg, auf dem theologisch angemessen von Christus geredet werden kann, »nicht schon die historische Rekonstruktion der Geschichte Jesu von Nazareth [ist], auch nicht die Antizipation eines allgemein einsichtigen Sinnentwurfes der Welt. Denn daß die biblische Überlieferung erzählend, in den Gattungen von Sage und Legende, von der Offenbarung berichtet, ist ein Hinweis darauf, daß die Frage, ›wie es wirklich gewesen ist (oder sein wird)‹, nicht an den Kern der Dinge führt. Wer erzählt, will erinnern.«26 Erinnern – das ist die Funktion narrativer Christologie und dies ist – bei Lichte betrachtet – auch bereits die Absicht des Christuszeugnisses der Evangelisten. Vom Erinnerungsparadigma und vom »Jesus remembered«27 ist in der gegenwärtigen Jesusforschung oft die Rede, ja, von einem Paradigmenwechsel vom historischen zum erinnerten Jesus. 28 Jedoch sind viele Fragen offen und das Dialogangebot aus der Exegese an die Systematische Theologie blieb bislang recht unbeantwortet. Meine Ausführungen sollen einen kleinen Gesprächsbeitrag leisten.

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Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, XVII. Ch. Link, In welchem Sinne sind theologische Aussagen wahr? Zur wissenschaftlichen Diskussion um den Wahrheitsanspruch der Bibel, in: ders., In welchem Sinne sind theologische Aussagen wahr? Zum Streit zwischen Glauben und Wissen. Theologische Studien II, Neukirchen-Vluyn 2003, (25–66) 61. 27 J.D.G. Dunn, Jesus Remembered. Christianity in the Making Vol. 1, Cambridge 2003; ders., Remembering Jesus. How the Quest of the Historical Jesus Lost Its Way, in: ders., The Oral Gospel Tradition, Grand Rapids / Cambridge 2013, 267–289. 28 Vgl. etwa C. Claussen, Vom historischen zum erinnerten Jesus. Der erinnerte Jesus als neues Paradigma der Jesusforschung, in: R. Englert u.a. (Hg.), Christologie. Ein religionspädagogischer Reader, Münster 2015, (11–23) 13; J. Schröter, Zur neueren Jesusforschung, ThLZ 139 (3/2014), (388–406) 397; 406; R. Zimmermann, Nur der gemalte Christus? Historische, erinnerte und erzählte Jesusbilder in der neutestamentlichen Wissen­schaft des 20. und 21. Jahrhunderts, ZDTh 31 (2/2015), (30–63) 32; 61 u.ö. Fernerhin: J. Schröter, Die aktuelle Diskussion über den historischen Jesus und ihre Bedeutung für die Christologie, in: Ch. Danz / M. Murrmann-Kahl (Hg.), Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert, Dogmatik in der Moderne 1, Tübingen 2010, (67–86) 68; J. Schröter, Der »erinnerte Jesus«: Erinnerung als geschichtshermeneutisches Paradigma der Jesusforschung, in: ders. / Ch. Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, 112–124. 26

Erzähltheoretische Impulse Hans-Georg Geyers

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Hans-Georg Geyer (1929–1999), ein – wie ich finde – bis heute zu Unrecht weitgehend übersehener und vergessener Theologe,29 hat im Blick auf die Erinnerung auf Folgendes aufmerksam gemacht: Für die Erinnerungsform der evangelischen Anamnesis ist es von entscheidender Bedeutung, ob sie protentional oder retentional erfolgt. Protential oder retentional30 – mit diesem Begriffspaar bedient sich Geyer der Terminologie aus Edmund Husserls Phänomenologie.31 Bei beiden Begriffen geht es um Grundarten der Intentionalität: »Unter Protention versteht er [Husserl; M.H.] den intentionalen Bezug des Bewußtseins auf solches Bewußte, dessen Eintritt in der Bewußtseinsgegenwart unmittelbar bevorsteht und unthematisch schon mitbewußt ist, unter Retention den Bezug auf solches Bewußte, das gerade aus der Präsenzsphäre in die Vergangenheit übergeht. Die Protention ist der Ermöglichungsgrund aller Formen ausdrücklicher und thematischer Erwartung, in der Retention ist die thematische Wiedergewinnung fundiert.«32

Nach Geyer ist nun die Konstruktion des »Wegs des historischen Jesus« bestimmt durch das protentionale Verhältnis zwischen dem Charakter Jesu und seinem tödlichen Schicksal (Kreuzestod). Die Konstruktion des historischen Jesus bewegt sich damit »im empirisch-genetischen Horizont des historischen Bewußtseins«.33 Vom historischen Jesus aber ist der irdische Jesus zu unterscheiden, der sich mithin nicht in den engen Grenzen dieses historischen Bewusstseins bewegt. Geyer hat die Formel geprägt: Der historische Jesus impliziert nicht den kerygmatischen Christus, wohl aber der irdische Jesus.34 Bei Geyer läuft dies auf eine bestimmte 29

Zu Geyer vgl. K. von Bremen (Hg.), Gott und Freiheit. Theologische Denkanstöße Hans-Georg Geyers, Tagungsprotokolle des Instituts für Kirche und Gesellschaft der Ev. Akademie Villigst, Schwerte 2008; F. Dittmann u.a. (Hg.), Neugieriges Denken. Die Lehrtätigkeit und das theologische Werk von Hans-Georg Geyer, Greifswalder Theologische Forschungen 30, Leipzig 2018. 30 Zur Phänomenologie vgl. I.U. Dalferth, Radikale Theologie, ThLZ.F 23, Leipzig 2010, 193–217. 31 Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, PhB 362, Hamburg 1985, §§ 12–14; vgl. K. Held, Art. Protention, HWPh 7 (1989), Sp. 1528–1529; ders., Art. Retention, HWPh 8 (1992), Sp. 931–932; D. Zahavi, Husserls Phänomenologie, übers. von B. Obsieger, Tübingen 2009. 32 P. Prechtl, Art. Protention / Retention, in: ders. / F.-P. Burkhard (Hg.), Metzler-Philosophie-Lexikon. Begriffe und Definitionen, Stuttgart/Weimar 21999, Sp. 473f. 33 H.-G. Geyer, Rohgedanken über das Problem der Identität Jesu Christi (1973), in: ders., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. von H.Th. Goebel u.a., Tübingen 2003, (190– 207) 203. Leider nicht ganz korrekter Wiederabdruck des unter demselben Titel Originals, das erstveröffentlicht wurde in: EvTh 33 (4/1973), 385–401. Zu den inhaltlichen Verschiebungen vgl. H. Theissen, Der irdische Jesus. Wahrheit und Kontextualität der Christologie bei Hans-Georg Geyer, in: Ch. Danz / M. Hackl (Hg.), Transformationen der Christologie. Herausforderungen, Krisen und Umformungen. Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 17, Göttingen 2019, (88–102) 99. 34 Vgl. im Original: Geyer, Rohgedanken über das Problem der Identität Jesu Christi, 386. Zum Verhältnis von historischem und irdischem Jesus und kerygmatischen Christus

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Negation des historischen Jesus zugunsten des irdischen hinaus.35 Das Verhältnis von irdischem und historischem Jesus bestimmt Geyer konkret wie folgt: »Die Differenz betrifft nicht primär das Materiale der Erinnerung an Jesus, sondern das Formale dieser Erinnerung: der ›historische‹ und der ›irdische Jesus‹ sind gewissermaßen aus demselben ›Stoff‹ des Lebens und Sterbens Jesu. […] Die Form des ›historischen Jesus‹ liegt in der Relation vom Charakter der Existenz zum Sinn des Todes Jesu; sofern diese Beziehung ihren ›terminus a quo‹ im Leben und im Wirken, ihren ›terminus ad quem‹ im Leiden und Sterben Jesu hat, kann sie das protentiale Verhältnis zwischen Charakter und Schicksal im Dasein Jesu genannt werden. Im klaren Unterschied dazu liegt die Form des ›irdischen Jesus‹ in der gegenläufigen Beziehung […]. Diese rücklaufende Beziehung kann das retentionale Verhältnis zwischen Schicksal und Charakter des Daseins Jesu heißen.«36

Was will Geyer mit dieser begrifflichen Distinktion erreichen? Warum schärft er sie ein? Es geht Geyer um die Wahrnehmung Jesu. Diese liegt im Modus der Erinnerung vor. Entscheidend ist nach Geyer nun der Richtungssinn der Erinnerung. Natürlich ist Erinnerung immer rückwärtsgewandt. Aber dies sagt noch zu wenig aus. Denn der historische Zugriff ist nicht einfach rückwärtsgewandt, sondern in der Rekonstruktion durch die Chronologie der Ereignisse bestimmt, die gleichsam vorwärtsschreiten. Geyer spricht darauf bezogen von der Protention und einem protentialen Verhältnis von Charakter und Schicksal des historischen Jesu. Die Form des irdischen Jesus sei hingegen in der Erinnerung bestimmt durch das retentionale Verhältnis zwischen Schicksal und Charakter. Auszugehen ist demnach vom Kreuzestod Jesu,37 »um von da aus das vergangene individuelle Leben und vgl. auch M. Hofheinz, Der sogenannte historische Jesus und der erinnerte Christus. Oder: Martin Kähler, der Jesus-Memory-Approach und das Chamäleon auf dem Holzweg, in: N. Neumann / M. Hofheinz (Hg.), Fragen nach Jesus, Leipzig 2021, im Erscheinen. 35 Vgl. Theissen, Der irdische Jesus. Wahrheit und Kontextualität, 97. 36 Geyer, Rohgedanken über das Problem der Identität Jesu Christi, 386. Vgl. zu diesem anspruchsvollen Text Geyers auch H. Theissen, Der irdische Jesus und die Praxisbedeutung der Christologie, EvTh 77 (2017), 228–238; ders., Der irdische Jesus. Wahrheit und Kontextualität, 88–102; H. Roose, Die »Rohgedanken über das Problem der Identität Jesu Christi« von Hans-Georg Geyer im Kontext aktueller neutestamentlicher Diskurse zum »erinnerten Jesus«, in: F. Dittmann u.a. (Hg.), Neugieriges Denken. Die Lehrtätigkeit und das theologische Werk von Hans-Georg Geyer, Greifswalder Theologische Forschungen 30, Leipzig 2018, 123–137. Fernerhin: G. Wenz, Vom apostolischen Osterzeugnis. Notizen zu Gedanken Hans-Georg Geyers, in: D. Korsch / H. Ruddies (Hg.), Wahrheit und Versöhnung. Theologische und philosophische Beiträge zur Gotteslehre, Gütersloh 1989, 167–189; G. Neven, The Time That Remains. Hans-Georg Geyer in the Intellectual Debate about a Central Question in the Twentieth Century, in: B.L. McCormack / K.J. Bender (Hg.), Theology as Conversation. The Significance of Dialogue in Historical and Contemporary Theology. A Festschrift for Daniel L. Migliore, Grand Rapids / Cambridge 2009, 67–81. 37 Zur Deutung des Kreuzestodes Jesu bei Geyer vgl. ders., Anfänge zum Begriff der Versöhnung (1978), in: ders., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. von H.Th. Goebel u.a., Tübingen 2003, 208–226. Dazu: H.Th. Goebel, Hans-Georg Geyers Umgang mit der Theo-

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›Lehren‹ Jesu zu verstehen und transparent zu machen als das Dasein und Zeugnis des Gekreuzigten, den Gott von den Toten auferweckt hat«.38 Neben dem Kreuzestod Jesu ist Ostern in diesem Zusammenhang entscheidend und zwar im Blick auf die Erinnerung des irdischen Jesus: »Denn zur Besonderheit dieser anamnēsis (im Unterschied zur empirisch-historischen!) gehört es als konstitutives Moment, dass sie sich ausdrücklich und absichtlich unter die Voraussetzung des Ostergeschehens stellt, sofern dieses Ereignis die objektiv reale Bedingung ist, unter der de facto nicht nur, wohl aber mit absoluter Notwendigkeit, dh. in Folge der Einheit von Grund und Gegenstand, zuerst jede ›memoria Jesu‹ (gen. obj.) steht. Im Bewusstsein dieser Bedingung bildet der Kreuzestod Jesus mit derselben Notwendigkeit den primären Zielpunkt der Erinnerung seines Daseins und nur in seiner Konsequenz und als Implikat dieses primären Inhalts können alle möglichen Faktoren seines historischen Charakters in Betracht kommen.«39

Geyer grenzt einen geschichtlichen von einem theologischen Erinnerungsbegriff markant ab. Für letzteren steht Ostern, negativ und d.h. gegen einen geschichtlichen Erinnerungsbegriff gewendet: Für die »Unmöglichkeit einer protentionalen Kontinuität von Charakter und Schicksal Jesu«40, für die »Unmöglichkeit der Implikation oder Integration des Todes Jesu in seine Existenz, dh. die protentiale Diskontinuität des zeitlich-endlichen Daseins Jesu, durch das Ostergeschehen keineswegs beseitigt, sondern im Gegenteil zu eschatologischer Endgültigkeit erhoben.«41 Protentiale Diskontinuität und retentionale Kontinuität werden an Ostern offenkundig. Ostern ist nämlich ein meta-historisches Ereignis,42 das die Kontinuität zwischen Jesu Charakter und tödlichem Schicksal im Sinne eines retentionalen Verhältnisses offenkundig werden lässt. Protentional kann dies nicht gelingen. Dies führte die Leben-Jesu-Forschung und die Frage nach dem historischen Jesus in eine Sackgasse.43 Die Evangelien erzählen ihrer Intention nach mit Bedacht »gleichsam rückblendend Leben, Worte und Taten Jesu«44. logie Karl Barths, in: M. Gockel u.a. (Hg.), Umstrittenes Erbe. Lesarten der Theologie Karl Barths, Stuttgart 2020, (203–213) 208–213; Theissen, Der irdische Jesus. Wahrheit und Kontextualität, 100f.; ders., Der irdische Jesus und die Praxisbedeutung der Christologie, 236. 38 Geyer, Rohgedanken über das Problem der Identität Jesu Christi, 398. 39 A.a.O., 397. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 H.-G. Geyer (Anfänge zum Begriff der Versöhnung, 216) spricht von der »metahistorischen Bedingung der objektiven Realität von Ostern.« 43 Vgl. D. Schellong, »Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?«, in: Einwürfe 6: Die Bibel gehört nicht uns, hg. von F.-W. Marquardt u.a., München 1990, 2–47; K. Wengst, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem »historischen« Jesus, Stuttgart 2013. 44 C. Schröder-Field, Jesus Christus – wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch, in: E. Maurer (Hg.), Grundlinien der Dogmatik, Rheinbach 2005, (161–180) 163.

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Eine narrative Christologie wird sich (auch, aber nicht nur) an das Christuszeugnis der Evangelisten halten. Auch in anderen Textcorpora tauchen narrative Elemente auf. So werden aktuell verstärkt die Paulusbriefe in narrativer Hinsicht betrachtet.45 Auch den Christushymnen, etwa dem Philipperhymnus (Phil 2,6–11), liegt z.B. ein Erzählschema zugrunde. Es wird dort in zwei Strophen (Strophe 1: V. 6–8; Strophe 2: V. 9–11) der Weg Christi als Weg der Erniedrigung (bis zum Tod, »ja zum Tod am Kreuz«; Phil 2,8c; vgl. auch Hebr 1,3; 10,12; 12,2) und als Weg der Erhöhung des gekreuzigten Jesus von Gott zum Weltherrscher beschrieben:46 »Mit der Erhöhung seines zuvor in die Tiefe gesandten und am Kreuz dahingegebenen Sohnes richtet Gott seine Herrschaft auf: Der Gekreuzigte wird zum Weltenherrscher erhoben«.47 Der Kreuzestod Jesu markiert dabei gewissermaßen die Schnittstelle der Strophen und steht insgesamt im Mittelpunkt des Hymnus, was von hoher theologischer Bedeutung ist: »[S]o kann die Behauptung, daß […] die Inkarnation als das eigentliche Heilsereignis verstanden und der Tod Jesu lediglich als deren unvermeidliche Konsequenz begriffen sei, nicht länger als glaubhaft erscheinen.«48 Der Kreuzestod Jesu bildet also nicht die Konsequenz, sondern vielmehr das Ziel der Inkarnation.49 Der Weg der Erniedrigung ist auf dieses Ziel hin ausgerichtet. Ungeachtet dessen, dass es sich bei diesem urchristlichen Hymnus um ein Lied handelt, wird der Weg ans Kreuz und der Weg der Erhöhung des Gekreuzigten narrativ expliziert. Dieser Weg, aus der tiefsten Todesnot hin zur Offenbarung der endzeitlichen Herrschaft Gottes, ist im Alten Testament etwa in den Psalmen 22 und 69 und in der alttestamentlichen Prophetie (vor allem Deuterojesajas; vgl. Jes 45,22–24; 52,13–53,12) vorgegeben. Der ursprüngliche Markusschluss (Mk 16,1–8) macht, um einen weiteren signifikanten narrativen Hinweis aufzugreifen, deutlich: Das Persongeheimnis Jesu wird erst durch den Auferstandenen selbst erschlossen. Die Retention hat ihre Wurzel in Ostern,50 so wird man im Sinne Geyers sagen können, für den der irdische Jesus eben keine Größe der Vergangenheit, sondern der Gegenwart ist. Die Auferstehung Jesu meint seine Gegenwart.51 Ostern eröffnet eine »New Per45

Vgl. etwa U. Poplutz, Der Lebendige – Gottesfigurationen bei Paulus, in: U.E. Eisen / I. Müllner (Hg.), Gott als Figur. Narratologische Analysen biblischer Texte und ihrer Adaptionen, HBS 82, Freiburg i.Br. 2016, 349–376; Ch. Heilig, Paulus als Erzähler? Eine narratologische Perspektive auf die Paulusbriefe, BZNW 237, Berlin/Boston 2020. 46 Vgl. im Einzelnen O. Hofius, Der Christushymnus Philipper 2,6–11. Untersuchungen zu Gestalt und Aussage eines urchristlichen Psalms, WUNT 17, Tübingen 21991, bes. 64– 66. 47 So im Anschluss an Hofius P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Bd. 1: Grundlegung: Von Jesus zu Paulus, Göttingen 21997, 305. 48 Hofius, Der Christushymnus Philipper 2,6–11, 17. 49 So a.a.O., 64. 50 So treffend Neven, The Time That Remains, 78: »It is precisely the retention, which has its roots in Easter, that makes acute the question who Jesus is and what the meaning of his death is.« 51 H.-G. Geyer, Die Gegenwart Jesu Christi: die Auferstehung (1967), in: ders., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. von H.Th. Goebel u.a., Tübingen 2003, 176–189. Dazu Theissen,

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spective on Jesus«. Wer der vorösterliche irdische Jesus war, das kann man nach Markus erst von Ostern her wissen. Von daher erklärt sich auch der merkwürdige ursprüngliche Schluss des Markusevangeliums, der abgebrochen wirkt: Die Leserinnen und Leser sollen das Evangelium noch einmal von vorne lesen und zwar unter dem ortsanweisenden Aspekt, »dort [in Galiläa, wo die Erzählung begann; vgl. Mk 1,9.14] werdet ihr den Auferstandenen sehen« (Mk 16,7). Die Rezipienten werden gleichsam mit in die Erzählung hineingenommen.52 Christusbegegnung ereignet sich auch im Prozess des Lesens.53 Markus leitet die Lesenden dazu an, das Evangelium von Ostern her zu lesen und ermutigt zu einer »relecture von Leben, Lehre und Leiden Jesu im Lichte von Ostern«.54 Es geht – mit Paul Ricœur (1913–2005) gesprochen – um die Refiguration der Lesenden durch die Erzählung von Jesus im Lichte von Ostern. So soll sich narrative Identität ausprägen.55 Ricœur, der Erzählungen (im Anschluss an Aristoteles) als mimetischen Akt (mimesis praxeos) begreift, macht deutlich, dass es dabei nicht um bloße Reproduktion, ja sogar um mehr als die Konfiguration (= Mimesis 2 nach Ricœur)56, also die Herstellung eines Erzählzusammenhangs aus präfigu-

Der irdische Jesus. Wahrheit und Kontextualität, 98: »Gegenwärtig ist demnach der irdische Jesus, doch seine Gegenwart ist seine Auferstehung, die nicht zu seinem Erdenleben zählt. Hermeneutisch folgt Geyers ›irdischer Jesus‹ damit R. Bultmanns Axiom einer regelrechten Osterzäsur, die jede ›protentiale‹ (wie Geyer mit E. Husserl sagen kann) Kontinuität vom Verkündiger Jesus zum verkündigten Christus ausschließt.« Ähnlich H.J. Iwand, Christologie. Die Umkehrung des Menschen zur Menschlichkeit, bearb., komm. und mit einem Nachwort versehen von E. Lempp / E. Thaidigsmann, NW.NF 2, Gütersloh 1999, 419f. 52 Dies hat P.-G. Klumbies in mehreren Untersuchungen herausgearbeitet: ders., Die Jesuserzählung nach Markus als Werk des achten Jahrzehnts, in: ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, (7–41) 38f.; ders., Die älteste Evangelienschrift als ätiologische Erzählung, in: ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, (42–54) 49; 52; ders., Das Konzept des »mythischen Raumes« im Markusevangelium, in: ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, (55–73) 70; ders., Das Markusevangelium, im Religionsunterricht, in: ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, (213–220) 219; ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 134–136. 53 Treffend weist Klumbies, Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt, 17f., auf die markinische Ringkomposition hin. 54 I.U. Dalferth, Volles Grab, leerer Glaube? Zum Streit um die Auferweckung des Gekreuzigten, in: H.-J. Eckstein / M. Welker (Hg.), Die Wirklichkeit der Auferstehung, Neukirchen-Vluyn 2002, (277–309) 300. 55 Vgl. P. Ricœur, Narrative Identität (1987), in: ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), übers. und hg. von P. Welsen, PhB 570, Hamburg 2005, 209–225. Fernerhin: D. Teichert, Narrative Identitäten. Zur Konzeption einer textuellen Konstitution des Selbst, in: Ch. Demmerling / Í. Vendrell Ferran (Hg.), Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge, DZPh. Sonderbände 35, Berlin 2014, 315–333. 56 Vgl. P. Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. 1, übers. von R. Rochlitz, München 2007, 56f.; 78; 104–113.

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rierten Ereignissen (Präfiguration als Mimesis 1 nach Ricœur),57 geht. Erzählungen refigurieren unsere Zeiterfahrung (Refiguration als Mimesis 3 nach Ricœur)58. Durch Erzählungen nehmen wir gleichsam Wirklichkeit wahr und reflektieren sie im Erzählen. Erzählrezeption meint nach Ricœur immer die Anwendung der Erzählung auf eigene Erfahrungen.59 Das gilt ganz gewiss auch für das Markusevangelium: Auch hier ereignet sich Erzählen als mimetischer Akt und Refiguration der Lesenden. Das Zeugnis des Markusevangeliums ist Zeugnis von Ostern her. Diese Osterperspektive nimmt Markus ein, der damit selbst zu den »Easterpeople«60 zu rechnen ist. Karl Barth (1886–1968) hält nicht nur im Blick auf das Markusevangelium, sondern das gesamte Neue Testament fest: »Man kann ruhig sagen – und man muß es so sagen: von diesem Ereignis her denkt und redet das ganze Neue Testament; und wer es verstehen will, der muß sich wohl oder übel darauf einlassen, mit ihm von diesem Ereignis her zu denken.«61 Bereits Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) bemerkte: »Omnia Apostolorum verba spirant sensum resurrectionis.«62 Barth hat

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Vgl. a.a.O., 78; 90–104. A.a.O., 113f.; ders., Zeit und Erfahrung, Bd. 3, übers. von A. Knop, München 2007, 253–293. 59 Zu Ricœurs Erzähltheorie vgl. P. Welsen, Erzählung und Ethik bei Paul Ricœur, in: K. Joisten (Hg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, DZPh. Sonderband 17, Berlin 2007, 169–185, der treffend feststellt: »Was im Zuge der Mimesis präfiguriert, konfiguriert und refiguriert wird, ist nichts anderes als die praktische Erfahrung des Menschen in ihrer zeitlichen Verfaßtheit.« A.a.O., 174f.; Vgl. auch Teichert, Narrative Identitäten, 325–328. 60 D. Ritschl, Thesen zur Neuorientierung christlicher Anthropologie am Ende des 20. Jahrhunderts, in: R. Weth (Hg.), Totaler Markt und Menschenwürde. Herausforderungen und Aufgaben christlicher Anthropologie heute, Neukirchen-Vluyn 1996, (119–141) 139. 61 Barth, KD IV/1, 330. Barth (a.a.O., 333f.) identifiziert die 40 Tage zwischen Ostern und Himmelfahrt als den »festen überlegenen Standort« der ersten Gemeinde, als ihre Wahrnehmungsperspektive. Vgl. auch a.a.O., 144: »Sie [die Evangelien; M.H.] beschreiben es [das Menschsein Jesu Christi; M.H.] von Anfang an im Lichte, unter deutlicher Kenntlichmachung der vielen Voranzeigen des Letzten, was sie dann von Ihm zu berichten haben: seine Auferstehung von den Toten als dem Ereignis, in welchem eben seine Erhöhung nicht nur zu bemerken, sondern – nach vorwärts und rückwärts erhellend – offenbar wurde. Sie beschreiben also gerade den Menschen Jesus als den, der als König angefochten und versucht wird, leidet und stirbt, als König das Alles meistert und so als König durch die Mitte aller Anderen hindurchgeht. Eben so will er gesehen werden.« 62 F.Ch. Oetinger, Theologia ex idea vitae deducta, Ulm 1765, 410. Eine kritische Edition wurde herausgegeben von K. Ohly, Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. 7, Bd. 2, Teil 1, Berlin/New York 1979, 212. Dieses Zitat wurde oftmals irrtümlich J.A. Bengel zugeschrieben. so z.B. Barth, KD IV/2, 147; J. Ringleben, Wahrhaft auferstanden. Zur Begründung der Theologie des lebendigen Gottes, Tübingen 1998, 46. 58

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bekanntermaßen vom »Osteraxiom«63 als dem »Axiom aller Axiome«64 gesprochen, Gunter Wenz von »Ostern als Urdatum der Christologie«.65 Auch das Kreuz will in der Osterperspektive wahrgenommen werden, wenngleich es kein Element des irdischen Jesus ist: »Nicht das factum brutum des Kreuzes von Golgatha, sondern die Auferweckung des Gekreuzigten zeigt, daß am Kreuz Gottes lebensschaffender Wille unter dem Gegenteil verborgen geschah. Darum kann das nackte Kreuz in seinem Dunkel nie Erkenntnisgrund des Heils sein. Nur das Kreuz im Lichte von Ostern.«66

3. Von der Auferstehung her erzählen. Österliche Erzählimpulse Die Osterperspektive ist indes das Eine; etwas Anderes jedoch die Frage, wie die Auferstehung in der Christologie zur Sprache kommen kann.67 Die Auferstehung bildet – mit anderen Worten – nicht nur den Ermöglichungsgrund von Christologie, sondern eine besondere, eine zugespitzte Schwierigkeit für deren Explikation. Hinsichtlich der Rede von der Auferstehung scheint Christologie nämlich nur als negative Christologie möglich. Sie steht in ihren Erklärungsversuchen gleichsam stumm vor dem leeren Grab. Wie sollte man auch die Auferstehung erklären können? Von Hans-Georg Geyer stammt das Bonmot: »Die Auferstehung Jesu erklären zu wollen, ist so, als glaubte man, beweisen zu können, daß Wasser rund sei.«68 63

Barth, KD III/2, 560; 573. So im Anschluss an Barth auch Jüngel, Thesen zur Grundlegung der Christologie, 282 (These 1.381). Dazu: M. Trowitzsch, Karl Barth heute, Göttingen 2007, 368–371. 64 Barth, KD IV/1, 382. Vgl. auch ders., KD III/2, 531: »Denn eben die Ostergeschichte und Osterbotschaft enthält ja alles Andere, während alles Andere ohne sie als Abstraktion in der Luft stehen würde. […] Man glaubt um Sinne des Neuen Testament an den auferstandenen Jesus Christus oder man glaubt gar nicht an ihn.« 65 G. Wenz, Christus. Jesus und die Anfänge der Christologie, Studium Systematische Theologie Bd. 5, Göttingen 2011, 27–45. Dazu Ch. Tietz, Jesus von Nazareth in neueren Christologien, ZDTh 31 (2/2015), (90–108) 97–100. 66 H.Th. Goebel, Wie verborgen ist der verborgene Gott? Luthers Rede von Gott – theologisch befragt, RKZ 140 (1999), (343–350) 347. Vgl. auch Geyer, Anfänge zum Begriff der Versöhnung, 213f. 67 Vgl. dazu G. Hunsinger, The Daybreak of the New Creation. Christ’s Resurrection in Recent Theology, in: ders., Evangelical, Catholic, and Reformed. Doctrinal Essays on Barth and Related Themes, Grand Rapids / Cambridge 2015, 169–188. 68 M. Weinrich, Das Geheimnis der Kirche nach dem Evangelisten Lukas. Bibelarbeit vor der Hauptversammlung des Reformierten Bundes in Emden am 12. Juni 1998, RKZ 139 (1998), (281–286) 283. Im Original lautet das Zitat, das einen Kirchentagsvortrag Geyers entstammt: »Aus unseren Überlegungen kann nur die Folgerung gezogen werden, daß diese Fragestellung [ob der Satz von der Auferstehung eine historische Tatsachenaussage oder ein symbolischer Lebensausdruck sei; M.H.] trotz ihrer Beliebigkeit nicht weniger sinnlos ist als die Frage, ob Wasser rund oder viereckig sei. Die Osterbotschaft von der Auferwe-

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Dieser kalkulierte Kategorienfehler bringt zur Sprache: Die Auferstehung lässt sich nicht erklären, weil sie als »ausschließlich Gottes Tat«69 den Rahmen des unserer Erkenntnis zugänglichen historischen Geschehens sprengt. Sie ist kein objektiv erhebbares Faktum.70 Eine narrative Christologie – so meine These – muss freilich da nicht schweigen, wo die Erklärung versagt und die Sprache im Schweigen endet.71 Im Klappentext von Umberto Ecos vielbeachtetem Roman »Der Name der Rose« findet sich ein Vorschlag, der in einer gewandelten Version anknüpft an Ludwig Wittgensteins berühmte These 7 aus dem »Tractatus«:72 »Worüber man nicht argumentieren kann, darüber muss man erzählen.«73 Dass gilt allzumal für eine narrative Christologie, die zwar keineswegs argumentfeindlich agiert, aber doch im Blick auf Ostern um die Grenzen der argumentierenden Vernunft weiß und sich gleichsam biblisch induziert zum Medium des Erzählens hingedrängt erlebt. Eine narrative Christologie wird ex negativo, vom leeren Grab, also gleichsam indirekt von der Auferstehung erzählen und die »Frageantwort«, die die Frauen im Grab erhalten, reflektierend, d.h. nach-denkend74 herausstreichen: »Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferweckt worden« (Lk 24,5f.; Zürcher Bibel, 2007).75 Wir halten fest: »Diese Auferstehungsgeschichte enthält gleichsam eine negative Christologie.«76 Eberhard Jüngel hat die Erzählung vom leeren Grab »eine theologische Satire über die Blamage des Todes«77 genannt. ckung Jesu von den Toten kann der Alternative von Tatsachenaussage oder Lebensausdruck nicht unterworfen werden.« Geyer, Die Gegenwart Jesu, 181. Dazu: Theissen, Der irdische Jesus. Wahrheit und Kontextualität, 97. 69 Barth, KD IV/1, 331. Dort z.T. kursiv. 70 Treffend weist Oberdorfer (»Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?«, 173) darauf hin, dass »in den neutestamentlichen Texten die österlich-nachösterliche Begegnung mit Jesus nirgends als schlichte Wiederherstellung des status quo ante geschildert. Gerade die besonders ›realistischen‹ Darstellungen oszillieren in ganz eigentümlicher Weise zwischen Wiedererkennen und irritierender Fremdheit, zwischen Verkennung der Gestalt und Wiedererkennen anhand symbolischer Gesten (Emmaus!), zwischen Anwesenheit und Entzogenheit, zwischen Erinnerung und Beauftragung, und es ist kein Zufall, dass der ›Vorgang‹ der Auferstehung nirgends beschrieben wird.« 71 Zur Schwierigkeit der Predigt der Auferstehung vgl. P. Bukowski, Predigt wahrnehmen. Homiletische Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 31995, 173–190; F. Mildenberger, Kleine Predigtlehre, Stuttgart u.a. 1984, 48–57. 72 Vgl. L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a.M. 121977, 115 (These 7). 73 Ich verdanke den Hinweis auf dieses »mot propre« B. Dressler, Blickwechsel. Religionspädagogische Einwürfe, Leipzig 2007, 304. 74 Zur theologischen Denkbewegung des Nach-Denkens vgl. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 213; 220–224; 270f.; 310. 75 Bibelzitate falls nicht anders angegeben nach Zürcher Bibel, 2007. 76 H. Luther, Frech achtet die Liebe das Kleine. Biblische Texte in Szene setzen. Spätmoderne Predigten, Stuttgart 1991, 93. 77 Jüngel, Thesen zur Grundlegung der Christologie, 287 (These 2.2463). Ähnlich ders., Gott als Geheimnis der Welt, 425.

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Geyers Bemerkungen zur protentionalen Diskontinuität und retentionalen Kontinuität wecken freilich noch andere Assoziationen, die in Richtungen biblischer Narration gehen und zwar über die synoptischen Grabeserzählungen78 hinaus: War es nicht präzise die protentionale Diskontinuität, an der die Emmausjünger (Lk 24,13–35) litten? Diese Diskontinuität dürfte es gewesen sein, die die beiden Emmausjünger Jesus nicht erkennen lässt (vgl. Lk 24,16). Der Auferstandene selbst muss sich ihnen als unerkannter Fremder zu erkennen geben und tut dies im Brotbrechen als Praxis der Gastlichkeit: »[D]er eingeladene fremde Gast erweist sich als der eigentliche Gastgeber.«79 Das Nicht-Erkennen hat nach Lukas auch damit zu tun, dass die Jünger noch nicht den Geist empfangen haben.80 Der Empfang der »Kraft aus der Höhe« (Lk 24,49) steht noch aus für die Zeit nach Christi Himmelfahrt. In der Pfingst-Predigt (Apg 2,14–36) des Apostels Petrus heißt es: »Er [der von Gott auferweckte Jesus; M.H.] ist nun zur Rechten Gottes erhöht und hat vom Vater die verheißene Gabe, den heiligen Geist, empfangen, den er jetzt ausgegossen hat, wie ihr seht und hört« (Apg 2,33; Zürcher Bibel, 2007; vgl. auch 2Kor 1,21f). Hegel hat darauf hingewiesen, dass »[d]ie Geschichte Christi […] von solchen erzählt [wurde], über die der Geist schon ausgegossen war.«81 Das heißt: »Den eigentlichen Aufschluss hat ihnen der Geist gegeben, von dem Christus gesagt hatte, daß er sie in alle Wahrheit leiten werde«82 (Joh 16,13). Der auferstandene Christus verabschiedet sich von seinen Jüngern mit der Ankündigung: »Ihr werdet aber Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über euch kommt, und

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Vgl. P.-G. Klumbies, Weg vom Grab! Die Richtung der synoptischen Grabeserzählungen und das »heilige Grab«, JBTh 19 (2004), 143–169. 79 Th. Naumann, Gastlichkeit. Biblische Dimensionen, in: U. Link-Wieczorek (Hg.), Gastlichkeit. Eine Herausforderung für Theologie, Kirche und Gesellschaft. Tagungsband der Gesellschaft für Evangelische Theologie, Göttingen 2018, (55–79) 67. Treffend fährt Naumann (ebd.) fort: »Dieser Wechsel der Rollen hat nun auch ekklesiologische Konsequenzen, denn die Kirche Jesu Christi darf auch dort, wo sie selbst Gastgeberin ist, nicht vergessen, dass sie selbst Gast ist und aus der Gastlichkeit des auferstandenen Christus lebt.« Ähnlich H. Springhart, Vom Risiko der Gastlichkeit und dem Vertrauen der Gastfreundschaft. Dimensionen der Ekklesiologie (in: a.a.O., 117–136, 131f.). 80 Christus wird dabei im Neuen Testament nicht nur als Geistempfänger, sondern auch Geber des Geistes verstand. So treffend A.I.C. Heron, Holy Spirit. The Holy Spirit in the Bible, in the History of Christian Thought and in Recent Theology, Philadelphia 1983, 42: »The new outpourings of the Spirit have been made possible only through his death and resurrection. The Spirit came to his followers through him. So the activity of the Spirit is intrinsically bound up with Jesus Christ himself, and this double pattern of his reception and bestowal of the matter in the New Testament.« 81 G.W.F. Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. V: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3: Die vollendete Religion, hg. von W. Jaeschke, Hamburg 1984, 246f (Anm. 10). 82 A.a.O., 248.

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ihr werdet meine Zeugen sein« (Apg 1,8; Zürcher Bibel, 2007; vgl. Lk 24,48).83 Das Zeugnis-Geben schließt die Christus-Erzählung ein. Im Johannesevangelium (20,11–18) wird in der Geschichte von der Gartenbegegnung84 zwischen dem auferstandenen Jesus und Maria von Magdala davon berichtet, dass diese ihn für den Gärtner hielt: »Sie wandte sich um, und sie sieht Jesus dastehen, weiss aber nicht, dass es Jesus ist« (Joh 20,14; Zürcher Bibel, 2007). Wenige Verse später berichtet der Evangelist Johannes von der Erscheinung am See Tiberias,85 wo es wiederum heißt: »Als es aber schon gegen Morgen ging, trat Jesus ans Ufer; die Jünger wussten aber nicht, dass es Jesus war« (Joh 21,4; Zürcher Bibel, 2007). Eine narrative Christologie wird diese Auferstehungsgeschichten aufgreifen, erzählen und reflektieren. Dabei gilt es insbesondere die Glaubenszweifel an der Auferstehung ernst zu nehmen. Diese Auferstehungsgeschichten sind ja gerade im Angesicht größten Zweifels der Jünger artikuliert worden, d.h. angesichts dessen, dass sie nicht wissen, dass er es ist, dass sie ihn nicht erkennen und dass sie keinen Zugang finden zum auferstandenen Jesus. Das Entscheidende besteht freilich darin, dass dieser Umstand, dieses Nicht-Wissen, diesen Nicht-Erkennen die Lebendigkeit Jesu nicht zunichte macht. Ultimativ tröstlich artikuliert: »Wenn ich auch gleich nichts spüre von deiner Macht, du führst mich doch zum Ziele, auch durch die Nacht.«86 Jesu Lebendigkeit ist nach diesen Erzählungen nicht abhängig von unserem Glauben.87 Geyer arbeitet heraus, dass im Blick auf die Auferstehung der Glaubensgrund strikt vom Glauben der Jünger zu unterscheiden ist. Anders gesagt: Nicht der Glaube bringt die Auferstehung hervor, sondern die Auferstehung den Glauben.88 In Geyers spröden, aber doch sehr präzisen Worten: »In der Gegenständlichkeit des Glaubensgrundes liegt also ein spezifischer Doppelsinn beschlossen: sie bedeutet auf der einen Seite die reale Independenz des Grundes vom Glauben, seine 83

Vgl. M. Freudenberg, Der uns lebendig macht. Der Heilige Geist in Leben, Glaube und Kirche, Neukirchen-Vluyn 2018, 20–24; M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992, 210. 84 Vgl. M.L. Frettlöh, Christus als Gärtner Biblisch- und systematisch-theologische, ikonographische und literarische Notizen zu einer messianischen Aufgabe, in: J. Ebach u.a. (Hg.), »Schau der schönen Gärten Zier ...« Über irdische und himmlische Paradiese. Zu Theologie und Kulturgeschichte des Gartens, Jabboq 7, Gütersloh 2007, 161–203. 85 Vgl. P. Bukowski, »Als es schon Morgen war, stand Jesus da.« Gedanken über die Kirche im Licht von Johannes 21,1–14, in: S. / P. Bukowski, Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Reden von Gott in der Welt, Neukirchen-Vluyn 1998, 148–158. 86 Strophe 2 des Liedes »So nimm denn meine Hände«. Zit. nach P. Bukowski, Die Bibel ins Gespräch bringen. Erwägungen zu einer Grundfrage der Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 2 1995, 82; vgl. auch M. Hofheinz, »Willst du gesund werden?« (Joh 5,6). Gesundheit und Krankheit aus theologischer Sicht, WzM 68 (2016), (309–324) 324. 87 Vgl. P. Bukowski, Wer ist Jesus Christus für uns heute?, in: ders., Theologie im Kontakt. Reden von Gott in der Welt, Neukirchen-Vluyn 2017, (11–26) 20. 88 Vgl. a.a.O., 19: »Auf eine Formel gebracht: Wir haben Grund zum Glauben. Nur der Grund bietet dem Glauben Halt.«

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Subsistenz und Nichtangewiesenheit auf den Glauben, weshalb hier besser vom Grund zum Glauben gesprochen wird, und sie bedeutet auf der anderen Seite seine Evidenz für und nur für den Glauben.«89

4. Narrative Christologie als christologia viae Die Emmaus-Geschichte ist eine Weg-Geschichte. Für eine narrative Christologie sind diese Weggeschichten von besonderer Bedeutung. Hierbei geht es mir weniger um den Wanderradikalismus und das Wandercharismatikertum, für die Jesus und die Jesusbewegung nach der historischen bzw. soziologischen Rekonstruktion von Gerd Theißen bekannt sind.90 Nein, ich denke an den theologisch verantworteten Gebrauch der Wegmetapher,91 die mir zentral und unverzichtbar für die Explikation einer narrativen Christologie zu sein scheint. Es ist bekannt, dass die Weg-Metapher im Allgemeinen »eine prominente Rolle, eine Schlüsselstellung in unserem Denken«92 besitzt. Und auch in unserem theologischen Zusammenhang ist ihr Gebrauch hilfreich, insofern sie die Dynamik der (Fort-)Bewegung zur Sprache bringen kann und auf eine räumliche Dimension als sog. »source domain« (Bildspenderbereich) verweist; Wege sind z.B. oft raumöffnend und raumerschließend. Insofern partizipiert die Weg-Metapher gewissermaßen am sog. »spatial turn«. Für die zentrale Stellung der Weg-Metapher dürfte »die Einsicht der kognitiven Semantik zu sprechen, derzufolge die Raumdimension offenbar grundlegender ist als die Zeitdimension.«93 In unserem Zusammenhang geht es freilich darum, die »spezifische Referenz« auf die Geschichte Jesu nicht aus dem Auge zu verlieren und die Erschließungsund Vermittlungskraft des »unscharfen Bildes«, sprich: der Metapher vom Weg, für die Wahrnehmung dieser Geschichte zu nutzen. Eine narrative Christologie wird sich insofern gerne die Wegmetapher als ihre zentrale Metapher vorgeben lassen und diesen Weg retentional ausschreiten, wie dies das Glaubensbekenntnis in seinem zweiten Artikel in gewisser Weise auch tut und vormacht. Der zweite Glaubensartikel hat im Credo die Gestalt einer narratio in nuce oder besser:

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H.-G. Geyer, Die Auferstehung Jesu Christi. Ein Überblick über die Diskussion in der gegenwärtigen Theologie, in: ders., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. von H.Th. Goe­ bel u.a., Tübingen 2003, (148–175) 163. 90 G. Theissen, Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums, Gütersloh 71997; M.N. Ebertz, Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung, Tübingen 1987; W. Stegemann, Jesus und seine Zeit, Biblische Enzyklopädie 10, Stuttgart 2010. 91 Zur philosophischen Metapher des Weges vgl. D. Westerkamp, Art. Weg, in: R. Konersmann (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Studienausgabe, Darmstadt 2014, 524–551. 92 A.a.O., 524. 93 Ebd.

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einer »Kurzgeschichte«. Mit den dort benannten »Erzählstationen« (empfangen, geboren, gelitten, gekreuzigt, gestorben, begraben, niedergefahren, auferstanden, aufgefahren, sitzend, wird kommen und richten) wird das Erzählmuster eines Weges mit offenem Start und offenem Ende unterlegt. Der Weg, den Jesus gegangen ist, wird in den Evangelien aus der Osterperspektive als Weg an das Kreuz geschildert. Er ist – in der theologischen Tradition anknüpfend an Joh 1,14 – mit dem Terminus »Inkarnation« belegt worden. Inkarnation meint dabei »Gottes Aufbruch, Gottes Exodus zu uns«.94 Die Inkarnation stellt gewissermaßen eine letzte Zuspitzung der Bundestheologie dar und nicht einfach die Übernahme eines griechischen Mythos.95 Für eine narrative Christologie, die u.a. die Inkarnation zur Sprache bringt, gilt: »Christus wird als ›Gott unterwegs‹, ›Gott auf seinem Wege zu uns‹ bekannt.«96 Insofern gilt: Narrative Christologie dürfte ihrem Wesen nach christologia viae sein.97 Narrative Christologie ist genauer noch als christologia viae zugleich christologia viatorum und damit als Teil einer »Theology on its Way to Emmaus«98 zu verstehen. Anders gesagt: Die Kirche ist – entsprechend den Emmaus-Jüngern – als Weggemeinschaft die »Erzählgemeinschaft der Enttäuschten«.99 Enttäuschung kann hier wörtlich verstehen werden als Ent-Täuschung: Die Täuschung darüber, dass Jesus tot und die Erzählungen von ihm ein »Requiem auf einen Toten«100 darstellen. Präzise diese Täuschung wird von ihnen genommen. Besonders prominent und wirkungsgeschichtlich nachhaltig war der Gebrauch, den Karl Barth von der Wegmetaphorik gemacht hat, wenn er in der Versöhnungslehre seiner »Kirchlichen Dogmatik« den Weg Jesu einerseits als »Weg des Sohnes Gottes in die Fremde« schildet und andererseits als »Heimkehr des Menschensohns« (vgl. Joh 1,11: »Er kam in das Seine, und die Seinen nahmen ihn nicht auf«; Zürcher Bibel, 2007). Barth bewegt sich, auch wenn er insgesamt wenig vom spekulativen Gesamtansatz der Hegelschen Philosophie hält, hier durchaus in den Bahnen von dessen Religionsphilosophie,101 freilich zugleich in erkennbarer »Nähe und Ferne«.102 Eine narrative Christologie wird die Dialektik, wonach die Fremde zugleich die Heimat des Logos ist, und damit das Zugleich (die Syn94

J.M. Lochman, Das Glaubensbekenntnis. Grundriss der Dogmatik im Anschluss an das Credo, Gütersloh 21985, 81. 95 Vgl. M. Weinrich, Art. Jüdisch-christlicher Dialog, NBThG 2 (2005), (306–321) 315. 96 Ch. Link, Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen-Vluyn 2009, 162. 97 So J. Moltmann, Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen, München 1989, 11. 98 N. Lash, Theology on the Way to Emmaus, Eugene 2005. 99 Luther, Frech achtet die Liebe das Kleine, 94. 100 H.J. Iwand, Glauben und Wissen, NW 1, hg. von H. Gollwitzer, München 1962, 279. 101 Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II: Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, Werke 17, hg. von E. Moldenhauer / K.M. Michel, Frankfurt a.M. 1986, 289–292. 102 So Hailer, Glauben und Wissen, 159f. Vgl. zu Barth und Hegel A. Eitel, The Resurrection of Jesus Christ. Karl Barth and the Historicization of God’s Being, IJST 10 (1/2008), 36–53; M. Welker, Theologische Profile. Schleiermacher – Barth – Bonhoeffer – Moltmann,

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chronie) der beiden Erzählstränge berücksichtigen müssen. Karl Barth hat dies in seiner Versöhnungslehre (KD IV) auf seine Weise virtuos durchgeführt, indem er eine starre (substanzontologisch interpretierte) Zweinaturenlehre durch das Interpretament einer synchronen Zweiständelehre narrativ »verflüssigte« und sie zugleich mit der Lehre vom dreifachen Amt Christi als Richter (Priester), König und Prophet verknüpfte.103 Dreiämter-, Zweinaturen- und Zweiständelehre werden so strukturbildend in der Versöhnungslehre von Barth vermittelt und im Zeichen von Ostern104 reinterpretiert bzw. in Geschichte rückübersetzt.105 Die Geschichte bzw. »story« Jesu wird so entgegen bestimmter Reduktionismen in der klassischen Christologie wieder geöffnet.106 Barth schildert die beiden Stände Christi, Erniedrigung und Erhöhung, nicht als Sequenz zweier zeitlich aufeinander folgenden Geschichten, sondern als Zugleich von zwei gegenläufigen Bewegungen bzw. zwei Erzählsträngen: a) der Erniedrigung des Sohnes Gottes (vere deus), dessen Gottsein gleichsam auf seinem Weg in die Fremde, in die Niedrigkeit und Schande des Kreuzes abgelesen werden kann, wo der der Richter sich an unserer Stelle richten lässt und b) der Erhöhung des Menschen Jesus (vere homo), der aufgrund seiner Gemeinschaft mit Gott bereits vor Ostern verborgen der »königliche Mensch«, der Repräsentant der Herrschaft Gottes ist. Nur das Zugleich dieser beiden Bewegungen der Erniedrigung und der Erhöhung, welche zunächst beide ins Kreuz münden, bildet den gesamten Weg Jesu. Beide müssen daher erzählt, keine von beiden darf ausgespart werden. Das innere Bewegtsein dieses synchronen Weges (klassisch: der zwei Stände) ist gleichsam im Geheimnis des Personsein Jesu begründet: als wahrer, sich selbst erniedrigender Gott und als wahrer, von Gott erhöhter Mensch (klassisch: zwei Naturen). So muss die Geschichte Jesu Christi, die zugleich die inklusive Geschichte

Frankfurt a.M. 2009, 121–155. Vgl. ferner die Hegel-Interpretation von Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 83–132. 103 Vgl. dazu das Schema von E. Jüngel, Art. Barth, Karl, TRE 5 (1981), 251–268) 265. Fernerhin: E. Busch, Die große Leidenschaft. Einführung in die Theologie Karl Barths, Darmstadt 22001, 57–61; M. Weinrich, Karl Barth. Leben – Werk – Wirkung, UTB 5093, Göttingen 2019, 360–365. 104 Darauf, dass Barth das theologische Gewicht auf die Auferstehung »als dem entscheidenden Ja vor der Klammer« legt, hat zutreffend M. Weinrich, Die Architektur der Versöhnungslehre, in: M. Beintker (Hg.), Das Barth-Handbuch, Tübingen 2016, (347–354) 349, hingewiesen. Seine Ämter sind die des auferstandenen und gegenwärtigen Christus. 105 Vgl. Hofheinz, Christologie erzählen?, 157–163. 106 Mit seinem Vorwurf an die klassische Christologie steht Ritschl (Zur Logik der Theologie, 217) durchaus in der Tradition Barths. Ritschl wirft ihr vor: »die Reduktion des breiten Fächers neutestamentlicher Einladungen zu regulativen Sätzen über Jesus Christus auf die einzige Frage nach der gleichzeitigen Präsenz von Gott und Mensch in Jesus sowie die Abstraktion dieser Frage von dem Kontext, aus dem heraus sie allein angegangen werden kann, nämlich der gesamten Geschichte Gottes mit Israel, der Story, mit Jesus selbst sowie mit den Gläubigen.«

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Gottes und des Menschen ist,107 nach Barth so erzählt werden, dass sie auf dieses Geheimnis hin transparent wird, in dem sich das Gegenüber von sendendem Vater und gehorsamem Sohn spiegelt und das wahre Sein Gottes und des Menschen offenbar wird.108 Halten wir fest: Erniedrigung und Erhöhung schieben sich als Interpretamente des Geheimnisses Jesu in Barths narrativer Christologie gewissermaßen auf dem Weg Jesu ineinander. Bei Barth geht es also nicht um zwei aufeinanderfolgende Akte eines Dramas. Dieses dramatisch-sequenzielle Zweier-Schema liegt seiner narrativen Christologie nicht zugrunde. Andere Theologen, auch – wenn man so will – andere »narrative Christologen«, haben indes – anders als Barth – genau daran angeknüpft und etwa das Schema von kenōsis und plērōsis bemüht, womit sie in das Fahrwasser der kenotischen Christologie des 18. Jahrhunderts gerieten,109 die im Tübingen-Gießen-Streit virulent war und Theologiegeschichte schrieb.110 Barths Metapher vom »Weg des Sohnes Gottes in die Fremde« scheint mir in ausgezeichneter Weise ein zentrales Wesensmerkmal des biblischen Narrativs wiederzugeben, wie es etwa anhand des Markusevangeliums als Ganzem deutlich wird.111 Ich greife als Beispiel die Galiläareise Jesu im Mkev heraus, die den

107

K. Barth spricht von der »sich selbst potenzierende[n]« (KD IV/3, 242; dort z.T. kursiv), »übergreifende[n], uns Menschen […] einbegreifenden Geschichte« (a.a.O., 209; dort z.T. kursiv). 108 Die Geschichte der Offenbarung der Versöhnung schildert Barth in KD IV/3, indem er sie als die im Heiligen Geist geschehende Selbstvergegenwärtigung Jesus Christi als Bürge und Zeuge seiner eigenen Person und seines eigenen Werkes in seinem prophetischen Amt interpretiert. 109 Zur kenotischen Christologie vgl. C.S. Evans (Hg.), Exploring Kenotic Christology, New York/Oxford 2006; B.L. McCormack, Karl Barth’s Christology as a Resource for a Reformed Version of Kenoticism, IJST 8 (2006), 243–251; ders., Kenoticism in Modern Christology, in: F.A. Murphy (Hg.), The Oxford Handbook of Christology, Oxford 2015, 444–457. 110 Vgl. Ch. Helmer, The Contributions of Contemporary North American Theologians to Christology, VuF 63 (2/2018), 110–125. Siehe auch J.Wm. McClendon, Jr., Doctrine: Systematic Theology Vol. II, Nashville 1994, 274ff., der in Anlehnung an den Philipperhymnus (Phil 2,6–11) das Schema von kenōsis und plērōsis bemüht, und zugleich beansprucht, seiner »two narrative Christology« (a.a.O. 274) eine chalcedonensische Logik zugrunde gelegt zu haben: »[T]hese two stories are at least indivisibly one. We can separate them for analysis, but we cannot divide them; there is but one story there to be told.« Dort z.T. kursiv. 111 Dies hat Wilfried Eckey in seinem Kommentar zum Mkev gezeigt: W. Eckey, Das Markusevangelium. Orientierung am Weg Jesu. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 1998. Die Zentralität der Wegmetaphorik wird bereits in Mk 1,2f. offenkundig: »Dreimal ist im Zitat vom Weg oder von den Pfaden die Rede. Der Bote wird den Weg Jesu Christi, des Gottessohnes, bereiten (2); er ruft zur Wegbereitung für den Herrn auf (3b) und zur Begradigung seiner Pfade (3c). Das Evangelium ist das Buch des Weges Jesu, dessen Ziel sein Leiden und Sterben und seiner Auferstehung ist (8,31; 9,31; 10,33–34).« A.a.O., 56. Vgl. auch F. Wilk, Wer bereitet wem den Weg? Überlegungen eines Neutestamentlers zum Verhältnis zwischen Septuaginta und Neuem Testament anhand von Mk 1,2f., in: R.G. Kratz / B. Neuschäfer (Hg.), Die Göttinger Septuaginta. Ein editorisches Jahrhundertprojekt, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen NF 22, Berlin 2013, 185–223. Vgl. auch

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Weg Jesu als »Weg zu den Heiden« veranschaulicht.112 Man kann hier theologisch gewichtige synchrone Einsichten gewinnen und eine »narrative Linie mit theologischer Zielsetzung«113 identifizieren. Die Annäherung an die Heiden im Galiläateil (Mk 1,16–8,21) vollzieht sich in mehreren Schritten: Es werden drei Bootsfahrten (Mk 4,35–41 [Sturm]; 6,45–52 [Sturm]; 8,13–21 [Jünger vergessen Proviant]) geschildert und eine Landreise über Tyrus »nach Sidon ans Meer von Galiläa mitten in die Gebiete der Dekapolis« (Mk 7,31). Zeichnet man den Weg der hindernisreichen Begegnung mit den Heiden nach, so entsteht so etwas wie eine religiöse Landschaftskarte:

die Synopse zur Wiederaufnahme des Weg-Motivs in: F. Wilk, Erzählstrukturen im Neuen Testament. Methodik und Relevanz der Gliederung narrativer Texte, Tübingen 2016, 115. 112 Vgl. dazu R. Feneberg, Der Jude Jesus und die Heiden. Biographie und Theologie Jesu im Markusevangelium, HBST 24, Freiburg i.Br. u.a. 22000, 173–186; M. Ebner, Das Markus­ evangelium, in: ders. / S. Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, Kohlhammer Studienbücher 6, Stuttgart 2008, 154–183, 159–161; Wilk, Erzählstrukturen im Neuen Testament, 101–139; J. Rüggemeier, Poetik der markinischen Christologie. Eine kog­nitivnarratologische Exegese, WUNT II/458, Tübingen 2017; N. Neumann, Galiläa, Jerusalem und dazwischen. Die Wege Jesu in den vier Evangelien, BuK 73, 2/2018, 86–93. 113 Ebner, Das Markusevangelium, 159.

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Abbildung 1114: Der Weg Jesu zwischen Juden und Heiden nach Mk 3,7–8,30

Die Hindernisse, die Jesus im Weg stehen, haben vor allem mit den Speise- und Reinheitsvorschriften in Abgrenzung zur heidnischen Gesellschaft zu tun. Es scheint so, als müsse sich Jesus über verschiedene Anläufe erst zu einer unbefangenen Zuwendung durchringen. Es ist erstaunlich: Jesus lässt sich von einer wirklich heidnischen Frau (Syrophönizierin) argumentativ bezwingen und lernt von ihr (Mk 7,24–30); schon in der zweiten Begegnung mit Heiden in der Dekapolis hat er keinerlei Berührungsängste mehr. Die Reaktion ist nicht weniger 114

Quelle: Feneberg, Der Jude Jesus und die Heiden, 159. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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erstaunlich: Trotz Schweigegebot besingen Heiden Jesus bzw. den Gott Israels mit biblischen Worten: »Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend« (Mk 7,37; vgl. Gen 1,31; Jes 35,5f). Die Speisungsgeschichte (Mk 8,1–9) wird als Tischgemeinschaft für das Heidenland parallel zur Speisungsgeschichte für das jüdische Land (Mk 6,35–44) geschildert. Was Jesus im Markusevangelium praktiziert, in dem sich den Heiden zuwendet, lässt sich mit der Terminologie des Literaturwissenschaftlers Jurij Lotman als »revolutionäre Grenzüberschreitung« bezeichnen.115 Jesus setzt sich über kulturell und religiös etablierte Grenzen hinweg. Auch das Johannesevangelium zeugt davon.116 Auf seinem Weg von Judäa nach Galiläa reiste Jesus nach der Erzählung des Evangelisten Johannes durch die Fremde Samarias (Joh 4,3). Dort kam es zur Begegnung am Jakobsbrunnen, bei der Jesus »grenzüberschreitend«117 eine Samaritanerin um etwas zu trinken bat, obwohl »Juden nicht mit Samaritanern verkehrten« (Joh 4,9; Zürcher Bibel, 2007).118 Ja, Jesus offenbarte ihr ihre eigene Geschichte (Joh 4,17f) und sich selbst ihr als »Wasser des Lebens« (Joh 4,14) und als »Messias« (Joh 4,26). Das Zeugnis dieser Frau führte dazu, dass »nun die Samaritaner zu ihm kamen und ihn baten, bei ihnen zu bleiben; und er blieb dort zwei Tage. Und noch viel mehr Leute kamen auf sein Wort hin zum Glauben, und sie sagten zu der Frau: Wir glauben nicht mehr auf deine Aussage hin, denn wir selbst haben ihn gehört und wissen, dass dieser wirklich der Retter der Welt ist« (Joh 4,40–42; Zürcher Bibel, 2007). Es geht Jesus hier offenkundig um mehr, als »nur« die Trennung zwischen Samaritanern und Jerusalemer Juden aufzuheben,119 nämlich um das an keinen kultischen Ort gebundene Gebet »in Geist und Wahrheit« (Joh 4,23).120 Und es geht dem Evangelisten Johannes darum zu betonen, dass in einem solchen Gebet »unter voller Anerkenntnis der heilvollen Gaben Gottes an sein Volk Israel die neue 115

Vgl. J. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, UTB 103, München 1972, 332. Zu Lotmans Konzept der Grenzüberschreitung siehe M. Martínez / M. Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 92012, 156–160; Rüggemeier, Poetik der markinischen Christologie, 61–64. 116 Vgl. J. Frey, Heiden – Griechen – Gotteskinder, in: R. Feldmeier / U. Heckel (Hg.), Die Heiden. Juden, Christen und das Problem des Fremden, WUNT 70, Tübingen 1994, 228–268. 117 Vgl. U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, UTB 2917, Göttingen 2007, 701: »In Jesu Verhalten gegenüber der Samaritanerin wird exemplarisch deutlich, daß der Missio­ nar und die/der Missionierte zu einer kulturellen und theologischen Grenzüberschreitung aufgefordert sind. Die zum Glauben gekommene Frau aus Samaria wird selbst zur Missio­ narin, indem sie ihren Landsleuten Jesus verkündigt (4,29) und für ihn Zeugnis ablegt (4,39).« 118 J. Roloff (Die Kirche im Neuen Testament, GNT 10, Göttingen 1993, 305) hebt hervor, dass Johannes »bereits den irdischen Jesus samt seinen Jüngern unter den Samaritern missionarisch tätig sein läßt.« So auch Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, 701. 119 Vgl. zu diesem Gegensatz bzw. dieser Gegnerschaft K. Wengst, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1–10, ThKNT 4/1, Stuttgart 2000, 153f.; 157. 120 So treffend L. Bormann, Theologie des Neuen Testaments, UTB 4838, Göttingen 2017, 344.

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Realisierung dieses Heilswillens Gottes in Jesus als Sohn Gottes zum Ausdruck«121 kommt. Anders gesagt: »In dieser Erwählungsgeschichte, in der das Heil von den Juden kommt [Joh 4,22], gehört nach Joh 4 der Jude Jesus (V.9) als Messias (V.25f) so hinein, daß er zum ›Heiland der Welt‹ (V.42) wird«122, ja dass er als solcher auch Retter der Heiden ist. Auch diese johanneische Geschichte bezeugt – mit Karl Barth gesprochen – »den Weg des Sohnes Gottes in die Fremde«. Übrigens war Jesus auch in rechtlicher Hinsicht ein peregrinus. Er wurde bezeichnenderweise durch eine Kreuzigung hingerichtet, die in der Antike »als Strafe für aufrührerische Peregrini«123 galt. Peregrinus (wohl von peregre, »außerhalb des Ackers«, d.h. des Landgebietes Roms) ist »der wichtigste terminus technicus des römischen Rechts für den Fremden, der nicht dem Rechtsverband der röm. Bürger (civitas) angehört, ohne doch ein Feind oder überhaupt rechtlos zu sein.«124 Kehren wir aus der antiken Welt und vom biblischen Zeugnis der Evangelisten zurück in den dogmatischen Diskurs des 20. und 21. Jahrhunderts, so kommen über Barth hinaus aus dem deutschsprachigen Raum für eine motivgeschichtliche Annäherung zwei weitere »wegweisende« christologische Entwürfe in Betracht, in denen die Wegmetaphorik als Leitmotiv fungiert.125 Zum einen ist Jürgen Moltmanns »Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen« (1989) und zum anderen Friedrich-Wilhelm Marquardts (1928–2002) zweibändige Christologie »Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden« (1990f) zu nennen.126 Bei Moltmann erweist sich die Wegmetaphorik als titelgebend: »Ich habe eine Reihe von Titel erwogen, bevor ich mich für den vorliegenden entschied. Ich dachte an […] ›Christus – der Kommende‹, an ›Christus auf dem Wege‹ und an ›Christus im Werden‹. Das zeigt, dass ich Christus nicht länger statisch als eine Person in zwei Naturen oder als eine historische Persönlichkeit, sondern dynamisch im Gang der Geschichte Gottes mit der Welt zu erfassen versuche. Ich wollte keine ewige Christologie für den Himmel, sondern eine Christologie für Menschen, die in den Konflikten

121

Ebd. K. Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, KT 114, München 31992, 149. 123 So M. Hengel, Mors turpissima crucis. Die Kreuzigung in der antiken Welt und die »Torheit« des »Wortes vom Kreuz«, in: J. Friedrich u.a. (Hg.), Rechtfertigung. FS für Ernst Käsemann, Göttingen 1976, (125–184) 153. Dort kursiv. Vgl. D.W. Chapman / E.W. Schnabel, The Trial and Crucifixion of Jesus. Texts and Commentary, WUNT 344, Tübingen 2015, 241f. 124 G. Schiemann, Art. Peregrinus, BNP 10 (2007), (750–751) 750. 125 Auch F.D.E. Schleiermacher (Der christliche Glaube Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage [1830/31], hg. von R. Schäfer, Berlin/New York 2008, § 104,4) spricht davon, dass Jesu »Tätigkeit schon wenigstens mittelbar eine Richtung auf Heiden« hatte. 126 Verwiesen werden kann auch auf J.H. Yoder, Die Politik Jesu – der Weg des Kreuzes, übers. von W. Krauss, Maxdorf 1981, bes. 113–121. Dazu: M. Hofheinz, »Er ist unser Friede«. Karl Barths christologische Grundlegung der Friedensethik im Gespräch mit John Howard Yoder, FSÖTh 144, Göttingen 2014, 250–266. 122

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der Geschichten auf dem Wege sind und Orientierung suchen. […] Menschen aber, die in der Fremde der Geschichte existieren und auf der Suche nach Leben sind, brauchen eine Christologie der Wandernden (christologia viatorum) […]. Eine Christologie des Weges Jesu Christi muß erzählen und argumentieren. Sie muß erneut die Geschichte der christologischen Symbole, Metaphern und Vorstellungen aufarbeiten, um zu neuen christologischen Begriffen zu gelangen. […] Diese Christologie ist darum auch eine narrative Christologie, die Erinnerungen mit Erwartungen Christi verbinden will.«127

Moltmanns Christologie-Entwurf wird in der Ausführung entlang der reformierten Drei-Ämter-Lehre entfaltet, die er strukturbildend zugrunde legt, aber recht frei entwickelt und interpretiert: das prophetische Amt Christi von der Kategorie des Messianischen, das priesterliche Amt von der Kategorie des Apokalyptischen und das königliche Amt von der Kategorie des Eschatologischen her.128 Bei Marquardt, einem Schüler Barths, wird in der Einleitung zum ersten Band seiner Christologie eine interessante Spur gelegt. Marquardt beobachtet zweierlei: Zum einen, dass es »auch außerhalb der christlichen Kirchen ein bemerkenswertes Interesse an Jesus gibt«129 – dementsprechend rekonstruiert er nichtchristliche Verständnisse Jesu: Jesus unter Juden, Muslimen, Buddhisten, Hindus, den Jesus von Philosophen und schließlich den Messias der Rebellen.130 Zum zweiten beobachtet Marquardt, dass es aber auch ein bemerkenswertes Interesse Jesu an Menschen »außer Landes« gibt. Dementsprechend verleiht Marquardt diesem einschlägigen Abschnitt seiner Christologie den Titel: »Christus peregre proficiscens – Jesus außer Landes«. Marquardt registriert die »bewußte[] geographische Ortung, die die Evangelisten insgesamt ihrer Verkündigung Jesu gegeben haben.«131 Der biblisch induzierte Leitgedanke Marquardts lautet: »Auch außer Landes werden die Menschen für urteilsfähig über Jesus gehalten, und die Verkündigung des Evangelisten will dies der christlichen Gemeinde bewusstmachen. Jesus ›draußen‹, und sein Zutrauen zu den Menschen, dass sie mit seiner Anwesenheit bei ihnen auch etwas anfangen können: das verstehen wir als biblischen Grund für den Gedanken einer Peregrinatio Jesu, als Aufforderung, einen Jesus-außer-Hause auch theologisch zu denken: Jesus in der Fremde.«132 127

Moltmann, Der Weg Jesu Christi, 11f. Zu Moltmanns Entwurfs vgl. B. Klappert, Wo­ rauf wir hoffen. Das Kommen Gottes und der Weg Jesu Christi. Mit einer Antwort von Jürgen Moltmann, KT 152, München 1997, 103–138. 128 Vgl. Moltmann, Der Weg Jesu Christi, 7–9; Klappert, Worauf wir hoffen, 105. Zur Rezeption der Drei-Ämter-Lehre vgl. auch M. Welker, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 22012, 195–297; M. Hofheinz, »Welch ein Freund ist unser Jesus«. Ein freundschaftstheologischer Zugang zur Lehre vom dreifachen Amt Christi, ThZ 71 (2015), 156–181. 129 F.-W. Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie Bd. 1, München 1990, 88. 130 Vgl. a.a.O., 11–88. 131 A.a.O., 95. 132 A.a.O., 95f.

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Auf der Linie der Barth’schen Metapher vom »Weg des Sohnes Gottes in die Fremde« imponiert sich als Schlussfolgerung für eine narrative Christologie eminent unabweislich die Frage: Wenn der Weg Jesu ein Weg in die Fremde ist, kann und will Jesus dann nicht auch außerhalb der Kirche, etwa in Schule und Kultur und auch in anderen Religionen, begegnen?133 Eine narrative Christologie wird sich – wie Marquardt (in erkennbarer Anlehnung an Barths Lichterlehre134) formuliert – »grundsätzlich offenhalten für einen Selbsterweis seines Lebens«135 – auch in den Jesus-Bildern anderer Religionen. Sie darf damit rechnen, »dass Jesus auch außerhalb der Kirche lebt und erkannt wird.«136 Es gibt keinen kirchlichen Besitz­ anspruch auf Jesus.

5. Die Stärken einer narrativen Christologie als einer Christologie auf dem Weg in die Fremde. Vierzehn abschließende Thesen Die genannten Entwürfe lassen vielleicht erahnen, was die angedeutete narrative Christologie zu leisten vermag. Ich formuliere dazu vierzehn abschließende Thesen: 1. Narrative Christologie öffnet die Wahrnehmung für die Weltwirksamkeit Jesu – »außer Landes« und »außerhalb der Kirche« (extra muros ecclesiae),137 aber dies in einer Weise, dass sie die Fremde fremd sein lässt, d.h. ohne sie zu vereinnahmen und sie vorschnell zur Heimat zu stilisieren.138 Das hat auch israeltheologische Konsequenzen: Der Weg Jesu zu den Völkern, d.h. in die Fremde, kann

133

Vgl. zur Begegnungs-Haltung E. Busch, Im Glauben fest, offen für die Religionen, in: ders., Verbindlich von Gott reden. Gemeindevorträge, Wuppertal/Neukirchen-Vluyn 2002, 111–128. 134 Vgl. Barth, KD IV/3, 40–188. Dazu: M. Hofheinz, Das gewisse Extra! Oder: Christologie als »Türöffner«? Das Extra-Calvinisticum und die »Lichterlehre« Karl Barths als Zugänge zu einer Theologie der Religionen, in: M. Hofheinz / K.-O. Eberhardt unter Mitarbeit von J.-Ph. Tegtmeier (Hg.), Gegenwartsbezogene Christologie. Denkformen und Brennpunkte angesichts neuer Herausforderungen, Dogmatik in der Moderne 29, Tübingen 2020, 245– 298. 135 Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus 1, 90. 136 A.a.O., 11. 137 Vgl. a.a.O., 97: »Sie [die Jesus-Erfahrungen außerhalb der Kirche; M.H.] weisen Kirche und Theologie in ihre Grenzen, begrenzen vor allem den Sinn der Exklusivität Jesu. Exklusiv will Jesus die Seinen an sich binden, aber exklusiv will nicht er von den Seinen gebunden und für sie vorbehalten, von anderen zurückgehalten werden, Des zum Zeichen begegnet er auch draußen.« 138 Vgl. Ch. Link, Das menschliche Gesicht der Offenbarung. Bemerkungen zum Religionsverständnis Karl Barths, KuD 26 (1980), (277–302) 291: »Gott hat sich mit der Inkarnation tatsächlich in die Sphäre der Religion hineinbegeben, und doch bleibt er dieser Sphäre zugleich eigentümlich fremd.«

Die Stärken einer narrativen Christologie

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und will so erzählt werden, dass Israel dabei als bleibend ersterwähltes Volk nicht vergessen wird, weil die Fremde der Völker eben fremd bleibt.139 2. Narrative Christologie reflektiert auf Jesus-Erzählungen, die narrative Identität zu stiften vermögen. Insofern ist ihre Stärke gleichsam indirekter Natur. Sie erweist sich gewissermaßen als geliehene Stärke. Diese ist – bei Lichte betrachtet – mimetischer Natur (P. Ricœur). In Auseinandersetzung mit den Jesus-Erzählungen konstituiert sich für eine Hörer- oder Leserschaft eigene Identität: »Die Refiguration eines Lesers der Passionsgeschichte kann als rezeptionsästhetische Interpretation der ›soteriologischen Dimension‹ der Deutung des Todes Jesu betrachtet werden. Indem sich ein Leser von der narrativen Deutung des Todes Jesu ansprechen und in seiner Identität herausfordern lässt, kann er sich selbst neu und anders im Gegenüber zu dieser Erzählung sehen. Die dem Erzähltext über den Tod Jesu innewohnende refigurierende Kraft kann im Akt des ›inspirierten Lesens‹ somit zur Neukonstitution oder – theologisch gesprochen – zum Heil des Lesers bzw. der Leserin führen.«140

Die geistvermittelnde Gegenwart Jesu ist dabei für das inspirierte Lesen schlichtweg unabdingbar. Im Akt des Lesens erweist sich hier der auferstandene Jesus als der Christus praesens. Die »neue Kreatur« (2Kor 5,17) darf insofern als »refiguriertes Ich«141 verstanden werden, als es um die externe Konstitution desselben geht. Narrative Christologie lässt sich in dieser Weise auch, aber nicht nur, als Lesechristologie verstehen.142 3. Ein solches Lesen, verstanden als Refiguration des Lesenden durch die Erzählung von Jesus, ist zumeist kein isolierter individueller Akt, sondern ein »Reading in Communion«.143 Auch nach Ricœur schließt »narrative Identität« soziale Gruppen wie das »biblische Israel«144 ein. Im Blick auf das sog. »Urchristentum« lässt sich historisch festhalten: »Die frühchristlichen Gemeinden entwickelten also gerade im Erzählen und Rezipieren der Jesusgeschichte bzw. konkret der Passionsgeschichte ihre Gruppenidentität. Die christliche Gruppe ist insofern eine Erzählgemeinschaft, die im deutenden (Nach-)Erzählen des Todes Jesu nicht nur ein 139

E. Busch (Credo. Das Apostolische Glaubensbekenntnis, Göttingen 2003, 162) weist unter Rekurs auf die Perikope von der syrophönizischen Frau (Mk 7,24–30; Mt 15,21–28) darauf hin, dass Jesus, der im Blick auf die Exklusivität seiner Sendung »zu den verlorenen Schafen von dem Hause Israel« durch eine Heidin kuriert wurde, »in Anerkennung der Besonderheit der Erwählung Israels durch Gott so reden musste!« Gewiss geht diese Perikope indes nicht in einer heilsgeschichtlichen Deutung auf. Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 172f. 140 Zimmermann, Nur der gemalte Christus?, 59. 141 Vgl. Ricœur, Narrative Identität, 218; 222. 142 Vgl. K. Huizing / U.H.J. Körtner / P. Müller, Lesen und Leben. Drei Essays zur Grundlegung einer Lesetheologie, Bielefeld 1997. 143 S.E. Fowl / L.G. Jones, Reading in Communion. Scripture and Ethics in Christian Life, Eugene 1998. 144 Ricœur, Zeit und Erzählung 3, 397.

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geschichtliches Ereignis wiedergibt, sondern sich selbst als religiöse und sozia­le Identität konstituiert.«145 4. Zur »Präfiguration«, »Konfiguration« und »Refiguration« als den drei Arten der Mimesis (P. Ricœur) gehört dabei nicht nur der Umstand, dass Jesus zu den Fremden geht, sondern dass er auch – wie etwa in der Emmaus-Geschichte – als Fremder begegnet.146 Der Christus peregrinus geht in die Fremde und begegnet als Fremder (so etwa im Gleichnis vom Weltgericht; Mt 25,31–46). Damit identifiziert er sich zugleich mit den Fremden und provoziert Gastfreundschaft.147 Eine narrative Christologie, die den Christus peregrinus in ihr Zentrum gestellt sieht und als solchen erzählt und reflektiert, fördert Gastlichkeit und Fremdenfreundlichkeit (Philoxenie)148 und wehrt – negativ gewendet – Fremdenfeindlichkeit ab, indem sie Gastlichkeit als Empfang des Christus repräsentierenden Anderen versteht: »Ich war fremd, und ihr habt mich nicht aufgenommen« (Mt 25,43). 5. Eine weitere Stärke narrativer Christologie stellt der dezidierte Bibelbezug dar. Auch in dieser Hinsicht geht von der Emmaus-Geschichte heuristische Kraft aus, insofern sie den Konnex zwischen Schriftauslegung, Erzählgemeinschaft, Christi Weg, Christus als Fremden, dem auferstandenen Christus und der Mahlgemeinschaft narrativ herstellt.149 Narrative Christologie erzählt und reflektiert den Weg Jesu Christi und das in enger Bindung an das biblische Zeugnis. Der Schriftbezug wird dabei im Vollzug der narrativen Christologie als »konsequenter Exegese«150 deutlich. Narrative Christologie darf gleichsam als Erzähl- und Leseanleitung für die Heilige Schrift verstanden werden. 6. Narrative Christologie reduziert »Geschichte« nicht einfach auf Historie und Jesus nicht auf eine historische Persönlichkeit. Auf dem Hintergrund der Differenz von Protention und Retention (Hans-Georg Geyer) weiß sie vielmehr zwischen dem 145

Zimmermann, Nur der gemalte Christus?, 60. Vgl. W. Müller-Funk, Theorien des Fremden. Eine Einführung, München 2016. Aus theologischer Perspektive immer noch lesenswert: Th. Sundermeier, Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, Göttingen 1996. 147 Auf das Motiv der Gastfreundschaft und der Fremdenfreundlichkeit hat bereits früh S. Hauerwas (The Peaceable Kingdom. A Primer in Christian Ethics, Notre Dame 1983, 142f. [dt. ders., Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, hg. und eingeleitet von R. Hütter, übersetzt von G.M. Clicqué, Evangelium und Ethik 4, Neukirchen-Vluyn 1995, 210f.]) aufmerksam gemacht. Vgl. dazu M. Hofheinz, Kirche als »Society of Friends«. Überraschende freundschaftsekklesiologische Koinzidenzen bei Jürgen Moltmann und Stanley Hauerwas, in: ders. u.a. (Hg.), Freundschaft. Zur Aktualität eines traditionsreichen Begriffs, Zürich 2014, (153–205) 190–198. 148 Vgl. E. Oeser, Die Angst vor dem Fremden. Die Wurzeln der Xenophobie, Darmstadt 2016. 149 Dies heben treffend S.E. Fowl / L.G. Jones (Reading in Communion, 112f.) hervor. 150 E. Jüngel hat diese Formel sowohl zur Charakterisierung der Theologie Karls Barths (vgl. ders., Einführung in Leben und Werk Karl Barths, in: ders., Barth-Studien, ÖTh 9, Gütersloh 1982, 22–60, 46) als auch Rudolf Bultmanns (vgl. ders., Glauben und Verstehen. Zum Theologiebegriff Rudolf Bultmanns, in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, BeEvTh 107, München 1990, 16–77, 22) geltend gemacht. 146

Die Stärken einer narrativen Christologie

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historischen und dem irdischen Jesus zu unterscheiden. So wie Jesus für die narrative Christologie der irdische Jesus ist, ist für sie auch Geschichte ihrem Wesen nach »story«, die um der Erinnerung willen erzählt werden will. »Story« hat mit dem Handeln des dreieinen Gottes in Jesus Christus zu tun. In ihr bringt sich der Erinnerte immer wieder selbst zur Erinnerung. Memoria Jesu ist also nicht einfach als Genitivus obiectivus, sondern primär als Genitivus subiectivus zu verstehen. Im Vertrauen auf dieses Selbstzeugnis Jesu nimmt narrative Christologie das Erinnern als Funktion des Erzählens ernst. 7. Narrative Christologie kann dies, weil und insofern sie den Richtungssinn des Erinnerns beachtet. Sie tut dies, indem sie auf die Jesus-Story fokussiert, die von der Auferstehung her erzählt wird. Die Osterperspektive, die die Evangelisten in ihrem erinnernden Erzählen einnehmen, ist dabei entscheidend. Narrative Christologie nimmt insofern österliche Erzählimpulse auf. 8. Indem narrative Christologie auf die Christus-Narrationen in ihrer Erinnerungsfunktion fokussiert, stiftet sie Nähe, ohne die nötige Distanz aufzugeben. Sie erzählt eben nicht nur, verharrt aber auch nicht in »objektivierende[n] Feststellungen über die Bedeutung von Jesus Christus«, die sich »vom Geschehen selbst und vor allem von seinem Kontext, der Gesamt-Story«151 distanzieren und von ihm entfremden.152 Zu denken ist hierbei mit Dietrich Ritschl an »autonome Begriffe«, wie Inkarnation, Wirken Jesu, Passion, Kreuzigung und Epiphanien des Auferstandenen. Ritschl definiert solche »autonomen Begriffe« als »Summierungen«, die sich ausprägen, »wenn ihre Benutzer die dahinter liegende Story vergessen haben oder gering schätzen.«153 Diese Summierungen werden nach Ritschl »bei klassischen und vor allem heutigen Autoren oft bis zur logischen Unerträglichkeit autonom verwendet und personalisiert, z.B. ›Das Kreuz will …‹, ›die Inkarnation duldet nicht …‹ u.ä.«154 9. »Gewiß hat die Theologiegeschichte mit ihrem harten Ringen um konsensfähige Glaubensformeln und dafür geeignete Begriffe das spontane, unbeschwerte Erzählen von Gottes Taten im Leben der Kirche belastet.«155 Das Problem besteht aber nicht darin, dass es zu Verdichtungsprozessen bei Nacherzählungen hin zu narrativen Kurzformeln kommt. Dies ist nahezu unvermeidlich und geradezu notwendig, können sie doch für spätere Weitererzählungen mehr oder weniger

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Ritschl, Zur Logik der Theologie, 227. Ritschl (a.a.O., 226f.) hat im Zusammenhang seiner »story«-Konzeption bereits vor vielen Jahren trefflich beobachtet: »In der herkömmlichen Frage nach der Bedeutung des Kommens von Jesus, seines Wirkens, seiner Passion und seiner Hinrichtung ist ein Gefälle zur Objektivierung eingetreten, die zwar bestimmte Deduktionen ermöglicht und auch zu Aussagen über die bleibende Wirkung von Jesus einlädt, die aber auch Verzerrungen bewirkt.« 153 Ritschl / Jones, »Story« als Rohmaterial der Theologie, 25. 154 Ritschl, Zur Logik der Theologie, 227. 155 W. Sandler, Christentum als große Erzählung. Anstöße für eine narrative Theologie, in: P. Tschuggnall (Hg.), Religion – Literatur – Künste. Ein Dialog, Im Kontext 14, Anif/ Salzburg 2002, (523–538) 530. 152

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verbindliche Orientierungshilfen etwa an Knotenpunkten der Erzählung liefern. Gerade so verbleiben sie als Regulativa trotz der Einbuße ihrer narrativen Form in einem vitalen Bezug zu den aktuellen Erzählversuchen.156 Ohne solche »Leitplanken« würde ein Erzählprozess, der selbst den kaum überschaubaren Rahmen von »Erzählgemeinschaften« sprengt, in eine Vielzahl unverbundener Erzählstränge zerfallen.157 10. Das Problem autonomer theologischer Begriffe besteht also vielmehr in einer separaten Thematisierung derselben, die eine narrative Christologie durch die Thematisierung narrativ expliziter Zusammenhänge aufsprengt, die dem Gesamtphänomen des Kommens Jesu gelten. Dadurch raubt narrative Christologie den Begriffen ihren autonomen Charakter und stellt wechselseitige Bezüge her. Gerade so lädt sie zur erneuten Nacherzählung der »story« ein. 11. In dieser wechselseitigen Bezogenheit, die zumeist über Erzählfäden vermittelt wird, vermag narrative Christologie auch die Inkarnation, die Ritschl den »zweifellos problematischsten«158 der autonomen Begriffe nennt, in rechter Weise in den Blick zu nehmen und zwar so, dass sie – anders als es in vielen Jesulogien geschieht – gerade nicht isoliert oder verabsolutiert und auch ihr Ziel keinen Augenblick vom Weg abgelöst wird. Die Inkarnation will ganz in den Weg Christi hineingenommen und in diesem Zusammenhang theologisch reflektiert sein.159 Und auch andere Momente und/oder Ereignisse der Geschichte Jesu Christi dürfen keineswegs isoliert werden. Karl Barth erzählt die Geschichte Jesu Christi zu Recht von Anfang an (und zwar im Sinne der Präexistenz) und bis zum Ende hin im Zusammenhang des »Dramas des Bundes«.160 12. Ihre konzeptionelle Stärke besteht darin, dass eine narrative Christologie, die sich die Wegmetapher als ihre zentrale Metapher vorgeben lässt, recht bzw. relativ homogen die Stationen des Weges Jesu, etwa Inkarnation, Kreuz, Auferstehung und Wiederkunft, zur Sprache bringen kann und der Gefahr des Ausblendens einer Station weniger erliegt als andere Entwürfe. Das Fehlen fällt

156

Vgl. E. Maurer, Sprache bei Barth, in: M. Beintker (Hg.), Barth-Handbuch, Tübingen 2016, (165–171) 170: »Dogmen können diese Verdichtung [durch die Christusgeschichte; M.H.] der Geschichte sprachlich formulieren, wenn sie den narrativen Charakter des biblischen Redens von Gott als Struktur durchsichtig machen und zugleich die Verkündigung anleiten, das Wort der Schrift in gegenwärtiges Reden von Gott zu überführen, das seinerseits wieder personale und geschichtliche Anrede sein soll.« 157 Vgl. ebd. Auch Ritschl (vgl. ders. / Jones, »Story« als Rohmaterial der Theologie, 27) sieht dies klar und betont die »regulative[r] Sätze im Prozeß der Interpretation von stories«, »denn ohne sie wäre Theologie wirklich nur Nacherzählung«. 158 Vgl. Ritschl, Zur Logik der Theologie, 227. 159 So trefflich Link, Prädestination und Erwählung, 162. Vgl. auch Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 413f. 160 H.-W. Pietz, Das Drama des Bundes. Die dramatische Denkform in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik, NBST 12, Neukirchen-Vluyn 1998; E. Busch, Der eine Gnadenbund Gottes. Karl Barths neue Föderaltheologie, ThQ 176 (1996), 341–354.

Die Stärken einer narrativen Christologie

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im Verbund der Stationen stärker auf als anderswo.161 Es geht hier – mit Ricœur gesprochen – um die Konfiguration eines Erzählzusammenhangs aus präfigurierten Ereignissen, die in eine »diskonkordante Konkordanz«162 bzw. »Synthese des Heterogenen«163 gebracht werden.164 Das soll nicht heißen, dass narrative Christologie ausschließlich sequentiell im strengen chronologischen Sinne agiert und nur zeitlich aufeinander Folgendes behandeln kann. Barths Narrativ des Zugleichs von Erniedrigung und Erhöhung in ihrer gegenläufigen Bewegung, die den gesamten Weg Jesu umfassen, belehrt diesbezüglich eines Besseren. 13. Narrative Christologie stellt gewissermaßen ein Integral dar, das auch die prioritären Aspekte, für die gängige Christologie-Typen stehen, etwa die Inkarnationschristologie der Alten Kirche, die Auferstehungschristologie bei Wolfhart Pannenberg, die Kreuzeschristologie bei Eberhard Jüngel und die Geistchristologie des irdischen Jesus bei Friedrich Mildenberger,165 zur Sprache bringen kann.166 Die narrative Christologie entgeht so der Gefahr, ein bestimmtes Moment oder Ereignis der Geschichte Jesus zu isolieren und/oder zu verabsolutieren.167 Die Stärke einer narrativen Christologie besteht mit anderen Worten darin, dass sie integrieren kann, ohne synthetisch entwerten zu müssen. Auch hier greift die »diskonkordante Konkordanz« bzw. »Synthese des Heterogenen« (P. Ricœur), die die narrative Konfiguration bzw. Komposition charakterisiert. Diese Stärke einer narrativen Christologie hat also wiederum mit der Erzählung selbst zu tun: »Denn

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Freilich lassen sich diese »Stationen« »nicht wie in einem Multiple-Choice-Test abhaken«, da es um ein Leben geht, »das mir in immer neuen Perspektiven mein eigenes Leben vermittelt.« So Schröder-Field, Jesus Christus, 162. 162 Ricœur, Narrative Identität, 214. 163 Ebd. 164 Ricœur (Narrative Identität, 214f.) erläutert den Rückgriff auf diese beiden synonym gebrauchten Begriffe: »Ich versuche auf diese Weise Rechenschaft zu geben über die verschiedenen Vermittlungen, welche die Fabelkomposition bewirkt: Vermittlung zwischen der Vielfalt der Ereignisse und der zeitlichen Einheit der erzählten Geschichte: Vermittlung zwischen den disparaten Komponenten der Handlung – Absichten, Ursachen und Zufällen – und dem Zusammenhang der Geschichte; Vermittlung schließlich zwischen der reinen Aufeinanderfolge und der Einheit der zeitlichen Form, die unter Umständen die Chronologie durcheinanderbringen, ja sogar außer Kraft setzen kann.« 165 Vgl. die Typologie: F. Mildenberger / H. Assel, Grundwissen der Dogmatik. Ein Arbeits­buch, Stuttgart u.a. 41995, 169–172. 166 G.W. Stroup (Why Jesus Matters, Louisville 2011, 102) unterscheidet zwischen »five basic types« von Christologie: »(1) Jesus as a person of perfect God-consciousness; (2) Jesus as mediator of the experience of salvation; (3) Jesus as liberator; (4) Jesus as the basis for eschatological hope; and (5) Jesus as embodiment of wisdom.«. Stroup (a.a.O., 120–127) unterscheidet von diesen Typen den Versuch, »narrative Christologie« zu entwickeln. 167 Ritschl, Zur Logik der Theologie, 227: »Nur so konnten die typischen ›Inkarnations-‹, ›Kreuzes-‹ und österlichen Theologien entstehen, die grosso modo auch für die verschiedenen großen Konfessionen in der christlichen Kirche charakteristisch sind.«

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Christus peregrinus

in der Erzählung wird das Einmalige und Individuelle sprachlich in die Allgemeinheit vermittelt, ohne seine Einmaligkeit und Individualität zu verlieren.«168 14. Die skizzierte narrative Christologie gibt fernerhin den Zusammenhang der Christologie mit der Ethik zu erkennen, ist also auf die Ethik hin transparent. Die Zentralität der Nachfolgethematik wird dabei sichtbar: »Nicht zuletzt lädt jeder Weg dazu ein, ihn zu beschreiten.«169 Die Wegmetapher gebiert geradezu den Impuls: »Lasset uns mit Jesus ziehen.«170 Die Wegmetapher ist mithin nicht nur christologischer, sondern auch ethischer Natur: »Wer auf den Weg Christi tritt, wird erkennen, wer Jesus wirklich ist; und wer Jesus als den Christus Gottes wirklich glaubt, der folgt ihm auf seinem Weg.«171 Insofern geht es der geschilderten narrativen Christologie hinsichtlich des Weges nicht nur darum: »to talk the walk«, sondern tatsächlich »to walk the talk«.172 Theorie und Praxis gehen gleichsam Hand in Hand. Insofern kann eine solche narrative Christologie durchaus der berühmten elften Feuerbach-These von Marx begegnen: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.«173

6. Schlussbemerkung Wenn die Stärken einer narrativen Christologie in dieser Weise herausgestrichen werden, könnte indes der falsche Eindruck entstehen, als hätte narrative Christologie Christus und seine Erzählungen sicher, so als könnte sie Christi über diese Erzählungen habhaft werden. Dem gilt es abschließend deutlich zu widersprechen. Vermutlich haben Christinnen und Christen als »people of the ›Way‹ (Acts 9:2; 19:9,23; 22:4; 24:14,22)«174 Christus und die Erzählungen von ihm »nur so, wie Jüdinnen und Juden die Tora haben: niemals als Besitz, immer als Wort des Lebendigen, gepriesen sei sein Name, der sich Geheimnis und Freiheit erhält. Wir haben beide, ohne zu haben und ohne zu besitzen, aber in der lebhaften Erwar168

Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 415. Vgl. auch F. Mildenberger, Theologie für die Zeit. Wider die religiöse Interpretation der Wirklichkeit in der modernen Theologie, Stuttgart 1969, 161. 169 Moltmann, Der Weg Jesu Christi, 12. 170 BWV 481 (Sigmund von Birken 1653). Marquardt hat seinem letzten Predigtband diesen Titel gegeben: F.-W. Marquardt, Lasset uns mit Jesus ziehen. Dahlemer Predigten und Texte über die Wege Jesu. 1956–2001, hg. im Auftrag des Arbeitskreises Studium in Israel von M. Weinrich, Neuendettelsau 2004. 171 Moltmann, Der Weg Jesu Christi, 12. 172 Vgl. F. Herzog, God-Walk. Liberation Shaping Dogmatics, Maryknoll 1988, XXIII: »Said the grandmother of one of my students: ›If you can’t walk the talk, don’t talk the talk.‹ That’s a woman who knew what she was walking about.« Fernerhin: Ch. Morse, Not Every Spirit. A Dogmatics of Christian Disbelief, New York/London 22009, 293. 173 K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: Marx-Engels Werke (MEW) Bd. 3, Berlin 1969, (533–535) 535. 174 Herzog, God-Walk, XII.

Schlussbemerkung

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tung, daß Gott heute zu uns spricht. In dieser Erwartung können wir uns in die Geschichte Jesu Christi hineinbegeben, so wie sie [Jüdinnen und Juden; M.H.] in die Tora.«175 Wenn wir dies tun und wagen, dann werden wir hingezogen in ein dichtes Geflecht von Erzählungen, in die Verzweigung jener Geschichte, die Gottes Geschichte ist und Jesus Christus heißt. Wir werden dann gewiss nicht die bleiben, die wir sind, sondern uns auf den Weg in die Fremde begeben.

175

Schröder-Field, Jesus Christus, 180.

II. Christologie erzählen? Dogmatische Explorationen zu einer narrativen Christologie im Gespräch mit Karl Barth und Friedrich Mildenberger

Für Ingrid Schoberth zum 60. Geburtstag

»Der Menschlichkeit Gottes vermag der Mensch sprachlich nur dadurch zu entsprechen, daß er sie stets aufs neue erzählt. Er erkennt damit an, daß Gottes Menschlichkeit auch als geschehene Geschichte nicht aufhört, geschehende Geschichte zu sein, weil Gott Subjekt seiner eigenen Geschichte bleibt.«1

1. Einleitung »Wer ist Jesus Christus?« Wer sich dieser Frage stellt, wird zu erzählen anfangen. Nach dem Zeugnis des Lukasevangeliums ist es bereits den beiden Emmausjüngern2 so ergangen: »Sie redeten miteinander über all das, was vorgefallen war« (Lk 24,14; Zürcher Bibel, 2007). Die beiden Jünger bildeten eine regelrechte Erzählgemeinschaft, eine »Erzählgemeinschaft der Enttäuschten«3. Genauer gesagt, han-

1

E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 41982, 415. Hervorhebungen im Original. 2 I. Schoberth und I. Kowaltschuk haben dem von ihnen herausgebenen Band »Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs? (Lk 24) Christologie im Religionsunterricht«, Heidelberger Studien zur Praktischen Theologie 15, Berlin 2010, bezeichnenderweise die Emmausperikope als Bezugspunkt zugrunde gelegt, um nicht nur nach Jesus zu fragen, sondern sich auch von ihm befragen zu lassen. 3 H. Luther, Frech achtet die Liebe das Kleine. Biblische Texte in Szene setzen. Spätmoderne Predigten, Stuttgart 1991, 94. Zur Erzählgemeinschaft vgl. D. Ritschl / M. Hailer, Diesseits und jenseits der Worte. Grundkurs christliche Theologie, Neukirchen-Vluyn 2006, 374.

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Christologie erzählen?

delt es sich bei der Emmaus-Erzählung4 um eine »Weggeschichte« der »doppelten Ent-täuschung«5: Zunächst sind die Jünger auf dem Hintergrund ihrer Messiaserwartung von dem Widerfahrnis des Kreuzes enttäuscht, das die Niederlage Jesu zu besiegeln scheint. Doch dann dekonstruiert6 Jesus gleichsam auf dem Weg die Täuschung, die ihrer Enttäuschung zugrunde liegt. Jesus ent-täuscht mithin in einem ganz wörtlichen Sinne: Er eliminiert die Täuschung, die falsche Vorstellung von ihm und von der Erlösung seines Volkes7: »Jesus ist nicht der Erlöser seines Volkes in dem Sinn, dass er ein militärischer Herrscher ist, sondern indem er Gott ist, der sich seinem Volk neu und ganz anders zuwendet als dieses es erwartet. Im Text korrigiert der auferstandene Jesus die falschen Erwartungen, indem er die Heiligen Schriften des Judentums auf sich selbst hin auslegt. Über dieses Gespräch gelangen die drei an ihr Ziel: Emmaus. Jesus macht den Anschein, seinen Weg fortsetzen zu wollen, wird aber von den beiden Jüngern gedrängt, mit ihnen den Abend zu verbringen [Lk 24,29; Zürcher Bibel, 2007: ›Bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich schon geneigt‹]. Die beiden scheinen von seiner Schriftauslegung beeindruckt. Beim gemeinsamen Mahl übernimmt der Gast Jesus die Rolle des Gastgebers, spricht den Tischsegen und teilt das Brot. Beim Brotbrechen erkennen die Jünger plötzlich in ihrem Gast Jesus.«8

Die Emmaus-Geschichte endet bezeichnenderweise mit dem Hinweis, dass die nach Jerusalem zurückgekehrten Jünger »erzählten, was unterwegs geschehen war und wie er von ihnen am Brechen des Brotes erkannt worden war« (Lk 24,35; Zürcher Bibel, 2007). Was das Erzählen betrifft, so handelt es sich weder in dieser Geschichte noch in anderen biblischen Zusammenhängen um ein eskapistisches Motiv. Von Jesus muss erzählt werden. Nicht zufällig liegen mit den Evangelien erzählende Texte vor. Auch der Umstand, dass der zweite Glaubensartikel im Apostolikum gewissermaßen als eine narratio in nuce erscheint, sei in diesem Zusammenhang angeführt:

4

Vgl. zu Emmaus-Geschichte M. Hofheinz, Unterwegs nach Emmaus. Predigt zu Lk 24,13–35, in: https://www.reformiert-info.de/20753-0-0-1.html 5 Luther, Frech achtet die Liebe das Kleine, 88. 6 Vgl. S. Hauerwas, Unleashing the Scripture. Freeing the Bible from Captivity to America, Nashville 1993, 56: »Jesus had to deconstruct their narratives so that they might see, for example, why a text such as Isaiah 52 and 53 is about Jesus.« Zur Prägung des Lukas­ evangeliums durch das Gottesknechtslied vgl. U. Mittmann-Reichert, Der Sühnetod des Gottesknechtes. Jes 53 im Lukasevangelium, WUNT 220, Tübingen 2008. 7 Vgl. F.-W. Marquardt, »Wann stellst du das Reich für Israel wieder her?«, in: ders., Auf einem Schul-Weg. Kleinere christlich-jüdische Lerneinheiten, hg. von A. Pangritz, Aachen 2 2005, 173–190. 8 M. Landgraf / P. Metzger, Bibel unterrichten. Basiswissen – Bibeldidaktische Grundfragen – Elementare Bibeltexte, Stuttgart 2011, 104f.

Einleitung

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»Dieser zweite Artikel des Glaubensbekenntnisses hat die Gestalt einer Erzählung; einer Erzählung, der wir sogleich das Erzählmuster einer Biographie unterlegen. Denn sie umfasst Geburt, Leben, Leiden und Tod Jesu – freilich gerahmt von einem zwar auch biographisch anmutenden, unserem Lebenslauf aber fremden Beginn und Ende im Himmel.«9

Wird die Dogmatik damit auf die Programmatik »Erzählung statt Begriff«10 festgelegt, ja reduziert? Lässt sich aus dem Umstand, dass es sich beim zweiten Artikel um »eine in biographische Erzählform gegossene Deutung der wahren Wirklichkeit Jesu«11 handelt, ein entsprechendes Plädoyer für eine narrative Christologie ableiten? Soll Christologie erzählt werden? Und sollen Theologinnen und Theologen als Christologinnen und Christologen »nur« noch erzählen? Dietrich Ritschl (1929–2018) hat mit Entschiedenheit genau dies abgelehnt und sich eben darum mit seinem story-Konzept dezidiert von narrativer Theologie abgegrenzt.12 Rückblickend bemerkt er: »Weil ich in meinen Vorträgen und Publikationen so viel über stories gesagt habe, hatte ich einige Mühe, mich von den Vertretern der ›Narrativen Theologie‹ abzugrenzen. Ich habe nie geglaubt, dass es narrative Theologie geben könnte. Theologie besteht aus Suchaktionen, Interpretationen, Explikationen, Argumenten und Neukonstruktionen, nicht aus ›Erzählungen‹ oder ›Nacherzählungen‹.«13

Ritschls These lautet dementsprechend: »›Narrative Theologie‹ ist ein misnomer, ein Fehlbegriff, denn Theologie ist durch und durch reflektierend, prüfend, erklärend, argumentierend, konstruierend, auch wenn sie zur Doxologie, zum Gebet und zur Predigt hinführt.«14 Ritschl bestimmt die story als »Rohmaterial« der Theologie,15 das in Auswahl von Kirche und Theologie bearbeitet werden müsse. Stories gingen der Theologie voraus, seien aber nicht selbst Teil der theologischen Arbeit: 9

D. Korsch, Einführung in die evangelische Dogmatik. Im Anschluss an Martin Luthers Kleinen Katechismus, Leipzig 2016, 151. 10 Ebd. 11 A.a.O., 152. 12 Vgl. dazu I. Schoberth, Erinnerung als Praxis des Glaubens, ÖTh 3, München 1992, 157–165. 13 Ritschl / Hailer, Diesseits und jenseits der Worte, 373f. 14 D. Ritschl, Theologie ist explikativ und argumentativ, nicht narrativ – auch bei Karl Barth. Zusammenfassung eines Vortrags, in: ders., Bildersprache und Argumente. Theologische Aufsätze, Neukirchen-Vluyn 2008, (159–172) 160. Vgl. auch G. Schneider-Flume, Dogmatik erzählen. Ein Plädoyer für biblische Theologie, NZSTh 45 (2003), (137–148) 139: »Dogmatik denkt dem Erzählen nach, sie ist nicht narrative Theologie. […] Der dogmatischen Arbeit selbst geht es primär nun gerade nicht um das Erzählen, sondern um die Reflexion über das Erzählen. Dogmatik kann nicht als narrative Theologie durchgeführt werden.« 15 Vgl. D. Ritschl / H.O. Jones, »Story« als Rohmaterial der Theologie, ThExH 192, München 1976.

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Christologie erzählen?

»Ich fürchte, daß wir uns unter Theologen gar nicht mehr verständigen können, was theologische Gedanken, Probleme, Aufgaben und Arbeit eigentlich sind, wenn einige im Ernst vorschlagen, dies alles auf Narrationen zu reduzieren. Daß wir ganz wesentlich von Narrationen ausgehen müssen, ist freilich unbestritten.«16 Das Beispiel Ritschls zeigt, dass narrative Theologie keineswegs unumstritten ist und dieses Urteil gilt dementsprechend auch für die Christologie in Gestalt narrativer Christologie.17 Vielleicht liegt aber auch Ritschls Einspruch schlicht eine falsche bzw. schiefe Alternative zwischen Erzählen und Argumentieren, Erzählung und Begriff zugrunde. Dann stellt sich freilich die Anschlussfrage, in welcher Weise die Erzählung in die dogmatische Urteilsbildung integriert und wie von ihr Gebrauch gemacht werden kann, vielleicht sogar muss. U.a. die Frage nach einem tragenden Erzählschema steht damit auf der Agenda. Im Folgenden sollen zwei dogmatische Entwürfe, die in der Christologie prononcierten Gebrauch von der Erzählung gemacht haben,18 untersucht werden und zwar erkenntnisleitend auf die Frage hin, ob und – wenn ja – inwiefern es sich in ihrem Fall um narrativen Christologien handelt. Es geht konkret um die »Biblische Dogmatik«19 des evangelisch-lutherischen und viele Jahre in Erlangen lehrenden Theologen Friedrich Mildenberger (1929–2012) und die »Kirchliche Dogmatik« (KD), näherhin deren Versöhnungslehre (KD IV,1–4), des weltberühmten evangelisch-reformierten, vor allem in Basel lehrenden Theologen Karl Barth (1886– 1968). Beide Entwürfe lassen bereits auf den ersten Blick erkennen, dass sie ihren christologischen Ausführungen der Erzählung eine zentrale Stellung einräumen. Das zeigt der dezidierte Gebrauch, den beide von dogmatischen Gliederungsschemata machen, die wiederum als Erzählschemata fungieren: Mildenberger von dem Erzählschema des ordo salutis20 und Barth von dem des »Doppelweges« (»Der Weg des Sohnes Gottes in die Fremde«21 – »Die Heimkehr des Menschensohns«22).

16

D. Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 21988, 47. 17 Auch Schneider-Flume (Dogmatik erzählen, 137) kann feststellen: »›Dogmatik erzählen‹ – das ist kein neues Programm, sondern eine Problemanzeige, die Aufgaben und Defizite dogmatischer Arbeit benennt und darauf reagiert.« 18 Im Blick auf weitere Entwürfe, die dieses Anliegen teilen, sei verwiesen auf: J. Moltmann, Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen, München 1989; J.Wm. McClendon, Doctrine. Systematic Theology Vol. 2, Nashville 1994, 263–279; G. Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik. Nachdenken über Gottes Geschichte, UTB 2564, Göttingen 2004, 202–300. 19 F. Mildenberger, Biblische Dogmatik. Eine Biblische Theologie in dogmatischer Perspektive Bde. 1–3, Stuttgart u.a. 1991–1993. 20 Vgl. F. Mildenberger, Biblische Dogmatik. Eine Biblische Theologie in dogmatischer Perspektive, Bd. 3: Theologie als Ökonomie, Stuttgart u.a. 1993, 109–191. 21 Barth, KD IV/1, 171–231. 22 Barth, KD IV/2, 20–172.

Mildenbergers narrativ-anthropozentrische Geistchristologie

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2. Jesus als der durch den Geist Gottes geführte Mensch. Friedrich Mildenbergers narrativanthropozentrische Geistchristologie des irdischen Jesus 2.1 Friedrich Mildenbergers Begründung seines narrativanthropozentrischen Christologieansatzes Mildenberger hat im Rahmen seines Projektes einer »Biblischen Dogmatik«23 eine narrative Christologie entwickelt. Dieser Kontext ist hermeneutisch bedeutsam. Mildenbergers »Biblische Dogmatik« weist eine (heils-)ökonomische Pointierung auf und ist durch eine »Abneigung gegen ein Denken Gottes«24, genauer gesagt: eine Ausrichtung gegen die Aseität Gottes gekennzeichnet, die sich etwa in einer Ablehnung der immanenten Trinitätslehre manifestiert, der das Odium des Metaphysischen anhafte. Im Blick auf die Gottesrede hat Mildenberger bereits werkgeschichtlich früh festgehalten: »Gegenständlichkeit Gottes meint hier […] seine Vergegenständlichung in der durch ihn bestimmten Menschlichkeit«.25 Entsprechend der (heils-)ökonomischen Pointierung blickt Mildenberger auf das Handeln Gottes26 am Menschen: »Indem in der Gottesgeschichte – zuerst in Jesus, und dann in denen, die in Jesu Gott entsprechendem Menschsein Raum finden – sich Menschsein so verwirklicht, wie es sein soll, kommt gerade hier Wirklichkeit in ihre Wahrheit.«27 Hier werden erste Konturen von Mildenbergers Christologieentwurf sichtbar, sofern dieser nämlich beim Menschen Jesus, seinem Menschsein und seiner Menschlichkeit ansetzt und insofern als anthropozentrisch bezeichnet werden kann: »[D]er Mensch Jesus entspricht in seiner Menschlichkeit der Gottheit Gottes.«28 Eng verknüpft mit der (heils-)ökonomischen Pointierung ist die namenstheologische und narrative Ausrichtung von Mildenbergers Ansatz. Weil Gott durch einen Eigennamen bezeichnet wird, muss die Rede von Gott erzählende Rede sein.29 23

Vgl. zu diesem Projekt einleitend B. Jaspert, Biblische Theologie und Kirchengeschichte, in: H. Hübner / B. Jaspert (Hg.), Biblische Theologie. Entwürfe der Gegenwart, BThS 38, Neukirchen-Vluyn 1999, 143–181, bes. 152–155. Zum Ansatz von Mildenberger siehe auch M. Coors, Scriptura efficax. Die biblisch-dogmatische Grundlegung des theologischen Systems bei Johann Andreas Quenstedt. Ein dogmatischer Beitrag zu Theorie und Auslegung des biblischen Kanons als Heiliger Schrift, FSÖTh 123, Göttingen 2009, 66–78. 24 So zugespitzt E. Maurer, Tendenzen neuerer Trinitätslehre, VuF 39 (2/1994), (3–24) 5. 25 F. Mildenberger, Gotteslehre. Eine dogmatische Untersuchung, Tübingen 1975, 160. 26 Treffend charakterisiert Maurer (Tendenzen neuerer Trinitätslehren, 5) die Auffassung Mildenbergers: »Gott kann nicht gedanklich vom Handeln Gottes unterschieden werden, weil sich in Gottes Dabeisein erst Sein konstituiert.« 27 Mildenberger, Gotteslehre, 167. 28 A.a.O., 101. Dort kursiv. 29 Auch K. Barth (KD II/1, 21) kann, ähnlich wie Mildenberger, auf die Logik des Eigennamens rekurrierend, feststellen: »Sie [die Kirche; M.H.] expliziert keine Idee Gottes, son-

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Christologie erzählen?

Wir lernen Gott – Mildenberger zufolge – gleichsam narrativ an seinem Namen kennen. Er wird nur in der erzählen Geschichte gegenständlich, die wiederum an seinem Namen haftet: Der Name »bezeichnet das Subjekt der Geschichte, in der Gott dabei ist, und kann als abgekürzte Formel diese Geschichte auch selbst vertreten.«30 Die erzählende Rede von Gott ist für Mildenberger indispensabel, d.h. schlicht notwendig: »Fragt einer […], wie er denn nun diesen Namen verstehen soll, dann werden wir nicht auf begriffliche Bestimmungen verweisen, sondern werden Geschichten – die Geschichte Gottes – erzählen müssen.«31 Mildenbergers besonderes Interesse richtet sich – der (heils-)ökonomischen Pointierung entsprechend – auf die erzählte Gegenwart Gottes: »Gegenwart ist uns diese Selbstentsprechung Gottes in Jesus von Nazareth als Erzählung.«32 Ganz im Sinne Mildenbergers bemerkt Christian Link: »Nur erzählend läßt sich sein Name ins Heute tragen.«33 Neben der christologischen Ausrichtung zeigt sich hier auch eine dezidiert pneumatologische: »Diese Gegenwart ist der Heilige Geist selbst.«34 Der geistchristologische Ansatz der Christologie Mildenbergers hat hier gleichsam seine Wurzeln. Pneumatologie und Christologie greifen dort ineinander, wo sich die Zeit der Erzählung, d.h. die Zeit, die jemand braucht um heute eine Erzählung zu lesen bzw. zu hören, und die erzählte Zeit, die die Zeit des irdischen Jesus betrifft, einander durchdringen.35 So betont Mildenberger, dass in einer Erzählung beides, »die Zeit des Erzählens mit der erzählten Zeit zusammengesprochen werden soll«.36

dern seinen in seinen Taten offenbarten Namen.« Beide, Barth und Mildenberger, treffen in der Gotteslehre ähnliche Weichenstellungen, etwa was die Alternative von Name und Begriff betrifft. Namenstheologisch zeigt sich eine Verbindung zwischen Barth und Mildenberger. Zu Barths Namenstheologie vgl. E. Maurer, Sprachphilosophische Aspekte in Karl Barths »Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik«, EHS XXIII/357, Frankfurt a.M. 1989. 30 Mildenberger, Biblische Dogmatik 2, 393. 31 F. Mildenberger, Gott für die Zeit. Wider die religiöse Interpretation der Wirklichkeit in der modernen Theologie, Stuttgart 1969, 161. Ch. Link (Die Spur des Namens. Wege zur Erkenntnis Gottes und zur Erfahrung der Schöpfung. Theologische Studien, Neukirchen-Vluyn 1997, 44) bemerkt zur Funktion des Namens: »Einen Begriff kann man definieren, von einem Namen muß man erzählen, um seinen Träger kennenzulernen. Der Begriff bezeichnet eine Allgemeinheit, von der es beliebig viele Exemplare (Götter, Engel oder Dämonen) gibt, der Name hebt den unverwechselbar Einzelnen aus der Menge bloße Duplikate heraus.« Vgl. auch a.a.O., 1. 32 Mildenberger, Gotteslehre, 116. 33 Link, Die Spur des Namens, 45. 34 Mildenberger, Gotteslehre, 117. Dort kursiv. 35 Zu der erzählten Zeit und der Zeit der Erzählung vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 1, 173–180. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive: J. Vogt, Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, München 102008, 100–110. 36 Mildenberger, Biblische Dogmatik 2, 400. Die »Reziprozität zwischen Narrativität und Zeitlichkeit« hat auch P. Ricœur, Erzählung, Metapher und Interpretationstheorie, ZThK 84 (1987), (232–253) 233, betont.

Mildenbergers narrativ-anthropozentrische Geistchristologie

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Mildenberger agiert darüber hinaus gleichsam im Abgrenzungsmodus, wenn er seine Christologie betont als eine Geist-37 und nicht etwa Logos-Christologie38 entfaltet. Bereits darin unterscheidet er sich signifikant von Barth, dessen Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes eine Inkarnationschristologie zugrunde liegt:39 »Mildenberger does not interlock the notion of Christ as the Word of God with the notion of Christ as the eternal Logos, which is the eternal Son. In other words, in his account of the Word of God Mildenberger only uses the speech model, whereas Barth combines the Logos model and the speech model.«40 Für Mildenberger ist dieser logoschristologische Weg versperrt, weil er metaphysisch allzu belastet sei.41 Mildenberger betrachtet etwa die klassische Logos-Christologie des Nizänums nicht als irreversible Lehre im Sinne des klassischen Dogmas42, sondern gewissermaßen als eine zu problematisierende »(substanz-)metaphysierte« Gestalt der doxologischen Rede biblischer Hymnen. Problematisch sei der bereits in ihnen sich manifestierende, mehr oder weniger schleichende Subjekt- und Prädikatswechsel43, wie es sich schon im Philipperhymnus (Phil 2,6–11) und im Johannesprolog (Joh 1,1–18) zeige.44 Mildenberger möchte mithin nicht das biblische 37

Zur Geistchristologie vgl. meine kritische Evaluation: M. Hofheinz, Der geistgesalbte Christus. Trinitätstheologische Erwägungen zur umstrittenen Geistchristologie, EvTh 72 (2012), 335–354. Fernerhin: G. Hunsinger, Salvator Mundi: Three Types of Christology, in: ders., Evangelical, Catholic, and Reformed. Doctrinal Essays on Barth and Related Themes, Grand Rapids / Cambridge 2015, 126–145, bes. 135–137. 38 Mildenberger konzediert indes, dass die Logos-Christologie nicht einfach Produkt hellenistischer Philosophie, sondern biblisch in den Christus-Hymnen verwurzelt sei. Vgl. ders., Biblische Dogmatik 1, 133. Freilich würden diese eine eschatologische Pointe besitzen. Die Hymnen beschrieben nicht einfach, was der Fall sei, sondern antizipierten, was einmal der Fall sein werde. Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 1, 130–135; 152; 190; ders., Biblische Dogmatik 2, 426–438; 452. 39 Vgl. Barth, KD I/1, 89–128. Zum Barth-Mildenberger-Vergleich siehe J. Muis, Karl Barth and Friedrich Mildenberger on Scripture in Doctrine, in: M. Bockmuehl / A.J. Torrance (Hg.), Scripture’s Doctrine and Theology’s Bible. How the New Testament Shapes Christian Dogmatics, Grand Rapids 2008, 91–103. 40 Muis, Karl Barth and Friedrich Mildenberger, 97. 41 Dabei kann Mildenberger durchaus den s.E. daraus resultierenden Sprachverlust würdigen – z.B. im Blick auf die Präexistenzvorstellung. Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 2, 386–393. 42 Vgl. den berühmten Traditionssatz des Vinzenz von Lerinum (Commonitorium II,5): »[…] quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est.« 43 Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 127; ders., Biblische Dogmatik 2, 387f. Dazu I.U. Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, 12f. Wie Dalferth (ebd.) zeigt, findet sich ein ähnlicher Vorwurf auch bei John Hick. 44 Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 2, 387f. Maurer, Tendenzen neuerer Trinitätslehre, 5f., weist kritisch darauf hin, dass es sich Mildenberger mit der Unterscheidung von Namen und begrifflicher Kennzeichnung zu einfach mache: »Ist aber ›Sohn Gottes‹ demgegenüber ein Begriff der als Prädikat dem Subjekt ›Jesus Christus‹ zugeordnet wird? Mildenberger betrachtet es als problematisch, daß bereits der Hymnus Phil 2,6–11 das Gefälle

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Christologie erzählen?

Zeugnis gegen die dogmatische Lehrbildung ausgespielt wissen, sofern denn die Vertauschung von Subjekt und Prädikat durchaus bis ins Neue Testament zurückreiche.45 Aus der beim Menschen Jesus ansetzenden Aussage »Jesus ist göttlich« werde die Aussage: »Der göttliche Logos nimmt das menschliche Wesen an«.46 Das konkrete Subjekt in der ersten Aussage werde zum abstrakten Prädikat der zweiten Aussage transformiert. Gleichsam unter der Hand vollziehe sich damit ein Referentenwechsel und aus dem »Sohn Gottes« werde »Gott der Sohn«.47 Gegenüber dieser metaphysischen Transformation möchte Mildenberger mit seiner Geistchristologie auf den ursprünglichen Sinn bzw. die ursprüngliche Aussage zurück- und die christologische Lehrbildung antimetaphysisch umlenken. Ein solches antimetaphysisches Umlenken aber sei in der Konkretion nur auf dem Weg der Narration möglich. Erzählendes Denken bedeutet also nach Mildenberger eine antimetaphysische Wende und vice versa. Erzählendes Denken ist, anders gesagt, Bestandteil einer nachmetaphysischen Theologie.48 Nur so, auf dem Weg eines narrativen Einholens dieser Intention, könne die Göttlichkeit des Menschen Jesus zur Sprache gebracht werden, die von der Humanität eines transzendenten, göttlichen Wesens abzugrenzen sei.

2.2 Die Durchführung eines narrativ-anthropozentrischen Christologieansatzes im Allgemeinen bei Friedrich Mildenberger So wie Mildenberger mit der Besinnung auf den Gottesnamen dazu einlädt, Gott nicht metaphysisch, sondern von der erzählten Geschichte her zu verstehen, so möchte er auch die Wirklichkeit Jesu »von der erzählten Geschichte des irdischen Jesus her erfass[en]« – und zwar »ohne dass auf die Suggestion eines rekonstruierumkehrt. Nun wäre das aber sprachphilosophisch auch anders zu erklären: als Entdeckung der Identität zweier Eigennamen, welche Entdeckung gerade das Ziel des Hymnus ist: Kyrios = Jesus Christus. […] Hat aber die biblische Geschichte in der Identität ›Kyrios = Jesus Christus‹ ihren Brennpunkt, so ist auch diese Identität immer wieder neu zu entdecken und bleibt – als unumkehrbare Identität – unauslotbar. Liegt nun in der Formulierung dieser Identität, die mit der unerschöpflichen Entdeckung meiner Identität in der biblischen Geschichte zur Deckung kommt, eine Explikation des unüberholbaren Gottesnamens vor, so ist nicht einzusehen, warum diese unumkehrbar identischen Relationen nicht als äußerste Verdichtung angemessenen Redens von Gott gelten sollten.« 45 Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 2, 387. 46 Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 127. 47 Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 2, 386–388; ders., Biblische Dogmatik 3, 427. 48 Vgl. E. Thaidigsmann, Umkehr des Denkens. Die Aufgabe einer nachmetaphysischen Theologie, in: ders., Einsichten und Ausblicke. Theologische Studien, hg. von J. von Lüpke, Studien zur systematischen Theologie und Ethik 61, Berlin 2011, 122–137. Zu den Bemühungen um eine »nachmetaphysische« Christologie auf römisch-katholischer Seite, namentlich bei Karl Rahner, Bernhard Welte, Thomas Pröpper und Hans Küng, vgl. B. Dahlke, Christologie jenseits der Metaphysik? Zur Diskussion in der neueren katholischen Theologie, Cath(M) 66 (2012), 62–78.

Mildenbergers narrativ-anthropozentrische Geistchristologie

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baren Lebens Jesu zurückgegriffen«49 wird. Anders gesagt: So wie Mildenberger in der Gotteslehre50 den Namen Gottes nacherzählen möchte, so möchte er dies auch im Blick auf den irdischen Jesus tun. Dieses Vorgehen sieht er durch eine Trinitätslehre in ökonomischer Pointierung legitimiert.51 Dabei hebt Mildenberger die besondere Valenz der Kategorie »Zeit« hervor: »[Es] muss das Verhältnis der vergangenen und abgeschlossenen Geschichte Jesu und ihrer gegenwärtigen Wirksamkeit eigens bedacht werden: Inwiefern erschließen sich in den Jesus-Erzählungen (streng genommen lässt sich hier nur im Plural reden) gegenwärtige menschliche Lebensgeschichten so, dass diese sich darin auf ›Gottes Geschichte‹ hin öffnen?«52

Die Frage nach der Gottheit Jesu, die Mildenberger, wie gesagt, nicht metaphysisch im Sinne der traditionellen Inkarnationschristologie beantworten und entfalten möchte, verlangt eine tragfähige alternative Antwort. Sie muss nach Mildenberger auf die Zugehörigkeit Jesu zu Gott kaprizieren und dabei die erzählten Geschichten berücksichtigen. Mit H. Assel gesprochen, lautet die Antwort auf die Frage nach der Gottheit Jesu: »Für Mildenberger erweist sich […] die Zugehörigkeit Jesu zu Gott dort, wo sich in den Erzählungen von Jesus die Strittigkeit Gottes in den welthaften Widerfahrnissen lichtet […]. Wenn sich aber die Strittigkeit Gottes als Schöpfer (und der Welt als Schöpfung) in der letzten Strittigkeit endgültigen Todes oder Lebens zuspitzt […], dann fassen die Erzählungen von Kreuz und Auferstehung Jesu das Leben Jesu zusammen: Im Sterben Jesu und seiner Auferweckung hat Gott schon zugunsten des Lebens entschieden. Erfahrbar wird dies, wenn sich durch diese Erzählungen die strittigen Lebenswiderfahrnisse zugunsten des Lebens (gemeinsam) zur Sprache bringen lassen: Darin erweist sich Jesus als eschatologischer ›Sohn Gottes‹ und Gott als ›der, der Jesus Christus von den Toten auferweckte und dem, was nicht ist, ruft, dass es sei‹ (Röm 4,17).«53

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F. Mildenberger / H. Assel, Grundwissen der Dogmatik. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart u.a. 41995, 171; zur Suggestion vgl. außer Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 120f. auch O. Hofius, Die Frage nach dem »historischen Jesus« als theologisches Problem, in: H. Assel (Hg.), Leidenschaft für die Theologie, Leipzig 2012, 79–117; D. Schellong, »Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?«. Rückfragen zur Suche nach dem »historischen Jesus«, Entwürfe 6, hg. von F.-W. Marquardt u.a., München 1990, 2–47, K. Wengst, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem »historischen« Jesus, Stuttgart 2013. 50 Vgl. Mildenberger, Gotteslehre, bes. Kap. 2 (54–126). 51 Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 109. 52 Mildenberger / Assel, Grundwissen der Dogmatik, 171. 53 A.a.O., 172.

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Christologie erzählen?

Hinsichtlich der konkreten Durchführung seines christologischen Ansatzes wird die Geschichte Jesu von Mildenberger im Schema des ordo salutis54 entsprechend seinem ökonomischen Ansatz nacherzählt. Mildenberger postuliert: »Da jedenfalls ein ›Leben Jesu‹ im Sinne biographischer Kontinuität hier nicht das Ziel der Bearbeitung sein kann, braucht es eine eher systematisch bestimmte Anordnung dessen, was zu sagen ist.«55 Für den Rückgriff auf das Schema des ordo salutis nennt Mildenberger zwei Gründe: »1. Weil im ordo salutis Erfahrungen mit dem Heiligen Geist und ihre Reflexion so versammelt sind, dass gerade der Widerfahrnischarakter der Heilszueignung herausgestellt wird. 2. Weil durch dieses Zusammendenken von Pneumatologie und Jesusüberlieferung die besondere Gestalt des Menschen Jesus ebenso in Blick kommen soll wie seine Inklusivität, die Möglichkeit, dass wir uns in seinem Leben unterbringen.«56

Das dogmatische Schema des ordo salutis verhilft Mildenberger aus der Verlegenheit einer Darstellungsweise der Geschichte Jesu bzw. dem Wegfall einer Jesusbiographie heraus: »Sicher gibt es hier keine zwingende Anordnung, wenn einmal feststeht, daß ein biographischer Aufriß, der womöglich gar eine innere Entwicklung Jesu erfassen will, nicht möglich ist. Wie sollen wir dann vorgehen? Dazu will ich mich mit allem Vorbehalt an die dogmatische Bestimmung der Wirksamkeit des heiligen Geistes anlehnen, also an den sog. ordo salutis.«57

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Zum ordo salutis vgl. M. Hofheinz, Wiedergeburt? Erwägungen zur dogmatischen Revision eines diskreditierten Begriffs, ZThK 109 (2012), 46–67; J.A. Steiger, Art. ordo salutis, TRE 25 (1995), 371–376; M. Marquardt, Art. ordo salutis, RGG4 6 (2003), 637–639; M. Matthias, Ordo salutis. Zur Geschichte eines dogmatischen Begriffs, ZKG 115 (2004), 318–346. Mildenberger (Biblische Dogmatik 3, 122f.) nimmt dieses Schema durchaus als problembehaftet wahr und sprich von der »Schwierigkeit, die in dieser dogmatischen Tradition begründet ist: Diese setzt den Menschen als Sünder voraus, an dem der heilige Geist in seiner das durch Christus erworbene Heil zueignenden Gnade wirksam wird. Auch hier sind natürlich dieselben Vorgaben wirksam wie in der traditionellen Christologie, das vorausgesetzte Gesetzesverständnis wie die absolute Sonderstellung Christi. Davon haben wir keinesfalls abzusehen, wenn wir hier weiter fragen.« 55 Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 188. Vgl. auch Barth, KD IV/2, 113. 56 Mildenberger / H. Assel, Grundwissen der Dogmatik, 311. Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 188. 57 Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 122.

Mildenbergers narrativ-anthropozentrische Geistchristologie

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2.3 Die Durchführung eines narrativ-anthropozentrischen Christologieansatzes im Besonderen bei Friedrich Mildenberger Noch bevor Mildenberger auf die einzelnen Elemente des ordo salutis zu sprechen kommt und die Geschichte Jesu als die des durch den Geist geführten Menschen erzählt, kommt er auf die alttestamentliche Gestalt des Richters und Philisterbefreiers Simson zu sprechen.58 Wer Jesus verstehen will, muss den erwählten Retter Simson verstehen. In Jesu Geschichte, sowohl seiner Geburt als auch seinem Tod, bildet sich die Geschichte Simsons ab und beleuchtet sie zugleich: »An Simson als dem erwählten Richter wird schon im Zusammenhang seiner Geburtsgeschichte deutlich, wie Erwählung der Schöpfung vorangeht: weil er mit der Befreiung Israels von den Philistern den Anfang machen soll, wird er geboren. Die Führung des Erwählten durch den Geist Gottes zeigt gerade jene Leibhaftigkeit des Menschseins, in der die gelegene Zeit erst die Spontaneität entbindet, in welcher sich das rettende Tun vollzieht.«59

Bei Jesus wie bei Simson »zeigt sich jenes Zusammentreffen von Innen und Außen, in welchem Gott nahe ist«.60 Die Stationen des durch den Geist geführten Menschen werden bei Mildenberger nach der Reihung des ordo salutis entfaltet: 1. die Berufung, 2. die Erleuchtung, 3. die Bekehrung, 4. die Wiedergeburt, 5. die Rechtfertigung, 6. die geheimnisvolle Einung, 7. die Erneuerung und Bewahrung und 8. die Verherrlichung. Allen diesen Stationen werden biblische Erzählungen zugrunde gelegt, die der narrativen Entfaltung der Stationen dienen: 1. die Johannestaufe, 2. die Versuchung Jesu, 3. die Salbung Jesu, 4. das Vaterunser, 5. die Gleichnisse Jesu, 6. Nachfolgeerzählungen, 7. die Erzählungen von der Syrophönizierin und dem Petrusbekenntnis, 8. die Auferstehungserzählungen. Die Einzelheiten können hier freilich nicht entfaltet werden – schon gar nicht im Blick auf den Reichtum ihrer biblischen Bezüge, wie sie Mildenberger herstellt. Wichtig ist, dass die Geschichte Jesu auf die Konstitution des Menschen in seiner Gottesbeziehung hin (auch) inklusiv verstanden wird. Anders gesagt: In Mildenbergers Narration von Jesus Christus ist die Anthropologie stets Zielpunkt. Es geht ihm um unsere Konstitution in der Gottesbeziehung. Darin besteht gleichsam die Anthropozentrik von Mildenbergers narrativ-christologischem Programm: Das Leben Jesu transparent zu machen und zwar hin auf das Allgemein-Menschliche. Diese Programmatik zeigt sich u.a. darin, dass Mildenberger Jesus als Urbild wahren Menschseins verstanden wissen will.61 Die Dogmatik stehe vor der Aufgabe, Jesu besonderes Menschsein zu erfassen und nachzuvollziehen. So versteht Mil58

Vgl. a.a.O., 113–120. Vgl. auch die Auslegung der Simson-Geschichte in M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992, 71–78. 59 Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 188. 60 Ebd. Vgl. a.a.O., 119f. 61 Zur Urbildchristologie vgl. Mildenberger / Assel, Grundwissen der Dogmatik, 190f.

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Christologie erzählen?

denberger z.B. Jesu Versuchung (2.) in der Wüste als Bewährung des Menschen: Er bewährt sich als Mensch unter Gott im Einklang mit sich selbst, d.h. im Einklang mit seiner leibhaften Lebendigkeit. Die erzählerischen Sujets (Wüste, Sein bei den Tieren, Dienst der Engel etc.) werden in ihrer Metaphorik dahingehend reflektiert, dass in dem von Gott her widerfahrenden Leben im lebensfeindlichen Außen (Wüste) Leib und Geist zusammenkommen. Ein solches Leben sei leibhaft lebendig wie die Tiere und auf Gott hin ausgerichtet wie die Engel.62 Dementsprechend geht es – Mildenberger zufolge – bei Jesu Taufe (1.) um das Urbild der Erwählung, die der Geistträger Jesus demonstriert;63 bei seiner Versuchung (2.) – wie gesagt – um die geistig-leibliche Ausrichtung auf Gott hin; bei der Salbung (3.) um das Widerfahrnis unmittelbarer Gottesnähe;64 im Vaterunser (4.) um die Anrufung Gottes als Vater in der Welt;65 in den Gleichnissen Jesu (5.) um die Welt als Gleichnis des kommenden Gottesreiches;66 bei Jesu Gemeinschaft (6.) um die Gemeinschaft der Erwählten;67 bei der Syrophönizierin und Petrus (7.) um die exklusive (uns ausschließende) Passion Jesu und die uns einschließende gemeinschaftliche Kreuzesnachfolge;68 und schließlich in der Auferstehung Jesu (8.) um die Eröffnung der Zukunft in Gottes Nähe.69 Nicht vergessen werden bei Mildenberger die Übergangenen, die dem Gedächtnis Gottes anzubefehlen sind und für die Raum offengelassen werden soll. Mildenberger nimmt ausdrücklich Bezug auf die unschuldigen Kinder, die dem Kindermord in Bethlehem zum Opfer fallen.70 Ringkompositorisch ordnet Mildenberger den erwählten Retter Simson den Übergangenen heilsökonomisch zu. Er grenzt dabei den Topos der »Erwählung« von einem »Exzeptionalismus« ab, der mit der prädizierten Sonderstellung der Erwählten die Nichterwählten übergeht: »Von Erwählung läßt sich nur so reden, daß dabei zugleich die mit dabei sind, die bei solcher Erwählung übergangen werden: Damit der eine Sohn Gottes vor den Nachstellungen des Herodes bewahrt werden kann und sich darin erfüllt, was die Ausführung Israels aus Ägypten vorschattete, sterben die unschuldigen Kindlein von Bethlehem. Daß es sich dabei um eine Legende handelt, kann höchstens oberflächlich beruhigen. Denn die Erfahrung der Erwählung schließt immer ein, daß hinter den Erwählten Übergangene zurückbleiben. Im Blick auf diese Übergangenen kann auch an biblischen Texten dort Kritik notwendig sein, wo sie über den Erwählten die Übergangenen 62

Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 132–136; 189. Vgl. a.a.O., 123–132; 188f. 64 Vgl. a.a.O., 136–142; 189. 65 Vgl. a.a.O., 142–151; 189f. 66 Vgl. a.a.O., 151–159; 190. 67 Vgl. a.a.O., 159–167; 190. 68 Vgl. a.a.O., 168–177; 190. 69 Vgl. a.a.O., 177–181; 191. 70 Vgl. a.a.O., 181–187; 191. Vgl. auch M. Volf, The End of Memory. Remembering Rightly in a Violent World, Grand Rapids / Cambridge 2006; J. Moltmann (Hg.), Das Geheimnis der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Entschuldigen – Vergeben – Loslassen – Anfangen, Neukirchen-Vluyn 2012. 63

Mildenbergers narrativ-anthropozentrische Geistchristologie

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vergessen. Daß diese Übergangenen dem Gedächtnis Gottes anbefohlen werden, ist die eine Seite dessen, was hier zu bedenken ist. Die andere Seite ist, daß gerade wir als Erwählte das Gedächtnis der Übergangenen bewahren. Nur ein Nachdenken über Erwählung, das auch die Übergangenen mitbedenkt und für sie in der Nähe Gottes Raum sucht, kann hier zureichen. Denn der Vater Jesu Christi hat für sie alle Raum, und dem muß das Sprechen von Erwählung nachkommen.«71

(Heils-)ökonomischer Rahmen

Stationen (ordo salutis): Der durch den Geist geführte Mensch

Biblischer Bezug

1. Der erwählte Retter

Simson

2. Der durch den Geist 2.1 Die Berufung geführte Mensch

Jesu Taufe

3. Die Übergangenen

2.2 Die Erleuchtung

Jesu Versuchung

2.3 Die Bekehrung

Jesu Salbung

2.4 Die Wiedergeburt

Jesu Anrufung Gottes (Vaterunser)

2.5 Die Rechtfertigung

Jesu Gleichnisse

2.6 Die geheimnisvolle Einung

Jesu Gemeinschaft

2.7 Die Erneuerung und Bewahrung

Jesu Passion

2.8 Die Verherrlichung

Jesu Auferstehung Kindermord von Bethlehem

Tabelle 1: S  ynopse zu F. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, § 28: Die Konstitution des Menschen in seiner Gottesbeziehung

Die Ausführungen Mildenbergers würdigend, möchte ich festhalten: Es zeigt sich bereits an der Disposition seiner Ausführungen, dass sich dogmatische Strukturen, hier in Gestalt der klassischen (alt-)protestantischen Lehre bzw. des Schemas vom ordo salutis, und die narrative Entfaltung biblischer Geschichten nicht wechselseitig ausschließen, sondern geradezu fordern. Mildenberger führt in seiner narrativen Christologie ein »Zusammendenken der traditionellen dogmatischen Pneumatologie mit der Jesusüberlieferung«72 durch und zwar in einer Weise, dass das Menschseins Jesu auf seine doppelte Pointierung, nämlich das Zugleich von Exklusivität und Inklusivität, hin transparent wird:73 Gemeint ist »einerseits die besondere Gestalt seines Menschseins […] und andererseits die Möglichkeit […], 71

Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 191. A.a.O., 188. 73 Mildenberger / Assel, Grundwissen der Dogmatik, 172: »Die Christologie wird bei Mildenberger […] von der zugleich besonderen und doch inklusiven (die anderen Menschen einschließenden), ›urbildlichen‹ Nähe Gottes im Leben Jesu her verstanden […]. 72

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Christologie erzählen?

daß wir uns selbst bei diesem Menschsein Jesu unterbringen.«74 Der vermeintliche Hiat zwischen narratio und argumentatio wird bei Mildenberger erkennbar zu überwinden versucht. Kritisch anfragen kann und muss man sicherlich im Blick auf Mildenbergers Darstellung der Geschichte Jesu, ob das geistchristologische Paradigma, das auf »die Wirksamkeit des Geistes«75 fokussiert, nicht den Blick verstellt für gewichtige andersgelagerte christologische Elemente, wie sie sich in den Evangelien zeigen.76 So beginnt etwa das Markusevangelium77 keineswegs mit Jesu Berufung bzw. der Johannestaufe (Mk 1,9–13) im Sinne der Geistbegabung und Kennzeichnung Jesu als Geistträger.78 Elementare Strukturen der narrativen Christologie des Markus werden bereits im Prolog seines Evangeliums (Mk 1,2–13) sichtbar. Dazu gehört vor allem die vorausgesetzte Präexistenz Jesu Christi.79 Zitiert wird in den Schlüsselversen Mk 1,2f. eine Zitatenkomposition aus Mal 3,1 LXX verbunden mit Ex 23,20 LXX und daran angeschlossen Jes 40,3 LXX. Markus schreibt dieses Gesamtzitat dem Propheten Jesaja zu und setzt voraus, dass derselbe in einer Audition Zeuge jener himmlischen Szene geworden ist, in der ein Ich (der Vater) ein Wort an ein Du (den Sohn Gottes) richtet.80 Der Evangelist Markus versteht dies so, dass der Vater dem präexistenten Sohn im Himmel ankündigt, Johannes den Täufer als Botschafter vor ihm her zu senden, damit JohanDas menschliche Leben (von der Johannestaufe bis zum Kreuz) wird im Blick darauf nacherzählt, wie es sich für Jesus im Wort durch den Geist auf Gott als Vater hin erschloss« 74 Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 188. 75 A.a.O., 123. 76 Muis (Karl Barth and Friedrich Mildenberger, 102) beobachtet ein offenbarungstheolo­ gisches Defizit bei Mildenberger: »Mildenberger separates the Logos model of the Word of God from the speech model and rejects the Logos Christology, but he offers no alternative explanation of why and how Jesus Christ is he definitive revelation of God. More than that […]: it is [according to Mildenberger; M.H.] not God’s revelation in Christ that is constitutive for the use of Scriptures as Word of God in simple God-talk but rather the inspiration of the Spirit. When, with Barth, he identifies Christ as the only Word of God […], this means only that this Word of God determines our time and history. Why would Christ be only Word and determine our history if he did not reveal ultimately and definitively who and how God is?« 77 Vgl. zum folgenden Abschnitt: M. Hofheinz, Dem Geheimnis der Sohnschaft auf der Spur, oder: Wer ist Jesus? Annäherungen an eine Christologiedidaktik anhand biblischer Texte zum Sohn-Gottes-Prädikat im Markusevangelium, Theo-Web. Zeitschrift für Religions­ pädagogik 14 (1/2015), (39–68) 51f. 78 Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 125; 128. 79 Dies betont u.a. A. Schlatter, Markus. Der Evangelist für die Griechen. Mit einem Geleitwort von K.H. Rengstorf, Stuttgart 21984, 15. 80 So auch H.-Ch. Kammler, Das Verständnis der Passion Jesu im Markusevangelium, ZThK 103 (2006), (461–491) 466f.: »Der Evangelist versteht diesen Vers dahingehend, daß der Prophet Jesaja Ohrenzeuge eines Wortes geworden ist, das der Vater – vor der im Evangelium erzählten Zeit – in der himmlischen Welt an seinen Sohn gerichtet hat und mit dem er ihm bereits vor seiner Sendung kundgetan hat, was dann mit dem geschichtlichen Auftreten Johannes des Täufers Wirklichkeit geworden ist. Von daher ist evident, daß Markus die reale und personale Präexistenz Jesu voraussetzt.«

Karl Barths narrativ dimensionierte Inkarnationschristologie

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nes Jesus, dem κύριος, den Weg bereitet. Durch diese Szene eingeleitet, steht das gesamte Markusevangelium unter dem Vorzeichen einer »hohen Christologie«, die durch die Vorstellung der Präexistenz81 gekennzeichnet ist (vgl. als weitere Präexistenzzeugnisse Mk 9,37; 12,6).82 In den V. 4–8 wird erzählt, dass Johannes die Wegbereitung (V. 3: »Bereitet dem Herrn den Weg«) verkündigt hat, indem er zur Umkehr ruft (V. 4) und voraussagt (V. 7), dass nach ihm ein Stärkerer kommen wird, der dadurch qualifiziert ist, dass er mit dem Heiligen Geist tauft (V. 7), was nach alttestamentlicher Tradition Gott vorbehalten ist (vgl. Joel 3,1f.; Jes 32,15ff.; 44,3; Sach 12,10; Hes 18,31; 36,25ff.). Zu fragen wäre diesbezüglich, ob eine inkarnationschristologische Interpretation,83 wie sie sich etwa bei Karl Barth findet, im Vergleich zu Mildenbergers geistchristologischem Rekonstruktionsversuch nicht vorzuziehen ist, zumal sie sich gerade im Blick auf präexistenzchristologische Implikationen biblischer Erzählungen als anschlussfähiger erweist.84

3. Karl Barths narrativ dimensionierte Inkarnationschristologie 3.1 Karl Barth und die narrative Theologie Dass das Erzählen für Karl Barths Theologie eine besondere Valenz besitzt, ist seit langem bekannt. Auch im Blick auf sein theologisches Umfeld lässt sich dies bestätigen.85 Zu eindeutig sind Barths eigene Hinweise, als dass man den narrati81

Den Nachweis der markinischen Präexistenzvorstellung im Korpus des gesamten Evangeliums führt L. Schenke (Gibt es im Markusevangelium eine Präexistenzchristologie?, ZNW 91 [2000], 45–71; Das Markusevangelium, Stuttgart 1988, 113–115). 82 Vgl. etwa P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments Bd. 2, Göttingen 1999, 137; J. Gnilka, Theologie des Neuen Testaments, Freiburg i.Br. u.a. 1999, 159; O. Hofius, Jesu Zuspruch der Sündenvergebung. Exegetische Erwägungen zu Mk 2,5b, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, (38–56) 55. Vgl. auch R.B. Hays, Reading Backwards. Figural Christology and the Fourfold Gospel Witness, Waco 2014, 20f.: »Mark’s opening mixed citation already contains a major clue about the divine identity of Jesus. […] there is an implicit claim about Jesus’ divine status in the opening lines of this Gospel.« 83 Zur Frage nach geistchristologischen Implikationen in Barths Versöhnungslehre vgl. G. Hunsinger, Disruptive Grace. Studies in the Theology of Karl Barth, Grand Rapids / Cambridge 2000, 157–162. 84 Zur Interpretation der bei Mildenberger bezeichnenderweise eschatologisierten Präexistenzvorstellung vgl. ders., Biblische Dogmatik 2, 193–196; ders., Biblische Dogmatik 3, 427–430; bei Barth vgl. M. Hofheinz, »Er ist unser Friede«. Karl Barths christologische Grundlegung der Friedensethik im Gespräch mit John Howard Yoder, FSÖTh 144, Göttingen 2014, 308–310. 85 Verwiesen sei auf das Beispiel des niederländischen, Barth und seiner Theologie nahestehenden Theologen Kornelis Heiko Miskotte. Dazu: M. Hailer, Heiko Miskottes Israel-Theologie als theologisches Kaleidoskop, in: M. Leiner / M. Trowitzsch (Hg.), Karl

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Christologie erzählen?

ven Wesenszug seiner Theologie übersehen könnte: »With great economy […] he presented his doctrines by appealing mainly to biblical narratives«.86 In dem Fragment aus dem Nachlass »Das christliche Leben« (KD IV/4) heißt es etwa: »Vom Kommen des Reiches Gottes reden, konnte nur heißen: seine Geschichte erzählen.«87 Und unter Anspielung auf seinen berühmten »Tambacher Vortrag«88 (1919) und das zentrale Motiv vom »Vogel im Fluge«89 bemerkt Barth zu Beginn seines Schwanengesangs »Einführung in die evangelische Theologie« (Abschiedsvorlesung im Wintersemester 1961/62) programmatisch: »Sie [sc. die Theologie; M.H.] würde ihren Gegenstand verlieren und damit sich selbst preisgeben, wenn sie irgendeinen Moment des göttlichen Vorgangs statisch für sich, statt in seinem dynamischen Zusammenhang – dem Vogel im Fluge, nicht einem Vogel auf der Stange vergleichbar – sehen, verstehen, zur Sprache bringen, wenn sie vom Erzählen der ›grossen Taten Gottes‹ zum Feststellen und zur Proklamation eines dinglichen Gottes und göttlicher Dinge übergehen wollte.«90

Die Geschichte der in Jesus Christus geschehenen Erfüllung des Bundes Gottes mit seinem Volk will erzählt werden – so hat Barths stets betont und gerade in diesem bundes- wie versöhnungstheologischen Erschließungszusammenhang die Notwendigkeit des Erzählens unterstrichen.91 Es geht ihm um die erzählte Geschichte des Bundes Gottes mit seinem Volk bzw. der Versöhnung der Welt in Jesus. Bereits zu Beginn des Abschnitts »Der Weg des Sohnes Gottes in die Fremde« (KD IV/1, § 59.1) konstatiert Barth bezeichnenderweise: »Die Versöhnung ist Geschichte. Wer

Barths Theologie als europäisches Ereignis, Göttingen 2008, 291–316; G. Plasger, Biblisch erzählen – oder: Wider die Verarmung theologischer Lehre in der Sicht Kornelis Heiko Miskottes, in: M. Bachmann / J. Woyke (Hg.), Erstaunlich lebendig und bestürzend verständlich. Studien und Impulse zur Bibeldidaktik, Neukirchen-Vluyn 2009, 249–263; R. Reeling Brouwer, Erzählendes Denken bei K.H. Miskotte: Leben im offenen Raum, ZDTh 23 (1/2007), 34–56. 86 D. Ford, Barth and God’s Story, Studien zur interkulturellen Geschichte des Christentums 27, Frankfurt u.a. 1981, 13. 87 K. Barth, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV/4. Fragmente aus dem Nachlaß. Vorlesungen 1959–1961, hg. von H.-A. Drewes / E. Jüngel, Karl Barth GA II/7, Zürich 1976, 431; dort z.T. kursiv. 88 Vgl. K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft (1919), in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1014-1921, in Verbindung mit F.-W. Marquardt hg. von H.-A. Drewes, Karl Barth GA III/48, Zürich 2012, 546–598. 89 A.a.O., 564–566. 90 K. Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 31985, 16. 91 Vgl. etwa a.a.O., 30ff.; 220. Dazu Hofheinz, »Er ist unser Friede«, 91–103; E. Busch, Der eine Gnadenbund Gottes. Karl Barths neue Föderaltheologie, ThQ 176 (1996), 341–354; H.-W. Pietz, Das Drama des Bundes. Die dramatische Denkform in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik, NBST 12, Neukirchen-Vluyn 1998.

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sie kennen will, muß sie als solche kennen. Wer ihr nachdenken will, muß ihr als solcher nachdenken. Wer von ihr reden will, muß sie als Geschichte erzählen.«92 Die Hinweise auf die Bedeutsamkeit der narrativen Elemente in der »Kirchlichen Dogmatik« Barths sind in der Barth-Forschung inzwischen Legion.93 Pars pro toto sei hier Christian Links treffende Charakterisierung angeführt: »Virtuos – das muss man heute kaum eigens begründen – ist in der Tat zunächst der ausgesprochen narrative, nacherzählende Charakter, den die Dogmatik auf dem Weg solchen Nach-denkens gewinnt. Barth erzählt die Geschichte Gottes mit Israel, in dessen Mitte ein Mensch, der Mensch Jesus von Nazareth, steht. Das Dogma, die zur Formel erstarrte Wahrheit, wird mit einer Beweglichkeit sondergleichen in das aufgelöst, was sie von ihrem Ursprung her ist: in einen geschichtlichen Weg, der durch Entscheidungen und Krisen hindurchführt. Das ist – historisch geurteilt – der Gegenentwurf zu Hegel: Während dort die Geschichte ins Dogma eingezeichnet wird, wird hier das Dogma durch die Geschichte interpretiert. Durch die Geschichte – das will wörtlich verstanden sein: Die Wahrheit, auf die sich der Glaube verläßt, mit der er beginnt – Gottes Ja zur Welt – ist keine in sich verschlossene Wahrheit, die uns als pure Behauptung entgegenträte. Sie ist in Jesus von Nazareth ›Fleisch‹, Geschichte vom Stoff unserer irdischen, menschlichen Geschichte, geworden, und es hieße geradezu ihre Pointe verfehlen, wollte man sie als abstrakte Norm unserer Wirklichkeit gegenüberstellen. Hier, auf dem Boden unserer eigenen Realität – nicht in einem schweigenden Hintergrund der Welt – hat Gott seine Wahrheit unter Beweis gestellt, sich tatsächlich erkennbar gemacht. Hier schließt er sich der Welt in einer Weise auf, daß er ihre Vergänglichkeit, ihren Tod und in dem allem – das ist die Basis der Christologie von KD IV/1 und KD IV/2 – ihre Sündhaftigkeit, ihre verfehlte Menschlichkeit teilt, und darum ohne sie als Gott überhaupt nicht zu begreifen ist.«94 92

Barth, KD IV/1, 171. Ähnlich ders., KD II/2, 206: »Wer und was Jesus Christus ist, das kann eben nur erzählt, nicht aber als ein System angeschaut und beschrieben werden.« Fernerhin: ders., KD III/3, 334. 93 Vgl. etwa I. Mähringer, Der Beitrag von Karl Barths trinitarischer Grammatik zur Herausbildung einer narrativen Identität, EHS XXIII/854, Frankfurt a.M. u.a. 2007; R.J. Meyer zu Hörste-Bührer, Gott und Mensch in Beziehung. Impulse Karl Barths für relationale Ansätze zum Verständnis christlichen Glaubens, FRTH 6, Neukirchen-Vluyn 2016, 102–105; 184–189; 321–336; 390–396; E. Maurer, Narrative Strukturen im theologischen Denken Karl Barths, ZDTh 23 (1/2007), 9–21; H.Th. Goebel, Den Namen anrufen – von der Trinität erzählen, EvTh 67 (2007), 42–57; W. Werpehowski, Erzählung und Ethik bei Barth, in: M. Hofheinz u.a. (Hg.), Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, Zürich 2009, 69–92. G. Bergner, Um der Sache willen. Karl Barths Schriftauslegung in der Kirchlichen Dogmatik, FSÖTh 148, Göttingen 2015, 219 u.ö., spricht von der »narrativen Exegese« Barths. Als fiktionale Gegenerzählung liest R. Frisch (Alles gut. Warum Karl Barths Theologie ihre beste Zeit noch vor sich hat, Zürich 4 2019) die »Kirchliche Dogmatik«. 94 Ch. Link, Fides quaerens intellectum. Die Bewegung der Theologie Karl Barths, in: ders., In welchem Sinne sind theologische Aussagen wahr? Zum Streit zwischen Glaube und Wissen. Theologische Studien II, Neukirchen-Vluyn 2003, (79–101) 95f. Auch H.Th. Goebel (Hans-Georg Geyers Umgang mit der Theologie Karl Barths, in: M. Gockel u.a.

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Ähnlich pointiert Albrecht Grözinger: »Die Form der KD ist der Barthschen Theologie, die ebenso reich ist an kritischen Selbst-Repliken wie an überraschenden Wendungen, alles andere als nur äußerlich, sondern ihr konsequenter sprachlicher Ausdruck. Eberhard Jüngel hat zu Recht betont, daß die KD ›pointiert systemfeindlich‹ und ›systematisch streng‹ komponiert in einem sei. Sie entfaltet ihre Gedanken in größter Freiheit und bleibt doch konsequent auf ihren einen Gegenstand bezogen: die trinitarische Geschichte Gottes mit den Menschen. Darin ist die KD narrativ und trinitarisch in einem, und insofern ist sie geprägt durch eine narrative Struktur, die aber zugleich eine Vielzahl an diskursiven Erörterungen, Exkursen und Narrationen einschließt. Die KD gewinnt ihre ›Logik‹ nicht primär aus der gedanklichen Deduktion, sondern aus ihrer systematischen Bezogenheit auf die ihr zugrundeliegende Geschichte. Mit guten Gründen hat man deshalb die KD auch als ein sprachliches Kunstwerk identifiziert. Und vielleicht liest man sie in der Tat am besten wie einen (hoffentlich spannenden!) Roman, will man ihren authentischen Intentionen folgen. Die KD umkreist die Geschichte in ihrer Mitte, hebt immer auch wieder von vorne bei ihr an und legt sie in verschiedenen Zusammenhängen aus. Daraus entsteht dann zwar kein ›System‹, wohl aber eine gedankliche Folgerichtigkeit, die auch eine ästhetische Komponente besitzt.«95

Auch in der angelsächsischen Barth-Forschung ist ähnliches wie in diesen Zitaten Christian Links und Albrecht Grözingers beobachtet worden.96 Freilich darf man es sich mit der Einordnung Barths als »narrativen Theologen« nicht zu leicht machen. Darauf hat wiederum Dietrich Ritschl mit seiner Antithese hingewiesen: »›Narrative Theologie‹, wenn sie die wirkliche Ausführung theologischen Denkens, Sprechens und Schreibens meint, ist ein ›misnomer‹, ein Fehlausdruck, der auf die Theologie überhaupt und auf Karl Barth im Besonderen nicht passt.«97 Zu fragen wird indes wiederum sein, ob Ritschls Antithese nicht auf einer überzogenen Disjunktion von Erzählung und dogmatischer Begriffsbildung basiert.

[Hg.], Umstrittenes Erbe. Lesarten der Theologie Karl Barths, Stuttgart 2020, 203–213, 207) spricht von der »Kirchlichen Dogmatik« als einer »narrative[n] Dogmatik«. Vgl. fernerhin: H.-G. Geyer, Karl Barths Umgang mit der Osterbotschaft des Neuen Testaments, ZDTh 13 (1/1997), (47–66) 60. 95 Vgl. A. Grözinger, Erzählen und Handeln. Studien zu einer trinitarischen Grundlegung der Praktischen Theologie, KT 70, München 1989, 104f. Das Zitat im Zitat stammt aus E. Jüngel, Barth-Studien, Zürich u.a. 1982, 28. 96 Vgl. etwa den Hinweis von H.W. Frei, The Eclipse of Biblical Narrative. A Study in Eighteenth and Nineteenth Century Hermeneutics, New Haven 1974, VIII, auf Barths »narrative treatment of the gospel story«. Siehe auch Ford, Barth and God’s Story. 97 Ritschl, Theologie ist explikativ und argumentativ, 159.

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3.2 Die Umformung der Zweinaturenlehre in der narrativ dimensionierten Inkarnationschristologie Karl Barths Um Barths narrativer Methode gewissermaßen auf die Spur zu kommen, möchte ich mich im Folgenden – einen Hinweis Dieter Schellongs aufnehmend – der Versöhnungslehre Barths ausschnittartig anhand von dessen Rezeption altkirchlicher Christologie in besagtem Rahmen zuwenden.98 Wie wir sehen werden, gibt sie narrative Dimensionen seiner eigenen Inkarnationschristologie preis. Doch zunächst möchte ich, wie angekündigt, den wegweisenden Hinweis D. Schellongs anführen, der Barths christologiegeschichtlichen Beitrag wie folgt würdigt: »Barth [hat] die starke Neigung zu Formeln und Begriffsdefinitionen in der kirchlichen Tradition durchbrochen und die Zwei-Naturen-Lehre zu einer Geschichtsdarstellung transformiert. […] status Christi: Das klingt noch statisch – schon wegen des lateinischen Ausdrucks ›status‹ – und auch nach Begriffshuberei. Aber die Ständelehre erzählt faktisch Christi Geschichte, die Geschichte seiner Erniedrigung (status exinanitionis) und der Erhöhung (status exaltationis).«99

Ansatz und Methode der Christologie Karl Barths wären in der Tat verkannt, würde man sie schlicht als unkritische Rezeption der altkirchlichen Inkarnationschristologie charakterisieren,100 wie Barth dies bisweilen vorgeworfen wurde.101 Dass Barth die klassische Christologie nicht unkritisch rezipieren bzw. ungebrochen prolongieren, sie aber auch nicht einfach überbieten möchte,102 wird u.a. in 98

Zu Barths Rückgriff auf die klassische Christologie in seiner Versöhnungslehre vgl. Hofheinz, »Er ist unser Friede«, 305–308. Fernerhin: B. Dahlke, Der wahre Gott ist auch wahrer Mensch. Karl Barths Christologie, Cath(M) 68 (2014), (1–33) 14–22; 26–33. 99 D. Schellong, Iwand als »reformierter Lutheraner«?, in: G. den Hertog / E. Thaidigsmann (Hg.), Nüchternheit und Leidenschaft. Festgabe für Pfr. Eberhard Lempp zum 65. Geburtstag, Apeldoorn 2010, (221–246) 245. 100 So mit B. Klappert, Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen, NBST 14, Neukirchen-Vluyn 1994, 142. Auch H. Vogel (Ecce homo. Die An­ thropologie, VF 1949/50, 102–138, 128) spricht davon, dass Barth »auf weite Strecken den Acker der so sorgfältig gepflügten und dankbar rezipierten Tradition geradezu umpflüg[t]«. 101 So etwa H. Dembowski, Grundfragen der Christologie, BEvTh 51, München 1969, 122; H. Grass, Die Christologie der neueren Systematischen Theologie (19. Jahrhundert und Gegenwart), in: ders., Theologie und Kritik. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Göttingen 1969, (121–135) 132. Vgl. auch W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 2 1966, 27f. 102 So hat treffend Maurer (Narrative Strukturen, 9) beobachtet, »dass Barth nicht daran denkt, die chalkedonensischen Formeln zu überbieten. Er füllt sie mit Leben, zeigt damit aber auch sogleich an, dass sie eine Anleitung zum Erzählen sind. Tatsächlich ist die Rede von ›Naturen‹ problematisch, solange dieser Begriff in seiner metaphysischen Bedeutung genommen wird. Es fragt sich nur, ob das nicht schon im Jahr 451 wenigstens implizit bewußt war. Das wäre im Rahmen der altkirchlichen Auseinandersetzung zu zeigen.« Zum »Triumph des Chalcedonense« bei Barth vgl. auch Hofheinz, »Er ist unser Friede«, 314– 317.

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seiner Interpretation der chalcedonensischen Zweinaturenlehre evident.103 Barth wehrt der Naturenspekulation, die Anlass zu kritischen Rückfragen an das Chalcedonense gab, indem er den Begriff der Natur gleichsam in die Wegmetaphorik aufnimmt bzw. in sie einbettet.104 Barth umschreibt – wie D. Schellong treffend beobachtet hat – die göttliche und die menschliche Natur Jesu Christi dadurch, dass er erstere als »Weg des Sohnes Gottes in die Fremde« (KD IV/1, § 59.1) und die zweite als »Heimkehr des Menschensohnes« (KD IV/2, § 64.2) darstellt. In seinem Weg in die Niedrigkeit – dem entspricht der status exinanitionis in der Zweiständelehre105 der altprotestantischen Dogmatik – erweist Jesus Christus sein wahres Gottsein, ebenso wie im Weg der Erhöhung – dem entspricht wiederum der status exaltationis – sein wahres Menschsein. Die Zweiständelehre fungiert mithin als Interpretament der Zweinaturenlehre. Damit soll die Wahrheit der alten Zweinaturenlehre, das Miteinander von Gott und Mensch in Jesus Christus, zwar festgehalten, zugleich aber aus ihrer Statik befreit werden.106 Direkt zu Beginn des § 64.2 (»Die Heimkehr des Menschensohns«) bringt Barth diese konstellative Verschränkung als Auslegung von Joh 1,14 narrativ auf den Punkt: »Das Joh. 1,14 bezeugte Ereignis der Inkarnation hat zwei Komponenten. Betont man: ›Das Wort ward Fleisch‹, dann macht man eine Aussage über Gott; man sagt dann (und sagt damit für einmal das Ganze so): Gott ging, ohne aufzuhören wahrer Gott zu sein, vielmehr in vollem Besitz und voller Betätigung gerade seiner wahren Gottheit, indem er in seiner zweiten Person oder Seinsweise, als der Sohn Mensch wurde, in die Fremde – die doppelte Fremde der menschlichen Kreatürlichkeit und der menschlichen Verkehrtheit und Verlorenheit. Betont man: ›Das Wort ward Fleisch‹, dann macht man eine Aussage über den Menschen (und sagt nun eben so noch einmal das Ganze): der Mensch kehrte, ohne aufzuhören, Mensch zu sein, vielmehr eben in seiner Kreatürlichkeit und Verdorbenheit von Gottes Sohn angenommen und aufgenommen – dieser eine Menschensohn kehrte heim: dahin, wohin er gehört, an seinen Ort als wahrer Mensch, in die 103

Nach G. Plasger (Reformed Theology in Germany in the Twentieth Century, in: G. Harinck / D. van Keulen [Hg.], Vicissitudes of Reformed Theology in the Twentieth Century, Studies in Reformed Theology 9, Zoetermeer 2005, 50–68, 63) sind theologiegeschichtlich zwei fundamentale Entscheidungen Barths als Neuerungen der christologischen Lehrbildung zu benennen: zum einen seine Neuinterpretation der chalcedonensischen Zweinaturenlehre und zum anderen die konsequente Anwendung des Stellvertretungsgedankens anhand der Interpretationsfigur vom »gerichteten Richter«. Auch in § 59.2 (»Der Richter als der an unserer Stelle Gerichtete«) rekurriert Barth übrigens explizit auf die Notwendigkeit des Erzählens. So z.B. K. Barth, KD IV/1, 245. Vgl. fernerhin: a.a.O., 396. 104 So auch Ch. Link, Die Entscheidung der Christologie Calvins und ihre theologische Bedeutung. Das sog. Extra-Calvinisticum, EvTh 47 (2/1987), (97–119) 113. 105 Vgl. H. Heppe / E. Bizer, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, Neukirchen-Vluyn 1958, 387–403; H. Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt, hg. von H.G. Pöhlmann, Gütersloh 91979, 243–261. 106 So zu Recht W. Kreck, Die Lehre von der Versöhnung. Zu Karl Barth, Kirchliche Dogmatik Bd. IV,1 und 2, ThLZ 85 (1960), (81–94) 85.

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Gemeinschaft mit Gott, in die Beziehung zu seinem Mitmenschen, in die Ordnung seiner inneren und äußeren Existenz, in die Fülle seiner Zeit, zu der er geschaffen, mehr noch: in die Gegenwart und den Genuß des Heils, zu dessen Empfang er in seiner Erschaffung bestimmt ist. Die in Jesus Christus geschehene Versöhnung ist das Eine und Ganze jenes Ausgangs des Gottessohnes und dieses Eingangs des Menschensohnes.«107

Die Zweinaturenlehre ist gemäß Barths entscheidendem Neuansatz der Ineinssetzung von Christologie und Versöhnungslehre »ein Implikat der Doppelbewegung des Versöhnungsgeschehens«108, die mit den beiden wegmetaphorisch explizierten »Ständen« Jesu Christi als versöhnendem Gott (Subjekt der Versöhnung) und als versöhntem Menschen (Objekt der Versöhnung) zur Sprache kommt. Die Christologie Barths erweist sich keineswegs als Explikat der Zweinaturenlehre oder der Zweiständelehre109, sondern diese umgekehrt als ein Implikat der im Rahmen der Versöhnungslehre narrativ explizierten Christologie. Nicht das klassisch in Gestalt der zwei Naturen gefasste Wesen Jesu Christi, sondern Gottes versöhnendes Handeln in und an ihm möchte Barth beschreiben. In dieser Ausrichtung zeigt sich durchaus eine starke Parallelität zur (heils-)ökonomischen Pointierung Mildenbergers, wenngleich sie bei Barth – anders als bei Mildenberger – keineswegs zu einer Liquidierung der immanenten Trinitätslehre führt.110 Barths christologisches Denken setzt – wie die Wegmetaphorik zum Ausdruck bringt – bei der konkreten, einzigartigen Geschichte Jesu Christi an und erweist sich bereits darin als narrativ strukturiert. Barth bemüht sich darum, die traditionellen Seinsaussagen der Zweinaturenlehre zwar nicht zu eliminieren, sie aber in Geschehensaussagen zu kleiden, die er gerade auch via narrationis treffen kann. Den Rechtsgrund dieser theologischen Operation bezeichnet Barth zufolge das korrelative Verhältnis von Sein und Geschichte Jesu Christi bzw. letztlich die Trinitätslehre:111 Jesu Christi Sein ist seine Geschichte und seine Geschichte sein 107

Barth, KD IV/2, 20f. Klappert, Versöhnung und Befreiung, 143. 109 Vgl. ebd.: »Was für die Zweinaturenlehre gilt, gilt auch für die Rezeption der Zweiständelehre. Die Koinzidenz der beiden Stände, die Interpretation des Kommens Gottes von der Erniedrigung und der Menschheit Jesu von der Erhöhung her sind nach Barth Implikate des Kreuzesgeschehens in seiner zeitlich koinzidierenden Doppelbewegung von versöhnendem Gott und versöhntem Menschen: der versöhnende Gott kommt in Jesus Christus als der wahre, sich erniedrigende Gott; der versöhnte Mensch ist Jesus der wahre, erhöhte Mensch.« So auch a.a.O., 145. 110 Im Gegenteil! Maurer (Narrative Strukturen, 21) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Barth in seiner Versöhnungslehre die Trinitätslehre narrativ vertieft, »denn das Schema der immanenten Trinität wird seinerseits zum Hintergrund für ein Geschehen in der göttlichen Ewigkeit. Das ist wichtig, weil die immanente Trinitätslehre keine präpositionale Gestalt hat, sondern die Grammatik des Redens von Gott festlegt, daher nur im Verhältnis zur ökonomischen Trinitätslehre sinnvoll ist.« 111 Im Blick auf den Geschichtsbegriff Barths hat Meyer zu Hörste-Bührer (Gott und Mensch, 329; dort z.T. kursiv) gezeigt, dass die Erzählung bei Barth »die originäre Sprachform der Geschichte« ist. 108

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Sein. Christus ist, was er tut.112 Akt und Sein werden von Barth der christologischen Denkform nach im Blick auf die Geschichte Jesu Christi in eins gesetzt,113 indem Barth betont, dass das einmalige, in Raum und Zeit Geschehene der Geschichte Jesu Christi, ohne aufzuhören, geschichtliches Ereignis zu sein, Gottes ewigem Willen, seiner ewigen Geschichte mit uns, seinem Sein gleichkommt. Jesu Christi Sein umschreibt nicht einfach nur ein Person-Sein, das die Voraussetzung und Ermöglichung seines Werkes bildet. Während die traditionelle Zweinaturenlehre von der Person Jesu Christi unter Abstraktion von ihrem Werk redet, indem sie zuerst von Jesu Christi göttlicher und menschlicher Natur, seinem Sein als Gott und Mensch spricht, um dann erst sein Werk oder Amt zu fixieren, möchte Barth diese Scheidung gerade nicht praktizieren. Person und Werk, Sein und Geschichte Jesu Christi, esse und operari sind bei Barth eng miteinander verklammert. Diese Verklammerung wiederum wird narrativ expliziert, indem das Sein zwar nicht als Sequenz des Nacheinanders von Erniedrigung und Erhöhung, aber unter Betonung des Zugleich auf dem Hintergrund eines Schemas zeitlicher Abfolge von Jesu Handeln narrativ expliziert wird. Gerade so stellt Barth die Erzählbarkeit dieses Seins heraus: »In dem einen Jesus Christus geschah Beides. Es handelt sich also nicht um zwei verschiedene, einander folgende Aktionen, sondern um eine einzige, in der jede ihrer beiden Komponenten auf die andere bezogen und auch nur in ihrer Beziehung zu ihr erkennbar und verständlich ist: der Ausgang Gottes nur in seiner Abzielung auf den Eingang des Menschen, der Eingang des Menschen nur als die Tragweite und Auswirkung des Ausgangs Gottes, und das Ganze in seiner eigentlichen und originalen Gestalt nur als das Sein und die Geschichte des einen Jesus Christus.«114

3.3 Karl Barths narrativ dimensionierte Rückübersetzung in Geschichte Die moderne Kritik an der altkirchlichen Christologie indirekt rezipierend, vergeschichtlicht Barth gleichsam die (substanz)ontologischen Aussagen über göttliche und menschliche Substanz und ihr die Person Jesu Christi konstituierendes Einssein.115 Nicht das Einssein, sondern die Einswerdung, nicht die Vereinbarkeit, sondern die Vereinigung (Fleischwerdung) hat nach Barth, der sich – wie gesagt

112

Vgl. Barth, KD IV/1, 140. Vgl. Barth, KD IV/2, 120. 114 A.a.O., 21. 115 So auch W. Kreck, Die Versöhnungslehre Karl Barths als kritische Anfrage an den Heidelberger Katechismus, Theologische Beilage 2/89 zur RKZ, (2–7) 3. B. Klappert (Versöhnung und Befreiung, 144) beschreibt Barths Interpretation der Zweinaturen- und Zweiständelehre zutreffend als »Vergeschichtlichung der traditionellen Christologie aus der Mitte der am Kreuz orientierten Barthschen Versöhnungslehre«. 113

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– auf Joh 1,14 beruft, theologisch zu interessieren.116 Denn wer Jesus Christus ist, das kann nach Barth nicht abgeleitet werden aus einem abstrakten Person-, Wesens-, Natur- bzw. Substanzbegriff, ebenso wenig wie die Frage, wer Gott und wer der Mensch ist, von einem abstrakten Gottes- bzw. Menschenbegriff her beantwortet werden kann. Barth zufolge kann dies nur aus Jesu Christi Weg in die Fremde und aus der Jesu Gehorsam widerfahrenden und mit Ostern sichtbar werdenden Erhöhung des wahren Menschen(sohnes) abgelesen werden, die sich auch in der Sequenz des Zugleichs der Doppelbewegung von Erniedrigung und Erhöhung als narrativ strukturiert erweisen. Die Geschichte Jesu Christi, bei der das theologische Denken einzusetzen hat, umschreibt Barth als das biblisch bezeugte Geschehen, welches die altkirchliche Begriffsbildung geradezu sprengt. Schaut man sich nur einmal den Abschnitt »Der Weg des Sohnes Gottes in die Fremde« (§ 59.1) auf die konkrete Umformung der Zweinaturenlehre hin etwas genauer an, so fällt auf, dass Barth das Chalcedonense ebenso wie das Zeugnis der nachapostolischen Gemeinde an das biblische Zeugnis von der Gottheit Jesu zurückbindet,117 indem er betont: »Die nachapostolische Gemeinde hat sich sofort auf diese Erkenntnis Jesu und auf das ihr entsprechende Bekenntnis zu ihm begründet. […] Das Dogma des vierten und fünften Jahrhunderts hat dieselbe Erkenntnis angesichts vieler in den ersten Jahrhunderten noch herrschender Dunkelheiten und Zweideutigkeiten ihrer Durchführung, aber auch angesichts ihrer begreiflicherweise immer wieder aufkommenden Verneinung verbindlich zu formulieren versucht. Eben sie – nicht das Dogma, aber jene im Dogma vorausgesetzte und bestätigte christliche Urerkenntnis – war der entscheidende Punkt, an dem sich dann die Geister der Kirche (oder vielmehr Kirche und Nicht-Kirche) immer wieder geschieden haben.«118

Hinsichtlich dieser christlichen Urerkenntnis aber kann Barth unter Verweis auf die neutestamentlichen Christen feststellen: »[N]icht sie haben ihn, sondern er selbst hat sich ihnen in jener Hoheit dargestellt.«119 Neben dieser Rückbindung fällt zugleich auf, dass Barth auch die Wirkungsgeschichte des Chalcedonense in den Blick nimmt und etwa den Streit zwischen 116

Maurer (Narrative Strukturen, 10) macht zutreffend darauf aufmerksam: »Dass Gottes Wort sich mit der menschlichen ›Natur‹ vereinigt, kann auch so gelesen werden, dass die biblische story sich in einer menschlichen Person zuspitzt und an dieser kritischen Stelle ihre universale Relevanz erweist. Keine menschliche Person fällt aus dieser Geschichte heraus, und somit hat sich die menschliche Natur verändert, die sich als zutiefst geschichtlich erschließt. […] Jedenfalls besteht Barths genialer Zug darin, die altkirchliche Bekenntnisbildung durch die biblische Geschichte zum Klingen zu bringen.« Zur universalen Relevanz vgl. auch a.a.O., 18f. 117 Barth (KD IV/1, 174) betont, dass die neutestamentliche Überlieferung den Menschen Jesus »aus der Reihe der anderen Menschen heraus[rückt]« und »ihn aller menschlichen Geschichte gegenüber auf Gottes Seite« stellt. 118 A.a.O., 175. 119 A.a.O., 177.

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den Kenotikern (Gießener Theologie) und Kryptikern (Tübinger Theologie) in der lutherischen Orthodoxie120 und den kontroverstheologischen Streit um das Ex­ tra-Calvinisticum121 zur Sprache bringt. Aber auch diese Episoden der Wirkungsgeschichte werden rückgebunden an die christliche Urerkenntnis, wie Barth sie etwa in Phil 2,7f.122 und Joh 1,14123 expliziert findet. Das scheinbar wirre, ungeordnete Neben-, In- und Miteinander an Verweisen auf apostolische Väter124, Kirchenväter125 und weitere Gestalten der Wirkungsgeschichte einerseits und den reichen biblischen Bezügen bei Barth andererseits, die immer wieder auf die Evangelienerzählungen126, die christologischen Hoheitstitel127, aber auch das alttestamentliche Zeugnis128 rekurrieren und gesamtbiblisch dimensioniert sind, weist – bei Lichte betrachtet – eine distinkte Intention auf. Es erweist sich im Sinne der genannten Rückbindung gewissermaßen als argumentationsstrategisch motiviert: Es geht Barth um eine Umformung der Zweinaturenlehre im Sinne einer Rückübersetzung. Genauer gesagt: Barth bemüht sich gleichsam um eine narrativ strukturierte Rückübersetzung in Geschichte, weil Jesus Christus nichts anderes als diese Geschichte sei:129 »Erst in dieser Rückübersetzung der statischen Inkarnationschristologie in eine an Kreuz und Auferweckung und ihrer Integralbedeutung orientierte geschichtliche Dynamik ist das Spezifikum der Barthschen Rezeption und Modifikation traditioneller Christologie zu sehen.«130

120

Vgl. a.a.O., 197–199. Vgl. a.a.O., 197. 122 Vgl. a.a.O., 180f.; 196f.; 205f.; 211. 123 Vgl. a.a.O., 180; 205; 225. Barth betont dabei das Judesein Jesu: »Das Wort wurde – nicht ›Fleisch‹, Mensch, erniedrigter und leidender Mensch in irgend einer Allgemeinheit, sondern jüdisches Fleisch.« A.a.O., 181. 124 Vgl. a.a.O., 175; 192f. 125 Vgl. a.a.O., 193; 197; 209; 215 (Auseinandersetzung mit dem Modalismus); 219. 126 Vgl. a.a.O., 179; 180f.; 194f.; 207–209; 226f.; 230. 127 Vgl. a.a.O., 174f. 128 Vgl. a.a.O., 184f.; 186f.; 189f. 129 Vgl. Barth, KD IV/2, 118: »In jedem theologischen Zusammenhang, in welchem direkt oder indirekt der Name ›Jesus Christus‹ zu nennen ist – und es gibt keinen, in welchem er nicht an entscheidender Stelle zu bedenken wäre! – ist nach unserer Voraussetzung diese Geschichte gemeint: die Tat Gottes, in welcher Gottes Sohn mit dem Menschen Jesus von Nazareth identisch wird und also menschliches Wesen mit seinem göttlichen vereinigt und also das menschliche in die Gemeinschaft mit dem göttlichen erhebt – die Tat Gottes, in welcher er sich selbst erniedrigt, um den Menschen zu erhöhen. Das Subjekt Jesus Christus ist diese Geschichte. Sie ist der Inhalt des ewigen göttlichen Willens und Dekrets. Indem sie geschieht, geschieht die Versöhnung der Welt mit Gott.« 130 Klappert, Versöhnung und Befreiung, 144. Vgl. auch H. Ruddies, Christologie und Versöhnungslehre bei Karl Barth, ZDTh 18 (2002), (174–189) 178: »Barth vollzieht […] eine geschichtliche Dynamisierung des ganzen traditionellen Lehrstoffes: Während das ›vere Deus‹ und das ›munus sacerdotale‹ der Selbsterniedrigung Jesu Christi koordiniert werden, werden das ›vere homo‹ und das ›munus regale‹ mit seiner Erhöhung verbunden. Daß es sich gleichwohl um einen einzigen Geschehensvollzug handelt, bekundet der dritte Aspekt 121

Karl Barths narrativ dimensionierte Inkarnationschristologie

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Solche Rück-Übersetzung kehrt gleichsam zurück zu dem Geschehen, das sich in Jesus Christus ereignet hat. Sie hat – wie alles legitime Reden von Gott – nachträglichen bzw. nach-denkenden Charakter, indem sie das einstige und doch bleibend aktuelle Geschehen verfolgt und nachzuvollziehen versucht. Als nachträgliche Interpretation kann diese Rückübersetzung auf das Geschehen der gottmenschlichen Aktion hinweisen und ihm entsprechen. Die Geschichte Jesu Christi, der auf diese Weise nach-gedacht und entsprochen werden soll, aktualisiert gleichsam selbst als entscheidende Referenzgröße die auf sie referierenden ontischen bzw. ontologischen Vorstellungen.131 Dies bringt Barth zum Ausdruck, wenn er davon spricht, dass Jesus Christus sein eigener Zeuge ist.132 Dabei wird die Geschichte Jesu Christi von Barth »als einmaliges, damals und dort sich ereignendes Geschehen verstanden, aber da sie einmündet in die Auferweckung Jesu Christi von den Toten und damit als gottmenschliche Geschichte qualifiziert ist, kann sie weder als bloß historisches Faktum registriert noch in die Überzeitlichkeit einer Idee verwiesen werden. Eben dieses geschichtliche Faktum erweist sich, wie Barth sagen kann, als Faktor, d.h. als nicht in dieser zeitlichen Begrenzung aufgehend, sondern als alle Zeit übergreifend.«133

der Versöhnungslehre, dem die Einheit von wahrem Gottsein und wahrem Menschsein Jesu Christi zugeordnet ist, wie sie im munus propheticum bezeugt ist.« 131 Nach Barth (KD IV/2, 120) fordert Jesus Christus und damit seine Geschichte als der von der Schrift bezeugte Gegenstand ein Müssen, ein kategorisches Gesetz: »Es gibt aber […] ein Müssen, dem sich die alte Christologie in einer nicht gut zu heißenden und also nicht nachzuahmenden Weise entzogen hat. Das Gesetz des Denkens und Redens über einen bestimmten Gegenstand kann offenbar weder eine noch so mächtige Überlieferung sein, laut derer es durchaus nur in dieser und dieser Form verlaufen dürfte, noch auch eine allgemeine Vorstellung von dem, was als Gedanke und Aussage vollziehbar ist, sondern ganz allein sein Gegenstand selber, dieser aber als kategorisches Gesetz. Er fordert, daß ihm nachgedacht und daß er ausgesagt werde. […] Und nun soll in der Christologie, wie der Name sagt, über Jesus Christus nachgedacht und geredet werden. Nun ist also Er hier forderndes Gesetz des Denkens und Redens. […] Wer aber ist Er? Der Gottes- und Menschensohn, der als solcher göttlichen und menschlichen Wesens ist, hat die alte Christologie mit Recht geantwortet. Eine Christologie, die nicht diese Antwort gäbe, hätte gar nicht Ihn zum Gegenstand, sondern irgend ein phantastisches Gottwesen oder irgend ein ebenso phantastisches Menschenwesen. Indem wir mit der alten Christologie zunächst nur diese Antwort geben können, bleiben wir in Kontinuität mit ihr verbunden, nehmen wir ihre Erkenntnis auf, auch wenn wir ihr eine ganz andere Gestalt geben müssen. Eben das müssen wir aber tatsächlich tun.« 132 Vgl. Barth, KD IV/3, Kap. 17: »Jesus Christus, der wahrhaftige Zeuge«. 133 W. Kreck, Karl Barth, in: M. Greschat (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte Bd. 10,2: Die neueste Zeit, Stuttgart u.a. 1986, (102–122) 114f.

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Christologie erzählen?

4. Fazit Sowohl in Mildenbergers als auch Barths narrativ-christologischen Ausführungen fällt der »Wechsel zwischen scheinbar spekulativen dogmatischen Strukturen und der breiten Entfaltung der biblischen Geschichten«134 auf. Was bedeutet dies? »Daraus ergibt sich« – wie Ernstpeter Maurer treffend betont, »dass dogmatische Aussagen einen eigentümlichen Status erhalten. Sie sind sekundär. Denn alles konzentriert sich auf eine Geschichte, die sich wiederum verdichtet in einen Namen: Jesus Christus. Dogmatische Aussagen und Begriffe können demnach nur dafür sorgen, die Akzente recht zu setzen, die story in der rechten Weise zu erzählen.«135

Barth schreibt an seinen niederländischen Kollegen Gerrit C. Berkouwer: »Alle gewiß auch bei mir vorhandene und sich durchsetzende Systematik will doch (in meiner Intention jedenfalls) nur eine möglichst pünktliche Entfaltung der Tragweite dieses ›Namens‹ (im biblischen Sinne dieses Begriffs) sein und insofern die in einzelnen Momenten verlaufende Erzählung einer Geschichte.«136 Darüberhinaus machen Barths und Mildenbergers narrativ-christologischen Ausführungen bei aller Differenz gemeinsam eines sehr deutlich: Es geht nicht um den schlichten Gegensatz narrativ versus argumentativ. Erzählung und dogmatische Begriffsbildung schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich, ja fordern einander geradezu wechselseitig. Ungeachtet dessen, dass sich bei Mildenberger mitunter schroffe Kontrastierungen zwischen Erzählen und Denken finden lassen, wie die, dass Gott »besser aufgehoben [ist] in der Geschichte derer, die von ihm erzählen, als dort, wo er gedacht werden soll«137, zeigt sich doch auch und gerade bei ihm, dass er bei aller Betonung des narrativen Charakters des Redens von Gott nicht ohne begriffliche Allgemeinheit auskommt. Im Blick auf Barth hat bereits Eberhard Jüngel darauf hingewiesen: »Es war wohl das besondere Genie Karl Barths, das eine genuine Verbindung von argumentierender und erzählender Dogmatik ermöglichte, wobei Barth die argumentative Kraft der Erzählung selber zur Geltung zu bringen versteht: vera narratio est demonstratio.«138 Diese Hinweise setzen indes Dietrich Ritschls Einspruch nicht einfach ins Unrecht. Keiner von beiden, weder Barth noch Mildenberger, ist ein reiner Narrativist, wie ihn Ritschl vor Augen hat.139 Beide halten die Reflexion auf die Erzäh134

Maurer, Narrative Strukturen, 9. Ebd. Vgl. D. Schellong, Barth lesen, in: F.-W. Marquardt u.a. (Hg.), Karl Barth: Der Störenfried? Einwürfe 3, München 1986, (5–92) 63. 136 Brief vom 30.12.1954. Zit. nach E. Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 41986, 395. 137 Mildenberger, Biblische Dogmatik 2, 375. 138 Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 427 (Anm. 52). Kursivierung: M.H. 139 Im Blick auf die amerikanische Debatte, genauer gesagt: die Yale-Chicago-Konstellation, hat G.L. Comstock, Two Types of Narrative Theology, JAAR 55 (1987), 687–717, zwischen »purists« und »impurists« unterschieden. Vgl. M. Hofheinz, Narrative Ethik als 135

Fazit

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lungen hin für unverzichtbar. Für beide gilt: »Dogmatische Arbeit kommt vielmehr von den erzählten Geschichten her und führt wieder zum Erzählen hin.«140 Auch Ritschl hält – bei Lichte betrachtet – Erzählungen für unverzichtbar und kann dementsprechend betonen: »[W]ir, die wir zu christlichen Gemeinen [sic!] gehören, sollten die ›stories‹ kennen, sollten sie ›bewohnen‹, d.h. von innen kennen, respektieren, fürchten und auch lieben! Wenn dies verloren geht, glauben die Gläubigen nur noch an Begriffe oder gar an Lehren und die anderen haben nur leere Clichés im Ohr, mit denen sie sich leicht von Kirche und Christentum abwenden können.«141

Dies ist die ohne allzu kühne dialektische Wendungen erkennbar andere Seite seiner scharfen Kritik. Eberhard Jüngel fordert, Ritschls Einwand gegen eine Reduktion auf Erzählungen aufnehmend: »Damit die argumentierende Theologie zur narrativen Theologie werden kann, muß sie sich zuvor gerade als eine das Erzählen und das zu Erzählende reflektierende und das heißt dialektisch-diskursive Theologie vollzogen haben.«142 Im Blick auf eine projektierte postliberale narrative Theologie ist trefflich darauf aufmerksam gemacht worden: »Our faith cannot be reduced to stories, experiences, and affections any more that it can be reduced to logic and rational propositions. A postliberal theology that abandons critical reflection altogether in the name of story and narrative is also denying the fact that careful critical thinking has been a part of the language of the community that has afforded us the opportunity to reflect on the origins of the storying community itself.«143

Mildenbergers und Barths Ausführungen machen deutlich, dass es sich die Dogmatik nicht leisten kann, weder narrative noch begrifflich feststellende Sprach»Typfrage«. Entwicklungen und Probleme eines konturierungsbedürftigen Programmbegriffs, in: ders. u.a. (Hg.), Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, Zürich 2009, (11–66) 25f. 140 Schneider-Flume, Dogmatik erzählen, 139. Sowohl Barth als auch Mildenberger hätten wohl wenig Mühe mit der von Schneider-Flumes (a.a.O., 140) getroffenen Aufgabenbestimmung der Dogmatik: »Dogmatische Arbeit untersucht das Verhältnis zwischen den vielen Geschichten der biblischen Tradition und der angenommenen einen Geschichte Gottes und zwischen den Geschichten und Bekenntnissen, sie bedenkt die Möglichkeiten des Erzählens einst und jetzt und untersucht mögliche und notwendige Bekenntnisbildungen. Dennoch hat die Dogmatik nicht die Aufgabe, ein System des Wissens aller möglichen Glaubensaussagen zu ordnen, sondern dem Erzählen kritisch nachzudenken, mit dem die Glauben provozierende Geschichte Gottes in die jeweilige Zeit hinein übersetzt wird.« 141 Ritschl, Theologie ist explikativ und argumentativ, 161. Vgl. auch Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, 25f. 142 Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 427. 143 R.T. Michener, Postliberal Theology. A Guide for the Perplexed, London u.a. 2013, 123.

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Christologie erzählen?

vollzüge auszuklammern. Narrative Sprachvollzüge sind vor allem einem Geschehen bzw. einer Geschichte angemessen, wobei sie allerdings oft keinen logischen Ausgleich zwischen einander widersprechenden Erzählungen bieten. Freilich sind die Narrationen auch nicht einfach beliebig, sondern zielen auf etwas und werden von impliziten Axiomen und/oder einer Metaerzählung begleitet und/oder begleitet.144 Für einen gleichermaßen diskursiven wie identifizierenden Sprachvollzug ist die Berücksichtigung ebenso von Narrationen wie von Begriffen bzw. begrifflichen Feststellungen unverzichtbar, da ansonsten Verständigung und Identifizierung von Gegenständen im Zusammenhang der Sprache scheitern. Im Blick auf die Theologie gilt: Dogmatik im Allgemeinen und Christologie im Besonderen müssen sich gleichsam auf das Erzählen hin befragen lassen: »Was sind das für Worte, die ihr da unterwegs miteinander wechselt« (Lk 24,17; Zürcher Bibel, 2007)? Theologie und insbesondere Christologie werden aber, indem sie dies tun, auch damit rechnen müssen und/oder zumindest darum bitten dürfen, dass es ihnen ergeht, wie es einst den Emmaus-Jüngern erging: »Und es geschah, während sie miteinander redeten und sich besprachen, dass Jesus selbst sich zu ihnen gesellte und sie begleitete« (Lk 24,15; Zürcher Bibel, 2007).145 Umgekehrt steht hingegen eine Christologie, die solche Erzählungen nicht berücksichtigt, in der eminenten Gefahr, Jesus nicht zu erkennen, so dass ihr – wiederum mit Worten der Emmaus-Perikope – das Schicksal droht: »Doch ihre Augen waren gehalten, so dass sie ihn nicht erkannten« (Lk 24,16; Zürcher Bibel, 2007). Mit Verweis auf die Emmaus-Erzählung hat Ingrid Schoberth treffend die alle narrative Christologie umgreifende und gewissermaßen einende Erkenntnis zur Sprache gebracht: »Die Wahrnehmung des Christus vollzieht sich im Modus des Erzählens seiner Geschichte, im Modus des Beschreibens seiner Wirksamkeit unter den Menschen bis heute, im Modus des kritischen Befragens durch Situationen, in denen Christus entzogen scheint, im Modus des Staunens und der Freude, wenn Menschen wieder Hoffnung zu schöpfen lernen. Die Wahrnehmung des Christus ist so ein Weg, sich der Wirklichkeit des Christus zu nahen, ohne dass seine Wirklichkeit darin aufgeht. Die ›Dinge‹ – das, was ›in diesen Tagen in Jerusalem geschehen ist‹ – eröffnen sich der Wahrnehmung im Herannahen zu Christus; die Jünger erzählen das so: ›Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete?‹ (Lk 24,32).«146

144

Vgl. Ritschl, Zur Logik, 46f. Vgl. N. Lash, Theology on the Way to Emmaus, London 1986. 146 I. Schoberth, Einleitung: Jesus Christus und die Bildung, in: dies. / I. Kowaltschuk (Hg.), Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs? (Lk 24) Christologie im Religionsunterricht», Heidelberger Studien zur Praktischen Theologie 15, Berlin 2010, (11–18) 16. 145

b. Christologie innerkonfessionell Auf einem reformierten Weg zu einer trinitarischen Hermeneutik der Rede von Christus und dem Geist

III. Der geistgesalbte Christus Trinitätstheologische Erwägungen zur umstrittenen Geistchristologie1

»Es gibt keine christliche Lehre von Gottes Wesen und Eigenschaften, die nicht irgendeine trinitätstheologische Konzeption implizierte. Keine Dogmatik kann daran vorübergehen, daß die christliche Verkündigung von Gott in Christus handelt. Es gibt daher auch kaum eine Dogmatik, die nicht darüber Rechenschaft zu geben versuchte, wieso sich von der Gottheit Jesu oder der Gottheit des Heiligen Geistes sprechen lasse und wie sich solche Rede zu der von der Christenheit verkündigten Einheit Gottes verhalte.«2

1. Einleitung. Annäherung an eine umstrittene Konzeption Geist-Christologie? Diese Synthese klingt selbstverständlich. Dass der Heilige Geist und Jesus Christus etwas miteinander zu tun haben, dürfte selbst bei recht oberflächlicher Kenntnis des biblischen Zeugnisses außer Frage stehen. Handelt es sich also bei der Verbindung von Geist und Christus, Pneumatologie und Christologie, wie sie sich in dem begrifflichen Kompositum »Geist-Christologie« manifestiert, nicht um einen dogmatischen Allgemeinplatz, eine theologische Binsenweisheit, ja Trivialität? Dass es bei der Frage nach der Geistchristologie indes keineswegs um eine die Gemüter eher langweilende als erhitzende Glaubensfrage geht, zeigt exemplarisch die heftige Kontroverse im Bereich des reformierten Protestantismus in Deutschland,3 die auf der Hauptversammlung des Reformierten Bundes im Mai 1990 entbrannte. Sie wirkt bis heute spaltend und hat tiefe Verletzungen hin1

Der vorliegende Aufsatz geht auf meinen Habilitationsvortrag vom 19. Mai 2010 an der Universität Bern zurück. Für kritische Lektüre danke ich Pfr. i.R. Wilhelm Hofius, Prof. Dr. Wolfgang Lienemann und Prof. Dr. Georg Plasger. 2 O. Weber, Grundlagen der Dogmatik. Erster Band, Neukirchen 1955, 387. 3 Dokumentiert in: Moderamen des Reformierten Bundes (Hg.), Wir und die Juden – Israel und die Kirche. Leitsätze in der Begegnung von Juden und Christen. Text und Dokumentation. Mit einem Vorwort von P. Bukowski, Bad Bentheim o.J.

104

Der geistgesalbte Christus

terlassen. Manche der an der Kontroverse Beteiligten sahen sich vor die Frage gestellt, ob nicht die Wahrheit des christlichen Glaubens verleugnet werde. Die Hauptversammlung des Reformierten Bundes verabschiedete damals sieben »Leitsätze in der Begegnung von Juden und Christen«.4 Sie gingen auf fünf Thesen zurück, die Hans-Joachim Kraus, der damalige Moderator des Reformierten Bundes, bereits acht Jahre zuvor entworfen hatte. Die verabschiedeten Leitsätze polarisierten. Eine in der Schlussabstimmung schließlich unterlegene Minderheit legte »Alternative Leitsätze« vor. Sie stellten die Anfrage, »ob in den Leitsätzen durch die Betonung der Geistbegabung Jesu das Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu Christi verkürzt werde.«5 Die Geist-Christologie markierte den Differenzpunkt der damaligen Kontroverse. Diese kulminierte im Austritt der Professoren Gisela Kittel und Otfried Hofius aus dem Reformierten Bund. In der Diskussion erklärte Hofius, dass er das, was in den Leitsätzen stehe, »beim besten Willen nicht anders verstehen [könne] als so: Da gibt es einen Menschen, den Juden Jesus von Nazareth, und diesen Menschen hat der Gott Israels in einzigartiger Weise erwählt und mit seinem Geist begabt. Jesus Christus ist aber nicht selbst seinem Ursprung und Wesen nach Gott; er ist nicht ›der ewige Sohn Gottes, der wahrer und ewiger Gott ist und bleibt‹.«6 Hofius und Kittel erklärten fernerhin: »Die von der Hauptversammlung angenommenen ›Leitsätze‹ stehen mit ihren Aussagen über Jesus Christus in einem fundamentalen Widerspruch zum neutestamentlichen Christuszeugnis und zum Bekenntnis der Reformation. Sie sind unvereinbar mit dem Nicänischen Glaubensbekenntnis, das von den nach Gottes Wort reformierten Kirchen stets als schriftgemäß anerkannt und deshalb als Grundbekenntnis der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche bejaht und in Ehren gehalten worden ist (vgl. z.B. Johannes Calvin, Institutio IV,9,8; Confessio Gallicana, Art. 5).«7

Die folgenden Ausführungen wollen nicht ex post Häresievorwürfe erheben oder Ketzerhüte verteilen. Gewiss kann hier auch nicht der damalige Konflikt vollständig aufgerollt werden. Vielmehr soll nach der damals wie heute umstrittenen Sache gefragt werden, sprich: nach der Tragfähigkeit der von Kraus befürworteten »Geist-Christologie«. Um eine umfassende Auseinandersetzung mit den verschiedenen Spielarten von »Geist-Christologie« kann es dabei freilich nicht gehen. Was die Gemeinsamkeit der verschiedenen Spielarten betrifft, so wird für »Geist-Christologie« zumeist weniger um der Pneumatologie, sondern der Christologie und ihres Sprachgewinns willen plädiert: »[C]hristology itself requires pneumatology,

4

6 7 5

A.a.O., 16–45. M. Weinrich, Einführung in die Beschlußvorlage des Moderamens, in: a.a.O., (57–61) 60. A.a.O., 79. Hervorhebung im Original. O. Hofius, Erklärung, in: a.a.O., (70–71) 71f.

Einleitung

105

not in order to be ›less christocentric‹, but precisely in order to be christology, the doctrine of Jesus as the Christ, the one anointed with the Spirit.«8 In den unterschiedlichen, einander teilweise widersprechenden Definitionen und Klärungsversuchen zu diesem umstrittenen Begriff spiegelt sich freilich der Umstand wider, dass Geist-Christologie nicht im Singular existiert.9 Sie ist ein Pluraletantum. Folgende Synopse soll dies schlaglichtartig vor Augen führen:

8

A.I.C. Heron, The Holy Spirit. The Holy Spirit in the Bible, in the History of Christian Thought and in Recent Theology, London 1983, 127. Hervorhebung im Original. Ähnlich H.R. Niebuhr, Theological Unitarianism (1946), ThTo 40 (1983), (150–157) 153: »[T]he Spirit and the Son were identified since what gave Jesus Christ his pre-eminence was the presence of the Spirit«. 9 Allgemeine Definitionsversuche sind diesbezüglich nur begrenzt hilfreich. Denn allzu oft verbirgt sich hinter einem solch allgemeinen Definitionsversuch direkt oder indirekt nur die spezifisch eigene christologische Programmatik. So definiert etwa M. Press (Jesus und der Geist. Grundlagen einer Geist-Christologie, Neukirchen-Vluyn 2001, 1): »Geist-Christologie nenne ich diejenige Ausgestaltung der Christologie, welche von der Erfahrung des gegenwärtigen Christus im Geist ihren Ausgang nimmt und die Person Jesus Christus in dieser Perspektive sieht.« Hinter dieser Definition steckt nichts anderes als Press’ eigenes, im Anschluss an Dietrich Ritschl beim Christus praesens ansetzendes Programm. Zugleich aber, und hier schleicht sich nun eine offenkundige Äquivokation im Begriffsgebrauch ein, kann Press in seiner ansonsten sehr hilfreichen typologischen Analyse auch solche christologischen Entwürfe als geistchristologisch rubrizieren, die nicht beim Christus praesens ansetzen. Vgl. ders., Jesus, der Christus des Geistes, EvTh 64 (2004), 304–314. Eine anders gelagerte Gefahr zeichnet sich bei J. Weber (Geist-Christologie im Neuen Testament? Erwägungen zu einer exegetischen These über das Verhältnis von Jesus Christus und dem Heiligen Geist, Trier/Waldrach 2000, 1) ab. Seine Definition von Geist-Christologie lautet: »Unter dem Begriff ›Geist-Christologie‹ wird […] eine christologische Konzeption verstanden, die den Menschen Jesus von Nazareth als den von alttestamentlich-frühjüdischen Traditionen her erwarteten, mit dem Geist Gottes gesalbten und zum Gottessohn adoptierten Messias begreift und sein Leben und Wirken in entscheidender Weise vom Geist Gottes geleitet und geprägt sieht.« Das theologiegeschichtlich im Zusammenhang des sog. »Adoptianismus« negativ konnotierte Stichwort »Adoption« präjudiziert und vorformuliert die Ablehnung des solchermaßen charakterisierten geistchristologischen Programmes. Nach H. Dembowski (Einführung in die Christologie, Darmstadt 31993, 85) hingegen rekurriert Geist-Christologie keineswegs auf eine Adoptionsvorstellung: »Die Entfaltung einer Beteiligung des göttlichen Geistwesens an Jesu göttlicher Zeugung und Geburt bis hin zur Verbindung oder Gleichsetzung dieses göttlichen Geistes mit dem sich inkarnierenden ›Christus‹ macht die sogenannte ›Geistchristologie‹ aus.« Ähnlich formuliert R.W. Jenson (Conceptus … de Spiritu Sancto, Pro Ecclesia 15/1 [2006], 100–107, 100): »For some years there have been demands for ›Spirit-Christology‹. It is not always clear what is wanted. But perhaps a minimal consensus may be that we must acknowledge a role of the Spirit in the ontology of the Incarnation.«

106

Der geistgesalbte Christus

Trinitarische Geistchristologien

Nichttrinitarische Geistchristologien

Hans-Joachim Kraus (1918– 2000; reformiert),

Religionspluralistischer Typ:

Friedrich Mildenberger (1929– 2012; lutherisch),

John Hick (1922–2012; einst Presbyterianer, zuletzt Quäker)

Jürgen Moltmann (*1926; reformiert), Piet Schoonenberg (1911–1999; römisch-katholisch),

Inspiratorischer Typ: Geoffrey W.H. Lampe (1912–1980; anglikanisch), Hendrikus Berkhof (1915–1994; reformiert), Roger Haight (*1939; römisch-katholisch)

Michael Welker (*1947; reformiert) Tabelle 2: Synopse geistchristologischer Entwürfe

Ohne diese Typologie an dieser Stelle im Blick auf die einzelnen Positionen näher erläutern zu können,10 sei festgehalten, dass zwei Typen ins Auge fallen: Geistchristologie in trinitarischem Rahmen und nichttrinitarische Geistchristologie. Letztere lässt sich in einen religionspluralistischen Typ (John Hick) und einen inspiratorischen Typ (Geoffrey W.H. Lampe; Hendrikus Berkhof, Roger Haight) untergliedern. Die Geistchristologie von Hans-Joachim Kraus, die im Folgenden Gegenstand der Untersuchung sein soll, gehört zum Typus Geistchristologie in trinitarischem Rahmen. Jürgen Moltmann und Michael Welker haben sich explizit auf die Geistchristologie von Kraus berufen.11 Der Erlanger Dogmatiker Friedrich Mildenberger folgt ihr eher implizit und indirekt.12 Der römisch-katholische Theologe Piet Schoonenberg argumentiert unabhängig von Kraus jedoch in vergleichbarer Weise.13 Als gemeinsame Charakteristika können sicherlich die Stichworte »biblisch-theologische Orientierung« und »metaphysikkritische Haltung« sowie

10

Vgl. zur Darstellung einzelner Positionen U. Link-Wieczorek, Inkarnation oder Inspiration? Christologische Grundfragen in der Diskussion mit britischer anglikanischer Theologie, FSÖTh 84, Göttingen 1998; Press, Jesus und der Geist; B. Dahlke, Über das Dogma hinaus. Anliegen und Problematik betont moderner Christologien, Cath(M) 67 (2013), 40–71. 11 Vgl. J. Moltmann, Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen, München 1989, 92; ders., Antwort, in: B. Klappert (Hg.), Worauf wir hoffen. Das Kommen Gottes und der Weg Jesu Christi, Gütersloh 1997, (139–156) 139; M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992, 175; 183. Vgl. auch R. Bernhardt, Deabsolutierung der Christologie?, in: M. von Brück / J. Werbick (Hg.), Der einzige Weg zum Heil? Die Herausforderung des christlichen Absolutheitsanspruchs durch pluralistische Religionstheologien, QD 143, Freiburg i.Br. 1993, (144–200) 196. 12 Vgl. F. Mildenberger, Biblische Dogmatik. Eine Biblische Theologie in dogmatischer Perspektive, Bd. 3: Theologie als Ökonomie, Stuttgart u.a. 1993, 125ff. 13 P. Schoonenberg, Der Geist, das Wort und der Sohn. Eine Geist-Christologie, Regensburg 1992.

Grundzüge der Geistchristologie von Hans-Joachim Kraus

107

eine mal stärkere, mal schwächere »messianische Ausrichtung« angeführt werden.

2. Grundzüge der Geistchristologie von Hans-Joachim Kraus Kraus war in den 1970er und 1980er Jahren die dominierende Gestalt des reformierten Protestantismus in Deutschland. Er kann als Grenzgänger zwischen Systematischer Theologie und alttestamentlicher Wissenschaft gelten. Zunächst Professor für Altes Testament in Hamburg und später für Reformierte Theologie in Göttingen, war Kraus einer der Pioniere des jüdisch-christlichen Dialogs14 in Deutschland.15 Er sieht durch die Geistchristologie »dem jüdischen Gesprächspartner eine neue Verständigungsmöglichkeit erschlossen«.16 Kraus bemerkt autobiographisch im Jahr 1988: »In vielen intensiven und dichten Gesprächen gerieten wir auf die Spur der pneumatologisch angelegten Christologie, die nach meiner Auffassung im Neuen Testament dominant ist. Dabei will ich nicht verhehlen, daß ich schon seit mehr als drei Jahrzehnten die Zwei-Naturen-Lehre und die metaphysische Trinitätslehre für einen Abfall der Kirche von der Maschiach-Prophetie der hebräischen Bibel halte. Denn darin sehe ich die Bedeutung des jüdisch-christlichen Dialogs, ohne den die Kirche nicht grund- und wurzelbezogen leben kann, daß in vorbehaltloser Bereitschaft zur Kritik an der eigenen dogmatischen Tradition dem Einfluß des ontologisch-metaphysischen Denkens und Urteilens der griechischen Geisteswelt widersprochen und widerstanden wird.«17

14

Vgl. M. Weinrich, Art. Jüdisch-christlicher Dialog A. Aus evangelischer Sicht, NHThG2 2 (2005), 306–321. 15 Vgl. dazu die einfühlsame Gedenkrede von B. Klappert, Reich Gottes – Reich der Freiheit. Hans-Joachim Kraus (1918–2000) und sein Weg zur Gesamtbiblischen Theologie, ThBeitr 33 (2002), 220–231. Fernerhin M. Bock, »Ihr aber, wer sagt ihr, daß ich sei?« (Mk 8,29) Christologische Fragestellungen im christlich-jüdischen Gespräch nach 1945, Beiträge zur theologischen Urteilsbildung 4, Frankfurt a.M. 1998, 49–58; S. Vasel, Philosophisch verantwortete Christologie und der christlich-jüdische Dialog. Schritte zu einer doppelt apologetischen Christologie in Auseinandersetzung mit den Entwürfen von H.-J. Kraus, F.-W. Marquardt, P.M. van Buren, P. Tillich, W. Pannenberg und W. Härle, Gütersloh 2001, 27–120; M. Weinrich, Vom Charisma biblischer Provokationen. Systematische Theologie im Horizont Biblischer Theologie bei Hans-Joachim Kraus, JBTh 3 (1988), 253–265. 16 H.-J. Kraus, Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 1983, 360. 17 H.-J. Kraus, Rückkehr zu Israel. Beiträge zum christlich-jüdischen Dialog, Neukirchen-Vluyn 1991, 333.

108

Der geistgesalbte Christus

Ein biblisch-theologisches Interesse18 an der Einheit der Schriften Alten und Neuen Testaments wird bei Kraus im stetigen Bemühen des Messianischen sichtbar. Diese Kategorie steht bei ihm für die Einbindung der Geistchristologie in die biblische Verheißungsgeschichte und den eschatologischen Horizont des Kommens Gottes. In die Dynamik des Kommens Gottes »in und mit Israel zur Welt der Völker«19 ist nach der Überzeugung von Kraus das Christusereignis eingezeichnet.20 Kraus erachtet den Rückverweis der neutestamentlichen Rede von Jesus als Messias auf die alttestamentlichen Verheißungen der endzeitlichen Geistbegabung (Jes 61,1; Jes 11,2) als das entscheidende Interpretament des Christusereignisses. Kraus bestimmt den Messiastitel mithin pneumatologisch. Hier wird der messianische Charakter seiner geistchristologischen Konzeption transparent. So lautet der Leitsatz des entsprechenden Abschnittes seines Hauptwerkes »Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie«: »Der alttestamentlichen Geist-Messias-Verheißung entsprechend ist das Geheimnis der Messianität des Jesus von Nazareth ein pneumatologisches. In allen Evangelien wird die Frage, wer Jesus ist, mit dem Hinweis auf das chrisma des Geistes Gottes beantwortet.«21 Es geht Kraus nach eigener Aussage um eine »im Alten Testament wurzelnde messianische Christologie«.22 Kraus möchte mit seiner Geistchristologie gleichsam den seiner titularen Bedeutung beraubten und als Beinamen verwandten Christos-Titel zurückerobern. Dementsprechend spricht Kraus lieber vom »Christus Jesus« als von »Jesus Christus«.23 Dieser semantischen Rückeroberungsstrategie entspricht das von Kraus befürwortete Postulat einer »Enthellenisierung der christlichen Theologie«.24 Kraus greift mithin Adolf von Harnacks berühmte Wesensdefinition des Dogmas auf: »Das Dogma ist in seiner Conception und in seinem Ausbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums.«25 Von Harnack nahm es bekanntlich Luther übel, dass er »die alten Dogmen von der Trinität und den zwei Naturen in das Evangelium hinein[nahm]«.26 Kraus möchte die an die griechische 18

Vgl. H.-J. Kraus, Die Biblische Theologie. Ihre Geschichte und Problematik, Neukirchen-Vluyn 1970, bes. 307–395; ders., Probleme und Perspektiven Biblischer Theologie, in: K. Haacker u.a. (Hg.), Biblische Theologie heute. Einführung – Beispiele – Kontroversen, BThS 1, Neukirchen-Vluyn 1977, 97–124. 19 Kraus, Rückkehr, 150. Dort kursiv. 20 Vgl. a.a.O., 162. 21 Kraus, Systematische Theologie, 359. Dort kursiv. 22 Ebd. 23 Vgl. etwa a.a.O., 361. 24 H.-J. Kraus, Eine Christologie des Heiligen Geistes, in: B. Klappert u.a. (Hg.), Jesusbekenntnis und Christusnachfolge, München 1992, (37–46) 45. 25 A. von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte. Erster Band. Die Entstehung des kirchlichen Dogmas, Tübingen 41909, 20. Dort kursiv. 26 A. von Harnack, Das Wesen des Christentums (1900), ND München/Hamburg 1964, 172. Vgl. ders., Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, Leipzig 21924, 217; 222: »[D]as Alte Testament im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kir-

Für und Wider der Kraus’schen Geistchristologie

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Substanzmetaphysik gebundene Zweinaturenlehre durch eine pneumatologische Christologie abgelöst wissen, um mittels derselben einen Irrweg der kirchlichen Lehrentwicklung zu korrigieren. Als deren Vorzug gegenüber der »klassischen«27 Christologie führt Kraus an: »Pneumatologische Christologie überwindet die Zwei-Naturen-Lehre, eröffnet das Verständnis der eschatologischen Tat des befreienden Gottes in der alttestamentlichen Verheißungsperspektive und erklärt, daß und wie im Christus Jesus die Einheit von Sein und Sendung, Person und Amt gesetzt ist.«28

3. Für und Wider der Kraus’schen Geistchristologie. Versuch einer kritischen Würdigung Im Folgenden soll das abgerissene Gespräch zwischen Kraus und seinen Kritikerinnen und Kritikern wieder aufgenommen werden und zwar anhand der Ausgangsfrage, wie tragfähig seine geistchristologische Konzeption eigentlich ist. Es geht weder um eine Apologie noch eine Anathematisierung der Kraus’schen Position, sondern darum, Vor- und Nachteile der Kraus’schen Geistchristologie zu erörtern. Dabei wird die vielfach traktierte Harnack’sche These von der »Hellenisierung des Christentums« nur gestreift, von der manche behaupten, dass sie längst den Tod der tausend Einschränkungen gestorben sei.29 Anders als für Harche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung. […] Hier reinen Tisch zu machen und der Wahrheit in Bekenntnis und Unterricht die Ehre zu geben, das ist die Großtat, die heute – fast schon zu spät – vom Protestantismus verlangt wird.« Vgl. dazu W. Kinzig, Harnack, Marcion und das Judentum. Nebst einer kommentierten Edition des Briefwechsels Adolf von Harnacks mit Houston Stewart Chamberlain, AKTG 13, Leipzig 2004. 27 E. Mühlenberg (Art. Christologie 2. In der Dogmengeschichte, EKL3 1 [1986], 718– 727, 718) definiert: »Als Erbe des 19. Jahrhunderts hat sich der Ausdruck ›klassische‹ Christologie eingebürgert. Damit wird jegliche Christologie bezeichnet, die ungebrochen das christologische Dogma der Alten Kirche, wie es auf dem Konzil von Chalcedon (451) formuliert worden war, anerkennt.« Hervorhebung im Original. Die Grundformel des sog. Chalcedonense lautet: ἕνα καὶ τὸν αὐτὸν Χριστὸν υἱὸν κύριον μονογενῆ ἐν δύο φύσεσιν […] γνωριζόμενον, οὐδαμοῦ τῆς τῶν φύσεων διαφορᾶς ἀνῃρημένης διὰ τὴν ἕνωσιν, σωζομένης […] τῆς ἰδιότητος ἑκατέρας φύσεως, καὶ εἰς ἕν πρόσωπον καὶ μίαν ὑπόστασιν συντρεχούσης – »ein und derselbe ist Christus, der einziggeborene Sohn und Herr, der in zwei Naturen [...] erkannt wird, wobei nirgends wegen der Einung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist, vielmehr die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen gewahrt bleibt und sich in einer Person und einer Hypostase vereinigt«. DH 302. 28 Kraus, Systematische Theologie, 371f. 29 Vgl. A. Grillmeier, »Christus licet uobis inuitis deus«. Ein Beitrag zur Diskussion über die Hellenisierung der christlichen Botschaft, in: A.M. Ritter (Hg.), Kerygma und Logos. Beiträge zu den geistesgeschichtlichen Beziehungen zwischen Antike und Christentum,

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nack und Kraus bildet sie nach heutigem Urteil – mit Eberhard Jüngel gesprochen – »nicht nur ein Verhängnis, sondern ein[en] ganz wesentliche[n] Beitrag zum intellektuellen Überleben des Christentums, zur Inkulturation des Evangeliums in der damaligen geistigen Welt.«30 Erlaubt sei auch der Hinweis, dass das Beispiel Harnacks indes zeigt, »dass die Beseitigung jenes Ärgernisses [der Übernahme der Dogmen von der Trinität und den zwei Naturen; M.H.] noch keine größere Nähe zu[m] Judentum […] bedeuten muß«.31 Denn Harnacks Forderung nach einem Verzicht auf die »alten Dogmen« verband sich bei ihm bekanntlich mit der Forderung, das Alte Testament aus der christlichen Bibel zugunsten des Evangeliums von dem Gott der reinen Liebe auszuscheiden.

3.1 Das Für Es kann meines Erachtens grundsätzlich kein Zweifel daran bestehen, dass Kraus mit seinem geistchristologischen Plädoyer die Aufmerksamkeit zu Recht auf die in der christologischen Lehrbildung vielfach vernachlässigte Beziehung zwischen Jesus und dem Geist gelenkt hat. Diese Beziehung tritt nach dem Zeugnis der Synoptiker, vor allem dem des Lukas,32 an zentralen Stationen des Lebens Jesu in FS Carl Andresen, Göttingen 1979, 226–257; Ch. Markschies, Jüdische Mittlergestalten und die christliche Trinitätstheologie, in: M. Welker / M. Volf (Hg.), Der lebendige Gott als Trinität, FS Jürgen Moltmann, Gütersloh 2006, 199–214; F. Ricken, Nikaia als Krisis des altchristlichen Platonismus, ThPh 44 (1969), 321–341; A.M. Ritter, Ulrich Wickert, Wolfhart Pannenberg und das Problem der »Hellenisierung des Christentums«, in: D. Wyrwa (Hg.), Die Weltlichkeit des Glaubens in der Alten Kirche, FS Ulrich Wickert, BZNW 85, Berlin/New York 1997, 303–318; D. Wyrwa, Über die Begegnung des biblischen Glaubens mit dem griechischen Gott, ZThK 88 (1991), 29–67. 30 E. Jüngel, Die Leidenschaft, Gott zu denken. Ein Gespräch über Denk- und Lebenserfahrungen, hg. von F. Ferrario, Zürich 2009, 59. Im Blick auf sein Gespräch mit Wolfhart Pannenberg bemerkt Jüngel (ebd.): »Die Alternative ›biblisches Denken – griechisches Denken‹ gab es für uns schon nicht mehr.« 31 E. Busch, Die Trinitätslehre angesichts der Kritik von Judentum und Islam, in: R. Weth (Hg.), Der lebendige Gott. Auf den Spuren neueren trinitarischen Denkens, Neukirchen-Vluyn 2005, (158–177) 160. 32 M. Karrer (Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Göttingen 1998, 310) identifiziert eine Geistchristologie bei Lukas: »Der Geist war es, der Jesus in Geburt und Taufe auszeichnete (Lk 1,35; 3,22). Und sein Wirken prägte ihn (4,1 u.ö.). Dass Jesus den Geist in Gottes Hand zurücklegt, öffnet deshalb den Übergang in die neue Epoche. Jesus verheißt ihn (Lk 24,49; Apg 1,4) und löst die Verheißung ein. Erhöht, nimmt er den Geist vom Vater und gießt ihn aus (Apg 2,33). Der Nachdruck der Apg auf dem Geist, der Jesu rettende Verbindlichkeit gewährleistet, bis er kommt, transponiert die Geistchristologie des Lk in die Kirchengeschichte.« Lukas »verbindet Mk 1,23–27 (Lk 4,33–36) mit seiner Geist-Christologie. Weil der Überschattung Mariens durch den Heiligen Geist gemäß Heiliges geboren wird (1,35), ist Jesus auf seinem ganzen Weg der Heilige Gottes (4,34), kurz der Heilige (›ho hagios‹ Apg 3,14).« A.a.O., 260. Hervorhebungen im Original. Karrer (a.a.O., 196) grenzt die luka-

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Erscheinung:33 Bei Marias Empfängnis durch den Geist (Mt 1,18; Lk 1,35), Jesu Darstellung im Tempel (Lk 2,26f.), seiner Taufe (Mk 1,10f.; Mt 3,16f.; Lk 3,22; vgl. Joh 1,32ff.), seiner Versuchung (Mk 1,12; Mt 4,1; Lk 4,1), seiner Antrittspredigt in Nazareth (Lk 4,18 im Rekurs auf Jes 61,1ff.; vgl. Mt 12,17–21 im Rekurs auf Jes 42,1–4), seinem Sieg über die Dämonen (Mt 12,28; Lk 11,20), am Kreuz (Lk 23,46) und bei seiner Sendung des Geistes aus der Höhe (Lk 24,49; Apg 1,5.8; 2,4ff.).34 Es lässt sich festhalten: »In der Beziehung des Geistes zu Jesus begegnet uns […] nicht nur ein vereinzelter Aspekt der Evangelientradition, sondern ein bestimmendes und zentrales Kennzeichen ihres Zeugnisses.«35 Von der österlichen Begegnung mit dem auferstandenen Christus her wird das irdische Leben Jesu von den Evangelisten »als vom heiligen Geist bewegtes Leben erzählt«.36 Die hervortretende Verbindung von Christus und Geist ist freilich nicht auf eine Geistträgerschaft Jesu zu reduzieren. Diesbezüglich wäre an die Geistchristologie von Kraus die Frage zu stellen, inwiefern sie dem Zeugnis der Evangelisten gerecht wird, wonach Jesus nicht nur Träger und Empfänger, sondern auch Sender des Geistes (vgl. Lk 24,49; Apg 1,5.8; 2,33; Joh 15,26; 16,7) ist.37 Hier zeichnet sich bereits eine gewisse subordinatianische Tendenz bei Kraus ab.

nische Geistchristologie aber von einem Adoptianismus entschieden ab: »Geist-Christologie ist nach allen [synoptischen; M.H.] Fassungen der Tauftradition keine Adoptionschristologie.« Mit Blick auf die Tauferzählung in Mk 1,10f. stellt Karrer (ebd.) klar: »Die Herabkunft des Geistes und Stimme Gottes adoptiert Jesus nicht, sondern identifiziert ihn vor seinem Weg zu den Machttaten wie ins Leiden.« Die Himmelsstimme, die beim Herabkommen des Geistes ergeht, benennt, »was grundsätzlich – und nicht erst durch einen neuen Akt – gilt«. Ebd. 33 Vgl. Heron, Spirit, 128: »The Spirit is specifically associated with such cardinal moments as Jesus’ conception, baptism, defeat of demons, crucifixion and rising from the dead.« Auch G. Wainwright (The Holy Spirit, in: C.E. Gunton [Hg.], The Cambridge Companion to Christian Doctrine, Cambridge 1997, 273–296, 284) spricht von »presence and activity of the Holy Spirit in the conception, life, ministry, death and resurrection of Jesus Christ«. 34 Basilius von Cäsarea (Bas.spir. XIX,49) hat eine vergleichbare Sequenz entwickelt: »Das Kommen Christi? Auch ihm ging der Geist mit seinem Wirken voraus. Christi Gegenwart im Fleisch? Der Geist ist untrennbar damit verbunden. Wunder und Heilungsgaben? Sie sind durch das Wirken des Geistes hervorgebracht worden. Dämonen wichen durch den Geist Gottes. Der Satan hat in Gegenwart des Geistes seine gesamte Macht verloren.« Zit. nach KTGQ I, 176. 35 D.L. Migliore, Vinculum Pacis. Karl Barths Theologie des Heiligen Geistes, EvTh 60 (2000), (131–152) 146. 36 E. Jüngel, Zur Lehre vom Heiligen Geist. Thesen, in: U. Luz / H. Weder (Hg.), Die Mitte des Neuen Testaments. Einheit und Vielfalt neutestamentlicher Theologie, FS Eduard Schweizer, Göttingen 1983, (97–118) 108. 37 So K. Barth, KD IV/2, 362; Migliore, Vinculum, 146; Heron, Spirit, 127. Kraus (Christologie, 42) kann allenfalls unter Verweis auf Joh 20,22 (»Nehmt hin den Heiligen Geist«) davon sprechen, dass »Jesus als der Geist-Gesalbte der Mittler des Geistes für sein Volk« ist.

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Bevor dem näher nachgegangen werden soll, sei jedoch zunächst würdigend festgehalten: Kraus macht mit seinem Plädoyer für eine Geistchristologie zu Recht auf ein Problem aufmerksam: Mit der Konzentration der »klassischen« Christologie auf die Zweinaturenlehre ging in der abendländischen Theologie häufig eine Geistvergessenheit einher. Dass auch (aber nicht nur) der Geist für das Christusereignis konstitutiv ist, diese Einsicht wurde häufig verdunkelt und vernachlässigt.38 Versteht man die Geistchristologie von Kraus im Sinne einer solchen Problemanzeige, so hat sie zweifellos Verdienste.

3.2 Zwischenbemerkung zur Funktion von Dogmen Kraus rückt seine Geistchristologie explizit in den theologie- und dogmengeschichtlichen Kontext der Alten Kirche. Er tut dies nachdrücklich, solle doch mit der Geistchristologie »ein neuer, von hellenistisch-physischen Deutungen absehender Ansatz zum christologischen Dogma ›vere homo – vere Deus‹ gegeben«39 werden. Explizit spricht Kraus von einer zu übenden Dogmenkritik.40 Zugleich hält er aber fest, dass »sich die Christologie an den trinitarischen Dogmen der altkirchlichen Konzilien orientieren«41 soll. Die grundsätzliche Berechtigung von Dogmenkritik wird man auf der Grundlage reformatorischer und insbesondere reformierter Bekenntnishermeneutik wohl kaum bestreiten können.42 Die Tatsache, dass es sich um Dogmen handelt, nimmt sie keineswegs von jener Forderung aus, die Schleiermacher zu Recht erhebt: »Die kirchlichen Formeln von der Person Christi bedürfen einer fortgesetzten kritischen Behandlung.«43 Mit Dietrich Ritschl gesprochen, handelt es sich bei den Dogmen im analytischen Sinne um »regulative Sätze«,44 die – vorbehaltlich besserer Einsicht in die Heilige Schrift – bleibend wichtigen Charakter haben. Gerhard Sauter nennt sie »dialogdefinite Sätze«:45 »[I]n Dogmen sind vielfach erprobte, verlässliche Denkerfahrungen gespeichert und verdichtet. […] Sie geben die theologisch sinnvollen 38

So auch Ch. Schwöbel, Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen 2002, 270. Kraus, Systematische Theologie, 360f. 40 Kraus, Rückkehr, 176. 41 Kraus, Systematische Theologie, 364. 42 Vgl. W. Kreck, Grundfragen der Ekklesiologie, München 1981, 231–249; G. Plasger, Die relative Autorität des Bekenntnisses bei Karl Barth, Neukirchen-Vluyn 2000; M. Weinrich, Bekenntnis und Bekennen, Lernort Gemeinde 22/1 (2004), 17–20; M.D. Wüthrich, Theologische Überlegungen zur reformierten Bekenntnisbildung in der Schweiz, SJKR 15 (2010), 37–62. 43 F.D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube 2, hg. von M. Redeker, Berlin 71960, 48 (Leitsatz zu § 95). 44 D. Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 21988, 111. 45 G. Sauter, Zugänge zur Dogmatik. Elemente theologischer Urteilsbildung, Göttingen 1998, 63. 39

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Grenzen eines Glaubensgespräches zu erkennen und erschließen weitere Glaubensgespräche.«46 Die Funktion des Dogmas besteht darin zu prüfen, zu unterscheiden und zu orientieren. Bei den Dogmen handelt es sich gleichsam um »Diagnostika«, durch deren rechten Gebrauch uns angezeigt wird, in welchem Bereich sich gemäß dem Konsens der Kirche problematische Aussagen etwa über Christus bewegen. Allzumal im Blick auf das Chalcedonense wird man sagen können, dass hier bestimmte Grenzwerte angegeben werden, innerhalb derer nach einer angemessenen Lösung auf theologisch bedrängende Fragen gesucht werden soll.47 Eine Überschreitung eines solchen Grenzwertes erfolgt nach Auskunft des Nizänums (325) u.a. dann, wenn die Präexistenz Christi48 geleugnet wird und man stattdessen in Jesus von Nazareth »einen nach Analogie der alttestamentlichen Propheten mit Gottes Geist ausgestatteten […] Menschen«49 sieht. In einem solchen Fall spricht man – wie der Patristiker Alois Grillmeier hervorhebt – von Adoptianismus. Die sog. Theodotianer, Theodot der Gerber und Theodot der Wechsler, lehrten um die Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert, dass Jesus durch den Geist geboren und bei der Jordantaufe pneumatisch begabt wurde.50 Von Adoption ist bei ihnen nicht explizit, aber der Sache nach die Rede. Ähnliche Auffassungen wurden vorher bereits den Ebioniten51 angelastet und später dem dynamistischen Monarchianismus des Paul von Samosata zugeschrieben.52 Kraus selbst sieht sehr klar, dass im Zusammenhang der von ihm entfalteten Geistchristologie »dem adoptianischen Verständnis ein gewisses Recht eingeräumt wird«.53 Auch gesteht Kraus durchaus eine subordinatianische Tendenz ein: 46

A.a.O., 64. Vgl. Schwöbel, Gott, 44. 48 Vgl. DH 301: πρὸ αἰώνων μὲν ἐκ τοῦ πατρὸς γεννηθέντα κατὰ τὴν θεότητα – »derselbe wurde […] der Gottheit nach vor den Zeiten aus dem Vater gezeugt«. 49 A. Grillmeier, Art. Adoptianismus, LThK3 1 (1993), (165–166) 165. 50 Hipp.haer. VII,35,2: »Jesus sei ein Mensch, aus einer Jungfrau […], nach der Taufe im Jordan habe er den Christus aufgenommen, welcher auf ihn in Gestalt einer Taube von oben herabkam. Daher hätten auch die [göttlichen] Kräfte (δυνάμεις) nicht eher in ihm gewirkt, als bis das Pneuma auf ihn herabgekommen und in ihm in Erscheinung getreten sei […]. Sie [die Theodotianer] lassen ihn [selbst] bei der Herabkunft des Pneuma nicht Gott geworden sein« (zit. nach KTGQ I, 60). Vgl. dazu W.A. Löhr, Theodotus der Lederarbeiter und Theodotus der Bankier, ZNW 87 (1996), 101–125. 51 Im Blick auf die Taufe Jesu heißt es im Ebionitenevangelium nach Epiphanius, Arzneikasten (Panarion) 30,13,7: »›Du bist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe‹ [vgl. Mt. 3,17 par.]; und abermals sprach sie [die Stimme aus dem Himmel; M.H]: ›Heute habe ich dich gezeugt‹ [vgl. Lk. 3,22 nach Codex D].« Zit. nach KTGQ I, 52. 52 Vgl. A.M. Ritter, Dogma und Lehre in der Alten Kirche, HDThG2 1 (1999), (99–283) 129–136. 53 H.-J. Kraus, Die Geist-Christologie im christlich-jüdischen Dialog, in: E. Stegemann (Hg.), Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen, Stuttgart u.a. 1993, (103–110) 106. Vgl. ders., Rückkehr, 154: »Jesus wird mit dem Chrisma des Geistes als Christos ausgerüstet und zum ›Sohn Gottes‹ erklärt, ›adoptiert‹ (vgl. Ps 2,7). Es handelt sich in der Taufperikope um eine bestimmte christologische Interpretations- und Legitimationsaussage, die aber 47

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»Die Christologie des Heiligen Geistes aber lehrt: Der EINE Gott, der Gott Israels, hat Jesus von Nazareth mit dem Heiligen Geist gesalbt. Ohne Zweifel wird damit die Subordination, d.h. die Unterordnung des Sohnes unter die Macht des Vaters gelehrt.«54 Aus exegetischer Perspektive bemerkt dazu Hans-Joachim Eckstein: »Von einem explizit vertretenen oder auch nur intendierten Subordinatianismus könnte man […] in der neutestamentlichen Literatur nur dann sprechen, wenn man den Begriff vordergründig auf die grundsätzliche Unverwechselbarkeit von ›Vater‹ und ›Sohn‹ und auf die Unterordnung und den Gehorsam des Sohnes gegenüber dem Vater beziehen wollte. Versteht man aber darunter im dogmatisch spezifischen Sinne die wesentliche Unterordnung des ›göttlichen‹ Sohnes unter den einen und einzigen Gott und die wesentliche Unterschiedenheit des ›geschaffenen‹ – nicht aus Gott ›gezeugten‹ Logos von Gott als Ewigem, so ist er sowohl für Paulus und die Paulusschule wie für den Hebräerbrief und das Corpus Johanneum entschieden abzulehnen.«55

3.3 Das Wider Worin besteht die dogmatische Problematik eines adoptianischen bzw. subordinatianischen Christusverständnisses? Kurz gesagt: Im höchst zweifelhaften Versuch einer Explikation der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit Christi.56 Bereits Atha­nasius hat in seiner Auseinandersetzung mit den Arianern entschieden darauf hingewiesen, dass die christliche Heilsgewissheit auf dem Spiel steht, wenn die Gottheit Christi bestritten wird. Einzigartigkeit konnte etwa auch der Presbyter Arius Christus zubilligen, wohlgemerkt die Einzigartigkeit eines Geschöpfs, nicht aber die Gottes selbst.57 Nach Athanasius hingegen gilt: Wenn Christus nur wohl weniger den terminus a quo als das Faktum der Messianität Jesu proklamieren will.« Vgl. auch a.a.O., 173. 54 Kraus, Christologie, 46. 55 H.-J. Eckstein, Die Anfänge trinitarischer Rede von Gott im Neuen Testament, in: M. Welker / M. Volf (Hg.), Der lebendige Gott als Trinität, FS Jürgen Moltmann, Gütersloh 2006, (85–113) 100f. Hervorhebung im Original. Ähnlich hinsichtlich der johanneischen Theologie auch U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 671. 56 Vgl. D. Ritschl / M. Hailer, Diesseits und jenseits der Worte. Grundkurs christliche Theologie, Neukirchen-Vluyn 2006, 87. 57 Arius (nach Urkunde 4b: Brief Alexanders von Alexandrien an alle Bischöfe, in: H.G. Opitz [Hg.], Athanasius Werke III/1. Urkunden zur Geschichte des arianischen Streites 318–328, Berlin/Leipzig 1934, 6) betont: »[D]er Sohn ist ein Geschöpf (κτίσμα) und Gemächte (ποίημα). Weder ist er seinem Wesen (οὐσία) nach dem Vater gleich (ὅμοιος), noch ist er in Wahrheit und von Natur aus (φύσει) Logos des Vaters, noch seine wahre Weisheit; sondern er ist eines der geschaffenen und gewordenen Wesen und wird missbräuchlich (καταχρηστικῶς) Logos und Weisheit genannt, da auch er durch Gottes eigenes Wort und durch die in Gott [selbst] wohnende Weisheit geworden ist, in der Gott wie das All, so auch ihn geschaffen hat.« Zit. nach KTGQ I, 131.

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Geschöpf Gottes und nicht Gott wäre, dann hätte er uns nicht erlösen können, da nur Gott erlösen kann.58 Zur Teilhabe an Gott und zur Erlösung des Menschen kommt es nur dann, wenn uns in Christus Gott begegnet.59 An der Lehre von Christi Person hängt die von seinem Werk, an der Christologie die Soteriologie.60 An Kraus ist die zentrale Frage zu stellen, ob er die Gottheit Christi allein mit seinen geistchristologischen Prädikationen unter Verzicht auf die Zweinaturenlehre auszusagen vermag. Kraus nimmt dies für sich in Anspruch.61 Wenn man fragt, in welcher Weise Kraus die Gottheit und die Einzigartigkeit Christi genauer auszusagen versucht, so wird man von ihm beharrlich auf Joh 3,34b verwiesen: Gott gibt seinem Christus »den Geist ohne Maß«.62 Die Einzigartigkeit Christi besteht demzufolge in der Maßlosigkeit des Geistempfangs.63 Man muss nicht dem Ergebnis der exegetischen Untersuchungen Otfried Hofius’64 und seiner Schüler65 zu Joh 3,34 folgen, wonach nicht Gott, der Vater, sondern Christus als Subjekt den Geist ohne Maß gibt, um dem zweifelhaften Charakter der Berufung auf diesen einzelnen Vers ansichtig zu werden. Bereits ein vertiefter Blick in die Theologie58

Athanasius, Orationes contra Arianos II,67: »Wäre er [Christus] nämlich ein Geschöpf und als solches Mensch geworden, dann wäre auch der Mensch dessen ungeachtet so geblieben, wie er war: ohne Verbindung mit Gott. Denn wie hätte er, ein Geschöpf, durch ein Geschöpf mit dem Schöpfer verbunden werden können? … Wie hätte umgekehrt der Logos, wäre er ein Geschöpf, das [Verdammungs-]Urteil Gottes aufheben und die Sünde vergeben können, wo doch bei den Propheten geschrieben steht, daß dies allein Sache Gottes sei … [Mi 7,18]«? Zit. nach KTGQ I, 154f. 59 Nach dem berühmten Diktum des Athanasius (Ath.inc. 54) gilt: »Denn er [der Logos Gottes] wurde Mensch, damit wir vergöttlicht würden.« BKV 31,152; Migne PG 25,192: Αὐτὸς γὰρ ἐνηνθρώπησεν, ἵνα ἡμεῖς θεωποιηθῶμεν. 60 Vgl. R.K. Wüstenberg, Christologie. Wie man heute theologisch von Jesus sprechen kann, Gütersloh 2009, 71: »Mit der Vorstellung der Wesenheit mit dem Vater fällt die Entscheidung gegen jede Selbsterlösung des Menschen.« 61 Auch kann Kraus (Rückkehr, 176) betonen, dass er mit seinem Plädoyer für eine messianische Geistchristologie keineswegs beabsichtige, »in die seichten Gewässer einer ›Jesulogie‹ des Adoptianismus oder Arianismus« zurückzusteuern. 62 Kraus, Christologie, 42: »Das Geheimnis des Christus als des ›Sohnes‹ liegt darin beschlossen, daß er den Geist Gottes ohne Maß, in maßloser Fülle empfangen hat.« Vgl. auch ders., Geist-Christologie, 106; 108; ders., Systematische Theologie, 360; 364; 366; 369; 371; 407; 536; ders., Heiliger Geist. Gottes befreiende Gegenwart, München 1986, 32: »Diese Tatsache [den Geist Gottes in unerschöpflicher Fülle empfangen zu haben; M.H.] hebt ihn aus der gesamten Menschheit heraus und stellt ihn, den wahren, wirklichen Menschen, ganz auf die Seite Gottes.« 63 Kraus (Systematische Theologie, 373; Hervorhebungen im Original) kann zwar von »Jesus als wahre[m] Gott (vere Deus)« und der »Gottheit des Christus« sprechen. Doch trägt sein geistchristologisches Fundament diese Prädikation nicht. 64 Vgl. O. Hofius, »Er gibt den Geist ohne Maß« Joh 3,34b, in: ders., Exegetische Studien, WUNT 223, Tübingen 2008, 24–27. 65 Vgl. H.-Ch. Kammler, Jesus und der Geistparaklet. Eine Studie zur johanneischen Verhältnisbestimmung von Pneumatologie und Christologie, in: O. Hofius / H.-Ch. Kammler, Johannesstudien, WUNT 88, Tübingen 1996, (87–190) 170–181; Weber, Geist-Christologie, 131–141.

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geschichte ist verräterisch, hat sich doch auch Fausto Sozzini (oder einer seiner Schüler) im »Rakower Katechismus« (1605) im Abschnitt De prophetico Christi munere auf exakt diesen Vers und die meisten der von Kraus angeführten Belege berufen.66 Seine antitrinitarischen Auffassungen und seine Leugnung der Gottheit Christi sah Sozzini freilich dadurch in keiner Weise in Frage gestellt. Die Berufung auf Maßlosigkeit des Geistempfangs allein reicht wohl nicht aus, um jenen Antitrinitarismus zu vermeiden, vor dem Kraus selbst zu Recht warnt: »Jeder Antitrinitarismus gelangt zwangsläufig dahin, entweder das Kommen Gottes in der Geschichte seines Reiches […] oder die Einheit Gottes zu verleugnen.«67 Die Einzigartigkeit Jesu Christi besteht eben nicht einfach in der Qualität oder Quantität der Inspiration als isoliertem Akt – und sei dieser noch so dauerhaft –, sondern in der Einzigartigkeit der trinitarisch zu explizierenden wechselseitigen (nicht einseitigen) Beziehungen zwischen Vater, Sohn und Geist.68 Die Frage: »Wer ist Jesus Christus?«, war – historisch und theologisch geurteilt – die Wurzel der Trinitätslehre. Hans Joachim Iwand hat die Trinitätslehre als »die Einzeichnung des christologischen Geheimnisses in den Gottesbegriff«69 bezeichnet. Die christologische Frage bildet mithin den Ursprung der Trinitätslehre.70 Dieser Satz von Kraus ist also in der Tat äußerst treffend: »[I]n Bekenntnis und Lehre der Trinität geht es in erster Linie um die Antwort auf die Frage, wer Jesus von Nazareth ist.«71 Mit umso größerer Sensibilität wird man sich dem trinitarischen Aufbau des Hauptwerkes von Kraus zuwenden müssen. Es behandelt die Trinitätslehre bereits in den Prolegomena. Und im Anschluss an die Prolegomena werden die Legomena unter den drei Rubriken »Der Gott Israels in der Bezeugung seines Kommens«, »Jesus Christus in der Proklamation seiner Sendung« und »Der Heilige Geist in seinem Wirken in Kirche und Welt« entfaltet.72 Es erfolgt mithin eine Zuordnung aller Legomena zu den drei Personen der Trinität. Wenn man die Aufmerksamkeit auf die erste Person lenkt, so zeigt sich, dass Kraus den Gott Israels nur als erste Person der Trinität und nicht etwa als alle drei Personen identifiziert. Sonst hätte er hier vom Vater und bereits in den Prolegomena vom Gott Israels sprechen müssen. Kraus denkt aber offensichtlich den Gott Israels nicht trinitarisch. Kraus weigert sich vielmehr, die zweite und dritte Person der Trinität in den Gottesbegriff zu integrieren. Damit sind adoptianische 66

Vgl. The Racovian Catechism. With Notes and Illustrations, Translated from the Latin by T. Rees, London 1818, 172. Nach J. Rohls (Mensch versus Gott. Die Entzauberung der Christologie, US 57 [2002], 46–60, 46; 51f.) beginnt die neuzeitliche Destruktion der Zweinaturenlehre mit Lelio und Fausto Sozzini. 67 Kraus, Systematische Theologie, 75. 68 Vgl. Press, Jesus, 277. 69 H.J. Iwand, Der Prinzipienstreit in der protestantischen Theologie, in: ders., Um den rechten Glauben. GA 1, ThB 9, hg. von K.G. Steck, München 1959, (222–246) 233. 70 So nachdrücklich Busch, Trinitätslehre, 162. 71 Kraus, Systematische Theologie, 75. 72 Vgl. a.a.O., VIIf.

Plädoyer für eine Christologie in trinitarischer Dimensionalität

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bzw. subordinatianische Denkstrukturen vorbereitet,73 innerhalb derer etwa die biblischen Aussagen von der Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft Christi nur schwerlich explizierbar sind.

4. Plädoyer für eine Christologie in trinitarischer Dimensionalität Man wird grundsätzlich die Frage aufwerfen müssen, ob es wirklich geistreich ist, von »Geistchristologie« zu sprechen. Unterlegt man nämlich der theologischen Rede eine trinitätsbewusste Hermeneutik,74 so erscheint das Kompositum Geist-Christologie als binitarische Verkürzung, die die Relation Geist-Christus verabsolutiert. Sowenig man in der theologischen Rede von einer Vater-Christologie spricht, sowenig sollte man auf trinitätstheologischem Hintergrund vorbehaltlos von einer Geist-Christologie sprechen. Der Begriff Geistchristologie ist, eben weil sich in ihm diese binitarische Verkürzung reflektiert, ein nur sehr bedingt hilfreicher Begriff. Er führt zwar nicht einfach in die Irre, sondern gleicht einem Pfeil bzw. Wegweiser in die richtige Richtung. Er bringt eine oftmals vernachlässigte Rela­ tion und insofern einen wichtigen Aspekt der trinitätstheologisch gefassten Christologie zur Sprache. Folgt man jedoch allein diesem Pfeil, so kommt man nicht ans Ziel trinitätstheologisch verantwortbarer Rede von Christus. Geistchristologie ist nämlich eine trinitätsvergessene Christologie, sofern sie nur auf die Relation Geist und Sohn rekurriert. Unter Absehung von Vater und Geist kann Christologie nicht zureichend expliziert werden. Auch die konverse Vater-Sohn-Relation will berücksichtigt sein. Dabei geht es nicht um ein Nacheinander von Geist-Christologie und Vater-Christologie, so als hätte Jesus gemäß diesem temporalen Schema zunächst eine Beziehung zum Geist und dann zum Vater gehabt. Es geht vielmehr um das Zugleich der Berücksichtigung der reziproken, aber nicht symmetrischen Relationen Sohn-Vater und Sohn-Geist.

73

G. Wainwright (The Doctrine of the Trinity. Where the Church Stands or Falls, Interp. 45 [1991], 117–132, 128) hebt hervor, dass bereits Gregor von Nazianz (vgl. Greg.Naz.or. 38; Migne PG 36,320,15) die Häresie des Arianismus als Limitierung der Gottheit auf die erste Person der Trinität brandmarkt. 74 Als Plädoyer für eine solche Hermeneutik lässt sich auch H.R. Niebuhrs (Theological Unitarianism, 150–157) Kritik an den »Unitarismen« der einzelnen Personen der Trinität verstehen: »The Unitarianism of the Creator […], [t]he Unitarianism of Jesus Christ or of the Son […], [t]he third sort of Unitarianism for which the Spirit is the one and only God […] – [i]n every case it appears true that none of the positions can stand alone but must borrow something from the other positions, so that the three Unitarianisms are interdependent.« A.a.O., 150; 151; 152; 157. Vgl. auch D.L. Migliore, Faith Seeking Understanding. An Introduction to Christian Theology. Third Edition, Grand Rapids / Cambridge 2014, 75–77.

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Der geistgesalbte Christus

Wenn man anhand biblischer Geschichten beobachtet, dass Geist und Vater in Bezug auf Person und Werk Christi zusammenarbeiten, wird man noch genauer sagen können: Es geht nicht nur um die zweistelligen Relationen Sohn-Vater und Sohn-Geist, sondern die dreistellige Relation Sohn-Vater-Geist in ihren multiplen Sequenzen.75 Dies wird evident, wenn man sich etwa die biblischen Geschichten genauer anschaut, die Kraus als Referenztexte anführt, z.B. die Taufe Jesu. An ihr sind Vater, Sohn und Geist beteiligt: Der Sohn, der getauft wird, der Geist, der wie eine Taube auf den Sohn herabkommt, und der Vater in Gestalt der Himmelsstimme, die bei Markus (1,11) und Lukas (3,22) den Sohn direkt anspricht: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.«76 Damit möchte ich indes nicht behaupten, dass ein Schriftbeweis für eine entwickelte Trinitätslehre im Neuen Testament angetreten werden kann.77 Gelegentlich sind allerdings trinitätstheologisch interpretierbare Strukturen feststellbar.78 Und im Blick auf diese wird man – mit Kraus79 im Anschluss an Eberhard Jüngel – geltend machen können: »Die Trinitätslehre hat im Grunde keine andere Funktion, als Gottes Geschichte so wahr sein zu lassen, daß sie verantwortlich erzählt werden kann.«80

75

Vgl. dazu J. Moltmann, Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre, München 21986, 105f.; 110f. 76 Indes heißt es bei Matthäus (3,17) in der 3. Person: Οὗτός ἐστιν ὁ υἱός μου ὁ ἀγαπητός, ἐν ᾧ εὐδόκησα. Nichtsdestotrotz ist die Konstellation auch dort gleichsam als proto-trinitarisch zu bezeichnen. Vgl. Eckstein, Anfänge, 106ff.; P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments Bd. 1. Grundlegung: Von Jesus zu Paulus, Göttingen 21997, 63f. 77 Vgl. Eckstein, Anfänge, 85–113. Schnelle (Theologie, 672) konstatiert freilich unumwunden: »Das joh. Denken ist trinitarisches Denken!« Im Blick auf Paulus bemerkt U. Schnelle (Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003, 562): »Er vertritt zweifelsohne keine in ontologischen Kategorien denkende und am Personbegriff fixierte Trinitätslehre, allerdings finden sich Wendungen und Vorstellungen, die ansatzweise das Verhältnis bestimmen.« Hervorhebung im Original. Trinitarisches Denken im Johannesevangelium identifizieren fernerhin: M. Theobald, Gott, Logos und Pneuma. »Trinitarische« Rede von Gott im Johannesevangelium, in: H.-J. Klauck (Hg.), Monotheismus und Christologie, QD 138, Freiburg i.Br. 1992, 41–87; U. Wilckens, Gott, der Drei-Eine. Zur Trinitätstheologie der johanneischen Schriften, in: ders., Der Sohn Gottes und seine Gemeinde, FRLANT 200, Göttingen 2003, 9–28; U. Schnelle, Trinitarisches Denken im Johannesevangelium, in: M. Labahn u.a. (Hg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium. FS Johannes Beutler, Paderborn 2003, 367–386. Vgl. auch die hermeneutischen Überlegungen von C.C. Black, Trinity and Exegesis, Pro Ecclesia 19 (2010), 151–180. 78 Vgl. Schwöbel, Gott, 272. 79 Kraus, Systematische Theologie, 74. 80 E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 41982, 472. Ähnlich Schwöbel, Gott. 33: »Die Antwort auf die Frage nach der Identität Gottes ist […] für den christlichen Glauben eine dreifache und keine einfache. Die beiden wichtigsten Weisen der Bestimmung von Identität, der identifizierende Eigenname und die identitätsbeschreibenden Geschichten, die von Gott erzählt werden müssen, sind, weil sie die Identität Gottes des christlichen Glaubens bestimmen, bleibende Bestimmungselemente des christlichen Glaubens«.

Plädoyer für eine Christologie in trinitarischer Dimensionalität

119

Auch Dämonenaustreibung und Geistgeburt werden als relationales Geschehen zwischen Vater, Sohn und Geist expliziert. Dies lässt sich auch im Blick auf Röm 8,11 festhalten, wenn dort vom Geist dessen die Rede ist, der Jesus von den Toten auferweckt hat.81 Für die Entdeckung trinitätstheologisch interpretierbarer Strukturen sind aber wohl die biblischen Erzählungen didaktisch am besten geeignet. Dies ist insofern nicht weiter verwunderlich, als dass die grundlegende Funktion der Erzählung in der Relationierung besteht.82 Stärker als Kraus83 hat Moltmann die systematisch-theologische Bedeutung dieser Zusammenhänge erkannt. So betont er etwa, dass die Geschichte Jesu »im Kern eine ›trinitarische Geschichte Gottes‹«84 ist, »die trinitarische Geschichte des Vaters, des Sohnes und des Geistes«.85 Treffend hebt Moltmann hervor: »Die Mehrdimensionalität dieser Geschichte Jesu wird verdeckt, wenn eindimensional nur von Jesus und Gott und Gott und Jesus gesprochen wird.«86 Moltmann projektiert eine »trinitarische Christologie, für die das Sein Jesu Christi von vornherein ein Sein-in-Beziehungen [ist] und sein Wirken von Anfang an in Wechselwirkungen besteht.«87 Ob man dabei Jesus als 2. Person der Trinität identifiziert – wie es Moltmann nahe legt88 – oder nur den Logos, wäre zu klären. Wichtig scheint in jedem Fall die Einbettung in das trinitarische Beziehungsgefüge zu sein. Die Frage, wer Jesus ist, wäre demzufolge nicht unter Absehung von den innertrinitarischen Relationen zu beantworten.

81

Vgl. K. Barth, KD IV/2, 363. So auch Schnelle, Theologie, 669. 83 Kraus (Systematische Theologie, 73) kann lediglich davon sprechen, dass die Trinitätslehre »auf die trinitarischen Implikationen der biblischen Geschichte« verweist. Die relationalen Strukturen aber werden seinen Ausführungen nicht hinreichend zugrunde gelegt. Immerhin kann Kraus (a.a.O., 77) Augustin dafür loben, dass er die starren metaphysischen Aussagen der Trinitätslehre »durch die Relationenlehre dynamisiert«. Hervorhebung im Original. 84 Moltmann, Weg, 93. Vgl. ders., Die trinitarische Geschichte Gottes, in: ders., Zukunft der Schöpfung, München 1977, 89–104. 85 Moltmann, Weg, 90. Hervorhebung im Original. 86 A.a.O., 93. 87 A.a.O., 94. 88 Vgl. R.W. Jenson, Jesus in the Trinity, Pro Ecclesia 8/3 (1999), (308–318) 318: »Jesus is really Lord, because he is one of the Trinity; and that is our salvation.« B.L. McCormack (Orthodox and Modern. Studies in the Theology of Karl Barth, Grand Rapids 2008, 223f.) macht im Blick auf die Barth’sche Versöhnungslehre geltend, dass die zweite Person der Trinität einen Namen hat und zwar den Namen Jesus Christus. 82

120

Der geistgesalbte Christus

5. Verzicht auf eine Zweinaturenlehre? 5.1 Kraus’ Verzichtsforderung Im Sinne dieses Sein-in-Beziehung kann und sollte meines Erachtens nun auch die von Kraus scharf kritisierte Zweinaturenlehre expliziert werden. Seine These, wonach »[d]as christologische Bekenntnis und Dogma in die philosophische Sprache einzementiert ist und darüber die hebräisch-alttestamentlichen Wurzeln der Christologie vergessen und verleugnet hat«,89 wendet sich explizit gegen das »Schema der Zwei-Naturen-Lehre«.90 Sie beruhe auf einem abzuweisenden »metaphysischen Ansatz, der die Inkarnation als ein ontisch-physisches Ereignis auffasst«.91 Die Bekenntnis-Aussagen über Jesus Christus als »wahren Gott« und »wahren Menschen« sei in das Schema eines metaphysischen Dualismus der hellenistischen Philosophie geraten.92 Danach würden zwei verschiedene, substanzhaft gedachte Welten einander gegenüber gestellt: »die untere und die obere, die natürliche und die übernatürliche, die physische und die geistige Welt.«93 Einen solchen metaphysischen Ansatz kontrastiert Kraus mit dem alttestamentlichen Verständnis von Gottessohnschaft: »Als ›Sohn Gottes‹ wird der Gesalbte Jahwes im Alten Testament ausdrücklich nicht als ›natürlicher‹ Gottessohn verstanden, sondern als der Erwählte und auf die Seite Gottes Gestellte.«94 Für die eigene Geistchristologie nimmt Kraus hingegen in Anspruch: »[D]ie herausgestellte pneumatologische Fassung des Sohn/υἱός-Titels [schließt] jede Möglichkeit aus, eine metaphysisch-mythologische Auffassung vom ›Gottessohn‹, vom ›göttlichen Sohn‹ aufkommen zu lassen.«95

5.2 Kritische Rückfragen an Kraus Grundsätzlich wird man im Blick auf die permanente Abgrenzungsbewegung von Kraus zur Metaphysik hin zurückfragen müssen, ob er das Verhältnis zwischen Theologie und Metaphysik wirklich hinreichend differenziert und sachgemäß darstellt, wenn er ausschließlich nach dem Noli-me-tangere-Prinzip verfährt.96 Der Be89

Kraus, Christologie, 45. So auch ders., Rückkehr, 156f. Kraus, Systematische Theologie, 386. 91 Ebd. 92 F. Loofs (Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, hg. von K. Aland, Tübingen 7 1968, 70) hat indes darauf hingewiesen, dass die Wurzeln der Zweinaturenlehre im neutestamentlichen Schema Fleisch-Geist (Röm 1,3f.; vgl. auch Röm 8,3f.; 2Tim 2,8) liegen. So auch J.N.D. Kelly, Early Christian Doctrine, London 41968, 143; W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 21966, 116. 93 Kraus, Geist-Christologie, 104. So auch ders., Christologie, 44. 94 Kraus, Systematische Theologie, 386. 95 Kraus, Geist-Christologie, 107. 96 Man wird wohl eher sagen können: Theologie steht zur Metaphysik nicht im Verhältnis abstrakter Negation, bei der – wie G.W.F. Hegel (vgl. Enzyklopädie der philosophischen 90

Verzicht auf eine Zweinaturenlehre?

121

griff »Substanzmetaphysik« bleibt bei ihm ein Schlagwort, zumal Kraus auch keine konkrete philosophiegeschichtliche Zuordnung etwa zur sog. Zwei-Welten-Theorie der Ideenlehre Platons oder zum aristotelischen Schichtenbau der Welt trifft. Zudem neigt Kraus dazu, Altes Testament und Alte Kirche, Athen und Jerusalem ausschließlich zu kontrastieren. Diesbezüglich wird man kritisch zurückfragen müssen, ob er den Einfluss, den vor allem jüdische Weisheitstheologie und Logosspekulation auf die Entstehung der Präexistenzchristologie und das christologische Dogma hatte, nicht verkennt.97 Die weisheitliche Tradition droht bei Kraus in diesem Zusammenhang außer Acht gelassen zu werden. Es wäre aber zu fragen, ob und inwiefern altkirchliche Verfasser die neutestamentlichen (vor allem hymnischen) Texte, in denen die Rolle Christi als die des präexistenten Schöpfungsmittlers (Joh 1,1–3; 1Kor 8,6; Kol 1,15–17; Hebr 1,2f.)98 beschrieben wird, im Sinne »einer Christianisierung der biblisch-frühjüdischen Weisheitsvorstellungen«99 (vgl. Spr 8,22–31; Sir 24,3–10; Weish 7,22–30)100 verstanden haben. Kraus steht meines Erachtens in der Gefahr, das Alte Testament als Wurzel der Christologie ausschließlich in Kategorien des Messianischen zu fassen und damit weite Traditionen des Alten Testaments zu nivellieren.101 Wer erst im Blick auf das zweite Jahrhundert mit Harnack von einer nachträglichen Hellenisierung und Verfremdung des jüdisch-christlichen Glaubens spricht, droht zu verkennen, dass Wissenschaften im Grundrisse [1830]. Teil I: Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen, Theorie-Werkausgabe 8, Frankfurt a.M. 1970, 172–176 [§81]) hervorhebt – das Negierte nicht mit der Negation beseitigt, sondern in der das Negierte in der Negation bewahrt wird, um im Modus der Umformung wieder aufzugehen bzw. hinaufgehoben zu werden. Christliche Theologie – so hat H.-G. Geyer (Metaphysik als kritische Aufgabe der Theologie, in: ders., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. von H.Th. Goebel u.a., Tübingen 2003, 7–21, 7f.), der verstorbene Theologe und Freund von Kraus, zu bedenken gegeben – geschieht im Denkraum der Metaphysik, aber sie lebt und arbeitet nicht unter den Bedingungen dieses Raumes, sondern ihren eigenen Bedingungen. Und eigene Bedingungen sind ihr insofern vorgegeben, als dass sie der Dynamik ihres Gegenstandes folgt. 97 So im Anschluss an den norwegischen Patristiker Oskar Skarsaune H. Hoping, Einführung in die Christologie, Darmstadt 2004, 154. 98 Vgl. M. Hofheinz, Metaphysische Spekulation? Dogmatische Erwägungen zur Lehre von der Schöpfungsmittlerschaft Christi angesichts neuzeitlicher Einwände, FZPhTh 56 (2009), 423–440. 99 O. Skarsaune, Altkirchliche Christologie – jüdisch/unjüdisch?, EvTh 59 (1999), (267– 285) 281. 100 Vgl. H. Gese, Die Weisheit, der Menschensohn und die Ursprünge der Christologie als konsequente Entfaltung der biblischen Theologie, in: ders., Alttestamentliche Studien, Tübingen 1991, 218–248; M. Hengel, Der Sohn Gottes, in: ders., Studien zur Christologie. Kleine Schriften IV, hg. von C.-J. Thornton, WUNT 201, Tübingen 2006, (74–145) 110– 113; Eckstein, Anfänge, 93f. 101 Kraus (Geist-Christologie, 107) formuliert bezeichnenderweise konjunktivisch: »Aber auch […] wären alttestamentlich-jüdische Vorgegebenheiten zu entfalten, z.B. in der Frage nach der Präexistenz der Weisheit/σοφία und der Geschichte des Zusammenwachsens oder Sich-aufeinander-Beziehens von λόγος (Wort), σοφία (Weisheit) und υἱός (Sohn).« Vgl. ders., Rückkehr, 167; ders., Theologische Religionskritik, NBST 2, Neukirchen-Vluyn 1982, 234f.

122

Der geistgesalbte Christus

das antike griechische Denken zu Lebzeiten Jesu längst weite Teile des Judentums durchdrungen hatte.102 Aber selbst wenn man sich ausschließlich an das Messianische hält, wird man berücksichtigen müssen, dass »das messianische Element […] eine reichere Wirkungsgeschichte in der altkirchlichen Christologie [hatte; M.H.] als oft angenommen wird«.103 Der norwegische Patristiker Oskar Skarsaune hat dies etwa am Beispiel Justins des Märtyrers und der Ausprägung des Motivs der zwei Parusien gezeigt, die sich auch bei Irenäus und Tertullian104 wiederfinden lässt. Ob die Zweinaturenlehre die Verständigungsmöglichkeiten mit dem Judentum wirklich zerstört hat, scheint mir fraglich zu sein. So macht etwa Josef Wohlmuth darauf aufmerksam, dass das »Unvermischt« (ἀσυγχύτως) des Chalcedonense die Transzendenz Gottes und damit »de[n] jüdischen Stachel in der Christologie«105 bewahrt. Von reformierter Seite könnte man ergänzend hinzufügen, dass exakt dies der Intention des Extra-Calvinisticums entspricht.106 Auch wird man fragen müssen, ob die Geistchristologie von Kraus das für Juden Anstößige denn tatsächlich beseitigt. Wie denkt man jüdischerseits darüber? Der jüdische Religionsphilosoph Michael Wyschogrod gibt zu bedenken, dass es aus seiner Sicht natürlich am einfachsten wäre, eine hohe Christologie aufzugeben und von einem »besonderen Menschen« zu sprechen, »durch den Gottes Geist zur Menschheit redet, der aber nicht qualitativ von seinen prophetischen Vorläufern unterschieden ist«.107 Diese qualitative Differenz fallen zu lassen, soweit möchte Kraus aber nicht gehen. Was wäre also mit der Kraus’schen Geistchristologie wirklich gewonnen? Wyschogrod macht deutlich, dass er die Verabschiedung einer hohen Christologie von den Christinnen und Christen weder verlangen will, noch verlangen kann, da diese für viele von ihnen das Zentrum des christlichen Glaubens darstellt.108 102

Zur komplexen Beeinflussung von Hellenismus und palästinischem Judentum vgl. M. Hengel, Judentum und Hellenismus, WUNT 10, Tübingen 31988. 103 Skarsaune, Christologie, 267. Skarsaune (ebd.) bemerkt treffend: »Sowohl den Gnostikern als auch Markion gegenüber hätte es für die kirchliche Theologie eine Vereinfachung bedeutet, wenn man das alttestamentlich-jüdische Element in der Christologie hätte ausscheiden können. Es ist signifikant, daß dies nicht geschah.« 104 Vgl. a.a.O., 272ff. Vgl. Skarsaune, In the Shadow of the Temple. Jewish Influences on Early Christianity, Downers Grove 2002, 259–276; 301–338. 105 J. Wohlmuth, Die Tora spricht die Sprache der Menschen. Theologische Aufsätze und Meditationen zur Beziehung von Judentum und Christentum, Paderborn u.a. 2002, 182. 106 Vgl. E. Busch, Art. Extra Calvinisticum, Lexikon für Theologie und Gemeinde 1 (1992), (590–591) 591: »Die Reformierten sahen dort [in der lutherischen Interpretation der Inkarnation als Hineingenommensein des Fleisches in das göttliche Wesen; M.H.] die Gefahr der Vergottung des menschlichen ›Fleisches‹ drohen.« 107 M. Wyschogrod, Christologie ohne Antijudaismus?, KuI 7 (1992), (6–9) 9. 108 Der jüdische Historiker G.B. Ginzel (Die Bergpredigt. Jüdisches und christliches Glaubensdokument, Heidelberg 1985, 16) bemerkt: »Ich gehöre zu den Juden, die vor einer Aufweichung des christologischen Bekenntnisses Angst haben. Denn was bleibt Christen, die Christus abschaffen wollen? Das Ureigenste, das Spezifikum ist nun einmal die Christo-

Verzicht auf eine Zweinaturenlehre?

123

Sehr weise und realistisch scheint mir zu sein, was vier jüdische Gelehrte aus den USA in ihrer vielbeachteten Erklärung »Dabru Emet« aus dem Jahr 2000 gerade im Hinblick auf wechselseitige Adaptionsforderungen bezüglich der Christologie bemerken: »Christen kennen und dienen Gott durch Jesus Christus und die christliche Tradition. Juden kennen und dienen Gott durch die Tora und die jüdische Tradition. […] So wie Juden die Treue der Christen gegenüber ihrer Offenbarung anerkennen, so erwarten auch wir von Christen, dass sie unsere Treue unserer Offenbarung gegenüber respektieren. […] Der nach menschlichem Ermessen unüberwindbare Unterschied zwischen Juden und Christen wird nicht eher ausgeräumt werden, bis Gott die gesamte Welt erlösen wird, wie es die Schrift prophezeit.«109

Peter Ochs, einer der Unterzeichner der Erklärung, stellt fest: »Heutzutage jedoch […] müssen Unterschiede kein Hindernis mehr sein. Das, was zwei Menschen voneinander unterscheidet, wird zur Bereicherung, sobald diese Menschen zueinander in Beziehung treten: Unterschiedlichkeit ist die Basis von Beziehungen.«110

5.3 Zweinaturenlehre im Rahmen einer Christologie in trinitarischer Dimensionalität Man kann fragen, ob im Gefälle und auf der Linie der geforderten Hermeneutik für die Christologie eine Wendung von dem, was Kraus Substanzmetaphysik nennt, zu einer »Metaphysik der Relationen« liegt,111 wie sie zuletzt Christoph Schwöbel

logie, die uns zugleich trennt. Nach meiner Erfahrung können sich nur in ihrem jeweiligen Glauben gefestigte Menschen aufeinander zu bewegen.« 109 Zit. nach R. Kampling / M. Weinrich (Hg.), Dabru emet – redet Wahrheit. Eine jüdische Herausforderung zum Dialog mit den Christen, Gütersloh 2003, (9–12) 11. Dort z.T. kursiv. Die jüdische Dialogpartnerin E. Brocke (in: Moderamen des Reformierten Bundes, Juden, 65f.) wandte sich in ihrer Ansprache auf der Hauptversammlung des Reformierten Bundes am 11. Mai 1990 explizit gegen die »Alternativen Leitsätze«. Grundsätzlich stellte sie jedoch fest: »Es gibt zwischen Christen und Juden grundlegende Unterschiede, die nicht überwunden oder wegdiskutiert werden können und auch es nicht sollten. […] Vielmehr müssen wir beiderseits lernen, diese bestehenden grundlegenden Unterschiede auszuhalten, und erkennen, daß nicht alles was uns unterscheidet, uns notwendigerweise auch trennen muß!« Dort z.T. kursiv. 110 P. Ochs, Dreifaltigkeit und Judentum, in: R. Weth (Hg.), Der lebendige Gott. Auf den Spuren neueren trinitarischen Denkens, Neukirchen-Vluyn 2005, (75–84) 75. 111 Arius (nach Urkunde 6,4: Glaubensbekenntnis des Arius und seiner Genossen an Alexander von Alexandrien, in: H.-G. Opitz [Hg.], Athanasius Werke III/1. Urkunden zur Geschichte des arianischen Streites 318–328, Berlin/Leipzig 1934, 13) bemerkt, dass der Sohn »nicht mit dem Vater zusammen das Sein [hat], wie einige im Blick auf die [aristotelische] Kategorie der Relation (τὰ πρός τι) behaupten«. Zit. nach KTGQ I, 133.

124

Der geistgesalbte Christus

gefordert hat.112 Man wird sich aber darüber klar sein müssen, dass man so oder so den Raum der Metaphysik nicht verlässt. Theologisch geht es freilich um mehr als einen inneraristotelischen Kategorienwechsel von der οὐσία zum πρός τι,113 nämlich um die Adäquanz biblischer Rede von Christus im Blick auf relationale Identitätsaussagen. Es geht darum, wie eine trinitätsbewusste Hermeneutik in ihrem Rückbezug auf das biblische Zeugnis im Raum der Metaphysik nach ihren eigenen Bedingungen am besten arbeiten kann. Dies betrifft insbesondere den Rückbezug auf biblische Erzählungen.114 Dieser bewegt sich selbst wohlgemerkt nicht im Genus der narratio, sondern argumentiert und reflektiert theoriebildend (nicht zuletzt auf diese Erzählungen hin): »Was in den Dogm[en] begrifflich geklärt ist [oder geklärt zu sein scheint], muss immer wieder neu aus der biblischen Vielfalt heraus erklärt werden.«115 Im Lichte biblischer Erzählungen kann man die Zweinaturenlehre mit Ernstpeter Maurer dahingehend plausibilisieren, dass es sich um »zwei Perspektiven auf die Geschichte Jesu Christi [handelt], die nicht zugleich ausgesagt werden können und doch nicht aus dem Gleichgewicht geraten dürfen, weil die Texte des Neuen Testaments sonst ihren Sinn verlieren«.116 Maurer kann bezüglich dieser doppelten Perspektivierung auch von der »schwierige[n] Gradwanderung zwischen Einheit und Unterscheidung der göttlichen und menschlichen ›Seite‹ in Jesus Christus«117 sprechen.118 Die göttliche Seite tritt in Jesu Anspruch, Sünden zu vergeben, in Erscheinung – etwa in der Geschichte vom Gichtbrüchigen (Mk 2,7; Lk 5,21; vgl. Mt 9,3). Die menschliche Seite wird in dem Gehorsam dem Vater gegenüber anschaulich – etwa in der Gethsemane-Perikope (vgl. Mk 14,36; Mt 26,39; Lk 22,42). An diesen Erzählungen kann man erkennen, dass – wenn es um die göttliche oder menschliche Seite Christi geht – der Vater oder der Vater und der Geist zugleich vorkommen.

112

Vgl. Schwöbel, Gott, 286. Vgl. Aristoteles, Metaphysik Δ, 1020b, 26. 114 Nach Schwöbel (Gott, 288) sollte man sich in Bezug auf begriffliche Rekonstruktionen, die Identitätsaussagen treffen, stets bewusst sein: »Die christologische Frage ›Wer ist Jesus Christus?‹ wird […] zunächst nicht durch abstrakte metaphysische Aussagen beantwortet, sondern durch das Erzählen einer Geschichte: Der Geschichte des Lebens, Todes und der Auferweckung Jesu Christi als dessen, auf den sich Gott der Vater durch den Geist als Sohn bezieht und der sich als Sohn durch den Geist auf Gott als Vater bezieht.« 115 Wüstenberg, Christologie, 66. So auch a.a.O., 82. 116 E. Maurer, Jesus Christus, GuL 19 (2004), (5–14) 5. 117 A.a.O., 6. 118 Treffend bemerkt D. Korsch, Jesus der Christus. Christologie als Beitrag zur Bildung eigenen Lebens, in: R. Englert / F. Schweitzer (Hg.), Jesus als Christus – im Religionsunterricht, Göttingen 2017, (60–69) 61: »Man muss von Jesus erzählen, um zu verstehen, was mit den ›Zwei Naturen‹ gemeint ist – man muss diese Erzählung aber auch in die Dimension von Gottheit und Menschheit einspannen oder darauf zulaufen lassen, wenn man recht von Jesus sprechen will.« 113

Zusammenfassung

125

So wie in den biblischen Erzählungen dann, wenn es um die menschliche oder göttliche Seite Christi geht, der Vater bzw. Vater und Geist zugleich präsent sind, so wird eine Zweinaturenlehre im Rahmen einer Christologie in trinitarischer Dimensionalität berücksichtigen, dass beide, sowohl Gottheit und Menschheit, durch die Beziehung des Sohnes zum Vater und zum Geist konstituiert sind. Recht verstanden geht es bei der Zweinaturenlehre um diese Beziehungsgefüge und nicht etwa um das Verhältnis von zwei Substanzen, einer göttlichen und einer menschlichen. Diese angedeutete relationale Explikation der Zweinaturenlehre im Sinne einer trinitätsbewussten Hermeneutik zeigt an, dass sowohl der von Kraus geforderte Verzicht auf die Zweinaturenlehre, als auch eine unkritische Wiederholung derselben kurzschlüssig ist. Vielmehr kommt es darauf an, die Aussageintention der Zweinaturenlehre herauszuarbeiten und sie zu reformulieren. Es ist ja bezeichnend, dass Kraus trotz strikter Ablehnung der Zweinaturenlehre doch strukturanaloge Aussagen zur chalcedonensischen Doppelformel (Θεὸν ἀληθῶς, καὶ ἄνθρωπον ἀληθῶς – »wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch«)119 trifft.120 Er spricht etwa vom »Geheimnis und Wunder der Identität und Nicht-Identität [sc. des Sohnes Gottes; M.H.] mit Gott«121 oder von Christus Jesus als dem »befreienden Gott« und dem »freien Menschen«.122 Nolens volens kehrt Kraus immer wieder zur Zweinaturenlehre zurück.123

6. Zusammenfassung Um Missverständnisse zu vermeiden: Es wird hier nicht einfach dafür plädiert, den Begriff »Geist-Christologie« zu streichen. Auch soll die Christologie nicht einfach als deckungsgleich in Trinitätstheologie aufgelöst werden oder zugunsten derselben wegfallen. Vielmehr geht es darum, der Christologie eine Hermeneutik zugrunde zu legen, die sie in einen trinitätstheologischen Denkzusammenhang einordnet. Dieses Postulat besagt in seinem Kern: Die Union von Gottheit und Menschheit Christi als eine Person kann so verstanden werden, dass Gottheit und Menschheit Christi durch die Beziehung des Sohnes (bzw. Logos) zum Vater und zum Geist konstituiert sind. Die Identität Jesu Christi, nach der die Christologie fragt, ist mithin als relationale Identität zu verstehen.

119

DH 301. Dies hat auch Vasel (Christologie, 49f.) zutreffend beobachtet. 121 Kraus, Systematische Theologie, 372. 122 Vgl. a.a.O., VIIf.; 369; 386. 123 Vgl. H. Reichel, Das christologische Dogma? Die bleibende Ökumenevergessenheit in der Diskussion um Chalcedon, MD 65 (1/2014), (92–96) 92. 120

126

Der geistgesalbte Christus

Die geistchristologische Kontroverse, sofern sie im Blick auf den Modus der Gegenwart Gottes in Christus124 bzw. das »Wie?« der Präsenz Gottes in ihm125 um die Alternative zwischen Inkarnations- oder Inspirationschristologie kreist, lässt sich »als Resultat einer unvollständigen Beschreibung der trinitarischen Dimensio­nalität des Handelns Gottes«126 analysieren. Es geht nicht darum, einen inspiratorischen gegen einen inkarnatorischen Typ christologisch auszuspielen, sondern darum, beide trinitarisch zu explizieren. Das heißt in Bezug auf die Inkarnationschristologie, dass die Bedeutung des Geistes im Ereignis der Menschwerdung aus trinitätstheologischen Gründen nicht verkannt werden darf. Daniel L. Migliore betont: »Auch wenn es das Wort ist, das Fleisch wird, so ist die Menschwerdung […] ein trinitarisches Geschehen, und als solches betrifft sie nicht nur die Entscheidung des Sohnes und das Wohlgefallen des Vaters, sondern auch die Gegenwart und Machtwirkung des Heiligen Geistes.«127 Einen pneumatologischen Akzent gesetzt zu haben, darin besteht die particula veri des geistchristologischen Plädoyers von Kraus. Dieser selbst hat es freilich aus den genannten Gründen nicht hinreichend eingelöst. Es bleibt bei ihm vieles unklar und fragwürdig, nicht zuletzt im Hinblick auf die Produktivität seines Beitrages für den jüdisch-christlichen Dialog. Von der Kraus’schen Position einmal ganz abgesehen, kann man gleichwohl festhalten, dass die Bedeutung des Werkes des Geistes im Leben Jesu Christi eine zu Unrecht vernachlässigte trinitarische Relation Gottes und Dimension der Rede von ihm ist. Insofern stellt eine Geistchristologie ein berechtigtes Anliegen dar, das der Begriff selbst, sofern er binitarisch anmutet, allerdings zu diskreditieren droht, zumindest aber verunklart. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Vorzug einer Geistchristologie besteht darin, dass sie den Exklusivismus der Reduktion christologischer Reflexion auf die Vater-Sohn-Relation aufhebt. Salopp formuliert: »Geistchristologie at its best« bedeutet eine trinitarische Öffnung. Sie reicht allerdings noch nicht aus, um die Christologie »in die beziehungsreiche Fülle der trinitarischen Christologie aufzuheben«.128 Demzufolge wird man einem geistchristologischen Exklusivismus eine klare Absage erteilen müssen, der besagt, dass man »[d]ie Frage nach der Person Jesu Christi […] nur in der Perspektive des Hl. Geistes«129 beantworten kann. Eine trinitätsbewusste Hermeneutik der Christologie hält hingegen fest, dass man eine solche Reduktion auf eine Person oder zwei Personen der Trinität nicht vornehmen, sondern vielmehr die trinitarischen Relationen insgesamt berücksichtigen sollte. Aus diesem Postulat lässt sich eine Minimalbedingung für den christologischen Begriffsgebrauch ableiten: Wenn man den Begriff »Geistchristologie« meint 124

Vgl. Pannenberg, Grundzüge, 113. Vgl. Ritschl / Hailer, Worte, 89. 126 Schwöbel, Gott, 41. 127 Migliore, Vinculum, 144. In Paraphrase von K. Barth, KD IV/2, 103. Vgl. G. Hunsin­ ger, Disruptive Grace. Studies in the Theology of Karl Barth, Grand Rapids 2000, 151; 160. 128 Moltmann, Weg, 93. 129 Press, Jesus, 189. Vgl. a.a.O., V. 125

Zusammenfassung

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gebrauchen zu müssen, dann sollte man ihn so gebrauchen, dass er pars pro toto für die gesamttrinitarische Dimensionalität der Christologie steht. Diese Dimensionalität in Auseinandersetzung mit der Geistchristologie von Kraus aufzuweisen, dazu mögen die dargelegten trinitätstheologischen Erwägungen beigetragen haben.

IV. Geistchristologie im Heidelberger? Bemerkungen zu einer umstrittenen These

In memoriam Pfr.i.R. Dr. h.c. Ulrich Weiß (1941–2011)

1. Einleitung: Die umstrittene These von H.-J. Kraus Die These, dass sich im Heidelberger Katechismus Ansätze zu einer Geistchristologie manifestieren, stammt von niemandem geringeren als dem ehemaligen Moderator des reformierten Bundes Hans-Joachim Kraus (1918–2000). Das ehrenwerte Interesse von Kraus galt einer gesamtbiblischen Theologie, die die Kontinuität der beiden Testamente zu betonen vermag. Um diese zu verdeutlichen löst er gleichsam den Eigennamen Jesus Christus auf. Gegenüber einem allzu selbstverständlichen, weil sich verselbständigenden Sprachgebrauch kehrt er zur Messiasprädikation »Christus Jesus« zurück. Kraus hat einen eigenen geistchristologischen, messianisch redimensionierten Ansatz entfaltet, demzufolge Christus Jesus als geisterfüllter Messias verstanden werden will. Es ist die Salbung mit dem Heiligen Geist, die Jesus zum Christus (Messias) macht. Kraus betont: »Die Christologie des Heiligen Geistes […] lehrt: Der EINE Gott, der Gott Israels, hat Jesus von Nazareth mit dem Heiligen Geist gesalbt. Ohne Zweifel wird damit die Subordination, d.h. die Unterordnung des Sohnes unter die Macht des Vaters gelehrt.«1 Um seine eigene geistchristologische Konzeption nicht nur biblisch-theologisch zu untermauern, sondern sie als »traditionell« auszuweisen, d.h. als in der reformatorischen Tradition reformierter Lehrbildung implementiert, beruft sich Kraus neben Johannes Calvin2 (1509–1564) auch auf den Heidelberger Katechis1

H.-J. Kraus, Eine Christologie des Heiligen Geistes, in: B. Klappert u.a. (Hg.), Jesusbekenntnis und Christusnachfolge, München 1992, (37–46) 46. 2 Vgl. Kraus, Christologie, 45; ders., Die Geist-Christologie im christlich-jüdischen Dialog, in: E. Stegemann (Hg.), Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen, Stuttgart u.a. 1993, (103–110) 105; 108; H.-J. Kraus, Rückkehr zu Israel. Beiträge zum christlich-jüdischen Dialog, Neukirchen-Vluyn 1991, 158; ders., Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 1983, 362; 372f.

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Geistchristologie im Heidelberger?

mus.3 Kraus zufolge stellt die von Calvin und im Heidelberger Katechismus in der Doppelfrage 31 und 32 entfaltete Drei-Ämter-Lehre mit ihrer Aussage, dass »Christus […] der mit dem Heiligen Geist zum Propheten, Hohepriester und König gesalbte Messias des Gottes Israels«4 ist, eine Alternative »zur philosophisch inspirierten Zwei-Naturen-Lehre«5 dar. So lautet die prononcierte These von Kraus. Wie legt nun Kraus diese Doppelfrage aus? Ich zitiere: »Die Pneuma-Christologie versteht Jesus, den Christus, als Mittler des Geistes. Hinzuweisen ist auf die triplex-munus-Lehre […], die ja nicht darin endet, daß Jesus das munus oder officium des Propheten, Priesters und Königs in sich vereinigt und ›erfüllt‹ hat, sondern die vielmehr – so wegweisend Calvin – die pro-nobis-[›für-uns‹)-Struktur, das ›Christus pro nobis‹, darin zum Austrag bringt, daß der Christus Jesus als der Mittler des Geistes den Seinen Partizipation an seinem eigenen Chrisma (›Salbung‹) schenkt – Partizipation in der dreifachen Gestalt. So lehrt es auch im Anschluß an Calvin der Heidelberger Katechismus in den Fragen 31 und 32.«6

Stimmt das? Ich meine damit nicht die literarische Abhängigkeit des Heidelberger Katechismus in den Fragen 31 und 32 von Calvins Genfer Katechismus. Dass diese besteht, ist seit langem bekannt und verwundert nicht, zumal Zacharias Ursinus (1534–1583) den Genfer Katechismus zusammen mit der Genfer Kirchenordnung und Liturgie ins Deutsche übersetzt hat.7 Die strittige Frage, der ich im Folgenden nachgehen möchte, lautet vielmehr: Manifestiert sich im Heidelberger Katechismus tatsächlich eine Geistchristologie? Die Ausgangsfrage dieses Kurzvortrages lautet mithin: Hat Kraus mit seiner These Recht? Es kann also hier und heute nur um eine Beurteilung der theologiegeschichtlichen Legitimität der These von Kraus gehen, nicht aber um eine theologische Auseinandersetzung mit seiner christologischen Konzeption und etwa die Frage nach der Berechtigung und Notwendigkeit

3

Im Blick auf Calvin hat sich vor allem Ch. Link (Der Horizont der Pneumatologie bei Calvin und Karl Barth [1994], in: ders., Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen-Vluyn 2009, 171–195) der These von Kraus angeschlossen. Diese Auseinandersetzung mit Link kann hier nicht geführt werden. Vgl. aber D. Schönberger, Gemeinschaft mit Christus. Eine komparative Untersuchung der Heiligungskonzeptionen Johannes Calvins, John Wesleys und Karl Barths, FRTH 2, Neukirchen-Vluyn 2014, 172–174. 4 Kraus, Christologie, 45. 5 Ebd. 6 Kraus, Geist-Christologie, 108. 7 So J.F.G. Goeters, Zur Geschichte des Katechismus, in: Heidelberger Katechismus. Revidierte Ausgabe 1997, hg. von der Evangelisch-reformierten Kirche, von der Lippischen Landeskirche und vom Reformierten Bund, Neukirchen-Vluyn 52012, (83–95) 88.

Der christologische Argumentationszusammenhang

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einer Kritik8 der klassischen Zweinaturenlehre.9 Diese Auseinandersetzung habe ich bereits an anderer Stelle geführt.10

2. Der christologische Argumentationszusammenhang des Heidelberger Katechismus: Drei-Ämter-Lehre (Frage 31 und 32) im Kontext der Lehre von der Erlösung Natürlich muss man Kraus zugestehen, dass in Frage 31 von Jesus Christus nicht einfach nur als »Messias«, sprich: »Gesalbter«, geredet wird, sondern diese Salbung auf den Heiligen Geist zurückgeführt wird: »Er [Jesus Christus] ist von Gott dem Vater eingesetzt und mit dem Heiligen Geist gesalbt zu unserem obersten Propheten und Lehrer.« An dieser Salbung partizipieren Frage 32 zufolge die Glieder Christi.11 Die christologische Aussage von der Geistsalbung Jesu in Frage 31 wird in Frage 32 ekklesiologisch aufgegriffen.12 Die Geistsalbung gehört gemäß Frage 31 zur Messianität Jesu, freilich jedoch nicht in dem Sinne, dass die Geistsalbung zum Interpretament der Einsetzung Jesu wird, beide also zusammenfallen bzw. koinzidieren. Bei Lichte betrachtet, stellt sich heraus, dass in Frage 31 gar nicht von der »Einsetzung« des Messias die Rede ist, sondern davon, dass Gott, der Vater, den Messias verordnet: »Daß er [der Gesalbte; M.H.] von Gott dem Vater verordnet, und mit dem heiligen Geist gesalbet ist«,13 so heißt es in der Urfassung. Zum Heil der Welt verordnet der Deus medicus gleichsam als Arznei bzw. Therapie den Gesalbten. Hinsichtlich der Salbung verweist der Heidelberger Katechismus nun keineswegs auf die Perikope von der Taufe Jesu, sondern lediglich auf Hebr 8

J. Rohls (Mensch versus Gott. Die Entzauberung der Christologie, US 57 [2002], 46– 60) zeichnet die Theologiegeschichte der Neuzeit in puncto Christologie als Geschichte der Verabschiedung von der Zweinaturenlehre nach. 9 Zur Kritik vgl. etwa W. Kreck, Die Versöhnungslehre Karl Barths als kritische Anfrage an den Heidelberger Katechismus, Theologische Beilage 2/89 zur RKZ, (2–7) 3f. 10 M. Hofheinz, Der geistgesalbte Christus. Trinitätstheologische Erwägungen zur umstrittenen Geistchristologie, EvTh 72 (2012), 337–356. 11 Zur Drei-Ämter-Lehre vgl. M. Freudenberg, Reformierte Theologie. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 2011, 173–189; G. Plasger, »Mittler und Erlöser« Christus. Die geglaubte Realität der göttlichen Barmherzigkeit, in: M. Heimbucher u.a. (Hg.), Zugänge zum Heidelberger Katechismus. Geschichten – Themen – Unterricht. Ein Handbuch für die Praxis mit Unterrichtsentwürfen auf CD-Rom, Neukirchen-Vluyn 2012, 127–134; M. Hofheinz, De munere prophetico – Variationen reformierter Auslegung des prophetischen Amtes. Zur theologiegeschichtlichen Entwicklung eines dogmatischen Topos vor der »Lessingzeit« (von Zwingli bis Lampe), in: ders. u.a. (Hg.), Calvins Erbe. Die Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, RTH 9, Göttingen 2011, 117–171. 12 Vgl. Hofheinz, De munere prophetico, 147–155. 13 Vgl. Reformierte Bekenntnisschriften Bd. II/2: 1562–1569, hg. von A. Mühling / P. Opitz, Neukirchen-Vluyn 2009, 183.

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1,9 und damit auf das Reflexionszitat aus Ps 45,7f., das der Verfasser des Hebräerbriefes auf den Sohn Gottes als Gesalbten bezieht, der als Gott (ὁ θεός) prädiziert wird (Hebr 1,9b = Ps 44,8b LXX). Statt einer Installationsterminologie wird also in Frage 31 des Heidelberger Katechismus eine genuin soteriologische Begrifflichkeit gebraucht. Leider haben die für den Jugendunterricht in evangelischen Gemeinden vereinfachte Ausgabe des Heidelberger Katechismus von 1961 und die Revidierte Ausgabe von 1997 durch die entsprechende Substitution (»eingesetzt« statt »verordnet«) eine sinnverändernde semantische Umprägung vorgenommen.14 Kehrt man im Sinne einer m.E. nötigen Revision der Revision zum Urtext zurück, erübrigt sich auch die ermüdende Diskussion, ob Christus zunächst vom Vater eingesetzt und dann anschließend mit dem Heiligen Geist gesalbt wurde oder ob die Einsetzung uno actu durch die und mit der Geistsalbung erfolgte. Geklärt, d.h. negativ beantwortet ist damit auch die Frage, ob sich Frage 31 zumindest ansatzweise bzw. der Tendenz nach ein geistvermittelter Adoptianismus manifestiert. Von diesem grenzt sich Kraus nur recht halbherzig ab, indem er zwar die Geisttaufe, nicht aber die Geistgeburt als Adoptionsakt verwirft.15

2.1 Methodische Vorbemerkung Im Blick auf die Krausʼsche Interpretation der Fragen 31 und 32 fällt auf, dass er diese Doppelfrage allein diachron betrachtet. In meiner Auseinandersetzung mit dieser These von Kraus möchte ich hingegen methodisch so vorgehen, dass ich das tue, was Kraus unterlässt: Ich möchte synchron verfahren und den Kontext betrachten, in dem die Fragen 31 und 32 des Heidelberger Katechismus platziert sind. Denn wenn sich im Heidelberger Katechismus eine Geistchristologie ausprägen sollte, würde dies den gesamten Katechismus betreffen. Die Doppelfrage 31 und 32 soll also nicht als isolierter Mikrokontext betrachtet werden, sondern im Makrokontext der sonstigen christologischen und pneumatologischen Aussagen, die sich im Heidelberger Katechismus finden.

14

Vgl. Der Heidelberger Katechismus. Für den Jugendunterricht in evangelischen Gemeinden vereinfachte Ausgabe (1961), hg. vom Moderamen des Reformierten Bundes, Neukirchen-Vluyn 61975, 27; Der Heidelberger Katechismus. Revidierte Ausgabe 1997, hg. von der Evangelisch-reformierten Kirche u.a., Neukirchen-Vluyn 52012, 26. 15 Kraus, Christologie, 41; ders., Geist-Christologie, 108; ders., Rückkehr, 154; ders., Theologie, 360.

Der christologische Argumentationszusammenhang

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2.2 Die Mittlerchristologie in Fragen 12–19 des Heidelberger Katechismus Bevor die Lehre vom dreifachen Amt entfaltet wird, hat der Heidelberger Katechismus bereits zu Beginn seines zweiten Teils »Von des Menschen Erlösung« in den Fragen 12–19 seine Mittler-Christologie16 entfaltet. In diesen Fragen manifestiert sich das Bekenntnis zur Gottheit Christi im Rahmen der Zweinaturenlehre. So heißt es in Frage 15: »Was für einen Mittler und Erlöser müssen wir denn suchen? Einen solchen, der wahrer und gerechter Mensch und doch stärker als alle Geschöpfe, also auch wahrer Gott ist.« Hier wird die Besonderheit Jesu Christi als »wahrer und gerechter Mensch« nicht etwa über seine Geistbegabung zum Ausdruck gebracht. Ein Hinweis auf die Geistbegabung findet sich hier nicht. Dementsprechend könnte sich eine der Krausʼschen These widersprechende argumentatio e silentio bereits darauf berufen. Der Heidelberger Katechismus vollzieht darüber hinaus indes eine eindeutige Identifikation Jesu Christi als »wahren Gott«, wobei er dieses Bekenntnis zur Gottheit Christi aus der Abgrenzung von dem Bereich des Geschöpflichen ableitet, wie die komparativische Rede »und doch stärker als alle Geschöpfe« in Frage 15 zeigt. In den anschließenden Fragen 16 und 17 wird diese Grundbestimmung im Sinne der Zweinaturenlehre aufgegriffen und soteriologisch expliziert. Zunächst in Frage 16 hinsichtlich der menschlichen Natur: Weil die Sünde von einem Menschen begangen wurde, kann auch nur ein Mensch für sie bezahlen, was aber allen Menschen unmöglich ist, da sie als Menschen zugleich Sünder sind; dann erfolgt in Frage 17 unter Bezugnahme auf die göttliche Natur die Präzisierung, dass dies nur einem Menschen möglich sei, der »zugleich wahrer Gott« ist. Schließlich erfolgt in Frage 18 die Zusammenfassung im Sinne einer Identifizierung des »Herr[n] Jesus Christus« als des Mittlers, der »zugleich wahrer Gott und ein wahrer, gerechter Mensch ist« und darum das Heilswerk für uns erbringen kann. In diesem von mir paraphrasierten theologischen Begründungszusammenhang zeigt sich ein Zweifaches: Zum einen wird insbesondere zu Beginn der Frage 17 mit der Betonung, dass nur ein Mensch, der zugleich wahrer Gott ist, die Erlösung vollbringen kann, die Pointe der neuchalcedonensischen17 Lehre von An-und Enhypostasie ansichtig.18 Es geht in Frage 17 um eine spezifische Konditionierung des Werkes der Erlösung durch die Person des Erlösers: Der Mensch Jesus als menschliches Individuum, d.h. abstrahiert von seiner Gottheit, scheitert an der Bedingung der Möglichkeit von Erlösung, nämlich der Sündlosigkeit, insofern es gar keinen Jesus im Sinne eines purus homo gibt. Die Lehre von der Anhypostasie 16

So G. Plasger, Die Mittler-Christologie des Heidelberger Katechismus oder: Die soteriologische Relevanz der Zwei-Naturen-Lehre, http://www.reformiert-info.de/239-0-159-2. html (abgerufen: 21.11.2017). 17 Vgl. G. Wenz, Chalcedon 451 – Wahrer Mensch und wahrer Gott, in: L. Mödl u.a. (Hg.), Das Wesen des Christentums, Münchener Theologische Forschungen 1, Göttingen 2003, 169–187. 18 Vgl. etwa Leontius, Adversus Nestorios II,13 (Migne PG 86,1561B).

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Geistchristologie im Heidelberger?

besagt genau dies: Die menschliche Natur hat keine eigene Hypostase. Oder positiv, nämlich hin zur Enhypostasielehre gewendet: »Nur als Gottessohn, aber eben als solcher, existiert Jesus Christus auch menschlich.«19 Nur als enhypóstatos, d.h. als Mensch, der zugleich Gott ist, kann Jesus Christus erlösen. Die menschliche Natur subsistiert nur, d.h. dass sie ohne Relation zur göttlichen Natur keine Existenz hat. Damit ist im Grunde genommen das Zweite bereits genannt, nämlich jene Pointierung, die theologiegeschichtlich unlösbar mit dem Namen Athanasius verbunden ist: Athanasius betont, dass der Kern des christlichen Glaubens, ja das Ganze der christlichen Heilsgewissheit auf dem Spiel steht, wenn die Gottheit Christi bestritten wird. Wenn Christus nur Geschöpf Gottes und nicht Gott wäre, dann hätte auch die Aussage keine Gültigkeit, dass Gott Mensch wurde. Wenn aber Gott nicht Mensch geworden wäre, dann wären auch wir nicht die Seinen. Nach dem berühmten, von Luther etwas abgewandelten Diktum des Athanasius gilt aber nun: »Denn er [der Logos Gottes] wurde Mensch, damit wir vergöttlicht würden.«20 An der Lehre von Christi Person hängt die von seinem Werk,21 an der Christologie die Soteriologie.22 Denn nur wenn uns in Christus Gott begegnet, kommt es nach Athanasius zur Teilhabe an Gott und zur Erlösung des Menschen.

2.3 Die Präexistenz Christi im Zusammenhang der Apostolikumsauslegung des Heidelberger Katechismus Auch im Blick auf die nach der Mittlerchristologie folgenden Ausführungen lässt der Heidelberger Katechismus an der Gottheit Christi keinen Zweifel aufkommen, wie bereits dessen Disposition verdeutlicht. Im weiteren Verlauf des zweiten Abschnitts (Fragen 12–85: »Von des Menschen Erlösung«) verhandelt der Heidelberger Katechismus den 2. Glaubensartikel (Fragen 29–52) im Rahmen seiner Auslegung des Apostolikums (Fragen 22–64) unter der bezeichnenden Überschrift »Von Gott dem Sohn«. Die einleitende Frage 29: »Warum wird der Sohn Gottes Jesus, das heißt Heiland genannt?«, die gleichsam das Portal zum geradezu überdimensionierten23 christologischen Abschnitt darstellt, veranschaulicht mit der Sequenz

19

K. Barth, KD IV/2, 100. Athanasius, Über die Menschwerdung des Logos, 54 (BKV 31,152; Migne PG 25,192B: »Αὐτὸς γὰρ ἐνηνθρώπησεν, ἵνα ἡμεῖς θεωποιηθώμεν·«). 21 Im Heidelberger Katechismus werden in bereits auch in Frage 24 mit der Bestimmung des Gegenstand des zweiten Glaubensartikel (»Gott der Sohn und unsere Erlösung«) Person und Werk Jesu Christi engstens miteinander verbunden. 22 R.K. Wüstenberg, Christologie. Wie man heute theologisch von Jesus sprechen kann, Gütersloh 2009, 71: »Der soteriologische Gedanke dominierte damals und regulierte den Argumentationsgang in weiten Teilen. Mit der Vorstellung der Wesenheit mit dem Vater fällt die Entscheidung gegen jede Selbsterlösung des Menschen.« 23 K. Barth (Die christliche Lehre nach dem Heidelberger Katechismus. Vorlesung gehalten an der Universität Bonn im Sommersemester 1947, Zollikon-Zürich 1948, 57) macht auf 20

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Sohn Gottes-Jesus den Ansatz, den der Heidelberger Katechismus christologisch verfolgt: Die Christologie hat bei der Gottessohnschaft einzusetzen und nicht etwa beim Menschen Jesus von Nazareth. Damit übernimmt der Heidelberger Katechismus die Blickrichtung des Genfer Katechismus (1545). Dieser beginnt in den der Drei-Ämter-Lehre gewidmeten Abschnitten 5 (Fragen 30–39) und 6 (Fragen 40– 45) in den Fragen 30 und 31 mit der Prädikation »Sohn Gottes«, um anschließend erst den Namen »Jesus« etymologisch als »Retter« (Frage 32) zu erläutern.24 Ohne zuvor vom Sohn Gottes gesprochen zu haben, kann offenkundig nach Auffassung Calvins wie des Heidelberger Katechismus nicht vom Menschen Jesus von Nazareth gesprochen werden.25 Alles andere wäre Kreaturvergötterung.26 Auch an dieser für das Verständnis des zweiten Glaubensartikels entscheidenden Stelle reformuliert, wenn man so will, der Heidelberger Katechismus die Lehre von der An- und Enhypostasie der menschlichen Natur Jesu Christi.27 Der Mensch Jesus existiert nur dadurch und darin, dass der ewige Sohn Gottes Mensch geworden ist. Das wird im Übrigen dann auch in Frage 33 betont, wo von »Christus allein« als dem »von Ewigkeit her seinem Wesen nach Sohn Gottes« Seienden die Rede ist. Die sich hier artikulierende Präexistenz-Vorstellung hätte Kraus sicherlich nicht mitsprechen können. Denn wiederum wird die Exklusivität Jesu Christi nicht mittels der Geistbegabung, sondern der Präexistenzvorstellung ausgesagt. Dementsprechend heißt es in der Auslegung der Apostolikumsaussage: »Empfangen durch den Heiligen Geist« in Frage 35: »Der ewige Sohn Gottes, der wahrer und ewiger Gott ist und bleibt, hat durch Wirkung des Heiligen Geistes wahre menschliche Natur […] angenommen.« Man beachte, dass auch hier zunächst von der Präexistenz des Sohnes die Rede ist und erst anschließend von der Menschwerdung, wobei wiederum nicht etwa die Inspiration gegen die Inkarnation ausgespielt wird.28 Vielmehr wird die Inkarnation mit der Wirkung des Geistes erläutert. folgende Proportionen aufmerksam: »3 Fragen sind dem 1. Artikel zugewendet, 24 Fragen dem 2. Artikel und 7 Fragen dem 3. Artikel.« 24 Vgl. Calvin-Studienausgabe, Bd. 2: Gestalt und Ordnung der Kirche, hg. von E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 1997, 24–27. 25 Vgl. E. Busch, Der Freiheit zugetan. Christlicher Glaube heute – im Gespräch mit dem Heidelberger Katechismus, Neukirchen-Vluyn 1998, 147: »Wir verkennen diesen Menschen, wenn wir ihn bloß als einen unter anderen Menschen sehen, abgelöst von dem und nicht eins mit dem, der die Gabe des Gebers, der Sohn des Vaters ist.« 26 Man könnte dies als einen (unter vielen anderen) Beleg(en) für die These von A. Schweizer (Die christliche Glaubenslehre, Bd. 1, Leipzig 1863, 8f.) anführen, wonach das Proprium der reformierten Reformation in der Front gegen Heidentum und Kreaturvergötterung besteht. 27 Diesen Hinweis verdanke ich Pfr. i.R. Wilhelm Hofius. 28 In diesen Alternativen wird die Diskussion zur Frage nach der Präsenz Gottes in Jesus zumeist geführt. Vgl. dazu D. Ritschl / M. Hailer, Diesseits und jenseits der Worte. Grundkurs christliche Theologie, Neukirchen-Vluyn 2006, 84–99; U. Link-Wieczorek, Inkarnation oder Inspiration? Christologische Grundfragen in der Diskussion mit britischer Theologie, FSÖTh 84, Göttingen 1998; M. Press, Jesus und der Geist. Grundlagen einer Geist-Christologie, Neukirchen-Vluyn 2001.

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Geistchristologie im Heidelberger?

Halten wir zunächst fest: Der Makrokontext, in dem der Heidelberger Katechismus mit den Fragen 31 und 32 die Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi lokalisiert, ist christologisch durch ein klares Bekenntnis zur Gottheit Jesu Christi geprägt, wie es vor allem in den Präexistenzaussagen Ausdruck findet.

3. Der Zusammenhang von Pneumatologie und Christologie im Heidelberger Katechismus Die Rede vom Heiligen Geist im Heidelberger Katechismus erweist sich zunächst als durch die trinitätstheologische Prämisse bestimmt, wonach der Heilige Geist eine Person der Trinität ist. So spricht Frage 24, die die Disposition des Apostolikums trinitarisch entfaltet, »von Gott dem Heiligen Geist«. Die darauffolgende Frage 25, welche die trinitarische Dialektik von Dreiheit und Einheit expliziert, lässt Tritheismus wie Monarchianismus hinter sich: »Warum nennst du denn drei: den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, wo doch Gott nur einer ist? Weil Gott sich in seinem Wort so offenbart hat, daß diese drei Personen unterschieden und doch der eine, wahre und ewige Gott sind.« Nun ist es so, dass der Heilige Geist im Heidelberger Katechismus wohl infolge dieser trinitätstheologischen Grundentscheidung und entgegen gängiger Vorurteile keineswegs ein Schattendasein fristet: »Mehr als vierzig Mal wird er explizit genannt – zum ersten Mal gleich in Frage 1. Damit wird schon auf den ersten Blick deutlich, dass der Heilige Geist für den Heidelberger Katechismus theologisch selbstverständlich ist. Es wäre deshalb jedenfalls im Blick auf diesen Text der Reformation unzutreffend, wollte man von einer Geistvergessenheit in der evangelischen Tradition reden.«29 Was wird nun inhaltlich, also im Sinne der »fides quae creditur«, in Bezug auf den Heiligen Geist ausgeführt? Die Credoauslegung des Heidelberger Katechismus benennt in der Entfaltung des 3. Glaubensartikels (»Was glaubst du vom Heiligen Geist?«) zwei zentrale Glaubensinhalte, die sich auf Person und Werk des Heiligen Geistes beziehen: »Erstens: Der Heilige Geist ist gleich ewiger Gott mit dem Vater und dem Sohn. Zweitens: Er ist auch mir gegeben und gibt mir durch wahren Glauben Anteil an Christus und allen seinen Wohltaten. Er tröstet mich und wird bei mir bleiben in Ewigkeit.« Unter »erstens« wird hier nochmals das Bekenntnis zur Gottheit des Heiligen Geistes artikuliert und unter »zweitens« das zu seinem Erlösungswerk. Wie bereits in der Christologie so zeigt sich auch in der Pneumatologie, dass der Heidelberger zwar die Gottheit Christi bzw. des Heiligen Geistes herausstellt, er dem Sein der Personen aber nur insofern Interesse zuwendet, als es die Voraussetzung und Ermöglichung von deren Werken bildet. Das eigentliche Interesse des Heidelberger Katechismus gilt dem Nutzen bzw. der Nutzanwendung pro no29

G. Plasger, Glauben heute mit dem Heidelberger Katechismus, Göttingen 2012, 132.

Der Zusammenhang von Pneumatologie und Christologie

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bis, also hinsichtlich der Christologie verstärkt der Soteriologie. Der Heidelberger Katechismus zeigt sehr wenig Neigung, sich in die spekulativen Seinsaussagen einer Zweinaturenlehre zu versteigen. Sieht man einmal von der Entfaltung des Extra-Calvinisticums in den Fragen 47 und 48 ab, so belässt er es gleichsam beim Konstatieren des »Dass« der Gottheit Christi, welches er »lediglich« durch die Betonung der Präexistenz Christi unterstreicht. Dass der Heidelberger Katechismus ontologisch eher in Relationen als Substanzen denkt, zeigt sich unter anderem am hergestellten Zusammenhang von Pneumatologie und Christologie. So betont der Heidelberger Katechismus in Frage 53, dass der Heilige Geist »mir Anteil an Christus und allen seinen Wohltaten« gibt. Hinsichtlich der uns nun besonders interessierenden Beziehung von Geist und Christus zeigt sich eine signifikante theologische Weichenstellung darin,30 dass der Heidelberger den Heiligen Geist gehäuft als »Geist Christi« (so explizit in den Fragen 70, 73 und 80) prädiziert. Dementsprechend ist in Frage 31 davon die Rede, dass Christus uns gemäß seinem königlichen Amt »mit seinem Wort und Geist« regiert. Zwar kann der Heidelberger auch gelegentlich vom Geist Gottes reden, so etwa in Frage 8 im Blick auf die Wiedergeburt durch den Geist Gottes. Aber das Schwergewicht liegt eindeutig auf der Aussage, dass der Heilige Geist keine frei flottierende Kraft und auch kein vagabundierender Gesell, sondern der an Jesus Christus gebundene Geist ist. Der Heilige Geist wohnt nach Frage 76 in Christus. Und weil wir wiederum Christi Schwestern und Brüder sind, wohnt der Heilige Geist auch in uns.31 Die Pneumatologie des Heidelberger Katechismus erweist sich insbesondere hinsichtlich der Betonung der Sendung des Geistes durch Christus als christologisch konturiert. Jesus Christus macht bereits nach Frage 1 durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens gewiss. Der Heidelberger Katechismus betont im Blick auf Christus sehr viel stärker, dass Christus »Sender des Geistes« als »Empfänger des Geistes« ist. Insofern wird man, eine von George Hunsinger geprägte Distinktion aufgreifend, hinsichtlich des Heidelberger Katechismus eher von einer »Christ-centered Pneumatology« als einer »Spirit-oriented Christology« sprechen können.32 Anders als Kraus es tut, der eine Geistchristologie des Heidelberger Katechismus zu identifizieren können vermeint, müsste man dementsprechend eher von einer christologischen Geistlehre sprechen.33

30

Vgl. W. Krötke, Gottes Wort und die Erfahrung des Heiligen Geistes, in: E. Mechels / M. Weinrich (Hg.), Die Kirche im Wort. Arbeitsbuch zur Ekklesiologie, Neukirchen-Vluyn 1992, (39–53) 41. 31 Vgl. Plasger, Glauben, 135. 32 Vgl. G. Hunsinger, Disruptive Grace. Studies in the Theology of Karl Barth, Grand Rapids / Cambridge 2000, 157f. 33 Auch J. Moltmann (Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991, 71) distinguiert zwischen einer Geist-Christologie und einer christologischen Geistlehre.

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Geistchristologie im Heidelberger?

4. Fazit Die Ausgangsfrage zielte auf die Berechtigung der Krausʼschen These von der im Heidelberger Katechismus vertretenen Geistchristologie ab. Eine Antwort wird hier differenziert ausfallen müssen: Einerseits ist im Lichte des Heidelberger Katechismus das gesamtbiblische bzw. biblisch-theologische Anliegen von Kraus zu würdigen.34 Seine Betonung der Salbung Jesu durch den Heiligen Geist knüpft beim biblischen Sprachgebrauch an, etwa im Zusammenhang der »Antrittspredigt Jesu« in der Synagoge von Nazareth beim Reflexionszitat in Lk 4,14.18.21, das auf Jes 61,1 Bezug nimmt: »Der Geist JHWHs ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat.«35 Kraus vermag es zu verdeutlichen, dass Person und Werk Jesu Christi nicht ohne das Alte Testament denkbar und verstehbar sind. Hinsichtlich seiner biblisch-theologischen Intention beruft sich Kraus zu Recht auf die Drei-Ämter-Lehre des Heidelberger Katechismus, deren Stärke darin liegt, dass sie Person und Werk auf dem gesamtbiblischen Hintergrund zusammenzubinden vermag.36 Eine denkbar enge Verbindung zwischen Person und Werk Jesu stellt der Heidelberger Katechismus aber nicht nur in der Drei-Ämter-Lehre her, sondern – wie wir gesehen haben – auch in seiner Mittler-Christologie. Als deren entscheidendes Interpretament fungiert die Zweinaturenlehre. Kraus hingegen betont: »[N]icht ›göttliche Natur‹ oder Wesensbestimmung kennzeichnen Jesus als den ›Sohn Gottes‹, sondern allein Gottes Geist.«37 Vom Heidelberger Katechismus her ist indes folgende kritische Rückfrage an Kraus zu stellen: Lässt sich die Zweinaturenlehre tatsächlich gegen die Geistsalbung ausspielen? Der Heidelberger Katechismus bestreitet dies, indem er beide Theologumena berücksichtigt und darin Kraus widerspricht. Damit betont der Heidelberger Katechismus zugleich: Mit der Behauptung, dass Christus nicht Gott sei, sondern lediglich eine besonderer, geistbegabter Mensch, ist entschieden zu wenig gesagt. Die gesamte Soteriologie gerät damit ins 34

Vgl. M. Freudenberg, Das dreifache Amt Christi – eine »längst ausgepfiffene Satzung der Schultheologen« (H.Ph.K. Henke)? Zum munus triplex in der reformierten Theologie und seiner Bedeutung für das ökumenische Gespräch, in: J.M.J. Lange van Ravenswaay / H.J. Selderhuis (Hg.), Reformierte Spuren. Vorträge der vierten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 8, Wuppertal 2004, (71–96) 77; M. Hofheinz, De oecumenische betekenis van de Heidelbergse, in: A. Huijgen u.a. (Hg.), Handboek Heidelbergse Catechismus, Utrecht 2013, (371–382) 379–382; M. Welker, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 22012, 98. 35 Vgl. dazu R. Albertz, Die »Antrittspredigt« Jesu im Lukasevangelium auf ihrem alttestamentlichen Hintergrund, ZNW 74 (1983), 182–206; M. Hofheinz, Good News to the Poor. The Message of the Kingdom and Jesus’ Announcement of his Ministry according to Luke. A Bible Work, LexTQ 52 (2017), 41–54. 36 So auch Plasger, Glauben, 91. Plasger weist gleichzeitig mit Recht darauf hin, dass zu fragen ist, »ob diese Lehre nicht in der Gefahr steht, die Pluralität der Salbungsverständnisse im Alten Testament vorschnell zu harmonisieren«. Vgl. M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Göttingen 1998, 157. 37 Kraus, Christologie, 43.

Fazit

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Wanken. Deshalb bleibt der Heidelberger Katechismus nicht bei der Behauptung der menschlichen Natur Jesu stehen, sondern betont zugleich die Gottheit Christi.38 Von der Christologie des Heidelberger Katechismus her, der beide Akzente aufnimmt, den geistchristologischen und den der Zweinaturenlehre, lässt sich die besondere Sensibilität erklären, die reformierterseits für wie gegen eine Geistchristologie besteht.39 Einer geistchristologischen Verabsolutierung, die aus der Isolierung des geistchristologischen Motivs der Geistsalbung Jesu resultiert, verweigert sich der Heidelberger Katechismus – im Unterschied zu Kraus.

38

So auch Plasger, Glauben, 80. Vgl. dazu die Auseinandersetzung auf der Hauptversammlung des Reformierten Bundes am 12.5.1990 in Siegen zu den »Leitsätzen in der Begegnung von Juden und Christen«, dokumentiert in: Moderamen des Reformierten Bundes (Hg.), Wir und die Juden – Israel und die Kirche. Leitsätze in der Begegnung von Juden und Christen. Text und Dokumentation, Bad Bentheim o.J. (1990). 39

c. Christologie interkonfessionell Auf einem ökumenischen Weg zu einer tragfähigen Soteriologie

V. »Welch ein Freund ist unser Jesus« Ein freundschaftstheologischer Zugang zur Lehre vom dreifachen Amt1

1. Einleitung Zu den wirkmächtigsten geistlichen Liedern der Erweckungsbewegung gehört zweifellos Joseph M. Scrivens Song »What a friend we have in Jesus« (1855).2 Er wurde in viele Sprachen übersetzt, u.a. von Ernst Heinrich Gebhardt (1832–1899) ins Deutsche: »Welch ein Freund ist unser Jesus«.3 Die Einschätzung dieses Liedes changiert zwischen »hart am Rande des Kitsches«4 und »veritabler Ausdrucksform einer trostsuchenden Alltagsfrömmigkeit«.5 Wie lässt sich der Erfolg dieses Liedes erklären, das um die ganze Welt ging? Neben der eingängigen Melodie ist dieser Erfolg auf inhaltlicher Ebene sicherlich darauf zurückzuführen, dass hier nicht in einem kalten, objektiv-distanzierten Sinne »Heilslehre«, also Soteriologie, dekretiert wird.6 Das Lied redet in der Sprache der »Moralität persönlicher Beziehungen«7 von Jesus und seinem Heilserwerb: »Welch ein Freund ist unser Jesus, / O, wie hoch ist er erhöht! / Er hat uns mit Gott versöhnet / Und vertritt uns im Gebet« (Str. 1). Zentral ist der 1

Dieser Aufsatz geht auf die »Lochman Lectures« zurück, die ich zusammen mit Meehyun Chung (Seoul), Ralph Kunz (Zürich), Hans Reinders (Amsterdam) und John Swinton (Aberdeen) im Ev. Studienhaus/Riehen halten durfte (4.–7. Juni 2015). 2 Nach P. Bukowski (Wer ist Jesus Christus für uns heute?, in: ders., Theologie in Kontakt. Reden von Gott in der Welt, Göttingen 2017, 11–26, 12) handelt es sich um ein »in der gesamten Ökumene weit verbreitete[s] und höchst beliebte[s] Lied«. 3 EG 642,1–3 (württembergischer Teil). Zitationsgrundlage im Folgenden. 4 J. Moltmann, Neuer Lebensstil. Schritte zur Gemeinde, München 1977, 59. 5 So die poimenische Einschätzung von Pfr. J. Heckmann beim Reformierten Gemeinde Forum / Siegen zum Thema »›Frömmigkeit hat keinen Wert an sich und kann Gott nicht herbeizwingen.‹ Auf der Suche nach einer reformierten Glaubenspraxis« am 13. März 2010. 6 Nach R.K. Wüstenberg (Christologie. Wie man heute theologische von Jesus sprechen kann, Gütersloh 2009, 18) lautet der spirituell-existentiale Einwand gegen die Christologie: »Ist Christologie etwas anderes als toter Buchstabe und kalter Dogmenglaube?« Dort kursiv. 7 A. Honneth / B. Rössler (Hg.), Von Person zu Person. Zur Moralität persönlicher Beziehungen, Frankfurt a.M. 2008.

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»Welch ein Freund ist unser Jesus«

Freundschaftsbegriff, der dem sozialen und emotionalen Nahbereich entstammt. Dort wird Jesus verortet – in unmittelbarer Nähe. Augustin kann von dieser Nähe sagen: »Tu autem eras interior intimo meo et superior summo meo – Du jedoch warst tiefer in mir als mein Innerstes und höher als mein Höchstes.«8 Die an den Freundschaftsbegriff gebundene Terminologie des Affektiven und Emotionalen, die dem Lied frömmigkeitsbezogenen Ausdruck verleiht, ist übrigens nicht nur weit, sondern auch schon lange, genau genommen: seit der Antike verbreitet: »Im Bereich des philosophischen Freundschaftsethos inkludiert dieses Ideal wechselseitiger Unterstützung und Eintracht auch affektive Aspekte, ›Liebe‹, nicht zuletzt auch erotische. Freundschaft gilt aber durchaus überhaupt als eine Form der wechselseitigen Zuneigung und Unterstützung, der mutua benevolentia und caritas.«9

Auch in der Moderne behält die Freundschaft, wenn auch auf veränderter Grundlage, ihre zentrale Stellung bei: Die Bezugnahme auf den »Freund« als emotionalen Rückhalt und Förderer der Ausbildung personaler Identität überrascht in dieser Epoche keineswegs, da diese »zunehmend durch unpersönliche, rationale Funktions­systeme, Entfremdung und individualisierte Lebensführung gekennzeichnet« ist und in ihr »emotionale[] Funktionen an Bedeutung und Entfaltungsmöglichkeiten«10 gewinnen. Dem entspricht die Gestaltung der Rede von Jesus in dem Lied von Scriven: Nicht etwa nur als »mächtiger Erretter« (Str. 2), sondern vor allem als ein Freund; ja, als der Freund wird Jesus in exzeptioneller Weise prädiziert, wie die dritte Strophe der deutschen Übersetzung zeigt: »Sind von Freunden wir verlassen / Und wir gehen ins Gebet, / O, so ist uns Jesus alles: König, Priester und Prophet!« Das Lied kulminiert hier in der Bezugnahme auf die Lehre vom dreifachen Amt (munus triplex) Christi: Dass Jesus, der Freund, in der Verlassenheit von allen anderen Freunden, in der absoluten Isolation, uns »alles« ist, wird konkretisiert durch die gewählte triadische Funktionsbeschreibung »König, Priester und Prophet«. Diese wechselseitige Bezugnahme von Freundschaftsbegriff und Lehre vom dreifachen Amt erachte ich theologisch als wegweisend.11 Thesenhaft zugespitzt: 8

Augustin, Confessiones 3,6,11. Dazu J. Ringleben, Interior intimo meo. Die Nähe Gottes nach den Konfessionen Augustins, ThSt 135, Zürich 1988. 9 E.W. Stegemann, Freundschaftstopik im Neuen Testament, in: S. Appuhn-Radtke / E.P. Wipfler (Hg.), Freundschaft. Motive und Bedeutungen, München 2006, (9–24) 9. Hervorhebungen im Original. 10 G. Vowinckel, Art. Freundschaft V. Sozialwissenschaftlich, RGG4 3 (2000), (353–355) 355. 11 Zum aktuellen freundschaftstheologischen Diskurs vgl. M. Hofheinz / F. Mathwig / M. Zeindler, »Ohne Freunde möchte niemand leben«. Eine Einführung in den freundschaftstheologischen Diskurs, in: dies. (Hg.), Freundschaft. Zur Aktualität eines traditionsreichen Begriffs, Zürich 2014, 9–19.

Der Freundschaftsbegriff als Interpretament

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Wer die Soteriologie, als deren nahezu klassisches Interpretament in der reformierten12 und lutherischen Tradition13 die Lehre vom triplex munus fungiert, heute theologisch sachgemäß explizieren möchte, der ist gut beraten, wenn sie/er zum Freundschaftsbegriff als deren Schlüssel greift. Diese Ausgangsthese möchte ich im weiteren Verlauf meiner Ausführungen entfalten. Die Entfaltung gliedert sich in sieben Punkte: Nach der Einleitung (1.) wird die These vom Freundschaftsbegriff als geeignetem Interpretament der Lehre vom dreifachen Amt Christi als Ausgangspunkt der Entfaltung expliziert (2.). Unter 3. erfolgt eine kurze Darlegung der systematisch-theologischen Leistungsfähigkeit der Lehre vom dreifachen Amt als christologischer Lehrform, die das Werk Christi systematisiert. Das Dreiämterschema liefert für die eigentliche Entfaltung der These unter 4.–6. den Rahmen. Die Entfaltung erfolgt entlang den jeweiligen Aspekten des dreifachen Amtes, sprich: dem prophetischen (4.), königlichen (5.) und priesterlichen Amt (6.). Schlussendlich werden abschließende Überlegungen zum Gebrauch des Freundschaftsbegriffs als Interpretament der Lehre vom dreifachen Amt dargeboten (7.).

2. Der Freundschaftsbegriff als Interpretament der Lehre vom dreifachen Amt Christi. Eine These Das Plädoyer für eine kritisch-produktive Zuordnung des Freundschaftsbegriffs zur Lehre vom dreifachen Amt Christi ist nicht neu. Bereits Jürgen Moltmann hat es in seinem ekklesiologischen Entwurf »Kirche in der Kraft des Geistes« formu-

12

Vgl. zur Ausprägung der Lehre vom dreifachen Amt im reformierten Protestantismus: E. Busch, Das Amt Christi und die Ämter in seiner Gemeinde, in: ders., Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, 173–190; M. Freudenberg, Das dreifache Amt Christi – eine »längst ausgepfiffene Satzung der Schultheologen« (H.Ph.K. Henke)? Zum munus triplex in der reformierten Theologie und seine Bedeutung für das ökumenische Gespräch, in: ders., Reformierter Protestantismus in der Herausforderung. Wege und Wandlungen der reformierten Theologie, Theologie: Forschung und Wissenschaft 36, Münster 2012, 238–260; M. Hofheinz, De munere prophetico – Variationen reformierter Auslegung des prophetischen Amtes. Zur theologiegeschichtlichen Entwicklung eines dogmatischen Topos vor der »Lessingzeit« (von Zwingli bis Lampe), in: ders. u.a. (Hg.), Calvins Erbe. Die Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, RHT 9, Göttingen 2011, 117–171; H. Reichel, Der Christ als Christus? Kritische Potenziale reformatorischer Rede vom munus triplex zwischen Christologie und Ekklesiologie, in: G. Etzelmüller / H. Springhart (Hg.), Gottes Geist und menschlicher Geist, Leipzig 2013, 25–34; G. Wainwright, For Our Salvation. Two Approaches to the Work of Christ, Grand Rapids / London 1997, 100–103. 13 In Fortsetzung von Ansätzen Martin Luthers ist dieser dogmatische Topos im Luthertum seit J. Gerhard (Loci theologici [Jena 1610–1622], loc. 4, cap. XV) verbreitet. Vgl. K. Bornkamm, Christus – König und Priester. Das Amt Christi bei Luther im Verhältnis zur Vor- und Nachgeschichte, BHTh 106, Tübingen 1998.

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»Welch ein Freund ist unser Jesus«

liert.14 Moltmann interpretiert dort die drei Ämter Jesu als Prophet, Priester und König im Sinne von Hoheitstiteln. Diese würden die göttliche Würde Jesu betonen, damit aber Distanz zwischen Jesus und seiner Gemeinde schaffen. Diesem Problem möchte er dadurch begegnen, dass er diese Titel um den des »Freundes« ergänzt: »Die Gemeinschaft aber, die Jesus den Menschen bringt, und die Gemeinschaft der Menschen untereinander, in die er ruft, wären einseitig beschrieben, käme nicht ein anderer ›Titel‹ hinzu, der das innere Verhältnis sowohl der Gottesgemeinschaft wie der menschlichen Gemeinschaft beschriebe: der Name des Freundes.«15

Als biblische Legitimationsgrundlage für diesen Vorschlag beruft sich Moltmann auf zwei Traditionskomplexe: zum einen den synoptischen Bericht von Jesu Tischgemeinschaft mit den Zöllnern und Sündern und zum anderen die johanneische Freundschaftsekklesiologie, wie sie vor allem in den »Abschiedsreden« anschaulich wird und in dem Spitzensatz kulminiert: »Niemand hat grössere Liebe als wer sein Leben einsetzt für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete« (Joh 15,13f.; Zürcher Bibel, 2007). So wichtig und richtig mir Moltmanns Vorschlag erscheint und so notwendig auch ich es grundsätzlich erachte, dogmatische Traditionen weder einfach zu repristinieren noch sie kurzerhand abzuschaffen, sondern – wenn nötig – »einem umfassenden Umschmelzungsprozeß zu unterwerfen«,16 so wenig überzeugt mich Moltmanns Durchführung. Sein Vorschlag scheint darauf abzuzielen,17 die Lehre vom dreifachen Amt, die nach altkirchlichen und mittelalterlichen »Präludien«

14

Vgl. dazu M. Hofheinz, Kirche als »Society of Friends«. Überraschende freundschafts­ ekklesiologische Koinzidenzen bei Jürgen Moltmann und Stanley Hauerwas, in: M. Hofheinz u.a. (Hg.), Freundschaft, 153–205. Auch W. Sparn (Reich Gottes: Reich der Freundschaft. Für eine trinitarische Bestimmung des Begriffs der Gottesherrschaft, MJTh 11 [1999], 31–61, 49–54) hat den Bezug zwischen der »dreifachen Dienstherrschaft Christi« und der Freundschaft über seine Interpretation des Reiches Gottes als Reich der Freundschaft hergestellt. 15 J. Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes. Ein Beitrag zur messianischen Ekklesiologie, München 21989, 134. 16 B. Klappert, Miterben der Verheißung. Beiträge zum jüdisch-christlichen Dialog, NBST 25, Neukirchen-Vluyn 2000, 279. 17 Moltmanns (Kirche, 138) Intention bleibt insofern unklar, als dass er auch – durchaus im Einklang mit meinem Plädoyer – eine Zuspitzung der Lehre vom dreifachen Amt auf die Freundschaft fordern kann: Es »läßt sich theologisch das vielfältige Wirken Christi, wie es in der Lehre vom dreifachen Amt Christi sehr hoheitlich und amtlich dargestellt wurde, auf seine Freundschaft zuspitzen.«

Der Freundschaftsbegriff als Interpretament

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erstmalig Johannes Calvin18 im »Genfer Katechismus«19 (1545) entwickelte und die inzwischen ökumenisch breit rezipiert wurde,20 um ein viertes Amt oder besser: um einen vierten Aspekt, nämlich den des Freundes, zu ergänzen. Dadurch entstünde dann eine Lehre vom vierfachen Amt Christi. Dieser Vorschlag hat m.E. darin seine Schwäche, dass sich ein solches viertes Amt nicht in die »Logik« der übrigen Ämter einfügt, liegt diesen doch nach ihrer Typik die Salbung zugrunde, die aber hinsichtlich des Freundes biblisch keinerlei Anhalt hat. Eine Ahnung von der Sperrigkeit zeigt sich bei Moltmann darin, dass er zwischen den Titeln »Prophet, »Priester« und »König« und dem »anderen Titel«, nämlich dem »Namen des Freundes«, unterscheidet.21 Das Prädikat »Freund« sei anders als die Prädikate des dreifachen Amtes »keine Amtsbezeichnung, kein Hoheitstitel und auch keine Funktion, sondern eine persönliche Bestimmung.«22 Bezug nehmend auf Moltmanns Plädoyer möchte ich vorschlagen, das Freundschaftsprädikat nicht als Ergänzung der drei Ämter, sondern als Interpretament der Lehre vom dreifachen Amt zu gebrauchen, was hier gleichsam mit Moltmann gegen Moltmann besagt: »[I]n seiner göttlichen Funktion als Prophet, Priester und König lebt und handelt Christus als Freund und schafft Freundschaft.«23 Mein Vorschlag besagt mithin: In seinem Heilswerk als Prophet, Priester und König erweist sich Christus in differenzierter Weise jeweils als Freund.

18

Zu Calvins Fassung der Lehre vom triplex munus vgl. K. Blaser, Calvins Lehre von den drei Ämtern, ThSt 105, Zürich 1970; E. Busch, Kirchenleitung im Genf Calvins. Ämtervielfalt unter dem einen Haupt, Jesus Christus, in: M. Böttcher u.a. (Hg.), Die kleine Prophetin Kirche leiten. FS G. Noltensmeier, Wuppertal 2005, 57–66; Hofheinz, De munere prophetico, 136–146; P. Opitz, Calvins theologische Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1994, 122–145; G. Plasger, Johannes Calvins Theologie – Eine Einführung, Göttingen 2008, 59– 68. 19 J. Calvin, Der Genfer Katechismus von 1545, in: Calvin-Studienausgabe Bd. 2: Gestalt und Ordnung der Kirche (= CStA 2), hg. v. E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 1997, 10–135, Abschnitt 5f. (Fragen 34–45). Vgl. J. Calvin, Inst. (1559), II,15,1–6. – OS III,471,21–481,18. 20 Vgl. Wainwright, Salvation, 103–109; Freudenberg, Amt, 252–256; M. Welker, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 22012, 198f. Reichel (Christ, 28) weist auf das kritische Potential der reformierten Lehre vom dreifachen Amt in ökumenischer Hinsicht hin. Vgl. auch Busch, Amt, 182; J.H. Yoder, Preface to Theology. Christology and Theological Method, ed. by S. Hauerwas / A. Sider, Grand Rapids 2002, 237. 21 S. Fußnote 15. Freilich wäre es überinterpretiert, würde man Moltmann die sprachhermeneutische Distinktion zwischen dem Titel »Freund« im Sinne eines prädizierenden Begriffs und dem »Namen des Freundes«, sprich: dem Eigennamen Jesus, unterstellen. Denn es geht Moltmann ja in beiden Fällen um prädizierende Begriffe, also begriffliche Vermittlung. Zur sprachhermeneutischen Unterscheidung zwischen dem Begriff und dem Namen, der »anders als der Begriff, das durch ihn genannte Abwesende in der Sprache wirklich anwesend sein« lässt (Repräsentanz im vollsten Sinne dieses Ausdrucks). So H. Theißen, Einführung in die Dogmatik. Eine kleine Fundamentaltheologie, GThF 25, Leipzig 2015, 106. 22 Moltmann, Kirche, 134. 23 A.a.O., 139.

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»Welch ein Freund ist unser Jesus«

Bevor ich diese These nach den einzelnen Aspekten des dreifachen Amtes entlang zentraler freundschaftsthematischer Texte aus dem Johannesevangelium24 entfalte, sei zunächst auf die Leistungsfähigkeit der Lehre vom dreifachen Amt für die Soteriologie verwiesen.

3. Zur systematisch-theologischen Leistungsfähigkeit der Lehre vom dreifachen Amt Die erkenntnisleitende Frage lautet hier: Welchen Sinn macht der Rekurs auf die Lehre vom dreifachen Amt in der Soteriologie? Was vermag sie? Jan M. Lochman rekurriert auf den Topos vom dreifachen Amt, weil er ihm sehr geeignet erscheint, um die Soteriologie zeitgemäß zu reformulieren. Lochman sieht eine solche Notwendigkeit gerade im Blick auf ein eindimensionales Heilsverständnis gegeben, das lediglich auf Fragen der individuellen Versöhnung fokussiert, dabei aber soziale und politische Bezüge ausblendet. Namentlich das Interesse an Freiheit im Sinne von Befreiung gerate so aus dem Blickfeld. Die Lehre vom dreifachen Amt hingegen sei zu würdigen: »Der Begriff ›officium‹, ›munus‹, will ›das Tun Jesu aus der Sphäre des Privaten, Beliebigen, Zufälligen herausheben‹ […]. Das Heilswerk ist keine private Angelegenheit, keine selbstherrliche Leistung einer prometheischen Persönlichkeit. Es ist ein ihm aufgetragenes, von ihm aufgenommenes, im Dienst für die Mitmenschen vollbrachtes ›Werk‹; nicht bloß ›seine Sache‹, sondern das Werk des Mittlers, die ›Sache zwischen Gott und Mensch‹, besser: das Heil Gottes für die Menschen. Dieser Charakter des Werkes Jesu Christi wird im Begriff des ›Amtes‹ angesprochen. In dieser Intention liegt seine Berechtigung, ein Anliegen, das gewahrt werden sollte selbst dort, wo man den Begriff heute lieber meiden und nach anderen Ausdrücken suchen möchte.«25

Lochman macht mit diesem Argument den Leitgedanken Calvins stark, nämlich den des Mittlers zwischen Gott und Mensch, wonach Christus eben nicht nur nach seinen beiden Naturen, also in seiner Person, Gott und Mensch verbindet, sondern in seinem gesamten Werk pro nobis und insofern vermittelnd handelt.26 24

Mit der Konzentration auf das Johannesevangelium soll keineswegs geleugnet werden, dass sich freundschaftstheologische Spuren auch bei anderen biblischen Autoren (wie z.B. Lukas und Paulus) finden lassen. Vgl. dazu H.-J. Klauck, Kirche als Freundesgemeinschaft? Auf Spurensuche im Neuen Testament, MThZ 42 (1991), 1–14; Stegemann, Freundschafts­ topik, 9–24. 25 J.M. Lochman, Versöhnung und Befreiung. Absage an ein eindimensionales Heilsverständnis, Gütersloh 1977, 48. Hervorhebungen im Original. 26 Vgl. O. Weber, Grundlagen der Dogmatik. Zweiter Band, Neukirchen 1962, 200: »Das pro nobis ist der cantus firmus dessen, was Calvin über das ›Amt‹ Christi zu sagen weiß. Da geschieht nichts ›an sich‹, sondern alles ›für uns‹. Die Soteriologie ist nichts anderes als

Zur systematisch-theologischen Leistungsfähigkeit

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Noch eine weitere Stärke der Lehre vom dreifachen Amt nennt Lochman: Sie wirkt »jeder Tendenz zur Verengung und Vereinseitigung der Erlösung – also wieder: jeder ›Eindimensionalität des Heils‹ – entgegen[].«27 Gegen solche Eindimensionalität hebt Lochman die Komplementarität der Ämter hervor, die einer Verabsolutierung einzelner Aspekte von Jesu Werk wehrt. Innerhalb der Trias findet, wie in einem sich selbst regelnden Prozess innerhalb eines Systems, ein Ausgleich, gleichsam eine Homöostase statt. Die Gefahren, die aus der Isolierung resultieren und die Lochman für jedes einzelne Amt benennt, werden durch die Verbundenheit gleichsam gebannt.28 Die Lehre vom dreifachen Amt ist somit als Korrektiv zu einem Unilateralismus jedweder Spielart zu verstehen: »Die drei Ämter durchdringen einander, sie sind perichoretisch miteinander verbunden.«29 Lochman verweist auch auf die gesamtbiblische Fundierung der Lehre vom dreifachen Amt, die die Verklammerung von Altem und Neuem Testament ernstnimmt.30 So hat namentlich Calvin gesehen, dass sich das Neue Testament »zur Darstellung des Persongeheimnisses Jesu Christi implizit der Kategorien der alttestamentlichen Gesalbten«31 bedient. Wenn auch selten, so wird die Salbung doch nicht nur auf den zukünftigen König bezogen (vgl. 1Sam 9,16; 10,1; 1Kön 1,34ff.; 2Kön 9,3ff.; Ps 2,2.6f.; 45,8; 89,21 u.a.), sondern auch auf nichtkönigliche Gestalten wie den nachexilischen Hohenpriester (Ex 29,36; 1Chr 29,22; Sach 4,14) oder Propheten (1Kön 19,16; Jes 61,1).32 Die Lehre vom dreifachen Amt ist also dahingehend zu würdigen, dass sie »die Rückbindung an die weiten Erinnerungsräume und Erwartungshorizonte der alttestamentlichen Überlieferung«33 festhalten kann. Die Linien hin zum neutestamentlichen Zeugnis verlaufen gleichwohl »nicht ungebrochen«.34 Die Lehre vom dreifachen Amt zeigt indes, »daß nicht nur für die Zeugnisse der Jesus-Schriften ein Rückbezug der Christologie auf die Hebräische

recht verstandene und aufgenommene Christologie.« Hervorhebung im Original. Webers Bemerkung steht freilich selbst in der Gefahr einer Vereinseitigung, insofern die Person Jesu vor dem Hintergrund der Betonung seines Werkes zu verschwinden droht, sodass als Resultat dessen Christologie auf Soteriologie reduziert würde. Vgl. Plasger, Theologie, 60f. 27 Lochman, Versöhnung und Befreiung, 48. Hervorhebung im Original. 28 Vgl. a.a.O., 48f. Fernerhin: W.A. Visser’t Hooft, The Kingship of Christ, New York 1948, 17; Welker, Gottes Offenbarung, 201f. 29 A.a.O., 201. 30 Dahingehend würdigen auch Plasger (Theologie, 59–61; 68) und Freudenberg (Amt, 243) Calvins Lehre vom dreifachen Amt. 31 Freudenberg, Amt, 240. 32 M. Saur, Art. Christus im Alten Testament I. Alttestamentlich, in: O. Wischmeyer (Hg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin 2009, 116. So auch P. Pokorný / U. Heckel, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, Tübingen 2007, 125. Ausführlich: A.M. Schwemer, Jesus Christus als Prophet, König und Priester. Das munus triplex und die frühe Christologie, in: M. Hengel / A.M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie, WUNT 138, Tübingen 2001, 165–230. 33 Welker, Gottes Offenbarung, 198. 34 Weber, Grundlagen der Dogmatik II, 197.

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»Welch ein Freund ist unser Jesus«

Bibel unentbehrlich war, sondern auch für eine viel spätere Reflexion.«35 Calvin ist hinsichtlich der Berücksichtigung dieser Einsicht wohl nicht an letzter Stelle zu nennen. Eine biblizistische Ableitbarkeit der Lehre vom dreifachen Amt lässt sich indes nicht behaupten.36 Vielmehr ist festzuhalten, »dass es keine explizite biblische Dreiämterlehre gibt, der zufolge die drei Ämter der alttestamentlichen Gesalbten dem neutestamentlichen Christus zugeordnet würden.«37 Otto Weber weist darauf hin, »daß die Lehre vom ›Amt‹ Christi zwar eine Fülle biblischer Begriffe zur Sprache bringt, aber in ihrer entfalteten Form nicht Exegese, sondern ›Interpretation‹ des biblischen Gesamtzeugnisses ist – stärker mit biblischen Aussagen gesättigt als etwa die Trinitätslehre oder die Zweinaturenlehre, aber dennoch, wie diese, ein Erzeugnis der Dogmatik und insofern ein Versuch, das gleiche wie das biblische Zeugnis mit anderen Worten und in anderem Kontext zu sagen.«38

Treffend bemerkt Lochman zusammenfassend: Die Lehre vom dreifachen Amt Christi »ist eine dogmatische, keine biblische Schöpfung. Trotzdem ist diese kirchliche Neubildung nicht ohne biblische Verankerung oder wenigstens biblische Motivation. Sie versucht, den Namen ›Christos‹ und das Werk Jesu Christi zu explizieren. Dazu gibt bereits der alttestamentliche Hintergrund Anlaß.«39 Ebenso wie die Lehre vom dreifachen Amt keineswegs ausschließlich einen Topos der Soteriologie darstellt, sondern auch die Ekklesiologie und die Ethik betrifft,40 ist auch »Freundschaft« – in der Christologie gründend – sowohl ein Thema der Ethik als auch der Ekklesiologie: »Denn das pro nobis meint stets auch, daß die Gemeinde an dem, was Christus [, der Freund, M.H.] für sie ist und getan hat, selbst teilnimmt.«41 Es handelt sich beim Freundschaftsbegriff nicht nur um einen dogmatischen, sondern auch einen ethischen Grundbegriff.42 35

F.-W. Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie. Bd. 2, München 1991, 136. 36 So auch Weber, Grundlagen der Dogmatik II, 198. 37 Freudenberg, Amt, 239. 38 Weber, Grundlagen der Dogmatik II, 196. Vgl. auch Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus II, 185. Hervorhebungen im Original. 39 Lochman, Versöhnung und Befreiung, 49. 40 Wainwright (Salvation, 109) hat anschaulich »five historic uses« der Lehre vom dreifachen Amt herausgearbeitet: »The five uses may be styled (1) the christological, (2) the baptismal, (3) the soteriological, (4) the ministerial, and (5) the ecclesiological. Naturally, there is overlap among them.« 41 Weber, Grundlagen der Dogmatik II, 200. So auch T. Söding, Freundschaft mit Jesus. Ein neutestamentliches Motiv, IKaZ 36 (2007), (220–231) 225. Hervorhebungen im Original. 42 Ebenso Weber, Grundlagen der Dogmatik II, 200, unter Verweis auf A. de Quervain, Die Heiligung. Ethik. Erster Teil, Zollikon-Zürich 1942, 31–74 (»Von der Begründung des christlichen Lebens im dreifachen Amt Christi«). Vgl. dazu W. Göllner, Die politische Exis-

Das prophetische Amt

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4. Das prophetische Amt In welcher Weise erschließt nun das Freundschaftsprädikat das prophetische Amt Christi? Calvin fragt im »Genfer Katechismus« (1545), Frage 39: »In welchem Sinn nennst du Christus nun ›Prophet‹? Weil er bei seinem Kommen in die Welt sich bei den Menschen als Gottes Gesandter und Ausleger bekannt hat, und dies mit dem Ziel, den Willen des Vaters vollständig darzulegen und so alle Offenbarungen und Prophezeiungen zu vollenden (Jes 7,14; Hebr 1,1–2).«43 Das prophetische Amt betont den Offenbarungsgedanken, wonach Gott sich dem Menschen in Christus erschließt. Es geht um die Verkündigung des göttlichen Willens. Als Prophet legt Christus den Menschen endgültig Gottes Willen dar. Der Kirchenvater Augustin kannte zwar noch nicht das prophetische Amt Christi, aber er wusste, dass die Kenntnis des Willens Gottes mit Freundschaft zu tun hat: »Et si voluntatem dei nosse quisquam desiderat, fiat amicus deo – Möchte jemand Gottes Willen kennen, so bemühe er sich Freund Gottes zu werden.«44 Was bei Augustin konditioniert erscheint, nämlich das Bemühen um die Freundschaft Gottes als Bedingung für die Kenntnis seines Willens, wird freilich in der biblischen Quelle, aus der Augustin trinkt, durch das Begründungsgefälle von Joh 15,15b umgekehrt: »Euch aber habe ich Freunde genannt, weil [ὅτι hier als kausale Konjunktion gebraucht] ich euch alles kundgetan habe, was ich von meinem Vater gehört habe« (Zürcher Bibel, 2007). Treffend kommentiert Ulrich Wilckens diesen Halbvers: »Es ist […] die Offenbarung des vom Vater gesandten Sohnes, durch die dieser den Glaubenden die Erkenntnis seines Liebeshandelns schenkt, die sie zu seinen ›Freunden‹ macht und von Sklaven unterscheidet, die ein solches Wissen nicht haben.«45 Hier erscheint also nicht die Freundschaft als Bedingung der Möglichkeit der Kenntnis von Gottes Willen, sondern vielmehr ist die Kundgabe des Willens Gottes durch Jesus Erkenntnis- und Realgrund der Freundschaft. Diese Kundgabe ist »keine bloße Information«.46 Sie hat statusverändernde Kraft. Exakt um diese Kundgabe geht es im prophetischen Amt, weshalb Joh 15,15b als Schlüsselstelle für die im Folgenden entfaltete Erschließung des prophetischen Amtes durch den Freundschaftstitulus fungiert. Im Blick auf die Gotteslehre hat Helmut Gollwitzer in seinem opus magnum »Krummes Holz – aufrechter Gang« in besonderer Weise von dem Freundschaftsbegriff Gebrauch gemacht und ihn ins Zentrum seiner versöhnungstheologischen Erwägungen gestellt.47 Anhand des Gottesprädikats »Freund« (Ex 33,11) legt Golltenz der Gemeinde. Eine theologische Ethik des Politischen am Beispiel Alfred de Quer­ vains, BTU 5, Bern u.a. 1997, 200–203. 43 CStA 2,27. Hervorhebung im Original. 44 Augustin, De Genesi adversus Manichaeos I,4. 45 U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 22000, 241. 46 Söding, Freundschaft, 228. 47 Bezeichnenderweise hatte H. Gollwitzer (Ansprache bei der Gedenkfeier für Karl Barth, ThSt 100, Zürich 1969, 37–40) sein Gedenken des verstorbenen Lehrers K. Barth in der Trauerfeier im Basler Münster unter den Begriff »Freund« gestellt.

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»Welch ein Freund ist unser Jesus«

witzer dar, dass Christus Gott als »Freund« erschließt. Der in Christus offenbarte Willen Gottes ist dementsprechend als »freundlich« zu bestimmen. Gottes Wille ist Wille zur Freundschaft. Gollwitzer rückt dementsprechend den biblischen Gottesbegriff von einem metaphysischen ab, wonach Freundschaft mit Gott nicht möglich ist, wie etwa Aristoteles48 auf dem Hintergrund des Grundsatzes ἰσότης φιλότης49 (»Freundschaft ist Gleichheit«) betont. Gollwitzer grenzt das Gottesprädikat »Freund« entschieden von einem despotisch-tyrannischen Gottesbegriff ab, in dessen Gefälle Gott als Willkürherrscher, als δεσπότης erscheint, der gleichsam mit der Ausgestaltung eines autokratischen oder absolutistischen Regierungssystems im Sinne einer totalitären Diktatur beschäftigt sei. In der Erscheinung Jesu Christi wende sich Gott den Menschen als Freund zu, mache sich der Herr zum Freunde des Menschen: »Macht sich der Herr zum Freunde, so hat das zur Folge, daß er nicht mehr als ›despotische Gott-Hypostase‹, die dem Menschen die Autonomie mißgönnt (E. Bloch), gedacht werden darf. Der Herr als Freund – d.h. a) er stellt seine Macht in den Dienst der Freundschaft; b) er begibt sich des despotischen Befehlsverhältnisses und will statt dessen [sic!] Partnerschaft, also die freie Antwort des Freundes; c) er mißgönnt dem Freunde nicht die Entfaltung seiner Möglichkeiten, die Gewinnung erfüllenden Lebens, sondern will dazu verhelfen. Der Herr als Freund heißt also: Der Schöpfer hilft dem Geschöpf zur Autonomie, – und dies ist die Abhängigkeit des Geschöpfs vom Schöpfer.«50

Freundschaft wie Jüngerschaft sind vom Sklaventum definitiv zu unterscheiden. Johanneisch meint Jüngerschaft ihrem Wesen nach Freundschaft. Wie noch näher zu entfalten sein wird, waschen nicht die Jünger Jesus, sondern wäscht er ihnen die Füße (vgl. Joh 13,1–20).51 Sklaventum und Freundschaft werden im großen »Freundschaftsabschnitt« (Joh 15,12ff.) des Johannesevangeliums innerhalb der zweiten Abschiedsrede (Joh 15,1–16,33) kontrastiert. Jesus spricht seine Jünger dort als Freunde an und verneint explizit deren Sklaventum: »Nicht mehr nenne ich euch Sklaven; denn der Sklave weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich Freunde genannt; denn ich habe euch alles kundgetan, was ich vom Vater ge-

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Aristoteles, EthEud 1244b 5ff.; EthM 1208b u.ö. Aristoteles, EthNic 1168b 7f. 50 H. Gollwitzer, Krummes Holz – aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens, München 1970, 350. 51 Ein Bezug der Fußwaschungsgeschichte zum prophetischen Amt ist auch dadurch gegeben, dass Jesus hier als Lehrer (Joh 13,14) auftritt: »[A]ll ihr [der Jünger, M.H.] Lernen von ihm, dem Lehrer, [muß sich] darin konzentrieren, diese seine Liebe zu begreifen und sie in dieser Zielrichtung selbst anzunehmen: einander die Füße zu waschen, einander Sklavendienst zu tun, einander so zu lieben, wie er sie geliebt hat«. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, 209. Hervorhebung im Original. 49

Das prophetische Amt

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hört habe« (Joh 15,15).52 Dieser Vers verweist der Sache nach auf das prophetische Amt Jesu, das in der Offenbarung des Willens des Vaters besteht. Jesus tut seinen Jüngern kund, was er vom Vater gehört hat (so auch Joh 3,23; 8,26.40). Jesus schließt dabei hinsichtlich seines Verhältnisses zu seinen Jüngern aus, »dass es […] eines von Befehl und Gehorsam ist, bei dem der Sklave über Sinn und Zweck des ihm befohlenen Tuns nichts weiß. Er wird nicht ins Vertrauen seines Herrn gezogen. Das aber macht den Freund aus, dass er ins Vertrauens gezogen wird.«53 Wie Calvin herausgearbeitet hat, geht es hier nicht exklusiv um Christus, sondern auch um das prophetische Amt der Kirche: »Christus empfing diese Salbung [zum Propheten] nicht für sich allein, damit er recht das Amt des Lehrers ausüben könnte, sondern für seinen ganzen Leib (die Gemeinde), damit in der immerwährenden Verkündigung des Evangeliums die Kraft des Geistes sich entsprechend auswirke.«54 Dieses Verkündigungsamt ist Freundschaftsdienst und kein Sklavendienst – genau für diesen neuralgischen Punkt sensibilisiert der Freundschaftsbegriff. Geht es nicht um Sklavengehorsam, wie der Jüngertitel »Freund« betont, so bleibt doch ein Gefälle – auch im Freundschaftsbund zwischen Jesus und seinen Jüngern – bestehen. Dies hat damit zu tun, dass es sich bei der Freundschaft theologisch um einen Topos der Erwählung55 handelt: »Das bringt Jesus am Beginn von V. 16 deutlich zum Ausdruck: ›Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe mir euch erwählt.‹ Jesu Handeln konstituiert dieses Verhältnis, nicht das Handeln derjenigen, die zu ihm kommen.«56 Formal ausgedrückt, bleibt zwischen Jesus und seinen Jüngern eine Asymmetrie bzw. Differenz bestehen.57 Die Asymmetrie wird, wenn man so will, auf Dauer gestellt. Es erfolgt keine die Differenz nichtende Synthese. Gleichwohl eliminiert diese Differenz nicht das symmetrische Freundschaftsverhältnis, sondern ermöglicht es vielmehr: »Die Verkündigung Jesu, seine Wahl der Jünger und die Aufgipfelung seines Offenbarerwirkens in der stellvertretenden Lebenshingabe geschehen zunächst einseitig und ohne Gegenleistung seitens der Jünger. Mit anderen Worten: Die Selbsthingabe Jesu in 52

Übersetzung nach K. Wengst, Das Johannesevangelium. 2. Teilband: Kapitel 11–21, ThKNT 4,2, Stuttgart 22007, 148. 53 A.a.O., 157f. Treffend U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig 1998, 242: »Die Gottesbeziehung des joh. Christen ist nicht von blinder Unterwerfung geprägt, sondern vom Wissen um den Willen und das Wesen Gottes: die Liebe.« 54 J. Calvin, Inst. (1559), II,15,2. – OS III,473,20–22. 55 Dies betont nachdrücklich C. Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes. Teilband 2: Johannes 13–21, ZBK.NT 4/2, Zürich 2001, 116f. Vgl. M. Hofheinz, Umstrittene Freundschaft. Eine kleine Apologie der theologischen Konzeptualisierung des Freundschaftsbegriffs, in: ders. u.a. (Hg.), Freundschaft, (23–52) 41f. 56 Wengst, Das Johannesevangelium 2, 158. 57 Vgl. zu den folgenden Ausführungen: M. Hofheinz, Gottesfreund – Menschenfreund. Vom Richtungssinn theologischen Freundschaftsdenkens, in: ders. u.a. (Hg.), Freundschaft, (399–430) 427f.

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»Welch ein Freund ist unser Jesus« den Tod ist für das Johannesevangelium nicht ein seltener Grenzfall innerhalb einer bestehenden, sich wechselseitig bereichernden Freundschaft, sondern allererst die Begründung der nachösterlichen Freundschaft zwischen Jesus und den Jüngern.«58

Mit Jürgen Roloff gesprochen: »Weil Christus die Glaubenden zu seinen Freunden und Vertrauten gemacht hat, darum gibt es Kirche als Gemeinschaft der Freunde Jesu, die als solche auch untereinander Freunde sind.«59 Die Gemeindebildung als Freundschaftsbildung ist also nach Johannes ein Effekt der Erwählung durch Christus.60 Sie hat insofern konsekutiven Charakter. Jesus fügt die Gemeinde als Freunde zusammen, wobei seine Liebe nicht nur denen gilt, »die bereits Freunde sind: vielmehr macht er sie erst zu Freunden.«61 Damit stellt er Symmetrie zwischen ihnen her: Symmetrie auf menschlicher Ebene, die in der Asymmetrie zwischen Gott und Mensch wurzelt, wobei die hergestellte Symmetrie nicht nur die Jünger untereinander, sondern auch deren Verhältnis zu Jesus betrifft und charakterisiert. Auch hier ist also ein symmetrisches Verhältnis gegeben, das Reziprozität ermöglicht: »In der Begegnung mit Jesus entzündet sich […] auch die menschliche Freundschaft, angesteckt von Jesus, der Freundschaft mit den Seinen schließt. Es ist eine echte Wechselseitigkeit, so radikal die Asymmetrie der Verhältnisse ist, weil Jesus die Jünger zu seinen Freunden erklärt. Die Freundschaft Jesu, besiegelt in seinem Tod, ist so groß, dass er die ›Knechte‹ zu Freien macht, die lieben können und in ihrer Gottesliebe nicht nur Objekte der Gnade Gottes sind, sondern Subjekte, die Freundschaft erwidern und so befestigen können.«62

Freundschaft mit Jesus ist gekennzeichnet durch ein Zugleich von Symmetrie und Asymmetrie, radikaler Gleichheit und Ungleichheit: »Es ist eine Freundesbeziehung radikaler Ungleichheit, die aber transzendiert wird, weil Jesus Mensch ist, und radikaler Gleichheit, die aber unendlich transzendiert wird, weil dieser Mensch ›Gott‹ ist, wie Thomas bekennt (Joh 20,28).«63

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K. Scholtissek, »Eine grössere Liebe als diese hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde« (Joh 15,13). Die hellenistische Freundschaftsethik und das Johannesevangelium, in: J. Frey / U. Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums, WUNT 175, Tübingen 2004, (412–439) 436. 59 J. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament, GNT 10, Göttingen 1993, 299f. 60 Vgl. Hofheinz, Umstrittene Freundschaft, 43. 61 Söding, Freundschaft, 228. 62 A.a.O., 228f. 63 A.a.O., 230.

Das königliche Amt

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5. Das königliche Amt In welcher Weise erschließt nun das Freundschaftsprädikat das königliche Amt Christi? Calvin bemerkt dazu in Frage 37 des »Genfer Katechismus« (1545): »Welcher Art ist nun sein Königtum, von dem du sprichst? Es ist geistlich, weil es in Wort und Geist Gottes besteht, die Gerechtigkeit und Leben mit sich bringen.«64 Christus übt sein geistliches Amt durch Wort und Geist in seinem geistlichen Reich aus. Das Freundschaftsprädikat unterstreicht und verdeutlicht diesen geistlichen Charakter von Christi Königtum. Es geht nicht um einen König, der apathisch in höchster Höhe thront, unerreichbar und unberührbar für uns Menschen, sondern es geht um einen König, der sich herabbeugt, sich erniedrigt, wie Calvin sagt: »Denn darum ist Christus erniedrigt worden, daß er uns in die Höhe hebe.«65 Anders gesagt, geht es um einen König, der anderen die Füße wäscht (Joh 13,1–20). Bei der Fußwaschungsgeschichte handelt es sich, auch wenn der Begriff explizit nicht gebraucht wird, um eine Freundschaftsgeschichte: Jesus errichtet mit der Fußwaschung ein »Denkmal seiner Freundschaft«.66 Und dieses Denkmal seiner Freundschaft ist die radikale Umprägung jener stolzen Denkmäler der erhabenen Könige, die sich dienen lassen. Lochman identifiziert »[d]as Herrsein Jesu als Umwertung aller Herrschaft«.67 Treffend führt er aus: »Kein noch so machtstrotzender Herrscher ist der wahre Herr, sondern der wahre ist der dienende Mann aus Nazareth. Die Macht der Liebe und nicht die Liebe der Macht ist sein Weg – und seine Wegweisung. Nur in ethischer und politischer Entsprechung zu diesem Weg – und also im Zug solidarischer Proexistenz ›nach unten‹ und nicht im Herrschaftsdrang ›nach oben‹ – kann ein Christ, eine Kirche, die Herrschaft Christi glaubwürdig bekennen und vertreten.«68

Theologisch hoch bedeutsam ist es in der Tat, dass der Evangelist Johannes die Sklavenarbeit des Κύριος in der Fußwaschungserzählung in den Mittelpunkt rückt:69 »Die Proposition der johanneischen Fußwaschung ändert das Gottesver-

64

CStA 2,27. Vgl. J. Calvin, Inst. (1559), II,15,3–5. – OS III,474,19–479,33. Hervorhebung im Original. 65 J. Calvin, Komm. Joh 17,3 (CR 75,376f.). 66 J.-H. Tück, Wie freundschafts(un)fähig sind wir? Ein erster Erkundungsgang, IKaZ 36 (2007), (215–219) 218. J. Beutler (Das Johannesevangelium Kommentar, Freiburg i.Br. 2013, 428) betont zu Recht den engen Bezug der Fußwaschungsperikope mit dem Bild des Freundes (Joh 15,9–17). Fernerhin: H. Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005, 591. 67 J.M. Lochman, Das Glaubensbekenntnis. Grundriß der Dogmatik im Anschluß an das Credo, Gütersloh 21985, 81. 68 A.a.O., 85. 69 So auch L. Abramowski, Die Geschichte von der Fußwaschung (Joh 13), ZThK 100 (2005), (176–203) 177; Thyen, Das Johannesevangelium, 592.

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»Welch ein Freund ist unser Jesus«

ständnis fundamental und erscheint als Revolutionierung des Gottesbegriffs.«70 Ein radikal neues Verständnis Gottes wird eröffnet: »Nach Johannes hat Jesus den Gottesgedanken, zu dem seit alters die Begriffe von Allmacht und Herrschaft gehören, völlig neu geprägt.«71 Die Proexistenz, die Jesu Dienst des Fußwaschens symbolisiert, umschreibt nach Auffassung des Johannes keine kontingent-beiläufige Erscheinungsform seines Wirkens, keine Ingredienz in dessen Vollzug. Vermittelt über das Jesusbild des Johannes ist sie vielmehr charakteristisch, ja als »Kern und Stern« entscheidend für dessen Gottes- und Kirchenbild: »Johannes versteht das ganze Leben und Sterben Jesu unter diesem Zeichen des dienenden Daseins für den Anderen. […] In seiner ganzen Existenz hat Jesus Gott als die den Menschen befreiende und rettenden Liebe ausgelegt.«72 Hier zeigt sich zugleich der enge Konnex zwischen dem königlichen und dem prophetischen Amt Christi, das in der Auslegung, wenn man so will: der »Exegese« Gottes (Joh 1,18) besteht. In der Wahrnehmung seines königlichen Amtes leistet Christus zugleich das, was Inhalt seines prophetischen Amtes ist. So ist die Koinzidenz nicht verwunderlich: Die Vorstellung eines apathischen deus supra nos schließen beide Ämter im Lichte des Freundschaftsbegriffs dezidiert aus.73 Wie wichtig die Freundschaftserzählung der Fußwaschung für ein theologisch angemessenes Verständnis des königlichen Amtes Jesu ist, zeigt sich, wenn man sie mit der herkömmlichen Auslegung dieses Traditionsstücks etwa im »Kleinen Westminster Katechismus« (1647) vergleicht. In Frage 26 heißt es dort: »How doth Christ execute the office of a king? Christ executeth the office of a king in subduing us to Himself, in ruling and defending us, and in restraining and conquering all His and our enemies.«74 Anders als dieser exekutierende Christus, von dem der »Kleine Westminster Katechismus« spricht, unterwirft der Fußwaschende nicht, sondern er wird selbst zum Diener. Er lässt andere nicht vor sich niederknien, sondern kniet sich selbst im Akt der Fußwaschung vor den Geringen nieder. Jesu Fußwaschung bedeutet indes nicht den Verlust von Autorität und Herrsein, sondern deren sachgemäße und beispielshafte Ausübung: »Die Fußwaschung machte Jesus nicht zum Diener, wie es der normalen Ordnung entsprochen hätte. Vielmehr vollzog Jesus gerade als Herr die Fußwaschung; sie hebt sein Herrsein nicht auf, sondern im Dienen erweist Jesus seine Herrschaft.«75 Dementsprechend kann der johanneische Christus am Kreuz als dem Ort tiefster Erniedrigung das τετέλεσται – »es ist vollbracht«

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M. Wirth, Distanz des Gehorsams. Theorie, Ethik und Kritik einer Tugend, Religion in Philosophy and Theology 87, Tübingen 2016, 373. 71 J. Blank, Das Evangelium nach Johannes, Düsseldorf 1977, 41. 72 A.a.O., 39. 73 So auch Wirth, Distanz des Gehorsams, 377. 74 BSRK 645,10–13. Hervorhebung im Original. 75 Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, 216.

Das königliche Amt

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(Joh 19,30; Zürcher Bibel, 2007) sprechen. Im Johannesevangelium ist bereits der Gekreuzigte der Erhöhte. Das Kreuz repräsentiert gleichsam Jesu Königsthron.76 Es geht insofern gerade nicht um eine Negation allen Königlichen, sondern um dessen authentische Veranschaulichung wie evidente Ausübung:77 »In der K[önigsherrschaft] läßt Christus nicht das Kreuz hinter sich, aber die gottwidrigen Gewalten, zu deren Überwindung er sein Leben gab. Was sonst herrscht, wird durch die K[önigsherrschaft] Ch[risti] in den Schatten gestellt, indem in ihr Macht neu definiert wird: ›Christokratie‹ heißt zugleich ›Christodiakonie‹.«78 Es ist nahezu überflüssig zu erwähnen, dass Jesu performative Uminterpretation von Autorität und Herrsein durch die Fußwaschung nicht einfach nur ethische Implikationen hat, sondern »Ethos« unmittelbar vor Augen führt, ein Ethos im wörtlichen Sinne eines Raumes, eines Stalls, einer Wohnung,79 in denen andere Gesetzmäßigkeiten gelten sollen als in der »Welt«. Insofern setzt die Fußwaschung Jesu »ekklesiologische Akzente«80 einer »Heterotopie«81 sui generis. Calvin stellt in seiner Lehre vom dreifachen Amt den Bezug zur Ekklesiologie explizit her und betont mit Blick auf das königliche Amt Christi, dass ihm die Salbung durch den Heiligen Geist »nicht für sich allein (privatim) gegeben worden [ist], sondern er soll eben seine Fülle den Hungernden und Durstigen überfließend zuteilwerden lassen!«82 Diesen Impuls Calvins aufnehmend, bemerkt Michael Welker: »Diese Königsherrschaft [Christi] im Licht der Ausgießung des Geistes revolutioniert hierarchische und monarchistische kirchliche und mittelbar auch politische Herrschafts- und Ordnungsformen. Denn dieser König ist zugleich Bruder und Freund, ja ein Armer und Ausgestoßener. Mit ihrem radikaldemokratischen und post-patriarchalen Ordnungsdenken wird diese Königsherrschaft den einen tatsächlich ungemütlich unübersichtlich erscheinen, den anderen aber exemplarisch für eine Freiheit bejahende Orientierungssuche in Gemeinde und Zivilgesellschaften.«83

Die Sklavenarbeit der Fußwaschung ist demnach als Jesu Demonstration der Art von Autorität zu verstehen, die eine Gemeinschaft prägen soll, die durch Liebe und Selbstlosigkeit bestimmt ist. Freilich wird man aus der Fußwaschungserzählung nicht einfach das Programm einer narrativen Imitationsethik ableiten kön76

Vgl. W. Kreck, Die Versöhnungslehre Karl Barths als kritische Anfrage an den Heidelberger Katechismus, RKZ Beiheft 2 (1989), (2–7) 3. 77 Vgl. Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus II, 151; Klappert, Miterben der Verheißung, 280. 78 E. Busch, Art. Königsherrschaft Christi I. Dogmatisch, RGG4 4 (2001), (1586–1588) 1587. 79 Vgl. K. Barth, KD II/2, 569. 80 Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, 217. 81 Vgl. M. Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper, Frankfurt a.M. 2005. 82 J. Calvin, Inst. (1559), II,15,5. – OS III,477,9–11. Hervorhebung im Original. 83 Welker, Gottes Offenbarung, 223; dort z.T. kursiv.

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»Welch ein Freund ist unser Jesus«

nen. Zwar erteilt Jesus nach Joh 13,14f. ausdrücklich den Auftrag zur imitatio und interpretiert die Waschung ekklesiologisch als entschiedenes »Nein« zu innergemeindlicher Despotie: »Wenn nun ich als Herr und Meister euch die Füße gewaschen habe, dann seid auch ihr verpflichtet, einander die Füße zu waschen. Denn ein Beispiel habe ich euch gegeben: Wie ich euch getan habe, so tut auch ihr« (Joh 15,14f.; Zürcher Bibel, 2007). In der Tat lässt sich zwar festhalten: »Jesu Verhalten wird zur Norm der Gemeinde; was der Herr tat, soll auch der Knecht, die Gemeinde, verwirklichen.«84 Freilich ist die imitatio nur möglich als participatio. Die in V. 14f. angesprochene Verpflichtung ist nur auf dem Hintergrund der Antwort Jesu an Petrus in V. 8b zu verstehen: »Wenn ich dich nicht wasche, hast du nicht teil an mir.« Es geht also um Teilhabe, mithin um den soteriologischen Ermöglichungsgrund der imitatio: »[M]it V. 8b interpretiert Johannes die Fußwaschung als einen von Jesus selbst ausgehenden, Gemeinschaft stiftenden Akt. Durch die Fußwaschung eröffnet Jesus die Teilhabe an ihm. Dieser soteriologische Horizont der Fußwaschung setzt Jesu Tod voraus, der als ein Akt der Liebe den Raum der Liebe in der Gemeinschaft mit Jesus und im gegenseitigen Dienen in der Gemeinde erst ermöglicht.«85

In diesem Sinne ist die Fußwaschung zugleich als ein sacramentum et exemplum zu verstehen und zwar in dieser sachlichen Reihenfolge. Das heißt: Geht es zunächst und primär bei der Fußwaschung als »Vorausdarstellung des Kreuzesgeschehens«86 »um den Tod Jesu als ein das menschliche Sein effektiv veränderndes Geschehen, d.h. als sacramentum«,87 so tritt sodann nachgeordnet mit ihm in den Blick: »ein den ›rein‹ gewordenen Menschen verpflichtendes exemplum. […] Die Bedeutung des Todes Jesu als sacramentum [ist] seinem Verständnis als exemplum vorgeordnet und übergeordnet.«88

84

Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, 217. A.a.O., 215. Vgl. Söding, Freundschaft, 227: »Jesus ist ein Vorbild im Lieben, aber mehr als das: Seine Liebe begründet die Liebe der Jünger; und noch viel mehr: Seine Liebe bewirkt die Liebe der Jünger und kommt in ihr zum Ausdruck, auch wenn sie nie in ihr aufgeht. Jesu Liebe verändert ihren Status.« 86 O. Hofius, Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu. Joh 13,1–11 als narratives Christuszeugnis, ZThK 106 (2009), (156–176) 175. Zu beachten ist nach Hofius fernerhin, dass die Fußwaschung Jesu nicht einfach nur als ein beliebiges Beispiel für dienendes Handeln darzustellen, sondern ein »Leitbild«, wie Hofius ὑπόδειγμα übersetzt. Im Unterschied zur Beispielhandlung hat ein Leitbild einen höheren Verpflichtungsgrad. Vgl. a.a.O., 173–175. 87 A.a.O., 175. Hervorhebung im Original. 88 A.a.O., 175f. Hervorhebungen im Original. Zur exemplum/sacramentum-Terminologie vgl. E. Jüngel, Das Opfer Jesu als sacramentum et exemplum. Was bedeutet das Opfer Christi für den Beitrag der Kirchen zur Lebensbewältigung und Lebensgestaltung?, in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, BEvTh 107, München 1990, 261–282; M. Hofheinz, Freiheit zur Nachahmung. Problemorientierte Bemerkungen zu einem vernachlässigten Aspekt reformatori85

Das priesterliche Amt

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6. Das priesterliche Amt Mit dem priesterlichen Amt wenden wir uns nun abschließend dem umstrittensten Amt zu.89 Wiederum lautet unsere Ausgangsfrage: In welcher Weise erschließt das Freundschaftsprädikat das priesterliche Amt Christi? Calvin bemerkt im »Genfer Katechismus« (1545) in Frage 38: »Und das Priestertum? Es ist die Pflicht und das Vorrecht, vor Gottes Angesicht zu treten, um Gnade zu erlangen und um seinen Zorn durch die Darbringungen eines Opfers, das ihm genehm ist, zu stillen.«90 Es geht demzufolge um ein Versöhnungsgeschehen, das als Eintreten vor Gott für uns (intercessio) und als stellvertretendes Opfer (satisfactio) dargestellt wird.91 Insbesondere das Satisfaktionsverständnis Calvins im Sinne einer Interpretation des stellvertretenden Todes Christi als Selbstopfer zur Abtuung unserer Schuld und zur Genugtuung für Gott wirkt geradezu provozierend, vor allem wenn Calvin vom Stillen von Gottes Zorn spricht. Das obige Zitat erscheint geradezu als Ansammlung jener Reizworte, die eine Alternative zur Deutung des Todes Jesu im Sinne der Sühneopfervorstellung überfällig erscheinen lassen. Für Klaus-Peter Jörns etwa gehört die Vorstellung vom Sühneopfer zu jenen »notwendigen Abschieden«,92 die den Weg eines glaubwürdigen Christentums markieren.93 Fragt man detailgenau danach, welcher Vorstellungsgehalt in besonderer Weise als anstößig erscheint, so dürfte es das Verständnis des Kreuzestodes Jesu als satisfaktorisches und propriatorisches Sühnopfer sein: »Gilt Jesu Kreuzestod als ein satisfaktorisches Sühnopfer, so besagt dies, daß Jesus mit seinem Tod dem durch die Sünde des Menschen beleidigt und deshalb dem Sünder tödlich zürnenden Gott die erforderliche Genugtuung geleistet habe. Wird dieses Sühnopfer zugleich als ein propriatorisches Opfer verstanden, so ist gemeint, daß Jesus

scher Ethik, in: ders., Ethik – reformiert! Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert, FRTH 8, Göttingen 2017, 114–160. 89 So W. Joest / J. von Lüpke, Dogmatik I: Die Wirklichkeit Gottes, UTB 1336, Göttingen 5 2010, 204. Fernerhin: I.U. Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, 287. Dalferth referiert (a.a.O., 287–292) diverse Aspekte der Opferkritik. 90 CStA 2,27. 91 Vgl. J. Calvin, Inst. (1559), II,15,6. – OS III,480,1–481,18. 92 Vgl. K.-P. Jörns, Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 32006. 93 Vgl. K.-P. Jörns, Lebensgaben Gottes feiern. Abschied vom Sühnopfermahl. Eine neue Liturgie, Gütersloh 2007, 30: »Für mich steht fest, dass das Verständnis der Hinrichtung Jesu als (Sühne-)Opfer zur Erlösung der Welt das am meisten problematische Erbe ist, das wir aus der Zeit der sich bildenden christlichen Überlieferungen haben, also aus der Zeit, in der die Jesusüberlieferung von seinen Zeitgenossen theologisch gedeutet worden sind.«

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»Welch ein Freund ist unser Jesus« durch die in seinem Tod geleistete Genugtuung den zornigen Gott gnädig gestimmt und so dem sündigen Menschen die versöhnliche Zuwendung Gottes erwirkt habe.«94

Bisweilen wird eine Deutung des Todes Jesu als Werk der Herstellung von Freundschaft als Alternative zu einer Sühneopfertheorie verstanden: »Neben dem Gedanken des stellvertretenden Sühnetodes begegnen im Neuen Testament auch andere Deutungen des Todes Jesu, die ihn etwa als Erweis der Freundesliebe verstehen (Joh 15,13).«95 Bei Lichte betrachtet, stehen im Johannesevangelium der Erweis der Freundesliebe und die Sühnevorstellungen allerdings keineswegs unvermittelt und als einander widersprechend oder gar ausschließend nebeneinander. In der zweiten Abschiedsrede (Joh 15,1–16,33) wird vielmehr – wie wir gesehen haben – beschrieben, dass »Jesus selbst aus Knechten Freunde [macht], indem er seine Sendung vollzieht: in der Verkündigung der Liebe des Vaters in Wort und Tat und in seiner diese Verkündigung besiegelnden liebenden Lebenshingabe.«96 Diese wird im Kontext des Johannesevangeliums als sühnende Stellvertretung verstanden.97 Der Freundeserweis lässt sich sühnetheologisch deuten und vice versa die Sühne als Freundeserweis. Eine sühnetheologische Deutung des Kreuzestodes Jesu findet sich übrigens bereits zu Beginn des Johannesevangelium an exponierter Stelle, wo Jesus als »das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt« (Joh 1,29; Zürcher Bibel, 2007),98 attribuiert wird: »Nach dem Johannesevangelium ist Jesus, der menschgewordene Logos und Gottessohn (1,14), das eschatologische Passalamm Gottes, das mit seinem Tod ›die Sünden der Welt hinwegnimmt‹ (1,29.36; vgl. 19,14ff. [Jesus stirbt in der Stunde, in der die 94

O. Hofius, Sühne und Versöhnung. Zum paulinischen Verständnis des Kreuzestodes Jesu, in: ders., Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen 21994, (33–49) 34. Hervorhebungen im Original. 95 H. Hoping, Einführung in die Christologie, Darmstadt 2004, 156. 96 Scholtissek, Liebe, 435. 97 Vgl. zu dieser exegetisch nicht unumstrittenen Aussage bes. J. Frey, Die »theologia crucifixi« des Johannesevangeliums, in: A. Dettwiler (Hg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament, WUNT 151, Tübingen 2002, 169–238; J. Frey, Die Deutung des Todes Jesu als Stellvertretung. Neutestamentliche Perspektiven, in: J.C. Janowski u.a. (Hg.), Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte. Band 1: Interdisziplinäres Symposion Tübingen 2004, Neukirchen-Vluyn 2006, 87–121; J. Frey, Probleme der Deutung des Todes Jesu in der neutestamentlichen Wissenschaft. Streiflichter zur exegetischen Diskussion, in: ders. / J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, UTB 2953, Tübingen 2005, 3–50; T. Knöppler, Die theologia crucis des Johannesevangeliums. Das Verständnis des Todes Jesu im Rahmen der johanneischen Inkarnations- und Erhöhungschristologie, WMANT 69, Neukirchen-Vluyn 1994. 98 Zur Auseinandersetzung mit Jörns auf dem Hintergrund von Joh 1,29 vgl. B. Klappert, »Alles menschliche Leben ist durch Stellvertretung bestimmt« (D. Bonhoeffer). Oder: Siehe, das Lamm GOTTes, das die Sünde der Welt (er-)trägt (Joh 1,29), EvTh 72 (2012), 39–63. Vgl. auch B. Klappert, Siehe, das ist das Befreiungslamm Gottes. Predigt über Joh. 1,29, in: S. Landau u.a. (Hg.), Zwischen Mystik und Ratio. FS Rainer Röhricht, Waltrop 1989, 116–132.

Das priesterliche Amt

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Schlachtung der Passalämmer erfolgt]; 19,33ff.) Der Tod Jesu am Kreuz als die dem Willen des Vaters entsprechende Selbsthingabe für die Seinen (3,14ff.; 10,11.15.17f.; 14,31; 18,11) ist das wahrhaft heiligende Sühnopfer (17,19), das die Erwählten von der Seinsverfallenheit an die Sünde befreit (8,34ff.) und sie eben damit aus dem Tod in das ewige Leben in der Gottesgemeinschaft versetzt (3,16.36; 5,24; 6,51; 10,28; 17,2). Das theologische Gewicht des Sühnegedankens zeigt sich in der das Evangelium umspannenden soteriologischen Inklusion 1,29/19,33ff., die in der christologischen Inklusion 1,1f./20,28 ihr Fundament hat.«99

Die sühnetheologische Deutung des Kreuzestodes Jesu ist demzufolge auch für das Johannesevangelium keineswegs peripher. Eine zentrale Aufgabe der Theologie besteht zweifellos in der hermeneutischen Aneignung der Rede von Jesu Sühnetod. Bei dieser Aufgabe kann das Freundesprädikat eine wichtige Hilfestellung leisten. Inwiefern? Die Vorstellung von einem satisfaktorischen und propriatorischen Sühnopfer basiert auf dem vorgefertigten Bild eines durch die Sünde beleidigten und dem Sünder zürnenden Gottes, dem Genugtuung zu leisten und der gnädig zu stimmen ist. Die Rede von Gott als Freund hingegen widerspricht dieser Vorstellung von Gott als einem seiner Natur nach uns feindlich gesinnten deus contra nos. Sie entzieht dem satisfaktorischen und propriatorischen Sühneopferverständnis gleichsam den Boden. Gott erweist sich nämlich im Christusgeschehen als ein Freund des Menschen, der sich im Sühnegeschehen rettend mit dem sündigen Menschen identifiziert und darin seine Liebe zeigt (Joh 3,16). Die so erwiesene Liebe Gottes ist zugleich die Liebe Christi (Joh 13,1). Gott selbst ist demnach nicht Objekt, sondern Subjekt der Versöhnung, was aber zugleich heißt: Er, der Freund, muss nicht versöhnt werden, sprich: von einem zornigen in einen freundlichen Gott transformiert werden. Vielmehr ist Gott selbst in Christus das handelnde Subjekt der Versöhnung, indem Gott, der Freund, sich selbst mit dem Menschen im Sühnegeschehen identifiziert. Kraft dem für das Sühnegeschehen konstitutiven Akt dieser Identifikation »ist der Sünder in Jesu Geschick hineingenommen und folglich durch seinen Tod und seine Auferstehung in die Leben erschließende Gemeinschaft mit Gott geführt worden. Jesu Tod als das die Sündenwirklichkeit aufhebende und vom Tod errettende Sühnopfer ist so wesenhaft göttliches Heilshandeln an dem Menschen, nicht dagegen ein Handeln vor Gott und für Gott. Wird Jesu Tod im Neuen Testament als ›Opfer‹ beschrieben, so hat dieser Begriff mithin einen der traditionellen Opferanschauung gegenüber völlig neuen Sinn gewonnen.«100

Diese fundamentale Neufassung, auf die nicht zuletzt der Freundesbegriff verweist, will auch systematisch-theologisch im Zusammenhang der Lehre vom dreifachen Amt bedacht sein: 99

O. Hofius, Art. Sühne IV. Neues Testament, TRE 32 (2001), (342–347) 345. A.a.O., 344. Hervorhebungen im Original.

100

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»Welch ein Freund ist unser Jesus« »Jede Rede vom Opfertod bzw. Sühnopfer Jesu, die den Eindruck erweckt, als handle es sich um ein Gott dargebrachtes Opfer oder gar um ein satisfaktorisches und propriatorisches Geschehen, ist nicht nur zutiefst mißverständlich, sondern theologisch inakzeptabel. Entscheidend für eine angemessene Rezeption des neutestamentlichen Sühnegedankens ist die konsequente Aufnahme der Grundaussage, daß in Jesu Person und Werk Gott selbst für den sündigen Menschen eingetreten ist, um ihn in seiner schöpferischen Allmacht von der Sünde zu befreien und so zu einer ›neuen Kreatur‹ (2Kor 5,17) zu machen.«101

In diesem Sinne lässt sich auch der Schlüsselsatz Joh 15,13 als Beschreibung eines Aktes der inkludierenden Stellvertretung interpretieren: »Niemand hat grössere Liebe als wer sein Leben einsetzt für seine Freunde« (Zürcher Bibel, 2007). Mit Thomas Söding gesprochen: »Das Wort zitiert einen Topos hellenistischer Freundschaftsethik, aber bricht die Topik auf. Die Griechen kennen ebenso wie die Juden einen Freundschaftsdienst in exkludierender Stellvertretung. Ein Freund stirbt für einen anderen, damit der nicht zu sterben braucht. Jesu Stellvertretung ist inkludierend: Seine Jünger sterben mit ihm; so werden sie auch mit ihm auferstehen – und haben nach Johannes jetzt schon das ewige Leben.«102

7. Abschließende Überlegungen zum Gebrauch des Freundschaftsbegriffs als Interpretament der Lehre vom dreifachen Amt Der Freundschaftsbegriff, so habe ich anhand der Lehre vom munus triplex zu zeigen versucht, besitzt in soteriologischer Hinsicht ein großes kritisches Potential. Was Jesus für uns getan hat, lässt sich in seiner Vielfalt durch Ingebrauchnahme des Freundschaftsbegriffs als Interpretament der Lehre vom dreifachen Amt zeigen. So wie die Lehre vom munus triplex »geeignet [ist], jeder Vereinseitigung zu wehren und das Eine und Ganze des Werks dieser Person in seiner ganzen Fülle anzudeuten«,103 so gibt der Freundschaftsbegriff den einzelnen Ämtern den theologisch sachgemäßen Richtungssinn. Er verweist jeweils neu auf die Prärogative Gottes im freundschaftsbestimmenden Handeln, die Christus in allen seinen Ämtern anschaulich werden lässt: »Jesu Liebe gilt nicht nur denen, die bereits seine Freunde sind; vielmehr macht er sie erst zu Freunden.«104 Indem der Freundschaftsbegriff auf die jeweiligen Ämter angewendet wird, verdeutlicht er deren

101

103 104 102

A.a.O., 346. Hervorhebungen im Original. Söding, Freundschaft, 228. Weber, Grundlagen der Dogmatik II, 202. Söding, Freundschaft, 228.

Abschließende Überlegungen

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Zusammenhang. Er wird so zum untrüglichen Indikator dafür, dass es weniger um eine Lehre von drei separaten Ämtern als vielmehr eine Lehre vom dreifachen Amt geht. Wenn vom Freundschaftsbegriff als Interpretament gesprochen wird, gilt es indes auch im Blick zu behalten, dass er zugleich ein Interpretandum ist und bleibt. Insofern sind auch Rückkoppelungseffekte vom dreifachen Amt auf den Freundschaftsbegriff keineswegs ausgeschlossen. Das Interpretament wird dann umgekehrt zum Interpretandum. Diesbezüglich sei abschließend das Phänomen analoger Rede von Gott in den Blick genommen. Der Freundschaftsbegriff ist zunächst im allgemeinen Sprachgebrauch recht vieldeutig und kann assoziativ auf unterschiedliche Beziehungen und diesen zugrundliegende Erfahrungen und Verhaltensweisen bezogen werden. Die Rede von Gott bzw. Jesus als Freund partizipiert natürlich an diesem allgemeinen Sprachgebrauch. Will menschliches Reden von Gott allerdings rechtes, Gott entsprechendes Reden sein, dann wird es sich hinsichtlich des Sprachgebrauchs und konkret hinsichtlich der Verwendung des Freundschaftsprädikats davon bestimmen lassen, dass und wie Gott sich selbst mitteilt und darin als Freund erweist. Was den Gebrauch des Freundschaftsprädikats angeht, so verdeutlicht etwa H. Gollwitzer, dass er durch Gottes Handeln geprägt und von dort her erschlossen sein will. Dabei ist davon auszugehen: Gottes Freundsein erschießt sich in seinem freundschaftlichen Wirken: »Personale Termini wie Vater-Sohn, Mutter-Kind, Herr-Knecht, Freundschaft u.ä., werden auf das Verhältnis zu Ihm anwendbar, Er wird ihnen aber nicht unterworfen, d.h. die Beziehung auf Ihn bestimmt die Anwendung. Wie Er Vater, Herr, Freund usw. ist und inwiefern diese Worte für Ihn Geltung haben, kann nur im Blick auf Sein Handeln festgestellt werden, nicht vorher und abgesehen davon durch eine starre Definition dieser Termini. Das Subjekt entscheidet über das Prädikat, nicht umgekehrt.«105

Auch die Rede von Christus als Freund bleibt – ebenso wie die von ihm als Prophet, König und Priester – analoge Rede, die Mehrdeutigkeit niemals ganz ausschließen kann: »Ihren eindeutigen Richtungssinn, in dem sie [diese Worte wie Freund, Prophet, König und Priester] in Bezug auf Gott verstanden sein wollen, erhalten sie aber aus dem Kontext der Gestalt und Geschichte, des Verhaltens und der Verkündigung Jesu und des auf ihn hinführenden Redens Gottes zu Israel.«106 Auch der Freundschaftsbegriff ist mit anderen Worten ein Gleichnis für Gott, der von dessen (Selbst-)Mitteilung her seine Prägung erfahren will. Er ist freilich 105

H. Gollwitzer, Die Existenz Gottes im Bekenntnis des Glaubens. AW 2, hg. von P. Winzeler, München 1988, 130. Zur Gotteslehre Gollwitzers vgl. J. Fangmeier, Gott in der Theologie Gollwitzers, ThZ 19 (1963), 338–351; R. Stieber-Westermann, Provokation zum Leben. Gott im theologischen Werk Helmut Gollwitzers, EHS XXIII/473, Frankfurt a.M. u.a. 1993. 106 Joest / von Lüpke, Dogmatik I, 141.

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»Welch ein Freund ist unser Jesus«

keine Metapher, die nur in einem uneigentlichen Sinn auf Gott übertragen wird, wie etwa die Metapher vom »Arm« oder »Finger« Gottes: »[E]in Finger ist eben ›eigentlich‹ ein menschlicher Finger, und wenn man vom ›Finger‹ Gottes redet, könnte man das, was man sagen will, wohl ebenso gut auch anders sagen. Anders steht es mit Ausdrücken, die ein Verhalten Gottes bezeichnen wie etwa ›Freiheit‹, ›Gerechtigkeit‹, ›Treue‹, ›Liebe‹. Sie sind nicht ohne weiteres auswechselbar und durch ›eigentlichere‹ Worte ersetzbar.«107

Im Blick auf sie ist zu fragen, ob das, was wir unter diesen Ausdrücken kennen, nicht in seiner menschlichen Verwirklichung »uneigentlich« ist und »gerade in und durch Gott sein ›eigentliches‹ Wesen, seine Wahrheit hat.«108 Als ein solches Wesenswort, das solches bezeichnet, dessen Wahrheit eigentlich in Gott verwirklicht ist, in dem aber im Blick auf den theologischen Sprachgebrauch immer ein metaphorisches Moment enthalten bleiben wird, verstehe ich »Freundschaft«. Der Titel des Liedes »Welch ein Freund ist unser Jesus« verweist auf die eigentliche Verwirklichung von Freundschaft in Jesus. Es handelt sich um einen staunenden Ausruf, wie das Pronomen »welch« in seiner ungebeugten Form zeigt, das vermutlich in Anlehnung an das Pilatusdiktum: »Seht, welch ein Mensch« (Joh 19,5; Lutherbibel), gebraucht wird: ecce homo – ecce amicus. Das Christusprädikat »Freund« ist nicht nur in diesem Lied von zentraler theologischer Bedeutung. Als Interpretament des dreifachen Amtes verweist das Christusprädikat »Freund« darauf, dass Christus als König, Priester und Prophet jener »Freund« des Menschen ist, in dem Gott selbst sich als Freund des Menschen erweist und seine »Menschenfreundlichkeit« (Tit 3,4)109 anschaulich werden lässt. Im Geschehen von Kreuz und Auferstehung realisiert er seine Freundschaft als Heil für den Menschen: »Die Freundschaft ist kostspielig für den, der sie gewährt und darum not-wendend für den, dem sie gewährt wird. Jesu Kreuz und Auferstehung sind nicht nur Exempel, nicht nur Symbol für diese mit-leidende Teilnahme des ewigen Freundes am Geschick seiner Freunde, sondern der grundlegende Vollzug dieser Teilnahme selbst; alle weitere Teilnahme ist dessen Folge. Das will die Konzentration des Neuen Testaments auf die Geschichte Jesu ausdrücken: das Heil aller (die ewige Freundschaft mit allen) ist unlöslich mit dieser bestimmten Geschichte dieses einen Menschen verbunden.«110

107

109 110 108

Ebd. A.a.O., 142. Vgl. Wainwright, Salvation, 151. Gollwitzer, Krummes Holz, 351f.

VI. Wiedergeburt? Erwägungen zur dogmatischen Revision eines diskreditierten Begriffs

1. Illustration: Das Phänomen des »born againism« »I’ve been born again« – so lautet bekanntlich der Titel eines Klassikers religiöser Musik. Kaum eine Gospel-CD ist nicht bestückt mit diesem Song. In unzähligen Variationen und durch vielfältigste melodische, harmonische und rhythmische Abwandlungen hindurch dringt ein zentrales Thema an unser Ohr: das der Wiedergeburt – ein Thema freilich, das im Kontext universitärer Theologie1 und eines landeskirchlichen Sprachgebrauchs ebenso unpopulär zu sein scheint, wie es etwa im nordamerikanischen Christentum2 verbreitet ist. Insbesondere im evangelikalen Bereich feiert der persistente Wiedergeburtsbegriff bis zur Stunde fröhliche Urstände. Er gehört hier zweifelsohne zum rhetorischen Kernbestand. Aufgrund der überragenden Bedeutung, die der Wiedergeburtsbegriff nicht nur im evangelikalen Bereich3, einschließlich der weltweiten Pfingstbewegung, ge-

1

A. von Harnack (Terminologie der Wiedergeburt und verwandte Erlebnisse in der ältesten Kirche, TU 42/3, Leipzig 1918, 97–143, 107) konnte hingegen im Blick auf die Alte Kirche vom Gedanken der Neuschöpfung und Wiedergeburt als dem »Zentralgedanken der gelebten Religion« sprechen: »Allgemein waren sich die ältesten Christen bewusst, als Gläubige, d.h. eben durch den Glauben und in ihm, eine Erneuerung erfahren zu haben, deren Akt und Bedeutung sie durch ›Wiedergeburt‹ oder durch Begriffe, die einem solchen Erlebnis nahe stehen, ausgedrückt haben.« A.a.O., 97. Hervorhebungen im Original. 2 Zum Hintergrund der politischen Karriere des Wiedergeburtsbegriffs in Nordamerika vgl. insbesondere die Untersuchungen von M.A. Noll, America’s God. From Jonathan Edwards to Abraham Lincoln, Oxford 2002; ders., Das Christentum in Nordamerika, KGE IV/5, Leipzig 2001; ders., The Old Religion in a New World. The History of North American Christianity, Grand Rapids 2001; ders., One Nation Under God. Christian Faith and Political Action in America, New York 1988; ders., Protestants in America (Religion in American Life), Oxford 2000; ders., Religion and American Politics. From the Colonial Period to the 1980s, Oxford 1989. Ferner: M. Hochgeschwender, Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus, Frankfurt a.M. 2007; E. Pieh, »Fight like David – Run like Lincoln«. Die politischen Einwirkungen des protestantischen Fundamentalismus in den USA, Münster 1998, 71–87. 3 Vgl. M.A. Noll, American Evangelical Christianity. An Introduction, Oxford / Cam­ bridge 2000.

166

Wiedergeburt?

wonnen hat, spricht man inzwischen von einem »born againism«.4 Er findet nicht nur so manchen europäischen Ableger innerhalb des Klientels derjenigen, die sich dem Erbe der Heiligungs- und Erweckungsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts verpflichtet fühlen. Längst hat auch eine »Politisierung des Begriffs«5 stattgefunden. Dabei ist nicht nur an den ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush zu denken, der bekanntermaßen für sich beansprucht, »wiedergeborener Christ« (born again christian) zu sein, sondern vor allem daran, dass die sog. »christliche Rechte« ihr Programm als »wiedergeborene Politik« zu profilieren versucht. Dadurch gerät der Begriff »Wiedergeburt« in den Sog eines extremen Rechtskonservativismus. Assoziationsbehände wird er gegenwärtig vor allem mit den Namen Sarah Palin und »Tea Party Movement« identifiziert. Bisweilen gewinnt man den Eindruck, der Wiedergeburtsbegriff fungiere als eine Art preisgegebenes, mithin also verbranntes Kenn- oder Codewort, das als Authentifizierungszeichen aber immer noch in Gebrauch ist. Dessen fortgesetzter Gebrauch wird nun zum Stigma derjenigen, die sich seiner in einer – von außen betrachtet – höchst befremdlich anmutenden Weise ungerührt bedienen. Dies mag die Ablehnung erklären, auf die das Reizwort »Wiedergeburt« in weiten Teilen eines landeskirchlich organisierten Christentums bis hinein in die universitär betriebene Theologie trifft. Ob dieser Vergleich freilich als Erklärungsmuster taugt, den Umstand hinreichend zu plausibilisieren, warum die Rede von der Wiedergeburt, die seit dem 17. Jahrhundert bis in das 19. Jahrhundert fester Bestandteil evangelischer Dogmatik war, in den dogmatischen Konzeptionen des 20. Jahrhunderts an Gewicht verliert6 und in der Gegenwart nahezu obsolet geworden ist,7 dürfte fraglich sein. Es erweist sich als unumgänglich, nach dem genauen theologischen Vorstellungsgehalt zu fragen, mit dem der Begriff bzw. die Metapher »Wiedergeburt« belegt ist, der gleichsam unter der semantischen Oberfläche schlummert. Hinter dem Begriff der »Wiedergeburt« und seinen vielfältigen Säkularisaten, wie sie ebenfalls im sog. »born againism« gebraucht werden, steckt ein spezifisches Deutungsschema distinkter religiöser Erfahrungen, gewissermaßen eine »master story«, die für den »born againism« zentral und einigend ist: »Wiedergeboren zu sein gilt als unmittelbare Folge einer Willensentscheidung, Jesus als ›persönlichen Retter‹ anzunehmen. Den als üblich geltenden Verlauf prägen: bewusste Zustimmung zum Heilswerk Christi, Gebet um Sündenvergebung und Bitte an

4

Vgl. E.W. Gritsch, Born Againism. Perspectives on a Movement, Minneapolis 21994. R.V. Pierard, Art. Wiedergeburt 4. Wiedergeborenes Christentum in Nordamerika, RGG4 8 (2005), 1532. 6 So auch F. Nüssel, Art. Wiedergeburt III. Dogmatisch, TRE 36 (2004), (14–20) 18. 7 Ähnlich W. Schoberth, Zur neuen Welt kommen. Überlegungen zur theologischen Logik der Metapher »Wiedergeburt«, in: R. Feldmeier (Hg.), Wiedergeburt, BThS 25, Göttingen 2005, (149–164) 149: »›Wiedergeburt‹ scheint in der Praxis des Glaubens verortet zu sein, nicht aber in der theologischen Reflexion.« Schoberths instruktivem Artikel verdanke ich viele Anregungen zum vorliegenden Beitrag. 5



Illustration

167

Christus um den Einzug ins eigene Herz; im Ergebnis gilt man als wiedergeboren oder gerettet. Dies wird als geschichtliches, nicht als sakramentales – auch nicht auf die Taufe bezogenes – Ereignis verstanden, das jedem Menschen widerfahren kann, ihn von innen verwandelt, eine neue Lebensqualität mit sich bringt und ewiges Leben mit dem Retter sichert. Die spätere Rückkehr zur früheren Lebensweise wird als Rückfall bezeichnet.«8

In dieser Weise beschreibt etwa der Evangelist Billy Graham, der die Vorstellung vom wiedergeborenen Christentum in Nordamerika populär machte, in seinem Buch »How to Be Born Again« (1977) die religiöse Erfahrung der Wiedergeburt.9 Grahams Schilderung wird nicht wenigen Christinnen und Christen in biographischer Hinsicht nur allzu bekannt vorkommen, sodass eine Re-Vision, eine im wörtlichen Sinne zu verstehende »prüfende Wiederdurchsicht« des Wiedergeburtsbegriffs, wie sie im Folgenden intendiert ist, für solche Menschen sicherlich mit Trauerarbeit verbunden ist. Es geht freilich nicht darum, darüber zu urteilen oder gar wohlfeile Verurteilungen über die Art und Weise auszusprechen, wie Menschen Christinnen bzw. Christen geworden sind und werden. Intendiert sind vielmehr dogmatische Erwägungen zu einem theologisch sachgemäßen und verantwortbaren Gebrauch des Wiedergeburtsbegriffs. Dass diese Erwägungen zu dem Ergebnis gelangen, dass der biblisch geprägte Wiedergeburtsbegriff vielfach diskreditiert und insbesondere durch den »born againism« vereinnahmt wurde, soll hier freilich nicht verschwiegen werden. Um den diskreditierten Wiedergeburtsbegriff im Zuge eines theologisch sachgemäßen und verantwortbaren Gebrauchs wiederzugewinnen,10 der ihn dem »born againism« gleichsam entwendet, ist es zunächst notwendig, die theologischen Probleme zu identifizieren und anzuzeigen, mit denen er behaftet ist. Auf eine solche Annotation (II.) folgt eine Reflexion (III.), die den Versuch einer dogmatischen Revision des Begriffs »Wiedergeburt« material entfaltet. Abschließend wird die Vision (IV.) von der Wiedergeburt als Neuschöpfung als Hintergrund der intendierten Re-Vision dargelegt.

8

Pierard, Wiedergeborenes Christentum, 1532. Vgl. dazu die nahezu identische Schilderung von Bekehrungserlebnissen bei den sog. »Pfingstlern« durch A. Quaas / J. Haustein, Die Pfingstbewegung, in: M. Mühling (Hg.), Kirchen und Konfessionen, Grundwissen Christentum 2, Göttingen 2009, (170–185) 179f. 9 Vgl. insbesondere die Schilderung der »Vier Schritte zum Frieden mit Gott« in: B. Graham, Wiedergeburt – wie geschieht das?, übers. von W. Reuter, Neuhausen 1977, 165f. Bereits M. Weber (Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, besorgt von J. Winckelmann, Tübingen 51972, 321) hat davon gesprochen, dass die ›Wiedergeburt‹ »in den konsequentesten Typen der ›Erlösungsreligionen‹ […] zu einer für das religiöse Heil unentbehrlichen Gesinnungsqualität [wird], die der Einzelne sich aneignen und in seiner Lebensführung bewähren muß.« Hervorhebung im Original. 10 Die Notwendigkeit einer Neubesinnung auf diesen Begriff betont auch W. Thiede, Art. Wiedergeburt 3. Praktisch-theologisch, RGG4 8 (2005), (1531–1532) 1531.

168

Wiedergeburt?

2. Annotation: Vier theologische Problemanzeigen zum Gebrauch des Wiedergeburtsbegriffs 2.1 Die Äquivokation des Wiedergeburtsbegriffs Der deutsche Begriff »Wiedergeburt« ist mehrdeutig und verweist auf verschiedene Bedeutungsfelder, ebenso wie das griechische, auch im Neuen Testament gebrauchte Äquivalent παλιγγενεσία. Das griechische Adverb παλίν kann – und darauf geht die semantische Uneinheitlichkeit zurück – ebenso die Bedeutung von »wiederum, nochmals, abermals« ebenso wie die von »aufs Neue« haben, so dass παλιγγενεσία Wieder- und auch Neugeburt bedeuten kann. Im außerchristlichen Kontext wird unter Wiedergeburt zumeist »Reinkarnation«, d.h. die postmortale Wiederverkörperung der Seele, verstanden. Religionswissenschaftlich lässt sich zwischen dem Gebrauch des Wiedergeburtsbegriffs in einem engeren, wörtlichen Sinne als Bezeichnung der postmortalen »Wiederverkörperung« (Reinkarnation) und »der eher metaphorischen Verwendung des Wortfeldes ›Wiedergeburt‹ zur Bezeichnung von besonderen, die Person nachhaltig [intramundan] transformierenden spirituellen Ereignissen«11 (Erleuchtung, Konversion, Initiation o.ä.) differenzieren. Nicht erst in den sog. »Neuen Religionen« jüngerer Zeit wie New Age und Theosophie, sondern bereits seit Beginn der Religionsgeschichte manifestieren sich Reinkarnationsvorstellungen im Rahmen des Ahnenkults – etwa bei den Ägyptern, aber auch bei den Germanen und Kelten, und heute noch v.a. in Zentralaustralien und Westafrika. Auch bei den Pythagoreern und Orphikern und dann v.a. bei Platon finden wir die Vorstellung von einer im menschlichen Körper und in der materiellen Welt gefangenen Seele, deren Weg der Loslösung von allen Begierden zur reinen Ideenschau führt.12 Solche Reinkarnationsvorstellungen erweisen sich freilich bei näherem Hinsehen keineswegs als deckungsgleich mit den soteriologischen Vorstellungsgehalten, wie sie im biblischen Kontext zur Sprache kommen. Nach dem Urteil des Religionstheologen Reinhold Bernhardt gilt vielmehr: »Die mit dem Religionsglauben verbundene zyklische Anschauung steht dem jüdisch-christlichen Glauben an die geschichtliche Einmaligkeit des Lebens gegenüber, dessen Hoffnung sich auf eine leibliche Auferstehung nach dem Tod richtet.«13 Die zyklische Anschauung, die ihren ersten nachweisbaren Ort in der stoischen Lehre vom periodischen Verge11

A. Grünschloss, Diskurs um »Wiedergeburt« zwischen Reinkarnation, Transmigration und Transformation der Person. Versuch einer systematisch-religionswissenschaftlichen Orientierung, in: R. Feldmeier (Hg.), Wiedergeburt, BThS 25, Göttingen 2005, (11–44) 18. 12 Vgl. etwa Platon, Phaidon 66 d–e und vor allem die Schilderung des »Seelenmythos« im Dialog Phaidros 246a–247e. 13 R. Bernhardt, Art. Wiedergeburt, EKL3 4 (1995), (1284–1289) 1285. So der Sache nach auch G. Ebeling, Der christliche Glauben, Bd. III: Der Glaube an Gott den Vollender der Welt, Tübingen 21982, 44; Nüssel, Wiedergeburt III, 19.

Annotation

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hen und Welterneuern haben dürfte,14 wird von der jüdischen Apokalyptik eher kontrastiert, zumal deren Äonenvorstellung nicht zyklisch, sondern linear bzw. dualistisch angelegt ist.15 Sie sieht die endzeitliche Erneuerung der Schöpfung vor, womit sie an die alttestamentliche Verheißung von Gottes zukünftiger Neuschöpfung (Jes 51,6; 65,17; 66,22; vgl. 4Esr 7,75; syrBar 32,6; 44,12) anknüpfen kann. In diesem apokalyptischen Rahmen wird der Wiedergeburtsbegriff eschatologisch umgeformt und zwar im Sinne einer einmaligen und endgültigen Wiedergeburt.

2.2 Vergesetzlichung des Wiedergeburtsbegriffs im Rahmen des ordo salutis Der Begriff »Wiedergeburt«, wie ihn viele sog. »born again christians« verwenden, ist durch eine lange Geschichte der Vergesetzlichung und Verengung diskreditiert worden, die in der altprotestantischen Orthodoxie und im Pietismus ihren Wurzelgrund haben dürfte. Hier wird der Beginn einer »wahre[n] Leidensgeschichte«16 ansichtig, die der Begriff in der Theologiegeschichte durchlief. Hatte sich zwar bereits Johannes Calvin (1509–1564) ernstlich mit der Wiedergeburt, der regeneratio, in den soteriologischen Passagen seiner »Institutio« auseinandergesetzt17 und sie in seine Lehre von der doppelten Gnade, die Rechtfertigung und Heiligung als Werke Gottes umfasst, eingezeichnet,18 so tritt dieser Begriff in der altprotestantischen Orthodoxie markant in den Vordergrund. Sie ordnet ihn der gratia Spiritus Sancti applicatrix zu,19 die allerdings erst später auf die Lehre vom sog. ordo salutis bezogen wurde.20 Darunter ist die Ordnung des Heils zu verstehen, die im Sinne 14

So W. Popkes, Art. Wiedergeburt II. Neues Testament, TRE 36 (2004), (9–14) 11. Vgl. U.H.J. Körtner, Weltangst und Weltende. Eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Göttingen 1988, 167–191. 16 O. Weber, Grundlagen der Dogmatik II, Neukirchen-Vluyn 1962, 401. 17 Vgl. u.a. J. Calvin, Inst. (1559), III,3,9–10. – OS IV,63–66. 18 Nach J. Calvin (Inst. [1559], III,11,1) umschreibt die Wiedergeburt die Heiligung durch Gottes Geist: »Durch die Gemeinschaft mit ihm empfangen wir vornehmlich eine doppelte Gnade: einerseits werden wird durch seine Unschuld mit Gott versöhnt, so dass er nicht mehr unser Richter ist, sondern wir an ihm unseren gnädigen Vater im Himmel haben, und andererseits werden wir durch seinen Geist geheiligt und trachten nun nach Unschuld und Reinheit des Lebens. Von dieser Wiedergeburt, welche die zweite Gnade darstellt, ist nun schon die Rede gewesen.« Dort z.T. kursiv. – OS IV,182,4–10: »[…] cuius participatione duplicem potissimum gratiam recipiamus: nempe ut eius innocentia Deo reconciliati, pro iudice iam propitium habeamus in caelis Patrem: deinde ut eius Spiritu sanctificati, innocentiam puritatemque vitae meditemur. Ac de regeneratione quidem, quae secunda est gratia, dictum fuit quantum sufficere videbatur.« 19 So O. Weber, Grundlagen der Dogmatik II, 401. Vgl. etwa J.A. Quenstedt, Theologia did.-pol. sive Systema Theol., Wittenberg 1685, III, 461ff. 20 So M. Matthias (Ordo salutis, ZKG 115 [2004], 318–346, 330–333), der die begriffsgeschichtliche Traditionslinie nachzeichnet. Die Urform des ordo salutis bildet nach H.G. Pöhl­mann (Abriß der Dogmatik. Ein Kompendium, Gütersloh 51990, 269) Luthers Auslegung des 3. Glaubensartikels im Kleinen Katechismus: »[…] sondern der heilige Geist 15

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Wiedergeburt?

einer fortschreitenden Verwirklichung des Heilsplans Gottes in Stufen, einer Abfolge von Akten der Heilszueignung und -aneignung interpretiert wird. Johann Andreas Quenstedt (1617–1688) entfaltete unter dem Obertitel »de gratia spiritus sancti applicatrice« eine Sequenz von sieben Gliedern bzw. Strukturelementen der Heilszueignung: Berufung (vocatio), Wiedergeburt (regeneratio), Rechtfertigung (iustificatio), Buße (poenitentia), mystische Vereinigung mit Christus (unio mystica), Erneuerung (renovatio) und Heiligung (sanctificatio). Diese Sequenzierung konnte leicht im obigen Sinne als ordo salutis verstanden werden, woraus dann die gesetzliche Färbung des Terminus »Wiedergeburt« resultierte. Quenstedt selbst hat wohl eher eine logische statt historische Abfolge der Glaubenskonstitution vor Augen gehabt.21 Jedenfalls entstand der Eindruck von einer Festlegung des Heilswegs als einer fixen Abfolge mehrerer Stadien oder Stufen, die der wahre Christenmensch chronologisch durchlaufen müsse. Eine solche Reihenfolge der Gnadenwirkungen wurde vor allem im Pietismus22 (aber auch im Puritanismus und Methodismus) propagiert und als Grundlage einer psychologischen Betrachtungsweise des gläubigen Subjektes gebraucht.23 Das christliche Leben droht hier – wie man heute rückblickend wird urteilen müssen – ebenso wie das Wirken des Heiligen Geistes deterministisch festgelegt zu werden.24 Daniel L. Migliore hält diesbezüglich treffend fest: »Any suggestion of an undisturbed process of development or neatly ordered sequence of stages should be avoided. There is, to be sure, real movement in Christian life, but it is neither quantifiable nor predictable.«25

hat mich durchs Evangelion berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten« (BSLK 512,2–4). So auch E. Herms, Die Wirklichkeit des Glaubens. Beobachtungen und Erwägungen zur Lehre vom ordo salutis, EvTh 42 (1982), (541–566) 543; J.A. Steiger, Art. Ordo salutis, TRE 25 (1995), (371–376) 372. 21 Jüngst hat dies M. Coors (Scriptura efficax. Die biblisch-dogmatische Grundlegung des theologischen Systems bei Johann Andreas Quenstedt, FSÖTh 123, Göttingen 2009, 248) geltend gemacht. 22 Vgl. M. Matthias, Bekehrung und Wiedergeburt, in: H. Lehmann (Hg.), Glaubenswelt und Lebenswelt, Geschichte des Pietismus 4, Göttingen 2004, 49–79. 23 Vgl. H. Vogel, Gott in Christo. Ein Erkenntnisgang durch die Grundprobleme der Dogmatik Teil 2, GW 2, Stuttgart 21982, 913: »Die Frage ist nur, ob nicht eben das angewandte Schema mit einer bestimmten Reihenfolge von ›Momenten‹ (bzw. Akten!) den Synergismus in der heimlichen Verfälschung des reformatorischen Grundansatzes bereits zur Tür hineinbrächte! Im Pietismus kam die verhängnisvolle Verwechselung dieser gegliederten Folge mit einer Erlebnisfolge zur Herrschaft.« 24 Treffend A.I.C. Heron, The Holy Spirit, London 1983, 108f.: »It commonly came to be held in some branches of Protestantism that only those with a certain ›experience of conversion‹ were genuine Christian. So the activity of the Spirit was in effect restrictively defined in terms of one particular style of piety.« 25 D.L. Migliore, Faith Seeking Understanding. An Introduction to Christian Theology, Grand Rapids 22004, 240.

Annotation

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2.3 Der Wiedergeburtsbegriff im Bann von Heilssynergismus und Werkgerechtigkeit Gegenüber der altprotestantischen Orthodoxie verschärfte sich im Pietismus die theologische Problematik und zwar als Ergebnis einer folgenreichen und intrikaten Umstellung: Während man sich in der Orthodoxie überwiegend dafür entschied, die regeneratio vor der conversio zu platzieren, kehrte wohl erstmals David Hollaz (1648–1713) diese im Sinne einer theologischen Sachordnung zu verstehende Reihenfolge um und stellte die regeneratio hinter die (bei Hollaz freilich noch »transitiv« im Sinne des göttlichen Bekehrungsaktes gedachten26) conversio. Diese neue Reihung schlug vollends im Pietismus durch: »Konnte die orthodoxe Vorordnung der regeneratio gegenüber der conversio den Sinn haben, daß Gottes Handeln in Christus, das die neue Schöpfung heraufführt, dem Tun und Erleiden des Menschen in der conversio (die man als conversio passiva und dann auch als conversio activa verstand) sachlich voraufgeht, so erscheint in weiten Bereichen des Pietismus die regeneratio, die Wiedergeburt, als Ertrag der Bekehrung.«27

Die Bekehrung ruft demnach die Wiedergeburt hervor. Der Begriff der Wiedergeburt gerät – anders gesagt – in den Bann des Bekehrungsbegriffs. Während Hollaz, der als Letzter in der Reihe der orthodoxen Dogmatiker bekannt ist, noch betonen konnte,28 dass die Wiedergeburt von Seiten des Menschen passiv und von Seiten Gottes aktiv zu verstehen sei, bricht diese rechtfertigungstheologische Einsicht in Teilen des Pietismus zugunsten einer intransitiv verstandenen Bekehrung (im Sinne des Sich-Bekehrens des Menschen) weg.29 Dies 26

Darauf macht W. Pannenberg (Systematische Theologie 3, Göttingen 1993, 257) aufmerksam. 27 O. Weber, Grundlagen der Dogmatik II, 402. Hervorhebungen von mir. Zum Einfluss von Pietismus und Erweckungsbewegung auf Webers eigenes Werk vgl. V. von Bülow, »Eine hörenswerte und auf Gehör rechnende Stimme«. Der Einfluss pietistisch-erwecklicher Theologie auf Otto Weber, in: G. Plasger (Hg.), Otto Weber: Impulse und Anfragen, EBzrP 6, Wuppertal 2002, (13–32) 16–20. 28 Vgl. D. Hollaz, Examen theol. acroam. II, 1707, III, I, 410: »Die Wiedergeburt ist ein Akt der zueignenden Gnade, durch den der heilige Geist dem Sünder, dem die Kräfte zum Glauben fehlen, der aber auch nicht hartnäckig widersteht, aus der im Verdienst Christi begründeten Barmherzigkeit durch den wahren Glauben an Christus, der durch das Evangelium und die Taufe entzündet ist, schenkt, daß er gerechtfertigt wird, als Sohn Gottes adoptiert wird, erneuert und ewig gerettet wird.« Zit. nach F. Mildenberger, Biblische Dogmatik. Eine Biblische Theologie in dogmatischer Perspektive, Bd. 3: Theologie als Ökonomie, Stuttgart u.a. 1993, 143. 29 Es gibt also auch Gegenbeispiele. Das berühmteste bildet vielleicht das Lied »Amazing Grace« (John Newton), das die Allwirksamkeit der Gnade hinsichtlich des menschlichen Heils betont: »I once was lost, but now I’m found«. Vgl. dazu K. Barth, KD I/2, 407: »[E]r [sc. der christliche Mensch; M.H.] kann es nicht lassen, zu bezeugen, daß Gott in Christus ihn gefunden hat. [...] Er ist ein von Gott Gefundener. Nicht er hat gesucht, aber er ist gesucht worden. Nicht er hat gefunden, aber er ist gefunden worden. In seinem ewigen Wort

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erweist sich indes als äußerst problematisch, weil damit ein Synergismus, ein Zusammenwirken von Gott und Mensch bei der Heilserlangung, ja letztlich eine Spielart der Werkgerechtigkeit Einzug in die protestantische Theologie zu halten droht. Die kritische Anfrage drängt sich auch im Blick auf den »born againism« der Gegenwart auf: Meldet sich nicht dort, wo – bisweilen monoman – das Werk der Wiedergeburt und der Bekehrung betont wird, die alte concupiscentia iustificationis sui wieder, die sich faktisch nicht etwa des Herrn (1Kor 1,31), sondern der menschlichen Bekehrungstat rühmt? Hier kann es wohlgemerkt nicht darum gehen, die äußerst vielschichtige Bewegung des Pietismus pauschal zu verdammen, die sich bekanntermaßen die Erneuerung des Christentums im Geist der Reformation zur Aufgabe gemacht hatte. Der Pietismus hatte zweifellos seine Berechtigung in der Reaktion auf die tridentinische Kritik an einem rein forensisch-imputativen Rechtfertigungsverständnis, wonach Rechtfertigung nur als Zurechnung des Werkes Christi, keineswegs aber als umfassend effektives Geschehen30 zu verstehen ist.31 Mit seinem Einwand, dass die Rechtfertigungslehre nicht auf Kosten anderer biblisch imprägnierter soteriologischer Zentralbegriffe als die alleinige Akropolis des christlichen Glaubens verabsolutiert werden darf,32 hat etwa Philipp Jakob Spener (1635–1705), der Begründer des Pietismus, durchaus Recht.33 Spener führt aus, dass die Rechtfertigung ohne die Wiedergeburt abstrakt bleibt, weil erst die »wiedergeburt etwas wu[e]rkliches seye / dadurch etwas in den menschen gewircket wird / das darnach vorhanden ist und bleibet / da hingegen in der rechtfertigung dergleich nicht geschihet / sondern dieselbe allein in einer zurechnung dessen / was der mensch sonst nicht ha[e]tte / und in einer nicht-zurechung des jenigen / was warhaffwar Gott frei für ihn. Und durch den Heiligen Geist war er, der Mensch, frei für Gott. In der Freiheit Gottes wurde er selbst frei und Gottes Kind. Eben das ist nun das unwiderstehliche Vorwärts! seines Handelns.« Dort z.T. kursiv. 30 Vgl. Ebeling, Der christliche Glauben 3, 43: Wiedergeburt beschreibt »den Effekt der Heilszueignung«. 31 Auf lutherischer Seite betont E. Schlink (Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, München 31948, 154), dass die Rechtfertigung nicht rein imputativ zu deuten ist: »Rechtfertigung ist nicht nur Zurechnung des Werkes Christi, sondern auch Wiedergeburt und kann nicht ohne neuen Gehorsam bleiben.« Vgl. auch Pannenberg, Systematische Theologie 3, 253–256. 32 Vgl. Pöhlmann, Abriß der Dogmatik, 267. 33 Vgl. J. Moltmann, Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991, 161ff.: »Es ist […] verständlich, daß die Erweckungsbewegungen im Zeitalter des beginnenden kulturellen Subjektivismus in Europa den Begriff ›Wiedergeburt‹ wählten: Rechtfertigung wird mir zugesprochen, Wiedergeburt aber erfahre ich so unverwechselbar selbst wie meine eigene Geburt. Rechtfertigung bringt mich in ein neues Verhältnis zu Gott, Wiedergeburt aber verändert meine innere Substanz, gibt mir einen neuen Lebenskeim, setzt ein neues Ich in mir und erneuert mich selbst in meiner Lebenseinstellung und meiner Lebensführung. Rechtfertigung sagt, was Gott am Menschen tut. Wiedergeburt sagt, was dann im Menschen vorgeht. […] die pietistischen und die erwecklichen Wiedergeburtslehren [stellen] immer noch wichtige Anfragen an die reformatorische Theologie dar.«

Annotation

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tig bey dem menschen ist / bestehet / ohne wirckliche a[e]nderung oder schaffung etwas gewisses in dem menschen / so aber nohtwendig in der widergeburt seyn muß.«34

Jedoch beginnen die Begriffe Wiedergeburt und Bekehrung, die zum Teil bis heute synonym gebraucht werden,35 im Rahmen des skizzierten ordo salutis die Rechtfertigung in unguter Weise zu überlagern. Eine Vorordnung der Wiedergeburt vor die Rechtfertigung36 zeigt sich vor allem bei August Hermann Francke (1663–1727), bei dem das Bekehrungserlebnis zu einem einmaligen historischen, empirisch überprüfbaren Datum des »Durchbruches« nach einem Bußkampf wird, an dem sich die Heilsgewißheit festmacht. Dementsprechend fordert Francke zur Selbsterforschung auf, jeder möge »sich genau erforschen, ob er von neuen geboren sey, oder ob er noch in seiner alten Geburt lebe.«37 Die Dialektik des simul iustus et peccator38 weicht hier dem Theorem und der Praxis einer moralischen Perfektibilität und legt die Vorstellung nahe, das Wiedergeborensein aus den guten Werken ablesen zu können.39 Die Abgrenzung gegenüber einer solchen Spielart der Werkgerechtigkeit fällt wohl nirgends schärfer aus als beim reformierten Prediger Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803–1875), der in Wuppertal, einem der Gravitationszentren der Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert, lehrte: »Es baut kein Kind Gottes auf seine Wiedergeburt, auf seine Bekehrung. Meine Wiedergeburt, meine Bekehrung habe ich tausendmal vor Gott wieder befleckt; ich muß einen andern Grund, einen andern Verlaß haben.«40 34

Ph.J. Spener, Der hochwichtige Articul von der Wiedergeburt (1696; 21715), in: Philipp Jakob Spener Schriften VII/1, hg. von E. Beyreuther, Hildesheim u.a. 1994, 6. 35 E. Busch (Die Pietismuskritik des jungen Karl Barth und ihre Erwiderung, BEvTh 82, München 1978, 200) beobachtet, dass diese beiden Begriffe im Pietismus vielfach »nicht terminologisch voneinander abgegrenzt und […] offenbar quasi synonym gebraucht« werden. 36 Vgl. dazu auch F.D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (21831), hg. von M. Redeker, 2 Bde., Berlin 1960, §§ 106–108; P. Tillich, Systematische Theologie 2, Stuttgart 1958, 189f.; ders., Systematische Theologie 3, Stuttgart 1966, 254–263. 37 A.H. Francke, Die Lehre unsers Herrn JESU CHristi von der Wiedergeburt, in: Predigten I, hg. von E. Peschke, TPG Abt. II/9, Berlin u.a. 1987, (164–204) 199. Zu Francke vgl. E. Peschke, Bekehrung und Reform. Ansatz und Wurzel der Theologie August Hermann Franckes, AGP 15, Bielefeld 1977. 38 Diese Formel gebraucht Luther erstmals in der Römerbriefvorlesung von 1515/16: »Simul peccator et Iustus; peccator re vera, Sed Iustus ex reputatione et promissione« (WA 56,272). Auch später noch nimmt Luther Bezug auf diese Formel: »Reim da, wer reimen kan. Duo contraria in uno subiecto et in eodem puncto temporis.« WA 39/I,507 (3. Antinomerdisputation, 1538). 39 Vgl. Steiger, Ordo salutis, 374. 40 H.F. Kohlbrügge, »Aus tiefer Not«. 14 Predigten über den 118. Psalm, Elberfeld 1884, 144. W. Kreck (Das Bild Kohlbrügges in der dialektischen Theologie, in: ders., Kirche in der Krise der bürgerlichen Welt. Vorträge und Aufsätze 1973–1978, München 1980, 85– 101, 87) spricht treffend von der »Ausschaltung jeder Werkgerechtigkeit« bei Kohlbrügge.

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2.4 Enteschatologisierung und Heilsindividualisierung des Wiedergeburtsbegriffs In Teilen des Pietismus zeigt sich noch eine weitere Gefahr: die des individualisierten und verinnerlichten Gebrauchs der Rede von meiner inneren Erfahrung, meiner Bekehrung, meiner Wiedergeburt und meiner Heilsgewißheit.41 Das fromme Ich muss sich nach Francke seiner Wiedergeburt gewiß sein, um Heilsgewißheit zu erlangen.42 Das pro me eines Heilsindividualismus meldet sich hier vernehmlich und zwar so massiv, dass die Welt samt der noch ausstehenden Neuschöpfung von Himmel und Erde dabei aus dem Blick zu geraten droht. Heilsindividualismus meint darum auch Enteschatologisierung43 und Verinnerlichung:44 Wiedergeburt

Ähnlich wie bei Kohlbrügge heißt es bei K. Barth (KD II/2, 869) im Blick auf die aus der Subjektivität des Bekehrungserlebnisses vermeintlich resultierende Heilsgewißheit: »Wer sich selbst Solches zutrauen, wer also seiner Bekehrung und Wiedergeburt als solcher, seinem Wandel vor und mit Gott als einem Element seiner Biographie, wer einer angeblich ›pneumatischen Wirklichkeit‹ im Bereich seiner Erfahrung solche Glaubwürdigkeit und Zeugniskraft zuschreiben und von daher, im Glauben an sich selbst leben wollte, der würde sein Haus allerdings bestimmt auf Sand bauen, der würde sich allerdings bestimmt nur auf jene Schaukel begeben, auf der zwischen höchster Entzückung und tiefster Enttäuschung ein sensationeller aber auch gefährlicher Wechsel, wo aber der Tod des alten und das Leben des neuen Menschen und also des Menschen Zurichtung, Vorbereitung und Einübung für das ewige Leben bestimmt nicht zu erwarten ist.« 41 Den Individualismus des Pietismus hat bereits der junge Barth des 1. Römerbrief gebrandmarkt. Vgl. Busch, Pietismuskritik, 50–54. 42 Nach Francke (Lehre, 199) muss jeder wissen, dass »so lange er seiner neuen Geburt nicht gewiß sey, so lange ko[e]nne er auch seines ewigen Heils keines weges gewiß seyn.« 43 Weber (Grundlagen der Dogmatik II, 400) urteilt recht pauschal: »Die dogmatische Tradition hat den eschatologischen Charakter der regeneratio fast durchweg nicht gewürdigt.« Die auch von O. Webers Schüler Moltmann (Geist des Lebens, 165) im Gegenzug vorgenommene Betonung des eschatologischen Charakters der Wiedergeburt erweist sich indes – wie später noch gezeigt werden soll – im Lichte des biblischen Zeugnisses als berechtigt: »Regeneratio ist wie alle verwandten Begriffe eschatologisch zu verstehen. […] Das Neue, das Gott in der Welt aufrichtet, das im Geistgeschehen wirksam ist und im Christusereignis gründet, ist als das auf uns Zukommende schon auf dem Plan, es ist für uns ›da‹ und verändert grundlegend die Richtung unseres Lebens« (Weber, Grundlagen der Dogmatik II, 400. Hervorhebung im Original). Weber interpretiert die regeneratio zutreffend als adventus, nicht als futurum: »[D]ie Wiedergeburt, die Erneuerung geschieht in der neuen Schöpfung (2.Kor.5,17; Gal.6,15), im Hervortreten des neuen, auf den Menschen zukommenden Heilsgeschehens und der neuen Heilswirklichkeit.« Ebd. Hervorhebungen im Original. 44 Die Festlegung des wiedergebärenden Handelns Gottes auf die Innerlichkeit zeigt sich bereits bei D. Hollaz. Er beschränkt die Wiedergeburt auf den Sünder, wenn er sie als Begabung mit dem Glauben beschreibt: »Die Wiedergeburt besteht in Hinsicht auf ihre Verwirklichung (formaliter) darin, daß der Glaube geschenkt wird« (D. Hollaz, Examen theol. acroam. II, 1707, III, I, 420. Zit. nach Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 144). Die Wiedergeburt bezieht sich dabei auf den Willen bzw. den Intellekt des Sünders: »[D]ie Wiedergeburt [wird] durch das Wort des Evangeliums und durch die Taufe vermittelt, wobei das

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wird demnach »innerhalb der vorgegebenen ›Welt‹, als innere, seelische oder dann auch leibliche Erneuerung«45 verstanden. Damit aber »widerfährt [sie] als solche [nur] dem Menschen und der Gemeinde, aber nicht der Welt. Das ist eine entscheidende Verkürzung des neutestamentlichen Verständnisses.«46 Es gilt demgegenüber die weltgeschichtlich-universale Dimension, ja den kosmologischen Sinn von Wiedergeburt geltend zu machen, den ein heilsindividualistischer Reduktionismus ausblendet. Mit Karl Barth gesprochen: »[I]n der ›Wiedergeburt‹ […] geht es um eine große Weltsache, also gar nicht nur um etwas für einige wenige Gläubige, sondern es geht um die Erneuerung, die ›Wiederbringung aller Dinge‹ heißt’s in der Apostelgeschichte (3,21). Und nun dürfen wir Christen innerhalb der Welt – und sollen das auch – die Zeugen von dieser auf uns alle erst wartenden Wiedergeburt sein, welche dann die Wiedergeburt des Alls, die Wiedergeburt der Welt, das Leben auf einer neuen Erde unter einem neuen Himmel (2Petr 3,13) sein wird.«47

Wiedergeburt meint demnach mehr als eine innere Selbsterfahrung der Seele. Sie umfasst eine eschatologische Erwartung für die ganze leidende und sterbende Welt.48 Es geht um mehr als eine »von Gott bewirkte Renaissance«49 im Sinne einer Wiederherstellung bzw. eines bloßen Auflebens der alten Welt – analog etwa dem kulturellen Aufleben der griechischen und römischen Antike im Europa des 14. bis 17. Jahrhunderts.

3. Reflexion: Versuch einer dogmatischen Revision des Begriffs »Wiedergeburt« 3.1 Der soteriologisch-christologische Charakter der Wiedergeburt: Der rechtfertigende Glaube an Christus Damit tritt nun unabweislich die Aufgabe der Gewinnung eines theologisch verantwortbaren Begriffs von »Wiedergeburt« in das Blickfeld. In Abgrenzung zum Heilssynergismus wird es zunächst darauf ankommen, Wiedergeburts- und Glau-

Predigtamt von Gott als Vermittlung gebraucht wird. Die vorherlaufende und vorbereitende Gnade schwächt und bricht dabei den natürlichen Widerstand, so daß er die wiedergebärende Gnade nicht hindert. Intellekt wie Wille des Sünders werden wiedergeboren: im Intellekt wird eine vollere Erkenntnis Christi entzündet«. So referiert F. Mildenberger, ebd. 45 Weber, Grundlagen der Dogmatik II, 401. Hervorhebung im Original. 46 Ebd. Hervorhebungen im Original. 47 K. Barth, Gespräche 1964–1968, hg. von E. Busch, Karl Barth GA IV/28, Zürich 1997, 419. 48 Vgl. Moltmann, Geist des Lebens, 159. 49 O. Bayer, Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung, Tübingen 2 1990, 57.

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bensverständnis zueinander in das rechte Verhältnis zu setzen. Diesbezüglich wird man zunächst mit dem »born againism« festhalten dürfen: Ja, es ist der Glaube, »der den wiedergeborenen Menschen auszeichnet«.50 So wird der Glaube in der Apologie der CA (IV,251) als »göttliche Kraft im Herzen, dadurch wir neu geboren werden«,51 bestimmt. Freilich prädiziert reformatorische Einsicht ihn als »widerfahrende[n] Glaube[n]«.52 Luther pointiert in seiner Vorrede zum Römerbrief im Septembertestament 1522: Der Glaube ist »ein göttliches Werk in uns, das uns wandelt und neugebiert aus Gott (Joh 1,13) und tötet den alten Adam, macht aus uns ganz andere Menschen von Herzen, Mut, Sinn und allen Kräften«.53 Luthers Rede vom Glauben als alleinigem Werk Gottes akzentuiert, dass die Glaubensgerechtigkeit als Gerechtigkeit Gottes darin besteht, »dass wir allein Gott in uns wirken lassen und wir nichts eigenes wirken in allen unsern Kräften«.54 Die Gottesgerechtigkeit widerfährt uns. Sie ist iustitia passiva – passive Gottesgerechtigkeit.55 Die fides, die mit der Gottesgerechtigkeit eins ist, ist keine »virtus«56 – keine Tüchtigkeit oder Tat, geschweige denn »menschlicher Wahn und Traum«.57 Der Glaube ist eben »nicht machbar, vorweg garantierbar und nicht durch Regeln sicherzustellen«.58 Im Artikel 4 (De iustificatione) der CA heißt es: »Wir empfangen Vergebung der Sünden und werden vor Gott gerecht aus Gnade um Christi willen durch den Glauben« – »gratis iustificentur propter Christum per fidem«.59 Der Glaube ist der Modus unseres Empfangens der Gerechtmachung, wie sie sich »um Christi willen«, d.h. im Versöhnungsgeschehen von Kreuz und Auferstehung,60 ereignet hat. Das gilt 50

Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 144. BSLK 209,15f. 52 Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 144f. Auch gilt es – wie Mildenberger (a.a.O., 145) zutreffend betont – entgegen jedweder Verinnerlichungstendenz festzuhalten, »daß solcher Glaube immer zugleich in seiner Beziehung auf Gott und in seiner Einbindung in Welt bzw. Zeit bedacht werden muß.« 53 WA DB 7, 10, 6–8 (Vorrede auf die Epistel S. Pauli an die Römer, 1522). Text modernisiert. 54 WA 6, 244, 5f. (Von den guten Werken, 1520). Text modernisiert. 55 Vgl. WA 40/I, 41, 3–5 (Argumentum Epistolae S. Pauli ad Galatas, 1534): »Christiana iusticia est mere contraria, passiva, quam tantum recipimus, ubi nihil operamur sed patimur alium operari in nobis scilicet deum.« 56 Vgl. WA 7, 49, 7–19 (De libertate christiana, 1520; Prooemium). 57 WA DB 7, 9, 30 (Vorrede auf die Epistel S. Pauli an die Römer, 1522). Text modernisiert. 58 O. Bayer, Autorität und Kritik. Zur Hermeneutik und Wissenschaftstheorie, Tübingen 1991, 109. 59 BSLK 55,14–17. Deutscher Text modernisiert. 60 Die Auferstehung darf in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen werden, wie 1Petr 1,3 veranschaulicht, wo von der Wiedergeburt zu einer »lebendigen Hoffnung« durch die Auferstehung Jesu Christi die Rede ist. Vgl. R. Feldmeier, Wiedergeburt im 1. Petrusbrief, in: ders. (Hg.), Wiedergeburt, BThS 25, Göttingen 2005, (75–99) 83f.: »Das im Zusammenhang mit Gottes neuzeugendem Handeln verwendete Partizip Aorist ἀναγεννήσας betont, dass es sich nicht um eine immer schon vorhandene ›Eigenschaft‹ Gottes handelt, sondern dieses Neuzeugen/Wiedergebären in einem singulären geschichtlichen Ereignis, 51

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auch für das Ereignis der Wiedergeburt. Luther kann metaphorisch von der »fides creatix«,61 vom Glauben als Mutter, sprechen. Der Glaube ist demzufolge als die (Gebär-)Mutter der Wiedergeborenen zu verstehen.62 In vergleichbarer Weise erläutert Karl Barth: »Glauben heißt: Umkehr an den Ort, der einem solchen zukommt, dem Erbarmen widerfahren ist. So ist der Glaube die Geburt und das Leben des neuen Menschen, welcher tun darf und tun wird, was gut und Gott wohlgefällig ist. Denn der Glaube ist das Ergreifen und Bejahen der göttlichen Rechtfertigung; er ist die Wahrhaftigkeit, in der wir diese als geschehen hinnehmen. Nehmen wir sie hin, dann ist eben damit der neue Mensch geboren«.63

Auch Barth entwickelt ein christologisch bzw. soteriologisch bestimmtes Verständnis des Glaubens, insofern er diesen vom Werk Christi her deutet, dessen Resultat der neue, wiedergeborene Mensch darstellt. In Christus ist der neue, wiedergeborene Mensch verortet. Christsein lässt sich nicht von dieser »Ortsbeschreibung christlicher Existenz«64 abstrahieren. Barth orientiert sich erkennbar an der paulinischen Rede von der »neuen Kreatur« (2Kor 5,17), die eine »prägnante[ ] Kurzdefinition des Christseins«65 liefert.

eben der im Folgenden genannten Auferweckung Jesu Christi gründet (ingressiver Aorist). Hat sich Gott bei Paulus in Kreuz und Auferstehung als der ›Lebendigmachende‹ geoffenbart (1Kor 15), durch den die ›neue Schöpfung‹ bereits Realität ist (2Kor 5,17; Gal 6,15), so wird dies in 1Petr durch den Begriff der Wiedergeburt zugespitzt auf die Existenz der Glaubenden: In der Auferweckung hat Gott zu Gunsten der Glaubenden gehandelt und sich damit als die ihre Existenz verwandelnde, Nichtigkeit und Vergänglichkeit überwindende Macht definiert.« 61 WA 40/I, 360, 5. Vgl. W. Mostert, »Fides creatrix«. Dogmatische Erwägungen über Kreativität und Konkretion des Glaubens, ZThK 75 (1978), 233–250. 62 Vgl. K. Barth, KD IV/1, 840: »Nicht weil sie glauben, nicht in der Kraft, in der sie das tun – aber indem sie faktisch (ob in Kraft oder Unkraft) glauben, indem sie das tun und das zu tun in der Lage sind, werden und sind sie nun eben inmitten aller anderen Menschen Christen: Menschen in dieser besonderen Menschlichkeit. Es ist dem Ereignis ihres Glaubens insofern ein kreatorischer Charakter nicht abzusprechen.« Hervorhebungen im Original. Dies gilt nach Barth (ebd.) freilich, »ohne daß es [sc. das Ereignis des Glaubens; M.H.] als ihre [sc. der wiedergeborenen Menschen; M.H.] Tat kreatorischen Charakter hätte!« Damit unterstreicht Barth den zum Tun befreienden Widerfahrnischarakter des Ereignisses des Glaubens, der sich als »Anerkennen, Erkennen und Bekennen« – und somit als rechtes Tun des Menschen – äußert. Vgl. ebd. 63 Barth, KD II/2, 864. 64 U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin 2003, 648. 65 U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 253.

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3.2 Der pneumatologische und sakramentale Charakter der Wiedergeburt: Geist und Taufe Die Wiedergeburt der seinsmäßig neuen Kreatur stellt aber nicht nur einen Topos der Christologie dar, sondern zugleich auch der Tauftheologie wie auch der Pneumatologie. Das wird an dem Nikodemusgespräch in Joh 3, dem locus classicus der Wiedergeburtslehre, deutlich: »Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes eingehen« (Joh 3,5). Dieser Vers bringt das »Wie« der Wiedergeburt zur Sprache und zwar unter simultanem Verweis auf den Geist (als die die Wiedergeburt wirkende Kraft Gottes) und die Taufe.66 Bereits die Johannestaufe bezeichnete einen »Ritus der Wiedergeburt, ja der Neuschöpfung«.67 Der Belegstelle Joh 3,5 korrespondierend ist auch in Tit 3,5 von der »Waschung der Wiedergeburt und Erneuerung des Heiligen Geistes« (λουτρὸν παλιγγενεσίας καὶ ἀνακαινώσεως πνεύματος ἀγίου) und damit von Taufe und Geist die Rede.68 Dabei kann man den Geist als Wirkursache (causa efficiens) und die Taufe als Instrumentalursache (causa instrumentalis) der Wiedergeburt verstehen.69 Die Taufe markiert gleichsam den neuralgischen »Schnittpunkt von alter und neuer Welt«70 und bezieht sich damit zugleich auf den Tod des alten Menschen und das Auferstehen des neuen Menschen mit Christus (Röm 6,4). Geht es bei der Wiedergeburt um Geist und Taufe, heißt also Wiedergeburt – mit Joh 3,5 gesprochen – »neu aus Wasser und Geist geboren werden«, dann wird einmal mehr deutlich, dass Wiedergeburt »keineswegs ein Werk ist, das der Mensch selbst zu vollbringen hat und deshalb als seine Leistung von ihm gefor66

So nachdrücklich O. Hofius, Das Wunder der Wiedergeburt. Jesu Gespräch mit Nikodemus Joh 3,1–21, in: ders. / H.-Ch. Kammler (Hg.), Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums, WUNT 88, Tübingen 1996, (33–80) 48–50. Ebenso bereits Justin, Apologie I, 61,1ff.; 66,1 und in jüngerer Zeit Heron, The Holy Spirit, 54; H. Lichtenberger, Neuschöpfung und Wiedergeburt. Überlegungen zu ihrer eschatologischen Bedeutung im Neuen Testament, in: M. Bauks u.a. (Hg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5) Aspekte einer theologischen Anthropologie. FS B. Janowski zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2008, (313–327) 323; P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 2: Von der Paulusschule bis zur Johannesoffenbarung, Göttingen 1999, 277. 67 H. Gese, Der Johannesprolog, in: ders., Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge, BEvTh 78, München 1977, (152–201) 200. So auch P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Grundlegung: Von Jesus zu Paulus, Göttingen 2 1997, 63. 68 Vgl. Lichtenberger, Neuschöpfung, 326f. 69 So auch Hofius, Wunder der Wiedergeburt, 50. 70 O. Bayer, Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie, Tübingen 1999, 197. Bezogen auf die Ethik als eine Art Taufhermeneutik bedeutet dies nach Bayer (ebd.): »Ethisches Fortschreiten gibt es nur in der Rückkehr zur Taufe. Sie gibt Raum für das Bekenntnis der Sünde, für die Klage und Fürbitte und damit für eine Weltwahrnehmung, in der die Alternative von Optimismus und Pessimismus, von greller Zukunftsangst und euphorischer Hoffnung auf weitere Evolution des Kosmos und Steigerung seiner Möglichkeiten zerbricht, so wahr es ist, daß Gott der Schöpfer ohne Unterlaß Neues wirkt.«

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dert wäre. […] Die Neugeburt als das dem Menschen schlechterdings Notwendige wie schlechterdings Unmögliche kann also nur aus Gottes Möglichkeiten als die durch seinen Geist gewirkte Gabe empfangen werden«.71 Der johanneische Christus gebraucht bezeichnenderweise eine passivische Wendung, wenn er Nikodemus antwortet: »Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird (γεννηϑῇ ἄνωϑεν), kann er das Reich Gottes nicht sehen« (Joh 3,3).

3.3 Der eschatologische Charakter der Wiedergeburt: punktuell oder andauernd? August Hermann Francke identifizierte – wie dargestellt – die Wiedergeburt mit einem einmaligen Akt der Bekehrung.72 Auch nach Friedrich Schleiermacher bezeichnet die Wiedergeburt ein punktuelles Geschehen, »eine[n] Wendepunkt[ ], mit welchem die Stetigkeit des Alten aufhörte und die des Neuen zu werden begann.«73 Schleiermacher schreibt der Wiedergeburt einen gänzlich abrupten Charakter zu, wenn er betont, dass »das frühere Leben gleichsam abbricht und das neue beginnt«.74 Demgegenüber hat im 20. Jahrhundert etwa Wilfried Joest (im Anschluss an Luther) von der Wiedergeburt als einem lebenslangen Geschehen des »unter die Taufe Kriechens« gesprochen.75 Bereits Calvin hielt fest: »Diese Erneuerung [sc. durch die Wiedergeburt; M.H.] kommt nicht in einem Augenblick (non uno momento), auch nicht an einem Tag oder in einem einzigen Jahr zur Vollendung«.76 Somit steht die Frage im Raum, wie die Wiedergeburt temporal zu verstehen ist: punktuell oder stetig, als ein einmaliges historisches Datum, das einen abrupten Übergang markiert,77 oder als lebenslanger Prozess? Schaut man sich die wenigen dogmatischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts, die die Wiedergeburt ein71

Hofius, Wunder der Wiedergeburt, 50. Auch Moltmann (Geist des Lebens, 161) spricht vom »Augenblick der ›Wiedergeburt‹«. 73 Schleiermacher, Der christliche Glaube 2, 148. 74 A.a.O., 149. Von der Wiedergeburt distinguiert Schleiermacher den Ausdruck »Heiligung«, der »die wachsende Stetigkeit des Neuen« (a.a.O., 148) bezeichnet, wobei sich Schleiermacher diesen Prozess so vorstellt, dass einander korrespondierend die »angemessenen Momente immer mehr aneinandertreten, die das alte Leben repräsentierenden aber immer schwächer und seltener wiederkehren« (ebd). 75 Vgl. W. Joest, Dogmatik, Bd. II: Der Weg Gottes mit dem Menschen, Göttingen 1986, 565f. 76 J. Calvin, Inst. (1559), III,3,9. Hervorhebung im Original. – OS IV,63,25–64,1: »[…] haec quidem instauratio non uno momento, vel die, vel anno impletur«. Für Calvin steht dabei fest: »To explore the continuities of Christian patterns of holiness is to explore the effect of Jesus, living, dying and rising«. R. Williams, On Christian Theology, Oxford 2000, 25. Hervorhebung im Original. 77 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 321: »Der Vorgang der Heiligung kann dann entweder als ein allmählicher Läuterungsprozeß oder als eine plötzlich auftretende Umwandlung der Gesinnung (Metánoia), eine ›Wiedergeburt‹ auftreten.« 72

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gehender behandeln, auf diese Fragestellung hin an, so zeigt sich selbst bei solch unterschiedlichen theologischen Denkern wie Gerhard Ebeling und Karl Barth78 eine erstaunliche Übereinstimmung darin, dass sie diese Problemstellung gleichsam in die paulinische Eschatologie einzeichnen, genauer gesagt: in die Dialektik des »Noch nicht« und »Schon jetzt«.79 Exakt dadurch können beide die falsche Alternative eines ausschließlich punktuellen oder andauernden Verständnisses der Wiedergeburt umgehen. Denn das »Schon jetzt« sichert den punktuellen Charakter, während das »Noch nicht« die andauernde Dimension unterstreicht. So kann Barth einerseits die Wiedergeburt als definitives, schon in Christus geschehenes Ereignis beschreiben: »In seinem Tod hat er wie sein eigenes Ziel erreicht, so für uns, an unserer Stelle und also mit uns, mit dem Menschen diesen Neuanfang gemacht. In seinem Tod ist des Menschen Wiedergeburt und Bekehrung geschehen: in Jesus Christus als dem Gekreuzigten, weil er zuletzt und zuhöchst in seinem Kreuz als aller Menschen Herr und König gehandelt, seine Souveränität bewährt und betätigt, seine Ähnlichkeit mit dem in der Welt so unscheinbaren, aber ihr gegenüber auch so revolutionären Gott selbst bewiesen, sein Reich als geschichtliche Wirklichkeit auf den Plan geführt hat.«80

Andererseits betont Barth das »Noch nicht« der seinsmäßigen Vollendung des wiedergeborenen Christenmenschen: »Sein eigenes Sein widerspricht seinem Sein in Jesus Christus. In seinem eigenen Sein findet er, gerade mit jenem konfrontiert, gerade in seinem hellen Lichte, den alten Menschen durchaus noch nicht gestorben, den neuen Menschen durchaus noch nicht geschaffen. In seinem eigenen Sein wird er sich – dem Urteil Gottes zuwider – immer noch und immer wieder als Bundbrecher, Sünder und Übertreter vorfinden müssen. Und in seinem eigenen Sein wird er – dem Urteil Gottes zuwider – den treuen Knecht,

78

Zum Verhältnis von Ebeling und Barth vgl. E. Maurer, Barth-Rezeption bei lutherischen Theologen in Deutschland, in: M. Leiner / M. Trowitzsch (Hg.), Karl Barths Theologie als europäisches Ereignis, Göttingen 2008, (367–386) 367–370. 79 Vgl. J.P. Sampley, Walking between the Times. Paul’s Moral Reasoning, Minneapolis 1991; J.D.G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids / Cambridge 1998, 461–472 u.a.m. 80 K. Barth, KD IV/2, 323. Hervorhebungen im Original. So auch ders., KD IV/2, 413: »Das ist es ja – das ist ja die Liebe Gottes des Vaters und die Gnade unseres Herrn Jesus Christus – daß sie in ihm, und in ihm ein für allemal, keines weiteren Golgatha bedürftig, geschehen, uns vorgegeben ist: unsere Rechtfertigung und unsere Heiligung und unsere Wiedergeburt und unsere Bekehrung. Das ist es ja, daß das Alles vollbracht ist und gilt, keiner Wiederholung oder Ergänzung bedürftig, wirklich und wahr ist. Nur eben darum geht es in der Gemeinschaft, im Wirken, in der Weisung des Heiligen Geistes: daß wir das in unserem Leben als so wirklich und wahr gelten lassen, wie es in sich wirklich und wahr ist.« Hervorhebungen im Original. Übereinstimmend auch H.G. Ulrich, Eschatologie und Ethik. Die theologische Theorie der Ethik in ihrer Beziehung auf die Rede von Gott seit Friedrich Schleiermacher, BEvTh 104, München 1988, 178.

Vision

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den nahen Freund, das liebe Kind Gottes nie und nimmer entdecken können. In seinem eigenen Sein wird er mit seinen eigenen Augen sich nirgends und in keiner Hinsicht als gerechtfertigt, vielmehr immer wieder nur als der Rechtfertigung durch Gott aufs höchste bedürftig entdecken.«81

Nach Ebeling übergreift die Vollendungsgewissheit gewissermaßen die Zeiten, sofern sie »schon jetzt«, also präsentisch, in Kraft ist, sich aber zugleich auf das »Noch nicht« der zukünftigen Vollendung ausstreckt: »Durch die Wiedergeburts-, Rechtfertigungs- und Auferstehungsgewißheit werden gleichfalls das Jetzt und Einst auf denselben Nenner des Definitiven, der Vollendungsgewißheit gebracht.«82 Ebeling betont das Zugleich als »Ineinander von Zukunft und Gegenwart«83 und als Geltung der Wiedergeburt »gleichermaßen jetzt und dann«.84 So gelingt es ihm, das Geschehen der Wiedergeburt als punktuelles wie übergreifendes Geschehen auf das Reich Gottes und seine Dynamik zu beziehen: »Das Reich Gottes ist Zukunft und Gegenwart zugleich. Der Glaubende auf Erden befindet sich gewiß noch nicht im Himmel und hat doch dort schon jetzt seine Heimat, sein Gemeinwesen.«85

4. Vision: Wiedergeburt als Neuschöpfung Zusammenfassend sei festgehalten: Als Ergebnis der vorgelegten dogmatischen Reflexion ist selbstverständlich keine vollständige Lehre von der Wiedergeburt ansichtig geworden. Das kann selbstredend auch nicht intendiert sein. Indes dürften zumindest einige Konturen eines solchen projektierten Unternehmens erkennbar geworden sein. In seinem Zentrum steht eine biblisch-theologisch redimensionierte Konzeption von Wiedergeburt als Neuschöpfung, die zugleich »christologisch begründet, pneumatologisch ausgeführt und eschatologisch orientiert«86 ist. Alle drei dieser nicht gegeneinander auszuspielenden, sondern zu integrierenden Aspekte wollen berücksichtigt werden.87 Der Verzicht auf jeden einzelnen dieser drei Aspekte mündet in jenen »born againism«, wie er in dieser Untersuchung beschrieben wurde: Ohne christologische Begründung der Wiedergeburtslehre

81

Barth, KD IV/1, 104. Ebeling, Der christliche Glauben 3, 44. 83 Ebd. 84 A.a.O., 45. 85 Ebd. 86 Moltmann, Geist des Lebens, 161. 87 M. Hailer (Wie viel Weltfremdheit gehört zur Wiedergeburt? Ein Versuch, Nietzsches ›Fluch auf das Christentum‹ ein wenig Segen abzugewinnen, in: R. Feldmeier [Hg.], Wiedergeburt, BThS 25, Göttingen 2005, 101–148, 130f.) hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die »Isolierung der Vorstellung von der Wiedergeburt«, etwa als »Wiedergeburtsereignis« oder als »Sachmoment der Taufgnade« entscheidend zur Diskreditierung des Begriffs »Wiedergeburt« beigetragen hat. 82

182

Wiedergeburt?

tritt das subjektive Bekehrungserlebnis anstelle des Werkes Christi als Grund der Heilsgewissheit in den Fokus; ohne die pneumatologische Explikation wird der Glaube, der Werk des Geistes ist, zum Werk des Menschen stilisiert und ohne eschatologische Orientierung frönt man entweder einem präsentischen Triumphalismus der Wiedergeborenen oder einer weltvergessenen und diesseitsflüchtigen Jenseitssucht. Das eine dürfte so fatal wie das andere sein. Wiedergeburt meint hingegen, recht verstanden, eine von Gott um Christi willen durch den Heiligen Geist erwirkte Neuschöpfung, die im Glauben schon jetzt empfangen und dereinst vollendet wird. Es geht bei der Wiedergeburt – zugespitzt formuliert – um das neue geschöpfliche Sein in Christus. Erweist sich aber ein solches Verständnis von Wiedergeburt als Neuschöpfung als angemessen, dann ist zu überlegen, ob die Vorsilbe »wieder« nicht inhaltlich zugunsten des Präfixes »neu« zu verändern und dementsprechend der Wiedergeburts- durch den Neugeburts- oder Neuschöpfungsbegriff zu ersetzen wäre. Eine solche Substitution würde jedenfalls abgrenzend verdeutlichen, dass »[d]ie in Amerika gebräuchlichen Ausdrücke ›reborn‹ oder ›born-again‹ […] unzutreffend«88 sind. Freilich wird man hinsichtlich dieser vermeintlich radikalen Lösung des Verzichts auf den Begriff »Wiedergeburt« und seiner Substitution durch den der »Neuschöpfung« bedenken müssen, dass sprachliche Ausdrücke keine ein für allemal feststehende, mithin keine fixe Bedeutung haben. Je nach Sprachspiel,89 also je nach Verwendung, kann die Bedeutung schwanken. Deshalb sind Erklärungen notwendig, zumal sprachliche Ausdrücke keine feststehende Verwendung haben.90 Vielmehr liegt die Bedeutung eines Wortes in seinem Gebrauch: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.«91 Diese sprachphilosophische Einsicht, die sich dem späten Wittgenstein verdankt, will grundsätzlich im »Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache«92 bedacht sein. Sie gilt es auch im Blick auf den Gebrauch des Begriffs »Wiedergeburt« zu berücksichtigen. Da auch seine Bedeutung durch die Ingebrauchnahme seitens des »born againism« keineswegs fix ist, sondern sich im Gebrauch entscheidet, erweist es sich als durchaus naheliegend, diesen Begriff anders, nämlich im Sinne von Neuschöpfung, zu gebrauchen und dadurch umzuprägen. Es geht also darum, ein alternatives Sprachspiel zu spielen und zwar wiederholt zu spielen, sodass es sich etabliert. Damit würde man dem »born againism« – anders als bei der eben88

Moltmann, Geist des Lebens, 159. Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (= PU), in: ders., Ludwig Wittgenstein Werkausgabe, Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 101995, § 23, 250: »Das Wort ›Sprachspiel‹ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.« Hervorhebung im Original. 90 PU § 560, 449: »›Die Bedeutung eines Wortes ist das, was die Erklärung der Bedeutung erklärt.‹ D.h.: willst du den Gebrauch des Wortes ›Bedeutung‹ verstehen, so sieh nach, was man ›Erklärung‹ der Bedeutung nennt.« 91 PU § 43, 262. 92 PU § 105, 299. 89

Vision

183

falls erwogenen Begriffssubstitution – gerade nicht das semantische Feld überlassen: »[N]eue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen.«93 Auf solche Sprachspiele bzw. Sprachhandlungen bezieht sich die Dogmatik in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben, nämlich »festzustellen, begrifflich zu präzisieren und systematisch (d.h. in ihrem eigenen Zusammenhang) zu entfalten, was in diesen Handlungen ausgesagt wird.«94 Nur durch eine solche Bezugnahme kann die Dogmatik verdeutlichen, dass sie nicht hybride über jener elementaren Glaubenssprache steht, die sich des Wiedergeburtsbegriffs bedient, sondern (selbst-) kritisch neben ihr.95 Dieses neue Sprachspiel wird man freilich nicht subjektivistisch enggeführt als das Sprachspiel des neuen Menschen im Sinne einer theologia regenitorum verstehen dürfen.96 Es kann sich indes – und wird sich, insofern es sich im Regelgebrauch an die Heilige Schrift gebunden weiß97 – vom biblischen Sprachgebrauch inspirieren lassen und an Paulus anknüpfend die »Vision« vom neuerschaffenen Menschen in den Blick nehmen. Insofern geht es bei der intendierten Revision des Wiedergeburtsbegriffs um mehr als nur die rückwärts gewandte Schau auf seinen problematischen Gebrauch in der Vergangenheit. Eine Revision, die es mit der Überprüfung des überkommenen Begriffsgebrauchs ernst meint, scheut nicht davor zurück, diesen im Vollzug eines alternativen Sprachspiels nun tatsächlich auch zu revidieren. Als solche Re-Vision wird sie nicht ohne Vision auskommen. Nach dem bislang Ausgeführten kann damit in Bezug auf die Wiedergeburt nur das Sehen der in Christus neuen Kreatur, die Schau der eschatologischen Wirklichkeit seiner Neuschöpfung gemeint sein. Im Blick auf diese Wirklichkeit dürfte übrigens auch der Begriff »Vision«98 im entsprechenden Sprachspiel sein Konnotat des Phantastischen, Unrealistischen und Schwärmerischen verlieren. Es geht bei der paulinischen Vision schließlich um die eschatologische, christologische und pneumatologische Sichtung der Wirklichkeit.

93

PU § 23, 250. G. Sauter, »Einfaches Reden von Gott« als Gegenstand der Dogmatik, in: J. Roloff u.a. (Hg.), Einfach von Gott reden. Ein theologischer Diskurs. FS F. Mildenberger zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1994, (159–171) 167. 95 Vgl. G. Sauter, Art. Dogmatik I., TRE 9 (1982), (41–77) 50. 96 Vgl. Matthias, Bekehrung und Wiedergeburt, 65ff. 97 Vgl. zur »Schrifttreue« G. Sauter, Zugänge zur Dogmatik. Elemente theologischer Urteilsbildung, Göttingen 1998, 280–292. 98 Bereits der junge S. Hauerwas (Vision and Virtue. Essays in Christian Ethical Reflection, Notre Dame 1974, 45f.) spricht von »Vision« als »a way of attending to the world. It is learning ›to see‹ the world under the mode of the divine.« Hauerwas versteht dementsprechend unter »moral life« »the progressive attempt to widen and clarify our vision of reality« (a.a.O., 44). Bisweilen kann er auch von »moral vision« als »perspective« (a.a.O., 34f.) der Weltwahrnehmung sprechen. Unter starkem Einfluss von Hauerwas hat sein neutestamentlicher Kollege an der Duke University, R.B. Hays, seinem Entwurf einer »Ethik des Neuen Testaments« bezeichnender Weise den Titel »The Moral Vision of the New Testament. Community, Cross, New Creation« (New York 1996) gegeben. 94

184

Wiedergeburt?

Paulus zufolge gibt es mitten in dieser unerlösten, ihrem Ende entgegeneilenden Welt gemäß der überlappenden Gleichzeitigkeit von altem, sukzessive absterbendem Äon und neuem, bereits begonnenem Äon,99 welche für die Dialektik des »Schon jetzt« und »Noch nicht« konstitutiv ist, die neue Schöpfung:100 »Ist jemand in Christus – neue Schöpfung« (2Kor 5,17; vgl. Jes 65,17–19).101 Der Apostel entfaltet in einem apokalyptischen Referenzrahmen102 seine »vision of Christian existence between the times«:103 »[T]he new creation is not just a future hope, as in most forms of Jewish apocalyptic thought; rather, the redemptive power of God has already broken into the present time, and the form of this world is already passing away.«104 Paulus sieht in der »neuen Schöpfung« eine schon gegenwärtige

99

In dieser Zeit bewegt sich auch die theologische Ethik: »in der Differenz zwischen Weltzeit und Neuschöpfung. [...] Es ist die Zeit einer neuen Ethik: eines neuen Lebens mit Gott, die Zeit geschöpflichen Lebens, als die in die Welt einbrechende Zeit.« H.G. Ulrich, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, EThD 2, Münster 2005, 441. Dort z.T. kursiv. 100 Vgl. Hays, Moral Vision, 20: »[F]or Paul, ktisis (›creation‹) refers to the whole created order (cf. Rom. 8:8–25). He is proclaiming the apocalyptic message that through the cross God has nullified the kosmos of sin and death and brought a new kosmos into being. That is why Paul can describe himself and his readers as those ›on whom the ends of ages have met‹ (1 Cor. 10:11). The old age is passing away (cf. 1 Cor. 7:31b), the new age has appeared in Christ, and the church stands at the juncture between them.« Hervorhebungen im Original. 101 Dass Paulus in 2Kor 5,17 auf die jüdisch-apokalyptische Zwei-Äonen-Lehre rekurriert und sich hier in einem genuin apokalyptischen Deutungsrahmen bewegt, betonen u.a. V.P. Furnish, II Corinthians, AncB 32 A, Garden City 1984, 332; E. Grässer, Der zweite Brief an die Korinther Kapitel 1,1–7,16, ÖTK 8/1, Gütersloh 2002, 223; Ch. Wolff, Der zweite Brief an die Korinther, ThHK 8, Berlin 1989, 127. 102 So Hays, Moral Vision, 27. 103 A.a.O., 25. 104 A.a.O., 21. Vgl. U. Schnelle, Die Begründung und die Gestalt der Ethik bei Paulus, in: R. Gebauer / M. Meiser (Hg.), Die bleibende Gegenwart des Evangeliums. FS O. Merk, MThSt 76, Marburg 2003, (109–131) 117f.: »Nicht nur ein neues Seinsverständnis, sondern das neue Sein selbst hat in einem umfassenden Sinn bereits begonnen! [...] Die noch ausstehende Vollendung des Heils schmälert in keiner Weise die Überzeugung, daß der Transfer in das neue Sein bereits wirkmächtig erfolgte, denn das bereits Geschehene und nicht das Ausstehende ist der entscheidende Inhalt des paulinischen Evangeliums.« Hervorhebungen im Original.

Vision

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Realität,105 die er freudig jubelnd begrüßt,106 da »[i]n der Christus-Gemeinschaft in Wort, Glauben und Gehorsam [...] die neue Schöpfung schon angebrochen«107 ist. Dieser an der neuen Schöpfung teilhabende Mensch, der in Christus bereits präsentisch der »neue Mensch« sein darf, ist nach Paulus der wirkliche, wahre Mensch. Von keinem anderen als von ihm, der in der von Gott gestifteten Versöhnung seinen Ursprung hat, wird der paulinischen »Vision« folgend in der Dogmatik als wiedergeborenem Menschen zu reden sein. In diesem Sinne plädieren die vorgelegten Erwägungen für eine dieser Vision folgende Revision des dogmatisch diskreditierten Begriffs »Wiedergeburt«.

105

Ch. Wolff (Korinther, 127) identifiziert in 2Kor 5,17 einen »Realis der Gegenwart«. Vgl. auch H.-J. Eckstein, Auferstehung und gegenwärtiges Leben nach Röm 6,1–11. Präsentische Eschatologie bei Paulus?, ThBeitr 28 (1997), (8–23) 19f.; Furnish, Corinthians, 333: »Paul can affirm that the new age has already broken in […], that the new creation is already a reality.« Hervorhebung im Original. 106 V.P. Furnish (Corinthians, 333) spricht von einem »exultant cry«; Hays (Moral Vision, 20) von »an exclamatory interjection«. 107 H.H. Esser, Der Mensch – Bild Gottes. Eine Grundformel jüdisch-christlicher Eschatologie, ThViat(S) 3, 2 (1975), (95–112) 106.

d. Christologie intradisziplinär Auf dem Weg zu einem Gespräch der theologischen Disziplinen (Exegese und Praktische Theologie)

VII. Der sogenannte historische Jesus und der erinnerte Christus Oder: Martin Kähler, der Jesus-Memory-Approach und das Chamäleon auf dem Holzweg

Pfarrer i.R. Wilhelm Hofius zum 80. Geburtstag »Die Auferstehung, die unser Ausgang ist, ist auch unsere Schranke.«1

1. Einleitung: Die Rückfrage nach Jesus Wer war Jesus wirklich? Diese Frage hat die historische Jesusforschung in all ihren Erscheinungsformen seit ihrer Entstehung im 18. Jahrhundert gestellt. Sie inspirierte ihren Entdeckergeist und motivierte ihren Forscherdrang. Dies gilt für die »First Quest for the Historical Jesus« nicht weniger als für die »Second« und die »Third Quest«. Die Rückfrage nach dem historischen Jesus ist der Versuch, hinter den neutestamentlichen Quellen, hinter dem Zeugnis der Apostel und Evangelisten, den irdischen Jesus selbst zu suchen und zu finden. Es geht um das Bemühen, mit den Mitteln der historisch-kritischen Forschung aus den Quellen, einschließlich der neutestamentlichen Überlieferung, ein Bild des irdischen Jesus, seines Wesens, seiner Botschaft, seines Verhaltens zu gewinnen und dann zu Jesus selbst vorzustoßen, um am Ende sagen zu können, wer Jesus wirklich war. Wie sieht dieses Bild aus? Der Paderborner Theologe Dieter Schellong (1928–2018) hat darauf in einem bemerkenswerten, doch leider weitgehend übersehenen Aufsatz eine nicht weniger witzige als auch polemische und provozierende Antwort gegeben: Das Bild erinnert an ein Chamäleon. So sieht er also aus, der historische Jesus:

1

K. Barth, Der Römerbrief. Zweite Fassung (1922), hg. von C. van der Kooi / K. Tolstaja, Karl Barth GA II/47, Zürich 2010, 61.

190

Der sogenannte historische Jesus

Abbildung 2: Der »historische Jesus« nach D. Schellong

Wie kommt Schellong zu dieser zugegebenermaßen recht steilen Hypothese? Schellong führt aus: »[E]r [sc. der »historische Jesus«; M.H.] war so gut und sympathisch, wie man selber sein möchte. Die Färbung im Einzelnen wechselt: In den fünfziger Jahren merkte man dem historischen Jesus das Studium der Existentialphilosophie an, die hat er wieder verlernt, dafür hat sein Engagement für Sozialarbeit zugenommen, einige Zeit lang konnte er auch kulturpolitisch aufrührerisch sein, und inzwischen besteht kein Zweifel mehr an seinem Feminismus, der auch verschiedener Facetten fähig ist. Wenn man Lust dazu hätte, könnte man die Schwankungen im öffentlichen Bewusstsein seit den fünfziger Jahren an dem nachzeichnen, was aus den wenigen ›echten‹ Aussprüchen Jesu herausgedeutet wird. Der ›historische Jesus‹ kommt mir vor wie ein Chamäleon: Auf welche Farbe man ihn setzt, die nimmt er an.«2 Aus der Summe der von der Forschung reproduzierten Bilder ergibt sich gleichsam ein Chamäleon. Der Bochumer Neutestamentler Klaus Wengst hat kürzlich, Schellong beipflichtend, davon gesprochen, dass auch die in den 1980er und 1990er Jahren erfolgende »dritte Suche« nach dem »historischen Jesus« – wie nicht anders zu erwarten war – »ein Chaos von Jesusbildern produziert«3 habe.4 In der Tat macht sich Skepsis breit, wenn man die Ergebnisse der »Third Quest for the Historical Jesus« betrachtet.5 Michael Welker etwa möchte bereits eine »vier2

D. Schellong, »Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?« Rückfragen zur Suche nach dem »historischen Jesus«, Entwürfe 6, hg. von F.-W. Marquardt u.a., München 1990, (2–47) 29. 3 K. Wengst, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem »historischen« Jesus, Stuttgart 2013, 250. 4 Zur aktuellen Jesusforschung vgl. den Band E.D. Schmidt (Hg.), Jesus, quo vadis? Entwicklungen und Perspektiven der aktuellen Jesusforschung, BThSt 177, Neukirchen-Vluyn 2018. 5 Vgl. Beitrag von Angelika Strotmann in diesem Band. Fernerhin den Überblick: A. Strotmann, Der historische Jesus. Eine Einführung, Paderborn 22015, 31–34.

Einleitung

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te Frage« nach dem historischen Jesus im Sinne einer mehrfachen Multikontextualität kultiviert wissen.6 Die dritte, stark sozialgeschichtlich orientierte Suche habe keine überzeugenden Ergebnisse gezeitigt und markiere keineswegs einen Schlusspunkt der Debatte. Ein Konsens ist in der Tat nicht hergestellt worden. Darauf verweisen die positionellen Divergenzen zwischen den einzelnen Vertretern der »Third Quest« wie Géza Vermes, Richard A. Horsley, John Dominic Crossan, Ed Parish Sanders und Marcus J. Borg. Die Abweichungen sind keineswegs marginal,7 sondern betreffen zentrale Gesichtspunkte bzw. Charakteristika des »historischen Jesus«. Während die einen ihn für eschatologisch ausgerichtet erachten, bestreiten andere dies mehr oder weniger vehement. Während wiederum einige ihn für einen Propheten halten, identifizieren andere ihn als einen charismatischen Heiler oder einen Heiligen Mann, andere wiederum als einen Weisheitslehrer bzw. Weisen. Selbst die Charakterisierung seines Wirkens als politisch bzw. gesellschaftsverändernd wird von einem Teil der Forschenden ebenso pointiert herausgehoben wie von einem anderen Teil zögerlich bestritten. Die Disparatheit ist so massiv, dass der Verdacht von Retrojektion, also von rückwärtsgewandter Projektion, kaum von der Hand zu weisen sein dürfte. Die »Quest for the Historical Jesus« produziert keineswegs die erhoffte Rekonstruktion des »wirklichen« Jesus, sondern eine Fülle von divergierenden Jesusbildern. Die Rekonstruktion erweist sich als Konstruktion: »Darstellen hieß herstellen.«8 Genau dies besagt Schellongs Identifikation des »historischen Jesus« als Chamäleon. Schellong zieht daraus den Schluss: »Wird der ›historische‹ Jesus rekonstruiert, so kann das dabei Hervorgebrachte für uns nur interessant sein als Ausdruck der Phantasie derer, die die Rekonstruktion vornehmen.«9 Die These vom Chamäleon ist – bei Lichte betrachtet – keineswegs neu. Bereits bei Albert Schweitzer10 (1875–1965) begegnet sie uns, bei ihm freilich gemünzt auf die Leben-Jesu-Forschung, also die »First Quest for the Historical Jesus«. Schweitzer zieht das kritische Fazit:

6

Vgl. M. Welker, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 22012, 83–90. Vgl. zu diesen Positionen D. du Toit, Erneut auf der Suche nach Jesus. Eine kritische Bestandaufnahme der Jesusforschung am Anfang des 21. Jahrhunderts, in: U.H.J. Körtner (Hg.), Jesus im 21. Jahrhundert. Bultmanns Jesusbuch und die heutige Jesusforschung, Neukirchen-Vluyn 2002, 91–134; ders., Die »Third Quest for the Historical Jesus«, in: J. Schröter / Ch. Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, 98–112; G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 42011, 22–30. 8 F. Rosenzweig, Atheistische Theologie, in: ders., Kleinere Schriften, Berlin 1937, (278–290) 278. 9 D. Schellong, Von der bürgerlichen Gefangenschaft des kirchlichen Bewußtseins. Dargestellt an Beispielen aus der evangelischen Theologie, in: G. Kehrer (Hg.), Zur Religionsgeschichte der Bundesrepublik, Forum Religionswissenschaft Bd. 2, München 1980, (132–166) 140. 10 Zu Albert Schweitzer vgl. die kritische Würdigung durch Wengst, Der wirkliche Jesus?, 129–154. 7

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Der sogenannte historische Jesus »Es ist der Leben-Jesu-Forschung merkwürdig ergangen. Sie zog aus, um den historischen Jesus zu finden, und meinte, sie könnte ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück.«11

Schweitzer zieht die Negativbilanz, dass die Leben-Jesu-Forschung erfolglos blieb. Es gelang ihr nicht, den historischen Jesus zu finden. Sie versuchte dies, indem sie sich vom christologischen Dogma, dem »Felsen der Kirchenlehre«, verabschiedete und statt vom »wahren Menschen« und »wahren Gott« wie im Chalcedonense (451 n.Chr.) zu sprechen, ihr Interesse auf den historischen Menschen Jesus ausrichtete. Ihr Versuch, diesen Jesus zu rekonstruieren, scheiterte jedoch, da mit seiner Historisierung seine Gegenwartsrelevanz verloren ging. Seine Lebendigkeit fiel dem Historisierungsversuch zum Opfer. Schweitzer umschreibt diese Verlustanzeige aktiv-personal und lässt Jesus in seine Zeit zurückkehren.

2. Die Frage nach dem historischen Jesus als Holzweg. Martin Kählers Dekonstruktion Dass die Frage nach dem »historischen Jesus« ein nicht gering zu achtendes theologisches Problem darstellt,12 hat bereits vor Albert Schweitzer der Hallenser Theologe Martin Kähler (1835–1912), ein frommer Bibeltheologe,13 erkannt. Er darf als der eigentliche Vater dieser Problemanzeige gelten.14 Ganz ähnlich wie 11

A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 91984, 620. So auch O. Hofius, Die Frage nach dem »historischen Jesus« als theologisches Problem, in: H. Assel (Hg.), Leidenschaft für die Theologie, Leipzig 2012, (79–115) 83. 13 Einführend zu Kähler vgl. E. Fuchs, Hermeneutik, Bad Cannstatt 1954, 12–27; H.-P. Göll, Versöhnung und Rechtfertigung. Die Rechtfertigungslehre Martin Kählers, Gießen / Basel 1991; H.J. Iwand, Nachgelassene Werke. Neue Folge Bd. 3: Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. »Vater und Söhne«, hg. von der Hans-Iwand-Stiftung, bearb., komm. und mit einem Nachwort versehen von G.C. den Hertog, Gütersloh 2001, 283– 298; M. Korthaus, Martin Kähler (1835–1912). Theologe und Christ, in: M. Häusler / J. Kampmann (Hg.), Protestantismus in Preußen. Lebensbilder aus seiner Geschichte. Bd. III: Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Frankfurt a.M. 2013, 219– 239; W. Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, UTB 1979, Göttingen 1997, 100–120; M. Zimmermann, Martin Kählers biblische Theologie. Grundzüge eines theologischen Werkes, Neukirchen-Vluyn 2016. 14 So F. Nüssel, Art. Kähler, Martin, RGG4 4 (2001), (733–735) 735: »Kähler hat A. Schweitzers kritische Betrachtung der Leben-Jesu-Forschung vorweggenommen.« So auch Pannenberg, Problemgeschichte, 117. H.-J. Kraus (Systematische Theologie im Kontext 12

Martin Kählers Dekonstruktion

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bei Schweitzer heißt es bei Kähler im Blick auf die Leben-Jesu-Forschung: »[O] bwohl man mit Spießen und Stangen ausgezogen ist, ›er [sc. Jesus; M.H.] ging hinaus, mitten durch sie hinstreichend‹.«15 Kähler hat 1892 eine bemerkenswerte Abhandlung mit dem paradoxen Titel »Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus« verfasst.16 Er griff »mit scharf provozierenden Formulierungen in die theologische Debatte ein.«17 Klaus Wengst hat jüngst von einer »[r]adikale[n] theologische[n] Kritik der Leben-Jesus-Forschung«18 gesprochen und der Erinnerung des Hallenser Theologen seine »Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem ›historischen‹ Jesus« gewidmet.19 Sie ist auch – nicht weniger treffend – als »Grabrede auf die biographischen Träume der Leben-Jesu-Forschung«20 bezeichnet worden. Paradox ist der Titel der Untersuchung Kählers, denn er stellt beide, den historischen Jesus und den geschichtlichen, biblischen Christus, in einen Zusammenhang. Genau hier gilt es allerdings nach Kähler zu unterscheiden: »Mein Thema ist ein Paradoxon, denn es stellt zwei Aussagen einander entgegen, von denen es scheinen könnte, als ob sie genau dasselbe besagten.«21 Kähler führt auf dem Hintergrund einer Scheinidentität eine Distinktion ein, die seitdem als unhintergehbar gelten darf: Der historische Jesus ist nicht der biblisch, geschichtliche Christus. Oder in Kählers eigenen Worten: »Der historische Jesus der modernen Schriftsteller verdeckt uns den lebendigen Christus.«22 Kähler versteht dieses biblischer Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 1983, 365; dort z.T. kursiv) urteilt gar: »Martin Kähler [hat] der Leben-Jesu-Forschung ein Ende gesetzt und den geschichtlich-biblischen Christus als den verkündigten Christus des Glaubens neu erkennen gelehrt.« 15 M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, ThB 2, hg. von E. Wolf, München 21956, 18. 16 Vgl. zu dieser Schrift die kritische Analyse von H.-G. Link, Geschichte Jesu und Bild Christi. Die Entwicklung der Christologie Martin Kählers in Auseinandersetzung mit der Leben-Jesu-Theologie und der Ritschl-Schule, Neukirchen-Vluyn 1975, 225–267, sowie einführend: Wengst, Der wirkliche Jesus?, 113–128; Zimmermann, Martin Kählers biblische Theologie, 170–181. Fernerhin: E. Jüngel, Paulus und Jesus. Eine Untersuchung zur Präzisierung der Frage nach dem Ursprung der Christologie, HUTh 2, Tübingen 31967, 71–80. 17 F. Mildenberger, Martin Kähler, in: M. Greschat (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte. Bd. 9.2. Die neueste Zeit II, Stuttgart u.a. 1985, (278–288) 285. 18 Wengst, Der wirkliche Jesus?, 113. Vgl. auch a.a.O., 15. Ähnlich Link, Geschichte Jesu und Bild Christi, 229, der von einer »provokante[n] Kampfschrift« spricht, »mit der Kähler der Leben-Jesu-Theologie den Fehdehandschuh hinwirft«. 19 Vgl. Wengst, Der wirkliche Jesus?, 5; 8. 20 H. Theißen, Der irdische Jesus. Wahrheit und Kontextualität der Christologie bei Hans-Georg Geyer, in: Ch. Danz / M. Hackl (Hg.), Transformationen der Christologie. He­ rausforderungen, Krisen und Umformungen. Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 17, Göttingen 2019, (88–102) 90. 21 Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 16. 22 Ebd. Dort kursiv. Kähler geht es gerade um den »lebendigen Christus«, nicht um das Prinzip einer »wirkungsgeschichtliche[n] Konstruktion«. Vgl. dazu die Kähler-Kritik bei Pannenberg, Problemgeschichte, 115–118. Vgl. auch F. Nüssel, The Value of the Bible:

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Der sogenannte historische Jesus

Urteil, welches die Pointe seiner Abhandlung bildet, als einen »Mahnruf«23. Dieser Mahnruf hat – wie selbst Ernst Käsemann 1953 in seinem berühmten Vortrag »Das Problem des historischen Jesus« konzedieren muss – »nach 60 Jahren an Aktualität noch kaum eingebüßt und [ist] trotz aller Angriffe und vieler möglicher Bedenken auch nicht wirklich widerlegt«.24 Kähler zeichnet folgende geistesgeschichtliche Konstellation nach: Die beiden Extreme der neuzeitlichen christologischen Debatte bilden einerseits ein Dogmatismus in altkirchlicher Tradition, Kähler spricht vom »verrufene[n] dogmatische[n] Christus der byzantinischen Christologie«25, und andererseits der Historizismus der Leben-Jesu-Forschung, also kurz gesagt: die »First Quest for the Historical Jesus«. Beide stehen nach Kählers Auffassung »gleich weit von dem wirklichen Christus«26 entfernt. Bei beiden handle es sich um »Ismen«, also »irregehende[] Anschauungen«27. Im Sinne eines tertium datur verortet sich Kähler zwischen beiden Extremen. So sieht die Matrix aus, auf deren Hintergrund Kähler arbeitet. Er hat es also grundsätzlich mit zwei Gegnern zu tun, wobei er angesichts der damals boomenden Leben-Jesu Forschung diese besonders aufs Korn nimmt: »Ich sehe diese ganze ›Leben-Jesu-Bewegung‹ für einen Holzweg an.«28 Was wirft er ihr vor? Zum einen adressiert Kähler einen Retrojektionsvorwurf: »Der Jesus der ›Leben Jesu‹ ist nur eine moderne Abart von Erzeugnissen menschlicher erfindender Kunst«.29 Zum anderen wirft Kähler der Leben-Jesu-Forschung einen unreflektierten Schriftumgang, also eine defizitäre Hermeneutik, vor: »Sie [sc. die Leben-Jesu-Bewegung; M.H.] verliert ihr gutes Recht, sobald sie beginnt, an der Bibel herum zu schneiden und zu reißen, ohne sich über die besondere Sachlage an diesem Punkte und über die eigentümliche Bedeutung der Schrift für diese Erkenntnis völlig klar geworden zu sein.«30 Nach Kähler lässt es die Leben-Jesu-Forschung an Bescheidenheit als der »erste[n] Tugend echter Geschichtsforschung«31 vermissen. Sie ordne das biblische Zeugnis in die Reihe zuverlässiger historischer Quellen ein. Indes macht Kähler gegen diese Subsumption geltend: »Wir besitzen keine Quellen für ein Leben Jesu, welche ein Geschichtsforscher als zuverlässige und ausreichende gelten lassen kann. Ich betone: für eine Biographie Jesu von Nazareth von dem Maßstabe heutiger geschichtlicher Wissenschaft. Ein glaubwürdiges Bild des Heilandes für Martin Kähler’s Theology of Scripture and its Ecumenical Impact, in: J. Stievermann / R. C. Zachman (Hg.), Multiple Reformations? The Many Faces and Legacies of the Reformation, Tübingen 2018, 359–374. 23 Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 16. 24 E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus (1953), in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen. Erster Band, Göttingen 61970, (187–214) 188. 25 Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 16. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 A.a.O., 18. Dort z.T. kursiv. 29 A.a.O., 16. 30 A.a.O., 18f. 31 A.a.O., 20.

Gegenrede

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Gläubige ist ein sehr anders Ding«.32 Die Quellenlage sei schlichtweg unzureichend. Die Leben-Jesu Forschung mache indes geltend: »[D]ie echte Menschheit dieses Jesus [fordert], daß man sein Werden verstehe, die langsame Entwicklung seiner religiösen Genialität, das Durchbrechen seiner sittlichen Selbständigkeit, das Aufdämmern und Aufleuchten seines messianischen Bewußtseins. Die Quellen aber enthalten von dem allem nichts, auch garnichts«33 – so kommentiert Kähler lapidar.

3. Gegenrede. Oder: Vom Reiz der Holzwege Bevor wir Kählers Argumentationsgang weiter verfolgen, soll bereits an dieser Stelle ein Einwand erhoben werden und eine Gegenrede erfolgen. Es war Ernst Käsemann (1906–1998), der im Rahmen der »Second Quest for the Historical Jesus«34, also der »neuen Rückfrage« nach dem historischen Jesus, gegen seinen Lehrer Rudolf Bultmann35 (1884–1976) betonte, »daß wir nach der Bedeutung des historischen Jesus für den Glauben fragen müssen«.36 Hat Käsemann nicht Recht? Ist es nicht so, dass die Rückfrage nach dem historischen Jesus theologisch völlig indispensabel ist, wenn wir nicht an ein unbekanntes x, sondern eben an Jesus Christus glauben? So bemerkt etwa Ulrich Kühn (1932–2012) in seiner »Christologie«: »[Z]ur Eigenart des christlichen Glaubens [gehört], dass sein entscheidender Bezugspunkt ein Mensch der Geschichte ist, der zugleich einen Gegenstand historischer Forschung darstellt. Weil das so ist, deshalb sind die historisch erhebbaren Daten von theologischer Bedeutung in dem Sinne, dass sie das ›Material‹ liefern, an dem der

32

A.a.O., 21. A.a.O., 23. 34 Eingeleitet durch Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, 187–214; ders., Sackgassen im Streit um den historischen Jesus, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen. Zweiter Band, Göttingen 31970, 31–68. Siehe dazu die Replik von R. Bultmann, Antwort an Ernst Käsemann, in: ders., Glauben und Verstehen IV. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 31975, 190–198; ders., Das Verhältnis der urchristlichen Botschaft zum historischen Jesus, in: ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. von E. Dinkler, Tübingen 1967, 445–469. 35 Zu Bultmann vgl. M. Bauspiess, No quest for the historical Jesus? Leistungen und Grenzen der Sicht Rudolf Bultmanns für die historische und theologische Frage nach Jesus, in: U.H.J. Körtner u.a. (Hg.), Bultmann und Luther. Lutherrezeption in Exegese und Hermeneutik Rudolf Bultmanns, Hannover 2010, 123–154. 36 E. Käsemann, Neutestamentliche Fragen von heute (1957), in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen. Zweiter Band, Göttingen 31970, (11–31) 21. 33

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Der sogenannte historische Jesus Glaube Gottes Handeln zum Heil der Welt ›ablesen‹ kann. Insofern ist der Glaube immer im höchsten Maße interessiert an den Ergebnissen der historischen Forschung.«37

Droht der Glaube ohne die Rückfrage nach dem historischen Jesus nicht doketisch zu werden?38 Wenn dem aber so ist, so kann uns das Leben Jesu doch nicht gleichgültig sein, sondern dann richtet sich unser Glaubensinteresse doch ganz unwillkürlich auf Jesus hin aus. Kann man dann aber, wie Kähler es tat, von der Leben-Jesu-Forschung dezidiert als »Holzweg« sprechen? Begibt man sich dann nicht im Gegenteil selbst auf einen Holzweg? Hier zeigt sich in der argumentativen Gemengelage trotz aller Verdienste eine erste Schwäche der Position Kählers. Diese Schwäche resultiert aus der konzeptionellen Engführung zur Alternative »historischer Jesus« versus »biblischer, geschichtlicher Christus«, die nach Bultmann eine Fortsetzung fand in der Zuspitzung »historischer Jesus« versus »kerygmatischer Christus«.39 Gerade bei Käsemann, aber auch in dem Zitat von Ulrich Kühn zeigt sich, dass beide die Begriffe »historischer« und »irdischer Jesus« unterschiedslos gebrauchen und auf dem Hintergrund dieser Äquivokation die Notwendigkeit der Rückfrage nach dem historischen Jesus demonstrieren wollen. Der historische Jesus ist aber, wie Kählers Distinktion zu korrigieren und zu präzisieren sein wird, weder der biblische, geschichtliche Christus noch der irdische Jesus.40 Es sind mithin drei Größen zu unterscheiden: Der (1) irdische Jesus als der geschichtliche Mensch Jesus von Nazareth ist zu unterscheiden vom (2) historischen Jesus als dem irdischen Jesus, wie ihn die historisch-kritische Forschung zu rekonstruieren versucht, und dieser wiederum vom (3) biblischen Jesus bzw. Christus als dem irdischen Jesus, wie ihn die biblischen Quellen darstellen.41 37

U. Kühn, Christologie, UTB 2393, Göttingen 2003, 117f. Ähnlich M. Wolter, Was macht die historische Frage nach Jesus von Nazareth zu einer theologischen Frage?, in: U. Buss u.a. (Hg,), Erinnerung an Jesus. Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung, BBB 166, Bonn 2011, (17–33) 22. 38 Vgl. M. Bauspiess, »Doketismus« als theologisches Problem. Zur Bultmann-Käsemann-Kontroverse um den Wirklichkeitsbezug der johanneischen Theologie, in: M. Bauspiess u.a. (Hg.), Theologie und Wirklichkeit. Diskussionen der Bultmann-Schule, Theologie Interdisziplinär Band 12, Neukirchen-Vluyn 2011, 185–219. 39 So auch H. Theißen, Der irdische Jesus und die Praxisbedeutung der Christologie, EvTh 77 (2017), (228–238) 231: »Eine begrifflich fixierte Rede vom irdischen Jesus war erst möglich, als das Gegenüber von historischem Jesus und kerygmatischem Christus, das sich seit Kähler verfestigt hatte, eine diskursweise Verflüssigung erfuhr.« So auch ders., Der irdische Jesus. Wahrheit und Kontextualität, 91. 40 Vgl. auch M. Hofheinz, Christus peregrinus. Narrative Christologie als Christologie auf dem Weg in die Fremde, in: M. Fuchs / M. Hofheinz / N. Neumann, Unterwegs in die Fremde: Narrative Christologie im Gespräch der Disziplinen, Stuttgart 2021, 83–115. 41 Vgl. Hofius, Die Frage nach dem »historischen Jesus« als theologisches Problem, 80f.: »Der Ausdruck ›der historische Jesus‹ wird in der Forschung ganz überwiegend als ein Synonym zu den Begriffen ›der irdische Jesus‹ und ›der vorösterliche Jesus‹ verwendet, und er meint dann wie diese den Menschen Jesus von Nazareth in seiner irdisch-geschichtlichen Existenz. Demgegenüber scheint es mir um der begrifflichen und sachlichen Klarheit

Gegenrede

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Als erster hat m.W. Hermann Diem (1900–1975) in seiner Tübinger Antrittsvorlesung im Jahr 1957 auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Distinktion hingewiesen.42 Besonders distinguiert hat Hans-Georg Geyer (1929–1999) zu Beginn der 1970er Jahre vom »irdischen Jesus« in Abgrenzung zum »historischen Jesus« gesprochen.43 Wenn ich Kähler richtig verstehe und die genannte heuristische Trias zugrunde lege, so möchte er eigentlich sagen: Wir haben den irdischen, geschichtlichen Jesus nur als den biblischen Christus. Diese These impliziert – recht verstanden – das Komma in dem Titel der Schrift Kählers: »[…] der geschichtliche, biblische Christus«. Auf die Gegenfrage, ob nicht der biblische Christus auch eine Rekonstruktion der Evangelisten sei, würde Kähler wohl mit Karl Barth antworten, dass von den synoptischen Evangelisten gilt: »[N]icht sie haben ihn, sondern er selbst hat sich ihnen in jener Hoheit dargestellt«44. Es gilt dabei zu bedenken, dass die ältesten Tradenten des Christuszeugnisses Juden waren, für die Vergöttlichung (Apotheose) eine Gotteslästerung ist: »Ich bin JHWH, das ist mein Name. Und meine Ehre gebe ich keinem anderen noch meinen Ruhm den Götterbildern« (Jes 42,8). Kähler hat vermeintliche Gegenargumente bzw. Einwände durchaus wahrgenommen. Er konzediert: »Ein Holzweg pflegt seine Reize zu haben, sonst verfolgt man ihn nicht; er ist auch gewöhnlich zunächst ein Stück des richtigen Weges, sonst gerät man gar nicht auf ihn. Mit andern Worten: wir können diese Bewegung nicht ablehnen, ohne sie in ihrer Berechtigung zu verstehen.«45 Die Berechtigung willen geboten zu sein, zwischen den Termini ›irdischer Jesus‹ bzw. ›vorösterlicher Jesus‹ einerseits und ›historischer Jesus‹ andererseits präzise zu unterscheiden. Ich wähle deshalb […] die folgende Terminologie: Mit den Begriffen ›der irdische Jesus‹ bzw. der ›vorösterliche Jesus‹ bezeichne ich den irdisch-geschichtlichen Menschen Jesus von Nazareth, und dieser ist ebenfalls gemeint, wenn ich von ›Jesus‹ oder von ›Jesus von Nazareth‹ spreche. Unter dem ›historischen Jesus‹ verstehe ich den irdisch-geschichtlichen Menschen Jesus von Nazareth, wie ihn die historische Forschung mittels der historisch-kritischen Methode zu rekonstruieren sucht und rekonstruiert.« Vgl. auch Schellong, Von der bürgerlichen Gefangenschaft des kirchlichen Bewußtseins, 139; 141. 42 H. Diem, Der irdische Jesus und der Christus des Glaubens (1957), in: H. Ristow / K. Matthiae (Hg.), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, Berlin 1961, (219–232) 219. Vgl. auch W. Kreck, Die Frage nach dem historischen Jesus als dogmatisches Problem (1962), in: ders., Tradition und Verantwortung. GAufs., Neukirchen-Vluyn 1974, (78–98) 94: »Der historische Jesus ist also nicht einfach gleichzusetzen mit dem wahren Menschen Jesus, und zwar nicht nur deshalb, weil ein historisches Bild niemals die Wirklichkeit des gelebten Jesus voll erreicht, sondern vor allem deshalb, weil der wahre Menschen Jesus, wie ihn das Bekenntnis des Glaubens meint, der Mensch in seinem Verhältnis zu Gott ist (der gehorsame, der in Einheit mit Gott stehende Mensch), wie er sich historischer Wahrnehmung entzieht.« 43 Vgl. H.-G. Geyer, Rohgedanken über das Problem der Identität Jesu Christi (1973), in: ders., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. von H.Th. Goebel u.a., Tübingen 2003, 190–207. Dazu: Theißen, Der irdische Jesus und die Praxisbedeutung der Christologie, 228–238; ders., Der irdische Jesus. Wahrheit und Kontextualität, 88–102. 44 K. Barth, KD IV/1, 177. 45 Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 18. Dort z.T. kursiv.

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Der sogenannte historische Jesus

sieht Kähler dort, wo die Leben-Jesu-Forschung das biblische Zeugnis »wider abstrakten Dogmatismus setzt«.46 Das Interesse der Leben-Jesu-Forschung am Menschen Jesus entspricht durchaus dem biblischen Zeugnis von der Inkarnation (Joh 1,14). Freilich hat die Fleischwerdung des Wortes nach Kähler nur dann einen Sinn, »wenn dieser Christus mehr ist als ein Mensch.«47 Dieses »mehr« besagt aber, dass der geschichtliche Christus einen »unvergleichlichen Wert« erhält, ja einen solchen Wert, dass man ihn als »übergeschichtlichen Heiland«48 prädizieren muss. Übergeschichtlich meint, dass er »zwar ohne die Geschichte gar nicht vorhanden wäre«, aber seine »Bedeutung nicht aufgeht in die eines Gliedes in der Kette geschichtlicher Wirkungen«.49 Man kann hier fragen, ob Kähler in der Abgrenzung nicht besser im Sinne der genannten Trias die Kategorie des Historischen bemüht hätte, zumal er ja zwischen dem »historischen Jesus« und dem »biblischen, geschichtlichen Christus« unterscheidet. Was Kähler sagen möchte, ist doch offenkundig dies, dass Christus die Kategorien des Historischen bzw. der historischen Rekonstruktion sprengt. Nach Kählers Dogmatik schließt sich im Übergeschichtlichen »das Allgemeingültige mit dem Geschichtlichen zu einem Wirksam-Gegenwärtigen«50 zusammen. Kähler spricht von seiner »Übergeschichtlichkeit«, die sich gleichwohl geschichtlich manifestiert. Martin Fischer (1911–1982) hebt hervor: »Wo Kähler von ›Übergeschichte‹ spricht, bedeutet dies nicht Flucht aus der Historie und Rückzug auf ein sturmfreies Gebiet des Glaubens […]. Wenn Gott Fleisch wird, damit er sich im Fleisch der Welt versöhne, ist eine Entscheidung von oben her Bestandteil der Geschichte geworden, und alle Zeugnisse von dem Vorgang sind an historisches Vergleichen ausgeliefert. Jedoch ist damit die Geschichte Gottes mit den Menschen nicht an Gesetze historischer Analogie und Korrelation ausgeliefert, sondern ›übergeschichtlich‹ vermittelte Geschichte wird verstanden im eröffneten Gottesverhältnis, das nicht enthusiastisch über die Geschichte erhebt, sondern durch geschichtlich entschiedene Versöhnung geschichtsfähig macht.«51

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Ebd. A.a.O., 19. 48 Ebd. 49 A.a.O., 19 (Anm.). Dort kursiv. 50 A.a.O., 19. 51 M. Fischer, Martin Kähler (1835–1912), in: M. Greschat (Hg.), Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert, Urban-Taschenbücher 284, Stuttgart u.a. 1978, (130–149) 139f. 47

Der Christus praesens

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4. Der Christus praesens als Desiderat Martin Kählers Es ist der Christus praesens, auf den Kähler immer wieder insistiert. Dass Christus nicht tot, sondern lebendig und gegenwärtig ist, genau dies vermag die Leben-Jesu-Forschung nicht zu explizieren. Sie muss sich wie die Frauen im leeren Grab deshalb die Frage stellen lassen: »Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?« (Lk 24,5). Die Auskunft, die beide erhalten, lautet: »Er ist nicht hier, er ist auferstanden« (Lk 24,6). Ganz im Sinne Kählers hebt Dieter Schellong hervor: »Die Suche nach dem ›historischen Jesus‹ interessiert sich nur für Jesus vor seinem Leiden und Sterben etsi testimonium resurrectionis non daretur (als ob es das Zeugnis von der Auferstehung nicht gäbe).«52 Exakt darin besteht das theologische Problem dieser Suche. Ich bin davon überzeugt, dass präzise dies Kern und Stern auch des Einwandes Karl Barths und Rudolf Bultmanns gegen die Rückfrage nach dem historischen Jesus ist.53 Bereits der frühe Barth des »Tambacher Vortrages« (1919) stellt fest: »Paulus und Johannes [nehmen] kein Interesse am persönlichen Leben des sogenannten historischen Jesus, sondern allein an seiner Auferstehung. Darum sind auch die synoptischen Mitteilungen über Jesus schlechthin unverständlich ohne die Bengelsche Einsicht in ihre Absicht: spirant resurrectionem«54 – sie atmen Auferstehung. Die Evangelien sind aus der Perspektive von Ostern geschrieben. Das Markusevangelium etwa schließt sinngemäß mit dem »lesechristologischen« Imperativ: Lies dieses Evangelium noch einmal von vorne – und zwar im Lichte der Osterbotschaft. Das Markusevangelium weist mit seiner Ringkomposition eine zirkuläre Struktur auf.55 Rückwärtslesen ist demnach angesagt. Und diese Leseanleitung lässt sich durchaus auch als eine Umgangsempfehlung mit dem »irdischen Jesus« verstehen. Barth und Bultmann, beiden, geht es – bei aller Unterschiedlichkeit – um den auferstandenen Herrn und mit diesem Anliegen stehen beide in der Tradition Kählers.56 Wenn Kähler festhält: »Der auferstandene Herr ist nicht der historische 52

Schellong, Was sucht ihr den Lebendigen, 5. Den starken Einfluss Kählers auf Bultmann macht Pannenberg, Problemgeschichte, 116–118, geltend. So auch Nüssel, Art. Kähler, Martin, 736, die auch Barth vorsichtig in dieses Urteil einbezieht. Im Briefwechsel mit Martin Heidegger bemerkt Bultmann, dass ihm Kählers Traktat »allerlei zu denken gegeben hat.« Brief vom 11.4.1928, in: R. Bultmann / M. Heidegger, Briefwechsel 1925–1975, hg. von A. Großmann / Ch. Landmesser, Frankfurt a.M. / Tübingen 2009, 59. 54 K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft (1919), in: ders., Vorträge und Kleinere Arbeiten 1914–1921, hg. von H.-A. Drewes in Verbindung mit F.-W. Marquardt, Karl Barth GA III/48, Zürich 2012, (556–598) 568. Das Zitat geht freilich nicht auf Bengel, sondern Friedrich Christoph Oetinger zurück. Vgl. a.a.O., 567 (Anm. 75). 55 Vgl. P.-G. Klumbies, Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 39f. 56 Als weiterer »prominenter«, ja direkter Schüler Kählers muss R. Hermann (1887– 1962) genannt werden, der etwa in seinem Aufsatz »Der erinnerte Jesus« (in: H. Ristow / K. Matthiae [Hg.], Der historische Jesus und der kerygmatische Christus. Beiträge zum 53

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Der sogenannte historische Jesus

Jesus hinter den Evangelien, sondern der Christus der apostolischen Predigt, des ganzen Neuen Testamentes«57, dann hätten dies Barth und Bultmann gesagt haben können. Der enge Konnex insbesondere zu Bultmanns Leitbegriff des Kerygmas wird hier evident.58 Beide interessieren sich übrigens, wie oft übersehen wird, trotz oder – genauer gesagt – gerade wegen ihrer Kritik an der Rückfrage nach dem historischen Jesus durchaus für den irdischen Jesus. Bultmann hat im Jahr 1926 ein eigenes Jesus-Buch59 geschrieben und Barth einen langen Abschnitt über den »königlichen Menschen«60 in seiner »Kirchlichen Dogmatik«. Die Differenz zwischen dem historischen und dem irdischen Jesus will auch im Blick auf die Positionen Bultmanns und Barths bedacht sein. Man kann es auch so zuspitzen: Die Kreuzigung ist nicht nur das Ende des irdischen Jesus, sondern auch das Ende des historischen Jesus,61 insofern die Auferstehung von ihm gerade nicht ausgesagt werden kann, wohl aber vom geschichtlichen Christus der Bibel ausgesagt wird. Historie und Geschichte treten hier wohlgemerkt auseinander. Der historische Jesus ist nicht mit dem geschichtlichen, biblischen Christus identisch. Die Differenz lässt sich anhand des Unterschieds zwischen den englischen Begriffen history und story62 verdeutlichen: »Der geschichtliche Jesus der neutestamentlichen Evangelien ist demnach der Jesus ihrer story, nicht der Jesus der history. Entsprechend ist eben der geschichtliche Jesus immer schon der gegenwärtig geglaubte, der in den Geschichten der EvangeChristusverständnis in Forschung und Verkündigung, Berlin 1962, 509–517) engstens an Kähler anschließen kann. 57 Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 41. 58 So auch Pannenberg, Problemgeschichte, 117. Theologiegeschichtlich urteilt Theißen, Der irdische Jesus und die Praxisbedeutung der Christologie, 230: »Entscheidend ist nur, dass sein [sc. Kählers; M.H.] Konzept – genau wie zuvor unter anderem Vorzeichen die Leben-Jesu-Forschung – eine Möglichkeit an die Hand gab, die Theologie von der Bibelexegese über die Dogmatik bis in die kirchliche Verkündigung hinein an einem und demselben Leitfaden auszurichten: eben dem Kerygma der Jesusüberlieferung. Das hat über Barthianismus und die Bultmannschule in jedem Fall bis weit ins 20. Jahrhundert gewirkt.« 59 R. Bultmann, Jesus, UTB 1272, Tübingen Neuausgabe 1988. In seinem Brief vom 25.9.1928 an Hans Roth bemerkt Bultmann: »Einen ›historischen Jesus‹ habe ich beschrieben, freilich nicht (wenigstens der Absicht nach) im Sinne des Historismus, der Jesus als ein Phänomen der Vergangenheit nimmt, sondern so, wie er zu dem geschichtlichen Verständnis spricht, das sich durch die Geschichte anreden lassen will, das sich also nicht ›betrachtend‹ außerhalb der Geschichte befindet.« Zit. nach K. Hammann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 22012, 184. 60 K. Barth, KD IV/2, §64.3, 173–293. Dazu: P.D. Jones, The Humanity of Christ. Christology in Karl Barth’s Church Dogmatics, London / New York 2008. 61 Vgl. Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 43f.: Das »schwerste[] und entscheidende[] Stück [sc. des Werkes Christi; M.H.] war des historischen Jesus Ende.« 62 Bei Kähler ist eine Anschlussfähigkeit an die story-Konzeption etwa bei S. Hauerwas (Jesus: The Story of the Kingdom, in: ders., A Community of Character. Toward a Constructive Christian Social Ethic, Notre Dame / London 1981, 36–52; 232–239) oder D. Ritschl (Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 21988) gegeben.

Der Christus praesens

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lien präsente Christus und gerade nicht, wie es die moderne Fragestellung historischer Forschung voraussetzt, eine Größe der zurückliegenden Vergangenheit.«63 Ich sagte bereits: Das Interesse Kählers gilt dem Christus praesens. Der wirkliche Christus ist für ihn der wirksame, je präsentische Christus. Das wird einmal mehr evident, wenn Kähler betont: »Der wirkliche, d.h. der wirksame Christus, der durch die Geschichte der Völker schreitet […] – der wirkliche Christus ist der gepredigte Christus. Der gepredigte Christus, das ist aber eben der geglaubte«.64 Kähler betont: »Die eigentlich irrtümlich an die ›Historie‹ gestellte Frage nach einer für den Glauben verlässlichen Überlieferung von Gestalt und Botschaft Jesu Christi werde erst durch einen Begriff von ›Geschichte‹ eingeholt, der nicht auf das isolierte Sezieren vergangener Ereignisse aus dafür eigentlich ungeeigneten Quellen wie den aus Glaubenszeugnissen verfassten Evangelien verengt wird, sondern der die Wirkung einer Persönlichkeit auf Mit- und Nachwelt mit in den Blick nimmt. Die Wirkung Jesu aber war der ›Glaube seiner Jünger‹, die Gewissheit nämlich, dass der Gekreuzigte und Auferstandene ›der Lebendige sei‹.«65

In dieser Betonung der Wirkung zeigt sich, insbesondere wenn sie auf die Kirche bezogen wird, eine gewisse Gefahr bei Kähler. Diese Gefahr, eine zweite zu identifizierende Schwäche Kählers, wird bei ihm vor allem durch eine spezifische Engführung von Person und Werk Christi heraufbeschworen. So heißt es etwa bei Kähler: »Sein Werk ist seine Person in ihrer geschichtlich-übergeschichtlichen Wirkung; in betreff seiner bedarf man keiner Überführung durch die Mittel der geschichtsforschenden Kunst. Es liegt einem jeden vor in der durch die Jahrhunderte hindurchschreitenden Kirche, in dem bekennenden Wort und Leben der Brüder, in dem eignen wirkungskräftigen Glauben, den eben Er ihm abgewonnen hat. Das lebensvoll erfaßte Dogma vom Heiland gewährleistet dergestalt die Zuverlässigkeit des Bildes, das uns die biblische Predigt von Jesus dem Christ entgegenträgt. Und brauchen wir mehr? Und ist die Erkenntnis je einen andern Weg gegangen?«66

Die sich hier abzeichnende Gefahr besteht bei Kähler m.E. in der Auflösung von Christologie in Ekklesiologie. Der Primat der Christologie gegenüber der Ekklesio­ logie geht verloren, wenn die Kirche als Wirkungsgeschichte des irdischen Jesus begriffen und der Christus praesens kurzerhand mit der Kirche identifiziert wird. Mit dem Primat der Christologie verliert die Kirche indes das Korrektiv, ja das 63

U.H.J. Körtner, Historischer Jesus – geschichtlicher Christus. Zum Ansatz einer rezeptionsästhetischen Christologie, in: K. Huizing / U.H.J. Körtner / P. Müller, Lesen und Leben. Drei Essays zur Grundlegung einer Lesetheologie, Bielefeld 1997, (99–135) 104f. 64 Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 44. 65 Korthaus, Martin Kähler, 226. 66 Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 78f.

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Regulativ der Ekklesiologie, mithin der Lehre von sich selbst. Im Zuge dieses Verlustes degeneriert Kirche nur allzu leicht zu einer Kirche entweder »im Exzess« oder »im Regress«.67 Beides ist gleichermaßen deplorabel. Hans Joachim Iwand (1899–1960), der den »Primat der Christologie« wie kaum ein zweiter hervorhebt,68 hat, wie etwa vor ihm bereits Wilhelm Herrmann (1846–1922),69 diese Gefahr bei Kähler gesehen und die »katholisierende Schlagseite« Kählers als offene Flanke seiner Theologie benannt.70 Iwand betont: »Die Inkarnation des Wortes in Jesus geht nicht in der Kirche weiter! Diese verfügt nicht über ihr Haupt, sondern das Haupt verfügt über den Leib.«71

5. Der »Jesus remembered« bei J.D.G. Dunn und Jens Schröter Trotz dieser kritischen Bemerkungen kann festgehalten werden: Von Kähler und einer Relektüre seines Traktates lässt sich auch heute noch Entscheidendes lernen. So taucht in Kählers Abhandlung immer wieder ein Begriff auf, der bislang – wenn ich es recht sehe – von der Kähler-Forschung übersehen wurde, dem aber im aktuellen Diskurs um den »historischen Jesus« eine elementare Bedeutung zukommt. Ich meine den Begriff der »Erinnerung«.72 Dieser Begriff ist namensgebend für

67

Vgl. E. Busch, Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, 182, der auf das Dik­ tum des katholischen Theologen J.A. Möhler (Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten, 1843, 333) verweist: Die Kirche ist »der unter den Menschen […] fortwährend erscheinende, […] ewig sich verjüngende Sohn Gottes, die andauernde Fleischwerdung desselben.« 68 Vgl. H.J. Iwand, Christologie. Die Umkehrung des Menschen zur Menschlichkeit, bearb., komm. und mit einem Nachw. vers. von E. Lempp / E. Thaidigsmann, Nachgelassene Werke. NF Bd. 2, hg. von der Hans-Iwand-Stiftung, Gütersloh 1999, 462–479; ders., Vom Primat der Christologie, in: E. Wolf u.a. (Hg.), Antwort. Karl Barth zum Siebzigsten Geburtstag am 10. Mai 1956, Zollikon-Zürich 1956, 172–189. 69 Vgl. W. Herrmann, Der geschichtliche Christus der Grund unseres Glaubens, ZThK 2 (1892), (232–273) 250, der Kähler vorwirft, »in katholisches Wesen [zu] gerathen.« Vgl. dazu: Link, Geschichte Jesu und Bild Christi, 268–279; Pannenberg, Problemgeschichte, 149–161; ders., Systematische Theologie Bd. 3, Göttingen 1993, 178–182; Ch. Chalamet u.a., Einleitung, in: ders. u.a. (Hg.), Briefwechsel Albrecht Ritschl / Wilhelm Herrmann 1875–1889, Tübingen 2013, (1–41) 21f. 70 Vgl. den leider noch unveröffentlichten Brief Iwands an Ernst Käsemann vom 6. Juli 1957. Den Hinweis verdanke ich Martin Bauspieß. 71 H.J. Iwand, Kirche und Gesellschaft, Nachgelassene Werke. NF Bd. 1, bearb., komm. und mit einem Nachw. vers. von E. Börsch, hg. von der Hans-Iwand-Stiftung, Gütersloh 1998, 252. 72 Wiederum war es der junge D. Ritschl (Memory and Hope. An Inquiry Concerning the Presence of Christ, New York / London 1967, 143–230), der auf die Bedeutsamkeit des Christus praesens und der Erinnerung (memory) für die Christologie hinwies.

Der »Jesus remembered«

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einen Trend- bzw. einen Paradigmenwechsel73 – weg vom »historischen Jesus« hin zum »Jesus remembered«74. Man spricht vom sog. »Jesus-Memory-Approach«, der in der gegenwärtigen Jesusforschung vom britischen Neutestamentler J.D.G. Dunn und hierzulande von Jens Schröter in Berlin vertreten wird.75 Vom sog. »Jesus-Memory-Approach« bzw. Erinnerungsparadigma her betrachtet, basierte die Rückfrage nach dem historischen Jesus auf dem Versuch, ihn als den »eigentlichen«, »echten« Jesus hinter die urchristlichen Quellen zu stellen.76 Die Jesus-Frage sei indes »umzuformulieren in diejenigen nach einem an die Quellen gebundenen Entwurf des erinnerten Jesus als Inhalt des sozialen Gedächtnisses des Urchristentums.«77 Dabei wird die »Unterscheidung zwischen dem nachösterlichen Christus des Glaubens und dem vorösterlichen Jesus«78 abgelehnt, die als Diastase auch noch in der »Third Quest« festgehalten wurde.79 Freilich gibt es auch bei diesem Neuansatz durchaus Divergenzen, etwa hinsichtlich der Konzipierung von Traditionskontinuität bzw. der Bewertung von Medialität, insbesondere Oralität der Überlieferung. J.D.G. Dunn geht z.B. von der Grundannahme aus, »dass der Eindruck, den Jesus hinterließ, in der Verkündigung und der Katechese der frühen Gemeinden bewahrt und weitergegeben wurde und zwar gerade mit Hilfe des Materials bzw. als Material, das schließlich zur synoptischen Überlieferung wurde.« Anders gesagt, sei es »sehr wahrscheinlich, dass die Jesusüberlieferung (die synoptische Tradition) direkt auf Jesus selbst zurückzuführen ist, weil ihre Herkunft von Jesus und seinen ersten Jüngern bekannt war.«80

73

Vgl. C. Claussen, Vom historischen zum erinnerten Jesus. Der erinnerte Jesus als neues Paradigma der Jesusforschung, in: R. Englert u.a. (Hg.), Christologie. Ein religionspädagogischer Reader, Münster 2015, 11–23; E.D. Schmidt, Vom »historischen« Jesus, dem »erinnerten« Jesus und darüber hinaus. Zum aktuellen Stand der Jesusforschung, ETSt 6 (2015), 65–92; R. Zimmermann, Nur der gemalte Christus? Historische, erinnerte und erzählte Jesusbilder in der neutestamentlichen Wissenschaft des 20. und 21. Jahrhunderts, ZDTh 31 (2/2015), 31–63. 74 J.D.G. Dunn, Jesus Remembered. Christianity in the Making Vol. 1, Grand Rapids / Cambridge 2003; ders., Remembering Jesus: How the Quest of the Historical Jesus Lost Its Way, in: ders., The Oral Gospel Tradition, Grand Rapids / Cambridge 2013, 267–289. 75 Vgl. etwa J. Schröter, Zur neueren Jesusforschung, ThLZ 139 (3/2014), (388–406) 397; 406; Zimmermann, Nur der gemalte Christus?, 32; 61 u.ö. 76 Vgl. J. Schröter, Der »erinnerte Jesus«: Erinnerung als geschichtshermeneutisches Paradigma der Jesusforschung, in: ders. / Ch. Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, (112–124) 121; Zimmermann, Nur der gemalte Christus?, 41. 77 J. Schröter, Jesus und die Anfänge der Christologie. Methodologische und exegetische Studien zu den Ursprüngen des christlichen Glaubens, BThSt 47, Neukirchen-Vluyn 2001, 34. 78 J.D.G. Dunn, Remembering Jesus, übers. von C. Claussen / Ch. Maser, ZNT 10 (2007), (54–59) 55. 79 Schröter, Jesus und die Anfänge der Christologie, 35. 80 Dunn, Remembering Jesus, 54f.

204

Der sogenannte historische Jesus

Dunn beobachtet, »dass es durch die verschiedenen, tradierten Erinnerungen an Jesu Taten und Worte hindurch eine auffallende Konsistenz und Kohärenz gibt. Diese Konsistenz und Kohärenz können am besten durch den Charakter des ursprünglichen Eindrucks erklärt werden; es handelt sich dabei um die Konsistenz und Kohärenz der Wirkung, die Jesus und seine Jünger hatten. Es ist die Art und Weise, wie sie sich an ihn erinnerten.«81 Dunn geht also von einem traditionsgeschichtlichen Kontinuitäts-Modell aus, das die Wirkung Jesu (»impact«) auf die ersten Hörerinnen und Hörer betont. Er sieht den Ursprung des Christentum hier, in der erinnerungsbasierten Überlieferung, nicht etwa beim »historischen Jesus«, der ein mit den Mitteln der historischen Forschung konstruiertes Bild sei. Nach Jens Schröter82 gibt es zwei zu unterscheidende Ansätze bzw. Modelle des »Jesus remembered« bzw. des »Jesus-Memory-Approach«, nämlich neben dem von J.D.G. Dunn Schröters eigenen Ansatz bzw. sein eigenes Modell. Schröter setzt beim Erinnerungsbegriff als kulturhermeneutischer Kategorie an. Er bestimmt sein Modell als geschichtshermeneutisches Paradigma der Jesuserinnerung: Sein »Konzept der Jesuserinnerung geht davon aus, dass sich auf der Basis historisch-kritischer Quellenauswertung Umrisse des Wirkens und der Lehre Jesu zeichnen lassen. Diese Umrisse sind jedoch selbst eine spezifische Weise der Jesuserinnerung und kein Weg zur Vergangenheit ›hinter‹ den Texten. Der ›historische Jesus‹ erscheint aus dieser Perspektive vielmehr als eine Form der Jesuserinnerung auf historisch-kritischer Grundlage, die nicht mit dem ›wirklichen Jesus‹ hinter den Texten gleichzusetzen ist. Das Paradigma der Jesuserinnerung gründet deshalb letztlich auf der Einsicht, dass das hinter den frühchristlichen Quellen liegende Wirken Jesu die unverzichtbare Grundlage des christlichen Glaubens darstellt, dass dieses Wirken jedoch stets nur in Gestalt der die Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart aneignenden Weise zugänglich ist. Der so verstandene ›erinnerte Jesus‹ lässt sich deshalb nicht zuletzt als hermeneutische Reflexion der Unterscheidung von ›historischem Jesus‹ und ›geglaubtem Christus‹ verstehen.«83

An Dunn richtet Schröter die kritische Anfrage, »ob sich das in den Schriften des Neuen Testaments vorausgesetzte Verständnis christlichen Glaubens in die vorösterliche Zeit zurückprojizieren lässt, oder ob hier nicht wesentliche Entwicklungen aus nachösterlicher Zeit auf fragwürdige Weise für die Phase des irdischen Wirkens Jesu in Anspruch genommen werden.«84 Schröter trifft ein differenziertes Urteil: »Der methodische Ansatz von Dunn hat somit einerseits den Vorzug, auf historische Plausibilität zu setzen und dadurch eine ahistorische Trennung von Wirken Jesu und 81

A.a.O., 58. Schröter, Der »erinnerte Jesus«, 112–124. 83 A.a.O., 124. So auch ders., Der erinnerte Jesus als Begründer des Christentums? Bemerkungen zu James D.G. Dunns Ansatz in der Jesusforschung, ZNT 10 (2007), (47–53) 47. 84 Ders., Der erinnerte Jesus, 48. 82

Der »Jesus remembered«

205

nachösterlichem Kerygma hinter sich zu lassen. Er steht andererseits in der Gefahr, in undifferenzierter Weise das Bild einer kontinuierlichen Entwicklung von Jesus zum christlichen Glauben zu zeichnen, indem spätere Deutungen für das Wirken und Selbstverständnis Jesu selbst in Anspruch genommen werden.«85

Hanna Roose hat die Differenz zwischen dem Ansatz von Dunn und dem von Schröter als die zwischen einem metaphorischen und nicht-metaphorischen Verständnis von »Erinnerung« gekennzeichnet. Für Dunn sei die Erinnerung ein erlebnisgestütztes Phänomen, nicht jedoch eine nachträglich Konstruktion wie bei Schröter. Letzterer folge hingegen einem konstruktivistischen Geschichtsverständnis, das der Erinnerungsbegriff im Unterschied zu Dunns nicht-metaphorischem Erinnerungsverständnis metaphorisch gebrauche: »Dunn geht es um die Erinnerung der Jünger an Jesus im Vorfeld der ersten Verschriftlichung der Jesusüberlieferung (um den impact Jesu auf seine Jünger) – also um erlebnisgestütztes Erinnern im nicht-metaphorischen Sinn. Schröter hingegen bezieht sich auf ›wissensbasierte‹ und diskursive Erinnerung im metaphorischen (kulturanthropologischen) Sinn. Der erinnerte Jesus rückt dabei einerseits stark in die Nähe des historischen Jesus, andererseits in die Nähe des markinischen, johanneischen und paulinischen ›verkündigten‹ Christus.«86

Ungeachtet dieser Differenzen im Einzelnen, die etwa die Einschätzung mündlicher Traditionsprozesse betreffen,87 stimmen die Vertreter des »Jesus-Memory-Approach« bzw. des Erinnerungsparadigmas, in diesem Fall Dunn und Schröter, »in einem wesentlichen hermeneutischen Punkt überein: Die künstliche Diastase zwischen dem historischen Jesus und dem geglaubten Christus muss überwunden werden. […] Der erinnerte Jesus sei immer schon der Christus des Glaubens.«88 Anders gesagt: Wir haben Jesus nach dieser Einschätzung nicht anders als in der Erinnerung seiner Jüngerinnen und Jünger. Dunn (und in ähnlicher Weise auch 85

Ebd. H. Roose, Was bringt der »erinnerte Jesus« der Bibeldidaktik? Überlegungen zu den didaktischen Chancen und Grenzen einer neuen Modellierung der Rede von Jesus Christus, ZPT 71 (3/2019), (287–301) 298. Vgl. dies., Die »Rohgedanken über das Problem der Identität Jesu Christi« von Hans-Georg Geyer im Kontext aktueller neutestamentlicher Diskurse zum »erinnerten Jesus«, in: F. Dittmann u.a. (Hg.), Neugieriges Denken. Die Lehrtätigkeit und das theologische Werk von Hans-Georg Geyer, Greifswalder Theologische Forschungen 30, Leipzig 2018, (123–137) 130; dies., Der »erinnerte Jesus« in religionsdidaktischer Perspektive, in: E.D. Schmidt (Hg.), Jesus, quo vadis? Entwicklungen und Perspektiven der aktuellen Jesusforschung, BThSt 177, Neukirchen-Vluyn 2018, (231–261) 250. Über Schröters Position hinaus verweist Roose im Blick auf die letztgenannte Tendenz auf S. Hübenthal, Von der Vita zur Geschichte des erinnerten Jesus. Überlegungen zum Markusevangelium, in: M. Meyer-Blanck (Hg.), Geschichte und Gott. XV. Europäischer Kongress für Theologie (14.–18. September 2014 in Berlin), Leipzig 2016, 395–411. 87 Vgl. dazu Schröters kritische Anfragen an Dunn: Schröter, Der erinnert Jesus, 52f. 88 Zimmermann, Nur der gemalte Christus?, 41. 86

206

Der sogenannte historische Jesus

Jens Schröter) betont: »Ich gestehe zu, dass wir nicht näher an Jesus herankommen, und damit zu keinem anderen Jesus als zu dem, der einen solchen Eindruck hinterließ.«89 Es sind sicherlich noch mancherlei Fragen offen, was den erinnerungsorientierten Ansatz betrifft, der auf seine Weise dem »Flight from Dogma« (J.D.G. Dunn) bzw. der Kritik an der Christologie im Sog des Historismus begegnet. Ob er die Skepsis hinsichtlich der in Aussicht gestellten Überwindung der Diastase zwischen dem historischen und kerygmatischen Christus ausräumen kann, wird man hinterfragen müssen. Ein verheißungsvoller Dialog mit der Systematischen Theologie öffnet sich bei diesem Ansatz gleichwohl auf einer neuen Ebene. Geradezu werbend klingen die intradisziplinären Gesprächsangebote aus der neutestamentlichen Forschung an die Adresse der Systematischen Theologie.90 Es handelt sich dabei um die Angebote derer, die sich diesem Trend- bzw. Paradigmenwechsel verschrieben haben.

6. Abseits des Holzweges. Weiterführendes oder: Erinnerung nach Martin Kähler Von Kähler her lässt sich m.E. dieser Dialog voranbringen, denn er hilft dabei, den neuralgischen Erinnerungsbegriff zu präzisieren. Das besondere Interesse am Christus praesens und damit an Jesu Wirkung erklärt Kählers Akzentuierung der Erinnerung. Die Erinnerung ist dem Werk Jesu zugeordnet, das – wie Kähler ausführt – »seine Person in ihrer geschichtlich-übergeschichtlichen Wirkung«91 ist. Die Erinnerung erweist sich im Blick auf die Soteriologie als indispensabel. Es nimmt nicht wunder, wenn Kähler hervorhebt: »Zum gläubigen Verkehr aber mit unserm Heilande hilft uns die Erinnerung seiner Jünger, die sich im Glauben ihnen einprägte, die sein Geist in ihnen erneute und klärte, die sie als den höchsten Schatz ihres Lebens vererbten.«92 Bei der Erinnerung geht es um ein pneumatisches Geschehen, so dass sie aufgrund ihrer pneumatologischen Bedeutsamkeit zugleich von soteriologischer Valenz ist. Heilsgeschichtlicher Verkehr ist eben ohne Erinnerung nicht denkbar. Insofern muss die Erinnerung in einer valablen Konzeption von Soteriologie und Christologie berücksichtigt werden. Es geht, wie wir sehen, bei der Konzipierung der Erinnerung um das Objekt der Erinnerung, zugleich aber auch, wie sich zeigen wird, um das Subjekt derselben. Auf wen richtet sich die Erinnerung? Für die Rückfrage nach Jesus dürfte die89

Dunn, Remembering Jesus, 58. So auch J. Schröter, Der erinnerte Jesus, 53: »Historisch gesehen gab es natürlich den einen irdischen Jesus hinter den verschiedenen Erzählungen, die ihn als den ›erinnerten Jesus‹ repräsentierten.« 90 Vgl. etwa Schröter, Zur neueren Jesusforschung, 397; 406; Zimmermann, Nur der gemalte Christus?, 32; 61 u.ö. 91 Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 78. 92 A.a.O., 80.

Abseits des Holzweges

207

se Frage zunächst entscheidend sein. Kähler betont nicht nur, dass die Jünger Jesu der »Erinnerung des Geistes bedurft haben«,93 sondern er korreliert diese Aussage zugleich mit dem Verweis auf die Auferstehung und die Ungenügsamkeit der Verbindung der Jünger mit dem historischen Jesus. Der historische Jesus ist für Kähler der vorösterliche Jesus, der – wie gesagt – vom geschichtlichen Christus der Bibel zu unterscheiden ist. Erinnert wird also mit anderen Worten nicht der historische Jesus, sondern die Erinnerung bezieht sich auf den geschichtlichen Christus, wie er in österlicher Perspektive erscheint. Der historische Jesus hat nämlich nur »eine sehr schwankende, flucht- und verleugnungsfähige Anhänglichkeit«94 erzeugt. Die Wiedergeburt zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu von den Toten (1Petr 1,3) bildet indes nach Kähler die Voraussetzung, den Ermöglichungsgrund der Erinnerung des Geistes. Die Auferstehung ist die Bedingung der Möglichkeit jener Erinnerung an den geschichtlichen Christus der Bibel, die von seinem Geist getragen wird. Kähler beruft sich hierbei auf einzelne Parakletsprüche des Johannesevangeliums (Joh 14,26; 16,12f.). Bezöge sich die Erinnerung indes nur auf den historischen Jesus, so müsste aus historischer Perspektive im Blick auf die Quelle geltend gemacht werden, dass »diese Berichte [sc. vom Leben Jesu; M.H.] in zwei Grundformen [verlaufen] [sc. gemeint sein dürften die synoptischen Evangelien [synoptische Tradition] und das Johannesevangelium; M.H.], deren Verschiedenheit bei der Nähe ihrer angeblichen oder vermutlichen Entstehungszeit ein großes Mißtrauen gegen die Treue der Erinnerung erwecken muß.«95 Die Erinnerung bezieht sich indes bei J.D.G. Dunn, wie wir sahen, auf den vorösterlichen Jesus, den er zwar nicht mit dem historischen Jesus identifiziert, auf den sich aber der vorösterliche Glaube nach Dunn richtet. Es geht Dunn um den vorösterlichen Glauben, den er durch die lebensverändernden Erfahrungen der Jünger im Glauben an Jesus bezeugt sieht. Dass der vorösterliche Jesus in den Evangelienerzählungen im Lichte von Ostern erinnert wird, droht indes bei J.D.G. Dunn übersehen zu werden. Die von ihm betonte Kontinuität zwischen vor- und nachösterlichem Glauben tendiert dazu, die Zäsur von Ostern zu negieren. Diese hat Kähler indes klar erkannt. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Erinnerung, sofern sie sich auf den vorösterlichen Jesus bezieht und Ostern ausklammert, taugt nicht als traditionsgeschichtliches Kontinuum, wie J.D.G. Dunn dies indes will. Der Fehler der Rückfrage nach dem historischen Jesus wird hier gewissermaßen wiederholt, da auch J.D.G. Dunn – diesmal freilich im Blick auf die Konzipierung der Erinnerung – so tut, etsi testimonium resurrectionis non daretur. Vom Zeugnis der Auferstehung her ist indes »das Verständnis für die Erinnerung an Jesum zu gewinnen.«96 Dieser Richtungssinn der Erinnerung will bedacht sein. 93

A.a.O., 43. A.a.O., 42. 95 A.a.O., 21. 96 A.a.O., 34 (Anm.). Wenn Kähler wörtlich von dem »von den Aposteln gepredigten Christus« spricht, von dem aus »das Verständnis für die Erinnerung an Jesum zu gewinnen sei«, dann hat er den auferweckten Gekreuzigten als den gepredigten Christus im Blick. 94

208

Der sogenannte historische Jesus

Objekt der Erinnerung ist dabei, wie Kähler hervorhebt, der geschichtliche, biblische Christus, d.h. der auferstandene Gekreuzigte, dessen vorösterliches Sein in den Evangelien im Lichte dieses Doppelgeschehens wahrgenommen wird und zwar so, dass Christus nicht nur Objekt der Erinnerung, sondern als Christus praesens zugleich Subjekt der Erinnerung ist. Er selbst ist »Urheber und Träger seiner bleibenden Fortwirkung.«97 Christus bringt sich als Christus praesens selbst zur Erinnerung und nur weil und insofern er das tut, kann Erinnerung auch glücken.98 Karl Barth, der sich leider »nur selten und peripher auf Kähler bezogen«99 hat, hebt hervor: Jesus Christus ist als Auferstandener sein eigener Zeuge.100 Bereits der frühe Barth betont in seinen »Fünfzehn Antworten« an Adolf von Harnack nicht zufällig die Erinnerung: »Die ›Wissenschaftlichkeit‹ der Theologie wäre dann ihre Gebundenheit an die Erinnerung, daß ihr Objekt zuvor Subjekt gewesen ist und immer wieder werden muß«.101 Es ist dieses prius der Subjektwerdung des Erinnerten, das ipso facto ein Objektwerden des Erinnerten ermöglicht und zwar ein solches, bei dem das Objekt nicht zum Prädikat der Subjektivität im Gedächtnis der Erinnernden und damit vereinnahmt wird.102 Hier zeichnen sich bei Kähler die Konturen einer bemerkenswerten Erinnerungstheorie ab. Diese ist keineswegs gleichzusetzen mit derjenigen Jens

97

Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 37. Dass die Gewissheit, von Gott erinnert zu werden und nicht vergessen zu sein, und zwar auch dann, wenn wir uns nicht mehr erinnern können und auch ihn vergessen, tröstlich ist, hebt zu Recht I.U. Dalferth (Glaube als Gedächtnisstiftung, ZThK 104 [2007], 59–83, 82f.) mit Blick auf Demenz hervor: »Unsere Identität hängt nicht an unserem Erinnern, so daß wir fürchten müßten, durch Amnesie, Demenz oder den Tod ›mit der eigenen Handlungsfähigkeit auch die Zukunftsfähigkeit‹ zu verlieren. Nicht unser Erinnern und Erinnern-Können entscheidet darüber, wer wir sind, sondern daß und wie wir erinnert werden – nicht nur von den wenigen Menschen, mit denen wir als ›Zeitzeugen einer Erinnerungsgemeinschaft‹ ein paar Lebensjahre teilen und mit deren Vergessen auch wir vergessen sein werden, sondern von dem, der auch die nicht vergißt, die schon längst von allen vergessen sind, weil er sich als Gott dazu bestimmt, seiner Geschöpfe zu gedenken: ›Siehe, in meine Hände habe ich Dich eingezeichnet‹ (Jes 49,16).« 99 So treffend H.-J. Kraus, Art. Kähler, Martin (1835–1912), TRE 17 (1988), (511–514) 514. So auch ders., Systematische Theologie, 415. 100 Vgl. K. Barth, KD IV/3, Kap. 16: »Jesus Christus, der wahrhaftige Zeuge«. Als sein eigener Zeuge ist er nach Barth der eine überzeugende Zeuge, der sich von den Gestalten der bezeugenden Zeugen (Schrift, Kirche, Lichter in der Profanität) unterscheidet, sich aber auch in den Weltphänomenen bezeugen kann. Vgl. a.a.O., 10. 101 K. Barth, Fünfzehn Antworten an Herrn Professor von Harnack, in: J. Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 1: Karl Barth, Heinrich Barth, Emil Brunner, München 51985, (325–329) 325f. 102 Vgl. Theißen, Der irdische Jesus, Wahrheit und Kontextualität, 102; ders., Der irdische Jesus und die Praxisbedeutung der Christologie, 237. Ähnlich Roose, Was bringt der »erinnerte Jesus« der Bibeldidaktik?, 299; dies., Die »Rohgedanken über das Problem der Identität Jesu Christi«, 131; dies., Der »erinnerte Jesus«, 250. 98

Abseits des Holzweges

209

Schröters, der sich gerne auf Jan Assmann beruft,103 dessen Buch »Das kulturelle Gedächtnis«104 einen bis heute anhaltenden Triumphzug durch die Geisteswissenschaften antrat: »Der hier zugrundeliegenden Gedächtnistheorie nach vergegenwärtigen kulturelle Gemeinschaften sich in ihren kanonischen Überlieferungen die eigenen Ursprünge, und sie tun dies in einer Weise, die ihre jeweilige Jetztzeit entweder zu bestärken oder aber zu hinterfragen vermag. Stabilisierende und aufrüttelnde Erinnerung geraten so in eine produktive Spannung zueinander. Wie eine Gemeinschaft ihre Vorvergangenheit erinnert, prägt ihre Gegenwart, und gleichzeitig wirken die Fragen der Gegenwart auf die Art der Vergangenheitsbewältigung oder -erinnerung ein.«105

Das hier avisierte gedächtnistheoretische Denken Assmanns und Schröters ist ganz auf das menschliche Subjekt, genauer: die heutige Gemeinschaft in ihrer kollektiven Identität(ssuche), fokussiert. Aus dieser Sicht kann auch die sich im neutestamentlichen Kanon und in der kollektiven Identität der Kirche manifestierende Erinnerung an den irdischen Jesus als kulturelle Gedächtnisleistung verstanden werden. Die Identität Jesu aber lässt sich nach Kähler nicht einfach nur auf die Gedächtniskultur des erinnernden menschlichen Subjektes gründen. Vielmehr gehört zu Kählers Erinnerungsverständnis, dass Gott in Christus, d.h. der Christus praesens, Subjekt seiner Vergegenwärtigung ist.106 Christus ist insofern mehr als nur zu erinnerndes oder auch de facto erinnertes Objekt. Nach Kähler darf Christus gerade nicht zum Prädikat menschlicher Subjektivität im Gedächtnis degradiert werden. Während sich Schröter mit seiner Gedächtnistheorie in den Bahnen eines konstruktivistischen Paradigmas bewegt, gilt dies mitnichten von Kähler. Bei Kähler bleibt Christus Subjekt seiner eigenen Vergegenwärtigung. Und insofern ist theologisch nicht nur vom historischen im Unterschied zum irdischen Jesus und zum biblisches Christus zu reden, sondern auch vom Christus praesens, wenn anders denn gilt: Wir haben den irdischen Jesus, wie er biblisch bezeugt ist, wenn und insofern wir ihn denn haben, nicht anders als den sich selbst vergegenwärtigenden Christus. Oder anders gesagt: Wir haben ihn nicht einfach, sondern er gibt sich uns, indem sich er sich selbst vergegenwärtigt. Darauf bleiben wir 103

Vgl. J. Schröter, Von Jesus zum Neuen Testament. Studien zur urchristlichen Theologiegeschichte und zur Entstehung des neutestamentlichen Kanons, WUNT 204, Tübingen 2007, 57f. 104 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 72013. 105 Theißen, Der irdische Jesus und die Praxisbedeutung der Christologie, 232. 106 Genau dies hebt auch Iwand (Christologie, 311–318, bes. 313; 316f.) hervor. Ebenso H.J. Iwand, Das Bild Jesu Christi nach ausgewählten Zeugnissen seiner Gläubigen. Vorlesung Christologie 1928/29, nach der Handschrift BA Koblenz N 1528/267 hg. und komm. von A. Wiebel, Internet-Fassung von 2011, 272f. (https://docplayer.org/37096820-Hans-joachim-iwand-christologie-vorlesung-1928-29.html; Zugriff: 6.6.2019).

210

Der sogenannte historische Jesus

angewiesen und insofern sind wir nicht einfach beati possidentes, nicht einfach glückselige Christusbesitzerinnen und -besitzer. Noch in einer anderen Hinsicht werden wir auf Jens Schröters Ansatz mit Kähler zu reagieren haben. Schröter beruft sich auf eine ursprüngliche Pluralität von Erinnerungen und damit auf eine Pluralität von Jesusbildern. An Dunn richtet Schröter dementsprechend die kritische Bemerkung: »Es könnte sich jedoch herausstellen, dass das Modell einer anfänglichen Pluralität von Erinnerungen, die nicht auf die eine ›originale‹ Textversion hinter den Manuskripten, nicht auf einen Jesus hinter den vielfältigen Erinnerungen und nicht auf den einen Ursprung der vielfältigen Ausprägungen christlichen Glaubens zurückgeführt wird, den Quellen angemessener ist.«107 Schröter wendet sich gegen »die Reduktion der vielfältigen Texte und Erinnerungen auf das eine Jesusbild – das mit dem tatsächlichen, irdischen Jesus ohnehin niemals zur Deckung zu bringen ist – uns der ›Wirklichkeit‹ oder gar der ›Wahrheit‹ über Jesus näherbringt.«108 Bei aller Berechtigung einer solchen Pluralität an Jesusbildern droht doch wiederum das Zeugnis von der Auferstehung übersehen zu werden, welches Kähler hervorhebt. Im Sinne der Kählerschen Stoßrichtung hat etwa Christof Landmesser mit Blick auf die sich biblisch öffnende Pluralität von Jesusbildern zutreffend darauf hingewiesen: »Gerade wenn wahrgenommen wird, dass die Rekonstruktion eines Jesusbildes immer aus einer bestimmten Perspektive geschieht, dann ergibt sich notwendig eine Pluralität von konkreten und ausgeformten Jesusbildern. Das gilt bereits für die Jesusbilder in den Evangelien. In einem wesentlichen Punkt, dem archimedischen gewissermaßen, treffen sich freilich die neutestamentlichen Texte in ihrer Rede über Jesus. Sie reden über Jesus in der Weise, wie sie es tun, nur aufgrund des Geschehens, das ihre Sichtweise auf die Jesusgeschichte und auf die Botschaft Jesu entscheidend prägt: die Begegnung mit dem auferstandenen Christus. Genau das ist die Perspektive der Glaubenden, die auch schon die bestimmende Perspektive der neutestamentlichen Texte ist.«109

107

Schröter, Der erinnerte Jesus, 53. Ebd. 109 Ch. Landmesser, Der gegenwärtige Jesus. Moderne Jesusbilder und die Christologie des Neuen Testaments, KuD 56 (2010), (96–120) 116f. Auch H.-G. Geyer (Karl Barths Umgang mit der Osterbotschaft des Neuen Testaments, ZDTh 13 [1/1997], 47–66, 60) spricht von der »eine[n] Stimme in den vielförmigen Äußerungen des Neuen Testaments«. 108

Fazit

211

7. Fazit: »Es ist der Herren eigner Geist…« Oder: Wenn wieder einmal ein Chamäleon den Holzweg betritt Meines Erachtens ist die Position Kählers bis heute höchst bedenkenswert. Sie hilft uns – wie gezeigt – bei der Schärfung des »Erinnerungsparadigmas«. Und sie tut dies auf dem Hintergrund der Distinktion zwischen dem historischen Jesus und dem erinnerten Christus. Der historische Jesus ist, wie Kähler betont, nicht der erinnerte Christus. Dass mit dieser Distinktion bereits alle Probleme gelöst sind, wird man indes bestreiten müssen. Denn auch diese Abgrenzung kann das Problem der Fragwürdigkeit menschlicher Erinnerung nicht bannen. Schließlich kann auch der »erinnerte Christus« das höchst fragwürdige Produkt derer sein und werden, die sich erinnern, und sei dieses Produkt auch eine creatura ecclesiae. Henning Theißen kritisiert zu Recht am »Jesus-Memory-Approach« den gedächtnistheoretischen Ansatz, der allzumal im Zeitalter von »fake news« und »alternative facts« zur Abgrenzung nötigt: »Wenn die Erinnerung einer Gemeinschaft an ihren Ursprung – d.h. im Fall der Kirche: das Gedächtnis an Jesus Christus – Frage der Identitätsbildung heutiger Gemeinschaften ist, wie es Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses nahe legt, dann vermag jedes derartige Konzept die historische Basis einer gegebenen Gemeinschaft für deren Identitätsbildung zu funktionalisieren. Ist der irdische Jesus das Produkt des gemeindlichen Gedächtnisses, dann ist die scheinbar stabilste geschichtliche Grundlage des Christentums dem Geist des Postfaktischen ausgeliefert.«110

Gerade darum ist Kählers Hinweis so wichtig, dass Christus nicht zum Prädikat der Subjektivität menschlicher Gedächtnisleistung degradiert werden darf. Im Sinne Kählers betont Hans Joachim Iwand: »Er [sc. Christus; M.H.] lebt nicht kraft unserer Erinnerung an ihn, kraft des Bewußtseins der Christenheit, das sich auf ihn bezieht, sondern unsere Erinnerung ist dadurch bestimmt, daß er lebt. Sie ist eine Sache eigener Art, ein Erinnern, das uns mit seinem Wort und seiner Tat gleichzeitig macht – nicht ihn mit uns, sondern uns mit ihm –, weil er lebt.«111 Ungleich kritischer noch steht Kähler dem historischen Jesus gegenüber. Während für J.D.G. Dunn und Jens Schröter das Projekt »historischer Jesus« »nicht grundsätzlich obsolet«112 ist, wenngleich es ihnen zufolge »in einen weiteren theologischen, hermeneutischen und erkenntnistheoretischen Rahmen gestellt werden«113 muss, stellt die Rückfrage nach dem historischen Jesus für Kähler ein historisch unmögliches wie theologisch sinnloses Unternehmen dar. Beides will

110

Theißen, Der irdische Jesus und die Praxisbedeutung der Christologie, 234. Iwand, Christologie, 317. 112 Dunn, Remembering Jesus, 58. 113 Ebd. 111

212

Der sogenannte historische Jesus

beachtet werden! Kähler vertritt mit anderen Worten eine Doppelthese. Er argumentiert historisch wie theologisch. Dass Kähler historisch argumentiert, besagt indes: Bei ihm wird der Stachel der historischen Erkenntnis nicht einfach sistiert.114 Kähler vorzuwerfen, ahistorisch zu votieren oder gar immunisierungsstrategisch in einen Antihistorismus zu fliehen, würde seine historische Argumentation übersehen, wonach die Evangelien, die Zeugnischarakter haben, eben nicht als historische Berichte verstanden sein wollen. Es handelt sich nach Kählers berühmtem Diktum bei den Evangelien um »Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung«.115 Wie sehr Kähler selbst historisch argumentiert, wird evident, wenn er bei der Quellenfrage ansetzt und die Argumente wie Perlen an einer Kette auffädelt. Ich zitiere der Länge nach und sehr ausführlich. Vieles davon wurde bereits explizit oder implizit berührt und bemüht: »Wir besitzen keine Quellen für ein Leben Jesu, welche ein Geschichtsforscher als zuverlässige und ausreichende gelten lassen kann. Ich betone: für eine Biographie Jesu von Nazareth von dem Maßstabe heutiger geschichtlicher Wissenschaft. Ein glaubwürdiges Bild des Heilandes für Gläubige ist ein sehr andres Ding, und davon ist nachher die Rede. Unsre Quellen, das heißt die sogenannten Evangelien stehen erstens so vereinsamt da, daß man ohne sie garnichts von Jesu wissen würde, obwohl seine Zeit und der Schauplatz seines Lebens sonst durchaus geschichtlich deutlich sind; er könnte für ein Phantasiebild der Gemeinde um das Jahr 100 gelten. Diese Quellen sind ferner nicht mit Sicherheit auf Augenzeugen zurückzuführen. Sie berichten überdem nur von dem kürzesten letzten Abschnitt seines Lebens. Und endlich verlaufen diese Berichte in zwei Grundformen, deren Verschiedenheit bei der Nähe ihrer angeblichen oder vermutlichen Entstehungszeit ein großes Mißtrauen gegen die Treue der Erinnerung erwecken muß. Demzufolge sieht sich der ›vorurteilsfreie‹ Kritiker vor einem großen Trümmerfelde von einzelnen Überlieferungen. Er ist berufen, aus den einzelnen Stücken ein neues Gebilde hervorzuzaubern, wenn er die Aufgabe angreift, von dieser aus dem Nebel aufragenden Gestalt eine Biographie nach modernen Forderungen zu entwerfen. Schon allein die Feststellung des äußeren Verlaufes bietet nicht geringe Schwierigkeiten und führt vielfach nicht über Wahrscheinlichkeiten hinaus. Aber der Biograph stellt sich andre Aufgaben. Nicht jeder versagt sich die Verhandlung solcher Fragen, welche die Neugier kitzeln, während ihre Beantwortung doch ohne Wert für die Hauptsache bleibt; als solche erscheinen die Erörterungen über Jesu Schönheit oder Häßlichkeit; über sein früheres Familien- und Arbeitsleben; mir fällt auch die Untersuchung über sein Temperament oder seine Individualität unter diesen Gesichtspunkt; es wäre noch andres zu nennen. Indes, der Schriftsteller mag auf solche mißliche Untersuchungen verzichten; die neuere Biographie sucht ihre Stärke in der psy114

Diesen Vorwurf adressiert etwa Ch. Danz (Grundprobleme der Christologie, UTB 3911, Tübingen 2013, 180) an Ch. Schwöbel (»Wer sagt denn ihr, dass ich sei?« [Mt 16,15]. Eine systematisch-theologische Skizze zur Lehre von der Person Christi, Marburger Jahrbuch Theologie XXIII, Leipzig 2011, 41–58). 115 Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 60 (Anm.).

Fazit

213

chologischen Analyse, in dem Aufweise der Fülle und Kette von Ursachen, aus welchen die Erscheinung und Leistung des geschilderten Menschen entsprungen ist; so fordert denn die echte Menschheit dieses Jesus jedenfalls, daß man sein Werden verstehe, die langsame Entwicklung seiner religiösen Genialität, das Durchbrechen seiner sittlichen Selbständigkeit, das Aufdämmern und Aufleuchten seines messianischen Bewußtseins. Die Quellen aber enthalten von dem allem nichts, auch garnichts.«116

Es sind historische Argumente, derer sich Kähler bedient. Die Rückfrage nach dem historischen Jesus scheitere als Versuch, Jesus hinter dem biblischen Zeugnis zu suchen und zu finden. Die Fragestellung präjudiziere bereits, dass der biblische und der irdische Jesus nicht identisch seien, sehr wohl aber der irdische und der historische Jesus.117 Die Rückfrage vollziehe sich zudem unter der Prämisse, dass nur historisch-kritische Forschung eine Antwort auf diese Frage zu geben vermag. Der irdische Jesus werde grundsätzlich und praktisch als historisch-kritisch rekonstruierbar erachtet. Bei Kähler treten indes die Grenzen historischer Forschung kritisch in den Blick.118 Dabei zeigt sich auch der Konnex zur theologischen Argumentation Kählers: »Kähler hat gegenüber jeder Leben-Jesu-Theologie, die Jesus als religiöses oder ethisches Vorbild nahm, gezeigt, daß die Quellen für ein solches Christusbild nicht reichen, weil die Bibel Urkunde einer Predigt sein will, die Gottes in Jesus verändertes Verhältnis zur Welt bezeugt.«119 Die Frage, wer Jesus von Nazareth war und ist, kann nach Kähler durch die historische Forschung nicht beantwortet werden. Dem Zeugnis des Neuen Testaments zufolge ist die Frage, wer er war, nämlich seit Ostern nicht von der Frage zu 116

A.a.O., 21–23. Schellong (Was sucht ihr den Lebendigen, 28) greift Kählers Trümmer-Metapher für die Qualität der Überlieferung auf: »Das Unbefriedigende der Suche nach dem historischen Jesus besteht darin, daß sie nicht bloß ihrer Textgrundlage Gewalt antun muß, sondern vor allem daß sie dabei nur Trümmer und Splitter produziert: Wortfetzen ohne Zusammenhang (– und also: ohne daß man etwas versteht). […] Man weiß historisch nichts, wenn man nur einige Sätze oder Satzfetzen kennt (selbst wenn man die zuverlässig kennen würde).« Vgl. auch Hofius, Die Frage nach dem »historischen Jesus«, 85: »Denn was immer und wieviel immer die historisch-kritische Arbeit über Jesus erkennen lassen mag – es sind und bleiben doch Bruchstücke, und Bruchstücke aus der Geschichte, dem Wirken und dem Reden eines Menschen, erlauben kein begründetes Urteil über seine Person und sein Selbstverständnis.« 117 Demgegenüber vertritt Schellong (Was sucht ihr den Lebendigen, 35) die Antithese: »›Irdisch‹ ist nicht gleich ›historisch‹.« Vgl. auch H.-G. Geyer, Rohgedanken über das Problem der Identität Jesu Christi, in: EvTh 33 (1973), (385–401) 398: Der »historische Jesus«, »der den kerygmatischen Christus nicht impliziert«, und der »irdische Jesus«, den der ›kerygmatische Christus‹ allerdings zu implizieren beansprucht, mögen zwar gewissermaßen »aus demselben ›Stoff‹« sein, »in ihrer Form [hingegen] sind sie höchst unterschiedlich bis völlig gegensätzlich.« 118 Vgl. Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 29: »Und darum wird der Dogmatiker ein Recht haben, hier eine Warnungstafel vor der angeblich voraussetzungslosen Geschichtsforschung aufzurichten, wenn sie eben aufhört Forschung zu sein und zum künstlerischen Gestalten fortschreitet.« Dort z.T. kursiv. 119 Fischer, Martin Kähler, 148.

214

Der sogenannte historische Jesus

trennen, wer er ist. Ansonsten wäre die Frage falsch gestellt und zwar etsi testimonium resurrectionis non daretur. Theologisch kann und darf also der Christus praesens nicht ausgeklammert werden. Christus ist der Christus praesens, weil Gott in ihm bleibend präsent ist. Dank der Auferweckung des Gekreuzigten bleibt es auch nach Himmelfahrt und bei aller Diskontinuität zwischen dem irdischen und dem auferstandenen Jesus dabei: Christus ist »die praesentia Dei in Person«120. In ihm handelt »Gott in einmaliger Gegenwärtigkeit«121 – wie es der Kähler-Schüler Julius Schniewind (1883–1948) formuliert hat. M.E. kann daraus nur eine Konsequenz gezogen werden: Weil die Quellen, die der Rückfrage nach dem »historischen« Jesus dienen sollen, von Jesus durchweg aus der Perspektive der Auferstehung bzw. des Christusglaubens an den auferweckten Gekreuzigten sprechen, ist deren adäquate Wahrnehmung durch die historisch-kritische Forschung aufgrund deren Begrenzung auf den Bereich des Historischen a priori zu bestreiten.122 Das schließt freilich keineswegs aus, dass »durch historisch-kritische Arbeit sehr wohl bestimmte Züge der Verkündigung Jesu und seines Wirkens wahrgenommen werden können.«123 Erkenntnistheoretisch ist dies keineswegs unmöglich. Das Ergebnis der historischen Rekonstruktion kann freilich nur, folgt sie den Troeltschen Axiomen des Historischen (also Kritik, Analogie und Korrelation),124 ein purus homo sein.125 Er wäre ganz im Rahmen der Analogie zum Menschlich-Sterblichen gefasst. Die Auferstehung aber sprengt die Kategorie der Analogie im Sinne der »prinzipielle[n] Gleichartigkeit alles historischen Geschehens«126: »Jesus ›historisch‹ verstehen zu wollen – das bedeutet jedenfalls, den Gedanken göttlich begründeter Analogielosigkeit von vornherein auszuschließen. Damit wird aber gerade das ausgeschlossen, was die Apostel aufgrund der ihnen gewährten Selbsterschließung des auferstandenen Herrn bezeugt haben und was im

120

H.J. Iwand, Predigt-Meditationen, Göttingen 1963, 645. J. Schniewind, Antwort an Rudolf Bultmann. Thesen zum Problem der Entmythologisierung, in: H.-W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch, Hamburg-Bergstedt 41960, (77–121) 108. 122 Vgl. Hofius, Die Frage nach dem »historischen Jesus«, 87f. sowie 101: »Für sie [sc. die historisch-kritische Forschung; M.H.] ist konstitutiv und kennzeichnend, dass sie Jesus ohne das Licht von Ostern in seiner irdischen Existenz und Geschichte zu erkennen sucht.« 123 A.a.O., 110. 124 Vgl. E. Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie. Bemerkungen zu dem Aufsatz »Über die Absolutheit des Christentums« von Niebergall, in: G. Sauter (Hg.), Theologie als Wissenschaft. Aufsätze und Thesen, ThB 43, München 1971, (105–127) 107. 125 So auch O. Hofius, Die Bedeutung Hans Joachim Iwands für die Exegese des Neuen Testaments, in: ders., Exegetische Studien, WUNT 223, Tübingen 2008, (282–296) 291f.: »Entschieden gewichtiger als die historischen Probleme sind die theologischen Einwände […]. Die Frage nach dem ›historischen Jesus‹ ist immer und grundsätzlich die Frage nach einem purus homo, nach einem Menschen ›wie du und ich‹, – mag auch noch so Hohes, ja, mag das Höchste, das im Bereich des Menschlichen vorstellbar ist, von ihm gesagt werden.« Vgl. ders., Die Frage nach dem »historischen Jesus«, 94; 102–104. 126 Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, 108. 121

Fazit

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Neuen Testament als Niederschlag ihres Christuszeugnisses von Jesus ausgesagt wird.«127 Genau dies hat Kähler hervorgehoben. Explizit rekurriert er auf »die Analogie mit sonstigem menschlichen Geschehen als Forschungsmittel«.128 Ernst Troeltsch (1865–1923) hat bekanntlich wenige Jahre nach dem Erscheinen von Kählers Traktat von der »Allmacht der Analogie«129 gesprochen. Nach Kähler bildet die Analogie auch das Mittel der Wahl der Leben-Jesu-Forschung: »Es muß eine gestaltende Macht über die Trümmer der Überlieferung kommen. Diese Macht kann allein die Einbildungskraft des Theologen sein, die an der Analogie des eignen und des sonstigen Menschenlebens gebildete und genährte Einbildungskraft.«130 Im Sinne Kählers hebt Hans Joachim Iwand131 hervor: »Von Jesus etwas wissen wollen unter Einklammerung des Auferstandenen …, um so den Zugang der historischen Forschung zu ihm freizuhalten, muß zur Vergewaltigung der uns vorliegenden Zeugnisse führen.«132 Was kann dabei Gutes herauskommen, mag man suggestiv fragen.133 Gezeugt wird ein Chamäleon – so Dieter Schellong provozierend. Kähler formuliert es etwas weniger anstößig in Anlehnung an Goethes »Faust«: »Es ist zu-

127

Hofius, Die Bedeutung Hans Joachim Iwands, 292. So auch ders., Die Frage nach dem »historischen Jesus«, 102f. 128 Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 24. 129 Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, 108. 130 Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 27. 131 Zu Iwand und Kähler vgl. A. Wiebel, Iwand lebt mit Martin Kähler, in: A. Huijgen / C.-J. Smits / E. Lempp (Hg.), Schuld und Freiheit. Festgabe für Gerard Cornelis den Hertog, Dortmunder Beiträge zu Theologie und Religionspädagogik 13, Berlin 2017, 239–258. 132 Zit. nach Hofius, Die Bedeutung Hans Joachim Iwands, 292. Ähnlich H. Gollwitzer, Der Glaube an Jesus Christus und der sogenannte historische Jesus, in: H. Ristow / K. Matthiae (Hg.), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus. Beiträge zum Christusverständnis in Forschung und Verkündigung, Berlin 1962, (110–114) 113: »Die neutestamentliche Berichterstattung von Jesus ist darum die einzig sachgemäße: In jedem Einzelbericht stellt sie vor den ganzen Jesus Christus mit seinem ganzen Anspruch, jede Einzelüberlieferung ist durch die Perspektive der Auferstehung so sehr bestimmt, daß sie ohne Verzerrung nicht mehr aus ihr herausgelöst werden kann. Die Geschichte Jesu ist so in die Verkündigung eingegangen, daß sie nicht mehr abgesehen von ihr rekonstruiert werden kann.« 133 Schellong (Von der bürgerlichen Gefangenschaft des kirchlichen Bewußtseins, 139f.) urteilt diesbezüglich denkbar skeptisch und weist darauf hin, dass bereits D.F. Strauss (Der Alte und der Neue Glaube, Leipzig 1872, Abschn. 29) als Historiker richtig gesehen habe, »daß, wer einmal vergottet worden ist, nicht wieder als Mensch rekonstruiert werden kann. Nach Abkratzen des Goldes tritt kein ursprüngliches Bild des bloßen Menschen Jesus hervor. Es geht dann wie beim Eispeter von Wilhelm Busch: Wenn die Eltern den erfrorenen Peter am Ofen schmelzen, schmilzt nicht nur das Eis, so daß Peter wie früher hervortreten kann, sondern alles löst sich auf, so daß die Eltern nur noch Sauce übrigbehalten, die sie in einem Einmachtopf aufbewahren – mit der Aufschrift ›Peter‹ versehen.«

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Der sogenannte historische Jesus

meist der Herren eigner Geist, in dem Jesus sich spiegelt.«134 Bereits Matthias Claudius (1740–1815) sagt über die frühen Leben-Jesu-Forscher aus: »Denn sie [sc. die Leben-Jesu-Forscher; M.H.] können ihn ja nicht zu mehr machen, als sie sind, wenn sie ihn nach ihrer Vernunft modeln.«135 Gegen diese Selbstbespiegelung der Jesusforschung hat Kähler mit vollem Recht eingewandt: »Der ausmalende Biograph Jesu ist immer irgendwie Dogmatiker im verdächtigen Sinne des Wortes.«136 So mag es denn den qua Disziplinzugehörigkeit ohnehin unter Verdacht stehenden Dogmatikern gestattet sein, auch weiterhin Verdächtigungen auszusprechen und darauf hinzuweisen, wenn wieder einmal ein Chamäleon den Holzweg betritt. Eine solche Verdachtshermeneutik ist jedenfalls gänzlich unverzichtbar. Sie steht im Dienste theologischer Religionskritik.137 Und sie ist deshalb bei sämtlichen Chamäleons angezeigt, welcher Couleur sie auch sein mögen.

134

Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 30. Vgl. J.W. von Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, 1808. Szene: Nacht, Faust zu Wagner: »Was ihr den Geist der Zeiten heißt, / Das ist im Grund der Herren eigner Geist, / In dem die Zeiten sich bespiegeln.« 135 So M. Claudius in der Paenumerations-Anzeige zu ASMUS omnia sua SECUM portans oder Saemmtliche Werke des Wandsbecker Bothen, Siebter Theil, Wandsbeck 1802, VI. 136 Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 18. 137 M. Hofheinz, Wider die Nostrifikation Gottes. Religionskritik als bleibend wichtige theologische Aufgabe, in: M. Hofheinz / T. Paprotny (Hg.), Religionskritik interdisziplinär. Multiperspektivische Annäherung an eine bleibend wichtige Thematik, Leipzig 2015, 15–42.

VIII. Vom Praktisch-Werden der Christologie Oder: Wie Barth und Bultmann Weihnachten feiern

Meinem Vikariatsvater Pfr. Christoph Meyer zum 70. Geburtstag in Dankbarkeit gewidmet.

1. Öffnung oder Verengung? Die christologische Konzentration bei Barth und Bultmann »Christologische Konzentration«1 – diese Wendung stammt von Karl Barth selbst. Es handelt sich bei dieser begrifflichen Konstruktion um die Selbstzuschreibung einer Lernerfahrung, die er machen musste. So schrieb Barth rückblickend in seinem Bericht »How my mind has changed« (1939) über die Jahre 1928–1938: »Ich hatte in diesen Tagen zu lernen, daß die christliche Lehre ausschließlich und folgerichtig und in allen ihren Aussagen direkt oder indirekt Lehre von Jesus Christus als von dem uns gesagten lebendigen Wort Gottes sein muß, um ihren Namen zu verdienen und um die christliche Kirche in der Welt zu erbauen, wie sie als christliche Kirche erbaut sein will.«2 Was meint »christologische Konzentration«? Barth hat darauf in seinem späten Vortrag »Die Menschlichkeit Gottes« (1956) folgende Antwort gegeben: »Wer und was Gott und wer und was der Mensch in Wahrheit ist, das haben wir nicht

1

K. Barth, How My Mind Has Changed, in: ders., »Der Götze wackelt«. Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930 bis 1960, hg. von K. Kupisch, Berlin 1961, (181– 209) 186. Zur Christozentrik vgl. E. van’t Slot, Die christologische Konzentration: Anfang und Durchführung, ZDTh 31 (1/2015), 12–31. Fernerhin: G. Hunsinger, How to Read Karl Barth. The Shape of His Theology, New York / Oxford 1991, 107f.; 229–233; 260–267; ders., Disruptive Grace. Studies in the Theology of Karl Barth, Grand Rapids / Cambridge 2000, 282–286; B.L. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus. Entstehung und Entwicklung von Karl Barths Theologie 1909–1936, übersetzt von M. Gockel, Zürich 2006, 42f.; 377–384; M. Cortez, What Does it Mean to Call Karl Barth a »christocentric« Theologian?, SJT (2007), 127–143; W. Krötke, Barmen – Barth – Bonhoeffer. Beiträge zu einer zeitgemäßen christozentrischen Theologie, UnCo 26, Bielefeld 2009. 2 Barth, How My Mind Has Changed, 185.

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Vom Praktisch-Werden der Christologie

frei schweifend zu erforschen und zu konstruieren, sondern dort abzulesen, wo ihrer beider Wahrheit wohnt: in der in Jesus Christus sich kundgebenden Fülle ihres Zusammenseins, ihres Bundes.«3 Diese Konzentration ist als Verengung empfunden worden – nicht zuletzt in der Praktischen Theologie seit der sog. »empirischen Wende« Mitte der 1960er Jahre. Die Ironie, mit der Barth bereits im zweiten Römerbrief von den »sanften Auen der Praktischen Theologie«4 sprach, haben ihm viele bis heute nicht verziehen, so dass Barth selbst in vielen Landschaftsportraits retournierender Praktischer Theologie gar nicht gut weg kommt. Wer möchte sich schon gerne geistig, und sei es nur im Anklang vom Barth’schen Spott, in den Niederungen der »norddeutschen Tiefebene« verorten lassen? Albrecht Grözinger hat bereits vor vielen Jahren treffend vom »schwierigen praktisch-theologischen Erbe der Dialektischen Theologie«5 gesprochen, ja diese gar als deren »Angstgegner«6 ausgemacht.7 Es nimmt nicht wunder, dass der Dialektischen Theologie typologisch vielfach der Status eines überkommenen Paradigmas exklusiver Ausrichtung am Wort Gottes zugesprochen wird, das die liberale Theologie mit ihrer Orientierung an der religiösen Lebenswelt des Menschen beerbt habe. Dementsprechend betonte und betont man seit ca. 1968 gerne ein erneuertes Verständnis Praktischer Theologie als Handlungswissenschaft und dann seit den 1980er Jahren als Ästhetik. Es habe das alte Paradigma abgelöst.8 Dementsprechend gering fällt die Allokation von Aufmerksamkeit gegenüber Karl Barth als Praktischem Theologen aus.9 Ich möchte im Folgenden weniger einen solchen »Paradigmenwechsel« thematisieren, geschweige denn mich den »Pathologien« theologischer Disziplinen hingeben, als vielmehr gleichsam intra- wie transdisziplinär nach dem Praktisch-Werden der christologischen Konzentration fragen. Dies soll anhand der

3

K. Barth, Die Menschlichkeit Gottes. Vortrag, gehalten an der Tagung des Schweiz. Ref. Pfarrvereins in Aarau am 25. September 1956, ThSt 48, Zollikon-Zürich 1956, 11. Vgl. ders., KD IV/1, 203. 4 K. Barth, Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, Zürich 131984, XVII. Vgl. G. Lämmlin / S. Scholpp, Die »sanften Auen der praktischen Theologie« – ein Landschaftsportrait, in: dies. (Hg.), Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, UTB 2213, Tübingen 2001, 1–19. 5 A. Grözinger, Offenbarung und Praxis. Zum schwierigen praktisch-theologischen Erbe der Dialektischen Theologie, ZThK Beiheft 6 (1986), 176–193. 6 A.a.O., 176. 7 Grözinger rekonstruiert drei Vorwürfe gegen die Dialektische Theologie (vgl. a.a.O., 177–180), mit denen er sich metakritisch auseinandersetzt (vgl. a.a.O., 190–193): dem Vorwurf a) eines maßlosen Subjektivismus, b) einer permanenten und grundsätzlichen Verachtung der konkreten Wirklichkeit und c) eines notwendigen autoritären Grundzugs. 8 Vgl. A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Buch- und Forschungsbericht, IJPT 3 (1999), 269–294. Fernerhin: ders., Praktische Theologie und Ästhetik, München 21991; ders., Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, Gütersloh 1995. 9 Vgl. Ch. Möller, Karl Barth – der »kleine Theologe« in seiner großen Bedeutung für die Praktische Theologie, in: S. Landau u.a. (Hg.), Zwischen Mystik und Ratio. FS Rainer Röhricht, Waltrop 1989, 179–201.

Öffnung oder Verengung?

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Weihnachtsfeier geschehen, genauer gesagt: anhand der Art, wie Karl Barth und Rudolf Bultmann, der andere »große« Vertreter Dialektischer Theologie und christologischer Konzentration,10 Weihnachten feierten.11 Dass beide aufgrund der christologischen Konzentration Weihnachten als Christusfest feierten oder zumindest der Intention nach feiern wollten, dürfte wohl als ausgemacht gelten. Doch wie feiert man eigentlich ein »Christusfest« und im Speziellen Weihnachten als »Christusfest«? Mir geht es also weniger um theologische Disziplinen als vielmehr theologische Disziplinierung und zwar im Sinne der christologischen Konzentration, für die diese beiden Theologen stehen. Und – wer weiß? – vielleicht lassen sich ja ein anderer Begriff und eine neue Konturierung genuin praktischer Theologie gewinnen, also gewissermaßen der christologischen Konzentration entwinden. Mit der Weihnachtsfeier, insbesondere dem familiären Weihnachtsfest, greife ich zugleich ein »Lieblingsthema« Praktischer Theologie auf. Christian Grethlein etwa exemplifiziert in seiner »Praktischen Theologie« die »Festreligion«12 anhand des Weihnachtsfestes. Er zeigt, wie »sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine im Kontext des Bürgertums als Leitmodell der Lebensführung stehende familiäre Form der Kommunikation des Evangeliums«13 herausbildete. Er würdigt diese Adaption der Kommunikation im Kontext des Bürgertums als einen »Höhepunkt«, bei dem »die kindertümliche Form der Festgestaltung und die damit verbunde-

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J.M. Lochman (Christus oder Prometheus? Die Kernfrage des christlich-marxistischen Dialogs und die Christologie, Hamburg 1972, 99f.) stellt nicht zu Unrecht im Blick auf Barth fest: »Man kann mit gutem Recht sagen, daß es in unserer Zeit – und eigentlich im ganzen Zeitalter seit der Reformation – keinen Theologen gab, der das Programm einer christologischen Theologie so zielbewußt angepackt und verwirklicht hätte. Das ganze Lehrgebäude orthodoxer Theologie wurde rekonstruiert, jeder Stein beklopft und untersucht, aber auch in einen neuen, dynamischen Kontext, eben christologischen gesetzt.« Lochman ergänzt aber sofort, dass Barth keineswegs ein Einzelgänger geblieben sei, sondern auch Weggenossen gefunden habe, die eigene Wege gegangen seien, wie etwa Rudolf Bultmann. So Lochman, Christus oder Prometheus?, 100. 11 Mit Blick auf die Homiletik hat D. Rössler (Das Problem der Homiletik [1965], in: A. Beutel u.a. [Hg.] Homiletisches Lesebuch. Texte zur heutigen Predigtlehre, Tübingen 2 1989, 23–38) problemgeschichtlich darauf hingewiesen, dass die Praktische Theologie nicht nur die homiletische Prinzipienfrage »Was ist eine Predigt?« bzw. »Was heißt predigen?«, sondern auch die praktisch-empirische Frage: »Wie macht man eine Predigt?« zu thematisieren hat. Nach Rössler wurde diese zweite Frage im 20. Jahrhundert mit Aufkommen der Dialektischen Theologie allerdings suspendiert, so dass sie opak blieb (vgl. a.a.O., 23; 37f.). Eine unreflektierte implizite Praktologie, die nicht theologisch, sondern kulturell imprägniert gewesen sei, habe die Dialektische Theologie (Rössler nennt u.a. Rudolf Bultmann und Otto Weber) geleitet. Einen wichtigen, entsprechender Vernachlässigung entgegenwirkenden Beitrag hat P. Bukowski (Predigt wahrnehmen. Homiletische Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 1990) geleistet, der die Deutungsbestände der Dialektischen Theologie zur Beantwortung der praktisch-empirischen Frage nutzt. 12 Ch. Grethlein, Praktische Theologie, Berlin / Boston 2012, 291. 13 A.a.O., 293.

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Vom Praktisch-Werden der Christologie

ne Sentimentalität die kognitive Engführung verbaler Predigt«14 überwand. Zugleich moniert Grethlein aber auch, dass dabei »die kulturkritische Perspektive der Kommunikation des Evangeliums«15 eingezogen wurde. Das Brauchtum des Weihnachtsfestes könne indes »einen Anstoß zu einer Gefühl und Verstand umfassenden Kommunikation des Evangeliums geben.«16 Zur Profilierung des Weihnachtsfestes im 19. Jahrhundert17 bemerkt Grethlein: »[H]ier entwickelte sich, bis heute reichend, eine spezifisch bürgerliche Festkultur. Kirchliche Tradition, öffentliche Feierkultur und familiäre Sitte verbanden sich in einmaliger Weise. Das ist gut an der gegenseitigen Adaption von Festinsignien zu erkennen. So wanderte der Weihnachtsbaum – erstmals ikonographisch auf einem Kupferstich Lukas Cranachs (1505) nachgewiesen – von öffentlichen Räumen wie Zunftzimmern im Laufe des 19. Jahrhunderts in die Wohnzimmer der Familien. Dabei gab der Kriegswinter 1870/71, in dem Bäume die Unterstände der deutschen Soldaten zierten, einen besonderen nationalen Impuls. Auch die Krippen, lange nur in Kirchen und anderen öffentlichen Räumen aufgestellt, kamen in die Wohnstuben. Kristian Fechtner resümiert: ›Weihnachten wird lebensweltlich privatisiert, verkleinert, gleichsam intimisiert.‹«18

Um ein weiteres Beispiel aus der »Praktischen Theologie« zu nennen: Auch der Berner Praktische Theologe Maurice Baumann hebt die Bedeutsamkeit der Weihnachtsfeier als religiösem Ritual im Familienleben hervor: »Die Wichtigkeit und Bedeutung der gelebten Religion erachtet die Praktische Theologie […] als ein zentrales Thema ihrer wissenschaftlichen Reflexion.«19 Baumann unterscheidet vier Modelle der Verhältnisbestimmung von christlicher Theologie und weihnachtli-

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A.a.O., 296. Ebd. 16 A.a.O., 348. 17 Vgl. auch F. Wittekind, Die Entwicklung der Weihnachtsdichtung im 18. und 19. Jahrhundert anhand des Motivs der Gabe, in: A. Bodenheimer u.a. (Hg.), Literatur im Religionswandel der Moderne. Studien zur christlichen und jüdischen Literaturgeschichte, Zürich 2009, 59–108. 18 Grethlein, Praktische Theologie, 292. Grethlein zitiert K. Fechtner, Im Rhythmus des Kirchenjahres. Vom Sinn der Feste und Zeiten. Gütersloh 2007, 68. Vgl. zum Weihnachtsbaum J. Hermelink, Weihnachtsgottesdienst, in: Ch. Grethlein / G. Ruddat (Hg.), Liturgisches Kompendium, Göttingen 2003, (282–304) 290f. 19 M. Baumann, Postmoderne Religiosität und Praktische Theologie, in: M. Baumann / R. Hauri (Hg.), Weihnachten – Familienritual zwischen Tradition und Kreativität, Praktische Theologie heute 95, Stuttgart 2008, (197–218) 200. Fernerhin: M. Baumann, Weihnachtsfeier. Kindheitskultur des kreativen Konformismus, in: Ch. Morgenthaler / R. Hauri (Hg.), Rituale im Familienleben. Inhalte, Formen und Funktionen im Verhältnis der Generationen, Weinheim und München 2010, 137–160. 15

Öffnung oder Verengung?

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cher Religiosität: Das Exklusiv-, das Defizit-, das Konvergenz- und das Apologiemodell.20 Versteht man das Weihnachtsfest als Artikulationsform von Religiosität,21 wie sie als Ritual im Familienleben angesiedelt ist, so wäre es interessant zu wissen, wie Barth und Bultmann Weihnachten gefeiert haben. Man könnte dann sozusagen »empirisch« erheben, welchem der genannten Modelle ihre Weihnachtspraxis faktisch zuzuordnen wäre. Denkbar wäre etwa ein empirisch unterfütterter Abgleich zwischen ihren Weihnachtstheologien, sprich: ihrem theologischen Weihnachtsverständnis, wie es etwa in ihren Weihnachtspredigten zutage tritt, und dem Familienritual bzw. der familiären Ritualisierung von Weihnachten. Anhand einer solchen Korrelation könnte man dann nach dem Praktisch-Werden ihrer Theologie fragen. Dies würde freilich voraussetzen, dass man genügend belastbare Informationen und Daten hätte. Maurice Baumann hat etwa mit Interviews aus drei Generationen in achtzehn Schweizer Familien sowie Befragungen von über 1.000 weiteren Familien gearbeitet. Er setzt dabei einen mehrdimensionalen Ritualbegriff voraus, der die Dimensionen Morphologie, Sinn, AkteurInnen, Plastizität und Transzendenz umfasst. Er fragt 1. nach dem Szenario des Festes, also nach Sequenzen, Orten und Objekten, 2. nach Bedeutung und Wichtigkeit des Festes, d.h. nach Bestätigung, Identität, Werten und Tradierung des Rituals, 3. nach den Rollen der Teilnehmenden, konkret nach Worten, Interaktionen, Rollen, Gesten und Haltungen, 4. nach der Entwicklung des Festes hinsichtlich der Änderungen, Aktualisierungen, Adaptionen etc. und 5. nach der religiösen Dimension des Festes, d.h. Überzeugungen, symbolischen Handlungen und der Legitimationsinstanz.22 Baumann versteht Weihnachten als den Ort einer intergenerationellen Tradierung und Gestaltung persönlicher und familiärer Religiosität, die sich nach seinem Verständnis auch dann ausprägt, wenn man wie Barth nach dem Gebrauch eines überdosierten Religionsbegriffs – salopp formuliert – das Bedürfnis hat, sich den Mund mit großen Mengen Seifenwasser auszuspülen. »Festreligion«, »Familienreligion« bzw. »Weihnachts-Christentum«23 – gibt es so etwas auch bei den christologisch Konzentrierten, also bei Barth und Bultmann? Barth bemerkt in einem Brief an Rudolf Bultmann am Heiligen Abend 1952: »Auf

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Vgl. Baumann, Postmoderne Religiosität, 200f. Vgl. zur ratio disjunctionis zwischen Religion und Religiosität D. Schellong, Moderne Religiosität und christliche Offenbarung. 4 Thesen, in: G. den Hertog / E. Lempp (Hg.), Erleuchtender Geist – umkehrendes Denken – gerechtes Handeln. FS Edgar Thaidigsmann zum 65. Geburtstag, Apeldoorn 2006, (285–307) 285–288. 22 Vgl. M. Baumann, Ritualisierung und Religiosität der erzählten Familiengeschichte, in: M. Baumann / R. Hauri (Hg.), Weihnachten – Familienritual zwischen Tradition und Kreativität, Praktische Theologie heute 95, Stuttgart 2008, (23–63) 26. 23 Vgl. M. Morgenroth, Weihnachts-Christentum. Moderner Religiosität auf der Spur, Gütersloh 2002. Fernerhin: W. Steck, En miniature – Alltagskultur im Kleinformat, in: K. Huizing u.a. (Hg.), Kleine Transzendenzen. FS Hermann Timm zum 65. Geburtstag, Münster 2003, (274–310) 300. 21

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Vom Praktisch-Werden der Christologie

die Gefahr weiteren Kopfschüttelns und Unwillens hin will ich es immerhin wagen, Ihnen nur das Eine zuzuflüstern, daß ich insofern immer mehr Zinzendorfianer geworden bin, als mich im Neuen Testament immer mehr eigentlich gerade nur die Zentralfigur als solche – oder eben alles und jedes nur im Lichte und Zeichen dieser Zentralfigur – zu beschäftigen begann.«24 Dieses »magis« seiner theologischen Entwicklung bedarf nach Barth der gesteigerten Mitteilung an den einstigen Weggefährten, um ihr aktuelles Verhältnis zu klären. Fragt man, was beide, Barth und Bultmann, verbindet,25 so darf die These kurz und bündig lauten: Weihnachten! Und zwar aufgrund der gemeinsamen christologischen Konzentration – und dieses kristallisierte sich bereits recht früh auf ihrem gemeinsamen Weg heraus. Bultmann bedankt sich am Dreikönigstag 1927 bei Barth für die Zusendung seiner Weihnachtshomilie »Die Fleischwerdung des Wortes«26: »Da ich mich wirklich ganz eins mit Ihnen weiß in dem, was Sie zu Weihnachten sagen, sehe ich nicht, wo für Sie eigentl. der Anstoß meines ›Jesus‹ [gemeint ist Bultmann 1926 erschienenes Buch »Jesus«27; M.H.] liegt.«28 24

K. Barth / R. Bultmann, Briefwechsel 1922–1966, hg. von B. Jaspert, Karl Barth GA V/1, Zürich 1971, 199. Zu Barth und Zinzendorf vgl. E. Busch, »Hochverehrter Herr Graf, nicht so stürmisch!« Karl Barth und Nikolaus von Zinzendorf, in: ders., Barth – ein Porträt in Dialogen. Von Luther bis Benedikt XVI., Zürich 2015, 53–74. 25 Zum Verhältnis von Barth und Bultmann vgl. Ch. Chalamet, Dialectical Theologians. Wilhelm Herrmann, Karl Barth and Rudolf Bultmann, Zürich 2005; H. Dembowski, Barth – Bultmann – Bonhoeffer. Eine Einführung in ihr Lebenswerk und ihre theologische Bedeutung für die gegenwärtige Theologie, Rheinbach 22004; J. Fangmeier, Erziehung in Zeugenschaft. Karl Barth und die Pädagogik, BSHSTh 5, Zürich 1964, 258–267; Ch. Gestrich, Neuzeitliches Denken und die Spaltung der dialektischen Theologie. Zur Frage der natürlichen Theologie, BHTh 52, Tübingen 1977, 263–295; B. Jaspert, Karl Barth und Rudolf Bultmann. Anfragen. Anhang: Bibliographie Bernd Jaspert 1995–2014, Nordhausen 2014; K. Hammann, Karl Barth und Rudolf Bultmann nach 1945, in: Karl Barth als Lehrer der Versöhnung (1950–1968). Vertiefung – Öffnung – Hoffnung, hg. von M. Beintker u.a., Zürich 2016, 263–292; ders., Barth und Bultmann, in: M. Beintker (Hg.), Barth Handbuch, Tübingen 2016, 96–101; W. Schmithals (Hg.), Existenz und Sein. Karl Barth und die Marburger Theologie. Beiträge von Wilhelm Anz, Michael Wolter und Bernd Wildemann, Tübingen 1989; W. Kreck. Grundentscheidungen in Karl Barths Dogmatik, Zur Diskussion seines Verständnisses von Offenbarung und Erwählung, Neukirchener Studienbücher 11, Neukirchen-Vluyn 1978, 52–62; 134–147; 226f.; H. Stoevesandt, Basel – Marburg: ein (un)erledigter Konflikt?, in: ders., Gottes Freiheit und die Grenze der Theologie. Gesammelte Aufsätze, hg. von E. Stoevesandt / G. Sauter, Zürich 1992, 218–238; J.-Ph. Tegtmeier, Enthistorisierung der Christologie? Der historische Jesus in der Christologie Karl Barths und Rudolf Bultmanns, in: M. Hofheinz / K.-O. Eberhardt unter Mitarbeit von J.-Ph. Tegtmeier (Hg.), Gegenwartsbezogene Christologie. Denkformen und Brennpunkte angesichts neuer Herausforderungen, Dogmatik in der Moderne 29, Tübingen 2020, 299–335; M. Weinrich, Karl Barth. Leben – Werk – Wirkung, UTB 5093, Göttingen 2019, 445–449. 26 K. Barth, Die Fleischwerdung des Wortes (1926), in: ders., Weihnacht, Kleine Vandenhoeck-Reihe 48, Göttingen 21957, 5–13 (jetzt in: K. Barth, Predigten 1921–1935, hg. von H. Finze, Karl Barth GA I/31, Zürich 1998, 543–550). 27 R. Bultmann, Jesus (1926), UTB 1272, Tübingen 1988 (Nachdruck). 28 Barth / Bultmann, Briefwechsel, 66f.

Öffnung oder Verengung?

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Im Blick auf Bultmann dürfte von besonderem Belang sein, dass sich sein berühmtes »Entmythologisierungsprogramm« an Weihnachten entzündete. Als Bultmann 1941 seinen berühmten Entmythologisierungsvortrag in Alpirsbach hielt,29 geschah dies auf dem Hintergrund einer enttäuschten Weihnachtspredigt-Erfahrung. Bultmann deutete dies »Anfang Januar 1941 in seinem Gruß an die im Felde stehenden Marburger Studenten an. Er hatte Weihnachten eine Predigt gehört, die er dogmatisch korrekt und von der Form her gelungen fand. Gleichwohl war er ›tief enttäuscht und deprimiert‹ aus dem Weihnachtsgottesdienst nach Hause gegangen. Denn der Prediger hatte es nicht vermocht, ›das Evangelium so in die Sprache der Gegenwart‹ zu übersetzen, daß der Hörer es als eine ihn angehende Botschaft wahrnehmen konnte. Vor diesem Hintergrund beschrieb Bultmann in seinem Alpirsbacher Vortrag zunächst das Problem und die Aufgabe der Entmythologisierung des neutestamentlichen Kerygmas. Nicht nur das Weltbild des Neuen Testaments, auch seine Darstellung des Heilsgeschehens ist mythisch.«30

Um nochmals auf Bultmann, Barth und meine These zurückzukommen: Es dürfte ebenfalls kein Zufall sein, dass Barth die berühmte Parabel vom Walfisch und vom Elefanten, die das Verhältnis zwischen beiden theologischen Schwergewichten, in einem an Bultmann adressierten Weihnachtsbrief 1952 schilderte. Es ist nämlich, um die These zu wiederholen, die Weihnachtsthematik und die mit ihr einhergehende »christologische Konzentration«, die das einigende Band zwischen Barth und Bultmann bildet und ihre unterschiedlichen Theologien gleichwohl als affin ausweist. Es übergreift sozusagen die Elemente der Natur: »Ist Ihnen klar, wie wir dran sind – Sie und ich? Mir kommt es vor: wie ein Walfisch […] und ein Elephant, die sich an irgendeinem ozeanischen Gestade in grenzenlosem Erstaunen begegneten. Vergeblich, daß der Eine seinen Wasserstrahl haushoch emporschickt. Vergeblich, daß der Andere bald freundlich, bald drohend mit seinem Rüssel winkt. Es fehlt ihnen an einem gemeinsamen Schlüssel zu dem, was sie sich, ein Jeder von seinem Element aus und Jeder in seiner Sprache, offenbar noch so gern sagen

29

Vgl. R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie, in: H.-W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch. Erste Veröffentlichung, Theologische Forschung. Wissenschaftliche Beiträge zur kirchlich-evangelischen Lehre 1, Hamburg-Bergstedt 41960, 15–48. Vgl. dazu die Replik von J. Schniewind, Antwort an Rudolf Bultmann. Thesen zum Problem der Entmythologisierung, in: H.-W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch. Erste Veröffentlichung, Theologische Forschung. Wissenschaftliche Beiträge zur kirchlich-evangelischen Lehre 1, Hamburg-Bergstedt 41960, 77–121. Darauf wiederum repliziert: R. Bultmann, Zu J. Schniewinds Thesen, das Problem der Entmythologisierung betreffend, in: H.-W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch. Erste Veröffentlichung, Theologische Forschung. Wissenschaftliche Beiträge zur kirchlich-evangelischen Lehre 1, Hamburg-Bergstedt 41960, 122–138. 30 K. Hammann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Göttingen 32012, 309.

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Vom Praktisch-Werden der Christologie möchten. Rätsel der Schöpfung, dessen Auflösung im Eschaton ich mir wie Bonhoeffer auf der Linie ›Ich bringe Alles wieder‹ des Weihnachtsliedes vorstellen möchte!«31

Wiederum schließt also die Parabel mit einer Anspielung auf Weihnachten, diesmal: das Weihnachtslied Paul Gerhardts »Fröhlich soll mein Herze springen«.32 Und Barth schließt diesen langen Brief an Bultmann, indem er noch einmal auf ihr gemeinsames Thema zu sprechen kommt und dann abbricht: »Aber nun läuten draußen schon die Weihnachtsglocken, und ich will abbrechen. Man deutet mir an, daß das Christkind eine ganze Menge weiterer Mozartplatten für mich bereit halte. Wenn sie wieder einmal nach Basel kommen, so möchte es sein, daß wir vor oder nach der Sitzung in jenem kleinen Wirtshaus einige davon gemeinsam hören.«33

2. Vom Praktisch-Werden der Christologie. Wie Barth und Bultmann Weihnachten feierten 2.1 Wie feierte Karl Barth Weihnachten? Ein methodisches Problem besteht nun darin, dass wir vor allem zu den Weihnachtsfeiern im Hause Barth nur wenige belastbare Informationen besitzen. Hinzu kommt noch, dass dort, wie wir spätestens seit der neuen Barth-Biographie von Christiane Tietz wissen,34 die Verhältnisse keineswegs spannungsfrei waren, wobei etwa die Spannungen, die aus dem Liebesverhältnis Barths nicht nur zu seiner Frau Nelly, sondern auch zu Charlotte von Kirschbaum resultierten, in der Nachkriegszeit bzw. im Alter nachließen.35 All dies würde indes die Frage nach der rituellen Inszenierung des Weihnachtsfestes in Verbindung zur Familie mit ihren Brüchen, ihren traurigen und schwierigen, aber auch lustigen und erfreulichen Erlebnissen besonders reizvoll machen. Allein, wir wissen hier zu wenig, oder besser: ich konnte hier im Sinne der »oral history« nicht viel herausfinden, wenngleich ich mehrere Personen aus dem Umfeld Barths schriftlich dazu befragt habe. Das wenige, was ich herausfinden konnte, möchte ich trotz dieser eingestandenen Verlegenheit im Folgenden zur Sprache bringen. Ergänzen werde ich es methodisch nicht mit einer Untersuchung von Weihnachtspredigten Barths und Bultmanns, die an sich sicherlich auch ein lohnendes, wenngleich sehr aufwän31

Barth / Bultmann, Briefwechsel, 196. Vgl. auch H. Hübner, Der Walfisch – der Elefant – und Heinrich Schlier, in: Ch. Dahling-Sander u.a. (Hg.), Herausgeforderte Kirche. Anstöße – Wege – Perspektiven. FS Eberhard Busch zum 60. Geburtstag, Wuppertal 1997, 293–304. 32 EG 36. 33 Barth / Bultmann, Briefwechsel, 201. 34 Vgl. Ch. Tietz, Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch, München 2018, 187–205. 35 So der Barth-Enkel Max Zellweger an den Autor in seiner E-Mail vom 18. Februar 2019.

Wie Barth und Bultmann Weihnachten feierten

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diges und hier gewiss nicht zu leistendes Unterfangen wäre, sondern indem ich biographische Informationen, die die Feier des Weihnachtsfestes betreffen, mit einer theologischen Interpretation derjenigen Zeitungsartikel kombiniere, die Barth und Bultmann als biblische Betrachtungen anlässlich besagten Festes verfasst haben. Dieses Genre hat, allein schon was die Überschaubarkeit und quellentechnischen Erschlossenheit des Materials angeht,36 unbestreitbare pragmatische Vorzüge. Nach dieser methodischen Vorbemerkung komme ich nun zu meiner Befragung des Umfeldes Barths. Eberhard Busch, Barths letzter persönlicher Assistent, schrieb mir auf meine Frage hin, wie Barth Weihnachten gefeiert habe: »Lieber Marco, ja. Ich vermute, dass da bei Barth nicht viel zu holen ist. Möglich, dass Barth in seiner deutschen Zeit, an Weihnachten Studenten eingeladen hat. Aber in meiner Zeit spielte private Feier der W. keine besondere Rolle. Ohnehin war auch in meinen Pfarrerjahren am 24.12. kein Gottesdienst oder dergl., sondern die Läden waren bis abends offen und meine Frau ging noch abends um 19 Uhr einkaufen. Am 25. gab es dann einen Gottesdienst und B. wird dann wohl in der Strafanstalt gepredigt haben. Der 26. galt als nicht-kirchlicher Feiertag ›für Arbeit in Feld und Wald‹, wie das hieß. In meinem Tagebuch steht zum 30.12.67, dass er Adventskränze für eine heidnische deutsche Sitte hielt, so wohl auch und erst recht Weihnachtsbäume und zumal Kerzen. Das liegt auf der Linie der reform. Tradition. Was sich sagen lässt, ist, dass B. des Advents und der Weihnacht mit Predigten und Andachten gedacht hat. Herzlich, Dein Eberhard«.37

Die Adventskranz-Geschichte,38 auf die Busch anspielt, ist sehr unterhaltsam. In seinen Tagebuchaufzeichnungen ist zu lesen: »Ich erzählte Barth, wie noch vor Weihnachten, als ich krank im Bett lag, binnen kurzem in unserem soeben vom Vermieter frisch renovierten Wohnzimmer ein heftiger Brand gewütet und üblen Schaden angerichtet hatte. Das kam daher, dass die brennenden Kerzen eines unbeaufsichtigten Adventskranzes heruntergebrannt waren und dann die Tischdecke, auf der er lag, dann teils den Holztisch selbst, dann den Vorhang, in dessen Nähe sich das abspielte, angezündet hatten. Ein Lehrer, der gegenüber auf dem zugefrorenen Bottminger Schlossweiher mit seiner Klasse Schlittschuh fuhr, hatte es wahrgenommen und gleich die Feuerwehr avisiert. Unterdes hatte ich das Übel auch schon bemerkt und den Brandherd tatsächlich gelöscht mit dem mir nächstgreifbaren Hilfsapparat: einem Topf voll Nudelwasser und stand so und in der Unterhose 36

Vgl. K. Barth, Predigten 1921–1935, hg. von H. Finze, Karl Barth GA I/31, Zürich 1998, 533–648; R. Bultmann, Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze I–IV, Tübingen 1933–1965. 37 E-Mail vom 13. September 2017. 38 Zum Adventskranz vgl. K.-H. Bieritz, Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart. Neu bearbeitet und erweitert von Ch. Albrecht, München 9 2014, 128f.; Hermelink, Weihnachtsgottesdienst, 292.

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Vom Praktisch-Werden der Christologie da, als die Feuerwehr eintraf. Barth lachte über diese dramatische Story so ansteckend, dass schließlich auch ich mitlachen musste; und er bemerkte: ›Lieber Herr Busch, das kommt davon, wenn man so heidnische Sitten aus Deutschland in die Schweiz importieren will wie das Ritual von ›Adventskränzen!‹ Ich sagte: ja, ich bin nun gründlich davon geheilt.«39

Bei Grethlein lässt sich nachlesen, dass das Weihnachtsfest tatsächlich heidnische Wurzeln hat, die »ins 4. Jahrhundert nach Rom zurück[reichen], wo der 25. Dezember als Natalis Solis Invicti [Fest des unbesiegten Sonnengottes; M.H.] gefeiert wurde; daneben finden sich weitere heidnische Traditionen, die in dieses Fest einflossen. So verbanden sich unterschiedliche Motive, die die Festliturgie prägten: [a] vom wahrscheinlichen religionsgeschichtlichen Ursprung her die Bedeutung von Sonne und Licht; [b] vom biblischen Inhalt her der Bezug zum Geburtstag, teilweise verbunden mit dem Taufmotiv; [c] vom Termin her die Verortung im Dunkeln.«40 Dieter Zellweger, Enkel Karl Barths, den ich neben Busch ebenfalls danach befragte, wie sein Großvater Weihnachten gefeiert habe, schrieb mir zurück: »Lieber Herr Hofheinz, fast wäre Ihr Mail unbeantwortet geblieben, tut mir leid. Tatsächlich erinnere ich mich nur an die Weihnachtsfeier, die wir im grösseren Kreis der Familie ein paar Tage nach dem 24. Dez. feierten, an der Pilgerstrasse und auf dem Bruderholz. Meine Eltern, ich und meine Geschwister, Hans Jakob und Renate und ihre Töchter, und selten – wenn auf Heimaturlaub – die Familien von Markus oder Christoph, und manchmal war noch ein Besuch dabei. Sehr wichtig war da der gemeinsame Gesang, am Klavier begleitet von Renate oder meiner Mutter. Manchmal noch eine biblische Lesung. Und dann wurde viel musiziert, und die Grosskinder spielten vor. Es hatte keinen Weihnachtsbaum, und Geschenke wurden nur zwischen Grosseltern und Enkelkindern ausgetauscht. Meine Mutter hat meiner Grossmutter oft schon vorher geholfen, weil diese im Alter durch grössere Einladungen in Aufregung geriet. Mein Grossvater war locker und humorvoll, und es war für ihn wohl entspannter als der Heilige Abend im kleinen Kreise. Weder ich noch meine Geschwister wissen mehr, wie Weihnachten am Heiligen Abend bei den Grosseltern gefeiert wurde. Ich denke nur, dass gewiss Mozart erklungen ist. Mit freundlichem Gruss, Dieter Zellweger«41

Festhalten lässt sich zunächst: Auch Barth kennt das Weihnachtsbrauchtum durchaus – »mit Weihnachtsliedern, Weihnachtslichtern, Weihnachtsgeschenken«.42 Das alles hat er durchaus nicht kategorisch und apodiktisch abgelehnt. Er warnt 39

E. Busch, Meine Zeit mit Karl Barth. Tagebuch 1965–1968, Göttingen 2011, 515. Grethlein, Praktische Theologie, 292. Zit. wird Ch. Grethlein, Grundfragen der Liturgik. Ein Studienbuch zur zeitgemäßen Gottesdienstgestaltung, Gütersloh 2001, 251. Vgl. auch Bieritz, Das Kirchenjahr, 108f.; Hermelink, Weihnachtsgottesdienst, 282–284. 41 E-Mail vom 28. September 2018. 42 K. Barth, Aber seid getrost! Predigt zu Joh 16,33 vom 24.12.1963, in: ders., Predigten 1954–1967, hg. von H. Stoevesandt, Karl Barth GA I/12, Zürich 21981, (242–251) 244. 40

Wie Barth und Bultmann Weihnachten feierten

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aber, wie es in seiner berühmten, auf Tonband veröffentlichten Weihnachtspredigt »Aber seid getrost« (1963)43 heißt: »Sehen wir wohl zu, liebe Brüder: unser ganzes Weihnachtswesen könnte unehrlich, könnte eine große Einbildung sein, wenn wir das nicht auch hören wollten: In der Welt habt ihr Angst.«44 Hier wird Barths kritische Haltung erkennbar, was die kulturelle Imprägnierung des Weihnachtsfestes betrifft. Zweierlei fällt dabei auf: 1. Barth redet inklusiv von »unserem ganzen Weihnachtswesen«, schließt sich selbst also nicht un(selbst)kritisch aus. Auch er partizipiert – wenn man so will – an dem neuzeitlichen Kulturchristentum. 2. Barth identifiziert das Weihnachtschristentum nicht einfach als Götzendienst bzw. Verstoß gegen das erste Gebot, aber er benennt doch im Konjunktiv (II) dessen Potentialität, als deren Indikator er wiederum das Verschweigen von Angst im Sinne von Joh 16,33 anführt: »In der Welt habt ihr Angst«. Überliefert ist ein Weihnachtswunschzettel vom 2. Dezember 1899, auf dem sich der 13-jährige Barth neben einer Schillerbüste, Bleisoldaten und drei Büchern, zwei militärhistorischen Studien und Schillers »Räubern«, ein »Velo« (Fahrrad) wünscht, aber hinzufügt: »Ich weiß zwar, daß ich das doch nicht bekomme«.45 Auch hatte Barth durchaus Sinn für das Familienleben, wie in der Biographie von Christiane Tietz an verschiedenen Stellen zu lesen ist.46 Barth liebte es, große Weihnachtsgeschenke zu machen – vor allem in Gestalt von Büchern. So bekam Eduard Thurneysen beispielsweise an Weihnachten 1928 das vierbändige Handbuch der katholischen Dogmatik von Mathias Joseph Scheeben geschenkt.47 Auch ließ Barth sich gerne beschenken, an Weihnachten 1923 etwa von seinem Philosophenbruder Heinrich mit fünf dicken Bänden der »Summa theologica« des Thomas von Aquin.48

43

Der gesprochene Wortlaut der Predigt in Barth, Aber seid getrost!, 296–305. Wiederabgedruckt in: R. Landau (Hg.), Gottes Sohn ist kommen. Predigten und Bilder zur Weihnacht, Stuttgart 1994, 130–138. Der Zeitungsartikel »Fürchtet euch nicht!« aus dem Jahr 1929 (in: K. Barth, Weihnacht, 29–34; K. Barth, Predigten 1921–1935, 580–585) präfiguriert diese berühmte Predigt. 44 Barth, Predigten 1954–1967, 244. 45 K. Kupisch, Karl Barth in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Stuttgart / Kiel 2 1996, 16f. 46 Vgl. etwa Tietz, Karl Barth, 181. 47 Vgl. Barths Brief vom 21. Dezember 1928 an Thurneysen, in: K. Barth / E. Thurneysen, Briefwechsel Bd. 2: 1921–1930, hg. von E. Thurneysen, Karl Barth GA V/4, Zürich 1974, 637; 641. 48 Vgl. Barths Brief vom 30. Januar 1924, in: Barth / Thurneysen, Briefwechsel 2, 217. Dazu: M. Freudenberg, Karl Barth und reformierte Theologie, Die Auseinandersetzung mit Calvin, Zwingli und den reformierten Bekenntnisschriften während seiner Göttinger Lehrtätigkeit, Neukirchen-Vluyn 1997, 67–71; B. Nichtweiss, Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, Freiburg i. Br. u.a. 21994, 505–512.

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Vom Praktisch-Werden der Christologie

2.2 Wie feierte Rudolf Bultmann Weihnachten? Bei Bultmann ist m.W. im Blick auf Selbstzeugnisse zu Weihnachten mehr zu holen als bei Barth. Das liegt daran, dass Bultmann einen ausführlichen sechsseitigen Brief an seine älteste Tochter Antje anlässlich des Weihnachtsfestes 1939 hinterlassen hat. Antje Bultmann-Lemke hatte soeben geheiratet und verbrachte Weihnachten erstmals nicht zuhause. In diesem Brief schildert Bultmann ausführlich den Verlauf des Festes im intergenerationellen Zusammenhang eines religiös codierten Familienrituals: »[D]en Kirchgang, die letzten Vorbereitungen im Haus, die festliche Kleidung aller Familienmitglieder, das Treffen im Zimmer der Mutter, das Vorlesen der Weihnachtsgeschichte, das Anzünden der Baumlichter und ›dann – Du weißt es ja: das Glöckchen leutet! ›Ihr Kinderlein kommet!‹ ›O du fröhliche!‹ Und dabei umfing uns wieder Glanz und Duft des Weihnachtsbaumes, und wir waren sehr glücklich, wenngleich mit einem wehmütigen Gedanken an die fehlende Antje‹. […] Es folgten Bescherung, erst unten, dann oben bei der Oma, das Abendessen, das wegen des Krieges bescheidener ausfiel als sonst, schließlich die Besichtigung der Geschenke. […] Der erste Weihnachtstag war dann mit Lesen, Singen und Musizieren ausgefüllt.«49

Konrad Hammann, der Bultmann-Biograph, stellt zu Recht fest, dass die Bedeutung des Weihnachtsfestes als Familienritual bei Bultmanns kaum zu hoch eingeschätzt werden kann: »Alljährlicher Höhepunkt des Familienlebens war das Weihnachtsfest. Unter dem Christbaum der Bultmanns wurde nicht entmythologisiert, sondern wie in anderen Familien des akademischen Bildungsbürgertums gefeiert.«50 An anderer Stelle heißt es in der besagten Bultmann-Biographie: »Wie in anderen bürgerlichen Familien war der Jahreskreis im Hause Bultmann durch die Geburtstage und die hohen christlichen Feste strukturiert. ›Der ›Nikolaus‹, der am 6. Dezember [1921] erschien, machte den Kindern viel Freude; leider ließ er (es war einer meiner Studenten) das Tremendum zu sehr hinter dem Fascinosum zurücktreten, und Antje behauptete am nächsten Tage, nur die Ermahnungen für Gesine gehört zu haben.‹ [So im Brief vom 21.12.1921 an Hans von Soden; M.H.] In der Bultmannschen Familienkultur kam dem Weihnachtsfest schon um der Kinder willen höchste Bedeutung zu. Den Maßstab aller Vorbereitungen und Geheimnisse, aller Freude und Gemeinschaft behielt das Oberhaupt der Familie fest im Blick: ›Läßt man sich durch alle Not der Zeit auch die Familienfreude des Weihnachtsfestes nicht verkümmern, so wird man doch immer mehr seinen Sinn auf die eigentliche Bedeutung des Festes richten

49 50

Hammann, Rudolf Bultmann, 333. Ebd.

Rudolf Bultmanns Verständnis von Weihnachten

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und sich freuen, daß man in diesen trübseligen Zeiten eine Welt des Lichtes besitzen darf. [So im Brief vom 23.12.1923 an Hans von Soden; M.H.]‹«51

An Götz Harbsmeier, seinen ehemaligen Assistenten, schrieb Bultmann Weihnachten 1945: »Das erste Friedensweihnachten! Trotz aller Not, spürbar im eigenen Hause, bedrängender noch rings um uns, sind wir doch dankbar, daß die Last, die in den vergangenen 12 Jahren u. be[sonders] in den letzten 6 Jahren auf uns lag, von uns genommen wurde. Und muß auch Weihnachten des äußeren Glanzes noch mehr entbehren als in den letzten Jahren, so wird sein eschatologischer Sinn umso deutlicher werden. Schade freilich, daß dieser Sinn nicht auch in Glanz u. Gaben seinen Ausdruck finden kann! Wie gerne hätten wir Ihnen für die Kinder ein Paket geschickt! Aber ›woher nehmen u. nicht stehlen?‹ – wie meine Mutter in solchen Fällen zu sagen pflegte.«52

3. »Warum entzünden wir an Weihnachten Kerzen?« Rudolf Bultmanns Verständnis von Weihnachten Möchte man wissen, wie Bultmann Weihnachten verstanden hat, wird man zwei Zeitungsartikel aus späteren Jahren, nämlich von 195353 und 196454 heranziehen dürfen, die er für die »Neue Zürcher Zeitung« und die »Süddeutsche Zeitung« verfasste. In beiden ist er darum bemüht, die Weihnachtsbotschaft allgemeinverständlich für eine breite Leserschaft zu entfalten. In diesen kurzen Texten fällt die Zentralität der Lichtmetaphorik auf. Es wäre allerdings abwegig zu behaupten, dass es Bultmann an Weihnachten nur um ein allgemeines »Lichtfest« ging. Dieses muss gerade entmythologisiert werden. Bultmann fragt ganz im Sinne seines Entmythologisierungsprogramms nach dem gründenden Dahinter, dem »Eigentlichen« und benennt damit den Ausgangspunkt seiner Überlegungen: »Warum entzünden wir an Weihnachten Kerzen und freuen uns ihres Glanzes?«55 In dem zweiten Text (1964) variiert Bultmann die Ausgangsfrage zu der titelgebenden Frage: »Was ist der Sinn unseres Weihnachts-

51

Hammann, Rudolf Bultmann, 248. Brief Rudolf Bultmanns an Götz Harbsmeier vom 23.12.1945, in: R. Bultmann, Briefwechsel mit Götz Harbsmeier und Ernst Wolf 1933–1976, hg. von W. Zager, Tübingen 2017, (132–133) 132. 53 R. Bultmann, Weihnachten (1953), in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Dritter Band, Tübingen 1960, 76–80. 54 R. Bultmann, Was ist der Sinn unseres Weihnachtsfestes heute? (1964), in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Vierter Band, Tübingen 31975, 138–140. 55 Bultmann, Weihnachten, 76. 52

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festes heute?«56 bzw. »Was […] ist das Eigentümliche der christlichen Weihnachtsfeier?«57 Christologische Konzentration meint im Sinne Bultmanns genau so zu fragen und dabei die Vordergründigkeit des Kerzenglanzes zu durchbrechen. Direkt zu Beginn seiner Ausführungen macht Bultmann klar, dass es um mehr als »Brauchtum« geht: »Welches auch die historischen Gründen sein mögen, auf die dieser Brauch zurückgeht, für uns sind sie nicht mehr wirksam. Aber ist damit der Glanz der Weihnachtslichter nur zu einem festlichen Schmuck geworden, wie er zur frommen Stimmung festlicher Tage gehört? Ist er uns lieb, weil in seinem Schein Erinnerungen wach werden, Erinnerungen bis in die Tage der Kindheit, wehmütig und beglückend zugleich? Gewiß wird es so sein.«58 Bultmann bestreitet die Bedeutsamkeit von Brauchtum, (Kindheits-)Erinnerungen und festlicher Stimmung nicht, die in ihrer Ambivalenz zwischen Wehmut und Glück oszillieren. Er stellt sie aber im Lichte des einzig Entscheidenden in Frage. Deutlich wird hier Bultmanns Intention, die Fassade dieser Äußerlichkeiten zu durchbrechen, um zum Kern von Weihnachten vorzustoßen, zum Existentialen. Bultmann zögert nicht lange, sondern bringt die Antwort auf die Ausgangsfrage direkt zur Sprache: »Die Antwort liegt nicht fern; die Lichter, die wir anzünden, sind ein Symbol des Lichtes, von dem es heißt: ›Das ewige Licht geht da herein, / gibt der Welt einen neuen Schein. / Es leucht’ wohl mitten in der Nacht / und uns des Lichtes Kinder macht.‹«59 Bultmann leiht sich Worte Martin Luthers und zwar aus der 4. Strophe seines Weihnachtsliedes »Gelobet seist du, Jesu Christ« (1524).60 Die Worte Luthers bedienen sich ihrerseits biblischer, vor allem johanneischer Sprache, allzumal in Gestalt der signifikanten Lichtmetaphorik, wie sie für die johanneische Theologie einschlägig ist. Diese Metaphorik greift Bultmann auf, zugleich die 4. Strophe des Luther-Liedes interpretierend, und lässt sie durchgängig den weiteren gedanklichen Verlauf seiner Ausführungen prägen. Zunächst spitzt Bultmann seine Antwort kerygmatheologisch zu, indem er die Symbolik gleichsam dechiffriert, sie von vordergründigen ästhetischen und emotionalen Ansprüchen auf Eigentlichkeit befreit und das Symbol als »ein uns anredendes Wort«61 identifiziert. Sodann greift Bultmann, weiterhin im Bann der Lichtmetaphorik stehend, das Kontrastschema von hell / dunkel auf und kontrastiert das helle Licht und die dunkle Welt. Zugleich bedient sich Bultmann, auch hier johanneisch unterwegs, des Schemas von Zeit und Ewigkeit, indem er das ewige Licht der dunklen Welt als einer zeitlichen, vergehenden gegenüberstellt. 56

Bultmann, Sinn, 138. Ebd. 58 Bultmann, Weihnachten, 76. 59 Ebd. 60 EG 23,4. 61 Bultmann, Weihnachten, 76. Vgl. zu Bultmanns Verständnis des Wortes Gottes U.H.J. Körtner, Theologie des Wortes. Positionen – Probleme – Perspektiven, Göttingen 2001, 35–40. Ungleich kritischer als Körtner urteilt: O. Bayer, Theologie, HST 1, Gütersloh 1994, 428–432; 452f.; 475–484. 57

Rudolf Bultmanns Verständnis von Weihnachten

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Diese Welt sei aktuell zwar nicht von einer Daseinsunsicherheit wie noch in den Weltkriegen erschüttert, zumindest nicht in den von deren Folgen nicht unmittelbar betroffenen Gebieten der Schweiz. Aber dennoch lasse sie in ihrer Unheimlichkeit, für die die Entwicklung der (Atomwaffen-)Technik mit ihrer dämonischen Macht sowie das Getriebe der modernen Arbeitswelt stehe, etwas von dem »Wesen der Welt zu allen Zeiten«62 erkennen. Bultmann identifiziert einen »reißenden Zug einer besessenen Zeit«.63 Dies mache ihre Signatur aus. Doch weder der Blick in die Welt noch der Blick in uns selbst könne uns den Anblick des »ewigen Lichtes« und damit des Geheimnisses der Weihnacht gewähren. Das Licht sei – wie das Luther-Lied verrate – darin Licht, dass es uns zu seinen Kindern macht. Hier wird zweierlei deutlich: Zum einen die soteriologische Pointierung der Christologie Bultmanns in Gestalt der Weihnachtsbotschaft – es geht an Weihnachten um uns und unser Heil64 – und damit einhergehend zum anderen die anthropologische Dimensionierung seiner Theologie: »[W]ill man von Gott reden, so muß man offenbar von sich selbst reden.«65 So betonte bereits der junge Bultmann, der damit den Sinn der Rede von Gott unterstrich. Es zeigt sich hier, in der Befürwortung der indirekten Rede von Gott, die Scheu Bultmanns, »vom deus dicens direkt und nicht im Spiegel des homo recipiens zu reden«.66 Man hat dies als eine Metaphysik in subjektphilosophischer, genauer noch: existentialphilosophischer Fassung identifiziert.67 Daneben wird auch der präsentische Zug der Eschatologie Bultmanns deutlich. So betont Bultmann: »Ja, es ist schon richtig: Wir sind des Lichtes Kinder. Wir sind es, weil das Licht göttlicher Liebe und Gnade, das in der Geburt Jesu Christi für die Welt aufgestrahlt ist, immer für uns alle leuchtet. Wir sind es, und zwar sind wir es als die, als die wir – unser eigentliches

62

Bultmann, Weihnachten, 77. Dort kursiv. A.a.O., 78. 64 Darin erweist sich Bultmann nicht zuletzt als Schüler W. Herrmanns (Die Wirklichkeit Gottes [1914], in: ders., Schriften zur Grundlegung der Theologie II, ThB 36/II, hg. von P. Fischer-Appelt, München 1967, 290–317, 314), der pointierte: »Von Gott können wir nur sagen, was er an uns tut.« O. Bayer (Theologie, 452f.) wirft dagegen die grundsätzliche Frage auf, »ob sich theologische Besinnung primär auf die Wirkung der Verkündigung im glaubenden Subjekt richtet, ob sie vom ›Glaubensinhalt‹ zurück zum ›Grundgrund‹ (Wilhelm Herrmann), von der sekundären theologischen Explikation des glaubenden Selbstverständnisses auf dieses selbst (Bultmann) geht, oder ob sie primär von der Sprachhandlung her auf diese zugeht, mit ihr den Glaubensgrund selbst wahrnimmt und sie sehr wohl von der theologischen Reflexion unterscheidet.« Barth, der diese Anfrage an Bultmann sicherlich teilt, würde indes – anders als Bayer – sicherlich nicht eng- und zugleich weitgeführt von einer »Sprachhandlung«, sondern von der Selbsterschließung Gottes reden und zwar im Sinne des Grund-Satzes: »Gott wird nur durch Gott erkannt« (K. Barth, KD II/1, 200). 65 R. Bultmann, Welchen Sinn macht es von Gott zu reden? (1925), in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Erster Band, Tübingen 41961, (26–37) 28. Vgl. ders., Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 31958, 192: »Jeder Satz über Gott ist zugleich ein Satz über den Menschen und umgekehrt.« 66 Bayer, Theologie, 475. 67 So etwa Bayer, a.a.O., 476. 63

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Ich – vor Gottes Augen im Lichte seiner Gnade dastehen.«68 Neben dem präsentischen und indikativischen »sind« liegt der Akzent der Bultmann’schen Diktion hier wie anderswo auf dem »eigentlich«. Insbesondere am hervorstechenden »Jargon der Eigentlichkeit« wird – mit Theodor W. Adorno69 gesprochen – die existentialphilosophische Imprägnierung der Gedanken Bultmanns erkennbar,70 für die Martin Heidegger Pate steht.71 Im Blick auf das Familienritual des Weihnachtsfestes bricht der »Jargon der Eigentlichkeit« dann durch, wenn Bultmann seiner Tochter Antje in humorvoll-selbstironischer Weise Dank für die Zigarren abstattet und dies mit einem Zitat aus dem Tagebuch des Grafen Yorck tut, das mutatis mutandis auch auf ihn selbst zutrifft: »Im Besitze meines Tabaks und somit ganz bei mir…«72 Mit den Mitteln des »Jargons der Eigentlichkeit« hebt Bultmann die Verborgenheit des eigentlichen Seins des Menschen als homo absconditus hervor: »Wir dürfen glauben, daß unser eigentliches Leben uns selbst verborgen ist. Wir sind wohl schon ›Kinder Gottes‹, aber ›es ward noch nicht offenbar, was wir sein werden‹ (1. Joh. 3,2).«73 Mit dieser Aussage öffnet sich die Eschatologie auf ihre futurische Dimension hin. In seinem Kommentar zu den Johannesbriefen schreibt Bultmann explizit: »[D]ie Gotteskindschaft ist Gegenwart: nūn … esmen, findet aber ihre Erfüllung in der Zukunft«.74 Das eigentliche Sein, das wahre Sein wird erst in der Zukunft offenbar, die vom eschatologischen Geschehen umfasst ist. Im zweiten Text kann Bultmann das Eigentümliche der christlichen Weihnachtsfeier als ein »eschatologisches« Ereignis bestimmen.75 Das Entscheidende geschieht freilich in der Gegenwart, in dem Ereignis der Anrede und des Getroffen-Werdens, also nach der Vorstellung Bultmanns in der Predigt. Es geht um das Hören der Weihnachtsbotschaft, um die fides ex auditu (Röm 10,17) und damit um das Kerygma: »Wir können es uns nicht selbst sagen, sondern es uns nur sagen lassen, es hören. Das ist die Weihnachtsbotschaft, das Wort, 68

Bultmann, Weihnachten, 78. Th.W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Edition Suhrkamp 91, Frankfurt a.M. 1964. 70 Vgl. R. Bultmann, Anknüpfung und Widerspruch (1946), in: ders., Glaube und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Zweiter Band, Tübingen 31961, (117–132) 120: »Die den Menschen, der er selbst sein will und der sein Selbst verloren hat, bewegende Frage nach seiner Eigentlichkeit ist der Anknüpfungspunkt für Gottes Wort.« 71 H.-G. Gadamer (Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975, 481) bemerkt: »Wenn er [sc. Barth; M.H.] sich mit Rudolf Bultmann und seiner These der Entmythologisierung des Neuen Testaments wenig befreunden kann, so trennt ihn nicht das sachliche Anliegen, sondern es ist, wie mir scheint, die Verknüpfung historisch-kritischer Forschung mit theologischer Exegese und die Anlehnung der methodischen Selbstbesinnung an die Philosophie (Heidegger), was Barth verhindert, sich in Bultmanns Verfahrensweise wiederzuerkennen.« 72 Zit. nach Hammann, Rudolf Bultmann, 333. Vgl. Barth, KD III/2, 96. 73 Bultmann, Weihnachten, 79. 74 R. Bultmann, Die Johannesbriefe, KEK XIV/7, Göttingen 1967, 53. 75 Vgl. Bultmann, Sinn, 138. 69

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das Jesus Christus spricht, das Wort, das er selbst ist. Wir sind nicht die, die wir zu sein scheinen, zu sein meinen. Wir sind die, die wir im Lichte der Gnade Gottes sind. Wir sind, was wir hier und jetzt nie sind, aber das, was wir hier und jetzt nie sind, gerade das ist unser eigentliches Sein. Das ist die Weihnachtsbotschaft, das ist der Weihnachtsglaube.«76 Es geht – mit anderen Worten – um unser rechtes Selbstverständnis. Weihnachten ist »als Kerygma nur verständlich, wenn das durch es geweckte Selbstverständnis als eine Möglichkeit menschlichen Selbstverständnisses verstanden«77 werden kann. Das sei aber der Fall, weil es an Weihnachten um das Existentiale, um unser eigentliches Sein gehe. Es manifestiert sich hier – wie wir merken – nichts anderes als eine existentiale Interpretation von Weihnachten. Ihre Kehrseite ist das Entmythologisierungsprogramm – auch und gerade bezogen auf die Weihnachtsbotschaft. Mythos meint ja bei Bultmann, wie es im Alpirsbacher Vortrag heißt, diejenigen »objektivierenden Vorstellungen«78, die mein wahres Selbstsein gerade nicht ausmachen.79

4. »… gibt der Welt ein neuen Schein«. Karl Barths Verständnis von Weihnachten Wie Bultmann schrieb auch Barth allgemeinverständliche Weihnachtsartikel, in den Jahren 1926 bis 1932 sogar alljährlich für die »Münchner Neuesten Nachrichten«. Sieben Artikel erschienen, vermehrt durch zwei weitere aus dem Jahr 1933, gesammelt in dem Band »Weihnacht« (München 11934, Göttingen 21957).80 Lesenswert sind sie alle. Für einen Vergleich mit Bultmanns Ausführungen eignet sich besonders der Artikel aus dem Jahr 1931, der unter dem Titel »… gibt der Welt ein neuen Schein« erschien.81 Denn Barth widmet sich hier – wie Bultmann – ebenfalls der Interpretation der vierten Strophe von Luthers, nach dem Urteil Barths, »schönstem Weihnachtslied«.82 Die eröffnende Frage Barths lautet nicht wie bei Bultmann, warum wir an Weihnachten Kerzen anzünden, sondern: »Was bedeutet es für einen deutschen Menschen im Jahr 1931, die Weihnachtsbotschaft zu hören?«83 Wer so fragt, intendiert eine Kontextualisierung. Überraschenderweise verbietet sich Barth selbst 76

Bultmann, Weihnachten, 79. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 589 (Epilegomena). 78 Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 23; 29. 79 Vgl. zum Mythologie-Verständnis Bultmanns U.H.J. Körtner, Arbeit am Mythos? Zum Verhältnis von Christentum und mythischem Denken bei Rudolf Bultmann, in: ders., Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994, 137–165. 80 Vgl. Barth / Thurneysen, Briefwechsel 2, 637. 81 K. Barth, Weihnacht, Göttingen 21957, 44–51 (jetzt in und im Folgenden zit. nach: Barth, Predigten 1921–1935, 628–634). 82 Vgl. Barth, Predigten 1921–1935, 629. 83 A.a.O., 628. 77

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jedoch eine vorgängige Kontextbestimmung, auf deren Hintergrund er die Weihnachtbotschaft entfalten könnte, was er aber bewusst unterlässt. Barth lässt sich dies verboten sein und zwar aus einem zweifachen Grund: Zum einen weil er befürchtet, dass damit die Weihnachtsbotschaft als Wort Gottes einer vorgefassten Philosophie, Weltanschauung, einem bestimmten moralischen System unterstellt und untergeordnet würde; zum anderen, weil der Kontext – Barth selbst spricht vom »Ort«84 – doch zunächst verborgen sei und der Entschlüsselung bedürfe.85 Ebenso wie Bultmann spricht sich Barth für das Hören aus und reiht sich damit gewissermaßen in die reformatorische Tradition der fides ex auditu ein. Freilich wird man fragen müssen, ob dies bei Barth in anderer Reihung als bei Bultmann geschieht, ob also bei Barth prius und posterius nicht anders verteilt werden. Gewiss, auch bei Bultmann manifestiert sich nicht einfach eine Vorordnung des Kontextes und der Situation, in die hinein er redet. Das wäre zu simpel und würde Bultmann sicherlich nicht gerecht. Jedoch liefert das von Bultmann vorgeordnete Selbst- und Seinsverständnis zugleich die Brille für seine Wahrnehmung des Kontextes und der Situation. Bultmann schreibt für die Leserschaft der Weihnachtsausgabe der NZZ im Jahr 1953 und versucht deren Ort bzw. deren Situation im Sinne der existentialen Interpretation zu bestimmen. Hammann bemerkt dazu in seiner Bultmann-Biographie: »Bultmann [spürte] in Zürich, daß den Schweizern die Erfahrung der beiden Weltkriege erspart geblieben war. Aber ›das Gefühl der Sekurität wie der sich in Geschäften oder im Theater präsentierende Reichtum‹ kamen ihm ›etwas unheimlich vor‹. Indes konnte für ihn auch die äußere Saturiertheit des Lebens in der Schweiz nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade die Nachkriegszeit mit ihren ›politischen und wirtschaftlichen Verwirrungen‹ jene ›Unheimlichkeit und Dunkelheit der Welt‹ repräsentierte, die der Ausdruck einer strukturellen Diesseitsorientierung der menschlichen Existenz war. Dazu gehörten für ihn auch die Technik mit ihrer ›dämonischen Macht‹ und die Arbeitswelt, die die ›von ihnen besessenen Menschen‹ nicht in die Eigentlichkeit ihres Daseins gelangen ließ.«86

Auf dem Hintergrund dieser Kontextbestimmung legt Bultmann das Symbol des Lichtes, wie wir gesehen haben, anhand der vierten Strophe von Luthers Choral aus. Anders Barth, der zwar auch diese Strophe aufgreift, aber deutlich macht, dass es um die Betrachtung der Welt im Lichte des neuen Scheins geht, von dem 84

Ebd. Zu Barths Verständnis von »Kontext« vgl. M. Hofheinz, »Er ist unser Friede«. Karl Barths christologische Grundlegung der Friedensethik im Gespräch mit John Howard Yoder, FSÖTh 144, Göttingen 2014, 68–72. 86 Hammann, Rudolf Bultmann, 393. Nach O. Bayer (Theologie, 193) läuft Bultmanns Betonung der existentiellen Entscheidung des je Einzelnen Gefahr, »vom sozialen und politischen Gesamtzusammenhang zu abstrahieren.« Hinsichtlich seines NZZ-Artikels wird man dies nicht einfach bestätigen können. 85

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Luther redet. Es geht – wie Barth betont – um ein »Nachsagen« des Verstehen wollenden Glaubens (der fides quaerens intellectum) und zwar dem Wort Gottes hinterher. Man kann sich nach Barth nicht der Weihnachtsbotschaft bemächtigen, sie nicht auslegen und applizieren, »als ob sie irgendeine menschliche Weisheit wäre«.87 Man muss sich vorgängig an das Zeugnis der Heiligen Schriften als Bezeugung der Wirklichkeit der Weihnachtsbotschaft halten, als Bezeugung des Geheimnisses der Inkarnation: »[D]as Wort ward Fleisch [Joh 1,14], Gott ward unsereiner.«88 Dabei geht nach Barth, der als reformierter Theologe – anders als der Lutheraner Bultmann – differenztheologisch im Sinne des Extra-Calvinisticums denkt, das Wort nicht im Fleisch auf.89 Dementsprechend sind die Heiligen Schriften in einem analogen (und nicht univoken) Sinne als Wort Gottes zu verstehen, welches sie bezeugen: »[D]ie heiligen Schriften«, so Barth, sind »das Zeugnis derer, denen offenbar war, was uns zu glauben bleibt.«90 Barth kann sich gleichwohl auf Luther91 berufen: »Er [Luther; M.H.] nannte den Glauben den ›rechten Werkmeister‹ und hat den Glauben immer beschrieben als ein Sichklammern an das uns gegebene Wort im Zeugnis der heiligen Schriften. Wenn er recht hat, so wäre von dem, was die Weihnachtsbotschaft dem heutigen deutschen Menschen bedeuten könnte, vor allem dies so zu sagen, daß dieser Mensch glauben, d.h. daß von dorther, von diesem auch ihm jedenfalls nicht ganz unbekannten und unzugänglichen Zeugnis her seine Welt einen neuen Schein bekommen könnte.«92

Das ist der entscheidende Richtungssinn: von diesem Zeugnis her erhält die Welt einen neuen Schein, der nach Barth Trost und Weisung bedeutet.93 Was sich hier in der Auslegung Barths manifestiert, ist m.E. nichts Geringeres als die Umkehrung der gängigen hermeneutischen Perspektive, für die Bultmann freilich nicht direkt, sondern nur indirekt, d.h. qua Vorordnung der existentialen Interpretation, dem Nadelöhr seiner Bibelauslegung, steht. Diese Umkehrung ist m.E. für jede Predigtarbeit entscheidend und benennt insofern eine homiletische Grundentscheidung, die man mit dem Begriff »Intratextualität« belegen kann. Was meint »Intratextualität«?

87

Barth, Predigten 1921–1935, 628. A.a.O., 629. 89 Vgl. M. Hofheinz, Das gewisse Extra! Oder: Christologie als »Türöffner«? Das Ex­ tra-Calvinisticum und die »Lichterlehre« Karl Barths als Zugänge zu einer Theologie der Religionen, in: M. Hofheinz / K.-O. Eberhardt unter Mitarbeit von J.-Ph. Tegtmeier (Hg.), Gegenwartsbezogene Christologie. Denkformen und Brennpunkte angesichts neuer Heraus­ forderungen, Dogmatik in der Moderne 29, Tübingen 2020, 245–298. 90 Barth, Predigten 1921–1935, 629. 91 Vgl. WA 6, 213,13f. und ebd., 275,22ff. (Von den guten Werken, 1520). 92 Barth, Predigten 1921–1935, 629. 93 Vgl. a.a.O., 630. 88

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Barth fragt nicht, wie die lange vergangene Welt der Bibel für das Heute nach entsprechender Kontextualisierung aktualisiert werden kann, sondern wie unsere Gegenwart im Lichte der biblischen Botschaft aussieht.94 In seinem Aargauer Konferenzvortrag »Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke« (1920) bemerkt Barth bereits unmittelbar zu Beginn: »Was uns die Bibel an Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten hat, fragen wir. Diese Frage kehrt sich aber sofort um, richtet sich an uns selbst und lautet dann, ob und inwiefern wir denn in der Lage sind, uns die in der Bibel gebotene Erkenntnis zu eigen zu machen. […] Es kann sich ja eigentlich gar nicht fragen: Was bietet die Bibel? Sie hat schon geboten, unsre ganze Erkenntnis lebt von Erkenntnis Gottes. Wir sind nicht draußen, sondern drinnen.«95

Dieses Drinnen-Sein bringt der terminus technicus »Intratextualität« auf den Begriff. Eberhard Jüngel hat von der »prävenienten Bewegung biblischer Urteilskraft«96 gesprochen. Mit dem amerikanischen Homiletiker Richard Lischer lässt sich feststellen: Barth »liest die Welt mit Hilfe der Bibel.«97 Friedrich Mildenberger spricht in seiner »Kleinen Predigtlehre« von der »Gemeinde im Text«.98 George A. Lindbeck bringt das, was Intratexualität meint, wie folgt auf den Punkt: »It is the text, so to speak, which absorbs the world, rather than the world the text.«99 Es geht also darum, der Fraglichkeit unserer Gegenwart, also auch der Fraglichkeit dessen, was wir an Weihnachten tun und lassen, im Lichte der biblischen Botschaft gewahr zu werden.100 Freilich ist damit keineswegs eine pauschale Kanzelschelte gemeint,101 die sich über Weihnachtsmärkte, das Harmoniemilieu sowie klein- oder auch großbürgerliche Idyllen mokiert. Es könnte ja sein, dass man 94

Vgl. M. Hailer, Götzen, Mächte und Gewalten, BThS 33, Göttingen 2008, 62. K. Barth, Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke, in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, hg. in Verbindung mit F.-W. Marquardt von H.-A. Drewes, Karl Barth GA III/48, Zürich 2012, (662–701) 666f. Dazu: M. Weinrich, Die bescheidene Kompromisslosigkeit der Theologie Karl Barths. Bleibende Impulse zur Erneuerung der Theologie, FSÖTh 139, Göttingen 2013, 64–85. 96 E. Jüngel, Art. Barth, Karl, TRE 5 (1980), (251–268) 258. 97 R. Lischer, »Performing« the Scriptures. Die Schrift »darstellen«, PTh 84 (1995), (136– 149) 142. 98 F. Mildenberger, Kleine Predigtlehre, Stuttgart u.a. 1984, 156. Dort kursiv. 99 G.A. Lindbeck, The Nature of Doctrine. Religion and Theology in a Postliberal Age, Philadelphia 1984, 118. 100 Vgl. P. Biehl, Manifestation des Christusglaubens in den Festen. Zum Beispiel: Weihnachten, JRP 15 (1998), (105–128) 122: »Die mit dem Symbol des Kindes ursprünglich verbundenen Symbole des Seins, der Liebe, Zärtlichkeit, des Vertrauens, sind durch die Symbole des Habens, des Konsumismus bei diesem Fest verdeckt. Auf der anderen Seite wird das Brauchtum im Sinne einer verharmlosenden Idyllisierung in Anspruch genommen. Durch Symbol- und Ritualkritik sind die Ursprünge des Weihnachtsfestes erst wieder freizulegen.« 101 Vgl. Bukowski, Predigt wahrnehmen, 94–101; R. Bohren, Predigtlehre, München 5 1986, 410f. 95

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dabei dessen nicht gewahr wird, wie stark milieubehaftet die eigenen Klischeebildungen ausfallen. Das Verhältnis des biblischen Textes und des »Textes des Festes«, zu dem sich die Geschichten, die Bräuche und die Menschen, von denen das Weihnachtsfest lebt, verbinden, ist demnach so zu bestimmen,102 dass der »Text des Festes« im Lichte des biblischen Textes gelesen wird. Vom biblischen Text her ist nach der »Konvergenz zwischen biblisch begründeter und außerkirchlicher Festgestaltung«103 zu fragen, so Manfred Josuttis. Die entscheidende Frage ist mithin die nach der Perspektive. Denn um die Wahrnehmung von Weihnachten als solche kommt niemand herum. Josuttis stellt zu Recht fest: »Niemand kann Weihnachten nicht feiern. Noch in der Abgrenzung und in der Opposition wäre er vom Festgeschehen geprägt. Weihnachten ist eine totale Institution in der Zeit.«104 Doch zurück zu Barth. In seinem Text findet sich ein weiterer Zentralgedanke, der noch zur Sprache gebracht werden muss – und zwar im Lichte der Weihnachtsbotschaft bzw. desjenigen, der der Welt (vermittelt über seine Zeugen) einen neuen Schein gibt. Dieser weitere Zentralgedanke rankt sich um das Unprinzipielle bzw. die »Bohnenstangen«105 unserer »Prinzipien, Weltanschauungen, Überzeugungen«106, so Barth metaphorisch in Anlehnung an Hermann Kutter: »[D]as ewige Licht, das im Stall zu Bethlehem in die Welt hereingegangen ist, ist jedenfalls, wenn das Zeugnis von ihm recht ist, die denkbar unprinzipiellste Wirklichkeit: daß Gott Mensch ward, das springt aus allen Systemen heraus, wie oft man auch versucht hat, es in ein solches einzubauen. Das ist weder natürlich, noch logisch, noch rechtlich, noch geschichtlich zu begründen, das ist wahr als das ewige Licht, das im Unterschied zu allen unseren Lichtern keiner Speisung und keines Leuchters bedarf. Das ist wahr als die uns widerfahrene Barmherzigkeit.«107

Barth kommt dann auch auf die Gegenwart zu sprechen und zwar die politische des Jahres 1931. Er bezieht sich auf die Weihnachtsansprache des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und implizit wohl auch auf die anstehende Reichspräsidentenwahl zur damaligen Zeit der sog. »Präsidialkabinette«, in der es Hitler zu verhindern galt. Barth sieht in dem »vorbehaltlosen Glaube[n] an allerhand Prinzipien […] die besondere deutsche Form des Unglaubens«.108 Die autoritären 102

Vgl. K.-H. Bieritz, Ursprünge erinnern und fortschreiben, in: E. Domay (Hg.), Weihnachten, GDP.B 8, Gütersloh 1989, (7–16) 8. 103 M. Josuttis, Weihnachten – das Fest und die Predigt, in: P. Cornehl u.a. (Hg.), In der Schar derer, die da feiern. Feste als Gegenstand praktisch-theologischer Reflexion. FS Friedrich Wintzer, Göttingen 1993, (88–97) 91. 104 A.a.O., 88. 105 H. Kutter, Das Bilderbuch Gottes für Groß und Klein. I. Römerbrief Kapitel 1–4, Basel 1917, 248. 106 Barth, Predigten 1921–1935, 630. 107 A.a.O., 631. 108 Ebd.

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Vom Praktisch-Werden der Christologie

Prinzipienreiter links und rechts, die sich auf »Klasse« und »Volk« berufen109 – gemeint sind wohl einerseits die Kommunisten, die in der anstehenden Reichspräsidentenwahl mit ihrem KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann und für das Prinzip der klassenlosen Gesellschaft antraten, und andererseits die Nationalsozialisten mit Adolf Hitler, die aggressiv für das Prinzip der Herrschaft einer Rasse votierten. Gemeint sein könnte allerdings auch die »Prinzipienreiterei«, die im Jahr zuvor (1931) die Große Koalition unter Hermann Müller (Kabinett Müller II), das letzte Kabinett, das sich auf eine parlamentarische Mehrheit stützen konnte, zum Sturz brachte. Es ging damals um die Kompromissverweigerung bei der Arbeitslosenversicherungsreform. Ist der Parlamentarismus an »Prinzipienreiterei« gescheitert? Barth versteigt sich zu keiner Auskunft. Er stellt aber die Hypothese im Sinne eines Gegenmittels (Antidot) auf: Der deutsche Mensch von heute, der dem Zeugnis der heiligen Schrift glaubt, würde seine Prinzipien, seine »Bohnenstangen – gewiß nicht zerbrechen und wegwerfen, aber ihrem natürlichen Gebrauch zurückgeben. Er würde Furcht, Liebe und Vertrauen, die er jetzt an die Systeme verschwendet, dem schenken, dem sie allein gehören und der in kein System zu bringen ist. Und dann würde er – was wäre das für ein ›neuer Schein‹! – barmherzig werden.«110 Barth liest nicht einfach den Politikern der untergehenden Weimarer Republik die Leviten.111 Er votiert auch nicht einfach dafür, den greisen Hindenburg wiederzuwählen. Es geht ihm um mehr. Es geht ihm um eine Theologie, deren Prädikat auch, wenngleich nicht nur, das Politische ist.112 Es geht ihm um die Welt in dem neuen Schein, um die wirkliche Welt, wie sie an Weihnachten als solche im Zeugnis der heiligen Schriften vor Augen geführt wird. Nur weil es darum geht, geht es auch, wenngleich nicht nur, um den »Abschied vom Prinzipiellen« (Odo Marquard), geht es, was dasselbe meint, um ein Praktisch-Werden. Praktisch statt unpraktisch sein dürfen wir nach Barth, weil Gott selbst an Weihnachten praktisch geworden ist und in Christus mit uns zusammenkam, mit uns gemeinsame Sache machte, »wohlverstanden mit uns, mit denen er wegen seiner Heiligkeit gar nicht zusammenkommen konnte!«113 Dass Menschen in der verfahrenen politischen Situation der Gegenwart zusammenkommen, sich die Hand geben und einander helfen, scheint ausgeschlossen zu sein. Doch es scheint nur so zu sein – im

109

Vgl. a.a.O., 634. A.a.O., 632. 111 Zum Barth und der Weimarer Republik vgl. D. Schellong, »Ein gefährlichster Augenblick«. Zur Lage der evangelischen Theologie am Ausgang der Weimarer Zeit, in: H. Cancik (Hg.), Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, 104–135; E. Busch, Ein Zwischenruf – 1930. Kritik an der Protestantischen Kirche der Zwanziger Jahre, in: ders., Mit dem Anfang anfangen. Stationen auf Karl Barths theologischem Weg, Zürich 2019, 67–84. Vgl. fernerhin das umstrittene Werk: P.S. Peterson, The Early Karl Barth: Historical Contexts and Intellectual Formation 1905–1935, BHTh 184, Tübingen 2018. 112 Vgl. Hofheinz, »Er ist unser Friede«, 72. 113 Barth, Predigten 1921–1935, 633. 110

Noch einmal: Vom Praktisch-Werden der Christozentrik

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alten, nicht aber im neuen Schein der Welt. Der neue Schein desavouiert indes die Normativität des nach altem Schein Faktischen und bringt die Wahrheit ans Licht. Dieser neue Schein ist freilich allein Gottesgabe, nicht das Produkt einer wie auch immer gearteten, mehr oder weniger wohlfeilen Moralpredigt oder Appell­ ethik: »Der bloße Appell an die Liebe zum gemeinsamen Vaterland scheint nicht zu genügen, um uns in diesem Sinn praktisch zu machen. Und an den christlichen Glauben kann man nicht einmal appellieren, denn er ist wahrlich nicht so da, wie irgendeine Gesinnung da ist, an die man appellieren kann, sondern als Gottesgabe, die wir alle uns nicht nehmen können.«114 Es geht hier und heute nach Barth nur um den irdisch nuancierten, situationsbezogenen Komparativ, nicht den prinzipiellen und idealen himmlischen Superlativ. Es geht darum, dass wir »bei aller Prinzipientreue etwas praktischer«115 werden. Etwas praktischer meint auch wesentlicher werden – nicht zuletzt im Blick auf den Mitmenschen. Ihn im Lichte des neuen Scheins zu sehen, meint nicht, ihn »durch die Brille des Prinzips« zu sehen, sondern »um seiner selbst willen. So hat uns Gott gesehen, indem er Mensch wurde. […] Er hat uns um unserer selbst willen geliebt.« Barth bemüht hier erkennbar die Kant’sche Selbstzweckformel,116 jene Formel, in der Kant bekanntlich nach dem Urteil Barths als Christ redete.117

5. Noch einmal: Vom Praktisch-Werden der Christozentrik Dieses Praktisch-Werden will Programm sein – auch für die Theologie; nicht im Sinne eines Prinzips, auch nicht des »Prinzips Unprinzipialismus«. Das wäre mehr desselben Falschen. Es kann auch für die Theologie als wahrhaft praktische Theologie nicht um das Praktisch-Werden als Rechtsgrund der Wissenschaft gehen, 114

Ebd. Ebd. 116 Vgl. I. Kant, GdMS, BA 64. 117 K. Barth (Christliche Ethik. Ein Vortrag, München 1946, 11f.) kann in Bezug auf die Kant’sche Selbstzweckformel feststellen, dass der Königsberger Philosoph hier »als Christ geredet« habe: »Für die christliche Ethik kann der Mensch niemals [...] nur Mittel zum Zweck sein, sondern ihr ist er der Zweck selber, der Endzweck.« Barth begründet diese Aussage – notabene! – christologisch: »Ihr [der christlichen Ethik; M.H.] ist der elendeste Mensch, weil er ein Mensch ist, wichtiger als die herrlichste Sache. Warum? Weil der Mensch so herrlich ist, ein so gutes Wesen? Nein, aber darum, weil Gott ihn damit geehrt und ausgezeichnet hat, daß er selbst seinesgleichen wurde.« Barths These lässt sich in Bezug auf Kant »dogmengeschichtlich« dahingehend belegen, dass die Aussage, der Mensch sei um seiner selbst willen geschaffen, bereits der altprotestantisch überlieferten Schöpfungslehre entsprach. Vgl. z.B. Johann Andreas Quenstedts Aussage: »Finis intermedius est hominum utilitas. Omnia enim Deus fecit propter hominem, hominem autem propter se ipsum.« Zit. nach H. Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, hg. von H.G. Pöhlmann, Gütersloh 91979, 120. 115

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Vom Praktisch-Werden der Christologie

wie es Graf Peter Yorck von Wartenburg im Briefwechsel mit Wilhelm Dilthey, gewissermaßen stellvertretend für die Tradition der Neuzeit, ausgedrückt hat: »[D] as Praktisch werden können [...] bildet den Rechtsgrund aller [auch der theoretischen; M.H.] Wissenschaft.«118 Wenn das gelten würde, wäre das nach Barth ein neuer Prinzipialismus, wohlgemerkt ein solcher, der der neuzeitlichen Umstellung des Verhältnisses von Theorie und Praxis folgt und das theoretische Verstehen zunehmend am Praxis-Modell einer schaffenden und entwerfenden Vernunft orientiert. Barth verwirft nicht einfach dieses neuzeitliche Modell.119 Er pointiert aber im Sinne der »christologischen Konzentration« noch einmal anders. Es geht ihm beim Praktisch-Werden um nichts anderes als um die Menschwerdung. Bei Barth heißt es in seinem Weihnachtsartikel von 1931: Wenn der deutsche Mensch »glauben [würde], daß das in die Welt hereingegangene ewige Licht, Gott, der Mensch war, nach den heiligen Schriften glauben würde, dann würde er menschlich werden.«120 Die Menschlichkeit Gottes ermöglicht die Menschwerdung des Menschen und sie ermöglicht zugleich die Praktisch-Werdung des Menschen – und damit auch seiner Theologie. Insofern hat Theologie nach Barth genuin praktische Theologie zu sein: »Vera theologia est practica«121 – pointiert Luther; praktische Theologie, weil humane, an der Menschwerdung ausgerichtete Theologie, erläutert Barth. Eine solche praktische Theologie,122 die Barth als humane Theologie versteht, ist eine Theologie im Dienste der Gemeinde und gerade so im Dienste des Menschen.123 Wolf Krötke kommentiert: »Barths Theologie wird hier geradezu auf-

118

Graf P. Yorck von Wartenburg, Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dems. 1877–1897, Philosophie und Geisteswissenschaft Bd. 1, hg. von E. Rothacker, Halle 1923, 42. 119 Barths Verhältnis zur Neuzeit bzw. zur Moderne ist eines, wenn nicht gar das umstrittenste Kapitel der aktuellen Barth-Forschung. Die Literatur ist Legion. Ich verweise hier nur auf: D. Schellong, Es geht in der Theologie um unser Gottesverhältnis. Die Bedeutung der Theologie Karl Barths im Umbruch der christlichen Tradition, ZDTh 24 (2008), 8–30. Zur Diskussion vgl. S. Holtmann, Karl Barth als Theologe der Neuzeit. Studien zur kritischen Deutung seiner Theologie, FSÖTh 118, Göttingen 2007. 120 Barth, Predigten 1921–1935, 634. 121 WA.TR 1, 72,16f (Nr. 153, Veit Dietrichs Nachschriften). 122 Eine interessante Rekonstruktion der Entwicklung von Barths Theologie mit dem Attribut »praktisch« hat auch G. Pfleiderer (Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert, BHTh 115, Tübingen 2000) vorgelegt. Er zeigt u.a., dass Barth den theoretischen Akt des Begreifens »eo ipso als praktischen Akt der ›Teilnahme‹ gedeutet« (a.a.O., 328) hat. So auch Ch. Link, Bleibende Einsichten von Tambach, in: M. Beintker u.a. (Hg.), Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand. Beiträge zum Internationalen Symposion vom 1. bis 4. Mai 2003 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2005, (333–346) 340. Weiterführend: H. Theissen, Primäre und sekundäre Pragmatik im Werk Karl Barths. Ein Vorschlag zur Methode der Barthauslegung, ZDTh 31 (1/2015), 102–131. 123 K. Barth benennt zwölf Dienste der Gemeinde in KD IV/3 (§ 72,4), 991–1034.

Noch einmal: Vom Praktisch-Werden der Christozentrik

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dringlich praktisch.«124 Für Barth ist jedenfalls der mittelalterliche Streit darüber, ob die Theologie mehr theologia speculativa (Thomas von Aquin) oder mehr scientia practica (Duns Scotus, Wilhelm von Ockham) ist, längst zugunsten letzterer entschieden.125 Eberhard Jüngel bemerkt ganz im Sinne Barths: »Die Theologie ist als ganze praktisch. Theologie ist die wissenschaftliche Theorie von der stets neu zu gewinnenden Praxis der Kirche. Praktische Theologie ist als wissenschaftliche Theorie von der stets neu zu gewinnenden Praxis der Kirche nicht die Summe, wohl aber die Pointe der Theologie.«126 Albrecht Grözinger hat die These vertreten, dass »im theologischen Ansatz der Dialektischen Theologie ein größeres praktisch-theologisches Potential enthalten ist, als dies Barth und Thurneysen aufgedeckt haben.«127 Dies resultiere aus der christologischen Konzentration als Umschreibung des Denkweges Barths, der eben nicht bei einer kritisch-negierenden Position stehengeblieben sei, sondern sie ins Positive hinein radikalisiert habe.128 Diese These deckt sich m.E. mit Barths Selbstzuschreibungen. Barth versteht die »christologische Konzentration« keineswegs als Verengung, sondern als Horizonterweiterung, ja -eröffnung.129 Dementsprechend formuliert er das Paradox einer gerade aus der Konzentration resultierenden Öffnung und zwar im Sinne des dialektischen Zugleichs von zentrifugalen und zentripetalen Kräften. Barth betont, dass er »zugleich sehr viel kirchlicher und sehr viel weltlicher geworden«130 sei: »Nie zuvor meine ich so fröhlich in der wirklichen Welt gelebt zu haben wie gerade in der Zeit, die für meine Theologie jene vielen so mönchisch erscheinende Konzentration mit sich brachte.«131 Indem Barth im Sinne der »christologischen Konzentration« die Göttlichkeit Gottes als dessen Menschlichkeit entfaltet, erhält die menschliche Praxis und mit 124

W. Krötke, Gott und Mensch als »Partner«. Zur Bedeutung einer zentralen Kategorie in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik, ZThK Beiheft 6 (1986), (158–175) 170. 125 Zum Verhältnis von Theorie und Praxis vgl. H. Schröer, Art. Theorie und Praxis, TRE 33 (2001), 375–388. 126 E. Jüngel, Das Verhältnis der theologischen Disziplinen untereinander, in: ders., Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen, BEvTh 61, München 1972, (34–59) 56. Vgl. auch H. Gollwitzer, Befreiung zur Solidarität. Einführung in die Evangelische Theologie, München 1978, 47f.: »Versteht sich Theologie nach alter Definition als scientia practica, also aus Praxis für Praxis, so stellt das heute die Praktische Theologie in die Mitte eines theologischen Arbeitskollektivs. Sie ist nicht nur, wie für Schleiermacher, die ›Krone des theologischen Studiums‹, was ja immer noch nur eine dekorative Funktion andeuten könnte, sondern sie müßte das Herz der Theologie sein. Unter der Suggestion des neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffes, dem sich die theologischen Fakultäten gefügt haben, kam sie in die Aschenbrödelrolle, aus der sie immer noch nicht befreit ist. Versteht sich christliche Theologie recht, dann ist sie in ihrem Kern praktische Theologie; darum ist die Praktische Theologie der Kern eines theologischen Gremiums, dem die anderen theologischen Disziplinen als Hilfswissenschaften zuarbeiten.« 127 Grözinger, Offenbarung und Praxis, 183. 128 Vgl. ebd. 129 Vgl. a.a.O., 189. 130 Barth, How My Mind Has Changed, 186. 131 Ebd. Vgl. dazu auch Tietz, Karl Barth, 214f.

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Vom Praktisch-Werden der Christologie

ihr die Praktische Theologie das Achtergewicht seines Denkens. Nach Barth ist die communio sanctorum der Ort, wo die »Krone der Humanität, nämlich des Menschen Mitmenschlichkeit, sichtbar werden darf«.132 Wenn das aber gilt – so lässt sich mit Grözinger festhalten, »dann können Kultur und menschliches Handeln nunmehr positiv interpretiert und konzipiert werden. Allerdings ist der Weg dieser positiven Interpretation – und darin ist sich Barth treu geblieben – ein kritischer Prozeß. Denn der Mensch ›hat‹ seine Menschlichkeit nicht, er ›verfügt‹ nicht über sie, sondern sie ist geschenkte Wirklichkeit in der Entscheidung zu der geschehenen Erwählung durch Gott in der Person Jesu von Nazareth. Immer dort, wo der Mensch den Versuch unternimmt, selbstherrlich seine ›Menschlichkeit‹ zu ergreifen, fällt er aus seiner Bestimmung heraus. Der sich autark wähnende Mensch kann immer nur eine Unmenschlichkeit ergreifen. Insofern bleibt er auf das ihm fremde und zugleich doch so nahe Gegenüber Gottes angewiesen. Deshalb auch besteht Barth so energisch darauf, daß die Was-Frage vor der Wie-Frage, die Antwort Gottes vor der Frage des Menschen zu stehen habe. Eberhard Jüngel hat dies zu Recht als die ›eiserne Ration‹ der Barthschen Theologie bezeichnet.«133

Grözinger hebt zu Recht hervor, dass Barth hier gewissermaßen praxeologisch agiert bzw. einen hermeneutischen Schlüssel zu einer Theorie bzw. positiven Interpretation menschlicher Praxis gefunden habe: »Regulativ dieser Praxis ist die kritische Frage, inwieweit der Mensch in seinem Handeln dieser seiner Bestimmung entspricht. Insofern aber ist Praxis-Theorie in der Logik der Theologie Barths stets kritische Theorie. Theologie insgesamt und mit ihr die Praktische Theologie sind überhaupt erst als kritischer Begleiter der kirchlichen Praxis vonnöten, insofern diese Praxis stets und ›unter allen Umständen fehlbares Menschenwerk‹ [KD I/1, 2; M.H.] ist. Deshalb auch gibt es für diese Praxis keine neutralen Methoden und keine neutralem empirischen Fakten, sondern der – wie Barth formuliert – kritische ›Vorgang der theologischen Erkenntnisbildung wird der sein, daß ich meine Denken und meine Sprache [und man kann hier ergänzen: meine Praxis] bestimmen lasse durch meinen Gegenstand.‹ Dieser ›Gegenstand‹ der Theologie aber ist der in seiner Menschlichkeit in Jesus Christus gnädig erwählende Gott. Praktische Theologie wäre demnach zu beschreiben als ein Konfrontationsprozeß, indem sie die kirchliche Praxis befragt hinsichtlich ihrer Entsprechung zu der von Gott gewollten Menschlichkeit des Menschen. Insofern jedoch ist in der Logik der Barthschen Theologie der offenbarungstheologische – oder meinetwegen auch ›differenztheologische‹ – Ansatz Voraussetzung, Bedingung und Möglichkeit von Praktischer Theologie zugleich.«134

132

Barth, Die Menschlichkeit Gottes, 27. Grözinger, Offenbarung und Praxis, 184. Zit. wird E. Jüngel, Barth-Studien, ÖTh 9, Zürich u.a. 1982, 37. 134 Grözinger, Offenbarung und Praxis, 184f. Zit. wird K. Barth, Credo, München 41936, 159. 133

Fazit

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Barth schärft nicht nur die Differenz zwischen Gott und Mensch, Gott gewollter Menschlichkeit und Gott verneinender Unmenschlichkeit des Menschen ein, sondern auch zwischen kirchlich-praktischer bzw. praktisch-kirchlicher Verkündigung und dem Wort Gottes, so dass von daher gefragt werden kann, wie eine diesen Differenzen bewusste kirchliche Praxis aussieht.

6. Fazit Wir haben gefragt, wie Bultmann und Barth Weihnachten gefeiert haben. Der Befund mag ernüchternd ausfallen, wenn man sich beiden mit der Erwartungshaltung zuwendet, dass bei ihnen die strenge christologische Konzentration auch die harte Schale der Bürgerlichkeit durchbricht.135 Doch schließt die Feier der Weihnacht als Christusfest Bürgerlichkeit aus? Gewiss bleiben beide dem Gehäuse eines bestimmten Bürgertums verhaftet, Bultmann sicherlich noch stärker als Barth, der von Weihnachtsbäumen nichts hielt. Zu berücksichtigen ist bei Barth auch das »factum brutum«, dass er an Weihnachten oft in der Strafanstalt gepredigt hat. Hier hat er gewissermaßen »realiter« den bürgerlichen Rahmen durchbrochen.136 Dies expliziert er expressis verbis in der Adventspredigt von 23. Dezember 1962, also am Tag vor dem Heiligen Abend, unter Berufung auf das »Magnificat« (Lk 1,46–55)137 in der Strafanstalt Basel: »Meine lieben Brüder! Ich habe in der vergangenen Woche in der wohl Manchem von euch bekannten Migros-Zeitung ›Wir Brückenbauer‹ in einer Reportage unter dem Titel ›Weihnacht der Sträflinge‹ […] den Satz gelesen: ›Das Fest der Liebe und des Friedens – es will nicht so recht ins Zuchthaus passen.‹ Was man dann weiter las, war zwar sehr rührend, aber ganz ohnmächtig, und ich bin froh, daß ihr mich hier nicht so kläglich anschaut wie die Gefangenen, die dort abgebildet sind. Gegen jenen Satz muß man protestieren. Ich bin nicht so ganz sicher, ob das Weihnachtsfest ins Münster oder in die Engelgaßkapelle paßt, wo es von den besseren Leuten gefeiert wird. Wohl aber bin ich ganz sicher, dass es hierher und also ins Zuchthaus paßt. So war es gut, daß

135

Vgl. D. Schellong, Bürgertum und christliche Religion. Anpassungsprobleme der Theologie seit Schleiermacher, Theologische Existenz heute 187, München 21984, 96–115; ders., Von der bürgerlichen Gefangenheit des kirchlichen Bewußtseins. Dargestellt an Beispielen aus der evangelischen Theologie, in: G. Kehrer (Hg.), Zur Religionsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 1980, 132–166. 136 Diesen Hinweis verdanke ich der E-Mail Max Zellwegers vom 18. Februar 2019. 137 Vgl. zum »Magnificat« einführend: R. Feldmeier, Die synoptischen Evangelien, in: K.-W. Niebuhr (Hg.), Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung, UTB 2108, Göttingen 2000, (75–142) 118–120; N. Neumann, Armut und Reichtum im Lukasevangelium und in der kynischen Philosophie, SBS 220, Stuttgart 2010, 35–42.

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Vom Praktisch-Werden der Christologie ich meinen Text für diesen Sonntag schon vorher gewählt hatte. Hört ihn noch einmal: ›Hungrige hat er mit Gütern erfüllt und Reiche leer hinweggeschickt‹ [Lk 1,53].«138

An Weihnachten wird für Barth der »durchgehende Zug nach unten«139 deutlich, wie er das Evangelium kennzeichnet. Barth betrachtet Weihnachten gleichsam vom Kreuz her. Christologische Konzentration meint hier, dass Barth das »Gesetz der tapeinophrosynē«140 (vgl. Phil 2,6) als das des sich selbst erniedrigenden Christus interpretiert. Krippe und Kreuz gehören zusammen und stehen paradoxerweise im Verweisungszusammenhang der Divinität Jesu. Anders gesagt, ist die staurozentrisch verstandene Weihnacht Barths Interpretament der wahren Gottheit Christi.141 Seine Gottheit schließt die Krippe und das Kreuz keineswegs aus, so wie auch das Weihnachtsfest die Strafanstalt nicht aus-, sondern einschließt, ja gerade mustergültig zu ihr passt: »In ein Haus, in welchem die Mühseligen und Beladenen, die Armen und Elenden, die wirklich Hungrigen wohnen – und also in ein Haus wie das, in dem wir uns gerade befinden – passt so recht das Weihnachtsfest. Nur in ein solches Haus! Aber in ein solches ganz sicher!«142 In der Fleischwerdung Jesu Christi in einem solchen Haus offenbart sich, wer Gott ist. Barths Schüler Helmut Gollwitzer hat unter expliziter Berufung auf Barth in einer Predigt zum »Magnificat« den auch die Bürgerlichkeit betreffenden »Kollisionskurs«143 Barth’scher Weihnachtstheologie mit dem Diktum angezeigt: »Gott ist der Revolutionär.«144 Wirft man nun nochmals einen Blick auf Bultmanns Weihnachtspraxis, so lässt sich festhalten: Bei Bultmann wird wohl in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Texten der Schrift, auch den Weihnachtlichen, reichlich entmythologisiert, nicht jedoch in der Wohnstube.145 Bultmann ist weit davon entfernt, 138

K. Barth, Doppelte Adventsbotschaft. Predigt zu Lk 1,53 vom 23.12.1962 in der Strafanstalt Basel, in: ders., Predigten 1954–1967, hg. von H. Stoevesandt, Karl Barth GA I/12, Zürich 21981, (211–219) 211f. 139 Barth, KD IV/1, 207. 140 A.a.O., 206. 141 Vgl. ebd.: »Wahre Gottheit ist im Neuen Testament das Sein in der schlechthinnigen Freiheit der Liebe und also das Sein des Hohen, der nicht nur auch, sondern gerade in seiner Niedrigkeit hoch, allmächtig, ewig, heilig, gerecht und herrlich ist. Die direkte neutestamentliche Bezeugung solcher, dieser Gottheit Christi ist die Bezeugung des Menschen Jesus selbst als des für uns Fleisch gewordenen, leidenden, gekreuzigten und gestorbenen Gottessohnes, die Botschaft von Christus als dem Gekreuzigten.« 142 Barth, Doppelte Adventsbotschaft, 218. 143 Schellong, Bürgertum und christliche Religion, 96. 144 H. Gollwitzer, Wendung zum Leben. Predigten 1970–1980, München 1980, 111–119. 145 Dass ein Bezug zwischen Religionskritik und Entmythologisierung besteht, Barth mithin »dem Thema nicht ausgewichen ist, sondern es auf seine Weise gesehen und in seinen eigenen Denkzusammenhängen bearbeitet hat«, zeigt F.-W. Marquardt (Religion und Entmythologisierung, in: ders., Verwegenheiten. Theologische Stücke aus Berlin, München 1981, 339–380, 339): »Barth unterscheidet sich von Bultmann darin, daß die Mythosproblematik ihn nicht zur Umwandlung der Theologie in Hermeneutik führt; er versteht es, auch diese Sache theologisch spezifisch, nicht allein als Methodenfrage zu behandeln.«

Fazit

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die »gute Stube« an Weihnachten zum Opfer eines Bildersturms werden zu lassen – auch nicht um des Entmythologisierungsprogramms willen. Soweit reicht sein Praktisch-Werden nicht. Die bürgerliche Textur des Festes bleibt unangetastet, so dass man wird fragen müssen, ob es sich bei seiner Weihnachtspraxis nicht gewissermaßen um die »Selbstaufstufung eines neuzeitlichen Kulturchristentums« (Georg Pfleiderer) handelt. War Bultmann gleichsam – um ein bekanntes Wort Friedrich Heinrich Jacobis bzw. Friedrich Schleiermachers aufzugreifen und umzuwandeln – weihnachtstheologisch ein Christ im Kopf, weihnachtspraktisch hingegen ein Heide im Bauch?146 Bultmanns Weihnachtspraxis stünde dann unvermittelt seiner »Weihnachtstheorie« gegenüber, die indes theologisch genauestens darum weiß, dass das Weihnachtsfest sehr viel mehr ist als nur ein Sediment neuzeitlich-europäischer Kultur bzw. nur deren wirklichkeitsverklärendes Symbolsystem. Man wird freilich auch sagen dürfen: Der Marburger Theologe hat sicherlich einen weitaus stärkeren Sinn für das Weihnachtsritual als sein Basler Kollege, wie aus seiner minutiösen Schilderung des »Heiligen Abends« hervorgeht. Im bürgerlichen Hause Bultmanns gar eine durch Konsum geprägte Oase der Nostalgie zu sehen, wie dies für viele deutsche Haushalte der Nachkriegszeit und des Wirtschaftswunders gelten mag, wäre gänzlich unfair, ja nicht zuletzt anachronistisch. Bultmann stammte aus einer anderen Generation. Er war damals, als er seine Weihnachtsartikel schrieb, bereits ein alter Wal bzw. Elefant, je nachdem, welches Parabeltier man ihm zuordnet. Barths Haltung zur Weihnacht und sein Sinn für Familienrituale fiel zweifellos reformiert-nüchterner aus als bei Bultmann. Aber auch bei Barth erschallt an Weihnachten nicht das Törö eines Sturms auf die Bastille der Bourgeoisie, gleichwohl erklingt die subversive, auch bürgerliche Ordnungsvorstellungen nicht unberührt lassende Botschaft von der Menschwerdung Gottes in Christus. Die spannungsvolle Gesamtgemengelage der »Notgemeinschaft« im eigenen Haus hat dazu neben der konfessionellen Herkunft sicherlich ein Übriges getan. In seiner Darstellung der Schleiermacher’schen »Weihnachtsfeier«147 hatte Barth im Jahr 1924 Vgl. fernerhin: E. Hübner, Entmythologisierung als theologische Aufgabe, in: E. Busch u.a. (Hg.), Parrhesia. FS Karl Barth für 80. Geburtstag, Zollikon-Zürich 1966, 99–157. 146 Vgl. zum Dictum »im Herzen/Gemüt ein Christ, im Verstand eine Heide« mit Belegen: G. Ebeling, Wort und Glaube Bd. 3: Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie, Tübingen 1975, 72ff. 147 F.D.E. Schleiermacher, Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch (1806), in: KGA I/5: Schriften aus der Hallenser Zeit 1804–1807, hg. von H. Patsch, Berlin / New York 1995, 39–100. Vgl. dazu D. Schellong, Schleiermachers »Weihnachtsfeier«. Ein Dokument des evangelischen Bürgertums zum Anfang des 19. Jahrhunderts, in: R. Faber / E. Gajek (Hg.), Politische Weihnacht in Antike und Moderne. Zur ideologischen Durchdringung des Fests der Feste, Würzburg 1997, 75–85; H. Forssman, »Alle Menschen sind mir heute Kinder«. Weihnachten als Fest der Schöpfung und der Erlösung. Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen 1998, 39–68; D. Korsch, Weihnachten – Menschwerdung Gottes und Fest der Familie. Systematisch-theologische Gedanken zu gelebter Religion, IJPT

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Vom Praktisch-Werden der Christologie

den Satz gewagt: »[D]ie Musik und das Ewig-Weibliche, die hier noch einmal ›gelobt‹ und ›gerühmt‹ werden, sie sind als via regia zu dem Unaussprechlichen die eigentliche theologische Substanz des kleinen Meisterwerkes.«148 Doch ist Barth über Schleiermacher hinausgekommen? Lebenspraktisch und ritualbezogen? Bultmann hatte diesen Anspruch nicht, jedenfalls nicht im Maße der Barth’schen Ausprägung. Bultmanns Abgrenzung auch gegenüber der liberalen Theologen fiel zeitlebens weitaus weniger scharf und insurgent aus als bei Barth, dessen »Kehre« mehr sein dürfte als nur eine schlichte krisenrhetorisch zugespitzte Form der Selbststilisierung, mehr auch als der »Pulverdampf der nachdialektischen Abgrenzungspolemik«.149 Bultmann sah sich, anders als dies für Barth gilt, zeitlebens in der Tradition seiner Lehrer stehen. Und auch die bürgerliche Tradition des Weihnachtsfestes findet bei ihm eine doch recht ungebrochene Prolongatur.150 Er hat das Weihnachtsereignis und seine eigene häusliche Weise, dieses Fest lebenspraktisch und d.h. ritualbezogen zu begehen, in größerer Harmonie gesehen als dies für Barth gilt. Und doch ist für ihn – wie gesagt – das Weihnachtsereignis keineswegs deckungsgleich mit einem Familienritual oder einer überkommenen bürgerlich-christlichen Tradition. So heißt es in seinem NZZ-Artikel: »[D]as ewige Licht wird nie zu einem hiesigen. Das meint: das ewige Licht kann nie zu unserem Besitz, zu einer Qualität unseres Wesens, zu einer Charaktereigenschaft werden. Es kann immer nur und immer nur wieder als Geschenk empfangen werden. Sein Strahl kann und muß uns immer wieder aus der Ewigkeit, aus dem Jenseits unserer Welt treffen.«151 Hinsichtlich der Frage, was wir an Weihnachten feiern, antwortet Bultmann mit Verweis auf das eigentümliche Paradox, »daß ein historisches Ereignis zugleich das ›eschatologische‹ Ereignis ist. Dieses Bewußtsein soll freilich unsere ganze Existenz auch im Alltag tragen in dem Sinne, daß wir dessen inne werden, daß jeder Augenblick unseres Lebens die Möglichkeit hat, ein ›eschatologischer‹

2 (1999), 213–228, bes. 222–225; F. Wittekind, »... die Musik meiner Religion.« Schleiermachers ethische Funktionalisierung der Musik bis zur Weihnachtsfeier und seine Kritik der frühromantischen Kunstreligion, in: A. Arndt u.a. (Hg.), Christentum – Staat – Kultur. Akten des Schleiermacher-Kongresses Berlin 2006, Berlin / New York 2008, 271–300; ders., Das Gespräch über »Die Weihnachtsfeier«, in: M. Ohst (Hg.), Schleiermacher Handbuch, Tübingen 2017, 178–188 (Lit.). 148 K. Barth, Schleiermachers »Weihnachtsfeier« (1924), in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. von H. Finze, Karl Barth GA III/19, Zürich 1990, (458–489) 486. 149 M. Laube, Die Unterscheidung von Theologie und Religion. Überlegungen zu einer umstrittenen Grundfigur in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts, ZThK 112 (2015), (449–467) 453. 150 Vgl. R. Bultmann, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Erster Band, Tübingen 41961, 1–25. 151 Bultmann, Weihnachten, 78.

Fazit

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Augenblick zu sein.«152 Der eschatologische Augenblick153 und zwar in der der »Wirklichkeit« ontologisch vorgeordneten Modalität der »Möglichkeit«154 – präzise darum geht es nach Bultmann auch an Weihnachten, um das Ereignis, das uns in der Verkündigung in Gestalt der Predigt als Anrede Gottes treffen kann und will. Dieses Ereignis ruft in die Entscheidung als existentiellen Vollzug, ansonsten bleibt der eschatologische Augenblick ein ungenutzter Potentialis, als ungenutzter, uneingelöster Potentialis aber eben ein Irrealis des Lebens. In diesem Sinne bemerkt Bultmann: »Weihnachten hat seinen Sinn in dem Satz, daß das historische Ereignis, Jesus von Nazareth, das ›eschatologische‹ Ereignis ist. Aber dieser Satz erfüllt seinen Sinn an uns nur, wenn wir unser Leben unter das Licht der Weihnacht stellen, das bedeutet: wenn wir dafür offen bleiben, daß jeder Augenblick unseres Lebens ein ›eschatologischer‹ Augenblick sein kann und als solcher uns erfaßt und verwirklicht werden soll. Zu solcher Bereitschaft ruft uns das Wort Gottes, wie es in der Weihnachtsgeschichte aus Engelsmund erklingt: ›Siehe, ich verkündige euch große Freude!‹«155

Mit diesen Worten wird die christologische Konzentration im Sinne der existentialen Interpretation kerygmatheologisch und präsentisch-eschatologisch, ja situativ-anitihabitualistisch auf das Äußerste zugespitzt. Auch bei Barth finden wir eine christologische Konzentration im Blick auf die Interpretation der Weihnachtsbotschaft. Sie zeigt sich auch und gerade in dem religionskritischen Versuch156 und Bemühen, die Äußerlichkeit des Weihnachtsfestes zu durchbrechen. Denn »[a]ller Lichterglanz der Weihnacht kann uns dar152

Bultmann, Sinn, 139. In diesem Sinne gelten die berühmten Sätze: »Je in deiner Gegenwart liegt der Sinne der Geschichte, und du kannst ihn nicht als Zuschauer sehen, sondern nur in deinen verantwortlichen Entscheidungen. In jedem Augenblick schlummert die Möglichkeit, der eschatologische Augenblick zu sein. Du mußt ihn erwecken.« R. Bultmann, Geschichte und Eschatologie, Tübingen 1958, 184. Vgl. auch ders., Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze Dritter Band, Tübingen 1960, 91–106. 153 Treffend bemerkt H. Dembowski, Einführung in die Christologie, Darmstadt 31993, 170: »Die paradoxe Einheit von Diesseits und Jenseits im Gekommensein Jesu, im Kerygma als Anrede, in der das Heilsgeschehen in Jesus präsent ist, ereignet sich das Eschaton, die Weltenwende im Augenblick: Das ist nun die Aufgabe der Theologie, dieses Wort vom Kreuz verständlich zu machen, und zwar nicht durch eine dogmatische Theorie von dem stellvertretenden Sühneleiden Jesu Christi, sondern als das Wort, das den Hörer selbst unter das Kreuz ruft.« 154 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 91960, 38: »Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit.« 155 Bultmann, Sinn, 140. 156 Vgl. M. Hofheinz, Radikale Weihnacht oder: Weihnachten als »Götterdämmerung«. Eine Weihnachtspredigt zu Joh 1,14a als Beispiel theologischer Religionskritik, in: M. Hofheinz / R. Meyer zu Hörste-Bührer (Hg.), Theologische Religionskritik. Provokationen für Theologie und Kirche, FRTH 1, Neukirchen-Vluyn 2014, 206–232; M. Hailer, Weihnachten als Religionskritik, in: M. Zeindler / D. Plüss (Hg.), »In deiner Hand meine Zeiten…«. Das

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Vom Praktisch-Werden der Christologie

über nur auf eine kurze Weile täuschen, daß es Nacht um uns ist«157, wie um die Hirten von Bethlehem. Auch Barth muss den »Jargon der Eigentlichkeit« bedienen, wenn er selbstkritisch eingesteht: »Es ist doch wohl so, daß eigentlich unser ganzes Leben in dieser Zeit ein einziger Heiliger Abend sein darf und muß zu unserer Vorbereitung auf das eine, große und endgültige, das ewige Weihnachtsfest, das das Ziel aller Wege Gottes mit dem Menschengeschlecht und aller seiner Wege auch mit jedem Einzelnen von uns ist.«158 Hic et nunc gilt indes: »›Das Wort ward Fleisch‹ [Joh 1,14] – es bleibt also der Offenbarung und des Glaubens bedürftig, es bleibt also dem Ärgernis ausgesetzt. Es ist also nur das Vorbild seiner eigenen künftigen Offenbarung, es ist also wirklich selber ganz und gar Verheißung – aber erfüllte Verheißung, weil das Verheißene, der Verheißene, selber sein Inhalt und sein Träger ist.«159 Abschließend sei eine etwas umgewandelte Bemerkung Jan M. Lochmans zitiert: »Barths eigenes Bild vom Elefanten und vom Wal ist oft strapaziert worden. Und doch wäre es falsch, jenes Barth’sche Wort vom gegenseitigen fassungslosen Staunen statisch zu verabsolutieren. Mögen die beiden Theologen noch so verschieden sein – in einem entscheidenden Punkt (oder besser: in einer entscheidenden Ausrichtung) sind sie sich nahe: nämlich im Programm (wenn nicht in der Ausführung) einer christologischen Theologie. Auch Bultmann versteht sich als ›christozentrischer Theologe‹; das Christusereignis ist das unaufgebbare Zentrum des Neuen Testaments. In der faktischen Explikation dieses Ereignisses trennen sich die Wege«,160

im Praktisch-Werden der Christologie – auch an Weihnachten.

Kirchenjahr – reformierte Perspektiven, ökumenische Akzente, reformiert! 4, Zürich 2018, 57–73. 157 Barth, Predigten 1921–1935, 581. 158 Barth, Predigten 1954–1967, 250. 159 K. Barth, Verheißung, Zeit – Erfüllung (1930), in: ders., Weihnacht, Kleine Vandenhoeck-Reihe 48, Göttingen 21957, (35–43) 42. Zit. nach Barth, Predigten 1921–1935, 597. 160 J.M. Lochman, Christus oder Prometheus, 100f.

e. Christologie religionsunterrichtlich Auf dem Weg zu einer Christologiedidaktik im Kontext der Schule

IX. Dem Geheimnis der Sohnschaft auf der Spur oder: Wer ist Jesus? Annäherungen an eine Christologiedidaktik anhand biblischer Texte zum Sohn-Gottes-Prädikat im Markusevangelium1

Ulrich Becker zum 85. Geburtstag in Dankbarkeit gewidmet

1. Zur Grundlegung einer biblisch angeleiteten Christologiedidaktik 1.1 Das markinische Sohn-Gottes-Prädikat als Ausgangspunkt der Christologiedidaktik Dietrich Bonhoeffer schrieb einst aus seiner Tegeler Haftzelle an seinen Freund Eberhard Bethge: »Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist.«2 Diese Frage Bonhoeffers dürfte Christenmenschen aller Zeiten und Konfessionen bewegt haben und bewegen. Die Frage nach der Person und dem Sein Jesu ist für den christlichen Glauben zentral – für jede Generation neu. Der Glaube bezieht sich auf Christus und erhält von dorther seine Prägung. Christologie gehört dementsprechend zum Kernbestand christlicher Theologie. Die christologische Frage ist auch für schulische und gemeindliche Bildung zentral: »Die Christologie als das Zentrum der Theologie zu verstehen ist unabweisbar […]. Mit der Konzentration auf die Christologie im Religionsunterricht ist zunächst festgehalten, dass sie immer Gegenstand des Religionsunterrichts war und ist und darum nicht außer Acht gelassen werden kann.«3 Es verwundert 1

Ein Vortrag, gehalten am 26. April 2014 in Hannover vor dem »Aktionsausschuss Niedersächsischer Religionslehrerinnen und Religionslehrer« (ANR). 2 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Ch. Gremmels u.a., DBW 8, Gütersloh 1998, 402 (Brief vom 30. April 1944). Dazu: M. Welker, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 22012, 17–19; R.K. Wüstenberg, Christologie. Wie man heute theologisch von Jesus sprechen kann, Gütersloh 2009, 65–68; G.W. Stroup, Why Jesus Matters, Louisville 2011, 3–6. 3 I. Schoberth, Einleitung: Jesus Christus und die Bildung, in: dies. / I. Kowaltschuk (Hg.), »Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs?« (Lk 24) – Chris-

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nicht, dass G. Büttner in seiner Habilitationsschrift »Jesus hilft!« zu dem Resümee gelangt, »dass Schüler/innen offensichtlich am Streit darüber, wer dieser Jesus Christus für sie heute sein kann, durchaus Interesse haben«.4 Das lässt sich nach Büttner und Dieterich auch entwicklungspsychologisch erhärten.5 In der Konsequenz generiert die Frage nach der Identität im Blick auf den Religionsunterricht eine Fülle von Anschlussfragen, wie etwa die Folgenden: »Welches didaktische Interesse liegt den in den Lehrplänen ausgewiesenen Jesusgeschichten zugrunde? Welches Jesusbild wollen sie vermitteln bzw. welcher Begriff von Jesus soll im Rahmen des Religionsunterrichts […] aufgebaut werden?«6 Wie lautet indes die Antwort auf die Frage, wer Christus ist? Die biblisch prominenteste Antwort dürfte der Sohn-Gottes-Titulus, d.h. der Hoheitstitel »Sohn Gottes«, geben. Dieser Umstand deckt sich übrigens mit der Vorliebe von Kindern und Jugendlichen: »Unter den christologischen Titeln ist der Sohn-Gottes-Titel derjenige, den Kinder und Jugendliche am häufigsten verwenden. Das ist insofern nicht verwunderlich, als sie diesen Titel an ihre eigene familiäre Lebenswirklichkeit assimilieren können.«7 Im Blick auf die Bibel gilt: »Ist der Christustitel mit dem tologie im Religionsunterricht, Heidelberger Studien zur Praktischen Theologie 15, Münster 2010, (11–18) 11. I. Schoberth (Jesus Christus und die Bildung – Dramaturgisches zum Bildungsverständnis christlicher Religion – christologisch gebildet? Jahrbuch für kirchliche Bildungsarbeit 5, Stuttgart 2011, 29–39, 29) weist eindringlich auf »die genuine Aufgabe religiöser Bildung [hin], erprobende Wege der Wahrnehmung Jesu Christi zu eröffnen.« Vgl. J. Woyke, »Ein Mensch aus Fleisch und Blut – und nicht Gottes Sohn!« Herausforderungen und Grenzen einer elementarisierenden biblischen Didaktik in der gymnasialen Oberstufe, in: M. Bachmann / J. Woyke (Hg.), Erstaunlich lebendig und bestürzend verständlich? Studien und Impulse zur Bibeldidaktik, Neukirchen-Vluyn 2009, (333–356) 351: »Dass […] gerade auch die Auseinandersetzung mit der Person Jesu von Nazareth als ›wahrem Gott und wahrem Mensch‹ notwendig und wesentlich verhilft, ist Grundmoment religionsdidaktischer Bildungsarbeit.« 4 G. Büttner, Jesus hilft! Untersuchungen zur Christologie von Schülerinnen und Schülern, Stuttgart 2002, 280. 5 G. Büttner / V.-J. Dieterich, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, Göttingen 2013, 190–206. So auch explizit F. Kraft / H. Roose, Von Jesus reden im Religionsunterricht. Christologie als Abenteuer entdecken, Göttingen 2011, 51. Vgl. fernerhin: M. Zimmermann, Die (Be-)Deutung des Todes Jesu in der Religionspädagogik. Eine Skizze, in: J. Frey / J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, Tübingen 2005, (609–647) bes. 638–645. 6 H. Harnisch, Mensch und Gottes Sohn – Auf dem Weg zu einem christologischen Verständnis von Jesus Christus, in: A.A. Bucher u.a. (Hg.), »Im Himmelreich ist keiner sauer.« Kinder als Exegeten, Stuttgart 2003, (122–131) 122. 7 Kraft / Roose, Von Jesus reden, 86. Beide weisen darauf hin: »Die individuellen Füllungen dieses Titels werden von den individuellen Erlebnissen im Bereich der Vater-Sohn-Beziehung abhängen. Der Titel umschreibt jedenfalls aus Sicht der Kinder und Jugendlichen das besondere Verhältnis zwischen Jesus Christus und Gott. Nur Jesus Christus ist der Sohn von Gott, auch wenn alle Menschen ›Kinder Gottes‹ sind.« Ebd. Vgl. M. Zimmermann, Kindertheologie als theologische Kompetenz von Kindern. Grundlagen, Methodik und Ziel kindertheologischer Forschung am Beispiel der Deutung des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 2010, 348; 366.

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Jesusnamen verschmolzen und als Titel mehr auf den zweiten Blick erkennbar, darf ›Sohn Gottes‹ als die gewichtigste und wirkungsgeschichtlich ›erfolgreichste‹ Kennzeichnung Jesu von Nazareth gelten.«8 Eine besondere Bedeutung gewinnt die Bezeichnung »Sohn Gottes« im Markusevangelium. Hier fungiert die Frage »Wer ist Jesus?« als eine Leitfrage, die der Erzählduktus verfolgt.9 Dort nimmt das Christusprädikat bzw. der Hoheitstitel »Sohn Gottes«, in dessen Lichte die anderen Hoheitstitel gesehen werden wollen, eine exponierte Stellung ein, wie folgender Überblick veranschaulicht:10 A) »Sohn Gottes« (υἱὸς θεοῦ) bei Markus (5x) • 1  ,1 (Überschrift): »Dies ist der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes.« Dämonen sprechen Jesus als Gottessohn an: • 3  ,11: »Und wenn ihn [Jesus] die unreinen Geister sahen, fielen sie vor ihm nieder und schrien: Du bist Gottes Sohn.« • 5,7: Der besessene Gerasener schreit laut: »Was willst du von mir, Jesus, du Sohn Gottes, des Allerhöchsten?« Passionsgeschichte: • 4  ,61f. (Verhörszene): »Und da fragte ihn der Hohepriester abermals und sprach zu ihm: Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? Jesus aber sprach: Ich bin’s«. • 15,39: Bekenntnis des römischen Hauptmanns unterm Kreuz: »Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!«

8

G. Bausenhart, Einführung in die Theologie. Genese und Geltung theologischer Aussagen, Freiburg i.Br. u.a. 2010, 79. So auch H. Conzelmann / A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Göttingen 121998, 490: »Der Titel ›Sohn Gottes‹ ist in der christlichen Kirche der gebräuchlichste geworden (›Christus erscheint ja zunehmend als ›Bei­name‹ Jesu und nicht mehr als Titel).« Zur Wirkungsgeschichte in der Alten Kirche vgl. A.I.C. Heron, »Logos, Image, Son«: Some Models and Paradigms in Early Christologie, in: R.W.A. McKinney (Hg.), Creation, Christ and Culture. Studies in Honor of T.F. Torrance, Edinburgh 1976, 43–62. 9 So auch P. Müller, Mit Markus erzählen. Das Markusevangelium im Religionsunterricht, Stuttgart 1999, 22. 10 Außen vor bleibt in dieser Synopse das absolute »Der Sohn« (ὁ υἱός) aus Mk 13,30–32: »Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht. Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen. Von dem Tag aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.«

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B) »Mein lieber Sohn« (ὁ υἱός μου ὁ ἀγαπητός) bei Markus (2x) Himmelsstimme in der Erzählung von Taufe und Verklärung: • 1,11: »Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.« • 9,7: »Das ist mein lieber Sohn; den sollt ihr hören!« Markus zeichnet anhand dieses Titels11 den Weg Jesu nach: »Dem υἱὸς θεοῦ-Titel (›Sohn Gottes‹) kommt innerhalb des Aufbaus des Evangeliums eine ganz besondere Bedeutung zu, denn er strukturiert nicht nur die Erzählung […], sondern beantwortet prägnant die Leitfrage der mk. Christologie: ›Wer ist dieser?‹.«12 Im Markusevangelium ist der Gebrauch dieses Christusprädikats mit dem Motiv des Persongeheimnisses Jesu korreliert. Danach weiß vor Ostern niemand, wer Jesus ist. Das Gespräch zwischen dem Sohn und dem Vater findet in der Verborgenheit des Himmels statt (Mk 1,2f.); auch bei der Taufe wird von keinen Ohren- und/ oder Augenzeugen berichtet (Mk 1,10–12). Die Dämonen, die wissen, wer Jesus ist, werden mit einem Schweigegebot belegt (vgl. Mk 1,24f.; 1,34; 3,11f.; 5,7). Dies gilt auch für die Geheilten, die nicht über ihre Heilung sprechen sollen (Mk 1,44; 5,43; 7,36). Die drei Jünger Jesu, die Zeugen seiner Verklärung geworden sind, werden ebenfalls mit einem Schweigegebot belegt: »Als sie aber von dem Berg hinabstiegen, gebot er ihnen, sie sollten niemandem darlegen, was sie gesehen hatten, sondern erst dann, wenn der Menschensohn von den Toten auferstanden sei« (Mk 9,9; so auch 5,43; 8,30; 9,30f.). Das wahre Wesen Jesu, das in seiner Göttlichkeit in der Verklärung offenbar wird, erschließt sich demzufolge erst von seinem Kreuzestod und seiner Auferstehung her. Der Hauptmann unterm Kreuz ist der erste, der das Geheimnis mit dem Bekenntnis: »Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen« (Mk 15,39), öffentlich ausspricht. Das Persongeheimnis Jesu wird nach Markus erst durch den Auferstandenen selbst erschlossen. Wer also der vorösterliche irdische Jesus war, das kann man nach Markus erst seit Ostern wissen. Von daher erklärt sich auch der merkwürdige, ursprüngliche Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,1–8), der abgebrochen wirkt. Der junge Mann im leeren Grab fordert die Frauen auf: »Erschreckt nicht! Jesus sucht ihr, den Nazarener, den Gekreuzigten. Er ist auferweckt worden, er ist nicht hier. Das ist die Stelle, wo sie ihn hingelegt haben. Doch geht, sagt seinen Jüngern und dem Petrus, dass er euch vorausgeht nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat« (Mk 16,6f.). Diese Aufforderung lässt sich gleichsam rezeptionsästhetisch bzw. lesechristologisch13 erklären: »Literarisch weist diese Aufforderung [sc. Mk 16,7] die Leserinnen und Leser […] in einen Lesekreis ein. Nach Galiläa zu gehen, bedeutet, die Schrift vorn aufzuschlagen und von neuem zu lesen. Denn in Galiläa 11

Der Titel erscheint »at climactic points in this Gospel«. So C.C. Black, Mark. Abingdon New Testament Commentaries, Nashville 2011, 47. Vgl. a.a.O., 205. 12 U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 376. 13 Von einer »Lesetheologie« sprechen K. Huizing, U.H.J. Körtner und P. Müller in: dies., Lesen und Leben. Drei Essays zur Grundlegung einer Lesetheologie, Bielefeld 1997.

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hatte die Geschichte Jesu ihren Anfang genommen. Von dort begeben sich die Leserinnen und Leser mit den Figuren aus der erzählten Welt auf den Weg Jesu von Galiläa nach Jerusalem; und vom Ende wieder zum Anfang zurück.«14 Die Leserinnen und Leser sollen also das Evangelium noch einmal von vorne lesen und zwar unter dem ortsanweisenden Aspekt: »[D]ort [sc. in Galiläa, wo die Erzählung begann (vgl. 1,9.14); M.H.] werdet ihr den Auferstandenen sehen« (16,7).15 Die Rezipientin und der Rezipient werden gleichsam mit in die Erzählung hineingenommen. Christologie ereignet sich – angeleitet und ermutigt durch den Text – im Prozess des Lesens. Das Markusevangelium leitet dazu an, das Evangelium von Ostern her zu lesen und ermutigt zu einer »relecture von Leben, Lehre und Leiden Jesu im Lichte von Ostern«.16 Diese Osterperspektive nimmt Markus von Anfang an leserlenkend ein. Er selbst ist zu den »Easter people«17 zu rechnen. K. Barth hält nicht nur im Blick auf das Markusevangelium, sondern das gesamte Neue Testament fest: »Man kann ruhig sagen – und man muß es so sagen: von diesem Ereignis [sc. Ostern; M.H.] her denkt und redet das ganze Neue Testament; und wer es verstehen will, der muß sich wohl oder übel darauf einlassen, mit ihm von diesem Ereignis her zu denken.«18 Das nach Markus von Ostern her offenkundige und gelüftete Persongeheimnis ist auf die Identität Jesu gerichtet.19 Es gehört zu jenen vier Themenfeldern, die nach der einschlägigen religionspädagogischen Untersuchung von T. Ziegler für eine kritische, existentiell bedeutsame Auseinandersetzung mit Jesus Christus im Religionsunterricht relevant sind – neben Jesu Existenz (»Historische Gestalt oder Mythos?«), dem universalen oder exklusiven Zugang zu Gott bzw. zum Heil (»Jesus – einziger Weg zu Gott?«) und der Erfahrung bzw. Sichtbarkeit des in Christus ereigneten Heils (»Positive Veränderung durch den Glauben an Jesus?«). Sie 14

P.-G. Klumbies, Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 17f. Klumbies weist auf die markinische Ringkomposition hin: »Via Lektüre begleiten Leserinnen und Leser Jesus ein weiteres Mal auf seinem Weg von Galiläa nach Jerusalem. Die Fluchtbewegung von 16,8 wird damit erzählerisch umgeleitet. Sie führt zurück zu 1,1 an den Anfang des Evangeliums. Das Evangelium wird bei Markus zum Ort der Begegnung mit Jesus. Es ist der Raum der bleibenden Beziehung zu Jesus, dem Christus, dem Sohn Gottes (Mk 1,1). Das Evangelium bewahrt die Bindung an den Auferweckten.« A.a.O., 134 15 Vgl. Müller, Mit Markus erzählen, 191f., sowie die Graphik bzw. das Tafelbild in: Kraft / Roose, Von Jesus reden, 169. 16 I.U. Dalferth, Volles Grab, leerer Glaube? Zum Streit um die Auferweckung des Gekreuzigten, in: H.-J. Eckstein / M. Welker (Hg.), Die Wirklichkeit der Auferstehung, Neukirchen-Vluyn 2002, (277–309) 300. 17 D. Ritschl, Thesen zur Neuorientierung christlicher Anthropologie am Ende des 20. Jahrhunderts, in: R. Weth (Hg.), Totaler Markt und Menschenwürde. Herausforderungen und Aufgaben christlicher Anthropologie heute, Neukirchen-Vluyn 1996, (119–141) 139. 18 K. Barth, KD IV/1, 330. Barth (a.a.O., 333f.) identifiziert die 40 Tage zwischen Ostern und Himmelfahrt als den »festen überlegenen Standort« der ersten Gemeinde, als ihre Wahrnehmungsperspektive. 19 Barth spricht a.a.O., 332 von einer »zuvor verschlossenen und unzugänglichen Erkenntnis«. Dort z.T. kursiv.

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stellen »eine Herausforderung für elementare christo-logische Reflexionsprozesse mit Jugendlichen dar«.20 Die Frage: »Gottessohn oder normaler Mensch?«, ist für Jugendliche bedeutsam, so dass es sich nahelegt, sie im Religionsunterricht aufzugreifen und eingehend zu thematisieren. Das Christusprädikat »Sohn Gottes« bietet sich dazu in bibeldidaktischer Hinsicht in besonderer Weise an, wie in den folgenden christologiedidaktischen Überlegungen, die eine Unterrichtsreihe anvisieren, dargelegt werden soll.

1.2 Christologie im religionsdidaktischen Diskurs der Gegenwart21 Zunächst soll jedoch ein kurzer Blick auf die bisherigen religionsdidaktischen Versuche, Jesu Identität im RU zu thematisieren, geworfen werden. Auf ihrem Hintergrund wird der eigene Annäherungsversuch zu einer Christologiedidaktik entwickelt. Summarisch geurteilt, lässt sich festhalten: Bis hin zur »Entdeckung« der Kinder- und Jugendtheologie um die Jahrtausendwende war die Tendenz ausgeprägt, den Zugang zur Person Jesu im RU über die Vermittlung von historisch-kritischen Kenntnissen über den Menschen Jesus von Nazareth und seine Umwelt zu suchen. Noch F. Rickerts plädiert in dem im Jahr 2001 erschienenen »Lexikon für Religionspädagogik« dafür, aus didaktischen Gründen beim historischen Jesus anzusetzen, und betonte zugleich die Notwendigkeit der Vermittlung von Kenntnissen zur neutestamentlichen Umwelt und Zeitgeschichte: »Das Thema ist notwendig, weil die (zu rekonstruierende) historische Gestalt als solche in ihrem Denken und Handeln – sei es mit oder ohne den Bezug auf den christlichen Glauben – das Interesse heutiger Menschen auf sich ziehen kann, nämlich um ihrer schlichten Menschlichkeit willen. Die letzte Intention ist didaktisch umso bedeutsamer, je weniger Schülerinnen und Schüler mit dem Christus des Glaubens etwas anzufangen wissen, ganz zu schweigen von den Jugendlichen im Religionsunterricht, die aus anderen Religionen kommen, aber ebenfalls einen unabweisbaren Bildungsanspruch auf diese historische Gestalt haben.«22

Bereits ein Jahr später beklagte G. Büttner, dass christologische Fragen seit Jahren bibeldidaktisch vernachlässigt würden und stattdessen eine Reduktion auf die 20

T. Ziegler, Jesus als »unnahbarer Übermensch« oder »bester Freund«? Elementare Zugänge Jugendlicher zur Christologie als Herausforderungen für Religionspädagogik und Theologie, Neukirchen-Vluyn 2006, 495. 21 Vgl. den instruktiven Überblick von J. Woyke, Der historische Jesus der Bibelwissenschaft und der lebensbedeutsame Christus der Religionsdidaktik. Bemerkungen zu zwei neuen Studien zur »Christologie« von Kindern und Jugendlichen, ThBeitr 38 (2007), 94–98; M. Zimmermann, Übermensch oder bester Freund? Was bringt die Kindertheologie zu Fragen der Christologie für den Religionsunterricht, Entwurf 3 (2010), 12–15. 22 F. Rickers, Art. Jesus von Nazareth, Lexikon der Religionspädagogik 1 (2001), (902– 909) 902; dort z.T. abgekürzt.

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Betonung der »Realien« um Jesus zu beobachten sei, die zumeist jesulogisch bzw. ethisierend durch Betonung der moralischen Relevanz von Jesu Lehre erweitert würden. Nach diesem – dogmatisch gesprochen – in einer »niedrigen Christologie«23 wurzelnden Ansatz verlaufe der Verstehensduktus in didaktischer Hinsicht vom »historischen Jesus« zum »geglaubten Christus«.24 G. Büttner verweist auf die im Jahr 1964 erhobene Forderung von H. Stock nach Entkerygmatisierung des Jesus der Evangelien durch Ablösung des urchristlichen Bekenntnisses zum Kyrios und Gottessohn und nach Fokussierung auf den »historischen Jesus«, um den Zugang zum existentialen Entscheidungsruf Jesu zu ermöglichen.25 Aufgrund empirischer Erhebungen bewertet G. Büttner indes die didaktische Konzentration auf den »historischen Jesus« sehr kritisch:

23

»Niedrige Christologie« kann mit G. Hunsinger, Salvator Mundi: Three Types of Christology, in: O.D. Crisp / F. Sanders (Hg.), Christology, Ancient and Modern: Explorations in Constructive Dogmatics, Grand Rapids 2013, (42–59) 50, wie folgt charakterisiert werden: »For low Christologies, as Schleiermacher pointed out, Christ has saving significance primarily as a religious teacher and a moral example. His life and teaching put forward an elevated religious and ethical content. Christ teaches us about God’s love and forgiveness, and his teaching is exemplified by his life. He saves us from our ignorance, and at least in some low Christologies his Spirit assists us in our weakness. Salvation takes place through our imitation of Christ, which requires our repentance as we strive to emulate his way of life.« 24 Sofern dieser Ansatz die Gottheit Jesu gleichsam am geschichtlichen bzw. historischen Jesu aufweisen will, statt diese vorauszusetzen, wäre zu erwägen, ihn als den einer didaktischen »Christologie von unten« zu kennzeichnen. Freilich ist die Distinktion in eine Christologie »von unten« und »von oben« nicht nur unklar und mehrdeutig (so etwa Ch. Danz, Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 183), sondern als vermeintliche Alternativ sachlich problematisch. Treffend wenden W. Joest / J. von Lüpke, Dogmatik I: Die Wirklichkeit Gottes, Göttingen 52010, 176, ein: »Eine derartige Alternative [sc. Christologie von oben oder von unten; M.H.] ist jedoch nicht sachgemäß. Sie droht auseinander zu reißen, was im biblischen Zeugnis eine Einheit bildet. […] Die Menschlichkeit Jesu ist nicht ohne das in seiner Geschichte sich vollziehende Wirken Gottes, Gottes Sein nicht ohne die Geschichte des Menschen Jesus zu denken.« Vgl. auch B. Klappert, Die Auferweckung des Gekreuzigten. Der Ansatz der Christologie Karl Barths im Zusammenhang der Christologie der Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 31981, 3–5, der den Nachweis führt, dass Barth eine »Christologie des Zugleich von oben und unten« (a.a.O., 5) entwirft. So kann Barth, KD IV/1, 244, im Sinne der Zweinaturenlehre zugleich betonen: »Weil er ein Mensch war wie wir, darum war er in der Lage, als Mensch gerichtet zu werden, wie es uns zukam! Weil er Gottes Sohn und selbst Gott war, darum hatte er die Kompetenz und Macht, sich das an unserer Stelle widerfahren zu lassen!« Vgl. auch a.a.O., S. 331: »Der Weg zum Kreuz und in den Tod aber, in welchem es zu diesem Gericht kommt, ist wohl das Werk des in Demut gehorsamen Sohnes Gottes, aber eben als solches auch das Werk des in seiner Identität mit dem Sohne Gottes gehorsamen Menschen Jesus von Nazareth, wie denn auch seine Verurteilung und Hinrichtung, obwohl von Gott beschlossen und gewollt, zugleich das Werk der diesen Beschluß und Willen Gottes ausführenden sündigen Menschen, der Juden und Heiden ist, in deren Hände Jesus überliefert wird, sich selbst überliefert.« Hervorhebungen im Original. 25 Vgl. Büttner, Jesus hilft!, 30–34.

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Dem Geheimnis der Sohnschaft auf der Spur »Zweifellos gelingt es der neutestamentlichen Forschung, immer wieder neue Facetten des historischen Jesus zu entdecken. Gleichwohl ist der ›historische Jesus‹ des Religions­unterrichts ein Jesus der liberalen Theologie par excellence; ein freundlicher Helfer, vielleicht etwas konsequenter in seiner Humanität als wir. Er konnte wohl Römer und bornierte jüdische Zeitgenossen herausfordern und ärgern, heutige Schüler/ innen kaum noch. Bei allen Versuchen, der Kritik der Leben-Jesu-Forschung zu entgehen, konnte und kann dies nicht völlig gelingen, ist doch auch der ›historische Jesus‹ ein Produkt heutigen Fragens.«26

Dass ein solches Christusverständnis auch theologisch höchst problematisch ist, dürfte evident sein. So wendet etwa der Flensburger Religionspädagoge und Neutestamentler J. Woyke ein: »Wenn Gott gewöhnlich und orientierungslos wie wir wäre, was für eine Hoffnung bliebe uns dann noch?«27 Dementsprechend soll – wie Woyke fordert – Jesus Christus, »wenn er als ›der Sohn Gottes‹ bekannt wird […], nicht […] als ein Mensch ›wie du und ich‹ erkannt werden. Er gilt vielmehr als die persönliche Gegenwart und Zuwendung Gottes.«28 Gegenüber Selbstüberforderungen Jugendlicher, die insbesondere den Ansatz einer »niedrigen Christologie« als Impuls verstehen könnten, so zu werden, wie Jesus war, oder an sich selbst als Menschen wie Jesus zu glauben, wird dies stark zu machen sein.29 Insofern liegt

26

A.a.O., 34. Vgl. zum theologischen Problem der Rede vom und zur Rekonstruktion des »historischen Jesus« O. Hofius, Die Frage nach dem »historischen Jesus« als theologisches Problem, in: H. Assel (Hg.), Leidenschaft für die Theologie, Leipzig 2012, 79–115; D. Schellong, »Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?« Rückfragen zur Suche nach dem historischen Jesus, in: F.-W. Marquardt u.a. (Hg.), Entwürfe 6, München 1990, 2–47, und K. Wengst, Der wirkliche Jesus?. Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem »historischen« Jesus, Stuttgart 2013. Zum aktuellen Stand der historischen Jesusforschung vgl. G. Wenz, Jesus und die Anfänge der Christologie, Studium Systematische Theologie 5, Göttingen 2011, 65–141. 27 Woyke, Mensch aus Fleisch und Blut, 352. 28 A.a.O., 354. 29 Vgl. dazu: H.J. Iwand, Christologie. Die Umkehrung des Menschen zur Menschlichkeit, Nachgelassene Werke. Neue Folge Bd. 2, Gütersloh 1999, 161: »Gott will uns nicht als sittliche Menschen um sich haben, das hieße ja doch als Heuchler, als unwahre Menschen, sondern in und durch Jesus als sündige, das heißt als wirkliche Menschen, als Krüppel und Lahme, als Blinde und Sterbende, als Stinkende und ihm ums Geld Verratende – als die Menschen, die wir sind. Aber um sich! Darum immer so, daß die Blinden sehen, daß die Lahmen gehen, daß die Aussätzigen rein werden, daß die Armen froh werden, daß die Toten auferstehen; daß wir also Menschen sind, die ganz auf Gott angewiesen sind, auf sein Umschaffen, daß wir ihn als den Schaffenden – das heißt Gott in Christus – bei uns haben, daß wir begreifen, glauben, von Jesus selbst her glauben: Gott will uns Menschen um sich haben, wirkliche Menschen. Darum ist er Mensch geworden. Das ist sein Ja zu uns, sein Ja in dem Menschen Jesus. An seine wahre Menschheit glauben heißt: das Nein zum Übermenschen mitsprechen, es sich selbst aneignen heißt: wahrhaft demütig werden.« Ähnlich a.a.O., 22f.

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das Plädoyer für eine »hohe Christologie«30 nahe, die keineswegs die Mitmenschlichkeit Jesu, klassisch ausgedrückt: seine menschliche Natur, leugnet.31 Gerade das Markusevangelium zeigt ja, dass »das Geheimnis dessen, was in den Evangelien des Neuen Testaments von Jesus von Nazareth berichtet wird, gerade nicht in der Verklärung göttlicher Möglichkeiten eines Menschen, sondern vielmehr in der Verherrlichung der menschlichen Wirklichkeit Gottes«32 besteht. Der bislang gängige historische Ansatz scheitert indes nach G. Büttner sowohl an seinem Sach- bzw. Gegenstandsbezug, als auch seinem defizitär ausgeprägten Schüler- bzw. Erfahrungsbezug.33 G. Büttner fordert hingegen eine Unterrichtsgestaltung, »die die Altersgemäßheit, die Erfahrungswelt der Kinder und Jugendlichen, die sachliche Konkretheit theologischer Argumentation gleichzeitig im Auge behält und dabei bemüht ist, relevante Fragen im Sinne des elementar fragenden Laien zu thematisieren«.34 Büttner sieht dementsprechend die Gefahr, »dass die Jesusthematik die elementare Frage nach Gott überhaupt verfehlt«.35 Der »jesulogische« Verstehensduktus entspreche in seinem Verlauf vom historischen 30

Für eine »hohe Christologie« sprechen, wie G. Hunsinger, Salvator Mundi, 51, darlegt, folgende Erwägungen: »Only a high Christology requires a high view of Christ’s person, because only a high Christology takes a high view of his saving work. Generally speaking there are two broad reasons for affirming the full deity of Jesus Christ. The first is hermeneutical while the other is soteriological. The hermeneutical reason is that the New Testament documents bear witness to Jesus Christ as God. He is not only described as God, he is also depicted as God. We see him not only designated with the term θεός, but also doing things that only God can do, such as forgiving sins and raising the dead. The doctrinal reason, on the other hand, which is essentially threefold, overlaps with the hermeneutical reason. Doctrinally, the focus falls on worship, revelation and reconciliation, a point that is well brought out in Question 33 of the new Presbyterian Study Catechism: Question 33: What is the significance of affirming that Jesus is truly God? Answer: Only God can properly deserve worship. Only God can reveal to us who God is. And only God can save us from our sins. Being truly God, Jesus meets these conditions. He is the proper object of our worship, the self-revelation of God, and the Savior of the world.« 31 Vgl. etwa Barth, KD IV/1, 251f.: »Es ist wahr, daß Jesus Christus auch der uns exemplarisch vorangehende, uns den Weg zeigende Mitmensch ist, daß es auch eine Nachfolge Christi, eine Gemeinschaft mit ihm und insofern eine Existenz des Christen mit ihm gibt. […] Aber wenn man genau sehen, denken und reden will, nun doch gerade kein ihn und uns Andere umgreifendes, sondern das in seiner Existenz uns Andere umgreifende Heils­ ereignis. Er ist der uns exemplarisch vorangehende, uns den Weg weisende Mitmensch daraufhin und in Kraft dessen, daß er ›für uns‹ ist: in einem ›für uns‹, das sich mit keinem ›mit uns‹ zur Deckung bringen läßt, durch das Alles hier in Frage kommende ›mit uns‹ vielmehr – gewissermaßen von außen her – begründet sein, aus dem alle Nachfolge allererst ihren Sinn und ihre Kraft empfangen muß.« 32 H.-J. Eckstein, zit. nach Woyke, Mensch aus Fleisch und Blut, 352. 33 Vgl. dazu auch I. Schoberth, Der historische Jesus in religiösen Bildungsprozessen?, in: dies. / I. Kowaltschuk (Hg.), »Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs?« (Lk 24) – Christologie im Religionsunterricht, Heidelberger Studien zur Praktischen Theologie 15, Münster 2010, 83–94. 34 Büttner, Jesus hilft!, 272. 35 A.a.O., 34.

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Jesus zum nachösterlichen Christusbekenntnis nicht den Denkprozessen und Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen: »Mein Beitrag besteht gerade darin aufzuzeigen, dass gerade ein Ausgehen vom Denken der Kinder und Jugendlichen nicht zu einer didaktischen Duplizierung eines angenommenen Weges vom ›Historischen Jesus‹ zum ›Geglaubten Christus‹ führt, sondern eine explizit christologische Herangehensweise an die Jesus-Thematik im Unterricht nahe legt.«36

Der Akzent müsse auf der Nähe der Schülerinnen und Schüler zur Gottesthematik liegen. Die Betonung habe »der Kompetenz Jesu, damals wie heute, Menschen hilfreich sein zu können«,37 zu gelten. G. Büttner verstärkt sein Plädoyer für eine Neukonzeptionierung durch die Forderung nach gemeinsamen, die Disziplinen übergreifenden Kraftanstrengungen: »Es bedarf […] gewiss des Miteinanders von gut zuhörenden Pädagog/innen mit neugierigen und kompetenten systematischen Theolog/innen, um die Religionspädagogik aus dem sterilen Gerüst einer problematischen Christologie herauszuführen.«38 Büttner steht mit seinen fundamentalen Einwänden und seinem Plädoyer für eine explizit christologische Herangehensweise an die Jesus-Thematik im Unterricht indes nicht allein. In Anlehnung an das Elementarisierungsschema von K.E. Nipkow39 und F. Schweitzer40 hat T. Ziegler in seiner Kritik am damaligen gymnasialen Bildungsplan in Baden-Württemberg gefordert, das »Thema ›Jesus Christus‹ im Horizont elementarer christologischer Wahrheitsfragen zu behandeln«.41 Die Heidelberger Religionspädagogin I. Schoberth spricht gar von der Christologie als »Mitte des Religionsunterrichts«42 und plädiert für eine Orientierung am Bekenntnis zu Christus: »Im wenn auch noch so vorläufigen und anfänglichen Teilgewinnen an den Orientierungen, die das Bekenntnis zu Jesus Christus eröffnet, findet der Religionsunterricht insgesamt seine Ausrichtung, die dann im je konkreten Unterricht in vielen einzelnen Schritten realisiert werden kann. Insofern ist die Christologie bleibender Bezugspunkt der Religionspädagogik und des Religionsunterrichts, mithin seine Mitte, von der her und auf die hin das Lernen christlicher Religion sich vollzieht.«43

36

A.a.O., 9. A.a.O., 266. 38 A.a.O., 280. 39 K.E. Nipkow, Elementarisierung als Kern der Unterrichtsvorbereitung, KatBl 11 (1986), 600–608. 40 F. Schweitzer, Elementarisierung – ein religionsdidaktischer Ansatz. Einführende Darstellung, in: ders. (Hg.), Elementarisierung im Religionsunterricht. Erfahrungen, Perspektiven, Beispiele, Neukirchen-Vluyn 2003, 9–30. 41 Ziegler, Jesus als »unnahbarer Übermensch«, 536. 42 Schoberth, Einleitung, 15. 43 Ebd. 37

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Seit G. Büttners fundamentalem Einwand sind eine Reihe weiterer Untersuchungen zu materialen Themen der Christologie erschienen, die – Büttners kinder- bzw. jugendtheologischer Konzipierung mehr oder weniger folgend – den einstigen, das Gottesverhältnis Jesu ausblendenden Ansatz hinter sich gelassen haben.44

1.3 Bibeldidaktische Annäherungen an eine trinitarisch (re-)dimensionierte Christologie Wenn Büttner und andere Recht haben, dass »die Jesusthematik die elementare Frage nach Gott überhaupt verfehle«,45 dann stellt sich natürlich die Frage, wie dieser Gefahr begegnet werden kann. Naheliegend ist es, im Sinne biblischer Didaktik den Evangelien selbst, d.h. deren eigener Didaktik, zu folgen.46 Haben die Evangelien ihre eigene Didaktik, dann gilt es auch, die christologische Frage an sie gerichtet zu stellen: Was dürfen wir hinsichtlich dieser Frage von ihnen lernen? In den Evangelien »wird berichtet, wer denn der Jesus ist, der ans Kreuz ging und auferweckt wurde. Die Evangelien, rein als solche, sind ein Stück des urchristlichen Kerygmas.«47 Das gilt auch, wie bereits demonstriert, für das älteste Evangelium, das Markusevangelium. Wie die übrigen Evangelien bildet es »kein lockeres Konglomerat von Einzelperikopen und Themen, sondern ein sorgfältig geplantes und wohlkomponiertes Ganzes.«48 Bezogen auf dasselbe wird es im Folgenden darauf ankommen, die narrative49 Entfaltung der markinischen Christologie hinsichtlich ihrer Didaktik näher in den Blick zu nehmen. Dies soll anhand ausgewählter Erzählungen aus diesem Evangelium geschehen, wobei die explizite Erwähnung und narrativ vermittelte Erläuterung des Sohn-Gottes-Titulus ein sachlich angemessenes Auswahlkriterium darstellen dürfte. Der Sohn-Gottes-Ti-

44

Vgl. M. Albrecht, Für uns gestorben. Die Heilsbedeutung des Kreuzestodes Jesu aus der Sicht Jugendlicher, ARPäd 33, Göttingen 2007; Ch. Butt, Kindertheologische Untersuchung zu Auferstehungsvorstellungen von Grundschülerinnen und Grundschülern, ARPäd 41, Göttingen 2009; Kraft / Roose, Von Jesus reden; Zimmermann, Kindertheologie. 45 Büttner, Jesus hilft!, 34. 46 Insbesondere der Siegener Religionspädagoge I. Baldermann hat diesen bibeldidaktischen Ansatz profiliert. Vgl. I. Baldermann, Einführung in die Biblische Didaktik, Darmstadt 1996, 1–4; 15–23. Fernerhin: ders., Einführung in die Bibel, Göttingen 1988, 20–29. 47 J. Schniewind, Antwort an Rudolf Bultmann. Thesen zum Problem der Entmythologisierung, in: H.-W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch, Theologische Forschung 1, Hamburg 41960, (77–121) 94. Dort z.T. kursiv. 48 H.-Ch. Kammler, Das Verständnis der Passion Jesu im Markusevangelium, ZThK 103 (2006), (461–491) 465f. 49 Zur Narrativität des Evangeliums vgl. E.S. Malbon, Narrative Criticism: How Does the Story Mean?, in: J.C. Anderson / S.D. Moore (Hg.), Mark and Method. New Approaches in Biblical Studies, Minneapolis 1992, 23–49. Jetzt auch: P.-G. Klumbies, Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018.

262

Dem Geheimnis der Sohnschaft auf der Spur

tulus greift nämlich im Markusevangelium das Gottesverhältnis Jesu auf und expliziert so sein Persongeheimnis: »Die Rede von Jesus als dem υἱός τοῦ θεοῦ bringt im Markusevangelium grundlegend das Geheimnis der Person Jesu zur Sprache: seine wesenhafte Zugehörigkeit zu Gott, seinem Vater, und eben damit seine Einzigartigkeit, d.h. seinen göttlichen Ursprung und sein göttliches Wesen. Sogleich der ›Prolog‹ Mk 1,2–13 stellt betont heraus, wer der ist, von dem das Evangelium redet.«50

Der Sohn-Gottes-Titulus lüftet aber nicht einfach das Persongeheimnis Jesu, gilt doch nach Markus: »Jesus, and nobody else, is the ›Son of God.‹ This is important to note because, for Mark, ›Son of God‹ does not define Jesus. It is Jesus who defines ›Son of God.‹«51 Die Erzählung ist mit anderen Worten trotz oder besser: insbesondere aufgrund des Sohn-Gottes-Titulus völlig indispensabel. Es muss erzählt werden, damit dieser Titulus nicht gleichsam in der Luft hängt. Berücksichtigt man das besondere Interesse von Kindern und Jugendlichen, was in didaktischer Hinsicht natürlich angezeigt ist, so dürfte sich dieses zum einen auf spannende Erzählungen richten. Dieses Interesse wird durch das Motiv des Persongeheimnisses zweifellos bedient. Zum anderen bezieht sich das Interesse bei Kindern und Jugendlichen auf personale Relationen. So bemerkt etwa G. Büttner insbesondere bei Kindern in der Grundschule ein gesteigertes Interesse an Szenen, in denen »die Interaktion zwischen Jesus und Gott thematisiert wird«,52 bis hin zur Verwechselung beider Personen.53 Auch die sich später im Jugendalter ausprägende Tendenz zur Symbolisierung und Subjektivierung von Christusaussagen, nivelliert dieses Interesse nicht, das vielmehr bestehen bleibt,54 wenngleich Jesus und Gott ungleich deutlicher getrennt gesehen werden.55 Mit dem Sohn-Gottes-Prädikat wird nun eine spezifische Relation benannt, nämlich die zwischen Gott und seinem Sohn, die man einerseits als Ursprungs- und Wesensrelation, andererseits als Amts- und Funktionsrelation verstanden hat. Dementsprechend kann man mit O. Hofius zwischen einem messianischen und einem metaphysischen Sohn-Gottes-Begriff unterscheiden.56 Danach greift »[d]ie neutestamentliche Deutung dieses Sohnseins auf zwei zu unterscheidende,

50

O. Hofius, Jesu Zuspruch der Sündenvergebung. Exegetische Erwägungen zu Mk 2,5b, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, (38–56) 54. 51 Black, Mark, 205. 52 Büttner, Jesus hilft!, 272. 53 So Büttner / Dieterich, Entwicklungspsychologie, 194; 199. So auch Büttner, Jesus hilft!, 266. 54 Vgl. Büttner, Jesus hilft!, 276. 55 Vgl. Büttner / Dieterich, Entwicklungspsychologie, 197–199. 56 Zur folgenden Tabelle siehe O. Hofius, Ist Jesus der Messias? Thesen, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, (108–134) 122f.

Zur Grundlegung einer biblisch angeleiteten Christologiedidaktik

263

aber nicht zusammenfließende judenchristliche Quellströme zurück: auf eine palästinisch-›messianische‹ und eine hellenistisch-›weisheitliche‹ Tradition«:57 Messianischer SohnGottes-Begriff Traditionsgeschichtlicher Hintergrund

alttestamentlichfrühjüdische Tradition (2Sam 7,14; Ps 2,7; 89,27ff.; 110,3)

Metaphysischer Sohn-GottesBegriff alttestamentlich-frühjüdische Weisheits- und Logosvorstellung (Prov 8,22ff.: die Weisheit als Gottes geliebtes Kind [V. 30]);58 Modifikation im NT: Sendung Jesu in historischer Einmaligkeit und eschatologischer Endgültigkeit vollzieht sich als wirkliche Menschwerdung des Gottessohnes.

Voraussetzung

Setzt die Erwählung und Legitimation eines Davididen durch Gott und also die Adoption eines Menschen zum Gottessohn voraus.

Setzt die ursprüngliche und wesentliche Zugehörigkeit Jesu zu Gott und damit sein präexistentes Gottsein voraus.

Ertrag

Bringt die Einzigartigkeit der von Gott begründeten Beziehung zwischen Gott und dem Messias und vice versa zum Ausdruck;

Gott kommt nicht bloß in diesem Menschen Jesus von Nazareth, sondern als dieser Mensch in die Welt (als Belege vgl. die Aussagen über die Sohnessendung in: Röm 8,3f.; Gal 4,4f.; Joh 3,16f.; 1Joh 4,9f.; dasselbe Aussagemuster manifestiert sich hier jeweils: 1. Präexistenz; 2. Inkarnation; 3. Heilsbedeutung des Todes Jesu für uns).

ist zugleich Ausdruck der Einzigkeit des Auftrages, den der Messias empfangen hat und wahrnimmt, wie auch der Einzigkeit des Wirkens, mit dem er diesem seinem Auftrag entspricht.

57

Bausenhart, Einführung, 80. Nach Philo von Alexandrien (Agr. 51; Conf. 146; Somn. I,215) ist der präexistente Logos Gottes erstgeborener Sohn. 58

264

Dem Geheimnis der Sohnschaft auf der Spur

Art der Amts- und Bezeichnung als Funktionsbezeichnung Sohn Gottes

Ursprungs- und Wesensbezeichnung

Tabelle 3: Synopse zum messianischen und metaphysischen Sohn-Gottes-Begriff

Selbst dann, wenn die Evangelien auf den messianischen Sohn-Gottes-Begriff zurückgreifen, propagieren sie keine Adoptionsvorstellung.59 Vielmehr erfolgt bei der Anknüpfung an den traditionellen alttestamentlich-frühjüdischen Begriffsgebrauch eine Umprägung und Neufassung desselben: »Was ›Messias‹ heißt, legt […] der Gekreuzigte und Auferstandene selbst und er allein aus.«60 Anders gesagt: »Durch die Integration in die umgreifende Christologie ist eine völlige Neuqualifizierung des ›Messias-Begriffs‹ gegeben. Die neutestamentlichen Autoren wollen klarstellen: Der in der Schrift verheißene messianische ›Sohn Gottes‹ – das ist in Wahrheit der nach seinem Ursprung und Wesen und also von allem Anfang an die Seite Gottes gehörende göttliche Sohn.«61

Im Blick auf die mit dem Sohn-Gottes-Prädikat angesprochene Relation von Gott und Jesus ist es spannend zu beobachten, dass in den Texten des Markusevangeliums nicht nur die zweistellige Relation Sohn-Vater auftaucht, also – wenn man terminologisch so möchte – eine »binitarische« Personenkonstellation. Etwa bei der Taufe Jesu (Mk 1,9–11) haben wir es mit der dreistelligen Relation Vater-SohnGeist zu tun, die die Frage aufwirft, wie eigentlich Gott, der Vater, Jesus Christus und der Heilige Geist miteinander zusammenhängen. Die Trinitätslehre reagiert genau auf diese unabweisbare Frage. Sie ist insofern denknotwendig. Der Glaube, der verstehen will, kommt um eine Beantwortung dieser Frage nicht herum. Setzt man etwa bei den biblischen Geschichten der Evangelien ein, so kann vielfach beobachtet werden, dass der Geist und der Vater in Bezug auf Person und Werk Christi zusammenarbeiten. Theologiegeschichtlich geurteilt, wird die Kennzeichnung Jesu von Nazareth als Sohn Gottes schließlich »zum Bekenntnis eines trinitarischen Gottes führen«.62 59

So Hofius, Ist Jesus der Messias?, 130. A.a.O., 127. 61 A.a.O., 130. Was den »Grad« der Neuqualifizierung betrifft, so hat Hofius seine Aussagen unter Verweis auf W.H. Schmidt (Die Ohnmacht des Messias. Zur Überlieferungsgeschichte der messianischen Weissagungen im Alten Testament, in: ders., Vielfalt und Einheit alttestamentlichen Glaubens I: Studien zu Hermeneutik und Methodik, Pentateuch und Prophetie, Neukirchen-Vluyn 1995, 154–170; ders., Alttestamentlicher Glaube, Neukirchen-Vluyn 81996, 268–284; ders., Hoffnung auf einen armen König. Sach 9,9f. als letzte messianische Weissagung des Alten Testaments, in: Ch. Landmesser u.a. [Hg.], Jesus Christus als Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums, BZNW 86, Berlin / New York 1997, 689–709) partiell relativiert, genauer: für präzisierungswürdig erklärt. Vgl. Hofius, Ist Jesus der Messias?, 134. 62 Bausenhart, Einführung, 79. 60

Zur Grundlegung einer biblisch angeleiteten Christologiedidaktik

265

Das heißt mit Worten E. Jüngels: »Die Entstehung des trinitarischen Dogmas entsprang der hermeneutischen Notwendigkeit, nicht nur die neutestamentlichen Aussagen über Gott den Vater mit den Aussagen über Jesus Christus als den Sohn Gottes und über den Heiligen Geist mit Hilfe der wenigen triadischen und der einen trinitarischen (Mt 28,19) Formel des Neuen Testaments systematisch aufeinander zu beziehen, sondern vor allem die neutestamentlichen Relationsaussagen, die von einem Geschehen zwischen Vater und Sohn, Sohn und Geist bzw. Vater und Geist reden, sachgemäß zu interpretieren.«63

Die Frage »Wer ist Jesus Christus?« war – historisch und theologisch geurteilt – die Wurzel der Trinitätslehre. Man kann die Trinitätslehre als »die Einzeichnung des christologischen Geheimnisses in den Gottesbegriff«64 charakterisieren. Die christologische Frage bildet mithin den Ursprung der Trinitätslehre: »[I]n Bekenntnis und Lehre der Trinität geht es in erster Linie um die Antwort auf die Frage, wer Jesus von Nazareth ist.«65 Es kann im Kontext der in den Blick zu nehmenden Unterrichtsreihe nun freilich nicht darum gehen, einen vermeintlichen Schriftbeweis für eine womöglich bereits im Neuen Testament entwickelte Trinitätslehre zu erbringen. Es geht auch nicht darum zu verdeutlichen, dass die Bibel zwar keine ausgeführte Trinitätslehre, aber doch in ihren textlichen Strukturen bereits viele gleichsam vor-trinitarische Hinweise enthält.66

63

E. Jüngel, Gott selbst im Ereignis seiner Offenbarung. Thesen zur trinitarischen Fassung der christlichen Rede von Gott, in: M. Welker / M. Volf (Hg.), Der lebendige Gott als Trinität. FS J. Moltmann zum 80. Geburtstag, Gütersloh 2006, (23–34) 25. 64 H.J. Iwand, Der Prinzipienstreit in der protestantischen Theologie, in: ders., Um den rechten Glauben. GA 1, München 1959, (222–246) 233. 65 H.-J. Kraus, Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 1983, 75. 66 Diese Abgrenzung hat weniger damit zu tun, dass dies die Schülerinnen und Schüler überfordern würde, als man zunächst vermuten könnte. Jüngere religionspädagogische Untersuchungen teilen diese Skepsis jedenfalls nicht. So schreibt etwa M. Fricke (Von Gott reden im Religionsunterricht, Göttingen 2007, 164): »Wie können Kinder und Jugendliche einen Zugang zur Trinität bekommen? Manches spricht dafür, das Thema erst ab der 8./9. Jahrgangsstufe zu behandeln. Andererseits sollten wir Grundschüler, was die Wahrnehmung der Trinität angeht, nicht unterschätzen. Schon Kinder sind in der Lage, die drei Wirkweisen Gottes zu thematisieren.« Butt, Kindertheologische Untersuchung, 109, beobachtet gar: »Die Schülerinnen und Schüler entwickeln die christologischen Gedanken in enger Berührung zur Zwei-Naturen-Lehre und dem ›Wesenseins‹ des Konzils von Nicäa.« Vgl. auch Büttner / Dieterich, Entwicklungspsychologie, 206: »Als besonders interessantes Gebiet bzw. als wichtige Teil-Christologie könnte sich das bisher unter entwicklungslogischen Aspekten wenig entfaltete Thema der Zwei-Naturen-Lehre erweisen, stellt sich hier doch die Frage, wie die beiden bei den Heranwachsenden ja bereits seit dem mittleren Kindergartenalter eigenständig entfalteten ›Akteurs-Konzepte‹ (menschliche Akteure / göttlicher Akteur) sich wiederum zueinander verhalten, und dies in ein und derselben Person.«

266

Dem Geheimnis der Sohnschaft auf der Spur

Im Kontext der anvisierten und im Folgenden entwickelten Unterrichtsreihe geht es vielmehr nur darum, diejenigen biblisch-theologischen Zugänge zum Persongeheimnis Jesu Christi zu entdecken, auf die die frühe Kirche mit der trinitätstheologischen Lehrentwicklung reagierte.67 Das Geheimnis besteht auf der Ebene des Markusevangeliums zunächst »nur« in der Gottessohnschaft, wenngleich ihr theologisches Verstehen und Durchdringen eine trinitätstheologische Einbettung, genauer gesagt: eine Christologie in trinitarischer Dimensionalität verlangt.68 Diese soll und kann hier aber nur insofern angebahnt werden, als die markinische Erzählung selbst dies tut. Wie bereits gesagt: Es gilt der markinischen Christologiedidaktik selbst zu folgen. Der Evangelist Markus entfaltet seine Christologie narrativ,69 indem er erzählt und so bestimmte Begriffe (wie den Sohn-Gottes-Begriff) erklärt und erläutert,70 andere hingegen weglässt.71 Für die Entdeckung trinitarisch interpretierbarer Zugänge zum Persongeheimnis Christi sind fraglos die biblischen Erzählungen selbst am besten geeignet.72 Hier wird die Frage nach der Identität Jesu bzw. dem 67

Ihrer Intention nach will die Trinitätslehre als »Leseanleitung für die Bibel« verstanden werden: »Sie lädt ein, den Dreieinigen in der Geschichte seiner Selbsterweise aufzusuchen.« D. Ritschl / M. Hailer, Diesseits und jenseits der Worte. Grundkurs christliche Theologie, Neukirchen-Vluyn 2006, 121. 68 Vgl. dazu M. Hofheinz, Der geistgesalbte Christus. Trinitätstheologische Erwägungen zur umstrittenen Geistchristologie, EvTh 72 (2012), 335–354. 69 Zur narrativen Christologie vgl. auch J.W. McClendon, Jr., Doctrine. Systematic Theology Vol. 2, Nashville 1994, 263–279. 70 Vgl. den Abschnitt »Christologie als Erzählung« in: Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, 385–388, sowie Müller, Mit Markus erzählen, 23: »Von diesen Titeln [sc. Hoheitstiteln; M.H.] spricht Markus nun aber nicht im Rahmen theoretischer Überlegungen, sondern er bindet sie ein in eine Erzählung. Dieses narrative Element ist für die markinische Christologie aus zwei Gründen besonders wichtig. Im Verlauf seiner Erzählung kann er zeigen, wie sich aus Annäherungen an Jesus nach und nach ein umfassendes Bild von ihm entwickelt. In der Erzählung kommt aber zugleich zum Ausdruck, dass dieses Bild von Jesus keine statische, in Begriffen festzuhaltende, sondern eine erzählte und von den Nachfolger/innen Jesu weiter zu erzählende Wahrheit ist. Dabei werden sie erkennen, dass Jesus Macht hat über alle dämonischen Mächte und dass, wer sich ihm anvertraut, nicht verlassen ist. Sie werden erkennen, dass er als Gekreuzigter dennoch der wahre König ist. Deshalb werden sie auch sein Leiden verstehen können und mit seinem Leiden auch ihr eigenes (vgl. besonders [Mk] 8,27–10,52). Und sie werden das Kommen des Menschensohnes erwarten und deshalb die Unsicherheiten ihrer Gegenwart aushalten können. Wer das Evangelium liest, soll auf diese vielfältige Weise selbst zu einer Antwort kommen auf die Frage, wer Jesus ist.« 71 Vgl. M. Hailer, Glauben und Wissen. Arbeitsbuch Theologie und Philosophie, Göttingen 2006, 21: »Durch das Erzählen = Weglassen forme ich also ein Bild.« 72 Vgl. Kraft / Roose, Von Jesus reden, 85: »Der Versuch, neben einer ›Jesuologie‹ auch eine ›Christologie‹ im schulischen Religionsunterricht zu verankern, zielt theologisch gesprochen darauf ab, die göttliche Natur Jesu Christi stärker ins Spiel zu bringen. Dies muss aber nicht primär über die Dogmen der Alten Kirche und die Frage ›Wie geschieht Erlösung?‹ geschehen. Die Evangelien bieten mit ihren Erzählungen eine Fülle an Möglichkeiten, Christologie zu treiben.«

Zur Grundlegung einer biblisch angeleiteten Christologiedidaktik

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Persongeheimnis Christi in Geschichten erzählt. Die Relation Vater-Sohn tritt hier narrativ vermittelt in den Blick. Dies ist insofern nicht weiter verwunderlich, als die grundlegende Funktion der Erzählung in der Relationierung besteht. Auch und besonders hinsichtlich der Evangelien gilt die grundsätzliche Bemerkung: »Insbesondere der narrative Charakter vieler biblischer Texte […] kann theologische Gespräche mit Jugendlichen bereichern.«73 In der Unterrichtsreihe soll ein narrativer Lernweg beschritten werden, der nicht nur didaktisch, sondern auch theologisch überzeugt, handelt es sich doch bei der »Erzählung [um] die sprachliche Grundhaltung des biblischen Zeugnisses«.74 In der im Folgenden nur ansatzweise entwickelten Unterrichtsreihe geht es darum, den Ansatz dieser Christologiedidaktik zu erproben.75 Dies meint, dass selbstverständlich auch Distanznahme seitens der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen und zu ermöglichen ist. Es soll dem Rechnung getragen werden, dass Jugendliche »sich eher als Suchende [verstehen], die tastend bestimmte Positionen ausprobieren. Sie verorten sich in größerer und geringerer Nähe bzw. Distanz zu Christus«.76 Es gilt also, auch das »Misstrauen der Jugendlichen in das urchristliche Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes«77 zu beachten. Hinsichtlich der Artikulationsformen eines solchen Misstrauens spricht Woyke von einem »Changieren zwischen Idealisierung von Stars und dem Drang, diese zugleich auf Normalgröße zurechtzustutzen – ein Spiel von Illusion und Desillusion«, das »wesentlichen Bedürfnissen der westlichen Öffentlichkeit zu entsprechen«78 scheint. Nichtsdestotrotz sind Jugendliche bereit, sich auf unterschiedliche Perspektiven einzulassen und das gilt wohl auch für die Perspektive des Markusevangeliums. In diesem Sinne kommt es darauf an, erprobend die Perspektive von Ostern zu wählen, aus der heraus das Markusevangelium geschrieben wurde, und aus dieser Perspektive dem für dasselbe zentralen Persongeheimnis Jesu Christi nachzugehen, wonach vor Ostern niemand weiß, wer Jesus ist.

73

H. Roose, Abenteuer Christologie. Biblische Texte als Bausteine einer Jugendtheologie, Loccumer Pelikan 4 (2012), (182–187) 182. 74 E. Maurer, »…randvoll mit spannenden Geschichten«, RU intern 30 (2001), (2–4) 2. 75 Zum Erproben der story Jesu vgl. M. Hofheinz, »Ach, bild mich ganz nach Dir«. Zur bildungstheoretischen und urteilspraktischen Relevanz der Gottebenbildlichkeit Jesu Christi für eine narrative Ethik, in: I. Schoberth (Hg.), Urteilen lernen – Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung, Göttingen 2012, (214–230) 228–230; I. Schoberth, Diskursive Religionspädagogik, Göttingen 2009. 76 Roose, Abenteuer Christologie, 183. 77 Woyke, Mensch aus Fleisch und Blut, 351f. Vgl. a.a.O., 351: »Dass ein allzu ›heiliges‹ Bild Jesu Jugendliche misstrauisch macht und zur Dekonstruktion einlädt, ist nur allzu verständlich und auch wichtig, soll die Beschäftigung mit Jesus lebensgeschichtlich und lebensweltlich notwendige Impulse geben.« 78 Woyke, Mensch aus Fleisch und Blut, 351.

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Dem Geheimnis der Sohnschaft auf der Spur

2. Unterrichtliche Konkretion: Biblische Texte zum Sohn-Gottes-Prädikat des Markusevangeliums als didaktische Bausteine einer Christologie im Religionsunterricht 2.1 Bemerkungen zur avisierten Unterrichtsreihe Im Folgenden soll, wie bereits angedeutet, keine vollständig erarbeitete Unterrichtsreihe präsentiert werden, wohl aber eine Hinführung zu einer solchen. Darauf zielen die im Folgenden dargebotenen exegetischen Überlegungen ab, die nach den elementaren Strukturen der Texte fragen, also deren Kerngehalt systematisch zu erfassen versuchen. Außerdem werden erste Impulse für eine methodische Umsetzung gegeben, deren Konkretisierungsgrad allerdings höchst vorläufigen Status aufweist und nicht das Detail erfasst. Als Basismethode für die Unterrichts­ praxis ist an das biblische Erzählen gedacht, welches ja keineswegs nur in der Grundschule zur Anwendung gelangen möchte.79 Die Akzentuierung der Erzählung als grundlegender Lernform ist schon allein deshalb bibeldidaktisch naheliegend, weil das Markusevangelium selbst eine Erzählung ist.80 Das Erzählen greift die Methode der Evangelisten, Christologie narrativ zu explizieren, auf und will – nicht zuletzt – in theologischer Hinsicht gut vorbereitet sein, da die grundlegenden theologischen Kerngehalte des Textes, sprich: dessen elementare Strukturen, erzählerisch transportiert werden wollen. Alle weiteren methodischen Konkretisierungsvorschläge setzen das Erzählen voraus. Als Altersgruppe ist bei der avisierten Reihe hinsichtlich des schulischen Kontextes an die Sekundarstufen 1 (ab dem 9. Schuljahr) und 2 gedacht,81 im Blick

79

Vgl. K.-P. Hertzsch, Plädoyer für das Erzählen, WzM 39 (1987), 202–206; Müller, Mit Markus erzählen, 98–104. Fernerhin: M.E. Fuchs / D. Schliephake (Hg.), Bibel erzählen, Neukirchen-Vluyn 2014; D.K. Hofheinz / M. Hofheinz, Das Erzählzelt. Zur praktischen Umsetzung eines Konzepts biblischer Didaktik in der Grundschule, Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 7 (2008), 205–236; M. Zimmermann, Art. Erzählen, in: dies. / R. Zimmermann (Hg.), Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 2013, 475–490. Zur dogmatischen Valenz des Erzählens vgl. die Bemerkung Barths, wonach die Antwort auf die Frage »Cur deus homo?« erzählt werden will: »Es bleibt […] tatsächlich nichts übrig, als sich das einfach in der Weise der Erzählung von so geschehener Geschichte (um solche handelt es sich!) – erzählen, als objektiv geschehen, vorhalten zu lassen.« Barth, KD IV/1, 245. 80 Vgl. Müller, Mit Markus erzählen, 13–16; 38. 81 Zur Ausprägung von Kompetenzen gegen Ende der Sekundarstufe 1 vgl. etwa F. Kraft, Jesus Christus als Thema des Religionsunterrichts – Ergebnisse eines Feldversuchs zur Kompetenzüberprüfung, in: ders. u.a. (Hg.), »Jesus würde sagen: Nicht schlecht!« Kindertheologie und Kompetenzorientierung, Jahrbuch für Kindertheologie. Sonderband, Stuttgart 2011, 40–51; für die Sekundarstufe 2 vgl. W. Schwendemann / A. Ziegler, Von der Schwierigkeit, Kompetenzen im Religionsunterricht der Oberstufe festzustellen – einige Bemerkungen zur Christologie-Einheit, in: F. Kraft u.a. (Hg.), »Jesus würde sagen: Nicht schlecht!« Kindertheologie und Kompetenzorientierung. Jahrbuch für Kindertheologie. Sonderband, Stuttgart 2011, 52–68.

Unterrichtliche Konkretion

269

auf die Gemeindepädagogik und Erwachsenenbildung etwa an einen Gemeindebibelkreis. Das soll freilich nicht ausschließen, dass auch für den RU in der Grundschule Impulse gewonnen werden können. Die einzelnen Bausteine der Unterrichtsreihe ergeben sich aus den eingangs aufgelisteten Texten des Markusevangeliums,82 in denen der Hoheitstitel »Sohn Gottes« gebraucht wird. 83 Damit erfährt das in vielen Lehrplänen auftauchende Problem einer fehlenden Systematik für die Auswahl der Geschichten von und über Jesus eine Lösung.84 Der Erzählzusammenhang der markinischen Christologie wird durch die Beibehaltung der erzählerischen Reihenfolge bzw. Chronologie der Geschichte rudimentär gewahrt. Der erzählerische Rahmen gewährleistet, dass die einzelnen Bausteine nicht als erratische Blöcke nebeneinander stehenbleiben, was didaktisch abträglich wäre: »Solange biblische Einzeltexte als erratische Blöcke stehen bleiben, ohne in einen theologischen Zusammenhang eingeordnet zu werden, leisten sie einem ›Theologisieren‹, also einem eigenständigen Nachdenken über theologische Fragen, kaum Vorschub. Der gesetzte theologische Rahmen grenzt diese Art der Auseinandersetzung mit biblischen Texten von anderen, offener strukturierten Verfahren [sc. ohne Themenvorgabe; M.H.] ab.«85

82

Im Zusammenhang seiner story-Konzeption weist D. Ritschl (Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 21988, 46) zu Recht darauf hin, dass jede Gesamt-Story nur bruchstückhaft erzählbar ist, sofern diese sich nämlich aus den Einzel-Stories ergibt: »Die angemessene Weise sie [sc. die Gesamt-Story; M.H.] aufzuzeigen, ist eben die Aneinanderreihung und Verknüpfung vieler Einzel-Stories. […] Wenn die frühesten Christen sagen wollten, wer Jesus war, so erzählten sie viele Einzelgeschichten, wiederum komponiert und selektiert nach der Steuerung einer schwer oder gar nicht erzählbaren Gesamt- oder Meta-Story. Es ist auch kein Zufall, daß das Neue Testament vier solche Sammlungen statt einer definitiven (wie sie Tatian im 2. Jahrhundert in seinem Diatessaron anstrebte) darbietet. Man kann nicht kurz und bündig sagen, wer Jesus ist.« 83 Es geht freilich nicht um einen isolierten Ansatz ausschließlich bei den Hoheitstiteln, sondern zugleich um eine narratologische Zugangsweise. Zur Kritik an einer isolierten, ausschließlich bei der Verwendung von Hoheitstiteln ansetzenden Erschließung neutestamentlicher Christologiekonzeptionen vgl. R. Zimmermann, Jenseits von Historie und Kerygma. Zum Ansatz einer wirkungsästhetischen Christologie des Neuen Testaments, in: U.H.J. Körtner (Hg.), Jesus im 21. Jahrhundert. Bultmanns Jesusbuch und die heutige Jesusforschung, Neukirchen-Vluyn 2006, 153–188. 84 Dieses Problem identifiziert etwa Harnisch, Mensch und Gottes Sohn, 122. 85 Roose, Abenteuer Christologie, 182.

270

Dem Geheimnis der Sohnschaft auf der Spur

2.2 Das Gespräch im Himmel (Mk 1,1–8) 2.2.1 Theologische Einleitung Elementare Strukturen der narrativen Christologie des Markus werden bereits im Prolog seines Evangeliums (1,1–13) sichtbar. Dazu gehört vor allem die vorausgesetzte Präexistenz Jesu Christi.86 Zitiert wird in den Schlüsselversen Mk 1,2f. eine Zitatenkomposition aus Mal 3,1 LXX verbunden mit Ex 23,20 LXX und daran angeschlossen Jes 40,3 LXX. Markus schreibt dieses Gesamtzitat dem Propheten Jesaja zu und setzt voraus, dass derselbe Zeuge jener himmlischen Szene geworden ist, in der ein Ich (der Vater) ein Wort an ein Du (den Sohn Gottes) richtet. Der Evangelist Markus versteht dies so, dass der Vater dem präexistenten Sohn im Himmel ankündigt, Johannes den Täufer als Botschafter vor ihm her zu senden, damit Johannes Jesus, dem κύριος, den Weg bereitet. Durch diese Szene eingeleitet, steht das gesamte Markusevangelium unter dem Vorzeichen einer »hohen Christologie«, die durch die Vorstellung der Präexistenz gekennzeichnet ist (vgl. als weitere Präexistenzzeugnisse Mk 9,37; 12,6): »Es wird zwar immer wieder bestritten, daß Markus eine Präexistenzchristologie vertritt, aber der Eingang seines Evangeliums belegt es in aller Deutlichkeit. Auf den Eingangssatz 1,1–2a folgt in 1,2b–3 ein aus mehreren Schriftzitaten bestehender Prologteil, in dem Gott seinem Sohn mit Worten aus Ex 23,20 und Mal 3,1 die Sendung des irdischen Vorboten ankündigt. Der Ort dieses Dialogs können nur die Himmel sein. Markus ändert das πρὸ προσώπου μου von Mal 3,1 in πρὸ προσώπου σου und zeigt damit an, daß Gott seinen Sohn als Repräsentanten seines Wesens und Willens auf die Erde sendet. Ihm soll Johannes als die in Jes 40,3 angekündigte ›Stimme eines Rufers‹ in der Wüste vorangehen und dazu auffordern, dem κύριος (d.h. Jesus, dem Sohn Gottes und designierten Herrn der Welt [vgl. Mk 12,35–37]) den Weg zu bereiten. 1,2b–3 bezeugen die Präexistenz und volle Gottessohnschaft Jesu […]. Markus stellt Jesus mit der Bezeichnung Gottessohn als ›das einzigartige Gegenüber des Vaters‹ dar.«87

86

Dies betont u.a. A. Schlatter, Markus. Der Evangelist für die Griechen. Mit einem Geleitwort von K.H. Rengstorf, Stuttgart 21984, 15. 87 P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments Bd. 2, Göttingen 1999, 137. Das Zitat im Zitat stammt von J. Gnilka, Theologie des Neuen Testaments, Freiburg i.Br. u.a. 1999, 159. So auch Hofius, Jesu Zuspruch, 55. Vgl. auch R.B. Hays, Reading Backwards. Figural Christology and the Fourfold Gospel Witness, Waco 2014, 20f.: »Mark’s opening mixed citation already contains a major clue about the divine identity of Jesus. […] there is an implicit claim about Jesus’ divine status in the opening lines of this Gospel.« Zur Diskussion vgl. B. Bosenius, Der literarische Raum des Markusevangeliums, WMANT 140, Neukirchen-Vluyn 2014; H.-J. Klauck, Vorspiel im Himmel? Erzähltechnik und Theologie im Markusprolog, BThSt 32, Neukirchen-Vluyn 1997; Ch. Rose, Theologie als Erzählung im Markusevangelium. Eine narratologisch-rezeptionsästhetische Studie zu Mk 1,1–15, WUNT II/236, Tübingen 2007.

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In den V. 4–8 wird erzählt, dass Johannes die Wegbereitung (V. 3: »Bereitet dem Herrn den Weg«) verkündigt hat, indem er zur Umkehr ruft (V. 4) und voraussagt (V. 7), dass nach ihm ein Stärkerer kommen wird, der dadurch qualifiziert ist, dass er mit dem Heiligen Geist tauft (V. 7), was nach alttestamentlicher Tradition Gott vorbehalten ist (vgl. Joel 3,1f.; Jes 32,15ff.; 44,3; Sach 12,10; Hes 18,31; 36,25ff.). 2.2.2 Impuls für die Unterrichtspraxis Ein unterrichtspraktischer Impuls könnte in der Erstellung eines Steckbriefes zu Johannes dem Täufer bestehen und zwar als eine indirekte Annäherung an die Ausgangsfrage, wer Jesus eigentlich ist. Als erkenntnisleitende Frage legt sich nahe: Was erfahren wir im Markusevangelium über Johannes den Täufer? Hier könnte etwa zusammengetragen werden: 1. d  ass er der Botschafter ist, den Gott, der Vater, vor seinem Sohn senden wird (V. 2); 2. dass er als Prediger in der Wüste auftreten wird (V. 3); 3. dass er die Bußtaufe zur Vergebung der Sünden predigt (V. 4); 4. dass er nach Prophetenart auftritt (V. 6), zumal seine Kleidung (»mit Kamelhaaren und einem ledernen Gürtel um seine Lende«) an Elia (»Elia redivivus«) erinnert (vgl. 2Kön 1,8); 5. dass er isst, was ihm die Wüste bietet, nämlich Heuschrecken und wilden Honig (V. 6); 6. dass er den nach ihm kommenden Stärkeren ankündigt, der mit dem heiligen Geist taufen wird (V. 7.). Um das Augenmerk insbesondere auf die V. 2f. und die Präexistenz Jesu Christi zu richten, könnte vertiefend gefragt werden, wer da eigentlich wem erzählt, dass er seinen Botschafter vor ihm her schickt. Überhaupt wäre im Unterrichtsgespräch zu thematisieren, was dieses Gespräch im Himmel eigentlich bedeutet.

2.3 Die Taufe Jesu (Mk 1,9–11) 2.3.1 Theologische Einleitung Hier gilt es dreierlei zu berücksichtigen: 1. Beachtet man den Kontext des Markusprologs, so zeigt sich, dass es nicht um ein Berufungserlebnis oder die Konstituierung der Gottessohnschaft des Menschen Jesus geht, der zum Sohn Gottes adoptiert wird: »Die Gottesstimme sagt (wie in 9,7), wer Jesus immer schon ist, nicht aber, wer er mit der Taufe allererst wird; das ergibt sich eindeutig von 1,2f.7 her (V. 2b setzt die Präexistenz voraus!).«88 In Mk 1,11 wird dem Leser des Evangeliums »gesagt, wer Jesus ist,– nicht dagegen, wer er durch das Gotteswort allererst wird […]. Man kann die Perikope Mk 1,9–11 nicht schlimmer mißverstehen, 88

Hofius, Jesu Zuspruch, 56. So auch ders., Ist Jesus der Messias?, 130.

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als wenn man in ihr die Adoption des Menschen Jesus von Nazareth zum ›Sohn Gottes‹ berichtet findet.«89 Treffend stellt G. Bausenhart fest: »Jesus wird hier vom Vater als Sohn bestätigt, nicht zum Sohn gemacht, wie das beim davidischen König geschieht, und markiert zugleich den heilsgeschichtlichen Unterschied zu Johannes dem Täufer.«90 2. Das Persongeheimnis wird hier auf der Ebene der Erzählung noch nicht als gelüftet dargestellt, da in den V. 10f. erzählt wird, was im Anschluss an die Taufe Jesu durch Johannes folgte, als offensichtlich niemand dabei war. Es geht also nicht um eine öffentliche Proklamation durch die Himmelstimme. Dies wird offenkundig, wenn man sich etwa die Darstellung der Taufe Jesu anschaut. Es handelt sich insofern um eine Epiphaniegeschichte, als dass den Leserinnen und Lesern des Markusevangeliums kundgetan wird, wer Jesus ist: »Wir haben in 1,10f. […] eine Epiphanieszene vor uns, mit der der Evangelist dem Leser zeigen will, wer dieser Mensch wirklich ist: der ›Sohn Gottes‹, der aus der himmlischen Sphäre stammt.«91 Die Leserschaft wird gleichsam in das Geschehen mithineingenommen, sowohl in das Gespräch im Himmel (Mk 1,2f.), als auch in die Zusage Gottes an seinen Sohn nach der Taufe (Mk 1,11). Dass Gott hier selbst spricht, verdeutlicht den Leserinnen und Lesern, dass nur Gott selbst das Geheimnis erschließen, mithin offenbaren kann, wer Jesus ist. 3. An der Taufe Jesu sind bezeichnender Weise Vater, Sohn und Heiliger Geist beteiligt: Der Sohn, der getauft wird, der Geist,92 der wie eine Taube auf den Sohn herabkommt, und der Vater in Gestalt der Himmelsstimme, die bei Markus (1,11) und Lukas (3,22) den Sohn direkt anspricht: »Du bist mein geliebter Sohn. An dir habe ich Wohlgefallen.« Indes heißt es bei Matthäus (3,17) in der 3. Person: »Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.« Die Konstellation ist gleichwohl auch dort vor-trinitarisch. Hier sind trinitarisch interpretierbare Tiefenstrukturen feststellbar.93 Jesus wird indes nicht nur als Geistträger, sondern auch als Geistspender dargestellt, zumal er mit dem Heiligen Geist tauft (Mk 1,8).

89

Hofius, Jesu Zuspruch, 56. Bausenhart, Einführung, 82f. 91 L. Schenke, Das Markusevangelium, Stuttgart 1988, 109. 92 Bereits in 1,8 war im Blick auf die Wassertaufe durch Johannes den Täufer vom »heiligen Geist« die Rede. Christus als der »Stärkere« (ἰσχυρότερος; Mk 1,7) schenkt den von der Sünde reinigenden heiligen Geist und damit die Sündenvergebung: »Ich taufe euch mit Wasser; aber er wird euch mit dem heiligen Geist taufen.« Vgl. Hofius, Jesu Zuspruch, 55. Auch wird Jesus vom Geist in die Wüste getrieben (Mk 1,12). 93 Vgl. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 41982, 472: »Die Trinitätslehre hat im Grunde keine andere Funktion, als Gottes Geschichte so wahr sein zu lassen, dass sie verantwortlich erzählt werden kann.« 90

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2.3.2 Impuls für die Unterrichtspraxis Die gleichsam vortrinitarische Rollenkonstellation, sprich: die Beteiligung von Vater, Sohn und Heiligem Geist am Taufgeschehen, will entdeckt und bedacht werden. Dies kann etwa dadurch ermöglicht bzw. angebahnt werden, dass die Schülerinnen und Schüler ein Textsoziogramm bzw. eine Interaktionsgrafik zur Taufe Jesu erstellen. In diese Grafik / dieses Soziogramm werden mittels Pfeilen die Dialoge und Interaktionen eingezeichnet. Diese Methode hilft, die Textstruktur durch Visualisierung der Zusammenhänge zu erfassen. Zugleich werden kognitive Strukturen veräußerlicht, was Dialogfähigkeit befördert (geeignet für Alter: 14–18 Jahre94). Daran kann sich etwa eine Gruppendiskussion anschließen95 und zwar anhand der Leitfragen: »Stellt euch vor, ihr hättet dabei gestanden – worüber hättet ihr euch gewundert?« Diese Frage lenkt die Aufmerksamkeit auf die begleitenden Phänomene und bahnt die Fokussierung auf die (vor-trinitarische) Rollenkonstellation an. Diese wird in direkter Weise mit der zweiten Frage explizit gemacht: »Was erfahren wir über das Verhältnis von Jesus, Gott und dem Geist (der Taube)«? Die dritte Frage könnte lauten: »Inwiefern gibt die Erzählung der Leserin / dem Leser eine Antwort auf die Frage, wer Jesus ist?« Damit wird der Bezug zur übergeordneten Ausgangsfrage der gesamten Reihe nach der Identität Jesu hergestellt und zugleich die Leserperspektive eingenommen.

2.4 Der besessene Gerasener (Mk 5,1–20) 2.4.1 Theologische Einleitung In dieser Erzählung kommt es zu einer Geistbegegnung sui generis: Es ist nicht die Relation Christus-Heiliger Geist, sondern kontrastiv wird ihr die Relation Christus-unreiner Geist gegenübergestellt. Ähnlich wie in Mk 1,23f., so erkennt auch hier der unreine Geist die Besonderheit Jesu, wie der Gebrauch des Sohn-Gottes-Prädikats zeigt: »Was willst du von mir, Jesus, du Sohn Gottes des Allerhöchsten? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle mich nicht« (Mk 5,7). Auf Jesu Nachfrage hin gibt der Dämon seinen Namen und sein wahres Wesen preis: »Legion« (Mk 5,9). G. Theißen96 hat auf den Zusammenhang von Besatzung und Besessenheit hingewiesen und die These vertreten, der viele Auslegerinnen und Ausleger fol-

94

Vgl. F.W. Niehl / A. Thömmes, 212 Methoden für den Religionsunterricht, München 2002, 131. 95 Dies schlägt etwa Ch. Böttrich, »Mit zu Gott gehören«. Jesu Taufe im Jordan durch Johannes (Mk 1,9–11 par), in: G. Büttner / M. Schreiner (Hg.), »Man hat immer ein Stück Gott in sich«. Mit Kindern biblische Geschichten deuten. Jahrbuch für Kindertheologie. Sonderband, Teil 2: Neues Testament, Stuttgart 2006, (29–41) 35, vor. 96 Vgl. G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, Gütersloh 71998, 252f. 5

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gen,97 dass mit diesem Namen (»Legion«) eine Anspielung auf die römischen Besatzungstruppen vorliegt: »Die römische Herrschaft wird hier insgesamt als dämonisch erfahren und gedeutet. Die Austreibung der Dämonen spiegelt den Wunsch wider, dass die Römer aus dem Lande vertrieben werden.«98 2.4.2 Impuls für die Unterrichtspraxis Diese Geschichte ist religionsdidaktisch äußert ergiebig und bietet vielfältige Möglichkeiten, elementare Zugänge zu schaffen.99 Zunächst einmal handelt es sich um eine Erzählung, die zum Nacherzählen einlädt. Dies hat etwa I. Baldermann, der Theißens These folgt, in anschaulicher Weise getan.100 Im Blick auf Jugendliche ist die Tendenz beobachtet worden, dass sie in ihrem christologischen Nachdenken »die Aussagen ganz stark auf das subjektive Erleben […] konzentrieren«.101 Nach G. Büttner etwa gilt es insbesondere im Blick auf Wundergeschichten diese Tendenz als »herausragendes Merkmal christologischen Nachdenkens«102 zu beachten. Das spricht dafür, die Geschichte vom Gerasener unterrichtspraktisch auf das eigene Leben zu beziehen und dabei eine leiblich-sinnliche Annäherung einer kognitiven vorzuziehen, sprich: die Geschichte zu »probieren«. M. Günther103 hat dazu in seiner »Schulseelsorge« folgenden empfehlenswerten Vorschlag eines performativen Einstiegs in der Sekundarstufe I entfaltet: Die Jugendlichen bilden Kleingruppen (zu jeweils 5–6 Personen). Jede Kleingruppe erhält ein Textblatt, jede/r ein Aufgabenblatt folgenden Inhalts:

97

Etwa K. Wengst, Pax Romana. Anspruch und Wirklichkeit. Erfahrungen und Wahrnehmungen des Friedens bei Jesus und im Urchristentum, München 1986, 86; C. Jochum-Bortfeld, Die Verachteten stehen auf. Widersprüche und Gegenentwürfe des Markusevangeliums zu den Menschenbildern seiner Zeit, BWANT 178, Stuttgart 2008, 242; B. Kollmann, Neutestamentliche Wundergeschichten. Biblisch-theologische Zugänge und Impulse für die Praxis, Stuttgart u.a. 22007, 74f. 98 Jochum-Bortfeld, Die Verachteten stehen auf, 22. 99 M. Günther (Menschen – Psychologische Impulse aus der Bibel, BThS 34, Göttingen 2008, 115) weist darauf hin, dass diese Geschichte wie kaum eine andere Wundergeschichte die Phantasie der Exegetinnen und Exegeten angeregt hat und dazu ermutigt, das ganze Repertoire exegetischer Methoden zu testen. 100 Vgl. I. Baldermann, Gottes Reich – Hoffnung für Kinder. Entdeckungen mit Kindern in den Evangelien, WdL 8, Neukirchen-Vluyn 42002, 75f. 101 Büttner, Jesus hilft!, 278. 102 Ebd. Nach Büttner (a.a.O., 90) sollen übrigens auch die Wunderschichten durch die Passionsgeschichte über »theologische Diskussion unter Kindern zu Grundfragen der Christologie« ins Gleichgewicht gebracht werden. Dies geschieht im Zusammenhang der avisierten Unterrichtsreihe dadurch, dass der Wundererzählung vom besessenen Gerasener die Erzählung vom Verhör Jesu und vom Hauptmann unterm Kreuz an die Seite gestellt wird. 103 M. Günther, Jugendseelsorge. Grundlagen und Impulse für die Praxis, Göttingen 2018, 108f.

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A) Die Geschichte hören • Bittet jemanden in eurer Gruppe, die Geschichte laut vorzulesen. • Setzt euch als Zuhörer / Zuhörerin so hin, dass ihr gut zuhören könnt. Achtet beim Hören auch auf euch selbst: Welche Empfindungen verspürt ihr, welche Erinnerungen und Einfälle kommen euch? • Wiederholt in eurer Gruppe unkommentiert nacheinander die Worte, die ihr besonders im Ohr habt und die nachklingen. • Erzählt einander die Bilder, die ihr beim Hören der Geschichte vor eurem inneren Auge gesehen habt. B) Die Geschichte inszenieren • N  ehmt die «inneren Bilder« eurer Gruppe auf, um die Geschichte pantomimisch darzustellen. • Was erlebt der Gerasener? Was tut er? • Probiert eine entsprechende Körperhaltung, Gestik und Mimik aus. • Stellt die Wendung in der Geschichte dar. Wie hat sich das Leben des Geraseners verändert? Wodurch? Nachdem eine Gruppe ihre Spielszenen präsentiert hat, wird sie gebeten, zunächst nicht in das Gespräch der Gruppe einzugreifen. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sollen in drei Gesprächsgängen auf folgende Fragen antworten: • Was habe ich gesehen? • Was habe ich empfunden? • Welche Wendungen der Geschichte wollte die Gruppe darstellen? Erst jetzt wird die Gruppe gefragt, ob die Wahrnehmungen der Zuschauerinnen und Zuschauer mit ihrer Absicht, die Szenen zu gestalten, übereinstimmen. Das Gespräch in der Gesamtgruppe bietet anschließend Raum zum Austausch über das Erlebte. In der Sekundarstufe II ist auch ein Einstieg über ein Fallbeispiel denkbar.104

2.5 Die Verklärung Jesu (Mk 9,1–13) 2.5.1 Theologische Einleitung Wie bei der Taufe Jesu so handelt es sich auch hier um eine Epiphanieszene, in der die verborgene Wirklichkeit Jesu, des Sohn Gottes, zur Darstellung kommt: »Jesus wird hier in Anwesenheit der himmlischen Zeugen Mose und Elia ein zweites Mal von der Stimme Gottes als Gottessohn ausgerufen, und zwar vor Petrus, Jakobus 104

Diesen Hinweis verdanke ich M. Günther. Vgl. ders., Jugendseelsorge, 102f.

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und Johannes. Sie werden gemahnt, auf diesen Gottessohn zu hören: ἀκούετε αὐτοῦ (9,7).«105 Diese Ermahnung spielt auf Dtn 18,15 und damit die Prophetie des Mose an: »Einen Propheten wie mich wird dir JHWH, dein Gott, aus der Mitte deiner Brüder erstehen lassen, auf den sollt ihr hören!« In der Erzählung soll aber keineswegs einfach eine Parallelität zwischen Mose und Jesus ausgesagt werden, reden doch nach Mk 9,4 Elia und Mose mit Jesus, wie nach Ex 34,35 Mose mit JHWH redet.106 Jesus gehört hier nicht auf die Seite der Propheten Elia und Mose, sondern die Seite Gottes. Allein auf den geliebten Sohn ist nach der Weisung Gottes zu hören: »Jesus ist die Vollendung der Offenbarung Gottes.«107 Er ist kein Prophet wie Mose und/oder Elia. Was der Hauptmann unter dem Kreuz bekennt, nämlich die Gottessohnschaft Jesu, haben Petrus und die anderen Jünger schon vor Kreuz und Auferstehung, also bereits vor der Passion, erkennen dürfen. Aber auch sie werden kollektiv unter das Schweigegebot gestellt (Mk 9,9).108 Es entfällt erst mit dem leeren Grab (Mk 16,7). Die Aussageintention der Verklärungsperikope entspricht der der Taufperikope, insofern auch hier (wie dort) gesagt wird, wer Jesus ist und nicht, wer er vermeintlich durch das Gotteswort wird.109 Jesus erscheint hier offenkundig als der »Sohn Gottes«, d.h. dass auf dem Berg als Ort der Gottesoffenbarung110 eine solche Offenbarung als Offenbarung der sonst verborgenen göttlichen δόξα vor den auserwählten Jüngern geschieht.111 Hier wird »der irdische Jesus als der Träger der δόξα bezeugt«.112 Für einen kleinen Augenblick bekommen die drei auserwählten Jünger die Gottesherrlichkeit vor Augen gestellt: »Und seine Kleider wurden glänzend, sehr weiß, so wie kein Bleicher auf der Erde weiß machen kann« (Mk 9,3). Es geht um die direkte, unmittelbare göttliche δόξα, also nicht den »Abglanz der Verklärung«, der auf Mose Angesicht lag, als er vom Berg stieg (Ex 34,29f.). Es bleibt festzuhalten: In dieser Erzählung kommt zum Ausdruck, »[d]aß Jesus auch in den Tagen seines Erdenwirkens die göttliche Herrlichkeit eignet«.113 Diese hielt er aber vor seinen Zeitgenossen verborgen.

105

Stuhlmacher, Biblische Theologie 2, 142. So O. Hofius, Die Allmacht des Sohnes Gottes und das Gebet des Glaubens. Erwägungen zu Thema und Aussage der Wundererzählung Mk 9,14–29, in: ders., Exegetische Studien, WUNT 223, Tübingen 2008, (3–23) 5. 107 Stuhlmacher, Biblische Theologie 2, 142; dort kursiv. 108 Vgl. ebd.: »Für die Leser des Evangeliums ist der Offenbarungsgehalt des Textes kaum zu überbieten, zumal sie nun von Jesu Verklärung reden dürfen und sollen.« 109 Vgl. Hofius, Jesu Zuspruch der Sündenvergebung, 56; ders., Ist Jesus der Messias, 130. 110 Bezüge etwa zum Gottesberg Sinai bzw. Horeb lassen sich feststellen (Ex 19,3 LXX; 24,14 LXX), der seit jeher mit Theophanievorstellungen verbunden war; ggf. sind auch Anspielungen auf den Zion zu erwägen. 111 Vgl. Hofius, Jesu Zuspruch der Sündenvergebung, 56; ders., Ist Jesus der Messias, 130. 112 Schniewind, Antwort an Rudolf Bultmann, 94. 113 Hofius, Ist Jesus der Messias?, 15. 106

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2.5.2 Impuls für die Unterrichtspraxis Da die Verklärungsgeschichte von der Enthüllung der göttlichen δόξα spricht und den verklärten Jesus mit solchen ästhetischen Ausdrücken umschreibt, die nach Dan 7,9 JHWH gelten, ist es auch in didaktischer Hinsicht naheliegend, einen ästhetischen Zugang zu wählen. An gestalterischen Methoden ist etwa an eine Vernissage zu denken, bei der die Schülerinnen und Schüler durch eine Ausstellung prominenter Bilder der Verklärungsgeschichte aus der Kunstgeschichte (man denke nur an Raffaels berühmtes Ölgemälde in den Vatikanischen Museen oder das Fenstermotiv aus der Versöhnungskirche in Taizé) schlendern können, um sich dasjenige Bild herauszusuchen, welches ihres Erachtens die Aussage der Verklärungsgeschichte am treffendsten widergibt. Die Wahl des Bildes wäre entsprechend zu begründen.114 Zu den methodischen Möglichkeiten gehört selbstverständlich auch ein eigenes In-Farbe-Setzen: Die Schülerinnen und Schüler werden selbst kreativ und erstellen eigene künstlerische Arbeiten zur Verklärungsperikope mit der göttlichen Herrlichkeit Jesu im Zentrum der Botschaft. Die Ergebnisse aus einer entsprechenden Erarbeitungsphase könnten anschließend in einer Bündelungsphase ausgestellt werden. Ein gegenseitiges Vorstellen der Ergebnisse fördert in jedem Fall das gegenseitige Interesse und entsprechende Wertschätzung.

2.6 Das Verhör Jesu (Mk 14,53–65) 2.6.1 Theologische Einleitung Die Verhandlung vor dem Hohen Rat (Synhedrium) ist Teil der Passionsgeschichte.115 Das Verhalten Jesu, mit dem er seiner Verhaftung und Hinrichtung entgegengeht, erfolgt in solch aktiver Weise,116 dass H. Mödritzer und im Anschluss an ihn C. Jochum-Bortfeld vom Weg ans Kreuz als »forensischer Selbststigmatisierung«117 gesprochen haben. Auffällig ist in der Tat, dass Jesus jede Möglichkeit der Selbstverteidigung ausschlägt, um seiner Hinrichtung zu entgehen. Gegenüber dem Hohen Rat und vor Pilatus setzt er sich nicht zur Wehr. Er schweigt (Mk 14,61) und nimmt damit keine Möglichkeit der Verteidigung wahr.

114

Sich zu Bildern in Beziehungen setzen, heißt nach Müller, Mit Markus erzählen, 95: »[I]nterpretieren, sich identifizieren, nach-, weitererzählen, nachspielen, zuordnen«. 115 Zur Schilderung der Passionsgeschichte vgl. den synoptischen Überblick in: Black, Mark, 277–281. 116 Barth (KD IV/1, 269) hebt hervor, dass es sich bei dieser Passion um »eine Aktion, eine Tat, um ein solches freies Sichopfern und insofern um eine Tat und nicht etwa um ein Schicksal handelt«. 117 H. Mödritzer, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums, NTOA 28, Freiburg (CH) / Göttingen 1994, 155f.; Jochum-Bortfeld, Die Verachteten stehen auf, 224.

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Im Zentrum des Verhörs Jesu steht die Befragung Jesu durch den präsidierenden Oberpriester (Mk 14,61–64), in dem auch das Christusprädikat »Sohn Gottes« Gesprächsgegenstand ist. Im Blick auf diesen Gesprächsgegenstand seien Thesen O. Hofius’ präsentiert,118 die den Gehalt der betreffenden Verse m.E. treffend pointieren: »Die Historizität der Szene Mk 14,61–64 ist in der Exegese nicht ohne Grund sehr umstritten. […] Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß sich in der Szene – zumindest: auch – die nachösterliche Diskussion der christlichen Gemeinde und der Synagoge über das Bekenntnis zur Messianität und Gottessohnschaft Jesu widerspiegelt. […] Jedenfalls gilt: Der Anspruch, der Messias (im alttestamentlich-jüdischen Sinn) zu sein, konnte im Judentum niemals als eine ›Gotteslästerung‹ beurteilt werden. […] Sollte Jesus beim Verhör vor dem Hohenpriester ein messianisches Selbstbekenntnis abgelegt haben, so hätte das keinen Anlaß zur Feststellung einer offenkundigen ›Blasphemie‹ und zu einem entsprechenden Todesurteil geben können. […] Eine Gotteslästerung ergibt sich für jüdisches Empfinden aus den Worten Mk 14,62b: ›und ihr werdet den Menschensohn sitzen sehen zur Rechten der Macht (d.h. Gottes, des Allmächtigen) und kommen mit den Wolken des Himmels‹ – sofern diese Worte als eine Aussage Jesu über sich selbst verstanden werden wollen. Mit diesen Worten ist nämlich ein Anspruch erhoben, der jeden messianischen Anspruch nicht bloß quantitativ, sondern qualitativ übersteigt: der Anspruch eines Status und einer Funktion, die nur in einer wesenhaften Einheit mit Gott begründet sein können. […] Ob Mk 14,62b exakt die Worte wiedergibt, die Jesus vor dem Synhedrium gesprochen hat, wird man fragen dürfen. In der Formulierung dürfte sich aber widerspiegeln, daß Jesus beim Verhör durch den Hohenpriester in der Tat einen Anspruch erhoben hat, der alles Messianische weit – und zwar: qualitativ weit – überstieg und den jüdischen Autoritäten notwendig als ›Gotteslästerung‹ erscheinen mußte.«119

2.6.2 Impuls für die Praxis Es bietet sich hier m.E. ein Rollenspiel an, in dem die Verhörszene (im Sinne einer kurzen Sequenz) inszeniert wird. Dabei wäre der eigentliche Grund der Verurteilung Jesu darzustellen. Mit Rollen sind hier an den Text gebundene Rollen gemeint. Die Erzählung wird so in Bewegung und Sprache umgesetzt. Grundsätzlich 118

Hofius, Ist Jesus der Messias?, 126. Zur Historizität des Prozesses vgl. einführend: J. Roloff, Neues Testament, Neukirchener Arbeitsbuch, Neukirchen-Vluyn 71999, 238–240; Zimmermann, Kindertheologie, 251–259. 119 Hofius, Ist Jesus der Messias?, 126.

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gilt: »Die Methode des Rollenspiels ermöglicht die spielerische Aufarbeitung und damit auch Reflexion bisherigen Verhaltens und das Ausprobieren von Alternativen«.120 Hier geht es um die spielerische Imitation der vorgegebenen Rollen der Verhörszene.

2.7 Die Szene unter dem Kreuz (Mk 15,21–39) 2.7.1 Theologische Einleitung Die Schilderung der Passion Jesu weist viele christologische Aspekte auf.121 Die Deutung des Todes Jesu ist ein komplexer Zusammenhang, dem zu Recht große religionsdidaktische Aufmerksamkeit gewidmet wurde.122 Auf die Sühnevorstellung und damit implizit auch das Stellvertretungsmotiv spielt etwa Mk 15,38 an.123 Hier soll indes auf den Sohnes-Titulus fokussiert werden. Offenkundig steht das Leiden Jesu nicht im Widerspruch zu demselben, wie das abschließende Bekenntnis des Hauptmanns zeigt. Dabei will freilich beachtet werden, dass es sich durchaus um eine sarkastische Aussage gehandelt haben kann.124 Und dennoch gilt: »[S]eine erste öffentliche Proklamation als Gottessohn erfolgt – nach seinem Tod mit dem Schrei der Gottverlassenheit! – durch den Führer des Hinrichtungskommandos (15,39).«125 Jesus offenbart die Hoheit seiner Gottessohnschaft in der tiefsten Niedrigkeit. Im gekreuzigten Jesus wird der Sohn Gottes erkannt. Indem dies betont wird, werden »Vollmacht und Ohnmacht, Niedrigkeit und Hoheit Jesu in einem Spannungs120

Ch. Grethlein, Methodischer Grundkurs für den Religionsunterricht. Kurze Darstellung der 20 wichtigsten Methoden im Religionsunterricht von Sekundarstufe 1 und 2 mit Beispielen, Leipzig 2000, 82; vgl. S. Leonhard, Leiblich lernen und lehren. Ein religionsdidaktischer Diskurs, Praktische Theologie heute 79, Stuttgart u.a. 2006, 469f. 121 Vgl. dazu ausführlich Kammler, Das Verständnis der Passion Jesu im Markusevangelium, 461–491. 122 Die Forderung nach einer intensiveren Behandlung hat etwa Albrecht, Für uns gestorben, 299–303, aufgestellt. 123 Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie 2, 143: »Das Zerreißen des Vorhangs vor dem Allerheiligsten nach Jesu Sterben weist die Leser darauf hin, daß die durch Jesu Tod ein für allemal erwirkte Sühne den Tempel als Ort der Sühne obsolet gemacht hat.« Zur aktuellen theologischen Diskussion dieser Topoi (Sühne, Opfer und Stellvertretung) vgl. V. Hampel / R. Weth (Hg.), Für uns gestorben. Sühne – Opfer – Stellvertretung, Neukirchen-Vluyn 2010. 124 So etwa S.E. Dowd, Reading Mark. A Literary and Theological Commentary on the Second Gospel, Macon 2000, 162: »The response of the centurion to Jesus’ death is a ›confession‹ only in the ears of Mark’s audience. On the level of the story it is a sarcastic comment on the lips of a jaded professional executioner who has just watched one more Jewish peasant die calling on his God: ›Oh sure – that’s a son of Zeus all right!‹ (15:39 […]). The comment is not a response to the tearing of the temple curtain, since the centurion is portrayed as facing the cross, not the temple.« 125 R. Feldmeier, Die synoptischen Evangelien, in: K.-W. Niebuhr (Hg.), Grundinformation Neues Testament, Göttingen 42011, (75–142) 108.

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bogen zusammengehalten. Die Hoheit des Gottessohnes wird unter dem Kreuz sichtbar und öffentlich proklamiert.«126 Gerade in der absoluten Niederlage erfolgt die Offenbarung als Gottes Sohn: »Im Augenblick des Todes kann die Welt, deren Repräsentant hier der Hauptmann ist, erkennen, wer dieser Jesus von Nazareth ist: der Sohn Gottes.«127 Im Unterrichtsgespräch wird es darauf ankommen, diese Paradoxie zu verstehen. Dies kann gelingen, wenn die Vater-Sohn-Relation in den Blick genommen wird, die die besondere Gestalt des markinischen Kreuzigungsberichts (Mk 15,16–41) erschließt. Dabei ist auffällig, dass die Schilderung in der Sprache der Psalmen erfolgt, insbesondere der Leidenspsalmen 22 und 69, deren Motiv des leidenden Gerechten von Markus aufgenommen wird.128 Zu bedenken ist auch der historische Umstand, dass »[d]ie Kreuzigung […] im römischen Recht die grausamste und unehrenhafteste Form der Hinrichtung«129 war. Auch dies sind bereits Hinweise darauf, dass Jesu Weg ans Kreuz in die tiefste Tiefe der Gottverlassenheit führte. Die Dramatik der Schilderung kann im Zusammenhang der Unterrichtsreihe offenkundig werden, sofern diese auf die Komposition des Markus zurückgreift. Die Dramatik kommt zum einen dadurch zustande, dass offenkundig ein Missverständnis vorliegt: »Jesus ist aufgrund der falschen Anschuldigung, der Messias – d.h. der endzeitliche König Israels – sein zu wollen, von Pontius Pilatus zum Tod am Kreuz verurteilt und daraufhin von den Römern hingerichtet worden. […] Das bezeugt der Kreuzestitulus ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων (Mk 15,26; vgl. Mt 27,37; Lk 23,38; Joh 19,19).«130

Zum anderen scheint die in der Proklamation der Sohnschaft Jesu enthaltene Zusage Gottes aus der Taufe und der Verklärung: »Du bist mein geliebter Sohn« (Mk 1,11) bzw. »Das ist mein geliebter Sohn« (Mk 9,7), von Seiten Gottes nicht eingehalten zu werden. Die Dramatik gipfelt in der Krise der Gottessohnschaft, wie sie im Verlassenheitsschrei offenkundig wird: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen« (Mk 15,34)? Dieser Schrei bedeutet im Blick auf die Vater-Sohn-Relation die tiefste Infragestellung, da der Abbruch derselben droht, ja mit dem Tod Jesu vollzogen wird. Hier ergeht in der Gottesverlassenheit das Welt126

Ebd. Jochum-Bortfeld, Die Verachteten stehen auf, 191. Vgl. auch a.a.O., 189. 128 Vgl. dazu einführend: Roloff, Neues Testament, 244. Ausführlich: M. Ebner, Klage und Auferstehungshoffnung im Neuen Testament, JBTh 16 (2001), 73–87. 129 D. Dieckmann / B. Kollmann, Das Buch zur Bibel. Die Geschichten, die Menschen, die Hintergründe, Gütersloh 2010, 514. Vgl. Jochum-Bortfeld, Die Verachteten stehen auf, 225. 130 Hofius, Ist Jesus der Messias?, 127; vgl. Dieckmann / Kollmann, Das Buch zur Bibel, 514: »Das Verhör von Pilatus (15,1–5) spiegelt die Tatsache wider, dass Pontius Pilatus den religiösen Anspruch Jesu im politischen Sinne missverstanden und ihn als ›König der Juden‹ hinrichten ließ.« 127

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gericht über Jesus, der am Kreuz hängt.131 Markus redet von dem, »der in unsere Gottesferne ging, obschon er selbst Gottes Sohn ist, der, ›in dem Gott in einmaliger Gegenwärtigkeit handelt‹«132. Dies verdeutlicht bereits das alttestamentliche Gerichtsmotiv der dreistündigen Sonnenfinsternis (Mk 15,33; vgl. Am 5,18ff.; 8,9; Jes 13,9ff.; Joel 2,1ff.; 2,10; 3,4; 4,15; Zeph 1,14ff.), die zur Vollmondzeit des Passafestes astronomisch unmöglich ist.133 Der Text will indes theologisch verstanden werden und auf das zentrale Motiv der Gerichtsfinsternis hinweisen, das vorher bereits in Mk 13,24 auftauchte: »In jenen Tagen nach jener Drangsal wird sich die Sonne verfinstern und der Mond wird nicht mehr seine Strahlen abgeben.« Markus will wohl sagen, dass das Weltgericht Gottes über diesen einen am Kreuz ergeht, wobei das Ende der sich über die ganze Erde ausbreitenden (Gerichts-)Finsternis mit dem Schrei Jesu zusammenfällt (vgl. Mk 15,33f.). Das über die Welt ergehende Gericht trifft in dieser Stunde den Gekreuzigten. Er, der sich selbst ausgeliefert hat, wie die Verhörszene zeigte, trägt das Gericht stellvertretend für viele (vgl. Mk 10,45). Theologisch ist der Schrei Jesu als eine Parallele etwas zu Gal 3,13 (»Jesus ist zum Verfluchten geworden«) und 2Kor 5,21 zu verstehen: »Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht«.134 Jesu Ruf ist der Ruf des stellvertretend Sterbenden. Mit diesem Ruf nimmt Jesus das Gericht Gottes an. Noch inmitten der Gottverlassenheit schreit er: »Mein Gott, mein Gott!« Damit zeigt er, dass das Todesgericht, das er auf sich nimmt und anerkennt, der Weg in die Gemeinschaft mit Gott ist. Jesu Schrei ist damit der Schrei dessen, der den Heilswillen Gottes vollzieht. Es ist eigentlich der Schrei derer, für die er sich selbst in den Tod gibt. Der an dem Sünder festhaltende Gott vollzieht stellvertretend das Gericht, das dem Sünder gilt, über Jesus. In Jesu Tod ist damit die Entscheidung Gottes zugunsten der Vielen gefallen, für die sich der Sohn Gottes dahingegeben hat.135 Ein naheliegender Einwand dagegen, diese Auslegung aufzugreifen, lautet: Ist das Opfer- und Erlösungsszenario, das hier deutlich wird, nicht eine allzu fremde Vorstellungswelt für Kinder und Jugendliche? Indes verhält es sich so, dass Opfer- und Erlösungsszenarien durchaus in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen vorkommen, etwa in Gestalt von Opferszenarien in (Kino-)Filmen oder auch der Fantasyliteratur.136 Elementare Zugänge können hier also gewonnen werden.137 Im Blick auf das Sterben-Müssen Jesu bzw. das Motiv der Stellvertretung wird Gottes Reaktion auch von Kindern oft kritisch wahrgenommen.138 Vielen 131

Zur Deutung der Passion Jesu als Gottesgericht vgl. Barth, KD IV/1, 280. Schniewind, Antwort an Rudolf Bultmann, 90. Vgl. auch a.a.O., 81; 107. 133 Vgl. Kammler, Das Verständnis der Passion Jesu im Markusevangelium, 482. 134 Vgl. a.a.O., 484. 135 Vgl. a.a.O., 490. 136 Vgl. Zimmermann, Die (Be-)Deutung des Todes Jesu, 635–638; dies., Kindertheologie, 374. 137 So Zimmermann, Die (Be-)Deutung des Todes Jesu, 638–645. Ausführlich: dies., Kindertheologie. 138 Vgl. Zimmermann, Die (Be-)Deutung des Todes Jesu, 641–643. 132

282

Dem Geheimnis der Sohnschaft auf der Spur

Schülerinnen und Schülern drängt sich die Frage auf: »Wenn Jesus der geliebte Sohn ist, kann Gott ihn so sterben lassen?« Sie werden den Schrei Jesu vielleicht als einen verzweifelten Appell und zunächst ungehört verhallenden Ruf an Gott, Jesus zu retten, verstehen. Im Lichte der nicht auszusparenden Theodizeefrage139 kann die Auferweckung Jesu als die Antwort Gottes auf den Schrei Jesu in den Blick kommen, auf die ausblickhaft hingewiesen sein will.140 Aber auch die stellvertretende Versöhnung wird – wie die Auslegung zeigte – als Ursache der Gottesverlassenheit auszumachen sein. Beide Aspekte (Auferweckung und Stellvertretung) können und dürfen m.E. im Anschluss an die markinische Christologie theologisch geltend gemacht werden.141 In jedem Fall wird im Unterricht die Frage an die Schülerinnen und Schüler, ob und wie Gott auf den Schrei Jesu geantwortet hat, als Leitfrage eines Unterrichtsgesprächs expliziert werden müssen. Freilich ist dabei zu beachten, dass bei Markus »[n]icht ein Ansatz [bei der] Ausmalung dessen, was in Jesu Seele, was zwischen Gott und Jesus vorging«,142 entwickelt wird. 2.7.2 Impuls für die Unterrichtspraxis Wenn das Stellvertretungsmotiv in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen vorkommt und verstanden werden kann, ist es naheliegend, hier anzuschließen und etwa entsprechende Kino-Filme heranzuziehen. Die eigenständige Verknüpfung der beiden Deutungswelten kann allerdings nicht einfach vorausgesetzt werden, sondern will (film-)didaktisch143 erarbeitet werden.144 M. Zimmermann verweist etwa auf den Zeichentrickfilm »Findet Nemo!« (der Clownfisch Nemo ist bereit, sein Leben für seine Brüder und Schwestern zu geben), die Liebestragödie »Titanic«, den Kinofilm »End of Days« oder das Kino-Epos »Star Wars«.145 Im

139

Vgl. H. Hollenstein, Der schülerorientierte Bibelunterricht am Beispiel der Theodizeefrage, Rph 16, Aachen 1984. 140 Barth, KD IV/1, 336, interpretiert die Auferweckung als »Gottes Antwort« auf Jesu Tod und bezieht diese explizit auf den Verlassenheitsschrei Jesu. Vgl. a.a.O., 337f. 141 Dass die Auferstehungserzählung (Mk 16,1–8) selbst hier nicht als eigene Erzählung zum Gegenstand des Unterricht gemacht wird, ist nicht nur formal darin begründet, dass das Sohn-Gottes-Prädikat hier nicht gebraucht wird, sondern hat inhaltlich entscheidend damit zu tun, dass im Unterschied zu den Auferweckungsberichten anderer Toter (etwa der Tochter des Jairus, des Jünglings von Nain oder des Lazarus) »seine Auferweckung bekanntlich nicht erzählt [wird], sondern nur eben durch die Hinweise auf das leer gefundene Grab als deren Zeichen angedeutet und dann – in Form von Bezeugungen der Erscheinungen des Auferstandenen – stillschweigend vorausgesetzt wird.« Barth, KD IV/1, 369. 142 Schniewind, Antwort an Rudolf Bultmann, 91. 143 Einführend: M.L. Pirner, Film / Fernsehen / Video, in: G. Adam / R. Lachmann (Hg.), Methodisches Kompendium für den Religionsunterricht 2. Aufbaukurs, Göttingen 32010, 309–321. 144 Darauf weist Zimmermann, Kindertheologie, 374, hin. 145 Vgl. Zimmermann, Die (Be-)Deutung des Todes Jesu, 635f.

Schlussbetrachtung

283

Bereich der Fantasy-Literatur nennt sie exemplarisch Joanne K. Rowlings »Harry Potter«, Otfried Preußlers »Krabat« und Astrid Lindgrens »Brüder Löwenherz«.146

3. Schlussbetrachtung Der präsentierte christologiedidaktische Versuch weist eine bibeldidaktische Anlage auf. Er geht von der Grundeinsicht I. Baldermanns aus, dass biblische Texte ihre eigene Didaktik haben, und versucht, unter dieser Voraussetzung elementare didaktische Strukturen aus dem Markusevangelium zu entwickeln. Dabei tritt das Sohn-Gottes-Prädikat als Leitkategorie in den Blick, »um der Logik zu folgen, die sich mit dem Bekenntnis zu Christus auftut«.147 Entlang des Sohn-Gottes-Prädikats lässt sich der Weg Jesu abschreiten, wie er im Markusevangelium gezeichnet wird. Dieser Weg kann, um die gesamte avisierte Unterrichtsreihe zu rahmen und zu strukturieren, durch eine Tapetenbahn, die den Weg Jesu symbolisiert, visualisiert werden. Im Sinne von Stationen können dort die einzelnen Bausteine bzw. Stunden der Reihe eingetragen werden, also das Gespräch im Himmel, die Taufe Jesu, die Heilung des besessenen Geraseners, die Verklärung, die Verhörszene und schließlich seine Kreuzigung. Dabei können auch Symbole für die einzelnen Bausteine Verwendung finden, etwa eine Wolke für den Dialog im Himmel, das Wasser für die Taufe, ein weißes Tuch für die Verklärung und ein Kreuzsymbol. Durch diese Visualisierung wird ein ganzes Bodenbild148 auf der Tapete entstehen, das den Weg Jesu veranschaulicht. Die Symbole können die Erzählungen im Unterricht unterstützen und Auslöser dafür sein, die Geschichten nachzuerzählen und im Gedächtnis zu behalten.149 Abschließend möchte ich betonen, dass es mir bei dieser christologiedidaktischen Annäherung nicht um die schlichte vermittlungshermeneutische Weitergabe von dogmatischen Grundpositionen oder gar eines »kalten Dogmenglaubens«150 geht.151 Intendiert ist vielmehr Hilfestellung bei der Ausübung und Wahrnehmung eigener theologischer Kompetenz und zwar seitens neugierig zuhörender und fragender Schülerinnen und Schüler. Diese Hilfestellung erfolgt seitens theologisch fordernder Lehrerinnen und Lehrer, die sich trauen, »auch schwierige theologische Probleme und problematische Bibeltexte zum Thema des Religionsunter146

Vgl. a.a.O., 636f. Schoberth, Einleitung, 14. 148 Vgl. B. Schaupp, Bodenbilder gestalten, in: L. Rendle (Hg.), Ganzheitliche Methoden im Religionsunterricht, München 32010, 175–191. 149 Zum Nacherzählen und zu Bibel-Lern-Ritualen vgl. H. Rupp, Kontinuität und Vielfalt, in: G. Büttner u.a. (Hg.), Zwischen Kanon und Lehrplan, Münster 2009, 143–151. 150 Wüstenberg, Christologie, 18f.; 58; 81 u.ö. 151 Zimmermann, Die (Be-)Deutung des Todes Jesu, 625, weist darauf hin: »Die rein vermittlungshermeneutische Vorgehensweise, die Vergangenes gegenwärtig verständlich zu machen sucht, steht in der Gefahr, die Sprache und Denkwelt der Schüler zu verfehlen.« 147

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Dem Geheimnis der Sohnschaft auf der Spur

richts zu machen und somit die theologische Kompetenz ihrer Schüler/innen zu fördern.«152 Es gilt grundsätzlich zu beachten, dass »[g]erade schwierige christologisch-theologische Themen […] Schüler/innen heraus[fordern] und schon im RU der Grundschule eine größere Rolle spielen sollten. Dabei darf gerade in der Sek I nicht bei der Behandlung des historischen Jesus im ›realienkundlichen Bibelunterricht‹ stehen geblieben werden, weil das an den Fragen und Interessen der Kinder und Jugendlichen vorbei geht.«153

Wie gezeigt wurde, wäre dieser historische bzw. »realienkundliche« Zugang überdies auch theologisch problematisch. Der christologiedidaktische Ansatz, wie er hier entfaltet wurde, setzt demgegenüber narrativ an und ist von der Überzeugung getragen: »Jesus Christus erschließt sich in vielfältigen Geschichten und ist also nicht in einem Bild oder mit einem historischen Blick auf ihn zu fassen. Der narrative Zugang der Heiligen Schrift zu Jesus Christus ist darum zugleich ein Erkenntnisprinzip dafür, dass es nicht das geschlossene Bild von Christus gibt, sondern eine Vielzahl von Erzählungen, Berichten und Reflexionen, die in die Wahrnehmung des Christus führen. Das wäre demnach didaktisch zu profilieren, dass die Vielfalt der Geschichten immer genauer und deutlicher den Christus des Glaubens vor Augen stellen: Indem Glauben-lernen ausgerichtet bleibt auf ein anfängliches Lernen, das sich auf je neuen Wegen auf den christlichen Glauben zubewegt, folgt es einem Lernen der Heiligen Schrift und ihrem Reden von Christus.«154

Essentiell für die skizzierte Christologiedidaktik ist jener literarisch-hermeneutische Ansatz, wonach der biblische Text (hier des Markusevangeliums) nicht nur zu mir spricht, sondern auch inhaltlich von mir. Es wäre also zu kurz gegriffen, den hermeneutischen Fokus nur auf die Christologie des Markusevangeliums zu richten, geht es doch primär um Christologie durch und mit dem Markusevangelium.

152

Zimmermann, Übermensch, 12. Diese Intention teilen die vorgelegten Überlegungen mit der sog. Jugendtheologie. Vgl. einführend: V.-J. Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und Kirche, Stuttgart 2012; P. Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Jugendlichen. Erfahrungen – Beispiele – Anleitungen, München / Stuttgart 2012; T. Schlag / F. Schweitzer (Hg.), Brauchen Jugendliche Theologie? Jugendtheologie als Herausforderung und didaktische Perspektive, Neukirchen-Vluyn 2011. Kritisch dazu: B. Dressler, Zur Kritik der »Kinder- und Jugendtheologie«, ZThK 111 (2014), 332–356. 153 Zimmermann, Übermensch, 15. 154 Schoberth, Der historische Jesus, 86.

Schlussbetrachtung

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Die Bibel ist auch in christologischer Hinsicht ein »Buch des Lernens«155, wie sich am Markusevangelium exemplarisch veranschaulichen lässt.

155

I. Baldermann, Die Bibel – Buch des Lernens. Grundzüge biblischer Didaktik, Göttingen 1980.

X. Jesus als Vorbild? Christologische Impulse Dietrich Bonhoeffers zum ethischen Lernen anhand von kritisch-gebrochenen Vorbildern1

Friedrich Johannsen zum 70. Geburtstag

1. Einleitung: Bildung und Vorbilder 1.1 Die Renaissance der Vorbilder: Vorbilder sind wieder »in«! Zu den merkwürdigsten Phänomenen der allgemeinen bildungstheoretischen und religionspädagogischen Debatte gehört das Auf und Ab der Vorbilder. Das Lernen an Vorbildern ist – wie Friedrich Schweitzer treffend festhält – als Form ethischen Lehrens und Lernens »ebenso bekannt wie umstritten«2. Bisweilen hat man den Eindruck, als oszilliere die Debatte zwischen den Extremen eines »Hosianna« und »Kreuziget die Vorbilder«. Verehrung und Verteufelung liegen hier denkbar dicht beieinander. Zwar wird man mit der Verwendung der Kategorie »Kausalität« vorsichtig umgehen müssen. Jedoch scheinen die religionspädagogischen Diskurse auf das Engste mit den konjunkturellen Schwankungen korreliert zu sein, denen die Wertschätzung von Vorbildern bei Jugendlichen unterworfen sind. Die Statistiken weisen aus, dass Vorbilder momentan wieder »in« sind. Jahrzehntelang waren Vorbilder bei Jugendlichen »out«. Bis in die 1990er-Jahre hinein erfuhren sie einen rapiden Bedeutungsverlust. Dem entsprach die pädagogische3 und bildungstheoretische Debatte: »Die schonungslose Aufarbeitung der NS-Zeit in Westdeutschland seit Beginn der 60er-Jahre deckte die Fragwürdigkeit einer interessengeleiteten Verherrlichung großer Figuren auf. Eine Orientierung an Vorbildern wurde mit der Aufeinanderfolge 1

Überarbeitete Fassung der Ernstveröffentlichung eines Vortag vom 18.6.2013 an der Leibniz Universität Hannover. Der Vortragsstil wurde beibehalten. 2 F. Schweitzer, Grundformen ethischen Lehrens und Lernens in der Schule, in: G. Adam / F. Schweitzer (Hg.), Ethisch erziehen in der Schule, Göttingen 1996, (62–80) 69. 3 Zur pädagogischen Debatte vgl. U. Frost, Erziehung durch Vorbilder?, in: H. Schmidinger (Hg.), Vor-Bilder. Realität und Illusion, Graz u.a. 1996, 91–127.

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Jesus als Vorbild? von Bewunderung und Nachahmung gleichgesetzt und als solche selbstverständlich desavouiert. Die Führer-Gefolgschaft der Eltern und Großeltern und deren Verehrung faszinierender großer Gestalten erschien als suspekt. […] An der Demontage der Vorund Leitbilder wirkte die Creme de la Creme der intellektuellen Szene mit; allen voran Theodor Adorno, der schon dem Begriff Leitbild einen ›leisen militärischen Klang‹ attestierte. Leitbilder seien ein Ausdruck konservativ-restaurativer Kulturkritik«4.

Sprachlich fulminant fällt der Abgesang auf die Ideologieverdacht geratene Leitbild-Pädagogik etwa in der Erzählung »Das Vorbild« von Siegfried Lenz aus: »Wenn Sie mich fragen: Vorbilder sind doch nur eine Art pädagogischer Lebertran, den jeder mit Widerwillen schluckt, zumindest mit geschlossenen Augen. Die erdrücken doch den jungen Menschen, machen ihn unsicher und reizbar, und fordern ihn auf ungeziemende Weise heraus. Vorbilder im herkömmlichen Sinn, das sind doch prunkvolle Nutzlosigkeiten, Fanfarenstöße einer verfehlten Erziehung, bei denen man sich die Ohren zuhält. Alles, was sich von den Thermopylen bis nach Lambarene überlebensgroß empfiehlt, ist doch nur ein strahlendes Ärgernis, das nichts mit dem Alltag zu tun hat. Peinliche Überbautypen, um es mal so auszudrücken. […] Im Namen von ahnungslosen Schülern möchte er protestieren gegen die Art, wie hier, typisch systemkonform, versucht werde, jungen Leuten einen Minderwertigkeitskomplex beizubringen, indem man sie zwingt, vor erdrückenden Denkmälern zu leben.«5

Es ist umso erstaunlicher, dass nach dem Auswandern der Vorbilder aus der Pädagogik (im Zusammenhang der kritischen Leitbild-Debatte aus den 1960er- und 70er-Jahren und dem korrespondierenden sukzessiven Rückgang einer Orientierung an Vorbildern),6 sich Mitte der 1990er Jahre eine markante Trendwende vollzog. Die Sozialforscherinnen und -forscher, die hinter der Shell-Jugendstudie 2000 steckten, konnten es selbst zunächst kaum glauben, dass plötzlich Jugendliche wieder angaben, persönliche Vorbilder zu haben.7 Seit Mitte der 1990er Jahre boomt das Vorbild wieder. Einst als persona non grata verbannt, ist das Vorbild längst wieder in den pädagogischen und religionspädagogischen Diskursen im 4

H. Mendl, Lernen an (außer-)gewöhnlichen Biografien. Religionspädagogische Anregungen für die Unterrichtspraxis, Donauwörth 2005, 9. Auch Erwin Hufnagel verweist darauf, dass die im Nachkriegsdeutschland verbreitete »politische und pädagogische Desillusionierung […] zur Ineinssetzung von Vorbild und ideologisch-totalitärer Instanz« führte. E. Hufnagel, Pädagogische Vorbildtheorien. Prolegomena zu einer pädagogischen Imagologie, Würzburg 1993, 8. 5 S. Lenz, Das Vorbild, Hamburg 1973, 45; 103. 6 Anton Bucher konstatierte noch im Jahr 2001: »Trotz dieser respektablen Tradition ist das V[orbild] aus der Pädagogik ›ausgewandert‹ […]. Kommt V[orbild] zur Sprache, dann überwiegend krit[isch]. Auch in der RP [Religionspädagogik] sind [Vorbilder] ein Randthema«. A.A. Bucher, Art. Vorbild, LexRp 2 (2001), (2184–2187) 2184. 7 Vgl. Mendl, Lernen an (außer-)gewöhnlichen Biografien, 13. Zu den Statistiken vgl. fernerhin: K. Lindner, Vorbild ≠ Vorbild – Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Studie zum Vorbildverständnis bei Jugendlichen, RpB 63 (2009), 75–90.

Einleitung

289

Zusammenhang des Lernens an (fremden) Biografien willkommen geheißen worden. Es gibt kaum eine entsprechende Fachzeitschrift, die diesen Trend nicht aufgegriffen und die »Renaissance der Vorbilder«8 begleitet und/oder befeuert hätte. Wir könnten nun lange und ausführlich darüber sprechen und das Rätsel zu lösen versuchen, wie diese Trendwende sozialwissenschaftlich9, verhaltenspsychologisch, philosophisch etc. zu erklären ist. Dem Passauer Religionspädagogen Hans Mendl zufolge ergibt sich ein schlüssiges Motiv für ein gesteigertes Interesse an Vorbildern aus der Zeitsignatur bzw. Verfasstheit der sog. postmodernen Gesellschaft. Die Multioptionsgesellschaft mit ihren pluralen Sinnangeboten übe – mit Peter L. Berger gesprochen – den »Zwang zur Häresie«10 aus, nötige also den Einzelnen zur individuellen Sinnkonstruktion, zum Gestaltungszwang im Blick auf den eigenen Lebenslauf11: »Bei diesem Prozess eines Umgangs mit pluraler Vielfalt brauchen Kinder und Jugendliche Orientierungsmarken und Wegbegleiter. Hinzu kommt, dass moderne Zivilgesellschaften in Zeiten der globalen Verunsicherung in Wirtschaft und (Welt-)Politik auf Helden und Heroen als Platzhalter für vorbildhafte Verhaltensweisen angewiesen sind und diese auch medial präsentiert werden.«12 Wir lassen es dahingestellt, ob Hans Mendl damit eine wirklich plausible und stichhaltige Erklärung geliefert hat. Wir erlauben uns aber noch die Bemerkung, dass gerade im Blick auf ethisches und moralisches Erziehen in der Schule in diesem Zusammenhang mir eines sehr wichtig zu sein scheint: nämlich das, »was ein Vorbild in traditioneller Weise eigentlich zum Vorbild macht: die Begeisterung, das innere Engagement, das Überwältigtsein von dem Lebensentwurf eines anderen.«13 Vorbilder liefern im Blick auf unser Handeln über die von Mendl erwähnte Orientierung hinaus eine wichtige Ressource: nämlich Motivation.14 Das ist im Blick auf die Ethik, die ja auf Handlungen hin reflektiert, sehr wichtig.15 8

A.A. Bucher, Renaissance der Vorbilder? in: H. Schmidinger (Hg.), Vor-Bilder. Realität und Illusion, Graz u.a. 1996, 29–64. 9 Vgl. z.B. H. Barz, Leibilder im Wandel, in: H. Schmidinger (Hg.), Vor-Bilder. Realität und Illusion, Graz u.a. 1996, 199–234. 10 P.L. Berger, Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1980. 11 Vgl. U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986, 216; A. Giddens, Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert, Frankfurt a.M. 2001, 61. 12 Mendl, Lernen an (außer-)gewöhnlichen Biografien, 20. 13 F. Rickers, »Kritisch gebrochene Vorbilder« in der religiösen Erziehung, JRP 24 (2008), (213–240) 215. 14 Vgl. D. Mieth, Vorbild oder Modell? Geschichten und Überlegungen zur narrativen Ethik, in: ders., Moral und Erfahrung I. Grundlagen einer theologisch-ethischen Hermeneutik, SThE 2, Freiburg/CH u.a. 41999, (110–118) 113: »Ein Vorbild braucht sich nicht zu rechtfertigen. Es schärft ein, was der Adressat ohnehin für gut hält, wozu er sich nur nicht immer aufraffen kann. Es stärkt im Guten.« 15 Hans-Richard Reuter und Torsten Meireis definieren die Ethik gar als »Handlungslehre des christlichen Glaubens«: »Ethik ist die Reflexion auf das gute und richtige Handeln. Im

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Jesus als Vorbild?

Als Systematischer Theologe kann man freilich die selbstkritische Beobachtung machen, dass die religionspädagogischen, geschweige denn die pädagogischen Diskurse zur Vorbild-Thematik kaum systematisch-theologisch begleitet werden. Es gibt lediglich eine Handvoll eher randständiger Aufsätze, die sich der Thematik widmen.16 Ich halte dies für ein sehr bedauerliches Phänomen,17 das vielleicht sogar pars pro toto dafür steht, dass sich die religionspädagogischen und systematisch-theologischen Diskurse längst entkoppelt haben, jedenfalls nebeneinander stehen und nicht zueinander kommen. Wenn es indes in der Systematischen Theologie wirklich darum geht, den Glauben denkerisch zu verantworten, dann wird man gerade auch hinsichtlich der Glaubensgestalten fragen müssen, was dran ist an der Forderung nach einer »Pä­dagogik des Vorbildes« (Anton A. Bucher). Inwiefern eignen sie sich als Gegenstand ethischer Erziehung im Rahmen eines evangelischen Religionsunterrichts? Wann sind Vorbilder überhaupt »gut« zu nennen? Welche Kriterien müssen sie erfüllen? Wann und inwiefern kann man etwa theologisch von einer Idealisierung, Überhöhung oder Funktionalisierung des Vorbild- im Sinne des Heldenhaften sprechen? Im Folgenden möchten wir versuchen, mit niemand geringerem als Dietrich Bonhoeffer in ein Gespräch zu treten – ein Gespräch hinsichtlich des theologisch verantwortbaren Umgangs mit Vorbildern.18 Wir halten die These, dass BonhoefRahmend er Theologie als Wissenschaft vom Christentum ist Ethik die Handlungslehre des christlichen Glaubens.« H.-R. Reuter / T. Meireis, Ethik, in: W. Marhold / B. Schröder (Hg.), Evangelische Theologie studieren. Eine Einführung, Lehr- und Studienbücher zur Theologie 3, Münster 22007, (121–134) 121. Zur Auseinandersetzung vgl. J. Fischer, Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht, Stuttgart 2012, bes. 103–137. 16 Vgl. H. Kuhlmann, Christus – Vorbild? Grenzen und Chancen von Vorbildlichkeit aus theologischer Sicht, in: dies. (Hg.), Fehlbare Vorbilder in Bibel, Christentum und Kirchen. Von Engeln, Propheten und Heiligen bis zu Päpsten und Bischöfinnen, Theologie in der Öffentlichkeit 2, Münster 2010, 143–160; U. Link-Wieczorek, Entzauberung der Vorbilder: Von der Nachahmung zur Begleitung? Überlegungen in theologischer Absicht, in: H. Kuhlmann (Hg.), Fehlbare Vorbilder in Bibel, Christentum und Kirchen. Von Engeln, Propheten und Heiligen bis zu Päpsten und Bischöfinnen, Theologie in der Öffentlichkeit 2, Münster 2010, 67–78; J. Werbick, Bilder sind Herausforderungen: Gottebenbildlichkeit – Imitatio Christi – Nachfolgebilder, in: H. Schmidinger (Hg.), Vor-Bilder. Realität und Illusion, Graz u.a. 1996, 165–197. 17 F. Rickers moniert zu Recht: Ob Menschen als »gebrochene Vorbilder« rezipiert werden können, »ist für die religiöse Erziehung abhängig von dem Menschenbild, das sie repräsentieren. Dieser wichtige Aspekt ist in der weitgespannten Vorbilddiskussion der Religionspädagogik bisher merkwürdigerweise überhaupt nicht erörtert worden.« Rickers, »Kritisch gebrochene Vorbilder« in der religiösen Erziehung, 235. 18 Ansatzweise hat auch Helga Kuhlmann diesen Weg des Gesprächs mit Bonhoeffer beschritten. Dass der vorgelegte Gesprächsversuch von Hans G. Ulrichs Explorationen geprägt ist, wie er sie in »Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik« vorgelegt hat, sei hier dankbar vermerkt. Vgl. Kuhlmann, Christus – Vorbild?, 153–158; H.G. Ulrich, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, EThD 2, Münster 2005. Zu Bezugspunk-

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fers Tun besser als seine Theologie sei,19 für reichlich vorurteilsbehaftet. Und so versuchen wir im Folgenden gewissermaßen exemplarisch den Gegenbeweis anzutreten. Es geht uns also nicht darum, die anlässlich der Bonhoeffer-Jubiläen 2005/6 geführte Diskussion um Bonhoeffers Status als Vorbild und die Frage der Märtyrer- und Heiligenverehrung im deutschen Protestantismus aufzugreifen und erneut zu erörtern.20 Anhand von Bonhoeffers Überlegungen zur »Nachfolge« lässt sich hingegen nach unserer Überzeugung von innen heraus ein genuin theologisches Bildungsverständnis ermitteln. Auf dessen Hintergrund lässt sich die Praxis ethischen Lernens anhand von Vorbildern in theologisch verantwortbarer Weise beurteilen. Die sechs Impulse, die wir im zweiten Teil präsentieren möchten, sind also keineswegs freiflottierend, sondern eingebettet in ein theologisches Bildungskonzept, das sich im Anschluss an Bonhoeffer konturieren lässt. Und genau diese Konturierung möchten wir zunächst leisten, bevor wir dann anschließend die Impulse in sechs Gesprächsgängen entfalten

1.2 Der Zusammenhang von Bildung, Vorbildern und ethischem Lernen Was hat Bildung mit Vorbildern und dieser Zusammenhang wiederum mit ethischem Lernen zu tun? Nach Hartmut von Hentig bedeutet »Bildung« ganz allgemein, »einer Materie oder einem Ding eine Form geben«21. Folgt man dieser Definition, so stellt sich die Frage, nach welcher Form oder Gestalt (gr. eidos) Bildung im Sinne der formatio geschehen soll. Die eigentliche Gretchenfrage der Bildung lautet mithin: Nach welchem Bild wird eigentlich gebildet? Wenn wir nach dem Zusammenhang von Bildung, Vorbildern und ethischem Lernen fragen, scheint uns diese Frage unumgänglich zu sein. Wir möchten diesen Zusammenhang nun anhand der Schlussüberlegungen erläutern, die Dietrich Bonhoeffer in seinem

ten zwischen Bonhoeffer und Ulrich sowie Weiterführungen des Denkens von ersterem durch letzteren vgl. M. Hailer, Bonhoeffers »Fragmente zur Ethik« und ihre Rezeption in der Ethik-Diskussion, in: Bonhoeffer-Rundbrief. Mitteilungen der internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft Sektion Bundesrepublik Deutschland, Nr. 88 – Februar 2009, 31–46, bes. 37–43. 19 Vgl. dazu bereits H.E. Tödt, Theologische Perspektiven nach Dietrich Bonhoeffer, hg. von E.-A. Scharffenorth, Gütersloh 1993, 77–111. Zur Herkunft dieses Vorwurfes vgl. a.a.O., 78. 20 Vgl. Kirchenamt der ekd (Hg.), Dietrich Bonhoeffer – Vorbild im Glauben. Texte und Predigten anlässlich des 100. Geburtstages von Dietrich Bonhoeffer, EKD-Texte 83, Hannover 2006; G. Adam, »Dass uns ihres Glaubens Exempel nutzlich sind«. Lernen an Biografien großer Vorbilder – aufgezeigt am Beispiel von Martin Luther King, in: M. Rothgangel / H. Schwarz (Hg.), Götter, Heroen, Heilige. Von römischen Göttern bis zu Heiligen des Alltags, Frankfurt a.M. 2011, 143–166, bes. 147–150. 21 H. von Hentig, Bildung. Ein Essay, Weinheim / Basel 52004, 38.

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Jesus als Vorbild?

Werk »Nachfolge« im letzten Abschnitt unter der Überschrift »Das Bild Christi« entwickelt hat.22 Bonhoeffer knüpft dort bei der Auskunft von Paulus und seiner Schule an, wonach Christus »das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« (Kol 1,15; vgl. 2Kor 4,4) ist.23 »In ihm [in Christus; M.H.] hat Gott sein Ebenbild auf Erden neu geschaffen«24 – so lautet die zentrale Aussage Bonhoeffers. Und genau hier, in der Imago-Christi, liegt25 – wenn man Bonhoeffers ernst nimmt – die Wurzel eines biblisch-theologischen Bildungsverständnisses. Doch der Reihe nach. Bonhoeffer steigt ein mit der Verheißung aus Röm 8,29, wonach die Christus Nachfolgenden seinem Bild »gleichgestaltet werden sollen«. Diese Verheißung steckt gleichsam den eschatologischen Rahmen seines Bildungsverständnisses ab: »Es ist die unfaßlich große Verheißung, die denen gegeben ist, die vom Ruf in die Nachfolge Christi getroffen wurden, daß sie Christus gleich werden sollen. Sie sollen sein Bild tragen als die Brüder des erstgeborenen Sohnes Gottes. Das ist die letzte Bestimmung des Jüngers, daß er werden soll ›wie Christus‹. Das Bild Christi, das der Nachfolgende immer vor Augen hat, vor dem ihm alle anderen Bilder entschwinden, dringt in ihn ein, erfüllt ihn, gestaltet ihn um, daß der Jünger dem Meister ähnlich, ja gleich wird. Das Bild Christi prägt in der täglichen Gemeinschaft das Bild des Jüngers. Der Nachfolgende kann das Bild des Sohnes Gottes nicht anschauen in toter, müßiger Betrachtung; von diesem Bilde geht umschaffende Kraft aus. Wer sich Jesus Christus ganz ergibt, der wird und muß sein Bild tragen. Er wird zum Sohne Gottes, er steht neben Christus als dem unsichtbaren Bruder in gleicher Gestalt, als das Ebenbild Gottes.«26

Wer dies liest oder hört, dem wird zugleich klar: Das sind nicht nur elementare eschatologische, sondern zugleich ethisch pointierte Sätze – wohlgemerkt nur in diesem eschatologischen Zusammenhang in rechter Weise ethisch pointierte Sätze. Denn ohne die Verheißung, dass sie dem Bild Christi gleichgestaltet werden und zwar kraft der Verheißung Gottes und nicht eigener Anstrengung hinge die Aufforderung an die Nachfolgenden gleichsam in der Luft: »Sie sollen sein Bild 22

Vgl. zu diesem Abschnitt E. Feil, Die Theologie Dietrich Bonhoeffers. Hermeneutik – Christologie – Weltverständnis, München 41991, 187f. 23 Zum exegetischen Hintergrund vgl. P. Müller, Ebenbild und Bildungswesen. Theologische Erwägungen zur Bildungsdiskussion, in: K. Grünwaldt / U. Hahn (Hg.), Bildung als religiöse und ethische Orientierung. Dokumentation der XIII. Konsultation Kirchenleitung und wissenschaftliche Theologie, Hannover 2004, 31–55, bes. 38f. 24 D. Bonhoeffer, Nachfolge, DBW 4, hg. von M. Kuske / I. Tödt, München 1989, 300. 25 Vgl. E. Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundfigur theologischer Anthropologie, in: ders., Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, BEvTh 88, München 1980, (290–317) 297: »Die Kategorie der Imago Dei (Gottebenbildlichkeit) ist mit dem geschichtlichen Namen Jesu Christi identisch. Die mit diesem Namen genannte Person ist der Gott entsprechende Mensch.« 26 Bonhoeffer, Nachfolge, 297.

Einleitung

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tragen« und zwar »als Ganzheit«. Bildung geschieht nach Bonhoeffer ganzheitlich: »Leib, Seele und Geist, die ganze Gestalt des Menschen soll das Bild Gottes auf Erden tragen.«27 Der Mensch soll, kann und darf Gottes Bild schon jetzt tragen, weil er es tragen wird. Ja, mehr noch, es ist nicht des Menschen Tragen, sein Gestalten, sein Sich-Bilden, sondern es ist das Bild Christi selbst, das umgestaltet, prägt, in den Menschen eindringt, ihn erfüllt. »Vom diesem Bilde geht umschaffende Kraft aus« – sagt Bonhoeffer, der damit ethisch jeglicher Werkgerechtigkeit abschwört. Der Versuch der stolzen Kinder Adams nach dem Sündenfall »das verlorene Bild Gottes aus eigner Kraft […] wiederherzustellen«28, trieb sie umso tiefer in den Widerspruch zu Gott. Gott ist und bleibt hingegen nach Bonhoeffer das eigentliche Subjekt der Bildung, der Umgestaltung und Umwandlung, der »Metamorphose« (Röm 12,2; 2Kor 3,18) zum Gottebenbild.29 Bonhoeffer stellt klar: »Nicht wir machen uns zum Ebenbild, sondern es ist das Ebenbild Gottes selbst, es ist die Gestalt Christi selbst, die in uns Gestalt gewinnen will (Gal. 4,19). Es ist seine eigene Gestalt, die sich in uns zur Erscheinung bringen will. Christus ruht nicht mit seiner Arbeit an uns, bis er uns zur Christusgestalt gebracht hat.«30 Der Mensch wird bearbeitet, er ist nicht der Bildhauer seiner selbst, wie uns der italienische Renaissancephilosoph Pico de la Mirandola weismachen will, der mit diesem Bild die Leitmetapher der Moderne ausgab.31 Bonhoeffer zufolge ist es Gott selbst, der handelt, der bildet. Und weil er dies tut, kann die/der Nachfolgende das Bild des Sohnes Gottes nun »nicht anschauen in toter müßiger Betrachtung«. Alles, was der Mensch tun darf und tun kann, ohne sich selbst zu überheben, besteht darin, diese Bildung an sich gelten zu lassen, in sie einzustimmen. Dieses Gelten-Lassen – präzise darin besteht der Modus der Ethik.32 Hierin besteht in handlungstheoretischer Hinsicht ihr Vollzug. Ganz im Sinne dieses Gelten-Lassens übersetzt Bonhoeffer konsequenter Weise 2Kor 3,18: »Wir alle aber, die wir mit unverhülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn sich in uns spiegeln lassen, werden dadurch in sein Ebenbild umgestaltet von Herrlichkeit zu Herrlichkeit«33. »Umgestaltet werden« und »gelten lassen« – präzise um diese Handlungsmodi geht es in der Ethik. Es geht darum, dass wir in, mit und unter unserem Handeln Gottes Handeln gelten lassen. Wir können dieses Handeln Gottes nur gelten lassen, weil wir von ihm umgestaltet, in das Bild Christi hineingestaltet werden. Was meint dieses »umgestaltet werden«? 27

A.a.O., 299. A.a.O., 298. 29 Vgl. a.a.O., 299. 30 A.a.O., 301. 31 Vgl. W. Schoberth, Einführung in die Anthropologie, Darmstadt 2006, 21f. 32 Vgl. auch R. Hütter, Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis. Interpretationen zu Schlüsselfragen theologischer Ethik in der Gegenwart, Evangelium und Ethik 1, Neukirchen-Vluyn 1993, 196: Es geht »darum, im eigenen Handeln Gottes handeln so zu entsprechen, daß es damit in Gottes Handeln verbleibt.« Siehe auch a.a.O., 202. 33 Bonhoeffer, Nachfolge, 302f. 28

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Es geht Bonhoeffer nicht um ein esse, ein mehr oder weniger statisches Sein. Nein, es geht ihm um ein fieri, ein bewegtes, ein dynamisches Werden, ein Menschwerden, kein Menschen-Machen. Genau das aber ist Bildung. Bildung ist – theologisch geurteilt – ein Topos der Heiligung34, wohlgemerkt der Heiligung, die in der Logik der Rechtfertigung bleibt, insofern es nämlich um Gottes zuvorkommendes, nicht nur ermöglichendes,35 sondern auch begleitendes und geleitendes Handeln geht. Gottes Handeln lässt sich nicht in deistischer Logik auf die Bereitstellung von Voraussetzungen (etwa Normen, Möglichkeiten oder Aufgaben, die gleichsam als zu bearbeitendes »Rohmaterial« vorliegen) reduzieren.36 Ganz ähnlich wie Bonhoeffer formuliert es Hans Joachim Iwand, der sich damit von der eingangs zitierten Bildungsdefinition von Hentigs entfernt: »Es geht jetzt nicht mehr um das griechische Thema, wie der Mensch zu formen ist, um wahrhaft Mensch zu sein, sondern um das biblische: daß wir Menschen werden; daß wir Menschen werden, die in der Gegenwart Gottes auf Erden leben können«37. Im Kontext dieser Bildung im Sinne der Menschwerdung ist das Lernen verortet: Es geht um ein »Lernen, das mit dem Werden verbunden38« ist und bleibt – nicht mit einem Haben oder Nicht-Haben oder einem Sein. Ulrich Becker und Klaus Gossmann haben treffend formuliert: »Lernen im biblischen Sinn wird hier so verstanden, daß sich der Mensch einbeziehen läßt in die Bewegung Gottes, der sich der Welt zuwendet«39. Lernen geschieht lebenslang. Das Lernen ist die Lebensform40 des gebildet werdenden Menschen, und das spezifisch ethische Lernen wiederum die Lebensform des gebildet werdenden Menschen, sofern er auf sein Handeln reflektiert. Diese Reflexion ist nötig. Denn: Wie alle Lebensformen, die ein Ensemble von Praktiken sind, in denen sich die Lebensform konkretisiert,

34

Vgl. a.a.O., 302: »[I]mmer tiefer wird die Umgestaltung zum göttlichen Ebenbild, immer klarer wird das Bild Christi in uns; es ist ein Fortschreiten von Erkenntnis zu Erkenntnis, von Klarheit zu Klarheit, zu immer vollkommenerer Gleichheit mit dem Bilde des Sohnes Gottes.« 35 Treffend B. Wannenwetsch, Gestaltwerdung und Wegbereitung. Zur Aktualität von Bonhoeffers »Ethik«, VF 46 (2001), (56–64) 57: »Im christlichen Leben geht es […] um ein ›Wirklichwerden‹ […], nicht um ein Wirklichmachen: ein Verwirklichen, Umsetzen oder Bewähren von etwas, das nur im Modus der Voraussetzung, der Potenz, des Sollens oder dergleichen gegeben wäre.« 36 So ders., a.a.O., 58. 37 H.J. Iwand, Christologie. Die Umkehrung des Menschen zur Menschlichkeit, NW.NF 1, hg. von der Hans-Iwand-Stiftung, Gütersloh 1998, 161. 38 Ulrich, Wie Geschöpfe leben, 69. 39 U. Becker / K. Gossmann, Lernen in der Gemeinschaft. Konkretionen des ökumenischen Lernverständnisses, in: R. Preul (Hg.), Bildung – Glaube – Aufklärung. Zur Wiedergewinnung des Bildungsbegriffs in Pädagogik und Theologie, Gütersloh 21990, (230–249) 244. 40 Zum Lernen als Lebensform im Anschluss an Wittgenstein vgl. I. Schoberth, Glaube-lernen. Grundlegung einer katechetischen Theologie, CThM.P 28, Stuttgart 1998, 97– 130.

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so gehört auch das Lernen als Lebensform zu den »Gebilde, die eine Moral haben. Lebensformen sind Gebilde, die eine Moral brauchen.«41 Wir kommen nun, nachdem der bildungstheoretische Referenzrahmen absteckt wurde, zu Bonhoeffers Impulsen im Einzelnen.

2. Impulse Bonhoeffers für die systematischtheologisch reflektierte Ingebrauchnahme von Vorbildern für das ethische Lernen 2.1 Jesus Christus als Bild Gottes und unsere Vorbilder Was heißt das nun im Blick auf die Vorbildthematik? Vor allem im Blick auf die Frage, ob wir überhaupt von Jesus als Vorbild sprechen dürfen? Und weitergefragt: Wie verhält sich Jesus als Vorbild, sofern wir theologisch legitimer Weise von ihm als Vorbild sprechen dürfen, zu unseren menschlichen Vorbildern? Schließt das Vorbild Jesus etwa diese anderen Vorbilder aus? Bonhoeffer selbst spricht theologisch ungeniert von Christus nicht nur als »Urbild«42, sondern auch als Vorbild. Und Bonhoeffer begründet auch, warum er dies theologisch für legitim erachtet: »Weil wir zum Ebenbild Christi gemacht sind, darum sollen wir sein wie Christus. Weil wir Christi Bild schon tragen, darum allein kann Christus das ›Vorbild‹ sein, dem wir folgen. Weil er selbst sein wahrhaftiges Leben in uns führt, darum können wir ›wandeln gleichwie er gewandelt ist‹ (1. Joh. 2,6), ›tun wie er getan‹ hat (Joh. 13,15), ›lieben wie er geliebt hat‹ (Eph. 5,2; Joh. 13,34; 15,12), ›vergeben wie er vergeben hat‹ (Kol. 3,13), ›gesinnt sein wie Jesus Christus auch war‹ (Phil. 2,5), darum können wir dem Beispiel folgen, das er uns gelassen hat (1. Pt. 2,21), unser Leben lassen für unsere Brüder, wie er es für uns gelassen hat (1. Joh. 3,16). Allein darum können wir sein, wie er war, weil wir ihm gleichgemacht sind. Nun da wir zum Bild Christi gemacht sind, können wir nach seinem Vorbild leben.«43

Es gibt einen Schlüsselbegriff, den Bonhoeffer zwar nicht explizit, aber doch der Sache nach gebraucht, welcher uns diesen Begründungszusammenhang erschließt. Ich meine den der Teilhabe an Christus, der participatio.44 Participatio,

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M. Seel, Ethik und Lebensform, in: M. Brumlik / H. Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1993, (244–259) 244. 42 Bonhoeffer, Nachfolge, 299. 43 A.a.O., 303f. 44 So auch Hailer, Bonhoeffers »Fragmente zur Ethik«, 33: »Bonhoeffer skizziert ein Ethikverständnis, das man als eine Ethik der Partizipation bezeichnen könnte. Gefragt ist nicht die Seins- oder Sollensaussage, gefragt ist, wie Gottes Wirklichkeit in Christus unter

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Partizipation an Christus ist das entscheidende Interpretament der Nachfolge.45 Bonhoeffer rekurriert auf diesen Begriff, wenn er argumentiert: »Weil wir Christi Bild schon tragen, darum allen kann Christus das ›Vorbild‹ sein, dem wir folgen. Weil er selbst sein wahrhaftiges Leben in uns führt, darum können wir ›wandeln gleichwie er gewandelt ist‹«. Die Anteilhabe an Christus, unser »Sein in ihm« ermöglicht Nachfolge. Ja, diese Anteilhabe ist mehr noch als ein einmaliger Ermöglichungsgrund, sie ist die Realisierungsgestalt der Nachfolge. In Christus lebend, in ihm seiend, folgen wir ihm nach. Der entscheidende biblische Vers, auf den Bonhoeffer sich explizit beruft, findet sich in Gal 2,20: »Nun aber lebe nicht ich, sondern Christus lebt in mir.«46 In seiner posthum erschienenen und Fragment gebliebenen »Ethik« heißt es: »Mein Leben ist außerhalb meiner selbst, außerhalb meiner Verfügung, mein Leben ist ein Anderer, ein Fremder, Jesus Christus«47. Im Hintergrund steht – neben Gal 2,20 – sowohl in der »Nachfolge« als auch in der »Ethik« das Bekenntnis des Paulus: »Christus ist mein Leben« (Phil 1,21).48 Nochmals: es geht bei diesem »Sein in Christus« nicht um ein statisches esse, sondern ein dynamisches Werden, ein fieri. Im Lateinischen dient das Verb fieri als Passiv zum Verb facere. Die Kategorien von »aktiv« und »passiv« bzw. vita activa und vita passiva sind freilich nur begrenzt hilfreich, um dieses »Sein« im Sinne des »Werdens in Christus«, diese Partizipation zu erläutern. Entscheidend ist indes die Frage nach dem Handlungssubjekt. Wenn der Mensch Jesus nachfolgt, an ihm teilhat, wenn der Mensch – wie wir vorhin gesehen haben – Gottes prägendes Handeln gelten lässt, so ist es präzise der Mensch als »neuer Mensch«, als »neue Kreatur« – wie Paulus sagt – als Mensch, der in Christus lebt, welcher hier handelt. Und genau darin, in diesem Nachfolgen, in diesem Teilhaben, in diesem Gelten-Lassen besteht die höchste Aktivität des Menschen. Es ist »reinste Aktivität als Passivität«49. Der Mensch, der Gottes heilmachendes, bildendes Handeln gelten lässt, ist ganz aktiv. Er ist ganz Mensch, in seiner Eigentlichkeit, in seiner Geschöpflichkeit, so wie Gott ihn gewollt hat. Der hier handelnde Mensch ist die »neue Kreatur«, von der gilt: »Nun lebe nicht ich, sondern Christus lebt in mir.« Die Handlungssubjekte, Gott und Mensch, fallen gleichsam ineinander, so dass die Kategorien seinen Geschöpfen wirklich wird (DBW 6, 34) und damit, wie er seine Geschöpfe dafür in Dienst nimmt. (DBW 6, 40f)«. 45 Nach Dietrich Bonhoeffer ist es wichtig, »daß wir die andächtigen Zuhörer und Teilnehmer an Gottes Handeln in der Geschichte, an der Geschichte des Christus auf Erden sind«. D. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, hg. von E. Bethge u.a., München 231987, 46. 46 Vgl. Bonhoeffer, Nachfolge, 303. 47 D. Bonhoeffer, Ethik, DBW 6, hg. von E. Feil u.a., München 1992, 249. Friedrich Johannsen hat in diesem Zusammenhang von einem »Perspektivwechsel« gesprochen: »Die Frage, was das Leben ist, wird aus theologischer Perspektive mit dem Hinweis darauf beantwortet, wer das Leben ist.« F. Johannsen, Was heißt Leben schützen?, in: R. Mokrosch u.a. (Hg.), Dietrich Bonhoeffers Ethik. Ein Arbeitsbuch für Schule, Gemeinde und Studium, Gütersloh 2003, (61–106) 78f. 48 Vgl. Bonhoeffer, Nachfolge, 303; ders., Ethik, 249. 49 Bonhoeffer, Nachfolge, 225.

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»aktiv« und »passiv« zugleich ganz für beide gelten. »In Christus« ist der Mensch als »neuer Mensch« ganz bei sich und zugleich als »alter Mensch« ganz außer sich. Er ist als neuer Mensch höchst aktiv und als alter Mensch höchst passiv. »In Christus« ist die vita activa des Menschen seine vita passiva und umgekehrt. Aktiv und passiv sind keine Gegensatzpaare mehr, sondern im Grunde genommen überwundene Aspekte des Lebens in Christus.50 Hier werden im Übrigen auch jene Aporien, in die wir uns immer wieder denkerisch hineinmanövrieren, überwunden; Aporien, die entstehen, wenn wir Gott und Mensch gegeneinander ausspielen im Namen der Autonomie des Menschen und/oder der Autonomie Gottes: »Ich muss doch auch etwas tun, ich muss doch einschlagen in die ausgestreckte Hand Gottes, um sein mir geltendes Werk gültig zu machen. Ich muss mich aktiv entscheiden und das nicht nur einmal – etwa im Evangelisationszelt –, sondern als selbstbestimmtes, autonomes Subjekt täglich neu.« Bonhoeffers Ausführungen zur Nachfolge können uns veranschaulichen, dass solche Sätze einer anderen Logik, einer anderen Grammatik51 folgen als der des »neuen Menschen«, der in Christus lebt. Im Blick auf den neuen Menschen fallen Autonomie und Theonomie zusammen. Der neue Mensch ist ganz autonom, indem Christus in ihm handelt, und er ist zugleich ganz theonom, indem er in seiner Eigentlichkeit, d.h. als »neue Kreatur in Christus« handelt. Der neue Mensch hat sein wahres Selbst »in Christus«. Insofern dies gilt, lässt sich konstatieren: »Letztlich geht es im rechtverstandenen Lernen am Vorbild […] um Hilfe zur Selbstwerdung.«52 Gemeint ist mit dem werdenden »Selbst« das wahre Selbst in Christus. Wenn dem aber so ist, so dürfen wir nicht nur Christus als Vorbild haben, sondern auch menschliche Vorbilder. Warum? So gewiss der neue Mensch in Christus, dem Vorbild, lebt, dürfen wir auch wir uns »neue Menschen«, in denen Christus lebt, zu Vorbildern nehmen. Man beachte: Es geht nicht einfach um beliebige Vorbilder, zumal nicht der »alte Mensch«, sondern der »neue Mensch in Christus« an dem Vorbild Christus partizipiert. Menschliche Vorbilder können und müssen nach diesem Verständnis auf Christus und das Sein bzw. Werden in ihm bezogen sein.53 Menschliche Vorbilder sind also – wenn Sie so wollen – immer indirekte Vorbilder, d.h. ihre Vorbildlichkeit ist vermittelt über das Vorbild Christus. Ulrike

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Treffend Kuhlmann, Christus – Vorbild?, 156: »Die Gestaltgewinnung Jesu Christi durch Jesus Christus beschriebt keine Alternative zu menschlicher Aktivität und Freiheit.« 51 Zur »christologischen Grammatik« der Ethik Bonhoeffers vgl. S. Heuser, The Cost of Citizenship: Disciple and Citizen in Bonhoeffer’s Political Ethics, SCE 18 (3/2005), 49–69; B. Wannenwetsch, The Whole Christ and the Whole Human Being. Dietrich Bonhoeffer’s Inspiration for the »Christology and Ethics« Discourse, in: B. Waters / F. LeRon Shults (Hg.), Christology and Ethics, Grand Rapids 2010, 75–98. 52 Ch. Kalloch, Vorbilder – Heilige. Lernen an fremden Biografien, in: H. Noormann u.a. (Hg.), Ökumenisches Arbeitsbuch Religionspädagogik, Stuttgart 32007, (271–274) 274. 53 Nur insofern wird man theologisch der anthropologischen Aufgabe gerecht, die E. Jüngel benennt: »In Jesus Christus Gott Mensch sein lassen und gerade deshalb den Menschen nicht Gott werden lassen – das ist die dem Denken vom christlichen Glauben aufgegebene Aufgabe.« Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, 317.

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Link-Wieczorek hat von »Vorbilder[n] zweiten Grades«54 gesprochen, was diese Indirektheit ziemlich gut trifft, zumindest dann, wenn man nicht »Vorbilder zweiter Klasse« assoziiert. Übrigens hat man, wenn man nicht nur von Christus als Vorbild spricht, sondern auch von Menschen, sofern sie »in Christus« sind, mit diesem Sprachgebrauch den Apostel Paulus auf seiner Seite. Denn Paulus kann sich selbst als »Vorbild« bezeichnen: »Ahmet mein Vorbild nach, wie auch ich das (Vorbild) Christi nachahme« (1Kor 11,1). Paulus stellt sich selbst »als mimetisches Gegenüber seiner Gemeinden dar«55. Und so kann er auch in Phil 3,17 die Gemeinde auffordern: »Folgt mir, liebe Brüder, und seht, auf die, die so leben, wie ihr uns zum Vorbild habt.« In 1Kor 4,16 lautet die Ermahnung kurz: »Folgt meinem Beispiel!« Dass es solche Menschen, die sich als Vorbilder eignen, weil sie – wie Paulus – »in Christus« sind, bereits hier und heute gibt, dafür steht der präsentische Aspekt der Aussage des Paulus ein, die da lautet: »Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden« (2Kor 5,17).

2.2 Jesus Christus und die sog. »profanen« Vorbilder Doch wie steht es nun mit all denjenigen »Vorbildern«, die keineswegs für sich selbst in Anspruch nehmen würden, ja vielleicht sogar explizit bestreiten, »in Christus« zu sein? Folgt man den aktuellen Statistiken, so sind es vor allem »local heroes«, allen voran die eigene Mutter, die als Vorbilder genannt werden.56 Auch wenn man den sozialen Nahbereich verlässt und die Idole und »Helden« aus der Weltgeschichte oder dem Bereich der »Jugendkultur« nach deren Selbstverständnis befragt, so wird man wohl kaum damit rechnen können und dürfen, dass sie sich als »in Christus werdend« verstehen. Man sollte sich auch theologisch davor hüten, sie wider ihr Selbstverständnis und Selbstbezeichnung zu vereinnahmen, indem man sie mittels bestimmter kultur- oder religionstheologischer Schemata christianisiert,57 eingemeindet und/oder tauft. Bonhoeffers Kritik an der Rede vom »religiösen Apriori« wendet sich entschieden dagegen.58 54

Link-Wieczorek, Entzauberung der Vorbilder, 75. H. Hollenstein, Engel, Models und der Apostel Paulus, in: ders., Des Keisers fürstliches Versteck und andere Beiträge, Bad Berleburg 2005, (129–133) 132. 56 Vgl. den Abschnitt »Mutter ist die beste!« in: Mendl, Lernen an außergewöhnlichen Biografien, 26–29, sowie die Vorbilder-Rangliste in: Rickers, »Kritisch gebrochene Vorbilder« in der religiösen Erziehung, 238–240. 57 Vgl. S. Hauerwas, Performing the Faith Bonhoeffer and the Practice of Nonviolence, Grand Rapids 2004, 46: »Bonhoeffer’s work was to provide a complete alternative to the liberal Protestant attempt to make peace with the world.« 58 Vgl. D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, DBW 8, hg. von Ch. Gremmels u.a., Gütersloh 1998, 403: »Unsere gesamte 1900 jährige christliche Verkündigung und Theologie aber baut auf dem ›religiösen Apriori‹ der Menschen auf. ›Christentum‹ ist immer eine Form (vielleicht die wahre Form) der ›Religion‹ gewesen. Wenn nun aber eines Tages deutlich wird, das dieses ›Apriori‹ garnicht 55

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Gleichwohl wird man nicht ausschließen können und dürfen, dass Christus selbst sich in solchen Menschen vergegenwärtigen und bezeugen will und kann. Er wird dann gleichsam zum sacramentum, das sich im exemplum des Verhaltens eines solchen Menschen vergegenwärtigt.59 Auch im Bereich der sog. »Profanität« gibt es ohne Zweifel vorbildliches Verhalten, das dem »Sein« bzw. »Werden« in Christus entspricht. Theologisch wird man menschliches Verhalten daran bemessen können, wenn eine Be- nicht Verurteilung gefragt ist. Und wer wollte überdies ausschließen, dass Christus auch in diesen Menschen durch sein fortwährendes Wirken eine Konformität mit sich (conformitas cum Christo) herstellt, wenngleich sie selbst davon noch nichts wissen? Zu berücksichtigen gilt es in diesem Zusammenhang übrigens auch, dass der neue Mensch, der »Mensch in Christus« noch keine eigene Hypostase, kein eigenes Sein hat. Es ist mithin von der Anhypostasie des neuen Menschen auszugehen. Mit Paulus gesprochen, haben wir diesen Schatz des »neuen Menschen« nur in irdenen Gefäßen (2Kor 4,7). Der »Mensch in Christus« subsistiert enhypostatisch in solchen Mensch, die noch nicht erlöst, noch »Sünder und gerechtfertigt zugleich« sind.60 Das macht alle irdischen Vorbilder – wie gleich noch ausgeführt werden soll – zu kritisch-gebrochenen Vorbildern. Auch solche Menschen, die sich selbst nicht als in Christus seiend verstehen und bezeichnen würden und dennoch ein dem »Werden in Christus« entsprechendes (etwa soziales) Handeln zeigen, das nicht selten demjenigen von erklärten Christenmenschen voraus ist, können insofern aus theologischer Perspektive ebenso zu den kritisch-gebrochenen Vorbildern gerechnet werden. Zur kritischen Gebrochenheit solcher Vorbilder gehört dann die noetisch-ontische Differenz zwischen einem christusentsprechenden Handeln und einem Bekenntnis, das die Erkenntnis dieser Entsprechung noch nicht eingeholt hat. Auch diese Gebrochenheit gehört zum Leib vorläufiger Diesseitigkeit. Bonhoeffer hat den Bereich der sog. »Profanität« vor allem in seinen Briefen aus dem Tegeler Untersuchungsgefängnis an seinen Freund Eberhard Bethge in den Blick genommen und im Zusammenhang mit seiner änigmatisch anmutenden Rede vom »religionslosen Christentum« und der »nichtreligiösen Interpretation biblischer Begriffe«61 zu würdigen versucht. Bonhoeffer spricht von der »mündig existiert, sondern daß es eine geschichtlich bedingte und vergängliche Ausdrucksform des Menschen gewesen ist, wenn also die Menschen wirklich radikal religionslos werden – und ich glaube, daß das mehr oder weniger bereits der Fall ist«? 59 Vgl. E. Jüngel, Das Opfer Jesu als Sacramentum et Exemplum. Was bedeutet das Opfer Christi für den Beitrag der Kirchen zur Lebensbewältigung und Lebensgestaltung?, in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen IV, BEvTh 107, München 1990, 261–282. Fernerhin: Wannenwetsch, The Whole Christ and the Whole Human Being, 88f. 60 Zur Übertragbarkeit der Lehre von der En- und Anhypostasie vgl. R. Hütter, Theologie als kirchliche Praktik. Zur Verhältnisbestimmung von Kirche, Lehre und Theologie, BEvTh 117, Gütersloh 1997, 181–183. 61 Vgl. dazu vor allem R.K. Wüstenberg, Glauben als Leben. Dietrich Bonhoeffer und die nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe, FZPhTh 42/3 (1995), 367–381; ders., Bonhoeffer »revisited«. Zur Bedeutung der nicht-religiösen Interpretation im 21. Jahrhun-

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gewordenen Welt«62. Beim Gebrauch dieses Begriffes stand – wie Michael Weinrich geltend gemacht hat – Bonhoeffer eine Personengruppe aus seinem bürgerlichen Kontext vor Augen, aus der sich z.T. der Widerstandskreis gegen Hitler rekrutierte, die aber keine ausdrücklich christliche Prägung besaß : »Bonhoeffer macht nach vielen Enttäuschungen im sog. Kirchenkampf nach Ausbruch des 2. Weltkrieges im konspirativen Widerstand vor allem die Erfahrung, dass es auch entschlossene Verantwortungsübernahme in bürgerlichen Kreisen ohne ausdrücklich christliche Prägung gab. Es steht bei Bonhoeffer eine Begegnung mit einer ›mündig gewordenen Welt‹ in Gestalt dieser klarsichtigen Verantwortungsträger im Hintergrund. Gegen eine falsche Gottgeborgenheit in der Religion hebt Bonhoeffer die tätige Weltverantwortung als den konkreten Ausdruck der christlichen Freiheit hervor.«63 Bonhoeffer polemisiert nun nicht etwa theologisch gegen diese Mündigkeit. Er möchte der mündigen Welt nicht die Notwendigkeit der »Arbeitshypothese: Gott«64 apologetisch andemonstrieren,65 sondern die Mündigkeit im Lichte des Evangeliums verstehen, »in dem sie dann besser verstanden werden kann, als sie sich selbst versteht«66. Die Tatsache, dass die mündige Welt sich vom Christentum verabschiedet hat, ist nach Bonhoeffer keineswegs gleichzusetzen mit der »Inanspruchnahme der mündig gewordenen Welt durch Christus«67, die keineswegs ausgeschlossen, von der vielmehr auszugehen ist. An dieser Stelle lässt sich m.E. eine Übertragung auf die nach ihrem Selbstverständnis nichtchristlichen Vorbilder wagen. Gehören nicht auch diese zur mündig gewordenen Welt, der das »Gewand des Christentums«68 zu eng geworden ist? Die Inanspruchnahme besagter Vorbilder durch Christus selbst wird man, wie oben ausgeführt wurde, nicht ausschließen dürfen, sondern mit ihr rechnen müssen. Bonhoeffer lehrt uns, hier keine falsche Alternativen aufzumachen, namentlich die zwischen Christus oder mündig gewordenen Welt. Es geht ihm nicht um dieses »Oder«, sondern »Christus und die mündig gewordene Welt.«69 dert, ThLZ 131/2 (2006), 129–140; ders., Eine Theologie des Lebens. Dietrich Bonhoeffers »nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe«, Leipzig 2006; G. Plasger, Bonhoeffers Religionskritik und sein »Konzept« des religionslosen Christentums, Verantwortung 25 (47/2011), 13–19. 62 So z.B. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 477; 482; 504. 63 M. Weinrich, Religion und Religionskritik. Ein Arbeitsbuch, Göttingen 2011, 272f. Vgl. auch ders., Christliche Religion in einer »mündig gewordenen Welt«. Theologische Überlegungen zu einer Anfrage Dietrich Bonhoeffers in weiterführender Absicht, RPäH 11, Aachen 1982, 11f. 64 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 476. Vgl. a.a.O., 532–534; 557. 65 Den apologetischen Weg hält Bonhoeffer »erstens für sinnlos, zweitens für unvornehm, drittens für unchristlich«. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 478. 66 Weinrich, Religion und Religionskritik, 274. 67 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 504. Zum Begriff der »Mündigkeit« vgl. auch Wüstenberg, Eine Theologie des Lebens, 89; 99f.; 144. 68 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 404. 69 A.a.O., 479. Kursivierung: M.H.

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Oft genug haben Christinnen und Christen Anlass genug einzuräumen, dass ihre am »Vorbild Christus« gemessene Vorbildlichkeit hinter der von sog. »Weltkindern« hinterher hinkt. Im Blick auf solche Fälle bemerkt Karl Barth treffend: »Haben die Gottlosen Gott besser verstanden als die Christen, dann kann es nicht deren Sache sein, jene durch eine ›christliche‹ Nachahmung überbieten zu wollen; dann heißt es, Gott die Ehre, und in diesem Fall den Gottlosen Recht geben«70.

2.3 Bilderkritik als Kritik an Menschenbildern und Bildungsidealen Bonhoeffers Ausführungen verdeutlichen eines sehr deutlich: Es braucht Bilderkritik – auch und gerade im Blick auf unsere Bildungsideale, auch und gerade insofern sie durch Vorbilder verkörpert bzw. repräsentiert werden. Bereits in seiner frühen »Christologievorlesung« von 1933 hatte Bonhoeffer, gegen Hegel gewandt, ausgeführt: »Es ist verkehrt, die Menschwerdung Gottes aus einer Idee abzuleiten«71. Auch nicht aus einer Idee des Menschen. Sonst handelt es sich eben nicht um den »wirklichen Menschen in seiner Konkretheit«72. In der »Nachfolge« heißt es entsprechend: »Der Gestalt Jesu Christi gleichzuwerden, ist nicht ein uns aufgegebenes Ideal der Verwirklichung irgendeiner Christusähnlichkeit.«73 Warum reagiert Bonhoeffer an diesem Punkt theologisch so sensibel? Nun, hier müssen wir etwas weiter ausholen: Solche Ideale, von denen Bonhoeffer spricht, sind Bilder, Bilder nach denen wir auch den Bildungsvorgang ausrichten, gestalten können. Der Gebrauch des Vorbildbegriffs ist sicherlich eine der stärksten sprachlichen Maßnahmen, um den Ausnahmestatus eines bestimmten Bildes, das eine Person verkörpert, im Blick auf den Bildungsprozess hervorzuheben. Fragen wir danach, wie Vorbilder eigentlich zustande kommen, so müssen wir einen interessengeleiteten Zuschreibungsvorgang in den Blick nehmen, den man als das Aufrichten eines Ideals, eines Bildes umschreiben kann: »Vorbilder sind von einem bestimmten Interesse her geleitete Zuschreibungen, durch die das herausragende/ungewöhnliche Handeln eines Menschen so herausgestellt und verbreitet wird, dass andere sich danach für ihre eigene Lebensgestaltung richten können. Solcher Interessenbezug ist konstitutiv. Allgemeingültige Vorbilder gibt es nicht

70 K. Barth, Vergangenheit und Zukunft. Friedrich Naumann und Christoph Blumhardt (1919), in: J. Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie. Teil 1: Karl Barth – Heinrich Barth – Emil Brunner, ThB 17/1, München 51985, (37–49) 47f. 71 D. Bonhoeffer, Vorlesung »Christologie« (Nachschrift), in: ders., Berlin 1932–1933, DBW 23, hg. von C. Nicolaisen / E.-A. Scharffenorth, Gütersloh 1997, (279–348) 342. Vgl. auch a.a.O., 321f. 72 A.a.O., 324. Vgl. auch a.a.O., 321: »Die Idee des Menschen geht an der Wirklichkeit des Menschen vorbei, verwechselt den idealen Menschen mit dem wirklichen, kurz, der Mensch wird zum Symbol.« 73 Bonhoeffer, Nachfolge, 301.

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Jesus als Vorbild? […]. Vorbilder werden als solche erkannt und anerkannt, erklärt, erwählt, propagiert oder einfach aus der Tradition übernommen. Es geht dabei immer um subjektive Einschätzungen: von einzelnen Menschen (›mein Vorbild‹) oder von gesellschaftlichen Gruppen oder Organisationen«74.

Der jüngst verstorbene Duisburger Religionspädagoge Folkert Rickers hat vom »hermeneutischen Zirkel«75 zwischen Vorbild und Institution gesprochen. Bonhoeffer macht uns in diesem Zusammenhang nun auf eine Gefahr aufmerksam: Dass wir im Zuge dieses Zuschreibungsvorgangs mit unseren Vorbildern Götzenbilder aufrichten, dass wir die Vorbilder gleichsam zu unseren »goldenen Kälber« (vgl. Ex 32) gießen und gar nicht merken, dass und wie diese an die Stelle Gottes treten, ihn gleichsam ersetzen. Das erste Gebot des Dekalogs hingegen hält ausdrücklich fest: »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir« (Ex 20,3; Dtn 5,7). Und im – nach jüdischer und reformierter Zählung – zweiten Gebot wird der Bild-Begriff ausdrücklich aufgenommen: »Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen« (Ex 20,4a; vgl. Dtn 5,8a). Bonhoeffer stellt sich mit seinen Ausführungen zu Christus als dem Bild Gottes in die biblische Tradition des Dekalogs. Auch Bonhoeffer übt Bilderkritik – und zwar an bestimmten Bildungsidealen. Wie macht er das? Auf den Punkt gebracht: Indem er diese Bildungsideale mit dem Bild des Gekreuzigten kontrastiert: »[D]er in Armut Geborene, der Zöllner und Sünder Freund und Tischgenosse, der am Kreuz von Gott und Menschen Verworfene und Verlassene – das ist Gott in Menschengestalt, das ist der Mensch als das neue Ebenbild Gottes!«76 Wenn wir uns fragen, welches Menschenbild, welches Ideal wir unseren Bildungsbemühungen zugrunde legen, so ist es allzu oft der Antitypos zum Gekreuzigten. Und vielfach merken wir gar nicht, wie wir Menschen aus der »schlechten Gesellschaft« Jesu ausschließen. Es sind gerade die in Armut Geborenen, die Zöllner und Sünder, die Bonhoeffer hier nennt. Natürlich will niemand und auch Bonhoeffer nicht ein Bildungsziel propagieren, wonach die in Armut Geborenen arm bleiben sollen. Auch sollen wir unsere Schülerinnen und Schüler ganz gewiss nicht zu Zöllnern und Sündern erziehen. Auch Bonhoeffer fordert dies keineswegs. Vielmehr verdeutlicht er, dass wahre Bildung im Sinne der »Menschwerdung« des Menschen beim Gekreuzigten anzusetzen hat. Und dann erst, wenn sie dort angesetzt hat, darf sie sich – wie Bon-

74

Rickers, »Kritisch gebrochene Vorbilder« in der religiösen Erziehung, 217. A.a.O., 219. 76 Bonhoeffer, Nachfolge, 300. Ähnlich K. Barth, KD IV/2, 189f. 75

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hoeffer schreibt – dem Verklärten und Auferstandenen77 zuwenden:78 »[W]er nach Gottes Verheißung teilgewinnen will an der Klarheit und Herrlichkeit Jesu, der muß vorher gleichgeworden sein dem Bilde des gehorsamen, leidenden Knechtes Gottes am Kreuz. Wer das verklärte Bild Jesu tragen will, der muß das in der Welt geschändete Bild des Gekreuzigten getragen haben. Niemand findet das verlorene Ebenbild Gottes wieder, es sei denn, daß er teilgewinnt an der Gestalt des menschgewordenen und gekreuzigten Jesus Christus. Allein auf diesem Bilde ruht Gottes Wohlgefallen.«79 Gewiss lässt sich das Tragen des Bildes des Gekreuzigten nicht darauf reduzieren, sozialpolitisch für die Menschen in prekären Lebensverhältnissen aktiv zu sein. Damit wäre die Ganzheitlichkeit des intendierten Bildungsverständnisses umgangen. Denn spirituelle Dimensionen sind hier ganz gewiss ebenso wie politische Komponenten eingeschlossen. Denn wie sollte der Satz Bonhoeffers: »Wer sich jetzt am geringsten Menschen vergreift, vergreift sich an Christus«80, nicht auch implizit politisch gemeint sein? Gleichwohl geht Bildungsengagement nicht darin auf. Denn wenn Bildung ein Topos der Heiligung ist, dann entspringt Bildungsengagement dem ganzheitlichen neuen Menschsein, dem Leben des Christenmenschen »aus seiner Taufe«81 – wie Bonhoeffer sagt. Ethik als Reflexion auf diesen neuen, getauften Menschen hin tritt hier als so etwas wie Taufhermeneutik in den Blick.82 Dieses neue Menschsein expliziert sich im stellvertretenden Eintreten für andere, in extremis im Martyrium als der »tiefste[n] Gleichheit mit der Todesgestalt Jesu Christi«83: »Weil wir in Jesu Menschheit uns selbst angenommen und getragen wissen, darum besteht nun auch unser neues Menschsein darin, daß wir die Not und die Schuld der andern tragen.«84 Um es auf den Punkt zu bringen: Aus einem Bildungsverständnis, wonach Bildung meint: gebildet werden – gemäß dem Bild Christi als dem Ebenbild Gottes und in seiner Kraft, erwächst ein kritisches Potential im Blick auf explizite wie implizite »Menschenbilder«. Wird die Gottebenbildlichkeit in Jesus Christus 77

Ob Bonhoeffer die Dialektik von Kreuz und Auferweckung theologisch hinreichend stark betont, scheint mir zumindest fraglich zu sein. Bonhoeffer tendiert dazu, das Prädikat »wahrer Mensch« (verus homo) nur dem Gekreuzigten zuzusprechen. Damit droht unterschlagen zu werden, dass erst die Auferweckung den Gekreuzigten als den wahren Menschen offenbart. Insbesondere im Blick auf die Ethik gilt es festzuhalten: Gerade in der Auferweckung des Gekreuzigten gründet im Sinne des Geschehens der inkludierenden Stellvertretung das »Wandeln in einem neuen Leben« (Röm 6,4). 78 Vgl. Bonhoeffer, Nachfolge, 302. 79 A.a.O., 300. 80 A.a.O., 301. 81 A.a.O., 302. 82 Vgl. S. Hauerwas, Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, Evangelium und Ethik 4, hg. von R. Hütter, Neukirchen-Vluyn 1995, 151: »Glaube bedeutet in Wirklichkeit, unser wahres Leben im Leben Christi zu finden. Daher werden wir in der Taufe buchstäblich in sein Leben hineingenommen.« Vgl. a.a.O., 9. 83 Bonhoeffer, Nachfolge, 302. 84 A.a.O., 301.

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ansichtig, dann widerspricht das Bild des Gekreuzigten etwa jenen »Bildungsidealen«, die Schwachen, Kranken und Bedürftigen die Gottebenbildlichkeit (säkular: Menschenwürde) absprechen. Hier tritt in christologisch vermittelter Weise das in den Blick, was man in Anlehnung an den Vorbildkritiker Adorno als Sensibilität für das »beschädigte Leben« (gleichgültig ob in Gestalt von Gesellschaft und Individuen) bezeichnen kann, das »dem von der Kulturindustrie präsentierten Modell«85 nicht entspricht und sich insofern deren Verwertungsinteressen entzieht. Ein theologisch angemessener Umgang mit Vorbildern zeichnet sich dadurch aus, dass er die Bilderkritik durchläuft und die Vorbilder einer ideologiekritischen Analyse unterzieht, wie sie von Christus als Bild Gottes ermöglicht wird und gewonnen werden wollen. Nur so können die Vorbilder theologisch »ihrer Idealisierung im ideologiekritischen Zugriff enthoben werden«86.

2.4 Kritisch-gebrochene Vorbilder oder: »Bonhoeffer meets Mick Jagger« Für Bonhoeffer ist, wie wir gesehen haben, die Inkarnation Jesu, das Aufrichten seines Bildes, so etwas wie Gottes Zerschlagung der Götzenbilder. Doch damit nicht genug. Nach Bonhoeffer hat die Inkarnation noch eine weitere wichtige Bedeutung. Sie stellt nämlich die Reaktion Gottes auf den Sündenfall und das Scheitern des Menschen bei all seinen vergeblichen Versuchen dar, das Ebenbild Gottes aus eigener Kraftanstrengung wieder zu errichten. Bonhoeffer schreibt: »Weil der gefallene Mensch Gottes Gestalt nicht wiederfinden und annehmen kann, darum gibt es nur einen Weg zur Hilfe. Gott selbst nimmt die Gestalt des Menschen an und kommt zu ihm.«87 Mit dem Philipperhymnus weist Bonhoeffer darauf hin, dass der Gestaltwandel sich in Gott selbst ereignet (Phil 2,7). Weil Gott in Christus Mensch geworden ist, ist die Umwandlung des Menschen in Gottes Bild möglich. Ohne Inkarnation keine Bildung – so der Spitzensatz, zu dem sich Bonhoeffers Ausführungen steigern lassen. Die Notwendigkeit der Inkarnation ergibt sich nach Bonhoeffer aus dem Sündenfall und dem Verlust der Gottebenbildlichkeit, wie Bonhoeffer bereits vor der »Nachfolge« in seiner Schrift »Schöpfung und Fall«88 (1932) darlegte. Seitdem ist der Mensch gleichsam ein gebrochener Mensch. Martin Luther hat – grundlegend

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M. Horkheimer / Th.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M 132001, 176. 86 Rickers, »Kritisch gebrochene Vorbilder« in der religiösen Erziehung, 226. Vgl. ebd.: Der »Gefahr ihrer Instrumentalisierung […] kann man nur durch eine ideologiekritische Analyse entgehen«. 87 Bonhoeffer, Nachfolge, 299. 88 D. Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, DBW 3, hg. von M. Rüter / I. Tödt, München 1988.

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für seine Anthropologie – vom Menschen als »homo iustus et peccator«89 gesprochen, also davon, dass der Mensch Sünder und gerechtfertigt zugleich ist: trotz Rechtfertigung immer noch Sünder. »Auch ein noch so großer Heiliger [ist] der Sünde verfallen«90. Dies ist im Übrigen auch die Aussage von Alt-Rocker Mick Jagger von den »Rolling Stones«, wenn er singt: »You’ll never make a saint of me.« Im Zusammenhang heißt es dort: »Saint Paul the persecutor was a cruel and sinful man. Jesus hit him with a blinding light and then his life began … / Augustin knew temptation, he loved women, wine and song and all the special pleasures of doing something wrong … / John the Baptist was martyr but he stirred up Herod’s hate. And Salome got her wish to have him served upon a plate. / And could you stand the torture and could you stand the pain. Could you put your faith in Jesus when you’re burning in the flames? You’ll never make a saint of me!«91

Mick Jagger bringt seine tiefgreifende Skepsis gegenüber einer moralischen Orientierung an kirchlichen und biblischen Großgestalten zum Ausdruck. Er möchte kein Heiliger werden wie »St. Paul the Persecutor«, Augustinus oder Johannes der Täufer. Jagger weiß, dass er Sünder ist und dass sein Versuch, sich an diesen Figuren zu orientieren, scheitern muss: »Könntest du die Qualen ertragen, den Schmerz, könntest du auf Jesus vertrauen, wenn du in den Flammen verbrennst?« Eine philosophische Entsprechung findet diese Skepsis in Kants Rede vom Menschen als krummem Holz! »[A]us so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden«.92 Greift man diese Metapher Kants im Blick auf die Vorbildfrage auf, dann wird man diese – jenseits aller Resignation in pessimistischer Anthropologie – dahingehend präzisieren dürfen, dass man jene Frage stellt, die einst Helmut Gollwitzer im Zusammenhang der Sinnfrage stellte: »Wie kommt krummes Holz zum aufrechten Gang?«93

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Diese Formel gebraucht Luther erstmals in der Römerbriefvorlesung von 1515/16 und zwar in seiner Auslegung von Röm 4,7: »Simul peccator et Iustus; peccator re vera, Sed Iustus ex reputatione et promissione« (WA 56, 272,17f.). Auch später noch nimmt Luther Bezug auf diese Formel: »Reim da, wer reimen kan. Duo contraria in uno subiecto et in eodem puncto temporis.« WA 39/I, 508,1f. (3. Antinomerdisputation, 1538). 90 Rickers, »Kritisch gebrochene Vorbilder« in der religiösen Erziehung, 236. 91 Zit. nach Mendl, Lernen an (außer-)gewöhnlichen Biografien, 140. 92 I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), A 398 (Werke, ed. Weischedel VI, 41). Dass die von Platon favorisierte »Methode« des Gerade-Machens undiskutabel ist, dürfte evident sein: »Wenn der Knabe gutwillig gehorcht, gut; wo nicht, so suchen sie ihn wie ein Holz, das sich geworfen und verbogen hat, wieder gerade zu machen durch Drohungen und Schläge.« Platon, Protagoras 32d. 93 H. Gollwitzer, Krummes Holz – aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens, München 1970, 9. Vgl. a.a.O., 282. Zur Metapher des »aufrechten Ganges« vgl. Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, 301–304; 306f.; 313.

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Eine Antwort hat Bonhoeffer durch sein Beharren auf dem fieri, auf der Menschwerdung im Sinne des Gestaltetwerdens in der Nachfolge gegeben. Das heißt: Der neue Mensch, der der Christenmensch bereits in Christus ist, befindet sich noch im Werden. Er ist noch nicht erlöst. Er ist noch Sünder und gerechtfertigt zugleich. Die Dialektik des »schon jetzt« und »noch nicht« haftet auch seiner Existenz an: »Es ist noch nicht erschienen, was wir einmal sein werden« (1Joh 3,2). Dieser Vorbehalt wird auch unsere Rede vom Menschen, unser Menschenbild bestimmen müssen. Ingolf U. Dalferth hat von einem »eschatologischen Realismus«94 gesprochen, der hier anthropologisch in Anschlag zu bringen ist. Nur im Rahmen eines solchen eschatologischen Realismus lässt sich m.E. theologisch verantwortbar die Vorbildthematik aufgreifen. Was heißt das nun – hinsichtlich womöglich zu ziehender Konsequenzen? Es sollte m.E. heißen, dass wir, wenn wir von menschlichen Vorbildern sprechen, immer von »kritisch-gebrochenen Vorbildern« sprechen. Rickers hat diesen Terminus in die Debatte eingeführt. Rickers erläutert: »Da […] der Begriff ›Vorbild‹ als solcher immer schon dadurch belastet ist, dass ihm scheinbar unausrottbar ein idealistisches Moment eignet, möchte ich den Begriff am liebsten vermeiden oder in Anführungszeichen setzen. Andererseits ist er eingefahren und hat durchaus einen eigenen Erkenntniswert. Wenn der Begriff im Folgenden weiter benutzt wird, dann im Sinne ›kritisch gebrochener Vorbilder‹, d.h. es geht um Menschen, die aus ihrer religiösen Position heraus Vorbildliches/Außergewöhnliches geleistet haben, aber darin zugleich auch in ihren Grenzen gesehen werden müssen.«95

»Bonhoeffer meets Mick Jagger« – und zwar darin, dass beide die Notwendigkeit einer kritischen Brechung von Vorbildern veranschaulichen. Ja, in der Tat: Mit kritisch-gebrochene Vorbildern haben wir es theologisch zu tun, weil menschliche Vorbilder zwar »in Christus« bereits neue Menschen sind, ihr Werden aber im Sinne der vollständigen Erlösung noch nicht abgeschlossen ist. Dietrich Bonhoeffer bringt die Gebrochenheit seiner eigenen Vorbildlichkeit als Mensch aus dem Tegeler Untersuchungsgefängnis heraus in seinem Gedicht »Wer bin ich?«96 zum Ausdruck. Er fragt, ob er der denn tatsächlich so sei, wie er in der Außenperspektive wahrgenommen wird, als der, der aus seiner Zelle »gelassen und heiter und fest wie ein Gutsherr aus seinem Schloß«97 tritt. Oder ob er nicht vielmehr sei, wie er sich selbst aus Innenperspektive wahrnehme: »Unruhig, sehnsüchtig, krank 94

I.U. Dalferth, Theologischer Realismus und realistische Theologie bei Karl Barth, EvTh 46 (1986), 402–422. Vgl. Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, 290: »Darin nämlich verhält sich der christliche Glaube kritisch zu jeder Wirklichkeit menschlicher Existenz, daß er den Menschen eschatologisch versteht und jedem Menschen die Möglichkeit eröffnet, sich selber eschatologisch zu verstehen.« 95 Rickers, »Kritisch gebrochene Vorbilder« in der religiösen Erziehung, 227. 96 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 513f. Vgl. dazu O. Bayer, Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie, Tübingen 1999, 21–40. 97 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 513.

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wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farbe, nach Blumen, nach Vogelstimmen«98. Bonhoeffer weiß sich diesem Spannungsverhältnis von Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht nur bei Gott geborgen, sondern er weiß auch, dass seine wahre Identität diejenige ist, die er bei Gott hat: »Dein bin ich, o Gott!«99. Doch noch ist diese Wirklichkeit der wahren Besitz- und Herrschaftsverhältnisse überblendet und der »neue Mensch« getrübt und gebrochen durch die Wirklichkeit des alten Menschen, der »[v]or Menschen ein Heuchler und vor [sich] selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling« ist. Noch ist die Wirklichkeit »in Christus« unterschieden von der Wirklichkeit des alten Menschen. Und diese Unterscheidung werden wir kritisch, d.h. auf diesen Unterschied verweisend, in die religionspädagogischen Diskurse und ins Unterrichtsgeschehen einbringen müssen. Wenn wir dies tun, bewegen wir uns im übrigens ganz in biblischer Tradition. Denn wenn wir uns etwa die biblischen Narrationen anschauen und beobachten, wie dort von den sog. »Vorbildern« erzählt wird, dürfte die kritische Brechung evident sein: »Wer die Bibel beim Wort nimmt, entdeckt eine Fülle problematischer Handlungen und Beziehungskonstellationen – und eine gute Portion sex and crime. [z.B.] • • •

• •

 ass Abraham, der Vater des Glaubens, in Ägypten aus Furcht seine Frau als d Schwester ausgibt und dem Pharao ›überlässt‹ (Gen 12,13), dass die Karriere des Moses mit einem Mord (oder zumindest Totschlag im Affekt) beginnt, dass der liebe Josef nach seinem Erfolg als rechte Hand des Pharao schließlich an seinen Brüdern eine sadistische Ader auslebt – meist fromm als ›Prüfung der Brüder‹ kaschiert, dass der umsichtige und kluge König David ein Ehebrecher und Mörder war oder dass die Jünger Jesu frühzeitig um Macht und Ränge streiten, als wären sie der Bezirksverband einer Partei, bei der noch vor dem Ableben des Vorsitzenden Pfründe und Ämter verteilt werden sollen.«100

Da menschliche Vorbilder nach theologischer, biblisch-vermittelter Einsicht »kritisch-gebrochene Vorbilder« und keine »religiös geklonten Menschen« (Josef Imbach) sind, sollten wir auch und gerade im RU deren negative Aspekte nicht ausblenden, glätten oder tilgen. Es gilt vielmehr der »Tendenz zum Kaschieren

98

A.a.O., 514. Ebd. 100 Mendl, Lernen an (außer-)gewöhnlichen Biografien, 164. Zur Problematik biblischer Biografien vgl. auch Ch. Gramzow, Vom Leben lernen. Biografien im Religionsunterricht, in: H. Harnisch / Ch. Gramzow (Hg.), Religionsunterricht im Freistaat Sachsen. Lernen, Lehren und Forschen seit 20 Jahren, Leipzig 2012, 331–344; 337–339; 342–344. 99

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und Patinisieren«101 tapfer zu widerstehen. Bonhoeffers vom Christusbild her gewonnenes Menschenbild kann in seiner theologischen Dimension »die Vorbilddiskussion insofern neu orientieren, als es alle als Vorbilder in Betracht gezogenen Persönlichkeiten – jedenfalls aus dem religiösen Bereich – in ihrer Gebrochenheit aufsucht und sie so religionsdidaktisch zugänglich macht.«102

2.5 Schöpferische Nachfolge oder: Ethisches Lernen als »Lernen am Modell« Worum geht es nun beim Nachfolgen – zunächst im Blick auf Jesus, dann aber auch im Blick auf menschliche Vorbilder? Der Bonhoeffer der »Nachfolge« konnte noch ganz affirmativ vom »Nachahmen«, etwa vom Nachfolgenden als »Gottes Nachahmer« (Eph 5,1) sprechen: »Der Nachfolger Jesu ist der Nachahmer Gottes.«103 In Bonhoeffers »Ethik« spielt hingegen der Begriff der Nachahmung, ja nicht einmal mehr der der Nachfolge eine merkliche Rolle.104 Das heißt indes nicht, dass er die Christusbezogenheit in der Ethik damit aufgegeben hätte. Im Gegenteil! Aber man gewinnt den Eindruck, als bleibe der Begriff »Nachfolge«, ganz zu schweigen von dem der »Nachahmung«, Bonhoeffer zu formal, zu unkonkret. Er schreibt in der Ethik: »Wir werden […] von jeder abstrakten Ethik weg und auf eine konkrete Ethik hin verweisen. Nicht was ein für allemal sei, kann und soll gesagt werden, sondern wie Christus unter uns heute und hier Gestalt gewinne.«105 Es geht Bonhoeffer um die aktuelle, situative Gestaltwerdung Christi – so die Leitmetapher –, wobei auch diese Leitmetapher von Bonhoeffer ganz im Sinne des fieri verstanden wird: »Christus bleibt der einzige Gestalter … Gestaltung gibt es … allein als Hineingezogenwerden in die Gestalt Jesu Christi.«106 Dieses Hineingezogenwerden »in Christus« setzt Kreativität frei, schöpferische Kreativität, da es ja niemand anderes als Christus der Schöpfungsmittler ist,107 der nun, da Christus in der neuen Kreatur lebt, agiert. Der Göttinger Theologe Ernst Wolf hat deshalb, Bonhoeffer weiterführend, von der »schöpferischen Nachfolge«108 gesprochen, ein Begriff der seitdem in der Ethik

101

Mendl, Lernen an (außer-)gewöhnlichen Biografien, 164. Rickers, »Kritisch gebrochene Vorbilder« in der religiösen Erziehung, 237f. 103 Bonhoeffer, Nachfolge, 304. 104 So beobachtet treffend E. Wolf, Sozialethik. Theologische Grundfragen, hg. von Th. Strohm, Göttingen 31988, 149. 105 Bonhoeffer, Ethik, 86f. 106 A.a.O., 80. Umgestellt. 107 Vgl. M. Trowitzsch, Die Freigabe der Welt. Der Gedanke der Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi bei Dietrich Bonhoeffer, in: ders., Über die Moderne hinaus. Theologie im Übergang, Tübingen 1999, 143–158. 108 Vgl. E. Wolf, Schöpferische Nachfolge, in: ders., Peregrinatio II. Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, München 1965, 230–241 = ders., Sozialethik, 148–160. 102

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vor allem von Heinz Eduard Tödt109 und seinen Schülerinnen und Schülern110 gebraucht wird.111 Wolf zufolge zielt der Begriff ab auf »die Vollmacht des neuen Lebens im Glauben und aus Glauben«112. Es geht um die »›schöpferische Aufgabe‹ der Nachfolge«113, um das Hören von Jesu Ruf »im Wagnis des Dienstes«114, um den »Mut zur Freiheit der ›rücksichtslosen‹ Hingabe«115, da auch in der der Nachfolge »die Freiheit des Glaubens das Regiment führen«116 muss. Schöpferische Nachfolge ist damit das Gegenteil von abbildender Nachahmung. Sie ist abzugrenzen von dem Versuch, Jesus rein äußerlich zu kopieren. Der katholische Moraltheologe Dietmar Mieth gebraucht den Begriff des Modells, um die Kreativität der Nachfolge zu umschreiben.117 Er versteht Jesus eher im Sinne eines Modells und nicht so sehr eines Vorbildes.118 Vorbilder seien nachahmenswert, Modelle hingegen anregend.119 Dementsprechend seien Jesu Gleichnisse Erzählungen, die nicht zur Befolgung von Sollens-Sätzen aufrufen würden, sondern dazu anregen, die im konkreten Handeln erst zu findende Norm zu entdecken. Auch lehre Jesus, wie man in entsprechenden Situationen handeln könne und nicht, was unter generellen Bedingungen zu tun oder zu unterlassen sei. Jesu Erzählungen stimulierten dazu initiativ zu werden; sie zeigten modellhaft, wie das Mögliche, Richtige und Angemessene gefunden werden könne. Mieths Rede vom »Modell« ist insofern anschlussfähig an die Rede von der »schöpferischen Nachfolge«, als dass Mieth damit ebenfalls die Nachfolge, die im kreativen Finden des Richtigen bestehe, von der Nachahmung abhebt.120 Die För109

H.E. Tödt, Schöpferische Nachfolge in der Krise der gegenwärtigen Welt, LM 9 (1970), 469–475. 110 Vgl. Ch. Frey / W. Huber (Hg.), Schöpferische Nachfolge. FS Heinz Eduard Tödt, Heidelberg 1978. 111 Vgl. W. Lienemann, Grundinformation Theologische Ethik, Göttingen 2008, 103: »›Schöpferische Nachfolge‹ ist die Signatur freiheitlich-dienstbarer Existenz von Christenmenschen.« Dort kursiv. 112 Wolf, Sozialethik, 157. 113 Ebd. 114 A.a.O., 160. 115 Ebd. 116 Ebd. 117 Vgl. Mieth, Vorbild oder Modell, 110–118. 118 Zu Jesus als Modell vgl. auch U. Luz, Feindesliebe und Gewaltverzicht. Zur Struktur und Problematik neutestamentlicher Friedensideen, in: A. Holzem (Hg.), Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens, Krieg in der Geschichte 50, Paderborn u.a. 2009, (137–149) 142. 119 Max Scheler hebt hervor, dass »Vorbilder« geliebt würden, was bei »Modellen« nicht der Fall sein müsse. M. Scheler, Schriften aus dem Nachlaß 1: Zur Ethik und Erkenntnistheorie, Bern 1957, 262. Zu Scheler vgl. Link-Wieczorek, Entzauberung der Vorbilder, 71–75. Link-Wieczorek (a.a.O., 73) macht geltend, dass »Nachahmung« nach Scheler – dem Bonhoeffer’schen Nachfolge-Verständlich nicht unähnlich – als »Partizipation an einem werthaften Sein verstanden werden muss«. 120 Vgl. G. Stachel / D. Mieth, Ethisch handeln lernen. Zu Konzeption und Inhalt ethischer Erziehung, Zürich 1978, 158: »Dabei sprechen wir umso mehr von Nachfolge und

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derung der Fähigkeit zur originellen, schöpferischen und mündigen Lösungen von Konflikten erfolge durch Modelle,121 nicht durch die Nachahmung einfordernder Vorbilder.122 Modelle würden bei allem Wegweisenden strittig bleiben. Ein Modell sei nun einmal ein »problematisches Vorbild, das zu denken gibt«, »ein Vorbild, mit dem man ins Gericht gehen kann«123. Die Nähe zum Konzept der »kritisch-gebrochenen Vorbilder« (F. Rickers) ist hier mit Händen zu greifen. Die letztgenannten Bemerkungen Mieths zeigen zugleich, dass Mieth bei aller Kritik an einer naiven Vorbildlichkeit davor zurückschreckt, den Begriff des Vorbildes zugunsten des Begriffs »Modell« ganz fallenzulassen und zu ersetzen.124 Unseres Erachtens kann es nicht darum gehen, ein – alltagssprachlich auch gar nicht durchsetzbares – Begriffsverbot aufzuerlegen, sondern ein theologisch verantwortbares Vorbildkonzept zu etablieren, dass sich gerade in der Abgrenzung von der rein äußerlichen Jesus-Mimesis von Mieths Modellbegriff inspirieren lässt.125 Die Entsprechungen zu einem auf der Linie von Bonhoeffers »Ethik« liegenden Nachfolgeverständnis im Sinne der »schöpferischen Nachfolge« sind dabei wegweisend. Freilich wird man auch die Grenzen des Modell-Begriffs sehen müssen, die dort zu finden sind, wo Jesus etwa als ein Modell unter vielen bezeichnet wird. Wenn Paulus Recht hat, dass Nachfolge nur in der Partizipation an und in Christus möglich ist, dann wird mit der Prädikation »Modell« entschieden zu wenig über Jesus gesagt.

Modell statt von Nachahmung und Vorbild, je mehr im Aneignungsprozess an Kreativität und Freiheit möglich ist.« 121 Bruno Schmidt weist auf die Nähe von Modell- zu Dilemmageschichten hin. B. Schmidt, Bioethisches Lernen: Möglichkeiten und Grenzen von Fallbeispielen, in: U. Manz / B. Schmidt (Hg.), Bioethik in der Schule. Grundlagen und Grundformen, Münster u.a. 2009, (161–174) 163f. 122 Vgl. auch Kalloch, Vorbilder – Heilige, 271: »Auch wenn die Bezeichnung ›Modell‹ häufig synonym verwendet wird, ist sie doch von der des Vorbildes zu unterscheiden. Der aus der sozial-kognitiven Lerntheorie stammende Begriff grenzt sich vom unreflektierten Nachahmen großer Vorbilder ab, indem es nicht mehr um das Ganze der Personen und ihres Lebensweges geht. In den Fokus treten Konflikt- und Entscheidungssituationen des Modells, die in kritischer Auseinandersetzung auf den möglichen Modellcharakter für das eigene Leben befragt werden. Dies geschieht mit dem Ziel, im Transfern Handlungssituatio­ nen des Modells als bedeutsam zu erkennen und damit zu eigener Handlungsfähigkeit zu gelangen.« 123 Mieth, Vorbild oder Modell?, 113. 124 Vgl. a.a.O., 117: »Die Relevanz der Geschichten (und der Geschichte) für die Moral kann in Vorbildern und in Modellen liegen. Gingen wir aber in der ethischen Erziehung nur von Vorbildern und Nachahmung, nur von Einschärfungen aus, die keiner Legitimation bedürfen, so würden wir Entscheidendes verspielen: die Vertiefung der sittlichen Selbsterfahrung und damit die Fähigkeit zur moralischen Konzentration des Selbst im Gewissen.« 125 Günter Stachel hat im Blick auf seine eigene religionspädagogische Intention von einem »gereinigten Vorbild-Begriff« gesprochen. G. Stachel, Lernen durch Vorbilder oder Modell-Lernen, in: ders. / D. Mieth, Ethisch handeln lernen. Zu Konzeption und Inhalt ethischer Erziehung, Zürich 1978, (86–116) 101.

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Wusste nicht sogar Immanuel Kant im Vergleich »höheres« zu sagen, wenn er – bei allem Desinteresse an der geschichtlichen Gestalt Jesu – die Übereinstimmung zwischen dem »Lehrer des Evangeliums« und der Christusidee betonte126 und von Jesus als »Ideal der moralischen Vollkommenheit, […] Urbild der sittlichen Gesinnung in ihrer ganzen Lauterkeit«127 und als »Idee, […] welche von der Vernunft uns zur Nachstrebung vorgelegt wird«128, sprach? Kant betonte nachdrücklich, dass man nicht irgendeinem Modell, sondern »seinem [Jesu] Beispiel in treuer Nachfolge ähnlich bleiben«129 solle. Das Lernen anhand von Vorbildern im Sinne des Lernens am Modell zu konzipieren ist, lässt sich auch verhaltenstheoretisch untermauern. Bereits Aristoteles hat das Modell-Lernen am Beispiel der Freunde in seiner »Nikomachischen Ethik« veranschaulicht.130 Nach Adorno ist ohne das Modell-Lernen die Entstehung des Subjektes nicht zu verstehen: »Das Humane haftet an der Nachahmung: ein Mensch wird zum Menschen überhaupt erst, indem er andere Menschen imitiert.«131 Lernpsychologisch hat vor allem Albert Bandura132 darauf hingewiesen, dass in der Aneignungsphase am Modell Beobachtete nicht einfach in der Ausführungsphase abgebildet wird. Akquisition und Performanz sind vielmehr zu unterscheiden, insofern sich in beiden Phasen höchst kreative Prozesse abspielen. Der mit dem Modelllernen umschriebene kognitive Lernprozess ist komplexer als es eine einfache Abbildungsvorstellung suggeriert. Albert Bandura »konnte nachweisen, dass bei Modell-Personen Beobachtetes nicht vollständig, sondern nur selektiv übernommen wird, indem die beobachtenden Personen wahrgenommene komplexe Strukturen ›in leicht erinnerliche Schemata umformen, klassifizieren und organisieren‹, meist erst zeitversetzt abrufen und in eigene Handlungsweisen transformieren.«133 Folgende Grafik mag dies veranschaulichen: 126

Vgl. I. Kant, Religion in der Grenzen der bloßen Vernunft, B 112f. Zur Christologie Kants vgl. G.B. Sala, Die Lehre von Jesus Christus in Kants Religionsschrift, in: F. Ricken / F. Marty (Hg.), Kant über Religion, Stuttgart 1992, 143–155; H. Vogel, Die Umdeutung der Christologie in der Religionsphilosophie Immanuel Kants, EvTh 14 (1954), 399–413. 127 Kant, Religion in der Grenzen der bloßen Vernunft, B 74. 128 Ebd. 129 A.a.O., B 76. 130 »Und wie die Erfahrung zeigt, nehmen die Freunde zu an sittlichem Gehalt; es ist eine Freundschaft der Tat und der gegenseitigen Vervollkommnung. Denn sie bilden gleichsam die Vorzüge in sich ab, an denen sie Gefallen finden, indem sie voneinander das Modell annehmen. Daher das Wort: ›Gutes lernst du vom Guten.‹« Aristoteles, NE IX,12 (1172a 11–15). Zit. nach Aristoteles, Nikomachische Ethik, Übersetzung und Nachwort von F. Dirl­ meier, Stuttgart 1997, 270. 131 Th.W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Gesammelte Schriften 4, hg. von R. Tiedemann, Frankfurt a.M. 2003, 176. 132 A. Bandura, Die Analyse von Modellierungsprozessen, in: ders. (Hg.), Lernen am Modell. Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie, Stuttgart 1976, 9–67. 133 Lindner, Vorbild ≠ Vorbild, 75. Das Zitat im Zitat stammt von Bandura, Die Analyse von Modellierungsprozessen, 28.

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Jesus als Vorbild?

Abbildung 3134: Modell-Lernen nach Albert Bandura

Die sozial-kognitive Lerntheorie Banduras unterstreicht den kreativen Anteil in der Übertragung. Dies knüpft an das Konzept der »schöpferischen Nachfolge« an, insofern sich dieses von der Propagierung einer direkten Übernahme des Vorbild-Verhaltens distanziert. Es weiß um die Wahrheit, die in dem Sinnspruch steckt: »Wenn man heute das tut, was man vor 2000 Jahren tat, tut man nicht das, was man vor 2000 Jahren tat.« Ein »Ja« zum Konzept der »schöpferischen Nachfolge« kann im Blick auf das ethische Erziehen nur bedeuten, dass man sich klar von allen Versuchen distanziert, die bloße Übernahme und Imitation von vermeintlichen Heldengestalten propagieren. »Orientieren statt idealisieren«135 ist angesagt. Eine Distanziertheit gegenüber den Vorbildern will gewahrt bleiben. Insofern ist eine hagiographiekritische und vorbildkritische Haltung unaufgebbar.

2.6 (Religions-)Lehrerinnen und Lehrer als Vorbilder Abschließend in aller Kürze noch der letzte Impuls. Auch im Tegeler Untersuchungsgefängnis hält Bonhoeffer daran fest: »Sie [die Kirche] wird die Bedeutung des menschlichen ›Vorbildes‹ (das in der Menschheit Jesu seinen Ursprung hat und bei Paulus so wichtig ist!) nicht unterschätzen dürfen; nicht durch Begriffe, sondern durch Vorbild bekommt ihr Wort Nachdruck und Kraft.«136 Diese Bemerkung, die Bonhoeffers im Kontext des »Entwurfs für eine Arbeit« formuliert,137 ist 134

http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/LERNEN/Modelllernen.shtml (abgerufen: 15.6.2013). 135 Rickers, »Kritisch gebrochene Vorbilder« in der religiösen Erziehung, 215. Vgl. ders., Orientieren statt idealisieren. Kritische Anmerkungen zum Märtyrerbegriff aus der Sicht der Religionspädagogik, in: B. Mensing / H. Rathke (Hg.), Widerstehen. Wirkungsgeschichte und aktuelle Bedeutung christlicher Märtyrer, Leipzig 2002, 205–225; 245f.; ders., Das neuerliche Interesse an Märtyrern und Märtyrerinnen und Paul Schneider, MEKGR 56 (2007), 253–271. 136 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 560f. 137 Vgl. zur Interpretation dieser Arbeit, in der Bonhoeffer u.a. den Partizipationsgedanken wieder stark macht, nämlich im Zusammenhang einer Wiedergewinnung des Gottes-

Impulse Bonhoeffers

313

von unmittelbarer Relevanz für das ethische Erziehen in Schule und Gemeinde. Denn hier kommt die Rolle der Lehrerin und des Lehrers in den Blick. Grundsätzlich wird man festhalten können: »Handlungskompetenz und erst recht Persönlichkeitskompetenz gewinnt man unter anderem durch Vorbilder. Ob in Nachahmung oder kritischer Abgrenzung ist jetzt zweitrangig. Die Unterrichtenden müssen aber wissen, daß sie eine Vorbildfunktion haben. Sie sind, ob sie das wollen oder nicht, lebendige Beispiele theologischer Existenz heute.«138 Dementsprechend konstatiert Friedrich Schweitzer: »[E]s ist gar nicht möglich, als Lehrerin oder Lehrer der eigenen Wirksamkeit als Vorbild zu entkommen. Gewollt oder ungewollt werden die Unterrichtenden zu ›Modellen‹, an denen sich die Kinder und Jugendlichen ausrichten. Entscheidend ist deshalb ein reflektierter Umgang mit dieser Wirkung.«139 Von Hartmut von Hentig stammt der schöne Satz, der dieselbe Erkenntnis Bonhoeffers pointiert: »Das wichtigste Curriculum des Lehrers ist seine Person.«140 Hinsichtlich des reflektierten Vorbildseins der Lehrerin und des Lehrers expliziert von Hentig folgende weiterführende Überlegung: »[W]ie ich mit der Kluft zwischen meinen Vorsätzen und meinen Taten umgehe, ist für die, denen ich dies zeige, doch wieder hilfreich: Sie können dies ›ehrlich‹ oder ›eitel‹ oder ›zweideutig‹ finden, und werden danach entscheiden, wie sie selber sein willen.«141 Auch und gerade die Religionslehrerin und der Religionslehrer werden sich hinsichtlich ihrer Vorbildrolle keine Illusionen machen dürfen: »Das Christsein des Religionslehrers geht in den Religionsunterricht ein, wie er es faktisch zu leben sucht: belastet mit allen Zweifeln und Unsicherheiten. Der Religionslehrer ist eher Modell im Sinne von Irene und Dietmar Mieth: ›Ein problematisches Vorbild, das zu denken gibt‹ […] Menschen, die Christsein lernen wollen, werden es nur in Auseinandersetzung mit dem gebrochen realisierten Christsein ihrer Mitwelt lernen können. […] Wir alle haben so gelernt, wenn wir es gelernt haben.«142

begriff durch »Teilhabe am Sein Jesu« (a.a.O., 205) vgl. Hauerwas, Performing the Faith, 33–54, bes. 53f. (dt. Übersetzung = S. Hauerwas, Dietrich Bonhoeffer: Ekklesiologie als Politik, in: W. Schoberth / I. Schoberth (Hg.), Kirche – Ethik – Öffentlichkeit. Christliche Ethik in der Herausforderung. FS Hans G. Ulrich zum 60. Geburtstag, EThD 5, Münster u.a. 2002, 99–120). 138 P. Bukowski, »Was wird aus Erwin, jetzt, wo er tot ist?«. Rückfragen an die 1. Ausbildungsphase, RKZ 139 (8/1998), (352–356) 356 (wiederabgedruckt in: ders., Theologie im Konflikt. Reden von Gott in der Welt, Neukirchen-Vluyn 2017, 49–58, 56). 139 Schweitzer, Grundformen ethischen Lehrens und Lernens in der Schule, 70f. 140 H. von Hentig, Vom Verkäufer zum Darsteller. Absagen an die Lehrerbildung, in: H. Becker / H. von Hentig (Hg.), Der Lehrer und seine Bildung. Beiträge zur Überwindung einer Resignation, Frankfurt a.M. 1984, (99–146) 112. 141 A.a.O., 114. 142 W. Bartholomäus, Der Religionslehrer zwischen Theorie und Praxis, KatBl 103 (1978), (164–175) 168.

314

Jesus als Vorbild?

3. Fazit Nach allem bislang ausgeführten kann das Fazit nur lauten: »Vorbild ja, aber in einer spezifischen Weise«143. Bonhoeffer hat – wie wir gesehen haben – uns entscheidende Impulse zur theologischen Präzisierung dieser Spezifik geliefert. Wir dürfen, wie gezeigt werden sollte, aus genuin theologischen Gründen Vorbilder im schulischen und kirchlichen Unterricht gebrauchen. Die Thematisierung von Vorbildern im Religionsunterricht geschieht freilich unter Vorbehalt, nämlich im Rahmen jenes eschatologischen Realismus, von dem die Rede war. Bonhoeffers Ausführungen legen keineswegs das Plädoyer für einen naiven, d.h. vorbehaltlosen und ungebrochenen Umgang mit Vorbildern nahe. Vielmehr geht es um eine »zweite Naivität«144 (Paul Ricœur) im Umgang mit Vorbildern, eine Naivität, die aus dem Sein bzw. Werden in Christus geboren ist, eine Naivität, die dieses Sein bzw. Werden nicht aus dem Blick verliert, sondern ethische Bildung präzise von dort aus konzipiert. In einer solchen ethischen Erziehung figurieren menschliche Vorbilder als Vorbilder zweiten Grades, als Hilfsmittel, wenn man so will. Denn Vorbilder sind – mit Bonhoeffer gesprochen – »Spiegel für das Bild Jesu Christi, auf das ich unverwandelt schaue. Der Nachfolgende sieht allein auf den, dem er folgt.«145

143

G. Adam, Religionslehrerin / Religionslehrer: Beruf – Person – Kompetenz, in: M. Roth­gangel u.a. (Hg.), Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 72012, (292–309) 308. 144 Vgl. J. Negel, Vermittelte Unmittelbarkeit zu Gott. Begriffsgeschichtliche und systematische Erwägungen zur »Zweiten Naivität« als der Glaubenshaltung des erwachsenen Menschen (29 Seiten) – Internetveröffentlichung (http://www.uni-marburg.de/hosting/ ks/personal/negel/naivi2.pdf; abgerufen: 12.6.2013); B. Wannenwetsch, Christians and Pagans: Bonhoefferian Reflections Towards the Second Naiveté of a »Converted« Religion or Christologically Mediated Creatureliness, in: ders. (Hg.), »Who Am I«? Dietrich Bonhoeffer’s Theology Through The Lense of His Poetry, London 2009, 175–196; M.I. Wallace, The Second Naiveté. Barth, Ricœur, and the New Yale Theology, Macon 1990. 145 Bonhoeffer, Nachfolge, 304.

f. Christologie interkulturell Auf dem Weg zu einer kulturellen Begegnung mit Kunst, Philosophie und Fußball

XI. »Der langhaarige Penner«. Oder: Wider die Verblüffungsresistenz Was ein Christ von einem »Heiden« kreuzestheologisch lernen kann

Miguel Fernandez in Dankbarkeit gewidmet

1. Einleitung: Das Ärgernis des Kreuzes. Oder: Überrascht vom »Langhaarigen Penner« In seiner Bonner Vorlesung »Tod und Auferstehung. Christologie II« bemerkt Hans Joachim Iwand kurz vor seinem Tod: »Das Kreuz ist das ganz und gar Inkommensurable in der Offenbarung Gottes. Uns ist es viel zu sehr gewohnt, wir stoßen uns kaum noch daran. Wir haben das Ärgernis des Kreuzes mit Rosen umkränzt. Wir haben eine Heilstheorie daraus gemacht. Aber das ist nicht das Kreuz. Das ist nicht die in ihm wohnende, die in es von Gott hineingelegte Härte.«1 Iwand, ein »fast vergessener Meister der Kreuzestheologie«,2 nimmt das Anstößige, die Härte, das Ärgernis (gr. mōria), ja den Skandal (gr. skandalon) des Kreuzes ernst,

1

H.J. Iwand, Christologie. Die Umkehr des Menschen zur Menschlichkeit, bearb., komm. und mit einem Nachwort versehen von E. Lempp / E. Thaidigsmann, NW.NF 2, Gütersloh 1999, 406. 2 M. Hoffmann, Der Anspruch der Kreuzestheologie. Am Beispiel Hans Joachim Iwands, GuL 11 (1996), (138–149) 138. Ähnlich J.M. Lochman, Das Glaubensbekenntnis. Grundriß der Dogmatik im Anschluß an das Credo, Gütersloh 21985, 114. Vgl. zur Kreuzestheologie Iwands H. Assel, »… für uns zur Sünde gemacht…« (2Kor 5,21). Christologie und Anthro­ pologie als Kreuzestheologie bei Hans Joachim Iwand, EvTh 60 (3/2000), 192–210; M. Hoffmann, Luthers Wirkungsgeschichte im 20. Jahrhundert. Eine politische Theologie des Kreuzes bei Jans Joachim Iwand, in: U. Duchrow / M. Hoffmann (Hg.), Politik und Ökonomie der Befreiung, Die Reformation radikalisieren 3, Berlin 2015, 240–270; Ch.J. Neddens, Politische Theologie und Theologie des Kreuzes. Werner Elert und Hans Joachim Iwand, FSÖTh 128, Göttingen 2010; E. Thaidigsmann, Umkehr im Erkennen. Luthers »Heidelberger Disputation« in Iwands Theologie, in: G. den Hertog / J. Seim (Hg.), Gottes Wort in der Zeit. Arbeiten zur Theologie Hans Joachim Iwands 1, Waltrop 2004, 255–282.

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»Der langhaarige Penner«

von dem Paulus spricht.3 Ihn überrascht insofern das odium crucis wenig, das etwa Goe­the bezeugt: »Mir willst du zum Gotte machen Solch ein Jammerbild am Holze!«4 Navid Kermani sprach im Jahr 2009 anlässlich der Verleihung des hessischen Kulturpreises im Blick auf das Kreuz von »Gotteslästerung und Idolatrie« und löste damit einen religionspolitischen Eklat aus.5 Iwand wusste solche ungeschminkten Worte angesichts der »Einebnung des Kreuzes im Christentum«6 wertzuschätzen. Als Torheit und Ärgernis wurde der Kreuzestod eines angeblich göttlichen Heilsbringers bereits in der Antike verstanden, wie die Argumentation von Paulus in 1Kor 1,18–25 bezeugt,7 die das »Wort vom Kreuz« in den Mittelpunkt christlichen Glaubens rückt: »18  Denn das Wort vom Kreuz ist Torheit für die, die verloren gehen, für die aber, die gerettet werden, für uns, ist es Gottes Kraft. 19  Es steht nämlich geschrieben: Zunichte machen werde ich die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen werde ich verwerfen. 20 Wo bleibt da ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo ein Wortführer dieser Weltzeit? Hat Gott nicht die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? 21  Denn da die Welt, umgeben von Gottes Weisheit, auf dem Weg der Weisheit Gott nicht erkannte, gefiel es Gott, durch die Torheit der Verkündigung jene zu retten, die glauben. 22  Während die Juden Zeichen fordern und die Griechen Weisheit suchen, 23   verkündigen wir Christus den Gekreuzigten – für die Juden ein Ärgernis, für die Heiden eine Torheit, 24  für die aber, die berufen sind, Juden wie Griechen, Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. 25  Denn das Törichte Gottes ist weiser als die 3

So Iwand würdigend auch R. Knieling, Das Kreuz mit dem Kreuz. Sprache finden für das Unverständliche, Gütersloh 2016, 13; ders., Paradoxes Ineinander. Die Vorstellung vom dreieinigen Gott lässt das Kreuz besser verstehen, Zeitzeichen 18 (3/2017), (19–21) 19. 4 J.W. von Goethe, West-Östlicher Divan, Poetische Werke III, Berlin 1965, 342. 5 Vgl. N. Kermani, Bildansichten: Warum hast du uns verlassen?, NZZ vom 14.3.2009 (online: https://www.nzz.ch/warum_hast_du_uns_verlassen__guido_renis_kreuzigung-1.2195409; abgerufen: 8.4.2020). Dazu: G.M. Hoff, Gegen den Uhrzeigersinn. Ekklesiologie kirchlicher Gegenwarten, Paderborn 2018, 175f. 6 B. Klappert, Der Gott Israels im gekreuzigten Christus (2Kor 5,19). Kontextuelle Kreuzestheologie in den Koordinaten von Israel, Mensch und Welt, in: S. Drubel / K. Eberl (Hg.), »Das Maß ist uns gegeben«. Die Theologie des Kreuzes als Maß protestantischen Denkens und Handelns. Symposium anlässlich des 5. Todestages von Präses Peter Beier, Neukirchen-Vluyn 2002, (47–86) 57. 7 Zu den Spaltungen und Rivalitäten und weltanschaulichen Hintergründen in Korinth, die den Hintergrund der paulinischen Argumentation bilden, vgl. M. Konradt, Die korinthische Weisheit und das Wort vom Kreuz. Erwägungen zur korinthischen Problemkonstellation und paulinischen Intention in 1Kor 1–4, ZNW 94 (2003), 181–214; H.-Ch. Kammler, Kreuz und Weisheit. Eine exegetische Untersuchung zu 1Kor 1,10–3,4, WUNT 159, Tübingen 2003; ders., Die Torheit des Kreuzes als die wahre und höchste Weisheit Gottes. Paulus in der Auseinandersetzung mit der korinthischen Weisheitstheologie (1. Korinther 1,18– 2,16), ThBeitr 44 (2013), 390–305 (auch in: F. Vogelsang / J. von Lüpke [Hg.], Die Torheit als höhere Weisheit? Zur Kreativität des Perspektivwechsels, Begegnungen 35, Bonn 2013, 23–43).

Einleitung

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Menschen, und das Schwache Gottes ist stärker als die Menschen.« (Zürcher Bibel, 2007)

Man hat den paulinischen Argumentationszusammenhang, der sich um das »Wort vom Kreuz« gruppiert, zu Recht als »Kreuzestheologie« bezeichnet.8 Von »Kreuzestheologie« ist immer dann zu sprechen, »wenn das Kreuz in solcher Weise zur Mitte der theologischen Reflexion avanciert, dass nicht nur der Tod Jesu (auf spezifische Weise) gedeutet wird, sondern das Kreuz zugleich umgekehrt als die Größe erscheint, die alles Reden von Gott und Menschen bestimmt und von der her die Wirklichkeit der Welt erfasst und interpretiert wird.«9 Das Ausblenden, Abmildern und Entschärfen dieses welt- und wirklichkeitserschließenden Ärgernisses hat Iwand zufolge mit den Nöten unserer Zeit zu tun. Er kann diesbezüglich davon reden, dass »die Dichter […] heute den eigentlichen Nöten unserer Zeit näher [sind] als die Theologen.«10 Das trifft nach seiner Einschätzung sicherlich auch auf andere Künstler als ausschließlich Dichter zu, auch solche Künstler, die sich etwa selbst als Nichtchristen verstehen.11 Ich persönlich denke dabei vor allem an einen Freund und Nachbarn unserer Familie, den Cartoonisten Miguel Fernandez (*1974), der sich selbst eher als Atheisten, Agnostiker oder auch – mit Jürgen Habermas – als »religiös unmusikalischen Menschen«12 denn als Christ bezeichnen würde. Er hat es auch mit Blick auf das Kreuz geschafft, mich zu überraschen und zwar mit seinem Cartoon »Der langhaarige Penner«, den er im Jahr 1997 anfertigte und einige Jahre später (2008) überarbeitete. 8

So auch W. Kraus, Der Tod Jesu und seine Deutung, in: L. Bormann (Hg.), Neues Testament. Zentrale Themen, Neukirchen-Vluyn 2014, (129–152) 145. Explizit von paulinischer »Kreuzestheologie« spricht auch W. Schrage, Der gekreuzigte und auferweckte Herr. Zur theologia crucis und theologia resurrectionis bei Paulus, ZThK 94 (1997), 25–38. Vgl. ders., Der erste Brief an die Korinther (1Kor 1,1–6,11), EKK VII/1, Zürich u.a. 1991, 127–367. 9 M. Konradt, Kreuzestheologie, in: F.W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, (314–322) 314. 10 H.J. Iwand, Kirche und Öffentlichkeit (A), in: ders., Nachgelassene Werke 2: Vorträge und Aufsätze, hg. von D. Schellong / K.G. Steck, München 1966, (11–28) 17. Vgl. G. den Hertog u.a. (Hg.), Iwand und seine Dichter, Arbeiten zur Theologie Hans Joachim Iwands 2, Waltrop 2005. Zu den Formen nichtchristlicher Christologie vgl. U. Link-Wieczorek, Christologie IV.2, RGG4 2 (1999), 326f. 11 M. Welker (Which Forms and Themes Should Christian Theology Uphold in Dialogue with Secular Culture?, in: B.L. McCormack / K.J. Bender [Hg.], Theology as Conversation. The Significance of Dialogue in Historical and Contemporary Theology. A Festschrift for Daniel L. Migliore, Grand Rapids / Cambridge 2009, 297–312, 305) zufolge gehört das Kreuz zu denjenigen Themen, die im Dialog mit säkularer Kultur unbedingt behandelt werden sollten. Vgl. auch M. Volf, Von der Ausgrenzung zur Umarmung. Versöhnendes Handeln als Ausdruck christlicher Identität, übers. von P. Aschoff, Marburg 2012, 21–30; 81–85; 160–166; 200–204; 389–395. 12 J. Habermas, Glauben und Wissen. Die Rede des diesjährigen Friedenspreisträgers des Börsenvereins des deutschen Buchhandels (FAZ vom 15.10.2001, Nr. 239/2001), 9. Vgl. dazu E. Thaidigsmann, »Religiös unmusikalisch. Aspekte einer hermeneutischen Problematik, ZThK 108 (2011), 490–509.

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»Der langhaarige Penner«

Die Überraschung entspringt und entspricht bester Cartoonisten-Manier. Hinter einem Cartoon verbirgt sich bekanntermaßen eine Grafik, die eine komische und/oder satirische Geschichte in einem Bild erzählt.13 Es geht im Cartoon also um einen Bildwitz, aus dem ein Überraschungsmoment resultiert – auch jenes Überraschungsmoment, das sich wider alle Verblüffungsresistenz auch bei mir einstellte. Miguels Cartoon besitzt nämlich, wie ich im Folgenden zeigen möchte, nicht nur eine allgemein treffliche, sondern insbesondere trefflich-religionskritische, ja, ich möchte behaupten, trefflich-theologische Pointe. Es handelt sich demnach nicht einfach nur um einen Cartoon, sondern eine Karikatur. Als Karikatur bezeichnet man nämlich gerne auch solche Cartoons, die einen »ernsthaft« gezeichneten Kommentar zu einem gesellschaftlichen Geschehen (oft tagespolitischen Ereignis) abgeben, jedenfalls eine kritische Absicht verfolgen und nicht einfach nur unterhalten möchten, wie dies indes auch bei vielen anderen Cartoons der Fall ist. Noch eine Bemerkung zum Überraschungsmoment: Dass in dieser Karikatur eine religionskritische Pointe gesetzt wird, überrascht gewiss nicht allzu sehr, kennt man solche Pointen doch aus dem Munde scharfer, sich selbst bisweilen atheistisch14 verstehender Christentumskritiker wie Feuerbach, Marx, Nietzsche, Freud usw.15 Dass indes nicht nur eine religionskritische, sondern auch theologisch höchst anschlussfähige, ja kreuzestheologisch konturierte Pointe aus dem Mund oder besser: aus der Hand eines selbsterklärten Atheisten bzw. Agnostikers erfolgt, das überrascht umso mehr. Mir jedenfalls erging es so in der Begegnung mit besagtem Cartoon. Aus der Hand eines Religionsmündigen stammend, überrascht er gewiss nicht minder als das Gotteslob aus dem Munde der Kinder, von denen der Psalmist sagen kann: »Aus dem Munde der Unmündigen und Säug-

13

H.K. Berg (Arbeiten mit Karikaturen, in: G. Adam / R. Lachmann [Hg.], Methodisches Kompendium für den Religionsunterricht Bd. 1, Göttingen 52010, 262–268, 267) spricht davon, dass satirische Zeichnungen ihre Inhalte so darstellen, »dass sie den Schein selbstverständlicher Geltung verlieren, ihre Widersprüchlichkeit und problematische Sicht aufgedeckt werden.« 14 Vgl. W. Schröder, Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Quaestiones 11/2, Stuttgart-Bad Cannstatt 2 2012; ders., Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit, Quaestiones 16, Stuttgart-Bad Cannstatt 22013. 15 Berühmt geworden sind vor allem die Sätze von Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: K. Marx / F. Engels, Werke 1, Ost-Berlin 1976, (378–391) 378f.: »Der Kampf gegen die Religion ist also unmittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung eines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.«

Der Christus mit dem Eselskopf

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linge hast du dir ein Lob bereitet« (Ps 8,3).16 Solche Überraschungen stellen sich zumeist unmittelbar, sozusagen auf den ersten Blick ein. Auf den zweiten Blick hingegen klärt sich vieles bereits auf, überrascht die Überraschung also gar nicht mehr so sehr. Dies gilt auch für die vorliegende Karikatur, denn sie entspricht durchaus der Art, wie der Gott Israels (der Bibel zufolge) zu seinem Volk redet. Dadurch verliert die Karikatur indes keineswegs ihren Reiz. Im Gegenteil! Doch der Reihe nach.

2. Der Christus mit dem Eselskopf. Das Graffiti vom Palatin Der Cartoon »Der langhaarige Penner« ist nicht vom Himmel gefallen. Miguels Karikatur reiht sich in eine große Tradition ein. Ich meine damit nicht einfach die völlig unüberschaubare und nie abreißen wollende Tradition von Kreuzesdarstellungen, auf die Iwand in dem Eingangszitat anspielt, sondern die der kritisch-pointierten Kreuzescartoons bzw. -karikaturen. Der wahrscheinlich älteste Cartoon mit Kreuzesmotiv, der in kritisch-pointierender Absicht erstellt wurde, dürfte das Spottkreuz vom Palatin in Rom sein.17

16

Zum gesamten Ps 8 vgl. G. Sauter, Das verborgene Leben. Eine theologische Anthropologie, Gütersloh 2011, 38–58. 17 So P. Pilhofer, Neutestamentliches Repetitorium, Erlangen 2015, 186.

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»Der langhaarige Penner«

Abbildung 4: Das Spottkreuz vom Palatin18 In diesem uralten Graffiti findet der »Torheitscharakter« des Leidens Christi, symbolisiert im Kreuz, sprechenden Ausdruck.19 Natürlich war hier kein Sprayer mit seiner Sprühdose am Werk, sondern hier hat jemand, offensichtlich ein Nichtchrist,20 an eine Wand gekritzelt, genauer gesagt: eine Zeichnung in sie mit einem scharfen Gegenstand eingeritzt. Diese »Wandkritzelei« wurde 1856 im ehemaligen Pädagogium im kaiserlichen Palast auf dem Hügel Palatin in Rom entdeckt. Sie stellt den gekreuzigten Christus mit einem Eselskopf dar und wird auf die erste Hälfe des 3. Jahrhunderts datiert.21 Auf den Christus mit dem Eselskopf schaut ein junger Mann, der seine Hand zum Zeichen der Anbetung in Richtung des Gekreuzigten streckt. Darunter befindet sich der griechische Schriftzug: »Alexamenos sebete theon« – »Alexamenos betet zu Gott«. Wir wissen nicht, wer dieser Alexa­ menos genau war, eine fiktive Gestalt oder etwa ein real existierender Mensch, 18

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:AlexGraffito.svg (abgerufen: 1.4.2020). So E. Dinkler (Älteste Christliche Denkmäler. Bestand und Chronologie, in: ders., Signum Crucis. Aufsätze zum Neuen Testament und zur Christlichen Archäologie, Tübingen 1967, 134–178, 152) bemerkt, »daß wir in bekennender oder diffamierender Weise, direkt oder indirekt, einen Reflex des Glaubens an Christus als Gekreuzigten hier noch vor uns haben. Entweder ist Alexamenos ein gnostischer Bekenner und Verfasser von Zeichnung und Graffito im positiven Sinne, oder er ist Gegenstand einer Lächerlichmachung und es wird sein Christusglaube verspottet. Die letzte Alternative ist u.E. am einleuchtendsten«. 20 So auch Dinkler, a.a.O., 153. 21 So Dinkler, a.a.O., 152. 19

Der Christus mit dem Eselskopf

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etwa ein christlicher Sklave oder Schüler. Jedenfalls wird er in der Karikatur als ein Christ dargestellt und als ein Eselsanbeter verhöhnt.22 Ein »gekreuzigter Gott«23 war für den anonymen Karikaturisten eine Lächerlichkeit, für den er freilich den Spott seines Pinsels (oder besser: Ritzgegenstandes) übrig hatte. Er arbeitete hier mit der Technik der Montage widersprüchlicher Bildzeichen und somit dem Grundmuster der Disjunktion, nämlich der von Gott und Esel, Anbetung und Spott, menschlicher Klugheit und tierischer Dummheit. Formal betrachtet, basiert die Wirkung der Karikatur darauf, »dass der Zeichner Bildzeichen zusammenfügt, die nicht zueinander passen.«24 Bereits Paulus sah, wie gesagt, sehr klar: die Anbetung des leidenden Christus am Kreuz als Sohnes Gottes – »[d]as war für die Griechen eine Verrücktheit, für die Juden ein Ärgernis. Das widersprach ganz und gar den heidnischen Gottesbildern. Götter galten als vollkommene Wesen, mächtig, schön, unberührt vom Leiden, ewig glückselig. Im Alten Ägypten galt der Pharao – mit all seiner Macht und Pracht – als Abbild Gottes auf Erden und verlangte göttliche Verehrung. Und ähnlich taten es auch die römischen Kaiser. Solche Götter und ihre selbst ernannten irdischen Repräsentanten blieben unberührt von der Menschen Schicksal […]. Und in Griechenland war man der Meinung, dass das Göttliche sich in der menschlichen Weisheit, Vernunft, im Philosophen, und in der Schönheit und jugendlichen Gesundheit und Kraft des Athleten widerspiegelt. Der Philosoph, der Athlet, der Filmstar als Ebenbilder der Gottheit! Und nun kommen die Christen und sagen: Gott hat sich in der Schwachheit des Kreuzes, im Gekreuzigten offenbart. Wenn wir schon Gott beim und im Menschen suchen, so ist er nicht bei den Mächtigen, den Weisen, den Schönen, den Stars und Superstars zu finden, sondern in der Krippe und am Kreuz, bei den Armen, den Elenden, den Ausgestoßenen, den Törichten, den Sündern.«25

Dass damit die gängigen Vorstellungen vom Guten, Schönen und Starken »verkehrt« werden, ja mit dieser Innovation eine »Umwertung aller Werte« einhergeht, hat wohl kaum jemand heller und klarer gesehen als der Philosoph Fried-

22

Pilhofer, Neutestamentliches Repetitorium, 185 (online: https://www.neutestamentliches-repetitorium.de/inhalt/Jesus/Paragraph14_2015.pdf): »Die Gefahr, die das Kreuz für jede christliche Mission darstellt, wird deutlich an einer antiken Karikatur, die – in einer heutigen Zeitschrift publiziert – weltweit Proteste in schärfster Form zur Folge hätte, wenn der Karikierte Mohammed hieße und nicht Jesus.« 23 Vgl. J. Moltmann, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, KT 16, München 51987. 24 Berg, Arbeiten mit Karikaturen, 264. 25 U. Eibach, »Das Wort vom Kreuz« und die Überwindung des Bösen durch Leiden aus Liebe. Eine Lehrpredigt zu 1. Korinther 1,18–31, in: R. Mielke / H. Süselbeck (Hg.), Grundlagen und Vollzüge pastoraler Theologie und kirchlicher Praxis. Festschrift für Karl-Adolf Bauer zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2002, (83–88) 83. Vgl. auch die Predigt von H.-A. Drewes, Predigt über 1. Korinther 1,26–31, a.a.O., 7–10.

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»Der langhaarige Penner«

rich Nietzsche (1844–1900).26 Auf die griechische Tradition und die paulinische Kreuzestheologie rekurrierend, bemerkt er bissig: »[D]eus, qualem Paulus creavit, dei negatio«27 – »Gott, so wie Paulus ihn erdachte/erschuf, ist die Verneinung Gottes.«28 Nietzsche, der sich selbst als letzten Jünger und Eingeweihten des Gottes Dionysos versteht und entsprechend proklamiert: »Dionysios gegen den Gekreuzigten«,29 verweist mit der Verneinung Gottes keineswegs auf den Gott Israels, sondern den Gott der Metaphysik.30 Die Vorstellung von einem »gekreuzigten Gott«, der sich geißeln und töten lässt, bricht – wie Nietzsche erkannte – mit der gesamten abendländischen Metaphysiktradition. Der Gott der Metaphysik kann nämlich nicht leiden. Er kann, wie etwa der »unbewegte Beweger« des Aristoteles, nur die Ursache bzw. das Prinzip alles Seienden, etwa die prima causa weiterer Kausalität oder das primum movens weiterer Bewegung sein.31 Gott wird damit aber zum Prädikat der prima causa alles Seienden bzw. zum Prädikat des primum movens aller Bewegung.32 Darin besteht die Aporetik des »Gottes der Metaphysik« bzw. von »Gott« als Gattungsbegriff. Denn: »Das Denken an Gott im Horizont des christlichen Glaubens ist […] angewiesen, Gott ursprünglich und ausschließlich als Subjekt zu denken.«33

26

Treffend würdigen B. Brock / B. Wannenwetsch (The Malady of the Christian Body. A Theological Exposition of Paul’s First Letter to the Corinthians Vol. 1, Eugene 2016, 36) Nietzsche: »Friedrich Nietzsche was capable of grasping the grammar of the gospel’s life-forming power and saw the attraction of a church that truly lives by the ›proof from power‹ alone. This recognition made him a wicked satirist of a church that has given in to the pragmatist temptations of modernity.« 27 F. Nietzsche, Der Antichrist, in: Friedrich Nietzsche Kritische Studienausgabe (KSA) Bd. 6, hg. von G. Colli / M. Montinari, München 1999, 225 (Nr. 47). 28 Zur Christentumskritik im Spätwerk Nietzsches vgl. M. Hailer, Wie viel Weltfremdheit gehört zur Wiedergeburt? Ein Versuch, Nietzsches »Fluch auf das Christentum« ein wenig Segen abzugewinnen, in: R. Feldmeier (Hg.), Wiedergeburt, BThS 25, Göttingen 2005, (101–148) 106–115. 29 F. Nietzsche, Ecce homo, in: Friedrich Nietzsche Kritische Studienausgabe (KSA) Bd. 6, hg. von G. Colli / M. Montinari, München 1999, 374 (Nr. 9). Dort kursiv. 30 Vgl. dazu auch Nietzsches prominente Rede vom »Tod Gottes« und dazu: E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus. Tübingen 41982, 195–200; 275–286; ders., Das dunkle Wort vom »Tode Gottes«, in: ders., Von Zeit zu Zeit. Betrachtungen zu den Festzeiten im Kirchenjahr, Wuppertal 31998, 15–62; M. Welker, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 22012, 142–159. 31 Es stellt sich die Aufgabe der Differenzierung zwischen dem Denken Gottes im System der Metaphysik und im christlichen Glauben. Dies hat besonders H.-G. Geyer (Metaphysik als kritische Aufgabe der Theologie, in: ders., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. von H.Th. Goebel u.a., Tübingen 2003, 7–21) hervorgehoben. Vgl. ders., Atheismus und Christentum, in: ders., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. von H.Th. Goebel u.a., Tübingen 2003, 91–111. 32 Vgl. U. von Wilamowitz-Moellendorff, Der Glaube der Hellenen Bd. 1, Darmstadt 1984 (ND), 17. 33 Geyer, Atheismus und Christentum, 104.

Der Christus mit dem Eselskopf

325

Der »gekreuzigte Gott« steht indes für Nietzsche in der Tradition des Gottes Israels und damit der »Moral der Unterprivilegierten« mit ihrer dekadenten Würdigung der Ohnmächtigen und Schwachen: »Ein Glaube, dessen Gottessohn ans Kreuz geht und genau deshalb universale Gültigkeit beansprucht, der wiederholt geradezu den Sklavenaufstand in der Moral, der kehrt das Untere zuoberst und verbietet dem, was natürlicherweise schön und groß ist, sich daran zu freuen.«34 Nietzsche fragt suggestiv: »Dieser Jesus von Nazareth, als das leibhafte Evangelium der Liebe, dieser den Armen, den Kranken, den Sündern die Seligkeit und den Sieg bringende ›Erlöser‹ – war er nicht gerade die Verführung in ihrer unheimlichsten und unwiderstehlichsten Form, die Verführung und der Umweg eben zu jenen jüdischen Werthen und Neuerungen des Ideals?«35 Jesus repräsentiert Nietzsche zufolge die ultimative Zuspitzung des Sklavenaufstandes der Moral, auf den die Umwertung der Werte zurückgeht.36 Kein Wunder – so Nietzsche –, dass nunmehr gilt: »Moral ist heute in Europa Heerdenthier-Moral«.37 Nach diesen Nebenbemerkungen zu Nietzsche, die den geistesgeschichtlichen Horizont erhellen mögen, vor dem das Spottkreuz vom Palatin in seiner Bedeutsamkeit wahrgenommen werden darf, noch ein Hinweis zur antiken Welt, der bei einer Vergegenwärtigung des »Skandals des Kreuzes« helfen mag. Martin Hengel bemerkt: »Das Skandalon (Ärgernis) eines gekreuzigten jüdischen Messiaskönigs, der als ›Herr‹ und ›Gottes Sohn‹ verkündigt werden soll, können wir uns gar nicht

34

M. Hailer, Glauben und Wissen. Arbeitsbuch Theologie und Philosophie, Göttingen 2006, 180. F. Nietzsche (Zur Genealogie der Moral, in: Friedrich Nietzsche Kritische Studienausgabe [KSA] Bd. 5, hg. von G. Colli / M. Montinari, München 1999, 268 [Abschnitt I,7]) hebt hervor, »dass nämlich mit den Juden der Sklavenaufstand in der Moral beginnt.« Treffend erläutert Hailer (Wie viel Weltfremdheit gehört zur Wiedergeburt?, 108) diesen Vorgang: »Der Gedanke war einfach und wirkungsvoll: Das Partikularinteresse eines unterdrückten Volkes konnte dadurch befriedigt werden, dass seine Machtinteressen zu den universalen Prinzipien der Moral und des Rechts erhoben wurden. Was auf der Motivations­seite nur einem partikularen Volk galt, wurde auf der Sachseite zu den universalen Prinzipien schlechthin erklärt. Diese Setzung entwertet alles, was vorher galt und zwar in nachhaltigster Art und Weise.« 35 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 268f. (Abschnitt I,8). 36 Vgl. F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Friedrich Nietzsche Kritische Studienausgabe (KSA) Bd. 5, hg. von G. Colli / M. Montinari, München 1999, 116f. (Nr. 195): »Die Juden – ein Volk ›geboren zur Sklaverei‹, wie Tacitus und die ganze antike Welt sagt, ›das auserwählte Volk unter den Völkern‹, wie sie selbst sagen und glauben – die Juden haben jenes Wunderstück von Umkehrung der Werthe zu Stande gebracht, Dank welchem das Leben auf Erden für ein Paar Jahrhunderte einen neuen und gefährlichen Reiz erhalten hat: – ihre Propheten haben ›reich‹, ›gottlos‹, ›böse‹, ›gewaltthätig‹, ›sinnlich‹ ins Eins geschmolzen und zum ersten Male das Wort ›Welt‹ zum Schandtor gemünzt. In dieser Umkehrung der Werthe (zu der es gehört, das Wort ›Arm‹ als synonym mit ›Heilig‹ und ›Freund‹ zu brauchen) liegt die Bedeutung des jüdischen Volkes: Mit ihm beginnt der Sklaven-Aufstand in der Moral.« 37 A.a.O., 124 (Abschnitt V,202).

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»Der langhaarige Penner«

groß genug vorstellen.«38 Hengel urteilt so auf dem Hintergrund seiner aufwändigen Rekonstruktion antiker Quellen, die belegen, wie anstößig für die antike Welt die Gottesprädikation eines Gekreuzigten war, dem das Heil für die Welt zu verdanken sei. Von den Persern eingeführt und von den Puniern (mit vorausgehender Folter) aufgenommen, »galt die Kreuzigung in der Antike als eine Exekutionsweise barbarischer Völker«39. Sie war scheußlich, um nicht zu sagen bestialisch, so dass sich bereits der Staatsmann M. Tullius Cicero40 gegen sie wandte: »[B]ei dieser Hinrichtungsart wurde ein Mensch nicht nur zu einem langsamen, grauenhaften Sterben verurteilt. Nackt und in seiner Todesqual öffentlich zur Schau gestellt, wurde er auch seiner letzten menschlichen Würde beraubt und der Schande preisgegeben.«41 Aufgrund ihrer Grausamkeit bildete sie – ausweislich der Quellen – das »römische summum supplicium«.42 In den meisten Zeugnissen erscheint sie als »typische Sklavenstrafe« (servile supplicium).43 Hengel kommt zu dem Ergebnis: »Der Kern der christlichen Botschaft, den Paulus als logos toū stauroū charakterisiert, widersprach nicht nur der römischen Staatsräson, sondern überhaupt gemeinantiker Religiösität und hier besonders dem Gottesbild aller Gebildeten.«44 Mit kaum unterdrückter Sympathie für die rabies theologorum und umso größerer Leidenschaft für die »Torheit« der Botschaft vom Gekreuzigten urteilt Hengel ähnlich wie Iwand: »Das theologische Räsonnement unserer Zeit zeigt sehr deutlich, daß der konkrete Tod des Menschen und Messias Jesus ein Ärgernis darstellt, das man auf alle mögliche Weise entschärfen, auflösen und domestizieren will. Die Wahrheit unseres theologischen Denkens wird sich an diesem Punkte zu bewähren haben. Das Nachdenken über die harte Realität des Kreuzestodes in der Antike könnte mithelfen, den akuten Realitätsverlust in der heutigen theologischen Reflexion zu überwinden.«45

Dabei will bedacht sein, dass Jesu Kreuzestod als erbärmlicher und schändlicher Verbrechertod

38

M. Hengel, Der Sohn Gottes. Die Entstehung der Christologie und die jüdisch-hellenistische Religionsgeschichte, Tübingen 1975, 96. 39 M. Hengel, Mors turpissima crucis. Die Kreuzigung in der antiken Welt und die »Torheit« des »Wortes vom Kreuz«, in: J. Friedrich u.a. (Hg.), Rechtfertigung. FS für Ernst Käsemann, Göttingen 1976, (125–184) 137. Dort z.T. kursiv. Vgl. auch M. Wolter, »Dumm und skandalös«. Die paulinische Kreuzestheologie und das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, in: R. Weth (Hg.), Das Kreuz Jesu. Gewalt – Opfer – Sünde, Neukirchen-Vluyn 2001, 44–63. 40 Belege liefert Hengel, Mors turpissima crucis, 145–149. 41 G. Kittel, Der Name über alle Namen II. Biblische Theologie / NT, Göttingen 21996, 19f. 42 Hengel, Mors turpissima crucis, 145. Dort kursiv. 43 A.a.O., 156. 44 A.a.O., 127. 45 A.a.O., 181.

»Der langhaarige Penner« von Miguel Fernandez

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»auch ein unbegreifliches Ärgernis für diejenigen [war], die Jesu auf seinem Weg nach Gethsemane begleitet hatten und auf dieses Ende offenbar überhaupt nicht vorbereitet waren, die Jünger, die in der Nacht der Verhaftung alle die Flucht ergriffen. Mannigfach sind die Spuren im Neuen Testament, die uns das Unverständnis der Jünger und ihr Versagen zeigen. Das beginnt schon mit den Leidensansagen Jesu und den verständnislosen Reaktionen der Jünger auf dem Weg nach Jerusalem.«46

3. »Der langhaarige Penner« von Miguel Fernandez. Ein (kreuzes)theologischer Interpretationsversuch In die Tradition der religionskritischen Kreuzesdarstellungen reiht sich der Cartoon von Miguel Fernandez ein. Er hat es in sich. Man muss genau hinschauen, um die verschiedenen Bildelemente und vor allem Personenkonstellationen und Beziehungsarrangements zu erfassen. Es geht dabei – so meine Doppelthese – formal um Repräsentanz und inhaltlich um das berühmte Jesuswort aus der matthäischen Gerichtsrede (Mt 24f.): »Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40).

46

Kittel, Der Name über alle Namen II, 20f.

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»Der langhaarige Penner«

Abbildung 5: Der langhaarige Penner von Miguel Fernandez (1997; 2008)

Wenden wir uns zunächst der Analyse der inhaltlichen und formalen Bildelemente zu.47 Die Karikatur enthält verhältnismäßig wenige Bildzeichen. Solch eine Reduktion zeigt sich gerne in Karikaturen.48 Unsere Karikatur setzt sich aus drei wesentlichen Elementen zusammen: 1. dem Kirchensaal, erkennbar an den vier Kirchenbänken und drei z.T. angedeuteten romanischen Rundbögen, 2. dem Kruzifix, bestehend aus Kreuz und Corpus, und 3. einer Personengruppe, die sich aus drei Personen mit Gesangbüchern oder Bibeln in der Hand zusammensetzt, einer kahlköpfigen, männlichen Person in der zweiten Reihe und zwei relativ dicht nebeneinandersitzenden Personen in der dritten Kirchenbank, einem langhaarigen jungen Mann und einer ihm in Verärgerung zugewandten, ergrauten alten Dame mit grimmigen Gesichtszügen. Vom farblichen Arrangement ist die Karikatur eher von Pastelltönen getragen, selbst das Rot der Jacke des jungen Mannes wirkt eher dezent als knallig. Hinsichtlich der Formgebung fallen vor allem die riesigen, überdimensionierten Nasen aller Personen auf, in denen sich das Rund der romanischen Bögen wiederholt. Doch offenkundig besitzen die anwesenden Personen nicht den richtigen »Riecher« für das, was in diesem Raum, dem Gottesdienstraum, vor sich 47

Ich stütze mich dabei auf Berg, Arbeiten mit Karikaturen, 262–268. Vgl. a.a.O., 264.

48

»Der langhaarige Penner« von Miguel Fernandez

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geht. Gehören sie zu denjenigen, von denen der Psalmist sagt: »Sie haben Nasen und riechen nicht« (Ps 115,6)? Genauer gesagt, scheint es so, als würden sie sich eher argwöhnisch beschnuppern, was insbesondere für die grimmige alte Dame gilt. Das aussagekräftige »Nun seid ihr wohl gerochen«49 als Umschreibung des Heilsereignisses aus Johann Sebastian Bachs »Weihnachtsoratorium« scheint sich hinsichtlich der wechselseitigen Wahrnehmung auf diese Personengruppe nicht übertragen zu haben.50 Kommen wir nun zur Analyse der strukturellen Mittel der Karikatur. Der Code, der hier verwandt wird, ist gar nicht leicht entzifferbar. Es bedarf der Technik des Zitats, die als Technik des Karikierens gerne zur Vereindeutigung gebraucht wird,51 um die Karikatur zu entschlüsseln: »Langhaariger Penner«, so besagt das Zitat, das wohlgemerkt nicht gesprochen wird, sondern nur in einer Gedankenblase erscheint. Der Code sonstiger formalisierter Zeichen scheint in der Karikatur trotz eines vorausgesetzten Bekanntheitsgrades nicht hinreichend zu sein, um die »Message« ohne Zitat zu transportieren. Als Schlüssel fungiert dabei, so die bereits genannte These, die Repräsentanz bzw. Repräsentation. Sie bildet in der Karikatur weniger ein ihr zugrunde gelegtes Formalprinzip, das lediglich ein System von Relationen nach einem fixen Schlüssel abbildet, als vielmehr ein Materialprinzip, das für die konkrete Ausgestaltung der Relationen zuständig ist. Diese konkrete Ausgestaltung gibt der Karikatur ihre Bestimmtheit und zieht den Blick des Betrachtenden an, ja gleichsam in sie hinein. Die Repräsentanz ist dabei in der vorliegenden Karikatur eine multiple und zwar abgestuft nach dem Maß erkennbarer Ähnlichkeit. Bezeichnenderweise kreisen Repräsentationstheorien der Kunst seit Platon und Aristoteles um den Begriff der mimēsis.52 Aus der Nachahmung resultiert Ähnlichkeit in der Abbildung.53 Und bildliche Repräsentation hat als externe Repräsentation den Anspruch, die 49

BWV 248 (64). Zum »Wohlgeruch« im Zusammenhang des Opferkultes vgl. Ch. Eberhart, Studien zur Bedeutung der Opfer im Alten Testament, WMANT 94, Neukirchen-Vluyn 2002, 48–50. 50 Der Begriff »riechen« leitet sich etymologisch vom »rächen« ab. Die Schuld ist gerächt, so dass Gott mich wieder »riechen« kann. In diesem Sinne ist der Heilswerk, von dem Bach spricht, offenkundig zu verstehen. Vgl. auch R. Wischnath, »… bei Gott hat seine Stelle das menschliche Geschlecht«. Eine Predigt über eine Predigt für Prediger. Zu Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium (BWV 248), in: M. Hofheinz u.a. (Hg.), Verbindlich werden. Reformierte Existenz in ökumenischer Begegnung. Festschrift für Michael Weinrich zum 65. Geburtstag, FRTH 4, Neukirchen-Vluyn 2015, 109–123, bes. 120–122. 51 Vgl. Berg, Arbeiten mit Karikaturen, 265. 52 Vgl. G. Gebauer / Ch. Wulf, Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 21998. 53 Dabei gilt es freilich bereits im Blick auf Aristoteles zu beachten: »Der mimetische Prozess, wie ihn Aristoteles versteht, ist vielmehr die kreative Neuschöpfung bzw. das originelle, freie und durchaus eigensinnige Nachbilden eines Vorbildes, Modells oder Vorgangs, also Poiesis (Hervorbringung), die das von Natur Liegengelassene erstmals ans Licht bringt.« So H. Hollenstein, Engel, Models und der Apostel Paulus, in: ders., Des Keisers fürstliches Versteck und andere Beiträge, Bad Berleburg 2005, (129–133) 131.

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»Der langhaarige Penner«

Wirklichkeit abzubilden.54 Ich unterscheide im Folgenden zwischen drei Repräsentationsverhältnissen bzw. Repräsentanzen (1–3):

Abbildung 6: B  earbeitung von Abb. 5 (Der langhaarige Penner von Miguel Fernandez [1997; 2008])

3.1 Repräsentanz 1 Zunächst springt die Ähnlichkeit zwischen dem jungen langhaarigen Mann und dem Jesus symbolisierenden Kruzifixus ins Auge. Die Ähnlichkeit ist eine bis zur Gleichheit hin gesteigerte. Der Karikaturist arbeitet hier, was das Maß der Ähnlichkeit betrifft, mit dem Mittel der Übertreibung, die als »Ur-Technik des Karikierens«55 gilt. So wird die Seh-Erwartung durchkreuzt und ein Denkprozess ausgelöst.56 Dadurch, dass die Ähnlichkeit bis hin zur Gleichheit gesteigert ist, wird die Identifikation von beiden ermöglicht. Der Repräsentant (Repräsentierende) und der Repräsentierte verschmelzen gleichsam. »Was ihr getan habt, einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan«, so sagt es Jesus in der matthäischen 54

Vgl. W. Schoberth, Bilder des Unsichtbaren. Zum Verhältnis von Theologie und ästhetischer Moderne, Artheon. Mitteilungen der Gesellschaft für Gegenwartskunst und Kirche 4/1997, 1–7. 55 Berg, Arbeiten mit Karikaturen, 264. 56 Vgl. ebd.

»Der langhaarige Penner« von Miguel Fernandez

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Gerichtsrede und er bringt damit seine Identifikation mit denen, die nach den gängigen Statusindikatoren und d.h. »weltlicher« Kriteriologie und »menschlichen« Bewertungsparametern ganz unten in der gesellschaftlichen Hierarchie angesiedelt sind, zum Ausdruck.57 Die gesteigerte Form von Repräsentanz hat zur Folge, dass sich der unausgesprochene Gedanke der grimmig dreinschauenden Dame gegen Jesus selbst richtet. Sie wendet sich gegen Jesus selbst, d.h. gegen denjenigen, zu dessen Verehrung sie doch eigentlich in den Gottesdienst gekommen ist bzw. den Gottesdienstraum betreten hat. So dürfte zumindest zu vermuten sein. In dieser impliziten Perversion, der Inversion ihrer eigentlichen Intention, genauer noch: der Umkehrung von Verehrung in Verachtung, dürfte die eigentliche Pointe der Karikatur bestehen. Sie macht kenntlich, ja kritisiert, dass eine solche Verachtung von Menschen, die den zum eigenen Beurteilungsmaßstab erhobenen kulturellen Konventionen (»lange Haare«) nicht entsprechen, in jenen Selbstwiderspruch hineinmündet, der darin besteht, dass der eigene verehrte Gott mit der Verachtung des räumlich und optisch Nächsten ebenfalls verachtet und entehrt wird. Diejenige Religion, in der sich solches vollzieht, wird in der Karikatur der Kritik preisgegeben.58 Die Karikatur übt dabei ebenso unzweifelhaft Religions- wie Kirchenkritik aus, denn die Kirche repräsentiert ja in der Karikatur den Ort, an dem die Religion ausgeübt wird, und zwar indem sie den zitierten, die eigentliche Absicht invertierenden Gedanken der Frau als einen solchen kenntlich macht, der Jesu Identifikation mit dem geringsten Bruder bis zur Unkenntlichkeit pervertiert. Die Karikatur greift hier bestehende Verhältnisse in der Kirche an, die problematisch erscheinen. Sie ist dabei »ein aufklärerisches Medium, weil sie darauf baut, dass sie – Zeichen kritischer Hoffnung setzend – argumentativ überzeugen und befreiende Prozesse in Gang bringen kann.«59 So wird die Karikatur zugleich zum Medium kritischer Veränderung in Religion und Kirche, indem sie implizit zur Botschaft Jesu zurückruft: »Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan.«60 Die Karikatur »greift also nicht nur an, sondern lässt in 57

Vgl. Konradt, Die korinthische Weisheit und das Wort von Kreuz, 188. Zum Verhältnis von Christologie und religiöser wie sozialer Wirklichkeit vgl. A. Rasmusson, Jesus Christ, Religious Pluralism and the Oneness of God: Christology and Changing Social Imaginaries, in: P. Slotte / V.J. Päivänsalo (Hg.), Matter of Faith and Love: Nordic Perspectives on Transforming Social and Theological Challenges, Schriften der LutherAgri­cola-Gesellschaft 72, Helsinki 2018, 81–104. 59 Berg, Arbeiten mit Karikaturen, 266. Zum Aufklärungspathos vgl. W. Schoberth, Aufklärerische Antinomien und theologische Metakritik. Anmerkungen zur Wiedergewinnung des aufklärerischen Pathos, in: J. Haga u.a. (Hg.), Das Projekt der Aufklärung. Philosophisch-theologische Debatten von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Walter Sparn zum 75. Geburtstag, Leipzig 2018, 223–234. 60 S. Hauerwas (Matthew. Brazos Theological Commentary on the Bible, Grand Rapids 2006, 211) hebt in diesem Zusammenhang hervor: »All people, whether they are Christians or not, know all they need to know to care for ,the least of these‹. The difference between followers of Jesus and those who do not know Jesus is that those who have seen Jesus no longer have any excuse to avoid ›the least of these.‹« 58

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»Der langhaarige Penner«

ihrer Tiefenstruktur ein geheimes Gegen-Bild zum Bestehenden durchscheinen, eine Utopie, auf die hin die schlechte Wirklichkeit verändert werden soll.«61 Die hier ansichtig werdende Utopie ist die einer Kirche und Religion, in der niemand aufgrund gängiger Statusindikatoren und kultureller und sozialer Konventionen ausgegrenzt und verachtet wird. Die Karikatur lehrt so kritisch darauf zu achten, dass Kirche auch ein kulturelles und religiöses Gebilde mitten in der Welt ist, in der es oftmals, ebenso wie in jener, alles andere als gerecht und solidarisch zugeht. Exkurs: Dietrich Bonhoeffers Gedanken zum Anderen als Christus An dieser Stelle möchte ich exkurshaft Gedanken Dietrich Bonhoeffers zur Interpretation von Mt 25,40 einbringen, die mir im Blick auf die Christus-Repräsenta­ tion weiterführend zu sein scheinen, wie sie der Karikatur unterlegt ist. Bonhoeffer hat nämlich nicht nur, was gerne übersehen wird, am Ende seines Lebens, also in der Tegeler Haftzelle, die Frage gestellt, »wer Christus heute für uns eigentlich ist«,62 und daraufhin den Leitgedanken von Jesus als dem »›Mensch[en] für andere‹«63 artikuliert. Nein, Bonhoeffer hat diese Frage und ihre Beantwortung – biographisch und werkgeschichtlich geurteilt – von langer Hand vorbereitet. Bereits in seiner Dissertation »Sanctorum Communio« (1927) gab er eine Antwort, die seitdem anhand der Wendung »Christus als Gemeinde existierend«64 diskutiert wird.65 Bonhoeffers spätere Ausführungen zur Bruderschaft in »Gemeinsames Leben«66 und in der »Nachfolge«67 schließen daran an. Bei Bonhoeffer findet sich allerdings nicht nur die ekklesiologische und zugleich christologische Rede von der Kirche bzw. Christis als »Kollektivperson«. Bonhoeffer kann von Christus

61

Berg, Arbeiten mit Karikaturen, 266. D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, DBW 8, hg. von Ch. Gremmels u.a., Gütersloh 1998, (401–408) 402 (Brief vom 30. April 1944). Dazu: Welker, Gottes Offenbarung, 17–19; R.K. Wüstenberg, Christologie. Wie man heute theologisch von Jesus sprechen kann, Gütersloh 2009, 65–68. 63 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, (556–561) 559 (Beilage zum Brief vom 3. August 1944; Entwurf einer Arbeit). 64 D. Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, DBW 1, hg. von J. von Soosten, München 1986, 87 u.ö. 65 Zur Diskussion vgl. S. Brandt, »Christus als Gemeinde existierend«? Überlegungen zur ekklesiologischen Rede von der »Kollektivperson« im Anschluß an und in Auseinandersetzung mit Dietrich Bonhoeffer, in: dies. / B. Oberdorfer (Hg.), Resonanzen. Theologische Beiträge. FS Michael Welker zum 50. Geburtstag, Wuppertal 1997, 161–180; J. von Soosten, Die Sozialität der Kirche. Theologie und Theorie der Kirche in Dietrich Bonhoeffers »Sanctorum Communio«, ÖTh 2, Gütersloh 1992; M. Welker, Karl Barths und Dietrich Bonhoeffers Beiträge zur zukünftigen Ekklesiologie, ZDTh 22 (2006), (120–137) bes. 121–129. 66 D. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben. Das Gebetsbuch der Bibel, DBW 5, hg. von G. L. Müller / A. Schönherr, München 1987, 13–104, bes. 15–34. 67 Vgl. D. Bonhoeffer, Nachfolge, DBW 4, hg. von M. Kuske / I. Tödt, München 1989. Dort heißt es etwa: Christus »wurde den Menschen ein Bruder«. A.a.O., 106. 62

»Der langhaarige Penner« von Miguel Fernandez

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auch sehr konkret und individuell als dem »geringsten Bruder« sprechen, der mir begegnet. Der einzelne Bruder geht bei Bonhoeffer nicht in der Bruderschaft unter. Bereits der frühe und dann auch der mittlere Bonhoeffer ringen erkennbar mit dem entsprechenden Jesuswort aus Mt 25,40. In dem Aufsatz »Dein Reich komme!« (1933) heißt es: »Gott will von uns auf Erden, will im Bruder geehrt sein, nirgends anders; er senkt sein Reich in den verfluchten Acker. Tun wir die Augen auf, werden wir nüchtern, gehorchen wir ihm hier. – Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich! Das wird der Herr zu keinem anderen sagen, als zu dem er spricht: Ich bin hungrig gewesen, und du hast mich gespeist, ich bin durstig gewesen, und du hast mich getränkt. Was ihr getan habt einem unter diesen meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan.«68

Das Ringen Bonhoeffers findet gleichsam im Referenzrahmen seiner Unterscheidung zwischen der »Wer«- und der »Wie«-Frage statt,69 einer Differenzierung, die Bonhoeffer bereits in seiner frühen »Christologievorlesung« (1933) einführte: »Die Frage nach dem ›Wer‹ ist die Frage nach der Transzendenz. Die Frage nach dem ›Wie‹ ist die Frage nach der Immanenz.«70 Die christologische Frage umfasst nach Bonhoeffer beide, die Fragen, wer Christus und wie Christus ist, wobei Bonhoeffer vom Primat der »Wer-Frage« ausgeht.71 Interessanterweise definiert Bonhoeffer die »Wer-Frage« als »die Frage nach dem anderen Menschen und seinem Anspruch, nach dem anderen Sein, nach seiner Autorität. Sie ist die Frage nach der Liebe zum Nächsten. Transzendenz- und Existenzfrage werden zur Personfrage.«72 Allein von der »Wer-Frage« gilt: »[It] acknowledges the strangeness and otherness of the person we encounter.«73 Sie »drückt die Andersartigkeit des anderen aus«.74 In einer frühen Predigt Bonhoeffers heißt es: »Im Wandrer auf der Straße, im Bettler im Haus, im Kranken vor der Kirchtür wird ein Anspruch Gottes an uns laut, nicht weniger aber in jedem Menschen, der uns nah steht, mit dem wir Tag für Tag zusammen sind. […] Ich bin, du bist mir Anspruch Got68

D. Bonhoeffer, »Dein Reich komme! Das Gebet der Gemeinde um Gottes Reich auf Erden«, in: ders., Berlin 1932–1933, DBW 12, hg. von C. Nicolaisen / E.-A. Scharffenorth, München 1997, (264–278) 276. 69 Vgl. zu dieser Unterscheidung E. Feil, Die Theologie Dietrich Bonhoeffers. Hermeneutik, Christologie, Weltverständnis, München 41991, 59f.; 172f.; B. Wannenwetsch, The Whole Christ and the Whole Human Being: Dietrich Bonhoeffer’s Inspiration for the Christology and Ethics Discourse, in: B. Waters / L. Shults (Hg.), Christology and Ethics, Grand Rapids 2010, 75–98. 70 D. Bonhoeffer, Vorlesung »Christologie« (Nachschrift), in: ders., Berlin 1932–1933, DBW 12, hg. von C. Nicolaisen / E.-A. Scharffenorth, München 1997, (279–348) 282f. 71 So auch Wannenwetsch, The Whole Christ and the Whole Human Being, 78. 72 Bonhoeffer, Christologievorlesung, 283. 73 Wannenwetsch, The Whole Christ and the Whole Human Being, 78. 74 Bonhoeffer, Christologievorlesung, 283.

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»Der langhaarige Penner« tes, Gott selbst und mit dieser Erkenntnis bricht uns der Blick durch auf die Fülle göttlichen Lebens in der Welt. Nun bekommt das Leben in der menschlichen Gemeinschaft seinen göttlichen Sinn. Die Gemeinschaft ist selbst eine Offenbarungsform Gottes.«75

Die »Wer-Frage« kann nach Bonhoeffer im Raum der Kirche gestellt werden – »unter Voraussetzung der Tatsache, daß der Anspruch Christi, das Wort Gottes zu sein, zurecht besteht. Es gibt ja doch nur ein Gott-Suchen aufgrund dessen, daß ich schon weiß, wer er ist. […] Damit ist uns der Ort, an dem unsere Arbeit einzusetzen hat, klar gegeben. In der Kirche, in der Christus sich als das Wort Gottes offenbart hat, stellt der menschliche Logos die Frage: Wer bist Du, Jesus Christus? Logos Gottes! Die Antwort ist gegeben. Die Kirche empfängt sie täglich neu. Es bleibt aber dem menschlichen Logos überlassen, die gegebene Frage zu verstehen, sie in ihrem Sein nachzudenken und zu analysieren. Aber es bleibt bei der Frage: ›Wer‹.«76

Trotz der Verortung der »Wer-Frage« im Raum der Kirche und der für Bonhoeffer charakteristischen theologisch recht massiv forcierten Engführung von Christus und Kirche, Ekklesiologie und Christologie,77 intendiert Bonhoeffer keineswegs die Aufhebung des Individuums in der kirchlichen Masse. Die kirchliche Rückbindung der »Wer-Frage« stellt die Frage nach dem Einzelnen keineswegs still. Dementsprechend hebt Bonhoeffer in seiner Vorlesung »Das Wesen der Kirche« (SoSe 1932) hervor: Bruder ist Christus »dem einzelnen, nie der Gemeinde.«78 Wie aber ist Christus dem Einzelnen ein Bruder? Bonhoeffers Antwort lautet: Indem Christus stellvertretend da steht, wo der Bruder des Einzelnen steht. So kann der Einzelne seinen Bruder vermittelt über Christus sehen. Der Bruder verlässt so für den Einzelnen die apersonale »Gütersphäre« und betritt gleichsam die »Personsphäre«.79 Bonhoeffer ergänzt: »Der Andere als Mensch wird nie leibhaftig wirklich zum Christus, der Bruder ist nie Christus; [es ist] nicht absolut [zu verstehen]!«80 Er ist in diesem Sinne nicht Christus, sondern er wird mir zum Christus, wie Bonhoeffer in Anspielung auf Luther akzentuieren kann.81 75

D. Bonhoeffer, Predigt zu Matthäus 28,20 (Barcelona, Quasimodogeniti, 15.4.1928), in: ders., Barcelona, Berlin, Amerika 1928–1931, DBW 10, hg. von R. Staats / H.Ch. von Hase, München 1991, (467–473) 473. 76 Bonhoeffer, Christologievorlesung, 283f. 77 Vgl. etwa D. Bonhoeffer, Thesen zur Jugendarbeit der Kirche, in: ders., Berlin 1932– 1933, DBW 12, hg. von C. Nicolaisen / E.-A. Scharffenorth, München 1997, (508–509) 509: »Gemeinde ist die Gegenwart Christi als wahrer Herr und Bruder. In der Gemeinde sein, heißt in Christus sein, in Christus sein heißt, in der Gemeinde sein.« 78 D. Bonhoeffer, Vorlesung: Das Wesen der Kirche (Mitschrift), in: ders., Ökumene, Universität, Pfarramt 1931–1932, DBW 11, hg. von E. Amelung / Ch. Strohm, München 1994, (239–302) 273. 79 Vgl. a.a.O., 273f. 80 A.a.O., 274. 81 Vgl. M. Luther, WA 7, 35,34 (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520). Zu der Wendung Luthers »Dem anderen zum Christus werden« vgl. auf meinen gleichnamigen

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Es geht, wie der skizzierte Duktus zeigt, auch bei Bonhoeffer um Repräsen­ tanz, genau wie in der Karikatur. Dass der langhaarige junge Mann nicht Christus in einem absoluten Sinne von Identität ist, dürfte evident sein, zumal Repräsentanz hier gleich eine zweifache Brechung einschließt: Zum einen die zwischen Christus selbst und dem Kruzifix, das ihn ja nur symbolisiert, und zum anderen die Brechung zwischen dem jungen Mann und dem Kruzifix, die trotz der bis zur Gleichheit gesteigerten Ähnlichkeit vorliegt. Diese zweite Brechung ist es, die die Karikatur ins Bild setzt, die sie mit ihren verfremdenden Mitteln hervorhebt. Besagte Brechung zeigt sich als Unkenntlichkeit bzw. in der Unfähigkeit der verärgerten alten Dame, einen Zusammenhang zwischen dem jungen Mann und dem Kruzifix herzustellen. Es ist dieses spannungsreiche Repräsentationsverhältnis, das die alte Dame nicht wahrnimmt, und das der Karikatur ihre Pointe verleiht.

3.2 Repräsentanz 2 Doch damit nicht genug. Der Cartoon enthält noch weitere Repräsentationsverhältnisse, die benannt werden sollen und wollen. Und um sie klar zu bekommen, müssen wir uns erneut den einzelnen Personen in ihren Relationen zuwenden. Ein Repräsentationsverhältnis besteht nicht nur zwischen dem langhaarigen jungen Mann und dem Gekreuzigten bzw. dem ihn repräsentierenden Kruzifix (noch ein Repräsentationsverhältnis!)82, sondern auch zwischen diesem und der alten Dame. Freilich schaut dieses zweite Repräsentationsverhältnis anders aus als jenes erste. Denn die alte Dame trägt auch lange Haare, ebenso wie der junge Mann. Doch hat sie ihre ergrauten Harre zu einem betont schlichten und zugleich in seiner Akkuranz äußerst strengen Dutt hochgesteckt, der weder gezwirbelt noch geflochten erscheint. Hier eine sog. »Pietistenzwiebel« identifizieren zu wollen, scheint ein wenig weit hergeholt zu sein, zumal diese Frisur nicht nur im schwäbischen Pietismus (vor allem der sog. Hahn’schen Gemeinschaft) sehr beliebt war, sondern allgemein in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Die Frisur wirkt gleichwohl so, als habe die grimmige Oma ihr sorgfältigst gekämmtes Haar in äußerster Strenge gleichsam domestiziert, ja als traue sie sich nicht, ihr Haar offen zu tragen, so wie der junge Mann neben ihr und wie der von ihr verehrte Christus im Hintergrund.

Gemeindevortrag: M. Hofheinz, »Dem Anderen zum Christus werden«. Diakonie und diakonisches Handeln bei Luther. Ein Gemeindevortrag, http://www.reformiert-info.de/17663-012-2.html, 1–23. 82 Dieses Repräsentationsverhältnis zwischen dem Gekreuzigten als Person und dem Kruzifix liegt gleichsam auf einer anderen Repräsentationsebene als der in der Karikatur dargestellten und darstellbaren. Der Repräsentierte (der Gekreuzigte als Person) befindet sich in diesem Fall nämlich anders als in allen anderen Fällen gleichsam »hinter« der Karikatur / dem Bild. Insofern wird dieses besondere Repräsentationsverhältnis im Folgenden nicht eigens thematisiert. Es bildet aber, wie hier ausdrücklich vermerkt sei, die Grundlage aller weiteren Repräsentationsverhältnisse (1–3), insofern sie sich letztlich nicht auf das Symbol (das Kruzifix mit Corpus), sondern den Symbolisierten beziehen.

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Ohne gleichsam »küchenpsychologisch« operieren und bestimmte »Pathologien« in die alte Dame hineinprojizieren zu wollen, lässt sich doch festhalten, dass sie offensichtlich bestimmten Zwängen unterliegt, die sie daran hindern, ihrem gekreuzigten Herrn »äußerlich« zu entsprechen, ja ihm überhaupt mit jenem »einfältigen Gehorsam« zu begegnen, von dem Dietrich Bonhoeffer in seiner »Nachfolge« spricht.83 Die Ähnlichkeit, wie sie das Repräsentationsverhältnis zwischen der alten Damen und dem gekreuzigten Christus kennzeichnet, ist nur die einer entfernten Ähnlichkeit bzw. – mit dem 4. Laterankonzil (1215) gesprochen – die einer »Ähnlichkeit in umso größerer Unähnlichkeit« (similitudo in maiore dissimilitudine).84 Auch hier artikuliert sich Religions- und Kirchenkritik und zwar an einer repressiven Religion und Kirche, in der eine Zwanghaftigkeit herrscht, wie sie etwa der bekannte Religionspsychologe Tilmann Moser in seinem autobiographisch geprägten Buch »Gottesvergiftung« (1976) geiselt.85

3.3 Repräsentanz 3 Doch noch eine weitere Person in dem Cartoon muss benannt werden, die zwar gänzlich unscheinbar wirkt, aber das Personenensemble der Karikatur komplettiert. Gemeint ist der kahlköpfige Mann in der linken Ecke am äußersten Bild­ rand. Auch er wirkt mit seiner Krawatte irgendwie zwanghaft, doch dominiert im Cartoon ein anderer Eindruck. Mit seinen halb geschlossenen Augendeckeln schaut er »schläfrig« aus. Er hält das Gesangbuch, anders als der junge Mann und die grimmige alte Dame, nicht einmal in der Hand. Bemerkenswert ist der kurze, geschlossene Mund, der auf verblüffende Weise der Darstellung des Christus symbolisierenden Kruzifixes und dem jungen, langhaarigen Mann gleicht. Der Mund ist verstummt, wie der des Gottesknechtes, der im 4. Gottesknechtslied (Jes 52,12–53,12) mit einem Schaf verglichen wird, das vor seinem Scherer verstummt (Jes 53,7).86 Bedenkt man, welche zentrale Bedeutung dieses Lied für die neutestamentliche Literatur durch die Identifikation des Knechtes mit dem Gottessohn 83

Vgl. Bonhoeffer, Nachfolge, 69–76. Vgl. 4. Laterankonzil: De Trinitate, sacramentis, missione canonicae etc., 2. De errore Abbatis Ioachim, zitiert nach H. Denzinger, Enchiridion symbolorum definitonem et declarationum e rebus fidei et morum / Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Lateinisch – Deutsch, hg. von P. Hünermann, Freiburg i. Br. 42 2009, Nr. 806: »Denn zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann man keine so große Ähnlichkeit feststellen, daß zwischen ihnen keine noch größere Unähnlichkeit festzustellen wäre.« Vgl. dazu Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 387–389; 402f.; 406f. 85 Vgl. T. Moser, Gottesvergiftung, Frankfurt a.M. 1976. 86 Zu den Passalamm-Bezügen in Joh vgl. P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Bd. 2: Von der Paulusschule bis zur Johannesoffenbarung, Göttingen 1999, 225f.; K. Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, KT 114, München 31992, 200–203. Sowie: B. Klappert, Siehe, das ist das Befreiungslamm Gottes. Predigt über Joh 1,29, in: S. Landau u.a. (Hg.), Zwischen Mystik und Ratio. Festschrift für Rainer Röhricht, Waltrop 1989, 116–132. 84

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Jesus Christus hatte,87 dann forciert dies regelrecht die Entdeckung von Bezügen, gewissermaßen von »intertextuellen Referenzen« zwischen dem »Text« der Karikatur und dem biblischen Text. Auch Jesus hat am Kreuz nach dem Zeugnis der Evangelisten nur noch wenig gesprochen: »Die schrecklichen körperlichen Folgen dieser Hinrichtungsart lassen es als wenig wahrscheinlich erscheinen, dass ein Gekreuzigter in der Lage war, laut und artikuliert zu sprechen«.88 Zusammengenommen sind lediglich sieben »letzte Worte Jesu« in allen Evangelien überliefert (Mk 15,34 par Mt 27,46; Lk 23,34.43.46; Joh 19,26f.28.30).89 Auch hier manifestiert sich ein Repräsentationsverhältnis, das im Vergleich zu den beiden anderen Repräsentationsverhältnissen jeweils durch noch größere Unähnlichkeit gekennzeichnet ist. Und auch hier manifestiert sich Religionsund Kirchenkritik, nämlich Kritik an einer Religion, in der der »Kirchenschlaf« zu einer sattsam gepflegten Tugend geworden ist, also an einer Kirche, die sich indifferent verhält, sich kaum engagiert und es somit unterlässt, ihrem Herrn nachzufolgen, der herniederkommt und sich den Armen und Elenden zuwendet, denen, die auf der Strecke geblieben sind, die Opfer gesellschaftlicher (Transformations-)Prozesse wurden, den Verletzten, Entwürdigten, Marginalisierten, kurz: den Pennern. Die »Anklage« lautet auf »mangelnde Entsprechung«. Die Gemeinde ist zur Repräsentation Christi aufgerufen. So spricht Paulus etwa die korinthische Gemeinde als einen »Brief Christi« (2Kor 3,2)90 an, in dem »Christus eine portrai87

Vgl. die Beiträge in: B. Janowski / P. Stuhlmacher (Hg.), Der leidende Gottesknecht. Jesaja 53 und seine Wirkungsgeschichte, FAT 14, Tübingen 1996. Fernerhin: J. Woyke, Der leidende Gottesknecht (Jes 53), in: B. Kollmann (Hg.), Die Verheißung des Neuen Bundes. Wie alttestamentliche Texte im Neuen Testament fortwirken, BThS 35, Göttingen 2010, 200–225. 88 Vgl. L. Bormann, Theologie des Neuen Testaments. Grundlinien und wichtigste Ergebnisse der internationalen Forschung, UTB 4838, Göttingen 2017, 248. 89 Vgl. dazu: S. Hauerwas, Cross-shattered Christ. Meditations on the Seven Last Words, Grand Rapids 2004. Zum Sterbenarrativ bei den Synoptikern: M. Karrer, Das Kreuz. Neutestamentliche Impulse für die gegenwärtige Diskussion, in: P. Bosse-Huber / Ch. Drägert (Hg.), Glaube und Verantwortung. FS zum 65. Geburtstag von Nikolaus Schneider, Neukirchen-Vluyn 2012, 107–122, bes. 112; R. Zimmermann, »Deuten« heißt erzählen und übertragen. Narrativität und Metaphorik als zentrale Sprachformen historischer Sinnbildung zum Tod Jesu, in: J. Frey / J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, UTB 2953, Tübingen 2007, 315–373. 90 Diese »startling metaphor« wird freilich von Paulus keineswegs rein imperativisch, sondern eher »verwegen indikativisch« gebraucht. So hebt R.B. Hays (The Moral Vision of the New Testament. A Contemporary Introduction to New Testament Ethics, New York 1996, 304) hervor: »Despite their squabbles and peccadilloes, he [Paul] does not say to them, ›Shape up; don’t you know you’re supposed to be a letter from Christ?‹ Instead, with metaphorical audacity, he says, ›You are a letter of Christ … to be known and read by all.‹ The existence of this struggling community is a communication of the gospel to the world. This remarkable claim opens a crucial insight into the hermeneutical relation between text and community, between the New Testament and the church. If moral judgment entails […] the making of metaphors through which the New Testament reconfigures our understanding of our communal identity, the converse is true: the transformed community reflects the

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tierbare Gestalt an[nimmt]« und der »die mimetische Signatur des Geistes trägt«, ja »dessen Handschrift, Stil und Zeichen seinen Geist repräsentieren und der darum mit Recht von aller Welt sorgfältig zur Kenntnis genommen und graphologisch gedeutet wird«.91 Man kann nur hoffen, dass die Verhältnisse, die der Cartoonist in seinem Cartoon kritisiert, nicht so verhärtet, verkrustet und versteinert sind, dass nicht einmal die Hammerschläge seiner kräftigen Provokation ausreichen, um sie zu erschüttern.92 Stanley Hauerwas hat dementsprechend von einer »crossshatter­ed church« gesprochen, d.h. »a church shaped by the cross of Christ«: »We are a confused church, but our confusion does not make us ›cross-shattered‹. Rather our confusion is the result of our failure to be a cross-shattered church.«93 Noch ein Wort zur Perspektive des Bildes. Sie lässt sich nach allem Ausgeführten nur als christozentrisch bestimmen. Christus steht klar im Zentrum des Bildes, auch wenn das Ensemble der im Kirchenraum anwesenden Personen darin stimmig ist, dass sie nicht auf ihn konzentriert sind. Niemand dreht sich um und schaut ihn direkt an. Und doch sind alle Relationen auf diese verborgene Weise Christusrelationen, insofern Christus in allen personellen Konstellationen im Hintergrund steht. Alles scheint so im Cartoon auf Christus bezogen zu sein. Dementsprechend wurde der Cartoon »christozentrisch« von mir interpretiert. Auch diese Vorgehensweise steht in einer bestimmten Tradition. Luther kann etwa von Christus bekennen: »Christus finis omnium et centrum«.94 Der Cartoon erinnert die christliche Theologie gewissenmaßen von außen daran, dass sie »eigentlich in ihrem Wesen christozentrisch [ist]. Denn ihre entscheidenden Aussagen über Gott, die Menschen und die Wirklichkeit überhaupt gewinnt sie von Jesus Christus, dem Zentrum des christlichen Glaubens, her.«95 Der Cartoon erweist sich freilich nicht nur als »christozentrisch«, sondern zugleich auch als »staurozentrisch«.96 Von Martin Kähler stammt das berühmte glory of God and thus illuminates the meaning of the text.« Ausführlicher noch: R.B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven / London 1989, 122–153. Fernerhin: K. Scholtissek, »Ihr seid ein Brief Christi« (2Kor 3,3). Zu einer ekklesiologischen Metapher bei Paulus, BZ 44 (2000), 183–205. 91 Hollenstein, Engel, Models und der Apostel Paulus, 132. 92 Vgl. Berg, Arbeiten mit Karikaturen, 266. 93 S. Hauerwas, A Cross-shattered Church. Reclaiming the Theologcial Heart of Preaching, Grand Rapids 2009, 20. 94 WA 3, 368,22f. (Dictata super Psalterium, 1513–1515). Zur »Christozentrik« Luthers vgl. auch einführend: H. Dembowski, Martin Luther, in: ders., Wahrer Gott und wahrer Friede. Aufsätze und Vorträge zwischen Ost und West, hg. von H. Falcke / H. Schröer, Leipzig 1995, 378–393, bes. 380–383. Immer noch lesenswert: E. Wolf, Die Christusverkündigung bei Luther, in: ders., Peregrinatio. Studien zur reformatorischen Theologie und zum Kirchenproblem, München 1954, 30–80. 95 W. Krötke, Art. Christozentrik, RGG4 2 (1999), (323–325) 325. Vgl. ders., Barmen – Barth – Bonhoeffer. Beiträge zu einer zeitgemäßen christozentrischen Theologie, UnCo 26, Bielefeld 2009, bes. 9–14. 96 Zur Kreuzestheologie vgl. M. Korthaus, Kreuzestheologie. Geschichte und Gehalt eines Programmbegriffs in der evangelischen Theologie, BHTh 142, Tübingen 2007.

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Diktum: »Ohne Kreuz keine Christologie und in der Christologie auch kein Zug, der nicht am Kreuz seine Berechtigung aufzuzeigen hätte.«97 Des Weiteren drängt sich hier zumindest ein kurzer Verweis auf Martin Luther und seine Kreuzestheologie auf, wie er sie in den Thesen 19–21 und den entsprechenden Beweisen zu den Thesen (probationes) der »Heidelberger Disputation« (1518) entfaltet hat.98 Luther spitzt seine Theologie in äußerster Schärfe staurozentrisch zu: CRUX sola est nostra Theologia.99 So lautet der berühmte Satz aus seinem Psalmenkommentar, den Luther zu einem nicht weniger radikalen Crux probat omnia100 variieren kann. Das Kreuz bezeichnet mithin Kern und Stern seiner Theologie, Dreh- und Angelpunkt seines Denkens. Es bildet Luther zufolge die »perspektivische Mitte aller theologischen Aussagen«.101 In der Heidelberger Disputation heißt es dementsprechend: »Im gekreuzigten Christus ist die wahre Theologie und Erkenntnis Gottes« (In Christo crucifixo est vera Theologia et cognitio Dei)102. Damit ist zugleich die zentrale These der Kreuzestheologie Luthers benannt. Er grenzt sie ab von einer theologia gloriae und damit 97

M. Kähler, Das Kreuz. Grund und Maß der Christologie, in: ders., Schriften zur Christologie und Mission, hg. von H. Frohnes, ThB 42, München 1971, (292–350) 302. Freilich ist auch die Gefahr eines theologischen »Kreuzesisolationismus« nicht von der Hand zu weisen. Darauf hat etwa L. Newbigin (Foolishness to the Greeks. The Gospel and Western Culture, Grand Rapids 1985, 126) hingewiesen: »If the Cross is the place where the reality of human nature is unmasked, then the idea of a perfect earthly society is an illusion. There cannot be such. But, equally certainly, the Cross must be interpreted in its true context, in the biblical narrative taken as a whole and in the context of a fully Trinitarian doctrine of God.« 98 Ich übernehme im Folgenden die Übersetzung ins Deutsche von Wilfried Härle nach: M. Luther, Lateinisch-deutsche Studienausgabe. Bd. 1: Der Mensch vor Gott, hg. und eingeleitet von W. Härle, Leipzig 2006, 35–69. Vgl. zur Auslegung dieser Thesen vgl. u.a. H. Hollenstein, Der schülerorientierte Bibelunterricht am Beispiel der Theodizeefrage, RPäH 16, Aachen 1984, 292–296; H.J. Iwand, Theologia crucis, in: ders., Nachgelassene Werke 2: Vorträge und Aufsätze, hg. von D. Schellong / K.G. Steck, München 1966, 391–398; W. von Loewenich, Luthers Theologia crucis, Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus II/2, München 21933; E. Maurer, Luther, Herder Spektrum 4754, Freiburg i.Br. u.a. 1999, 39–42; B. Oberdorfer, Theologie des Kreuzes aus evangelischer Perspektive in ökumenischer Absicht, EvTh 78 (6/2018), 436–448; J. Reinert, Luthers theologia crucis. Eine ökumenische Herausforderung, in: S. Kopp / J. Werz (Hg.), Gebaute Ökumene. Botschaft und Auftrag für das 21. Jahrhundert?, Theologie im Dialog 24, Freiburg i.Br. u.a. 2018, 453–467; E. Thaidigsmann, Identitätsverlangen und Widerspruch. Kreuzestheologie bei Luther, Hegel und Barth, GT.FS 8, München / Mainz 1983, 37–40; K.-H. zur Mühlen, Das Kreuz Christi und die Kreuzesnachfolge des Christen bei Martin Luther, in: ders., Reformatorische Prägungen. Studien zur Theologie Martin Luthers und zur Reformationszeit, hg. von A. Lexutt / V. Ortmann, Göttingen 2011, 111–127, bes. 115–125. 99 WA 5, 176,33f. (Operationes in Psalmos, 1519–1521). 100 WA 5, 179,31 (Operationes in Psalmos, 1519–1521). 101 So treffend von Loewenich (Luthers Theologia crucis, 12), der zu Recht betont, dass Kreuzestheologie »[n]icht ein Kapitel der Theologie [meint], sondern eine bestimmte Art von Theologie«. 102 WA 1, 362,18f. (Disputatio Heidelbergae habita, 1518).

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zugleich dem Moralismus wie der Spekulation scholastischer Theologie. Luther spielt dabei in These 20 an auf die theologia naturalis, wie sie in der Auslegung von Röm 1,20 (etwa im Sentenzenkommentar des Petrus Lombardus)103 gleichsam ihren locus classicus fand.104 Hier würden »die Werke den Leiden, die Herrlichkeit dem Kreuz, die Macht der Schwäche, die Weisheit der Torheit und insgesamt das Gute dem Übel«105 vorgezogen. Gott könne nicht anders als »durch Leiden und Kreuz« (per passiones et crucem)106 gefunden werden, da er sich sub contraria specie, d.h. »in der Schande und Niedrigkeit des Kreuzes« (in humilitate et ignominia crucis)107 verberge. Gerade hier werde »das Sichtbare und die dem Menschen zugewandte Rückseite Gottes« (visibilia et posteriora Dei)108 erkennbar. Der Blick auf das unsichtbare Wesen Gottes (invisibilia Dei), sprich: eine Gotteserkenntnis durch das Gemachte (per ea, quae facta sunt)109, sei hingegen kontraindiziert. Es geht Luther freilich nicht nur um Gotteserkenntnis, nicht nur um eine theoria, sondern auch um die praxis crucis. Die gerne übersehene These 21 der Heidelberger Disputation macht dies deutlich. In der Rede von den Freunden und 103

Petrus Lombardus, Sententiae I, dist. 3,1 (Migne ser. lat. 192,529). Iwand (Theologia crucis, 385) bezieht sich auf diese Auslegung und bemerkt: »Das menschliche Erkennen ist in der Lage, die Schöpfung – es heißt hier: die creatura mundi – zu transzendieren. Es hat eine den anderen Kreaturen versagte ›excellentia‹. Es ›ragt über sie heraus‹, ist ekstatisch, und vermag darum das Unsichtbare zu erfassen, was die anderen Geschöpfe nicht vermögen. […] Der Mensch – allein fähig zur intelligiblen Anschauung – ist die Mitte der Schöpfung, hier hat diese gleichsam ihr Auge gesetzt bekommen, durch das sie das unsichtbare Wesen Gottes zu schauen vermag. Aber diese intelligible Anschauung überspringt nicht das Geschaffene – ea quae facta sunt –, sondern steigt von ihm auf.« 104 Zur aktuell kontrovers diskutierten Frage nach spätmittelalterlichen, insbes. mystischen Einflüssen auf Luther vgl. u.a. B. Hamm / V. Leppin (Hg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007; Th. Kaufmann, Geschichte der Reformation, Darmstadt 2009, 88–102; V. Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016. 105 WA 1, 362,24f. (Disputatio Heidelbergae habita, 1518): »Ideo praefert opera passionibus, et gloriam cruci, potentiam infirmitati, sapientiam stulticiae, et universaliter bonum malo.« 106 WA 1, 362,2 (Disputatio Heidelbergae habita, 1518). 107 WA 1, 362,12f. (Disputatio Heidelbergae habita, 1518). 108 WA 1, 362,2 (Disputatio Heidelbergae habita, 1518). Klappert (Der Gott Israels im gekreuzigten Christus, 53f.) verdeutlicht die Bezugnahme Luthers (»nur in der Rückschau«) auf Ex 33,18–23 und die Exodus- bzw. Sinaitradition: »Der Gott der Bibel ist im Unterscheid zum Gott der Metaphysik der Gott Israels, der sich vom Exodus über den Sinai bis in die Tiefe des Leidens erniedrigen, bis ins das Kreuz der Sklaverei hineingeben kann, mitleiden, im Exodus mitgehen kann, mitgehen kann bis zum Tode am Kreuz. Und damit durchbricht Luther die metaphysische und altkirchliche Tradition der Leidenslosigkeit Gottes, eines apathischen Gottes, der nicht leiden kann und will.« Zur altkirchlichen Tradition vgl. indes: D. Metz, »Einer aus der Trinität hat im Fleisch gelitten.« Das Leiden Christi im christologischen Streit der Alten Kirche, in: Th. Naumann / A. Kurschus (Hg.), Wo ist denn nun euer Gott? Von Gottes Anwesenheit in einer unordentlichen Welt, Neukirchen-Vluyn 2010, 75–85. 109 WA 1, 361,32f. (Disputatio Heidelbergae habita, 1518).

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Feinden des Kreuzes (amici/inimici crucis) manifestiert sich das anthropologische Korrelat zur theologia crucis und exakt hier wird auch der Ansatzpunkt und der Übergang zu einer Ethik des Kreuzes sichtbar: »Will der Mensch als ›amicus crucis‹ (Freund des Kreuzes) den gekreuzigten Gott gelten lassen, dann wird er ihn mit seiner ganzen Existenz bejahen. Dem Kreuz Christi entspricht das Kreuz des Christen. Gott will per passionis et crucem erkannt werden, dies gilt im doppelten Sinne. Deshalb flieht der Theologus crucis die Leiden nicht, sondern wendet sich zu allem hin, was niedrig und gering ist. Das ist die Art des ›amor crucis ex cruce natus‹.«110

Präzise diese Hinwendung zu dem Niedrigen und Geringen ist es, die der Gedanke »langhaariger Penner« im Cartoon konterkariert. Genau darin aber gehören für Luther Christi Kreuz und das Kreuz des Christen zusammen.111 Und umgekehrt ist es genau diese Hinwendung, die der Cartoon enthüllungstechnisch einfordert. Wenn man so will, gebärdet sich die grimmige alte Dame als eine von den »Feinden des Kreuzes« (inimici crucis Christi): »Sie ziehen die ›Werke‹ den Leiden und der paradoxen Herrlichkeit des Kreuzes vor.«112 Die alte Dame hält sich an die Äußerlichkeit der »langen Haare« und zieht diese Wahrnehmung, die hier mit »Werken« gemeint ist, der durch das Kreuz geprägten Wahrnehmung vor. Die Zerstörung auch dieses wie aller falschen Werke geschieht durch das Werk Christi,113 »weil durch das Kreuz die Werke zerstört werden und (der alte Adam) gekreuzigt wird, der durch die Werke vielmehr aufgebaut wird« (quia per crucem destruuntur opera, et crucifigitur Adam, qui per opera potius aedificatur).114 Die falschen, trügerischen Werke müssen nach Luther »durch Leiden und Übel erniedrigt und zerstört« (exinanitus et destructus est passionibus et malis)115 werden. Und genau so wird auch die Wahrnehmung dazu befreit, den »langhaarigen Penner« im Lichte des Kreuzes zu sehen: »Die Wirklichkeit sehen, wie sie ist, das hieße, die Welt vom Kreuz Christi sehen. […] Alles andere ist die subjektive Sicht des sich über Gott, sich selbst und die Sünde verhängnisvoll täuschenden, aus dieser Täuschung ein 110

Hollenstein, Der schülerorientierte Bibelunterricht am Beispiel der Theodizeefrage, 295. Hollenstein zitiert WA 1, 365,13f. (Disputatio Heidelbergae habita, 1518): »Die Liebe des Kreuzes, aus dem Kreuze geboren.« 111 Vgl. von Loewenich, Luthers Theologia crucis, 15. Fernerhin: Thaidigsmann, Identitätsverlangen und Widerspruch, 38f. 112 Hollenstein, Der schülerorientierte Bibelunterricht am Beispiel der Theodizeefrage, 295. 113 Vgl. K.-H. zur Mühlen, Art. Kreuz V. Reformationszeit, TRE 19, (762–765) 762: »Der Akzent verschiebt sich von dem in der Buße nachvollzogenen Kreuz Christi in nobis auf das Kreuz Christi extra nos, in dem Gott seine rettende Gerechtigkeit offenbart hat, die die Macht des in uns bleibenden peccatum radicale zudeckt und dessen Schuld nicht anrechnet.« 114 WA 1, 362,30f. (Disputatio Heidelbergae habita, 1518). Vgl. dazu Iwand, Theologia crucis, 387f. 115 WA 1, 362,32f. (Disputatio Heidelbergae habita, 1518).

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Weltbild eigener Art, vielleicht sogar einen Versöhnungsglauben eigener Art entwickelnden Menschen.«116 Das Kreuz bildet demzufolge nicht nur die ratio essendi, sondern zugleich auch ratio cognoscendi der Theologie.117

4. »Mit einem Heidenspaß…« – Theologisch anschlussfähige Religions- und Kirchenkritik aus Künstlerfeder Ob dies alles, was ich in meiner Interpretation vorgebracht habe, dem Cartoonisten selbst, sprich: meinem Freund Miguel, bewusst war, als er seinen Cartoon erstellte, muss nach dem »Tod des Autors«118 wohl keine zentrale Rolle spielen. Wichtig ist die Wirkung seiner Karikatur, die rezeptionsästhetisch in den Blick genommen wurde. Ob ihn diese Wirkung zu einem Christen macht, etwa zu einem »anonymen Christen« (Karl Rahner) oder zu einem Glied des »unbewußten Christentums« (Dietrich Bonhoeffer), sei dahingestellt. Miguels Selbstverständnis wird diese theologische Fremdzuschreibung gewiss nicht treffen und auch seine religiö­sen Selbstzuschreibungen vermutlich nicht abbilden. Er würde wohl dabei bleiben, dass sein Cartoon als sein Cartoon ebenso von einem Nichtchristen stammt wie das Spottkreuz vom Palatin. Und dennoch, so der unerwartete Befund, kommt in diesen Karikaturen nolens volens Kreuzestheologie zur Sprache. Das Spottkreuz vom Palatin ist zumindest ein »indirektes Zeugnis«119 von der Predigt des Gekreuzigten. Anders gesagt: In diesem Graffiti wird genau das zum Ausdruck gebracht, was der Apostel Paulus meint, wenn er an die Christen in Korinth schreibt: »Wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Lächerlichkeit« (1Kor 1,23).120 Auch »Der langhaarige Penner« von Miguel Fernandez bringt die jesuanische Botschaft zur Sprache: »Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das

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H.J. Iwand, Predigtmeditation zu 2Kor 5,19–21 (1957), in: ders., Predigtmediationen I, Göttingen 41977, 550. Vgl. auch U.H.J. Körtner, Glaube und Weltbild. Die Bedeutsamkeit des Kreuzes im Konflikt der Interpretationen von Wirklichkeit, in: Ch. Landmesser / A. Klein (Hg.), Kreuz und Weltbild. Interpretationen von Wirklichkeit im Horizont des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 2011, 15–34. 117 Vgl. Hollenstein, Der schülerorientierte Bibelunterricht am Beispiel der Theodizeefrage, 294. 118 R. Barthes, Der Tod des Autors, in: F. Jannidis u.a. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, 185–193. Zur Auseinandersetzung mit Barthes vgl. M. Foucault, Was ist ein Autor?, in: ders., Schriften. Dits et Ecrits, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2001, 1003– 1041. 119 Dinkler, Älteste Christliche Denkmäler, 153. 120 So auch Kittel, Der Name über alle Namen II, 20.

»Mit einem Heidenspaß…«

343

habt ihr mir getan« (Mt 25,40).121 Der Cartoonist verpackt diese Botschaft religions- und vor allem kirchenkritisch, wie wir sahen. Damit ist er nicht allein. Auch in Theologie und Kirche wird Religionskritik betrieben,122 aber nicht aus einer externen, sondern internen Perspektive. Die eigene Religion und die eigene Kirche werden hier als Entstellung des eigenen Gestaltwerdens von Religion und Kirche kritisiert und problematisiert. Religionskritik ist also nicht nur Sache der Anderen, sprich: eine Angelegenheit von Atheisten und Agnostikern, etwa geistesgeschichtlichen Größen wie Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Friedrich Nietzsche oder Siegmund Freud,123 die Religionskritik gleichsam mit einem »Heidenspaß« betreiben, sondern sie ist auch die eigene Sache von Christen, Juden, Muslimen etc. Gott und Religion, Gott und Kirche sind eben nicht einerlei, sondern zweierlei, ja, genauer noch betrachtet, dreierlei. Das Vermögen zur Religionskritik ist für die Religionen selbst unabdingbar. Dies hat etwas mit der Fähigkeit zur Selbstdistanzierung zu tun.124 Religionskritik umschreibt auch eine bleibend wichtige theologische Aufgabe.125 All das mag zunächst verblüffen. Wenn man die Bibel aufschlägt, ist man vermutlich nicht weniger überrascht und es könnte dabei gewiss auch etwas von unserer Verblüffungsresistenz weichen. Denn dort ist etwa von jüdischen Propheten wie Amos, Hosea, Jesaja und Jeremia die Rede, die uns demonstrieren, wie angewandte Religionskritik zu ihrer Zeit aussah.126 Die Worte des Amos mögen 121

Welker (Gottes Offenbarung, 225) spricht in diesem Zusammenhang vom »diakonischen Dienst der Kirche«. Vgl. R. Weth, Ecce homo – Vom neuen Sehen des Menschen in der Diakonie. Biblisch-theologische Impulse zum diakonischen Menschenbild, in: G. Thomas / A. Schüle (Hg.), Gegenwart des lebendigen Christus. FS Michael Welker zum 65. Geburtstag, Leipzig 2007, 363–390. 122 Zur theologischen Religionskritik vgl. M. Hofheinz / R. Meyer zu Hörste-Bührer (Hg.), Theologische Religionskritik. Provokationen für Theologie und Kirche, FRTH 1, Neukirchen-Vluyn 2014. In die Jahre gekommen, aber immer noch lesenswert: H.-J. Kraus, Theologische Religionskritik, NBST 2, Neukirchen-Vluyn 1982. 123 Vgl. einführend M. Weinrich (Hg.), Religionskritik in der Neuzeit. Philosophische, soziologische und psychologische Texte, Gütersloh 1985; H. Genest, Religionskritik und kritische Religion, in: R. Biewald (Hg.), Einblicke Religion. Ein Studienbuch, BThS 12, Göttingen 1996, 41–85; M. Weinrich, Religion und Religionskritik, UTB 3453, Göttingen 22012; I.U. Dalferth / H.-P. Grosshans (Hg.), Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe, Tübingen 2006. 124 Vgl. M. Weinrich, Glauben Juden, Christen und Muslime an denselben Gott? Systematisch-theologische Annäherungen an eine unzugängliche Frage, EvTh 67 (4/2007), 246– 263; ders., Christentum, Judentum und Islam – durch den Monotheismus verbunden?, in: S. Stiegler / U. Swarat (Hg.), Der Monotheismus als theologisches und politisches Problem, Leipzig 2006, 119–140. 125 Vgl. M. Hofheinz, Wider die Nostrifikation Gottes. Religionskritik als bleibend wichtige theologische Aufgabe, in: M. Hofheinz / Th. Paprotny (Hg.), Religionskritik interdisziplinär. Multiperspektivische Annäherung an eine bleibend wichtige Thematik, Leipzig 2015, 15–42. 126 Vgl. A. Grund, Verfehlter Gottesdienst, andere Götter, Kultbilder – Grundformen der Religionskritik im Alten Testament, in: M. Hofheinz / R. Meyer zu Hörste-Bührer (Hg.),

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»Der langhaarige Penner«

hier ein besonders drastisches Beispiel abgeben: »Ich hasse, ich verabscheue eure Feste, und eure Feiern kann ich nicht riechen! – Es sei denn, ihr brächtet mir Brandopfer dar! – Und eure Speiseopfer – sie gefallen mir nicht! Und das Heilsopfer von eurem Mastvieh – ich sehe nicht hin! Weg von mir mit dem Lärm deiner Lieder! Und das Spiel deiner Harfen – ich höre es mir nicht an! Möge das Recht heranrollen wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein Fluss, der nicht versiegt« (Am 5,21–24; Zürcher Bibel, 2007).127 Das kritische Potential der Bibel lässt sich in solch drastischen Worten entdecken: »[D]ie biblische Überlieferung [ist] in ihrer Grundrichtung kritisch-prophetisch: Sie will an das von Gott den Menschen zugedachte Leben in Freiheit und Gerechtigkeit erinnern und aufrufen. Das führt zu prophetischer Kritik, löst den Ruf zur Umkehr aus und provoziert die Frage nach gelingendem Leben.«128 Überraschend, selbst für Verblüffungsfeste,129 dürfte die biblische Auskunft sein, dass Gott auch durch Heiden wirkt. Vom zweiten Jesaja wird etwa der Perserkönig Kyros als ein Instrument Gottes verstanden (vgl. Jes 44f.).130 Ja, Gott vermag sogar durch ein störrisches Tier zu seinem eigenen Propheten zu sprechen, wie die Erzählung von Bileams Esel zeigt (Num 22–24).131 Karl Barth hat einmal gesagt: »Gott kann durch den russischen Kommunismus, durch ein Flötenkonzert, durch einen blühenden Strauch oder durch einen toten Hund zu uns reden.«132 Er fügt jedoch hinzu, dass solche anderen Redeweisen Gottes nicht Grundlage der christlichen Verkündigung sein können. Wenn dem aber so ist, dass Gott auch extra muros ecclesiae redet und Christus seine Zeugen auch aus diesem Bereich rekrutieren kann,133 warum sollte es dann Theologische Religionskritik. Provokationen für Theologie und Kirche, FRTH 1, Neukirchen-Vluyn 2014, 34–62. 127 Vgl. dazu: B. Janowski, »Womit soll ich dir entgegentreten?« (Mi 6,6). Gabetheologische Aspekte der alttestamentlichen Kultkritik, in: ders., Der nahe und der ferne Gott. Beiträge zur Theologie des Alten Testament 5, Neukirchen-Vluyn 2014, (173–203) 182ff.; J. Jeremias, Theologie des Alten Testaments, GAT 6, Göttingen 2015, 154; R. Kessler, Der Weg zum Leben. Ethik des Alten Testaments, Gütersloh 2017, 432. 128 Berg, Arbeiten mit Karikaturen, 267. 129 Vgl. J. Ebach, Fundamentalismus ist nicht »schriftgemäß«, Junge Kirche 2/2015, (1–3) 1. 130 R.G. Kratz, Kyros im Deuterojesaja-Buch. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Entstehung und Theologie von Jes 40–55, FAT 1, Tübingen 1991. 131 Vgl. R. Bartelmus, Von Eselinnen mit Durchblick und blinden Sehern. Numeri 22,20– 35 als Musterbeispiel narrativer Theologie im Alten Testament, ThZ 61 (2005), 27–43; A. Schüle, Israels Sohn – Jahwes Prophet. Ein Versuch zum Verhältnis von kanonischer Theologie und Religionsgeschichte anhand der Bileam-Perikope (Num 22–24), Altes Testament und Moderne 17, Münster u.a. 2001; B. Schöning, Drei Dinge sind es, die mir zu wunderbar sind, und vier, die ich nicht begreife. Bileams Segen über Israel (Num 22,41–24,25), BThS 132, Neukirchen-Vluyn 2013. 132 K. Barth, KD I/1, 55. 133 Vgl. dazu meine Überlegungen im Anschluss an Johannes Calvin und Karl Barth: M. Hofheinz, Das gewisse Extra! Oder: Christologie als »Türöffner«? Das Extra-Calvinisticum und die »Lichterlehre« Karl Barths als Zugänge zu einer Theologie der Religionen, in: M.

»Mit einem Heidenspaß…«

345

etwa überraschen, dass Künstler wie der anonyme Wandkritzler vom Palatin oder mein Freund Miguel etwas von der Kreuzestheologie des Apostels Paulus bzw. der Botschaft des Gekreuzigten verlauten lassen? Kann sich das »Wort vom Kreuz« nicht auch ihrer bedienen? Stellen sie uns Christen nicht vor dieselbe Frage, die Paulus einst an die Galater adressierte: »Habe ich euch nicht Christus als den Gekreuzigten vor Augen gemalt« (Gal 3,1)? Dass Gott jedenfalls auch selbsterklärt nichtchristliche Künstler mit ihren religions- und kirchenkritischen Karikaturen gebrauchen kann, ja den künstlerischen »Bileamsmund«134 tatsächlich gebraucht, um diese Frage in seiner Menschheit zu platzieren, daran habe ich persönlich keinen Zweifel. Insofern dürfen auch Christen dankbar für solche Karikaturen sein: für das Spottkreuz auf dem Palatin ebenso wie den »Langhaarigen Penner«. Mit einer seichten Vereinnahmungsstrategie hat dies wohl wenig zu tun; jedenfalls weniger als mit dem Mut, sich selbstkritisch diesen religions- und kirchenkritischen Anfragen auszusetzen.135 Ein solcher Mut weiß darum, wie Navid Kermani in seiner Dankesrede zur Verleihung des Hessischen Kulturpreises hervorhebt, dass Kunst und Literatur niemals »ein repräsentativer Ausdruck einer bestimmten Glaubensgemeinschaft, sondern notwendiges Zeugnis eines Einzelnen [sind], der sich im Glauben oder Unglauben, im Zweifel oder in der Erkenntnis mit religiösen Erfahrungen, Texten und Traditionen auseinandersetzt – selten zur Zufriedenheit derjenigen, die qua Ausbildung und Amt diese Religion vertreten.«136 Auch ein solches Differenzbewusstsein hat mit der »Unterscheidung der Geister« (1Joh 4,2) zu tun und gehört zum religions- wie kirchenkritischen Potential der Theologie.137 Sie darf bei der Wahrnehmung ihrer bleibend wichtigen religionsund kirchenkritischen Aufgabe auch von Heiden lernen – wider ihre eigene Verblüffungsresistenz.

Hofheinz / K.-O. Eberhardt unter Mitarbeit von J.-Ph. Tegtmeier (Hg.), Gegenwartsbezogene Christologie. Denkformen und Brennpunkte angesichts neuer Herausforderungen, Dogmatik in der Moderne 29, Tübingen 2020, 245–298. Zu Barths Verhältnis zum Atheismus vgl. K.J. Bender, Karl Barth and the Question of Atheism, in: ders., Confessing Christ for Church and World. Studies in Modern Theology, Downers Grove 2014, 271–284. 134 K. Barth, KD IV/3, 133. 135 Vgl. N. Kermani, Ansprachen aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Frankfurt a.M. 52016, 55: »Die Liebe zum Eigenen […] erweist sich in der Selbstkritik.« Vgl. dazu M. Hofheinz, Bezwingende Liebe. Navid Kermanis eirenopoietisches Narrativ der Begegnung von Islam und Christentum, in: R. Bernhardt / H. Schmid (Hg.), Konflikttransformation als Weg zum Frieden. Christliche und islamische Perspektiven, Beiträge zu einer Theologie der Religionen (BThR) 18, Zürich 2020, 63–84. 136 N. Kermani, Zum Dank für den Hessischen Kulturpreis, in: ders., Morgen ist da. Reden, München 2019, (76–82) 80. 137 Vgl. Ch. Morse, Not Every Spirit. A Dogmatics of Christian Disbelief, New York / London 22009, 32–44.

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»Der langhaarige Penner«

5. Appendix Beenden möchte ich diese Ausführungen mit dem persönlichen Lebensbericht von Ralf Frisch, der davon erzählt, wie er das Kreuz Jesu als »Platz für Glaubenszweifel und Atheismus« verstehen lernte: »Der christliche Glaube war in meinem Leben auch dann da, wenn nichts mehr für ihn zu sprechen schien und es nur noch ein kleiner Schritt in einen fundamentalen Atheismus hinein gewesen wäre. Aber interessanterweise führte mich dieser kleine Schritt dann immer unter das Kreuz Jesu von Nazareth. Inmitten des christlichen Glaubens fand ich einen Ort, an dem jeder denkbare Zweifel an Gottes Wirklichkeit und Wahrheit möglich war. Mir ging das Licht auf, dass im Herz der christlichen Religion die Kritik dieser Religion, Glaubenskrisen und selbst die Gottlosigkeit ihren legitimen Raum und ihre legitime Zeit haben. Am Karfreitag kann und darf der christlichen Religiosität der Atem stocken. Am Karfreitag können Gläubige ihren Glauben verlieren. Als ich dies zu begreifen begann, eröffnete sich mir ein ungeheurer intellektueller und spiritueller Freiraum. Ich musste das Christentum und die christliche Kirche nicht verlassen, wenn ich an ihnen oder unter ihnen litt und ihrer überdrüssig wurde. Welche andere Religion hätte mir diesen Freiraum eröffnet? Welcher Gott hätte meine Füße derart auf weiten Raum gestellt? Das Wort ›Kreuzestheologie‹ – oder ›Theologia crucis‹, wie Martin Luther es auf Lateinisch schrieb – gewann für mich einen neuen Sinn, durch den der Sinn auch dort in den christlichen Glauben zurückkehrte, wo mir seine Sinnlosigkeit und die Sinnlosigkeit der ganzen Unternehmung Kirche bedrückend deutlich wurden.«138

138

R. Frisch, Was fehlt der evangelischen Kirche? Reformatorische Denkanstöße, Leipzig 2017, 45f.

XII. Das Chalcedonense und die Kaninchenente Ludwig Wittgensteins Vexierbild als Artikulationshilfe für die Zweinaturenlehre1

Für Heinrich Assel zum 60. Geburtstag

1. Einleitung 1.1 Kritik und Metakritik am Chalcedonense Christologische Formeln haben oft keine gute Presse. Sie erscheinen als reduktio­ nistisch. Während die impliziten Christologien des Neuen Testaments die Weite etwa der (oftmals spannenden) Narrationen der Synoptiker atmen, haftet den expliziten Christologien das Odium der (vermeintlich langweiligen) Engführung und Verkürzung an. Weit mehr noch als christologische Formeln etwa aus der neutestamentlichen Briefliteratur, in denen Erzählung und Bekenntnis als »von vornherein aufeinander bezogen«2 gelten (vgl. etwa 1Kor 15,3–7; Phil 2,6–11; 1Ptr 3,18–22), werden altkirchliche Bekenntnisse wie das Chalcedonense3 gerne als eher abschreckende Musterbeispiele genannt. So urteilt etwa der geschätzte D. Ritschl: »Sie [die besagte Engführung und Verkürzung expliziter Christologien, M.H.] zeigte sich zum ersten Mal in der Alten Kirche, als die Vielzahl von impliziten Christologien des NT in den klassischen christologischen Formulierungen des 1

Für kritische Lektüre und zahlreiche Hinweise danke ich meinen Mitarbeitern Dr. KaiOle Eberhardt und Jan-Philip Tegtmeier, sowie Dominik von Allmen-Mäder (Zürich), Pfr. i.R. Dr. Helmut Hollenstein (Bad Berleburg) und Prof. em. Dr. Hans G. Ulrich (Erlangen). 2 U. Luz, Art. Christologie im Neuen Testament, EKL3 1 (1986), (714–718) 716. 3 Vgl. zum Konzil von Chalcedon A.M. Ritter, Dogma und Lehre in der Alten Kirche, HDThG 1 (21999), (99–283) 261–270; A. Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche. Das Konzil von Chalcedon – Rezeption und Widerspruch (451–518), Jesus der Christus im Glauben der Kirche Bd. II/1, Freiburg i.Br. 2004 (Sonderausgabe); W.C. Placher, A History of Christian Theology. An Introduction, Louisville 22013, 66–71. Als Kommentar zum Chalcedonense siehe jetzt: H. Assel, Elementare Christologie. Bd. 3: Inkarnation des Menschen und Menschwerdung Gottes, Gütersloh 2020, 108–118.

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Das Chalcedonense und die Kaninchenente

Konzils von Chalcedon (451) eine kaum mehr veränderbare, drastische Reduktion erfuhr.«4 Dogmengeschichtlich pflichtet dem E. Mühlenberg bei, wenn er bemerkt: »Die ›klassische Christologie‹ ist keine in sich geschlossene Einheit, sondern eine bewegte und mit Problemen belastete Geschichte. Dafür sind hauptsächlich vier Gründe verantwortlich: (1) Die Formel von Chalcedon ist so kontrovers, daß sie weder allg. akzeptiert (Altorientalische Nationalkirchen) noch ohne zusätzliche Korrekturen belassen wurde (Konzil von Konstantinopel 553 und 680/1). (2) Sie ist so abstrakt, daß weder die Christologie der damaligen Diskussionspartner in sie eingegangen sind (Alexan­driner, Orientalen/Antiochener, lat. Westen) noch spätere, anders akzentuierte Christologien von ihr ausgeschlossen wurden (byzantinische orthodoxe Christologie, mittelalterliche und römisch-katholische Christologie, lutherische Christologie, reformierte Christologie). (3) Die Formel und mit ihr die ganze der altkirchlichen Christologie sich anschließende Tradition wurden seit der Aufklärung angegriffen durch Fragen, die unterschiedlich beantwortet werden (z.B. Schleiermacher, D.F. Strauß), aber nicht zu einer allgemeinen und schlechthinnigen Ablehnung geführt haben (z.B. Vermittlungstheologie, E. Brunner, K. Barth). (4) Die christologischen Entwürfe aus der Zeit der Alten Kirche werden hinsichtlich ihres Sinnes heute kaum einvernehmlich dargestellt, und es ist deswegen umstritten, ob die vorchalcedonische Geschichte der Christologie als Vorbereitung des Dogmas beurteilt werden kann.«5

Kein Wunder also, dass sich auch in der Reformation theologische Kritik an den vermeintlichen Verkürzungen entzündete, für die pars pro toto nicht selten der Gebrauch des Naturbegriffs angeführt wird.6 So wendet Ph. Melanchthon bekanntlich gegen die solchem Formelgut anhängenden scholastischen Theologen ein: »Denn das heißt Christus erkennen: seine Wohltaten erkennen, nicht, was diese lehren: seine Naturen, die Art und Weisen der Menschwerdung betrachten.«7 Seit A. Ritschl wird dieser Passus zitiert, um nachzuweisen, dass die Reformation kein theologisches Interesse am christologischen Dogma, sondern nur an der soteriologischen Wirksamkeit Christi gehabt habe.8 Indes ist es gerade im Protestantismus im Blick auf die Beschreibungen der Person Christi zu Weiterbildungen gekom-

4

D. Ritschl, Art. Christologie, EKL3 1 (1986), (712–713) 713. So auch ders., Zur Logik der Theologie, 217; 221. 5 E. Mühlenberg, Art. Christologie 2. In der Dogmengeschichte, EKL3 1 (1986), (718– 727) 718f. 6 Zum antiken Gebrauch dieses Begriffs vgl. A. Bächli / A. Graeser, Grundbegriffe der antiken Philosophie. Ein Lexikon, Stuttgart 2000, 145–155. 7 Ph. Melanchthon, Loci communes 1521. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt von H.G. Pöhl­mann, hg. vom Lutherischen Kirchenamt der VELKD, Gütersloh 21997, 23. Vgl. dazu G. Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik. Nachdenken über Gottes Geschichte, UTB 2564, Göttingen 2004, 214. 8 So zutreffend F. Mildenberger / H. Assel, Grundwissen der Dogmatik. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart u.a. 41995, 176.

Einleitung

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men, man denke nur an den Streit um das genus idiomaticum zwischen Luther und Zwingli zur Abendmahllehre oder den zwischen Lutheranern und Reformierten in der sog. altprotestantischen Orthodoxie.9 Beide Kontroversen fokussierten auf die beiden Naturen Christi. Gleichwohl ist es wahr, dass die Zweinaturenlehre neuzeitlich (vor allem seit der Aufklärung) scharf kritisiert wurde. J. Rohls hat von einer »Entzauberung des christologischen Dogmas«10 gesprochen. Die Folgen sind keineswegs unbedenklich: »Das neuzeitliche Verständnis von Geschichte treibt« – so U. Luz – »die ›antiochenische‹ Trennung der beiden Naturen Christi auf die Spitze, indem sie die menschliche Natur Christi zu einem Teil der Geschichte und damit zu einem Problem der Geschichtsforschung, die göttliche dagegen zu einem Problem ihrer nur subjektiv zu erhebenden Bedeutung erklärt. Historisch-kritische Exegese setzt also – aus der Perspektive des Chalcedonense betrachtet – die Menschheit Jesu absolut und klammert seine Gottheit aus. Gott und Mensch wurden definitiv getrennt.«11 Schleiermacher versuchte auf seine Weise, dem Problem, dem sich Chalcedon stellte, nämlich die Präsenz Gottes in Jesus auszusagen, zu begegnen und setzte an die Stelle der Zweinaturenlehre die Bestimmung des Personseins Jesu Christi durch sein vollkommenes Gottesbewusstsein.12 Doch bisweilen erscheint auch ein solcher »Rettungsversuch« der Zweinaturenlehre als halbherzig. An die Stelle einer transformatorischen Kritik tritt dann eine eliminatorische Kritik.13 So hält Ch. Danz etwa die Zweinaturenlehre in und mit der Moderne für erledigt: »Der neuralgische Punkt der alten Christologie liegt in der Zweinaturenlehre. Sie ist weder in der Lage, die Einheit der Person Jesu Christi verständlich zu machen, noch lässt sich unter der Voraussetzung einer Einheit der beiden Naturen in dem Gottmenschen dessen Menschsein behaupten. Das Dilemma des Lehrbegriffs weist darauf hin, dass eine Theorie der Person des Gottmenschen einen verfehlten Ansatzpunkt für die christologische Reflexion bildet. Er muss durch eine andere Perspektive ersetzt werden.«14

Ist diese Forderung berechtigt? Oder nicht doch ein »Schnellschuss«? Der ausgesprochen schlechten steht konträr, ja geradezu bipolar eine ausgesprochen gute Presse gegenüber, die Chalcedon genießt. K. Beyschlag etwa be9

Zu den reformatorischen Inkarnationsdiskursen vgl. Assel, Elementare Christologie 3, 144–182. 10 Vgl. J. Rohls, Mensch versus Gott. Die Entzauberung des christologischen Dogmas, in: L. Mödl (Hg.), Das Wesen des Christentums, MThF 1, Göttingen 2003, 231–257. 11 U. Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, 510. 12 Vgl. F.D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. von M. Redeker, Berlin 71960, §§ 96f. 13 Auf diese Distinktion weist zu Recht Assel (Elementare Christologie 3, 35) hin. 14 Ch. Danz, Grundprobleme der Christologie, UTB 3911, Tübingen 2013, 193.

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Das Chalcedonense und die Kaninchenente

hauptet, dass das christologische Dogma, dessen Kern mit der Zweinaturenlehre vorliegt und das im Chalcedonense seine Zuspitzung erfuhr, alles in allem »die kunstvollste und sensibelste normative Struktur besitzt, welche die Alte Kirche überhaupt geschaffen hat«.15 Ähnlich würdigt G. Sauter das Chalcedonense als theologische Dialogregel und dessen Sätze als dialogdefinit,16 wobei er nicht die begriffliche Ebene im Blick hat, zumal die Begriffe »Natur« und »Hypostase« eher Verständnisprobleme aufwerfen: »Wegweisend wurde vielmehr die vierfache Abgrenzung ›unvermischt, unverwandelt, ungetrennt, ungeteilt‹. Sie verneint vier Möglichkeiten, die ›Einigung in der Unterscheidung und Unterscheidung in der Einigung‹ zu denken: durch Mischen, Verwandeln, Verknüpfen und Zusammensetzen. Wir können uns dies am ehesten mit einem Geviert veranschaulichen, durch das vier Denkmöglichkeiten (mehr sind nicht vorstellbar) ausgeschlossen werden«.17

Sprachlich gesehen, lokalisiert Sauter das Geheimnis der Einheit von Gottheit und Menschheit in der Person Jesu »gleich in dem Leerraum, in jenem Feld, das durch die vierfache Abgrenzung nach allen Seiten hin gebildet wird. Es ist als solches unausdenkbar, ein reines Wunder. Doch wir können von ihm reden, indem wir unbedingt alles vermeiden, was als eine Art Symbiose oder als ein Auseinanderreißen von Gott und Mensch verstanden werden könnte.«18 So kann dann auch D. Ritschl das Chalcedonense und dessen regulative Sätze würdigen: »Trotz der Fülle von berechtigten Kritiken, die man an der Christologie des Konzils von 451 in Chalcedon anbringen kann und muß, wäre die Forderung, diese Christologie einfach fallen zu lassen, sehr unklug. Sie besteht aus regulativen Sätzen, die sich in der Geschichte der Kirche immer wieder – wenigstens negativ – als Warnungen nütz-

15

K. Beyschlag, Grundriß der Dogmengeschichte Bd. II. Teil 1: Das christologische Dogma, Darmstadt 1991, 194. So auch J. Wirsching, Menschwerdung. Von der wahren Gestalt des Göttlichen, in: D. Wyrwa (Hg.), Die Weltlichkeit des Glaubens in der Alten Kirche. FS Ulrich Wickert zum 70. Geburtstag, BZNW 85, Berlin / New York 1997, (399–441) 425. 16 So auch im Anschluss an Sauter: Assel, Elementare Christologie 3, 34. Vgl. fernerhin: D. Wendebourg, Chalcedon in ökumenischer Perspektive, ZThK 92 (1995), 207–237. D. Ritschl (Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, KT 38, München 21988, 111) spricht von regulativen Sätzen, »ohne deren Verwendung das Verständnis des Glaubens der Gläubigen unnötig erschwert wäre«. 17 G. Sauter, Zugänge zur Dogmatik. Elemente theologischer Urteilsbildung, UTB 2064, Göttingen 1998, 88. So auch C. van der Kooi / G. van der Brink, Christian Dogmatics. An Introduction, translated by R. Bruinsma with J.D. Bratt, Grand Rapids 2017, 409: »It [sc. the Council of Chalcedon; M.H.] fenced in the mystery of God’s presence in Jesus by a number of exact coordinates, fixing the space within which we must stay but not trying to fully detail all that this space contained. To put it colloquially, it chalked out the pattern in which we play hopscotch.« 18 Sauter, Zugänge zur Dogmatik, 88. Dort kursiv. Ähnlich Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, 218.

Einleitung

351

lich erweisen haben. Fatal wäre es aber, sie als ausschließliche Kriterien für das, was es positiv zu sagen gilt, einzuschätzen.«19

Die Stärke des Chalcedonense besteht darin, die Paradoxie von Gott und Mensch in Christus gerade nicht aufzulösen – es bleibt beim Staunen. Das Staunen gilt dem Geheimnis der Person bzw. Inkarnation Jesu Christi.20 Es wird im Chalcedonense auch nicht gesagt, wie Mensch und Gott in Jesus Christus zusammen sind. Vielmehr werden hier durch Negativ-Formeln, genauer sagt: die vier adverbialen Alpha privativa der konziliaren Definition, bestimmte Grenzwerte angegeben, innerhalb derer nach einer angemessenen Lösung auf eine theologisch bedrängende Frage gesucht werden soll. Die Funktion von Dogmen wie der im Chalcedonense fixierten Rede von den beiden Naturen Christi besteht grundsätzlich darin zu prüfen, zu unterscheiden und zu orientieren.21 Bei Dogmen handelt es sich immer auch um »Diagnosegeräte«22, durch deren rechten Gebrauch uns angezeigt wird, in welchem Bereich sich gemäß dem Konsens der Kirche theologisch problematische Aussagen etwa über Christus bewegen.

1.2 Das Chalcedonense – eine Kurzerzählung? Trotz schlechter Presse lässt sich das Chalcedonense also offensichtlich auch würdigen. Es lohnt sich in jedem Fall einen genaueren Blick auf seinen Wortlaut zu werfen, der besagt: »In der Nachfolge der heiligen Väter also lehren wir alle übereinstimmend, unseren Herrn Jesus Christus als ein und denselben Sohn zu bekennen: derselbe ist vollkommen in der Gottheit und derselbe ist vollkommen in der Menschheit; derselbe ist wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch aus vernunftbegabter Seele und Leib; derselbe ist der Gottheit nach dem Vater wesensgleich, in allem uns gleich außer der Sünde (vgl. Hebr 4,15); derselbe wurde einerseits der Gottheit nach vor den Zeiten aus dem Vater gezeugt, andererseits der Menschheit nach in den letzten Tagen unseretwegen und um unseres Heils willen aus Maria, der Jungfrau und Gottesgebärerin, geboren; ein und derselbe ist Christus, der einziggeborene Sohn und Herr, der in zwei Naturen 19

Ritschl, Zur Logik der Theologie, 221. Regulativ bzw. im Sinne einer Regeltheorie will auch G.A. Lindbeck (Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter, eingeleitet von H.G. Ulrich / R. Hütter, übers. von M. Müller, ThB 90, Gütersloh 1994, 135–142) das Chalcedonense verstanden wissen. 20 So auch B. Felker Jones, Practicing Christian Doctrine. An Introduction to Thinking and Living Theologically, Grand Rapids 2014, 133. 21 Zu den Größen und Grenzen der klassischen Zweinaturenlehre vgl. auch M. Welker, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 22012, 242–257, der die Positionen von Karl Barth, Paul Tillich, Dietrich Bonhoeffer und Sarah Coakley referiert und kritisch kommentiert. 22 D. Ritschl / M. Hailer, Diesseits und jenseits der Worte. Grundkurs christliche Theologie, Neukirchen-Vluyn 2006, 139.

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Das Chalcedonense und die Kaninchenente […] unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt wird, wobei nirgends wegen der Einung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist, vielmehr die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen gewahrt bleibt und sich in einer Person und einer Hypostase vereinigt; der einziggeborene Sohn Gottes, das Wort, der Herr Jesus Christus, ist nicht in zwei Personen geteilt oder getrennt, sondern ist ein und derselbe, wie es früher die Propheten über ihn und Jesus Christus selbst es uns gelehrt und das Bekenntnis der Väter es uns überliefert hat.«23

Natürlich fällt der Rückgriff auf philosophische Sprache auf, etwa was den Gebrauch der Begriffe von den »zwei Naturen« oder der »einen Hypostase« betrifft.24 Daneben zeigt sich auch, dass wir wenig von der Sendung Jesu und seinem Menschsein erfahren, ja dass keine Hinweise auf die Verkündigung und machtvollen Taten Jesu gegeben werden.25 Eine Biographie Jesu ist offenkundig ganz und gar nicht im Blick.26 Das irdische Wirken Jesu zwischen Geburt und Passion, ja nicht einmal Tod und Auferstehung kommen zur Sprache. Alles wird thematisch der Menschwerdung Jesu untergeordnet. Zugleich aber zeigt sich bei genauerer Betrachtung der Rekurs auf die Bibel. So z.B., wenn das Chalcedonense salbungsterminologisch von »ein und demselben Christos«, also dem Gesalbten, spricht.27 Auch wird explizit auf Hebr 4,15 rekurriert: »Denn wir haben nicht einen Hohen Priester, der nicht mit uns zu leiden vermöchte in unserer Schwachheit, sondern einen, der in allem auf gleiche Weise versucht worden ist, aber ohne Sünde« (Zürcher Bibel, 2007). Der johanneische Logos-Begriff taucht ebenfalls auf. Und selbst die Evangelien (Mt 1,23; Lk 1,31) werden herangezogen, wenn »[d]as Chalcedonense […] den Bogen von der Geburt aus dem Vater vor der Zeit zu der aus Maria am Ende der Zeit aus[spannt].«28 Kann man nicht auch die Prädikation Christi, wie sie sich im Chalcedonense findet, also die Beschreibung seines Wesens, als eine Art Kurzerzählung verstehen? Die Prädikationen Christi identifizieren, wer er ist, indem sie beschreiben, was er ist: »der einziggeborene Sohn und Herr, der in zwei Naturen […] unver23

H. Denzinger / P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Freiburg i.Br. u.a. 402005, 142f. (Nr. 301f.). 24 Vgl. zum Begriffsgebrauch von physis und hypostasis G. Bausenhart, Christologie in der Zeit nach Chalcedon. Impulse für die Gegenwart?, in: M. Hofheinz / K.-O. Eberhardt unter Mitarbeit von J.-Ph. Tegtmeier (Hg.), Gegenwartsbezogene Christologie. Denkformen und Brennpunkte angesichts neuer Herausforderungen, Dogmatik in der Moderne 29, Tübingen 2020, (183–208) 191–200. 25 Vgl. M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Göttingen 1998, 175. 26 Ritschl (Zur Logik der Theologie, 217f. Dort kursiv) beobachtet, dass »alle Bezüge auf den Grund für das Kommen von Jesus, auf seine Verbindung mit den Menschen (Juden und Heiden), auf den Christus praesens sowie die Zukunft Gottes mit den Menschen, d.h. auf die christliche (und jüdische Hoffnung)« fehlen. Dadurch sei im Vergleich zu den Urgemeinden in der klassischen Christologie »ein ungeheurer Sprachverlust« eingetreten. A.a.O., 218. Dort kursiv. 27 Vgl. Karrer, Jesus Christus, 157. 28 A.a.O., 325.

Einleitung

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mischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt wird etc.« So erzählt das Chalcedonense, was und wer Jesus Christus ist. Gilt also nicht für dasselbe mit E. Jüngel gesprochen: »Die Einheit von Identifikation und Beschreibung geschichtlichen Seins ist das Wesen der Erzählung«?29 Das Chalcedonense müsste dann nicht einfach nur als Reduktionismus impliziter neutestamentlicher Christologie betrachtet werden. Es könnte und dürfte dann gerade auch als Interpretationsschlüssel biblischer Narrationen in ihrer Vielfalt und Zweideutigkeit wahrgenommen werden, also als Lektürehilfe für die Evangelien. Eine solche Lesart muss indes nicht verschweigen, dass das Chalcedonense Schwächen aufweist.30 Sie intendiert keineswegs, das Chalcedonense apologetisch von jedem Vorwurf zu reinigen, etwa vom doppelten Vorwurf D. Ritschls, nämlich »die Reduktion des breiten Fächers neutestamentlicher Einladungen zu regulativen Sätzen über Jesus Christus auf die einzige Frage nach der gleichzeitigen Präsenz von Gott und Mensch in Jesus sowie die Abstraktion dieser Frage von dem Kontext, aus dem heraus sie allein angegangen werden kann, nämlich der gesamten Geschichte Gottes mit Israel, der Story, mit Jesus selbst sowie mit den Gläubigen«,31 zu betreiben. Dieser Lesart geht es vielmehr darum, das Chalcedonense im Zusammenhang der biblischen Botschaft zu betrachten. Eine solche hermeneutische Strategie liegt m.E. durchaus nahe: Denn »[w]as im Dogma begrifflich geklärt wird, muss immer wieder neu aus der biblischen Vielfalt heraus erklärt werden.«32 Dieser Versuch soll im Folgenden zumindest partiell unternommen werden. Ich gehe dabei mit H. Assel davon aus: »Die Intertextualität des Evangelien-Kanons stimuliert das imaginäre Bild Jesu Christi, das im Diskurs thematisiert wird. Das Dogma reguliert nicht doktrinale Textkonkordanz (z.B. zwischen Mk 14 und Joh 12), sondern formuliert grammatische Regeln des Diskurses für Lektüre-Weisen und Interpretations-Praktiken christlich gebrauchter kanonischer Texte der Bibel Alten und Neuen Testaments als wirksames Wort und Evangelium.«33 Diese Lesart geht davon aus, dass bereits der dementsprechende Versuch, biblische Narrationen zu summieren, zu würdigen ist. Wohlgemerkt nicht der Versuch, biblische Narrationen in einer Formel zu verschließen, sondern der Versuch, solche Formeln (wie das Chalcedonense) als Erzählhilfe für biblische Narrationen zu etablieren und zu gebrauchen. Bei dieser Lesart hilft, wie ich im Folgenden im Anschluss an Ludwig Wittgenstein darlegen möchte, ein Vexierbild als Inter29

E. Jüngel, Thesen zum Verhältnis von Existenz, Wesen und Eigenschaft Gottes, in: ders., Ganz werden. Theologische Erörterungen V, Tübingen 2003, (253–273) 263. 30 Vgl. zu den Problemen und Themen, die das Chalcedonence ausgeklammt hat (»Überhangprobleme«), im Anschluss an S. Coakley Assel, Elementare Christologie 3, 110. 31 Ritschl, Zur Logik der Theologie, 217. Dort kursiv. 32 R.K. Wüstenberg, Christologie. Wie man heute theologisch von Jesus sprechen kann, Gütersloh 2009, 66. Vgl. auch Wirsching, Menschwerdung, 440: Das Dogma »bleibt von der ›narrativen‹ Sprachlichkeit des Bibelkanons geformt, die Begriffe selber gelten nur in ihrer biblischen Umstrittenheit. Der offene, unabgeschlossene Bibelkanon stellt den vom christologischen Dogma umkreisten ›Freiraum‹ Jesu Christi dar.« Dort z.T. kursiv. 33 Assel, Elementare Christologie 3, 117.

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Das Chalcedonense und die Kaninchenente

pretament des Chalcedonense weiter. Meine näher zu entfaltende These besagt schlicht, dass Vexierbilder auch als eine Verstehenshilfe für das Chalcedonense dienen können. Sie eignen sich im Rückgriff auf biblische Texte als Mittel zu dessen Veranschaulichung.34

2. Die Kaninchenente: Wittgensteins Vexierbild Der bereits zitierte D. Ritschl hat darauf hingewiesen, dass wir entgegen der recht pauschalen antimetaphysischen Kritik seines Großvaters A. Ritschl (1822–1889) heute jedoch »andere (sprach-)philosophische Instrumente [haben] und hinter den Systemen, die aus den damaligen Begriffen von ,Natur‹, ›Person‹, ›Wesen‹, ›Hypostase‹ und den notwendig aus ihnen folgenden Verästelungen in den Lehren von An- und Enhypostasie und vom Austausch der Eigenschaften der beiden ›Naturen‹ konstruiert wurden, bei umfassender analytischer Interpretation oftmals bleibende und zentrale christologische Einsichten erkennen.«35 Zu den Instrumenten der analytischen Philosophie gehört zweifellos die Sprachphilosophie des späten L. Wittgenstein (1889–1951), die sich nicht auf die Ideal-, sondern die Normal- bzw. Alltagssprache bezieht. J.Wm. McClendon, Jr. hat zutreffend darauf hingewiesen, dass Wittgensteins »new way of thinking« meint: »not only thinking in (and about) words, but also in (and about) pictures«.36 Auch bild- und nicht nur sprachbezogen besteht ihr Vorzug in ihrem Instrumentalcharakter, d.h. darin, dass sie fern der Selbstzweckhaftigkeit einem Fremdzweck zu dienen vermag, etwa der Klärung eines Standpunktes, der nicht ihr eigener ist.37 Wittgenstein hat ihre Funktion anhand des Bildes von der Leiter illustriert: »Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er 34

Hinsichtlich biblischer Texte hat dies etwa J. Ebach (Mehrdeutigkeit. Theologische Reden 9, Uelzen 2011) gezeigt. Vgl. vor allem a.a.O., 9–13. 35 Ritschl, Christologie, 738. Vgl. dazu näher erläuternd a.a.O., 217: »Daß die Alte Kirche dabei [bei der Absicht, regulative Sätze zur Artikulation des Verständnisses von Jesus in der erweiterten Sprachform aufzustellen; M.H.] griechische Begriffe und Theorien verwendet, ist ihr nicht vorzuwerfen. Keine Theologie kann die Wissenschaftstheorien ihrer Zeit umgehen.« 36 J.Wm. McClendon, Jr., Doctrine: Systematic Theology Vol. 2, Nashville 1994, 76. Vgl. auch W.C. Placher, Unapologetic Theology. A Christian Voice in a Pluralistic Conversation, Louisville 1989, 124, der religionstheologischen Gebrauch der Kaninchenente macht. Zur theologischen Wittgenstein-Rezeption siehe K. von Stosch, »Wittgensteinrenaissance« in der Theologie? Ein Literaturbericht zur Lage im Jahre 50 nach Wittgensteins Tod, in: ThRv 97 (2001), 465–482. 37 Vgl. K. von Stosch, Der Philosoph als Fremdenführer. Anmerkungen zur Selbstbezüglichkeit von Wittgensteins Philosophieren, in: R. Haller/ K. Puhl (Hg.), Wittgenstein and the Future of Philosophy. A Reassessment after 50 Years. Vol. 2, Contributions of the Austrian Ludwig Wittgenstein Society IX/2, Kirchberg 2001, 357–363.

Die Kaninchenente: Wittgensteins Vexierbild

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muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)«38 In seinem Spätwerk, dem im Folgenden meine Aufmerksamkeit gelten soll, kann Wittgenstein auch sagen, dass es darum gehe, »[d]er Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas [zu] zeigen«.39 So strebt Wittgenstein mit all seinen Beispielen nicht »irgend eine Vollständigkeit an. […] Sie sollen nur den Leser in den Stand setzen, sich in begrifflichen Unklarheiten zu helfen.«40 Das gilt nun auch, wie ich im Folgenden zeigen möchte, für Wittgensteins bekanntes Vexierbild von der Kaninchenente, aus dem zweiten Teil seiner »Philosophischen Untersuchungen«. Gemeint ist der »H-E-Kopf« von dem gilt: »Man kann ihn als Hasenkopf, oder als Entenkopf sehen.«41

Abbildung 742: Kaninchenente Genauer erläutert Wittgenstein: »Denk dir den H-E-Kopf in einem Gewirr von Strichen versteckt. Einmal nun bemerke ich ihn in dem Bild, und zwar einfach als Hasenkopf. Später einmal schaue ich das gleiche Bild an und bemerke die gleiche Linie, aber als Ente, und dabei brauche ich noch nicht zu wissen, daß es beidemale

38

L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: ders., Werkausgabe Bd. 1, stw 501, Frankfurt a.M. 101995, (7–85) 85 (These 6.54). 39 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (im Folgenden: PU), in: ders., Werkausgabe Bd. 1, stw 501, Frankfurt a.M. 101995, (225–580) 378 (§ 309). 40 Wittgenstein, PU, 539. 41 A.a.O., 519. 42 Diese Zeichnung hat Sabrina Eberhardt erstellt, der ich herzlich danke.

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Das Chalcedonense und die Kaninchenente

die gleiche Linie war.«43 Eine gezeichnete Linie kann abwechselnd aussehen wie der Kopf eines Hasen und wie der Kopf einer Ente. Die Löffel des Hasen werden im Moment des Wechsels zum Schnabel der Ente. Das Bild kippt. Vexierbilder sind »Kipp-Bilder«. Wittgenstein gebraucht dieses Vexierbild, um zu veranschaulichen, wie Wahrnehmung funktioniert. Unser Sehen vollzieht sich im Modus des »Sehens als«44, so hält Wittgenstein fest. Anders gesagt: Das Sehen geschieht aspektivisch: »Das Erstaunliche an der Kaninchenente liegt darin, daß hier eine und dieselbe Zeichnung zwei ganz verschiedene Physiognomien trifft. Die Linien bleiben, aber bei der Betrachtung der Ente kann plötzlich der Aspekt aufleuchten, daß ich gerade die Löffel eines Kaninchens sehe. Eindeutig wird die Zeichnung erst durch den Kontext. Auch dieser Kontext muß nur angedeutet werden, etwa durch einen Teich oder einen Rübenacker. Eindeutig wird meine Wahrnehmung erst, wenn die Ähnlichkeit mit anderen Enten oder anderen Kaninchen aufleuchtet. […] Eindeutig sind nie die Musterbeispiele, sondern immer erst die Aspekte und Ähnlichkeiten, die darin aufleuchten.«45

Die Wirklichkeit ist doppeldeutig, je nach Aspekt, der aufleuchtet, und je nach Perspektive, aus der heraus wahrgenommen wird: »Der Kopf, so gesehen, hat mit dem Kopf, so gesehen, auch nicht die leiseste Ähnlichkeit – obwohl sie kongruent sind.«46 Beide Aussagen bzw. »Mitteilungen« sind wahr: »Ich sehe einem Hasen« – »Ich sehe eine Ente«. Entsprechend gilt: »Es ist wahr, daß ein Dichter anders über den Wald spricht als ein Förster. Aber damit ist nicht entschieden, daß nur der Förster Wahres über den Wald sagt. Nicht nur der Dichter sieht den Wald in einer bestimmten Perspektive, der Förster tut das auch.«47 Beide nehmen eine unterschiedliche Perspektive ein bzw. bewohnen sie. Perspektive meint die Sichtweise, wie wir die Welt wahrnehmen.48 Diese ist nicht einfach eindeutig, wie Wittgensteins Kaninchenente zeigt:

43

Wittgenstein, PU, 527. So auch McClendon, Doctrine, 76: »This and other phenomena led Wittgenstein to clarify what it could mean to say we see something ,as‹ a duck or ,as‹ a rabbit. […] ,Seeing-as‹ (seeing a line drawing as a rabbit, for example) is not identical with ordinary seeing (for example, seeing a drawing on an artist’s pad), but it has some features in common with the other as well. In certain circumstances, every seeing is a ,seeing-as‹.« 45 D. Allen / E. Maurer, Philosophie für das Theologiestudium, ThB 91, Gütersloh 1995, 255f. 46 Wittgenstein, PU, 522. 47 Ritschl, Zur Logik der Theologie, 57. 48 Ritschl (Zur Logik der Theologie, 55) schlussfolgert im Anschluss an Wittgenstein: »Alle Erkenntnis, und somit jedes Urteil, ist von der Perspektive abhängig, in der wir die Dinge sehen. Eine perspektivlose Sicht gibt es nicht, ebensowenig wie eine Perspektive, aus der wir unsere Perspektive sehen oder objektiv beurteilen können. […] Daß die Gläubigen die Welt von ihrer Perspektive oder ihrem Perspektiven-Bündel her ständig erklären, steht aber außer Zweifel.« 44

Was lehrt Wittgensteins Kaninchenente christologisch?

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»Die Kaninchenente zeigt auf radikale Weise, inwiefern noch diese Aspektwahrnehmung, dieses Aufleuchten einer Physiognomie vieldeutig bleiben kann: Der Kopf trifft ja bereits die wesentlichen Züge eines Enten- oder eines Kaninchenkopfes. Die Zeichnung enthält keinen überflüssigen Strich – weder für die Ente noch für das Kaninchen. Daher gibt es keinen Zug, der für das Kaninchen, aber nicht für die Ente entscheidend wäre und umgekehrt. Diese Kongruenz beider Physiognomien führt dazu, daß die beiden Aspekte niemals durch Subtraktion zu unterscheiden sind. Was ich da sehe, hängt davon ab, wie ich die Welt gerade sehe – antidazentrisch oder in cunicularer Perspektive. Das ist die Kehrseite der Einsicht, daß es keine letzte eindeutige Zerlegung und Beschreibung der Wirklichkeit gibt. Was ›wirklich‹ ist, zeigt sich, wenn ein Aspekt aufleuchtet, wenn ich eine Physiognomie entdecke wie ein Gesicht im Vexierbild […]. Aber noch die einfachste Skizze kann so oder so gesehen werden.«49

3. Was lehrt Wittgensteins Kaninchenente christologisch? Vexierbildliche Anschauung der Zweinaturenlehre Inwiefern kann nun Wittgensteins »Kaninchenente« hilfreich im Blick auf das Chalcedonense, konkret: die Interpretation der Zweinaturenlehre, sein? Dazu möchte ich auf einen Gesichtspunkt hinweisen, der gerne bei der Interpretation von Wittgensteins Vexierbild übersehen wird und zwar den der Temporalität. Es sticht ins Auge, dass Wittgenstein gehäuft auf Zeitangaben in seiner Interpretation zurückgreift. So unterscheidet er etwa »zwischen dem ›stetigen Sehen‹ eines Aspektes und dem ›Aufleuchten‹ eines Aspekts«.50 Das Wahrnehmen als »Sehen als« ist an eine bestimmte Zeit gebunden. Er kann sich temporal erstrecken und einen langen Zeitabschnitt (chronos) benötigen oder auch nur im Sinne eines Kairos einen kurzen, günstigen oder besser: erfüllten bzw. dichten Zeitpunkt beanspruchen.51 Insbesondere das prononcierte »Jetzt« fällt in Wittgensteins Erläuterung der Kaninchenente auf: »Man zeigt mir einen Bildhasen und fragt mich, was das sei; ich sage: ›Das ist ein H‹. Nicht: ›Das ist jetzt ein H‹. Ich teile die Wahrnehmung mit. – Man zeigt mir den H-EKopf und fragt mich, was das sei; da kann ich sagen: ›Das ist ein H-E-Kopf‹. Aber ich kann auch ganz anders auf die Frage reagieren. – Die Antwort, es sei der H-E-Kopf, ist wieder die Mitteilung der Wahrnehmung; die Antwort, ›Jetzt‹ ist es ein H‹ ist es nicht.

49

Allen / Maurer, Philosophie für das Theologiestudium, 256. Wittgenstein, PU, 520. Kursivierung: M.H. 51 Vgl. W. Schoberth, Leere Zeit – Erfüllte Zeit. Zum Zeitbezug im Reden von Gott, in: J. Roloff / H.G. Ulrich (Hg.), Einfach von Gott reden. Ein theologischer Diskurs. FS für Friedrich Mildenberger zum 65. Geburtstag, Stuttgart u.a. 1994, 124–141. 50

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Das Chalcedonense und die Kaninchenente Hätte ich gesagt ›Es ist ein Hase‹, so wäre mir die Doppeldeutigkeit entgangen, und ich hätte die Wahrnehmung berichtet.«52

Die Wahrnehmung der Doppeldeutigkeit ist zeitgebunden. Das »Jetzt« signalisiert dies. Es steht für die »Meldung einer neuen Wahrnehmung«53: »Hörte ich Einen über das H-E-Bild reden, und jetzt, in gewisser Weise, über den besonderen Ausdruck dieses Hasengesichts, so würde ich sagen, er sehe das Bild jetzt als Hasen.«54 Sprachpragmatisch handelt es sich beim »Jetzt« um einen deiktischen bzw. indexalischen Ausdruck, der auf einen spezifischen Moment in der Gegenwart verweist. Er erinnert an 2Kor 6,2: »Jetzt ist sie da, die ersehnte Zeit, jetzt ist er da, der Tag der Rettung« (Zürcher Bibel, 2007).55 Dieser Zeitpunkt lässt sich recht präzise bestimmen als »Kipp-Moment«. Die Perspektiven kippen in diesem Augenblick ineinander um und dies wiederum resultiert in einer Reaktion: Es ist »der Wechsel[, der] ein Staunen hervor[ruft]«.56 Das Staunen geschieht »später«57. Es ist reaktiv. Doch was hat das alles mit dem Chalcedonense und der Zweinaturenlehre zu tun? Dazu müssen wir noch einmal auf die Problematik der Zweinaturenlehre zu sprechen kommen. Viele Facetten der Kritik wurden bereits benannt, der Naturbegriff selbst wurde indes nur gestreift. Auf seine Problembehaftung hat etwa Ch. Link aufmerksam gemacht. Er sieht das »innerste[] Problem der Zweinaturenlehre« darin, dass sie im Vergleich zu den impliziten neutestamentlichen Christologien »das unaufgebbare zeitliche Moment der Christologie nicht adäquat ausdrücken«58 kann. »Ihre Schwäche ist seit Ignatius (Eph 20,3) die Gefahr in eine Ontologie umzuschmelzen, was theologisch nur als Vollzug einer Bewegung denkbar ist.«59 In Gestalt der Zweinaturenlehre erweist sich demnach die Christologie als zur Ontologie60 erstarrt. Was aber würde das bedeuten? Zum einen sicherlich, dass der Gattungsbegriff »Natur« oberhalb der konkreten Existenz Jesu Christi zu stehen 52

Wittgenstein, PU, 522. Ebd. Vgl. ex negativo: »›Ich sehe es jetzt als ein…‹ geht zusammen mit ›Ich versuche, es als ein ... zu sehen‹, oder ›Ich kann es noch nicht als ein … sehen‹.« A.a.O., 539. 54 Wittgenstein, PU, 540. 55 Vgl. auch P. Bukowski, Heute. Predigt über ein biblisches Wort, in: S. Bukowski / P. Bukowski, Ein Buch voller Leben. Entdeckungen in der Bibel zu ungepredigten Texten, Neukirchen-Vluyn 52003, 11–18. 56 Wittgenstein, PU, 528. 57 A.a.O., 527. 58 Ch. Link, Das sogenannte Extra-Calvinisticum. Die Entscheidung der Christologie Calvins und ihre theologische Bedeutung, in: ders., Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen-Vluyn 2009, (145–170) 163f. (ursprünglich erschienen in: EvTh 47 [2/1987], 97–119). 59 A.a.O., 164. Vgl. auch Sauter (Zugänge zur Dogmatik, 88), der die Begriffe »Natur« und »Hypostase« des Chalcedonense »unter dem Verdacht« sieht, »nur ein statisches Verhältnis auszudrücken.« 60 Gemeint ist natürlich eine Substanzontologie. Vgl. hingegen jetzt: A. Hutter, Narrative Ontologie, Tübingen 2017. 53

Was lehrt Wittgensteins Kaninchenente christologisch?

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käme, und zum anderen, dass das Sein Jesu Christi losgelöst von der Geschichte Jesu Christi gesehen würde. Die Narrationen der Evangelien würden so christologisch bedeutungslos. Sie jedoch sind es gerade, die die Lesenden gewinnen. Der narrative Aspekt einer Christologie steht für deren Lesendenorientierung. Ch. Link hat hier zweifellos etwas Treffendes gesehen. Ich möchte an seine Kritik anknüpfen und versuchen, die Bewegung etwas genauer zu betrachten, ja sozusagen unter die Lupe der Wittgenstein’schen Betrachtung zu nehmen. Die Bewegung, von der Ch. Link spricht, ist, so meine These, als eine Kipp-Bewegung zu verstehen. Die Perspektiven kippen ineinander um. Genau diesen Vorgang nimmt Wittgenstein mit dem Vexierbild der Kaninchenente in den Blick. Er macht dabei deutlich, dass dieser Kippmoment zeitlich-dynamisch ist und die Wahrnehmung, die sich perspektivisch bzw. aspektiv als »Sehen als« vollzieht, in ein »vorher« und ein »nachher« differenziert. Genau dies aber markiert nicht nur, sondern »löst«, so meine These, das Problem der Ontologie, von dem Ch. Link zu Recht spricht. Die ontologische Starre des Zugleichs löst sich im Blickwinkel des Betrachtenden, in der Perspektive der Wahrnehmung auf. So hilft das aspektivische »Sehen-Als«, Jesus Christus geschichtlich wahrzunehmen. Doch halten wir zunächst noch einmal fest: Die Ontologie konstatiert ein invariantes Zugleich von zwei Naturen und schreibt es fest. Es kennt nur die Dauer eines Augenblicks, der gleichsam zur Ewigkeit wird. Dieser Augenblick ist der der Inkarnation Christi. Die geschichtliche Dynamik aber wird, so der Vorwurf u.a. Ch. Links, regelrecht umgangen oder schärfer formuliert: das Geschehen wird entdynamisiert und damit eliminiert. Präzise darin besteht das Problem.61 Wittgenstein indes kann hier dem theologischen Denken auf die Sprünge helfen, wenn er bemerkt: »Man kann natürlich sagen: Es gibt gewisse Dinge, die sowohl unter den Begriff ›Bildhase‹, als auch ›Bildente‹ fallen. Und so ein Ding ist ein Bild, eine Zeichnung. – Aber der Eindruck ist nicht zugleich der von einer Bild­ ente und von einem Bildhasen.«62 Dieses »Aber« Wittgensteins hilft der Theologie hinsichtlich ihrer problematischen Rede von den zwei Naturen Christi weiter und zwar gleich in zweifacher Hinsicht. Es macht nämlich zweierlei deutlich:

61

Diesbezüglich hat Bausenhart (Christologie in der Zeit nach Chalcedon, 191) auf den Lehrbrief des Papstes Leo I. an Bischof Flavian von Konstantinopel vom 13.6.449 (Tomus Leonis) verwiesen, der vom Konzil (zusammen mit Cyrills Brief an Nestorius vom Januar/Februar 430; vgl. KTGQ I, 217f.) explizit als rechtgläubig bestätigt wurde, und darauf, dass das berühmte Agit enim utraque forma cum alterius communione quod proprium est (»Jede der beiden Gestalten wirkt in Gemeinschaft mit der anderen, was ihr eigen ist«) (DH 135–138, Nr. 290–295, 294; ebenfalls in: KTGQ I, 220f.) über das agere die »statische und abstrakte Rede von den ›Eigentümlichkeiten‹ [hätte] dynamisieren können«, aber leider nicht in die Definition aufgenommen wurde. Pointiert bemerkt R.W. Jenson (Jesus in the Trinity, Pro Ecclesia 8 [3/1999], 308–318, 314) zu diesem Brief: »If this is not Nestorianism, it is something rather worse. The Son does the saving, the man Jesus does the suffering. The Son does the self-affirming, Jesus does the victim part.« 62 Wittgenstein, PU, 528.

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Das Chalcedonense und die Kaninchenente

a) Zum einen, dass der Kipppunkt als Augenblick zeitlich ist. Es geht um das Nacheinander und nicht das Zugleich (simul) von zwei Aspekten bzw. Perspektiven, wie es eine starre Zweinaturenlehre festschreiben möchte. b) Zum anderen, dass es nur, wie Wittgenstein kursiviert, um den »Eindruck«, also die menschliche Seite der Wahrnehmung von etwas, hier: Christi Erscheinung, geht. 63 Nicht das Sein Christi als solches »kippt«, sondern die menschliche Wahrnehmung dessen. Genau davon aber handeln die Evangelien. Es geht dort, wie zu zeigen sein wird, um den »Eindruck«, den Jesus hinterlässt und zwar auf die Lesenden. D.h. nicht, dass sich dort alles in den Subjektivismus von Erscheinungen oder Konstruktion auflöst. S. Coakley etwa hat darauf hingewiesen, dass wir ohne einen gewissen Realismus nicht auskommen, der ein »ontological commitment«64 einschließt. M. Welker pflichtet dem bei: »Von einem modernen Zeitgeist gelenkte Polemiken gegen ›Verdinglichung‹ verfehlten die Erkenntnis, dass auch linguistisch-regulative Orientierungshilfen nicht ohne ontologische Bindung auskommen«.65 Es darf übrigens auch im Blick auf Wittgenstein nicht übersehen werden, dass es bei der Kaninchenente immer ein- und dieselbe Linie ist, die beide Sichtweisen zugleich verkörpert. Hier wird eine ontologische Bindung sichtbar. Auch spricht Wittgenstein im Übrigen vom »Sehen als« nicht als reiner Form der Wahrnehmung: »Das ›Sehen-als …‹ gehört nicht zur Wahrnehmung. Und darum ist es wie ein Sehen und wieder nicht ein Sehen.«66 Wittgenstein präzisiert dahingehend, dass er das Aufleuchten des Aspektes als »halb Seherlebnis, halb ein Denken«67 identifiziert: »Wer den Gegenstand anschaut, muß nicht an ihn denken; wer aber das Seherlebnis hat, dessen Ausdruck der Ausruf ist, der denkt auch an das, was er sieht.«68

63

Dies ist selbstverständlich weder doketisch noch adoptianisch misszuverstehen. Die doketische Vorstellung, dass Gott nur als Mensch erscheint, wäre ebenso wie die adoptianische, dass ein Mensch nur als Gott erscheint, keine oder zumindest eine verkürzte Kippwahrnehmung. Dass etwa das Markusevangelium weder in die eine noch andere Richtung zu verstehen ist, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht: M. Hofheinz, Dem Geheimnis der Sohnschaft auf der Spur, oder: Wer ist Jesus? Annäherungen an eine Christologiedidaktik anhand biblischer Texte zum Sohn-Gottes-Prädikat im Markusevangelium, Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 14 (1/2015), 39–68. 64 S. Coakley, What Does Chalcedon Solve and What Does It Not? Some Reflections on the Status and Meaning of the Chalcedonian »Definition«, in: S.T. Davis u.a. (Hg.), The Incarnation: An Interdisciplinary Symposium on the Incarnation of the Son of God, Oxford 2002, (143–163) 152. 65 Welker, Gottes Offenbarung, 255. 66 Wittgenstein, PU, 524. 67 A.a.O., 525. 68 A.a.O., 524f.

Hermeneutische Zwischenreflexion

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4. Hermeneutische Zwischenreflexion zur Problematik der Zweinaturenlehre des Chalcedonense Wenn nun im Folgenden biblisch-theologisch auf diesen »Eindruck« fokussiert wird, so muss vorab ein zweifaches geleistet werden: Zum einen soll zunächst noch einmal kurz und präzisierend die eigentliche Problemstellung vergegenwärtigt werden und zum anderen wird im Sinne einer hermeneutischen Zwischenreflexion zu klären sein, was nun im Folgenden eigentlich intendiert ist, wenn mit diesem spezifischen problemorientierten, erkenntnisleitenden Interesse der Eindruck, den Jesus hinterlässt, inspiziert wird. Die erste Aufgabe ist dabei recht schnell abgearbeitet: Den Ausgangspunkt bildet die problemorientierte Betrachtung der Zweinaturenlehre. Dementsprechend gilt es, die spezifische Funktion der Zweinaturenlehre im Auge zu behalten. Die Zweinaturenlehre hat nämlich – wie Ch. Link bemerkt – eine spezifische Funktion, nämlich »den Erweis der Göttlichkeit Jesu zu erbringen«.69 Offensichtlich ist diese umstritten. Das Chalcedonense möchte sie regulativ bzw. normativ sichern und dieses Missverständnis durch eine entsprechende Leseanleitung verhindern. Gerade so wird es sich als Medium der Lesendenlenkung für deren Bibellektüre bewähren. Die Gottheit Jesu markiert also den neuralgischen Punkt. Um ihre Wahrnehmung geht es in der Debatte um die Zweinaturenlehre. Die zweite Aufgabe einer hermeneutischen Zwischenreflexion gestaltet sich hingegen aufwändiger und das hängt mit ihrem Gewicht bzw. ihrer Relevanz zusammen. Es geht nämlich um nichts geringeres als die Rückbindung dogmatischer Formeln an biblische Erzählungen. Auf die Notwendigkeit, das immer wieder neu aus der biblischen Vielfalt heraus zu erklären, was das Dogma begrifflich geklärt hat, habe ich bereits hingewiesen. Diese Notwendigkeit wurde insbesondere mit Blick auf die Christologie verschiedentlich gesehen und unterstrichen. So hebt etwa F. Mildenberger im Rahmen seines Projektes einer »Biblischen Theologie« hervor, dass »[e]ine einheitliche Anschauung des handelnden Christus […] schon von der biblischen Erzählung her eine religiöse Notwendigkeit« sei.70 Die Wirkungsgeschichte des Chalcedonense zeige jedoch dessen Scheitern insbesondere anhand der Verunmöglichung einer solchen einheitlichen Anschauung: »Die auf Chalzedon folgenden Lehrstreitigkeiten (monotheletischer und monergistischer Streit) wollen dem Chalzedonense eine Interpretation abringen, die eine solche einheitliche Anschauung des handelnden Christus ermöglicht. Diese Anschauung verhinderte das chalzedonensische Denkgebot, das auf die Vollkommenheit der Bestandteile, aus denen sich der Christus zusammensetzt, und nicht auf die Anschauung der Einheit Wert legt.«71

69

Link, Das sogenannte Extra-Calvinisticum, 165. Mildenberger / Assel, Grundwissen der Dogmatik, 176. 71 Ebd. 70

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Das Chalcedonense und die Kaninchenente

Im Chalcedonense manifestiere sich mit anderen Worten eine Trennungschristologie72 im Blick auf das Handeln Christi und damit die Heilsökonomie: »Denkt man von der Vollständigkeit des Menschen und des Gottes her, dann muß natürlich sowohl der Gott wie der Mensch einen eigenen Willen und eine eigene energeia, eine eigene Spontaneität oder Tätigkeit haben. Wie der eine Christus dann wollen oder handeln kann, bleibt dabei dunkel.«73 Insbesondere Maximus Confessor (um 580–665) hat seine denkerischen Schritte in diese Richtung gelenkt.74 Die theopaschitische Formel (unus ex trinitate passus est carne)75 und die Lehre von der Enhypostasie76 der Menschheit Jesu Christi in der Person des Logos versteht Mildenberger als die beiden nachchalcedonensischen Interpretationen, die schließlich das Chalcedonense »religiös erträglich«77 machen würden und darum als Abschluss der altkirchlichen Lehrbildung betrachtet werden könnten.78 Betrachtet man die systematisch-theologische Rezeption der altkirchlichen Lehrentscheidungen, so zeigt sich m.E. oftmals eine Tendenz, gegen die sich indes gewiss auch F. Mildenbergers biblisch-theologisches Anliegen wendet. Ich meine die Tendenz, die Kirchenväter als »metaphysische Betonköpfe« darzustellen, deren starre Begriffssprache alle erzählerischen Elemente zu vermeiden trachte. Doch verkennt solch eine Einschätzung oftmals deren eigentliches Anliegen. Sie erweist sich als Vorurteil. So hat etwa R.W. Jenson im Blick auf Cyrill von Alexandria (um 375/380–444) zutreffend darauf hingewiesen: »Cyrill’s great concern was that the story told in the Gospels, of the doings and sufferings of the one named Jesus, in all its parts and aspects, be understood as the story of God the Son. His concern was for what we would now call the narrative content of ,Jesus is Lord‹. The story told in the Gospel is at once a story of majesty and victimization, of divine authority and human suffering. It is a story of the birth of Immanuel from the

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Ähnlich urteilt auch R.W. Jenson (Systematic Theology Vol. 1: The Triune God, Oxford / New York 1997, 131–138; 188f.), demzufolge das Chalcedonense zu sehr in eine antiochenische Richtung neigt. Zur Kritik an Jenson siehe G. Hunsinger, Robert Jenson’s Systematic Theology: A Review Essay, SJT 55 (2/2002), 161–200. 73 Mildenberger / Assel, Grundwissen der Dogmatik, 176. 74 Vgl. G. Bausenhart, »In allem uns gleich außer der Sünde«. Studien zum Beitrag Maximos’ des Bekenners zur altkirchlichen Christologie. Mit einer kommentierten Übersetzung der »Disputatio cum Pyrrho«, TSTP 5, Mainz 1992. 75 Vgl. D. Metz, »Einer aus der Trinität hat im Fleisch gelitten.« Das Leiden Christi im christologischen Streit der Alten Kirche, in: Th. Naumann / A. Kurschus (Hg.), Wo ist denn nun euer Gott? Von Gottes Anwesenheit in einer unordentlichen Welt, Neukirchen-Vluyn 2010, 75–85. 76 Vgl. G. Wenz, Chalcedon 451 – Wahrer Gott und wahrer Mensch, in: L. Mödl (Hg.), Das Wesen des Christentums, MThF 1, Göttingen 2003, (169–187) 174; M. Hofheinz, »Er ist unser Frieden«. Karl Barths christologische Grundlegung der Friedensethik im Gespräch mit John Howard Yoder, FSÖTh 144, Göttingen 2014, 293–337. 77 Mildenberger / Assel, Grundwissen der Dogmatik, 176. 78 Zur nachchalcedonensischen Christologie vgl. auch I.R. Torrance, Christology after Chalcedon. Severus of Antioch and Sergius the Monophysite, Norwich 1988.

Der Kippmoment in den Evangelien

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blood and serum of a womb, of exaltation to the Father by being hung on a cross. Not all Cyrill’s formulations could be fortunate; for language fails us here. But his concern was steadfast: this whole story is the true story of God the Son. Jesus, the life told by the story the Gospels tell, is the Lord.«79

5. Der Kippmoment in den Evangelien. Der doppelte Eindruck, den Jesus in den Evangelien hinterlässt Das narrative Anliegen der Kirchenväter bezieht sich auf die Jesus-Erzählung der Bibel. Nun wird man zugeben müssen, dass sich die Formel von Chalcedon, die die göttliche und die menschliche Natur bekennt, als eine »solche philosophisch getönte Formulierung[] nicht im Neuen Testament«80 findet.81 Dass diese Formel freilich nicht einfach aus der Luft gegriffen ist, zeigt sich, wenn man etwa in den Evangelien beachtet, wie die mit dem Chalcedonense getroffene Aussage, dass Jesus Christus vollkommen in der Gottheit und vollkommen in der Menschheit war, zur Sprache gebracht wird. Wie E. Maurer betont, handelt es sich um »zwei Perspektiven auf die Geschichte Jesu Christi, die nicht zugleich ausgesagt werden können und doch nicht aus dem Gleichgewicht geraten dürfen, weil die Texte des Neuen Testaments sonst ihren Sinn verlieren.«82 Exakt diese treffliche Beobachtung lässt sich mit Hilfe von Wittgensteins Vexierbild der Kaninchenente anhand biblischer Texte genauer explizieren. Dies kann freilich im Folgenden »exegetisch« nur angedeutet und höchst exemplarisch gezeigt werden. Es handelt sich lediglich um eine Skizze. Und dennoch, so hoffe ich zumindest, könnte sich zeigen: »Eine Skizze kann genauer sein als eine Fotografie; man denke an eine Karikatur!«83 Besonders bei den Evangelien handelt es sich um erzählende Texte. In ihnen wird auf zwei unterschiedliche Weisen, also gleichsam zweideutig, die erzählte Geschichte Jesu zur Sprache gebracht und zwar so, dass ein Blick auf die gesamte Geschichte verrät: »Es geht an keiner Stelle um den Menschen Jesus von Nazareth abgesehen von dieser Geschichte Gottes«.84 Ich möchte dies an einigen »Versu-

79 Jenson, Jesus in the Trinity, 314. Vgl. zu Cyrill auch Assel, Elementare Christologie 3, 118–127. 80 E. Maurer, Kennwort: Jesus Christus, GuL 19 (17/2004), (5–14) 5 (auch erschienen in: R. Englert u.a. [Hg.], Christologie. Ein religionspädagogischer Reader, Münster 2015, 60–64). 81 So auch Karrer, Jesus Christus, 157. 82 Maurer, Kennwort: Jesus Christus, 5. 83 Allen / Maurer, Philosophie für das Theologiestudium, 255. 84 Maurer, Kennwort: Jesus Christus, 6.

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Das Chalcedonense und die Kaninchenente

chungsgeschichten« in den synoptischen Evangelien veranschaulichen.85 Da es sich zumeist um Markusstoff handelt, gehe ich besonders auf das Markusevangelium ein. Auch hinsichtlich dieser synoptischen Erzählungen gilt: »Erzählungen sind das exemplarische Lernfeld der Bibel, das Medium theologischer Erkenntnis.«86 Blickt man etwa auf die Versuchungsgeschichte Jesu in der Wüste (Mt 4,1–11; Mk 1,12f.; Lk 4,1–13), so wird diese Geschichte zunächst als die Geschichte des Menschen Jesus erzählt, der, nachdem er vierzig Tage und Nächst gefastet hatte, ein zutiefst menschliches Hungergefühl bekommt. Mit dem Auftritt des Versuchers aber kippt die Geschichte des Menschen Jesus nach dem Eindruck der/s Betrachtenden. Jesus wird vom Versucher auf seine Gottessohnschaft angesprochen: »Wenn du Gottes Sohn bist, dann sag diesen Steinen da, sie sollen zu Brot werden« (Mt 4,2; Zürcher Bibel, 2007). Alle drei Einzelversuchungen (Steine zu Brot zu machen, von der Zinne des Tempels zu springen und den Teufel anzubeten) beziehen sich auf die Gottessohnschaft (vgl. Mt 4,6; Lk 4,9). Interessanterweise ordnet sich Christus dabei Gott zugleich gehorsam unter,87 zumal er sich im viermaligen Schriftbezug (Dtn 8,3 LXX; Ps 91,11f. LXX; Dtn 6,16 LXX; Dtn 6,13 LXX) auf ihn als höchste Autorität beruft.88 Das Geheimnis der Person Jesu wird hier in einer »zugleich raffinierte[n] und plastische[n] Dialektik« dargestellt: »Satan setzt voraus, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Die Versuchung besteht darin, dass Jesus als Sohn Gottes handeln möge, und Jesus besteht die Versuchung, weil er diesen Titel und die entsprechende Vollmacht nicht in Anspruch nimmt. In diesem Gehorsam verwirklicht Jesus Christus seine Freiheit. So ist gerade die Menschlichkeit Jesu Christi – auf dem Hintergrund der Gottessohnschaft – der große Unterschied zwischen Jesus Christus und uns.«89 Das vere homo meint hier gerade ein verus homo. 85

Dass sich auch Formeln wie die in Röm 1,3f. im Sinne einer »Zwei-Aspekte-Christologie« verstehen lassen, darauf hat Karrer (Jesus Christus im Neuen Testament, 187f.; 194) hingewiesen. 86 Ch. Link, Die Theologie vor der »linguistischen Wende«, in: ders., In welchem Sinne sind theologische Aussagen wahr? Zum Streit zwischen Glauben und Wissen. Theologische Studien II, Neukirchen-Vluyn 2003, (131–139) 139. 87 M. Labahn, »Die Wüste lebt«. Ausgewählte Geschichten aus der Wüstenzeit, in: B. Kollmann (Hg.), Die Verheißung des Neuen Bundes. Wie alttestamentliche Texte im Neuen Testament fortwirken, BThS 35, Göttingen 2010, (78–93) 82f.: »Möglicherweise sind nicht erst bei Matthäus, sondern schon im Dokument Q der Gehorsam und das Vertrauen ein Signal für Jesu Gehorsam bis in den Tod (vgl. bes. die zweite Versuchung, Lk 4,9–12 [Q]).« 88 Vgl. H.J. Iwand, Invokavit: Mt 4,1–10, in: ders., Predigt-Meditationen, Göttingen 1963, (432–439) 436: »Als der selbst von der Versuchung Betroffene liegt er in seiner Schwachheit und als der selbst Angefochtene beharrt er in seinem Gehorsam. Es ist schon wahr, dass Jesus hier keinerlei ›messianische‹ Züge beigelegt sind, aber gerade dies ist das Messias-Geheimnis Jesu: der an sich schwache Mensch besiegt den Verführer, indem er sich an Gottes Wort hält. Insofern könnte diese Geschichte in etwa das Gegenstück zu Gen 3 sein; vgl. Röm 5,18f.!« 89 Maurer, Kennwort: Jesus Christus, 13. Vgl. H.J. Iwand, Invokavit: Matthäus 4,1–11, in: ders., Predigt-Meditationen. Zweite Folge, Göttingen 1986, (7–11) 8: »[W]er Jesu Gottes­ sohnschaft nicht findet in seinem Gehorsam gegen den Vater, dem muß sie verborgen blei-

Der Kippmoment in den Evangelien

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Als Versuchungsgeschichte erscheint auch die erste Leidensankündigung Jesu (Mt 16,21–23; Mk 8,31–33; Lk 9,22). Sie ist nur verständlich als »die berühmte Doppelszene von Petrusbekenntnis und Satanswort«90 (Mk 8,27–33 par). Jesus hat den im Petrusbekenntnis verwendeten Messias-Titel (»Du bist der Messias!«; Mk 8,29) abgelehnt und die von Petrus geäußerte Messiaserwartung91 zurückgewiesen,92 indem er sein ihr widersprechendes Leiden ankündigt: »Der Menschensohn muss vieles erleiden und von den Ältesten und den Hohen Priestern und den Schriftgelehrten verworfen und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen« (Mk 8,31; Zürcher Bibel, 2007). Nach dieser Ankündigung macht Petrus, für den die Vorstellung eines leidenden Messias inakzeptabel ist, Jesus auf dem Hintergrund seiner völlig divergenten politischen Messiasvorstellung Vorwürfe. Jesus aber reagiert nun seinerseits ungehalten und fährt Petrus an: »Fort mit dir, Satan, hinter mich! Denn nicht Göttliches, sondern Menschliches hast du im Sinn« (Mk 8,33; Zürcher Bibel, 2007). Auch hier spiegelt sich ein Kippmoment wider und zwar gleich mehrfach, d.h. jeweils im Augenblick des Widerspruchs. Das Hin und Her des Kippens der Perspektiven verleiht dieser Narration eine geradezu dramatische Dynamik. Der/die Lesende gewinnt den Eindruck, dass wiederum der Eindruck, den Petrus von ihm hat, so missverständlich und so herausfordernd ist, dass Jesus ihm widersprechen muss, um seinen Gehorsam zu bewähren. Wiederrum ist es der Gehorsam gegen den Willen seines Vaters, der Jesus widersprechen lässt. Er weiß, dass sein Weg unter dem göttlichen »Muß« steht.93 Es geht im Kontext des Markusevangeliums um »den im Gehorsam gegen den Heilswillen des Vaters bejahten Weg Jesu in die Tiefe des Leidens und des Todes«.94 Dabei wird ein

ben. Jesus stellt seine Herrlichkeit nicht selbst heraus, ein anderer ist es, der das tun wird, Gott (Joh 8,50; 5,41).« 90 Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament, 151. 91 So O. Hofius, Ist Jesus der Messias? Thesen, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, (108–134) 126. Ebenso Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, 209. Vgl. auch H. Conzelmann / A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, UTB 52, Tübingen 121998, 489: »Sollte diese Szene historisch zuverlässig sein oder zumindest einen historischen Kern haben, dann stünde fest, daß Jesus den Messias-Titel für sich beansprucht oder jedenfalls nicht abgelehnt hat; die Stelle würde zugleich belegen, daß er eine (vorläufige) Geheimhaltung dieses Tatbestandes verlangt hätte (V. 30). Allerdings hätte Jesus den Messiastitel in einem neuen, unpolitischen Sinne verstanden; denn nichts in der Jesusüberlieferung weist darauf hin, daß Jesus sich selbst als einen politischen Befreier Israels gesehen hat. Sollte auch der der Zusammenhang des Messiasbekenntnisses mit der Leidensankündigung in Mk 8,31 authentisch sein, so hätte Jesus also die bis dahin eigentlich unmögliche Idee eines ›leidenden Messias‹ vertreten.« Zum Messianischen vgl. auch H. Assel, Elementare Christologie Bd. 2: Der gegenwärtig erinnerte Jesus, Gütersloh 2020, 96–117. 92 Im Matthäusevangelium (Mt 16,17) wird Petrus hingegen mit einem Lob bedacht. 93 So O. Hofius, Jesu Leben, Tod und Auferstehung nach dem Zeugnis des Neuen Testaments, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, (3–18) 15. 94 O. Hofius, Jesu Zuspruch der Sündenvergebung. Exegetische Erwägungen zu Mk 2,5b, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, (38–56) 53.

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Das Chalcedonense und die Kaninchenente

Paradox offenkundig: Ein leidender Menschensohn – der Messias? Wie geht das zusammen?95 Eine weitere Versuchungsgeschichte bildet die Erzählung von Jesu Gebet im Garten Gethsemane (Mt 26,36–46; Mk 14,32–42; Lk 22,39–46). Sie ist innerhalb der Passionsgeschichte Jesu platziert. Auch hier stimmt Jesus in den Willen Gottes ein. In dieser Geschichte zeigt sich »[d]ie Verwicklung zwischen Jesu exklusivem und wesentlichem Gottesbezug – also letztlich seiner Gottheit – und seiner entschlossen gehorsamen Unterordnung dem Vater gegenüber.«96 Auch diese Geschichte weist einen Kippmoment auf. Die Gebetsszene zeigt zunächst »einen zutiefst menschlichen Jesus, der sich in der Sprache der alttestamentlichen Klagepsalmen an Gott wendet. Er bittet darum, die Stunde des Todes an ihm vorübergehen zu lassen.«97 Doch im Laufe seines Gebets kippt die Bitte um Verschonung (»Lass diesen Kelch an mir vorübergehen!«; Mk 14,36c) in die gehorsame Bereitschaft, sich zu fügen (»Doch nicht, was ich will, sondern was du willst«; Mk 14,36d). Jesus ist zu diesem Gehorsam nur fähig »als der erwählte Sohn, der seinen Vater kindlich ehrte und liebte.«98 Es lässt sich festhalten: »In dieser Person wird anschaulich, dass der Gottesbezug erst die menschliche Person ausmacht, dieser Gottesbezug aber nicht in unserer Verfügung steht – er bleibt sogar dem Zugriff Jesu entzogen, und es macht die Würde dieser Person aus, dass Jesus Christus auf einen solchen Zugriff auch konsequent verzichtet. Der Verzicht gewinnt gleichwohl seine Leuchtkraft nur auf dem Hintergrund des exemplarischen Lebens aus Gott. Darin ist Jesus Christus wahrhaft Mensch.«99

Wiederum gewinnt man den Eindruck: vere homo ist auch hier als verus homo zu verstehen. Anders gesagt: Sein wahres Menschsein meint nicht, dass er so Mensch ist, wie wir sind, sondern dass er ganz anders Mensch ist als wir.100 Treffend bemerkt W.C. Placher: »In the incarnation of the divine Word, however, humanity is

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Zutreffend spricht J. Rüggemeier (Poetik der markinischen Christologie. Eine kognitiv-narratologische Exegese, WUNT II/458, Tübingen 2017, 236) von einem »paradoxe[n] Zusammenhang, der sich gerade nicht vor dem Hintergrund bekannter frühjüdischer Messiaserwartungen erschließt, sondern der sich erst aus einer Identifikation von Menschensohn und Gottesknecht (Jes 43,3–5; 53,5–6 u. 11f.) ableitet und bei den Jüngern deshalb nichts als Unverständnis hervorrufen kann«. 96 Maurer, Kennwort: Jesus Christus, 7. 97 B. Kollmann, Neutestamentliche Schlüsseltexte für den Religionsunterricht, Stuttgart 2019, 226. 98 P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments Bd. 1: Grundlegung – Von Jesus zu Paulus, Tübingen 21997, 87. Vgl. auch R.W. Jenson, The Bible and the Trinity, Pro Ecclesia 11 (3/2002), (329–339) 335f. 99 Maurer, Kennwort: Jesus Christus, 8. 100 Die Lehre von der sog. Anhypostasie hält genau dies fest. Vgl. Hofheinz, »Er ist unser Friede«, 294f.

Der Kippmoment in den Evangelien

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transformed – not just for Jesus but for all of us. It has become a different thing to be a human being.«101 Befragen wir diese drei Versuchungsgeschichten bündelnd: Ist es diese beo­ bachtbare Kippbewegung, die sich als Wurzel der Zweinaturenlehre identifizieren lässt?102 Sicherlich wäre dies ein sehr gewagtes historisches Urteil, das sich jedenfalls ohne Weiteres nicht verifizieren ließe. Freilich spiegelt sich in dieser Kippbewegung etwas von dem Paradox wider, welches das Chalcedonense zum Ausdruck bringt. Dieser paradoxe Ausdruck manifestiert sich auf Seiten der Lesenden als Eindruck, den die Kippbewegung durch den Perspektivenwechsel erzeugt, den wiederum das Vexierbild veranschaulicht. Die theologisch entscheidende Frage dürfte freilich die sein, wie dieser Eindruck zustande kommt. Es geht gewiss um ein »Sehen als«, aber dieses beruht auf einem Eindruck, der sich nicht dem sehenden Subjekt verdankt. Anders gesagt, handelt es sich um ein Erscheinen, das das Sehen provoziert, ein Eintreten Gottes in die Welt. Eine entsprechende Erkenntnistheorie wird also diese geradezu eschatologisch-apokalyptische Logik nicht ausklammern, sondern hier ansetzen müssen. Dementsprechend wäre von Theo- bzw. Epiphanie zu sprechen. Der bisherige Gedankengang wird nicht in eine Erkenntnislehre und Rezeptionsästhetik hineinmünden dürfen, die den transfigurativen Charakter des Kippmoments ausblendet, der die neue und andere Optik erst ermöglicht. Er steht für das Handeln Gottes selbst und antwortet insofern auf die Frage, wer das Bild eigentlich kippen lässt. Um es im Sinne des vierten Evangelisten zu artikulieren, der ja für seine visuelle Vorliebe (terminologisch manifest im blepein, horan, idein, ophesthai, theāsthai, theōrein)103 bekannt ist und als »der ›Optiker‹ unter den Evangelisten«104 gilt: Dass der Vater uns durch den Sohn und Logos anredet und wir ihm begegnen, liegt nicht an unserem Sehen, sondern daran, dass er uns, den Blinden, die Augen öff101

W.C. Placher, Jesus the Saviour. The Meaning of Jesus Christ for Christian Faith, Louisville 2001, 50. 102 Ähnliches hat E. Jüngel (Gott selbst im Ereignis seiner Offenbarung. Thesen zur trinitarischen Fassung der christlichen Rede von Gott, in: M. Welker / M. Volf [Hg.], Der lebendige Gott als Trinität. FS Jürgen Moltmann zum 80. Geburtstag, Gütersloh 2006, 23–33, 25) von der Trinitätslehre behauptet: »Die Entstehung des trinitarischen Dogmas entsprang der hermeneutischen Notwendigkeit, nicht nur die neutestamentlichen Aussagen über Gott den Vater mit den Aussagen über Jesus Christus als den Sohn Gottes und über den Heiligen Geist mit Hilfe der wenigen triadischen und der einen trinitarischen (Mt 28,19) Formel des Neuen Testaments systematisch aufeinander zu beziehen, sondern vor allem die neutestamentlichen Relationsaussagen, die von einem Geschehen zwischen Vater und Sohn, Sohn und Geist bzw. Vater und Geist reden, sachgemäß zu interpretieren.« Vgl. auch W. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, Göttingen 1988, 335–347; K. Barth, KD I/1, 332ff. 103 Vgl. R. Zimmermann, Christologie der Bilder im Johannesevangelium. Christopoetik des vierten Evangeliums unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10, WUNT 171, Tübingen 2004, 46f. 104 O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, Herders Biblische Studien 5, Freiburg i.Br. 1995, 397.

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Das Chalcedonense und die Kaninchenente

net. Dem Blindgeborenen wird in einer Wunderhandlung Jesu, semeia/Zeichen genannt,105 das Augenlicht geschenkt (vgl. die Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen Joh 9,1–7 mit anschließendem Dialog: V. 8–38), d.h. Jesus öffnet ihm und der johanneischen Gemeinde die Augen und schenkt ihnen mit den Lesenden das wahre, »kippende« Sehen.106 In dem Menschen Jesus zeigt sich die doxa Gottes107 (Joh 1,14: »und wir sahen seine doxa«).108 Darum die Aufforderung: »Kommt und seht« (Joh 1,39). Marta, die Schwester des auferweckten Lazarus, kann der johanneische Christus daran erinnern: »Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die doxa Gottes sehen« (Joh 11,40)?109 Das Ziel der Christusgemeinschaft der Jünger besteht nach dem hohepriesterlichen Gebet Jesu genau darin, »dass sie meine doxa sehen« (Joh 17,24).110 Die großen Wunderberichte des vierten Evangeliums erzählen auf ihre Weise, was die Begegnung mit der doxa Jesu bewirkt: das Wunder der Wiedergeburt (Joh 3,1–21), die Heilung eines hoffnungslos Gelähmten (Joh 5,1–47), die Öffnung der Augen eines Blindgeborenen (Joh 9,1–41) und die Auferweckung eines bereits verwesenden Toten (Joh 11,1–45).111 Den markantesten »Kipppunkt« innerhalb der Passionsgeschichte aller kanonischen Evangelien bildet sicherlich das Geschehen der Auferweckung. Hier

105

Nach P. Stuhlmacher (Biblische Theologie des Neuen Testaments. Bd. 2: Von der Paulusschule bis zur Johannesoffenbarung, Göttingen 1999, 226) versteht Johannes Jesu Wundertaten ebenso wie seine Ostererscheinungen als »Sehhilfen für den Glauben«. So auch a.a.O., 255. 106 Johanneisch wird man sicherlich auch fragen können, wo denn das »Bleiben« (menein) bleibt, wenn der Kippmoment in der Ästhetik alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wo bleibt also das »Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht« (Joh 15,5b; Zürcher Bibel, 2007)? Nun könnte man natürlich den dogmatisch initiierten Blickwechsel auf das fieri des christianus beziehen, das den Sehenden immer tiefer blicken lässt und den Sohn immer besser zu verstehen lehrt. Dann hätte das Dogma tatsächlich einen Sitz im Leben der Katechetik und das Vexierbild nähme die Funktion einer konstruktiven Unruhe im Religionsunterricht ein. Diesen Hinweis verdanke ich Pfr. i.R. Dr. Helmut Hollenstein. 107 L. Bormann (Theologie des Neuen Testaments, UTB 4838, Göttingen 2017, 334) kennzeichnet die johanneische Jesuserzählung als »Inszenierung der Herrlichkeit (Doxa)«. Vgl. a.a.O., 336: »Die biblische Überzeugung, dass die Herrlichkeit Gottes, die Doxa bzw. der kabod im Sinne von Schwere und Majestät der Präsenz Gottes, die den Menschen zugewandte und empirisch wahrnehmbare Seite Gottes darstellt, wird im Johannesevangelium aufgenommen und zum zentralen Thema bestimmt. Die Grundthese des Evangeliums lautet: Gott ist in Jesus, der Vater im Sohn präsent.« 108 Zum Sehen der Herrlichkeit vgl. Assel, Elementare Christologie 3, 322f.; ders., Elementare Christologie Bd. 1: Versöhnung und neue Schöpfung, Gütersloh 2020, 233–235. 109 Vgl. O. Hofius, Die Auferweckung des Lazarus. Joh 11,1–44 als Zeugnis narrativer Christologie, in: ders., Exegetische Studien, WUNT 223, Tübingen 2008, (28–45) 34f.; 40. 110 Vgl. O. Hofius, Struktur und Logik des Logos-Hymnus in Joh 1,1–18, in: ders. / H.Ch. Kammler, Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums, WUNT 88, Tübingen 1996, (1–23) 22. 111 Vgl. O. Hofius, Das Wunder der Wiedergeburt. Jesu Gespräch mit Nikodemus Joh 3,1–21, in: ders. / H.-Ch. Kammler, Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums, WUNT 88, Tübingen 1996, (33–80) 80.

Der Kippmoment in den Evangelien

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kommt ein Kippmoment anderer Qualität als bisher zum Tragen. Die Verwirrung, die ein Vexierbild zuerst auslöst, spiegelt sich in der Christuserkenntnis der Versuchungserzählungen. In der Ostererzählung wird dann Jesu Wesen im Sinne des Durchschauens des »Vexierbildes« ultimativ transparent.112 Bis zum Ostermorgen mag man sich fragen: »Ist Jesus nicht doch angemessen zu beschreiben als leidender Gottesknecht, ohne die steile Behauptung der Gottheit Jesu?«113 Nimmt man die Kipppunkte nicht wahr, kann man zu solch einem Ergebnis kommen. Folgt man jedoch dem narrativen Duktus der Passions- und Ostergeschichte, dann offenbart sich die Reduktion Christi auf den guten, leidenden Menschen Jesus eben als solche: »[S]pätestens die Erscheinungen des Auferweckten – des gekreuzigten Auferstandenen! – sind als Theophanien erkennbar.«114 Mag auch das Markus­ evangelium bisweilen als ein »Buch der geheimen Epiphanien«115 erscheinen, so enthüllt Ostern die Wirklichkeit, die über neue »Eindrücke« vermittelt wird. Die transfigurative Logik tritt in den Erscheinungen des Auferstandenen nach Ostern direkt erzählerisch hervor. Man denke nur an den »transfigurierten Gärtner« (Joh 20,15), der sich Maria von Magdala zu erkennen gibt, oder an den »transfigurierten Fremden«, der sich den Emmausjüngern zeigt (Lk 24,13–35). Die Welt und ihr Messias, Gott und Mensch erscheinen im Lichte von Ostern. Ostern ist das eigentliche »Jetzt« des Aspektwechsels bzw. Kipppunktes. Treffend weist Ch. Link darauf hin, dass Paulus die Auferweckung des Sohnes Gottes »als das ›Jetzt‹ eines neuen Kairos, als den Tag definitiven Heils (2Kor 6,2)«116 interpretiert. Jesus Christus im Lichte von Ostern zu sehen, ihn nicht als nur als leidenden Menschen Jesus, sondern als Erscheinung Gottes wahrzunehmen, also beide Aspekte zu sehen, ist ein Geschenk. Wittgenstein macht deutlich, dass das Aspektsehen über eine bloße Wahrnehmungsleistung hinausgeht. Er kennt – wie bereits dargestellt – auch ein Fehlen der kognitiven Leistung (Denken), die zum Sehen jeweils hinzutreten muss. Wittgenstein spricht explizit von »Aspektblindheit«117, die er mit »Farbenblindheit oder mit dem Fehlen des absoluten Gehörs«118 vergleicht. Im Jüngerunverständnis, einem vor allem markinischen Motiv,119 spiegelt sich diese Blindheit wider. Dieses Motiv zeigt sich in den skizzierten Versuchungsge112

Man kann hier durchaus fragen, ob das dann noch ein Kippmoment oder nicht eher ein aufgeklärter Blick mit mehr Abstand bzw. Klarheit auf das »Vexierbild« Jesu ist. 113 E. Maurer, Kennwort: Trinitätslehre, in: ders., Geistreiche Vernunft. Dogmatik als lebendiges Denken, hg. von C.A. Schneider und L.C. Seelbach, Göttingen 2018, (28–39) 35. 114 Ebd. 115 M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, hg. von G. Bornkamm, Tübingen 6 1971, 232. Dort kursiv. Siehe auch Bormann, Theologie des Neuen Testaments, 231. 116 Ch. Link, Gott und die Zeit. Theologische Zugänge zum Zeitproblem, in: ders., Die Spur des Namens. Wege zur Erkenntnis Gottes und zur Erfahrung der Schöpfung. Theologische Studien, Neukirchen-Vluyn 1997, (91–119) 103. 117 Wittgenstein, PU, 552. 118 Ebd. 119 Vgl. W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 41969, 101–110; fernerhin: Bormann,

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Das Chalcedonense und die Kaninchenente

schichten in Gestalt der Reaktion des Petrus auf Jesu Leidensankündigung (Mk 8,32b: »Da nahm ihn Petrus beiseite und fing an, ihm Vorwürfe zu machen«) und im Schlaf der drei Jünger Petrus, Jakobus und Johannes im Garten Gethsemane (Mk 14,37). Zusammenfassend sei festgehalten: Wittgenstein geht es bei seinem Beispiel der Kaninchenente um ein Aspektsehen oder einen Aspektwechsel. Genau diesen konnten wir auch in den skizzierten Versuchungsgeschichten der synoptischen Evangelien beobachten. »Sehen als« heißt für Wittgenstein, dass wir das Bild H-E-Kopf entweder als Bild eines Hasen oder einer Ente sehen. Ebenso verhält es sich in diesen synoptischen Versuchungsgeschichten. Jesus erscheint entweder als Mensch oder als Gottessohn. In den keineswegs konfliktfreien Gesprächen zwischen Jesus und Satan, Jesus und Petrus sowie dem Gebet Jesu zu Gott ist die Gesprächsdynamik von diesem Aspektwechsel gekennzeichnet. Mal leuchtet der eine Aspekt auf, mal der andere. Jedoch entwickeln sich die synoptischen Erzählungen nicht wie ein endloses Pingpong-Spiel. Sie beschreiben das Sein Jesu Christi nicht einfach durch ein ewiges komplementär-dialektisches »Hin-und-Her« beider Aspekte, sondern durch die ineinander verschlungenen Bewegungen einer dynamischen und auch endenden Erzählung, in der beide Aspekte aufleuchten und die Wahrnehmenden diese immer klarer und deutlicher sehen. Als Lesende werden wir in diese Bewegung gleichsam hineingezogen. Wenn man so will, gehört eine bestimmte, als transfigurativ charakterisierte Rezeptionsästhetik120 unabdingbar zu dieser »Lesechristologie«121 hinzu, die sich anhand der zu beschreiben versuchten eigentümlichen narrativen Logik der Paradoxie entwickelt. Es kommt im Ergebnis gleichsam zur wechselweisen Durchdringung der unterschiedlichen Perspektiven.

6. Fazit Es hat sich gezeigt, dass Wittgensteins Vexierbild der Kaninchenente als Musterbeispiel für unterschiedliche Sichtweisen bzw. Perspektiven dienen kann, wie sie nicht nur im Chalcedonense in seinen wuchtigen Formulierungen von den beiden Naturen, sondern auch in den Evangelienerzählungen zutage treten. Auch hier sind Kippfiguren erkennbar. Es sind die Kipppunkte zwischen der menschlichen Existenz Jesu Christi und dem exklusiven Gottesbezug, die die Spannung dieser Erzählungen ausmachen. Dabei muss es sich nicht um einen einmaligen HöheTheologie des Neuen Testaments, 251. Kritisch zu Wredes Messiasgeheimnistheorie: P.-G. Klumbies, Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 175–190. 120 Vgl. zur Rezeptionsästhetik R. Zimmermann, Jenseits von Historie und Kerygma, Zum Ansatz einer wirkungsästhetischen Christologie des Neuen Testaments, in: R. Englert u.a. (Hg.), Christologie. Ein religionspädagogischer Reader, Münster 2015, 24–40. 121 Vgl. K. Huizing / U.H.J. Körtner / P. Müller, Lesen und Leben. Drei Essays zur Grundlegung einer Lesetheologie, Bielefeld 1997.

Fazit

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punkt handeln, nach dem der Spannungsbogen abflaut. Nein, die Kipppunkte treten zumeist nicht einmalig, sondern mehrfach auf. Sie sind gleichsam ineinander verwickelt. Anhand der Kipppunkte »tritt hervor, dass schon die biblischen Erzählungen doppeldeutig, spannend, voller Überraschungen sind. Daher gehört aber die schwierige Gratwanderung zwischen Einheit und Unterscheidung der göttlichen und menschlichen ›Seite‹ in Jesus Christus zum Glauben wesentlich hinzu und ist kein ›künstliches‹ theologisches Denkproblem.«122 Auch das Chalcedonense lässt sich nicht einfach als künstlich und/oder spekulativ abweisen oder gar eliminieren.123 Es funktioniert wie ein Vexierbild der Naturen Jesu Christi, das uns als Interpretationshilfe bei der Evangelienlektüre an die Hand gegeben ist. Es mahnt uns, die Kipppunkte nicht zu übersehen. Es kann gerade so als Orientierung für die Lektüre des Neuen Testaments dienen. Das Chalcedonense lässt sich nämlich seinerseits als Versuch lesen, biblische Narrationen auf den Punkt zu bringen und solche Lesarten zu kennzeichnen, die mit ihnen nicht kohärieren.124 Ein Punkt hat freilich keine Ausdehnung und so verkürzen Punkte auf das Äußerste. Er repräsentiert in zeitlicher Dimensionierung gleichsam einen Augenblick. Die Zeit wird geradezu eingedampft, kondensiert. Die Geschichte Jesu, die biblisch erzählt wird, erstreckt sich hingegen zeitlich. Sie kennt das Nacheinander einer Ereignisfolge – ein prius und ein posterius. Indes lässt sich mit Wittgenstein zeigen, dass dieser Augenblick als Kipppunkt bzw. Kippmoment betrachtet die Zeit erschließt, indem hier das »vorher« der Wahrnehmung in ein »nachher« kippt. Insgesamt lassen sich meine Ausführungen, die von Wittgensteins Vexierbild von der Kaninchenente als Artikulationshilfe für die Zweinaturenlehre Gebrauch machen, sicherlich subsumieren unter den »Versuch einer dialektischen Reformulierung der Zweinaturenlehre«.125 Wenn am Anfang in Anlehnung an H. Assel zwischen einer transformatorischen und einer eliminatorischen Kritik unterschieden wurde, so ist mein Würdigungsversuch des Chalcedonense als Lektürehilfe für die Evangelien gewiss eindeutig ersterer zuordbar. Es geht mir in der Tat um eine produktive, transformatorische, genauer noch gesagt: transfigurative Würdigung des Chalcedonense. Wittgensteins Vexierbild lieferte dazu Hilfestellung. Das Chalcedonense lässt sich so als eine Einladung zu einer Schule des Sehens verstehen, die beschriebenen Kippmomente zu entdecken, sich ihnen zu öffnen und diese 122

Maurer, Kennwort: Jesus Christus, 6. Vgl. D.L. Migliore, Faith Seeking Understanding. An Introduction to Christian Theology, Grand Rapids 32014, 169. 124 Vgl. Felker Jones, Practicing Christian Doctrine, 133: »At Chalcedon, Christians identified ways of thinking about Christology that should be exclude as incoherent with biblical narrative.« 125 F. Nüssel, Art. Zwei-Naturen-Lehre, RGG4 8 (2005), (1934–1936) 1935. Nüssel (a.a.O., 1935f.) sieht das Anliegen der Zwei-Naturen-Lehre, »die wahre Gottheit und wahre Menschheit Jesu Christi in der Einheit der Person auszusagen« sowohl in ihrer dialektischen Reformulierung als auch »in den meisten anderen ev. und kath. Konzeptionen der Christologie bewahrt.« 123

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Das Chalcedonense und die Kaninchenente

neue Perspektive zu bewohnen. Dem Anliegen der Zweinaturenlehre, zwei unterschiedliche Perspektiven auf die Geschichte Jesu Christi zur Sprache zu bringen, dient dieses Medium. Es liefert als Versteh- zugleich eine Artikulationshilfe. Hermeneutik ist nun einmal nicht ohne Vermittlung zu haben.

XIII. Cristo y Cristiano, oder: Von der Menschwerdung des Fußballgottes Ronaldo Ein profanes Gleichnis1

Harry Noormann zum 70. Geburtstag

1. Fußballspielen – ein »Heidenspaß«? Einleitende Bemerkungen zum Verhältnis von Fußball und Religion Dass Fußball und Religion etwas miteinander zu tun haben, ist nicht neu. Es gibt offenkundige Berührungspunkte: »Alex Meier, Fußballgott« – so skandiert die Frankfurter Fangemeinde allsamstäglich für ihren Stürmer bei dessen Betreten des »heiligen« Rasens. Was geschieht hier? Götzendienst? Gesteigert womöglich im Stadion zu dem, was Hartmut Rosa ein »kollektives Resonanzphänomen«2 nennt? Die Prädikation »Fußballgott« ist nicht wirklich neu, wie das kulturelle Fußballgedächtnis festhält. Ihm hat sich die legendäre Hörfunkreportage Herbert Zimmermanns fest eingebrannt: »Turek, du bist ein Teufelskerl! Turek, du bist ein Fußballgott!« Das »Wunder« von Bern, der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft im Jahr 1954, an dessen Konstruktion nicht nur mehr oder weniger revanchistische Siegessehnsucht nach dem verlorenen Weltkrieg, sondern auch Deutschlands Nationaltorhüter Toni Turek mit seinen Paraden maßgeblich beteiligt war, wurde so kommentiert.3 Ist das eine Apotheose von Fußballern, eine Vergöttlichung von

1

Vortrag vom 22.04.2017, gehalten auf dem Symposium »Theologie im Konzert der Wissenschaften« an der Leibniz Universität Hannover. Der Vortragsstil wird bewusst beibehalten. 2 H. Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 42016, 425. 3 U. Kropaç (Gewinnen und verlieren. Warum es im Fußball zugeht wie »im richtigen Leben«, in: A. Merkt [Hg.], Fußballgott. Elf Einwürfe, Köln 2006, 160–179, 171) zufolge zog diese fußballerische Apotheose den Protest kirchlicher Stimmen nach sich.

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Cristo y Cristiano

Menschen, die sich doch nur einem Spiel, der »Fußlümmelei« hingeben? Fußball – ein Götzendienst?4 Von Toni Turek, dem Fußballgott, bis hin etwa zu Mario Götze? »Woran Du Dein Herz hängst, das ist Dein Gott«5, so pointiert Luther in seiner berühmten Auslegung des ersten Gebots in seinem »Großen Katechismus« (1529). Dass viele Menschen, nicht zuletzt hierzulande, ihr Herz an den Fußball hängen, dürfte einleuchten. Ihr Gott scheint rund zu sein.6 »Geballte Lust«7 bringen sie auf, um ihm zu huldigen. Die Berührungspunkte sind zu offenkundig, als dass man den Zusammenhang zwischen Fußball und Religion leugnen könnte.8 So mahnt der Bochumer Theologe Okko Herlyn: »Nichts gegen ein unterhaltsames, auch leidenschaftliches Fußballspiel. Nichts gegen einen sportlichen Vergleich, auch auf höchstem spielerischen und kämpferischen Niveau. Aber wir werden einen solchen mit Luther doch weiterhin nicht zu den Dingen rechnen wollen, an die wir unser Herz hängen und wozu wir uns ›alles Guten versehen und Zuflucht haben in allen Nöten‹. Es könnte sein, daß ein ursprünglich harmloses und menschenfreundliches Vergnügen am Ende zu einer – von Karl Barth so genannten ›herrenlosen Gewalt‹ wird, die neben mancherlei anderen Übeln vor allem zu unserer schleichenden Selbstentfremdung beiträgt und so gerade nicht ›ein Reservat authentischen Lebens‹ darstellt.«9

Handelt es sich beim Fußball also nicht im wahrsten Sinne des Wortes um einen »Heidenspaß«? Gleichsam – wie Peter Sloterdijk10 vermutet – um eine leidlich zivi4

T. Krechting (Fest-Zeiten. Wie Fußball der Theologie zu denken gibt, Unimagazin: Zeitschrift der Leibniz-Universität Hannover 1/2 [2006], 18–21, 21) spricht vom »ewig-ätzende[n] und kraftlos-apologetische[n] ›Sind Fußballer unsere wahren Götter?‘«. 5 BSLK 560, 22–24. 6 Vgl. D. Schümer, Gott ist rund. Die Kultur des Fußballs, Berlin 1996. 7 J. von Soosten, Heiliger Ernst und geballte Lust, Chrismon 05/2006, 28–29. 8 Vgl. die soeben erschienene, umfangreiche Untersuchung: T. Kapperer, Leidenschaft und Fußball. Ein pastoral-theologisches Lernfeld, Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge 98, Würzburg 2017. Fernerhin u.a.: C. Gärtner, Fußball – (k)ein Spiel für die Götter. Die systematische Differenz von Religion und Sport, ZGP 30/3 (2012), 6–8; G. Gebauer, Fernseh- und Stadionfußball als religiöses Phänomen. Idole, Heilige und Ikonen am »Himmel« von Fangemeinden, in: M. Herzog (Hg.), Fußball als Kulturphänomen. Kunst – Kult – Kommerz, Irseer Dialoge 7, Stuttgart 2002, 305–314; K. Hansen, Gott ist rund und der Rasen heilig, RL. Zeitschrift für Religionsunterricht und Lebenskunde 1/2004, 3–8; Ch. Nebgen, »Den Fritz sein Wetter«. Religioide Elemente im Massenkulturphänomen Fußball, in: M. Delgado / H. Waldenfels (Hg.), Evangelium und Kultur. Festschrift für Michael Sievernich SJ, Studien zur Religions- und Kulturgeschichte 12, Fribourg / Stuttgart 2010, 473–483; J. von Soosten, Heilige Spiele – Fußball und Religion, Schönberger Hefte. Beiträge zur Religionspädagogik aus der EKHN Heft 2 (2006), 2–3. 9 O. Herlyn, Da ist »ein anderer im Spiele«. Fußball als Religion führt zur Selbstentfremdung, EvKomm 8/1998, 466. 10 P. Sloterdijk, »Wie ein Abendmahl – ohne Jesus und Judas«, Die Zeit Nr. 53, vom 21. Dezember 2016, http://www.zeit.de/2016/53/peter-sloterdijk-fussball-zynismus (Zugriff: 01.04.2017).

Fußballspielen – ein »Heidenspaß«?

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lisierte Form der Fortführung jener antiken Arenatradition von »panem et circenses«, »Brot und Spielen«,11 die einst der Satiriker Juvenal in der Zeit des Prinzipats kritisierte. Es ist wohl nicht zu leugnen, dass der kommerzialisierte Fußball mit mancherlei Problemen behaftet ist. Er stellt für viele weit mehr als nur ein Spiel und/oder die »schönste Nebensache der Welt« dar: »Allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen, die als bedenklich einzustufen sind, finden sich z.T. auch hier: z.B. Kommerzialisierung und Geldgier, unbarmherziger Leistungsdruck und Überforderung, Gewalt und Rassismus, Diskriminierung von homosexuellen und behinderten Menschen, Diskrepanzen zwischen reichen Industriestaaten und armen Entwicklungsländern, Fokussierung auf die Gewinner und Marginalisierung der Verlierer. Subjektiv gesehen ist der moderne Fußball für viele Menschen – auch im universitären, schulischen und kirchlichen Bereich – hingegen eine der größten Sachen der Welt.«12

Demnach müsste man wohl auch viele Christenmenschen als »Heiden im Herzen« und »Christen im Kopf« bezeichnen, um Lessings berühmtes Dictum einmal umzudrehen.13 Als jemand, der am Tag seines Dienstbeginns hier in Hannover nicht nur den Eid auf das Grundgesetz und die niedersächsische Landesverfassung ablegte, sondern auch dem Heimspiel zwischen Hannover 96 und dem VfL Wolfsburg, einem 2:0-Sieg für die »Alte Liebe«, beiwohnte, muss auch ich bekennen, dieser eigentümlichen »Community der in Kopf und Herz zerrissenen Schizophreniker« nicht ganz fern zu stehen. Das gilt im Übrigen auch für Harry Noormann, der sich selbst als einen »saisonalen – und das heißt zugleich untreuen und vagabundierenden Fußballfan« bezeichnet;14 d.h. immer wenn es spannend(er) wird, erwacht seine »geballte Leidenschaft«, sei es in EM- oder WM-Zeiten oder jetzt, wo die Eintracht aus Braunschweig (»Blau-Gelb«) auf dem 2. Platz steht und Aussicht hat, wieder eine Saison in der Bundesliga zu verbringen, wenn Stuttgart, Union Berlin und Hannover 96 dies zulassen. 11

Juvenal, Satiren 10,81. Ch. Lück, »Ich hoffe, dass man auch im Himmel Fußball spielen kann!« Kommunikation des Evangeliums im Umfeld des modernen Fußballs, in: M. Domsgen / B. Schröder (Hg.), Kommunikation des Evangeliums. Leitbegriff der Praktischen Theologie, APT 57, Leipzig 2014, (201–229) 204. Zur sportethischen Reflexion der im Zitat angesprochenen Probleme vgl. F.M. Brunn, Sportethik. Theologische Grundlegung und exemplarische Ausführung, TBT 169, Berlin / New York 2014, bes. 278–406. 13 Vgl. zum Dictum »im Herzen/Gemüt ein Christ, im Verstand eine Heide« mit Belegen: G. Ebeling, Wort und Glaube Bd. 3: Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie, Tübingen 1975, 72–74. Fernerhin: H. Thielicke, Glauben und Denken in der Neuzeit. Die großen Systeme der Theologie und Religionsphilosophie, Tübingen 1983, 123. 14 Zum »Fan-Phänomen« vgl. J. Schmidt, Der Fan. Anmerkungen zum Phänomen des »Göttinger Single-Fan«, in: Ch. Bizer u.a. (Hg.), Theologisches geschenkt. FS für Manfred Josuttis, Bovenden 1996, 432–441. 12

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Cristo y Cristiano

Was die wenigsten wissen dürften: Harry Noormann war selbst in jungen Jahren ein aktiver Fußballer und fungierte während seiner Schulzeit in den USA als ein Botschafter, ein »young ambassador«, in Sachen »soccer«. Allerdings mit mäßigem Erfolg. So versuchte er, den Amerikanern mit ihrer sehr beschränkten Ahnung die praktische Umsetzung des fußballerischen Regelwerks, insbesondere die Abseitsstellung, beizubringen, was freilich scheitern musste. Nichtsdestotrotz gilt: Noch bevor Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Jürgen Klinsmann, Bastian Schweinsteiger und andere in die USA gingen, war der »Pionier Noormann« bereits da und hatte den Amerikanern als »Star auf Linksaußen« gezeigt, wie man sich trotz geringer Körperstatur als »bissiger Terrier« und »Wadenbeißer« beim »soccer« bewähren kann. Ob Harry Noormann in den USA jemals zum »Fußballgott« avancierte, wissen wir nicht. Die Rede von den Fußballgöttern bildet ja ohnehin nur die Spitze eines Eisbergs. Weit weniger vordergründig,15 sondern durchaus hintergründig sind die Parallelen zwischen Fußball und Religion, was immer Religion auch heißen mag.16 Dies wird evident, wenn man sich etwa verhaltenswissenschaftlich die Rituale im Fußballstadion anschaut und sie mit denen des Gottesdienstes vergleicht17 oder gleichsam mit erweiterter Suchfunktion religionsphänomenologisch nach Erscheinungsformen des Kultischen fragt und entsprechende Handlungsmuster wiedererkennt. Phänomene wie Gebet und Ekstase, Schuldbekenntnis und Erhebung, Wallfahrt und Rausch, chorische Gesänge usw. sind im Fußballstadium »en masse« anzutreffen. Der Verdacht, dass Fußball zu einer Art Quasi- oder Ersatzreligion avanciert ist, drängt sich auf. Auch dies ist keineswegs neu. Nicht erst seit gestern wissen wir um den inneren Charakter des Rituals, der mit Sinn- und Identitätsstiftung, Kontingenzbewältigung und Gemeinschaftserlebnis zu tun hat. Der Soziologe Norbert Elias hat darauf hingewiesen, dass das Fußballspiel mit dem aristotelischen Drama zu vergleichen ist. Wie im Schauspiel so wird im Fußball als Nachahmung, als Mimesis das Drama des Lebens in Freud und Schmerz, Sieg und Niederlage erlebt. Wie das Drama so bildet der Fußball demnach die Wirklichkeit ab und läutert den Zuschauer durch Reinigung (Katharsis bei Aristoteles), indem man sich am Ende der reinen Nachahmung (Mimesis)

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Zu den vordergründigen Berührungspunkten zwischen Sport und Religion vgl. G. Kretzschmar, Religion und Sport. Eine praktisch-theologische Verhältnisbestimmung, DtPfrBl 6 (2010), 1–7. 16 Vgl. zu den Definitionsschwierigkeiten M. Hofheinz, Wider die Nostrifikation Gottes. Religionskritik als bleibend wichtige theologische Aufgabe, in: ders. / Th. Paprotny (Hg.), Religionskritik interdisziplinär. Multiperspektivische Annäherung an eine bleibend wichtige Thematik, Leipzig 2015, 15–42. 17 Vgl. D. Kehlbreier, Ein Tor zum Leben?, in: Stadt Frankfurt a.M. / S. Bauer (Hg.), Helden – Heilige – Himmelsstürmer. Fußball und Religion, Frankfurt a.M. 2006, 124–130; R. Mokrosch, Fußball- und Gottesdienstritual. Zufällige oder konstitutive Analogien?, in: P. Stolt u.a. (Hg.), Kulte – Kulturen – Gottesdienste. Öffentliche Inszenierung des Lebens, Göttingen 1996, 63–69.

Fußballspielen – ein »Heidenspaß«?

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bewusst wird.18 Auch hier kann sich recht nahtlos eine religionskritische Perspektive anschließen, die im Fußball die Projektionsfläche für das eigene Leben, mit Marx gesprochen gleichsam das »Opium des Volkes«19, sieht. Das gilt auch für die Erwartungshaltung von »echter«, unentfremdeter Weltbeziehung an den Fußball.20 Im Folgenden möchte ich auf dem phänomenalen Weg weiter voranschreiten und die eher hintergründigen und gerade darum umso verblüffenderen Parallelen zwischen Fußball und Religion zu erhellen versuchen. Ich danke für die sportwissenschaftliche Inspiration bei diesem Unternehmen meinem – nach eigener Aussage – »religiös nicht unmusikalischen«21 Kollegen Alfred O. Effenberg vom Institut für Sportwissenschaft der Leibniz Universität Hannover. Ich verfolge dieses Unternehmen als »sportlich nicht ganz unmusikalischer« Theologe, der die christliche Rede von Gott ins Spiel bringen möchte. Dies soll im Folgenden freilich eher indirekt geschehen, da es nun einmal säkularisierte, profane Narrative sind, die auf der Straße oder besser gesagt: auf dem (Fußball)Platz liegen. »Der Mensch hat« – mit Dietrich Bonhoeffer gesprochen – »gelernt, sich mit allen wichtigen Lebensfragen ohne die Arbeitshypothese: ›Gott‹ auseinander zu setzen […]. [I]m allgemeinen menschlichen Bereich [wird] Gott« – so die Diagnose Bonhoeffers – »immer weiter aus dem Leben zurückgedrängt, er verliert an Boden.«22 Auch wenn dies zutreffen sollte, so scheint die Rede von ihm doch nicht ganz verschwunden zu sein. Man kann jedenfalls fragen, ob sich gewisse Relikte, gleichsam kulturelle 18

N. Elias, Der Fußballsport im Prozeß der Zivilisation, in: R. Lindner (Hg.), Der Satz »Der Ball ist rund« hat eine gewisse philosophische Tiefe, Berlin 1983, (12–21) 12f. 19 K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: ders., Frühe Schriften I, hg. von H.-J. Lieber / P. Furth, Stuttgart 1962, (488–505) 488: »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.« Siehe auch F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), in: K. Marx / F. Engels, Über Religion, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1958, 31. 20 Vgl. H. Rosas (Resonanz, 316) Definition von »Entfremdung«: »Entfremdung bezeichnet eine spezifische Form der Weltbeziehung, in der Subjekt und Welt einander indifferent oder feindlich (repulsiv) und mithin innerlich unverbunden gegenüberstehen. Daher kann Entfremdung auch als Beziehung der Beziehungslosigkeit (Rahel Jaeggi) bestimmt werden. Entfremdung definiert damit einen Zustand, in dem die ›Weltanverwandlung‹ misslingt, so dass die Welt stets kalt, starr, abweisend und nichtresponsiv erscheint.« Hervorhebung im Original. 21 Vgl. zu dieser von J. Habermas (Glaube und Wissen. Die Rede des diesjährigen Friedenspreisträgers des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, FAZ Nr. 239/2001, vom 15.10.2001, 9; ders., Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: ders. / J. Ratzinger [Hg.], Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Bonn 2005, 15–37, 35) im Anschluss an Max Weber popularisierten Metapher E. Thaidigsmann, Religiös unmusikalisch. Aspekte einer hermeneutischen Problematik, ZThK 108 (2011), 490–509. 22 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von E. Bethge, München 141990, 170. Zur Rede von der »mündigen Welt« vgl. auch E. Busch, Die grosse Leidenschaft. Einführung in die Theologie Karl Barths, Darmstadt 22001, 264–267.

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Cristo y Cristiano

Restbestände23 bei genauem Hinsehen nicht doch finden lassen – gleichsam subkutan auf dem Fußballplatz. Solche Bestände wären dann ans Tageslicht zu befördern, nicht um sie kulturprotestantisch zu vereinnahmen, sondern kritisch-theologisch zu beurteilen. Und genau dies will ich im Folgenden versuchen, wenn ich zunächst gewissermaßen »archäologisch« einen Narrativ ans Tageslicht zu befördern versuche, der sich beim näheren Hinsehen – dogmatisch gesprochen – als »christologisch« entpuppt.

2. Christus und Adonis. Die Karriere des »Fußballgottes« Cristiano Ronaldo

Abbildung 824: Christus / Cristiano (Fotomontage) Ich möchte ein Narrativ aufgreifen, das auf Ebene der Oberflächensemantik recht bekannt sein dürfte. Es handelt von den beiden wohl berühmtesten Repräsentanten aus der Welt von Fußball und Religion, Cristiano Ronaldo einerseits und Jesus Christus andererseits. Es geht also, wenn man so will, um ein »christologisch-cristianologisches« Narrativ. Wir schauen dabei weniger auf den persönlichen Glauben Ronaldos als vielmehr auf die »theo-logische« Struktur des Narrativs vom Gottmenschen Ronaldo.25 Über seinen persönlichen Glauben ist auch wenig bekannt und dies wenige ist schnell erzählt: Cristiano Ronaldo gehört der römisch-katholischen Kirche an. Gerne verweist er auf seine Sammlung von auf23

Vgl. J. von Soosten, Kraftfelder des Begehrens. Religiosität – Arenakult – Religion, in: P. Noss (Hg.), fußball ver-rückt: Gefühl, Vernunft und Religion im Fußball. Annäherungen an eine besondere Welt, Religion & Sozialkultur 15, Münster 2004, (21–34) 29. 24 R. Mccrindle, There is now a Cristiano Ronaldo-based religion, http://www.clickon. co/35762/cristiano-ronaldo-euro-2016-religion/ (Zugriff: 16.10.2017). 25 Zum persönlichen Glauben von Fußballstars vgl. A. Luz, Fußballgötter und ihre Philosophien. Mit einem Vorwort von Klinsmann, Stuttgart 2011.

Christus und Adonis

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fälligen Ketten mit Kruzifix-Anhängern: »I collect crucifix necklaces – it’s because of my relationship with God. I always had a gift. I was shown the skills and I am a fantastic footballer but I do believe God gave me the gift.«26 Ronaldo bezeichnet sich selbst als durchaus religiös, schränkt aber im Vergleich zu seinem missionierenden brasilianischen Kollegen Kaká ein: »I am religious, in my own way, but not as much as Kaká for example.«27 Seinen Sohn namens Cristiano Junior, dessen Mutter unbekannt ist und für den Ronaldo das alleinige Sorgerecht besitzt, ließ er römisch-katholisch taufen. Doch Religiosität gehört nicht zu den Domänen, für die Ronaldo eigentlich bekannt ist. Nach dem seinerzeit teuersten Transfer der Fußballgeschichte steht der Portugiese seit Sommer 2009 bei Real Madrid unter Vertrag und ist seit 2015 Rekordtorschütze der »Königlichen«. Nach seinem Transfer zu Real Madrid erzielte er bisher in über dreihundert Einsätzen durchschnittlich mehr als ein Tor pro Spiel, eine von Spielern einer europäischen Topliga im 21. Jahrhundert unerreichte Quote. Drei Champions-League-Titel errang Ronaldo bislang, 2008 mit Manchester United und 2014 sowie 2016 mit den Madrilenen. Mehrfach wurde er zum Weltfußballer gekrönt. Ronaldo ist Kapitän, Rekordspieler und Rekordtorschütze der portugiesischen Nationalmannschaft, mit der er die Europameisterschaft 2016 gewann. Doch das sind nur die rohen und recht summarischen Informationen zu einer erstaunlichen und bewegenden Fußballerkarriere. Cristiano Ronaldo ist weitaus mehr als ein beliebiger »Kicker«. Angesprochen auf einen Vergleich zwischen den Rivalen Messi und Ronaldo, den ewigen Duellanten,28 bemerkte Ronaldos ehemaliger Trainer José Mourinho: »Wenn Messi der beste Spieler des Planeten ist, dann ist Ronaldo der beste des Universums.«29 Mit seinen spektakulären Übersteigern, seinen verblüffenden Flip-Flap-Tricks, seinen gefürchteten Freistößen, einer sagenhaften Schusstechnik, schwindelerregenden Dribblings, einer enormen Sprungkraft und Kopfballstärke sowie einer unglaublichen Schnelligkeit ist Ronaldo legendär geworden. »Cristiano Ronaldo – Der neue Fußballgott«, so lautete bereits der Titel der ersten Biographie, die über Ronaldo erschien.30 Doch auch außerhalb des Rasens scheint Ronaldo eine Lichtgestalt, ein Liebling der Götter zu sein. Cristiano Ronaldo ist nicht nur Fußballer, sondern auch eine Werbe-Ikone. Insbesondere an der Seite schöner Frauen, die es in seinem Leben der Boulevardpresse nach reichlich gab, macht er mit seinem muskelgestählten Körper eine extrem gute Figur: »Seine Kampagne für Armani 2010/11 festigt[e] […] endgültig seinen Ruf als Model. Wie schon bei Man United löst Cristiano auch hier David Beckham ab, der seit 2007 ge26

T. Kershaw, The religion and political views of Cristiano Ronaldo, http://hollowverse. com/cristiano-ronaldo/ (Zugriff: 01.04.2017). 27 Ebd. 28 Vgl. L. Caioli, Ronaldo. Die Geschichte eines Besessenen, Göttingen 52015, 201–217. 29 I. Spragg, Christiano Ronaldo. Das große Fanbuch, Göttingen 2016, 52. 30 M. Alexander, Cristiano Ronaldo – Der neue Fußballgott, Rostock 2009.

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Cristo y Cristiano meinsam mit seiner Frau Victoria das Gesicht der Unterwäschelinie ›Emporio Armani Underwear‹ gewesen ist. Eine männliche Sex-Ikone ist geboren, die wie die Idealverkörperung eines antiken griechischen Helden wirkt«31

– so schreibt Ronaldos Biograph Luca Caioli. Markenzeichen ist gewissermaßen auch die machistische Attitüde mit der er – in der Werbung wie vor Freistößen –, breitbeinig stehend, die Hände in die Seite stemmt und dabei mit den Fingern auf sein Geschlechtsteil zeigt. Der Bezug etwa zur mythologischen Gestalt des Adonis,32 des Sinnbildes und des Gottes der Schönheit, ist dabei durchaus nahliegend. Er wird als wunderschöner Jüngling beschrieben und ist der Geliebte der Aphrodite bzw. ihrer römischen Entsprechung, der Göttin Venus. Denkt man an das Endspiel bei der letzten Europameisterschaft in Frankreich, als Ronaldo nach einem nicht geahndeten Foul von Dimitri Payet in der 8. Minute verletzt auf dem Rasen liegen blieb und ausgewechselt werden musste, so drängt sich der Vergleich mit dem Schicksal des Adonis durchaus auf. Adonis wurde von einem wütenden Eber niedergemäht und getötet, in den sich der eifersüchtige Ares bzw. (wiederum in römischer Entsprechung) Mars verwandelt hatte. Doch in der Regel wird nicht Adonis, sondern Jesus Christus als religiöse Spiegelfigur für Ronaldo herangezogen. Auch wirtschaftlich ist Ronaldo jedenfalls äußerst erfolgreich: »Ronaldo betreibt ein umfassendes Selbstmarketing und Personal Branding. Was 2006 als Modelabel ›CR7‹ – ein Numeronym, das sich aus seinen Initialen und seiner Rückennummer zusammensetzt – mit familiärer Anbindung begann, baute er zu einer in der EU eingetragenen Unionsmarke aus. Mit dieser verfolgt er eine Hochpreisstrategie, positioniert sie im oberen Luxus-Marktsegment und verleiht ihr gleichzeitig mit ›100% made in Portugal‹ auch eine nationale Verbindung zum Heimatland. Neben seiner Modelinie und Parfümserie investierte Ronaldo Ende 2015 im Rahmen eines Joint Ventures mit der portugiesischen Hotelkette Pestana rund 37 Millionen Euro in den Bau von vier Hotels an den Standorten Funchal, Lissabon, Madrid und New York.«33

31

Caioli, Ronaldo, 175. Vgl. J. Weiser, Art. Adonis, in: M. Moog-Grünewald (Hg.), Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart, Der Neue Pauly. Supplemente Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2008, 15–26. Zur Mythenrezeption im Fußball vgl. auch T.J. Kraus / T. Nicklas, Der Titan. Wie Fußballer zu Götter und wieder zu Menschen werden, in: A. Merkt (Hg.), Fußballgott. Elf Einwürfe, Köln 2006, 200–218. 33 Wikipedia, Cristiano Ronaldo, https://de.wikipedia.org/wiki/Cristiano_Ronaldo (Zugriff: 03.04.2017). 32

Die Vita Cristianos

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3. Die Vita Cristianos. Oder: Der Mann aus Nazareth und der Fußballer aus Madeira. Eine narrative Verschränkung von Christologie und Fußballerbiographie All dies scheint jedoch zunächst einmal recht wenig mit Jesus, dem Mann aus Nazareth, zu tun zu haben. Der Mythos »Vom Tellerwäscher zum Millionär« könnte hier vielmehr das eigentliche Narrativ bilden. Doch hinter dem Namen Ronaldo verbirgt sich nicht nur eine fußballerische Bilderbuchkarriere. Seine Geschichte begann keineswegs im legendären Bernabéu-Stadium von Madrid, sondern eher in Bethlehem, genauer gesagt: auf der Insel Madeira in ärmsten Verhältnissen. Dort wurde Cristiano Ronaldo dos Santos Aveiro als jüngstes von vier Kindern am 5. Februar 1985 in Santo António nahe Funchal, der Hauptstadt der Insel Madeira, geboren und auf den Namen Cristiano Ronaldo getauft. Der Vater, ein Gärtner und Fußball-Platzwart, der sich zu Tode trank und früh an den Folgen seines Alkoholismus, einer Leberzirrhose, verstarb, bestand darauf, den Jungen nach seinen Lieblings-Politiker, dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, zu benennen. Der Vater bewunderte Reagan wegen seines »Schauspieler-Talents«, einer Fähigkeit, die später auch seinem Sohn als fußballerisch recht zweifelhaftes Lob zugesprochen werden sollte. Bei seinem verletzungsbedingten Ausscheiden im Endspiel der EM 2016 wurde ihm etwa Schauspielerei unterstellt. Die Mutter, Maria Dolores, eine Putzfrau, beharrte indes darauf, ihren Sohn auf den Namen Cristiano taufen zu lassen. »El Cristiano«, das heißt im Spanischen »ein Christ«. Und auch der Name »Maria Dolores« scheint kein Zufall zu sein: »[W]er könnte besser für den göttlichen Nachwuchs sorgen als die Schmerzensmutter persönlich?«34 Der Stall von Bethlehem mit Ochs und Esel,35 in den der kleine Cristiano hi­ neingeboren wurde, war eine schäbige Wohnung fernab der Luxushotel-Industrie an der Küste Madeiras, eine Wohnung, die undicht und so klein war, dass man die Waschmaschine auf das Dach stellen musste.36 Der junge Cristiano wuchs als Straßenfußballer auf. Wie der zwölfjährige Jesus in den Tempel ging und »in dem sein muß, was seines Vaters ist« (Lk 2,49), so zog es den zwölfjährigen Cristiano in die Jugendakademie, das Jungeninternat von Sporting Lissabon. Das dreitägige Probetraining entsprach gleichsam den drei Tagen, die Jesus im Tempel mitten unter den Lehrern verbrachte, »die sich über seinen Verstand und seine Antwor-

34

Ch. Cöln, Göttlicher Fussballer. Ronaldo soll »genau wie Jesus Christus« gelitten haben, https://www.welt.de/sport/fussball/article157013929/Ronaldo-soll-genau-wie-Jesus-Christus-gelitten-haben.html (Zugriff: 01.04.2017). 35 Zur Geburtsgeschichte Jesu vgl. N. Neumann, Lukas und Menippos. Hoheit und Niedrigkeit in Lk 1,1–2,40 und in der menippeischen Literatur, NTOA 68, Göttingen 2008, 171– 186. 36 Vgl. Alexander, Cristiano Ronaldo, 8; Caioli, Ronaldo, 18.

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ten wunderten« (Lk 2,47).37 Die Steigerung des Wunderhaften in der Kindheit Jesu findet sich in apokryphen Texten der (nach-)neutestamentlichen Zeit, die aber – anders als die Evangelien – nicht kanonisch geworden sind. Auch der junge Cristiano muss jedenfalls mit seiner One-Man-Show einen nachhaltigen Eindruck bei den Trainern von Sporting Lissabon gemacht haben. Der Direktor des Internats erinnert sich: »Er war talentiert, er konnte beidfüßig spielen, er war unglaublich schnell, und wenn er spielte, dann wirkte der Ball wie eine Erweiterung seines Körpers […]. Aber was mich mehr beeindruckt hat, war seine Entschlossenheit. Seine Charakterstärke schimmerte durch. Er war beherzt – mental war er unverwüstlich. Und er war furchtlos und ließ sich von älteren Spielern nicht beeindrucken. Er hatte diese Art von Führungsqualität, wie sie nur die größten Spieler haben. Einzigartig. Als sie zurück in die Umkleide gingen, schrien die ganzen anderen Jungen wie wild, um sich mit ihm zu unterhalten und ihn kennenzulernen. Er hatte alles, und es war klar, dass er nur noch besser werden konnte.«38

Doch es gab auch Rückschläge und »Versuchungen« – ein angeborener Herzfehler Ronaldos etwa,39 der seine Fußballerkarriere in Frage stellte und operiert werden musste, oder eine Leidenszeit des Heimwehs in der »Wüste« des Sportinternats fernab der Heimat. Sie ließ den Jungen die Rückkehr zu den Eltern und einen Verzicht auf die Fußballerkarriere erwägen. Aber Ronaldo »widerstand«, wurde besser und besser und stellte als Jungstar bald sogar den berühmten Luís Figo, einen begnadeten Techniker und Rasenstrategen, in der portugiesischen Nationalmannschaft in den Schatten. Mit Figo wurde er 2004 gemeinsam Vize-Europameister und 2006 WM-Vierter. Figo repräsentiert vom Typus gewissermaßen Johannes den Täufer, der Jesus vorausging, aber noch eine geraume Zeit mit ihm zusammen wirkte: »Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der deinen Weg vor dir bereiten soll« (Mal 3,1 nach Lk 7,27; vgl. Mt 11,10; Mk 1,2). Doch Ronaldo machte sich nicht nur Freunde und »Jünger«. Und er vollbrachte auch nicht nur viele fußballerische »Wunder«, wartete nicht nur mit spektakulären Heilungen von schmachvollen Niederlagen auf, trieb nicht nur die Dämonen vereinsgeschichtlicher und nationaler Traumata aus. Ronaldo polarisierte auch, wie vor ihm kaum ein anderer Fußballer. Das gilt gewissermaßen auch für Jesus, dessen Tischgemeinschaft mit »Zöllnern und Sündern« Anstoß erregte40 und ihm

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Vgl. N. Krückemeier, Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Lk 2,40–52) und die biografische Literatur der hellenistischen Antike, NTS 50 (2004), 307–319. 38 Caioli, Ronaldo, 25. 39 Vgl. a.a.O., 30. 40 Vgl. O. Hofius, Jesu Tischgemeinschaft mit den Sündern, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, 19–37.

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selbst schließlich den Vorwurf des »Fressers und Weinsäufers« (Mt 11,19; Lk 7,34; vgl. Mt 9,11; Lk 15,2) eintrug.41 Auch Ronaldo ist nicht »everybody’s darling«: »Es gibt wohl kaum einen Fußballer, an dem sich die Geister so sehr scheiden wie an Cristiano Ronaldo. Wie vor ihm David Beckham polarisierte Ronaldo die Fußballfans. Mal ist er in Tränen aufgelöst wie ein Kind, mal zeigt sich ein hochnäsiges Grinsen in seinem jungenhaften Gesicht. Einige beschimpfen ihn als neureichen Schönling aus ärmlichen Verhältnissen, als einen ›Spiegelaffen‹. Er sei der beste Poser der Welt. Für einige Fans kann er niemals der beste Spieler sein, weil er kein Teamplayer ist. Er möchte am liebsten alles selber machen, damit er noch mehr Geld bekommt, lautet ein Vorwurf. Von Kritikern wird Cristiano Ronaldo auch schon mal als Zirkuspferdchen bezeichnet (sein Klubkollege Ryan Giggs [sc. bei Manchester United; M.H.] sagte dies), das schöne Kunststücke zeigt, aber nie vorwärts kommt, weil es sich ja immer nur im Kreis dreht. Das lässt auch seine Sturmkollegen verzweifeln, die oft vergebens auf den entscheidenden Pass vom Flügelflitzer warten. Manchmal scheint Ronaldo über den Ballzauber auch selber das Tore schießen zu vergessen, er schindet Fouls und vergibt fahrlässig Elfmeter, wie im Finale der Champions League [sc. 2008 zwischen Chelsea und Manchester United; M.H.]. Solche Aktionen sind Wasser auf die Mühlen derjenigen, die in Ronaldo den schnöseligen Schönspieler sehen, der die Genugtuung eines gelungenen Dribblings über den Mannschaftserfolg stellt.«42

4. Die Nacht von Saint-Denis und der Philipperhymnus. Das narrative Schema der Zweiständelehre als Beitrag zur sinnstiftenden Erzählung vom verletzungsbedingten Ausscheiden Ronaldos Ein fußballerisches Drama sui generis spielte sich im EM-Finale zwischen Portugal und Frankreich ab. Und hier prägte sich ein spezifisches »christologisch-cristianologisches« Narrativ aus, d.h. der Versuch, dem verletzungsbedingten Ausscheiden Ronaldos erzählend einen Sinn abzugewinnen. Denn genau dies generieren Narrative: Sinn. Narrative sind ihrem Wesen nach sinnstiftende Erzählungen.43 Sinnbildung vollzieht sich, anders gesagt, als narrative Konstruktion. Deuten heißt erzählen. Das gilt auch für die folgende Erzählung, die einem bestimmten theologischen Schema folgt. Dabei wird sofort zu konzedieren sein, dass sich medial nur 41

Vgl. J. Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes. Ein Beitrag zur messianischen Ekkle­siologie, München 21989, 135f. 42 Alexander, Cristiano Ronaldo, 7f. 43 Vgl. dazu R. Zimmermann, »Deuten« heißt erzählen und übertragen. Narrativität und Metaphorik als zentrale Sprachformen historischer Sinnbildung zum Tod Jesu, in: J. Frey / J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, UTB 2953, Tübingen 2007, (315–373) 325.

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Fragmente dieses Narrativs finden lassen und zwar in Gestalt von Anspielungen, Relikten und Residuen, die oft auch amalgamiert in Säkularisaten erscheinen. Etwa auf entsprechende im Netz veröffentlichte Fotomontagen – wie sie hier lediglich höchst exemplarisch abgebildet werden – ist zu verweisen. Ein nahezu vollständiger Narrativ, wie er hier indes nicht rekonstruiert, sondern eher assoziativ entwickelt wird,44 findet sich auf keiner Internetseite, in keinem Zeitungsartikel – weder online noch offline. Dennoch wird er »konstruiert«: Ronaldo hatte bereits fraglos eine bemerkenswerte EM hingelegt, erzielte selbst drei Tore und gab die meisten Torschüsse im Turnier ab. Er kam in komischen Strumpfhosen zum Spiel, verweigerte den Isländern den Trikot-Tausch, schleuderte Mikrofone der Journalisten ins Wasser wie Jesus bei der »Tempelreinigung« die Händler vertrieb (vgl. Mk 11,15–18 par). Andererseits posierte Ronaldo brav mit jedem Flitzer, der ihm über den Weg lief.45 Unmittelbar vor dem Finale von Saint-Denis hatte der 31-Jährige verkündet: »Es würde mir so viel bedeuten, endlich etwas mit Portugal zu gewinnen. […] Ich habe ansonsten alles gewonnen. Ganz Portugal glaubt daran. Und ich glaube auch daran, dass Portugal am Sonntag zum ersten Mal einen wichtigen Titel gewinnt.«46

Abbildung 947: Cristiano Ronaldo wird vom Feld getragen

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Vgl. z.B. Cöln, Göttlicher Fussballer; Kronen Zeitung, Heiligenverehrung. Jetzt wird’s skurril. »Ronaldo wie Jesus Christus«, http://www.krone.at/uefa-euro/jetzt-wirds-skurril-ronaldo-wie-jesus-christus-heiligenverehrung-story-519850 (Zugriff: 01.04.2017); Focus Online, Cristiano Ronaldo. Nach EM-Finale: Ronaldo-Schwester zieht wirren Vergleich, http://www. focus.de/sport/videos/genau-wie-jesus-christus-gelitten-nach-auswechslung-im-em-finale-ronaldo-schwester-zieht-wirren-vergleich_id_5729476.html (Zugriff: 01.04.2017). 45 Vgl. WeltN24, Frankreich – Portugal. Starke Geste: Ronaldo lädt Witwe von Fußballer zum EM-Finale ein, https://www.welt.de/sport/fussball/em-2016/article156922623/Ronaldo-laedt-Witwe-von-Fussballer-zum-EM-Finale-ein.html (Zugriff: 01.04.2017). 46 n-tv.de, Tränen des Schmerzes, Tränen der Freude. Ronaldo erlebt EM-Finaldrama mit Happy-End, http://www.n-tv.de/sport/fussball-em/Ronaldo-erlebt-EM-Finaldrama-mit-Happy-End-article18165676.html (Zugriff: 01.04.2017). 47 EM-Finale am 10.07.2016 (Foto: Picture Alliance).

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Doch bereits in der 8. Minute des Endspiels schien sein Traum ausgeträumt zu sein, Ronaldo wurde – wie bereits erwähnt – vom Franzosen Dimitri Payet gefoult: »Ronaldo schrie laut und – musste ausgewechselt werden« (vgl. Mk 15,37) und zwar nach einer rüden Attacke, für die der englische Schiedsrichter Marc Clattenburg nicht einmal Foul gab. Was für ein bitteres Ausscheiden! Welche Tragik! Zwar versuchte Ronaldo noch weiterzuspielen, es ging aber nicht mehr. In der 25. Minute musste Ronaldo dann endgültig aufgeben und konnte das Feld nicht einmal mehr auf eigenen Beinen verlassen. Der Portugiese legte Teamkollege Nani unter Tränen die Kapitänsbinde um. Man trug ihn mit einer Trage vom Feld. Der portugiesische Anführer wurde zu allem Überfluss auch noch ausgepfiffen von den Zuschauern in Paris, wie Jesus am Kreuz verspottet wurde: »Er hat anderen geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes« (Lk 23,35; vgl. Mk 15,32).

Abbildung 1048: Der leidende Christus / Cristiano

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M. Grünewald, Detail des Kreuzigungsbildes, https://de.wikipedia.org/wiki/Isenheimer_Altar#/media/File:Mathis_Gothart_Gr%C3%BCnewald_023.jpg (Zugriff: 20.10.2017); EM-Finale am 10.07.2017 (Foto: Picture Alliance).

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Nun wurde es endgültig emotional, ja geradezu kitschig in den Augen der Happy-End-Verächter. Die eben noch pfeifenden Zuschauer erhoben sich. Auch Frankreichs Trainer Didier Deschamps versuchte Ronaldo aufzumuntern. Das ganze Stadion applaudierte dem Mann, der unter Weinkrämpfen vom Platz gebracht wurde: »Wahrlich, dieser Mensch wäre ein würdiger Europameister gewesen!« (vgl. Mk 15,39). Doch nun kam die Wende – eine regelrechte Auferstehung. Sein persönlicher Traum schien ausgeträumt und doch lebte er ihn mit seinen Teamkollegen weiter. Wie sein Mannschaftskamerad Cédric Soares verriet, muss der 31-Jährige in der Halbzeit eine »unglaubliche« Ansprache gehalten und seine Teamkollegen noch einmal nach vorne gepeitscht haben. Vom Spielfeldrand aus dirigierte und gestikulierte Ronaldo und fightete so auf seine Weise – gegen die drohende Niederlage und die Verlängerung des portugiesischen Traumas vom erfolglosen Finalisten. Als es beim Stand von 0:0 in die Verlängerung ging, fungierte Ronaldo als der große Motivator der portugiesischen Mannschaft, der seinen Kollegen neuen Mut zusprach. Und so hatte Portugals Starstürmer am Ende doch noch seinen Anteil am 1:0-Erfolg nach Verlängerung und dem portugiesischen Titelgewinn.

Abbildung 1149: Titelgewinn oder »Es ist vollbracht«. Spätestens hier merken wir, dass dieses Narrativ nicht nur das Potential zu einem Gleichnis hat, sondern Gleichnis ist: Ronaldos »Sein für die anderen« gleicht hier dem von Jesus geforderten: »Wer groß sein will, sei der Diener aller« (Mk 10,43). So schärfte es Jesus seinen Jüngern ein. Ronaldo zeigte wahre Größe, indem er sich nach seinem tragischen Ausscheiden ganz in den Dienst der Mannschaft stellte. Darin erwies er sich als der wahre Champion, der sich nicht zu schade ist, auch nach seinem Ausscheiden seinen Mitspielern zu helfen, wo er nur kann. Hier wird die Analogie zu Christus ein weiteres Mal höchst augenfällig. Im Philipper­ hymnus, einem Paulus bereits vorgegebenen Psalm aus dem judenchristlichen 49

EM-Finale am 10.07.2016 (Foto: Picture Alliance).

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Hellenismus, den Paulus, im römischen Gefängnis sitzend, der Gemeinde in Philippi zitiert, heißt es: I. Strophe 6a b 7a b 7c d 8a b c

Er, der in Gottesgestalt war, hielt nicht fest wie einen Raub das Gottgleichsein, sondern er machte sich selbst arm, Knechtsgestalt annehmend. Den Menschen gleich werdend und der Erscheinung nach erfunden als ein Mensch, erniedrigte er sich selbst, sich gehorsam erzeigend bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz.

II. Strophe 9a Darum auch hat Gott ihn zur höchsten Höhe erhoben b und ihm geschenkt den Namen über allen Namen, 10a damit unter Anrufung des Namens Jesu b jedes Knie sich beuge der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen 11a und jede Zunge lobpreisend bekenne: b »Herr ist Jesus Christus!« c - zur Ehre Gottes, des Vaters.50

In diesem Hymnus werden gewissermaßen zwei aufeinander folgende Akte eines Dramas beschrieben: In einem ersten Akt, der Eingangsstrophe (Phil 2,6–8), gilt dies für den Weg der Selbsterniedrigung, der durchgehalten wird bis zum Tod am Kreuz,51 und im zweiten Akt bzw. der zweiten Strophe (Phil 2,9–11) für den Weg der Erhöhung zum κύριος, dem die Menschen und Völker (im Verein mit den Engeln und Toten) huldigen, analog zur Siegerehrung in Saint-Denis, als Ronaldo den Pokal in den Nachthimmel stemmte. Erniedrigung und Erhöhung gehören im Hymnus zusammen, sie fallen gewissenmaßen ineinander – so wie Ronaldos Verletzung und tragisches Ausscheiden im Finale und seine Erhöhung, die in der Siegerehrung als universaler Akklamation ihren Höhepunkt fand. Im Philipper­ hymnus ist der Weg »der Ohnmacht und Schmach des Kreuzes paradoxerweise der Weg, auf dem Gott seine universale Königsherrschaft durchsetzt und so sei-

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Übersetzung und Strukturierung des Hymnus nach O. Hofius, Der Christushymnus Philipper 2,6–11. Untersuchungen zu Gestalt und Aussage eines urchristlichen Psalms, WUNT 17, Tübingen 21991, 137. 51 Hofius (a.a.O., 15) spricht vom »Weg des Menschgewordenen als Weg an das Kreuz«. Hervorhebung im Original. Hofius (a.a.O., 17) gelangt zu der Konsequenz: »[…] so kann die Behauptung, daß im vorpaulinischen Hymnus die Inkarnation als das eigentliche Heilsereignis verstanden und der Tod Jesu lediglich als deren unvermeidliche Konsequenz begriffen sei, nicht länger als glaubhaft erscheinen.«

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ner ganzen Schöpfung gegenüber zu seiner Ehre und seinem Recht kommt«.52 Als der Gekreuzigte wird Jesus vom Vater zum κύριος, zum – wenn man so will – »Champion« erhoben.53 Diese Erhöhung Jesu, des Sich-selbst-Erniedrigenden, des Sklave-Gewordenen bildet im Hymnus den entscheidenden Heilsakt. Im Kreuz ereignet sich gleichsam die Peripetie, in der Koinzidenz von Erhöhung und Erniedrigung. Der Kreuzestod erscheint »nicht als die Konsequenz der Inkarnation, sondern als ihr Ziel.«54 In der altprotestantischen Orthodoxie des 17. Jahrhunderts hat man nach der Reformation auf der biblischen Basis von Phil 2,6–11 die Lehre vom zweifachen Stand Christi (duplex status domini) entwickelt.55 Erniedrigung und Erhöhung bilden demnach die beiden Stände im Sinne von Zuständen, die Christus seit seiner Menschwerdung durchlebt hat. Der Stand der Erniedrigung oder Entäußerung (status exinanitionis) umfasst als Integral die Ereignisse der Empfängnis bis zur vermeintlich letzten Ruhe im Grab, also Geburt, Leben und Leiden; der Stand der Erhöhung (status exaltationis) hingegen Auferstehung, Himmelfahrt und das Sitzen zur Rechten Gottes zur Ausübung der Gnadenherrschaft.56 Der »geschichtliche Weg des Gottmenschen«57 wird so zur Sprache gebracht. Wenn man so will, kehrt das Schema der Zweiständelehre in säkularer Gestalt im Narrativ von der Erniedrigungs- und Erhöhungserfahrung Ronaldos wieder.58 52

A.a.O., 66. Hofius (a.a.O., 27f.; 109f.) hat exegetisch anhand von KoptPhilEv 54,5ff., ActThom 27 sowie MidrPs 9 § 6 nachgewiesen, dass der »Name über allen Namen« (Phil 2,9) den JHWH-Name umschreibt. Ch. Link (Die Spur des Namens. Wege zur Erkenntnis Gottes und zur Erfahrung der Schöpfung. Theologische Studien, Neukirchen-Vluyn 1997, 60) bemerkt: »Jesus von Nazareth bringt nicht nur den Namen JHWHs, er stellt ihn sozusagen in Realpräsenz dar.« Hervorhebung im Original. Vgl. auch H. Hoping, Einführung in die Christologie, Darmstadt 2004, 96. 54 Hofius, Der Christushymnus, 64. 55 Siehe H. Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Dargestellt und aus Quellen belegt, hg. von H.-G. Pöhlmann, Gütersloh 91979, 243–261; H. Heppe, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt, hg. von E. Bizer, Neukirchen 1958, 387–403. 56 Umstritten ist zwischen den Lutheranern und Reformierten die Zurechnung der Höllenfahrt zum status exinanitionis (so die reformierte Orthodoxie) oder zum status exaltationis (so die lutherische Orthodoxie). Innerhalb der altlutherischen Orthodoxie war wiederum zwischen der Gießener und der Tübinger Theologischen Fakultät strittig, ob die Erniedrigung als Entäußerung (gr. κένωσις) – so die Tübinger Theologen – oder als Entsagung bzw. Verzicht (gr. κρύψις) – so die Gießener Theologen – interpretiert werden soll. Vgl. dazu J. Baur, Auf dem Weg zur klassischen Tübinger Christologie. Einführende Überlegungen zum sogenannten Kenosis-Krypsis-Streit, in: J. Baur, Luther und seine klassischen Erben, Tübingen 1993, 204–289; D. Metz, Gießen gewinnt Profil. Der Kenosis-Streit in der Theologie, in: A. Lexutt (Hg.), Diversität und Universität: Historische und theologische Aspekte einer theologischen Kontroverse und ihrer Folgen, Leipzig 2009, 47–54. 57 H. Dembowski, Einführung in die Christologie, Darmstadt 31993, 145. 58 Das Schema der Zweiständelehre bezieht sich im Narrativ wohlgemerkt nur auf die Nacht von Saint-Denis, sprich: die Erniedrigungs- und Erhöhungserfahrung Ronaldos an 53

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Natürlich geschieht keine direkte Bezugnahme auf dieses klassische dogmatische Lehrstück, sondern es finden sich vereinzelt gewisse Christus-Analogien. Und dennoch bildet es – gleichsam profanisiert – ein Interpretament, ja ein Konstituens des Dramas, indem es den durchschrittenen Kontrast der Extreme markiert. In der Zweiständelehre wurde »die Zwei-Naturen-Lehre auf den zeitlichen Ablauf der Weihnacht, des Leidens und der Kreuzigung Jesu und der Verherrlichung projiziert«.59 Die Pointe besteht gewissermaßen darin: So wie sich der wahre, der erhöhte Champion Ronaldo in seiner Niederlage und in deren Gestaltung als Sklavendienst für die Mannschaft gezeigt hat, so zeigt sich Jesu Gottheit, seine Herrlichkeit, gerade in seiner Erniedrigung bis hin zum Tod am Kreuz. Die Inkarnation findet im Kreuz ihr Ziel: Das Kreuz bildet, wie Karl Barth bemerkt, gewissermaßen Christi Königsthron.60 Im Johannesevangelium stirbt Jesus mit dem Triumphwort auf den Lippen: »Es ist vollbracht« (Joh 19,30). Kreuz und Erhöhung schließen sich demnach keineswegs aus. Dieses Paradox bringen Hymnus und das Narrativ vom Ronaldo-Drama von Saint-Denis zum Ausdruck, das dem christologischen Schema der Zweiständelehre folgt. Anders gesagt: Das Narrativ vom Drama von Saint-Denis wird zum Gleichnis für dieses christologische Paradox. Es handelt von der Menschwerdung des Fußballgottes Ronaldo. Es wäre indes verkürzt, wollte man die Pointe dieser Menschwerdung des Fußballgottes vorbildchristologisch-ethisierend bilden und etwa den Imperativ ableiten: »Mach es wie Jesus – mach es wie Ronaldo: Werde Mensch!« So sehr auch der Philipperhymnus mit dem vorausgehenden Vers 5 (»Seid gesinnt wie Christus gesinnt war«)61 zweifellos eine ethische Dimension besitzt, so wird diese doch nicht durch eine »Verklärung göttlicher Möglichkeiten eines Menschen«62 auf Kosten der »Verherrlichung der menschlichen Wirklichkeit Gottes«63 gebildet werden können. Eine Überforderung des Menschen wäre vorprogrammiert. Die Verherr-

diesem Abend, nicht aber seinen gesamten Lebensweg. Wäre Letzteres der Fall, stünde Ronaldos Leben gleichnishaft unter inkarnationstheologischem Vorzeichen, folgt die Zweiständelehre doch einer Drei-Stufen-Christologie, die die Präexistenz Christi (als erste Stufe) voraussetzt. Zur Inkarnations- im Verhältnis zur Inspirationschristologie vgl. K.-H. Menke, Das unterscheidend Christliche. Beiträge zur Bestimmung seiner Einzigkeit, Regensburg 2015, 411–450. 59 D. Ritschl / M. Hailer, Diesseits und jenseits der Worte. Grundkurs christliche Theologie, Neukirchen-Vluyn 2006, 138. 60 Karl Barth nach W. Kreck, Die Versöhnungslehre Karl Barths als kritische Anfrage an den Heidelberger Katechismus, Beilage zur RKZ 2 (1989), (2–7) 3. 61 Vgl. M. Hofheinz, Gezeugt, nicht gemacht. In-vitro-Fertilisation in theologischer Perspektive, EThD 15, Münster 2008, 428f. 62 H.-J. Eckstein, Gott wird Mensch. Vom menschlichen Gottesbild zum christlichen Menschenbild, in: ders., Glaube als Beziehung. Von der menschlichen Wirklichkeit Gottes, Grundlagen des Glaubens 2, Holzgerlingen 2006, (9–31) 19. 63 Ebd.

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lichung der menschlichen Wirklichkeit Gottes lädt uns hingegen dazu ein,64 nicht göttlich zu werden, sondern als Menschen Gott-entsprechend zu handeln, indem wir einander dienen.

5. Die Menschwerdung des Fußballgottes Ronaldo. Ein profanes Gleichnis

Abbildung 1265: Cristo Redentor Wird mit dem christologisch-cristianologischen Narrativ der Fußballsport nicht in skurriler Weise theologisch überhöht und profane Fußballbegeisterung gar noch mit christologischen Weihen dekoriert? Es »[k]lingt schräg, folgt aber einer gewissen Logik«, wenn Ronaldos Schwester Katia Aveiro »eine Fotomontage bei Instagram [sc. veröffentlicht; M.H.], die ihren Bruder als wundersamen Auferstandenen zeigt. Einmal weinend und am Boden zerstört, zum anderen triumphierend und mit EM-Pokal.«66 Mit der Collage werden Zeilen gepostet, in denen es u.a. heißt: »[…] genau wie unser Erlöser Jesus Christus am Kreuz für eine bessere Welt

64

Vgl. G. Plasger, Einladende Ethik. Zu einem neuen evangelischen Paradigma in einer pluralen Gesellschaft, KuD 51 (2005), 126–156; Hofheinz, Gezeugt, nicht gemacht, 560–600; F. Mathwig, Kritische Kirche. Praktische Ethik zwischen christlicher Freiheit und gesellschaftlicher Liberalität, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Siegen 2008. 65 J. Solo, Cristiano Ronaldo in Real Madrid in April, 2010, https://commons.wikimedia. org/wiki/File:Cristiano_Ronaldo_2,_2010.jpg (Zugriff: 16.10.2017); R. Shannon, Redentor, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Redentor.jpg (Zugriff: 16.10.2017). 66 Cöln, Göttlicher Fussballer.

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gelitten hat, weinte Ronaldo schmerzerfüllte Tränen, weil er seinen Mitspielern und seinem geliebten Volk nicht mehr beistehen konnte.«67 Erfolgt damit nicht – zugespitzt gefragt – die ultimative Apotheose eines Fußballspielers und – damit eingehend – die Stilisierung des Fußballs zur (Ersatzoder Quasi-)Religion? Gehört sie indes nicht vielmehr als die »schönste Nebensache der Welt« – mit Bonhoeffer gesprochen – zum »Vorletzten« statt »Letzten« und damit depotenziert?68 Vielleicht fällt aber bereits die Rede vom »Vorletzten« zu potenziert aus. Das »Vorletzte« meint ja eine Betrachtung christlicher Existenz vom Letzten her. Die Rede vom »Vorletzten« beinhaltet insofern ein soteriologisches Urteil über das Leben aus dem Glauben heraus. Ist die Rede von der »schönsten Nebensache der Welt« da wirklich treffend? Steht der Fußball nicht beziehungsloser zum »Letzten« als das »Vorletzte«? Wenn dem aber so ist, dann kann eine theologische Aufgabe nur in der Dekonstruktion eines solchen Narrativs bestehen. Für manche/n mag die vorgeführte komparative bzw. phänomenale Annäherung tatsächlich blasphemische Züge tragen und in der Tat ist das christologische Narrativ keineswegs frei von Idealisierung und Happy-End-Stilisierung. Im Gegenteil! Es konstituiert sich ja gerade durch die Anpassung an das Zweistände-Schema. Und doch folgt es als solches nicht einfach dem hagiographischen Impuls, Ronaldo zum menschfernen Gott, zum hellen »Star« am weit entfernten Firmament des Himmels zu stilisieren. Vielmehr bildet sich im Narrativ, das der Zweiständelehre folgt, ja gerade das »Changieren zwischen der Idealisierung von Stars und dem Drang, diese zugleich auf Normalgröße zurechtzustutzen«69, ab. Es geht eben um beide Stände. Ein allzu »heiliges« Bild vom Fußball und den »Fußballstars« macht misstrauisch und lädt zur Dekonstruktion ein, ja macht sie notwendig und unverzichtbar. Gewiss kann es nicht darum gehen, einen prominenten Fußballstar – und sei es ein Cristiano Ronaldo – zu einer Glaubensikone zu stilisieren. Gerade die alttestamentlich-frühjüdische Tradition ist voll von Impulsen »für eine ideologiekritische Dekonstruktion der üblichen Vorstellungen von der Überhöhung eines Menschen zum Gott«.70. Es wird dort eine »scharfe Kritik an der Anmaßung von Herrschern aus Israels Umwelt [sc. geübt; M.H.], die sich göttlich verehren lassen (z. B. Jes 14,4–21 und Philo, Legat. 346).«71 Von Philo von Alexandrien ist die Sentenz überliefert: »Eher könnte sich Gott in einen Menschen als ein Mensch in Gott verwandeln.«72 67

Ebd. Vgl. D. Bonhoeffer, Ethik, DBW 6, hg. von I. Tödt u.a., München 1992, 137–162. 69 J. Woyke, »Ein Mensch aus Fleisch und Blut – und nicht Gottes Sohn!« Herausforderungen einer elementarisierenden biblischen Didaktik in der gymnasialen Oberstufe, in: M. Bachmann / J. Woyke (Hg.), Erstaunlich lebendig und bestürzend verständlich? Studien und Impulse zur Bibeldidaktik. FS Ingo Baldermann zum 80. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2009, (333–356) 351. 70 A.a.O., 353. Dort kursiv. 71 Ebd. 72 Philo, Legat, 118. 68

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Freilich wird es auch nicht damit getan sein, »den Fußball einseitig und besserwisserisch zu kritisieren«.73 Fußball ist nicht einfach Götzendienst. Fußball kann zum Gleichnis taugen – wie das entfaltete Narrativ zeigt.74 Der katholische Soziologe und Theologe Matthias Sellmann hat darauf hingewiesen, dass der »Kugel-Kult« nun einmal zu den »begehrteste[n] Parallelwelt[en] der Gegenwartskultur«75 gehört. Jesus, wäre er der Vorösterliche geblieben und würde er heute als solcher unter uns leben und lehren, würde sicherlich bei der Kommunikation des Evangeliums auf Fußballgleichnisse zurückgreifen, »denn die Lebenswelt von uns heute ist nicht mehr der Fischfang – zumindest an Tagen wie diesen – eher der Fußball.«76 Der Fußball gewinnt als horizontale Resonanzachse immer mehr an Bedeutung – wie Hartmut Rosa betont.77 Der Jenaer Soziologe fragt: »Woher kommt es, dass selbst die Leser der Qualitätspresse dem Sport so großes – so wachsendes – Gewicht einräumen, dass sie nicht genug kriegen können von den Geschichten, Hintergrundberichten, Analysen, Kommentaren zum Sportgeschehen? Wieso rühren uns Fußballgeschichten zu Tränen? Wieso rezipieren diejenigen, die den Sportteil lesen, diesen in einer ganz anderen Haltung als etwa den politischen Mantelteil, den Lokal- oder Kulturteil der Zeitung?«78

Eine Antwort besteht nach Rosa darin, dass der Fußball soziale Resonanz zwischen »ganz Fremden zu stiften vermag.«79 Die andere Antwort, die Rosa gibt, scheint mir auch theologisch höchst bedeutsam zu sein. Sie besagt, »dass sportliche Duelle und Schicksale als Parabeln auf das Leben überhaupt gelesen werden

73

Lück, Ich hoffe, 227f. Vgl. M. Sellmann, Lachen. Heulen. Jubeln. Beten. Fußball als Gleichnis und Schule des Glaubens, Erwachsenenbildung 52/1 (2006), 12–15; M. Sellmann, Die Gruppe – Der Ball – Das Fest. Die Erfahrung des Heiligen im Fußballsport, in: P. Noss (Hg.), Fußball verrückt: Gefühl, Vernunft und Religion im Fußballsport. Annäherungen an eine besondere Welt, Münster 2004, 35–57; M. Sellmann, 10 Stichwortartikel zum Thema »Fußball als Gleichnis des Glaubens«, DOM 19–28 (2006) (Kirchenzeitung im Erzbistum Paderborn): »Der öffnende Pass« (Nr. 19); »Null zu null« (Nr. 20); »Tor! Tooooor!« (Nr. 21); »Abtasten des Gegners« (Nr. 22); »Die Eckfahne« (Nr. 23); »Die Zahl Elf« (Nr. 24); »Trainingslager« (Nr. 25); »Auswärtsspiele« (Nr. 26); »Das Spiel lesen können« (Nr. 27); »Der 12. Mann« (Nr. 28). 75 M. Sellmann, Kugel-Kult. Das Fußballspiel als die begehrteste Parallelwelt der Gegenwartskultur, in: J.E. Hafner / J. Valentin (Hg.), Parallelwelten. Christliche Religion und die Vervielfachung von Wirklichkeit, Reihe Religionskulturen 6, Stuttgart 2009, 299–316. 76 G. Bohl, Matthias Sellmann über die Parallelen von Fußball und Religion. »Der heilige Geist als Chefcoach«, https://www.domradio.de/nachrichten/2010-06-23/matthias-sellmann-ueber-die-parallelen-von-fussball-und-religion (Zugriff: 04.04.2017). 77 Vgl. Rosa, Resonanz, 421. 78 A.a.O., 427. 79 A.a.O., 428. 74

Die Menschwerdung des Fußballgottes Ronaldo

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können und dann wie Romane oder Kinofilme aufgenommen werden: Sie erzeugen narrative Resonanz«.80 Parabeln oder »Gleichnisse« – hier fällt erneut dieser theologische Schlüsselbegriff des Verstehens, dessen Signifikanz nicht zuletzt die Gleichnisse Jesu ausweisen – »machen mit den Mitteln der Welt Gott in der Welt bekannt.«81 Zu den Mitteln der Welt gehört der Fußball. Er bildet den Bezugspunkt in menschlicher Erfahrung. Gleichnisse reden metaphorisch von Gott82 und führen ihn durch metaphorische Prädikation in die Wirklichkeit ein.83 Es ist freilich bezeichnend für die Reich-Gottes-Gleichnisse der Bibel, dass hier keine Identifikation eines namentlich genannten Individuums stattfindet. Anders gesagt: Wenn Jesus die Lebenswelt des Fußballs als bildspendenden Bereich nehmen würde, würde es nicht heißen: »Der Menschensohn ist wie der Fußballer Cristiano Ronaldo, der im entscheidenden Moment des Endspiels gefoult wird und dessen Ausscheiden doch in einen Sieg verwandelt wird.« Sondern: »Der Menschensohn bzw. das Reich Gottes ist wie ... ein Fußballer, der im entscheidenden Moment …« In der Terminologie des Gleichnisforschers Adolf Jülicher gesprochen: Im ersten Fall liegt eine Parabel und kein Gleichnis vor. Beide sind also keineswegs identisch: »Anders als das Gleichnis erzählt die Parabel einen einmaligen, durch seine Umstände und die Handlungsweise der beteiligten Personen aus dem Rahmen fallenden Vorfall.«84 80

A.a.O., 427f. Link, Spur, 83. Hervorhebung im Original. 82 Treffend bemerkt Ch. Link (In welchem Sinne sind theologische Aussagen wahr? Zum Streit zwischen Glaube und Wissen. Theologische Studien II, Neukirchen-Vluyn 2003, 2): »Gleichnisse sind ausgebaute Metaphern. Sie wollen die Wirklichkeit des Alltags nicht abbilden, sondern ›bearbeiten‹. Das geschieht, indem sie zwei bis dahin kategorial getrennte Welten – etwa die ›Welt‹ des Landmanns (Mk 4,26ff.) und die der biblischen Gottesherrschaft – aufeinander treffen lassen, also das vertraute Bild der Welt stören und gerade so eine neue Information über die Wirklichkeit erzeugen. Gleichnisse sind theologische Modelle, die uns anleiten, das noch Unbekannte im schon Bekannten aufzusuchen, indem wir selbst mit unseren Sinnerwartungen in ihr Szenarium einrücken und uns mit ihren Akteuren identifizieren.« Dort kursiv. 83 Vgl. P. Ricœur, Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, in: ders. / E. Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, Sonderheft EvTh, München 1974, (45–79) 54ff. 84 J. Roloff, Neues Testament. Neukirchener Arbeitsbücher, Neukirchen-Vluyn 71999, 133. Bei A. Jülicher (Gleichnisreden I, Tübingen 21910 [= ND Darmstadt 1963]) heißt es: »Nicht, was jeder tut, was gar nicht anders sein, wird uns vorgehalten, sondern was einmal jemand getan hat, ohne zu fragen, ob andere Leute es auch so machen würden.« Die Klassifikation Jülichers ist freilich umstritten. U. Luz (Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, 421) spricht von einer »Extravaganz der Parabeln«. Vgl. R. Zimmermann, Die Gleichnisse Jesu. Eine Leseanleitung zum Kompendium, in: ders. (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, (3–46) 17–28; R. Zimmermann, Parabeln – sonst nichts! Gattungsbestimmung jenseits der Klassifikation in »Bildwort«, »Gleichnis«, »Parabel« und »Beispielerzählung«, in: ders. (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte, WUNT 231, Tübingen 2008, 383–419. 81

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Cristo y Cristiano

Diese Nicht-Identifikation des Gleichnisses scheint mir theologisch bedeutsam zu sein, denn hier manifestiert sich in der Gleichnisrede so etwas wie ein Präventiv gegen einen Transfer von Negativprädikaten auf Christus bzw. das Reich Gottes. In der Theologie wird das Verfahren eines solchen Transfers traditionell als analogia entis bezeichnet und aus gutem Grund spätestens seit Karl Barth hinterfragt. Wie signifikant, ja delikat dies im Fall von Cristiano Ronaldo ist, wird uns angesichts der jüngst im »Spiegel« erhobenen Vergewaltigungsvorwürfe gegen Ronaldo deutlich.85 Wäre Christus wie Ronaldo, dann würde die Prädikation Jesu als Vergewaltiger mit diesem Vorwurf durchaus naheliegen, ja sich aufdrängen. Die Gleichnisse Jesu weisen hingegen nicht einen solchen Konkretionsgrad auf. Sie promulgieren keinen eins zu eins abbildenden Transfer. Die neuere Gleichnisforschung von Paul Ricœur, Eberhard Jüngel, Hans Weder u.a., die Gleichnisse vom Wesen der Metapher her versteht, hat dies betont. Für Metaphern ist nach Ricœur die semantische Spannung zwischen »ist« und »ist nicht« konstitutiv.86 Hans Weder spricht vom »kalkulierten Irrtum der Metapher«87 und davon, dass es didaktisch darauf ankommt, den Abstand und die Unvereinbarkeit von Subjekt und Prädikat nicht zum Verschwinden zu bringen. Weder hat anhand des Senfkorngleichnisses (Mk 4,30–32) darauf hingewiesen: »Sehr viele Gleichnisse haben ja die Grundstruktur der Metapher: Mit der Gottesherrschaft (Subjekt) verhält es sich (Kopula) wie mit der folgenden Geschichte vom Senfkorn (Prädikat). Gerade das Gleichnis ist eine Sprachform, die zwei eigentlich unvereinbare Bereiche miteinander in Beziehung bringt: das jenseitige, künftige Reich Gottes und das diesseitige, gegenwärtige Reich der Welt. Das Gleichnis stiftet eine überraschende, unvermutete Nähe zwischen dem Himmelreich und dem Wachstum des Senfkorns. Und der semantische Wert dieses Gleichnisses beruht genau darauf, daß die unendliche Distanz zwischen Himmelreich und weltlichen Wachstumsvorgängen ersichtlich wird.«88

Weder verknüpft mit seiner Gleichnisdeutung – wie angedeutet – auch didaktische Erwägungen und pointiert wie folgt: »Die Unvereinbarkeit von Subjekt und Prädikat respektieren würde bedeuten, alle didaktischen Bemühungen darauf zu konzentrieren, daß die Differenz zwischen Schöpfung und Welt, zwischen Himmelreich und Erfahrungswelt in Erinnerung bleibt.«89

85

Vgl. R. Buschmann u.a., Gefangene einer Nacht, Der Spiegel 16 (2017), 72–78. Vgl. P. Ricœur, Die lebendige Metapher, übers. von R. Rochlitz, München 1986, innerhalb des Abschnittes »Metapher und Referenz« (209–251) besonders 241; 251. 87 H. Weder, Zugang zu den Gleichnissen Jesu. Zur Theorie der Gleichnisauslegung seit Jülicher, EvErz 41 (1989), (384–396) 394. 88 A.a.O., 395. 89 A.a.O., 396. 86

Die Menschwerdung des Fußballgottes Ronaldo

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Nur so kann es nach Weder auf angemessene Weise auch zu Nähe kommen und nur auf dem Hintergrund dieses Hinweises ist nach Weder die grundsätzliche Bemerkung statthaft: Metaphorische Sinnbildung, wie sie Gleichnisse kennzeichnet, erfolgt, simplifizierend gesagt, durch Übertragung (gr. μεταφορεῖν) von Bedeutung von einem bildspendenden in einen bildempfangenden Bereich,90 wobei durch diese Interaktion eine neue metaphorische Kohärenz gestiftet wird.91 Insofern lässt sich die metaphorische Sinnstiftung auch als ein emergentes Geschehen umschreiben. Der Fußball kann bei der metaphorischen Verarbeitung durch die Übertragung von Bildern auch im Raum von Theologie und Kirche eine wichtige Rolle spielen, sei es als bildspendender oder auch als bildempfangender Bereich.92 In dem besprochenen Narrativ fungiert der Fußball, wie wir gesehen haben, wohl eher als bildempfangender Bereich, zumal das christologische Schema das Bild für die Konstruktion des verletzungsbedingten Ausscheidens Ronaldos zum Narrativ spendet. Dabei ist es wichtig zu beachten: Das entfaltete christologisch-cristianologische Narrativ bedarf nicht einfach nur der Dekonstruktion, sondern hat selbst dekonstruktive Kraft. Es kommt sozusagen vom Einbruch der Welt von Bibel und theologischer Lehrbildung her in die Welt des Fußballs. Insofern hat es dekonstruktive Kraft – sowohl im Blick auf die göttliche Überhöhung des Menschen als auch im Blick auf die Entfremdung und Entfernung des Göttlichen von allem Menschlichen. Es zeigt nämlich, dass Cristiano Ronaldo verletzlich, sprich: menschlich, ist und ausgewechselt werden muss. Und es demonstriert, dass der »göttliche« Ronaldo dienen darf und kann, ohne seinen Status dabei zu verlieren; im Gegenteil gewinnt er gerade so alles – zumindest die Europameisterschaft. Die beiden Stände, die sich in dem Narrativ widerspiegeln, ja ihn schematisch konstituieren, sind gleichnishaft transparent auf jene neue Beziehung des biblischen Gottes zu den Menschen, die der Prophet Tritojesaja zur Sprache bringt: »Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der ewig Thronende, dessen Name ›Der Heilige‹ ist: Als Heiliger wohne ich in der Höhe, aber ich bin auch bei den Zerschlagenen und Bedrückten, um den Geist der Bedrückten wieder aufleben zu lassen und das Herz der Zerschlagenen neu zu beleben« (Jes 57,15). Was sich hier 90

Vgl. Roloff, Neues Testament, 131: »Nichts spricht dagegen, für S und P die seit Jülicher eingeführten Begriffe ›Sachhälfte‹ und ›Bildhälfte‹ weiter zu gebrauchen, solange deutlich bleibt, dass es sich dabei nicht um statische Begriffe, sondern um dynamische Größen handelt, mit anderen Worten: dass die Sachhälfte (S) nicht eine feststehende Wahrheit ist, sondern eine lebendige Situation, auf die hin die Bildhälfte (P) klärend und gestaltend wirkt.« 91 Vgl. Zimmermann, Deuten, 356. 92 Weder (Zugang, 387) hat auf die reziproke Erschließung als Merkmal der Gleichnisrede hingewiesen: »Zwar ist die qualitative Differenz zwischen dem Gottesreich und dem Reich der Welt festzuhalten. Trotzdem behandelt das Gleichnis Welterfahrung nicht bloß als Bildmaterial für etwas ganz anderes. Sondern die Welterfahrung wird, indem sie zum Bild des Gottesreiches wird, für die Schöpfung in ihr transparent. Das Gleichnis sagt, indem es mit der Welterfahrung über das Himmelreich spricht, nicht nur etwas über das Himmelreich, sondern auch etwas über die Welterfahrung. Das Gleichnis gibt nicht nur Gott, sondern auch die Welt neu zu verstehen.«

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manifestiert, lässt sich mit Fug und Recht als eine regelrechte Revolutionierung des Gottesbegriffs charakterisieren, da Gott nicht metaphysisch auf die Höhe festgelegt wird. In dieser Selbstunterscheidung Gottes liegt die eigentliche Wurzel der Trinitätstheologie.93 Nimmt man den Philipperhymnus hinzu, so wird deutlich: »[M]it der Menschwerdung des Gottessohnes [ist] ein Entleeren gemeint, das in der Form sich selbst verströmender Liebe in die tiefsten menschlichen Tiefen dringt. In Jesu Zuwendung zu den Bedrückten und Zerschlagenen, ja darin, dass er selbst als der ›Gott-mit-uns‹ über alle Maßen bedrückt und zerschlagen wird, wird Gott in Person gegenwärtig, und es ist gerade diese Selbstentäußerung und -hingabe bis hin zum Tod als verurteilter (mutmaßlicher) Aufrührer, aufgrund deren er von Gott erhöht und ihm Anteil am ›Namen über allen Namen‹ gewährt wird.«94

6. Schlussbemerkung Diese Menschwerdung zu betonen, ist unserem Jubilar Harry Noormann elementar wichtig. Mit Bedacht zitiert er im »Neutestamentlichen Arbeitsbuch« Martin Hengels Wort vom »Skandal des Kreuzes«: »Dass der eine präexistente Sohn des einen wahren Gottes, der Schöpfungsmittler und Welterlöser in jüngster Zeit im hinterwäldlerischen Galiläa und als Glied des obskuren Judenvolkes geboren worden, ja schlimmer noch, dass er den Tod des gemeinen Verbrechers am Kreuz gestorben war, das war ein Glaube, den man eigentlich nur Verrückten zumuten konnte. Die echten Götter Griechenlands und Roms unterschieden sich eben dadurch von den sterblichen Menschen, dass sie unsterblich waren«.95

Harry Noormann hat oft auf diesen – mit Karl Barth gesprochen – »durchgehende[n] Zug nach unten«96, die Kondeszendenz Gottes im Kreuz, wie die dogmatische Tradition sagt, hingewiesen. Nicht nur in den einschlägigen Kapiteln des »Neutestamentlichen Arbeitsbuchs für Religionspädagogen«97, sondern auch in seinem

93

So H.-J. Kraus, Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 1983, 71. Vgl. a.a.O., 143; 262f.; 268; 370; 398. 94 Woyke, Ein Mensch, 353. Vgl. auch S. Vollenweider, Der »Raub« der Gottgleichheit. Ein religionsgeschichtlicher Vorschlag zu Phil 2,6(–11), in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie, WUNT 144, Tübingen 2002, 263–284. 95 Zit. nach U. Becker u.a., Neutestamentliches Arbeitsbuch für Religionspädagogen, Stuttgart 42014, 150. 96 K. Barth, KD IV/1, 207. 97 Vgl. Becker u.a., Neutestamentliches Arbeitsbuch, 115–133; 154–158.

Schlussbemerkung

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Buch »Armut in Deutschland. Christen vor der neuen Sozialen Frage«98 ringt er um »Orientierungen für ein mit den Armen solidarisches Christentum«99. Dass ein solches Ringen – vorsichtig formuliert – allein schon auf pekuniärer Ebene in einem Spannungsverhältnis zum kommerzialisierten Fußball steht, dürfte nicht von der Hand zu weisen sein, ebenso wenig die Erkenntnis, dass ein solches Ringen kritisches Potential zur Beurteilung des »Phänomens Fußball« enthält. Die Standardkritik am kommerzialisierten Fußball, so abgedroschen sie auch klingen mag, ist ja nicht einfach falsch. Gute Theologie wird von dem kritischen Potential Gebrauch machen, das der Rede vom Fußball als Gleichnis anhaftet, und zu differenzieren helfen – etwa im Blick auf die Einschätzung einer schillernden Persönlichkeit wie der Cristiano Ronaldos, grundsätzlich aber auch hinsichtlich der angemessenen Erwartungen an den Fußball. Eine Kulturkritik, die nicht differenzierte, würde – wie Theodor W. Adorno feststellt – das Kind mit dem Bade ausschütten, sie würde »mit dem Unwahren auch alles Wahre ausrotten«.100 Gewiss kann auch der Fußball mit seinen Resonanzverheißungen nicht von der Entfremdung als Realität der Moderne heilen. Auch der Fußball kann der Dialektik von Resonanz und Entfremdung nicht entkommen. Falschen Heilsversprechen gilt es insofern zu widerstehen, ohne deshalb jeden »Kick« schlechtreden zu müssen. Eine Theologie, die mit der Dekonstruktion bestimmter Narrative dies zur Sprache bringt, leistet durchaus auch dem Fußball einen Dienst, damit der Fußball Fußball bleibt. Denn, um es mit dem eingangs zitierten Okko Herlyn abschließend auf den Punkt zu bringen: »Fußball ist Fußball. Ein menschliches Vergnügen zum Mitjubeln und Mitbangen – hoffentlich! Eine völkerverbindende Faszination – hoffentlich! Vielleicht auch eine Gelegenheit, hier und da einmal selber leidenschaftlich mitzumachen – hoffentlich! Aber eben: mehr nicht. Fußball ist Fußball. Gott sei Dank: mehr nicht.«101

98

H. Noormann, Armut in Deutschland. Christen vor der neuen Sozialen Frage, Stuttgart 1991. 99 A.a.O., 99. 100 Th.W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951), GS 4, hg. von R. Tiedemann, Frankfurt a.M. 2003, 48. 101 O. Herlyn, Fußball ist Fußball (Predigt zu Psalm 121,2), zit. nach: Kirchenamt der ekd (Hg.), Ein starkes Stück Leben. EKD-Broschüre zur WM 2006, Hannover 2006, 46.

g. Christologie interreligiös Auf dem Weg zu einer Theologie der Religionen

XIV. »Das gewisse Extra!« Oder: Christologie als »Türöffner«? Das »Extra-Calvinisticum« und die »Lichterlehre« Karl Barths als Zugänge zu einer Theologie der Religionen

Pfr. Jens Heckmann zum 50. Geburtstag in Dankbarkeit

1. Extra Christum nulla salus? Einführendes zur erkenntnisleitenden Fragestellung und zum religionstheologischen Diskurs Wer heute von Jesus Christus spricht, sieht sich oftmals mit Einwänden konfrontiert. Einer der prominentesten Einwände besagt: »Macht der Glaube an Jesus Christus nicht notwendig intolerant?«1 Die Bindung religiöser Wahrheit an eine bestimmte Person wird vielfach als problematisch empfunden. Sie entspricht nicht dem Zeitgeist. Das Gespräch mit anderen Religionen stehe in Spannung zu der Ausrichtung an einer bestimmten Person wie Jesus. Christus aber ist für das Christentum zweifellos zentral.2 Es gilt indes als ausgemacht, dass der Christusglaube das Gespräch mit anderen Religionen – auch den monotheistischen3 – er1

R.K. Wüstenberg, Christologie. Wie man heute theologisch von Jesus sprechen kann, Gütersloh 2009, 18. Dort kursiv. Bisweilen ist gar im Blick auf die Furcht vor einer solchen Intoleranz von »Christophobie in Europa« gesprochen worden. Vgl. M. Welker, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 22012, 28. 2 Dies gilt selbst dann, wie H.W. Frei, Types of Christian Theology, hg. von G. Hunsinger / W.C. Placher, New Haven / London 1992, 139f., betont, wenn man einwendet: »It may well be quite fair to assert, as many people have said, that when it comes to doctrine (not necessarily the most important part of Christianity, but certainly an inalienable aspect of this religion), the faith of the Church in premodern times tended to be Trinitarian rather than simply Christological, and that the marked sense of Christological concentration in modern theology was a function of the controversies over the credibility of a supernatural revelation in the eighteenth and nineteenth centuries. Even so, few will doubt that Jesus of Nazareth has in all ages been at the center of Christian living, Christian devotion, and Christian thought.« 3 Vgl. M. Weinrich, Christentum, Judentum, Islam – durch den Monotheismus verbunden?, in: S. Stiegler / U. Swarat (Hg.), Der Monotheismus als theologisches und politisches

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»Das gewisse Extra!«

schwert. Das wird gerne bezogen auf Bemerkungen wie die folgende, die aus dem Mund des Genfer Reformators Johannes Calvin stammt: »Das sind die Hauptmerkmale, durch die sich unser Glaube vom Aberglaube der Heiden unterscheidet: nämlich daß er Christus als Mittler kennt und lehrt, daß die Menschen ihr Heil von ihm allein erwarten sollen«.4 Martin Luther scheint dem nicht nachzustehen: »At Ihesus est verus, unus, solus deus. Quem eum habes, non habes alienum deum.«5 Dementsprechend lässt Luther in »Ein feste Burg« singen: »Fragst du, wer der ist? / Er heißt Jesus Christ, / der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott, / das Feld muss er behalten.«6 Der Basler Religionstheologe Reinhold Bernhardt bemerkt: »Steile Exklusivansprüche dieser Art scheinen einer friedlichen Gestaltung der Beziehungen zwischen den Religionen im Weg zu stehen.«7 Christologie wird oft als Gesprächsengführung, ja sogar als Verunmöglichungsgrund dialogischer Öffnung über die eigene Religion und Kultur hinaus verstanden. Die Frage lautet zugespitzt: »Blockiert der Christusglaube die Anerkennung anderer Religionen?«8 Salopp formuliert: Ist Christologie nicht ein »Gesprächskiller«? Der Einwand erhebt sich nicht selten im Namen eines religiösen Pluralismus, der zur Bescheidenheit im Blick auf die eigene Gotteserkenntnis mahnt und für eine konsequente Gleichordnung aller Religionen plädiert. Vertreter/innen der sog. »pluralistischen Religionstheologie« wie etwa Paul F. Knitter oder John

Problem, Leipzig 2006, 119–140; ders., Glauben Juden, Christen und Muslime an denselben Gott? Systematisch-theologische Annäherung an eine unzugängliche Frage, EvTh 67 (2007), 246–263. Fernerhin: M. Striet, Konkreter Monotheismus als trinitarische Fortbestimmung des Gottes Israels, in: ders. (Hg.), Monotheismus Israels und christlicher Trinitätsglaube, QD 210, Freiburg i.Br. u.a. 2004, 155–198; J. Moltmann, Kein Monotheismus gleicht dem anderen. Destruktion eines untauglichen Begriffs, in: ders., »Sein Name ist Gerechtigkeit«. Neue Beiträge zur christlichen Gotteslehre, Gütersloh 2008, 83–96. 4 J. Calvin, Komm. Apg 17,18 (CO 47,406): »Unde colligimus, his maxime notis discerni fidem nostram a gentium superstitionibus, quod proponit Christum unum mediatorem, quod ab eo solo petendam esse salutem docet.« Vgl. J. Calvin, Institutio Christianae religionis / Unterricht in der christlichen Religion, nach der letzten Ausgabe von 1559 übers. und bearb. von O. Weber, im Auftrag des Reformierten Bundes bearb. und neu hg. von M. Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008, II,13,7. 5 M. Luther, WA 1, 400,2f. (Decem praecepta Wittenbergensi praedicata populo, 1518). Das Zitat verdanke ich meinem Mitarbeiter Dr. Kai-Ole Eberhardt. 6 M. Luther, EG 362,2. 7 R. Bernhardt, Extra Christum nulla salus – Blockiert der Christusglaube die Anerkennung anderer Religionen?, in: W. Dietrich / W. Lienemann (Hg.), Religionen – Wahrheitsansprüche – Konflikte. Theologische Perspektiven, Beiträge zu einer Theologie der Religionen 10, Zürich 2010, (117–145) 118. 8 A.a.O., 117. Vgl. ders., Jesus Christ as a Stumbling Block in Interreligious Dialogue?, in: W. Weisse u.a. (Hg.), Religions and Dialogue. International Approaches, Religions in Dialogue 7, Münster u.a. 2014, 139–150 (überarbeitet in: Ghana Bulletin of Theology [New Series] 5 [2016], 53–71); ders., Jesus Christ as »vere Deus« as a Challenge for Interreligious Dialogue, Approaching Religion 1 (1/2011), 41–49 (digital verfügbar unter https://journal. fi/ar/article/view/67469 [abgerufen im November 2018]).

Extra Christum nulla salus?

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Hick9 wenden sich gegen einen »Absolutheitsanspruch des Christentums«10 und möchten die verschiedenen Religionen als unterschiedliche Wahrnehmungen und Konzeptualisierungen desselben transzendenten Gottes bzw. des Absoluten verstehen. Christologie muss dann als Beispiel eines strengen Exklusivismus herhalten, der vielfach einem Inklusivismus, vor allem aber einem wertgeschätzten Pluralismus kontrastiert wird.11 Dementsprechend wurde im Interesse an einer 9

Vgl. J. Hick, An Interpretation of Religion. Human Responses to the Transcendent, London 1989. 10 P. Knitter, Ein Gott – viele Religionen. Gegen den Absolutheitsanspruch des Christentums, München 1988. 11 Vgl. zum gängigen Dreier-Schema Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus die Graphik in: D. Ritschl / M. Hailer, Diesseits und jenseits der Worte. Grundkurs christliche Theologie, Neukirchen-Vluyn 2006, 41. M. Hailer, Glauben Juden, Christen und Muslime an denselben Gott? Theologische Religionskritik in praxi, in: M. Hofheinz / T. Paprotny (Hg.), Religionskritik interdisziplinär. Multiperspektivische Annäherung an eine bleibend wichtige Thematik, Leipzig 2015, 43–64, insbes. 47, selbst hat eine ungleich ausdifferenziertere Typologie mit mehreren Exklusivismus- und Pluralismusspielarten eingeführt und votiert für eine andere als die gängige Exklusivismus-Lesart. Diese alternative Lesart besagt: »Die Interpretationshoheit ist prinzipiell auf die eigene Religion beschränkt; […] es kann über ihre [anderer Religionen; M.H.] Wahrheit aus der Perspektive der eigenen Religion nichts ausgesagt werden, was die Möglichkeit, dass Gott in ihnen gegenwärtig ist, aber ausdrücklich einschließt« (a.a.O., 47). Diese alternative Lesart des Exklusivismus zeigt nach Hailer (a.a.O., 61), »dass Exklusivismus mitnichten den evangelikalen und fundamentalistischen Scharfmachern […] überlassen werden darf, und dass man auch als Vertreter einer dezidierten Offenbarungstheologie und entsprechend steilen Christologie das interreligiöse Gespräch nicht etwa meiden sollte, sondern vielmehr aus sehr gutem Grund zu suchen hat.« Vgl. fernerhin: U. Dehn, Einleitung. Der (inter-)religiöse Dialog und die Theologie der Religionen, in: ders. u.a. (Hg.), Handbuch Theologie der Religionen. Texte zur religiösen Vielfalt und zum interreligiösen Dialog, Freiburg i.Br. 2017, 11–25. C. Lienemann-Perrin, Mission und interreligiöser Dialog, BenshH 93, Göttingen 1999, 144, weist treffend darauf hin: »Das Dreierschema ist […] selbst ein Bestandteil der pluralistischen Theologie der Religionen; denn der Pluralismus ist das Kriterium, von dem aus Knitter den Exklusivismus und Inklusivismus kritisch beurteilt.« M. Mühling, Liebesgeschichte Gott. Systematische Theologie im Konzept, FSÖTh 141, Göttingen 2013, 419f., rät deshalb dazu, radikale Klassifikationen von Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus zu vermeiden. Bereits L. Newbigin, The Gospel in a Pluralist Society, Grand Rapids / Geneva 1989, 182f., hat dieses in gewisser Weise selbst mit exklusivem Geltungsanspruch und exklusiven Zuweisungen von Positionen zu den einzelnen Typen daherkommende Dreierschema verflüssigt, indem er seine Position bzw. Programmatik als Zugleich von Pluralismus, Exklusivismus und Inklusivismus kennzeichnet: »It has become customary to classify views on the relation of Christianity to the world religions as either pluralist, exclusivist, or inclusivist […]. The position which I have outlined is exclusivist in the sense that it affirms the unique truth of the revelation in Jesus Christ, but it is not exclusivist in the sense of denying the possibility of the salvation of the non-Christians. It is inclusivist in the sense that it refuses to limit the saving grace of God to members of the Christian Church, but it rejects the inclusivism which regards the non-Christian religions as vehicles of salvation. It is pluralist in the sense of acknowledging the gracious work of God in the lives of all human beings, but it rejects a pluralism which denies the uniqueness and decisiveness of what God has done in Jesus

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»Das gewisse Extra!«

positiven Würdigung nichtchristlicher Religionen vor allem von pluralistischen Religionstheologen für eine Herabstufung oder Deabsolutierung der Christologie votiert.12 Ulrich H.J. Körtner beobachtet: »Der radikale Pluralismus stellt insbesondere die evangelisch-reformatorische Fassung der christlichen Heilslehre in Frage, hat doch die Parole des ›Christus allein‹ in der Reformation dadurch eine provozierende Zuspitzung erfahren, dass das solus Christus nicht allein durch das sola gratia, sondern zugleich durch das sola fide und das sola scriptura bzw. solo verbo näher bestimmt worden ist. In ihrer klassischen Gestalt schließt die reformatorische Christologie die Möglichkeit aus, zwischen dem durch die Überlieferung der neutestamentlichen Texte in der Gegenwart präsenten Jesus von Nazareth und einer Christusidee oder einem Christusprinzip zu unterscheiden, so dass neben dem an das biblische Wort und seine Verkündigung gebundenen Glauben auch noch andere Heilswege denkbar wären.«13

Mir ist im Folgenden nicht daran gelegen, eine direkte Auseinandersetzung mit der pluralistischen Religionstheologie und insbesondere ihrer impliziten Christologie zu führen.14 Die pluralistische Religionstheologie gibt es als Singularetantum

Christ.« Zu Newbigin vgl. J.G. Flett, Bischof J.E. Lesslie Newbigin (1909–1998) und die missionarische Herausforderung konfessioneller »Identität«, in: M. Hofheinz / M. Zeindler (Hg.), Reformierte Theologie weltweit. Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2013, 149–169; G. Wainwright, Lesslie Newbigin. A Theological Life, Oxford / New York 2000. 12 Vgl. R. Bernhardt, Deabsolutierung der Christologie?, in: M. von Brück / J. Werbick (Hg.), Der einzige Weg zum Heil? Die Herausforderung des christlichen Absolutheitsanspruchs durch pluralistische Religionstheologien, QD 143, Freiburg i.Br. u.a. 1993, 144– 208; Ch. Danz, Grundprobleme der Christologie, UTB 3911, Tübingen 2013, 223–231. 13 U.H.J. Körtner, Christus allein? Christusbekenntnis und religiöser Pluralismus aus evangelischer Sicht, in: R. Englert u.a. (Hg.), Christologie. Ein religionspädagogischer Reader, Münster 2015, (110–121) 113. 14 Vgl. zu Hick einführend: R. Bernhardt, Der Absolutheitsanspruch des Christentums. Von der Aufklärung bis zur Pluralistischen Religionstheologie, Gütersloh 1990, 199–225; K. Joswowitz-Schwellenbach, Zwischen Chalcedon und Birmingham. Zur Christologie John Hicks, Beiträge zur Fundamentaltheologie und. Religionsphilosophie 5, Neuwied 2000. Zur kritischen Auseinandersetzung vgl. auch I.U. Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, 1–22. Zu Barths Verhältnis zum pluralistischen Paradigma innerhalb der Religionstheologie, namentlich zu John Hick, vgl. K.E. Johnson, Divine Transcendence, Religious Pluralism and Barth’s Doctrine of God, IJST 5 (2003), 200–224; S. Ensminger, Karl Barth’s Theology as a Resource for a Christian Theology of Religions, Bloomsbury 2014, 177–212; R. Bernhardt, Karl Barths Beitrag zu einer gegenwärtigen Theologie der Religionen, ThZ 71 (2/2015), 97–113; M. Gockel, Barths offenbarungstheologischer Ansatz im heutigen Kontext pluralistischer Religionstheologie, in: W. Thiede (Hg.), Karl Barths Theologie der Krise heute. Transfer-Versuche zum 50. Todestag, Leipzig 2018, 69–86. R. Bernhardt, Christologie im Kontext einer »Theologie der Religionen«, in: R. Englert u.a. (Hg.), Christologie. Ein religionspädagogischer Reader, Münster 2015, (103–109) 106, macht folgenden Einwand geltend: »Mein Haupteinwand gegen die Entwürfe pluralistischer Christologie besteht darin, dass sie (gegen ihr eigenes Selbstver-

Extra Christum nulla salus?

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ohnehin nicht. Vielmehr geht es im aktuellen religionstheologischen Diskurs vor allem um divergierende Pluralismuszugänge, die sich keineswegs auf einen pluralistisch-relativistischen Ansatz der extremen Gegenposition zum Exklusivismus reduzieren lassen.15 Mir ist daran gelegen zu zeigen, dass aus der christologischen Konzentration keineswegs eine dialogfeindliche, gesprächsverweigernde Engführung, sondern vielmehr eine Weitung, ja Öffnung für Neues resultiert. Intendiert ist also, mit anderen Worten, keineswegs eine ausführliche, materialreiche Entfaltung einer Theologie der Religionen,16 sondern eine bewusste Konzentration auf eine spezifische Fragestellung ihrer Grundlegung. Unter dem Container-Begriff »Theologie der Religionen« verstehe ich mit Reinhold Bernhardt – ganz allgemein gesprochen – »die theologische Reflexion auf Wirklichkeit, Wahrheitsund Heilsanspruch nichtchristlicher Religionen – oder um es mit der bekannten Formulierung von Heinz Robert Schlette zu sagen: ›die Religionen als Thema der Theologie.‹«17 Vielfach werden die Begriffe »Theologie der Religionen« und »Religionstheologie« synonym gebraucht. Im Sinne Karl Barths muss freilich zwischen beiden unterschieden werden, was die vorliegende Untersuchung verkompliziert. Verkürzt gesagt, bilden beide einen differenzierten Zusammenhang, insofern auch die Begriffe »Religion« und »Religionen« einen solchen bilden. Treffend hat Michael Weinrich festgestellt: »Religion ist die Form, in der auch der christliche Glaube sichtbar wird. Es geht in der Religionsproblematik um die menschliche Seite des Glaubens, ohne die er eine für das konkrete Leben unbrauchbare abstrakte Idee bliebe. In diesem Sinne kommt im Nachdenken über die von der Selbstoffenbarung erhellte Wirklichkeit auch die Kirche ständnis) nicht die religionswissenschaftliche und religionsphilosophische in die theologische Perspektive, sondern umgekehrt die theologische in die religionswissenschaftliche Perspektive integrieren. Damit setzen sie eine Erkenntnisposition voraus, die sich über die jeweiligen Religionsperspektiven erhebt und sich ihnen gegenüber in Begründungsnot bringt. So sehr die pluralistische Christologie an zentrale Grundüberzeugungen des christlichen Glaubens anschlussfähig ist, so wenig ergibt sie sich mit Notwendigkeit aus ihnen. Im Gegenteil: Sie steht in Spannung nicht nur zur Christologie des 4. und 5. Jhs., sondern auch zum Christuszeugnis des NTs.« 15 Vgl. Wüstenberg, Christologie, 24; 27. Wüstenberg, a.a.O., 31–37, nimmt insofern eine »Umgruppierung« der Zuordnungen vor, als er das gängige Dreierschema zwar stehen lässt, aber den normativen Pluralismus einer Religionstheologie (John Hick, Paul Knitter) durch einen »positionellen Pluralismus« (Wilfried Härle) bzw. »Pluralismus aus Glauben« (Christoph Schwöbel) ersetzt wissen möchte. Einen differenzierten Überblick über religionstheologische Positionen gibt D.L. Migliore, Faith Seeking Understanding. An Introduction to Christian Theology, Grand Rapids / Cambridge 32014, 319–328. Vgl. fernerhin: D.L. Migliore, The Trinity and the Theology of Religions, in: M. Volf / M. Welker (Hg.), God’s Life in Trinity, Minneapolis 2006, 101–117. 16 Einführend: U. Dehn u.a. (Hg.), Handbuch Theologie der Religionen. Texte zur religiösen Vielfalt und zum interreligiösen Dialog, Freiburg i.Br. 2017. 17 R. Bernhardt, Christologie im Kontext einer »Theologie der Religionen«, 103. Bernhardt nimmt Bezug auf: H.R. Schlette, Die Religionen als Thema der Theologie. Überlegungen zu einer »Theologie der Religionen«, QD 22, Freiburg i.Br. u.a. 1964.

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»Das gewisse Extra!« als eine geschichtliche Größe, eben als Christentum und somit als eine Religion – prinzipiell vergleichbar mit anderen Religionen – in den Blick. […] Auf dieser allgemeinen Ebene befinden sich alle Religionen in der gleichen Verlegenheit, grundsätzlich nicht aufweisen zu können, dass sie nicht einfach nur menschlicher Mummenschanz sind. Auf phänomenologischer Ebene tut Elia nichts prinzipiell anderes als die Baalspropheten (1Kön 18). Es ist der Kirche nicht möglich, sich in irgendeiner Weise über die anderen Religionen zu erheben.«18

Geht es mir im Folgenden dezidiert um eine Öffnung hin zu einer Theologie der Religionen, so ist zugleich die Frage nach dem theologischen Rechtsgrund, sprich: der Legitimität eines solchen Unterfangens, virulent. Bei dieser Frage aber wird die Theologie die Frage nach der Religion im Singular, sprich: die religionstheologische Frage, ebenso wenig wie die nach der Christologie einfach ausklammern und umgehen können. Hinsichtlich der Christologie ist etwa das Pauluswort einschlägig: »Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus« (1Kor 3,11). Anhand von zwei klassischen Beispielen aus der christologischen Lehrbildung, nämlich dem sog. »Extra-Calvinisticum« Johannes Calvins19 und der sog. »Lichterlehre« Karl Barths, soll gezeigt werden, dass eine solche Umgehungs- und/oder Ausklammerungsstrategie keineswegs nötig ist. Christologie kann vielmehr als »Opener« dienen, und zwar keineswegs – wie ein angstbesetzter Einwand insinuieren mag – für die Büchse der Pandora. Was immer man sich als Inhalt dieser Büchse oder – um die titelgebende Metapher vom Türöffner zu gebrauchen – des Raumes hinter der Tür vorstellen mag, es geht dem inkarnatorischen Anspruch des Johannesprologs nach um das »Inventar« der Schöpfung, ja, um den Besitz des Schöpfungsmittlers (vgl. Joh 1,10): »Er kam in sein Eigentum« (Joh 1,11a).20 Gleichwohl sind die Besitzverhältnisse nicht so gestrickt, dass jene Reaktion ausgeschlossen wäre, die im (zumindest vorläufigen) Resultat besagt: »Und die Seinen nahmen ihn nicht auf« (Joh 1,11b). Offene und verschlossene Türen – haben, metaphorisch gesprochen, etwas mit gelebter Toleranz zu tun, das Öffnen und Verschließen allzumal. Es wird – um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen – in den folgenden Ausführungen die These vertreten, dass theologisch durchaus so von Jesus Christus gesprochen werden kann, dass 18

M. Weinrich, Religion und Religionskritik. Ein Arbeitsbuch, UTB 3453, Göttingen 2011, 268. 19 Dass das sog. »Extra-Calvinisticum« keineswegs Calvinʼscher oder gar calvinistischer Provenienz ist, wird im Verlauf der Untersuchung noch gezeigt werden. Es ist eben mehr als nur ein reformiertes Extra. 20 Vgl. K. Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf. Bd. 1: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik, München 1927, 271: »Daß der Logos in sein Eigentum kam (Joh 1,11), diese wichtige Einsicht ist es, die durch das Extra Calvinisticum offengehalten wird.« Vgl. G. Hunsinger, Reading Barth With Charity. A Hermeneutical Proposal, Grand Rapids 2015, 15–32; D.O. Sumner, The Twofold Life of the Word. Karl Barth’s Critical Reception of the Extra Calvinisticum, IJST 15 (1/2013), 42–57. Fernerhin die ausführliche Analyse: ders., Karl Barth and the Incarnation. Christology and the Humility of God, New York 2014.

Das sog. »Extra-Calvinisticum« als Zugang

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die Tür zu anderen Religionen nicht ge- und verschlossen bleibt, sondern geöffnet und damit ein Dialog und eine Wertschätzung anderer Religionen möglich wird. Noch ein Wort zur Anlage der Untersuchung und zu den beiden gewählten theologiegeschichtlichen Beispielen: dem »Extra-Calvinisticum« Johannes Calvins und der sog. »Lichterlehre« Karl Barths. Beide stammen aus unterschiedlichen Epochen, nämlich zum einen aus der Reformationszeit und zum anderen aus der Dialektischen Theologie des 20. Jahrhunderts. Beiden Theologen war je zu ihrer Zeit eines klar: Dass für die Theologie »gar keine andere Möglichkeit [sc. besteht; M.H.], als das Problem der Religion dort aufzunehmen, wo es ihr als Anfrage an den eigenen Wahrheitsanspruch begegnet, nämlich am Ort der geschehenen Offenbarung, die das Heil allen Menschen zusagt.«21 Hier jedenfalls haben sich Calvin und Barth das Thema stellen lassen. Beide behandeln und verstehen es – wie nun zu zeigen sein wird – als Auslegung des bereits genannten Johannesprologs (Joh 1,1–18).

2. Das sog. »Extra-Calvinisticum« als Zugang zu einer Theologie der Religionen 2.1 Johannes Calvins Auslegung des Johannesprologs und der inkarnationstheologische Zusammenhang des »ExtraCalvinisticums« Mit seiner Logoslehre beansprucht der Bibeltheologe (discipulus scripturae)22 Johannes Calvin eine Auslegung des Johannesprologs (Joh 1,1–18) zu liefern. Es ist wichtig, dies zu betonen, um die Intention Calvins nicht zu verfehlen. Es geht ihm nämlich keineswegs um »wilde« dogmatische oder philosophische Spekulation,23 schon gar nicht um eine Abzweckung für eine Theologie der Religionen, wie sie hier im Blick ist. In seinem Johanneskommentar (1553) führt Calvin in seiner Auslegung des Johannesprologs aus, dass der Sohn Gottes auf zweifache Weise wirkt: »[D]ie eine, die sich in der Erschaffung der Welt und der Ordnung der Natur offenbart (in mundi architectura et naturae ordine apparet), die andere aber, durch die er die gefalle-

21

Ch. Link, Das menschliche Gesicht der Offenbarung. Bemerkungen zum Religionsverständnis Karl Barths, KuD 26 (1980), (277–302) 281f. 22 Vgl. Calvin, Inst. (1559), I,6,2. – OS III,63,8f. 23 Vgl. W.H. Neuser, Dogma und Bekenntnis in der Reformation. Von Zwingli und Calvin bis zur Synode von Westminster, HDThG 2, Göttingen 21998, (164–352) 248: »Im allgemeinen vermeidet Calvin die philosophische Begrifflichkeit. Die unspekulative Entfaltung der Trinitätslehre ist für ihn kennzeichnend.« Neuser (ebd.) beobachtet den Gebrauch der »degressive[n] Methode« bei Calvin, »das heißt, er entfaltet aus dem biblischen Zeugnis die Trinität.«

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»Das gewisse Extra!«

ne Natur erneuert und wiederherstellt (naturam collapsam renovat et instaurat)«.24 Die erste der beiden Wirkweisen (virtutes) bezieht sich auf seine Schöpfungsmittlerschaft: Als ewiges Wort Gottes ist der Sohn Mittler bei der Erschaffung der Welt. Die zweite Wirkweise bezieht sich auf seine Heilsmittlerschaft, verstanden als Erneuerung und Wiederherstellung der »kollabierten« Natur. Die erste Wirkweise geht auf das ewige Wort (wenn man so will: den logos asarkos) zurück, die zweite auf den inkarnierten Christus als »Wort Gottes […] im Fleisch offenbart«25 (sermo Dei in carne manifestatus) bzw. »Deus manifestus in carne«26 (wenn man so will: den logos ensarkos). Das sog. »Extra-Calvinisticum« erweist sich als gewissermaßen in dieser Differenzierung angelegt. Es resultiert aus Calvins Verständnis der Schöpfungsmittlerschaft.27 Calvin versteht die Schöpfungsmittlerschaft nämlich nicht rein protologisch als creatio originalis oder creatio prima, gleichsam als Urschöpfung, die keine Fortsetzung findet, sondern dezidiert als creatio continua, als fortgesetzte Schöpfung, die die »Erhaltung« (conservatio) der Welt nach ihrer Erschaffung einschließt: »Gottes Wort ist ja von Ewigkeit, und so ist durch dieses die Welt geschaffen; seine Kraft erhält alles am Leben, was einmal Leben empfangen hat«.28 Das Wort Gottes, der ewige Logos, wirkt gewissermaßen weiter – in eschatologischer Dimensionierung.29 Mit dem sog. »Extra-Calvinisticum« wird ein »auch außerhalb« dieses fortgesetzten Wirkens konstatiert, und zwar bezogen auf den inkarnierten Christus. Der ewige Logos wirkt demnach auch »extra carnem«. Freilich betont Calvin, dass es nicht zu einem Nebeneinander kommt, das im Verlust der Gottheit des Menschen Christus resultiert: »Wenn er sagt, das Wort sei Fleisch geworden, geht daraus deutlich die Einheit der Person hervor. Es ist ja nicht möglich, daß ein anderer jetzt Mensch ist als derjenige, der stets wahrer Gott war, da es heißt, ebenjener Gott sei Mensch geworden. Da wiederum der Evangelist ganz deutlich dem Menschen Christus die Bezeichnung das Wort beilegt, folgt daraus, daß Christus bei seiner Menschwerdung doch nicht aufgehört hat zu sein, was er früher war, und daß sich nichts an jenem ewigen Wort Gottes geändert 24

Calvin, Komm. Joh 1,5 (CO 47,7). Ders., Komm. Joh 1,6 (CO 47,7). 26 Ders., Komm. 1Tim 3,16 (CO 52,289f.); vgl. Calvin, Inst. (1559), II,14,5. – OS III,465,11f.: »[…] asci aliud diceremus quam manifestatum fuisse in carne.« Vgl. Ch. Link, Die Entscheidung der Christologie Calvins und ihre theologische Bedeutung. Das sogenannte Extra-Calvinisticum, EvTh 47 (1987), (97–119) 101. 27 Vgl. H.A. Oberman, Die »Extra«-Dimension in der Theologie Calvins, in: H. Liebing / K. Scholder (Hg.), Geist und Geschichte der Reformation. Festgabe Hanns Rückert, AKG 38, Berlin 1966, (323–356) 341: »Das ewige Wort Gottes ist Mittler und Versöhner nicht erst seit der Inkarnation, sondern von den Anfängen der Schöpfung an.« 28 Calvin, Komm. Joh 1,5 (CO 47,7): »Ut est aeternus Dei sermo, per eum conditus fuit mundus: eius virtute acceptam semel vitam omnia retinent«. 29 So auch W. Nijenhuis, Art. Calvin, Johannes, TRE 7 (1981), (568–592) 583: »Das extra ist […] als Ausdruck einer eschatologischen Dimension zu verstehen, die für Calvins Theologie sehr wesentlich ist.« 25

Das sog. »Extra-Calvinisticum« als Zugang

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habe, das Fleisch wurde. Gottes Sohn begann also sein Menschsein so, daß er doch auch weiterhin jenes ewige Wort war, das keinen Anfang in der Zeit hat.«30

Calvin sieht »die völlige Übereinstimmung von Christus und Sohn Gottes«31 (veram et solidam approbationem) nicht berührt. Es kommt zu keiner »Uneigentlichkeit« (improprietatis).32 Die obige Differenzierung fordert für Calvin geradezu das sog. »Extra-Calvinisticum«, d.h. jene Extra-Dimension, der zufolge von einem Wirken des Logos als zweiter Person der Trinität »etiam extra carnem« auszugehen ist. Was genau besagt nun dieses konfessionskontroverse Lehrstück, das Calvin als Beschreibung des »großen Wunders« (mirabiliter enim) versteht? In seiner berühmten, gleichsam lehrbildenden Formulierung, mit der er das »Extra-Calvinisticum« auf den Punkt gebracht hat, heißt es: »Das ist das große Wunder: der Sohn Gottes ist vom Himmel herniedergestiegen – und hat ihn doch nicht verlassen; er ist aus der Jungfrau geboren worden, ist auf der Erde gewandelt, ja er hat mit seinem Willen am Kreuze gehangen – und hat er immerfort die ganze Welt erfüllt, wie im Anfange!»33 Ausführlicher noch heißt es im Kontext der Abendmahlslehre Calvins: »Wenn es heisst, ›der Herr der Herrlichkeit‹ sei ›gekreuzigt‹ worden (1Kor 2,8), so meint Paulus damit nicht, dass Christus in seiner Gottheit irgendetwas erlitten hätte, nein, er redet so, weil Christus, der als ein Verworfener und Verachteter im Fleische gelitten hat, doch zugleich Gott war und der Herr der Herrlichkeit. In diesem Sinne war auch ›des Menschen Sohn im Himmel‹ (Joh 3,13): es war eben der nämliche Christus selber, der nach dem Fleische als des Menschen Sohn auf Erden wohnte, zugleich Gott im Himmel. Aus diesem Grunde heißt es an der nämlichen Stelle auch, er sei nach seiner Gottheit ›herniedergekommen‹ – nicht dass die Gottheit den Himmel verlassen hätte, um sich in dem Knechthaus des Leibes zu verbergen, sondern weil sie, obwohl sie alles erfüllte, doch eben in der Menschheit Christi leiblich, und das heißt: natürlich, und auf eine unaussprechliche Weise wohnte.«34

2.2 Die Verortung des »Extra-Calvinisticum« im Referenzrahmen der Mittlerchristologie Calvins Beim »Extra-Calvinisticum« handelt es sich um eine christologische Lehrentscheidung, die – wie der auf Calvin rekurrierende Name bereits besagt – auf reformierte Provenienz zurückgeführt wird. Allerdings erweist sich – in dogmen- bzw. ideen30

Calvin, Komm. Joh 1,14 (CO 47,14). Ders., Komm. Joh 1,14 (CO 47,15). 32 Ebd. 33 Calvin, Inst. (1559), II,13,4. – OS III,458,9–13: »Mirabiliter enim e caelo descendit Filius Dei, ut caelum tamen non relinqueret: mirabiliter in utero Virginis gestari, in terries versari, et in cruce pendere voluit, ut semper mundum impleret, sicut ab initio.« 34 A.a.O., IV,17,30. Dort z.T. kursiv. – OS V,389,1–12. 31

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geschichtlichem Lichte betrachtet – bereits diese Rückführung als Ausdrucksform einer gewissen konfessionellen Polemik, da diese Lehrentscheidung schon bei Athanasius, Gregor von Nyssa und Petrus Lombardus nachweisbar ist.35 E.D. Willis hat deshalb zutreffend davon gesprochen, dass Calvin in Übereinstimmung mit den Kirchenvätern ein »Extra Catholicum« oder »Extra Patristicum« lehrte.36 Auch Martin Luther kann in »De servo arbitrio« (1525) konstatieren: »Denn da [sc. d.h. indem er Leben, Tod und alles in allem wirkt; M.H.] hat er [sc. der in seiner Majestät verborgene Gott; M.H.] sich ja nicht in seinem Wort festgelegt, sondern sich frei bewahrt über allem.«37 Karl Barth sieht vor allem in Luthers Lied »Vom Himmel hoch« (1535) »das extra in aller Form angedeutet«38: »Und wär die Welt vielmal so weit, / von Edelstein und Gold bereit‹, / so wär sie doch dir viel zu klein, / zu sein ein enges Wiegelein.«39 Was die Nomenklatur betrifft, so wurde der Begriff »Extra-Calvinisticum« von der lutherischen Orthodoxie – genauer: vom lutherischen Theologen Theodor Thumm40 – geprägt.41 Calvin hat es gewissermaßen auf die Formel gebracht und diese – wie seine gesamte Logos-Lehre – in den Bezugsrahmen seiner Mittler-Christologie42 hineingestellt. Calvin denkt – mit anderen Worten – die Logos-Christologie vom Amt Christi als Mittler zwischen Gott und Mensch her und interpretiert die Inkarnation in diesem Zusammenhang als akkommodierende und erwählende Tat Gottes.43 Dabei hält sich Calvin bewusst in den regulativen Grenzen chalcedonensischer Formulierungen auf, zumal der Mittler zugleich vere

35

Belege liefern u.a. Oberman, Die »Extra«-Dimension, bes. 338–352; Barth, KD I/2, 184; Link, Die Entscheidung der Christologie Calvins, 98. 36 E.D. Willis, Calvin’s Catholic Christology. The Function of the so-called Extra Calvinisticum in Calvin’s Theology, SMRT 2, Leiden 1966, 60. So auch Ch. Aus der Au, Das Extra Calvinisticum – mehr als ein reformiertes Extra?, ThZ 64 (4/2008), (358–369) 360. 37 M. Luther, WA 18,685,23f. (De servo arbitrio, 1525): »Neque enim tum verbo suo definivit sese, sed liberum sese reservavit super omnia.« Zit. nach M. Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe. Bd. 1: Der Mensch vor Gott, hg. von W. Härle, Leipzig 2006, 406f. 38 Barth, KD I/2, 185. Vgl. auch Link, Die Entscheidung der Christologie Calvins, 111. 39 M. Luther, EG 24,10. 40 Nachgewiesen von E.D. Willis, Calvin’s Catholic Christology, 57 (Anm. 2). 41 So A.I.C. Heron, Art. Extra Calvinisticum, 3EKL 1 (1986), (1247–1248) 1247; E. Busch, Art. Extra Calvinisticum, Lexikon für Theologie und Gemeinde 1 (1992), (590–591) 590; Nijenhuis, Art. Calvin, 583. 42 Vgl. Calvin, Inst. (1559), II,12–17. – OS III,437–515. 43 Vgl. E.D. Willis, Rhetoric and Responsibility in Calvin’s Theology, in: A.J. McKelway / E.D. Willis (Hg.), The Context of Contemporary Theology. Essays in Honor of Paul Lehmann, Atlanta 1974, (48–64) 58: »Calvin’s thought is not determined by the philosophical principle, as often alleged, of finitum non capax infiniti. Calvin’s thought is centrally that God does indeed accommodate himself to our capacity. Humanitas capax divinitatis per accomodationem.«

Das sog. »Extra-Calvinisticum« als Zugang

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homo und vere deus sein müsse.44 Zwei s.E. notwendige Abgrenzungen45 nimmt Calvin vor, indem er zum einen die Einheit der Person als zusammengewachsen (coalescere), aber nicht vermischt, und zum anderen als zusammengewachsen, aber nicht eingeschlossen (inclusio), bestimmt: »[D]as Wort ist zwar freilich in der Unermesslichkeit seines Wesens mit der Natur des Menschen zu einer Person zusammengewachsen, aber doch nicht darin eingeschlossen!«46 Die erste Abgrenzung, wonach der Sohn Gottes in seiner Menschwerdung (Inkarnation) unsere Menschlichkeit ganz annimmt, ohne sich freilich mit dieser zu vermischen, bezieht sich zeitgeschichtlich auf die bereits seit 1536 als »furiosi et phrenetici«47 charakterisierten Gegner Calvins, die er immer wieder – u.a. im Carolistreit48 (1545) – als »Manichäer« und »Marcioniten« identifiziert49 und unter die er später ausdrücklich auch Michel Servet rechnet.50 Calvin betont: »Wenn es nun heißt: ›das Wort ward Fleisch‹ (Joh 1,14), ist das nicht so zu verstehen, als ob entweder das Wort in Fleisch verwandelt oder mit dem Fleisch vermischt worden wäre, sondern weil es sich aus dem Schoß der Jungfrau heraus einen Tempel erwählt hat, um darin zu wohnen, und weil der, welcher der Sohn Gottes war, zum Menschensohn geworden ist; nicht durch Vermischung der Substanz, sondern durch die Einheit der [sc. relational verstandenen; M.H.] Person.«51

Calvins Mittlerchristologie wendet sich, wenn man sie den altkirchlichen christologischen Streitigkeiten zuordnen möchte, sowohl gegen Eutyches (»unvermischt«) als auch Nestorius (»ungetrennt«).

44

Vgl. Calvin, Inst. (1559), II,12,1. – OS III,437,3f. Dazu: H. Dembowski, Einführung in die Christologie, Darmstadt 31993, 140: »Als dieser Mittler mußte er [sc. Jesus Christus; M.H.] Gott und Mensch sein, unvermischt und ungetrennt in der Vereinigung der Naturen. Als Mittler aber ist er nicht nach seinen Naturen, sondern als der zum Heil Gesandte in seiner persönlichen Einheit zu sehen: er ist der Immanuel, der Messias.« 45 Diese beiden Abgrenzungen hat P. Opitz, Calvins theologische Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1994, 145–153, klar distinguiert. 46 Calvin, Inst. (1559), II,13,4. – OS III,458,7–9. 47 Calvin, Inst. (1536), II,68. – OS I,81,42f. 48 Calvin, CStA 1/1, 238f. (Gegen die Verleumdungen des P. Caroli, 1545). 49 U.a. Calvin, Inst. (1559), II,13,1. – OS III,447,21. 50 So a.a.O., I,13,22. – OS III,137,24f.; Inst. (1559), II,14,5. – OS III,464,7; Inst. (1559), II,14,6. – OS III,466,10. 51 A.a.O., II,14,1. – OS III,458,16–21.

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2.3 Sakramentaltheologische Konsequenzen des »ExtraCalvinisticums« für die Abendmahlslehre52 Die zweite Abgrenzung, wonach der Logos mit der menschlichen Natur zusammenwächst, ohne in sie eingeschlossen zu werden, hatte auch sakramentaltheologische Auswirkungen. Der lutherisch-reformierte Abendmahlsstreit des 16. Jahrhunderts wurzelte letztlich in dieser Betonung. Mit der Ubiquitätslehre war der modus praesentiae Christi im Abendmahl von der Aussage betroffen, dass der göttliche Logos – ungeachtet seiner vollen Einwohnung in der Menschheit – ganz außerhalb (extra) derselben bleibt. Das »Dass« der Präsenz Christi im Abendmahl als Gott war davon nicht berührt, wohl aber sah man die Präsenz Christi als Mensch betroffen, insofern die Ubiquität seiner menschlichen Natur auf Erden nach der Erhöhung zur Rechten des Vaters durch eine räumliche Lokalisierung im Himmel ausgeschlossen werde. Calvin war in der Tat davon überzeugt: »[W]enn sich der Logos […] nicht in die Grenzen seiner menschlichen Natur einschließen lässt, dann lässt sich die Gegenwart des auferstandenen Christus nicht durch die Allgegenwart (Ubiquität) seines Leibes ›in, mit und unter‹ den Elementen verständlich machen.«53 Im Abendmahlsstreit mit dem Lutheraner Joachim Westphal (1510–1574)54 wurde deutlich,55 dass die Präsenz Christi »nur« nach seiner göttlichen Natur im Abendmahl als defizitär empfunden wurde. Calvin hielt dagegen, indem er im Blick auf die Ubiquitätslehre mit Petrus Lombardus ein hinreichendes totus betonte: »[T]otus Christus ubique est, non tamen totum.«56 In Calvins eigenen Worten:

52

Zur Abendmahlslehre Calvins vgl. Link, Die Entscheidung der Christologie Calvins, 105–109; E. Busch, Gotteserkenntnis und Menschlichkeit. Einsichten in die Theologie Johannes Calvins, Zürich 2005, 111–138; H.H. Esser, Abendmahlslehre – Abendmahlspraxis – Abendmahlsgemeinschaft in reformierter Sicht, in: W. van’t Spijker (Hg.), Calvin. Erbe und Auftrag. FS für Wilhelm H. Neuser zum 65. Geburtstag, Kampen 1991, 356–378; F. Ewerszumrode, Mysterium Christi spiritualis praesentiae. Die Abendmahlslehre des Genfer Reformators Johannes Calvin aus römisch-katholischer Perspektive, RHT 19, Göttingen 2012. 53 Ch. Link, Art. Extra Calvinisticum, RGG4 2 (1999), (1841–1842) 1841. 54 J.N. Tylenda, The Calvin-Westphal-Exchange. The Genesis of Calvin’s Treatises Against Westphal, CTJ 9 (1974), 182–209; J.N. Tylenda, Calvin and Westphal, in: W.H. Neuser (Hg.), Calvin’s Books. Festschrift Dedicated to Peter DeKlerk on the Occasion of his Seventieth Birthday, Herrenveen 1997, 9–21. 55 Was die Genese des sog. Extra-Calvinsticums innerhalb der innerprotestantischen Streitigkeiten betrifft, so wurde inzwischen herausgearbeitet: Calvin »folgt dem Gedankengang Melanchthons in dessen Vorlesungsdiktat zu Kol 3,1 vom Juni 1557, das ihm bekannt wurde. Der Wittenberger hatte jedoch den direkten Bezug auf das Abendmahl vermieden. Den Begriff ›extra‹ verwendet Calvin nicht, er taucht erst im Heidelberger Katechismus (Frage 48) auf.« Neuser, Von Zwingli und Calvin bis zur Synode von Westminster, 249. Vgl. E. Sturm, Der junge Zacharias Ursinus. Sein Weg vom Philippismus zum Calvinismus (1534–1562), BGLRK 33, Neukirchen-Vluyn 1972, 73–82. 56 Calvin, Inst. (1559), IV,17,30. – OS V,389,13.

Das sog. »Extra-Calvinisticum« als Zugang

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»Da also unser Mittler ganz allenthalben ist, so ist er stets bei den Seinen gegenwärtig und erweist sich im Abendmahl auf besondere Weise als anwesend – aber doch so, dass er als Person ganz (totus) gegenwärtig ist, nicht aber nach seinen beiden Naturen (totum); denn, wie gesagt, in seinem Fleische wird er vom Himmel umschlossen, bis er zum Gericht erscheint.«57

Das »Extra-Calvinisticum«, das seinen ursprünglichen Sitz im Leben in der Abendmahlslehre hat, betont also das Paradox, wonach Christus »totus […], non totum«58 im Fleisch erschienen ist. Dieser christologische Topos ist indes keineswegs im Sinne des metaphysischen Vorbehalts »finitum non capax finiti« zu verstehen, sondern im Sinne des Zugleichs von »totus intra carnem« und »totus extra carnem« als Ausdruck von Calvins theologischem Anliegen, die bleibende und nicht etwa absorbierte bzw. reduzierte Herrschaft Christi als Sohn Gottes zu bezeugen.59 Bei Samuel Maresius heißt es später: »Sic porro eam sibi (λόγος) naturam humanam univit, ut totus itidem eam inhabitet et totus quippe immensus et infinitus extra eam sit.«60 Der Sohn Gottes wohnt demnach der Menschheit ganz ein und bleibt doch ganz außerhalb von ihr (et extra eam sit)! Die wirkliche Einwohnung des Gottessohnes in der Menschheit erfährt also keineswegs eine Bestreitung; die Verbindung des Gottessohnes mit dem angenommenen Fleisch wird vielmehr nachdrücklich festgestellt bzw. behauptet. Otto Weber hat die konfessionelle Kontroverse im Sinne einer unterschiedlichen Akzentsetzung auf folgenden neuralgischen Punkt zu bringen versucht: »In ihm (Christus) begegnet uns Gott [...]. Das kann bei Luther schon früh zu Äußerungen führen, die modalistisch und monophysitisch klingen. Denn dem Wittenberger geht es darum, dass Gott uns wahrhaft in ihm, in Christus begegnet. Calvin akzentuiert umgekehrt: Es geht ihm darum, dass in dem wahrhaften Menschen Jesus wahrhaft Gott an uns handelt.«61

57

A.a.O., IV,17,30. Dort z.T. kursiv. – OS V,389,16–20. A.a.O., IV,17,30. – OS III,389,18f.; übernommen von Petrus Lombardus, Sent III,22,3 = MSL 192,804: »Quod Christus ubique totus est, sed non totum; ut totus est homo vel Deus, sed non totum.« 59 Vgl. Opitz, Calvins theologische Hermeneutik, 152. 60 S. Maresius, Syst. breve univ. theol., Genf 1662, IX,30. Zit. nach H. Heppe / E. Bizer, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, Neukirchen-Vluyn 1958, 335. 61 O. Weber, Grundlagen der Dogmatik II, Neukirchen-Vluyn 1962, 149. 58

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»Das gewisse Extra!«

2.4 Das Surplus des »Extra-Calvinisticums« seiner theologischen Funktion nach: Freiraum offenhalten 2.4.1 Die eigentliche Intention des »Extra-Calvinisticums« Es ging Calvin bei der Ubiquitäts-Lehre und der Frage nach der Allgegenwart Christi seiner menschlichen Natur nach im Abendmahl um mehr als einen »kalte[n] Dogmenglaube[n]«;62 die Gegenwart der göttlichen Natur war – wie bereits ausgeführt – ohnehin nie strittig. Auch war der Genfer Reformator keineswegs an einem philosophischen Prinzip oder Axiom interessiert, das zusammen mit seinen naiv anmutenden Raumvorstellungen63 für uns heute Ausdrucksform »schlechter Metaphysik« zu sein scheint. Mit A.I.C. Heron lässt sich indes konstatieren, dass es Calvin »um ein wesentliche[s] theol[ogisches] und soteriologische[s] Anliegen [ging], bes. [nämlich] um die uneingeschränkte Gottheit und die wahre und echt bleibende Menschlichkeit Jesu Christi.«64 Treffend führt Heron weiter aus: Es »wurde gerade durch das E[xtra] C[alvinisticum] ein notwendiger Freiraum offengehalten für die eschatologische, alle Geschichte souverän übergreifende Dynamik dessen, was durch die Menschwerdung geschehen ist, und der Gefahr der bloßen Historisierung bzw. sakramentalen Vereinnahmung eine Schranke entgegen gesetzt.«65 Historisierung und sakramentale Vereinnahmung werden in ihrem Gefahrenpotential gleichsam als ein Nostrifikationsversuch kritisch wahrgenommen, der sich einer reinen Immanenz Gottes auf Kosten seiner Transzendenz bemächtigen will.66 Das »Extra-Calvinisticum« möchte demgegenüber Gottes »Freiraum« offenhalten. Dieser Freiraum Gottes ist – um die Metapher aufzugreifen – die eigentliche Lokalität bzw. Räumlichkeit, um die es im »Extra-Calvinisticum« 62

Wüstenberg, Christologie, 18; 58 u.ö. Zur Raumvorstellung Calvins vgl. M.D. Wüthrich, Raum Gottes. Ein systematisch-theologischer Versuch, Raum zu denken, FSÖTh 143, Göttingen 2015, 215–229. 64 Heron, Art. Extra Calvinisticum, 1248. 65 Ebd. 66 Das lässt sich vom »Extra-Calvinisticum« her theologisch auch kritisch gegen Versuche der Rekonstruktion des sog. »historischen Jesus« einwenden. Wie D. Schellong, »Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?« Rückfragen zur Suche nach dem historischen Jesus, in: Entwürfe 6, hg. von F.-W. Marquardt u.a., München 1990, 2–47, in bedenkenswerter Weise eingewandt hat, wird mit dem »historischen Jesus« nach »de[m] Lebendigen bei den Toten« (Lk 24,5) gesucht. Vom »Extra-Calvinisticum« her wird indes deutlich: »Der irdische Jesus ist […] geschichtliche Vergangenheit und kann sich nicht unmittelbar zu unserer Gegenwart verhalten. Das heisst, er muss uns in einer neuen Gestalt je und je zum Ereignis werden. Diese neue Gestalt ist der Geist Christi, der die Gegenwart Christi immer wieder neu in der heutigen Welt schafft.« So Aus der Au, Das Extra Calvinisticum, 362, im Anschluss an Link, Die Entscheidung der Christologie Calvins, 104. Das »intra« des irdischen Jesus, sein »Sein« in der Welt, will theologisch vor dem Hintergrund des »extra« bleibender Geist­ ereignisse als Vergegenwärtigung des Christus verstanden werden. Mit den Mitteln des Historischen dürfte dies wohl kaum methodisch einholbar sein. Vgl. O. Hofius, Die Frage nach dem »historischen Jesus« als theologisches Problem, in: H. Assel (Hg.), Leidenschaft für die Theologie, Leipzig 2012, 79–117. 63

Das sog. »Extra-Calvinisticum« als Zugang

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geht. Insofern hat es eine topologische Pointe: »Die Reformierten sahen dort [sc. im Luthertum, wo das Hineingenommensein des Fleisches in das göttliche Wesen betont wird; M.H.] die Gefahr der Vergottung des menschlichen ›Fleisches‹ drohen.«67 Der Einspruch gegen Kreaturvergötzung berührt bis heute einen wesentlichen »Identitätsmarker« reformierter theologischer Existenz.68 Das Anliegen des »Extra-Calvinisticums« kann demgegenüber in positiver Hinsicht als Akzentuierung des vere homo bestimmt werden: »Das Anliegen dieser Lehre ist […] zum einen die Betonung, dass der vom Gottessohn in seine Gemeinschaft aufgenommene Mensch wirklich Mensch ist, einer wie wir, da wir sonst nicht unserer Erlösung gewiß sein könnten.«69 Zum anderen besteht das Anliegen in der »Hervorhebung des Ereignisses der Menschwerdung in ihrem Gefälle von Gott her, so dass ihr Ertrag nicht in ein menschliches ›Haben‹ umgedeutet werden kann.«70 2.4.2 Das »Extra-Calvinisticum« als Ermöglichungsgrund einer Schöpfungslehre Freilich ist lutherischerseits auch eine Gefahr gesehen und markiert worden, die als Kehrseite der Abgrenzung gegenüber einem »Immanentismus« droht. Als kritische Anfrage formuliert: Heißt und bedeutet das »Extra-Calvinisticum« nicht – zugespitzt gefragt – Welt-Entzug Gottes, und zwar in beide Richtungen: Gott wird der Welt entzogen und die Welt Gott? Der lutherische Vorwurf, dass die Einheit der Person Christi verdrängt und damit das getrennt werde, was Gott zusammengefügt hat, nämlich die beiden Naturen Christi, verbirgt sich hinter dieser kritischen Anfrage. Diesen Verdacht greift die Frage 47 des Heidelberger Katechismus71 explizit auf: »Ist denn Christus nicht bei uns bis ans Ende der Welt, wie er uns verheißen hat?« Darauf antwortet der Katechismus – das »Extra-Calvinisticum« gewissermaßen vorbereitend: »Christus ist warer mensch und warer Gott: Nach seiner menschlichen natur, ist er jetzunder nit auff erden: aber nach seiner Gottheyt, Maiestet, gnad unnd Geist, weicht er nimmer von uns.«72 Den naheliegenden Einwand, mit 67

Busch, Extra Calvinisticum, 591. So auch F. Wendel, Calvin. Ursprung und Entwicklung seiner Theologie, übers. von W. Kickel, Neukirchen-Vluyn 1968, 196: »Aber er [sc. Calvin; M.H.] verwirft kategorisch die Ubiquität des Leibes Christi, und zwar aus den gleichen Gründen, die ihn jeden Versuch der Vergöttlichung des Menschen, selbst in der Person Jesu Christi, zurückweisen ließen.« 68 Vgl. A. Schweizer, Die Christliche Glaubenslehre nach protestantischen Grundsätzen, Bd. 1, Leipzig 1863, 8. 69 Busch, Extra Calvinisticum, 590. 70 Ebd. 71 Zum »Extra-Calvinisticum« im Heidelberger vgl. M.D. Wüthrich, Ein »theologischer Betriebsunfall«? – Erwägungen zum sog. extra calvinisticum ausgehend vom Heidelberger Katechismus, ThZ 70/2 (2014), 97–117. 72 Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche (BSRK), hg. von E.F.K. Müller, Leipzig 1903, 695,2–4.

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»Das gewisse Extra!«

dieser Auskunft die Naturen nestorianisch zu separieren, greift der Heidelberger auf, indem er direkt anschließend (Frage 49) fragt: »Werden aber mit der weis die zwo naturen in Christo nit von einander getrennet, so die menscheit nicht uberal ist, da die Gottheyt ist?«73 Die Antwort des Heidelbergers lautet demgegenüber: »Mit nichten: Denn weil die Gottheyt unbegreiflich und allenthalben gegenwertig ist: so muß folgen, daß sie wol ausserhalb jrer angenommenen menschheyt, und dennoch nichts desto weniger auch in derselben ist, und persönlich mit jr vereinigt bleibt.«74 Auch Calvin weist den Vorwurf, Christus throne gemäß seiner (Calvins) Theologie seinen beiden Naturen nach im Himmel und überlasse die Welt gleichsam sich selbst, strictissime von sich. Im Blick auf die Himmelfahrt schreibt Calvin: »Er [sc. Christus; M.H.] ist eben so von uns gegangen, dass er uns nun auf viel segensreichere Art gegenwärtig sein kann als während der Zeit seines Erdenwandels, als er sich noch auf die niedrige Wohnstatt des Fleisches beschränkte. […] Jetzt gilt: ›Er ist nicht hier‹, denn nun sitzt er zur Rechten des Vaters – und doch ist er hier; denn die Nähe seiner Herrlichkeit ist nicht von uns gewichen«.75

Hier wird die pneumatologische Pointe Calvins ansichtig: Als Christus praesens ist der Heilige Geist auch nach der Himmelfahrt segensreich76 gegenwärtig.77 Der zur Rechten des Vaters erhöhte Christus »präsentiert« sich gleichsam durch seinen Geist, »um den Mangel seiner Abwesenheit auszufüllen (absentiae suae defectui)«.78 Der Heilige Geist verbindet als der Geist des präexistenten Logos, als Geist des menschgewordenen Sohnes Gottes79 und als Christus praesens nach der Himmelfahrt Christus und Schöpfung,80 ja Gott und Welt und überbrückt somit 73

A.a.O., 8–10. A.a.O., 12–15. 75 Calvin, Inst. (1559), II,16,14. Dort z.T. kursiv. – OS III,501,28–30; 502,34–36. 76 Zur Segenstheologie Calvins vgl. M.L. Frettlöh, Theologie des Segens. Biblische und dogmatische Wahrnehmungen, Gütersloh 42002, 134–188. 77 Treffend Aus der Au, Das Extra Calvinisticum, 362: »Der zur Rechten erhöhte Christus ist mit uns durch seinen Geist. Dabei steht der Geist nicht für ›Gott an und für sich‹, sondern er vertritt den in Jesus von Nazareth Mensch gewordenen Gott. In diesem Geist ist also der ganze Christus mitsamt seiner Menschheit gegenwärtig.« So auch Link, Die Entscheidung der Christologie Calvins, 103f. 78 Calvin, Inst. (1559), IV,17,26. – OS V,378,22–24: »Atqui hoc modo non substitueret Christus spiritum sanctum supplendo, ut loquuntur, absentiae suae defectui.« 79 Von daher lässt sich – mit dem lutherischen Anliegen vermittelt – die Konsequenz ziehen: »Die dritte Person der Trinität ist der Geist Jesu Christi, dessen Menschheit unvermischt und ungetrennt im Heiligen Geist eingeschlossen ist.« Aus der Au, Das Extra Calvinisticum, 368, im Anschluss an Link, Die Entscheidung der Christologie Calvins, 114. 80 Insofern muss die an sich treffende Bemerkung H.H. Essers (Hat Calvin eine »leise modalisierende Trinitätslehre?, in: W.H. Neuser [Hg.] Calvinus Theologus. Die Referate des Europäischen Kongresses für Calvinforschung vom 16. bis 19. September 1974 in Amsterdam, Neukirchen-Vluyn 1976, 113–129, 124) um den Christus praesens erweitert werden: »Die Gottheit des Sohnes, bei der Calvins Hauptinteresse liegt, wird unterschieden als Gott74

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die qualitative Differenz seiner Immanenz und Transzendenz.81 Der Logos ist dabei auch extra carnem, aber er ist doch niemals extra Christum, so dass dieser eo ipso seine Gottheit verlieren und zu einem purus homo degradiert würde. Ohne Pneumatologie sind weder Christologie noch Schöpfungstheologie theologisch zu denken, aber ohne Christologie eben auch nicht Pneumatologie und Schöpfungslehre.82 Alle drei sieht Calvin relational in streng trinitarischem Rahmen miteinander verbunden.83 Genau dies kommt im »Extra-Calvinisticum« – wie sich in der Calvin-Forschung insbesondere Christian Link84 herauszuarbeiten bemüht hat – zur Sprache. Link identifiziert das »Extra-Calvinisticum« als ein »verborgen wirksame[s] Zentrum seiner [sc. Calvins; M.H.] gesamten Theologie«.85 Durch seine Logoslehre stelle Calvin den Glauben an Jesus Christus in den universalen Horizont der Schöpfung.86 Das Christusereignis habe ausweislich der Fleischwerdung des Wortes eine die gesamte Schöpfung betreffende Valenz. Christian Link kann sich deshalb in seinem eigenen schöpfungstheologischen Entwurf explizit auf Calvin und das »Extra-Calvinisticum« berufen,87 um eine isolierte Schöpfungstheologie zu überwinden und um zugleich das Phänomen einer natürlichen Theologie nicht einfach nur abweisen zu müssen, sondern eingedenk seiner noetisch-epistemischen Schwächen sachgemäß adressieren zu können.88 Er sieht bei Calvin mit dem »Extra-Calvinisticum«

heit des Wortes, das bei Vater ist und bleibt, und als Gottheit des fleischgewordenen Wortes; erstere erweist sich vor allem aus dem Johannes-Prolog, auch in ihrer Ewigkeit, letztere aus vielen Zeugnissen Alten (!) und Neuen Testaments, ebenso aus seinen Werken und Wundern.« 81 Vgl. Aus der Au, Extra Calvinisticum, 364; Link, Die Entscheidung der Christologie Calvins, 110; 112. 82 Der letztgenannte Aspekt tritt der Tendenz nach leider bei Ch. Link zurück. Kritisch dazu: D. Schönberger, Gemeinschaft mit Christus. Eine komparative Untersuchung der Heiligungskonzeptionen Johannes Calvins, John Wesley und Karl Barths, FRTH 2, Neukirchen-Vluyn 2014, 172–174. 83 Vgl. M. Beintker, Calvins Denken in Relationen, ZThK 99 (2002), (109–129) 120–122. 84 Link, Die Entscheidung der Christologie Calvins, 97–119; ders., Schöpfung. Schöpfungstheologie in reformatorischer Tradition, HST 7/1, Gütersloh 1991, 120–175. 85 Link, Schöpfung I, 175. 86 Vgl. auch I. Werner, Calvin und Schleiermacher im Gespräch mit der Weltweisheit. Das Verhältnis von christlichem Wahrheitsanspruch und allgemeinem Wahrheitsbewußtsein, Neukirchen-Vluyn 1999, 263. 87 Vgl. Ch. Link, Schöpfung. Schöpfungstheologie angesichts der Herausforderungen des 20. Jahrhunderts, HST 7/2, Gütersloh 1991, 542. 88 Calvin zufolge soll die Entschlüsselung des »natürlichen Ahnvermögens« (naturalis instinctus) bzw. der »Empfindung für die Gottheit« (sensus divinitatis) – so Calvin, Inst. (1559), I,3,1 (OS III,37,16f.) – im Lichte der Christusoffenbarung erfolgen. Vgl. dazu Link, Schöpfung I, 149ff.; P. Opitz, Calvins Gebrauch des Begriffs »religio«, in: D.F. Wright u.a. (Hg.), Calvinus evangelii propugnator – Calvin, Champion of the Gospel. Papers Presented at the International Congress on Calvin Research Seoul, 1998, Grand Rapids 2006, 161– 174.

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»Das gewisse Extra!« »eine tragfähige Brücke [sc. gegeben; M.H.], die die ›cognitio Dei redemptoris‹ (Inst II) mit der ›cognitio Dei creatoris‹ (Inst I) verbindet. Dann aber ist es nicht gut möglich, das Unternehmen einer ›natürlichen‹ Gotteserkenntnis von vornherein als Heidentum abzustempeln. Es wird im Zeichen des Logos vielmehr zum Test auf den universalen Wahrheitsanspruch des in Christus zur Welt gekommenen Gottes. Calvin fragt nach der Existenz dieser ›Brücke‹, behauptet aber mit keiner Silbe, daß diese Brücke deshalb auch schon begangen, geschweige denn von jedermann begehbar sei.«89

Die Gottesbezogenheit der gesamten Schöpfung sieht Link so unterstrichen. Eine absolute Gottlosigkeit der Welt und des Menschen sei so nicht denkmöglich.90 Vielmehr erlaube es das »Extra-Calvinisticum«, nicht nur theologische Partikularität, sondern auch Universalität christologisch redimensioniert zu denken. Calvins Ausführungen zum »Extra-Calvinisticum« haben zweifellos einen schöpfungstheologischen Akzent, wie die Rede von der Erfüllung der ganzen Welt durch den in Christus Mensch gewordenen Logos zeigt: »Der Glaube an die Fleischwerdung des Wortes wird durch das ›extra‹ nicht nur in den Horizont der Geschichte, sondern, ihn weit übergreifend, auch in den universalen Horizont der Schöpfung gestellt. Es gibt also ungeachtet der Offenbarung in Christus, wenngleich unabdingbar auf sie bezogen, ein Vermögen Gottes, sich auch in der von keinem Evangelium und keiner Mission berührten Welt bekannt zu machen und diese Welt für sich reden zu lassen.«91

Freilich dürfte auch die Welt der Religionen, die mit dem Christentum in Berührung gekommen ist, was keineswegs mit der Berührung durch Evangelium und Mission gleichzusetzen ist, davon nicht ausgenommen sein. Dies ist eigens zu thematisieren. Was Link nicht oder nur in Ansätzen getan hat, soll nun im Folgenden nachgeholt werden. 2.4.3 Das »Extra-Calvinisticum« als Ermöglichungsgrund einer Theologie der Religionen Mehrfach hat Reinhold Bernhardt auf die Bedeutsamkeit des »Extra-Calvinis­ ticums« für eine Theologie der Religionen aufmerksam gemacht;92 aus gutem Grund, wie sich zeigen lässt. Freilich scheint ein Umweg nötig zu sein, um dieser Tragweite ansichtig zu werden. Diese Tragweite der umstrittenen Lehrbildung 89

Link, Schöpfung I, 146. So auch ders., Die Entscheidung der Christologie Calvins, 117. Vgl. auch E. Jüngel, Gott – um seiner selbst willen interessant. Plädoyer für eine natürlichere Theologie, in: ders., Entsprechungen. Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, BEvTh 88, München 1980, (193–197) 195. Siehe fernerhin: Werner, Calvin und Schleiermacher, 277. 91 Dies betont Link, Schöpfungstheologie I, 156, treffend. So auch ders., Die Entscheidung der Christologie Calvins, 118. 92 So Bernhardt, Christologie im Kontext einer »Theologie der Religionen«, 105f.; ders., Extra Christum nulla salus, 136; ders., Christologie im Kontext der Religionstheologie, in: 90

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tritt indirekt, d.h. vermittelt über eine keineswegs gegen die Christologie auszuspielende, sondern präzise beim Christus praesens ansetzende Pneumatologie ins Licht. Dies besagt: Wenn, wie das »Extra-Calvinisticum« behauptet, der leiblich zur Rechten des Vaters erhöhte Christus durch die Gegenwart seines die Schranken der Leiblichkeit aufbrechenden Geistes präsent ist, dann eröffnet dies die Möglichkeit, mit einer Manifestation des fleischgewordenen Wortes in der Welt der Religionen zu rechnen.93 Dass solche Manifestationen extra muros ecclesiae zu suchen sind, dürfte evident sein.94 Dass sie deshalb aus der biblisch bezeugten Christusoffenbarung herausfallen, ist hingegen keineswegs ausgemacht. Vielmehr darf mit Offenbarungserfahrungen in der Welt der Religionen im Sinne sich ereignender Vergegenwärtigungen Christi im Geist gerechnet werden. Er ist ja gerade der Logos, der nach Calvin die ganze Welt erfüllt. Warum sollte der Logos die Religionen aussparen? Calvin kann vielmehr konstatieren: »Da hat aber keiner Anlass zu fragen: Was haben denn die Gottlosen mit dem Heiligen Geist zu schaffen, sie sind doch ganz und gar von Gott getrennt?«95 Das »Extra-Calvinisticum« nimmt dieser Frage gleichsam ihre Berechtigung. Mit dem, was sich von Calvin her sagen lässt, ist zugleich der Bereich der Mysterien berührt,96 die die Herrschaft des Logos betreffen: »Die Offenbarung Gottes läßt bis zum Jüngsten Tag, der Ankunft des verherrlichten Herrn, noch eine Anzahl Mysterien verhüllt. Bis dahin bleiben uns noch verborgen die Mysterien von Christi Herrschaft etiam extra ecclesiam, der Gabe seiner Gemeinschaft etiam extra coenam, von Gottes Regiment etiam extra legem, seines ius mundi regendi nobis incognitum (CR 30,156).«97

Der allzu naheliegenden Neigung, die Welt der Religionen im Sinne einer freiflottierenden, gleichsam vagabundierenden Pneumatologie im schwerlich abzuweisenden Inklusionsgriff einzuholen – nach dem Motto: »Der Geist weht, wo er will. Warum nicht auch in der Welt der Religionen?« –, kann Calvin indes via christologischer bzw. trinitätstheologischer Rückbindung widerstehen: »Die eigentümliche Tat des Geistes ist gerade die, dass er nichts Eigenes tut, sondern das Tun des

M. Khorchide / K. von Stosch (Hg.), Streit um Jesus. Muslimische und christliche Annäherungen, Beiträge zur Komparativen Theologie 21, Paderborn 2016, (177–194) 188f. 93 So Link, Art. Extra-Calvinisticum, 1841. 94 Vgl. H.J. Iwand, Kirche und Gesellschaft, bearb., komm. und mit einem Nachwort von E. Börsch, NW.NF 1, Gütersloh 1998, 247: »Pfingsten will die Kirche bleibend daran erinnern, daß der Heilige Geist ›über alles Fleisch‹ (Apg 2,17) ausgegossen ist, daß die Grenzen der vorhandenen kirchlichen Gemeinschaft nicht die Grenzen des Geistes Gottes sind.« 95 Calvin, Inst. (1559), II,2,16. – OS III,259,7f. 96 Auch Link, Die Entscheidung der Christologie Calvins, 102, spricht vom »unbegreiflichen Mehr« als »Überschuss« der Gottheit. 97 Nijenhuis, Art. Calvin, 583.

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»Das gewisse Extra!«

Vaters und des Sohnes verwirklicht.«98 Der Heilige Geist ist für Calvin immer auch der Geist des Logos: »Der Geist ist kein Konkurrent des logos, sondern dessen ausführender Arm. Er ist die Kraft der Selbstdarstellung Gottes nach außen hin, diejenige Weise (subsistentia) seiner Wirklichkeit, kraft welcher die Schöpfung für Gott aufgeschlossen, in Gottes Herrschaftsbereich eingegliedert und für seinen ewigen Ratschluß in Anspruch genommen wird.«99

Das theologisch Interessante, ja religionstheologisch Wegweisende bei Calvin besteht m.E. in folgendem bedenkenswerten Umstand: Bei Calvin wird theologisch nicht remoto Christo von Gott geredet, um bestimmte Exklusivismen zu vermeiden, sondern indem er vom Sohn Gottes redet, öffnet sich die Wahrnehmung der Welt – auch die der Religionen. Dass Calvin die exklusive Bindung des Logos an die menschliche Natur Christi bestreitet, bildet sozusagen nur die negative Kehrseite der positiven Öffnung: »Es gibt ein Vermögen, eine Freiheit des Logos, auch ›extra Christum‹, also jenseits seiner sichtbar gewordenen Manifestation, im gesamten Kosmos wirksam zu sein«.100 Und in dieser Freiheit liegt die Möglichkeit begründet, dass sich seine Wirksamkeit auch in der Welt der Religionen widerspiegelt. Eine Theologie der Religionen muss nicht auf den zweiten Glaubensartikel verzichten und sich im Namen einer vermeintlichen Exklusivismusüberwindung exklusiv einem mehr oder weniger isolierten ersten oder dritten Glaubensartikel zuwenden. Das »Extra-Calvinisticum« spricht dezidiert christologisch von diesem Vermögen des trinitarischen Gottes, sich auch einer Welt extra muros ecclesiae nahezubringen. Ich plädiere dafür, dass eine Theologie der Religionen auf den Bahnen jener Lehrbildung argumentiert, die das »Extra-Calvinisticum« eröffnet. Das »Extra-Calvinisticum« hat Konsequenzen für eine Theologie der Religionen, auch wenn die theologische Tradition bislang – so Reinhold Bernhardt – »keine [sc. solchen; M.H.] Konsequenzen aus dieser Auffassung«101 zog. Von der »These einer Gegenwart (nicht Realpräsenz oder gar Immanenz) Christi im Kosmos«102 ist auch die Welt der Religionen betroffen. Sie bleibt nicht unberührt, wenn anders gilt: »[N]un gibt sich die Manifestation der Herrlichkeit im allgemeinen Weltgeschehen als eine verborgene Gestalt der Inkarnation zu erkennen. Umgekehrt werden der mensch­

98

W. Krusche, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, FKDG 7, Göttingen 1957, 11. Neuser, Von Zwingli und Calvin bis zur Synode von Westminster, 248, vermeint gar eine »subordinatianistische Pneumatologie« bei Calvin beobachten zu können. 99 Link, Schöpfung I, 132. 100 Ebd. 101 Bernhardt, Extra Christum nulla salus, 136. 102 Link, Schöpfung I, 175.

Karl Barths sog. »Lichterlehre« (KD IV/3) als Zugang

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gewordene Christus und sein kommendes Reich als der verborgene Fluchtpunkt sichtbar, auf den hin sich die geschaffene Welt bewegt.«103

Auch in den Religionen ist mit prima vista verborgenen Gestalten der Inkarnation zu rechnen. Die Annahme »kann eine starke theologische Motivation für die offene Begegnung mit Anhängern anderer Glaubensformen freisetzen.«104 Es könnte ja eben sein, dass sich dort – in den fremden Religionen – die Inkarnation manifestiert. Insofern hat das »Extra-Calvinisticum« aufgrund seines christologischen Gehalts kaum zu überschätzende Bedeutung. Auch im Blick auf eine Theologie der Religionen ist Ch. Link zuzustimmen: »[D]as Extra-Calvinisticum [ist] kein Specialissimum der calvinischen Christologie, sondern öffnet den Horizont, in den nahezu alle dogmatischen Themen einrücken und – von der Inkarnation über das Abendmahl bis zur Lehre von den Lichtern der Kreatur – einen neuen Richtungssinn bekommen.«105

3. Karl Barths sog. »Lichterlehre« (KD IV/3) als Zugang zu einer Theologie der Religionen 3.1 Einleitung Auf den Bahnen Calvins hat der Schweizer Theologe Karl Barth weitergedacht,106 dessen religionskritische Bemerkungen gleichwohl oftmals als Beispiel eines harschen religiösen Exklusivismus angeführt werden bzw. herhalten müssen:107 103

Ebd. Bernhardt, Extra Christum nulla salus, 136. 105 Link, Die Entscheidung der Christologie Calvins, 99. 106 Zum Vergleich zwischen Calvin und Barth (»Lichterlehre«) siehe Link, Schöpfung I, 156f. Die besondere Nähe zwischen Calvin und Barth hat Link, Schöpfung I, 174, auch dadurch angezeigt, dass er in der Widergabe von Calvin, Inst. (1559), II,13,4 expressis verbis von »Lichtern« spricht: »Calvin hat aus methodischen, man kann auch sagen: aus darstellungstechnischen Gründen das Werk der Schöpfung vom Werk der Erlösung getrennt. Dennoch ist es ein und derselbe Gott, der sich uns hier wie dort zu erkennen gibt. Das bleibt keine bloße Versicherung, sondern folgt aus der christologisch begründeten These, dass der göttliche Logos (und mit ihm der Heilige Geist) und auch außerhalb der Geschichte des menschgewordenen Gottes im gesamten Kosmos, also auch in den kreatürlichen ›Lichtern‹ der Welt, wirksam ist (II,13,4).« Calvin selbst spricht auch bereits von »Lichtern«. So z.B. Inst. (1559), I,5,14. – OS III,58,36f. Vgl. Link, Die Entscheidung der Christologie Calvins, 118; B. Klappert, Die Rezeption der Theologie Calvins in Barths Kirchlicher Dogmatik. Einige vorläufige Überlegungen zu Barth als Schüler Calvins, in: H. Scholl (Hg.), Karl Barth und Johannes Calvin. Karl Barths Göttinger Calvin-Vorlesung von 1922, Neukirchen-Vluyn 1995, (46–73) 59f.; H. Berkhof, Barths Lichterlehre im Rahmen der heutigen Theologie, Kirche und Welt, in: ders. / H.-J. Kraus, Karl Barths Lichterlehre, ThSt 123, Zürich 1978, (30–48) 30–36. 107 So auch Wüstenberg, Christologie, 26. 104

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»Das gewisse Extra!«

»Karl Barths Theologie habe die Tür zu den nichtchristlichen Religionen zugeschlagen«108 – so lautet ein immer wieder kolportiertes Verdikt. Michael Weinrich hat den gegenüber Barth vorgebrachten Vorbehalt, um nicht zu sagen manifesten Vorwurf, auf den Punkt gebracht: »Es scheint weithin ausgemacht zu sein, dass wir es bei Karl Barth mit einem so überzeugten Verächter der Religion zu tun haben, dass selbst ein Schleiermacher mit all seinen Überzeugungskünsten bei ihm wohl kaum etwas hätte ausrichten können. Gern wird Barths Position in dem Zitat zusammengefasst: ›Religion ist Unglaube‹. Religion sei allein ›die Angelegenheit des gottlosen Menschen‹ und führe deshalb zuverlässig in die Irre. Will man sich fruchtbar über die Religion verständigen, dann gehe man am besten in einem großen Bogen um Karl Barth herum, weil von ihm in dieser Frage nichts Fruchtbares zu erwarten sei. Und so findet der Diskurs über die Religion heute in der Regel entweder gegen oder aber ohne Karl Barth statt.«109

Ähnliches diagnostiziert Christian Link: Dass Barths Theologie der Offenbarung Gottes in Jesus Christus »zu einer Theologie der Religionen nicht auffordert, sondern sich dem Anspruch verweigert, die Wahrheitsfrage der christlichen Theologie auf dem Boden religionswissenschaftlicher Erfahrung zu verhandeln, gilt darum seit jeher als ein Skandal der Barth’schen Dogmatik, den man – je nach eigenem Standort – mit dem Vorwurf der Intoleranz oder gar der Ignoranz zu quittieren pflegt.«110

Gegenüber diesen hartnäckigen Vorwürfen kann und soll es hier nicht um eine Barth-Apologie gehen;111 auch nicht um eine Apologie des zumindest religionsphänomenologisch vollends skandalös erscheinenden und doch – bei Lichte betrachtet – keineswegs als religionswissenschaftliches oder religionsphilosophi-

108

A. Geense, Der Dialog der Religionen und das Bekenntnis der Kirche, KuD 26 (1980), (264–276) 266. 109 M. Weinrich, Christlicher Glaube und Religion. Karl Barths Eintreten für die Religion, CV 44 (2002), (235–249) 235. Treffend hebt M. Weinrich, a.a.O., 248, hervor: »Religion ist Unglaube« – dieser Satz ist so zu verstehen, dass er sich religionskritisch gegen die Intention und Schwäche aller Religion richtet, mehr als nur »irdisches Gefäß« (2Kor 4,7) des Glaubens sein zu wollen: »›Religion ist Unglaube‹, wenn sie mehr als die Form des Glaubens sein will. Wo die Religion die Demut des Vorläufigen verliert, ist sie nicht mehr die Erscheinungsform des Glaubens, sondern sie wird ihrerseits zur Voraussetzung und Gestalterin und schließlich zum Gegenstand des Glaubens.« Vgl. fernerhin: M. Hofheinz, Wider die Nostrifikation Gottes. Religionskritik als bleibend wichtige theologische Aufgabe, in: ders. / Th. Paprotny (Hg.), Religionskritik interdisziplinär. Multiperspektivische Annäherung an eine bleibend wichtige Thematik, Leipzig 2015, 15–42. 110 Link, Das menschliche Gesicht der Offenbarung, 278. 111 Zur Ablehnung von Apologetik bei Barth vgl. G. Hunsinger, How to Read Karl Barth. The Shape of His Theology, New York / Oxford 1991, 52–54; 274f.

Karl Barths sog. »Lichterlehre« (KD IV/3) als Zugang

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sches Werturteil zu verstehenden Satzes »Religion ist Unglaube«.112 Vielmehr soll es auch bei Barth in Ergänzung zu Calvin darum gehen, anhand seiner Theologie positiv, affirmativ und konstruktiv, zugleich aber notgedrungen ausschnitthaft zu demonstrieren, dass und inwiefern das Bekenntnis zu Jesus Christus als »Opener« für eine Theologie der Religionen verstanden werden kann. Dies soll anhand der sog. »Lichterlehre« Karl Barths geschehen, die indes Barths theologische Religions­kritik keineswegs zurücknimmt bzw. revidiert.113 Den Ausgangspunkt bildet dabei die These, die Barths bereits im § 17 (KD I/2)114 vertrat und 112

Barth, KD I/2, 327, spricht dabei expressis verbis von einem »Urteil der göttlichen Offenbarung über alle Religion«. Barth hebt auch hervor, dass es nicht möglich ist, dieses Urteil »ins Menschliche, in die Form bestimmter Abwertungen und Negationen [zu] übersetzen, sondern wir müssen es, auch wenn es je und je in Gestalt bestimmter Abwertungen und Negationen sichtbar zu machen ist, als göttliches Urteil über alles Menschliche stehen und gelten lassen« (a.a.O., 328). Wie Link, Das menschliche Gesicht der Offenbarung, 285, treffend hervorhebt, handelt es sich aber gerade nicht um ein religionsphänomenologisches Urteil: »Es ist ein theologisches, kein religionswissenschaftliches Urteil, das hier begründet werden soll. Die Frage, die das moderne Interesse so nachhaltig beschäftigt, die Frage nach dem Begriff, nach einer selbständigen Definition der Religion, hat dementsprechend keinerlei Eigengewicht. Pointiert gesagt: Was als Religion in den Blick kommt, wird nicht phänomenologisch abgeleitet, sondern wird als eine Wirklichkeit – als meine menschliche ›Handlungsweise‹ (KD I/2, 326) – vorgefunden, zu der sich Gott ins Verhältnis setzt.« Vgl. auch a.a.O., 291. 113 Dies betonen zu Recht etwa G. Plasger / Ch. Dahling-Sander, Hören und Bezeugen. Karl Barths Religionskritik als Hilfestellung im Gespräch mit den Religionen, Waltrop 1997, 32f.; 38f. So auch Geense, Der Dialog der Religionen und das Bekenntnis der Kirche, 271; 273. 114 Die Sekundärliteratur zum umstrittenen § 17 der »Kirchlichen Dogmatik« ist inzwischen Legion. Zur aktuellen Diskussion vgl. S. Hennecke (Hg.), Karl Barth und die Religion(en). Erkundungen in den Weltreligionen und der Ökumene, KKR 74, Göttingen 2018. Über diesen Band hinaus seien ohne Anspruch auf Vollständigkeit genannt: Link, Das menschliche Gesicht der Offenbarung, 277–302; W. Krötke, Der Mensch und die Reli­ gion nach Barth, ThSt 125, Zürich 1981; H.-J. Kraus, Theologische Religionskritik, NBST 2, Neukirchen-Vluyn 1982, 16–30; J. Dierken, Gerechtfertigte Religion. Karl Barths Religionsverständnis im Kontext neuzeitlicher Religionsphilosophie, ZDTh 11 (1995), 91–107; G. Wenz, Barths Sonnengleichnis. Eine Analyse von KD § 17, Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion, ZDTh 11 (1995), 121–155; Plasger / Dahling-Sander, Hören und Bezeugen; J.A. Di Noia, O.P., Religion and Religions, in: J. Webster (Hg.), The Cambridge Companion to Karl Barth, Cambridge 2000, 243–257; E. Busch, Die große Leidenschaft. Einführung in die Theologie Karl Barths, Darmstadt 22001, 137–160; C. van der Kooi, Religion als Unglaube. Bemerkungen zu einer Kampfparole, in: M. Beintker u.a. (Hg.), Karl Barth im europäischen Zeitgeschehen (1935–1950). Widerstand – Bewährung – Orientierung. Beiträge zum Internationalen Symposium vom 1. bis 4. Mai 2008 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2010, 447–456; F. Wittekind, Religionskritik als Kritik der Religionswissenschaft. Karl Barths methodisches Programm der Theologie, in: I.U. Dalferth / H.-P. Grosshans (Hg.), Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe, Tübingen 2006, 219–242; W. Krötke, Barmen – Barth – Bonhoeffer. Beiträge zu einer zeitgemäßen christozentrischen Theologie, Bielefeld 2009, 65–108; Weinrich, Religion und Religionskritik, 264–272; M. Weinrich,

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die zugleich ein Kontinuum und eine Konstante (hinüber) zur »Lichterlehre« (KD IV/3) bildet: »[E]s ist zwar die Offenbarungsreligion an Gottes Offenbarung, es ist aber Gottes Offenbarung nicht an die Offenbarungsreligion gebunden.«115 Die damit markierte Differenz eröffnet Freiraum zur Würdigung und Begegnung der Religionen. Gleichwohl gilt es im Sinne Barths, wie bereits eingangs bemerkt, zwischen »Religion« im Singular und den »Religionen« im Plural zu unterscheiden, insofern »Religion« im Singular gleichsam die menschliche Form darstellt, in der Religionen in Erscheinung treten.116 Religion manifestiert sich in den Religionen. Insofern partizipieren die Religionen auch an der von Barth getroffenen Unterscheidung zwischen gerichteter und gerechtfertigter Religion.117 Bereits hier wird deutlich, dass »das landläufige Urteil, das Barth bei dem apodiktischen Nein gegenüber aller Religion behaften möchte, der Korrektur bedarf. Im Unterscheid zu Bonhoeffer hat Barth ein religionsloses Christentum nie gefordert.«118 Barth hält daran fest, dass auch das Christentum an der frag- und kritikwürdigen Religionsgeschichte partizipiert, kann aber nun in seiner »Lichterlehre« vertieft deutlich machen, dass Gott mit der Inkarnation in die Sphäre der Religion eintritt und sich in außerordentlicher Weise ihrer bedient. Der »Lichterlehre« liegt der Zentralgedanke zugrunde, dass von Jesus Christus her als dem wahren Licht, das alle Menschen erleuchtet (Joh 1,9), auch die Weltwirklichkeit einschließlich der in ihr beheimateten Religionen erhellt und erschlossen werden. Dieser Leitgedanke beinhaltet, wie Wolf Krötke m.E. zutreffend behauptet hat, nicht nur einen dezidiert theologischen Beitrag zum Religionsdiskurs, sondern auch ein »ungenutzte[s] Potenzial für [eine] Theologie der Religionen bei Karl Barth«.119 Dies soll im Folgenden näher entfaltet werden. Wir sprechen dabei von Barths »LichterDie bescheidene Kompromißlosigkeit der Theologie Karl Barths. Bleibende Impulse zur Erneuerung der Theologie, FSÖTh 139, Göttingen 2013, 263–285; 296–315; R.J. Meyer zu Hörste-Bührer, Die Religion des Menschen vor Gott. Relationale Bemerkungen zur theologischen Religionskritik in Karl Barths Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, in: M. Hofheinz / R. Meyer zu Hörste-Bührer (Hg.), Theologische Religionskritik. Provokationen für Kirche und Gesellschaft, FRTH 1, Neukirchen-Vluyn 2014, 91–102; Ensminger, Karl Barth’s Theology as a Resource for a Christian Theology of Religions, 53–73; M. Ernst-Habib, Die Heiligkeit Gottes als Grund und Verheißung einer theologischen Religionskritik, ZDTh 31 (2/2015), 141–164 (engl. Original: The Holiness of God as Reason and Promise of a Theological Critique of Religion, in: D.H. Jensen [Hg.], Always Being Reformed. Challen­ ges and Prospects for the Future of Reformed Theology, Eugene 2016, 108–128); Gockel, Barths offenbarungstheologischer Ansatz im heutigen Kontext pluralistischer Religionstheologie, 81–84. 115 Barth, KD I/2, 360. 116 Vgl. a.a.O., 307: »Indem Gott sich offenbart, verbirgt sich das göttlich Besondere in einem menschlich Allgemeinen, der wirkliche Inhalt in einer menschlichen Form und also das göttlich Einzigartige in einem menschlich bloß Eigenartigen.« 117 Vgl. u.a. a.a.O., 330f. 118 Link, Das menschliche Licht der Offenbarung, 287. 119 W. Krötke, Impulse für eine Theologie der Religionen im Denken Karl Barths, in: ders., Barmen – Barth – Bonhoeffer. Beiträge zu einer zeitgemäßen christozentrischen Theologie, Unio und Confessio 26, Bielefeld 2009, (269–289) 269.

Karl Barths sog. »Lichterlehre« (KD IV/3) als Zugang

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lehre« in einem weiteren Sinne, d.h. bezogen auf den gesamten Abschnitt § 69.2 (»Das Licht des Lebens«) seiner Versöhnungslehre (KD IV).120 In einem engeren Sinne meint die »Lichterlehre« hingegen die Ausführungen Barths zu den »Lichtern in der Geschöpfwelt«.121 Wir rücken indes den Abschnitt die »wahren Worte in der Profanität« bzw. »Gleichnisse des Himmelreiches«122 aus der »Lichterlehre« im weiteren Sinne in den Fokus.123

120

Barth, KD IV/3, 40–188. A.a.O., 153–188. Vgl. speziell zu diesem Abschnitt: H.Th. Goebel, Vom freien Wählen Gottes und des Menschen. Interpretationsübungen zur »Analogie« nach Karl Barths Lehre von der Erwählung und Bedenken ihrer Folgen für die Kirchliche Dogmatik, FPT 9, Frankfurt a.M. u.a. 1990, 360–366; H. Berkhof / H.-J. Kraus, Karl Barths Lichterlehre, ThSt 123, Zürich 1978; Ch. Link, Die Welt als Gleichnis. Studien zum Problem der natürlichen Theologie, BEvTh 73, München 21982, 302–310. Barth greift in diesem Abschnitt das Anliegen der natürlichen Theologie und ihrer Rede von den Weltlogoi neu auf. Barth klammert in seiner Christologie die Welt nicht aus. Sie ist als theatrum gloria Dei (Calvin) Schauplatz des christologischen Dramas. 122 Vgl. Barth, KD IV/3, 122–153. Die Literatur auch zu diesem Abschnitt ist Legion: Kraus, Theologische Religionskritik, 48–52; Link, Die Welt als Gleichnis, 294–302; D. Schellong, »Gleichnisse des Himmelreichs« – ein systematisch tragender Gedanke in der Theologie Karl Barths, Anstöße. Zeitschrift der Ev. Akademie Hofgeismar 34 (1/1987), 2–11; A. Grözinger, Christologie und Ästhetik. Die Lichterlehre Karl Barths in ihrer Bedeutsamkeit für die Praktische Theologie, in: J. Seim / L. Steiger (Hg.), Lobet Gott. Beiträge zur theologischen Ästhetik. FS für Rudolf Bohren zum 70. Geburtstag, München 1990, 40–46; Hunsinger, How to Read Karl Barth, 234–280; Th. Gundlach, Selbstbegrenzung Gottes und die Autonomie des Menschen. Karl Barths kirchliche Dogmatik als Modernisierungsschritt evangelischer Theologie, Frankfurt a.M. 1992; B. Klappert, Gottes Offenbarung und menschliche Erfahrung. Erfahrungsfelder der Versöhnungslehre Karl Barths, in: ders., Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuelle zu verstehen, NBST 14, Neukirchen-Vluyn 1994, 3–52; Th. Gundlach, Kulturprotestantismus nach Karl Barth. Überlegungen zur Lichterlehre in der Kirchlichen Dogmatik, in: A. von Scheliha / M. Schröder (Hg.), Das protestantische Prinzip. Historische und systematische Studien zum Protestantismusbegriff, Stuttgart u.a. 1998, 165–180; M. Zeindler, Gestaltetes Evangelium. Zur Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: P. Biehl / K. Wegenast (Hg.), Religionspädagogik und Kultur, Neukirchen-Vluyn 2000, 83–103; K.-F. Wiggermann, »Ein eigentümlich beschatteter Bereich«. Die Neuzeit in Karl Barths »Lichterlehre«, ZDTh 52 (2/2009), 119– 138; Ch. Link, Karl Barths Verständnis der »wahren Worte«, in: M. Beintker u.a. (Hg.), Karl Barth als Lehrer der Versöhnung (1950–1968). Vertiefung – Öffnung – Hoffnung. Beitrag zum Internationalen Symposium vom 1. bis 4. Mai 2014 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2016, 363–379. 123 Zum Verhältnis der beiden Abschnitte zu den »Lichtern in der Geschöpfwelt« und den »Gleichnissen des Himmelreiches in der Profanität« vgl. Goebel, Vom freien Wählen Gottes und des Menschen, 363. Goebel, ebd., weist präzise darauf hin, dass »unter diesen Begriff der Gleichnisse des Himmelreichs in der Profanität die Lichter der Geschöpfwelt als solche nicht fallen. Denn: ›Die Welt als solche produziert keine Gleichnisse des Himmelreiches!‹ (IV/3, 161). Sie fallen aber darunter, sofern sie durch die Selbstbezeugung Jesu Christi integriert und zum Dienst seiner Zeugenschaft instauriert werden. So sind sie dann je zu Gleichnissen des Himmelreichs geworden.« 121

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»Das gewisse Extra!«

3.2 Die prophetia universalis Jesu Christi: Karl Barths »Lichterlehre« als Auslegung von Joh 1,1–18 und Barmen I In der Versöhnungslehre (KD IV) geht es nicht nur um die Geschichte der Versöhnung im ontischen Sinne, sondern auch die Geschichte ihrer Offenbarung. Die Versöhnung hat, damit sie erkannt werden kann, eine noetische Dimension. Auch letztere vollzieht sich nach Barth in Jesus Christus. Er offenbart sich in den Erscheinungen des Auferstandenen als »das Licht des Lebens« (KD § 69.2). Als Auferstandener ist er sein eigener Zeuge,124 der die Kundgabe der Versöhnung selbst übernimmt. Er bezeugt sich selbst, so dass er als der eine überzeugende Zeuge von den verschiedenen Gestalten der bezeugenden Zeugen (Schrift, Kirche, Lichter der Welt) unterschieden werden muss, sie jedoch auch in Anspruch nehmen kann und will, indem er sich in ihnen selbst bezeugt. Hinsichtlich der Disposition von Barths Versöhnungslehre analysiert Walter Kreck theologie- und ideengeschichtlich treffend: »Barth hat die Lehre von den drei Ämtern Jesu Christi, die auch der Heidelberger Katechismus in Frage 31 vertritt, nicht nur übernommen, sondern auch seine gesamte Versöhnungslehre nach diesem Schema gegliedert. Allerdings vollzog er dabei eine Umplatzierung, indem er die Lehre vom prophetischen Amt, die traditionell an erster Stelle steht, an die dritte Stelle setzte – nach dem hohepriesterlichen und königlichen Amt. Das geschah deshalb, weil er sachlich mit dem hohepriesterlichen Amt, d.h. der Erniedrigung des Sohnes Gottes, und dem königlichen Amt, d.h. der Erhöhung des Menschen, das eigentliche Versöhnungsgeschehen umschrieben sah und die Aufgabe des prophetischen Amtes im Anschluss daran als die Kundgabe dieser Verkündigung verstand. Hier geht es um die Herrlichkeit des Mittlers, der sich als das Licht der Welt offenbart.«125

Barth befragt die reformiert-reformatorische Lehre vom munus propheticum126 daraufhin, ob die Reichweite des prophetischen Amtes, d.h. der Kreis der durch die

124

Kap. 16 der »Kirchlichen Dogmatik« trägt die Überschrift: »Der wahrhaftige Zeuge«. W. Kreck, Die Versöhnungslehre Karl Barths als kritische Anfrage an den Heidelberger Katechismus, Theologische Beilage 2/89 zur RKZ, (2–7) 5. Zur Architektur der Versöhnungslehre vgl. H. Ruddies, Christologie und Versöhnungslehre bei Karl Barth, ZDTh 18 (2002), 174–189; C. Gunton, The Barth Lectures, hg. von P.H. Brazier, London / New York 2007, 147–238; G. Plasger, Die Konzeption der Versöhnungslehre Barths unter besonderer Berücksichtigung der »Menschlichkeit Gottes«, in: M. Beintker u.a. (Hg.), Karl Barth als Lehrer der Versöhnung (1950–1968). Vertiefung – Öffnung – Hoffnung. Beitrag zum Internationalen Symposium vom 1. bis 4. Mai 2014 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2016, 13–30; M. Weinrich, Architektur der Versöhnungslehre, in: M. Beintker (Hg.), Barth Handbuch, Tübingen 2016, 347–354. 126 Vgl. M. Hofheinz, De munere prophetico – Variationen reformierter Auslegung des prophetischen Amtes. Zur theologiegeschichtlichen Entwicklung eines dogmatischen Topos 125

Karl Barths sog. »Lichterlehre« (KD IV/3) als Zugang

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Prophetie Jesu Betroffenen, nur die Erwählten bzw. die Kirche oder nicht vielmehr alle Menschen einschließt. Barths Antwort lautet: »Jesus Christus redet […], indem auch er ein israelitischer und das Volk Israel anredender Prophet ist, im israelitischen Menschen den Menschen überhaupt und als solchen an, alle Menschen. […] Seine Prophetie ist in ihrer ganzen israelitischen Partikularität (Matth. 10,5; Mr. 7,27!) universale Prophetie.«127

Mit Joh 1,9 gesprochen, dem für Barths Auslegung des Johannesprologs (Joh 1,1– 18)128 in seiner »Lichterlehre« entscheidenden Vers: »Er ist das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet«.129 Aus der christologischen Konzentration resultiert also keine Enge, sondern geradezu unbegrenzte Weite. In diesem Sinne versteht Barth auch die erste These der »Barmer Theologischen Erklärung« (1934), die er – singulär in seinem Werk130 – als Leitsatz dem § 69 voranstellt: »Jesus Christus, wie er uns in der heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.«131 Dieser Satz ist zwar ein Satz von ungeheurer christologischer Konzentration und Dichte. Barth will ihn aber gerade nicht im Sinne der »›Absolutheit‹ des sog. Christentums bzw. der Kirche dieser und jener Gestalt«132 missverstanden wissen:133 »Indem Jesus Christus sein Inhalt ist, trennt sich also der, der ihn bekennt, in keiner Weise von denen, die ihn nicht bekennen. Angesichts dessen, was dieser Satz – nicht über die Christen, nicht über die Kirche, nicht über das Christentum, sondern über Christus sagt, stellt sich, wer ihn vertritt, mit allen anderen Menschen in eine Reihe.«134 Es geht dabei – um die These vorwegzunehmen – gewiss auch um die Menschen anderer Religionen und nicht nur die anderen Christinnen und Christen im Raum der »World Christianity«.135 vor der »Lessingzeit« (von Zwingli bis Lampe), in: M. Hofheinz u.a. (Hg.), Calvins Erbe. Die Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, RHT 9, Göttingen 2011, 115–168. 127 Barth, KD IV/3, 53. Dort z.T. kursiv. 128 H.-J. Kraus, Logos und Sophia. Biblisch-theologische Grundlegung und Konkretisierung zum Thema »Das Licht und die Lichter«, in: H. Berkhof / H.-J. Kraus, Karl Barths Lichterlehre, (4–29) 4, spricht vom »biblischen locus fundamentalis der Rede vom Licht und den Lichtern«, wobei Kraus den Zusammenhang mit V. 4 hervorhebt: »In ihm (dem Logos) war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen«. Kursivierung: M.H. 129 Barth, KD IV/3, 53. 130 So Klappert, Gottes Offenbarung und menschliche Erfahrung, 6. 131 Barth, KD IV/3, 1. 132 A.a.O., 100. 133 G. Ebelings Überzeugung, dass die absolute Sonderstellung der Person Jesu die Absolutheit des Christentums bedingt, entspricht mitnichten derjenigen Barths. Vgl. G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Bd. II: Der Glaube an Gott den Versöhner der Welt, Tübingen 31989, 46ff. 134 Barth, KD IV/3, 101. 135 So auch Klappert, Gottes Offenbarung und menschliche Erfahrung, 29.

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»Das gewisse Extra!«

3.3 Engführung und Öffnung: Die wahren Worte im Weltgeschehen136 Der »Lichterlehre« Barths liegt der als Auslegung von Joh 1,4.9 verstandene (Grund-)Satz zugrunde: »Jesus Christus ist das Licht des Lebens.«137 Dieser Satz besagt auf der einen Seite negativ, dass neben Jesus Christus als dem einen Licht Gottes keine weitere Selbstmanifestation Gottes zu erwarten sei. Ein Pluralismus ist hier ausgeschlossen.138 Zutreffend hat man diesem Satz »strengen Exklusivitäts- und Singularitätscharakter«139 bescheinigt: Jesus Christus ist ihm zufolge »das, das eine, in seiner Herrlichkeit und Maßgeblichkeit unvergleichliche Licht«.140 Indes stellt Barth gegenüber möglichen Missverständnissen zugleich abgrenzend klar: »Daß Jesus Christus das eine Wort Gottes ist, heißt nicht, daß es nicht – in der Bibel, in der Kirche und in der Welt – auch andere, in ihrer Weise auch bemerkenswerte Worte – andere, in ihrer Weise auch helle Lichter – andere, in ihrer Weise auch reale Offenbarungen gebe.«141 Der (Grund-)Satz besagt also zugleich positiv oder schließt zumindest die positive Aussage nicht aus: »[A]uch die Geschöpfwelt […] als solche [hat] ihre eigenen Lichter und Wahrheiten und insofern ihre Sprache, ihre Worte«.142 Es gibt Barth zufolge »keine seiner [sc. Jesu Christi; M.H.] Verfügung entzogene Profanität«.143 Dieses Zugleich von positiver und negativer Aussage verlangt eine nähere Verhältnisbestimmung. Es ist ein Zugleich der bewussten Verengung und Öffnung. Barths christologische Konzentration führt bewusst eng, wird mithin exklusiv, um im selben Moment zu öffnen und in einem ganz bestimmen Sinne inklusiv zu werden: Dass Jesus das eine Wort Gottes ist – daraus folgt nicht, »daß alle außerhalb des biblisch-kirchlichen Kreises gesprochenen Worte als solche wertlos oder gar als Worte unechter Prophetie nichtig und verkehrt, alle dort aufgehenden und scheinenden Lichter als solche Irrlichter, alle dort sich vollziehenden Offenbarungen als solche falsch verstanden sein müßten. […] Und wie sollte das Lautwerden solcher Worte auch außerhalb dieses Kreises ausgeschlossen sein, da doch die ganze Welt der Schöpfung und der Geschichte der Herrschaftsbereich des Gottes ist, zu des136

Klappert, Gottes Offenbarung und menschliche Erfahrung, 31–33, untergliedert diesen Abschnitt in die Fragen: 1. Wann wären wahre Worte von draußen möglich? (vgl. Barth, KD IV/3, 123–126); 2. Warum sind wahre Worte von draußen notwendig? (vgl. a.a.O., 126– 132); 3. Wie sind wahre Worte im Bereich der Profanität zu unterscheiden? (vgl. a.a.O., 132– 146); 4. Wie steht es mit dem rechten Gebrauch der wahren Worte? (vgl. a.a.O., 146–153). 137 A.a.O., 95. 138 Vgl. Hunsinger, How to Read Karl Barth, 246: »Pluralism is thus rejected, because it posits, by definition, other sources and norms of revelation outside or alongside Jesus Christ. It thereby violates the fundamental axiom of how the one light is related to the many, and offends against biblical modes of thought.« 139 Goebel, Vom freien Wählen Gottes und des Menschen, 360. 140 Barth, KD IV/3, 153. 141 A.a.O., 107. 142 A.a.O., 157. 143 A.a.O., 133.

Karl Barths sog. »Lichterlehre« (KD IV/3) als Zugang

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sen Rechten eben Jesus Christus sitzt: mächtig nicht nur in jenem inneren, sondern auch über diesem äußeren Bereich, frei, sich auch dort zu bezeugen und bezeugen zu lassen? Daß es in jenem inneren Bereich solche Worte gibt, das wäre ja nur zu bestreiten, wenn man die Gegenwart und Aktion Jesu Christi im Werk seiner Zeugen und im Werk der diesen Zeugen nachfolgenden Kirche bestreiten wollte. Und daß es solche Worte auch in jenem äußeren Bereich geben kann, das könnte doch nur zusammen mit der Welterhaltung und Weltregierung des Gottes, der dem Sohn Alles übergeben hat, in Abrede gestellt werden.«144

Gerade in dieser Inklusivität, die die »wahren Worte im Weltgeschehen« betrifft, ist Barth wiederum ganz exklusiv, so dass die Frage entsteht: Wird mit dieser Öffnung nicht Tor und Tür für einen denkbar weiten Inklusivismus geöffnet, der extra Christum agiert und in solchem Agieren remoto Christo sogar jedes christologische Differenzkriterium einebnet? Barth bestreitet eben dies. Er bestreitet – genauer gesagt – die Identität der »guten menschlichen Worte« mit dem einen Wort Gottes, das Gott selbst ist: »Zu bestreiten und in Abrede zu stellen, ist eben nur dies, daß irgendeines dieser guten menschlichen Worte an sich und als solches das Wort Gottes selbst ist, neben das von Gott selbst gesprochene Wort, neben Jesus Christus treten, ihn ergänzen oder gar verdrängen und ersetzen kann.«145

Substitution und Komplementarität, aber auch Konkurrenz und Repetition scheiden für Barth aus. Er kann an der Exklusivität des deiktischen »nur da!«146 festhalten. Es geht darum, dass Jesus Christus selbst sich auch in den Weltphänomenen bezeugt.147 Die Weltphänomene unterliegen mithin in einem strengen Sinne der Konstitutionsbedingung der Selbstbezeugung bzw. Selbstkundgabe Jesu »in ihnen«. Insofern haben wir es bei den »realen Gleichnissen des Himmelreiches« nicht mit einer gleichsam außerchristologisch (remoto Christo) zu interpretierenden, sondern christologisch verankerten Wirklichkeit zu tun. Genau dies zeichnet die wahren Worte ganz anderer Art bzw. die außerordentlichen Zeugen Jesu Christi aus.148

144

A.a.O., 108. Ebd. 146 A.a.O., 109. 147 Vgl. a.a.O., 10. Die »Lichterlehre« Barths wird gerne missverstanden. Der Titel »Lichterlehre« ist nämlich irreführend, zumal es primär und direkt um das Licht Jesus Christus und erst sekundär und indirekt um die »Lichter« geht, die in die Herrlichkeit des Lichtes mit einbezogen werden. So auch Dahling-Sander/ Plasger, Hören und Bezeugen, 33. Nach der »Lichterlehre« leuchten die außerhalb der Kirche auszumachenden Lichter nicht aus sich selbst heraus, sondern reflektieren das Licht Christi. Diese Konstitutionsbedingung gilt es zu beachten. Vgl. Barth, KD IV/3, 153ff. Dies betont auch Weinrich, Die bescheidene Kompromisslosigkeit der Theologie Karl Barths, 218. 148 Vgl. Barth, KD IV/3, 128. 145

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»Das gewisse Extra!«

Barth agiert hier in einer Weise, dass seine Denkform die Antithetik eines Schemas inklusiv/exklusiv zerbrechen lässt. Seine Ausführungen stehen, folgt man der Kantschen Urteilstafel,149 formallogisch quer zur Urteilsform des Disjunktiven (S ist entweder P oder Q oder R oder … Z). Die Disjunktionen erweisen sich ihm im theologischen Denkvollzug als einseitig und werden deshalb kreativ und überraschend aufeinander bezogen. Man gewinnt den Eindruck, dass etwa exklusive und inklusive Urteile wie in einem Vexierbild überraschend ineinander umkippen.150 Gavin D’Costa, ein in Bristol lehrender römisch-katholischer Religions­theologe und Schüler John Hicks, hat Barth aus gutem Grund klassifiziert als »being exclusivist, inclusivist, and universalist all at once!«151

3.4 Jesu Christi »außerordentliche« Selbstbezeugung in der Welt – via verbae verae extra muros ecclesiae Nach dieser eher formalen Bestimmung gilt es nun, Barths inhaltliche Konkretisierung der Rede von den »wahren Worten in der Profanität« genauer in den Blick zu nehmen. Barth führt aus: Unbenommen der Tatsache, dass Jesus Christus das eine und einzige Wort Gottes ist, gibt es ein Reden Jesu durch das Medium dieser anderen Worte, das die Gemeinde zu hören hat: »Gibt es wahre Worte, Gleichnisse des Himmelreiches von dieser ganz anderen Art? Will sagen: Gibt es ein Reden Jesu Christi auch durch das Medium solcher andern Worte? Antwort: Gerade die von dem einen Wort des einen Propheten Jesus Christus lebende und von ihm mit der Verkündigung dieses seines Wortes in der Welt beauftragte und dazu ermächtigte Gemeinde darf nicht nur, sondern muß damit rechnen, daß es solche Worte gibt und daß auch sie sie zu hören hat. Unbeschadet ihre Lebens von jenem einen Wort und unbeschadet ihres Auftrages, dieses eine Wort zu verkündigen! Auch da kann es ja nicht um Worte gehen, die etwas Anderes sagen als dieses eine Wort, sondern nur um solche, die von anderswoher und in anderer menschlicher Sprache als ihrer eigenen sachlich eben das sagen, was dieses eine Wort sagt.«152

In diesem langen Zitat ist die Ortsangabe wichtig. Es geht Barth um Welt und Gemeinde. Er arbeitet offenkundig mit dem Schema Kirche (Gemeinde) / Welt, wenn149

Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781; 21787), nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. von R. Schmidt, PhB 37a, Hamburg 31990, B 95. 150 Nach G. Hunsingers (Beyond Literalism and Expressivism: Karl Barth’s Hermeneutical Realism, in: ders., Disruptive Grace. Studies in the Theology of Karl Barth, Grand Rapids / Cambridge 2000, 210–225, 225) Typologie »Three Views of Theological Language« kennzeichnet gerade der reziproke Gebrauch von Propositionen und Metaphern den von »literalism« und »expressivism« abzugrenzenden »hermeneutical realism« Barths. 151 G. D’Costa, Theology of Religions, in: D. Ford / R. Muers (Hg.), The Modern Theologians. An Introduction to Christian Theology Since 1918, Oxford 32005, (626–644) 630. 152 Barth, KD IV/3, 128.

Karl Barths sog. »Lichterlehre« (KD IV/3) als Zugang

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gleich auch hier nicht einfach in einem dualistisch-manichäischen Sinne. Den Real­grund für die Erwartung des Ergehens wahrer Worte in der Profanität bildet die beide, Kirche (Gemeinde) und Welt, umgreifende Universalität der Herrschaft Christi.153 Weil der Machtbereich Gottes uneingeschränkt ist, da Gott in Christus die Welt mit sich selbst versöhnt hat (2Kor 5,19), dürfen Christen Barth zufolge damit rechnen, Gleichnissen des Himmelreiches »nicht nur im biblischen Zeugnis also und nicht nur in den Veranstaltungen, Werken und Worten der christlichen Kirche, sondern auch in der Profanität, d.h. dann aber in wunderbarer Unterbrechung der Profanität des Weltlebens«,154 zu begegnen. Barth differenziert im Blick auf die Herrschaft Christi zwischen deren ordentlicher und deren außerordentlicher Form. Via Bibel und christliche Gemeinde bezeugt sich Jesus Christus »ordentlich«. Dies gilt hinsichtlich der ordentlichen Form seiner Herrschaft, während für die außerordentliche Form gilt, dass Jesus Christus sich selbst »außerordentlich« durch die wahren Worte bezeugt, und zwar extra muros ecclesiae.155 Die wahren Worte verdanken ihre Realität und Aktualität Jesus Christus. Barth spricht von solchen Worten, »die objektiv (wie immer es dabei mit ihren subjektiven Voraussetzungen stehen möge) mit dem einen wahren Wort in höchst direkter Beziehung stehen, die sie durchaus nicht aus sich selbst geschöpft haben, die gewiß auch gegen sie selbst sprechen mögen, die ihnen aber nun doch durch das eine wahre Wort, durch Jesus Christus, der auch ihr Souverän ist, auf die Lippen gelegt«156 sind.

Barth vergleicht die Herrschaft Christi mit einem Kreis. Deren zugleich exklusive wie inklusive Mitte bildet das Wort Gottes, das Jesus Christus heißt. Barth nimmt zugleich die von der Mitte aus konstituierte Peripherie des Kreises in den Blick und bemerkt, »daß eben die Offenbarung dieser Mitte als solcher und damit dann auch dieser ganzen Peripherie – jetzt für den Glauben der Christen und einst für das Schauen aller Augen – ganz allein sein eigenes direktes Wort sein kann, während alle menschlichen Worte gerade nur als ihre echten Zeichen und Bezeugungen wahre Worte sein können.«157 Das gilt für das Zeugnis der Propheten und Apostel sowie für das der Kirche.158 Ihre Worte intra muros ecclesiae sind zu unterscheiden von den Worten extra muros ecclesiae, d.h. in der Profanität.159

153

Vgl. a.a.O., 130. A.a.O., 131. 155 Vgl. a.a.O., 123. 156 A.a.O., 141. 157 A.a.O., 137. 158 Zur Notwendigkeit des Zeugnisses – durchaus im Anschluss an Karl Barth – vgl. S. Hauerwas, With the Grain of the Universe. The Church’s Witness and Natural Theology, Grand Rapids 2001, 205–241; J.Wm. McClendon, Witness. Systematic Theology Bd. 3, Nash­ville 2000. 159 Barth, KD IV/3, 137. 154

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»Das gewisse Extra!«

Bei den wahren Worten in der Profanität handelt es sich – um Barths geome­ trische Metaphorik erneut aufzugreifen – »nur um Segmente der Peripherie, nicht um deren Totalität und erst recht nicht um die sie konstituierende Mitte jenes Kreises als solche. Sie werden wahre Worte, echte Zeichen und Bezeugungen des einen wahren Wortes, sie werden reale Gleichnisse des Himmelreichs sein, wenn und sofern sie (von den Segmenten anderer Kreise mit andern Mittelpunkten verschieden) als genaue Segmente der Peripherie dieses Kreises auf dessen Totalität und damit auf seine Mitte hinweisen, vielmehr: indem sich seine Mitte und die Totalität seiner Peripherie dieses Kreises auf dessen Totalität und damit auf seine Mitte hinweisen, vielmehr: indem sich seine Mitte und Totalität seiner Peripherie und also Jesus Christus selbst in ihnen kundgibt. Sie werden also keine bloßen Teilwahrheiten aussprechen – die eine Wahrheit Jesu Christi ist unteilbar!«160

Es gibt keinen Bereich der Welt, der nicht de iure in den Kreis der Totalität der Wahrheit eingeschlossen wäre. Mit wahren Worten, Gleichnissen des Himmelreiches »hat die Gemeinde auch in der Profanität des Weltgeschehens zu rechnen, weil die mit Gott versöhnte Welt in ihrer ganzen kosmischen Dimension bestimmt ist zum Herrschafts- und Wortbereich des erhöhten Erniedrigten.«161 Ein Einwand mag sich freilich erheben: Konkurriert das »Gleichnis profaner Worte«162 nun nicht mit den Gleichnissen heiliger Worte, wie sie in der Heiligen Schrift der Kirche zu finden sind? Barth bestreitet eben dies. Die wahren Worte in der Profanität konkurrieren nicht der Schrift, sondern führen »erst recht und tiefer als zuvor in die Schrift hinein«.163 Barth beschreibt den Wirkzusammenhang von beiden Worten als den eines raumübergreifenden Rückkopplungseffekts, der die durch wechselseitigen »Zuruf«164 ohnehin miteinander kommunizierenden Räume von Kirche (Gemeinde) und Welt verbindet: »Die Rückwirkung wahrer Worte in der Profanität auf die Gemeinde besteht darin, dass sie diese gebraucht als ›Kommentar zur heiligen Schrift‹, als ›Korrektiv der kirchlichen Überlieferung‹, als ›Motiv zu neuer kirchlicher Gestaltung‹«.165 Auch im Blick auf den Schriftge160

Ebd. Goebel, Vom freien Wählen Gottes und des Menschen, 364. 162 Barth, KD IV/3, 128. 163 Ebd. 164 Barth kann den Kommunikationszusammenhang zwischen Welt und Gemeinde im Sinne eines wechselseitigen Zurufens als komplementär bestimmen. Komplementär aufeinander ausgerichtet, sind nämlich die Aufgaben von Gemeinde und Welt an- und füreinander. Die Aufgabe der Gemeinde in der Welt bestehet darin, wie Barth in Anlehnung an Barmen VI formuliert, »ihr [sc. der Welt; M.H.], begründet und geführt durch das biblische Zeugnis, das eine Wort Gottes nun eben in ihrer Weise und Sprache auszurichten!« (a.a.O., 129). Umgekehrt nimmt Barth (ebd.) aber auch das Zurufen aus der Welt heraus und in die Gemeinde hinein in den Blick, wenn er die Frage affirmiert: »Gibt es solche, in der profanen Welt gesprochenen und aus ihr heraus der Gemeinde zugerufenen wahren Worte?« 165 Goebel, Vom freien Wählen Gottes und des Menschen, 365. Das Zitat im Zitat stammt aus: Barth, KD IV/3, 146. 161

Karl Barths sog. »Lichterlehre« (KD IV/3) als Zugang

433

brauch bzw. Wortgebrauch, näherhin den Gebrauch wahrer Worte in der Profanität als »authentische[n] Kommentar«166 zum Wort der Schrift gilt: »Wir verlassen den sicheren Boden der Christologie nicht, sondern wir blicken mit den Propheten und Aposteln und mit der durch das Evangelium Gottes begründeten und von ihm lebenden, mit der christlich glaubenden, liebenden und hoffenden Gemeinde auf die in seiner Auferstehung offenbarte Souveränität Jesu Christi, die wir durch die Schrift und durch die Kirche bezeugt, aber gerade laut dieses Zeugnisses nicht begrenzt finden.«167

So universal der Herrschaftsbereich Christi ist, so situationsgebunden und partikular sind nun doch wiederum die in der Welt verorteten »Gleichnisse des Himmelreiches«: Sie »beleuchten, akzentuieren, erklären« nämlich »die biblische Bezeugung jenes einen Wortes in bestimmter Zeit und Situation«.168 Gleichnisse des Himmelreiches in der Profanität begegnen z.B. in alltäglichen Vorgängen.169 Barth spricht von »Wahrheitszeugen […], die rätselhaft aus dem Dunkel der Völkerwelt und also gar sehr von außen an die Gemeinde der Erwählten und Berufenen herantreten«.170 Dabei dürfte Barth biblische Gestalten wie den Perserkönig Kyros (Jes 44,28; 45,1) vor Augen haben. Barth selbst führt aber bewusst keine Beispiele für Lichter, wahre Worte in Geschichte und Schöpfung an, sondern hat es bei allgemeinen Hinweisen belassen. Die Autorität der Gleichnisse in der Welt ist eben »nicht kanonisierbar und systematisierbar! Sie sprechen weder das Prinzip noch die Totalität der Wahrheit Gottes aus – das kann allein Jesu Christi ›eigenes direktes Wort‹.«171 Auch das Wort Gottes kann Barth zufolge nicht in ein »übergeordnetes System gebracht werden«.172 Man muss eben nach Barth darauf gefasst sein, »auf einmal auch aus solch scheinbar äußerster Finsternis heraus wahre Worte, aus richtigem Bileamsmund [vgl. Num 22–24; M.H.] die wohlbekannte, ihrer düsteren Herkunft zum Trotz ja nicht zu überhörende Stimme des guten Hirten zu hören.«173

166

Barth, KD IV/3, 142. A.a.O., 131. Dort z.T. kursiv. 168 A.a.O., 128. 169 Vgl. a.a.O., 126. 170 A.a.O., 128. 171 Goebel, Vom freien Wählen Gottes und des Menschen, 363. Das Zitat im Zitat stammt aus: Barth, KD IV/3, 137. 172 Barth, KD IV/3, 112. Zur Systematisierungsverweigerung Barths vgl. auch Hunsinger, How to Read Karl Barth, 53f.; 207–224. 173 Barth, KD IV/3, 133. 167

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»Das gewisse Extra!«

3.5 Karl Barth und die Theologie der Religionen In der Barth-Forschung hat man es nicht bei Barths Hinweis auf die Unsystematisier- und Nichtkanonisierbarkeit belassen, sondern bestimmte Zusammenhänge namhaft gemacht. Bertold Klappert174 etwa identifiziert folgende Erfahrungsfelder der Prophetie Jesu Christi: 1. Das Judentum (als prophetischer Zeuge der alttestamentlichen Urgestalt der einen Gottesoffenbarung)175, 2. Gleichnisse des Reiches Gottes in der Geschichte (die Gestaltung der Bürgergemeinde zum Gleichnis des Reiches Gottes, der demokratische Sozialismus als wahres Wort der Prophetie Jesu Christi)176, 3. Lichter und Rätsel in der Schöpfung (Mozarts Musik)177 und 4. Wahrheiten und Lichter in den Religionen (z.B. der Jodo-Shinshu-Buddhismus im Gespräch mit dem japanischen Theologen Kazumi Takizawa).178 Dass Barth Sozi174

Vgl. Klappert, Gottes Offenbarung und menschliche Erfahrung, 35–50. Vgl. dazu F.-W. Marquardt, Die Entdeckung des Judentums für die christliche Theologie. Israel im Denken Karl Barths, München 1967; E. Busch, Unter dem Bogen des einen Bundes. Karl Barth und die Juden 1933–1945, Neukirchen-Vluyn 1996. 176 Vgl. die Bände: M. Höfner (Hg.), Theo-Politics? Conversing with Barth in Western and Asian Contexts, Minneapolis 2021; G. Hunsinger (Hg.), Karl Barth and Radical Politics. Second Edition, Eugene 2017. Fernerhin: D. Schellong, Die Gerechtigkeit als Gleichnis des Himmelreichs. Zur politischen Ethik Karl Barths, in: Tu deinen Mund auf für die Schwachen! Gottes Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Eine Besinnung nach Karl Barth, Herrenalber Protokolle 44 (1988), 54–74; M. Hofheinz, »Er ist unser Friede«. Karl Barths christologische Grundlegung der Friedensethik im Gespräch mit John Howard Yoder, FSÖTh 144, Göttingen 2014, 595–610; Goebel, Vom freien Wählen Gottes und des Menschen, 374–376. Ganz im Sinne Barths bemerkt W. Joest, Der Friede Gottes und der Friede auf Erden. Zur theologischen Grundlegung der Friedensethik, Neukirchen-Vluyn 1990, 77, hinsichtlich des Bereichs des Politischen: Auch wenn Christinnen und Christen sich hier von Jesus Christus sagen lassen, was Gottes Wille ist, so soll damit nicht behauptet werden, »dass es außerhalb der Begegnung mit der Wort Gottes in Christus ein Wissen von Menschen um Recht und Unrecht […] überhaupt nicht geben könne. Es kann in jenem Außerhalb nicht nur ein Wissen, sondern auch ein Tun des Rechten geben, ja ein Tun von Liebe, das Christen zum Vorbild und zur Beschämung werden kann […]. Denn wir können Gott nicht bestreiten, daß er auch in und durch Menschen, die sein Wort nicht hören, […] solches Wissen und Tun des Guten wirken kann«. 177 Vgl. Th. Erne, Barth und Mozart, ZDTh 2 (1986), 234–246; J.V. Sandberger, Theologische Existenz angesichts der Grenze und auf der Grenze. Karl Barth über Mozart und Paul Tillich über Bildende Kunst, ThZ 47 (1991), 66–86; U. Dannemann, Dem Zeitgeist des 21. Jahrhunderts Richtung und Linie geben. Karl Barth, Mozart und die Aktualität des 18. Jahrhunderts, ZDTh 25 (1/2009), 42–62; M. Hailer, Zwischenspiel. Karl Barths Mozart-Liebe, in: ders., Die Unbegreiflichkeit des Reiches Gottes. Studien zur Theologie Karl Barths, Neukirchen-Vluyn 2004, 92–97. Fernerhin: H. Dembowski, Musik als Friedensspiel. Theologische Aspekte der Musik, in: ders., Wahrer Gott und wahrer Friede. Aufsätze und Vorträge zwischen Ost und West, hg. von H. Falcke / H. Schröer, Leipzig 1995, 360–377. 178 Vgl. zu Takizawa: S. Hennecke / A. Venemans (Hg.), Karl Barth – Katsumi Takizawa. Briefwechsel 1934–1968, FSÖTh 154, Göttingen 2015; M. Wendte, Viele Kulturen – ein Christus. Wie normativ sind westliche Christologie im globalen Kontext?, NZSTh 57 (2015), 155–178. 175

Karl Barths sog. »Lichterlehre« (KD IV/3) als Zugang

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alismus, Humanismus und Musik (Mozart) im Blick hatte, ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen.179 Wie sieht es aber mit den Religionen aus? Barth fragt offen nach den Phänomenen, und zwar solchen, »die nun doch auffallend oft gerade extra muros ecclesiae, wo man von Bibel und kirchlicher Verkündigung kaum (vielleicht nur auf größten Umwegen und in stärksten Verdünnungen) oder auch notorisch gar nichts weiß, sichtbar werden[.] Haben diese Phänomene etwa keine Sprache? Und sollte ihre Sprache nun nicht doch, wie befremdlich das uns erscheinen mag, die Sprache wahrer Worte sein – die Sprache von ›Gleichnissen des Himmelreichs‹?«180

Im Sinne dieser Offenheit wird man sicherlich die Religionen nicht ausklammern dürfen, sondern einbeziehen müssen: »Der Glaube, der die Welt in diesem wahrmachenden Licht wahrnimmt, wird also – was sich ontologisch freilich auf keine Weise begründen läßt! – damit zu rechnen haben, daß auch die außerchristlichen Religionen zum geschichtlichen Darstellungsraum der Offenbarung werden, daß sie im präzisen neutestamentlichen Sinne des Wortes gleichnishaft die Universalität der geschichtlich sich durchsetzenden Wahrheit Gottes bezeugen können. Die Kirche ist nicht der einzige Weg Gottes mit der Welt.«181

Wohl aber gilt dies für Jesus Christus als das »Licht des Lebens«, wie man im Sinne Barths wird ergänzen müssen, der eben nicht Kirche und Jesus Christus und schon gar Christentum und Jesus Christus miteinander identifiziert und/oder anderweitig kurzschließt. Es dürfte jedenfalls gelten und dementsprechend suggestiv zu fragen sein: Gibt es diese »realen Gleichnisse des Himmelsreiches« im Weltgeschehen, diese die »eine und ganze Wahrheit Jesu Christi« bezeugenden Worte – warum sollte dies nicht auch für die Welt der Religionen gelten?182 Wenn Barth etwa von einer die Gemeinde beschämenden Weltlichkeit spricht, warum sollte man dabei nicht auch die Welt der Religionen assoziieren dürfen: »Kam es nicht oft genug vor, dass sie [sc. die Gemeinde; M.H.] vor die Tatsache einer Weltlichkeit gestellt wurde, die gelegentlich sogar eine ausgesprochen heidnische Weltlichkeit sein mochte, die gewisse Aspekte der ihrer Verkündigung anvertrauten Wahrheit mindestens ebenso deutlich und bestimmt wie sie selbst und manchmal wohl auch besser, auch früher, auch folgerichtiger als sie zu bezeugen schien?«183 179

Vgl. Barth, KD IV/3, 140. Ebd. Zur phänomenologischen Beschreibung bei Barth vgl. Hunsinger, How to Read Karl Barth, 218–221. 181 Link, Das menschliche Gesicht der Offenbarung, 295. 182 So auch H.Th. Goebel, Jesus Christus und die Religion(en), in: E. Mechels / M. Weinrich (Hg.), Die Kirche im Wort. Arbeitsbuch zur Ekklesiologie, Neukirchen-Vluyn 1992, (70–85) 82. 183 Barth, KD IV/3, 140. 180

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»Das gewisse Extra!«

Angewandt auf Barths Charakterisierung der »Gleichnisse des Himmelreiches« bedeutet die Präsupposition, dass bei Barth de facto die Religionen im Blick waren oder zumindest de iure im Blick hätten sein können, im Resultat: »[Die Religionen] sind außerordentliche und ›freie Kundgebungen Jesu Christi‹ von besonderem Ereignischarakter und darum nicht festzustellen unter Absehung von diesem, nicht zu systematisieren oder zu kanonisieren. Sehr wohl aber von der Kirche – wenn faktisch auch nur von einzelnen in der Kirche – je wahrzunehmen, besonders am Zeugnis der Heiligen Schrift zu prüfen und gegebenenfalls konstruktiv und kritisch aufzunehmen – selbstkritisch als Anfrage an das kirchliche Verständnis und die kirchliche Praxis.«184

In diesem Sinne sieht auch der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber m.E. in zutreffender Weise eine Grundlegung für den Dialog der Religionen in der »Lichterlehre« Barths gegeben: »Karl Barth, der große Theologe, hat […] an einer späten Stelle seines Werks die Folgerung gezogen: Ich kann nicht ausschließen, dass Gott auch andere Religionen dazu benutzt, um das Licht seiner Versöhnung leuchten zu lassen. In dem Maß, in dem ich das bemerke, kann ich nur Gott die Ehre und insoweit den anderen Religionen Recht geben.«185

Im Dialog mit anderen Religionen, so betont Huber, nehme man »dem christlichen Bekenntnis nichts von seiner Verbindlichkeit, wenn man den Gedanken einer Absolutheit des Christentums hinter sich lässt«.186 Im Dialog gehe es – ausgehend von der Perspektive des christlichen Glaubens an den dreieinen Gott – »nicht um die Absolutheit der eigenen Religion, sondern um die Absolutheit Gottes«.187 Folgt man dem religionstheologischen Duktus von Barths Theologie, kann man in der Tat feststellen: Hier werden die Christ/innen den Anhängern anderer Religionen keineswegs diametral entgegengesetzt, gleichsam kontrastiv gegenübergestellt.188 Vielmehr stehen beide Christus gegenüber und sind beide gerade so miteinander in eine Solidargemeinschaft gewiesen, selbst wenn sie davon 184

Goebel, Jesus Christus und die Religionen, 82. W. Huber, Gott die Ehre geben, Zeitzeichen 2 (2008), 17. 186 Ebd. 187 Ebd. Der Begriff der »Absolutheit« dürfte indes kaum Barths Gottesverständnis treffen, insofern sich dieses als durch und durch relational erweist. Vgl. R.J. Meyer zu Hörste-Bührer, Gott und Mensch in Beziehungen. Impulse Karl Barths für relationale Ansätze zum Verständnis christlichen Glaubens, FRTH 6, Neukirchen-Vluyn 2016. Fernerhin: W. Krötke, Gott und Mensch als «Partner«. Zur Bedeutung einer zentralen Kategorie in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik, ZThK.B 6 (1986), 158–175. 188 Auch Di Noia, O.P., Religion and the Religions, 255, kommt zu dem Ergebnis, »that a theology of religions can approach the study of other religions and that Christians can encounter the adherents of other religions in interreligious dialogue with the expectations that truth – what Barth calls Christ’s ›free communications in parables of the kingdom‹ – 185

Karl Barths sog. »Lichterlehre« (KD IV/3) als Zugang

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nichts wissen und/oder wissen wollen.189 Denn der Satz, dass Jesus Christus das eine Wort Gottes ist (Barmen I), »blickt nicht nur von dem nicht-christlichen, sondern auch von dem christlichen Menschen her auf den, der diesen wie jenen als der Prophet souverän gegenübersteht und vorangeht. Indem Jesus Christus sein Inhalt ist, trennt sich also der, der ihn bekennt, in keiner Weise von denen, die nicht bekennen.«190 Dieser Satz ist nicht nur für eine Theologie der Religionen eminent bedeutsam, sondern er dürfte zugleich auch religionskritisch einschlägig sein. Er benennt nämlich den Blickwinkel, die Perspektive, aus dem/der heraus beide, eine Theologie der Religionen und eine Religionskritik, erfolgen dürfen und der/die beide eint und verbindet.

3.6 Theologische Religionskritik in Barths »Lichterlehre«: »Das Bessere vom Schlechteren zu unterscheiden wissen« Zu den großen Rätseln der Barth-Forschung gehört die Verhältnisbestimmung von § 17 der »Kirchlichen Dogmatik« (mit seinem Spitzensatz »Religion ist Unglaube«) und der »Lichterlehre«. In der Regel hat man das Rätsel eines vermeintlichen Hiats (oder zumindest einer Inkonsistenz) zwischen beiden so zu lösen versucht, dass man die scheinbar divergenten Aussagen werk- bzw. zeitgeschichtlich historisierte und/oder kontextualisierte. Dabei entstand jedoch zumeist das Problem, dass man den jungen vom späten Barth und den Paragraphen § 17 von Barths späte(re)n Ausführungen in der »Lichterlehre« separierte und beide gegeneinander ausspielte. Im Zusammenhang der Rekonstruktion von Entwicklungsstufen der Barth’schen Religionslehre manifestierte sich diese Separation in Gestalt des zugrunde gelegten Schemas von sich ablösenden Stufen.191 De facto aber spielte man mit dieser gewählten Konstellation vielfach eine Theologie der Religionen gegen eine theologische Religionskritik aus. Damit wurde zugleich insinuiert, dass sich beide alternativ zueinander verhalten. Auf diesem Hintergrund ist die »Lichterlehre« Gegenstand der Diskussion geworden:

will indeed be found here and that such truth is testable«. So auch Ensminger, Karl Barth’s Theology as a Resource for a Christian Theology of Religions, 1 u.ö. 189 Für Barth, KD IV/3, 132, indes steht fest, dass der Gott, der dem Abraham aus Steinen Kinder erwecken kann (Mt 3,9), auch »Menschen ohne, ja gegen ihr eigenes Wissen und Wollen zu dem zu machen [sc. vermag; M.H.], was sie aus sich selbst auf keinen Fall werden könnten: zu seinen Zeugen, zu Sprechern ernsthaft so zu nennender wahrer Worte.« 190 A.a.O., 100. 191 Vgl. etwa die Rekonstruktionen des Entwicklungsgangs von H. Ruddies, Religion als kritisches Thema der Theologie, RKZ 121 (1980), 264–267; Klappert, Gottes Offenbarung und menschliche Erfahrung, 3–52; G. Pfleiderer, Das »prophetische Amt« der Theologie. Zur systematischen Rekonstruktion der Theologie Karl Barths und ihres Entwicklungsgangs, ZDTh 17 (2/2001), 112–138; Dahling-Sander / Plasger, Hören und Bezeugen, wobei die beiden Letztgenannten die Kohärenz und Kontinuität betonen, die »Lichterlehre« also gerade nicht als ein Widerrufen von § 17 verstehen.

438

»Das gewisse Extra!« »Es wird diskutiert, ob sie ein hilfreiches Modell für die Theologie der Religionen abgeben könnte. Besonders Theologen, die in § 17 der Kirchlichen Dogmatik einen harschen Exklusivismus am Werke sehen – was seinerseits nicht unumstritten ist –, verstehen die ›Lichterlehre‹ als Möglichkeit dialogischer Öffnung.«192

Beide Größen verhalten sich indes keineswegs alternativ zueinander. Unabhängig von Barths Oeuvre wird man grundsätzlich konstatieren dürfen: Ein Dialog zwischen den Religionen sollte Religionskritik beinhalten und sie nicht etwa ausklammern. Gerade in den Dialog der Religionen »ist die Lektion der Religionskritik einzubringen, die in ihrer aufklärerischen Funktion auf die Abgründe der Religion aufmerksam macht. Die Religionskritik tritt insofern für die Religion ein, als sie den Blick auf die Religion ernüchtert und sie dazu nötigt, über sich selbst Rechenschaft abzulegen. An der Fähigkeit einer Religion, mit der sie treffenden Kritik konstruktiv umzugehen, bemisst sich in hohem Maße ihr um die Schwäche ihrer eigenen Versuchlichkeit wissender Realitätssinn.«193

Die Pointe der Religionskritik Barths lässt sich in diesem Zusammenhang etwa so zuspitzen: »Was in den geschichtliche Religionen (das historische Christentum eingeschlossen) verfehlt wird, was hier nicht ausgehalten wird, ist die Externität der Offenbarung, die Zukünftigkeit, in der Gott der Welt gegenübersteht.«194 Wie verhalten sich nun aber theologische Religionskritik und eine Theologie der Religionen zueinander? Wie das Negative und das Positive?195 Etwa wie die Schatten- und die Sonnenseite eines Tales? Die theologische Religionskritik als Schattenseite wäre dann ggf. der Sonne abgewandt und die »Gleichnissen des Himmelreiches« wären der Sonne zugewandt. In bestimmten dogmatischen Zusammenhängen kann Barth durchaus eine ähnliche bildliche Sprachfigur bemühen.196 Bei Lichte, d.h. im Vollzug der »Lichterlehre« betrachtet, zeigt sich zunächst, dass Barth im ganz wörtlichen Sinne des gr. krinein theologische Religionskritik als die Unterscheidung, das Urteil, die Prüfung im Blick auf die Erscheinungsweisen von »Religion« versteht. Nichts anderes fordert Barth hinsichtlich der »Gleich-

192

M. Hailer, Offenbarung, in: M. Beintker (Hg.), Barth Handbuch, Tübingen 2016, (295–301) 301. 193 Weinrich, Die bescheidene Kompromisslosigkeit der Theologie Karl Barths, 306. 194 Link, Das menschliche Gesicht der Offenbarung, 292f. 195 C. van der Kooi, Religion und Glaube, in: M. Beintker (Hg.), Barth Handbuch, Tübingen 2016, (282–288) 288, spricht im Blick auf die »Lichterlehre« von der »positive[n] Kehrseite seiner früheren antithetischen Äußerungen zu Religion« und der »theologische[n] Grundlage eines neuen, offenen Umgangs mit den anderen Religionen«. 196 Vgl. etwa die Rede von der Nacht- und Schattenseite der Geschöpflichkeit im Zusammenhang der Lehre vom »Nichtigen«. Vgl. Barth, KD III/3, 403 u.ö. Dazu: M. Hofheinz, »Willst du gesund werden?« (Joh 5,6) Gesundheit und Krankheit aus theologischer Sicht, WzM 68 (2016), (309–324) 317–320.

Karl Barths sog. »Lichterlehre« (KD IV/3) als Zugang

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nisse des Himmelreiches«, wenn er von der Notwendigkeit der Prüfung spricht, »ob sie nicht wahre Worte sein möchten«197: »Gewiss, dass, was da sichtbar und hörbar werden mag, der Prüfung bedürftig ist, ihr nicht entzogen werden darf!«198 Die Unterscheidungsnotwendigkeit basiert schlicht auf dem Umstand, dass es neben »solchen Worten, die nicht aus dem auch in der Finsternis leuchtenden Licht« stammen, nun auch solche gibt, die »aus der Finsternis stammen, die darum als unwahre Worte nicht zu hören sind«.199 Das allgemeine Kriterium der »guten menschlichen Worte«, ihrer »Güte und Qualität« besteht darin und bemisst sich nach Barth daran, »ob und in welcher Treue sie die Zeugen dieses einen Wortes sind.«200 Subjekt der Prüfung ist dabei die Gemeinde. Es geht um ihren noetischen, ihren religionskritischen Prüfauftrag: »Sie soll sie [sc. die Kandidat/innen für die »guten menschlichen Worte«; M.H.] am Zeugnis der Schrift messen, sie soll aber auch sie hören!«201 Barth entwickelt über diese allgemeine Auskunft hinaus sodann eine recht ausdifferenzierte Kriteriologie.202 Konkret benennt er – wie auch in anderen Zusammenhängen203 – eine oft mit Fragekaskaden versehene Trias an prioritär gestaffelten Kriterien, die freilich in der Barth-Forschung zumeist übersehen wird. Barth kann innerhalb des folgenden Kriterienkatalogs durchaus die einzelnen (Konvergenz-)Kriterien skalieren: a) Zeugnis der Schrift Das klar priorisierte Kriterium ist das Schriftprinzip als »Formalprinzip«:204 »Es gibt hier zunächst ein formales Kriterium, das freilich, recht verstanden, seine kritische Kraft gerade darin hat, dass es zugleich den entscheidenden sachlichen Maßstab sichtbar macht, der hier anzuwenden ist: Wir werden, wo es in einem Phänomen des näheren und ferneren Weltgeschehens um ein solches wahres Wort zu gehen scheint, nach seiner Übereinstimmung mit dem Zeugnis der Schrift zu fragen haben.«205 Diesem Formalprinzip korrespondiert ein Materialprinzip, das von Barth mit Jesus Christus als Mitte der Schrift benannt wird und das gleichsam zusammen mit dem Formalprinzip das Koordinatensystem der Prüfung bildet:

197

Barth, KD IV/3, 140. Ebd. 199 A.a.O., 141. 200 A.a.O., 109. 201 A.a.O., 129. 202 Vgl. a.a.O., 141–144. 203 So z.B. in K. Barth, Politische Entscheidung in der Einheit des Glaubens, TEH.NF 34, München 1952. Vgl. dazu: Hofheinz, »Er ist unser Friede«, 347–355; G. McKenny, The Analogy of Grace. Karl Barth’s Moral Theology, Oxford 2010, 229–238. 204 Zu Barths Schriftverständnis vgl. G. Hunsinger (Hg.), Thy Word Is Truth. Barth on Scripture, Grand Rapids / Cambridge 2012; G. Bergner, Um der Sache willen. Karl Barths Schriftauslegung in der Kirchlichen Dogmatik, FSÖTh 148, Göttingen 2015. 205 Barth, KD IV/3, 141. 198

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»Das gewisse Extra!« »Dass es [sc. das fragliche Phänomen; M.H.] in seiner konkreten Gestalt in irgendeinem biblischen Text oder Textzusammenhang vorgesehen und so biblisch bestätigt sein möchte, wird man natürlich nicht erwarten dürfen, wohl aber, dass es sich, ist es ein wahres Wort, in seiner besonderen Aussage an irgendeiner Stelle in den durch seine Mitte in Jesus Christus bestimmten und charakterisierten Zusammenhang der biblischen Botschaft einfüge, dass es also, mit dieser verglichen, ihre große Linie nicht störe, nicht unterbreche, sondern sie an irgendeiner bestimmten Stelle in neuer Weise zum Leuchten bringe.«206

b) Dogma und Bekenntnis Als zweites Konvergenzkriterium benennt Barth die Übereinstimmung mit Dogma und Bekenntnis: »Mit gewissen Vorbehalten wird dann auch das Verhältnis eines solchen anderen Wortes zum kirchlichen und Dogma und Bekenntnis als Kriterium seiner Wahrheit geltend zu machen sein. Gewiss wird es sich auch an diesem Maßstab messen lassen müssen. Aber nun haben wir es hier im Unterschied zur heiligen Schrift mit ihrer auf ihr unmittelbares Verhältnis zur Geschichte Israels und Jesu Christi selbst begründeten Autorität doch nur mit der sekundären Autorität der kirchlichen Väter und Brüder zu tun: doch nur mit einer höchst respektablen, aber immerhin durch die Zeiten und besonderen Umstände der Entstehung jener Dokumente bedingten Anleitung zum Verständnis der in der Schrift bezeugten Offenbarung Gottes.«207

Unter Verweis auf den Vorbehalt besserer Einsicht in die Heilige Schrift und die daraus resultierende Revidierbarkeit überkommener kirchlicher Normen, benennt Barth als Kriterium die Erwartung: »Sie werden uns, sind sie wahre Worte, auch aus der in jenen Dokumenten bezeugten communio sanctorum aller Zeiten nicht heraus – sie werden uns auch in sie nur um so tiefer hineinführen dürfen.«208 c) Früchte der Worte Abschließend sei das auf eine bestimmte Verhaltenserwartung abzielende, dritte Kriterium genannt209: »Als weiteres Kriterium in der Frage nach seiner Wahrheit dürften die Früchte zu nennen sein, die ein solches Wort da draußen, wo es seinen mehr oder weniger wunderbaren und also rätselhaften Ursprung hat, in der die Gemeinde umgebenden profanen Welt also, bisher getragen zu haben und noch zu tragen scheint. Dort wird es ja zunächst gehört werden und seine Wirkung haben. Und nun sind auch dort, im Weltge-

206

A.a.O., 141f. A.a.O., 142. 208 A.a.O., 142f. 209 Im Hintergrund dürfte Mt 7,16a stehen: »An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen« (Zürcher Bibel, 2007). 207

Karl Barths sog. »Lichterlehre« (KD IV/3) als Zugang

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schehen als solchem durchaus nicht alle Katzen grau, sondern gerade die Gemeinde wird dort, wenn nicht einfach das Gute vom Bösen, so doch das Bessere vom Schlechteren zu unterscheiden wissen.«210

Bei diesen drei Kriterien handelt es sich – so meine These – um nichts anderes als um Regulative der Anwendung theologischer Religionskritik. Indem Barth auf diese drei Kriterien, nämlich das Zeugnis der Schrift (1), Dogma und Bekenntnis (2) sowie die Früchte der Worte (3) rekurriert, dabei aber zugleich ihre Relativität unterstreicht,211 wird Folgendes evident: Barth will die Religionskritik der Propheten (1), Reformatoren212 (2) und auch Ludwig Feuerbachs213 (3), alle drei werden hier pars pro toto genannt, keineswegs nur nach KD I/2 § 17 angewandt wissen, sondern auch gemäß der »Lichterlehre«. Es geht also Barth auch in der »Lichterlehre« durchaus um angewandte theologische Religionskritik; es geht – in Barths eigenen Worten – um die Praxis, »das Bessere vom Schlechteren zu unterscheiden«.214 Barths theologische Religionskritik exekutiert also keinen Gut-Bös-Dualismus etwa im Blick auf die Religionen (gute Religion versus böse Religion oder dergleichen), urteilt also in diesem Sinne nicht allgemein und kategorisch, sondern im Modus des Komparativen differenziert und deliberativ. So möchte Barth die Dialektik seiner theologischen Religionskritik verstanden wissen. Auf eine grobschlächtige Anwendung zielt sie ihrer Funktion nach indes nicht ab. Eine differenziert und deliberativ agierende dialektische Anwendung theologischer Religionskritik meint zudem nach Barth eine Applikation mit klarer Priorisierung, nämlich zuerst selbst- bzw. kirchenkritisch auf die christliche Religion bezogen.215 Im Sinne Barths gilt vor allem: »Selbstkritik der Religionen ist ein konstitutives Moment im Dialog der Religionen.«216 Mit dieser Formulierung ist allerdings be210

Barth, KD IV/3, 143. Auch diese Kriterien sind im Sinne Barths der theologischen Religionskritik zu unterziehen! 212 Zur Religionskritik der Propheten und Reformatoren vgl. die Beiträge in: Hofheinz / Meyer zu Hörste-Bührer (Hg.), Theologische Religionskritik; Kraus, Theologische Religions­kritik. 213 Zum Verhältnis von Barth und Feuerbach vgl. K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 51985, 484–489; M.H. Vogel, The Barth-Feuerbach Confrontation, HThR 59 (1/1966), 27–52; R. Gruhn, Religionskritik als Aufgabe der Theologie, EvTh 39 (1979), 234–255; O. Herlyn, Religion oder Gebet. Karl Barths Bedeutung für ein »religionsloses Christentum«, Neukirchen-Vluyn 1979, 56–58; Kraus, Theologische Religionskritik, 14–16; 160–191; G. Wenz, Graf Feuerbach und der Tod. Zur Kritik der dogmatischen Religionskritik Barths, ZDTh 11 (1995), 157–189; M. Welker, Theologische Profile. Schleiermacher – Barth – Bonhoeffer – Moltmann, Frankfurt a.M. 2009, 157–181; Weinrich, Religion und Religionskritik, 114–120. 214 Barth, KD IV/3, 143. 215 Vgl. M. Hofheinz, Für Kirche und Gesellschaft… Religionskritik als unverzichtbare Aufgabe der Theologie, in: ders. / Meyer zu Hörste-Bührer (Hg.), Theologische Religions­ kritik, 1–15. 216 Klappert, Gottes Offenbarung und menschliche Erfahrung, 25. Kursivierung: M.H. So auch a.a.O., 51. 211

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»Das gewisse Extra!«

reits der Transfer von der »Religion« im Singular zu den »Religionen« im Plural vollzogen. Insofern handelt es sich um einen erläuterungsbedürftigen Gedankenschritt. Beide, »Religion« und »Religionen«, sind nämlich voneinander zu unterscheiden, genauer gesagt: in einem differenzierten Zusammenhang zu betrachten. Ihr Verhältnis zueinander berührt auf das Engste die immer noch im Raum stehende Ausgangsfrage: In welchem Verhältnis stehen nach Barth theologische Religionskritik und eine Theologie der Religionen zueinander? Offenbar müssen sie einander nicht ausschließen. Ja, in der Tat verhalten sie sich nicht gegensätzlich. Vielmehr bilden sie die beiden Seiten einer Münze, nämlich der einen Münze »Religionstheologie«, also gleichsam Kopf und Zahl. Das heißt: Theologische Religionskritik ist die andere Seite der Religionstheologie, die jede Theologie der Religionen wird begleiten müssen. Umgekehrt gilt nun ebenso: Eine Theologie der Religionen stellt die Kehrseite der theologischen Religionskritik dar und wird diese als die andere Seite der Religionstheologie nun ihrerseits begleiten müssen. Beide, theologische Religionskritik und Theologie der Religionen, sind als unabweisliche Implikate der Religionstheologie zu verstehen. Ihr Verhältnis lässt sich formal als das reziproker Implikation bezogen auf die Religionstheologie bestimmen.217 Nicht zufällig kann Barth im religionskritischen Rahmen des § 17 von der »wahren Religion« im Zusammenhang der iustificatio impii218 sprechen und damit eine Theologie der Religionen zumindest projektieren.219 Und Barths »Lichterlehre«, die bislang primärer Gegenstand der Betrachtung war, hat umgekehrt deutlich gemacht, dass zu einer Theologie der Religionen notwendigerweise die theologische Religionskritik hinzugehört. Dies ist die de iure unhintergehbare Einsicht, die die »Lichterlehre« zur Sprache bringt, indem sie die entfalteten Prüfkriterien integriert. Die »Lichterlehre« steht damit nicht nur für eine große Freiheit und Offenheit der Wahrnehmung von Religionen, sondern auch die Verbindlichkeit einer solchen Wahrnehmung, wie sie im religionskritischen Prüfauftrag Ausdruck findet.220

4. Fazit Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, dass die analysierten inkarnationstheologischen Ausführungen Johannes Calvins, wie die versöhnungstheologischen Karl Barths weitreichende religionstheologische Implikationen beinhalten. Auf den 217

Der Terminus »reziproke Implikation« ist H.E. Tödts (Zum Verhältnis von Dogmatik und theologischer Ethik, in: ders., Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, 12– 20) Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik im Rahmen der Systematischen Theologie entliehen. Vgl. fernerhin: W. Lienemann, Grundinformation Theologische Ethik, UTB 3138, Göttingen 2008, 68–76. 218 Vgl. Barth, KD I/2, 356f.; 370; 387 u.ö. 219 Vgl. a.a.O., 356–397. 220 Vgl. Zeindler, Gestaltetes Evangelium, 92.

Fazit

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Punkt gebracht, handelt es sich beim »Extra-Calvinisticum« und der »Lichterlehre« um solche religionstheologische Zugänge, die so etwas wie Öffnungsformeln für eine Theologie der Religionen darstellen, zugleich aber vom Dialog der Religionen als einem praktischen Begegnungsgeschehen zu unterscheiden sind.221 Für den Dialog der Religionen dürfte gelten: »Ein Dialog der Vertreter der ›christlichen Religion‹ mit den Vertretern anderer Religionen – auch nicht-religiöser Weltanschauungen – wird dann für beide Seiten eher möglich und – aus […] christlicher Sicht geurteilt – auch verheißungsvoll und aussichtsreich, wenn die Christen davon ausgehen, dass ihre – wie jede – Religion die Wahrheit nicht als ihre eigene beanspruchen kann, sondern dass die Wahrheit Jesu Christi auch ihr gegenübersteht und zwar als lebendige sich selbstdarstellende und so selber Geschichte vollziehende und menschliche Freiheit entbindende Wahrheit.«222

Exakt davon gehen Calvin und Barth aus. Dies lässt sich anhand ihrer Ausführungen zum zweiten Glaubensartikel herausarbeiten. Insofern können die Theologien beider und kann mit jenen auch dieser wohl kaum als Hemmschuh für einen Dialog der Religionen betrachtet werden. Der christologischen Konzentration, für die Calvins und Barths Ausführungen stehen, entspricht vielmehr eine Haltung, für die gilt: »Die Christen können und müssen lernbereit gegenüber anderen in diesen Dialog eintreten und ihn führen – gewärtig, dass sie dort durch die Vertreter anderer Religionen die Stimme Jesu Christi hören und bezeugt finden können. Dabei wissen sie – und können als Christen auch in diesem Dialog davon nicht lassen –, dass sich die volle Wahrheit Gottes als eine unverwechselbar namentliche in bestimmter Geschichte bekannt gemacht hat, und sie die volle Wahrheit Gottes bei ihrem unverwechselbaren Namen Jesus Christus kennen, wenngleich nicht ausschöpfen können. Sie rechnen mit dem lebendigen Fortgang dieser Geschichte der Wahrheit in ihrer namentlichen Bestimmtheit.«223

Eine vom Dialog als praktiziertem Begegnungsgeschehen unterschiedene Theologie der Religionen setzt die Wirklichkeit und den Wahrheits- und Heilsanspruch nichtchristlicher Religionen zum Selbstverständnis der christlichen Theologie in Beziehung, indem sie ihn deutet.224 Eine Deutung, und zwar eine präzise, trennscharfe, zwischen unterschiedlichen Deutungen differenzierende Deutung, ist höchst bedeutsam. Diese geradezu banal anmutende hermeneutische Grundeinsicht ist bleibend wichtig. Dies stellte sich auch im Fall des konkreten Untersuchungsgegenstandes heraus. Es hat sich nämlich im Blick auf Calvin und

221

So Bernhardt, Christologie im Kontext einer »Theologie der Religionen«, 103. Goebel, Jesus Christus und die Religion(en), 82. 223 A.a.O., 82. 224 Vgl. Bernhardt, Christologie im Kontext einer »Theologie der Religionen«, 103. 222

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»Das gewisse Extra!«

Barth gezeigt, dass es keineswegs »der christo-soteriologische Ausschließlichkeitsanspruch an sich [ist], der zu abwertenden, ablehnenden oder gar feindseligen Haltungen und Handlungsorientierungen gegenüber Andersglaubenden«225 führen muss. Es ist vielmehr auf das Verständnis und die Verwendung dieses Ausschließlichkeitsanspruchs zu achten. Semantische und (sprach-)pragmatische Codierungen sind dabei nicht gleichgültig. Die konkrete inhaltlich-theologische Füllung des zweiten Glaubensartikels ist höchst belangvoll. Ein christozentrischer Exklusivismus muss, wie das Beispiel Calvins und Barths zeigt, nicht mit Notwendigkeit in interreligiöse Verfeindungszwänge führen.226 Um die Untersuchung abschließend auf den Punkt zu bringen: Es hat sich gezeigt, dass keine Notwendigkeit besteht, den zweiten Glaubensartikel als Explikat einer faden, in schwarz-weiß gehaltenen christlichen Verweigerungs- und/oder Immunisierungsstrategie gegenüber einer bunten Welt der Religionen zu verstehen. Zugespitzt formuliert, kann man das »Extra-Calvinisticum« und die »Lichterlehre« als die hilfreichen Interpretamente des zugleich interpretationsbedürftigen wie interpretationsfähigen Satzes »extra Christum nulla salus« verstehen. Es geht bei diesem Satz eben um mehr als eine exklusivistische Wahrheitsbehauptung227 und um mehr als eine theologische Problemanzeige im Blick auf »Religion«. Auch der bisweilen in religionstheologischen Diskursen vorschnell verbannte Satz »extra Christum nulla salus« kann nämlich – zu dieser theologischen Einsicht haben Calvin und Barth die Spur gelegt – zu einer Öffnungsformel werden. Religionstheologisch gilt es m.E. diese Fährte aufzunehmen bzw. diese Spur weiter zu verfolgen. So kann Neues entstehen – nicht irgendetwas Neues, das nolens volens immer entstehen wird, sondern wirklich gutes Neues. Das gute Neue ist dasjenige, das Zeugnis von der »guten neuen Mär«228 (Martin Luther) gibt, die nicht alt wird, weil sie täglich neu durch den wahren Zeugen bezeugt wird. Ja, genauer noch: Das gute Neue ist im Sinne Barths der gute Neue. Geht es nicht um das Neue, sondern um Christus, den Neuen, dann erweist sich das Neue als ein Prädikat des Neuen und nicht etwa umgekehrt.229 In diesem Sinne ist etwa die Aussage des Hebräerbriefes zu verstehen: »Jesus Christus ist derselbe gestern, 225

Bernhardt, Extra Christum nulla salus, 119. Vgl. ebd. 227 Im Blick auf exklusivistische Wahrheitsbehauptungen wird man beachten müssen, dass ein religiöser Exklusivismus keineswegs auch zu einem politischen Exklusivismus führen muss, ja religiöser Exklusivismus und politischer Pluralismus keineswegs notwendigerweise inkompatibel sind. Vielmehr verdankt sich dem religiösen Exklusivismus in gewisser Weise auch die Geburt der Religionsfreiheit, wie M. Volf, Flourishing. Why We Need Religion in a Globalized World, New Haven / London 2015, 152–155, dies am Beispiel von Roger Williams (1603–1683) im Kontrast zu John Winthrop (1588–1649) gezeigt hat: »The strong exclusivist convictions that gave freedom of religion its birth can sustain it now as well.« 228 M. Luther, EG 24,1 (Vom Himmel hoch). 229 Vgl. dazu M. Hofheinz, »Wer ist Christus für uns heute?« (D. Bonhoeffer). Eine Einführung in die neuere christologische Debatte, in: ders. / K.-O. Eberhardt (Hg.), Gegenwartsbezogene Christologie, Dogmatik in der Moderne 29, Tübingen 2020, 3–42. 226

Fazit

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heute und in Ewigkeit« (Hebr 13,8; Zürcher Bibel, 2007). Wäre Jesus nur eine ewige Wahrheit, die in ihrer Ewigkeit fern und allgemein bleibt, wäre er nicht derselbe, sondern dasselbe.230 Als derselbe aber vergegenwärtigt er sich selbst, ist er lebendig und bringt das Neue; wohlgemerkt das Neue, das neu ist, weil er es bringt, und das er nicht etwa bringt, weil es neu ist. In diesem Sinne kann und darf Christologie als »Opener«, als eine Art »Türöffner« auch für eine neue Theologie der Religionen verstanden werden.231 Eine christologische Konzentration ist jedenfalls religionstheologisch keineswegs verwerflich, sondern vielmehr geboten. Helmut Gollwitzer fasst trefflich zusammen: »Man hat von dieser Konzentration auf Jesus Christus als das eine Wort Gottes eine Verengung des christlichen Blicks befürchtet, die Gleichgültigkeit gegen die übrige Welt mit ihren Fragen und Bemühungen zur Folge habe. Dass diese Konzentration vielmehr einen offenen Blick in die Weite ermöglicht, diesen aber zugleich mit einem unentbehrlichen Maßstab für die Unterscheidung der Geister ausrüstet, zeigen Barths Ausführungen«.232

Und auch im Blick auf Calvin haben wir gesehen, dass ihm die mit dem »Extra-Calvinisticum« vollzogene christologische Konzentration erlaubt, die Gegenwart Christi in der Welt neu wahrzunehmen. Das »Extra-Calvinisticum« »verbindet als eine verborgene theologische Klammer das Christuszeugnis des Neuen Testaments mit dem ›stummen Lehramt von Himmel und Erde‹, das uns im (und aus dem) Raum der Schöpfung erreicht. So gibt es ungeachtet der Offenbarung in Christus ein Vermögen Gottes, sich sogar in der von keinem Evangelium und keiner Mission berührten Welt und ihrer Kultur (auch, so müsste man heute hinzufügen, ihrer Religionsgeschichte) bekannt zu machen.«233

Die religionstheologisch angezeigte Offenheit hat ihren Rechtsgrund nach Calvin wie Barth nicht etwa in der Offenheit der Welt für Gott, sondern in Gottes Offensein für die Welt, seiner »Offenheit für die ihn Erkennenden und die ihn Nichterkennenden«.234 Barth hat in diesem Zusammenhang den eingängigen Satz geprägt: 230

Vgl. W. Schoberth, Das Spiel der Begriffe – oder: Wie phantasievoll muß die Dogmatik sein?, in: W.H. Ritter (Hg.), Religion und Phantasie. Von der Imaginationskraft des Glaubens, BThS 19, Göttingen 2000, (63–88) 85f. 231 Auf dieser Linie argumentiert auch J.M. Lochman, Toward a Theology of Christological Concentration, in: A.J. McKelway / E.D. Willis (Hg.), The Context of Contemporary Theology. Essays in Honor of Paul Lehmann, Atlanta/Georgia 1974, 209–225. 232 H. Gollwitzer, Einleitung, in: K. Barth, Kirchliche Dogmatik. Ausgewählt und eingeleitet von Helmut Gollwitzer, München 1987, 158. 233 Ch. Link, Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien. Neukirchen-Vluyn 2009, 98. Dort kursiv. 234 K. Barth, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV/4. Fragmente aus dem Nachlaß. Vorlesungen 1959–1961, hg. von H.-A. Drewes / E. Jüngel, Karl Barth GA II/7, Zürich 1976, 198. Vgl. Link, Das menschliche Gesicht der Offenbarung, 289.

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»Das gewisse Extra!«

»[E]s gibt zwar eine Gottlosigkeit des Menschen, es gibt aber laut des Wortes von der Versöhnung keine Menschenlosigkeit Gottes«.235 Der niederländische Theologe Adriaan Geense leitet daraus im Blick auf den Dialog der Religionen zutreffend ab: »Also Offenheit, Menschlichkeit, Herzlichkeit, Solidarität, Verstehenswille, nicht trotz, sondern kraft der festen Bindung an Jesus Christus.«236 Was diese Tugenden hinsichtlich eines Dialogs der Religionen meinen, das beschreibt Eberhard Busch im Anschluss an Barth wie folgt: »Ist Gott in seinem Mensch gewordenen Wort verborgen in den Religionen gegenwärtig, und zwar, bevor ihre Vertreter ihn erkennen, dann haben Christen dafür offen zu sein, dass er denen nicht nur verborgen sein muss. Nicht, weil sie dafür geeignet sind, aber weil das ›wahre Wort‹ sich auch in ihnen widerspiegelt (Joh 1,9), dürfen Christen erwarten, dass sie dort – eingehüllt in wieviel Verkehrung auch immer – auf ›wahre Worte‹ stoßen. Und sind sie wahre Worte, dann haben Christen davon zu lernen. Wahr sind sie nicht, weil deren Sprecher sie für wahr halten. Wahr sind sie auch nicht, weil Christen darin wiederfinden, was sie schon wussten. Sie mögen dort auf Gleichnisse des Himmelreichs stoßen, deren Wahrheit sie durch eigene Verkehrungen oder Dämonien verdrängt haben. Das ist nach Barth hier das Kriterium für wahr oder unwahr: ob sich das da Gesehene als Gleichnis der Wahrheit des Evangeliums erkennen lässt und ob die Christen also durch solches Lernen nicht von dieser Wahrheit weg, sondern näher zu ihr hingeführt werden. Hier hat der Dialog seinen Ort – nicht der, der mit der Ideologie der verschiedenen Wege zum selben Ziel belastet ist, aber der Dialog, als dessen erste Formen Barth nennt, dass man den anderen in die Augen sieht und sich von ihnen sehen lässt und dass man miteinander und zueinander redet. Christen sind zu solchem Dialog frei, weil sie darauf vertrauen dürfen, dass die gültige Wahrheit Gottes für sich selbst sorgen wird.«237

235

Barth, KD IV/3, 133. Vgl. E. Jüngel, ... keine Menschenlosigkeit Gottes … Zur Theologie Karl Barths zwischen Theismus und Atheismus, in: ders., Barth-Studien, ÖTh 9, Zürich u.a. 1982, 332–347; M. Freudenberg, Karl Barths Verständnis der Menschlichkeit Gottes, in: ders., Reformierter Protestantismus in der Herausforderung. Wege und Wandlungen der reformierten Theologie, Theologie: Forschung und Wissenschaft 36, Münster 2012, 346–356. 236 Geense, Der Dialog der Religionen und das Bekenntnis der Kirche, 264. 237 E. Busch, Die Toleranz Christi. Was von Karl Barth für den heutigen interreligiösen Dialog zu lernen ist, in: R. Geisler u.a. (Hg.), Muslime in kirchlicher Perspektive. Nachbarn, Dialogpartner, Freunde. Freundesgabe für Heinz Klautke zum 65. Geburtstag, Berlin 2003, (111–127) 124f. Busch umreißt treffend die tröstliche Dimension, die für die Gemeinde daraus resultiert, dass sie es in den profanen Worten mit ihr zugerufenen Worten zu tun hat. Bei Barth, KD IV/3, 129, heißt es wörtlich: »[E]ben der, der seine Sache im Besonderen seiner Gemeinde aufgetragen hat, sorgt dafür, dass diese in Vertretung seiner Sache nicht auf sich selbst angewiesen ist, indem er es auch inmitten der ihr gegenüberstehenden Welt wie an Taten seines Regimentes überhaupt, so an der Erweckung von Zeugen für ihre Sache (die in Wahrheit die seine ist) nicht fehlen läßt. Das ist es, was sich die Gemeinde durch solche wahren Worte von jener ganz anderen Herkunft und Art sagen lassen darf.«

Fazit

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Die hier genannten, christologisch begründeten Tugenden der Offenheit, der Erwartungshaltung sowie der Lern- und Dialogbereitschaft verraten alles andere als ein Desinteresse an anderen Religionen. Es wird also im Sinne Barths nicht bei der Versicherung bleiben können, dass Gott in Christus auch in anderen Religionen präsent sein, ja, sich dort vergegenwärtigen kann. Wer es dabei belässt, bringt anderen Religionen bisweilen nicht mehr als ein freundliches Desinteresse entgegen. Indes ist allein schon der Umstand, dass es sein könnte, dass Christus sich in den Religionen vergegenwärtigt, »Grund genug, sich für sie zu interessieren«.238

238

Hailer, Glauben Juden, Christen und Muslime an denselben Gott?, 61.

XV. »Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« Die christologische Pointe des Bilderverbots als Zentrum theologischer Religionskritik

Die Binnenreligionskritik in den Religionen ist für diese von konstitutiver Bedeutung. Sie bedürfen der Kritik.1 Die Kritik fungiert gleichsam als »entscheidender Motor religiöser Identitätsbildung«2. Religionskritik ist also »ein wesentlicher Bestandteil der religiösen Selbstauffassung.«3 Diese These soll im Folgenden hinsichtlich der Religionskritik aus christlich-theologischer Perspektive exploriert werden. Besagter These zufolge besteht theologische Religionskritik keineswegs primär und ausschließlich in der Problematisierung fremder Religion(en), sondern vor allem der eigenen Religion, bezogen etwa auf das eigene Gestaltwerden von Kirche. Theologische Religionskritik ist demzufolge ihrer Intention nach als »Religionskritik intern« und weitaus weniger als »Religionskritik extern« zu verstehen. Anders gesagt, will Religionskritik als Genitivus subiectivus und nicht primär als Genitivus obiectivus aufgefasst werden: Religion ist also nicht nur Objekt der artikulierten Kritik bzw. Gegenstand einer sie angreifenden Argumentation, sondern auch Subjekt und somit Ausgangspunkt der Kritik.4 Im Sinne einer solchermaßen verstandenen theologischen Religionskritik ist eine spezifisch christologische Fokussierung von besonderer Bedeutung. Das heißt: »Die Theologie muss sich nicht nur außertheologischer Religionskritik stellen, sondern selbst aktiv an einer christologisch orientierten Religionskritik

1

Vgl. G.M. Hoff, Religionskritik heute, Kevelaer 22010, 17: »Die Kritik löst in diesem Zusammenhang die Religion aus dem mythischen Paradigma. Religion steht kritischem Denken nicht entgegen, sondern bedarf der Kritik, um sich herauszubilden. Religionskritik hat in diesem Sinne von Anfang an klärende Funktion.« 2 Ebd. 3 A.a.O., 12. 4 Vgl. M. Hofheinz, Für Kirche und Gesellschaft… Religionskritik als unverzichtbare Aufgabe der Theologie, in: ders. / R.J. Meyer zu Hörste-Bührer (Hg.), Theologische Reli­ gionskritik. Provokationen für Theologie und Kirche, FRTH 1, Neukirchen-Vluyn 2014, 1–15.

450

»Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes«

arbeiten.«5 Diese Überzeugung liegt den im Folgenden entfalteten Überlegungen zugrunde. Eine christologische Pointierung betrifft biblisch-theologisch das Gottesbild. Diesbezüglich kann etwa auf die johanneische Christologie verwiesen werden: »Ein religionskritischer Impuls von besonderer Brisanz wird in der christologischen Zuspitzung des Gottesbildes gesetzt. Der Anspruch des johanneischen Jesus – ›Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen‹ (Joh 14,9) – fordert zur Revision des Gottesbildes heraus.«6 Bereits das nach jüdischer und protestantisch-reformierter Zählung zweite Gebot: »Du sollst dir kein Gottesbild machen noch irgendein Abbild von etwas, was oben im Himmel, was unten auf der Erde oder was im Wasser unter der Erde ist« (Ex 20,4 nach Zürcher Bibel, 2007; vgl. Dtn 5,8), legt im Lichte des neutestamentlichen Christuszeugnisses einen solchen religionskritischen Impuls bzw. eine Revision des Gottesbildes nahe. Dies hat theologisch wohl niemand radikaler pointiert als namentlich der französische Mathematiker, Physiker, Literat und christliche Philosoph Blaise Pascal (1623–1662), den Friedrich Nietzsche den »bewunderungswürdige[n] Logiker des Christenthums«7 nannte: »Gott kennen wir allein durch Jesus Christus, auch uns selbst kennen wir nur durch Jesus Christus, Leben und Tod kennen wir allein durch Jesus Christus. Ohne Jesus Christus wissen wir weder, was unser Leben, noch was unser Tod, noch was Gott ist, noch was wir selbst sind. Also ohne die Schrift, die nur von Jesus Christus handelt, wissen wir gar nichts, finden wir nur Finsternis und Verwirrung, sowohl im Wesen Gottes als in der Natur selbst«8.

Gott, Welt und Mensch – alle drei erschließen sich nur von Christus her als Zentrum von allem.9 Hinsichtlich des Gottesbildes innerhalb dieses Dreigestirns bedeutet dies: »In Jesus begegnet Gott. In Jesus Christus begegnet Gott ausschließlich. In Jesus Christus ist Gott allein zu erkennen. Ohne Jesus Christus bleiben Gott und Mensch gottlos. In Jesus Christus begegnet Gott als Mensch, nicht als summum ens. In Jesus Christus begegnet Gott nicht weltlos, sondern welthaft, mitten in der Welt, als ein Stück Welt.

5

M. Welker, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 22012, 32. Hoff, Religionskritik heute, 14. 7 F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, hg. von G. Colli / M. Montinari, München 1999, 531. 8 B. Pascal, Pensées, Fragment Nr. 548 (zit. nach der Übertragung von E. Wasmuth). 9 Im Kolosserhymnus (Kol 1,15–20) ist bezeichnender Weise die Rede von der Gottebenbildlichkeit Christi mit der von seiner Schöpfungsmittlerschaft verbunden. Vgl. Ch. Morse, Not Every Spirit. A Dogmatic of Christian Disbelief, New York / London 22009, 265. 6

»Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes«

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[…] Er [Jesus Christus] ist die wahre Mitte. In ihm sind die höchsten Gegensätze, der wirkliche Gott und der wirkliche Mensch vereint.«10

Im »Mémorial« (1654),11 dem in Pascals Rock eingenähten sorgfältig beschrifteten Blatt, das sein Diener nach dessen Tod fand, spitzt er diese Christozentrik offenbarungstheologisch12 zu: »Dem gottlosen Menschen begegnet Gott. In der gottlosen Welt erscheint Jesus Christus als der wirkliche und wahre Gott der Menschen. Von ihm her denkt Pascal weiter.«13 Er gelangt auf diesem Wege zu der Erkenntnis Gottes in Jesus Christus als des biblischen Gottes, eben des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, und seiner berühmten Absage an den Gott der Philosophen, »der als Übermächtiger an der Welt und durch die Welt erkannt wird, indem man sie überschreitet«14: »FEU Dieu d’Abraham, Dieu d’Isaac, Dieu de Jacob, non des Philosophes et des savants.«15 Ebenso wie Pascal diese Christozentrik als radikale Anfrage an die christliche Theologie seiner Zeit formulierte, versuchte im 20. Jahrhundert Karl Barth (1886–1968) sie geltend zu machen. Er bezieht sich auf das Bilderverbot, das als religionskritischstes aller Dekaloggebote gelten kann. Barth interpretiert das Bilderverbot und mit dessen Hilfe das Dreigestirn aus Gott, Welt und Mensch ebenfalls von Christus her. Dies wird etwa, um ein prominentes Beispiel zu nennen, in seiner Predigt zum zweiten Gebot deutlich, die er zur Eröffnung der zweiten Freien Reformierten Synode in der Nikolaikirche zu Siegen am 26. März 1935 hielt: »[D]as Entscheidende«, so bemerkt Barth, »besagt: Der Gott, der sich uns in ewiger Treue verbunden hat, spricht uns darum frei von allem Bilderdienst, weil er allen unseren Bemühungen, ihn äußerlich oder innerlich sehen zu wollen, längst damit zuvorgekommen ist, daß wir ihn ohne unser Zutun sehen dürfen. […] Gott selbst ist es, der uns da sich selbst gegeben hat. Zum Sehen? Ja, heißt doch dieses ewige Wort, heißt doch Jesus Christus das ›Ebenbild des unsicht-

10

H. Dembowski, Pascal als Theologe, dargestellt aufgrund seiner Pensées, in: ders., Wahrer Gott und wahrer Friede. Aufsätze und Vorträge zwischen Ost und West, hg. von H. Falcke / H. Schröer, Leipzig 1995, (415–431) 424. 11 Als Kommentar zu Pascals »Mémorial« vgl. H.-G. Geyer, Atheismus und Christentum, in: ders., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. von H.Th. Goebel u.a, Tübingen 2003, 91– 111. 12 Auf der Linie Pascals formuliert R. Gruhn, Religionskritik als Aufgabe der Theologie. Zur Kontroverse »Religion statt Offenbarung«, EvTh 39 (1979), (234–255) 254: »Religionskritik im Raum der Kirche, die von der Offenbarung schon herkommt, die also nur die Offenbarung in der Geschichte bezeugen kann, Theologiekritik, die sich selbst unter das Gericht des rechtfertigenden und heiligenden Gottes selbst stellt, ist nicht zu trennen von radikaler Ideologiekritik«. 13 Dembowski, Pascal, 423. 14 Ebd. 15 B. Pascal, Œures Complètes, hg. von J. Chevalier, Paris 1954, 554. Vgl. M. Hailer, Glauben und Wissen. Arbeitsbuch Theologie und Philosophie, Göttingen 2006, 37–44.

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»Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« baren Gottes‹, der ›Abglanz seiner Herrlichkeit‹ und heißt es doch ausdrücklich: Wir sahen seine Herrlichkeit.«16

Barth beruft sich hier mit Zitaten aus Kol 1,15; Hebr 1,3 und Joh 1,14 (vgl. 2Kor 3,18; 4,4) vor allem auf neutestamentliche Formeln von der Gottebenbildlichkeit, die diese exklusiv auf Christus als die »Ikone Gottes« (Kol 1,15; 2Kor 4,4) beziehen. Diese christologische Pointierung ist nicht nur in theo-logischer, sondern auch anthropo-logischer Hinsicht von Bedeutung: »Wenn nämlich etwa in Kol 1,15 sprachlich zugespitzt von Christus als dem ›Ebenbild des unsichtbaren Gottes‹ die Rede ist, so kommt darin zum Ausdruck, daß in Christus und nicht in einem irgendwie zu bestimmenden natürlichen Wesen des Menschen die Ebenbildlichkeit anschaubar wird. Daraus folgt aber, daß ein christliches ›Menschenbild‹ im Sinne einer abschließenden oder zu verwirklichenden Bestimmung des Menschen unmöglich ist«17.

Barth beantwortet auch die Frage nach dem Mensch-Sein dezidiert christologisch,18 indem er den neutestamentlichen Formeln von der Gottebenbildlichkeit Jesu Christi einen anthropologischen Sinn abgewinnt: »Was der Mensch in Wahrheit ist, entscheidet sich theologisch an dem Christus, nicht schon in der Betrachtung und Analyse empirischen Menschseins. Die Erfüllung des Menschseins findet sich folglich auch nicht in einer Überhöhung der natürlichen Möglichkeiten des Menschen. Eine solche Überhöhung wäre allemal ambivalent; die furchtbaren Manifestationen der Phantasien vom Übermenschen und Herrenmenschen im 20. Jahrhundert haben diese Ambivalenz deutlich vor Augen geführt. Nicht Vorstellungen von einem Idealmenschen, sondern die Wirklichkeit des Christus bringt zur Erscheinung, was der Mensch ist. Damit werden die Schwärmereien von der Vervollkommnung des Menschen, sei es durch Erziehung, Politik oder genetische Optimierung, theologisch delegitimiert.«19 16

K. Barth, Predigt über 2. Mose 20,4–6, in: ders., Vier Predigten, TEH 22, München 1935, (36–45) 41f. Dazu: R. Wischnath, Die Aktualität und Notwendigkeit des Zweiten Gebots für die Lebensgestaltung evangelischer Gemeinden. Zur Erinnerung an die Predigt Karl Barths über »Du sollst dir kein Bildnis machen«, Teil 1 und 2, RKZ 127 (1986), 295– 300; 330–336. 17 W. Schoberth, Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2006, 25. Zum christlichen Menschenbild vgl. L. Klinnert, Gibt es ein »christliches Menschenbild«? Zum Verhältnis von Anthropologie und Ethik, in: A. Schiffer-Nasserie u.a. (Hg.), Antrittsvorlesungen und öffentliche Vorträge 2011–2013, Denken und Handeln 10, Bochum 2014, 98–116. 18 Vgl. Schoberth, Einführung, 114: »In ihrer Ausrichtung auf Jesus Christus, in dem der neue Mensch Gottes erschienen ist, findet die theologische Anthropologie Grundlinien einer realistischen Rede vom Menschen.« 19 A.a.O., 129.

»Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes«

453

Die religionskritische Pointe der neutestamentlichen Formeln von der Gottebenbildlichkeit besteht nun nach Barth darin, dass sich diese exklusive Festlegung Gottes auf Jesus Christus als seine Ikone gegen die sonstigen Festlegungen Gottes und des Menschen richtet. Bereits die mehr oder weniger verzweifelte Suche des Menschen nach solchen Festlegungen erweist sich als müßig. Sein betriebsames, aber doch letztlich kontrafaktisches Sehenwollen weist tragische Züge auf, insofern es sein im wörtlichen Sinne para-doxes, d.h. gegen den Schein gerichtetes, Sehen-Dürfen ausschlägt: »Dieses Sehendürfen ohne unser Verdienst und Zutun und also der Glaube und also das Hören und also Jesus Christus, das fleischgewordene und ans Kreuz geschlagene Wort Gottes ist es, was uns alles Bildermachen und allen Bilderdienst überflüssig und unmöglich macht.«20 Das Christusereignis bedeutet die »Durchkreuzung aller Gottesbilder.«21 Gott kann, darf und will nach Barth dort gesucht werden, wo er sich selbst erschlossen hat. Dies ist der positive Gehalt des Bilderverbots, das sich ex negativo der Entlarvung selbstproduzierter Gottes-, Welt- und Menschenbilder zuwendet. In der Ablehnung solcher projektionsbasierender Formationen wird die religionskritische Pointe des Bilderverbots deutlich. Übrigens zeigt sich in der besagten Predigt Barths auch, dass theologische Religionskritik primär und vor allem als Selbst- bzw. Kirchenkritik zu verstehen ist. Barth wendet das Bilderverbot nämlich genau in diesem Sinne an, d.h. in religionskritischer Absicht entschieden selbst- bzw. kirchenkritisch: »Das Gebot: ›Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen‹ bildet hier die Grenzscheide. Sie läuft nicht zwischen der Kirche und der Welt: was wissen die armen Heiden von Gottes Eifersucht und Barmherzigkeit? Sie läuft mitten hindurch durch die Kirche.«22 Ausdrücklich bezieht Barth das Bilderverbot auch auf seine eigene Theologie: »Aber laßt mich das Eine sagen: ihr werdet doch nur dann recht kämpfen und schließlich gekrönt werden, wenn ihr gerade auch alle Gottesbilder, vor allem auch die der Theologie – auch die der Theologie, die ihr bei mir gelernt habt – von euch tut, um ganz frei zu werden für das Wort Gottes selber. Gefangene eines Prinzips und Systems, heiße es, wie es wolle, sind dem Kampf gegen den Götzendienst nicht gewachsen, weil sie selber noch Götzendienst treiben. Laßt euch, ich bitte euch darum, durch eine rechte Theologie auch von der Theologie befreien, damit ihr ganz allein Diener Christi seid.«23

In den zeitgeschichtlichen Bezügen, die Barths Predigt auf die Situation in Kirche und Staat im Nationalsozialismus aufweist, und bei aller Kontextualität, die etwa auch im Blick auf die jansenistischen Streitigkeiten geltend zu machen ist, in die Blaise Pascal verwickelt war, erweist sich beider Denker primär interne 20

Barth, Predigt, 42. K.-H. Menke, Das unterscheidend Christliche. Beiträge zur Bestimmung seiner Einzigkeit, Regensburg 2015, 56. 22 Barth, Predigt, 40. 23 A.a.O., 45. 21

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»Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes«

Religionskritik als bleibend wichtiger Impuls für Theologie und Kirche. Dies gilt, so meine ich, auch für heute, in einer Zeit, in der »the academic study of religion, pluralism rather than idolatry is the theme more often addressed.«24 Diesen religionskritischen Impuls gilt es wahrzunehmen und aufzugreifen, »wenn anders Theologie heute mehr sein will als erinnernde Historik oder ideologischer Überbau zu säkularer Wirklichkeit.«25 Eine christologisch pointierte Religionskritik bildet eine bleibend wichtige Aufgabe der Theologie. Sie erinnert die Theologie daran, dass »nicht ein Bezug des Menschen zum eigenen Sein« den Kern des christlichen Glaubens ausmacht, »sondern die Wahrnehmung der Beziehung Gottes zum menschlichen Sein als der eigensten Tat Gottes selbst in der einzigartigen und einmaligen Geschichte Jesu Christi.«26 Vom Atheismus und dessen eigener Religionskritik kann und wird eine christologisch pointierte Religionskritik wiederum in ihrem eigenen Vollzug lernen: »Und zwar gerade dann, wenn der Atheismus in dem Sinne ernst genommen wird, daß es für den christlichen Glauben weder als idealistisches Christentum mit Gott noch als christliche Religion ohne Gott einen triftigen Grund geben kann – wenn nicht Gott selbst in Jesus Christus allen Grund zum Glauben gelegt hat.«27

24

26 27 25

Morse, Spirit, 33. Dembowski, Pascal , 416. Geyer, Atheismus und Christentum, 110f. A.a.O., 111.

Liste der Erstveröffentlichungen1

Einleitung: Christologie auf dem Weg in die Fremde (unveröffentlicht) I. Christus peregrinus. Narrative Christologie als Christologie auf dem Weg in die Fremde, in: M.E. Fuchs / M. Hofheinz / N. Neumann (Hg.), Unterwegs in die Fremde. Narrative Christologie im Gespräch der Disziplinen, Stuttgart 2021, 83–115. (leicht überarbeitet) II.  Christologie erzählen? Dogmatische Explorationen zu einer narrativen Christologie im Gespräch mit Karl Barth und Friedrich Mildenberger, in: S. Ahrnke / Ch. Wiesinger (Hg.), Erzählen. Ingrid Schoberth zum 60. Geburtstag, Göttingen 2019, 143–171. (leicht überarbeitet) III. Der geistgesalbte Christus. Trinitätstheologische Erwägungen zur umstrittenen Geistchristologie, in: Evangelische Theologie (EvTh) 72 (2012), 335–354. (leicht überarbeitet) IV. Geistchristologie im Heidelberger? Bemerkungen zu einer umstrittenen These, in: M. Freudenberg / J.M.J. Lange van Ravenswaay (Hg.), Geschichte und Wirkung des Heidelberger Katechismus. Vorträge der neunten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus 15, Neukirchen-Vluyn 2013, 49–60. (leicht überarbeitet) V.  »Welch ein Freund ist unser Jesus.« Ein freundschaftstheologischer Zugang zur Lehre vom dreifachen Amt Christi, in: Theologische Zeitschrift (ThZ) 71 (2015), 156–181. (leicht überarbeitet)

1

Gegenüber der Erstveröffentlichung wurden alle Beiträge (I.–XV.) in diesem Band überarbeitet.

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Liste der Erstveröffentlichungen Ins Englische übersetzt: »What a Friend we have in Jesus.« Friendship as a Theological Approach Towards the Teaching of the Threefold Office of Christ, in: Journal of Disability & Religion 20 (2016), 119–139.

VI. Wiedergeburt? Erwägungen zur dogmatischen Revision eines diskreditierten Begriffs, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche (ZThK) 109 (2012), 46–67. (leicht überarbeitet) VII. Der sogenannte historische Jesus und der erinnerte Christus. Oder: Martin Kähler, der Jesus-Memory-Approach und das Chamäleon auf dem Holzweg, in: M. Hofheinz / N. Neumann (Hg.), Fragen nach Jesus, Leipzig 2021, im Erscheinen. (leicht überarbeitet) VIII. Vom Praktisch-Werden der Christologie. Oder: Wie Barth und Bultmann Weihnachten feiern, in: Ch. Tietz / G. Pfleiderer / M. Wüthrich (Hg.), Zentrierte Theologie. Karl Barths Beitrag zur Verständigung der theologischen Disziplinen, Theologische Anstöße 8, Göttingen 2022, im Erscheinen. (leicht überarbeitet) IX. Dem Geheimnis der Sohnschaft auf der Spur, oder: Wer ist Jesus? Annäherungen an eine Christologiedidaktik anhand biblischer Texte zum Sohn-Gottes-Prädikat im Markusevangelium, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 14 (1/2015), 39–68. (stark überarbeitet) X. Jesus als Vorbild? Christologische Impulse Dietrich Bonhoeffers zum ethischen Lernen anhand von kritisch-gebrochenen Vorbildern (Überarbeitung von: Bildung als ethisches Lernen anhand von kritisch-gebrochenen Vorbildern. Ein Gespräch mit Dietrich Bonhoeffer, in: M. Hofheinz / H. Noormann (Hg.), Bildung im Horizont von Religion. FS Friedrich Johannsen zum 70. Geburtstag, Stuttgart 2014, 80–105). XI.  »Der langhaarige Penner«. Oder: Wider die Verblüffungsresistenz. Was ein Christ von einem »Heiden« kreuzestheologisch lernen kann, in: M. Basse / Ch. Neddens (Hg.), Kreuzestheologische Aufbrüche im 20. und 21. Jahrhundert, Lutherische Theologie im Gespräch 3, Leipzig 2021, 249–278. (leicht überarbeitet) XII. Das Chalcedonense und die Kaninchenente. Ludwig Wittgensteins Vexierbild als Artikulationshilfe für die Zweinaturenlehre, in: Hermeneutische Blätter 27 (1/2021), 52–81. (leicht überarbeitet)

Liste der Erstveröffentlichungen

457

XIII. Cristo y Cristiano, oder: Von der Menschwerdung des Fußballgotts Ronaldo. Ein profanes Gleichnis, in: M.E. Fuchs / M. Hofheinz (Hg.), Theologie im Konzert der Wissenschaften. Festschrift zum 70. Geburtstag von Harry Noormann, Stuttgart 2018, 137–166. (leicht überarbeitet) XIV. »Das gewisse Extra!« Oder: Christologie als »Türöffner«? Das Extra-Calvinis­ ticum und die »Lichterlehre« Karl Barths als Zugänge zu einer Theologie der Religionen, in: M. Hofheinz / K.-O. Eberhardt unter Mitarbeit von J.-Ph. Tegtmeier (Hg.), Gegenwartsbezogene Christologie. Denkformen und Brennpunkte angesichts neuer Herausforderungen, Dogmatik in der Moderne (DoMo) 29, Tübingen 2020, 245–298. (leicht überarbeitet) XV.  »Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes.« Die christologische Pointe des Bilderverbots als Zentrum theologischer Religionskritik, in: Zeitschrift für Missions- und Religionswissenschaft (zmr) 98 (2014), 294–297. (überarbeitet)

Personenregister

Abramowski, Luise 155 Adam, Gottfried 291, 314 Adamavi-Aho Ekué, Amélé 27 Adorno, Theodor W. 28, 232, 288, 303f., 311, 397 Albertz, Rainer 138 Albrecht, Michaela 261 Alexander, Markus 379, 381, 384 Allen, Diogenes 356f., 363 Allmen-Mäder, Dominik von 347 Aristoteles 124, 152, 311, 329, 376 Arius 114, 123 Assel, Heinrich 13, 24, 69, 81–83, 85, 317, 347–350, 353, 362f., 365, 368, 371 Assmann, Jan 209, 211 Athanasius von Alexandrien 114f., 123, 134, 410 Augustin 119, 144, 151, 305 Aus der Au, Christina 410, 414, 416f. Aveiro, Katia 390 Bach, Johann Sebastian 329 Bächli, Andreas 348 Baldermann, Ingo 261, 274, 283, 285 Bandura, Albert 311f. Bartelmus, Rüdiger 344 Barth, Karl 8, 16, 19, 22, 25, 27, 31f., 35, 42, 47, 50–52, 56–58, 64, 76f., 79, 82, 88f., 91–96, 111, 119, 125, 134, 157, 171, 174f., 177, 180f., 189, 197, 199, 208, 227, 231–248, 255, 257, 259,

268, 277, 281f., 301f., 344f., 348, 351, 367, 374, 389, 394, 396, 405–407, 410, 421–447, 451–453 Barthes, Roland 342 Bartholomäus, Werner 313 Barz, Heiner 289 Basilius von Cäsarea 111 Baumann, Maurice 220f. Baur, Jörg 388 Bausenhart, Guido 253, 263f., 272, 352, 359, 362 Bauspieß, Martin 195f., 202 Bayer, Oswald 15, 175f., 178, 230f., 234, 306 Beck, Ulrich 289 Becker, Ulrich 251, 294, 396 Beintker, Michael 417 Bender, Kimlyn J. 345 Benedikt XVI. (Papst) 14 Berg, Horst Klaus 320, 323, 328–332, 338, 344 Berger, Peter L. 289 Bergner, Gerhard 27, 89, 439 Berkhof, Hendrikus 421, 425 Bernhardt, Reinhold 106, 168, 402, 404f., 418, 420f., 443f. Bethge, Eberhard 251, 299 Beutler, Johannes 155 Beyschlag, Karlmann 349f. Biehl, Peter 236 Bieritz, Karl-Heinrich 225f., 237

460

Personenregister

Bizer, Ernst 92 Bizer, Christoph 39 Black, C. Clifton 118, 254, 277 Blank, Josef 156 Bohl, Gottfried 392 Bohren, Rudolf 236 Bonhoeffer, Dietrich 9, 251, 287, 290–304, 306–312, 315f., 332–336, 342, 351, 377, 391, 424 Bormann, Lukas 61, 337, 368–370 Bornkamm, Karin 145 Börsch, Ekkehard 202, 419 Bosenius, Bärbel 270 Böttrich, Christian 273 Brandt, Sigrid 332 Brink, Gijsbert van der 350 Brocke, Edna 123 Brouwer, Rinse Reeling 88 Brunn, Frank Martin 375 Brunner, Emil 348 Bucher, Anton A. 288–290 Bukowski, Peter 18, 52, 54, 103, 143, 219, 236, 313, 358 Bülow, Vicco von 171 Bultmann, Rudolf 41, 49, 195, 199f., 222–225, 228–235, 243–248 Busch, Eberhard 28, 57, 64f., 68, 88, 98, 110, 116, 122, 135, 145, 147, 157, 173–175, 202, 222, 224–226, 238, 377, 410, 412, 415, 423, 434, 446 Buschmann, Rafael 394 Butt, Christian 261, 265 Büttner, Gerhard 252, 256–262, 265, 274 Caioli, Luca 379f., 382 Calvin, Johannes 17, 147, 153, 155, 157, 159, 169, 179, 402, 406–414, 416–421, 423, 425, 442–445 Chalamet, Christophe 202, 222 Chapman, David W. 62 Cicero, Marcus T. 326 Claudius, Matthias 216 Claussen, Carsten 44, 203 Coakley, Sarah 351, 360

Comstock, Gary L. 98 Conzelmann, Hans 253, 365 Coors, Michael 77, 170 Cortez, Marc 217 Cyrill von Alexandrien 359, 362f. Dahling-Sander, Christoph 423, 429, 437 Dahlke, Benjamin 15–17, 80, 91, 106 Dalferth, Ingolf U. 13, 43, 45, 49, 79, 159, 208, 255, 306, 343, 404 Dannemann, Ulrich 434 Danz, Christian 15, 22, 212, 257, 349, 404 D’Costa, Gavin 430 Deeg, Alexander 26 Dehn, Ulrich 403, 405 Dembowski, Hermann 91, 105, 222, 247, 338, 388, 411, 434, 451, 454 Denzinger, Heinrich 336, 352 Dibelius, Martin 369 Dieckmann, Detlef 280 Diem, Hermann 197 Dierken, Jörg 423 Dieterich, Veit-Jakobus 252, 262, 265, 284 Dietzfelbinger, Christian 153 Dilthey, Wilhelm 240 Dinkler, Erich 322, 342 Di Noia, Joseph Augustine 423, 436f. Dowd, Sharyn E. 279 Dressler, Bernhard 52, 284 Drewes, Hans-Anton 88, 323 Dunn, J.D.G. 44, 180, 203f., 206, 211 Duns Scotus, Johannes 241 Du Toit, David 191 Ebach, Jürgen 27, 344, 354 Ebeling, Gerhard 168, 172, 181, 245, 375, 427 Eberhardt, Kai-Ole 235, 345, 347 Eberhardt, Sabrina 355 Ebertz, Michael N. 55 Ebner, Martin 59, 280 Eckey, Wilfried 58

Personenregister Eckstein, Hans-Joachim 114, 118, 121, 185, 259, 389 Effenberg, Alfred O. 377 Eibach, Ulrich 323 Eitel, Adam 56 Elias, Norbert 376f. Engels, Friedrich 377 Ensminger, Sven 404, 424, 437 Erne, Thomas 434 Ernst-Habib, Margit 14, 424 Esser, Hans Helmut 185 Eutyches 411 Fangmeier, Jürgen 163, 222 Fechtner, Kristian 220 Feil, Ernst 292, 333 Feldmeier, Reinhard 176, 243, 279f. Felker Jones, Beth 351, 371 Feneberg, Rupert 59f. Fernandez, Miguel 321–323, 327f., 330, 342, 345 Feuerbach, Ludwig 320, 343, 441 Fischer, Johannes 290 Fischer, Martin 198, 213 Flavian von Konstantinopel 359 Flett, John G. 404 Forssman, Holger 245 Fowl, Stephen E. 65f. Francke, August Hermann 173f. Frei, Hans W. 17, 90, 401 Frettlöh, Magdalene L. 23, 54, 416 Freud, Siegmund 320, 343 Freudenberg, Matthias 54, 131, 138, 145, 147, 149f., 227, 446 Freudenberger-Lötz, Petra 284 Frey, Jörg 61, 160, 309 Fricke, Michael 265 Frisch, Ralf 21, 28, 346 Frost, Ursula 287 Ford, David 88 Foucault, M. 157, 342 Fuchs, Monika E. 7, 39, 192, 196, 268 Furnish, Victor Paul 184f.

461

Gadamer, Hans-Georg 232 Gärtner, Christel 374 Gebauer, Gunter 329, 374 Geense, Adrian 422f., 446 Genest, Hartmut 343 Gerhard, Johann 145 Gerhardt, Paul 40, 224 Gese, Hartmut 121, 178 Gestrich, Christof 222 Geyer, Hans-Georg 45–48, 51f., 55, 90, 121, 197, 210, 213, 451, 454 Giddens, Anthony 289 Ginzel, Günther Bernd 122 Gnilka, Joachim 87, 270 Gockel, Matthias 404, 424 Goebel, Hans Theodor 45f., 48, 51, 89f., 425, 428, 432–436, 443 Göllner, Werner 150 Goethe, Johann W. von 215f., 318 Goeters, J.F. Gerhard 130 Gollwitzer, Helmut 33, 151f., 163f., 215, 241, 244, 305, 445 Gossmann, Klaus 294 Graeser, Andreas 348 Graham, Billy 167 Gramzow, Christoph 307 Graß, Hans 91 Grässer, Erich 184 Gregor von Nazianz 117 Gregor von Nyssa 410 Grethlein, Christian 219f., 226, 278 Grillmeier, Alois 109, 113, 347 Gritsch, Eric W. 166 Großhans, Hans-Peter 343 Grözinger, Albrecht 90, 241f., 279, 425 Grünewald, Matthias 385 Grünschloß, Andreas 168 Gruhn, Reinhart 441, 451 Grund, Alexandra 343 Gundlach, Thies 425 Guder, Darrell L. 25 Günther, Matthias 274f. Gunton, Colin 426

462

Personenregister

Habermas, Jürgen 319, 377 Hailer, Martin 13, 28–30, 43, 56, 73, 75, 87, 114, 126, 135, 181, 236, 247, 266, 291, 295, 324f., 351, 389, 403, 434, 438, 447, 451 Hamm, Berndt 340 Hammann, Konrad 15, 200, 222f., 228f., 232, 234 Hampel, Volker 279 Hanimann, Joseph 20 Hansen, Klaus 374 Harnack, Adolf von 108–110, 121, 165, 208 Härle, Wilfried 43, 107, 339, 405 Harnisch, Helmut 252, 269 Hartenstein, Friedhelm 26 Hauerwas, Stanley 42, 66, 74, 147, 183, 200, 298, 303, 313, 331, 337f., 431 Haustein, Jörg 167 Hays, Richard B. 87, 183–185, 270, 337f. Heckel, Ulrich 149 Heckmann, Jens 143 Heidegger, Martin 199, 232, 247 Heilig, Christoph 48 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 53, 56, 120, 301 Hengel, Martin 14f., 62, 121f., 149, 325f., 396 Hennecke, Susanne 423, 434 Hentig, Hartmut von 291, 294, 313 Helmer, Christine 58 Heppe, Heinrich 92, 388 Herlyn, Okko 374, 397, 441 Hermann, Rudolf 199 Hermelink, Jan 220, 225f. Herms, Eilert 170 Heron, Alasdair I. C. 53, 105, 111, 170, 253, 410, 414 Herrmann, Wilhelm 231 den Hertog, Gerard C. 192, 317, 319 Hertzsch, Klaus-Peter 268 Herzog, Frederick 70 Heuser, Stefan 297 Hick, John 402f., 405

Hindenburg, Paul von 237f. Hitler, Adolf 237f., 300 Hochgeschwender, Michael 165 Hofheinz, Dörte Katarina 268 Hoff, Georg Maria 318, 449f. Hoffmann, Martin 317 Hofius, Otfried 29, 42, 48, 81, 87, 104, 115, 135, 158, 160f., 178f., 192, 258, 262, 264, 270–272, 276, 278, 280, 365, 368, 382, 387f., 414 Höfner, Markus 434 Hollaz, David 171, 174 Hollenstein, Helmut 282, 298, 329, 338f., 341f., 347, 368 Holtmann, Stefan 240 Hoping, Helmut 121, 160 Horkheimer, Max 28, 304 Hübenthal, Sandra 205 Hübner, Eberhard 245 Huber, Wolfgang 309, 436 Hufnagel, Erwin 288 Huizing, Klaas 65, 201, 254, 370 Hünermann, Peter 352 Hunsinger, George 16, 51, 79, 87, 126, 137, 217, 257, 259, 362, 406, 422, 425, 428, 430, 433–435, 439 Husserl, Edmund 40, 45, 49 Hutter, Alex 358 Hütter, Reinhard 293, 299 Ignatius von Antiochien 358 Imbach, Josef 307 Iwand, Hans Joachim 19, 49, 56, 116, 192, 202, 209, 211, 258, 265, 294, 317–319, 321, 326, 339–342, 364, 419 Jacobi, Friedrich Heinrich 245 Jähnichen, Traugott 28 Janowski, Bernd 344 Jaspert, Bernd 77, 222 Jaeggi, Rahel 377 Jenson, Robert W. 105, 119, 359, 362f., 366 Jeremias, Jörg 344

Personenregister Jochum-Bortfeld, Carsten 274, 277, 280 Joest, Wilfried 159, 163, 179, 257, 434 Johannsen, Friedrich 296 Johnson, Keith E. 404 Jones, Hugh O. 41, 65–68, 75, 200 Jörns, Klaus-Peter 159 Josuttis, Manfred 237 Joswowitz-Schwellenbach, Kirsten 404 Jüngel, Eberhard 17, 24f., 35, 40, 42–44, 51f., 57, 66, 68, 70, 73, 88f., 98f., 110f., 118, 158f., 193, 236, 241f., 265, 272, 292, 297, 299, 305f., 324, 336, 353, 367, 394, 418, 446 Jülicher, Adolf 393–395 Junker, Maureen 16 Justin der Märtyrer 178 Juvenal 375 Kähler, Martin 32, 35, 189–202, 206–216, 338f. Kalloch, Christina 297, 310 Kammler, Hans-Christian 86, 115, 261, 279, 281, 318 Kant, Immanuel 239, 305, 311, 430 Kapperer, Thorsten 374 Karrer, Martin 110f., 138, 337, 352, 363–365 Käsemann, Ernst 40, 194–196 Kaufmann, Thomas 340 Kehlbreier, Dietmar 376 Kelly, J.N.D. 120 Kermani, Navid 318, 345 Kessler, Rainer 344 Khorchide, Mouhanad 419 Kierkegaard, Sören 39 Kittel, Gisela 326f., 342 Klappert, Bertold 42, 63, 91, 93–95, 107, 146, 157, 160, 257, 318, 336, 340, 421, 425, 427f., 434, 437, 441 Klauck, Hans-Josef 148 Klinnert, Lars 452 Klinsmann, Jürgen 376 Klumbies, Paul-Gerhard 49, 53, 199, 255, 261, 370

463

Knieling, Reiner 318 Knitter, Paul F. 402f., 405 Knöppler, Thomas 160 Kohlbrügge, Hermann Friedrich 173 Kollmann, Bernd 274, 280, 366 Konradt, Matthias 318f., 331 Kooi, Cornelis van der 350, 423, 438 Körtner, Ulrich H.J. 65, 169, 191, 201, 233, 254, 342, 370, 404 Korsch, Dietrich 46, 75, 124, 245 Korthaus, Michael 192, 201, 338 Kowaltschuk, Ina 75 Kraft, Friedhelm 252, 255, 261, 266, 268 Kratz, Reinhard Gregor 344 Kraus, Hans-Joachim 107–109, 111–116, 118, 120f., 125, 129f., 132, 138, 192, 208, 265, 343, 396, 423, 425, 427, 441 Kraus, Thomas J. 380 Kraus, Wolfgang 319 Krechting, Tim 374 Kreck, Walter 28, 92, 94f., 97, 112, 131, 157, 173, 197, 222, 389, 426 Kretzschmar, Gerald 376 Kropaç, Ulrich 373 Krötke, Wolf 137, 217, 240f., 338, 423f., 436 Krusche, Werner 420 Kuhlmann, Helga 290, 297 Kühn, Ulrich 196 Kupisch, Karl 227 Kutter, Hermann 237 Kyros II. von Persien 433 Lämmlin, Georg 218 Labahn, Michael 364 Landgraf, Michael 74 Landmesser, Christof 199, 210 Lash, Nicholas 56, 100 Laube, Martin 246 Lenz, Siegfried 288 Leo I. (Papst) 359 Leonhard, Silke 279 Leontius von Jerusalem 133 Leppin, Volker 340

464

Personenregister

Lessing, Gotthold Ephraim 375 Lichtenberger, Hans P. 40, 178 Lienemann, Wolfgang 309, 442 Lienemann-Perrin, Christine 403 Lindbeck, George A. 236, 351 Lindemann, Andreas 253, 365 Lindgren, Astrid 283 Lindner, Konstantin 288, 311 Link, Christian 40, 44, 56, 64, 68, 78, 89, 92, 130, 202, 240, 358f., 361, 364, 369, 393, 407f., 410, 412, 414, 416–425, 435, 438, 445f. Link, Hans-Georg 193 Link-Wieczorek, Ulrike 106, 135, 290, 297f., 309, 319 Lischer, Richard 236 Lochman, Jan M. 56, 148–150, 155, 219, 248, 317, 445 Loewenich, Walther von 339, 341 Löhr, Winrich A. 113 Loofs, Friedrich 120 Lotman, Juri M. 61 Lück, Christhard 375, 392 Lüpke, Johannes von 80, 159, 163, 257, 318 Lüscher, Jonas 19 Luther, Martin 52, 56, 73f., 230, 233–235, 240, 304f., 334, 338–341, 346, 349, 374, 402, 410, 413, 444 Luz, Antje 378 Luz, Ulrich 309, 347, 349, 393 MacIntyre, Alasdair 13 Mähringer, Ina 89 Malbon, Elizabeth S. 261 Maresius, Samuel 413 Marquardt, Friedrich-Wilhelm 22, 30, 35, 63f., 70, 74, 82, 88, 150, 157, 238, 244, 434 Marx, Karl 70, 320, 343, 377 Mathwig, Frank 27, 144, 390 Matthias, Markus 82, 169f., 183

Maurer, Ernstpeter 27, 41, 68, 77–79, 89, 91, 93, 95, 98, 124, 180, 267, 339, 356f., 363f., 366, 369, 371 Maximus Confessor 362 McClendon, James Wm., Jr. 58, 76, 266, 354, 356, 431 McCormack, Bruce L. 58, 119, 217 McCrindle, Ray 378 McKenny, Gerald 439 Meireis, Torsten 289f. Melanchthon, Philipp 348, 412 Mendl, Hans 288f., 298, 305, 307f. Menke, Karl-Heinz 389, 453 Metz, Detlef 340, 362, 388 Metz, Johann Baptist 17 Metzger, Paul 74 Meyer zu Hörste-Bührer, Raphaela J. 89, 93, 343, 424, 436, 441 Michener, Ronald T. 99 Jagger, Mick 304–306 Mieth, Dietmar 289, 309f., 313 Migliore, Daniel L. 111, 117, 128, 170, 371, 405 Mildenberger, Friedrich 43, 52, 66, 70f., 76–86, 98, 106, 171, 174–176, 193, 236, 348, 361, 362 Mittmann-Reichert, Ulrike 74 Mödritzer, Helmut 277 Möhler, Johann Adam 202 Möller, Christian 218 Mokrosch, Reinhold 376 Moltmann, Jürgen 56, 63, 70, 76, 106, 118f., 126, 137, 143, 146f., 172, 175, 323, 383, 402 Morgenroth, Matthias 221 Morse, Christopher 345, 450, 454 Moser, Tilmann 336 Mostert, Walter 177 Moxter, Michael 42 Mozart, Wolfgang Amadeus 434f. Mühlen, Karl-Heinz zur 339, 341 Mühlenberg, Ekkehard 109, 348 Mühling, Andreas 131 Mühling, Markus 41, 403

Personenregister Muis, Jan 79, 86 Müller-Funk, Wolfgang 66 Müller, Gerhard Ludwig 376 Müller, Hermann 238 Müller, Peter 65, 201, 253–255, 266, 268, 277, 292, 370 Naumann, Thomas 53 Nebgen, Christoph 374 Neddens, Christian J. 317 Negel, Joachim 314 Nestorius 359, 411 Neumann, Nils 7, 59, 196, 243, 381f. Neuser, Wilhelm H. 407, 412, 420 Neven, Gerrit 46, 48 Newbigin, Lesslie 339, 403f. Nichtweiss, Barbara 227 Nicklas, Tobias 380 Niebuhr, Helmut Richard 105, 117 Niehl, Franz W. 273 Nietzsche, Friedrich 43, 320, 323–325, 343, 450 Nijenhuis, Willem 408, 410, 419 Nipkow, Karl Ernst 260 Noll, Mark A. 165 Noormann, Harry 375f., 396f. Nüssel, Friederike 166f., 192f., 199, 371 Oberdorfer, Bernd 52, 339 Oberman, Heiko A. 408, 410 Ochs, Peter 123 Ockham, Wilhelm von 241 Oeser, Erhard 30, 66 Oetinger, Friedrich Christoph 50 Opitz, Peter 17f., 147, 411, 413, 417 Overbeck, Franz 22 Pannenberg, Wolfgang 16, 91, 120, 126, 171, 173, 192f., 199f., 202, 367 Pascal, Blaise 450f., 453 Pelikan, Jaroslav 17 Petrus Lombardus 340, 410, 412f. Pfleiderer, Georg 240, 245, 437 Philo von Alexandrien 263, 391

465

Pierard, Richard V. 166f. Pietz, Hans-Wilhelm 69, 88 Pilhofer, Peter 321, 323 Pirner, Manfred L. 282 Placher, William C. 347, 354, 366f. Plasger, Georg 88, 92, 112, 131–133, 136–139, 147, 149, 300, 390, 423, 426, 429, 437 Platon 121, 168, 305, 329 Pieh, Eleonore 165 Pöhlmann, Horst Georg 169 Pokorný, Petr 149 Popkes, Wiard 169 Poplutz, Uta 48 Prantl, Heribert 33 Prechtl, Peter 45 Preß, Michael 105f., 116, 126, 135 Preußler, Otfried 283 Quaas, Anna 167 Quenstedt, Johann A. 169f. Quervain, Alfred de 150 Rahner, Karl 342 Rasmusson, Arne 331 Rehfeld, Emmanuel L. 33 Reichel, Hanna 125, 145, 147 Reinert, Jonathan 339 Rengstorf, Karl Heinrich 86 Reuter, Hans-Richard 289f. Ricken, Friedo 110 Rickers, Folkert 256, 289f., 298, 302, 304–306, 308, 310, 312 Ricœur, Paul 49f., 65f., 69, 78, 314, 393f. Ringleben, Joachim 50, 144 Ritschl, Albrecht 348, 354 Ritschl, Dietrich 13, 41f., 50, 57, 67–69, 73, 75f., 90, 99f., 112, 114, 126, 135, 200, 202, 255, 266, 269, 347f., 350–354, 356, 389, 403 Ritter, Adolf Martin 110, 113, 347 Rohls, Jan 15, 116, 131, 349 Roloff, Jürgen 61, 154, 278, 280, 393, 395

466

Personenregister

Ronaldo, Cristiano 378–391, 393–395, 397 Roose, Hanna 46, 205, 208, 252, 255, 261, 266f., 269 Rosa, Hartmut 18, 373, 377, 392f. Rose, Christian 270 Rosenzweig, Franz 91 Rössler, Dietrich 219 Rowling, Joanne K. 283 Ruddies, Hartmut 96, 426, 437 Rüggemeier, Jan 42, 59, 61, 366 Rupp, Hartmut 283 Sala, Giovanni B. 311 Sampley, J. Paul 180 Sandberger, Jörg Viktor 434 Sandler, Willibald 67 Sanzio, Raffello 276 Saur, Markus 149 Sauter, Gerhard 112, 183, 222, 321, 350, 358 Schapp, Wilhelm 40 Schaupp, Barbara 283 Scheeben, Mathias J. 227 Scheler, Max 309 Schellong, Dieter 17, 32, 40, 47, 81, 91, 98, 190f., 197, 199, 213, 215, 221, 238, 243–245, 258, 414, 425, 434 Schenke, Ludger 87, 272 Schiemann, Gottfried 62 Schlag, Thomas 284 Schlatter, Adolf 86, 270 Schlink, Edmund 172 Schleiermacher, Friedrich D.E. 15, 17, 62, 112, 173, 179, 241, 245f., 257, 348f., 422 Schlette, Heinz R. 405 Schliephake, Dirk 268 Schmid, Heinrich 92, 239, 388 Schmidt, Bruno 310 Schmidt, Eckhart David 203 Schmidt, Jörg 375 Schmidt, Werner H. 264 Schnabel, Eckhard W. 62

Schneider-Flume, Gunda 75f., 99, 348, 350, 365 Schnelle, Udo 61, 114, 118f., 153, 156–158, 177, 184, 254, 266 Schniewind, Julius 214, 223, 261, 276, 281f. Schoberth, Ingrid 75, 100, 251f., 259f., 267, 283f., 294 Schoberth, Wolfgang 166, 293, 330f., 357, 445, 452 Scholpp, Stefan 217 Scholtissek, Klaus 154, 161, 338 Schönberger, Dennis 130 Schöning, Benedict 344 Schoonenberg, Piet 107 Schrage, Wolfgang 319 Schröder, Winfried 320 Schröder-Field, Caroline 15, 18, 47, 69, 71 Schröer, Henning 241 Schröter, Jens 44, 203–206, 209f. Schubert, Jochen 39 Schüle, Andreas 344 Schümer, Dirk 374 Schwankl, Otto 367 Schweitzer, Albert 41, 111, 191–193 Schweitzer, Friedrich 260, 284, 287, 313 Schweizer, Alexander 135, 415 Schwemer, Anna Maria 149 Schwendemann, Wilhelm 268 Schwienhorst-Schönberger, Ludger 26 Schwöbel, Christoph 32, 112f., 118, 124, 126, 212, 405 Seel, Martin 295 Sellmann, Matthias 392 Skarsaune, Oskar 121f. Slenczka, Notger 26 Slot, Edward van’t 217 Sloterdijk, Peter 374 Söding, Thomas 33, 150f., 154, 158, 162 Soosten, Joachim von 332, 374, 378 Spener, Philipp Jakob 173 Spragg, Iain 379 Stachel, Günter 309f.

Personenregister Stanzel, Franz Karl 42 Stegemann, Ekkehard W. 55, 144, 148 Steiger, Johann Anselm 82, 170, 173 Stieber-Westermann, Rolf 163 Stock, Hans 257 Stoevesandt, Hinrich 222 Stosch, Klaus von 354, 419 Strauß, Daniel Friedrich 215, 348 Striet, Magnus 402 Strotmann, Angelika 190 Stroup, George W. 69, 251 Stuhlmacher, Peter 15, 48, 55, 87, 118, 178, 270, 276, 279, 336, 366, 368 Sturm, Erdmann 412 Sumner, Darren O. 406 Sundermeier, Theo 66 Tacitus 325 Takizawa, Katsumi 434 Tegtmeier, Jan-Philip 235, 345, 347, 352 Teichert, Dieter 49f., 202 Thaidigsmann, Edgar 49, 80, 317, 319, 339, 377 Thälmann, Ernst 238 Theißen, Gerd 55, 191, 273f. Theißen, Henning 45–49, 52, 147, 193, 196–198, 200, 208f., 211, 240 Theobald, Michael 15, 118 Theodot der Gerber 113 Theodot der Wechsler 113 Thiede, Werner 167 Thielicke, Helmut 375 Thomas von Aquin 227, 241 Thomas, Günter 19–23 Thömmes, Arthur 273 Thumm, Theodor 410 Thurneysen, Eduard 227, 233, 241 Thyen, Hartwig 155 Tietz, Christiane 51, 224, 227, 241 Tillich, Paul 351 Tödt, Heinz Eduard 291, 309, 442 Torrance, Iain R. 362 Troeltsch, Ernst 214f.

467

Trowitzsch, Michael 51, 308 Tück, Jan-Heiner 155 Ulrich, Hans G. 180, 184, 290, 294, 347 Vasel, Stephan 107, 125 Visser’t Hooft, Willem Adolf 149 Vogel, Heinrich 91, 170, 311 Vogel, Manfred H. 441 Vogelsang, Frank 318 Vogt, Jochen 79 Volf, Miroslav 28, 84, 319, 444 Vollenweider, Samuel 396 Vowinckel, Gerhard 144 Wacker, Bernd 17 Wainwright, Geoffrey 111, 117, 145, 147, 150, 164, 404 Wallace, Mark I. 314 Wannenwetsch, Bernd 294, 297, 299, 314, 324, 333 Weber, Max 377 Weber, Otto 103, 115, 148–150, 162, 169, 171, 174f., 179, 413 Weder, Hans 394f. Weinrich, Michael 17, 51, 56f., 70, 104, 107, 112, 222, 236, 300, 343, 401f., 405f., 422–424, 426, 429, 438, 441 Weiser, Jutta 380 Welker, Michael 18, 54, 56, 63, 83, 106, 138, 147, 149, 157, 191, 251, 319, 324, 332, 343, 351, 360, 401, 441, 450 Welsen, Peter 49f. Wendebourg, Dorothea 350 Wendel, François 415 Wendte, Martin 434 Wengst, Klaus 47, 61f., 81, 190f., 193, 258, 274, 336 Wenz, Gunther 46, 51, 133, 258, 362, 423, 441 Werbick, Jürgen 290 Werner, Ilka 417f. Werpehowski, William 89 Westpfahl, Joachim 412

468

Personenregister

Westerkamp, Dirk 55 Weth, Rudolf 279, 343 Wiebel, Arnold 209, 215 Wiggermann, Karl-Friedrich 425 Wilckens, Ulrich 118, 151f. Wilk, Florian 58f. Williams, Roger 179, 444 Willis, Edward David 410 Winthrop, John 444 Wirsching, Johannes 350, 353 Wirth, Mathias 156 Wischnath, Rolf 329, 452 Wittekind, Folkart 21, 24, 220, 246, 423 Wittgenstein, Ludwig 52, 182, 294, 347, 353–360, 363, 369–371 Wohlmuth, Josef 122 Wolf, Ernst 308f., 311, 338 Wolff, Christian 184 Wolter, Michael 326 Woyke, Johannes 256, 258f., 267, 337, 391, 396

Wrede, William 369f. Wüstenberg, Ralf K. 115, 124, 134, 283, 299f., 332, 353, 401, 405, 414, 421 Wüthrich, Matthias D. 112, 414f. Wulf, Christoph 329 Wyrwa, Dietmar 110 Wyschogrod, Michael 122 Yoder, John H. 62, 147 Yorck von Wartenburg, Peter Graf 240 Zeindler, Matthias 27, 144, 425, 442 Zellweger, Max 243 Ziegler, Andrea 268 Ziegler, Tobias 254–256, 260 Zimmermann, Herbert 373 Zimmermann, Mirjam 192f., 252, 256, 261, 268, 278, 281–284, 395 Zimmermann, Ruben 44, 65f., 203, 205f., 269, 337, 367, 370, 383, 393 Zwingli, Huldrych 349

Bibelstellenregister

Altes Testament Genesis 12,1 12,13

27 307

Exodus 19,3 20,3 20,4 20,4a 23,20 24,14 29,36 33,11 33,18–23 34,29f. 34,35

276 302 450 302 86, 270 276 149 151 340 276 276

Deuteronomium 5,7 5,8a 5,8 6,13 6,16 8,3 18,15

302 302 450 364 364 364 276

1. Samuel 9,16 10,1

149 149

2. Samuel 7,14

263

1. Könige 1,34ff. 19,1–8 19,16

149 23 149

2. Könige 9,3ff.

149

1. Chronik 29,22

149

Psalm 2,2 2,6 2,7 8,3 37,3 37,5 44,8b 45,7f. 45,8 78,3 89,21 89,27ff. 91,11f. 110,3

149 149 113, 263 321 27 27 132 132 149 39 149 263 364 263

470

Bibelstellenregister

115,6 137,4

329 29

Ezechiel 18,31 36,25ff.

87, 271 87, 271

Sprüche 8,22–31 8,22ff.

120 263

Daniel 7,9

277

Joel 2,1ff 3,1f. 3,4 4,15

281 87, 271 281 281

Amos 5,18ff. 5,21 8,1

281 344 281

Micha 7,18

115

Zephanja 1,14ff.

281

Sacharja 4,14 12,10

149 87, 270

Maleachi 3,1

86, 270, 382

Jesaja 7,14 151 11,2 108 13,9ff. 281 14,4–21 391 32,15ff. 87, 271 35,5f. 61 40,3 270 42,1–4 111 42,8 197 43,3–5 366 44,3 87, 270 44,28 433 45,1 433 45,22–24 48 49,16 208 51,6 169 52,12–53,12 336 52,13–53,12 48 53,5f. 366 53,7 336 53,11f. 366 57,14 9 57,15 395 61,1 138, 149 61,1ff. 111 61,11 108 65,17 169 65,17–19 184 66,22 169 Jeremia 15,16 31,31–34

24 27

Außerkanonische Schriften neben dem Alten Testament 2. (syrischer) Baruch 32,6 169 44,12 169 4. Esra 7,75

169

Sapientia Salomonis 7,22–30 120

Bibelstellenregister Jesus Sirach 24,3–10

120

Neues Testament Matthäusevangelium 1,18 111 1,23 352 3,9 437 3,16f. 111 3,17 115, 272 4,1 111 4,1–11 364 7,16a 440 9,3 124 9,11 383 10,5 427 11,10 382 11,19 383 12,17–21 111 12,28 111 15,21–28 65 16,17 365 16,21–23 365 25,31–46 66 25,40 327, 332, 333, 343 25,43 30 26,36–46 366 26,39 124 27,37 280 27,46 337 28,19 263, 366 Markusevangelium 1,1 253, 255 1,1–13 270–272 1,2 382 1,2f. 58, 254 1,2–13 86, 262 1,4–8 87 1,8 272 1,9 49, 255 1,9–11 264

1,9–13 86 1,10–12 111, 254 1,11 115, 254, 280 1,12 272 1,12f. 364 1,14 49, 255 1,16–8,21 59 1,23f. 272 1,23–27 110 1,24f. 254 1,34 254 1,44 254 2,7 124 3,11 253 3,11f. 254 3,17 113 4,26ff. 393 4,30–32 394 4,35–41 59 4,61f. 253 5,1–20 272 5,7 253, 254 5,9 272 5,43 254 6,35–44 61 6,45–52 59 7,24–30 60, 65 7,27 427 7,31 59 7,36 254 7,37 61 8,1–9 61 8,13–21 59 8,27–33 365 8,30 254 8,31 58 8,31–33 365 8,32b 370 9,1–13 272 9,3f. 276 9,7 254, 271, 276, 280 9,9 254, 276 9,30f. 254 9,31 58

471

472

Bibelstellenregister

9,37 10,33f. 10,43 10,45 11,15–18 12,6 12,35–37 13,24 13,30–32 14,32–42 14,36 14,36c 14,36d 14,37 14,53–65 14,61 14,61–64 15,1–5 15,16–41 15,21–39 15,26 15,32 15,33f. 15,34 15,37 15,39 16,1–8 16,6f. 16,7 16,8

87, 270 58 386 281 384 87, 270 270 281 253 366 124 366 366 370 277 276 278 280 280 279 280 385 281 280, 337 385 253f., 386 48, 254, 282 254 49, 255, 276 255

Lukasevangelium 1,31 1,35 1,46–55 1,53 2,26f. 2,47 2,49 3,22 4,1 4,1–13 4,14 4,18

352 110f. 243 244 111 382 381 110f., 113, 115, 272 111 364 138 111, 138

4,21 4,33–36 5,21 7,27 7,34 9,22 11,20 15,2 22,39–46 22,42 23,34 23,35 23,38 23,43 23,46 24,5f 24,13–35 24,15–17 24,16 24,32 24,48 24,49

138 110 124 382 383 365 111 383 366 124 337 385 280 337 111, 337 52, 199 53, 369 100 53 100 54 53, 110f.

Johannesevangelium 1,1f. 161 1,1–3 120 1,1–18 79, 407, 426f. 1,4 428 1,9 424, 427f., 446 1,10f. 406 1,11 56 1,13 176 1,14 26, 56, 92, 96, 160, 198, 235, 248, 368, 411, 452 1,18 156 1,29 160f. 1,32ff. 111 1,36 160 1,39 368 3,1–21 368 3,3 179 3,5 178 3,13 409

Bibelstellenregister 3,14ff. 161 3,16f. 263 3,23 151 3,34 115 4,1–42 29 4,6 61 4,9 61, 62 4,14 61 4,17f. 61 4,22 62 4,23 61 4,25f. 62 4,26 61 4,29 61 4,34 110 4,39 61 4,40–42 61 4,42 62 5,1–47 368 5,24 161 5,41 365 6,40 151 6,51 161 8,26 151 8,34ff. 161 8,50 365 9,1-41 368 10,11 161 10,15 161 10,17f. 161 10,28 161 10,30 27 11,1–45 368 13,1 161 13,1–20 151, 155 13,14f. 158 13,34 295 14,9 450 14,26 207 14,31 161 15,1–16 33, 151 15,1–16,33 160 15,5b 368 15,8b 158

15,12 15,13 15,13f. 15,14f. 15,15f. 15,26 15,9–17 16,7 16,12 16,13 16,33 17,2 17,19 17,24 18,11 18,38 19,5 19,14ff. 19,19 19,26–28 19,30 19,33ff. 20,11–18 20,15 20,28 21,4

295 154, 160, 162 146 158 151 111 155 111 207 53 227 161 161 368 161 33 164 160 280 337 157, 337, 389 161 54 369 154, 161 54

Apostelgeschichte 1,4 1,5 1,8 2,14–36 2,17 2,33 3,14 3,21 9,2 19,9 19,23 22,4 24,14 24,22 24,29 24,35

110 111 54, 111 53 419 110f. 110 175 70 70 70 70 70, 73 70 74 74

473

474

Bibelstellenregister

Römerbrief 1,3f. 1,20 4,7 4,17 5,18f. 6,4 8,3f. 8,8–25 8,11 8,29 10,17 12,2

120, 364 340 305 81 364 178, 303 120, 263 184 115 292 232 293

1. Korintherbrief 1,18–25 1,23 1,31 2,8 3,11 4,16 8,6 10,11 11,1 15,3–7

318 342 172 409 406 298 120 184 298 347

2. Korintherbrief 1,21f. 53 3,2 337 3,18 293, 452 4,4 452 4,7 299, 422 5,17 65, 162, 174, 177, 184f., 298 5,19 27, 431 5,21 33, 281 6,2 358, 369 Galaterbrief 2,20 3,1 3,13 4,4f.

296 345 281 263

4,19 6,15

293 174, 177

Epheserbrief 5,1

308

Philipperbrief 1,21 2,5 2,6 2,6–11 2,7 2,7f. 2,8c 2,9 3,17

296 389 244 48, 58, 79, 347, 387f. 26, 304 96 48 388 298

Kolosserbrief 1,15 1,15–17 1,15–20 3,1 3,13

34, 292, 452 120 450 412 295

2. Timotheusbrief 2,8 120 Titusbrief 3,4 3,5 4,3

164 178 25

Hebräerbrief 1,1f. 1,2 1,3 1,9b 4,15 10,12 12,2 13,8

151 120 48, 452 132 33, 351, 352 48 48 445

1. Petrusbrief 1,3

176, 207

Bibelstellenregister 1,18f. 2,21 2,22 3,18–22

33 295 33 347

Außerkanonische Schriften neben dem Neuen Testament und Apostolische Väter Thomasakten 27

2. Petrusbrief 3,13 4,9

175 263

1. Johannesbrief 2,6 3,2 3,5 3,16 4,2

295 232, 306 33 295 345

388

Philippusevangelium 54,5ff. 388 Brief des Ignatius an die Epheser 20,3 358

475

Sachregister

Abendmahl/Abendmahlslehre 349, 409, 412–414, 421 Adoption/adoptianisch 31, 105, 111–117, 132, 171, 263f. 271f., 360 Alexandria/alexandrinisch 348 Alte Kirche/altkirchlich 15, 33, 91, 94f., 112, 121f., 146, 165, 194, 340, 347, 348–354, 362, 411 Altes Testament/alttestamentlich 26f., 48, 83, 87, 96, 105, 107–110, 113, 120–122,138, 149f., 169, 263f., 271, 278, 281, 366, 391,434 Anhypostasie/anhypostatisch 133–135, 299, 354, 366 Anthropologie/anthropologisch 40, 83, 205, 231, 297, 305f., 341, 452 Antiochien/antiochenisch 348f. Apostolikum/Apostolisches Glaubensbekenntnis 74, 134–136 Arianismus/Arianer/arianisch 114f., 117 Auferstehung/auferstanden 42, 48–58, 67–69, 81, 83–85, 111, 161f, 164, 176–178, 181, 189, 199–201, 207f., 210, 214f., 254f., 276, 317, 352, 365, 386, 388, 433 - Auferstehung der Toten 168, 258 - Auferstehungsbericht/-erzählung /-zeugnis 52, 54, 83, 199, 210, 261, 282

- Auferweckung/auferweckt 47, 51–53, 81, 96f., 119, 126, 177, 207, 214, 254f., 261, 282, 303, 368f. - Auferweckungszeugnis 284 - der Auferstandene/ Auferweckte 48f., 51–54, 57, 65–67, 74, 111, 199, 201, 208, 210, 214f., 254f., 264, 282, 303, 369, 390, 412, 426 - Leiblichkeit 168 Aufklärung/aufklärerisch 23, 331, 348f., 438 Barmen/Barmer Theologische Erklärung 427, 432, 437 Bekenntnis/bekennen (s.a. Apostolikum, Chalcedon, Nizänum, NicaenoKonstantinopolitanum) 41, 55, 75, 99, 104, 109, 112, 116, 136, 154f., 177f., 197, 201, 264f., 299, 322, 347, 376, 436, 440f - Christusbekenntnis 62, 83, 95, 120, 122, 133, 136, 253f., 257, 260, 267, 276, 278f., 283, 296, 338, 351f., 363, 365, 387, 423, 427, 437 Biblische Theologie/biblischtheologisch 26, 41, 106, 108, 129, 138, 181, 266, 292, 361f., 450 Bild/bildlich 22, 31, 34, 43, 55, 275, 277, 283, 291, 301f., 320, 323, 327f., 332, 335, 342, 367, 370, 391, 393, 395, 438

478

Sachregister

- Abbild 309, 323, 329, 450 - Bilderverbot 34, 245, 302, 304, 449–454 - Christus-/Jesusbild 14, 26, 64, 155f., 189–191, 194, 197, 201, 204f., 210, 212f., 215, 252, 266f., 284, 292–295, 302–304, 308, 314, 318, 353 - Ebenbild/ebenbildlich 34, 292–296, 302–304, 323, 450–453 - Gottesbild 161, 197, 293, 302, 304, 323, 326 - Urbild 15, 16, 83–85, 295, 311 - Vexierbild 34, 347, 353–359, 363, 367–371, 430 - Vorbild/vorbildlich (s. dort) Bildung/Bildungsprozess 228, 251f., 256, 260, 269, 287, 291–295, 301–304, 314 - Identitätsbildung 211, 449 Bund/bundestheologisch 27, 56, 68, 88, 153, 180, 218 Chalcedon/Chalcedonense/ chalcedonisch 58, 92, 95, 109, 113, 122, 125, 192, 347–354, 357f., 361–363, 367, 370–372, 410 - Konzil 109, 348, 350 - Neuchalcedonismus/ neuchalcedonisch 133, 362 Christologie/christologisch - altkirchliche Christologie 69, 91, 94f., 109, 112, 122, 194, 347f., 350, 362, 411 - Christologische Konzentration 217– 223, 230, 240f., 243f. 247, 251, 405, 427f., 443, 445 - christologia viatorum/christologia viae/Christologie auf dem Weg 7, 19, 30, 39–71 - explizite/implizite Christologie 347, 353, 358, 404 - Geistchristologie 31, 43, 69, 77–80, 86f., 103–127, 129–132, 137–139 - hohe Christologie 87, 122, 259, 270

- Inkarnationschristologie 69, 79, 81, 87, 91, 96, 126 - Inspirationschristologie 106, 116, 126, 389 - johanneische Christologie 26, 32, 54, 61f., 146, 148–162, 178f., 199, 205, 207, 230, 352, 368, 389, 406f., 427, 450 - kenotische Christologie 28, 58, 96 - Lesechristologie 65, 199, 254, 370 - Logoschristologie 79, 410 - lukanische Christologie 53, 73, 110 - markinische Christologie 33, 87, 205, 251–256, 261, 266, 269, 272, 282, 285 - Mittlerchristologie 17, 133f., 138, 409–411 - narrative Christologie 7, 17, 21f., 30, 39–71, 73–100, 266–270, 359 - niedrige Christologie 257f. - paulinische Christologie 26, 114, 177, 183–185, 199, 205, 292, 296, 298f., 310, 312, 318f., 323f., 326, 337, 342, 345, 369, 387, 406, 409 - Präexistenzchristologie 87, 113, 121, 135, 270 - Urbildchristologie 15f., 83–85, 295, 311 - Vorbildchristologie 33, 158, 213, 287–314, 389 Christologiedidaktik 7, 33, 251–285 Christus - biblischer Christus 32, 193, 196–200, 208 - Christusereignis 108, 112, 174, 180, 215, 248, 405, 417, 453 - Christus des Glaubens/ Christusglaube 203f., 205, 214, 256f., 260, 284, 322, 401f., 417 - Christus peregrinus 7, 25, 30, 39–71 - Christus praesens/Präsenz Christi 18, 65, 105, 199, 201f., 206, 208f., 214, 299, 352, 412, 416, 419f.

Sachregister - Christusprädikat/-titel 164, 252–254, 256, 278 - Christuszeugnis 17f., 41f., 44, 48, 54, 104, 197, 445, 450 - communicatio idiomatum/ Idiome 349 - dogmatischer Christus 21, 194 - Einzigkeit Jesu/Christi 93f., 104, 109, 114–116, 262f., 270, 308, 351f., 404, 424, 430, 453f - Erhöhung/Hoheit/status exaltationis 15, 17, 25, 48, 50, 53, 57f., 69, 91–96, 110, 143f., 155, 157, 387–389, 396, 412, 416, 419, 426, 432, - Erniedrigung/Niedrigkeit/status exinanitionis 25f., 48, 57f., 69, 91–96, 155f., 244, 279, 340f., 387f., 416, 426, 432 - Gegenwart Christi 18, 48f., 57f., 65, 81, 105, 198–200, 209, 232, 299, 404, 412–416, 419f., 429, 445, 447 - Geistgesalbter/geistgesalbt 31, 103–127, 129f., 137 - Gekreuzigter/gekreuzigt 14, 47f., 51, 56, 157, 180, 201, 207f., 214, 244, 254, 264, 266, 279, 281, 302–304, 318, 322–326, 335–339, 341f., 345, 369, 385, 388, 390, 409 - göttliche Natur/Gottheit/vere deus 57, 96, 112, 115, 120, 124, 126, 134, 148, 171, 351, 363, 402, 408–411, 415, 418, 431 - Gottverlassenheit Jesu 279–282, 302 - Immanuel  362, 411 - kerygmatischer Christus 45, 49, 193, 196, 200, 205f., 213, 342, - Lamm Gottes 160 - lebendiger Christus 193, 199 - Leid Christi 46, 49, 50, 58, 75, 96, 111, 164, 199, 244, 247, 255, 266, 279, 303, 322f., 327, 340, 341, 365, 366, 369, 370, 385, 388, 389

479

- Menschliche Natur/Menschheit/vere homo 57, 96, 112, 120, 124, 134, 138, 148, 242, 303, 351, 363f., 366, 408–411, 415, 420f. - Menschwerdung 14, 25, 105, 126, 135, 240, 245, 263, 294, 301, 348, 362, 388, 396, 408, 411, 414f. - Mittler 17, 111, 130, 133f., 138, 148, 402, 408–411, 413, 426 - Person/persona Christi 14, 57f., 62, 94f., 105, 109, 112, 115, 118, 125f., 133f., 136, 138, 149, 162, 201, 206, 242, 251f., 256, 262, 264, 292, 335, 348–352, 364, 366, 401,409, 411, 413, 415, 427 - Präexistenz Christi (s. Präexistenz) - Schöpfungsmittler (s. Schöpfung) - solus Christus 404 - Werk/officium Christi 58, 94, 109, 115, 118, 133f., 136, 138, 145, 147–150, 160, 162, 166, 172, 177, 182, 200f., 206, 264, 341, 417, 421 Dialog 33, 44, 112, 206, 270, 273, 283, 350, 368 - Jüdisch-christlicher Dialog 31, 107, 123, 126 - Dialog der Religionen 402, 405, 407, 436, 438, 441, 444, 446, 443, 446f. - interreligiöser Dialog 405, 409 Didaktik/didaktisch (s. auch Christologiedidaktik) 33, 40, 119, 251–285, 308, 391, 394 Dogma 89, 108, 112–114, 120, 265, 353, 367, 440f. - christologisches Dogma 95, 109, 112, 121, 192, 194, 201, 206, 348–350, 353, 361, 368 Doketismus/doketisch 21, 196, 360 Doxologie/doxologisch 75, 79 Dreifaches Amt (munus triplex) Jesu Christi 32, 57, 63, 96, 130, 133, 135f., 138, 144–150, 157, 161–164, 426

480

Sachregister

- König (munus regale) 32, 50, 57, 63, 96, 130, 137, 144–147, 149, 155–158, 163f., 180, 266, 389, 426 - Priester (munus sacerdotale) 32, 57, 63, 96, 130, 144–147, 149, 159–164, 368, 426 - Prophet (munus propheticum) 32, 57f., 63, 97, 113, 116, 130f., 144–147, 149, 151–154, 156, 163f., 426f., 430, 434, 437 Dreiämterlehre (s. dreifaches Amt Jesu Christi) Einwohnung/shekina 412f. Emmaus 52–56, 66, 73f., 100, 369 Enhypostasie/enhypostatisch 133–135, 299, 354, 362 Erinnerung/Jesuserinnerung 22, 44–47, 52, 63, 67, 202–212 Erlöser/Erlösung 16, 74, 114f., 123, 131–136, 149, 159, 167, 184, 281, 299, 306, 325, 390, 396, 415, 421 Erwählung/Erwählungslehre/ Prädestination 27, 62, 65, 83–85, 104, 120, 153f., 161, 242, 263, 325, 385, 410f., 427, 433 Erwartung (s.a. Messias) 74, 105, 175, 266, 365f., 434, 440, 446f. Erzählung/erzählen (s.a. story) 8, 17–23, 30, 39–100, 119, 124f., 206f., 253–255, 261–288, 307–309, 320, 351–353, 361–372, 383 Eschatologie/eschatologisch 47, 63, 69, 79, 81, 87, 108f., 160, 169, 174f., 179–183, 191, 224, 228–232, 246f., 263, 292, 306, 314, 367, 408, 414 Ethik/ethisch 8, 19, 21f., 29, 70, 150, 155, 157, 162, 178, 184, 213, 239, 257, 287–314, 341, 375, 389 - Ethisches Lernen 33, 287, 291, 308–314 Evangelium 26, 40, 108, 110, 223, 244, 300, 311, 325, 353, 418, 433, 445f. - Ebionitenevangelium 113

- Evangelien 8, 19, 41f., 47, 50, 56, 74, 86, 96, 108, 111, 199–201, 207–212, 257–267, 337, 352f., 359f., 363f., 368–371, 382 - Evangelist(en) 44, 48, 51, 54, 61–63, 67, 86, 111, 155, 167 (B. Graham), 189, 197, 266–272, 337, 367, 408 - Johannes 32f., 54, 61f., 118, 148, 153–161, 207, 367f., 389, 407f. - Kommunikation des Evangeliums 219f., 392 - Lukas 73f., 110, 118, 138, 148, 272 - Matthäus 118, 272, 364 - Markus 49f., 58f., 61, 86f., 118, 199, 251–285, 360, 364f., 369f. - paulinisches Evangelium 184 Ewigkeit 93, 135f., 230, 246, 359, 408, 417, 445 Exegese/exegetisch 7, 14, 26f., 32f., 44, 66, 114f., 150, 156, 160, 200, 232, 268, 274, 278, 292, 363, 388 - historisch-kritische Exegese 349 - narrative Exegese 89 Existenz/existentiell 21f., 25f., 46f., 93, 134, 156, 177, 234, 246, 306, 333, 337, 341, 418 - christliche Existenz 21, 177, 184, 259, 306, 309, 391 - Jesu Existenz 196, 214, 255, 358, 370 - theologische 313, 415 Exklusivismus/exklusiv 31, 64f., 84f., 126, 135, 221, 255, 366, 370, 402f., 405, 420f., 428–431, 438, 444, 452f. Existentialphilosophie/Existentiale Interpretation/existential 143, 190, 230–235, 247, 257 Extra-Calvinisticum 34, 96, 122, 137, 235, 401–447

Sachregister Fleisch 25f., 89, 92–96, 111, 120, 122, 126, 198, 202, 222, 235, 244, 248, 408–419, 453 Freiheit/freedom 70, 90, 148, 157, 164, 172, 244, 297, 300, 309f., 344, 364, 414, 420, 442f., 446, 453 Fremde/fremd/Fremdheit/peregrinus 7, 19, 23–30, 52–66, 71, 75f., 88, 92, 95, 242, 296, 369, 392, 421 - Entfremdung 25, 67, 144, 374, 377, 395, 397 - Fremdwahrnehmung 307 - Verfremdung 121, 335 Freund/Freundschaft 7, 32, 143–164, 181, 340f., 382 - Freundschaftsekklesiologie 146 - Freundschaftserzählung 156 - Freundschaftstheologie 7, 32, 148 - Gastfreundschaft 30, 66 - Jesus Christus als Freund 32, 143–164, 302, 325 Frömmigkeit/fromm 18, 24, 143f., 174, 192, 230, 307 Fußball 7, 34, 373–397 Gebet/beten 41, 61, 75, 143f., 166, 322, 364–370, 376 - Unser Vater 83–85 Gebot - Gebote des Dekalogs 227, 302, 374, 450–453 - Schweigegebot 61, 254, 276 Gedächtnis 84f., 208f., 211, 283 Geheimnis/Mysterium/geheimnisvoll 18, 25, 33, 40, 48, 57f., 70, 83, 85, 108, 115f., 125, 149, 228f., 235, 254f., 259–272, 350f., 364, 369f. Geist (s. Heiliger Geist) Gemeinde 50, 63, 65, 95, 132, 146, 150, 153f., 157f., 175, 203, 212, 236, 240, 255, 278, 298, 313, 332, 334, 337, 368, 387, 430–435, 439–441, 446f. - Bürgergemeinde 434 - Fangemeinde 373f.

481

- Gemeindepädagogik 269 - Urgemeinde(n) 352 Gemeinschaft 57, 84f., 93, 96, 146, 154, 157f., 161, 169, 180, 185, 209, 211, 228, 259, 281, 292, 334, 370, 415, 419 - Erzählgemeinschaft/Erinnerungsgemeinschaft 56, 65–68, 73, 208 - Glaubensgemeinschaft 345 - Religionsgemeinschaft 23 - Solidargemeinschaft 436 - Tischgemeinschaft/Mahlgemeinschaft 29, 61, 66, 146, 382 - Weggemeinschaft 56 Gericht/richten 92, 257, 281, 310, 413, 424, 451 - Gerichtsrede 327, 331 - Weltgericht 66, 281 Gesalbter (s.a. Messias, Heiliger Geist) 105, 111, 114, 120, 129–132, 138, 149f., 352 Geschöpf/geschöpflich 114f., 133f., 152, 182, 184, 208, 296f., 336, 340, 431, 438 - Geschöpfwelt 425f., 428 Gleichnis(se)/gleichnishaft 29, 34, 66, 83–85, 163, 302, 309, 386, 389, 392–397, 425, 429–438, 446, 453 Gnade/gnädig 25, 82, 154, 159–161, 169–171, 175f., 180f., 231–233, 242, 388, 415 Golgatha 51, 180 Gott/deus - Absolutheit Gottes 403, 436 - Aseität Gottes 77 - Arbeitshypothese Gott 300, 377 - Autonomie Gottes 297 - Bund Gottes (s. Bund) - Christus und Gott: Christi Gottheit/ vere deus/Gottesverhältnis Christi 14f., 18, 25f., 34, 48, 57, 70, 80–84, 92–97, 103–105, 110–116, 119f., 124–126, 131–139, 146, 159–161, 192, 209, 214, 217f., 244, 254–282, 292, 297, 303f., 349–353, 360–371, 389, 408f., 411–420

482

Sachregister - deus contra nos 161 - Deus medicus 131 - deus supra nos 156 - Ehre/Verehrung Gottes 197, 301, 331, 333, 387f., 436 - Eigenschaften Gottes 15, 103, 176 - Einheit Gottes 103, 114, 116, 136 - Einzig(artig)keit 114, 424 - Erscheinung Gottes 369 - Erzählung und Geschichte Gottes 21–23, 40f., 57f., 62, 67, 71, 73, 77f., 80, 90, 98f., 118f., 198, 272, 353, 363 - Freundschaft Gottes 151f., 161–164 - Fußballgott 34, 373f., 376, 378: 389f. - Gedächtnis Gottes 84f. - Gegenwart Gottes 32, 78, 126, 294 - Gekreuzigter Gott 323–325, 341 - Gericht Gottes (s. Gericht) - Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs 27, 451 - Gottesbegriff/-bild/-gedanke 40, 116f., 152, 156, 197, 265, 293, 302–304, 312f., 323–326, 396, 450, 453 - Gottesbewusstsein Gottesbeziehung/-verhältnis 24, 26, 83, 85, 153, 172, 176, 197f., 240, 261f., 366, 370, 418, 454 - Gottesebenbildlichkeit (imago Dei) 34, 267, 292–294, 302–304, 323, 449–453 - Gotteserkenntnis 13, 17, 236, 339f., 344, 402, 418, 451 - Gottesgabe 239 - Gottesgebärerin 351 - Gottesgeborgenheit 300, 307 - Gotteslästerung 197, 278, 318 - Gotteslehre 78, 81, 103, 151, 163 - Gottesknecht 74, 336f., 369 - Gottesname 80f. - Gottesoffenbarung (s. Offenbarung) - Gottesprädikat 151f., 326

- Gottessohnschaft 15, 22, 25f., 33, 244, 251–285, 292, 324f., 364, 396, 408f., 413 - Gottesverständnis 155f., 436 - Gottheit/Göttlichkeit Gottes 77, 241 - Gott Israels 31, 57, 61, 65, 89, 104, 114, 116, 129f., 163, 321, 324, 340, 353 - gottlos/widergöttlich/nichtgöttlich/ gottwidrig 26, 157, 301, 325, 346, 418f., 422, 446, 450f. - Gottmensch 97, 349, 378, 388 - Gott und Mensch 8, 26, 57, 92, 94, 123, 148, 151, 154, 172, 176, 240–243, 248, 296f., 302, 319, 349–353, 369, 410f., 450 - Gottverlassenheit 163, 279–282, 302 - Handeln/Tat/Werke Gottes 17, 52, 67, 77, 88, 93, 96, 126, 161–163, 169, 171–177, 196, 293–296, 367, 410, 454 - Herrlichkeit Gottes (s. Herrlichkeit) - Herrschaft Gottes 48, 57, 393f., 420 - JHWH 27, 29, 138, 197, 276f., 388 - Kind(er) Gottes 172f., 181, 232, 252 - Kommen Gottes 93, 108, 116 - Kraft Gottes 178, 318 - Lamm Gottes (s. dort unter Christus) - Liebe Gottes 153–156, 160f., 180 - Menschlichkeit Gottes 44, 73, 240–243, 426 - Menschwerdung Gottes (s. Inkarnation) - metaphorische Rede von Gott 164, 393 - Nachahmung Gottes 308, 390 - Nähe Gottes 83–85, 156 - Rede von Gott 77f., 161, 163, 231, 319, 377 - Reich Gottes (s. dort) - Schöpfer/schöpferisch 81, 115, 152, 162, 178, 336 - Sein Gottes 17, 58, 257

Sachregister - Selbsterschließung/Selbstdarstellung Gottes 13, 231, 420 - Transzendenz Gottes 27, 80, 122, 154, 333, 403, 414 - Urteil Gottes 115, 180, 423 - Vater 17, 27, 31–33, 53, 58, 84–86, 110, 113–119, 123–136, 151–153, 160f., 169, 180, 253f., 262–265, 270–272, 280, 333, 351f., 364–368, 387f., 412, 416–420, 450 - Verheißung Gottes 18, 169, 292, 303 - Vermögen Gottes 418, 445 - Wahrheit Gottes 89, 244, 433, 435, 443, 446 - Wesen Gottes 103, 153, 164, 270, 340, 450 - Wille Gottes 32, 51, 62, 94, 96, 151f., 161, 257f., 270, 281, 296, 366, 434 - Wirklichkeit Gottes 259, 295, 346, 389f., 451 - Wort Gottes (s. dort) - Zorn Gottes 159–161 - Zukunft Gottes 29, 352, 438 Gottesdienst 18, 223, 225, 328, 331, 376 Heide/Heidentum 59–62, 135, 245, 257, 318, 344f., 352, 375, 402, 418, 453 - Heidenspaß 343, 374 Heil 51, 62–65, 82, 93, 131, 148f., 164–174, 184, 196, 231, 255, 326, 351, 369, 402, 407 - Heilsanspruch 405, 443 - Heilsereignis/-geschehen 33, 48, 174, 223, 247, 259, 329, 387 - Heilserwerb/-erlangung 93, 143, 172 - Heilsgeschichte 26, 65, 206, 272 - Heilsgewissheit 114, 134, 173f., 182 - Heilshandeln/-werk/-zueignung 82, 133, 147f., 161, 166, 170, 172, 329, 388

483

- Heilsindividualismus 174f. - Heilslehre/Heilstheorie (s. Soteriologie) 143, 317, 404 - Heilsmittler/Heilsmittlerschaft 408, 411 - Heilsökonomie/heilsökonomisch 77f., 84f., 93, 362 - Heilssynergismus 171, 175 - Heilsweg 170, 404 - Heilswille Gottes 62, 281, 365 Heiliger Geist 31, 53, 58,65, 78–87, 103– 126, 129–138, 157, 169–172, 178–182, 264f., 271–273, 367, 416–421 - Empfängnis durch den Geist 56, 111, 135 - Geistausgießung 53, 110, 157, 419 - Geistbegabung 86, 104, 108, 133–138 - Geistbegegnung 273 - Geist Christi 137, 414 - Geistempfang 53, 111, 115f., 137, 179 - Geistgeburt 110, 113, 119, 132, 178 - Geistgeschehen 174 - Geistsalbung/geistgesalbt (s.a. Gesalbter u. Messias) 31, 103–127, 129–132, 138f., 157 - Geisttaufe 132 - Geistträger 84, 86, 111, 272 - Geistzeugung/-empfängnis 105, 111 - Mittler/Sender des Geistes 111, 130, 137 - Pneuma/pneumatisch/Pneuma-Christologie 113, 130, 174, 206 - Pneumatologie 78, 82, 85, 103– 109, 113, 120, 126, 132, 136f., 178, 181–183, 206, 416–420 Heiligkeit/heilig/Heilige 33, 104, 110, 161, 191, 238, 244, 267, 305, 325, 391, 395, 432 - Heiligenverehrung 291, 384 - »Heiliger« Rasen 373

484

Sachregister

- Heilige Väter 351 Heiligung/sanctificatio 166–173, 179f., 294, 303, 451 - ordo salutis 76, 82–85, 169–173 Heilung/heilen 111, 191, 254, 283, 296, 368, 382 Hermeneutik/hermeneutisch 17, 24, 49, 77, 117f., 123, 161, 194, 204f., 211, 216, 235, 242, 244, 259, 265, 283f., 337, 353, 361, 367, 372, 430, 443 - Bekenntnishermeneutik 112 - geschichtshermeneutisch 204 - hermeneutischer Zirkel 302 - kulturhermeneutisch 204 - sprachhermeneutisch 147 - Taufhermeneutik 178, 303 - trinitarische/trinitätsbewusste Hermeneutik 7, 31, 117, 124–126 Herrlichkeit/doxa 276f., 293, 303, 340f., 365, 368f., 389, 409, 416, 420, 426–429, 452 Herrschaft/Herrscher/Herrschaftsbereich 32, 48, 74, 146, 152, 155–157, 170, 238, 274, 307, 391, 393f., 413, 419f., 428–433 - Gnadenherrschaft 388 - Königsherrschaft 157, 387 - Weltherrschaft 48 Himmelfahrt 49f., 53, 214, 255, 388, 416 Historie/historisch/Historizität 40–55, 62–66, 89, 97, 116, 150, 170, 173, 179, 192–215, 246f., 255, 259, 263, 265, 278, 280, 284, 365, 367, 414, 437f., 454 - historischer Jesus (s. Jesus Christus) - historisch-kritisch 189, 196f., 204, 213f., 232, 256, 349 - militärhistorisch 227 - oral history 224 Hohepriester 130, 253 Hoheitstitel Jesu/Christustitel 33, 96, 146f., 252f., 266, 269 - Heiland 62, 134, 192, 194, 198, 201, 206, 212

- Herr/kyrios 14, 80, 109, 133, 152, 155–158, 180, 199, 257, 325, 351f., 387, 402, 409 - Menschensohn 56, 76, 92f., 97, 254, 266, 278, 365f., 393, 411 - Messias (s. dort) - Sohn Gottes (s. dort) Hypostase(nbegriff)/hypostatisch 17, 109, 152, 299, 350–354, 358 Imitation/imitatio 158, 257, 279, 312 - Imitationsethik 157 Inkarnation/inkarniert 15–26, 34, 48, 56, 64–69, 79–81, 92, 105, 120, 122, 126, 135, 198, 202, 235–240, 245, 263, 301, 304, 349–351, 359, 367, 387–389, 406–411, 420f., 424, 442 - Inkarnationschristologie 87, 91, 96, 126, 160 Inklusivismus/inklusiv 57, 82–85, 161, 403, 419, 428–431 innerkonfessionell 7, 31 interkulturell 7, 31, 34 interreligiös  7, 31, 34, 403, 436, 444 intradisziplinär 7, 31f., 206 Israel  18, 26–31, 57, 61, 65, 83f., 89, 104, 108, 114, 116, 129f., 163, 280, 321, 324f., 340, 353, 365, 391, 427, 440 - israeltheologisch 64 Jesus 60–62, 73–75, 84f., 93f., 97, 104, 116–119, 124f., 133–135, 154–162, 189, 200, 252–256, 265, 295–298, 363–370, 401f. - erinnerter Jesus/Jesus remembered 44–47, 67, 189, 203–211 - erzählter Jesus 17–19, 30, 41–71, 73–75, 78, 80–83, 87– 89, 91, 100, 111, 124, 255, 262, 266–269, 272–276, 282, 284, 309, 353, 361–371 - historischer Jesus 32, 42– 47, 51, 62, 67, 81, 189–216, 247, 255–261, 284, 414

Sachregister - irdischer Jesus 45–49, 61, 67, 69, 77–81, 89, 111, 189–216, 254, 276, 352, 414 - jesuanisch 342 - Jesusforschung 44, 189–191, 203–206, 216, 258 - Jude/jüdische Identität 60–63, 96, 104, 280, 325 Jesulogie/jesulogisch 33, 68, 115, 257, 259 Jesus-memory approach 32, 191, 203– 205, 211 Judentum/jüdisch 60–63, 70f., 107, 110, 121–123, 168f., 184, 197, 257–259, 263f., 278, 302, 318, 323–325, 342f., 366, 403–405, 450 Jünger/Jüngerschaft 53f., 56, 59, 61, 73f., 100, 152–154, 158, 162, 201, 203–207, 254, 276, 292, 307, 324, 327, 366–370, 382, 386 Kerygma/kerygmatisch 40, 45, 196, 200, 205f., 213, 223, 230–233, 247, 257, 261 Kenose/kenosis 28, 58, 96, 388 Kirche/kirchlich/ecclesia 18–25, 28, 31f., 39, 56, 63f., 91, 95, 104, 107, 112f., 153–157, 166, 209, 211, 241–243, 328, 378, 405f., 426–437, 449, 451–454 - Ekklesiologie/ekklesiologisch 28, 53, 131, 145f., 150, 157f., 201f., 332, 334 - extra muros ecclesiae 64, 344, 419f., 430f., 435 - Kirchengeschichte 110 - Kirchenkampf 300 - Kirchenkritik 331–337, 342–345, 441, 444, 453 - Kirchenordnung 130 - Kirchenväter 96, 151, 362f., 410 Konfession/konfessionell 7, 14, 31f., 69, 245, 251, 409f., 413 Kreuz/gekreuzigt 14, 45–48, 51, 56f., 67–69, 74, 81, 84, 86, 93f., 96, 111, 156–161, 164, 176f., 180, 200f., 207f.,

485

214, 244, 247, 253f., 257, 261, 264, 266, 269, 274–283, 287, 302–304, 317–331, 335–346, 369, 385, 387–390, 396, 409, 453 - Kreuzestheologie 34, 317–320, 324, 339–346 - staurozentrisch 244, 338 Kultur/kulturell 7, 21, 29, 31, 34, 61, 64, 110, 172, 175, 190, 204f., 209, 211, 219f., 227f., 242, 245, 288, 298, 304, 318f., 331f., 345, 373, 378, 392, 397, 402, 445 Kunst 7, 34, 90, 194, 201, 205, 213, 277, 319, 329, 345, 350 Leib/Leiblichkeit/leiblich 84, 153, 168, 175, 202, 274, 293, 299, 351, 409, 412, 415, 419 Leid/Leiden 46, 49, 58, 75, 96, 111, 164, 169, 171, 175, 199, 244, 247, 255, 266, 279f., 303, 322–324, 327, 340f., 352, 365, 369f., 385, 388f. Lichterlehre 34, 401, 406f., 421–431, 436–444 Liebe 99, 110, 144, 146, 152–164, 180, 231, 236, 238f., 243f., 295, 325, 333, 341, 345, 375, 396, 434 Logos 15, 21, 43, 56, 79f., 86, 114f., 119, 121, 125, 134, 160, 263, 326, 334, 352, 362, 367, 406–421, 425, 427 - logos asarkos/logos ensarkos 408 Mensch/menschlich/Menschsein 20–22, 25–27, 29, 40, 44, 57, 62f., 73, 76f., 80–86, 89–97, 100, 104f., 113, 115, 120–126, 133–135, 146, 148, 151–164, 170–185, 192–198, 211–218, 231–248, 251–260, 263, 292–314, 319, 326, 331–334, 338–342, 348–353, 360–371, 374–378, 386–397, 405–431, 434–439, 446, 450–454 Messias/messianisch/Messianität 61–63, 74, 105, 107f., 114f., 121f., 129–131,

486

Sachregister

195, 213, 262–264, 278–280, 325f., 364–370, 411 - Messiaserwartung 74, 365f. Metapher/Metaphorik/metaphorisch 8, 19, 23, 25, 34, 43, 55, 58, 63f., 68, 84, 92f., 164, 166, 168, 177, 205, 213, 229f., 237, 293, 305, 308, 337, 377, 393–395, 406, 414, 430–432 Metaphysik 77–81, 91, 106–109, 119–124, 152, 231, 262–264, 324, 340, 354, 362, 396, 413f. - metaphysischer Gottesbegriff 152, 263 Modalismus/modalisierend/modalistisch 96, 413 Monophysitismus/monophysitisch 413 Monotheismus/monotheistisch 401 Monotheletismus/monotheletisch 361 Mythos/mythisch 19, 21f., 43, 49, 56, 223, 233, 244, 255, 380f., 449 Mythologie/mythologisch 120, 233, 380 - Entmythologisierung 223, 228f., 232f., 244f. Nachahmung (s.a. Imitation) 288, 298, 301, 308–313, 329, 376 Nachfolge 28f., 70, 83f., 259, 266, 291–297, 301–314, 332, 336, 351, 429 Name 77–81, 134, 146f., 219, 273f., 292, 379, 381, 395, 409 - Name Gottes 24, 78–81, 118, 197, 387f., 395f. - Name Jesu 70, 80f., 96–98, 108, 119, 129, 135, 150, 252f., 292, 362, 443 Narrative Christologie (s. Christologie) Natur/natürlich/nature 15, 17, 29, 57, 62, 91–95, 120, 133–135, 138f., 161, 175, 223, 237f., 259, 266, 325, 329, 339f., 338–354, 358f., 363, 370f., 401, 407–420, 450, 452 - göttliche und menschliche (s. Christus) - Zweinaturenlehre (s. dort)

Nestorianismus/nestorianisch 416 Neues Testament 26, 41, 50f., 53, 58, 80, 105, 107, 118, 148f., 160f., 168, 178, 183, 215, 222, 244, 247, 255, 259, 265, 269, 327, 337, 363–365, 395 Neuzeit/neuzeitlich 15, 17, 116, 121, 131, 194, 227, 240f., 245, 349 Nizänum/nicänisches Glaubensbekenntnis 79, 104, 113 Offenbarung 44, 48, 58, 123, 151, 153, 248, 276, 280, 318, 367, 407, 418f., 422–426, 431, 435, 438, 440, 445, 453 - Gottesoffenbarung 276, 434 - Offenbarungstheologie/offenbarungstheologisch 86, 242, 403, 451 Ökumene/ökumenisch 14, 31f., 143, 147, 329 Ontologie/ontisch/ontologisch 19, 94, 97, 107, 118, 120, 137, 247, 299, 358f., 360, 426, 435 - substanzontologisch 57, 358 Opfer/opfern 84, 159, 161f., 192, 245, 279, 281, 337 - Sühn(e)opfer 159, 161f., 279 Ostern 19, 46–52, 56f., 67, 69, 90, 95, 111, 154, 196, 199, 203–205, 207f., 210, 213f., 254f., 260, 262, 267, 270, 278, 340, 368f., 392 Parusie 122 Passion 67, 84–86, 276f., 281, 340, 352 Person Christi (s. Christus) Personalität 67 Philosophie/philosophisch 28, 34, 46, 99, 120, 130, 144, 232, 234, 236, 289, 305, 325, 352, 354f., 363, 407, 414, 452 Pluralismus/pluralistisch 402f., 405, 424, 428, 444, 454 Präexistenz 14, 33, 68, 79, 86f., 113, 117, 121, 135–137, 263, 270f., 389, 396, 416 Rechtfertigung/iustificatio 83, 85, 169– 173, 175–181, 294, 299, 304–306, 442

Sachregister Reformation 17f., 28, 104, 136, 172, 348f., 404, 407 Reformiert/e 8, 31f., 63, 76, 103–107, 112, 129f., 139, 145, 173, 235, 245, 302, 348f., 388, 409f., 412, 414f., 426f., 450–452 Reich Gottes 29f., 84, 88, 178–181, 393f., 430–439 Religion 21, 31, 64, 168f., 219–222, 299f., 320, 330–332, 342–346, 373–378, 391, 401–407, 418–427, 434–447 - Religionskritik 34, 218, 246, 320f., 327, 342–344, 376f., 422, 438–442, 449–454 - Religiosität/religiös 16, 31, 34, 65f., 165–167, 194f., 212f., 218–221, 325f., 346, 378–380 - Religionstheologie (s. Theologie) - Theologie der Religionen (s. Theologie) Religionsunterricht/religionsunterrichtlich 33, 251f., 256–261, 290, 313f. Repräsentant/Repräsentanz 57f., 147, 270f., 279f., 323, 327, 329–339, 378 Sakrament/sakramental/sakramentaltheologisch 166f., 178f., 412–415 - sacramentum et exemplum 158, 299 Satisfaktion/-stheorie/satisfaktorisch 15, 159–162 Schöpfung 81, 83, 168f., 340, 394f., 406–408, 415–418, 420f., 428f. - Neuschöpfung 32, 165–169, 171, 174f., 178, 181–185 - Schöpfungsmittler/-schaft 116f., 121, 308, 396, 406–408 - Schöpfungstheologie 415–418 Schule/Schüler/-in 16, 39, 64, 251f., 256–261, 266–269, 273, 277, 281–285, 288f., 302f., 312f. Sohn Gottes  25–27, 33, 61f., 77–87, 104, 120, 131–139, 251–285, 351–353, 364f., 407–413, 419f.

487

Soteriologie/soteriologisch 32, 65, 131–134, 136–139, 143–145, 148–150, 158, 162, 175–177, 206, 391, 414, 443f. Stellvertretung 32, 159–162, 279–283, 303, 334 Sühne 159–162, 279 Sünde 33, 89, 124, 133f., 159–162, 174f., 271f., 281, 293, 299, 302–306, 351f. Story 7f., 20–22, 41f., 66–68, 75f., 95, 98–100, 166f., 200f., 269, 362f. Synoptiker/synoptisch (s.a. Evangelium) 53, 110f., 146, 197, 199, 203, 207, 363f., 370 Taufe Jesu 113, 264, 271–273 Theologie 13, 18, 22–24, 35, 75f., 87–90, 99f., 107–109, 161, 208, 239–243, 251f., 338–342, 394–397, 416f., 453f. - Bundestheologie 27, 56 - Dialektische Theologie 99, 218f., 241, 407 - Freundschaftstheologie/freundschaftstheologisch 32, 143–164 - Liberale Theologie 218, 246, 257f. - Narrative Theologie 17, 75f., 87–90, 98–100 - Praktische Theologie 33, 219–221, 239–243 - Religionstheologie 34, 401–407, 420f., 436f., 442–447 - Systematische Theologie 24, 107–109, 206, 260, 290 - Theologie der Religionen 34, 404– 407, 418–425, 434–439, 442–447 - Theologiegeschichte/theologiegeschichtlich 14f., 58, 67f., 130f., 169f., 264, 407 Tod Jesu 46–48, 65, 158–162, 280f., 319 Trinität/trinitarisch/Trinitätslehre 31, 90, 93f., 106–110, 116–119, 123–127, 136, 264–267, 272f., 367, 416f. - Trinitätstheologie 31, 103, 117– 119, 125–127, 136, 266, 395f. - Immanente Trinität 77, 93

488

Sachregister - Ökonomische Trinität 77f., 80–82, 93

Urchristentum/urchristlich 48, 65f., 202f., 257f., 261, 267 Verklärung Jesu Christi 254–256, 275–277, 280f., 283 Versöhnung 25–27, 88f., 91–94, 159–162, 426f. - Versöhnungslehre 25, 56f., 76, 91–94, 426f. Verborgenheit/verborgen 50f., 57f., 232, 254, 275f., 409f., 417, 419–421, 446f. Vorbild/vorbildlich/exemplum (s.a. Sakrament) 33, 158, 287–314, 389f. - kritisch-gebrochene Vorbilder 33, 299, 304–308, 310

Weihnachten 33, 217–248 Wiedergeburt/regeneratio 32, 165–185 Wort Gottes 217f., 233–235, 247, 334, 407–409, 428–433, 445 Wunder 273–275, 367f., 381–383, 409 Zeichen 282, 318f., 322f., 327–332, 367f., 432 Zeuge(n)/Zeugenschaft/Zeugnis 26, 40–43, 46–51, 53f., 61f., 86f., 94–97, 110–112, 149f., 197–202, 207–216, 233–239, 254, 270f., 275f., 342, 344f., 421–447 Zweinaturenlehre (s.a. Christus) 15, 34, 91–97, 112, 115f., 120–125, 133, 138f., 347–351, 357–363, 371f. Zweiständelehre 56f., 91–93, 388–391 - status exaltationis 91f., 388 - status exinanitionis 91f., 38