Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert: Der Tübinger Theologe und »Judenforscher« Gerhard Kittel [1 ed.] 9783737009966, 9783847109969


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Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert: Der Tübinger Theologe und »Judenforscher« Gerhard Kittel [1 ed.]
 9783737009966, 9783847109969

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Manfred Gailus / Clemens Vollnhals (Hg.) Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert Der Tübinger Theologe und »Judenforscher« Gerhard Kittel

Berichte und Studien Nr. 79 herausgegeben von Thomas Lindenberger und Clemens Vollnhals im Auftrag des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e.V.

Manfred Gailus / Clemens Vollnhals (Hg.)

Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert Der Tübinger Theologe und »Judenforscher« Gerhard Kittel

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Gerhard Kittel (© Universitätsarchiv Tübingen, S 23/1,627) Satz: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2366-0422 ISBN 978-3-7370-0996-6

Inhaltsverzeichnis

Manfred Gailus / Clemens Vollnhals Der Tübinger Theologe und »Judenforscher« Gerhard Kittel: Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Robert P. Ericksen Schweigen und Sprechen über den »Fall Kittel« nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . 19 Clemens Vollnhals Nationalprotestantische Traditionen und das euphorische Aufbruchserlebnis der Kirchen im Jahr 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Gerhard Lindemann Gerhard Kittel: familiäre Herkunft, Ausbildung und wissenschaftliche Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Horst Junginger Gerhard Kittel im »Dritten Reich«: Die Karriere eines evangelischen Theologen im Fahrwasser der nationalsozialistischen J­ udenpolitik . . . . . . . 83 Martin Leutzsch Wissenschaftliche Selbstvergötzung des Christentums: Antijudaismus und Antisemitismus im »Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Oliver Arnhold Gerhard Kittel und seine Schüler. Welche Verbindungen bestanden zum Eisenacher »Entjudungsinstitut«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

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Inhaltsverzeichnis

Lukas Bormann Gerhard Kittels wissenschaftliche Auslandsbeziehungen und die internationale Rezeption seiner Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Manfred Gailus Gerhard Kittels »Meine Verteidigung« von 1946: Rechtfertigungsversuche eines schwer kompromittierten Theologen . . . . . 161 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Gutachten Gerhard Kittels für den geplanten Prozess gegen Herschel Grynszpan vor dem Volksgerichtshof 1942 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Gerhard Kittel: »Meine Verteidigung« (1946) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Horst Junginger: Gerhard Kittel. Ein biografischer Abriss im Kontext der politischen und kirchlichen Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Horst Junginger: Bibliografie Gerhard Kittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275



Manfred Gailus / Clemens Vollnhals  Der Tübinger Theologe und »Judenforscher« Gerhard Kittel: Zur Einführung

Als wir vor zwei Jahren zu einem Workshop über den Tübinger Neutestamentler Gerhard Kittel am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden einluden, waren die Reformationsgedenkfeiern 2017 soeben beendet. 500 Jahre Weltwirkung der deutschen Reformation, Martin Luthers berühmte 95 Wittenberger Thesen vom Jahr 1517 und seine neue reformatorische Theologie mit revolutionären Wirkungen, die konfessionelle Spaltung der frühneuzeit­lichen europäischen Christenheit, der entstehende Protestantismus als Schrittmacher einer westlichen Moderne – alles dies und Weiteres gehörte zum ausladenden Themenprogramm eines gedenkpolitischen Großereignisses.1 Zum ersten Mal anlässlich eines großen Reformations- und Luthergedenkens kamen im Gedenkjahr 2017 auch die bösen »Judenschriften« des Wittenberger Reformators auf die Tagesordnung. Bei vielen Zeitgenossen, die sie bis dahin überhaupt nicht kannten, riefen sie Verwunderung und Erstaunen, nicht selten gar Entsetzen oder Scham hervor. Zweifellos sind seither die aktuellen kirchlichen und theologischen Probleme mit Luther, um Luther und durch Luther angesichts der jüngsten Vergegenwärtigung seiner antijüdischen Schriften, darunter seine umfassende Spätschrift »Von den Juden und ihren Lügen« (1543), nicht geringer geworden.2 Sie könnten sogar bei vielen Zeitgenossen gewachsen sein. War Martin Luther mit seinen harten verbalen Ausfällen gegenüber »den Juden« lediglich ein christlich-theologisch motivierter Antijudaist, so ist im V ­ orfeld 1 2

Als zusammenfassenden Bericht vgl. Johann Hinrich Claussen/Stefan Rhein (Hg.), Reformation 2017. Eine Bilanz, Berlin 2018. Vgl. die neu edierte und kommentierte Ausgabe: Martin Luther, Von den Juden und ihren Lügen. Neu bearbeitet und kommentiert von Matthias Morgenstern, Wiesbaden 2016; vgl. auch den Kommentar des Herausgebers Matthias Morgenstern, Erwägungen zu einem Dokument der Schande, ebd., S. 251–276. Das Buch enthält zugleich ein »Geleitwort« des Ratsvorsitzenden der EKD Heinrich Bedford-Strohm (S. IX–XI). Der Ratsvorsitzende Bedford-Strohm spricht hier durchgängig (wie auch bei anderen Verlautbarungen) von Luthers »Judenfeindschaft« oder »Antijudaismus« und vermeidet sorgfältig das gravierende Wort »Antisemitismus«.

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und während des Gedenkjahrs 2017 landauf und landab auf wissenschaftlichen Tagungen, in historischen Ausstellungen, in zahllosen Vorträgen, Büchern und Zeitschriften- wie Zeitungsartikeln gefragt worden, oder war er womöglich auch ein Antisemit? Und was würde es bedeuten nach Hitler und Holocaust, besonders für lutherische Protestanten, wenn sich herausstellte, dass ihr kirchlicher Urvater und Konfessionsbegründer, neben allen seinen theologischen, kirchlichen, literarischen und sonstigen kulturellen Leistungen und Verdiensten, auch ein Antisemit war? Aus dem Denkmal, das er lange Zeit war und selbstverständlich auch heute noch ist, könnte auf längere Sicht im Laufe des 21. Jahrhunderts ein Dilemma werden. Luther-Kirchen, Luther-Straßen, Luther-Denkmäler, eine Martin-Luther-Universität in Halle, eine selbstbewusst den Namen des Reformators führende »Lutherstadt Wittenberg« – gewiss, alle diese Namenswidmungen stehen heute nicht ernsthaft zur Disposition. Aber wird man sie lange halten können, wenn sich Luthers antijüdische Auslassungen nicht allein als theologisch motivierter Antijudaismus, sondern zu erheblichen Teilen zugleich auch als veritabler »vormoderner Antisemitismus« (Thomas Kaufmann) erweisen sollte? 3 Die kontroversen Debatten anlässlich des Reformationsjubiläums um Luthers christlichen Antijudaismus, der – wie inzwischen zunehmend konzediert wird – in Teilen auch genuin antisemitische Züge trug, bildeten gewissermaßen die aktuelle Begleitmusik im Hintergrund, als eine Reihe von Historikern, Kirchenhistorikern, Theologen und Religionswissenschaftlern in Dresden zusammentraf, um Biografie, Werk und Wirkungen des einflussreichen Tübinger Theologen Gerhard Kittel zu untersuchen. Natürlich ist es ein geschichtlich weiter Weg vom Reformator des 16. Jahrhunderts zum bekennenden Lutheraner Gerhard Kittel im frühen 20. Jahrhundert, aber die Problematik ihres Umgangs mit der »Juden­ frage« weist Parallelen auf: heftige Judengegnerschaft, motiviert aus christlichem Glauben, die an bestimmten Stellen über ihre theologischen Grenzen ­hinausschießt. Gewiss, Gerhard Kittel war kein Reformator, kein zweiter Luther im frühen 20. Jahrhundert, auch wenn der Zürcher Theologe Emil Brunner im

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Vgl. die kritische Auseinandersetzung des derzeit führenden Reformationshistorikers mit diesem protestantischen Grundproblem: Thomas Kaufmann, Luthers Juden, Stuttgart 2014, bes. Kap. V: Der Endkampf um die Bibel – Luthers böse Schriften, S. 106–140. Ferner die kritischen Beiträge zu Luthers antijüdischen und antisemitischen Positionen und zur diesbezüglichen Lutherrezeption bis ins 20. Jahrhundert: Harry Oelke/Wolfgang Kraus/Gury Schneider-Ludorff/ Axel Töllner/Anselm Schubert (Hg.), Martin Luthers »Judenschriften«. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2016; Richard Faber/Uwe Puschner (Hg.), Luther – zeitgenössisch, historisch, kontrovers, Frankfurt a. M. 2017; Andreas Pangritz, Theologie und Antisemitismus. Das Beispiel Martin Luthers, Frankfurt a. M. 2017; Stiftung Topographie des Terrors/ Gedenkstätte Deutscher Widerstand (Hg.), »Überall Luthers Worte …«. Martin Luther im Nationalsozialismus (Katalogband zur gleichnamigen Ausstellung), Berlin 2017.

Einführung

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Jahr 1940 meinte, das maßgeblich von Kittel konzipierte und herausgegebene »Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament« (ThWNT) stelle die bedeutendste theologische Leistung seit der Reformation dar.4 Nach seiner Familienherkunft entstammte Kittel dem schwäbischen Pietismus, der ihn tief prägte als gläubigen Christ; konfessionell und kirchlich war er Lutheraner; als Theologe lehrte er Neues Testament, zugleich galt er bereits seit den späten 1920er-Jahren als ein international anerkannter Experte des antiken Judentums. Was bei Luther heute noch umstritten sein mag – ob der Wittenberger Reformator »nur« Antijudaist oder darüber hinaus zu gewissen Anteilen auch Antisemit war –, dürfte bei Kittel inzwischen unstrittig sein. Er war beides zugleich: In erster Linie und vorwiegend war Kittel christlich-theologisch motivierter Antijudaist, der sich auf eine spezielle Lesart des Neuen Testaments (NT) berief, zugleich aber war er in Teilen seiner Publizistik der Jahre 1933 bis 1945 auch ein völkisch-antisemitisch argumentierender Zeitgenosse. Wie immer man in heutiger Wissenschaft (christlich-theologischen) Anti­ juda­ismus und (völkischen oder rassischen) Antisemitismus definieren und von­einander abgrenzen mag5 – es war Gerhard Kittel selbst, der in seiner einflussreichen Schrift »Die Judenfrage« (Juni 1933) explizit vom »Sinn unseres antisemitischen Kampfes« sprach. Der gläubige Christ bekannte sich damit selbst als Antisemit. Auch der Christ, so meinte er im Jahr der Machtübernahme Hitlers, müsse seinen Platz in der Front dieses Kampfes haben. Das NT deutete Kittel als das »antijüdischste Buch der ganzen Welt«.6 Wenngleich der Tübinger Theologe einen biologischen Rassebegriff eher sparsam und implizit ­verwendete, so

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Vgl. Gerhard Kittel, Meine Verteidigung, unveröff. Manuskript 1946, S. 3 (Universitätsarchiv Tübingen, Signatur 162/31). Es habe sich dabei, schreibt Kittel, um eine mehrfache öffentliche Äußerung des Schweizer Theologen gehandelt; vgl. auch Emil Brunner, Die Bedeutung des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament für die Theologie; Beilage zu Band 4 des ThWNT, ausgegeben im August 1940. Wieder abgedruckt in: ders., Ein offenes Wort. Vorträge und Aufsätze 1935–1962, Band 2, Zürich 1981, S. 62–64, hier 62 (mit Dank an Horst Junginger für diesen Hinweis!). Zu den Relationen zwischen beiden Positionen vgl. Christhard Hoffmann, Christlicher Anti­ judaismus und moderner Antisemitismus. Zusammenhänge und Differenzen als Problem der historischen Antisemitismusforschung. In: Leonore Siegele-Wenschkewitz (Hg.), Antijudaismus und Antisemitismus: theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen, Frankfurt a. M. 1994, S. 293–317; zur religiös begründeten Judenfeindschaft von Christen vgl. auch Rainer Kampling, Artikel »Antijudaismus«. In: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin 2010, S. 10–13. Zur Antijudaismus/Antisemitismus-Problematik vgl. auch den Beitrag von Martin Leutzsch in diesem Band. Gerhard Kittel, Die Judenfrage, Stuttgart 1933; Zitate S. 40, 56. Zu dieser Schrift vgl. auch Manfred Gailus, Artikel »Die Judenfrage (Gerhard Kittel, 1933)«. In: Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Band 6: Publikationen, Berlin 2013, S. 339–341.

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­ eklagte er in seiner »Judenfrage« und in seinen nachfolgenden Schriften wiederb holt eine unheilvolle »Blut- und Rassenmischung« in Deutschland und sah darin ein »Gift«, das die »Zersetzung« des deutschen Volkes seit der Judenemanzipation des 18. Jahrhunderts bewirkt habe und durch eine harte völkische Politik wieder korrigiert werden müsse. Durch die Taufe, so betonte der Theologe im Jahr 1933, werde ein übertrittswilliger Jude nicht »Deutscher«, sondern bleibe ein »Judenchrist«, letztlich verwandle die Taufe sein »Judesein« nicht. Konvertierte Juden sollten sich in Deutschland zukünftig in einer separaten judenchristlichen Kirche organisieren.7 Kittel votierte darüber hinaus aus völkischen Motiven für ein Verbot christlich-jüdischer Mischehen. Mit dieser Sichtweise konnte er die Nürnberger Rassengesetze vom September 1935 begrüßen.8 Wiederholt grenzte er sich implizit vom »vulgären Antisemitismus« (ein kritischer Begriff, den er explizit erst seit Kriegsende 1945 benutzte!) führender nationalsozialistischer Ideologen ab und trat seit 1933 in zahlreichen Publikationen für einen seiner Ansicht nach »besseren«, einen mehr wissenschaftlich fundierten und zugleich christlich inspirierten Antisemitismus ein.9 Es war nicht ein besonderes Erinnerungsdatum biografischer Art bei Kittel, das den Anlass für die Dresdener Tagung gab. Soweit ersichtlich, ist kaum jemals zu Nachkriegszeiten anlässlich eines runden Geburtstags oder Todestags des einst renommierten Tübinger Theologen gedacht worden.10 Seit vielen Jahren, um nicht zu sagen seit Jahrzehnten, war eine wissenschaftliche Tagung zum weithin beschwiegenen »Fall Kittel« überfällig. Sie ist niemals gekommen. Und auch im Jahr 2017 kam der Anstoß nicht aus Kittels Fach selbst, also aus der evangelischen Theologie, die doch das Thema eigentlich am meisten anginge. Eine Tagung zum offenbar heiklen »Fall Kittel«, die für viele ähnlich gelagerte »Fälle« stehen kann, hätte bereits in die wissenschaftliche Konjunktur der 1980er-Jahre gehört und der angemessene Ort wäre wohl eher Tübingen und nicht Dresden gewesen. Aber offensichtlich war das Thema sehr lange Zeit ein Tabu, und teilweise scheint es das noch heute zu sein.11     7    8    9 10

Vgl. in diesem Sinne Kittel, Die Judenfrage, zur Taufe S. 69 ff. Zur Mischehe ebd., S. 21 ff., 57 ff. Vgl. den Beitrag von Horst Junginger in diesem Band und die Kittel-Bibliografie im Anhang. Eine Ausnahme ist vermutlich Otto Michel, Das wissenschaftliche Vermächtnis Gerhard Kittels. Zur 70. Wiederkehr seines Geburtstages. In: Deutsches Pfarrerblatt, 58 (1958), S. 415–417. 11 Eine gewisse Tabuisierung ist einigen Lexikonartikeln der jüngeren Zeit noch deutlich anzumerken, wenn Kittels offenkundiger Antisemitismus, zu dem er sich selbst seit 1933 bekannte, in Abrede gestellt oder das heikle Thema ganz ausgespart wird. Vgl. etwa Gerhard Friedrich/ Johannes Friedrich, Artikel »Kittel, Gerhard (1888–1948)«. In: Theologische Realenzyklopädie, Band 19, Berlin 1990, S. 221–225; Christof Dahm, Artikel »Kittel, Gerhard«. In: Biographisch-­ Bibliographisches Kirchenlexikon, Band 3, Herzberg 1992, S. 1544–1546; Alf Christophersen, Artikel »Kittel, Gerhard«. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 4. Auflage, Band 4, Tübingen 2001, Sp. 1387.

Einführung

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Der württembergische Landesbischof Theophil Wurm, der in den Jahren der NS-Diktatur häufig kirchlich und persönlich mit Kittel zu tun hatte und nach Kriegsende mit Kittels bevorstehender Entnazifizierung konfrontiert war, betonte in seinen »Erinnerungen« (1953) apodiktisch: Gerhard Kittel sei nach Kriegsende »schweres Unrecht« geschehen. »Er war kein Nazi, er gehörte nur zu denen, die alles daran setzten, bei der Partei Verständnis für die Anliegen der Kirche zu wecken. Wenn er seine ausgezeichneten Arbeiten über das Judentum in der Zeit Christi und im Römischen Reich in einer Zeitschrift veröffentlichte, die unter dem Protektorat von Rosenberg stand, so war auch dies ohne Zweifel aus dem Bestreben hervorgegangen, die Fäden dort hinüber nicht abreißen zu lassen.«12 Carlo Schmid, ein prominenter Sozialdemokrat der Nachkriegszeit, der im französisch besetzten Gebiet Südwürttembergs zeitweilig die Aufgaben eines Kultusministers innehatte und mit den Tübinger Verhältnissen und dem »Fall Kittel« vertraut war, erwähnt den umstrittenen Theologen in seinen ansonsten ausschweifenden Memoiren nicht.13 Noch in den 1970er-Jahren tat sich der renommierte Tübinger Kirchenhistoriker Klaus Scholder auffallend schwer mit dem beschwiegenen Thema. Im Vorwort seines großen, bahnbrechenden Werks »Die Kirchen und das Dritte Reich« (1977) betonte er ausdrücklich, es solle in diesem Buch auf keinen Fall etwas beschönigt werden. Möge die Wahrheit auch schmerzlich sein, erklärte Scholder, schmerzlicher noch sei die Unwahrheit. Aber auch Schweigen, so sei hinzugefügt, kann zur »Unwahrheit« gehören. In seinem 900-Seiten-Werk wird Kittel – ein Theologe, der im Jahr 1933 nicht nur publizistisch besonders hervortrat, sondern auch kirchenpolitisch als Mitglied der Deutschen Christen (DC) eine Rolle spielte – nur einmal in marginalen Kontexten in den Anmerkungen erwähnt.14 Es war hierzulande die junge Kirchenhistorikerin Leonore Siegele-Wenschkewitz, seinerzeit Assistentin bei Scholder in Tübingen, die zuerst das tabuisierte Thema aufgriff und durch mehrere einschlägige Publikationen zum »Fall Kittel« und zur Performance ähnlich problematischer Theologen der NS-Zeit hervortrat. Anlässlich der Feiern zum 500-jährigen Tübinger Universitätsjubiläum im Sommer 1977 referierte sie im Rahmen einer Vortragsreihe des Fachbereichs

12 Theophil Wurm, Erinnerungen aus meinem Leben, Stuttgart 1953, S. 150 f. Gemeint sind die »Forschungen zur Judenfrage«, die von der »Abteilung Judenfrage« in dem von Walter Frank geleiteten Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands herausgegeben wurden. Dieses Unternehmen stand nicht unter dem Protektorat von Alfred Rosenberg. 13 Vgl. Carlo Schmid, Erinnerungen, Bern 1979. 14 Vgl. Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934, Frankfurt a. M. 1977; die Erwähnung Kittels (S. 858, Anm. 52) erfolgt im Zusammenhang mit dem Rückzug von drei Tübinger Theologen aus der Glaubensbewegung Deutsche Christen im November 1933, dem sich am 25.11. auch Kittel anschloss.

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Evangelische Theologie über »Gerhard Kittel und die Judenfrage«.15 Als vorläufige Zwischenbilanz ihrer Forschungen erschien 1980 ihre Monografie »Neutesta­ mentliche Wissenschaft vor der Judenfrage«, die Kittels Biografie insgesamt sowie seine Theologie im Wandel deutscher Geschichte kritisch untersuchte.16 Diese Pionierarbeiten, die im kirchlich-theologischen Establishment der damaligen Zeit noch weithin als anstößig galten, erforderten viel Mut und konnten mit einer erheblichen Minderung zukünftiger Berufschancen behaftet sein. Für Siegele-­Wenschkewitz und ihre akademische Karriere an deutschen theologischen Fakultäten sollte sich dieses Engagement als nicht förderlich erweisen.17 Etwa zur gleichen Zeit begann der junge US-amerikanische Historiker Robert P. Ericksen seine Forschungen über »Hitlers Theologen« – neben Kittel untersuchte er Biografie und Werk von Emanuel Hirsch (Göttingen) und Paul Althaus (Erlangen) im »Dritten Reich«. Ericksen kommt aus einer Familie lutherischer Pastoren norwegischer Herkunft, wuchs in den USA auf und begann im Herbst 1971 ein Promotionsvorhaben über protestantische Universitätstheologen im »Dritten Reich« an der London School of Economics bei James Joll. Seit den späteren 1970er-Jahren legte er mehrere Publikationen zu diesem Thema vor. Seine resümierende Monografie »Theologians under Hitler« erschien im Jahr 1985 in den USA, ein Jahr später auch die deutsche Übersetzung im Münchener Hanser

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Der Vortrag ist gedruckt unter dem Titel: Leonore Siegele-Wenschkewitz, Die Evangelisch-theologische Fakultät Tübingen in den Anfangsjahren des Dritten Reichs. II. Gerhard Kittel und die Judenfrage. In: Eberhard Jüngel (Hg.), Tübinger Theologie im 20. Jahrhundert (Zeitschrift für Theologie und Kirche, Beiheft 4), Tübingen 1978, S. 53–80. 16 Vgl. Leonore Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage. Gerhard Kittels theologische Arbeit im Wandel deutscher Geschichte, München 1980; ferner dies., Die Evangelisch-theologische Fakultät Tübingen in den Anfangsjahren des Dritten Reichs. I. Karl Fezer und die Deutschen Christen. In: Tübinger Theologie im 20. Jahrhundert, S. 34–52; dies., Mitverantwortung und Schuld der Christen am Holocaust (zum Beispiel: Gerhard Kittel und das Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Walter Grundmann und das Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben). In: Evangelische Theologie, 42 (1982), S. 171–190; dies., »Meine Verteidigung« von Gerhard Kittel und eine Denkschrift von Walter Grundmann. In: Hermann Düringer/Karin Weintz (Hg.), Leonore Siegele-Wenschkewitz. Persönlichkeit und Wirksamkeit, Frankfurt a. M. 2000, S. 135–170. 17 Vgl. zu den Details Ulrich Siegele, Lebenslauf. In: Düringer/Weintz (Hg.), Leonore Siegele-­ Wenschkewitz, S. 247–297. Demnach sei ihr in Tübingen das Habilitationsprojekt einer Geschichte der Tübinger Theologie im 20. Jahrhundert »schlicht versagt« worden (S. 254). Siegele-Wenschkewitz wurde 1990 an der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität kumulativ mit ihren Studien zur protestantischen Universitätstheologie und zur feministischen Theologie habilitiert. Ihre zehn Bewerbungen auf eine Professur an theologischen Fakultäten während der 1990er-Jahre blieben erfolglos (S. 262). Seit 1983 wirkte sie als Studienleiterin an der Evangelischen Akademie Arnoldshain, wo sie 1996 zur Direktorin gewählt wurde. Sie verstarb am 17.12.1999 nach schwerer Krankheit im Alter von 55 Jahren.

Einführung

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Verlag.18 Die Reaktionen der deutschen Universitätstheologen auf diese historisch-kritisch aufklärende Studie fielen sehr zurückhaltend aus.19 Dankenswerter Weise hat Ericksen für unsere Dresdener Tagung seine damaligen Forschungs­ erfahrungen an deutschen Universitäten, seine persönlichen Begegnungen und den kritischen Austausch mit Siegele-Wenschkewitz geschildert.20 Kittels umfangreiches publizistisches Werk, das sich von 1909 bis 1944 über dreieinhalb Jahrzehnte erstreckt, ist ungewöhnlich vielschichtig und facettenreich: Es gab einerseits den genuin theologischen und religionsgeschichtlichen Forscher mit wissenschaftlichen Beiträgen zum frühen Christentum und antiken Judentum, die international Beachtung und Wertschätzung erfuhren; es gab daneben den frommen Kirchenmann und ordinierten evangelischen Geistlichen, der seinen Christenglaube von der Kirchenkanzel verkündete, beispielsweise in vaterländischen Predigten in der Cuxhavener Marinegarnisonkirche während der Zeit des Ersten Weltkriegs; es gab darüber hinaus den christlich-konservativen Publizisten vor 1933 mit aktuellen Statements zu allgemeinen Fragen von Religion, Kirche und Politik.21 Und es gab schließlich den in wachsendem Maße völkisch-politisch beeinflussten Theologen und »Judenforscher«, der – spürbar bewegt vom eigenen protestantischen »Erlebnis 1933« – sich als Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) in die Kollaboration mit NSDAP-Parteistellen und staatlichen Organen während des NS-Regimes begab.22 18 Vgl. Robert P. Ericksen, Theologians under Hitler: Gerhard Kittel, Paul Althaus and Emanuel Hirsch, New Haven 1985. Die deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel: Theologen unter Hitler. Das Bündnis von evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München 1986. Darüber hinaus erschien das Werk in niederländischer und japanischer Sprache. Weitere einschlägige Publikationen sind: ders., Theologian in the Third Reich: The Case of Gerhard Kittel. In: Journal of Contemporary History, 12 (1977), S. 595–622; ders., Zur Auseinandersetzung mit und um Gerhard Kittels Antisemitismus. In: Evangelische Theologie, 43 (1983), S. 250–270; ders., Complicity in the Holocaust: Churches and Universities in Nazi Germany, Cambridge 2012, bes. S. 25–37. 19 Eine positive Besprechung des Historikers Klaus Göbel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Nr. 127 vom 5.6.1986, S. 11) war eher die Ausnahme; ferner erschien eine teils zustimmende, teils leicht kritische Rezension des DDR-Kirchenhistorikers Kurt Meier in: Theologische Literatur-Zeitung, 112 (1987) Nr. 12, Sp. 909–911. Die theologischen und kirchenhistorischen Fachzeitschriften schwiegen weitgehend. Im Mai 1987 erhielt Ericksen eine Einladung von der theologischen Fakultät der Universität Göttingen zu einem Vortrag über Emanuel Hirsch. Im selben Jahr wurde Ericksen in den Beirat der soeben begründeten Zeitschrift »Kirchliche Zeitgeschichte« berufen. Im Jahr 1988 konnte er, eher durch Zufall, als kritischer Außenseiter an einer Tagung des Göttinger »Hirsch-Kreises« zum 100. Geburtstag von Emanuel Hirsch teilnehmen. In der Diskussion sowie bei persönlichen Gesprächen, die sich bei dieser Gelegenheit ergaben, bestand ein Sohn des Göttinger Theologen wider alle historische Faktizität darauf, dass sein Vater kein Nationalsozialist gewesen sei. 20 Vgl. den Beitrag von Robert P. Ericksen in diesem Band. 21 Vgl. den Beitrag von Gerhard Lindemann in diesem Band. 22 Vgl. den Beitrag von Clemens Vollnhals; ferner die Zusammenstellung der wichtigsten Publikationen und Schriften Kittels im Anhang dieses Bandes.

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Als eigentliches Zentrum seines publizistischen Lebenswerks muss, bei aller sonstigen Werkvielfalt Kittels, das unter seiner Ägide entstandene ThWNT gelten, dessen erste vier Bände von 1933 bis 1942 unter seiner maßgeblichen Organisation, Herausgeberschaft und Autorschaft erschienen.23 Es handelte sich um ein wissenschaftliches Langzeitprojekt, das erst lange nach Kittels Ableben (1948) unter Leitung des ihm in der Herausgeberschaft nachfolgenden Erlanger Theologen Gerhard Friedrich24 im Jahr 1979 mit dem zehnten Band zum Abschluss gelangte.25 Generationen von Theologiestudenten (und bald nach Kriegsende auch Theologiestudentinnen), so ist bis heute immer wieder zu hören, haben mit diesem Standardwerk gearbeitet. Durch mehrere Übersetzungen, so unter anderem ins Englische, Italienische und auszugsweise ins Japanische, hat das Werk auch international hohe Anerkennung erfahren.26 Aus naheliegenden Gründen steht mit Rücksicht auf Kittels problematische Schriften und andere Formen seiner Kollaboration im »Dritten Reich« die Frage im Raum, ob das Wörterbuch davon kontaminiert ist und inwieweit sich Kittels dezidierter christlicher Antijudaismus und sein in zeitgleichen Publikationen geäußerter expliziter Antisemitismus in den Beiträgen dieses gelehrten Werks niedergeschlagen haben. Die Frage ist umstritten und wird seit zwei bis drei Jahrzehnten international kontrovers diskutiert.27 Die anhaltend hohe wissenschaftliche Wertschätzung des ThWNT kommt

23 Details hierzu in den Beiträgen von Martin Leutzsch und von Lukas Bormann sowie in der Kittel-Bibliografie im Anhang. 24 Gerhard Friedrich (1908–1986) studierte Theologie von 1928 bis 1932 in Königsberg, Marburg und Tübingen; von 1933 bis1935 war er Assistent bei Kittel in Tübingen; 1935–1936 wirkte er als Pfarrer und Studieninspektor am Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Blöstau (Ostpreußen); 1939/40 erfolgte die Promotion bei Kittel in Tübingen mit einer Arbeit über κῆρυξ (»der Prediger«), die zugleich als Artikel in Band 3 des ThWNT erschien. Nach Kriegseinsatz und englischer Kriegsgefangenschaft erhielt Friedrich 1947 einen Ruf an die Theologische Schule Bethel bei Bielefeld. Im Frühjahr 1948 beauftragte ihn der schwer erkrankte Kittel noch persönlich, die Fortführung des Lexikons zu übernehmen. Im Jahr 1953 nahm Friedrich eine a. o. Professur in Kiel wahr, bevor er 1954 einen Ruf nach Erlangen erhielt. Von 1968 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1976 lehrte er noch einmal an der Universität Kiel. 25 Zur wechselvollen Geschichte dieses wissenschaftlichen Großunternehmens, das seine Anfänge noch in der Weimarer Republik nahm, zur Hälfte während des »Dritten Reiches« erschien und erst Ende der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland zum Abschluss kam, vgl. den Beitrag von Martin Leutzsch in diesem Band und die Einführung für den Neudruck des ThWNT: Lukas Bormann, Das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament im 21. Jahrhundert. Überlegungen zu seiner Geschichte und heutigen Benutzung. In: Gerhard Kittel/Gerhard Friedrich (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 10 Bände, Darmstadt 2019, Band 1, S. V–XXII. 26 Zur internationalen Rezeption und zu den Übersetzungen vgl. den Beitrag von Martin Leutzsch in diesem Band und Bormann, Das Theologische Wörterbuch. 27 Vgl. ausführlich den Beitrag von Martin Leutzsch in diesem Band.

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nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass in diesem Jahr (2019) ein kompletter Neudruck erscheinen wird.28 Unter den Universitätstheologen der NS-Zeit war Gerhard Kittel mit seinen theologie- und kirchengeschichtlichen Anverwandlungen an den völkischen Zeitgeist und seinen wissenschaftspolitischen Kollaborationen mit den Machthabern keine seltene Ausnahme. Es fehlte im Protestantismus der Jahre 1933 bis 1945 auf allen Ebenen nicht an »Tätern und Komplizen in Theologie und Kirchen«. Was die akademische Theologie an den Universitäten betrifft, so gilt das sowohl für die Systematische als auch die Praktische Theologie, für die Kirchengeschichte und verwandte Teildisziplinen. Zahlreiche Publikationen der jüngsten zwei bis drei Jahrzehnte haben diesen Sachverhalt nachgewiesen.29 Allerdings gehörte Kittel weder im Maß seiner theologischen Anpassungen, seiner kirchenpolitischen Partizipationen noch im Blick auf seine praktische Mitarbeit bei nationalsozialistischen Einrichtungen von Partei und Staat zu den radikalsten braunen Theologen des »Dritten Reiches«. Im Unterschied zu prominenten Führungsmännern der DC votierte er für die Beibehaltung des Alten Testaments als Bestandteil des biblischen Kanons. Theologische Spekulationen über einen »nichtarischen« Jesus wies er als wissenschaftlich unhaltbar zurück. Auch lehnte er die christliche Judenmission nicht, wie die meisten DC, generell ab.30 Emanuel Hirsch, Kirchenhistoriker und seit 1936 für Systematische Theologe an der Universität Göttingen zuständig,31 der Kirchenhistoriker und parteipolitisch ausgerichtete NS-Strippenzieher Erich Seeberg an der Friedrich-Wilhelms-Universität

28 Der Neudruck in 10 Bänden bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt ist für Sommer 2019 angekündigt. 29 Zu dieser lange Zeit verdrängten Aufarbeitung vgl. Carsten Nicolaisen/Leonore Siegele-­ Wenschkewitz (Hg.), Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus, Göttingen 1993; Kurt Meier, Die Theologischen Fakultäten im Dritten Reich, Berlin 1996; Thomas Kaufmann/Harry ­Oelke (Hg.), Evangelische Kirchenhistoriker im »Dritten Reich«, Gütersloh 2002; Manfred Gailus (Hg.), Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933–1945, Göttingen 2015; ders./ Clemens Vollnhals (Hg.), Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im »Dritten Reich«, Göttingen 2016; Friedrich Wilhelm Graf, Protestantische Universitätstheologie in der »deutschen Revolution«. In: ders./Hans Günter Hockerts (Hg.), Distanz und Nähe zugleich? Die christlichen Kirchen im »Dritten Reich«, München 2017, S. 119–164. 30 Zu den zeitgenössischen völkischen Theologieentwürfen der DC vgl. als Beispiele unter vielen anderen: Friedrich Wieneke, Deutsche Theologie im Umriss, Soldin 1933; Walter Grundmann, Totale Kirche im totalen Staat, Dresden 1934; Julius Leutheuser, Die Christengemeinde der Deutschen. Der Weg zur deutschen Nationalkirche, Weimar 1934; Siegfried Leffler, Christus im Dritten Reich der Deutschen. Wesen, Weg und Ziel der Kirchenbewegung »Deutsche Christen«, Weimar 1937. 31 Zu Emanuel Hirsch vgl. Heinrich Assel, Emanuel Hirsch. Völkisch-politischer Theologe der Luther-Renaissance. In: Gailus/Vollnhals (Hg.), Für ein artgemäßes Christentum der Tat, S. 43–67.

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zu Berlin32 oder der Kittel-Schüler Walter Grundmann, seit 1938 Professor für Neues Testament und Völkische Theologie in Jena33 – sie alle und einige weitere Hochschullehrer überboten Kittel an theologiepolitischer Konsequenz und Intensität ihrer praktisch-politischen Zuarbeiten für das NS-Regime. Gerhard Kittel verstarb am 11. Juli 1948 im Alter von 59 Jahren. Sein Tübinger Spruchkammerverfahren war zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen. Vergleicht man seine damalige Situation mit denjenigen anderer Protagonisten aus den vorderen Reihen von »Judenforschern« der NS-Zeit, so standen seine Chancen auf weitgehende Rehabilitation nicht schlecht.34 Auf seine Tübinger Hochschulprofessur, so erklärte er selbst bald nach Kriegsende, wolle er verzichten, zugleich stellte er allerdings Ansprüche auf ein angemessenes Ruhegehalt. Mit ersten Vorarbeiten zur Fortsetzung des ThWNT hatte er bereits 1947/48 begonnen. Seine überraschend im April 1948 aufbrechende schwere Erkrankung und sein frühzeitiger Tod im Juli 1948 beendeten indessen eine in Jahrzehnten gewachsene, wechselvolle Wissenschaftlerkarriere abrupt. Es war eine Karriere, die sich vom späten Kaiserreich über die Weimarer Republik und die NS-Zeit bis in die ersten Nachkriegsjahre erstreckte. Seine einstigen Schüler Walter Grundmann und Karl Georg Kuhn beispielsweise, die ihn an völkisch-antisemitischer Haltung und positiver Zuarbeit für das NS-Regime überboten hatten, gelangten während der Nachkriegszeit erneut auf ansehnliche Positionen und zu öffentlicher Anerkennung. Grundmann betätigte sich als theologischer Publizist und seit 1954 als Rektor des Katechetischen Seminars (­Eisenach) der Landeskirche Thüringens im Osten Deutschlands.35 Kuhn reüssierte ab 1955 als Ordinarius

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Zu Erich Seeberg vgl. Thomas Kaufmann, »Anpassung« als historiographisches Konzept und als theologiepolitisches Programm. Der Kirchenhistoriker Erich Seeberg in der Zeit der Weimarer Republik und des »Dritten Reiches«. In: ders./Oelke (Hg.), Evangelische Kirchenhistoriker, S. 122–272; ders., Der Berliner Kirchenhistoriker Erich Seeberg als nationalsozialistischer Theologiepolitiker. In: Gailus (Hg.), Täter und Komplizen, S. 216–243. 33 Zu Walter Grundmann als Kittel-Schüler und zu den Verbindungen wie auch den Differenzen zwischen dem von Grundmann mit antisemitischer Zielrichtung geleiteten Eisenacher »Entjudungsinstitut« und Kittels Projekt des ThWNT vgl. den Beitrag von Oliver Arnhold in diesem Band. Ferner auch Roland Deines/Volker Leppin/Karl-Wilhelm Niebuhr (Hg.), Walter Grundmann. Ein Neutestamentler im Dritten Reich, Leipzig 2007; Susannah Heschel, The Aryan Jesus. Christian Theologians and the Bible in Nazi Germany, Princeton 2008; Oliver Arnhold, »Entjudung« – Kirche im Abgrund. Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928–1939 und das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« 1939–1945, 2 Bände, Berlin 2010. 34 Vgl. den Beitrag von Manfred Gailus in diesem Band. Angekündigt ist für August 2019 eine kommentierte Edition von Kittels umfangreicher Rechtfertigungsschrift von 1946: Matthias Morgenstern/Alon Segev, Gerhard Kittels »Verteidigung«. Die Rechtfertigungsschrift eines Tübinger Theologen und »Judenforschers« vom Dezember 1946, Berlin 2019. Das Buch erscheint zweisprachig auf Deutsch und Englisch.

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für Neues Testament und zeitgenössisches Judentum in Heidelberg. Zeitgemäß konzentrierte er sich nun auf neue Themen und forschte über die 1947 am Toten Meer entdeckten Schriftrollen von Qumram.36 Gerhard Kittels Weg durch die unterschiedlichen politischen Systeme und in wechselnden wissenschaftspolitischen Konjunkturen abschließend zu bewerten, fällt nicht leicht. Dazu war er zu vielseitig und facettenreich und zudem mit einem ausgeprägten Farbwechselvermögen ausgestattet: Da war der jüngere Kittel mit teils philosemitischen Anklängen in den späteren 1920er-Jahren; sodann der vom »nationalen Aufbruch« ergriffene Kittel mit betont national-völkischer Gesinnung und explizit antisemitischen Bekenntnissen seit der Zäsur von 1933; zugleich gab es den kraft seiner langfristig erworbenen, unbestrittenen wissenschaftlichen Expertenstellung von den Mächtigen umworbenen und kaum angreifbaren Wissenschaftler; schließlich den infolge politischer Kollaborationen in Machtpositionen gelangten Hochschullehrer, mit einem wissenschaftspolitischen Wirkungszenit in den späteren 1930er- und frühen 1940er-Jahren; zuletzt erfolgte mit Ende des NS-Regimes der eklatante Absturz eines bis dahin hoch angesehenen Mannes mit Verlust der Professur, mit entehrender Gefängnishaft und anschließender Lagerhaft. Viele Zeitgenossen wie Theophil Wurm, der württembergische Landesbischof und erste Vorsitzende des 1945 neu gegründeten Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), meinten damals, Kittel sei schweres Unrecht angetan worden. Andere sprachen ihn (und sprechen ihn teils noch bis heute) mit Blick auf seine Biografie von angeblich ungerechtfertigten Antisemitismusbeschuldi­ gungen frei. Wieder andere sprechen mit Blick auf seine Biografie auch von »Tragik«. Der US-Historiker Alan E. Steinweis meint beispielsweise in seiner Studie über »Judenforschung« im Nationalsozialismus: Wenn es eine tragische Figur unter den nationalsozialistischen »Judenforschern« gegeben habe, dann sei dies Gerhard Kittel.37 Tragik mag wohl mit im Spiel gewesen sein. Allerdings setzt Tragik ein übermächtiges Walten des Schicksals voraus, auf das der ihm 35 Zu Grundmanns Nachkriegskarriere vgl. Heschel, Aryan Jesus, S. 256–266; Arnhold, »Entjudung«, Band 2, S. 755–759; Lukas Bormann, Walter Grundmann und das Ministerium für Staatssicherheit. Chronik einer Zusammenarbeit aus Überzeugung (1956–1969). In: Kirchliche Zeitgeschichte, 22 (2009) 2, S. 595–632. 36 Zu Kuhns erfolgreicher Hochschullaufbahn vgl. Gert Jeremias/Heinz-Wolfgang Kuhn/Hartmut Stegemann (Hg.), Tradition und Glaube. Das frühe Christentum in seiner Umwelt. Festgabe für Karl Georg Kuhn zum 65. Geburtstag, Göttingen 1971; kritisch: Dirk Rupnow, Judenforschung im Dritten Reich. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, Baden-Baden 2011, S. 371 ff. 37 Vgl. Alan Steinweis, Studying the Jew. Scholarly Antisemitism in Nazi Germany, Cambridge (Mass.) 2006, S. 66. Auch Christof Dahm konstatiert in einem Lexikonartikel: »An Person und Werk K.s haftet die Tragik des Missbrauchs in dunkler Zeit« (Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band 3, Herzberg 1992, S. 1544–1546).

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­ nterworfene keinen Einfluss ausüben kann. Kittel aber hatte während der NSU Zeit durchaus persönliche Handlungsspielräume und Entscheidungsfreiheiten. Er musste sich nicht an antisemitischen Propagandaausstellungen beteiligen. Er musste nicht 1938 als »Ehrengast« an einem NSDAP-Parteitag teilnehmen. Oder in ihren Wirkungen verheerende »Gutachten« für Zwecke nationalsozialistischer Rassenpolitik verfassen. Er handelte in diesem Sinn aus Überzeugung, weil er in seiner christlich-nationalprotestantischen Welt befangen war und als nationalsozialistischer Christ von der Richtigkeit, ja Unentbehrlichkeit seiner schriftlichen Statements und anderen Zuarbeiten überzeugt war. Christlicher Glaube (und das heißt im konkreten Fall Kittel: seine religiöse Interpretation des Neuen Testaments als das »antijüdischste Buch« der Weltgeschichte) und seine biografisch langfristig angelegte national-völkische Gesinnung mischten sich zu einer geistigen Gemengelage, die sich für ihn im Kontext der »deutschen Katastrophe« des 20. Jahrhunderts als persönlich verhängnisvoll erwies.

*** Der vorliegende Band geht auf einen von den Herausgebern organisierten Workshop zurück, der am 10. und 11. November 2017 am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. in Dresden stattfand. Neu hinzugekommen ist der Beitrag von Lukas Bormann, der die akademischen Auslandsbeziehungen Kittels darstellt. Horst Junginger hat neben seinem ursprünglichen Referat zudem die im Anhang enthaltene Vita verfasst und die Bibliografie zusammengestellt. Für die Mithilfe bei der Fertigstellung des druckreifen Manuskripts danken wir Sebastian Rab, der Korrektur gelesen und die Register angefertigt hat. Claudia Naumann und Laurenz Leipner haben diverse Nachrecherchen zur Bibliografie Kittels durchgeführt. Für den Satz waren im Hannah-Arendt-Institut Ute Terletzki und Kristin Luthardt zuständig, die sich umsichtig um alle Angelegenheiten kümmerten. Zu danken haben wir nicht zuletzt allen Autoren für ihr Engagement und ihre Geduld.



Robert P. Ericksen* Schweigen und Sprechen über den »Fall Kittel« nach 1945

Ich kam im Herbst 1971 im Alter von 26 Jahren nach London, um an einem Doktorandenprogramm der London School of Economics teilzunehmen. Zuvor hatte ich meinen Masterabschluss in deutscher Geistesgeschichte an der State University New York in Stony Brook gemacht und drei Jahre moderne europäische Geschichte an zwei kleinen Liberal Arts Colleges in den Vereinigten Staaten unterrichtet. Mein Doktorvater, Professor James Joll (1918–1994), war kurz vorher von Oxford an die London School of Economics gewechselt und hatte meinen Antrag, zu Professoren der protestantischen Theologie in Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus (NS) zu arbeiten, angenommen. Als ich diesen Antrag ausarbeitete, erwartete ich, Kritiker Adolf Hitlers und der nationalsozialistischen Ideologie zu finden, sei es offene Kritiker, die ihr Leben und ihre Karriere riskierten, oder aber heimliche Kritiker. Ich nahm an, dass Deutsche, deren akademische Fähigkeiten ihnen den Zugang zu einer Professur ermöglicht hatten, genug intellektuelle Gründe gehabt hätten, um Hitlers Ideen zu kritisieren. Ich nahm ebenfalls an, dass Professoren der Theologie sowohl geistliche wie moralische Einwände gegenüber Hitler gehabt haben müssten. Ich kam zu diesem Projekt durch einige Kenntnisse über Dietrich Bonhoeffer (1906–1945), eine heldenhafte Figur, die ich als Jugendlicher in den frühen 1960er-Jahren entdeckt hatte.1 Auch mein lebenslanger Umgang mit lutherischen Pastoren norwegischer Herkunft führte mich zu diesem Projekt. Zu ihnen gehörten mein Vater und seine zwei jüngeren Brüder, Söhne eines norwegischen

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Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Bialas. In den frühen 1960er-Jahren las ich Bonhoeffers »Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft« und »Nachfolge«. In den 1980er-Jahren, als ich Bonhoeffers Freund, angeheirateten Verwandten und Biografen Eberhard Bethge kennenlernte, erfuhr ich, dass ich Teil eines allgemeineren Phänomens war. Bethge erzählte mir, wie angetan er von seinen Reisen in die USA in jenen frühen Jahren gewesen war. Amerikaner würdigten Bonhoeffers Heroismus ausgiebig zu einer Zeit, als das für Deutsche noch schwierig und umstritten war.

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Einwandererpaares in Süd-Chicago, die alle Pastoren in der heutigen ELCA (Evangelisch-Lutherische Kirche Amerikas) wurden, der sie alle mehr als ein halbes Jahrhundert dienten. Der jüngere Bruder meiner norwegischen Großmutter wanderte ebenfalls in die Vereinigten Staaten aus und wurde lutherischer Pastor. Und schließlich wurden zwei meiner vier Brüder lutherische Pastoren. So wuchs ich umgeben von lutherischen Pastoren und ihren Gesprächen auf. Während vieler Jahre nahm ich die theologische Sprache und die Grundsätze des christlichen Glaubens auf. Dies führte mich zu der im Rückblick naiven Annahme, dass christliche Werte jede Unterstützung der NS-Politik ausschließen würden. Als angehender Akademiker nahm ich genauso naiv an, dass streng akademisches Denken jede Gefolgschaft für nationalsozialistische Ideen ausschließen sollte. Dann lernte ich Gerhard Kittel (1888–1948), Paul Althaus (1888–1966) und Emanuel Hirsch (1888–1972) kennen.2

Meine Studie über Kittel von 1975 (veröffentlicht 1977) Während des ersten Jahres in London versuchte ich unter Anleitung von James Joll zu entscheiden, wen ich in meine Forschung über deutsche Theologieprofessoren aufnehmen sollte. Unter anderem besuchte George Mosse (1918–1999) unser Seminar. Sein Werk war, zusammen mit dem von Fritz Stern (1926–2016), wichtig gewesen bei meinen ersten Ausflügen in die deutsche Geistesgeschichte, einschließlich des Nationalismus und der kulturellen Ängste während der späten Wilhelminischen Ära.3 Joll brachte mich ebenfalls in Kontakt mit seinem Freund Fritz Fischer (1908–1999), der sich mit Kirchengeschichte beschäftigt hatte, bevor er zu jenem Thema wechselte, für das er so berühmt wie umstritten wurde: der »Fischer-These« über die Ursprünge des Ersten Weltkrieges. Ich besuchte ihn während meiner ersten Reise nach Deutschland. Schließlich brachte mich Joll in Kontakt mit Jonathan Wright (geb. 1941) in Oxford, der seine Dissertation abgeschlossen hatte und dabei war, ein Buch über die politischen Ansichten protestantischer Kirchenführer während der Weimarer Zeit zu veröffentlichen.4 Auf der Grundlage dieser Gespräche und meiner eigenen Lektüre wählte ich Gerhard Kittel in Tübingen, Paul Althaus in Erlangen und Emanuel Hirsch in Göttingen 2 3 4

Vgl. Robert P. Ericksen, Theologians under Hitler: Gerhard Kittel, Paul Althaus and Emanuel Hirsch, New Haven 1985; deutsche Übersetzung: München 1986. Vgl. u. a. George Mosse, The Crisis of German Ideology: Intellectual Origins of the Third Reich, New York 1964; und Fritz Stern, The Politics of Cultural Despair: A Study in the Rise of the Germanic Ideology, Berkeley 1961. Vgl. Jonathan R. C. Wright, Above Parties: The Political Attitudes of the German Protestant Church Leadership 1918–1933, Oxford 1977; und die erweiterte Version: »Über den Parteien«. Die politische Haltung der evangelischen Kirchenführer 1918–1933, Göttingen 1977.

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als Fokus für meine Arbeit aus. Jeder dieser Männer repräsentierte eine bedeutende theologische Fakultät, jeder war ein Gigant unter den deutschen Theologen ihrer Zeit und jeder genoss internationales Ansehen. Ich suchte mir einen bequemen Platz unter der Kuppel der British Library, als diese noch Teil des Britischen Museums war, und begann, ihre Werke zu lesen. 1972 und 1973 besuchte ich Tübingen, Erlangen und Göttingen und setzte meine Studien fort. Im Jahr 1975 schickte ich meinen ersten Aufsatz »Theologian in the Third Reich: The Case of Gerhard Kittel« an das »Journal of Contemporary History« in London. Walter Laqueur (1921–2018) nahm den Beitrag an und publizierte ihn 1977.5 Wenn ich nach mehr als 40 Jahren auf diesen Aufsatz, meine erste ernsthafte wissenschaftliche Arbeit, zurückblicke, bin ich zufrieden. Meines Erachtens hatte ich Gerhard Kittels Geschichte in ihren wichtigsten Bestandteilen aufgearbeitet. Ich begann damit, dass Kittel durch die französischen Besatzungsbehörden am 3. Mai 1945 überraschend verhaftet wurde. Er war Professor für Neues Testament an der renommierten theologischen Fakultät in Tübingen. Er war ferner der Sohn des berühmten Professors für das Alte Testament, Rudolf Kittel (1853– 1929), und selbst international anerkannt. Mit der Verhaftung verlor er seine Professur und seine Stelle an der Universität Tübingen, an die er nie zurückkehrte. Er verlor ebenfalls die Herausgeberschaft des »Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament«, eines bedeutenden, weltweit benutzten Nachschlagewerkes, welches immer noch unter seinem Namen als »der Kittel« bekannt ist. Er war sieben Monate in Haft und durfte bis kurz vor seinem Tod nicht mehr in sein Haus in Tübingen zurückkehren, wo er im Juli 1948 im Alter von 59 Jahren starb. Ich nutzte dann Kittels eigene Verteidigungsschrift, ein 42-Seiten-Dokument vom Juni 1945, um seine Erwiderung auf das gegen ihn vorbereitete Entnazifizierungsverfahren zu erklären, eine Anklage, die ganz klar auf seinen Schriften über Juden basierte. Die einleitenden Worte zeigen, dass er keineswegs bereit war, Fehlverhalten seinerseits einzuräumen: »Der Fall Kittel ist ein Musterbeispiel dafür, was für ein grundlegender Irrtum entsteht, wenn man jede ernste Auseinandersetzung mit dem Problem des Judentums und der Judenfrage mit dem vulgären Antisemitismus der NS-Propaganda, des ›Stürmers‹, des Amtes Rosenberg usw. gleichsetzt.«6 Durch seine gesamte Verteidigungsschrift hindurch 5 6

Robert P. Ericksen, Theologian in the Third Reich: The Case of Gerhard Kittel. In: Journal of Contemporary History, 12 (1977), S. 595–622. Gerhard Kittel, Meine Verteidigung, Manuskript vom Juni 1945, Tübingen (im Folgenden Kittel, Verteidigung). Es ist bemerkenswert, dass Kittel in seiner gesamten Verteidigungsschrift für sich selbst die dritte Person benutzt. Mir wurde dieses Dokument 1973 von Dr. Herman Preus gezeigt, einem emeritierten Professor für Theologie am Lutherischen Theologischen Seminar St.  Paul, Minnesota. Eine überarbeitete und erweiterte Version von Kittels »Meine Verteidigung« vom November/Dezember 1946 befindet sich im Tübinger Universitätsarchiv (im Folgenden Kittel, Verteidigung 2).

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stellt er sich selbst als heroischen Kämpfer für christliche Prinzipien gegen jenen »vulgären Antisemitismus« dar. Er vergleicht sich sogar mit Moses, der von Gott berufen war und wünschte, er könne die schwierige Aufgabe abwenden. Aber wie Moses sei er dem Ruf Gottes gefolgt und habe sich entschieden, die Kenntnisse, die er im Unterschied zu allen anderen in Deutschland als christlicher Experte für Juden und Judentum hatte, zu nutzen.7 Im Mai 1933 sei er in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) eingetreten, um innerhalb der Partei für seine christliche Position in Abgrenzung zum vulgären Antisemitismus einiger Nationalsozialisten zu kämpfen.8 Das Problem, in damaliger wie heutiger Sicht, ist natürlich, dass Kittels »christliche« Intervention die Folgen für die Juden kaum gemildert hat. Ich berichtete über »Die Judenfrage«, seine öffentliche Rede vom Juni 1933 in Tübingen, die schon bald darauf in drei Auflagen mit 9 000 Exemplaren publiziert wurde. In dieser Schrift ging Kittel in mindestens einem Aspekt noch über Hitler und die NSDAP hinaus. Letztere nahmen – bis zur Inkraftsetzung der Nürnberger Gesetze 1935 – den Juden nicht ihre deutsche Staatsbürgerschaft oder das Recht, zu heiraten und sexuelle Beziehungen zu »arischen Deutschen« zu unterhalten, während Kittel sich bereits 1933 dafür aussprach. Er bestand sogar darauf, dass jeder mit einem Juden verheiratete Deutsche auf die Rechte von Juden herabgestuft und den gleichen rechtlichen Restriktionen wie diese ausgesetzt werden sollte.9 In der »Judenfrage« führt er eine Reihe solcher Restriktionen auf, denen zufolge es Juden nicht mehr erlaubt sein sollte, in wichtigen Berufen zu arbeiten. Falls eine solche Behandlung der Juden harsch erscheinen mochte, so lastete Kittel die Schuld einer liberalen Kultur und jenen Akademikern an, die Rassenprobleme ignorierten und die Rassenlehre lächerlich fanden. »Keiner, der an diesen Unklarheiten teilgehabt hat, darf heute ›seine Hände in Unschuld waschen‹. Er trägt mit Schuld daran, wenn heute an vielen Stellen Härten geschehen und geschehen müssen. Er ist mitschuldig daran, wenn es zu Explosionen kommen musste und wenn Unschuldige von den Trümmern begraben werden.«10 Er beklagte sich über die Juden in der akademischen Welt: »Es gehörte die ganze Oberflächlichkeit der hinter uns liegenden intellektualistischen Zeit dazu, dass

    7     8

Kittel, Meine Verteidigung, S. 33. Kittels Parteiausweis (Mitgliedsnummer 3.243.036) fand ich im Berlin Document Center (heute im Bundesarchiv). Mit Bezug auf Kittels Wortwahl – »geistig« vs. »vulgär« – benutze ich hier »nicht-spirituell« für »vulgär«. Die Standard-Alternative zu Kittels behaupteter »geistiger« Analyse von Juden wäre »rassisch« oder »rassistisch«. Belege für eindeutig rassistische Annahmen in Kittels Arbeit siehe weiter unten. Daher ist »geistig« eigentlich keine angemessene Beschreibung seines Herangehens.     9 Gerhard Kittel, Die Judenfrage, 1. Auflage Stuttgart 1933 (Kohlhammer), S. 57–60. 10 Kittel, Die Judenfrage, 2. Auflage Stuttgart 1933, S. 35; auch zit. in: Theologian in the Third Reich, S. 605.

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ein durchschnittlich gescheiter und wissenschaftlich scharfsinniger Jude eine besondere Qualifikation zum Universitätsprofessor zu haben schien, und dass es Fakultäten in Deutschland geben konnte, deren Professoren zur größeren Hälfte Juden waren.«11 Um dem Argument zu begegnen, dass Juden möglicherweise einfach klüger als andere Deutsche seien, behauptete Kittel, ein jüdischer Student komme voran, »nicht weil er tüchtiger war, sondern weil er fixer war, während das Wesen und die Art des Deutschen darin lag, dass er langsam sich ausreifte«.12 Kittel erkannte, dass besonders Christen in Deutschland vermutlich Mitleid haben würden mit Juden, die den von ihm vorgeschlagenen harten Maßnahmen ausgesetzt wären. Deshalb warnte er: »Gott will von uns nicht, dass wir sentimental sein sollen, sondern dass wir die Tatsachen sehen und ihnen Rechnung tragen.«13 Viele Seiten später fügte er hinzu: »Aber freilich, wir dürfen auch nicht weich werden! […] Es ist hart, wenn Beamte, Lehrer und Professoren, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, als dass sie Juden sind, Platz machen müssen. Es ist hart, wenn Deutsche, die mit ihren Vätern und Großvätern seit hundert Jahren sich gewöhnt hatten, gleichberechtigte Staatsbürger zu sein, wieder in die ­Rolle des Fremdlings sich finden müssen. Aber niemals dürfen solche Erwägungen zu sentimentaler Erweichung und Lähmung führen.«14 »Die Judenfrage« brachte Kittel Kritik aus dem Ausland ein. Herbert M. J. Loewe (1882–1940), Dozent am Rabbiner-­ Seminar der Universität von Cambridge, gab seiner Enttäuschung im August 1933 Ausdruck: »Es schmerzt mich sehr, dass eine so große Autorität, ein geistiger Führer, solche Meinungen äußert. […] Es ist eine traurige Desillusionierung zu entdecken, dass das eigene Idol auf tönernen Füßen steht.«15 Im November 1933 schrieb Loewe an Kittel: »Niemand in England, Jude oder Christ, macht sich Gedanken über die Ansichten von NS-Professoren, die sich Hitler verschrieben und an der Erkenntnis versündigt haben. […] Aber wegen Ihnen sind wir verstört und es schmerzt uns, weil wir Sie auf der Seite der Engel gesehen hatten.«16 Er spekulierte darüber, dass Kittel unter Zwang gehandelt haben könnte. Kittel reagierte auf den ersten Brief mit Bedauern: »Nach manchen Erfahrungen dieser Wochen hat sich mir die schmerzliche Erkenntnis aufgedrängt, dass gegenseitiges Verstehen zwischen mir und ­manchen Kollegen und ­bisherigen Freunden sehr

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Kittel, Die Judenfrage, 1. Auflage, S. 46; auch zit. in: Theologian in the Third Reich, S. 605. Ebd., S. 46 f.; auch zit. in: Theologian in the Third Reich, S. 605. Ebd., S. 9; auch zit. in: Theologian in the Third Reich, S. 604. Ebd., S. 61 f.; auch zit. in: Theologian in the Third Reich, S. 606. Herbert M. J. Loewe an Gerhard Kittel vom 11.8.1933 (Wiener Library London, Personalakte Kittel). In dieser Akte finden sich zwei Schriftwechsel mit vier vollständigen Briefen. Loewe an Kittel vom 30.11.1933 (ebd.).

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schwer ist.«17 Loewes ­Verdacht des politischen Drucks weist Kittel zurück: »Ich [kann] doch nicht anders antworten […], als dass ich bei der von mir vertretenen Meinung bleibe. […] Es ist auch nicht so, wie Sie vermuten, dass ich unter irgendeinem politischen oder sonstigen Druck meine Schrift geschrieben hätte.«18 Ein berühmterer Kollege, Martin Buber (1878–1965), kritisierte »Die Judenfrage« ebenfalls. Er tat dies in einem offenen Brief in den »Theologischen Blättern«, in dem er Kittels These zurückwies, wonach die Bedrängnis der Juden in der Diaspora eine gottgewollte Tragödie sei. Diese Position Kittels sei Verleumdung und Diskriminierung. Der ewig wandernde Jude sei ein christliches, kein jüdisches Konzept.19 Kittel veröffentlichte eine 15-seitige Antwort in der zweiten und dritten Auflage der »Judenfrage«. Sei es wirklich diffamierend zu schreiben, dass viele jüdische Intellektuelle mittelmäßig oder schlecht seien, wenn dies den Tatsachen entspräche? Sollte Deutschland die Juden nicht von der Rechtsprechung ausschließen, »wenn wir erstens feststellen, dass in den letzten Jahren jüdische Richter und jüdische Rechtsanwälte sich unterfangen haben, das deutsche Recht zu verzerren und deutsches Rechtsbewusstsein zu vergewaltigen, und wenn wir zweitens glauben, ›Recht‹ sei nicht eine Abstraktion, sondern eine aus Blut und Boden und Geschichte eines Volkstums gewachsene Größe?«20 Diese Erwiderung auf Buber bestätigt, dass Kittel voll hinter vielen oder den meisten Vorurteilen der Nazis gegenüber Juden stand: die Minderwertigkeit der Juden, ihre Gefährlichkeit und die Bedeutung von Blut, Boden und Volkstum in der Natur und den Beziehungen der Völker. Noch stärker kam das zum Tragen in Kittels Mitarbeit bei Walter Frank (1905–1945) und in seinem »Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands«, insbesondere für dessen Forschungsabteilung zur Judenfrage und deren Zeitschrift »Forschungen zur Judenfrage«. Kittel sprach anlässlich der Eröffnungssitzung dieser Forschungsabteilung 1936, und er war der profilierteste Autor der Zeitschrift mit sechs Beiträgen (und einem siebten, einer Richtigstellung) in den acht veröffentlichten Bänden. Einer dieser Beiträge machte den gesamten Band 7 aus. Kittels Beiträge zu den »Forschungen zur Judenfrage« sollten die »jüdische Bedrohung« belegen, die vom NS-Regime nun politisch bekämpft wurde. Seine Eröffnungsrede und der darauf folgende Aufsatz »Die Entstehung des Judentums und die Entstehung der Judenfrage« entwickelten sein Verständnis der jüdischen 17 Kittel an Loewe vom 10.9.1933 (ebd.). 18 Kittel an Loewe vom 19.12.1933 (ebd.). 19 Vgl. Martin Buber, Offener Brief an Gerhard Kittel. In: Theologische Blätter, 12 (1933) 8, S.  248–250. In einem persönlichen Brief an Kittel warf Buber auch die Frage auf, ob Deutsche, die außerhalb Deutschlands lebten, jemals den Gastzustand akzeptieren würden, den er für die Juden in Deutschland vorschlug. In: Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Band 2, Heidelberg 1973, S. 487. 20 Kittel, Die Judenfrage, 2. und 3. Auflage, S. 89 f.

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Bedrohung sowie seine Forschungsagenda für die kommenden Jahre.21 Mit dem Argument, die Juden des Alten Testaments (AT) seien in Ordnung gewesen, demonstrierte er Unterstützung für die Zugehörigkeit des AT zur christlichen Bibel und seine traditionelle Auffassung über den Ort der Juden in der christlichen Theologie. Jedoch seien die Juden, so Kittel weiter, in der Periode zwischen 500  v.  Chr. und 500 n. Chr., am Beginn der Diaspora, verdorben. Sie hätten ihre Verwurzelung in der Heimat verloren, eine ländliche für eine städtische Existenz eingetauscht, ihre rassische Reinheit durch Assimilation und sexuelle Vermischung eingebüßt und sich zu einer entwurzelten, hinterhältigen jüdischen Bedrohung der modernen Welt gewandelt. In dieser Rede rief Kittel nicht zu theologischer, sondern zu archäologischer und anthropologischer Forschung auf. In seinem zweiten Beitrag zu den »Forschungen zur Judenfrage« versuchte er, einzelne Beispiele von Mischehen vor 2000 Jahren zu identifizieren.22 In seinem dritten und vierten Beitrag untersuchte er frühe Bildnisse von Juden in Terrakottakarikaturen, die bei Trier gefunden worden waren, sowie Abbildungen, die auf Begräbnisporträts in Ägypten überliefert sind.23 In seinem fünften Beitrag schließlich fertigte Kittel eine Karte an, um die Ausbreitung der Juden in der gesamten antiken Welt nachzuweisen.24 Kittels Beiträge zu den »Forschungen zur Judenfrage« fanden ihren Höhepunkt in Band 7, der vollständig von ihm und Eugen Fischer (1874–1967) geschrieben und 1943 veröffentlicht wurde.25 Kittel gewann Fischer – ein »Rassen-Forscher«, der das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin leitete, für sein Projekt. Beide zusammen versuchten, alle möglichen Beweise der angeblich korrupten Natur der Juden in der Diaspora zusammenzutragen. Kittel lieferte den theoretischen Rahmen mit dem Argument, dass die jüdische Bereitschaft zur Assimilation, ungeachtet ihrer historischen Tendenz der Separierung und Missionierung, nicht paradox, sondern eher Beleg ihres heimlichen Machtstrebens sei. Er nutzte die Geschichte von E ­ sthers Verführung des Königs von Persien, um zu behaupten, dass die Juden seit der

21 Gerhard Kittel, Die Entstehung des Judentums und die Entstehung der Judenfrage. In: Forschungen zur Judenfrage, Band 1, Hamburg 1936, S. 43–63. 22 Vgl. Gerhard Kittel, Das Konnubium mit den Nicht-Juden im antiken Judentum. In: Forschungen zur Judenfrage, Band 2, Hamburg 1937, S. 30–62. 23 Vgl. Gerhard Kittel, Die ältesten jüdischen Bilder. Eine Aufgabe für die wissenschaftliche Gemeinschaftsarbeit; und: Die ältesten Judenkarikaturen. Die »Trierer Terrakotten«; beide Beiträge in: Forschungen zur Judenfrage, Band 4, Hamburg 1940, S. 237–249 und hier 250–259. 24 Vgl. Gerhard Kittel, Die Ausbreitung des Judentums bis zum Beginn des Mittelalters. In: Forschungen zur Judenfrage, Band 5, Hamburg 1941, S. 290–310. 25 Eugen Fischer und Gerhard Kittel, Das antike Weltjudentum. Tatsachen, Texte, Bilder. In: Forschungen zur Judenfrage, Band 7, Hamburg 1943.

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Diaspora gierig, verschlagen und sexuell aggressiv gewesen seien. »Immer ist das Ziel: die Macht über die Welt. […] Immer, zu allen Zeiten, ob im ersten oder im zwanzigsten Jahrhundert, ist Weltjudentum Traum der alleinigen Weltherrschaft im Diesseits und im Jenseits!«26 Fischers Beitrag war eine »wissenschaftliche« Analyse von 80 ägyptischen Mumien-Porträts in Worten, die heute ganz gewiss nicht wissenschaftlich erscheinen: »Es gibt ein Etwas (vielleicht besser gesagt, viele solche Einzelheiten) in der jüdischen Physiognomie, was nicht messbar, kaum im Einzelnen so beschreibbar ist, dass sich der Leser oder Hörer ein klares Bild davon machen kann.«27 Auf dieser Basis identifizierte er acht oder neun jüdische Intellektuelle unter diesen Mumien-Porträts, darunter einen mit einem typisch »frechen« Ausdruck.28 In meinem ersten Aufsatz zitierte ich noch weitere Beispiele von Kittels Atta­ cken auf Juden in der NS-Zeit. 1939 hielt er eine Rede in Berlin, in der er die Gefährlichkeit der Juden während der ersten Jahrhunderte der Diaspora hervorhob, vor allem wegen der Assimilation und Rassenmischung. Ghettomauern, so behauptete er, begann man ab etwa 500 n. Chr. zu errichten, um mittelalterliche Christen gegen jüdische Mischlinge zu schützen. Die Aufklärung habe später diese Gefahr durch ihren Säkularismus und ihr Eintreten für Toleranz gegenüber den Juden wiederbelebt. Nur Adolf Hitler habe sich erhoben und sei zur notwendigen »Schutzmacht« gegen die jüdische Bedrohung geworden.29 1943 veröffentlichte Kittel einen Artikel im »Archiv für Judenfragen«, in dem er argumentierte, dass die Lehren des Talmud den Juden die moralische Freiheit geben, Nichtjuden zu ermorden.30 Max Weinreichs (1894–1969) frühe Nachkriegsstudie »Hitler’s Professors« legt nahe, dass Kittel von den Morden an den Juden wusste und diesen Artikel als eine Selbstverteidigung verstanden habe.31 In seiner für die Franzosen verfassten Erklärung räumte Kittel ein, dass er 1943 durch seinen Sohn von der Ermordung der Juden an der Ostfront erfahren hatte.32 Das und die sehr eigenwillige Interpretation der Lehren des Talmud sprechen für Weinreichs Verdacht. Dieser Artikel erscheint fast als eine direkte Rechtfertigung der Notwendigkeit eines gewaltsamen Erstschlags Deutschlands gegen die Juden. Er scheint ebenso Kittels Warnung von 1926 direkt zu widersprechen: »Niemand, der die rabbini-

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Ebd., S. 10 f. Ebd., S. 113. Ebd., S. 160. Gerhard Kittel, Die historische Voraussetzungen der jüdischen Rassenmischung, Hamburg 1939, S. 43. 30 Vgl. Gerhard Kittel, Die Behandlung des Nichtjuden nach dem Talmud. In: Archiv für Judenfragen, Nr. 1, Gr. 1, Berlin 1943, S. 7–17. 31 Vgl. Max Weinreich, Hitler’s Professors: The Part of Scholarship in Germany’s Crimes against the Jewish People, New York 1946, S. 215 f. 32 Vgl. Kittel, Meine Verteidigung, S. 27.

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sche Literatur kennt und der Wahrheit die Ehre gibt, kann leugnen, dass mitten in den Ritualismus und in die Dialektik immer wieder hereinklingen die ganz echten Töne eines reinen, sittlichen Strebens und Gedanken, die noch immer von dem Geist des alten ethischen Prophetismus an sich tragen, von dem eben auch das Spätjudentum herkommt.«33 Zwei Vorlesungen, die Kittel 1943 und 1944 in Wien hielt, zeigen, dass seine Unterstützung der Judenverfolgung durch die Nazis, die zuerst 1933 in der Schrift »Die Judenfrage« deutlich wurde, bis in die letzten Jahre des Regimes andauerte. Im März 1943 wiederholte er unter dem Titel »Die Entstehung des Judentums« sein Argument, wonach die Juden des Alten Testaments um 500 v. Chr. während ihres Babylonischen Exils zu entarten begannen. Zwar erkannte er an, dass alle Völker aus einer Mischung von Rassen hervorgingen, behauptete jedoch, dass die jüdische rassische Substanz durch wahllose Mischung, »sogar mit Schwarzen«, besonders dekadent geworden und verkommen sei. Neben ungesundem Blut führte er dabei den Verlust von gesunder Verwurzelung mit dem Erdboden an, die einst die ländlichen Juden charakterisiert habe. Er behauptete weiterhin, dass mit der Bewegung der Diaspora-Juden hin zu einem strikten Legalismus eine spirituelle Entartung stattgefunden habe. Schließlich hätten diese Diaspora-Juden das ursprüngliche Thema des »auserwählten Volkes« im AT in die Behauptung der Überlegenheit und das Streben nach Weltherrschaft verkehrt.34 Als Kittel 1944 nach Wien zurückkehrte, pries er wiederum das Christentum als Bollwerk gegen die jüdische Bedrohung. Diese Vorlesung betonte spezifisch rassische Themen noch stärker. Konvertiten vom Judentum zum Christentum seien vor allem selbst Konvertierte zum Judentum gewesen, und Missionare hätte es sehr wenige gegeben. Daher sei die Verbreitung des Christentums nicht mit einer Verbreitung jüdischen Blutes einhergegangen. Was das Judentum Jesu betreffe, so behauptete Kittel nun, dass zumindest seine Ideen nicht jüdisch gewesen seien.35 Alle diese Elemente finden sich in meinem Aufsatz über Kittel von 1977. Ich schilderte seine Schriften aus der Zeit des NS von 1933 bis 1944, von »Die Judenfrage« über seine sieben Beiträge in den »Forschungen zur Judenfrage«, ferner weitere Aufsätze von 1939 und 1943 bis zu den zwei unveröffentlichten Wiener Vorlesungen aus den Jahren 1943 und 1944. Dieses gesamte Material belegte seine Mittäterschaft an der Judenverfolgung der Nazis. Kittel akzeptierte deren 33

Gerhard Kittel, Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Urchristentum, Stuttgart 1926, S. 95. 34 Gerhard Kittel, Die Entstehung des Judentums (Vorlesung an der Universität Wien vom 22.3.1943), S. 2 f., 5, 8 f., 13 f. Ich fand ein Manuskript dieser Vorlesung in der theologischen Bibliothek der Universität Tübingen. 35 Gerhard Kittel, Das Rassenproblem der Spätantike und das Frühchristentum (Vorlesung an der Universität Wien vom 15.6.1944). Ich fand ein Manuskript dieser Vorlesung in der theologischen Bibliothek der Universität Tübingen.

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übergeordnetes Argument, wonach die Juden eine tödliche Gefahr für Deutschland darstellten. Er schlug sehr harsche Maßnahmen gegen Juden als solche vor, nicht für spezifische Verbrechen oder Verhaltensweisen, und er betonte zunehmend rassische Komponenten im sogenannten Judenproblem. Teilweise brachte ich in diesem Aufsatz auch harmlosere Dinge über Kittel. Einiges von dem Material, das ich in meinem ersten Aufsatz über Kittel verwendete, stammte von dem amerikanischen Theologen Herman Preus (1896–1955) vom Lutherischen Seminar in St. Paul, Minnesota. Preus hatte 1937/38 ein Sabbatical-Jahr in Tübingen verbracht. Die beiden Familien lernten einander näher kennen und blieben in Kontakt. Deshalb hatte Preus nicht nur ein Exemplar von Kittels »Meine Verteidigung« vom Juni 1945, sondern auch einige Papiere zu seiner Verteidigung, die unter Theologieprofessoren in Großbritannien und den Vereinigten Staaten kursierten. Darunter befand sich ein »Persilschein« von Professor Martin Dibelius (1883–1947) aus Heidelberg, der Kittels Forschungen als »rein wissenschaftlich« und von »theologischem Bewusstsein« geprägt beschrieb, die keineswegs der »Interpretation des Judentums durch die Partei« gedient hätten.36 Es gibt auch Stellungnahmen von Kittels Studenten, unter anderem von Claus Schedl (1914–1986), der Kittels Vorlesungen zur »Judenfrage« in Wien 1941/42 besucht hatte, die er als »nicht feindselig«, sondern als nur der Wahrheitssuche verpflichtet bezeichnete. Schedl schlussfolgerte: »In seiner gesamten Arbeit entwickelte er ein Konzept, welches […] den Nationalsozialismus völlig überwindet.«37 Annemarie Tugendhat (1922–2013) schließlich machte als Christin jüdischer Herkunft Aussagen über die Zeit nach den Novemberpogromen von 1938. Ihr jüdischer Vater war festgenommen und in einem Konzentrationslager interniert worden. Deswegen besuchte sie eine Vorlesung Kittels in Stuttgart und sprach ihn danach an. Sie sprachen bis morgens um 2:00 Uhr miteinander. Kittel, so berichtete sie, »hatte die schärfsten Einwände gegen diese Aktionen gegen Juden, und als Christ protestierte er gegen jede Rechtfertigung dieser Dinge«.38 Aufgrund dieser Materialien sowie eines Interviews mit Richard Gutteridge (1911–2000), der Kittel Mitte der 1930er-Jahre gut kannte, beschrieb

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Diese Erklärung findet sich in Albert Debrunner, Professor Kittel und die Judenfrage, S. 3. Debrunners Arbeit ist ein Manuskript, welches 1947 unter Freunden von Kittel zirkulierte. Herman Preus zeigte mir eine Kopie davon. 37 Ebd., S. 8. 38 Dieses Zitat stammt aus einer von zehn Stellungnahmen, die über Kittel zirkulierten und sich im Besitz von Herman Preus befinden. Frau Tugendhat wird auch von Debrunner zitiert, jedoch weniger ausführlich.

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ich Kittel als »einen warmherzigen und großzügigen Menschen und einen intelligenten und respektierten Gelehrten«.39 Meine andere mildere Beurteilung Kittels in dem Aufsatz von 1977 bezog sich auf seine Forschung vor 1933. Seine frühe Entwicklung gründete, sicherlich beeinflusst von der Beschäftigung seines Vaters mit dem AT, auf der Idee, dass Jesus besser verstanden werden könne durch Berücksichtigung seines jüdischen Kontextes. Von »Jesus und die Rabbinen« (1914) bis hin zu »Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Urchristentum« (1926) erscheint Kittels akademische Sichtweise als philosemitisch.40 Zwar hielt er an der Überlegenheit von Jesus und Christentum über Talmud-Rabbiner und Judentum fest, betonte allerdings die Ähnlichkeit des Talmud mit dem Neuen Testament. Beide enthielten Parabeln und Wundergeschichten, beide enthielten Lehren, wie »vergib uns unsere Sünden wie wir vergeben anderen« und »horte keine Schätze auf Erden«.41 Aus diesem Grund war jemand wie Herbert M. J. Loewe in Cambridge so schockiert, als er 1933 Kittels »Die Judenfrage« las.

Andere frühe Arbeiten von Kittel Ich war nicht der Erste, der über Gerhard Kittel schrieb. Der schon erwähnte Max Weinreich nahm ihn in sein wichtiges Buch »Hitler’s Professors« von 1946 auf. William Foxwell Albright (1891–1971) behandelte Kittel im Jahr 1964 in »History, Archaeology and Christian Humanism«. Albright wollte in diesem Buch christliche Bildung und christlichen Humanismus verteidigen. Daher ist sein Kapitel über Kittel eine Verurteilung.42 Bereits im Jahr 1947 hatte er Kittels »Meine Verteidigung« gelesen, in der dieser behauptet hatte, dass er wie Moses von Gott zu einer schwierigen und unfreiwilligen Aufgabe berufen worden sei. Albright brachte seinen Kommentar dann in einem Band über die Situation von Bibelstudien unter: »Angesichts der unglaublichen Boshaftigkeit seiner Angriffe auf Juden und das Judentum, die mindestens bis 1943 anhielten, ist Kittel schuldig, vielleicht mehr als jeder andere christliche Theologe zur Ermordung von Millionen von Juden durch die Nazis beigetragen zu haben; eine apologia pro vita

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Ericksen, Theologian in the Third Reich, S. 614. Dieses Interview mit Richard Gutteridge fand am 3.6.1974 in Cambridge statt. Gutteridge arbeitete damals an seinem Buch: Open Thy Mouth For The Dumb! The German Evangelical Church and the Jews, 1879–1950, Oxford 1976. 40 Gerhard Kittel, Jesus und die Rabbinen, Berlin 1914; Die Probleme des palästinischen Spät­ judentums und das Urchristentum, Stuttgart 1926. 41 Kittel, Jesus und die Rabbinen, S. 4 f. Vgl. auch Ericksen, Theologian in the Third Reich, S. 602 f. 42 William Foxwell Albright, History, Archaeology and Christian Humanism, New York 1964, S. 229–240.

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sua, die er Anfang 1946 schrieb, […] zeigt das erstaunliche Bild eines kranken Gewissens.«43 Weinreich und Albright kritisierten Kittel hart, aber für keinen von beiden war er Hauptgegenstand ihrer Arbeiten. Nach meinem Aufsatz von 1977 gab es eine weitere Arbeit über Kittel von der Tübinger Kirchenhistorikerin Leonore Siegele-Wenschkewitz (1944–1999). Im Frühjahr 1973, während meiner ersten ausgedehnten Forschungen in Deutschland, besuchte ich Tübingen und interviewte Klaus Scholder (1930– 1985).44 Im Jahr 1975, als mein Artikel über Kittel vom »Journal of Contemporary History« angenommen worden war, schickte ich ihm eine Kopie. 1978 veröffentlichte Leonore Siegele-Wenschkewitz, eine Assistentin Scholders in Tübingen, einen Aufsatz über Kittel als Teil von Betrachtungen über die Theologische Fakultät Tübingen zu Beginn des »Dritten Reiches«.45 Als ich diesen Artikel entdeckte – durch John Conway (1929–2017), meinen Nachbarn an der University of British Columbia –, schrieb ich an Siegele-Wenschkewitz und stellte die meiner Meinung nach viel zu milde Beurteilung Kittels infrage. Sie antwortete mir, sie habe Kittels Haltung als mehr plausibel (und näher zum Mainstream der protestantischen Theologie) darstellen und ihn nicht zum »Außenseiter und Sündenbock« machen wollen.46 Siegele-Wenschkewitz stellte dann 1980 ihre umfangreichste Arbeit über Kittel fertig, die als schmaler Band in der Reihe »Theologische Existenz heute« veröffentlicht wurde.47 Zur Literatur über Kittel aus dieser Periode gehört auch ein Aufsatz von Martin Rese, veröffentlicht in der Zeitschrift »Evangelische Theologie«: »Antisemitismus und neutestamentliche Forschung: Anmerkungen zu dem Thema ›Gerhard Kittel und die Judenfrage‹«, der eine scharfe Kritik von Siegele-Wenschkewitz’ erstem Artikel enthält.48 Ihr Buch über Kittel von 1980 kann als Replik gelesen werden, was insbesondere aus dem ersten 43

William Foxwell Albright, The War in Europe and the Future of Biblical Studies. In: Harold R. Willoughby (Hg.), The Study of the Bible Today and Tomorrow, Chicago 1947, S. 162–174, hier 165. 44 Dieses Interview mit Klaus Scholder fand am 19.5.1973 statt. 45 Leonore Siegele-Wenschkewitz, Die Evangelisch-theologische Fakultät Tübingen in den Anfangsjahren des Dritten Reichs. II. Gerhard Kittel und die Judenfrage. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Beiheft 4: Tübinger Theologie im 20. Jahrhundert, Tübingen 1978, S. 53–80. 46 Leonore Siegele-Wenschkewitz an mich vom 7.8.1979. Mein Brief an sie ist vom 30.7.1979. 47 Leonore Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage. Gerhard Kittels theologische Arbeit im Wandel deutscher Geschichte, München 1980. In der Einleitung zu diesem Buch erläutert Siegele-Wenschkewitz, dass ihr erster Aufsatz über Kittel zurückging auf die ihr 1976 übertragene Aufgabe, eine »Geschichte ihrer evangelisch-theologischen Fakultät im Dritten Reich« für die 500-Jahr-Feier der Universität Tübingen vorzubereiten, die 1977 stattfinden sollte. Ich nehme an, dass sie diese Aufgabe von ihrem Mentor Klaus Scholder erhielt. Sie führte schließlich zu jenem Band, den sie mit Carsten Nicolaisen herausgab: Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus, Göttingen 1993. 48 Martin Rese, Antisemitismus und neutestamentliche Forschung: Anmerkung zu dem Thema »Gerhard Kittel und die Judenfrage«. In: Evangelische Theologie, 39 (1979), S. 557–570.

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Kapitel »Zur Kontroverse mit Martin Rese« hervorgeht. Siegele-Wenschkewitz beginnt ihr Buch mit der Beschreibung eines Forschungsdefizits der kirchlichen Zeitgeschichte nach 1945, die sowohl den theologischen Fakultäten im »Dritten Reich« als auch der »Judenfrage« kaum Aufmerksamkeit geschenkt habe, was ein besonders bedeutendes Defizit angesichts der lange währenden Feindseligkeit gegenüber Juden in der christlichen Tradition sei. Der Rest des Buches behandelt Kittels biografischen Hintergrund und seine Forschungen bis zu »Die Judenfrage« von 1933.49 Mein Einwand gegen Siegele-Wenschkewitz’ Arbeit richtete sich zu diesem Zeitpunkt gegen die Tatsache, dass sie sowohl in ihrem Artikel von 1978 als auch in ihrem Buch von 1980 mit Kittels Schrift »Die Judenfrage« von 1933 endete. Darüber hinaus hatte sie nach meiner Ansicht selbst bei dieser verkürzten Betrachtung von Kittel und der »Judenfrage« die brutalen Implikationen der Kittel’schen Vorschläge von 1933 nicht genügend herausgearbeitet – den Verlust der Arbeit, der Karriere und aller Rechte, die normalerweise die Bürger in einem modernen Staat schützen. Das erschien mir als ernsthaftes Problem, insbesondere, weil Kittels Engagement aufseiten des NS-Antisemitismus, einschließlich seiner rassischen Komponente, nach diesem ersten Vortrag noch zunahm. Das schließt seine ausgedehnten Beiträge in den »Forschungen zur Judenfrage« ein, die nahezu keine Verbindung zur Theologie haben, aber ein sehr starkes Bekenntnis zur NS-Idee einer jüdischen Bedrohung der Welt enthielten. Kittels Hauptanliegen in diesen Jahren war es zu zeigen, dass die jüdische Bedrohung seit mehr als 2 000 Jahren existierte. Außerdem unterstützte Kittel nicht nur in dieser Arbeit ausdrücklich Hitlers »Lösung« für die jüdische Bedrohung, er tat dies auch noch 1943/44 in seinen Wiener Vorlesungen. Das geschah, nachdem er wahrgenommen hatte, dass buchstäblich alle Juden aus Deutschland verschwunden waren und nachdem er durch seinen Sohn vom Massenmord an den Juden erfahren hatte.50 Dieses Bekenntnis zu den Zielen des Nationalsozialismus über elf Jahre hinweg führte zu meinem zweiten Einwand gegen Siegele-Wenschkewitz’ Arbeiten von 1978 und 1980. Er richtete sich gegen ihr Argument, dass Kittels Fehlleistungen aus einer »Fehleinschätzung« des wirklichen Adolf Hitler resultierten. In ihrem Aufsatz von 1978 schrieb sie: »Aus einem Sympathisanten des vermeintlich gemäßigten Führers ist er zu einem Opponenten der nationalsozialistischen

49 Vgl. Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage, insbes. Kapitel 1, S. 34–37. 50 Vgl. Kittel, Meine Verteidigung, S. 27. Jeder in Deutschland musste von der extremen Härte der Judenverfolgung und dem nahezu vollständigen Verschwinden der Juden von deutschen Straßen und Kommunen wissen. Wir wissen nicht, ob Kittels Sohn ihm vom Mord an den Juden vor oder nach dem März 1943 berichtete. Auf jeden Fall wusste er aber davon vor seiner Vorlesung von 1944 über die rassische Komponente in den Ursprüngen des Judenproblems.

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Vernichtungspolitik geworden.«51 Diese Behauptung impliziert ganz klar, dass Kittel die wahre Politik der Nationalsozialisten schon in einer frühen Phase der Herrschaft Hitlers erkannt hatte und nicht erst, als jegliche Forderung ihrer Mäßigung nicht mehr möglich war. Siegele-Wenschkewitz behauptet explizit, dass Kittel nicht nur desillusioniert, sondern ein Opponent Adolf Hitlers und des Nazismus geworden sei. Das ist einfach nicht wahr. Die vielen Jahre seiner fortgesetzten Unterstützung des NS-Regimes beweisen, dass er kein Gegner war. Falls er überhaupt jemals zum Gegner des NS wurde, so geschah das erst nach dessen Zusammenbruch, als drastische Berichte über Konzentrationslager und Berge von Leichen nicht mehr ignoriert werden konnten und nachdem Verhaftung und Gefängnis ihn zwangen, sein früheres Verhalten zu verteidigen. In ihrem Buch von 1980 wiederholte Siegele-Wenschkewitz ihre frühere Behauptung: »Sein Grundirrtum war die Fehleinschätzung Adolf Hitlers und der nationalsozialistischen Weltanschauung.«52 Diese Idee einer »Fehleinschätzung« wiederholt eine Behauptung von Kittel selbst in seiner Verteidigungsschrift nach dem Krieg, als er einen Weg heraus aus dem Gefängnis und zurück zu seiner Professur suchte. Sie fand indirekte Unterstützung, als Siegele-Wenschkewitz 1979 Kittels Sohn interviewte. Dieser behauptete unter Berufung auf Diskussionen mit seinem Vater vor und nach 1945, dass Kittel »entsetzt« gewesen sei über die Pogrome von 1938 und dass er die spätere »Vernichtung« der Juden »verurteilt« hätte. Kittels Tochter sagte in einem ähnlichen Interview, dass Kittel, nachdem er von der Judenvernichtung 1943 erfahren hatte, seiner Frau und seiner Tochter gegenüber eingeräumt habe, dass man nicht länger für den Sieg der Deutschen beten könne.53 Diese entlastenden Behauptungen mögen ein winziges Körnchen Wahrheit enthalten, aber sie wiegen kaum Kittels öffentliche Unterstützung für Hitlers Führerschaft bis 1944, seine harschen Maßnahmen und seine rassische Analyse der Geschichte auf. 1982 veröffentlichte Siegele-Wenschkewitz ihre abschließende Arbeit über Kittel, einen Aufsatz in der Zeitschrift »Evangelische Theologie«.54 Darin ging sie einen Schritt über 1933 hinaus, indem sie Kittels ersten Beitrag in den »Forschungen zur Judenfrage« von 1936 behandelte. Es blieb ihre einzige Arbeit, die sich mit Kittels rassischer Geschichtsauffassung nach 1933 beschäftigte. Wie bereits erwähnt, war Kittel einer der ersten Forscher in Walter Franks Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands und dessen Forschungsabteilung Judenfrage.

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Siegele-Wenschkewitz, Die Evangelisch-theologische Fakultät Tübingen, S. 80. Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage, S. 110. Ebd., S. 110 f., Fn. 104. Siegele-Wenschkewitz, Mitveranwortung und Schuld der Christen am Holocaust. In: Evangelische Theologie, 42 (1982), S. 171–190.

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Siegele-Wenschkewitz schreibt über den Vortrag »Die Entstehung des Judentums und die Entstehung der Judenfrage«,55 den er 1936 anlässlich der Eröffnung hielt. Darin führte Kittel jenen Forschungsgegenstand ein, der seinen Beitrag zum Rassismus der Nazis während der folgenden acht Jahre dominierte: Die Idee, dass zwischen 500 v. Chr. und 500 n. Chr., mit der Entstehung der jüdischen Diaspora, die bewunderungswürdigen Juden des AT zu den verabscheuungswürdigen Juden der modernen Welt degenerierten. Die Ursprünge des »Judentums« und die Ursprünge der »Judenfrage« wurden für ihn zu einer historischen Frage. Auf diese Weise konnte er alle Stereotypen des Antisemitismus der Nationalsozialisten für bare Münze nehmen und dann nach ihren Wurzeln in der jüdischen Diaspora suchen. In seinem Vortrag von 1936 hob Kittel sowohl die rassische Mischung der Juden in der Diaspora hervor, die er als Wurzel des Problems identifizierte, als auch die Entwicklung eines jüdischen Strebens nach Weltherrschaft. In ihrer dritten Arbeit über Kittel erwähnte Siegele-Wenschkewitz den Begriff »Fehleinschätzung« nicht mehr als Teil des Problem Kittel. 1982 bat mich die »Evangelische Theologie« um einen Beitrag zur Kontroverse zwischen Siegele-Wenschkewitz und Martin Rese. Mein Aufsatz »Zur Aus­ einandersetzung mit und um Gerhard Kittels Antisemitismus« erschien im darauf folgenden Jahr.56 Ich begann mit dem Verweis auf das Spektrum der Reaktionen auf Kittel: »Die bisherige Spannweite der historischen Analyse Gerhard Kittels erstreckt sich von Autoren, die ihn verdammen, zu solchen, die ihn ignorieren.«57 Ich zählte Max Weinreich und William Foxwell zur ersteren Kategorie, Klaus Scholder zur letzteren (wegen seiner Nichterwähnung von Kittel in »Die Kirchen und das Dritte Reich. Band I«), und Siegele-Wenschkewitz »irgendwo dazwischen«. Ich zitierte außerdem jenen Brief, den Siegele-Wenschkewitz mir 1979 als Reaktion auf meine Behauptung, sie sei zu mild mit Kittel umgegangen, geschrieben hatte: »Ich sehe, dass das, was Kittel nach 1933 in der Judenfrage als christlicher Theologe glaubte, vertreten zu können, im Ansatz auch heute noch ungebrochen in der exegetischen, überhaupt theologischen Wissenschaft vertreten werden kann, und ich wollte, indem ich Kittel so plausibel vorstellte, den heutigen Zeitgenossen einen Spiegel vor die Augen halten, der sie erkennen lässt, genauso sind wir selbst, genau das denken wir selbst. Auch ich finde Kittel keineswegs harmlos […], aber er ist viel mehr typisch und Repräsentant seines Faches, vielleicht überhaupt des deutschen protestantischen Theologen seiner Zeit, als man heute, wenn man ihn zum Außenseiter und Sündenbock macht, denken möchte.«58

55 Gerhard Kittel, Die Entstehung des Judentums und die Entstehung der Judenfrage. In: Forschungen zur Judenfrage, Band 1, Hamburg 1936, S. 43–63. 56 Robert P. Ericksen, Zur Auseinandersetzung mit und um Gerhard Kittels Antisemitismus. In: Evangelische Theologie, 43 (1983), S. 250–270. 57 Ebd., S. 250. 58 Ebd., S. 251, zit. aus Siegele-Wenschkewitz’ Brief an mich vom 7.8.1979.

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In weiten Teilen meines Aufsatzes von 1983 in der »Evangelischen Theologie« ergriff ich für Siegele-Wenschkewitz Partei. Ich betonte, wie sie das getan hatte, den offensichtlichen Umschlagspunkt und das Rätsel in Kittels Karriere, die ich in meinem Beitrag von 1977 beschrieben hatte. Bis 1933 hatte Kittel den Juden und dem Judentum Respekt entgegengebracht, wie auch Siegele-Wenschkewitz in ihrem Buch von 1980 hervorhob.59 Das steht in scharfem und scheinbar völligem Kontrast zur entschiedenen Ablehnung von Juden und Judentum in Kittels »Die Judenfrage« von 1933 und seinen darauf folgenden Arbeiten während der Zeit des NS. Die positive Sichtweise zeigt sich vor allem in Kittels Buch von 1926 »Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Urchristentum«. Er beschrieb den Talmud als »eben seinem Wesen nach wie ein riesiger Sack, in den alles hineingestopft wurde, was das Judentum an Erinnerungen und Traditionen aufbewahrt hatte, und so ist sein Inhalt das bunteste und fröhlichste Durcheinan­der und Nebeneinander, das man nur denken kann«.60 Kittel sah Jesu Herkunft unmissverständlich in der jüdischen Tradition des Talmud: »Man braucht diese Zusammenhänge sich nur klar zu machen, um zu wissen, wie widersinnig und wie historisch falsch ohne jede Ausnahme die Versuche sind, Jesus und das Christentum vom Alten Testament und von der geistigen Geschichte seines Volkes lösen zu wollen. So wie Jesus in allem zunächst Glied seines Volkes ist: wie er in dessen Kultursphäre gehört; wie er ihm in seiner Sprache, in den Formen des Ausdruckes und der Rede angehört, so ist er auch ein Glied dieses Volkes in der Art, aus dem Brunnen der alttestamentlichen Gottesoffenbarung diese Doppelheit hervorquellen zu lassen von Frömmigkeit und Sittlichkeit, von Gottesbewusstsein und Forderung. Die Ethik Jesu steht nicht unvermittelt da, nicht ex nihilo gewachsen. Sie will nichts anderes sein, und sie ist – geistesgeschichtlich angesehen – nichts anderes, als die konzentrierteste Auswirkung jener gewaltigen Bewegung der israelitisch-jüdischen Religionsgeschichte, die ihren Niederschlag eben in dem Schriftenkomplex gefunden hat, den wir das Alte Testament nennen.«61

1983 nahm ich an, dass Martin Rese die Dinge vereinfachte, wenn er Kittels frühen Philosemitismus und die Bedeutung seiner Kehrtwende 1933 ignorierte. Insofern unterstützte ich Siegele-Wenschkewitz’ Werk. Passte Kittels Haltung von 1933 zu seiner früheren theologischen Welt und zu seiner Kirche? War er so sehr bewegt von der neuen Stimmung und den neuen vorherrschenden Ideen von 1933? Ich denke, dass diese Fragen zu besseren, wenn auch schwierigeren Erklärungen von Kittels Entwicklung führen als das Ignorieren seines offensichtlichen Philosemitismus vor 1933 und seine durchgängige Beschreibung als Antisemit. Ich kritisierte Reses Sicht und anerkannte Siegele-Wenschkewitz’ Argument, wo-

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Vgl. Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft, Kapitel 4–6. Gerhard Kittel, Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Urchristentum, Stuttgart 1926, S. 94; auch zit. in: Ericksen, Zur Auseinandersetzung, S. 252. Kittel, Die Probleme, S. 125, Fn. 3, und Ericksen, Zur Auseinandersetzung, S. 253.

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nach Kittels Haltung besser in die zeitgenössische theologische Welt passte, als wir geneigt sein könnten zu denken. Gleichzeitig wies ich in diesem Aufsatz auf mindestens zwei Probleme in Hinblick auf Kittels judenfreundliche Einstellung vor 1933 hin. Erstens musste er Demonstrationen deutlicher Verachtung gegenüber Juden in den frühen Phasen seiner Karriere vermeiden, da diese auf dem Grundsatz beruhte, dass Forschung zum talmudischen Judaismus und zur jüdischen Welt zur Zeit Jesu helfen würde, Jesus und die christliche Tradition besser zu verstehen. Ferner konnte der junge Forscher auf diese Weise seinem Vater Rudolf Kittel, einem renommierten Gelehrten des AT, Respekt zollen und sich zur gängigen Einordnung des AT in die christliche Bibel bekennen. Beides erforderte eine gewisse Bewunderung der jüdischen Tradition. Zweitens konnte Kittels Respekt für die Juden und das Judentum auch vor 1933 durchaus geringer ausfallen, wenn er vor einem anderen Publikum sprach. 1926 veröffentlichte er ein zweites Buch »Jesus und die Juden«, das auf einem Vortrag vor der konservativen Deutschen Christlichen Studentenvereinigung beruhte. Zweifellos mit Rücksicht auf mutmaßliche antisemitische Einstellungen dieses Publikums räumte er ihnen gegenüber ein: »Es gibt einen Typus des modernen Juden«, der eine »Durchschnittsaufklärung« repräsentiert und für »Frivolität« und »Lüsternheit« anfällig sei.62 Nach 1933 war Kittels Werk voll von solchen negativen Klischees. In der »Judenfrage« von 1933 beschrieb er die Merkmale assimilierter Juden: »Sie [die jüdische »Zersetzung«] kann müde, feinsinnige, und doch, weil sie entkräftet und ansteckt, gefährliche Resignation sein, die das Mark eines Volkes zerfrisst; sie kann kalter, rechnender, vielleicht auch sich selbst zerquälender und zerfleischender Relativismus sein; sie kann wilde Agitation und Demagogie sein, der nichts heilig ist. Immer ist sie seelische Heimatlosigkeit, und darum Gift und Auflösung.«63 In der Eröffnungsveranstaltung der Forschungsabteilung Judenfrage von Walter Franks Reichsinstitut stellte Kittel fest, »dass es nicht willkürliche Brutalität und Barbarei war, sondern echtes, aus historischer Nüchternheit geborenes Handeln, wenn der Führer des neuen Deutschlands für das deutsche Volk als erstes Volk der Neuzeit das Judenproblem in radikalem Entschluss auf eine völlig neue Grundlage stellte«.64 1943 schrieb Kittel in den »Forschungen zur Judenfrage«, indem er auf die berühmte Fälschung »Die Protokolle der Weisen von Zion« anspielte, ohne sie zu erwähnen: »Immer ist das Ziel: die Macht über die Welt. […] Immer, zu allen Zeiten, ob im ersten oder im zwanzigsten Jahrhundert, ist Weltjudentum Traum der alleinigen Weltherrschaft im Diesseits und im Jenseits.«65 62 63 64 65

Gerhard Kittel, Jesus und die Juden, Berlin 1926, S. 4. Kittel, Die Judenfrage, S. 25, und Ericksen, Zur Auseinandersetzung, S. 254. Kittel, Die Entstehung des Judentums, S. 63; Ericksen, Zur Auseinandersetzung, S. 258. Fischer/Kittel, Das antike Weltjudentum, S. 10 f.; Ericksen, Zur Auseinandersetzung, S. 260.

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Zum Schluss meines Aufsatzes von 1983 nahm ich mir Kittels Selbstverteidigung nach dem Krieg und seine eigenen Erklärungen zu seiner Haltung vor und nach 1933 vor. Er behauptete einfach, dass es keine Veränderung gegeben habe. Ich schrieb dazu: »Das stimmt einfach nicht.«66 Kittel ignorierte die positiven Elemente in seiner Beurteilung des Judentums vor 1933 und bekannte sich zur Härte gegenüber den Juden, derer er bezichtigt wurde, verglich diese jedoch mit der Härte gegenüber den Juden, wie sie Paulus67 und auch Jesus zum Ausdruck gebracht hätten: »Niemals ist dem sogenannten Weltjudentum ein furchtbareres Urteil gesprochen worden als in dem ›Wehe‹ Jesu Christi, Mt. 23,15; niemals eine vernichtendere Charakterisierung der jüdischen Religion als eine Privilegierungsreligion gegeben worden als in Joh. 8, 40–44.«68 Kittel räumte dann jedoch seinen einzigen Fehler, seine »Fehleinschätzung« Hitlers und des NS ein: »Ich habe nicht gewusst, in welchem Maße der jedem Volke innewohnende echte natio­nale Gedanke zu einem System der imperialistischen und größenwahnsinnigen Brutalität umgefälscht und das soziale und sozialistische Ideal zur Tarnung für Lüge und Korruption missbraucht wurde. Heute weiß ich, dass mein Versuch auf der wohl bittersten Täuschung meines Lebens beruhte.«69 Dann ergänzte er: »Vor allem aber wird niemand an irgendeiner Stelle behaupten können, dass die Methoden und Ergebnisse seiner Abhandlungen auch nur im geringsten durch Kompromisse mit der Zeitströmung bedingt oder auch nur beeinflusst seien.«70 Ich entgegnete auf diese Behauptung: »Im Gegensatz zu Kittels späteren Ausreden, er habe Hitler missverstanden, halte ich in der Tat den Schluss für zutreffender, dass er Adolf Hitler und den Nationalsozialismus gut kannte und dass er billigte, was er sah.«71 Durch die gesamte Verteidigungsrede hindurch beschrieb sich Kittel als jemanden, der einen notwendigen und legitimen »Weltanschauungskampf« auszufechten hatte. Er hasste die Aufklärung und die Französische Revolution. Er hasste Deutschlands Demütigung und Niederlage im Ersten Weltkrieg. Er hasste die demokratischen Werte der Weimarer Republik. Das war seine Haltung vor 1933. Von 1933 bis 1944 pries er Hitler für seine Führung im Kampf gegen diese Übel. Er akzeptierte alle antisemitischen Stereotype der Nationalsozialisten über die Juden, von ihrer Gefahr als »entartete Rasse« bis zu ihrem Bestreben, andere Kulturen zu unterminieren und die Weltherrschaft zu erlangen. Er bekannte sich zur Härte in seiner Haltung zum Judenproblem und predigte den Christen, dass Gott keine Sentimentalität oder Milde von ihnen wolle. In

66 67 68 69 70 71

Ebd., S. 264. Kittel, Meine Verteidigung 2, S. 58. Ebd., S. 7, und Ericksen, Zur Auseinandersetzung, S. 266. Kittel, Meine Verteidigung 2, S. 67; Ericksen, Zur Auseinandersetzung, S. 266. Kittel, Meine Verteidigung 2, S. 40; Ericksen, Zur Auseinandersetzung, S. 266. Ebd., S. 267 f.

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seiner Verteidigungserklärung gab er zu, von dem Massenmord an den Juden 1943 erfahren zu haben, lobte aber Hitler noch 1944 als Bollwerk an der Seite des Christentums gegen die jüdische Bedrohung. Ich argumentierte, dass diese Auffassung Kittels seine vermeintlich gegensätzlichen Einstellungen gegenüber den Juden vor beziehungsweise nach 1933 erklärte. »Er konnte in seiner eigenen Gesinnung akzeptieren, was heute nicht akzeptabel erscheint, nämlich eine Zweckgemeinschaft zwischen Christentum und Nationalsozialismus.«72 Leonore Siegele-Wenschkewitz traf ich zweimal, im Herbst 1982 bei ihr zu Hause in Tübingen und noch einmal später, als sie einen Vortrag an der Universität Göttingen hielt. Für die meiner Meinung nach zu milde Beurteilung Kittels in ihrem Aufsatz von 1978 gab sie mir drei Erklärungen. Zum einen waren ihr Interviews mit Kittels Sohn und Tochter gewährt worden und diese persönliche Verbindung ließ sie zögern, den Vater zu hart anzugehen. Wichtiger noch, so deutete sie an, war, dass Kittel immer noch eine herausragende Figur für die Tübinger theologische Fakultät war, sodass eine zu harte Beurteilung nicht für eine Publikation angenommen worden wäre und es ihrer weiteren Karriere geschadet hätte. Schließlich erwähnte sie, dass die amerikanische TV-Serie »Holocaust« von 1978 nach ihrer Ausstrahlung in Deutschland 1979 eine neue Diskussion hervorgerufen hätte.73 Ich hatte ihren Beitrag von 1982 über Kittels »Die Entstehung des Judentums und die Entstehung der Judenfrage«, seine Rede zur Eröffnung von Walter Franks Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands, noch nicht gelesen. Obwohl er sich auf nur ein Beispiel von Kittels harten Attacken gegen Juden aus der Zeit von 1933 bis 1944 bezieht, betont dieser Aufsatz Kittels Übereinstimmung mit nationalsozialistischen Ideen und bezeichnet die sogenannte »Fehleinschätzung« nicht mehr als Kittels größten Fehler. Ungeachtet dieses Wandels in Siegele-Wenschkewitz’ Arbeit über Kittel von 1982 und unseres besseren gegenseitigen Verständnisses konnte ich nicht widerstehen, mein Buch »Theologians under Hitler« von 1985 mit einer sehr langen Fußnote zu versehen. Darin beschrieb ich sie als die, neben mir, einzige Forscherin, die sich mit Kittels Schriften aus der NS-Zeit auseinandersetzte, nach den frühen Hinweisen von Max Weinreich und William Foxwell Albright. Ich beschrieb und kritisierte ihr »Fehleinschätzung«-Argument in ihrem Buch von 1980 und unterstützte Martin Reses Kritik ihrer Kittel-Interpretation. Positiv hob ich ihre These hervor, dass die Fernsehserie »Holocaust« die Bereitschaft der Deutschen befördert habe, sich für die Auseinandersetzung mit der ­Vergangenheit zu ­öffnen, und lobte ihren Aufsatz von 1982. Dennoch bezeichnete ich ihre Reaktion auf Rese als »einigermaßen emotional«, eine Formulierung, die ich heute zutiefst 72 73

Ebd., S. 268. Interview mit Leonore Siegele-Wenschkewitz am 28.9.1982.

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bedauere. Die wichtigste Aussage in dieser Fußnote war natürlich, dass sie nicht ganz aufrichtig bei ihrer Schilderung der Geschichte von Gerhard Kittel gewesen sei.74 Ich glaube nicht, dass sie mir diese Fußnote je verziehen hat.

Schlussfolgerungen Meine erste Schlussfolgerung ist eine größere Wertschätzung der Arbeit von Leo­ nore Siegele-Wenschkewitz. Zwar denke ich, dass meine Einschätzung damals richtig war. Man kann die anstößige Art und Weise von Kittels Reaktion auf Hitlers Aufstieg nicht verstehen, ohne über »Die Judenfrage« von 1933 oder sogar seine erste Vorlesung für Walter Frank 1936 hinauszugehen. Das gesamte Werk Kittels zwischen 1933 und 1944 offenbart ein schockierendes Bekenntnis zu den Ideen des NS und eine schockierende Bereitschaft, das Christentum und die natio­nalsozialistischen Attacken gegen die Juden zu verbinden. Ich war jedoch in der komfortablen Position, meine Arbeit in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren als US-amerikanischer Historiker und als ein Profanhistoriker zu beginnen, als jemand, der keine negativen Konsequenzen zu befürchten hatte, wenn er Kittel und andere deutsche protestantische Theologen aus der Zeit des NS kritisierte. Siegele-Wenschkewitz arbeitete dagegen in Deutschland, an einer theologischen Fakultät, an Kittels eigener Universität in Tübingen, wo sie wichtigen Leuten auf die Füße trat und gegen Tabus kämpfte. Jetzt verstehe ich, dass sie Recht hatte, als sie mir sagte, dass ein mehr kritischer, umfassenderer Bericht über Kittel nicht veröffentlicht worden wäre und ihre Karriere beschädigt hätte. Heute bin ich ­sicher, sie hatte Recht. Tatsächlich war ihre erste Stelle nach der Assistenz bei Klaus Scholder trotz früher Erfolge und Publikationen nicht an der Universität, sondern an der Evangelischen Akademie in Arnoldshain im Jahr 1983. Sie blieb viele Jahre dort und übernahm 1996 die Leitung dieser Institution. Sie wurde 1990 an der Universität Frankfurt am Main habilitiert und 1997 auf eine außer­ planmäßige Professur berufen, zwei Jahre vor ihrem frühen Tod im Jahr 1999. Siegele-Wenschkewitz publizierte viel im Laufe ihrer Karriere, sie wurde eine wichtige Figur in den jüdisch-christlichen Beziehungen und in der Entwicklung der feministischen Geschichtswissenschaft.75 1999 erhielt sie den Edith-Stein74 75

Ericksen, Theologians under Hitler, S. 204 f., Fn. 17. Zu den repräsentativen Veröffentlichungen von Siegele-Wenschkewitz gehören: Nationalsozialismus und Kirchen. Religionspolitik von Partei und Staat bis 1935, Düsseldorf 1974; eine Reihe von Aufsätzen über Antisemitismus und Einstellungen der christlichen Theologie gegenüber Juden sowie die von ihr herausgegebenen Sammelbände: Verdrängte Vergangenheit, die uns bedrängt. Feministische Theologie in der Verantwortung für die Geschichte, München 1988, und Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen, Frankfurt a. M. 1994.

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Preis. Nach ihrem Tod wurde ihr zu Ehren der Leonore Siegele-Wenschkewitz-­ Preis gestiftet. Während und nach Siegele-Wenschkewitz’ Karriere waren deutsche Kirchenhistoriker zunehmend bereit, das Verhalten sowohl der evangelischen als auch der katholischen Kirche während der NS-Zeit kritischer und genauer in den Blick zu nehmen. Während ihrer Karriere in den 1980er-Jahren erlebten die Deutschen eine »Hitlerwelle«, verbunden mit der Bereitschaft, die NS-Vergangenheit mit offenen Augen zu betrachten. Ihre Arbeit über Kittel war ein wichtiger Schritt in diese Richtung, wenngleich ich sie für unvollständig hielt. Als ich mich mit ihr in den frühen 1980er-Jahren auseinandersetzte, verstand ich die problematischen Umstände, unter denen sie ihre Pionierarbeit vornahm, nicht vollständig. Meine zweite Schlussfolgerung bezieht sich auf meine eigene Behandlung Kittels vor vier Jahrzehnten. Der Dresdner Workshop im November 2017, organisiert von Manfred Gailus und Clemens Vollnhals, und meine Arbeit an diesem Beitrag boten die Gelegenheit für eine solche Rückschau. Dabei bin ich überwiegend mit mir im Reinen. Ich denke, dass ich Kittel zu Recht als Kollaborateur der Verunglimpfung der Juden durch die Nationalsozialisten sah, der half, die Deutschen auf deren endgültige Vernichtung vorzubereiten. Er mag kein ausdrücklicher Befürworter ihrer Ermordung gewesen sein, aber er war ein früher Fürsprecher sehr harter Maßnahmen und er drängte Christen dazu, harte Maßnahmen gegen Juden zu unterstützen, ohne auf emotionale Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Er lobte Hitlers Führerschaft noch 1944, lange nachdem Juden brutal verfolgt und von deutschem Boden vertrieben wurden und nachdem er selbst von ihrer massenhaften Ermordung wusste. Kittel war bereit und bestrebt, seine Karriere im nationalsozialistischen Zeitgeist zu verfolgen. Er war bereit zu behaupten, dass die traditionelle Feindseligkeit von Christen gegenüber Juden sie zu natürlichen und wichtigen Verbündeten Hitlers in seiner Politik der Verfolgung der Juden machten. Kittel war bereit, Juden zu verleumden und die jüdische Kultur genauso leidenschaftlich anzugreifen wie Vertreter von NS-Organisationen wie etwa Walter Franks Forschungsabteilung »Judenfrage«. Er war bereit, traditioneller christlicher Feindseligkeit gegenüber Juden einen »wissenschaftlichen« Anstrich zu geben und den Hass rassisch, kulturell und historisch zu rechtfertigen. Nach seiner Inhaftierung nach Kriegsende sagte Kittel, dass niemand jemals behaupten könne, sein Werk sei »auch nur im geringsten durch Kompromisse mit der Zeitströmung bedingt oder auch nur beeinflusst«. Diese Behauptung ist absurd. Vor 1933 vertrat Kittel nationalistische und antisemitische Ideen, die ihn besser auf die NS-Politik des Antisemitismus vorbereiteten, als ihm bewusst gewesen sein mag. Er passte seine Ideen später an Hitlers Führerschaft an, sodass sich seine Zustimmung zu Hitlers neuem Deutschland und seine eigenen beruflichen Ambitionen verbanden. Es war diese Kombination seiner Expertise zum

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Thema Juden und Judentum, seine stereotype Abneigung gegenüber Juden, die bei ihm auch als Teil seiner Abneigung gegen die Weimarer Republik erschien, und seine Begeisterung für Hitlers mächtige, antidemokratische und antisemitische Führerschaft nach 1933, die ihn empfänglich machten für eine »Beeinflussung« und Kompromittierung durch die schlimmsten Aspekte des NS-Regimes. Meine letzte Schlussfolgerung bezieht sich darauf, wie die erheblichen Veränderungen des Verständnisses von Politik und Antisemitismus des NS seit meiner ersten Arbeit über Kittel am besten verstanden werden können.76 Die christlichen Kirchen haben große Schritte zurückgelegt auf dem Weg der Veränderung einer Jahrhunderte währenden antijüdischen Gegnerschaft. Das kann man ablesen an den Veränderungen der katholischen Kirchendoktrin, die mit dem II. Vatikanischen Konzil eingeführt wurden.77 Es kann ebenso an der verbreiteten und bemerkenswerten Entscheidung der großen christlichen Kirchen, die Bekehrung von Juden nicht mehr zu betreiben oder zu unterstützen, abgelesen werden. Nach meiner Arbeit über Kittel hat Wolfgang Gerlach über den Antisemitismus innerhalb der Bekennenden Kirche gearbeitet.78 Susannah Heschel forschte über das befremdliche Argument des »arischen Jesus«, welches bereits vor Hitlers Aufstieg existierte und sich mit dem NS verband.79 Und es gibt die Arbeiten von Autoren dieses Bandes, darunter vor allem die der beiden Herausgeber Manfred Gailus und Clemens Vollnhals.80 Über einige dieser Veränderungen wurde in dem Band »Neubewertung der kirchlichen Zeitgeschichte« von 2014 geschrieben.81 Heute gibt es ein weitaus breiteres Interesse an der Geschichte des NS und des

76

Vgl. Robert P. Ericksen, Complicity in the Holocaust: Churches and Universities in Nazi Germany, Cambridge, 2012, insbes. S. 25–37 und 132–136. In diesem Buch schrieb ich über Kittel und andere Vertreter der deutschen evangelischen Kirche und ging härter mit ihrem Antisemitismus ins Gericht als in den 1970er- und 1980er-Jahren. Das wurde, so glaube ich, neuen Erkenntnissen über die Bedeutung des Antisemitismus und der Judenvernichtung unter den vielfältigen Verbrechen des NS-Regimes besser gerecht. Es beruht auf der Fülle jüngerer Forschungen auf dem Gebiet der Holocaust-Studien. 77 Vgl. u. a. Robert P. Ericksen, Jews and »God the Father« after Auschwitz: American Responses to Nostra Aetate. In: Kirchliche Zeitgeschichte, 29 (2016) 2, S. 323–336. 78 Wolfgang Gerlach, Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden, Berlin 1987. 79 Susannah Heschel, The Aryan Jesus: Christian Theologians and the Bible in Nazi Germany, Princeton 2008. 80 Vgl. Manfred Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Köln 2001; Clemens Vollnhals, Evangelische Kirche und Entnazifizierung, 1945–1949. Die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit, München 1989. sowie weitere zahlreiche wichtige Bücher, geschrieben bzw. herausgegeben von diesen beiden Historikern. 81 Vgl. Kirchliche Zeitgeschichte, 27 (2014) 1, zum Thema »Neubewertung der modernen Kirchengeschichte«. Die Beiträge dieses Bandes wurden gehalten anlässlich einer Konferenz in Vancouver 2013 zu Ehren John Conways und seiner Arbeit über die deutsche Kirchengeschichte, insbesondere sein Werk: The Nazi Persecution of the Churches, 1933–1945, London 1968.

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Holocaust. Dafür sprechen unter anderem die Schaffung der Holocaust-Museen und der Holocaust-Mahnmale in Deutschland sowie andernorts in Europa und Nordamerika. Heute würde ich beim Schreiben über Kittel mehr Gewicht auf das legen, was wir durch Holocaust-Studien gelernt haben, darunter die tief sitzende antijüdische Feindseligkeit innerhalb der christlichen Tradition von nahezu 2 000 Jahren, eine Feindseligkeit, die so allgegenwärtig ist, dass selbst die am meisten bewunderten Kritiker und Gegner des Nazi-Regimes oft antisemitisch waren.82 Dieses Vermächtnis erhöhter Sensibilität gehört zum Besten der Arbeiten aus den letzten 40 Jahren über Kittel, dessen Kollegen und dessen Kirche, wie sich in diesem Band zeigt. Ein wichtiges Beispiel ist die Arbeit von Horst Junginger, sowohl sein Beitrag zu diesem Band als auch sein Buch über »Die Verwissenschaftlichung der ›Judenfrage‹ im Nationalsozialismus«.83 Mit Fokus auf die Universität Tübingen und basierend auf sehr gründlichen Recherchen in relevanten Archiven, beschreibt Junginger nicht nur Kittel, sondern auch Karl Georg Kuhn (1906–1976) und eine Gefolgschaft von Schülern als Zentrum der »Jüdischen Studien« der damaligen Zeit. Es ist eine düstere Geschichte. Jene Vorurteile, die wir durch die Grauen des Holocaust gelernt haben zu verurteilen, waren einst weit verbreitet und vorherrschend. Siegele-Wenschkewitz hatte Recht, als sie mir 1979 schrieb und Kittels Ideen als Spiegel immer noch geltender Theologien darstellte. Kittel, Kuhn und andere passten ihre linguistischen und wissenschaftlichen Ziele dem NS-Staat an. Sie konkurrierten um Forschungsgelder, suchten nach Aufstiegsmöglichkeiten, indem sie an alte Vorurteile gegen Juden anknüpften und diese als Mittel für ihr akademisches Fortkommen einsetzten. Nach mindestens zwei Jahrzehnten, in denen sich die »deutsche Wissenschaft« als hoch gepriesene Norm etabliert hatte, schlugen diese Männer, wie Junginger zeigt, eine Richtung ein, die den Test der Zeit nicht bestanden hat, um das mindeste zu sagen. Ich denke, dass dieses Buch mit seinem Fokus auf Gerhard Kittel einen weiteren wichtigen Beitrag dazu leistet, seinen spezifischen Weg in diese Richtung auszuleuchten.

82

Das trifft sogar auf Dietrich Bonhoeffer zu. Vgl. Kenneth Barnes, Dietrich Bonhoeffer and Hitler’s Persecution of the Jews. In: Robert P. Ericksen/Susannah Heschel (Hg.), Betrayal: German Churches and the Holocaust, Minneapolis 1999, S. 110–128. 83 Horst Junginger, Die Verwissenschaftlichung der »Judenfrage« im Nationalsozialismus, Darmstadt 2011.





Clemens Vollnhals  Nationalprotestantische Traditionen und das euphorische ­Aufbruchserlebnis der Kirchen im Jahr 1933

Am Gründonnerstag, den 13. April 1933, erließ der bayerische Landeskirchenrat folgende Kundgebung, die in den Gemeinden am Ostersonntag zu verlesen war: »Ein Staat, der wieder anfängt, nach Gottes Gebot zu regieren, darf sich in diesem Tun nicht nur des Beifalls, sondern auch der freudigen und tätigen Mitarbeit der Kirche sicher sein. Mit Dank und Freude nimmt die Kirche wahr, wie der neue Staat der Gotteslästerung wehrt, der Unsittlichkeit zu Leibe geht, Zucht und Ordnung mit starker Hand aufrichtet, wie er zur Gottesfurcht ruft, die Ehe heilig gehalten und die Jugend geistlich erzogen wissen will, wie er der Väter Tat wieder zu Ehren bringt und heiße Liebe zu Volk und Vaterland nicht mehr verfemt, sondern in tausend Herzen entzündet. […] Wir können unsere Gemeindeglieder nur bitten, sich ernstlich und willig dafür einzusetzen, dass die starken aufbauenden Kräfte […] zum vollen, ungehinderten Siege kommen.«1

Einen Tag zuvor hatte der Landeskirchenrat unter der kommissarischen Führung von Hans Meiser (1881–1956), der am 4. Mai von der Synode (auch mit Unterstützung des Nationalsozialistischen Pfarrerbundes) zum Landesbischof gewählt werden sollte, bereits die Beflaggung aller Kirchengebäude zu Hitlers Geburtstag am 20. April angeordnet.2 Einen ähnlich euphorischen Ton schlug die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union, der mit Abstand größten deutschen Landeskirche, in ihrer am 16. April verlesenen Kanzelabkündigung an: »Die Osterbotschaft von dem auferstandenen Christus ergeht in Deutschland in diesem Jahr an ein Volk, zu dem Gott durch eine große Wende gesprochen hat. Mit allen evangelischen Glaubensbrüdern wissen wir uns eins in der Freude über den Aufbruch der tiefsten Kräfte unserer Nation zu vaterländischem Bewusstsein, echter Volksgemeinschaft und religiöser Erneuerung. Schon im Jahre

1

2

Kanzelaufruf des Landeskirchenrates der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Bayern vom 16.4.1933. In: Günther van Norden, Der deutsche Protestantismus im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung, Gütersloh 1979, S. 59 f. Dort datiert auf den 16.4., den Tag der Kanzelabkündigung. Vgl. Björn Mensing, Pfarrer und Nationalsozialismus. Geschichte einer Verstrickung am Beispiel der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Göttingen 1998, S. 160.

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Clemens Vollnhals

1927 hat die evangelische Kirche in ihrer Königsberger Botschaft feierlich erklärt: ›Wir sind Deutsche und wollen Deutsche sein. Unser Volkstum ist uns von Gott gegeben. Christentum und Deutschtum sind mehr als ein Jahrtausend eng mit einander verwachsen!‹ Die Kirche hat schon damals zum Kampf und zum Einsatz aller Kräfte für die Durchdringung des Volkslebens mit den Kräften des Evangeliums aufgerufen. In der Überzeugung, dass die Erneuerung von Volk und Reich nur von diesen Kräften getragen und gesichert werden kann, weiß sich die Kirche mit der Führung des neuen Deutschland dankbar verbunden. Sie ist freudig bereit zur Mitarbeit an der nationalen und sittlichen Erneuerung unseres Volkes. Zur Ausrichtung dieses Dienstes bedarf die Kirche voller Freiheit für die Entfaltung ihres Lebens und ihrer Arbeit. Sie vertraut der Regierung, die uns die feierliche Zusicherung dieser Freiheit gegeben hat.«3

Diese beiden Kundgebungen zum Osterfest sind für die protestantische Euphorie im Jahre 1933 in vielerlei Hinsicht sehr aufschlussreich. Denn es sind keine Erklärungen der Deutschen Christen (DC), die sich 1932 als Parteigänger der Nationalsozialisten im Raum der evangelischen Kirche als kirchenpolitische Bewegung konstituiert hatten. Die bayerische Landeskirche war einem konservativen Luthertum verhaftet, während die Altpreußische Union lutherische, reformierte und unierte Gemeinden umfasste. Jenseits aller theologischen und landsmannschaftlichen Unterschiede, um nicht zu sagen einer tief verwurzelten Abneigung zwischen Bayern und Preußen, kam in beiden kirchenleitenden Erklärungen die freudige Bejahung des neuen NS-Regimes zum Ausdruck, während man der Weimarer Republik mit großer Distanz und einem strikten Kurs überparteilicher Neutralität gegenübergestanden hatte. Mit der Gleichschaltung der Länder nach der Reichstagswahl am 5. März 1933 und der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes am 23. März 1933 war die Demokratie zerschlagen und der Rechtsstaat mit dem offenen Terror gegen Mitglieder der Kommunistischen (KPD) und Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) sowie Gewerkschaftsfunktionäre und mit der Errichtung der ersten Konzentrationslager in Dachau und Oranienburg weithin ausgehebelt. Nicht minder offensichtlich war die antisemitische Stoßrichtung des NS-Regimes, das mit dem Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April und dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April in aller Öffentlichkeit die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz aufkündigte. All diese Gewaltakte fanden in den kirchlichen Verlautbarungen keine Erwähnung, sie wurden offensichtlich

3

Ansprache des Oberkirchenrates der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union vom 11.4.1933. In: van Norden, Protestantismus, S. 60 f. Zur Altpreußischen Union (APU) gehörten die Kirchenprovinzen Ostpreußen, Mark Brandenburg, Pommern, Grenzmark Posen-Westpreußen, Schlesien, Sachsen, Westfalen und Rheinland-Hohenzollern. Zur Gliederung der evangelischen Landeskirchen 1932 vgl. Siegfried Hermle/Jörg Thierfelder (Hg.), Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, S. 26 ff.

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als unvermeidliche Begleiterscheinungen bei der »nationalen und sittlichen Erneuerung« des deutschen Volkes nach langen Jahren politischer und moralischer Dekadenz bereitwillig hingenommen. Im Bewusstsein des dominierenden Nationalprotestantismus bedeutete die nationalsozialistische Machtübernahme vor allem den Aufbruch in eine bessere Zukunft. Zum Sinnbild für diesen Aufbruch, der viele an das Augusterlebnis von 1914 erinnerte, wurde der feierlich-suggestive »Tag von Potsdam« (21. März), als sich Reichskanzler Adolf Hitler und der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg in der Garnisonkirche, der Grablege der Hohenzollern, die Hand gaben. Dieser Akt war die symbolische Vereinigung des »alten« mit dem »neuen« Deutschland. Es war eine Inszenierung, die tiefe Sehnsüchte der dominierenden Strömung des Nationalprotestantismus erfüllte – und in der Tat hatte erst das Bündnis der konservativen Machteliten mit der NS-Massenbewegung Hitler an die Macht gebracht. Nicht zuletzt mit Bezug auf die Abkündigungen zu Ostern 1933 urteilte daher der Tübinger Kirchenhistoriker Klaus Scholder: »Die Machtergreifung als geistiger Vorgang, bei dem es weniger um die Eroberung der politischen Machtpositionen als vielmehr um die innere Gewinnung der Mehrheit und die Aufhebung der kritischen Distanz des Einzelnen ging, war für die evangelische Kirche Ende März im Wesentlichen abgeschlossen.«4

Nationalprotestantische Traditionen und Traumatisierungen Diese kritiklose Begeisterung ist nur vor dem Hintergrund der tief greifenden Traumatisierung durch den Zusammenbruch des Kaiserreichs in der November­ revolution 1918 zu verstehen. In seinen Memoiren berichtet der langjährige württembergische Landesbischof und spätere Ratsvorsitzende der EKD Theophil Wurm (1868–1953): »Als ich am 7. Dezember diesen Jahres [1918] meinen 50. Geburtstag feierte, schien mir, als ob mein Leben umsonst gewesen wäre.«5 Tiefe Verzweiflung und ohnmächtige Empörung bemächtigte sich 1918/19 weiter bürgerlicher Kreise. Die vorherrschende Stimmungslage formulierte der Kirchenjurist Reinhard Moeller (1855–1927), der führende Mann der Altpreußischen Union, als er auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 1919 in Dresden unter großem Beifall ausführte:

4

5

Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934, Frankfurt a. M. 1977, S. 299. Vgl. zum »Tag von Potsdam« mit vielen neuen Details Matthias Grünzig, Für Deutschtum und Vaterland. Die Potsdamer Garnisonkirche im 20. Jahrhundert, Berlin 2017, S. 141–180. Theophil Wurm, Erinnerungen aus meinem Leben, Stuttgart 1952, S. 65.

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»In einem Weltkrieg ohne gleichen, nach einem mehr als vierjährigen heldenmütigen Ringen ohne gleichen, gegen eine ganze Welt von Feinden ist unser Volk zusammengebrochen. Die Herrlichkeit des deutschen Kaiserreiches, der Traum unserer Väter, der Stolz jedes Deutschen ist dahin. Mit ihr der hohe Träger der deutschen Macht, der Herrscher und das Herrscherhaus, das wir als Bannerträger deutscher Größe so innig liebten und verehrten. Dem furchtbaren Krieg hat ein furchtbarer Friede kaum ein Ende gesetzt.«6

Der Zusammenbruch des Kaiserreichs stürzte den Protestantismus in eine tiefe Identitätskrise. Sie ist nur vor dem Hintergrund der vorbehaltslosen Identifikation mit dem wilhelminischen Kaiserreich und der rauschhaften Kriegsbegeisterung zu Beginn des Ersten Weltkrieges verständlich. Der »Geist von 1914« hatte in der evangelischen Kirche zur Ausbildung einer spezifischen Kriegstheologie geführt, die den deutschen Sieg geradezu als eine »Erfüllung der göttlichen Gerechtigkeit« erscheinen ließ.7 Beispielhaft für die alle theologischen Richtungen durchdringende nationalprotestantische Gesinnung ist die vergleichsweise noch gemäßigte Predigt Ernst von Dryanders (1843–1922), des preußischen Oberhofpredigers, im Berliner Dom am 4. August 1914: »[...] wir ziehen in den Kampf für unsere Kultur gegen die Unkultur, für die deutsche Gesittung wider die Barbarei, für die freie, deutsche, an Gott gebundene Persönlichkeit wider die Instinkte der ungeordneten Masse […] und Gott wird mit unseren gerechten Waffen sein! Denn mit deutscher Gesinnung hängt auf das Engste zusammen deutscher Glaube und deutsche Frömmigkeit.«8 Die enge Verknüpfung von religiösem und nationalem Empfinden, die Identifikation von Kaiser, Reich und Protestantismus entsprach seit der Reichsgründung 1871 dem Selbstgefühl einer ganzen Generation von Theologen und Kirchenmännern. In seiner großen Darstellung des Kaiserreichs urteilt Thomas Nipperdey resümierend: »Thron und Altar erweiterten sich zur Dreiheit von Thron, Nation und Altar; das Pathos des Gehorsams gegenüber König und Staat galt jetzt auch für die Nation. […] Reich und Gottes Reich rückten mehr zusammen. Die Ereignisse von 1870/71 waren als gemeinsame Erfahrung auch in die Kirche eingegangen. Der Sedantag – das war das protestantische Reichs-Gebet für den Sieg und Bestand des nationalen Staates.«9 Die spezifische Verbindung

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9

Verhandlungen des (ersten) Deutschen Evangelischen Kirchentages in Dresden 1919, Berlin 1920, S. 57. Scholder, Kirchen, Band 1, S. 6. Bruno Doehring (Hg.), Eine feste Burg. Predigten und Reden aus eherner Zeit, Band 1, Berlin o. J. [1914], S. 14 f. Zahlreiche weitere Beispiele bei Wilhelm Pressel, Die Kriegspredigt 1914– 1918 in der evangelischen Kirche Deutschlands, Göttingen 1967; Wolfgang Huber, Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973, S. 135–294; Gerhard Besier, Die protestantischen Kirchen Europas im Ersten Weltkrieg. Ein Quellen- und Arbeitsbuch, Göttingen 1984. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Band 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 488. Vgl. auch Olaf Blaschke/Frank-Michael Kuhlemann (Hg.), Religion im

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von Protestantismus und Deutschtum, die Stilisierung Luthers zum nationalen Heros prägte insbesondere die großen Lutherjubiläen 1883 und 1917. Schon Heinrich von Treitschke (1834–1896), der Hofhistoriker des preußisch-protestantischen Bildungsbürgertums, hatte Luther als die Verkörperung des germanisch-deutschen Wesens gedeutet, das von Gott zur Herrschaft über die Welt legitimiert sei.10 Jenseits aller politischen und gefühlsmäßigen Bindungen an das Kaiserreich markierte die Revolution von 1918 auch eine tief greifende Zäsur in der Struktur der evangelischen Kirche. Mit dem Sturz der Fürsten, die seit der Reformation als oberste Kirchenherren fungiert hatten, ging die Epoche des landesherrlichen Kirchenregiments zu Ende. Der Aufbau eigenständiger Kirchenleitungen wurde von den Kirchenführern allgemein als Befreiung von staatlicher Bevormundung begrüßt, während man dem Verlust der Vorrangstellung des Protestantismus im festen Bündnis von Thron und Altar noch lange nachtrauerte. Dieser Macht- und Prestigeverlust wurde umso mehr als Bedrohung der eigenen Position empfunden, als die Weimarer Republik in erster Linie von jenen politischen Kräften getragen wurde, die im preußisch-protestantisch geprägten Kaiserreich als »Reichsfeinde« geächtet waren: Sozialdemokraten und Katholiken, die in Preußen, dem größten Land des Deutschen Reichs, zusammen mit den Liberalen bis 1932 eine stabile Regierungskoalition stellten. Dennoch passten sich Kirchenführer und insbesondere die Konsistorialbürokratie schnell den neuen Verhältnissen an. Dieser Pragmatismus resultierte im Wesentlichen aus der Erkenntnis, dass der Wahrung kirchlicher Interessen – von der Schulpolitik bis zur Sozialarbeit – am besten mit einem einvernehmlichen Verhältnis von Staat und Kirche gedient sei. Blickt man jedoch auf die politische Mentalität der überwiegenden Mehrheit von Kirchenführern, Pfarrerschaft und Meinungsführern im kirchlichen Presse- und Verbandswesen, so bestanden die tief sitzenden Ressentiments gegenüber der Weimarer Republik fort. Die ­Loyalität

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Kaiserreich. Milieus, Mentalitäten, Krisen, Gütersloh 1996; Gerd Krumeich/Hartmut Lehmann (Hg.), »Gott mit uns«. Nation, Religion und Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000; Manfred Gailus/Hartmut Lehmann (Hg.), Nationalprotestantische Mentalitäten in Deutschland (1870–1970). Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, Göttingen 2005; Clemens Vollnhals, »Mit Gott für Kaiser und Reich«. Kulturhegemonie und Kriegstheologie im Protestantismus 1870–1918. In: Andreas Holzem (Hg.), Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens, Paderborn 2009, S. 656–679. Vgl. Hartmut Lehmann, »Er ist wir selber: der ewige Deutsche«. Zur langanhaltenden Wirkung der Lutherdeutung von Heinrich von Treitschke. In: ders., Luthergedächtnis 1817 bis 2017, Göttingen 2017, S. 126–137; ders., Das Lutherjubiläum 1883. In: ebd., S. 59–77; Gottfried Maron, Luther 1917. Beobachtungen zur Literatur des 400. Reformationsjubiläums. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte, 93 (1982), S. 176–221; Dorothea Wendebourg, So viele Luthers. Die Lutherjubiläen des 19. und 20. Jahrhunderts, Leipzig 2017.

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galt, wie bei den alten Herrschaftseliten in Verwaltung, Justiz und Armee, primär dem Staat, nicht aber der demokratischen Staatsform.11 Nach der Bevölkerungsstatistik von 1925 umfassten die evangelischen Kirchen knapp 40 Millionen Mitglieder bzw. 64,1 Prozent der Bevölkerung; aktiv am kirchlichen Leben nahmen, gemessen an der Abendmahlsbeteiligung, rund 11 Millionen Gemeindemitglieder teil.12 Das viel beschworene Leitbild einer über den Parteien stehenden, alle Volksschichten umfassenden Kirche erwies sich in der Praxis als trügerische Illusion. Ein Spottvers aus den 1920er-Jahren brachte dies treffend zum Ausdruck: »Die Kirche ist politisch neutral – aber sie wählt deutschnational.« Hierin spiegelte sich nicht zuletzt die soziale Milieuverengung im aktiven Gemeindekern auf ländlich-bäuerliche und mittelständische Schichten wider, während das großstädtische, liberale Bürgertum und die Arbeiterschaft kaum noch erfasst wurden. In den Synoden war der Adel noch kräftig vertreten, während kleine Angestellte und Arbeiter fast gänzlich fehlten. Die Pfarrerschaft rekrutierte sich vornehmlich aus dem gebildeten Mittelstand. Über 60 Prozent der Pfarrer entstammten akademischen Elternhäusern, vor allem aus der Beamtenschaft; 28 Prozent waren Söhne von evangelischen Pfarrern.13 Sozialpsychologisch dominierte ein Pfarrertypus, der zu »naiv und politisch uninformiert« war, »um sich der Übertragung apodiktischer Glaubensurteile auf das politische Komplexgeschehen enthalten zu können und dessen ganze Konzentration darauf geht, sich die Welt aus dem verkürzenden Umkreis von Bibel, Weltanschauung und Gotteserfahrung her zu deuten«.14 Geborgen im frommen Kreis der Kerngemeinde, registrierte man den raschen politischen, ge-

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Vgl. Jochen Jacke, Kirche zwischen Monarchie und Republik. Der preußische Protestantismus nach dem Zusammenbruch von 1918, Hamburg 1976; Jonathan R. C. Wright, »Über den Parteien«. Die politische Haltung der evangelischen Kirchenführer 1918–1933, Göttingen 1977; Kurt Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, 2. Auflage Göttingen 1988. 12 Vgl. Kirchliches Jahrbuch für die evangelischen Landeskirchen Deutschlands 1927, Gütersloh 1927, S. 144 f., 223. 13 Kirchliches Jahrbuch für die evangelischen Landeskirchen Deutschlands 1930, Gütersloh 1930, S. 113. Zur sozialen Zusammensetzung von Synoden und Kirchenleitungen vgl. Friedrich-Martin Balzer, Kirche und Klassenbindung in der Weimarer Republik. In: Yorick Spiegel (Hg.), Kirchen und Klassenbindung. Studien zur Situation der Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1974, S. 45–65. 14 Manfred Jacobs, Kirche, Weltanschauung, Politik. Die evangelische Kirche und die Option zwischen dem zweiten und dritten Reich. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 31 (1983), S. 108–135, hier 124. Vgl. auch Karl-Wilhelm Dahm, Pfarrer und Politik. Soziale Position und politische Mentalität des deutschen evangelischen Pfarrerstandes zwischen 1918 und 1933, Köln 1965; zur Rolle der Dorfpfarrer vgl. Wolfram Pyta, Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1919–1933. Die Verschränkung von Milieu und Parteien in den protestantischen Landgebieten Deutschlands in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1996, S. 107–126, 233–252.

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sellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozess der Moderne in erster Linie als den Zerfall gottgewollter hierarchisch-patriarchalischer Ordnungen. Die gegenseitige Entfremdung von Arbeiterschaft und Kirche schlug sich nach 1918 in einem ­geradezu explosionsartigen Anstieg der Kirchenaustritte (zumeist zur Konfessions­losigkeit) nieder. Insgesamt verließen während der Weimarer Republik bis einschließlich 1932 2,27 Millionen Personen die evangelische Kirche, während zwischen 1908 und 1918 insgesamt nur rund 187 000 Austritte zu verzeichnen gewesen waren.15 Diese Entwicklung kann in ihren Auswirkungen auf die geistig ohnehin verunsicherte Pfarrerschaft kaum überschätzt werden und verschärfte das krisenhafte Bewusstsein, in einer Zeit des permanenten politischen und moralischen Verfalls zu leben. Je mehr die sozialintegrative, gesellschaftsprägende Kraft der Kirche nachließ, desto mehr verdichtete sich im Einklang mit der konservativen Zivilisations­ kritik das Feindbild des Säkularismus, das in Aufklärung, Rationalismus und ­Liberalismus die Ursachen für den Abfall der modernen Welt von Gott und Kirche sah. Aus dieser geschichtstheologischen Deutung ergab sich nahezu zwangsläufig die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie, galt sie doch als der Inbegriff jener verhängnisvollen Fehlentwicklung.16 Als gegenläufige Integrations­ideologie bot sich ein zunehmend völkisch unterfütterter Nationalismus an, der an den schon im Kaiserreich von Adolf Stoecker (1835–1909) und Heinrich von Treitschke politisch aufgeladenen Antisemitismus anknüpfen konnte.17 Er übernahm immer stärker die Funktion einer politischen Theologie und sollte vor allem randkirchliche Kreise an eine Kirche binden, die sich selbst als konservative Gegenmacht zur pluralistischen Gesellschaft verstand. Zwar gab es auch Stimmen, die die Republik aus Gründen der Vernunft bejahten, doch sie blieben eine Minderheit.

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Statistik (nur evangelische Kirche) bei Jochen-Christoph Kaiser, Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. Proletarische Freidenkerverbände in Kaiserreich und Weimarer Republik, Stuttgart 1981, S. 352. 16 Vgl. Klaus Tanner, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre, Göttingen 1989. 17 Vgl. Martin Greschat, Protestantischer Antisemitismus in Wilhelminischer Zeit – Das Beispiel des Hofpredigers Adolf Stoecker. In: Günter Brakelmann/Martin Rosowski (Hg.), Antisemitismus. Von der religiösen Judenfeindschaft zur Rassenideologie, Göttingen 1989, S. 27–51; Ulrich Langer, Heinrich von Treitschke. Politische Biographie eines deutschen Nationalisten, Düsseldorf 1998.

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Die NSDAP als protestantische Milieupartei Wie die historische Wahlforschung eindeutig belegt, war die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) eine moderne Volkspartei des Protests, die alle sozialen Schichten umfasste. Diese soziologische Charakterisierung ist in Bezug auf das Weimarer Parteienspektrum zweifellos zutreffend, sie ist jedoch zu ergänzen. Denn von ihren Wählern her war die NSDAP eine »klar evangelisch geprägte, ansonsten aber sozial recht heterogen zusammengesetzte Partei«.18 Das gilt, wie neuere Analysen feststellen, auch für die Parteimitglieder. Bis 1933 gelang es der NSDAP, »ihre neuen Mitglieder weit überdurchschnittlich aus protestantisch-bürgerlichen Hochburgen zu rekrutieren, während sie sowohl innerhalb des katholischen Milieus als auch im sozialistischen Arbeitermilieu nur unterdurchschnittliche Rekrutierungserfolge zu erzielen vermochte«.19 Die Bedeutung des konfessionellen Faktors war bis ins Jahr 1933 für das Wahlverhalten »von ausschlaggebender Bedeutung«; er war ein genuiner, von anderen Größen – etwa des Anteils der Arbeitslosen oder der sozialen Zusammensetzung einer Gemeinde – »weitestgehend unabhängiger Einflussfaktor«.20 Besonders auffällig wird dieser Zusammenhang, wenn man gemischt konfessionelle Gebiete mit einer ähnlichen Wirtschafts- und Sozialstruktur betrachtet. So erhielt beispielsweise die NSDAP bei der Reichstagswahl im Juli 1932 in Bayern in allen überwiegend protestantischen Landkreisen die absolute Mehrheit, außer in Erlangen (48,1 %) und Schwabach (47 %). In den agrarischen und zu mehr als 70 Prozent protestantischen Stimmkreisen erreichte sie teilweise sogar über 70 Prozent. Absolute Mehrheiten erzielte die NSDAP auch in den nicht großindustriell geprägten, überwiegend protestantischen Städten, dagegen in keinem überwiegend katholischen Landkreis. Besonders in kleinen protestantischen Landgemeinden gewann sie bereits 1932 zwischen 90 und 100 Prozent aller Stimmen.21

18 Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler, München 1991, S. 287 (vgl. auch 169–193). Vgl. auch Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 140–163. 19 Jürgen W. Falter, Alte Gewissheiten – neue Erkenntnisse: Ein Resümee. In: ders. (Hg.), Junge Kämpfer, alte Opportunisten. Die Mitglieder der NSDAP 1919–1945, Frankfurt a. M. 2016, S. 463–475, hier 472. Zu den konfessionellen Strukturen innerhalb der NSDAP vgl. auch Armin Nolzen, Nationalsozialismus und Christentum. Konfessionsgeschichtliche Befunde zur NSDAP. In: Manfred Gailus/Armin Nolzen (Hg.), Zerstrittene »Volksgemeinschaft«. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011, S. 151–179. 20 Falter, Hitlers Wähler, S. 193. Vgl. auch Pyta, Dorfgemeinschaft, S. 15. 21 Dietrich Thränhardt, Wahlen und politische Strukturen in Bayern 1848–1953. Historisch-soziologische Untersuchungen zum Entstehen und zur Neuerrichtung eines Parteiensystems, Düsseldorf 1973, S. 181. Vgl. auch Rainer Hambrecht, Die braune Bastion. Der Aufstieg der NSDAP in Mittel- und Oberfranken 1922–1933, Neuauflage Nürnberg 2017. Für die Pfalz vgl. Thomas

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Der entscheidende Durchbruch gelang der NSDAP 1930 in den protestantischen Reichsgebieten, während sich das katholische Milieu aufgrund der Zen­ trumspartei und der Verurteilung der NS-Bewegung durch die katholischen Bischöfe vor 193322 als ein wirksames Bollwerk erwies. Erst bei der Wahl im März 1933 gelangen den Nationalsozialisten größere Einbrüche in katholische Stimmbezirke. Insofern kann man durchaus von der NSDAP als einer in weiten Teilen »evangelisch-ländlichen Milieupartei« sprechen.23 Die politische Polarisierung gegen Ende der Weimarer Republik spiegelte sich auch in der Pfarrerschaft wider. Zunehmend richteten viele Geistliche ihre natio­ nalen Hoffnungen und Sehnsüchte auf die NS-Bewegung. Nach einer unvollständigen Statistik waren in Bayern vor 1933 mindestens 53 Pfarrer der NSDAP beigetreten. Die Zahl der Sympathisanten dürfte erheblich höher gelegen haben, da die Kirchenleitung unter dem altkonservativen Kirchenpräsidenten Friedrich Veit (1861–1948) den Pfarrern jegliche aktive politische Betätigung verboten hatte. Fundierte Schätzungen sprechen von »deutlich über 50 Prozent der Pfarrer«, die bei den verschiedenen Wahlen 1932 für die NSDAP gestimmt haben.24 Im »Dritten Reich« gehörten mindestens 209 bayerische Pfarrer der NSDAP an, wobei die meisten Eintritte im Jahr 1933 zu registrieren waren.25 Nicht jeder dieser Pfarrer gehörte zugleich dem Nationalsozialistischen Evangelischen Pfarrerbund (NSEP) an, der Mitte 1934 268 Mitglieder verzeichnete. Addiert man NSEP- und NSDAP-Pfarrer, so ergeben sich für die bayerische Landeskirche 1934 mindestens 365 organisierte nationalsozialistische Pfarrer, was einem Anteil von rund 19 Prozent entsprach.26 Für die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau gab die Kirchenleitung unter Martin Niemöller (1892–1984) 1948 103 NSDAP-Mitglieder (16 %) von 645 aktiven Pfarrern an, in Bremen hatten sich neun von 55 Pfarrern der NSDAP angeschlossen.27 In der Pfalz gehörten 107 (22 %) von rund 490 Pfarrern der ­NSDAP

Fandel, Konfession und Nationalsozialismus. Evangelische und katholische Pfarrer in der Pfalz 1930–1939, Paderborn 1997; zudem auch Christoph Picker/Gabriele Stüber/Klaus Bümlein/ Frank-Matthias Hofmann (Hg.), Protestanten ohne Protest. Die evangelische Kirche der Pfalz im Nationalsozialismus, 2 Bände, Speyer 2016. 22 Vgl. Scholder, Kirchen, Band 1, S. 166 ff. 23 Pyta, Dorfgemeinschaft, S. 324. 24 Vgl. Mensing, Pfarrer, S. 145. 25 Vgl. Statistik von 1948 mit Eintrittsjahr in: Clemens Vollnhals, Evangelische Kirche und Entnazifizierung. Die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit, München 1989, S. 164. 26 Vgl. Mensing, Pfarrer, S. 149 f. 27 Noch wesentlich höher liegt die NS-Belastung, wenn man die Mitgliedschaft in anderen NS-­ Organisationen berücksichtigt. Vgl. die Aufstellung bei Clemens Vollnhals, Die Hypothek des Nationalprotestantismus. Entnazifizierung und Strafverfolgung von NS-Verbrechen nach 1945. In: Geschichte und Gesellschaft, 18 (1992), S. 51–69, hier 57.

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an, davon 53 vor 1933.28 Unter den rund 230 Pfarrern in Braunschweig gab es 41 Parteigenossen (18 %), von ihnen waren neun vor 1933 der NSDAP beigetreten.29 In Berlin war nach fundierter Schätzung jeder fünfte Gemeindepfarrer zugleich NSDAP-Mitglied.30 In dieser Größenordnung liegen auch die Zahlen für die DC-Hochburg Thüringen.31 Auch wenn diese Angaben noch keinen repräsentativen Querschnitt für die gesamte evangelische Kirche ergeben, so umfassen sie doch ganz unterschiedlich geprägte Landeskirchen. Sie sind besonders bemerkenswert, da im traditionellen Amtsverständnis ein direktes parteipolitisches Engagement verpönt war und als nicht vereinbar mit der seelsorgerlichen Gemeindetätigkeit galt. Insofern repräsentieren sie den harten Kern nationalsozialistischer Begeisterung, für den besonders die jüngere Pfarrergeneration anfällig war. Die Machtübernahme Hitlers wurde in vielen Facetten heilsgeschichtlich gedeutet, weshalb die preußische Kirchenleitung in ihrer Osterbotschaft auch davon sprechen konnte, Gott habe zu dem deutschen Volk »durch eine große Wende gesprochen«. Diese heilsgeschichtliche Deutung war keine theologische Verirrung der DC, sondern entsprach einer flügelübergreifenden nationalprotestantischen Mentalität. So konnte der angesehene lutherische Theologe Paul Althaus (1888–1966) in seiner 1933 publizierten Schrift »Die deutsche Stunde der Kirche« ohne Bedenken den Satz schreiben: Die evangelischen Kirchen haben die »deutsche Wende von 1933 als ein Geschenk und Wunder Gottes begrüßt«.32 Noch weiter ging sein Erlanger Kollege, der Kirchenhistoriker Hans Preuß (1876–1951), der bereits im November 1932 im »Völkischen Beobachter« zur Wahl der NSDAP aufgerufen hatte. Er parallelisierte in seiner Broschüre »Luther und Hitler« 1933 das Leben und Werk dieser deutschen »Kämpfernaturen«. Beide hätten ein »Rettungswerk von solcher Bedeutung« vollbracht, »dass 28

Thomas Fandel, Protestantische Pfarrer und Nationalsozialismus in der Region. Vom Ende der Weimarer Republik bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. In: Geschichte und Gesellschaft, 29 (2003), S. 513–541, hier 533; ders. Konfession, S. 506–527. 29 Klaus Erich Pollmann, Die Entnazifizierung in der Braunschweigischen Landeskirche nach 1945. In: ders. (Hg.), Der schwierige Weg in die Nachkriegszeit. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig 1945–1950, Göttingen 1995, S. 26–99, hier 60. 30 Manfred Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Köln 2001, S. 486. Für andere Landeskirchen vgl. ders./Wolfgang Krogel (Hg.), Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Regionalstudien zu Protestantismus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte 1930 bis 2000, Berlin 2006. 31 Thomas A. Seidel, Im Übergang der Diktaturen. Eine Untersuchung zur kirchlichen Neuordnung in Thüringen 1945–1951, Stuttgart 2003, S. 258. Die Angaben schwanken je nach Berechnung zwischen 17,1 und 21,7 %. 32 Paul Althaus, Die deutsche Stunde der Kirche, Göttingen 1933, S. 5. Zwei weitere Auflagen folgten 1934. Vgl. auch Tanja Hetzer, Paul Althaus – Wegbereiter der geistlichen Gleichschaltung. In: Manfred Gailus/Clemens Vollnhals (Hg.), Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im »Dritten Reich«, Göttingen 2016, S. 69–95.

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das dankbare Volk in seinem Jubel beide Male, bei Luther wie bei Hitler, bis an die Grenze der Apotheose ging«.33 Bei den Deutschen Christen fiel das Bekenntnis zur »völkisch-nationalen Revolution« noch radikaler aus. Sie setzten »Volk« und »Rasse« als angeblich gottgewollte Schöpfungsordnung in eins und propagierten ein kämpferisches, von allen jüdischen Einflüssen befreites Christentum. So schrieb etwa Joachim Hossenfelder (1899–1976), der erste Reichsleiter der »Glaubensbewegung Deutsche Christen« und seit 1929 Mitglied der NSDAP, im Jahr 1933: »Wir wollen uns selbst und unser Volkstum mit gesammeltem Willen und mit heiligem Blut. Wir ziehen gegen Schmarotzer und Bastarde in den Kampf, als einen heiligen Krieg, den Gottes heiliger Wille fordert. Die objektive Macht der Rasse bricht durch, wir wissen etwas davon, und wir stellen uns in ihr Licht und in ihren Dienst, wir kämpfen für sie unter dem Zeichen des Hakenkreuzes. Damit bekommt der Glaube eine neue Sinngebung.«34 Hier wurde »Rasse« zum festen Bestandteil eines »artgemäßen Glaubens« erhoben.

Der innerevangelische Kirchenkampf Von den ca. 18 000 evangelischen Pfarrern gehörte 1933 etwa ein Drittel den DC an, deren Mitgliederzahl insgesamt auf 600 000 Personen geschätzt wird.35 Ihr tatsächlicher Einfluss war jedoch während der nationalen Aufbruchseuphorie im Frühjahr und Sommer 1933 weitaus größer. Bei den staatlich oktroyierten, aber freien Kirchenwahlen am 23. Juli 1933, bei denen in allen 28 L ­ andeskirchen mit der Neuwahl der Kirchengemeinderäte (Presbyterien) auch die höheren Leitungspositionen neu besetzt wurden, gewann die Liste »Glaubensbewegung 33 Hans Preuß, Luther und Hitler, Erlangen 1933, S. 10 ff. Vgl. Hartmut Lehmann, Hans Preuß 1933 über »Luther und Hitler«. In: ders., Protestantisches Christentum im Prozeß der Säkularisierung, Göttingen 2001, S. 52–63. 34 Joachim Hossenfelder, Unser Kampf, Berlin 1933, S. 16 f. Zur Theologie der Schöpfungsordnung vgl. Wolfgang Tilgner, Volksnomostheologie und Schöpfungsglaube. Ein Beitrag zur Geschichte des Kirchenkampfes, Göttingen 1966; Robert P. Ericksen, Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München 1986; Scholder, Kirchen, Band 1, S. 124–150. Vgl. auch Gailus/Vollnhals (Hg.), Für ein artgemäßes Christentum der Tat. 35 So Doris L. Bergen, Die »Deutschen Christen« 1933–1945: ganz normale Gläubige oder eifrige Komplizen? In: Geschichte und Gesellschaft, 29 (2003), S. 542–574, hier 556. In Berlin zählten die Deutschen Christen 1934/35 knapp 50 000 und die Bekennende Kirche ca. 36 000 Mitglieder. Vgl. Gailus, Protestantismus, S. 292. Als Regionalstudie vgl. Rainer Lächele, Ein Volk, ein Reich, ein Glaube. Die »Deutschen Christen« in Württemberg 1925–1960, Stuttgart 1994; Hansjörg Buss, Völkisches Christentum und Antisemitismus. Der Bund für Deutsche Kirche in Schleswig-Holstein. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, Band 138 (2013), S. 193–239.

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Deutsche Christen«, die massiv von der NSDAP unterstützt wurde, zwischen zwei Drittel bis drei Viertel der Stimmen.36 Damit besetzten sie bedeutende Machtpositionen – sowohl in der neu gegründeten Reichskirche, der Deutschen Evangelischen Kirche, als auch in den Landeskirchen, wo sie nunmehr 25 von 28 Bischöfen stellten. Lediglich in Bayern, Württemberg und Hannover blieb ihnen der Sieg verwehrt, weshalb diese Kirchen von der an der Bekennenden Kirche (BK) orientierten Kirchengeschichtsschreibung auch als »intakte« bezeichnet werden. Ebenso dominierten an den theologischen Fakultäten bald die DC weithin Lehre und Ausbildung.37 Die regionalen Schwerpunkte der DC lagen mehr im Norden, in der Mitte und im Osten des Deutschen Reichs, weniger im Süden und im Westen. Besonders zu nennen sind das ostelbische Preußen, Sachsen, Anhalt und Thüringen sowie Hessen, sodann Mecklenburg, Braunschweig und Bremen, weithin auch Schleswig-Holstein. In den DC-Gemeinden blühte ein ungehemmter NS-Kult auf, der von Hakenkreuzfahnen an den Kirchengebäuden über Festgottesdienste mit uniformierten Stürmen der Sturmabteilung (SA) bis zu Hitlerbildern in den Gemeindehäusern reichte und von der »protestantischen Selbstnazifizierung« von unten zeugt.38 Die DC propagierten ein männlich-kämpferisches Christentum mit einem heroischen Jesus, der ihnen als »Arier« und erster Vorkämpfer gegen das Judentum galt.39 Sie verstanden sich als innerkirchliche Reformbewegung, als Aufbruch der jungen Generation gegen eine verkrustete Honoratiorenkirche. Und sie waren eine Männerbewegung, während die BK an ihrer Basis eindeutig von Frauen getragen wurde. Der Siegeszug der DC litt jedoch unter den ständigen Querelen um die konkrete Ausgestaltung der Reichskirche und staatlichen Gewaltakten, deren drastischster die Einsetzung eines Staatskommissars am 24. Juni 1933 zur Leitung 36

Vgl. Scholder, Kirchen, Band 1, S. 567 ff.; Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf, Band 1: Der Kampf um die »Reichskirche«, Göttingen 1976, S. 103 ff. In vielen Kirchengemeinden wurde jedoch nach einer Einheitsliste gewählt, sodass eine genaue Wahlanalyse schwierig ist. Für Berlin vgl. Gailus, Protestantismus, S. 117–122. 37 Vgl. Leonore Siegele-Wenschkewitz/Carsten Nicolaisen (Hg.), Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus, Göttingen 1993; Kurt Meier, Die Theologischen Fakultäten im Dritten Reich, Berlin 1996; Thomas Kaufmann/Harry Oelke (Hg.), Evangelische Kirchenhistoriker im »Dritten Reich«, Gütersloh 2002; zudem auch Friedrich Wilhelm Graf, Protestantische Universitätstheologie in der »deutschen Revolution«. In: ders./Hans Günter Hockerts (Hg.), Distanz und Nähe zugleich? Die christlichen Kirchen im »Dritten Reich«, München 2017, S. 119–164. 38 Vgl. Gailus, Protestantismus, S. 141–196, 415–480; ders., 1933 als protestantisches Erlebnis: emphatische Selbsttransformation und Spaltung. In: Geschichte und Gesellschaft, 29 (2003), S.  481–511; Doris L. Bergen, Twisted Cross. The German Christian Movement in the Third Reich, Chapel Hill 1996. 39 Vgl. Martin Leutzsch, Karrieren des arischen Jesus zwischen 1918 und 1945. In: Uwe Puschner/ Clemens Vollnhals (Hg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012, S. 195–217.

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der Altpreußischen Union war. Einen tiefen Einschnitt stellte auch der sogenannte Sportpalastskandal dar, als Reinhold Krause (1893–1980), der Berliner DC-Gauobmann, das völkische Programm in aller Schärfe verkündete. Er erklärte am 13. November 1933 unter großem Beifall, das Gebot der Stunde sei die Schaffung einer wahrhaft »deutschen Volkskirche«, geprägt durch »heldische Frömmigkeit« und »artgemäßes Christentum«. Dazu bedürfe es einer »Befreiung von allem Undeutschen im Gottesdienst und im Bekenntnismäßigen, Befreiung vom Alten Testament mit seiner jüdischen Lohnmoral, von diesen Viehhändler- und Zuhältergeschichten«. Des Weiteren sei es notwendig, »dass alle offenbar entstellten und abergläubischen Berichte des Neuen Testaments entfernt werden und dass ein grundsätzlicher Verzicht auf die ganze Sündenbock- und Minderwertigkeitstheologie des Rabbiners Paulus ausgesprochen wird«. Auch dürfe die Kirche »keine Menschen judenblütiger Art mehr in ihre Reihen aufnehmen«.40 Mit diesem frontalen Angriff auf das in den Gemeinden tradierte Christentumsund Bibelverständnis hatten die Deutschen Christen den Bogen überspannt. Auch die NSDAP ging nunmehr zu ihnen auf Distanz, da der innerevangelische Kirchenkampf zu viel Unruhe in das NS-Unterstützermilieu trug und als innenpolitischer Störfaktor in der Phase der Machtsicherung wirkte. Den völkisch-deutschchristlichen Zuspitzungen setzte die BK die Parole »Kirche muss Kirche bleiben« entgegen. Bereits in der eingangs zitierten Osterabkündigung der Altpreußischen Union war die Selbstständigkeit der Kirche, die zu ihrer Arbeit der »vollen Freiheit« bedürfe, ausdrücklich hervorgehoben worden. Die Betonung der kirchlichen Autonomie, an der sich der Widerspruch der BK gegen die Gleichschaltungsversuche des NS-Regimes und der DC wenig später entzünden sollte, entsprach auch der Position von Otto Dibelius (1880–1967), des Generalsuperintendenten der Kurmark. Er hatte 1926 die viel beachtete Programmschrift »Das Jahrhundert der Kirche« verfasst und stand zunächst aus deutschnationaler Gesinnung dem NS-Regime durchaus wohlwollend gegenüber. Am »Tag von Potsdam« (21. März) hielt er den Gottesdienst für die evangelischen Reichstagsabgeordneten in der Nikolaikirche und verteidigte wenig später auch den »Judenboykott« am 1. April 1933 gegen ausländische Kritik.41

40 Gauobmann Reinhold Krause auf der Sportpalastkundgebung der Berliner DC: Christentum und Altes Testament schließen sich aus, vom 13.11.1933. In: Siegfried Hermle/Jörg Thierfelder (Hg.), Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, S. 138 f. Dort auch die förmliche DC-Entschließung vom 13.11.1933 (S. 140). Vgl. auch Scholder, Kirchen, Band 1, S. 703 ff. 41 Generalsuperintendent Otto Dibelius: Festpredigt zur Eröffnung des Reichstags vom 21.3.1933. In: Hermle/Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, S. 87–91; Scholder, Kirchen, Band 1, S. 331–341; Wolfgang Gerlach, Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden, 2. Auflage Berlin 1993, S. 40 f.; jetzt auch Grünzig, Für Deutschtum und Vaterland, S. 141–180.

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Entgegen späteren Umdeutungen des Kirchenkampfes, wie sie nach 1945 florierten, war die BK keine politische Gegenbewegung zum NS, sondern sie entstand als Reaktion auf die innerkirchlichen Machtansprüche der DC. Auch die Bekenntnispfarrer bejahten 1933/34 – von einzelnen Ausnahmen abgesehen – das NS-Regime als neue staatliche und gesellschaftliche Ordnung und waren im August 1934 bereit, den geforderten Diensteid auf Hitler abzulegen.42 Aber sie vertraten ein fundamental anderes, im Kern eher traditionelles Verständnis vom Wesen der Kirche und ihrer Verkündigung. Das Selbstverständnis als einer ausschließlich an Schrift und Bekenntnis gebundenen Gruppierung dokumentierte sich in der berühmten Barmer Theologischen Erklärung vom Mai 1934.43 Sie verwarf die völkische Theologie der DC und den Totalitätsanspruch der NS-Ideologie, soweit er sich auch auf den kirchlich-religiösen Bereich erstreckte. Aus diesem Grund wehrte sich die Jungreformatorische Bewegung und der Pfarrernotbund um Martin Niemöller, aus denen 1934 die Bekennende Kirche hervorging, gegen die Einführung des Arierparagrafen, den die deutschchristlich dominierte Generalsynode der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union am 5. September 1933 beschlossen hatte. Aber auch Niemöller bezeichnete die Stellung der Juden in der deutschen Gesellschaft als ein Gastverhältnis und erklärte: »Wir haben in der Gemeinde, ob das uns sympathisch ist oder nicht, die bekehrten Juden als durch den heiligen Geist vollberechtigte Glieder anzuerkennen. […] Diese Erkenntnis verlangt von uns, die wir als Volk unter dem Einfluss des jüdischen Volkes schwer zu tragen gehabt haben, ein hohes Maß an Selbstverleugnung, sodass der Wunsch, von dieser Forderung, dispensiert zu werden, begreiflich ist.« Die Kirche dürfe jedoch »das Bekenntnis auf gar keinen Fall und um gar keinen Preis« außer Kraft setzen. Zugleich formulierte Niemöller die Erwartung, dass die Amtsträger jüdischer Abstammung »sich die gebotene Zurückhaltung auferlegen, damit kein Ärgernis gegeben wird«.44 Die BK verteidigte in dieser Frage nicht die Rechte der staatlich diskriminierten jüdischen Staatsbürger, sondern die Autonomie der Kirche gegenüber staatlichen Eingriffen und das christliche Bekenntnis, namentlich das Sakrament der Taufe. Während die DC, die seit den Kirchenwahlen vom Juli 1933 die meisten Landeskirchen beherrschten, die Entlassung der zahlenmäßig sehr klei42 Die Nationalsynode verfügt im »Diensteidgesetz« die Verpflichtung der Pfarrer und Kirchenbeamten zu einem Eid auf Hitler (9.8.1934). In: Hermle/Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, S. 217 f.; Scholder, Kirchen, Band 2, S. 291 f. 43 Vgl. Carsten Nicolaisen, Der Weg nach Barmen. Die Entstehungsgeschichte der Theologischen Erklärung von 1934, Neukirchen-Vluyn 1985; Thomas Martin Schneider, Wem gehört Barmen? Das Gründungsdokument der Bekennenden Kirche und seine Wirkungen, Leipzig 2017. 44 Martin Niemöller, Sätze zur Arierfrage in der Kirche (November 1933). In: Eberhard Röhm/ Jörg Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Band 1: Ausgegrenzt, Stuttgart 1990, S. 388–390, hier 389.

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nen Gruppe von Pfarrern und Kirchenbeamten jüdischer Herkunft forcierten, wobei diese Bestimmung auch für Personen galt, die mit einem »nichtarischen« Partner verheiratet waren. Dass aber auch die »intakten« Kirchen nur bedingt Widerstand leisteten, zeigt die hannoversche Landeskirche unter August Marahrens (1875–1950), die 1933 einen Anstellungsstopp verhängte und bis 1939 alle vier Pfarrer jüdischer Herkunft in den vorzeitigen Ruhestand versetzte.45 Die Zerschlagung der Demokratie, die Verfolgung des politischen Gegners und die staatliche Ausgrenzung der Juden waren 1933/34 kein Thema der innerkirchlichen Auseinandersetzungen. Auch die BK stand ganz in der Tradition des Nationalprotestantismus, weshalb Karl Barth (1886–1968) ihr als Schweizer Demokrat denn auch 1935 vorwarf: »Sie hat für Millionen von Unrecht Leidenden noch kein Herz. Sie hat zu den einfachsten Fragen der öffentlichen Redlichkeit noch kein Wort gefunden. Sie redet – wenn sie redet – immer nur in eigener Sache. Sie hält noch immer die Fiktion aufrecht, als ob sie es im heutigen Staat mit einem Rechtsstaat im Sinn von Röm. 13 zu tun habe.«46 Damit formulierte Barth frühzeitig die zentrale Frage, die an die NS-Diktatur zu richten war. Er fand damit aber – wie auch vereinzelte Stimmen von engagierten Laien – selbst in bruderrätlichen Kreisen der Bekennenden Kirche, deren führender Theologe er war, nur bedingt Gehör. Zwar kritisierte die 2. Vorläufige Leitung der Bekennenden Kirche in einer Denkschrift an Hitler im Mai 1936 die zunehmende Entchristlichung, die Erziehung zum Judenhass und die Existenz der Konzentrationslager, doch als ihr Inhalt im Ausland bekannt wurde, distanzierten sich die »intakten« Landeskirchen umgehend.47 Von der Gebetsliturgie zur Erhaltung des Friedens, die der Bruderrat der Altpreußischen Union anlässlich der Sudetenkrise im Herbst 1938 verfasst hatte, distanzierten sich die Führer der »intakten« Landeskirchen gar aus »religiösen und vaterländischen Gründen«.48 45 Vgl. Gerhard Lindemann, »Typisch jüdisch«. Die Stellung der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers zu Antijudaismus, Judenfeindschaft und Antisemitismus 1919–1949, Berlin 1998, S. 445 ff., 496 ff., 570 ff.; Axel Töllner, Eine Frage der Rasse? Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, der Arierparagraf und die bayerischen Pfarrfamilien mit jüdischen Vorfahren im »Dritten Reich«, Stuttgart 2007; Hartmut Ludwig/Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder (Hg.), Evangelisch getauft – als »Juden« verfolgt. Theologen jüdischer Herkunft in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2014. 46 Karl Barth an Pfarrer Hermann Albert Hesse vom 30.6.1935. In: Hermle/Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, S. 298–300, hier 299. Vgl. auch Hans Prolingheuer, Der Fall Barth 1934–1935. Chronographie einer Vertreibung, 2. Auflage Neukirchen-Vluyn 1984. 47 Vgl. Martin Greschat (Hg.), Zwischen Widerspruch und Widerstand. Texte zur Denkschrift der Bekennenden Kirche an Hitler (1936), München 1987; Manfred Gailus, Friedrich Weißler. Ein Jurist und bekennender Christ im Widerstand gegen Hitler, Göttingen 2017. 48 Gebetsliturgie der 2. VKL angesichts drohender Kriegsgefahr vom 27.9.1938. In: Hermle/Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, S. 455–457; Distanzierung der Landeskirchen Hannover, Bayern, Württemberg und Baden, ebd., S. 461. Vgl. auch Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie, 5. Auflage München 1983, S. 683 ff.

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Die BK zerfiel von Beginn an in zwei Fraktionen und hatte sich 1936 endgültig gespalten. Die lutherischen Landeskirchen Bayern, Württemberg und Hannover gründeten den Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (Lutherrat), dem sich auch die Bruderräte von Sachsen, Thüringen, Braunschweig, Mecklenburg, Lübeck und Schleswig-Holstein anschlossen. Die Führer der »intakten« Landeskirchen suchten den Ausgleich mit der Politik des Reichsministers für die kirchlichen Angelegenheiten Hanns Kerrl (1887–1941) und tolerierten auch deutschchristliche Minderheiten innerhalb ihrer Pfarrerschaft. Auf der anderen Seite gruppierten sich um die 2. Vorläufige Leitung der Bekennenden Kirche diejenigen Bruderräte, die an dem auf der Dahlemer Bekenntnissynode im Oktober 1934 beschlossenen kirchlichen Notrecht festhielten. 1936/37 war der Höhepunkt des Kirchenkampfes bereits überschritten. Die DC besetzten zwar weiterhin bedeutende Machtpositionen in der Leitung der meisten Landeskirchen, hatten aber auf der Gemeindeebene viel an Einfluss verloren, ebenso die BK in den DC-dominierten Landeskirchen. 1938 zählte der Pfarrernotbund nur noch 3 933 Mitglieder, was 20,9 Prozent der aktiven Pfarrerschaft entsprach.49 Weit über die Hälfte aller Pfarrer gehörte jedoch weder den Deutschen Christen noch der Bekennenden Kirche an, sondern zählte sich zur vielschichtigen kirchlichen Mitte, zu den »Neutralen«, die fast überall das volkskirchliche Potenzial stellten.

Resümee Die Machtübernahme der Nationalsozialisten war im deutschen Protestantismus 1933 – sieht man von einigen liberalen Theologen und der kleinen Gruppe der religiösen Sozialisten ab50 – geradezu euphorisch als der Aufbruch in eine bessere Zukunft begrüßt worden, was nur vor dem Hintergrund der nationalprotestantischen Traditionen und der Traumatisierung durch den Zusammenbruch des Kaiserreichs in der Novemberrevolution 1918 zu verstehen ist. Die Überwindung der ungeliebten Weimarer Republik und die Preisgabe der Demokratie zugunsten eines starken Führerstaates entsprach 1933/34 dem nationalprotestantischen Konsens, der auch eine machtvolle Außenpolitik zur Überwindung des Versailler Vertrags einschloss. Eine weitere Schnittmenge mit der NS-Bewegung ergab sich aus der gemeinsamen Gegnerschaft gegen den Kommunismus. 49 Wilhelm Niemöller, Pfarrernotbund. Geschichte einer kämpfenden Bruderschaft, Hamburg 1973, S. 131 f. Vgl. auch Statistik über kirchenpolitische Zugehörigkeit der Pfarrer der Altpreußischen Union von Anfang 1939 in: Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf, Band 3: Im Zeichen des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 1984, S. 158 f. 50 Vgl. Ulrich Peter, Der Bund der religiösen Sozialisten in Berlin von 1919 bis 1933, Frankfurt a. M. 1995.

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Symptomatisch für die enge Verflechtung des protestantischen ­Sozialmilieus mit dem Nationalsozialismus waren die staatlich oktroyierten, aber freien Kirchenwahlen im Juli 1933. Aus ihnen gingen die DC, die seit 1932 eine Synthese von völkischem Christentum und NS sowie die innere Gleichschaltung der Kirche mit dem neuen Staat propagierten, als klarer Sieger hervor und übernahmen anschließend die Macht in den meisten Landeskirchen. Hierbei handelte es sich weithin um eine Machtübernahme »von unten«, deren radikaler Impetus schließlich die Einheit des nationalprotestantischen Milieus aufbrach und zur Spaltung der evangelischen Kirche führte. Als Gegenbewegung zu den staatlichen und deutschchristlichen Gleichschaltungsbemühungen formierte sich im Frühjahr 1934 unter der Parole »Kirche muss Kirche bleiben« die BK. Sie verteidigte die Autonomie der Kirche und das traditionelle Bibelverständnis. Aus diesem Grund wehrte sie sich auch gegen die Einführung des Arierparagrafen in die Kirche, schwieg aber weithin zur staatlichen Ausgrenzung und Verfolgung der Juden sowie zu anderen Gewaltakten des NS-Regimes. Gegen die Novemberpogrome 1938 erhoben nur vereinzelt Pfarrer ihren Protest. Auch der mit Beginn des Zweiten Weltkrieges einsetzende Völkermord an den europäischen Juden rief in den Reihen der Bekennenden Kirche keinen öffentlichen Aufschrei hervor. Am klarsten äußerte sich 1943 die Bekenntnissynode der Altpreußischen Union in ihrer Erklärung zum 5. Gebot.51 In diesem Kontext sind aber auch die DC-Kirchen zu nennen, die im Dezember 1941 die Einführung des »Judensterns« unter Berufung auf Luther als »die Kennzeichnung der Juden als der geborenen Welt- und Reichsfeinde« begrüßten, da der Krieg »in seinen weltweiten Ausmaßen von den Juden angezettelt worden« sei, und deshalb die Christen jüdischer Herkunft aus der Kirche ausschlossen.52 Die Frage nach der legitimen Obrigkeit und des Widerstandsrechts gegen die Tyrannei stellte sich mit Beginn des Zweiten Weltkrieges und der ungeheuren NS-Verbrechen zwar immer drängender, doch sie überschritt den intellektuellen

51 Beschluss zur Auslegung des 5. Gebots der Bekenntnissynode der Evang. Kirche der APU vom 16./17.10.1943. In: Hermle/Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, S. 664–668. Zur Haltung der evangelischen Kirche vgl. u. a. Gerlach, Zeugen; Jochen-Christoph Kaiser/Martin Greschat (Hg.), Der Holocaust und die Protestanten. Analysen einer Verstrickung, Frankfurt a. M. 1988; Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, 4 Bände (7 Teilbände), Stuttgart 1990–2007. 52 Erklärung der Landeskirchen von Sachsen, Nassau-Hessen, Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Anhalt, Thüringen und Lübeck vom 17.12.1941. In: Hermle/Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, S. 651 f. Zum Schicksal der »nichtarischen« Protestanten vgl. Ursula Büttner/Martin Greschat, Die verlassenen Kinder der Kirche. Der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft im »Dritten Reich«, Göttingen 1998.

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und mentalen Vorstellungshorizont des deutschen Protestantismus bei Weitem. Dem Rad der Geschichte durch aktiven Widerstand in die Speichen zu fallen, zu diesem Schritt entschlossen sich engagierte Laien in eigener Verantwortung, darunter viele mutige Frauen.53 Der Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) blieb auch in bruderrätlichen Kreisen ein Außenseiter.54 Dominierend war in der evangelischen Kirche hingegen – bei aller sukzessiven Desillusio­ nierung und innerlichen Distanzierung in Kreisen der BK und der dominierenden kirchlichen Mittelgruppen – bis zum bitteren Ende 1945 die grundsätzliche politische Loyalität zum NS-Staat als einer legitimen Obrigkeit. Die militärische Niederlage des NS-Regimes wurde mit sehr zwiespältigen Gefühlen wahrgenommen: Einerseits bedeutete sie die Befreiung der Kirche vom nationalsozialistischen Druck und das Ende ihrer zunehmenden Verdrängung aus dem öffentlichen Leben, andererseits aber auch den mit dem Untergang des NS-Regimes untrennbar verbundenen Zusammenbruch des Deutschen Reichs und den Beginn der Besatzungsherrschaft – eine Entwicklung, die den zutiefst national geprägten Protestantismus schmerzlich treffen musste. Entsprechend heftig fiel im nationalprotestantischen Milieu die Ablehnung der Stuttgarter Schulderklärung aus, die der Rat der neu gegründeten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) am 19. Oktober 1945 gegenüber einer ökumenischen Delegation abgelegt hatte.55 Ausdrücklich hinter diese Erklärung, die ursprünglich nicht veröffentlicht werden sollte, stellten sich nur die Evangelische Landeskirche Baden, die Evangelisch-reformierte Landeskirche Hannover, die Westfälische Provinzialsynode, die Rheinische Provinzialsynode, die Bochumer Kreissynode und die Studentengemeinde der Pfalz sowie der Bruderrat der EKD und die Kirchlich-Theologische Sozietät in Württemberg. Wurde die Stuttgarter Erklärung weithin als (angebliches) Bekenntnis der deutschen Kriegsschuld abgelehnt, so besaß die massive Verurteilung der Entnazifizierung als schwerem Unrecht eine hohe Integrationskraft.

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Vgl. Manfred Gailus/Clemens Vollnhals (Hg.), Mit Herz und Verstand – Protestantische Frauen im Widerstand gegen die NS-Rassenpolitik, Göttingen 2013; Manfred Gailus, Gegen den Mainstream der Hitlerzeit. Der Wuppertaler Theologe Helmut Hesse (1916–1943), Bremen 2019. Die Bekennende Kirche nahm Bonhoeffer nicht in ihr Fürbittengebet auf, weil er aus politischen Gründen, nicht aber wegen seiner Predigertätigkeit als Pfarrer verhaftet worden sei. Und noch im Juli 1945 erinnerte die Berlin-Brandenburgische Kirche zwar an Paul Schneider (1897–1939) als einen Märtyrer des Glaubens, verschwieg aber Bonhoeffer. Vgl. Bethge, Bonhoeffer, S. 893, 1042. Vgl. auch Christoph Strohm, Theologische Ethik im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Der Weg Dietrich Bonhoeffers mit den Juristen Hans von Dohnanyi und Gerhard Leibholz in den Widerstand, München 1989; Matthias Schreiber, Friedrich Justus Perels. Der Weg vom Rechtskampf der Bekennenden Kirche in den politischen Widerstand, München 1989; Gailus, Friedrich Weißler. Vgl. Martin Greschat (Hg.), Die Schuld der Kirche. Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19. Oktober 1945, München 1982.

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Besonders lautstark wurde diese Kritik von Anfang an durch die Bischöfe Theophil Wurm und Hans Meiser artikuliert, später auch von Martin Niemöller, dem Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Sie sollte nicht zuletzt die tiefen Gräben des innerevangelischen Kirchenkampfes überwinden und die verfeindeten Lager versöhnen.56 Auch die moralische Diskreditierung der alliierten Prozesse gegen NS-Verbrecher als einer rachsüchtigen Siegerjustiz lag ganz auf der Linie eines beleidigten Nationalstolzes, der seine Zuflucht und Entlastung in der bitteren Gegenanklage alliierten Unrechts suchte.57 Man verstand sich als Anwalt des gesamten Volkes, de facto dominierte in den ersten Nachkriegsjahren jedoch gesellschaftspolitisch die unreflektierte Interessenvertretung des eigenen Milieus, das 1933 weithin mit dem NS sympathisiert hatte. Für eine angemessene Entschädigung der Opfer der NS-Diktatur setzte sich der von Vertretern der Bekennenden Kirche dominierte Rat der EKD hingegen in keiner einzigen Erklärung ein. In dieser Hinsicht war die evangelische Kirche ein getreues Spiegelbild der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die nichts von den ungesühnten NS-Verbrechen wissen wollte. Die nachwirkende Hypothek des Nationalprotestantismus begleitete und belastete unvermeidlich den politischen Neuanfang nach 1945. Wesentlich prägender erwiesen sich jedoch mittelfristig der existenzielle Erfahrungsschock des totalen Krieges und des absoluten Desasters, das die NS-Diktatur hinterlassen hatte. Insofern konnte es nach 1945 auch keine Restauration des nationalprotestantischen Milieus mehr geben.

56 Vgl. Clemens Vollnhals, Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945–1949. Die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit, München 1989; ders., Entnazifizierung und Selbstreinigung im Urteil der evangelischen Kirche. Dokumente und Reflexionen 1945–1949, München 1989; ders., Die Hypothek des Nationalprotestantismus. Entnazifizierung und Strafverfolgung von NS-Verbrechen. In: Geschichte und Gesellschaft, 18 (1992) 1, S. 51–69; ders., Im Schatten der Stuttgarter Schulderklärung. Die Erblast des Nationalprotestantismus. In: Gailus/Lehmann (Hg.), Nationalprotestantische Mentalitäten, S. 379–431. 57 Vgl. Frank M. Buscher, The U.S. War Crimes Trial Program in Germany, 1946–1955, New York 1989, S. 91–101; Ronald Webster, Opposing »Victors’ Justice«. German Protestant Churchmen and Convicted War Criminals in Western Europe after 1945. In: Holocaust and Genocide Studies, 15 (2001) 1, S. 47–69; Christophe Baginski, Gnade den Bekehrten! Evangelische Kirche und deutsche Kriegsverurteilte in Frankreich 1944–1962, Speyer 2002; Jon David K. Wyneken, Memory as Diplomatic Leverage. Evangelical Bishop Theophil Wurm and War Crimes Trials, 1948–1952. In: Kirchliche Zeitgeschichte, 19 (2006) 2, S. 368–388; Matthew D. Hockenos, Die Kirchen nach 1945. Religiöse Abbrüche, Umbrüche und Kontinuitäten. In: Gailus/Nolzen (Hg.), Zerstrittene »Volksgemeinschaft«, S. 287–311.



Gerhard Lindemann Gerhard Kittel: familiäre Herkunft, Ausbildung und ­wissenschaftliche Anfänge

Angesichts von Gerhard Kittels aktiver Unterstützung der Ausgrenzung und Verfolgung der Juden seit 1933 stellt sich die Frage nach möglichen Anknüpfungspunkten und Kontinuitätslinien in seinen Forschungsbeiträgen und Äußerungen zur politischen Lage im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Das soll weniger »unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung nach 1933«1 erfolgen – auch wenn eine historische Betrachtung der ihr unmittelbar vorangehenden Epoche diese, wo das notwendig ist, nicht unberücksichtigt lassen sollte – als vielmehr durch eine Zuordnung mancher Äußerungen und Positionierungen Kittels zu zeitgenössischen demokratiekritischen sowie judenfeindlichen und völkisch-antisemitischen Einstellungsmustern.

Rudolf Kittels Haltung zum Judentum: einige Schlaglichter Gerhard Kittel wurde am 23. September 1888 im schlesischen Breslau geboren. Seine Eltern waren der Theologe Rudolf Kittel (1853–1929) und dessen Ehefrau Emilie (1860–1914), geborene Gross. Da sein Vater für Gerhard Kittels Entwicklungsgang stets von großer Bedeutung war,2 sollen am Beginn dieses Beitrags einige Hinweise zu Rudolf Kittels akademischem Werdegang und seiner Sicht des Judentums stehen. Der gebürtige Württemberger Lehrerssohn war einer der führenden Alttestamentler seiner Zeit.3 Kittels Elternhaus war geprägt vom

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So die Kritik von Roland Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, Tübingen 1997, S. 414. Vgl. Leonore Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage. Gerhard Kittels theologische Arbeit im Wandel deutscher Geschichte, München 1980, S. 47, Fn. 10. Vgl. Rudolf Smend, Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft, Göttingen 2017, S. 455.

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s­ chwäbischen Pietismus.4 1888 erhielt er einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Altes Testament an der Universität Breslau, seit 1898 lehrte er an der Landesuniversität des Königreichs Sachsen in Leipzig. Dort war er u. a. Herausgeber einer 1905/06 in erster Auflage erschienenen kritischen Edition der »Biblia Hebraica«. An ihrer dritten Auflage arbeitete auch der jüdische Talmudgelehrte Israel Isser Kahan (1858–1924) mit, der seit der Gründung des Leipziger Institutum Judaicum im Jahr 1886 dort unterrichtet hatte. Durch die Initiative Rudolf Kittels erhielt er 1912 eine Lektorenstelle für späthebräische, jüdisch-aramäische und talmudische Wissenschaften an der Leipziger Theologischen Fakultät, um, so Kittel, »christliche Kräfte« auszubilden, damit sie für die intellektuelle Auseinandersetzung mit einer »gegen das Christentum aggressiv vorgehenden Richtung« des Judentums besser gerüstet seien als die gegenwärtige Generation evangelischer Theologen.5 Kahan war auch beteiligt gewesen an Franz Delitzschs (1813–1890) Übersetzung des Neuen Testaments ins Hebräische und an Gustaf Dalmans (1855–1941) »Aramäisch-Neuhebräischem Wörterbuch zu Targum, Talmud und Midrasch«.6 1918 oder 1920 erfolgte Kahans Ernennung zum Professor.7 Methodisch war Rudolf Kittel insofern innovativ, als er auf die Relevanz altorientalischer und archäologischer Quellen für ein sachgemäßes Verstehen alttestamentlicher Religiosität aufmerksam machte,8 insgesamt gehörte er jedoch eher dem konservativen Flügel der deutschen Alttestamentler an.9 Im Jahr 191310 erstellte Kittel ein vom Landgericht Leipzig angefordertes Gutachten in einer Voruntersuchung anlässlich einer vom Central-Verein deutscher

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Vgl. Matthias Morgenstern, Von Adolf Schlatter zum Tübinger Institutum Judaicum. Gab es in Tübingen im 20. Jahrhundert eine Schlatter-Schule? Versuch einer Rekonstruktion. In: ders./ Reinhard Rieger (Hg.), Das Tübinger Institutum Judaicum. Beiträge zu seiner Geschichte und Vorgeschichte seit Adolf Schlatter, Stuttgart 2015, S. 11–147, hier 46. Henry Wassermann, Fehlstart: Die »Wissenschaft vom späteren Judentum« an der Universität Leipzig (1912–1941). In: Stephan Wendehorst (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, S. 321–343, hier 324–327 (Kittel-Zitate: ebd., S. 326 f.). Vgl. auch Horst Junginger, Die Verwissenschaftlichung der »Judenfrage« im Nationalsozialismus, Darmstadt 2011, S. 87. Vgl. Gerhard Kittel, Art. Kahan, Israel Isser. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 3, 2. Auflage Tübingen 1929, Sp. 582 f. Vgl. Deines, Pharisäer, S. 426. Vgl. ebd., S. 417. Vgl. Smend, Kritiker, S. 384, 399, 671. Mit Doppeldatierung 13.11.1912 (Bezugnahme auf ein am gleichen Tag geführtes Telefonat mit dem zuständigen Untersuchungsrichter) und 20.5.1913. Eine Woche nach dem Telefonat hatte Kittel sein Gutachten fertiggestellt und erhielt später auf der Grundlage von – von den Klägern und den Beklagten jeweils in Auftrag gegebenen – Einzelgutachten vom Gericht die Aufforderung zur Erstellung eines Obergutachtens, das im Mai 1913 vorlag. Vgl. Rudolf Kittel, Judenfeindschaft oder Gotteslästerung? Ein gerichtliches Gutachten. Mit einem Schlußwort: Die Juden und der gegenwärtige Krieg, Leipzig 1914, S. 23–26.

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Staatsbürger jüdischen Glaubens gestellten Strafanzeige11 gegen den antisemitischen Publizisten und Verlagsbuchhändler Theodor Fritsch (1852–1933) wegen »Gotteslästerung und Beschimpfung einer Religionsgesellschaft«.12 Hauptbezugspunkt war Fritschs Publikation »Mein Beweismaterial gegen Jahwe«, in der er eine Identität des »Jahwe-Gottes« Israels mit dem christlichen Gott leugnete und infolgedessen dem Judentum minderwertige Moralvorstellungen attestierte.13 Einzelne Kapitel des Buches waren überschrieben mit: »Jahwe als Stammesgott und Völkerfeind«, »Jahwe der Schützer des Unrechts« oder »Von Jahwe’s Grausamkeit und Menschenhass«.14 Die Anklageschrift konstatierte, der von Fritsch angegriffene alttestamentliche Gott Jahwe sei »der Gott einer vom Staate anerkannten Religionsgesellschaft«.15 In seiner Expertise wandte sich Kittel gegen eine Verurteilung des Beschuldigten, denn er habe nicht den Gott des zeitgenössischen, »geistig und religiös reiferen« Judentums gemeint, sondern eine »­niedere, mehr volksmäßige« alttestamentliche Gottesvorstellung – zugleich gebe es, so Kittel, dort jedoch ein höher entwickeltes Gottesverständnis, wie es vor allem bei den Propheten zu finden gewesen sei.16 Letzteres war ein Grundkonsens in der zeitgenössischen Bibelwissenschaft.17 Im Unterschied zu der in der alttestamentlichen Wissenschaft weithin akzeptierten Theorie einer linearen Aufwärtsentwicklung der israelitischen Religion bis hin zur Prophetie vertrat Kittel die These, dass eigentlich seit der Frühzeit des Volkes Israel zwei verschiedene religiöse und sittliche Bewusstseinsstufen in einem konfliktreichen Spannungsverhältnis neben­ einander existierten.18 Dem Votum Kittels schloss sich die Strafkammer am 26. September 1913 an und stellte das Verfahren ein.19 Damit teilte das Gericht auch Kittels Differenzierung zwischen einem »aufgeklärten« Judentum und orthodoxen Juden, die weiterhin der »niederen« biblischen Auffassung zuneigten,20 und damit die von 11

Vgl. Ulrich Kusche, Die unterlegene Religion. Das Judentum im Urteil deutscher Alttestamentler. Zur Kritik theologischer Geschichtsschreibung, Berlin 1991, S. 116. 12 Kgl. Landgericht Leipzig an Rudolf Kittel vom 6.11.1912. In: Kittel, Judenfeindschaft, S. 6–23, hier 7. 13 Theodor Fritsch, Mein Beweis-Material gegen Jahwe, 2. Auflage Leipzig 1911, S. 3–5. 14 Ebd., S. 27, 29, 53. 15 Kittel, Judenfeindschaft, S. 9. 16 Text des Gutachtens in: Kittel, Judenfeindschaft, S. 26–84, hier 65, 72. 17 Vgl. Wolfgang E. Heinrichs, Das Judenbild im Protestantismus des Deutschen Kaiserreichs. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums in der Krise der Moderne, 2. Auflage Gießen 2004, S. 310–483. 18 Vgl. Christian Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere?, Tübingen 1999, S. 216. 19 Vgl. Kittel, Judenfeindschaft, S. 2, 4. 20 Vgl. ebd., S. 66, 72. Vgl. auch Wiese, Wissenschaft, S. 221. Dass Ersteres nach Kittel von Fritschs Agitation nicht tangiert war, bedeutete allerdings auch »eine gewisse Anerkennung [Kittels] für das jüdisch-liberale Selbstverständnis« (ebd., S. 220 f.).

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dem Leipziger Theologen vorgenommene »auffällige Verharmlosung der anti­ semitischen Hetze«.21 Ferner bescheinigte Kittel in seinem Text Fritsch einen »starken intellektuellen« sowie einen »moralischen Defekt«,22 ging also deutlich auf Distanz, andererseits hielt er den völkischen Agitator für »ein[en] ehrliche[n] Eiferer«, »der nur das Gute will, so wie er es versteht. […] Er ist ein im Übrigen achtbarer und von dem an sich idealen Motiv der Rettung seines Volkes aus einer, wie er glaubt, ihm drohenden Gefahr geleiteter Zelot. Aber er ist kein an sich böswilliger Mensch. […] Er sieht nur kein anderes Mittel, das von ihm gewollte Gute zu erreichen, als das rücksichtslos harte Vorgehen gegen seinen Gegner.«23 In Fritschs Auffassung, er handle im Dienste »einer […] großen Aufgabe«, sah Kittel allerdings das Anzeichen »eines starken intellektuellen Defektes«, dem ein »moralischer Abmangel« einherging.24 Sowohl das Gericht als auch Kittel ignorierten, dass Fritsch es mit seiner Polemik nicht nur auf das orthodoxe Judentum abgesehen hatte, sondern die gesamte deutsche Judenheit meinte.25 Hermann Leberecht Strack (1848–1922), der Leiter des Institutum Judaicum in Berlin, hingegen hatte in einem von dem Gericht nicht berücksichtigten Gutachten konstatiert, das gesamte Alte Testament sei für Juden und Christen Heilige Schrift und Jahwe ein einziger zu verehrender Gott, sodass man durchaus von einer Beleidigung des Judentums und des Christentums sprechen könne.26 Bei einer Reihe von jüdischen Gelehrten stieß Kittels Argumentation auf Kritik und Unverständnis, insbesondere weil er die Verletzung jüdischer religiöser Gefühle durch Fritsch negierte.27 Anfang Oktober 1914 würdigte Rudolf Kittel die rege Beteiligung deutscher Soldaten jüdischen Glaubens am Ersten Weltkrieg.28 Damit bewiesen sie, auch wenn sie nicht zum »engeren Volk« gehörten, ihre »innere Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft«, ihr Verhalten dokumentiere einen »herzhaften Anschluss« an die Nation.29 Allerdings sprach er zugleich an die in Deutschland lebenden Juden die Mahnung aus, nicht länger »jeden Judengegner unbesehen für einen Lügner und 21 22 23 24 25

So Wiese, Wissenschaft, S. 221. Kittel, Judenfeindschaft, S. 77 f. Diese Bemerkungen fügte Kittel in Klammern in seinen Text ein. Ebd., S. 75 f. Ebd., S. 77. Vgl. Wiese, Wissenschaft, S. 221; Kerstin von der Krone, Wissenschaft in Öffentlichkeit. Die Wissenschaft des Judentums und ihre Zeitschriften, Berlin 2012, S. 269 f. 26 Vgl. Heinrichs, Judenbild, S. 557. 27 Vgl. z. B. Jakob Neubauer, Bibelwissenschaftliche Irrungen. Ein Beitrag zur Kritik der alttestamentlichen Bibelkritik an der Hand eines geschichtlich theologischen Gutachtens, Berlin 1917. Vgl. insgesamt Wiese, Wissenschaft, S. 223–231. 28 Vgl. Rudolf Kittel, Schlußwort. Die Juden und der gegenwärtige Krieg. In: ders., Judenfeindschaft, S. 85–92, hier 85 f. 29 Zitate ebd., S. 86–88.

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Verleumder zu erklären. Auch die Juden müssen lernen, sich anhand gewisser Äußerungen ihrer eigenen Literatur in jene Gedanken und Sorgen innerlich zu versetzen und sie zu verstehen.«30 Juden sollten demnach in sich gehen und darüber nachdenken, ob in manchen antisemitischen Äußerungen nicht auch Momente der Wahrheit lägen, für die es einen gewissen Anlass in ihrem Verhalten oder in modernen jüdischen Aussagen oder klassischen Texten gebe. Mit Letz­ terem meinte Kittel jedoch vor allem, dass Juden klarstellen sollten, welche biblischen oder talmudischen Satzungen für sie keine Verbindlichkeit mehr besäßen. Im Jahr 1925 veröffentlichte Rudolf Kittel eine Geschichte des biblischen Volkes Israel »in Charakterbildern«. Er widmete das voluminöse Werk seinen Söhnen Theodor (1883–1970) und Gerhard. Im Vorwort erklärte er gleich einleitend: »Seit mehr als zwei Jahrtausenden ist das Judentum Problem und Schicksal der Menschheit.«31 Israel bzw. das Judentum bezeichnete er als das »merkwürdigste aller Kulturvölker der Erde«.32 Kittel bejahte demnach die Existenz einer sogenannten »Judenfrage«, einer gewissen Exzeptionalität, die er keineswegs positiv konnotierte. Auf der anderen Seite distanzierte sich Rudolf Kittel im politischen Leben klar von Agitation und physischer Gewalt seitens der völkischen Rechten. Nach dem Mord an Reichsaußenminister Walther Rathenau (1867–1922) Ende Juni 1922 hielt er anlässlich einer akademischen Trauerfeier in Leipzig eine Ansprache. Er rief dort, obwohl monarchistisch eingestellt, zu Loyalität zum demokratischen Verfassungsstaat der Weimarer Republik auf und erteilte der rechten verbalen  – genannt wurden die Kampagnen gegen Reichspräsident Friedrich Ebert (1871–1925) – und physischen politischen Gewalt ebenso wie antisemitischer Hetzpropaganda eine scharfe Absage.33

Gerhard Kittels schulische und akademische Ausbildung Gerhard Kittel besuchte seit 1898 das humanistische König-Albert-Gymnasium in Leipzig. Nach dem Abitur studierte er von 1907 bis 1912 Evangelische Theologie und Orientalistik in Leipzig, Tübingen und Berlin, unter anderem auch rab­binische Literatur bei Israel Isser Kahan, den er im Vorwort der Publikation seiner Dissertation als einen seiner akademischen Lehrer benannte.34 Mit der 30 31 32 33 34

Ebd., S. 89. Rudolf Kittel, Gestalten und Gedanken in Israel, 2. Auflage Leipzig o. J. [1932], S. VII. Ebd., S. VIII. Beide Zitate stammen aus dem auf den Oktober 1925 datierten Vorwort Kittels. Vgl. Smend, Kritiker, S. 478. Vgl. Gerhard Kittel, Die Oden Salomos. Überarbeitet oder einheitlich?, Leipzig 1914, unpag. [Seite vor dem Inhaltsverzeichnis]. Vgl. auch die alleinige Widmung in: Gerhard Kittel, Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Urchristentum, Stuttgart 1926, unpag. Vgl. auch ders., Kahan.

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Aufnahme des Studiums trat Kittel dem Verein Deutscher Studenten bei.35 Der bei seiner Gründung von der judenfeindlichen Agitation des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker (1835–1909) inspirierte Verband hatte neben der deutschnationalen und antikatholischen auch eine klar antisemitische Ausrichtung. Er prägte in diesem Sinn einige Studentengenerationen, darunter auch eine Reihe Theologen, und trug zu ihrer Fanatisierung mit bei.36 Das Judentum galt hier im Stoecker’schen Sinn als »Hemmnis nationaler Entwicklung«.37 Nach bestandenem Examen war Kittel von April 1912 bis Juli 1913 Assistent bei dem Hallenser Neutestamentler Paul Feine (1859–1933). Daneben studierte er an der Philosophischen Fakultät.38 In Kiel wurde er im November 1913 mit einer Arbeit über »Die Oden Salomos« bei Johannes Leipoldt (1880–1965), der später im Eisenacher Entjudungsinstitut aktiv sein sollte,39 promoviert. Bereits im Dezember 1913 folgte ebenfalls in Kiel die Habilitation mit Erteilung der Venia Legendi für die theologische Disziplin Neues Testament.40

Jesus und die Rabbinen 1914 veröffentlichte Kittel eine kleine Broschüre, die sich mit dem Verhältnis Jesu zu den Rabbinen seiner Zeit befasste. Dieses Verhältnis bezeichnete er gleich zu Beginn seiner Studie als einen »Gegensatz« mit für Jesus tödlichen Folgen,41 eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitverbreitete Forschungsposition.42 Zugleich markierte er methodisch das Postulat, durch eine elaboriertere Kenntnis von dessen Umwelt den historischen Jesus besser verstehen zu können, denn es sei davon auszugehen, dass sein Reden und Handeln auch durch »die Widerstände«,

35

Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung, S. 156; allgemein Marc Zirlewagen, »Unser Platz ist bei der großen völkischen Bewegung« – Der Kyffhäuser-Verband der Vereine Deutscher Studenten und der völkische Gedanke, Norderstedt 2014. 36 Vgl. Leonore Siegele-Wenschkewitz, Frauen und Ethik. Die Diskussion um Rassismus, Anti­ semitismus und Sexismus im jüdisch-christlichen Gespräch von Frauen. In: Hans Erler/Ansgar Koschel (Hg.), Der Dialog zwischen Juden und Christen. Versuche des Gesprächs nach Ausch­ witz, Frankfurt a. M. 1999, S. 305–321, hier 308; Thomas Martin Schneider, Reichsbischof Ludwig Müller. Eine Untersuchung zu Leben, Werk und Persönlichkeit, Göttingen 1993, S. 302. 37 Konrad Jarausch, Deutsche Studenten 1800–1970, Frankfurt a. M. 1984, S. 88. 38 Vgl. Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft, S. 48. 39 Vgl. Oliver Arnhold, »Entjudung« – Kirche im Abgrund. Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928–1939 und das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« 1939–1945, Berlin 2010, S. 814, 857 und passim. 40 Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung, S. 134. 41 Gerhard Kittel, Jesus und die Rabbinen, Berlin 1914, S. 3. 42 Vgl. Deines, Pharisäer, S. 422.

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die ihm begegneten, mit denen er konfrontiert war und auf die er sich zugleich einzustellen hatte, geprägt war.43 Allerdings gelangte Kittel zu dem Ergebnis, dass sich an keiner Stelle eine »sichere Abhängigkeit« der Botschaft Jesu von rabbinischen Texten nachweisen lasse.44 Jedoch sprach sich Kittel für vergleichende Untersuchungen mit rabbinischen Texten bis in das dritte nachchristliche Jahrhundert aus, da sich diese angesichts des »grundsätzlichen Konservativismus der Synagoge« nicht sehr von der jesuanischen Zeit unterschieden haben dürften.45 Zudem stellte Kittel klar, historische oder theologische Urteile mithilfe rabbinischen Materials seien erst möglich, wenn eine breite oder zumindest überblicks­ artige Expertise vorhanden sei.46 Damit ging er in diesem Punkt konform mit der Kritik von jüdischer Seite an der im Vergleich zu Kittels Programm eklektischen Vorgehensweise von Julius Wellhausen (1844–1918), Adolf von Harnack (1851– 1930) und Wilhelm Bousset (1865–1920).47 Gerhard Kittels Text enthielt klassische und auch zeitgenössische antijudaistische Stereotype – so wurde Jesu »lebendige Reich-Gottes-Arbeit« mit der Negativfolie »totes Gesetzesstudium und Gelehrtentum« seitens »des Rabbinentums« konfrontiert, wobei Kittel den Rabbinen durchaus zugestand, auf ihre Weise »ernst und streng auf Moral und Sittlichkeit gehalten« zu haben.48 Das entsprach dem verbreiteten Antijudaismus in der christlichen Theologie49 – die Polemik nahm allerdings weniger Raum ein als in den meisten zeitgenössischen theologischen Publikationen, auch bemühte sich Kittel stärker um ein sachliches Vorgehen.50 Von jüdischer Seite wurde Kittels Interesse an einer vergleichenden Forschung anerkannt, aber zugleich auch ein »vornehmes, halb mitleidiges […] Herabsetzen« jüdischer Traditionen moniert.51

43 Kittel, Jesus und die Rabbinen, S. 3. 44 Ebd., S. 15. 45 »Vor allem gilt das für die Formen von Predigt und Exegese und religiöser Belehrung.« Ebd., S. 18. 46 Vgl. ebd., S. 9 f. 47 Vgl. Deines, Pharisäer, S. 424. 48 Kittel, Jesus und die Rabbinen, S. 10 f. 49 Vgl. auch Wolfgang Reinbold, Jesus und die Rabbinen (Gerhard Kittel, 1914). In: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Band 6: Publikationen, Berlin 2013, S. 306–308, hier 307. 50 Vgl. ebd. 51 Ludwig A. Rosenthal, Kittel, Gerhard. Jesus und die Rabbinen. In: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, Berlin 1926, S. 28–38, hier 37.

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Kriegserfahrungen 1914 starb Kittels Mutter.52 Wie sein Vater gehörte auch Gerhard Kittel zu den Mitunterzeichnern der »Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches« (23. Oktober 1914), die den Ersten Weltkrieg als Kampf für die Verteidigung der deutschen Kultur zu legitimieren versuchten.53 Von November 1914 bis Dezember 1918 war er nach freiwilliger Meldung als Marinefeldgeistlicher in Cuxhaven tätig.54 Dort begegnete er einerseits Otto Bauernfeind (1889–1972), seinem späteren neutestamentlichen Fakultätskollegen in Greifswald und Tübingen,55 und bei der Übergabe der Pfarrstelle 191856 dem späteren deutschchristlichen Reichs­ bischof Ludwig Müller (1883–1945). Gewiss beeinflusst durch seine erstmalige pfarramtliche Praxis veröffentlichte Kittel 1917 in der von dem Breslauer Kirchenhistoriker Johannes von Walter (1876–1940) herausgegebenen Reihe »Zeit- und Streitfragen des Glaubens, der Weltanschauung und Bibelforschung« eine kürzere Studie »Jesus als Seelsorger«.57 Mit der These, die Seelsorge habe im Mittelpunkt von Jesu Wirksamkeit gestanden,58 war zugleich eine Abgrenzung von religiösen Ämtern und Traditionen des Judentums verbunden: »Er war eben nicht Schriftgelehrter und nicht Rabbi, nicht Lehrer und Meister der Weisheit; was die Menschen als anders bei ihm empfanden, das war genau dies: Seelsorger.« Jesu Mahlzeiten mit gesellschaftlich Ausgegrenzten machten für Kittel deutlich, dass es sich bei ihm keineswegs um »den von oben herab dozierenden Rabbi« handelte.59 Die Verwendung rabbinischer Argumentationsstrukturen durch Jesus bestritt Kittel nicht (z. B. Mt 22, 44–46),

52 Vgl. Smend, Kritiker, S. 475. 53 Vgl. Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches, Berlin 1914. 54 Vgl. Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft, S. 49; Robert P. Ericksen, Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München 1986, S. 70. 55 Vgl. Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft, S. 49. 1939 verlor Bauernfeind wegen seines Engagements in der Bekennenden Kirche und seiner kritischen Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus die akademische Lehrbefugnis, deren Verlängerung er nicht beantragt hatte. Vgl. Martin Hengel, Otto Bauernfeind. In: ders., Theologische, historische und biographische Skizzen. Kleine Schriften VII. Hg. von Claus-Jürgen Thornton, Tübingen 2010, S. 364–368, hier 365 f.; Hannelore Braun/Gertraud Grünzinger (Bearb.), Personenlexikon zum deutschen Protestantismus 1919–1949, Göttingen 2006, S. 29. 56 Vgl. Schreiben Kittel an Friedrich von Bodelschwingh vom 17.6.1933. In: Gerhard Schäfer, Die evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf. Band 2: Um eine deutsche Reichskirche, Stuttgart 1972, S. 176–180, hier 178. 57 Gerhard Kittel, Jesus als Seelsorger, Berlin 1917. 58 Vgl. ebd., S. 3. 59 Ebd., S. 4.

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es handelte sich dabei jedoch nach seinem Urteil um die Übernahme »der Waffen der Gegner«, um diesen besser beizukommen.60 1917 ließ sich Kittel umhabilitieren und wurde Privatdozent in Leipzig,61 im selben Jahr trat er der Deutschen Vaterlandspartei bei, die sich gegen die Friedensresolution des Reichstags wandte und an der Programmatik des Alldeutschen Verbandes orientiert war.62

Berufliche Tätigkeit in Leipzig und Beurteilung der politisch-­ gesellschaftlichen Situation Nach dem Krieg leitete Kittel in Leipzig den Christlichen Volksdienst,63 einen Stiftungszweig der konfessionalistisch ausgerichteten »Allgemeinen evangelisch-lutherischen Konferenz«. In Reaktion auf die veränderte Stellung der Kirche nach der Novemberrevolution war die Stiftung im sozialen Bereich sowie volksmissionarisch und in der Jugendevangelisation tätig.64 Im Jahr 191965 übernahm er die Leitung des dortigen im selben Jahr gegründeten kirchlichen Religionslehrer-Seminars.66 1921 wurde er an der Leipziger Universität zum planmäßigen außerordentlichen Professor ernannt. Wissenschaftlich befasste sich Kittel parallel mit rabbinischen Quellenstudien.67 1920 erschien die Publikation »Rabbinica«, in deren Vorwort er die Leserschaft auf die Notwendigkeit einer gründlichen Befassung mit rabbinischen Quellen hinwies, um zu einem besseren Verständnis des Neuen Testaments zu gelangen.68 Im Jahr 1922 folgte eine erste Lieferung der deutschen Übersetzung des tannaitischen Midraschs Sifre zum biblischen Buch Deuteronomium mit Erklärung.69 Die Arbeiten daran hatten bereits 1913 begonnen und waren durch den 60 Ebd., S. 7. 61 Vgl. Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft, S. 49. 62 Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung, S. 134; zur Vaterlandspartei vgl. Heinz Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreichs, Düsseldorf 1997. 63 Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung, S. 134. 64 Vgl. Gerhard Kittel, Das Religionslehrer-Seminar in Leipzig. Aufbau und Ziele im Auftrag des christlichen Volksdienstes dargestellt, Berlin 1921, S. 5. 65 Junginger, Verwissenschaftlichung, S. 134, gibt das Jahr 1918 an. 66 Vgl. Gerhard Friedrich/Johannes Friedrich, Kittel, Gerhard. In: Theologische Realenzyklopädie, Band 19, Berlin 1990, S. 221–225, hier 222. 67 Vgl. Otto Merk, Die Evangelische Kriegsgeneration. In: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese, Band 2: Gesammelte Aufsätze 1998–2013. Hg. von Roland Gebauer, Berlin 2015, S. 3–68, hier 34. 68 Gerhard Kittel, Rabbinica, Paulus im Talmud. Die »Macht« auf dem Haupte. Runde Zahlen, Leipzig 1920, Vorwort. 69 Vgl. Gerhard Kittel, Sifre zu Deuteronomium. Übersetzt und erläutert, 1. Lieferung, Stuttgart 1922.

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Krieg unterbrochen worden.70 Als christlicher Theologe betrat Kittel mit diesem Forschungsvorhaben wissenschaftliches Neuland.71 Ihm ging es darum, rabbinische Texte als Ganze leichter zugänglich zu machen.72 Intensiv beteiligt an dem Werk war wiederum Israel Isser Kahan,73 den Kittel im Vorwort als »Lehrer und Freund« bezeichnete. Das Werk blieb unvollendet, weitere Lieferungen sind nicht erschienen.74 Allerdings veröffentlichte der Stuttgarter Kohlhammer Verlag seit 1933 eine von Kittel und seinem Schüler Karl Heinrich Rengstorf (1903–1992) herausgegebene Reihe »Rabbinische Texte«, die in der Endphase der Weimarer Republik vorbereitet worden war und an der zunächst auch der Professor und Talmudgelehrte am Londoner Jews College Abraham Marmorstein (1882–1946) mitarbeitete.75 Am 24. November 1918, dem Ewigkeits- oder Totensonntag, predigte Kittel nochmals in der Marinegemeinde in Cuxhaven. Wie die Kirchenleitungen und die meisten evangelischen Pfarrer empfand er die Kriegsniederlage als »tiefste, schmählichste Demütigung«,76 das deutsche Volk sah er gnadenlos den Siegermächten ausgeliefert. Das erste Grab, dessen man an diesem Tag gedenke, war nach Kittel »das Grab der Größe unseres Vaterlandes. Sie ist dahin.« Noch offen war, so der Prediger, die Dimension des »Umsturzes«, die Ungewissheit über eine potenzielle Besetzung des Reiches durch die Siegermächte, mögliche Konsequenzen für die christliche Kirche, aber auch die Frage, »ob – vielleicht, vielleicht – unsere Enkel oder unsere Urenkel doch noch einmal eine Zeit eines großen Vaterlandes erleben«. Den größten Teil der Predigt verwendete Kittel jedoch auf den Trostzuspruch des christlichen Glaubens, auch bzw. gerade in seiner eschatologischen Dimension.77 Zurück in Leipzig war Kittel durch die Übernahme der Leitung des Religionslehrer-Seminars direkt mit den revolutionären Veränderungen konfrontiert. Die 70

Vgl. Karl Heinrich Rengstorf, Grundsätzliche und methodische Überlegungen zur Bearbeitung von rabbinischen, insbesondere tannaitischen Texten. In: Theokratia. Jahrbuch des Institutum Judaicum Delitzschianum I (1967–1969), S. 76–87, hier 76. 71 Vgl. ebd., S. 77. 72 Vgl. Deines, Pharisäer, S. 432. 73 Vgl. Rengstorf, Überlegungen, S. 76. 74 Rengstorf (ebd., Fn. 4) vermutet als Grund die Zunahme der dienstlichen Verpflichtungen Kittels seit der Übernahme der Greifswalder Lehrtätigkeit. Entscheidender dürfte jedoch der Tod Kahans 1924 gewesen sein. 75 Vgl. Deines, Pharisäer, S. 432. Seit der 6. Lieferung vom 15.10.1933 blieb Marmorsteins Name unerwähnt. Vgl. ebd., S. 433. Kittels Assistent Karl Heinrich Rengstorf verfasste über Marmorstein einen kurzen Artikel in der 2. Auflage der RGG. Vgl. Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, Band 3, Tübingen 1929, Sp. 2022. Vgl. auch Morgenstern, Schlatter, S. 26. 76 Von einer Demütigung hatte er zuvor auch in der Bußtagspredigt gesprochen und von einem »Trümmerfeld«. Gerhard Kittel, Bußtag 1918. In: ders., Fünf Predigten gehalten in der Evangelischen Marine-Garnison-Kirche zu Cuxhaven, Leipzig 1919, S. 14–16, hier 14. 77 Gerhard Kittel, Toten-Sonntag 1918. In: ebd., S. 17–20.

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im Herbst 1919 ins Leben gerufene Einrichtung war eine Reaktion des Christlichen Volksdienstes auf das restriktive Vorgehen der linken Mehrheit im sächsischen Landtag, zu der Zeit noch »Volkskammer«, gegen den Religionsunterricht an Volksschulen.78 Dem wollte man mit der Ausbildung kirchlicher Lehrkräfte begegnen.79 Kittel legte neben der Vermittlung einer gründlichen Allgemeinbildung außerhalb des Religionsunterrichts auch Wert auf Kenntnisse in Pädagogik und Psychologie, die sich auf dem aktuellen Stand beider Wissenschaften bewegen sollten.80 In der »religionswissenschaftlichen Ausbildung« waren für das Neue Testament deutlich mehr Wochenstunden veranschlagt als für das Alte Testament.81 Im Jahr 1921 hielt Gerhard Kittel einen Vortrag in Schweden über die »kirchliche und religiöse Lage in Deutschland«. Er sprach von einer massiven »Christenfeindschaft«82 und dachte damit vor allem an die antikirchliche Agitation vonseiten der politischen Linken, manifestiert vor allem durch die Kirchenaustrittsbewegung und den Kampf gegen den Religionsunterricht. Zugleich meinte er einen moralischen Verfall zu erkennen und verwies dabei auf die Programme der Theater, Operetten und Kinos, Tanz- und Vergnügungslokale, auf die angebliche Zunahme von Prostitution, Ehescheidungen und Kriminalität.83 Dafür verantwortlich machte er die Novemberrevolution 1918/19. Sie habe »die Bande der Ordnung gelöst, […] weithin Sitte und Zucht über den Haufen geworfen; das Tier in den Menschen mit seinen Trieben bricht hervor«.84 Letztlich wertete er die geschilderten Tendenzen als Reaktion auf die schweren Belastungen der Kriegszeit und als einen Akt von Verzweiflung angesichts der Last der Friedensverträge und verwies auf Oswald Spenglers (1880–1936) kulturpessimistisches Werk »Der Untergang des Abendlandes«.85 Insgesamt vertrat Kittel hier eine zivilisations- und modernisierungskritische Sicht, machte die Novemberrevolution für die von ihm benannten Missstände verantwortlich und trat auch nicht aktiv für die Weimarer Demokratie ein. Im Unterschied zu einigen anderen Texten in der evangelischen Publizistik fehlt jedoch eine Verbindung des Diagnostizierten mit dem Judentum. Grundlagen für einen solchen Schritt waren allerdings gelegt.

78 79 80 81 82 83 84 85

Vgl. Gerhard Lindemann, Das Kreuz mit der Politik. Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens im 20. Jahrhundert. In: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Achtung Kurzschluss! Religion und Politik, Dresden 2016, S. 237–261, hier 239 f. Vgl. Kittel, Religionslehrer-Seminar, S. 3. Vgl. ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Gerhard Kittel, Die religiöse und kirchliche Lage in Deutschland. Vortrag, in Schweden gehalten, Leipzig 1921, S. 4. Vgl. ebd., S. 7. Vgl. insgesamt Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Stuttgart 2005. Kittel, Lage, S. 8. Ebd., S. 8 f.

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Gerhard Kittels Sicht des Judentums 1921 erhielt Gerhard Kittel einen Ruf auf eine ordentliche Professur für Neues Testament in Greifswald.86 Ein möglicher Ruf nach Berlin (Nachfolge Hermann L. Strack) scheiterte offenbar insbesondere an dem Widerstand des Alttestamentlers Hugo Greßmann (1877–1927),87 der Kittels Œuvre für eine ordentliche Professur für zu schmal hielt und in der Untersuchung zu den Oden Salomos »eigene Gedanken« vermisste. Der »Sifre«-Ausgabe wies er eine Reihe von »sprachlichen und erklärenden Schwächen und Irrtümern« nach.88 Hingegen hatte sich der Alttestamentler Ernst Sellin (1867–1946) von Kittels Kommen in die Welt- und Kulturstadt der 1920er-Jahre eine Verbindung von neutestamentlicher Exegese mit rabbinisch-talmudischer Literatur in der akademischen Lehre versprochen.89 Im Jahr 1926 wechselte er als Nachfolger des im selben Jahr verstorbenen Exegeten Wilhelm Heitmüller (1869–1926) nach Tübingen auf einen Lehrstuhl, den zuvor der Bibelwissenschaftler Adolf Schlatter (1852–1938), ein Spezialist auf dem Gebiet des antiken Judentums90 und wohl wichtigster akademischer Lehrer Kittels,91 innegehabt hatte. Schlatter hatte sich bereits bei der Neubesetzung der Professur nach seiner Emeritierung im August 1922 Kittel als seinen Nachfolger gewünscht92 – Heitmüller genoss als Vertreter der liberalen Religionsgeschichtlichen Schule weniger seine Sympathien.93 In der Berufungsliste 1926 stand Kittel noch vor dem bereits sehr prominenten liberalen Marburger Kollegen Rudolf Bultmann (1884–1976). Dessen Berufung nach Tübingen hatte die vom württembergischen Pietismus geprägte Stuttgarter Kirchenleitung als

86 87 88 89 90 91 92

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Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung, S. 134. Vgl. Merk, Kriegsgeneration, S. 29. Referat von D. [Hugo] Greßmann. In: Rolf Golling/Peter von der Osten-Sacken (Hg.), Hermann L. Strack und das Institutum Judaicum in Berlin. Mit einem Anhang über das Institut Kirche und Judentum, Berlin 1996, S. 154–162, hier 156 f. Vgl. Rolf Golling, Das Institutum Judaicum in Berlin. In: ebd., S. 70–122, hier 93. Vgl. Morgenstern, Schlatter, S. 19–24; Marikje Smid, Deutscher Protestantismus und Judentum 1932/33, München 1990, S. 256 f. So Matthias Morgenstern/Reinhold Rieger, Vorbemerkung. In: dies. (Hg.), Tübinger Institutum Judaicum, S. 9 f., hier 9. Vgl. Werner Neuer, Adolf Schlatter. Ein Leben für Theologie und Kirche, Stuttgart 1996, S. 592. In der Berufungsliste stand Kittel auf Platz 2, Johannes Leipoldt auf Platz 3. Vgl. Karl Müller, Tübingen, an Hans Lietzmann vom 8.2.1925. In: Kurt Aland (Hg.), Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutscher Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892–1943), Berlin 1979, S. 494 f., hier 494. Vgl. Morgenstern, Schlatter, S. 13.

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»zur Zeit […] nicht möglich« erachtet.94 Die Tübinger Theologische Fakultät war zu dieser Zeit eher konservativer geprägt. Unter Schlatter wies die neutestamentliche Forschungstätigkeit in Tübingen eine starke Konzentration auf das rabbinische Judentum auf, was Kittel entgegengekommen sein dürfte.95 Prinzipiell teilte Kittel auch Schlatters judenmissionarisches Interesse.96 Bis Februar 1930 entlastete Schlatter seinen Nachfolger durch ein regelmäßiges Angebot von Lehrveranstaltungen.97 1926 erschien Kittels Monografie »Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Urchristentum« in der bibelwissenschaftlich eher konservativer positionierten Reihe »Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament«. Ihr Herausgeber war Kittels Vater. Die Verwendung des Terminus »Spätjudentum« für das antike (nachexilische) Judentum war in den 1920er-Jahren und auch noch in den Folgejahrzehnten Common Sense in der christlichen Bibel­exegese. Kittels Buch stand unter dem biblischen Leitmotto Joh 1, 47: »Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: Siehe, ein rechter Israe­lit, in dem kein Falsch ist.« Im weiteren Verlauf der Perikope erklärt Nathanael: »Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!« Kittel machte damit deutlich, dass wahre Israeliten, in denen nach seiner Auffassung nichts Falsches sei, nur die­ jenigen seien, die Christus als Messias anerkennen würden. Ziel der Monografie war die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Urchristentum und dem »palästinischen Spätjudentum«. Beim Judentum differenzierte Kittel zwischen »der palästinischen Heimat« und »der breiten Diaspora«. Beide Richtungen beeinflussten sich wechselseitig.98 An der antiken rabbinischen Literatur bemängelte er »kasuistische Dialektik und Logik« sowie eine »abstruse, ästhetisch reizlose Art; sie mutet Wanderungen über staubige Landstraßen zu«.99 Zugleich attestierte er ihr aber auch »Tiefe und religiösen Ernst«, der jedoch erst nach mühsamer Lektüre zu entdecken sei.100 Aber Ersteres habe überwogen, hinzu kämen »Tausende von Sätzen ethischer Wertlosigkeit«, »kindische Spielereien mit verrenkten Buchstaben und Silben«, »mystische und allegorische Spekulationen banalster und abenteuerlichster Fantasie«.

    94 Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft, S. 49. Der emeritierte Kirchenhistoriker Karl Müller schrieb am 8.2.1925 an seinen Berliner Fachkollegen Hans Lietzmann: »Kommt Kittel oder ein anderer dieser Art, dann ist die Fakultät sehr gefährdet.« In: Aland (Hg.), Glanz, S. 494 f., hier 495. Am 27.6.1926 schrieb er an Lietzmann: »Aber an der Berufung Kittels ist nicht zu zweifeln.« Ebd., S. 520 f., hier 521.     95 Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung, S. 141.     96 Vgl. Morgenstern, Schlatter, S. 24.     97 Vgl. Neuer, Schlatter, S. 621 f.     98 Kittel, Probleme, S. 3 f.     99 Ebd., S. 16 f. 100 Ebd., S. 16.

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Mit dem Vorwurf »kalt jonglierender Dialektik und Spitzfindigkeit«101 knüpfte Kittel sprachlich an die Verunglimpfungen von in Justiz, Kultur und Geistesleben tätigen Juden in der deutschnationalen und völkisch orientierten antisemitischen Publizistik an. Die mittelalterlichen und neuzeitlichen Kommentare der Talmudgelehrten enthielten für Kittel immerhin manche bedenkenswerten exegetischen Informationen (»Kenntnis und Erinnerung«), aber zugleich »unendlich viel ­törichte und wertlose Spekulation und Spitzfindigkeit«.102 Wie 1933 differenzierte Kittel bei einer kurzen Betrachtung des nachbiblischen Judentums in der jüdischen Ethik zwischen einer allmählichen Transformation der Religion in allgemeine Moralphilosophie und dem Weg in ein »ritualistisches« Judentum. Vertreter der ersten Richtung seien »jene philanthropischen Gestalten von der Art Nathans des Weisen bis hin zu Walther Rathenau«, dem 1922 von einem Rechtsterroristen ermordeten Reichsaußenminister (dieser Hinweis fehlt bei Kittel), »die im Grunde kaum zu unterscheiden sind von einem der weisen Moralisten der Stoa oder des Kungfutsekreises, die mit Religion und mit lebendigem Gottesglauben fast nichts mehr zu tun haben«.103 Hier begegnet, ohne dass es explizit so benannt wird, bereits das später von Kittel aufgegriffene Bild des entwurzelten, religiös substanzlosen modernen Judentums.104 Der Bezug auf Lessings Figur des Nathan ist zugleich ein Hinweis auf eine partiell eher anti­ aufklärerische Haltung Kittels, indem er zumindest in diesem Fall eine Verbindung von Aufklärung und Religion negierte. In einer ebenfalls 1926 erschienenen populärwissenschaftlichen Broschüre »Jesus und die Juden«, die auf einem im November 1924 in Mannheim gehaltenen Vortrag basierte und eine allgemeinverständliche Zusammenfassung der zuvor behandelten Monografie war,105 sprach Kittel von einem »Typus des modernen Juden« als »Repräsentant einer gewissen Durchschnittsaufklärung, die in der Regel sehr flach und seicht ist […], die nur zu oft in der Frivolität und Laszivität sich gefällt«.106 Da diesem »Typus« – der »seichte, elegante Aufklärungstyp« – Ehrfurcht fehle, ein »Grundmoment aller Religion«, sei nichts dagegen einzuwenden, wenn man eben diesen »Typus als das Gegenteil der Religion« bezeichne.107 Dieses Judentum habe ebenso wenig mit Religion zu tun, »wie ein sogenanntes Christentum jener vielen, die nur den Namen Christen tragen«.108 Damit machte 101 102 103 104 105

Ebd., S. 120. Ebd., S. 16. Ebd., S. 90 f. Vgl. auch Smid, Deutscher Protestantismus, S. 245. Vgl. Wolfgang Reinbold, Jesus und die Juden (Gerhard Kittel, 1926). In: Benz (Hg.), Handbuch, Band 6, S. 305 f., hier 305. 106 Kittel, Jesus und die Juden, S. 4. 107 Ebd., S. 5. 108 Ebd., S. 4.

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Kittel seine Positionierung gegen ein liberales Verständnis von Christentum und Theologie deutlich. Aufschlussreich ist auch seine darauf folgende Auslassung, es handle sich um »ein Judentum, bei dem es infolgedessen auch völlig gleichgültig ist, ob es äußerlich etwa zur christlichen Konfession übergetreten ist, oder nicht«.109 Damit deutete Kittel zumindest an, dass für ihn ein zum Christentum konvertierter Jude in vielen Fällen weiterhin Jude blieb, und er machte deutlich, dass er Taufentscheidungen von Juden im Allgemeinen die Ernsthaftigkeit absprach oder sie zumindest bezweifelte. Kittel fuhr fort: »Es ist schwerlich zufällig, wenn gerade der Typ dieser Juden und Anderen am fremdesten und unsympathischsten erscheint.« Das bedeutet, »fremd« waren für Kittel die in Deutschland lebenden Juden insgesamt, assimilierte Juden erschienen ihm noch fremder, hier arbeitete er mit xenophobem Vokabular und unterstützte damit Strömungen, die die Ausgrenzung der deutschen Judenheit aus der Gesellschaft forderten. »Diese religionslosen Juden haben etwas Entwurzeltes«, sie glichen Menschen, so Kittel, »die ihre Seele verloren haben – und von denen nur noch die äußere Larve eines uns fremden Menschentums geblieben ist.«110 Das waren Anknüpfungspunkte für antisemitisches Gedankengut: das Prädikat der Fremdheit, das Reden vom entwurzelten Juden und die Typisierung als Menschen minderer geistiger und damit auch charakterlicher Qualität. Interessant ist auch, dass Kittel in diesem Band den Rassebegriff als kategoria­ le Bestimmung übernahm, allerdings Theorien ablehnte, bei Jesus habe es sich um einen »Arier« gehandelt, und eine alleinige Beurteilung des Judentums unter Anwendung der sogenannten »Rassenlehre« zurückwies: »Judentum ist [...] nicht nur Rasse, und die Rassenfrage ist nur eine Seite der Judenfrage. Judentum ist zugleich Religion, und darum ist die Judenfrage zugleich eine Religionsfrage.«111 Das heißt, Kittel lehnte rassistische Theorien über das Judentum nicht ab (und damit auch den Rassenantisemitismus), er wandte sich aber gegen eine monokausale Betrachtungsweise. Überdies akzeptierte Kittel bereits hier die Sprechweise der politischen Rechten von der Existenz einer »Judenfrage«, womit man per Sprachgebrauch der Auffassung zur Diskursfähigkeit verhelfen wollte, dass Juden ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellten. Unter ritualistischem Judentum verstand Kittel »sophistisch-moralistisches« Talmudgelehrtentum, dem die lebendige Gottesbeziehung fehle.112 Auf der einen Seite markierte Kittel eine Verflüchtigung des jüdischen Glaubens, andererseits behauptete er seine Vertrocknung. Beides waren »Missbildungen« des Judentums,113 ob bewusst oder unbewusst übernahm Kittel hier das Vokabular des 109 Ebd. 110 Ebd. 111 Ebd., S. 3. 112 Kittel, Probleme, S. 91. 113 Ebd., S. 92.

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­ odernen Antisemitismus. Zugleich attestierte er dem Judentum, es sei »an seim nem Ausgangspunkt […] in der Tat diejenige Religion der Weltgeschichte gewesen […], die am unmittelbarsten und am gewaltigsten versucht hat, Religion und Moral in eins zu schweißen«. Das galt aber nur für das ursprüngliche Judentum, nicht für das Judentum des späten 19. und 20. Jahrhunderts.114 Jesus hingegen markierte den Beginn einer »neuen Bewegung, die nicht Judentum ist; der Anfang einer neuen Religion, die das Judentum gesprengt und hinter sich gelassen hat«. Bereits das Urchristentum definierte sich nach Kittel in der Abgrenzung vom Judentum, Christentum sei im Kern Negation des Judentums, es habe bald »das Judentum hinter sich gelassen«, im eigentlichen Sinn habe es mit dem Judentum nichts mehr zu tun. Letztlich hörte bereits Jesus auf, »Jude zu sein«.115 Jesus habe beispielsweise »die ritualistisch-juristische Dialektik« angeprangert und ihr eine »echte, lebendige Barmherzigkeit« gegenübergestellt.116 Allerdings hielt Kittel zutreffend erneut den christlichen Exegeten eine mangelnde Kenntnis des jüdischen Quellenmaterials vor,117 forderte in der Konsequenz eine Kooperation mit jüdischen Kollegen ein118 und grenzte sich an späterer Stelle des Buches von antisemitischen Autoren ab, die den jüdischen Glauben verunglimpften und verächtlich machten.119 Deshalb stieß sein Werk seitens jüdischer Gelehrter auf eine durchaus positive Resonanz.120 Dabei war auch Kittels Feststellung, »eigenstes und eigentlichstes Wesen« des nachexilischen Judentums sei seine »Selbstbehauptung« gewesen, anschlussfähig für Antisemiten. Denn, so Kittel weiter, darin habe sich das Judentum von allen zeitgenössischen Religionen unterschieden.121 Zudem findet sich bereits in diesem Text die sich auf eine rabbinische Auslegung zu Lev 19,18 stützende Auslegung, die biblische Weisung, gegenüber Juden weder nachtragend noch rachsüchtig zu sein, erlaube eine solche Haltung jedoch gegenüber Angehörigen anderer Völker. Allerdings bestritt er dem »völkisch orientierten Antisemitismus« das Recht zu einer Überbetonung dieser biblischen Aussage, untersagte aber zugleich dem »weltbürgerlich-pazifistischen Kulturjudentum« die »Schmähung« »eines seines Volkstums bewussten [deutschen] Nationalismus«.122 Mit der Verwendung des Vokabulars der rechten antidemokratischen Strömungen bzw. des weltanschau-

114 Ebd. 115 Ebd., S. 93 (Hervorhebung im Original). 116 Ebd., S. 105. 117 Vgl. ebd., S. 17–19. 118 Vgl. ebd., S. 19 f. 119 Vgl. ebd., S. 25. 120 Vgl. Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft, S. 63–67. 121 Vgl. Kittel, Probleme, S. 75, Fn. 4. 122 Ebd., S. 113, Fn. 1.

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lich-völkischen Denkens123 erwies Kittel sich bereits hier als anschlussfähig für die Volkstumstheologie seiner Zeit.124 Der Band endete mit der Feststellung: »Wo Judentum Judentum bleiben will, da kann es nicht anders, als dem Anspruch Jesu den Kampf ansagen.« Wo aber Jesu Vollmacht »als Wirklichkeit und als Wahrheit anerkannt ist, da hat das Judentum sein Ende gefunden«.125 Kittel vertrat einerseits die Auffassung, dass ein seine Identität bewahrendes Judentum zum Kampf mit dem Christentum verurteilt sei. Von dieser Position war der Weg zur Auffassung einer grundsätzlich feindlich eingestellten Macht, die schon aus Selbsterhaltungsgründen bekämpft werden müsse, weil sie nicht friedensbereit sei, dann nicht mehr weit. Parallel bejahte Kittel die klassische christliche antijudaistische Substitutionstheorie, die besagt, dass die Kirche das Judentum als Heilsgemeinschaft Gottes ersetzt habe. Hier ist überdies bereits die Rede vom »Ende« des Judentums, allerdings – im Unterschied zum rassistischen Antisemitismus – aufgehend im Christentum. In seiner nach dem Zweiten Weltkrieg angefertigten Apologie erklärte Kittel diese Thesen zu Sätzen mit »programmatischem Charakter«.126 Dieser Auffassung entsprach auch der Titel eines 1926 im Druck erschienenen Vortrags Kittels »Die Lebenskräfte der ersten christlichen Gemeinden«.127 Hier erscheint das Christentum als eine kraftvolle Religion, was Anknüpfungsmöglichkeiten für den völkischen Kult der Stärke bot. So schloss Kittels Schüler und Assistent Walter Grundmann (1906–1976), ab 1933 Chefideologe der sächsischen Deutschen Christen, in der Endphase der Weimarer Republik im Jahr 1931 bei Kittel ein Dissertationsprojekt zum Thema »Kraft, Stärke im Neuen Testament« ab.128 Nach dem Besuch einer Hitlerrede in Stuttgart, gemeinsam mit seinem Doktorvater, war Grundmann bereits 1930 in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei eingetreten.129

123 So Smid, Deutscher Protestantismus, S. 245. Vgl. auch Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, 4. Auflage München 1994. 124 Vgl. einzelne biografische Beispiele in: Manfred Gailus/Clemens Vollnhals (Hg.), Für ein art­ gemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im »Dritten Reich«, Göttingen 2016; André Fischer, Zwischen Zeugnis und Zeitgeist. Die politische Theologie von Paul Althaus in der Weimarer Republik, Göttingen 2012. 125 Kittel, Probleme, S. 140. 126 Kittel, Meine Verteidigung, S. 7 (nach Smid, Protestantismus, S. 244). 127 Gerhard Kittel, Lebenskräfte der ersten christlichen Gemeinden, Pforzheim 1926. 128 Vgl. Walter Grundmann, Der Begriff der Kraft in der neutestamentlichen Gedankenwelt, Stuttgart 1932. 129 Vgl. Gerhard Lindemann, Walter Grundmann. »Chefideologe« der sächsischen Deutschen Christen. In: Christine Pieper/Mike Schmeitzner/Gerhard Naser (Hg.), Braune Karrieren. Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus, Dresden 2012, S. 214–219, hier 214.

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Offenbar aufgrund seiner historischen Expertise zum christlich-jüdischen Verhältnis wurde Gerhard Kittel mit der Abfassung eines Artikels zu dieser Thematik in der zweiten Auflage der renommierten Enzyklopädie »Die Religion in Geschichte und Gegenwart« betraut. Dem Beitrag voran standen Artikel des Hallenser Alttestamentlers Otto Eißfeldt (1887–1973) und der jüdischen Gelehrten Ismar Elbogen (1874–1943) und Leo Baeck (1873–1956).130 Kittel konstatierte hier einleitend einen »geschichtlichen und sachlichen Zusammenhang« zwischen beiden Religionen und verwies sämtliche Versuche der Negierung von Jesu und auch des Apostels Paulus Zugehörigkeit zum Volk Israel in den Bereich »der Fantasie«. Zugleich betonte er die feste Gründung Jesu und des frühen Christentums auf dem Alten Testament. Konkret wandte er sich gegen alle Bestrebungen, das Christentum von seinen jüdischen Wurzeln zu lösen, dem »Mutterboden seiner sittlichen Kraft«, und grenzte sich in diesem Zusammenhang sowohl vom modernen Antisemitismus wie auch von der völkischen Bewegung ab. Im Schlussabschnitt des Artikels sprach Kittel jedoch von einer »unüberbrückbaren Gegensätzlichkeit« zwischen der jüdischen »Leistungsreligion« und dem Christentum als einer »reinen und ausschließlichen Religion der Gnade«  – »wo J.[udentum] J.[udentum] bleiben will, da kann es nicht anders, als dem Anspruch der Person Jesu den Kampf ansagen; wo jedoch Jesu Vollmacht als Wirklichkeit und als Wahrheit anerkannt ist, da hat das J.[udentum] sein Ende gefunden«. Damit war der Schluss des Artikels fast identisch mit Kittels im Literaturverzeichnis des Beitrags aufgeführter Monografie »Die Probleme des palästinischen Spätjudentums«.131 Anfang März 1930 nahm Kittel an einer von vier deutschsprachigen Judenmissionsgesellschaften veranstalteten Studientagung »über die Judenfrage« in Stuttgart teil, die nicht nur der Judenmission diente, sondern sich auch ein besseres Verstehen zwischen den Angehörigen beider Religionen zum Ziel setzte. Anwesend waren auch jüdische Theologen, darunter der Gelehrte Martin Buber (1878–1965) mit einem zweistündigen Vortrag über »Die Seele des Judentums«.132 Ohnehin gab es bis 1933 zwischen Kittel und einer Reihe von jüdischen Fachkollegen wissenschaftliche und zum Teil auch persönliche ­Kontakte.133 Aller-

130 Vgl. Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 3, 2. Auflage Tübingen 1929, Sp. 469–491. 131 Gerhard Kittel, Judentum: III: Judentum und Christentum. In: ebd., Sp. 491–494. Abschnitt 4 des Artikels stand unter der Überschrift »Grundsätzlicher Gegensatz« (Sp. 491). Der Artikel »Judenmission« (Sp. 466–469) verwies auf Kittels Artikel mit der Bemerkung »Grundsätzliches zur Auseinandersetzung zwischen Judentum und Christentum« (Sp. 469). 132 Neuer, Schlatter, S. 704, 706; Faksimile des Tagungsprogramms in: Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Band 1: 1933–1935, Stuttgart 1990, S. 102 f. 133 Vgl. Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft, S. 77 f.

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dings sah sich Kittel nicht als liberalen Theologen, im Wintersemester 1930/31 sprach er in seiner Römerbrief-Vorlesung von der »jetzt endlich überwundenen liberalen Theologie«.134 Vor den Reichstagswahlen am 6. November 1932 engagierte sich Kittel für eine Stimmabgabe zugunsten der Deutschnationalen Volkspartei.135 In einer Vorlesungsreihe Ende Oktober 1931 an der Universität Uppsala markierte er zeitlich bereits innerhalb des antiken Judentums einen »modernistischen Liberalismus« als eine der drei Hauptströmungen – neben »Mystik und Orthodoxie«.136 Er führe, so Kittel weiter, »heute wie einst in jene Verflachung, bei der im besten Fall eine moralisierende Lebensphilosophie, in der Regel aber die Haltlosigkeit der Menschen entsteht, die entwurzelt sind, weil ihr Leben keine Norm mehr hat«.137 Hier übernahm Kittel erneut das Bild der politischen Rechten vom »entwurzelten« modernen Juden, der ohne feststehende Werte und Normen sei. Andererseits sah er den jüdischen Liberalismus als eine notwendige Korrektur an, um die Orthodoxie vor der »Vertrocknung« zu bewahren.138 In der Endphase der Weimarer Republik begann zudem eine wissenschafts­ organisatorische Tätigkeit Kittels, die Herausgeberschaft des »Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament«, dessen erster Band im Juli 1933 fertiggestellt wurde. Die Beiträge waren Ende 1932 abgeschlossen, unter den Autoren befanden sich keine jüdischen Gelehrten.139 Allerdings war unter den Mitarbeitern des ersten Bandes der jüdische Talmudexperte Charles Horowitz (1892–1969) genannt.140 Die Konzeption des Werkes prägte Kittels These von einer wechselseitigen Bedingtheit des rabbinischen und des apokalyptisch-hellenistischen Judentums,141 die er bereits in seiner Tübinger Antrittsvorlesung 1926 entfaltet hatte.142 Der religionsgeschichtliche Vergleich beider jüdischer Richtungen mit dem Christentum sollte nachweisen, dass Letzteres die Erfüllung jüdischer religiöser Hoffnungen und Erwartungen sei.143

134 Adolf Jülicher an Hans Lietzmann vom 9.11.1930. In: Aland (Hg.), Glanz, S. 613 f., hier 614. Jülicher (1857–1938) ergänzte: »Nehmen Sie diese kleine Vertraulichkeit nicht übel, ich habe den Ärger über Kittel auch längst überwunden; jetzt amüsiert er mich.« 135 Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung, S. 159. 136 Gerhard Kittel, Die Religionsgeschichte und das Urchristentum, Gütersloh o. J. [1932], S. 67. 137 Ebd., S. 68. 138 Ebd. 139 Vgl. Inhaltsverzeichnis. In: Gerhard Kittel (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Band 1: Α–Γ, Stuttgart 1933, S. VIII–XI. 140 Vgl. Gerhard Kittel, Vorwort. In: ebd., S. V–VII, hier VII. 141 Vgl. Deines, Pharisäer, S. 419. 142 Vgl. Gerhard Kittel, Urchristentum, Spätjudentum, Hellenismus. Akademische Antrittsvorlesung gehalten am 28. Oktober 1926, Stuttgart 1926, S. 9. 143 Vgl. Deines, Pharisäer, S. 443.

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Resümee Durch seine Beschäftigung mit einem breiten Korpus jüdischer Quellen und eine jüdische Kontextualisierung der Anfänge des Christentums galt Kittel in den 1920er-Jahren als ein dem Judentum fair und respektvoll begegnender christlicher Theologe, der an einem ernsthaften Diskurs interessiert war.144 Kittel pflegte Kontakte zu jüdischen Gelehrten, es kam auch zu wissenschaftlichen Koopera­ tionen. Andererseits finden sich wiederholt Positionen Kittels, die für den völkischen Antisemitismus anschlussfähig waren, begonnen mit der Abwertung des sogenannten »modernen Judentums«, bis hin zur Akzeptanz rassistischer Deutungskategorien. Die Charakterisierung des Christentums als Nicht-Judentum war bereits ein erster Schritt hin zu späteren deutschchristlichen Erklärungen, es gebe keinen größeren Gegensatz als den zwischen Christentum und Judentum. Von daher kann man es nur als erstaunlich bezeichnen, dass Kittels Studien über das rabbinische Judentum unter jüdischen Gelehrten weitgehend positiv bewertet wurden.145 Vielleicht steckt hinter dieser aufgezeigten Differenz auch ein wissen­schaftspolitisches Taktieren, sich mehrere Optionen offenzuhalten.

144 Vgl. Ericksen, Theologen, S. 80; Deines, Pharisäer, S. 442. 145 So auch Smid, Deutscher Protestantismus, S. 245. Vgl. insgesamt Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft, S. 62–69.



Horst Junginger Gerhard Kittel im »Dritten Reich«: Die Karriere eines evangelischen Theologen im Fahrwasser der nationalsozialistischen Judenpolitik

Der deutsche Protestantismus charakterisierte sich während des Kaiserreichs in weiten Teilen durch die enge Verbindung von Religion und Nationalismus. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg nahm die evangelische Kirche deshalb als doppelte Kränkung wahr. Zum einen hatten ihre Führer stets behauptet, Gott selbst werde das deutsche Volk zum Sieg führen, sodass der verlorene Krieg entweder die Machtlosigkeit des Allmächtigen bewies oder seine Indienstnahme durch die Kirchen als Unwahrheit entlarvte. Der Versailler Friedensvertrag mit dem Vorwurf im Gefolge, das bislang größte Verbrechen der Menschheit begangen zu haben, löste auch im Protestantismus eine tief greifende Empörung aus. Die zweite Kränkung wurde dadurch verursacht, dass der Weimarer Verfassungsstaat die Kirchen ihrer herausgehobenen Stellung beraubte. Sie wurden im Februar 1919 zu einer bloßen Religionsgesellschaft degradiert und auf die gleiche Stufe mit i­rgendwelchen Sekten und religiösen Sondergemeinschaften gestellt. Zwar blieben ihnen zahlreiche Vorrechte erhalten. Doch verglichen mit dem Staatskirchentum bedeutete die Ausrufung der Republik am 9. November 1918 eine historisch einmalige Zurücksetzung. Das Gefühl, von der Weimarer Demokratie herabgesetzt zu werden, beruhte nicht lediglich auf Einbildung, sondern entsprach ein Stück weit auch der tatsächlichen Lage. Die Kirchenführer hatten allen Grund, den Sturz des Kaisertums als Katastrophe wahrzunehmen.

Auferstanden aus Ruinen: vom Nationalprotestantismus zum ­Nationalsozialismus Wie alle, die den Ersten Weltkrieg befürwortet und zu aktiver Teilnahme aufgerufen hatten, suchten auch die Kirchen, ihre Verantwortung auf andere abzuwälzen. Dunkle Mächte und die politischen Gegner seien in Wirklichkeit schuld an dem eingetretenen Chaos. Auf diese Weise konnte man die alten Feindbilder

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­ iederaufleben lassen und die Wichtigkeit der Religion beim Wiederaufbau des w Landes in den Vordergrund stellen. Diese Strategie ging allerdings nur zum Teil auf. Eine wachsende Zahl an Menschen wandte sich vom Christentum ab, von dem sie keinen zukunftsweisenden Beitrag für die Ausgestaltung ihrer Lebensverhältnisse mehr erwarteten. Kirchenvertreter, die sich für die Demokratie einsetzten und den Bruch mit der Vergangenheit forderten, blieben in der Minderheit. Die meisten hofften auf eine Wiederherstellung der alten Verhältnisse. Vor allem im Nationalprotestantismus herrschte die Haltung einer aggressiven Obstruktion gegen alles vor, was mit der Republik in Verbindung gebracht wurde. In den von ihm beeinflussten nationalkonservativen Parteien und vaterländischen Verbänden bündelten sich die Kräfte der antidemokratischen Opposition. Gerhard Kittel (1888–1948) verortete sich bis 1933 klar aufseiten der deutschnationalen Front. Schon zu Studienbeginn hatte er sich 1907 dem ebenso nationalistischen wie antisemitischen Verein Deutscher Studenten angeschlossen, dessen Wahlspruch »Mit Gott für Kaiser und Reich« lautete. 1914 unterzeichnete er als Privatdozent in Kiel eine den preußischen Militarismus verteidigende »Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches« und 1917 schloss er sich der rechtsradikalen Deutschen Vaterlandspartei an. Noch im November 1932 beteiligte er sich an einem öffentlichen Aufruf, bei der bevorstehenden Reichstagswahl nicht die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), sondern Paul von Hindenburg und die Deutschnationale Volkspartei zu wählen. Dass er ein halbes Jahr später im Mai 1933 in die NSDAP eintrat, lässt sich aber nur zu einem kleinen Teil auf politischen Opportunismus und den Wunsch nach einer Beförderung seiner Karriere zurückführen. Kittel war zu diesem Zeitpunkt längst ein etablierter und allseits anerkannter Wissenschaftler.1 Der überbordende Enthusiasmus, den der nationalsozialistische Machtwechsel bei ihm und anderen konservativen Theologen auslöste, ist weitaus weniger auf opportunistische Anpassung als auf ein breites Spektrum inhaltlicher Übereinstimmung zurückzuführen. Die Überwindung des demokratischen Systems, der Kampf gegen das »Gottlosentum« und die Organisationen der Freidenker, die Ausschaltung von Kommunisten und Sozialdemokraten und vor allem die Zurückdrängung der Juden aus dem öffentlichen Leben waren zentrale Punkte der nationalsozialistischen Politik, die Kittel befürwortete. Das vom Umschwung der Machtverhältnisse bewirkte Moment der Erleichterung kann in seiner emotionalen und politischen Bedeutung kaum unterschätzt werden. Endlich hatte es ein Ende mit dem schlechten Gewissen und der Verunglimpfung einer vaterländischen Gesinnung. 15 Jahre lang hatte sich die politische Rechte den An-

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Näheres zu Kittels Lebensweg ist im Beitrag von Gerhard Lindemann in diesem Band zu finden (Anm. der Redaktion).

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griffen ihrer Gegner ausgesetzt und mit dem Vorwurf konfrontiert gesehen, die Verantwortung für den ganzen Schlamassel der Nachkriegszeit zu tragen. Vom Nationalsozialismus (NS) bekam der Nationalprotestantismus nun zu hören, in den wichtigen Lebensfragen des deutschen Volkes schon immer auf der richtigen Seite gestanden zu haben. Jetzt komme es darauf an, die Aufsplitterung der nationalen Kräfte zu beenden und das Deutsche Reich in alter Größe wieder­ auferstehen zu lassen. Wenn man die Begeisterung sieht, mit der Kittel und andere evangelische Theologen Adolf Hitler als gottgesandten Führer begrüßten und das »Dritte Reich« als Segen für Deutschland bezeichneten, gewinnt man den Eindruck, als hätte der Machtwechsel eine Art zweite Bekehrung ausgelöst. Besonders der »Tag von Potsdam« machte am 21. März 1933 deutlich, wie sehr die neue Regierung den Schulterschluss mit den konservativen Eliten suchte. Den Kirchen kam eine Schlüsselstellung zu, damit sich Hitler in die preußisch-deutsche Herrschaftstradition stellen und als legitimer Erbe Bismarcks und Hindenburgs auftreten konnte. Das Argument, die Nationalsozialisten seien politische Extremisten und gefährdeten die Grundlagen der bestehenden Ordnung, musste hierfür unbedingt entkräftet werden. Hitlers große Leistung war es, die tonangebenden Kräfte in Wirtschaft und Gesellschaft davon überzeugen zu können, dass die Revolutionsgefahr nicht vom NS ausging, sondern genau umgekehrt nur mithilfe des NS abgewehrt werden konnte. Seine Berufung auf das Christentum wurde später zwar als bewusste Irreführung und bloße Inszenierung gedeutet. Doch eine solche Interpretation hat weniger mit den historischen Tatsachen als mit dem Wunsch zu tun, die weitreichende Übereinstimmung zwischen staatlichen und kirchlichen Interessen in Abrede zu stellen. Zu den Feindbildern, die der Nationalprotestantismus mit dem NS teilte, gehörte alles, was irgendwie als links, liberal oder »gottlos« galt. Nichts einte Protestanten und Nationalsozialisten nach Beseitigung der kommunistischen Bedrohung aber mehr als die Gegnerschaft gegen das Judentum. Der Antisemitismus wurde nach 1933 zum wichtigsten Faktor der weltanschaulichen Kohäsion, wobei der tief eingewurzelte Antijudaismus unter nationalen Protestanten und im konservativen Luthertum die antijüdischen Maßnahmen des »Dritten Reiches« als richtig und notwendig erscheinen ließ. Die grundsätzliche Übereinstimmung in dieser Frage schloss Kritik an den Rassegesetzen ebenso aus wie Mitleid oder Solidarität mit den verfolgten Juden. Obwohl sich die kirchliche Hoffnung auf eine Erneuerung des Bündnisses zwischen Thron und Altar nicht erfüllte und die nationalsozialistische Kirchenpolitik nach einem euphorischen Beginn bald in einen konventionellen Streit zwischen regnum und sacerdotium einmündete, blieb der Kampf gegen die angebliche jüdische Gefahr das wichtigste gemeinsame Anliegen, das ausreichend Bindekraft für einen überparteilichen Konsens entfaltete.

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Angesichts der Tatsache, dass die »Judenfrage« in das ideologische Zentrum der nationalsozialistischen Politik rückte, lag es für Kittel nahe, sich mit seinem theologischen Expertenwissen als jemand einzubringen, der einen signifikanten Beitrag zur Lösung dieser Lebensfrage des »Dritten Reiches« leisten konnte. Der führende deutsche Judaist stellte sich dabei bewusst in die antijüdische Tradition der Universität Tübingen, deren Stiftungsbrief schon 1477 die Ausweisung aller Juden verordnet hatte. In seinem politischen Testament hatte der Universitätsgründer Graf Eberhard im Bart (1445–1496) die Losung von den Juden als »nagendem Gewürm« geprägt, das die Grundlagen eines christlichen Landes und einer christlichen Universität zerfressen werde, ließe man es gewähren. Unter diesem Leitmotiv setzte sich die Politik der Judenabwehr an der württembergischen Landesuniversität bis ins 20. Jahrhundert fort. An keiner anderen Universität in Deutschland brauchten 1933 weniger Juden entlassen zu werden als in Tübingen. Deren Eindringen sei stets verhindert worden, verkündete man jetzt stolz. Vor diesem Hintergrund erscheint das Selbstbewusstsein, mit dem Kittel den Schlüssel für die Lösung der »Judenfrage« in Händen zu halten glaubte, nicht unbegründet. Er sah sich auf der Linie eines über Jahrhunderte angesammelten judenkundlichen Fachwissens, das in Adolf Schlatter (1852–1938), seinem Vorgänger auf dem neutestamentlichen Lehrstuhl in Tübingen, einen herausragenden Vertreter gefunden hatte. Wenn jemand in der Lage sein sollte, dem Problem mit den Juden auf den Grund zu gehen, dann doch wohl ein ausgewiesener Sachkenner wie Kittel, der für sich in Anspruch nahm, die geistigen Grundlagen des Judentums besser zu kennen als die Juden selbst. Kittels triumphaler Gestus des Wissenden traf in Tübingen auch deswegen auf günstige Voraussetzungen, weil sich hier mit der Deutschen Glaubensbewegung ein Zentrum der »Neuheiden« befand. Deren Kompetenz auf dem Gebiet der »Judenfrage« wirkte auf Kittel so lächerlich, wie ihn ihre Denunziation empörte, dass man das Christentum als einen Ausfluss des jüdischen Geistes zu sehen habe. Wie konnten sich völkische Außenseiter derart aufspielen und sich mit ihrer verschrobenen Germanentümelei anmaßen, dem NS die weltanschaulichen Grundlagen vorgeben zu wollen? Sich von solchen Fantasten abzugrenzen, fiel Kittel umso leichter, als deren vollkommener Mangel an fachlichem Wissen jedem Einsichtigen klar vor Augen führen musste, dass von dieser Seite keine seriösen Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit zu erwarten waren. Kittel hatte guten Grund, sich mit seinem deutschchristlichen Bekenntnis zum NS den »Neuheiden« überlegen zu fühlen. Die »Judenfrage« bot daher die einzigartige Möglichkeit, sich als Autorität und seine Kirche als nach wie vor relevanten Partner des Staates ins Spiel zu bringen. Dass er in kürzester Zeit zum Spiritus Rector einer antisemitischen »Judenwissenschaft« avancierte, stärkte ihn in dem Glauben, dass sich die geschichtliche Sendung des nationalen Luthertums in Deutschland noch nicht erschöpft hatte. Seine extreme Identifikation mit dem

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»Dritten Reich« lässt sich nur verstehen, wenn man die antijüdische Schnittmenge zwischen NS und Christentum im Licht der allgemeinen Entwicklung des Antisemitismus betrachtet.

Judengegnerschaft in Wort und Tat Kittels politische Beurteilung des »Judenproblems« bewegte sich in den von Adolf Stoecker (1835–1909) vorgezeichneten Bahnen. Das von Stoecker gepredigte Bild des »depravierten« modernen Assimilationsjudentums stand für all das, was auch Kittel verabscheute. Besonders in der Verbindung von Antisemitismus und Antisozialismus erlangten Stoeckers Ansichten nachhaltigen Einfluss auf die evangelische Pfarrerschaft, auf Studenten, Intellektuelle und die vornehmlich konservativen Repräsentanten in kirchenleitender Funktion. Kirchenmänner wie Otto Dibelius (1880–1967) und Theophil Wurm (1868–1953) stellten sich ganz offen in die Tradition des kaiserlichen Hofpredigers, dessen judenfeindliche Äußerungen nach 1933 eine neue Bedeutung erlangten. 1. Kittels antisemitische Programmschrift »Die Judenfrage«

Einen wichtigen Sammelpunkt des Stoecker’schen Antisemitismus bildete der Verein Deutscher Studenten, dem neben Kittel, Dibelius und Wurm auch Führer der Deutschen Christen (DC) wie Ludwig Müller (1883–1945) und Joachim Hossenfelder (1899–1976) angehörten. Bereits vor der Machtübernahme durch Hitler kam es zu einer Zusammenarbeit zwischen dem NS-Studentenbund und dem Verein Deutscher Studenten, der eine wichtige Rolle dabei spielte, die Positionen der reaktionären Deutschnationalen und die der revolutionären Nationalsozialisten einander anzunähern. Die Widmung, die Kittel seiner nur acht Wochen nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums publizierten Schrift »Die Judenfrage« beigab, lautete deshalb nicht von ungefähr »Meinen Bundesbrüdern. Zum fünfzigjährigen Gedenktag der Gründung des Vereins Deutscher Studenten zu Tübingen.« Ihre Stoßrichtung zielte in der Tat darauf ab, die Entfernung der Juden aus dem öffentlichen Leben in Deutschland als notwendigen Akt der nationalen Selbstverteidigung auszugeben. Der im Ausland erhobene Vorwurf der »barbarischen Brutalität« sei gänzlich unangebracht. Kittel warnte die Deutschen davor, sich deswegen ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen.2

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Gerhard Kittel, Die Judenfrage, Tübingen 1933, S. 7 f. Aufgrund seines Erfolges brachte der Stuttgarter Kohlhammer Verlag 1934 eine 2. und 3. Auflage des Buches heraus. Die Zitate nach der 3. Auflage.

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Die Auseinandersetzung mit dem Judentum sei keineswegs unchristlich. Vielmehr könne ein erfolgreicher Abwehrkampf nur vom Boden des Christentums aus geführt werden. Für das Anwachsen des »Judenproblems« machte Kittel allerdings auch die Kirchen mitverantwortlich. Auch sie hätten es versäumt, energischer gegen die Juden aufzutreten. Stattdessen sei man in bürgerlichen und kirchlichen Kreisen den Schlagworten der Judenemanzipation erlegen. Gerade die Intellektuellen, die in der Lage dazu gewesen wären, den jüdischen Anmaßungen wirksam entgegenzutreten, seien dazu gebracht worden, den Antisemitismus als solchen für anstößig zu halten. Lediglich die Eberhard-Karls-Universität vermochte Kittel von dem Vorwurf auszunehmen, die jüdische Gefahr unterschätzt zu haben. Positiv bewertete Kittel auch den »echten Antisemitismus des Volkes«, das instinktiv der »Stimme des Blutes« folge. In Ermangelung einer wissenschaftlichen Begründung hätte dieser Impuls aber keine durchschlagende Wirkung entfalten können und sei zum Teil sogar in antichristliches Fahrwasser abgedriftet.3 Für Kittel war das Christentum schon immer der wichtigste Gegner des Judentums gewesen. Das anzuerkennen sei nicht mit Hass zu verwechseln, sondern »Wille zur Wahrhaftigkeit«. Als eine der maßgeblichen Kapazitäten auf dem ­Gebiet der neutestamentlichen Wissenschaft formulierte Kittel hier zum ersten Mal sein Credo, dass man im Neuen Testament das »antijüdischste Buch der ganzen Welt« zu sehen habe.4 Wie Stoecker nahm Kittel Anstoß daran, dass man den Juden die gleichen Rechte einräumte wie den Deutschen. Kein Wunder, wenn sich jene schließlich einbildeten, deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens zu sein. Und wie schon Martin Luther war auch Kittel hochgradig frustriert darüber, dass sich die Juden trotz aller Missionsanstrengungen der Wahrheit des Christentums verschlossen zeigten. Hätten sie dann wenigstens an ihrem orthodoxen Glauben festgehalten, hätte man auch unter säkulareren Verhältnissen das Problem irgendwie eingrenzen können. Die von ihm hier nur angedachte Ghetto­ lösung, das heißt die Separierung der Juden in fest umgrenzten Zonen, sollte wenige Jahre später einen prominenten Platz in seinem Denken einnehmen. Indem sich das moderne Assimilationsjudentum aber von der Religion abkehrte und bis zur Unkenntlichkeit in der deutschen Gesellschaft aufging, sei das Problem größer statt kleiner geworden. Kittel war sich sicher, dass von den zum Christentum übergetretenen Juden viele ihre Bekehrung nur vortäuschten. Das machte eine größer werdende Gefahr weniger sichtbar. Deswegen die Judenmission als rassisches Einfallstor aufzugeben, wie es der radikalvölkische Flügel der

3 4

Ebd., S. 34 f., 39 und 78. Ebd., S. 60 f.

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DC verlangte, kam für ihn jedoch nicht infrage.5 Kittel kritisierte die Kirche zwar dafür, dass sie sich »zum Vorspann für die Sünde der Assimilation« machen ließ und das Sakrament der Taufe nicht so heilig hielt, wie es ihre Pflicht gewesen wäre. Doch er hatte selbst auch keine theologisch zureichende Antwort, wie man die geforderte Eliminierung der Juden aus der Gesellschaft mit ihrer Mitgliedschaft in der Kirche vereinbaren konnte. Er blieb hier in den Aporien eines Missionsverständnisses befangen, das konvertierte Juden einerseits zu Gliedern der Kirche erklärte, sie gleichzeitig aber wegen ihrer durch den Glaubensübertritt nicht beeinträchtigten Rassenzugehörigkeit meinte ausschließen zu müssen. Wegen ihrer geringen Zahl sprach für Kittel nichts dagegen, wenn sich »nichtarische« Christen in eigenständigen Organisationen und vielleicht sogar in einer eigenen judenchristlichen Kirche zusammenfänden. Dass er in dem der »Judenfrage« beigegebenen Anhang »Kirche und Judenchristen« den Grundsatz des »Eins Seins in Christo« postulierte und den christlichen Juden volles Glied­ recht in der Una Sancta der heiligen Kirche einräumte, hinderte ihn allerdings nicht daran, für den kirchlichen analog zum staatlichen Bereich ihren Ausschluss zu verlangen. Folgerichtig brachte Kittel deshalb beim Evangelischen Landeskirchentag für die Kampfgruppe der DC am 13. September 1933 in Stuttgart den Antrag ein, den staatlichen Arierparagrafen auf die Kirche zu übertragen. Dass die württembergische Landeskirche seinem Vorschlag mit überwältigender Mehrheit folgte, lässt den Wirkungsgrad seiner Schrift erkennen.6 Die Idee der Rasse wurde für Kittel nach dem nationalsozialistischen Machtwechsel Dreh- und Angelpunkt seiner Überlegungen. Sie half ihm, vermeintlich wissenschaftliche Klarheit über die »Judenfrage« zu gewinnen, ohne seine religiöse Befangenheit dafür aufgeben zu müssen. Dadurch, dass sich die Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse nur über die Religion bestimmen ließ, bot allein die Kombination aus Rasse und Religion die Möglichkeit, Juden anhand ihrer Wesenseigenschaften einigermaßen sicher als »Rassejuden« definieren zu können. Rassenkundliche oder theologische Kenntnisse allein wären dafür nicht ausreichend gewesen. »Definieren« bedeutete in diesem Zusammenhang die Wiederbelebung alter religiöser Vorurteile, die unter den Bedingungen der wissenschaftlichen Rationalität in der Moderne bereits ausgestorben schienen. Als anerkannte Kapazität auf dem Gebiet der Judentumsforschung brauchte sich Kittel nur den gängigen Rassenjargon aneignen, um im »Dritten Reich« in die

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»Der Missionsbefehl Jesu Christi an die Völker, damit aber auch die Aufgabe der Judenmission, steht für jede christliche Kirche unverrückbar und unaufgebbar fest.« Ebd., S. 78. Vgl. Gerhard Schäfer, Die evangelische Kirche in Württemberg. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf, Band 2, Stuttgart 1972, S. 176–180.

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Position eines ­maßgeblichen Judenexperten zu gelangen. Seine Programmschrift »Die ­Judenfrage« war der Auftakt und erste Paukenschlag dafür. Sie setzte sich aus einer grandiosen Aneinanderreihung von antisemitischen Schlagworten zusammen, die alle auf den Punkt hinausliefen, dass man eine wissenschaftliche Erforschung der »Judenfrage« benötige und dass Kittel der richtige Mann dafür sei. 2. Politisierung in der Forschungsabteilung Judenfrage

Nachdem die Nationalsozialisten das Ruder übernommen hatten, erfuhr die Rassenforschung in Deutschland einen massiven Aufschwung. Im Vorfeld der Nürnberger Gesetze stellte sich allerdings heraus, dass die eigentlich dafür zuständigen Fächer wie Anthropologie und Biologie vollkommen dabei versagten, dem Staat belastbare Kriterien zur Verfügung zu stellen, wie sich die Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse messen ließ. Besonders die Einstufung von Misch­ eheverhältnissen und die rassische Klassifikation des daraus hervorgegangenen Nachwuchses führten zu einem juristischen Wirrwarr sondergleichen. Wie wollte man auch den Prozentsatz an jüdischem Blut feststellen, wenn man keine Ahnung davon hatte, woraus sich das Blut eines Juden im Unterschied zu dem eines Nichtjuden zusammensetzte? Somit blieb wenig anderes übrig, als auf die gängigen Ressentiments zurückzugreifen, die jedermann im Kopf hatte, wenn er an jüdische Eigenschaften dachte. Das brachte die Geisteswissenschaften ins Spiel, soweit sie mit einzelnen Aspekten der »Judenfrage« zu tun hatten. Was aber bei Juden mit blonden Haaren, blauen Augen oder anderen »arischen« Rassen­eigentümlichkeiten? Die einzige Möglichkeit, jemanden einigermaßen sicher der jüdischen Rasse zuzuschlagen, bestand darin, seine Religions- in eine Rassenzugehörigkeit zu verwandeln. Je nach Anzahl der Vorfahren, bei denen sich der Ausdruck »mosaischen Glaubens« in den Taufverzeichnissen fand, wurde der prozentuale Anteil bestimmt, der eine Person als Mitglied der jüdischen Rasse auswies. Die Tatsache, dass der Rassenantisemitismus vollständig vom Religionskriterium abhing, verschaffte Kittel die Position einer tonangebenden Autorität, dessen theologisches Expertenwissen selbst bei Vorbehalten gegenüber der Kirche in Anspruch genommen wurde. Kittel wusste sein wissenschaftliches Renommee geschickt zu nutzen, um in der »Judenforschung« eine führende Stellung zu erlangen. Obwohl das politisch motivierte Studium der »Judenfrage« auch an den Universitäten Fuß fasste, boten halbstaatliche Einrichtungen wie die 1936 ins Leben gerufene Forschungsabteilung »Judenfrage« des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands ganz andere Möglichkeiten für eine derart anwendungs­ orientierte Wissenschaft. Der Präsident des Reichsinstituts Walter Frank (1905– 1945) war 1927 an der Universität München mit einer Arbeit über Adolf Stoecker promoviert worden. Geleitet wurde die Forschungsabteilung »Judenfrage« unter

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seiner Aufsicht von Wilhelm Grau (1910–2000), von dem es heißt, dass er in Kittel einen »väterlichen Freund« gesehen habe.7 Vier Monate vor der offiziellen Eröffnung wurde Kittel im Juli 1936 in den wissenschaftlichen Sachverständigenbeirat der Forschungsabteilung »Judenfrage« berufen. Er galt dort als führender Kopf, sodass er keine Schwierigkeiten hatte, mit Karl Georg Kuhn (1906–1976) und Günter Schlichting (1911–1989) zwei seiner Schüler bei der Forschungsabteilung unterzubringen. Der von Kittel promovierte Schlichting hatte in Tübingen die theologische Seminarbibliothek geleitet, bevor er in München mit dem Aufbau einer Fachbibliothek für antisemitische Literatur betraut wurde. Sowohl Schlichting als auch Kuhn gehörten zu Kittels Mitarbeitern am »Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament«. Kuhn wurde 1934 an der Universität Tübingen habilitiert und dort 1942 zum ersten nominellen Professor des »Dritten Reiches« ernannt, dessen Lehrauftrag die »Judenfrage« beinhaltete. Kittel nahm zwischen 1936 und 1939 an allen vier Jahrestagungen der Forschungsabteilung »Judenfrage« teil und war an sieben von neun Bänden ihrer Schriftenreihe mit einem Beitrag beteiligt. Den siebten Band der »Forschungen zur Judenfrage« verfasste er gemeinsam mit dem Berliner Rassenhygieniker Eugen Fischer (1874–1967).8 Kittel wollte hier am Beispiel des »antiken Weltjudentums« den Nachweis führen, dass die Juden schon immer und zu allen Zeiten ein Problem dargestellt hätten. Die Gegnerschaft habe demzufolge auf objektiven und historisch begründeten Ursachen beruht und sei nicht lediglich die Folge christlicher Missgunst gewesen. Der Wiener Hebraist Fritz Werner (geb. 1943) untersuchte in den 1960er-Jahren in seiner Dissertation die »Forschungen zur Judenfrage« eingehend und kam zu einem vernichtenden Urteil. Besonders mit Blick auf Kittel und Kuhn qualifizierte er das dort vertretene Judenbild als pseudo­wissenschaftlich. Werner sprach sogar von einer wissenschaftlich-theologischen Rechtfertigung des Judenmords.9 Welchem Kontext die »Judenforschung« Kittels angehörte, veranschaulicht die zweite Jahrestagung der Forschungsabteilung »Judenfrage«, die im Mai 1937 in München stattfand. Kittel hielt dort einen Vortrag über die Mischeheproblematik in der Antike, der mit einem Loblied auf das »Dritte Reich« endete. Erst der NS hätte die »radikale Ausmerzung des Konnubiums zwischen Juden und

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Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, S. 1006. Eugen Fischer/Gerhard Kittel, Das antike Weltjudentum. Tatsachen, Bilder, Texte, Hamburg 1943. »Viele Ausführungen dieser Spätjudentumsforscher würden erheiternd wirken, hätten sie nicht die ›wissenschaftliche‹ und selbst ›theologische Rechtfertigung‹ für einen millionenfachen Mord geliefert.« So Fritz Werner, Das Judentumsbild der Spätjudentumsforschung im Dritten Reich. Dargestellt anhand der »Forschungen zur Judenfrage«, Band I–VIII. In: Kairos. Zeitschrift für Religionswissenschaft und Theologie, 12 (1971), S. 161–194, hier 194.

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­ ichtjuden« möglich gemacht.10 Der vulgärantisemitische Hetzer Julius Streicher N (1885–1946) trat bei dieser Tagung mit einem mehrstündigen Vortrag auf, in dem er verlangte, das Wissen über die Juden von den Gelehrtenstuben ins Volk hineinzutragen. Mit Adolf Eichmann (1906–1962) und Dieter Wisliceny (1911– 1948) hatte der Sicherheitsdienst (SD) der Schutzstaffel (SS) seine zwei wichtigsten Judensachbearbeiter nach München geschickt. Sie repräsentierten die Seite der Praktiker, deren Aufgabe die konkrete Umsetzung der antisemitischen Theorie war.11 Es stimmt also keineswegs, wie Kittel in seiner Nachkriegsrechtfertigung behauptete, dass seine Arbeiten zur »Judenfrage« rein wissenschaftlichen Charakter gehabt und ausschließlich dem Kampf gegen den Radauantisemitismus wie denjenigen Streichers gedient hätten. Auch seine Vorträge, die Kittel bei Veranstaltungen der Forschungsabteilung »Judenfrage« hielt, dienten der ideologischen Rechtfertigung des Antisemitismus. Bei einer als Begleitveranstaltung zur Münchner Ausstellung »Der ewige Jude« durchgeführten Vortragsreihe referierte Kittel am 16. Dezember 1937 über »Die rassische Entwicklung des Judentums«, wobei er das frühe Christentum erneut dafür lobte, der Rassenmischung durch scharfe Ehegesetze Einhalt geboten zu haben.12 Ein Jahr später behandelte er am 13. Januar 1939 in Berlin das gleiche Thema im gleichen Tenor.13 Auch hier handelte es sich um antisemitische Propaganda mit dem Ziel, die »ewige« Kontinuität des Judenproblems darzulegen. Walter Frank charakterisierte die Berliner Reihe »Judentum und Judenfrage« als imponierenden Beleg für die Leistungsfähigkeit der nationalsozialistischen Juden­wissenschaft. Nicht zum ersten Mal nannte er die Forschungsabteilung eine geistige Waffenschmiede im Kampf gegen das Judentum.14 3. Die Verbindung von antisemitischer Theorie und antisemitischer Praxis

Die von der Forschungsabteilung »Judenfrage« mitorganisierte Ausstellung »Der ewige Jude« lässt deutlich erkennen, wie eng die theoretischen und praktischen Aspekte des Umgangs mit der »Judenfrage« zusammenhingen. Die später noch 10 Gerhard Kittel, Das Konnubium mit Nicht-Juden im antiken Judentum. In: Forschungen zur Judenfrage, Band 2, Hamburg 1937, S. 30–62, hier 62. 11 Vgl. Horst Junginger, Die Verwissenschaftlichung der »Judenfrage« im Nationalsozialismus, Darmstadt 2011, S. 243. 12 So der Bericht »Das Judentum der Antike. Seine rassische Entwicklung«. In: Münchner Neueste Nachrichten vom 18.12.1937. 13 »Wie wurde das Judentum?« Universitätsprofessor Dr. Kittel – Tübingen sprach in Berlin«. In: Tübinger Chronik vom 19.1.1939. 14 »Indem wir diese Waffen schärfen und eine geistige Truppe in diesen Waffen üben, dienen wir der moralischen Aufrüstung unserer Nation in ihrem großen Kampf gegen den internationalen jüdischen Feind.« Walter Frank, Deutsche Wissenschaft gegen das Weltjudentum. In: Tübinger Chronik vom 18.1.1939.

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in anderen Städten gezeigte Wanderausstellung musste in München wegen des Andrangs verlängert werden und zog in drei Monaten über 400 000 Besucher an. Wurde im ersten Ausstellungssaal die rassenbiologische Seite des Judentums gezeigt, war im zweiten Saal die jüdische Religion Gegenstand der Darstellung. Hier kam Kittels Fachwissen zum Einsatz. Wie Kittel einige Zeit später seinem Schüler Karl Georg Kuhn am 24. Januar 1939 brieflich mitteilte, seien von ihm Textzitate über das antike Judentum für die Ausstellung ausgewählt und in München in der Form von Wandsprüchen gezeigt worden.15 Auch dort präsentierte Karikaturen des antiken Judentums gingen auf eine Zusammenstellung Kittels zurück. Bei der Ausstellungseröffnung hatte Joseph Goebbels am 8. November 1937 erklärt, dass man größten Wert auf die historische Authentizität der Dokumentation lege.16 Niemand wusste besser als der Propagandaminister, dass die »Aufklärung« über das Judentum eine sachliche Begründung vorspiegeln musste, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Den Hintergrund des erwähnten Briefes an Kuhn bildete eine weitere Propa­ gandaausstellung über »Das körperliche und seelische Erscheinungsbild der Juden«, die 1939 in Wien gezeigt wurde. Kittel stellte auch hierfür geeignete »Belege« aus dem Talmud und der spätantiken Literatur des Judentums sowie zweckdienliche Fotos jüdischer Köpfe und Skulpturen zur Verfügung. Außerdem hatte er altkirchliche Synodalbeschlüsse zusammengetragen, die in Wien als frühes Gegenstück zu den Nürnberger Gesetzen dienen sollten. Die dritte große Ausstellung, bei der sich Kittel beteiligte, trug den Titel »Europas Schicksalskampf im Osten« und war am 6. September 1938 von Alfred Rosenberg (1893–1946) auf dem Reichsparteitag in Nürnberg eröffnet worden. Kittel nahm an diesem Parteitag nicht nur als »Ehrengast des Führers« teil, sondern war auch damit beauftragt worden, für die Parteitagsausstellung einen eigenen Raum zu gestalten. Um zu zeigen, wie die Juden das Römische Reich von innen her rassen­mäßig zersetzt hätten, ließ Kittel in Tübingen eigens eine »Wanderungskarte« des Judentums anfertigen, die sich an der Verbreitung der Menora, dem siebenarmigen Leuchter des Judentums, orientierte.17 Als er am 18. Febru­ar 1939 an den Wiener Ausstellungsmacher Josef Wastl (1892–1968) schrieb, dass er es »für einen ungemein glücklichen Gedanken« halte, über das konkrete Ausstellen die Judenfrage dem »Verständnis der Volksgenossen zu erschließen«, könnte man meinen, er hätte dabei Streichers Appell von der zweiten A ­ rbeitstagung der

15 Junginger, Verwissenschaftlichung, S. 255–275; der Brief an Kuhn, ebd., S. 270. 16 Ebd., S. 255. 17 Eine Abbildung dieser Karte bei Horst Junginger, Das Bild der Juden in der nationalsozialistischen Judenforschung. In: Andrea Hoffmann/Utz Jaeggle/Reinhard Johler/Martin Ulmer (Hg.), Die kulturelle Seite des Antisemitismus zwischen Aufklärung und Schoah, Tübingen 2006, S. 171–220, hier 206.

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Forschungsabteilung »Judenfrage« im Sinn gehabt, die Kenntnisse der Gelehrten ins Volk hineinzutragen.18 Die Wertschätzung, die Kittel vonseiten des NS erfuhr, spornte ihn zusätzlich an und ließ ihn Berührungsängste zu Personen und Institutionen verlieren, die nicht gerade als kirchenfreundlich bekannt waren. Für das zentrale Parteiorgan der NSDAP steuerte er 1939 einen Artikel über die geschichtlichen Voraussetzungen der jüdischen Rassenmischung bei, in dem er die Zersetzung des Römischen Reiches durch die Juden mit der Situation in der Weimarer Republik verglich. Unter Hinweis auf die Juden als »nagendes Gewürm« sah er das Deutsche Reich dem gleichen Schicksal entgegengehen wie das alte Rom. Nur dem Auftreten Adolf Hitlers sei es zu danken, dass die Entwicklung Deutschlands eine andere Wendung genommen habe.19 Als offizielles NSDAP-Parteiblatt wurde »Der Schulungsbrief« in einer Auflagenhöhe von über viereinhalb Millionen Heften ausgeliefert. Das verschaffte Kittels Ausführungen eine Reichweite, von der Wissenschaftler nur träumen können. Dagegen nahmen sich die 90 000 Exemplare der Hitlerjugend(HJ)-Zeitschrift »Wille und Macht« geradezu bescheiden aus. Auch hier behauptete Kittel, dass es seit der Antike unter allen Völkern und zu allen Zeiten eine »Judenfrage« gegeben habe. Aus gutem Grund habe sich deswegen schon immer ein »leidenschaftlicher Antisemitismus« dagegen erhoben.20 1942 und 1943 verfasste Kittel zwei in ihrem hetzerischen Duktus kaum anders als extrem zu nennende Artikel für ein antisemitisches Publikationsorgan des Propagandaministeriums.21 Zu dieser Zeit bereitete das Goebbels-Ministerium einen Schauprozess gegen Herschel Grynszpan (geb. 1921, Todesdatum unbekannt) vor, der am 7. November 1938 in Paris ein Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath (1909– 9.11.1938) verübt hatte. Hierfür wurden mehrere Gutachten in Auftrag gegeben, die belegen sollten, dass es sich dabei um den Beginn eines jüdischen Angriffskrieges gegen das nationalsozialistische Deutschland gehandelt habe. Kittel erhielt die Aufgabe, den religiösen Impuls bei Grynszpans Tat herauszuarbeiten. Er ­suchte deshalb den in Berlin-Moabit inhaftierten Grynszpan am 9. Dezember 1941 mit einem Staatsanwalt des Volksgerichtshofes im Gefängnis auf und unterzog ihn 18 Zit. nach Junginger, Verwissenschaftlichung, S. 270 f. 19 Gerhard Kittel, Staatsbürgertum ohne völkische Verpflichtung bedeutet nationalen Untergang und soziales Chaos. In: Der Schulungsbrief. Das zentrale Monatsblatt der NSDAP und DAF. Hg. vom Hauptschulungsamt des Reichsorganisationsleiters der NSDAP, 6. Folge (1939), S. 239–246. 20 Ders., Das antike Weltjudentum. In: Wille und Macht, Heft 13 vom 1.7.1941, S. 8–12. 21 Ders., Das talmudische Denken und das Judentum. In: Die Judenfrage vom 1.10.1942, S. 208 f.; und Die Behandlung des Nichtjuden nach dem Talmud. In: Archiv für Judenfragen, Heft 1 (1943), S. 7–17. Es handelte sich dabei um die Hauszeitschrift des Berliner Instituts zum Studium der Judenfrage, die zweimal den Namen wechselte: Mitteilungen über die Judenfrage (1937–1940), Die Judenfrage (1940–1943), Archiv für Judenfragen (1943–1944).

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einer eingehenden Befragung. Seinen Aufenthalt in Berlin nutzte Kittel außerdem dazu, um am Vorabend bei der Antisemitischen Aktion des Propaganda­ ministeriums einen Vortrag über »Die Äußerungen der normativen religiösen Schriften des Judentums über die Stellung der Juden zum Nichtjuden« zu halten.22 Zudem nahm er an Besprechungen mit Ministeriumsmitarbeitern teil, die in dem gegenüber der Reichskanzlei gelegenen Luxushotel »Kaiserhof« stattfanden, das der NSDAP seit vielen Jahren als Aufenthalts- und Begegnungsort diente. Obwohl Grynszpan kein besonders religiöses Leben geführt hatte, erfüllte Kittel die in ihn gesetzten Erwartungen, die Ermordung des Pariser Legations­ sekretärs als die Tat eines vom internationalen Weltjudentum gesteuerten Talmud­juden darzustellen. Er argumentierte dabei mit der jüdischen Rassenzugehörigkeit Grynszpans, bei dem die Purimgesinnung nach Verlust ihrer religiösen Bindung angeblich noch viel gefährlichere Formen habe annehmen müssen. Das wichtigste Ergebnis von Kittels Gutachten bestand in der Feststellung, dass man in dem Schuss auf Ernst vom Rath ein »Fanal« für das »gottgewollte Purim über die Judenfeinde« zu sehen habe.23 Hitler, Goebbels und andere NS-Führer hatten das Motiv der legitimen Selbstverteidigung schon beim Boykott jüdischer Geschäfte 1933 und dann vor allem im Anschluss an die Reichspogromnacht verwendet. Mit dem Überfall auf Polen trat der Gedanke eines dem Reich von den Juden aufgezwängten Verteidigungskrieges in eine neue Dimension ein. Dem passte sich auch die nationalsozialistische »Judenforschung« an, bei der sich in den zwölf Jahren des »Dritten Reiches« jede Verschärfung des antijüdischen Kampfes bei der inhaltlichen Argumenta­ tion und im sprachlichen Ausdruck nachvollziehen lässt. Schon vor 1939 hatte sie von der Beschlagnahmung jüdischer Bibliotheken und anderer Kulturgüter profitiert. In den von Deutschland okkupierten Ländern konnten nach Kriegsbeginn aber »Sicherstellungen« ganz anderen Ausmaßes durchgeführt werden. Vorzugsweise die Judenghettos wurden zur Bezugsquelle für Material, das die NS-Forschung zur Auswertung erhielt. Von Karl Georg Kuhn ist bekannt, dass er im Frühsommer 1940 im Auftrag der Forschungsabteilung »Judenfrage« bei der jüdischen Gemeinde im Warschauer Ghetto Kultgegenstände und ­Archivmaterial sichtete. Es sei nach der Besetzung Polens notwendig geworden, die »mit dem ostjüdischen Problem zusammenhängenden wichtigen Fragen« zu untersuchen, »solange dazu die Gelegenheit an Ort und Stelle günstig ist«, hatte es in dem Freistellungsantrag für Kuhn geheißen.24

22 Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung, S. 292. Wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten hatte man das 1934 in Berlin gegründete Institut zum Studium der Judenfrage 1939 in Antijüdische bzw. Antisemitische Aktion umbenannt. 23 Zit. nach ebd., S. 293 (Gutachten, S. 10). 24 Zit. nach Junginger, Verwissenschaftlichung, S. 198 f.

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Der Bestandsaufbau der von Schlichting geleiteten Fachbibliothek für Antisemitica in München profitierte ebenfalls von den »Sicherstellungen«, die nun im großen Stil durchgeführt wurden. In dem bereits angesprochenen Buch von Kittel und Fischer über »Das antike Weltjudentum« fanden Fotos Verwendung, die eigens im Ghetto in Litzmannstadt25 gemacht worden waren, um die rassische Parallelität zwischen dem antiken Judentum und den »Ostjuden« in Polen bildlich darzustellen. Auch der an die Ausstellung gleichen Namens anschließende Propagandafilm »Der ewige Jude« integrierte Szenen, die während eines jüdischen Gottesdienstes in der Großen Synagoge in Lodz/Łódź gedreht worden waren. Sie wurden mit Talmudzitaten unterlegt, die aller Wahrscheinlichkeit nach auf Kittels Auswahl zurückgingen. An der Universität Tübingen stritt man sich im September 1941 darüber, wer die hebräische Reiseschreibmaschine der von Karlsruhe nach Gurs deportierten Jüdin Sophie Ettlinger (geb. 1885, das genaue Todesdatum in Auschwitz ist unbekannt) übernehmen durfte. Mit großer Vehemenz plädierten die beiden Dekane der Evangelisch-theologischen und der Philosophischen Fakultät dafür, die more judaico von rechts nach links schreibende Maschine der Tübinger »Judenforschung« zum wissenschaftlichen Gebrauch zu übereignen.26 Weitere Beispiele für den verbrecherischen Charakter der nationalsozialistischen Judenwissenschaft ließen sich hinzufügen. Dass deren Vertreter den Antisemitismus des »Dritten Reiches« nicht nur wissenschaftlich legitimierten, sondern auch bei seiner Realisierung mitwirkten und selbst dem Holocaust gefährlich nahekamen, belegt ein von Kittel im Fe­ bruar 1943 erstelltes Gutachten, in dem er die iranischen Sepharden im besetzten Frankreich zu Mitgliedern der jüdischen Rasse erklärte. Die »Association Culturelle Sépharadite de Paris« hatte versucht, ihre Mitglieder von der Verfolgung auszunehmen, weil sie als Ario-Lateiner mosaischen Glaubens nicht der jüdischen Rasse angehörten. Kittel und weitere Gutachter wiesen das als abwegige Schutzbehauptung zurück. Aufgrund dieser Voten zog das Auswärtige Amt den Schluss, in den Sepharden Angehörige der jüdischen Rasse zu sehen. Sie seien deshalb, wie es ein interner Aktenvermerk am 2. Juni 1943 formulierte, »in die allgemeinen Judenmaßnahmen mit einbezogen worden«.27 25 Litzmannstadt war die Bezeichnung der Stadt Lodz (polnisch Łódź) unter der NS-Herrschaft von 1940 bis 1945 (Anm. der Redaktion). 26 Der Vorgang hat sich in einem umfangreichen Briefwechsel in den Universitätsakten niedergeschlagen. Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung, S. 282–287. Die anderen Beispiele ebd., S. 280 ff. Das Schicksal der später in Auschwitz ermordeten Sophie Ettlinger hat den Autor dazu veranlasst, ihr die genannte Untersuchung zu widmen. Vgl. ebd., Titelblatt. 27 Eberhard von Thadden (Judenreferent des Auswärtigen Amtes) an Abteilung Inland II vom 2.6.1943. Zit. nach Patricia von Papen, Schützenhilfe nationalsozialistischer Judenpolitik. Die »Judenforschung« des »Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands« 1935–1945. In: Fritz Bauer Institut (Hg.), »Beseitigung des jüdischen Einflusses …«. Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 17–42, hier 32.

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Kittel und der Holocaust Wie Kittel in seiner Nachkriegsverteidigung schrieb, habe er Anfang 1943 von seinem auf Urlaub weilenden Sohn Eberhard zum ersten Mal Kenntnis von den »planmäßigen und in großem Umfang durchgeführten Judenverfolgungen und -morden in Polen und Russland« erhalten. Ihm sei durchaus bewusst gewesen, dass die Juden in Deutschland schon vorher Bedrängungen ausgesetzt waren. Irgendwann habe er jedoch eingesehen, »dass das Verhängnis wohl seinen Lauf nehmen müsse«. Sein konsequentes Eintreten gegen den Vulgärantisemitismus hätte ihn sogar selbst in Gefahr gebracht. »Christentumsfeinde und Kirchen­ hasser« unter den Nationalsozialisten hätten ihn »als einen ihrer Todfeinde« angesehen und nur darauf gewartet, »ihn unschädlich zu machen«. Er habe »mit einem Fuß im K.Z.« gestanden und seinen Angehörigen deshalb Maßregeln für den Fall seines Verschwindens gegeben.28 Kittel behauptete allen Ernstes, dass man seine Studien zur »Judenfrage« als einen Akt des Widerstandes zu werten habe. Die antijüdische Propaganda der Vulgärantisemiten sei von ihm auf diese Weise als Dilettantismus entlarvt worden. Mit seinem Grynszpan-Gutachten hätte er den geplanten Schauprozess zu Fall gebracht und somit den Judenmördern den Plan vereitelt, die bereits in Vorbereitung befindlichen »Ausrottungsmaßnahmen gegen das Judentum« zu legitimieren.29 Kittels Verteidigungsschrift, ohne Anhang 76 Seiten lang, ist in psychologischer und anderer Hinsicht hochinteressant. Sie wird in dem vorliegenden Band von Manfred Gailus zum ersten Mal einer eingehenden Analyse unterzogen.30 Bei seinem Versuch, die gegen ihn im Raum stehenden Vorwürfe richtigzustellen, verhedderte sich Kittel mehr als nur einmal. Es finden sich in seiner Apologia pro vita sua neben der für dieses Genre üblichen Mischung aus Schönreden und Verheimlichen auch Lügen, die derart grotesk sind, dass ihr umgekehrter Wahrheitsbezug selbst dann ins Auge springt, wenn man ihren tatsächlichen Hintergrund nicht in vollem Umfang kennt. Natürlich stimmte Kittels Argument, dass seine wissenschaftliche Arbeit darauf abzielte, die Dilettanten unter den »Judenforschern« in die Schranken zu weisen. Selbstverständlich diente sein Kampf gegen die Defizite einer unwissenschaftlichen und von ihm genau deswegen als ineffizient bezeichneten Judengegnerschaft aber nicht dem Zweck, den Antisemitismus zu bekämpfen, sondern dessen schlechte durch eine bessere Begründung zu überwinden. Niemand, auch Kittel selbst nicht, wäre vor 1945 auf die Idee gekommen, seiner antisemitischen Beweisführung einen gegen den Antisemitismus gerichteten Sinn zu unterlegen.

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Gerhard Kittel, Meine Verteidigung, S. 42 f. (Universitätsarchiv Tübingen, 162/31). Ebd., S. 48.

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Die spätere Annahme der Kirchenkampfgeschichtsschreibung, dass der Rassen­ antisemitismus des »Dritten Reiches« und der religiöse Antijudaismus des Christentums in einem antagonistischen Gegensatz zueinander gestanden hätten, wird durch Kittel nachdrücklich widerlegt. Seine rassische Argumentation schloss die religiöse Dimension der »Judenfrage« nicht nur mit ein. Diese bildete bei ihm das Zentrum seiner Überlegungen. Was dabei herauskam, nahm den Charakter einer sich wissenschaftlich gebenden Dämonologie an. Die Juden wurden wieder zu einer satanischen Macht erklärt und als das schlechthin negative Prinzip der Weltgeschichte ausgegeben. Bei seiner Interpretation des Talmud kehrte Kittel unter Zurücklassung aller etablierten Standards der protestantischen Bibelexegese auf das Niveau Johann Andreas Eisenmengers (1654–1704) zurück, der im 17. Jahrhundert in der gleichen Weise über das Judentum »aufklärte«, wie es die nationalsozialistischen Judenforscher nach 1933 taten. Durch ein Verfahren, das der allzu früh verstorbene Hermann Greive (1935–1984) die »Umkehrung des Talmud« nannte, wurde es Kittel wie bereits schon Eisenmenger möglich, die eigenen Vorurteile in den Talmud hinein- und dann in der »richtigen« Form wieder aus ihm herauszulesen.31 Jedes nur denkbare Verbrechen und selbst die Tötung eines Nichtjuden werde, so hieß es, durch den Talmud als legitimes Verhalten dargestellt.32 Kittel bezeichnete das talmudische Denken in diesem im Oktober 1941 erschienenen Artikel als eine dem Wesen des Judentums gemäße »Abstrusität« und den in seiner ganzen »Verzerrtheit« »sachgemäßesten Ausdruck« des »abstrusesten Volkes, das die Weltgeschichte je hervorbrachte«. Auf der normativen Grundlage ihrer heiligen Schriften würden die Juden nur in einem Juden einen wirklichen Menschen sehen. Nichtjuden seien für sie dagegen wie Tiere. Mit einem einschlägigen Talmudzitat »belegte« Kittel die abgrundtiefe Unmoral des jüdischen Volkes, das es ihm erlaube, Nichtjuden wie Hunde zu töten und ihnen wie Schlangen das Gehirn zu zerschmettern, wenn es in seinem Interesse läge. »Talmudisch gedacht ist der Jude allein der eigentliche Mensch, der diesen Namen verdient. Der Nichtjude verhält sich zum Juden wie die Spreu zum Weizen, wie der Staub zur Perle, wie die Fehlgeburt zum lebenden Kind, wie das Tier zum Menschen. Selbst der Hund verdient noch den Vorzug vor dem Nichtjuden. Die Tötung des Nichtjuden – sie wird vom Talmud ausdrücklich und grundsätzlich als straffrei erklärt – ist nichts anderes als die Tötung eines Stückes Vieh –, und zwar eines gefährlichen.«33 30 Manfred Gailus, Gerhard Kittels »Meine Verteidigung« von 1946: Rechtfertigungsversuche eines schwer kompromittierten Theologen, in diesem Band, S. 161–182. 31 Vgl. Hermann Greive, Der »umgekehrte Talmud« des völkischen Nationalismus. In: Judaica, 23 (1967), S. 1–27; ders., Der Talmud. Zielscheibe und Ausgangspunkt antisemitischer Polemik. In: Günther B. Ginzel (Hg.), Antisemitismus, Bielefeld 1991, S. 304–310. Greive lehrte als Professor für Judaistik am Martin-Buber-Institut der Universität Köln, als er im Alter von 49 Jahren in einem Seminar von einer psychisch kranken, wissenschaftlichen Archivangestellten erschossen wurde. 32 Kittel, Das talmudische Denken und das Judentum, S. 208 f. 33 Ebd., S. 208.

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Zu diesem Zeitpunkt lagen die beiden Rechenschaftsberichte von Dr. Walter Stahlecker (1900–1942), dem Anführer der Einsatzgruppe A im Ostkrieg, bereits etliche Monate zurück. In ihnen listete Stahlecker annähernd 376 000 Personen auf, die von seiner Einsatzgruppe umgebracht worden waren. Stahlecker stammte wie die beiden Anführer der ihm unterstehenden Einsatzkommandos 1a und 1b, Dr. Martin Sandberger (1911–2010) und Erich Ehrlinger (1910–2004), aus Tübingen. Alle drei waren während ihrer Studienzeit in Tübingen antisemitisch politisiert und von Gustav Adolf Scheel (1907–1979) für eine Tätigkeit beim SD angeworben worden. Kittel stand mit Scheels Vater Wilhelm, einem evangelischen Pfarrer, in Kontakt und kannte auch dessen Sohn, der in seinen Tübinger Studien­semestern Mitglied und dann Vorsitzender des Vereins Deutscher Studenten wurde. Rechnet man noch eine Handvoll weiterer Kriegsverbrecher zum »Fall Tübingen«, so ist der Anteil derjenigen aus der »Generation des Unbedingten«, die an der Universität ihre Ausbildung erlangten und einige Jahre später an führender Stelle den Holocaust bewerkstelligten, noch wesentlich höher zu veranschlagen.34 Die Frage, wie man den Zusammenhang zwischen antisemitischer Ideologie und antisemitischer Praxis im Licht der Schoah zu beurteilen hat, ist nicht leicht zu beantworten. Dass es sich dabei um zwei Seiten derselben Münze handelte, steht außer Zweifel. Sowohl die Theoretiker der Judenforschung als auch die Praktiker der Judenverfolgung arbeiteten am gleichen Projekt, die Welt von der imaginierten »jüdischen Gefahr« zu befreien. Das heißt nicht, dass Kittel den Holocaust beabsichtigt, gutgeheißen oder vorausgedacht hätte. Es heißt aber sehr wohl, dass die verschiedenen Ausprägungen der Judenfeindschaft nicht von­einan­der losgelöst betrachtet werden können. Der genozidale Antisemitismus der Täter wäre ohne eine antisemitische Tradition, die sich nach 1933 im Konzept einer wissenschaftlichen »Judenforschung« bündelte, nicht möglich gewesen. Kittels spezifischer Beitrag bestand darin, anachronistische Vorurteile und bereits überwunden geglaubte Klischees vom satanischen Wesen der Juden wissenschaftlich zu untermauern und den Kampf dagegen als historisch begründet und objektiv notwendig zu erklären. Bereits seine Schrift »Die Judenfrage« enthielt die Tendenz zu einer radikaleren Lösung der »Judenfrage«, falls sich herausstellen sollte, dass weniger radikale Antworten zu keinem befriedigenden Ergebnis führen würden. Das lief schon in der Mitte der 1930er-Jahre darauf hinaus, dass man die Juden loswerden müsse, um das Judenproblem loszuwerden.

34

Michael Wildt widmete in seiner umfassenden Darstellung – Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002 – den Tübingern ein eigenes Kapitel: »Revolutionäre Militanz. Der Fall Tübingen«. Ebd., S. 89–104.

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Horst Junginger

In Kittels Umfeld hat man sich besonders in Tübingen lange dagegen gesträubt, das Ausmaß seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus zur Kenntnis zu nehmen. Zum Teil versuchte man, dem zweifellos unangenehmen Sachverhalt auszuweichen, öfter aber, ihn aktiv zu verdrängen. Die mittlerweile vorliegenden Fakten lassen ein solches Verhalten nicht mehr zu. Sie sollten zum Anlass genommen werden, über die Rolle Kittels im »Dritten Reich« neu nachzudenken. Wie groß war und wie groß ist seine Bedeutung innerhalb der evangelischen Theologie? Welche Folgerungen ergeben sich aus dem von ihm entwickelten Ansatz einer wissenschaftlichen »Judenforschung« für die evangelische Nachkriegsjudaistik? Kann man seinem Antisemitismus dadurch Herr werden, dass man das Minuszeichen vor dem Judentum einfach in ein Pluszeichen verwandelt? Heute wird man dazu neigen, in Kittel einen extremen Außenseiter zu sehen und seine Judenforschung en bloc zu verdammen. Vor 1945 war das anders. Er galt als ein wissenschaftlich herausragender Theologe, dessen politischen Einfluss man in der Kirche zu schätzen wusste. Viele teilten Kittels Antisemitismus und kaum jemand nahm selbst an extremen Äußerungen Anstoß. Die größte Wirkung zeigte Kittels Verteidigung der nationalsozialistischen Judenpolitik bei denjenigen, die sich schon zu einem guten Stück weit von ihrer Religion, nicht aber von ihren religiösen Vorurteilen verabschiedet hatten. Bei ihnen fiel seine wissenschaftliche Erklärung der »Judenfrage« auf besonders fruchtbaren Boden.



Martin Leutzsch Wissenschaftliche Selbstvergötzung des Christentums: Antijudaismus und Antisemitismus im »Theologischen ­Wörterbuch zum Neuen Testament«

Für Richard Faber Das »Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament« (ThWNT) versteht sich als Neubearbeitung des »Biblisch-theologischen Wörterbuchs der neutestamentlichen Gräzität«, das der lutherische Theologe Hermann Cremer (1834–1903) erstmals 1866 veröffentlichte. In jeweils vermehrten und verbesserten Auflagen blieb Cremers Werk bis 1923 auf dem Markt, nach Cremers Tod in der 10. und 11. Auflage von Julius Kögel (1871–1928) betreut. Mit der konkreten Planung der Neubearbeitung begann Gerhard Kittel 1928. Ende 1929 schloss der Verlag Walter Kohlhammer mit den Mitarbeitern Verträge. Die erste Lieferung erschien im April 1932, die letzte im September 1979. Anfänglich sollte das ThWNT mithilfe von 15 Mitarbeitern innerhalb von zwei Jahren in zwei Bänden fertig­ gestellt werden. Eigendynamiken, wie sie bei Lexikonprojekten nicht selten sind, führten schließlich zu einem zehnbändigen Nachschlagewerk (Band 10 in zwei Halbbänden) mit insgesamt 105 fast ausschließlich deutschen und evangelischen Mitarbeitern. Kittels Herausgeberschaft endete mit seinem Tod 1948. Sie wurde ab Band 5 von Gerhard Friedrich (1908–1986) übernommen.1 Das ThWNT ist vollständig ins Englische und ins Italienische übersetzt, einzelne Artikel ins Französische; im Spanischen gibt es eine einbändige Auswahlübersetzung. Es wird seit 1933 im Universitätsbetrieb als Standardreferenz benutzt, in der Theologie nicht nur im Fach Neues Testament (NT), sondern – bis zum Erscheinen des »Theologischen Wörterbuchs zum Alten Testament« (1970– 2000) – auch im Fach Altes Testament (AT), nicht nur im lutherischen und reformierten Bereich, sondern auch in den anglophonen Protestantismen und in der katholischen Exegese. Da im ThWNT die antike griechische Sprachgeschichte berücksichtigt ist, wird es auch in der Altphilologie benutzt.

1

Wörterbuchartikel werden im Folgenden abgekürzt mit Verfassername, Band und Seite zitiert.

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Martin Leutzsch

Von Anfang an stand das ThWNT auch in den Bücherregalen von Pfarrhäusern. Der Konfirmator des Autors, Pfarrer Walter Schulze (Pettendorf bei Regensburg), in dessen Studierzimmer 1969 die Erstbegegnung des Verfassers mit dem Wörterbuch stattfand, hatte es als Student in den 1930er-Jahren subskribiert und erlebte seine Vollendung im Ruhestand. Die Komplettanschaffung wurde seit 1990 durch eine preisgünstige kartonierte Studienausgabe erleichtert.

Geschichte der Kritik des ThWNT Von Anfang an wurde das ThWNT international und interkonfessionell in Rezensionen sehr gelobt. Eine umfassende fundamentale Kritik veröffentlichte 1961 der schottische Exeget und Philologe James Barr (1924–2006), dessen Lebenswerk in der Dekonstruktion unhinterfragter Prämissen in den Bibelwissenschaften bestand. Er warf dem Lexikon die fehlende Unterscheidung von Wort und Begriff und die Dominanz einer weder begründeten noch problematisierten theologischen Leitidee vor, die unvoreingenommene historisch-philologische Forschung verhindere.2 Barrs Fundamentalkritik geht nicht explizit auf die Frage nach Antijudaismus und Antisemitismus im ThWNT ein. Dies geschieht ab 1980. Zwei Beiträge sind hervorzuheben: die judaistische Dissertation des römisch-katholischen Neutestamentlers Karlheinz Müller über »Das Judentum in der religionsgeschichtlichen Arbeit am Neuen Testament« (1983) und der Aufsatz »Antijudaismus/Antisemitismus im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament« seines reformierten Kollegen Johan S. Vos aus dem Jahr 1984. Müller lieferte mit Bezug auf Barr eine Dekonstruktion der programmatischen Äußerungen des Herausgebers Kittel und der Meistererzählungen, Judentumskonstruktionen und Vergleichspolitiken, die sich in Struktur und Quellenbasis der Wörterbuchartikel niederschlagen.3 Müllers fundamentale Kritik ist im Fortgang der Forschung unbeachtet geblieben. Die Untersuchung von Vos ist bis heute die umfassendste und differenzierteste Untersuchung zu den Wörter­ buchartikeln.4 Auf ihr fußen alle späteren Kritiken.5 Seine Einzelanalysen sind 2 3 4 5

Vgl. James Barr, The Semantics of Biblical Language, Oxford 1961, S. 206–262. Vgl. Karlheinz Müller, Das Judentum in der religionsgeschichtlichen Arbeit am Neuen Testament. Eine kritische Rückschau auf die Entwicklung einer Methodik bis zu den Qumranfunden, Frankfurt a. M. 1983, bes. S. 79–91. Vgl. Johan S. Vos, Antijudaismus/Antisemitismus im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament. In: Nederlands Theologisch Tijdschrift, 38 (1984), S. 89–110. Vgl. Alan Rosen, »Familiarly Known as Kittel«: The Moral Politics of the Theological Dictionary of the New Testament. In: Nancy A. Harrowitz (Hg.), Tainted Greatness: Antisemitism and Cultural Heroes, Philadelphia 1994, S. 37–50; Wolfgang Schenk, Der Jenaer Jesus. Zu Werk und Wirken des völkischen Theologen Walter Grundmann und seiner Kollegen. In: Peter von

Antijudaismus und Antisemitismus im ThWNT

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bislang nicht überprüft und substanziell nur wenig – und nur teilweise stichhaltig – erweitert worden.6 Vos unterscheidet zwei Arten von Antijudaismus, von ihm theologisch bzw. exegetisch genannt, und Antisemitismus. Er untersucht die Artikel von 15 Autoren, die er fünf Gruppen zuordnet. Zwei sind Mitarbeiter des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands: Gerhard Kittel, Karl Georg Kuhn (1906– 1976), sechs Mitglieder des Eisenacher »Entjudungsinstituts«: Walter Grundmann (1906–1976), Georg Bertram (1896–1979), Hugo Odeberg (1898–1973), Carl Schneider (1900–1977), Herbert Preisker (1888–1952), Gerhard Delling (1905–1986). Zwei gehören dem deutschchristlichen Spektrum an: Hermann Wolfgang Beyer (1898–1942), Ethelbert Stauffer (1902–1979). Zwei Autoren werden mit dem Label »geteilte Herzen« als gegen völkische Theologie ambivalent eingestellte Theologen klassifiziert: Hermann Strathmann (1882–1966), Karl Heinrich Rengstorf (1903–1992), drei als Gegner der völkischen Theologie: Rudolf Bultmann (1884–1976), Gottlob Schrenk (1879–1965), Friedrich Büchsel (1883–1945). Vos kommt zu folgendem Ergebnis: Bei den von ihm untersuchten Artikeln fehlt theologischer Antijudaismus, während exegetischer Antijudaismus stark präsent ist. Antisemitismus findet Vos in Artikeln von Grundmann, Bert­ ram und Schneider, drei Mitgliedern des Eisenacher »Entjudungsinstituts«. In der Anwendung seiner Typologie judenfeindlicher Einstellungen ist Vos nicht immer konsequent. Nicht in seine Untersuchung einbezogen ist die Frage, welches Ziel das ThWNT verfolgt. Damit setze ich ein.

Das Programm des ThWNT 1. Das Ziel

Das Ziel wird in den ersten Sätzen des Vorworts zum ersten Band des ThWNT von Kittel so formuliert:

6

der Osten-Sacken (Hg.), Das mißbrauchte Evangelium. Studien zu Theologie und Praxis der Thüringer Deutschen Christen, Berlin 2002, S. 167–279, hier 233–240; Wayne A. Meeks, A Nazi New Testament Professor Reads his Bible. The Strange Case of Gerhard Kittel. In: Hindi Naj­ man/Judith H. Newman (Hg.), The Idea of Biblical Interpretation: Essays in Honor of James L. Kugel, Leiden 2004, S. 513–544, hier 534–543; Anders Gerdmar, Roots of Theological Anti-­ Semitism: German Biblical Interpretation and the Jews, from Herder and Semler to Kittel and Bultmann, Leiden 2009, S. 474–478. Vgl. Maurice Casey, Some Anti-Semitic Assumptions in the Theological Dictionary of the New Testament. In: Novum Testamentum, 41 (1999), S. 280–291; Tobias Nicklas, Vom Umgang mit biblischen Texten in antisemitischen Kontexten. In: Hervormde Teologiese Studies/Theological Studies, 64 (2008), S. 1895–1921, hier 1909–1914. Zur Forschungslage vgl. auch Horst Junginger, Die Verwissenschaftlichung der »Judenfrage« im Nationalsozialismus, Darmstadt 2011, S. 148–151.

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»Das ›Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament‹ knüpft an die große Lebensarbeit von Hermann Cremer und Julius Kögel an. Das Ziel, das den Mitarbeitern des ›Theologischen Wörterbuches‹ vorschwebt, kann nicht besser formuliert werden als mit den einleitenden Worten der Vorrede Cremers aus dem Jahre 1883 zum ›Biblisch-theologischen Wörterbuch der neutestamentlichen Gräzität‹, in denen er von dem ›neuen Gewicht und neuen Gepräge‹, der ›neuen Energie‹ sprach, die die griechischen Worte dadurch erhielten, dass ›sich der Gesichtskreis des Redenden und Schreibenden mit dem Ausgangs- und Zielpunkt alles Denkens umgestaltete‹. Diesen ›neuen Gehalt‹ der einzelnen Begriffe durch unsere Abhandlungen sichtbar werden zu lassen, ist der eigentliche Zweck unseres Buches.«7

Weder für das ThWNT noch für den Herausgeber ist eine Veränderung dieser Zielsetzung belegbar. In den Vorträgen über das Wörterbuch, die Kittel 1937 in Cambridge hielt und die unter dem Titel »Lexicographia sacra« 1938 auf Englisch und auf Deutsch erschienen, ist die Herausarbeitung des Neuen am neutestamentlichen Wortschatz weiterhin das erklärte Ziel.8 2. Die Realisierung

Dieses Ziel wird zwar nicht in allen, aber doch in vielen Artikeln explizit realisiert. Beispiele, die sich vermehren ließen: Immer wieder finden die Autoren im Wortschatz des NT »urchristliche Umgestaltung«,9 »inhaltlich ganz neu gestaltete« Begriffe,10 »das Neue und spezifisch Christliche«,11 ein »neues Gottesverhältnis, [eine] neue Daseinsform«,12 »eine neue Haltung zur Welt«,13 der lexikalische Befund sei »völlig neuartig«,14 ergebe ein »völlig verwandeltes Bild«,15 »ganz anders aber steht es mit dem NT«.16 Es gebe »im gleichzeitigen jüdischen Schrifttum kein Gegenstück«.17 Auch das fast völlige Fehlen eines in antiken griechischen und jüdischen Texten häufigen Begriffs kann als Beleg für das Besondere des NT gewertet werden.18 Manchmal wird die behauptete Differenz vorsichtiger

   7

I. S. V, Gerhard Kittel. Tatsächlich stammen die Cremer-Zitate aus dem Vorwort zur Erstauflage seines Wörterbuchs von 1866.     8 Vgl. Gerhard Kittel, Lexicographia sacra: Two Lectures on the making of the ›Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament‹. Delivered on October 20th and 21st, 1937, in the Divinity School, Cambridge, London 1938; ders., Lexicographia sacra. In: Deutsche Theologie, 5 (1938), S. 91–109.     9 Joachim Jeremias, I, S. 149. 10 Gerhard Kittel, I, S. 213 f. 11 Rudolf Bultmann, I, S. 508. 12 Ethelbert Stauffer, I, S. 626. 13 Rudolf Bultmann, II, S. 530. 14 Karl Heinrich Rengstorf, II, S. 47. 15 Gerhard Kittel, II, S. 240. 16 Karl Ludwig Schmidt, II, S. 102. 17 Hugo Odeberg, II, S. 957. 18 Vgl. Karl Heinrich Rengstorf, II, S. 699; Rudolf Bultmann, II, S. 751.

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formuliert, eine Nuance ist »vielleicht [...] im Urchristentum [...] stärker als im Judentum« vorhanden.19 Wenn für die Differenzkonstruktion nichts anderes übrig bleibt, wird behauptet, dass im NT ein homogener Begriff vorliege, während der Befund im Judentum heterogen sei – kaum verwunderlich, wenn das zum Vergleichszweck konstruierte Quellenkorpus heterogen ist. Vom ersten bis zum letzten Band durchzieht das ThWNT die Grundüberzeugung, dass die »christliche Gemeinde als Ganzes etwas Neues und Eigenes«20 sei; »das Christentum [ist] eine Religion des Habens, der gegenüber die anderen die Suchenden und Wartenden bleiben«.21 Solche Defizite werden immer wieder vor allem dem Judentum bescheinigt,22 es erreicht, wenn überhaupt, manches nur bis zu einem bestimmten Grad.23 Am Wichtigsten, der persönlichen Heilsgewissheit, seien die Rabbinen gescheitert. Immer wieder wird der »grundsätzliche Unterschied zwischen dem jüdischen und christlichen Verständnis« betont.24 Neutestamentliche Befunde sind »unjüdisch«.25 3. Das Problem

Genau diese Rhetorik des Neuen, die das Ergebnis der philologischen Analyse von vornherein festlegt, hat James Barr in seiner Kritik als das lexikografische Fundamentalproblem des ThWNT identifiziert, das es philologisch unbrauchbar macht. Barr hat das Konstrukt der Neuheit der christlichen Sprache von Kittels Vorwort über Hermann Cremer bis hin zu Friedrich Schleiermacher (1768–1834) zurückverfolgt.26 Die darin implizierte Ideologie, von Barr »idealistisch« genannt, wurzelt in der liberalen protestantischen Theologie der Aufklärungszeit, ihrem Evolutionismus, dem Programm und der Politik ihres Religionsvergleichs.

19 20 21 22 23 24 25 26

Gottlob Schrenk, I, S. 757. Hermann Wolfgang Beyer, II, S. 615. Hermann Hanse, II, S. 826. Vgl. z. B. Karl Heinrich Rengstorf, II, S. 523 (die Rabbinen seien an persönlicher Heilsgewissheit gescheitert). Vgl. z. B. Georg Bertram, II, S. 648, Anm. 58. Heinrich Schlier, III, S. 145. Vgl. Rudolf Bultmann, I, S. 714, Anm. 83; Albrecht Stumpff, II, S. 810; Karl Heinrich Rengstorf, IV, S. 448. Vgl. Barr, Semantics, S. 257–260.

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Die Voraussetzungen 1. Superlativen-Christentum und die Politiken des Religionsvergleichs

Die Besonderheit des neutestamentlichen Wortschatzes wird im ThWNT durch das Verfahren des Vergleichs mit griechischen, hellenistischen und jüdischen Quellen zu erweisen gesucht. Dieser Vergleich beinhaltet eine Wertung, bei der die Höherwertigkeit von vornherein feststeht. Um den Stellenwert des Antijuda­ ismus im ThWNT zu verstehen, ist es wichtig, sich die Vorgeschichten dieser Vergleichsprozeduren zu vergegenwärtigen. Die im 18. Jahrhundert im Dialog mit und als Teil der Aufklärung entstehende liberale protestantische Theologie konstruiert die Identität des Christentums neu. An die Stelle des bisherigen Selbstverständnisses, das Christentum sei die wahre Offenbarung, tritt die Überzeugung, das Christentum sei die beste Religion, die Religion mit der höchsten Moral, reinsten Humanität, der größten Vollkommenheit – kurz, die Religion, die den Kriterien einer mit der Vernunft zu vereinbarenden Religion am meisten entspreche.27 Die Rede von der Überlegenheit des Christentums wertet zwangsläufig alle anderen Religionen ab. Das trifft insbesondere das Judentum. Gerade in der liberalen protestantischen Theologie wird das Judentum im Vergleich mit dem Christentum als die unterlegene Religion vorgeführt.28 Die christliche Apologetik bezieht sich für ihre Überlegenheitsthese sehr oft explizit auf das NT, insbesondere die Jesusüberlieferung. 2. Die Institutionalisierung des materialen Religionsvergleichs

Um die Superioritätsthese argumentativ zu sichern, bedarf es wissenschaftlicher Spezialisierung. Zwei Wissenschaftsdisziplinen übernahmen diese Aufgabe: Die sich in den 1780er-Jahren konzeptuell und institutionell von der dogmatischen Theologie trennende Biblische Theologie, die sich bald in eine alt- und eine neutestamentliche Wissenschaft ausdifferenziert, und die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts etablierende, lange Zeit christlich dominierte Religionswissenschaft.29 27

Vgl. beispielshalber Johann Bernhard Basedow, Versuch für die Wahrheit des Christenthums als der Besten Religion, Berlin 1766. Zahlreiche weitere Autoren wie Johann Heinrich Jung-Stilling, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Johann Gottfried Herder, Friedrich Schleiermacher, Wilhelm Abraham Teller, Johann Wolfgang von Goethe, David Friedrich Strauß äußerten sich in diesem Sinn. 28 Vgl. Ulrich Kusche, Die unterlegene Religion. Das Judentum im Urteil deutscher Alttestamentler. Zur Kritik theologischer Geschichtsschreibung, Berlin 1991. 29 Im vorliegenden Zusammenhang wird die Religionswissenschaft übergangen, weil Religionsvergleiche über die antike griechische Religion und das Judentum hinaus im ThWNT eine marginale Rolle spielen.

Antijudaismus und Antisemitismus im ThWNT

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Die Bibelwissenschaft beteiligt sich am argumentativen Nachweis christlicher Superiorität arbeitsteilig: Die alttestamentliche Wissenschaft degradiert ­Israel und das Judentum zur unterlegenen Religion, auch durch Privilegierung der Propheten Israels zum Höhepunkt israelitischer Religionsgeschichte und der Konstruk­tion der nachprophetischen Zeit als Verfallsgeschichte. Die neutestamentliche Wissenschaft konstruiert ein antikes Judentum und eine hellenistische Kultur, von denen das Urchristentum in Anknüpfung und Abgrenzung positiv abgehoben werden kann. 3. Die Herstellung einer Gebrauchsvergangenheit

Der historische Nachweis der Superiorität des Christentums erfolgt in der neutestamentlichen Wissenschaft und der christlichen Judaistik durch die Herstellung einer Gebrauchsvergangenheit, um einen Begriff von Gabriele Jancke zu nutzen.30 Dies geschieht durch die Konstruktion von Konzepten, Narrativen und eines relevanten Quellenkorpus, die für den Religionsvergleich mit dem von vornherein feststehenden Ergebnis erstellt werden. Die evolutionistische Meistererzählung vom Christentum als der Höchststufe der Religionsentwicklung verbindet sich mit der diachronen und synchronen Segmentierung einzelner Religionen in Epochen und Sphären, zu denen das Christentum in größere Nähen und Distanzen platziert werden kann. Für die im ThWNT verwendete Vergleichspolitik sind folgende, etwa zwischen 1780 und 1880 entstandene, Konstruktionen besonders relevant: – die diachrone Unterscheidung Israel (oder: die Hebräer) versus Judentum,31 – die diachrone Unterscheidung Griechentum versus Hellenismus,32

30

So Gabriele Jancke, der ich für eingehende Diskussion herzlich danke, mündlich am 28.2.2017. Vgl. Gabriele Jancke, Selbstzeugnisse von Gelehrten und soziale Praktiken des Wortes – personale Identität? Personkonzepte, Zugehörigkeit und Vergangenheitskonstruktionen. In: Ludger Grenzmann/Burkhard Hasebrink/Frank Rexroth (Hg.), Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit. Band 1: Paradigmen personaler Identität, Berlin 2016, S. 234–265, hier 263. 31 Vgl. Carolus Henricus Ludovicus Poelitz, De gravissimis theologiae seriorum Judaeorum decretis, quorum vestigia in libris inde ab exilii aetate usque ad saeculi quarti post C. n. initia deprehenduntur. Disputatio historica, Leipzig 1794. Sofern keine Forschungsgeschichte existiert, nenne ich hier und im Folgenden die ältesten mir bekannten Belege. 32 Seit Johann Gustav Droysen in den Altertumswissenschaften etabliert, vgl. Reinhold Bichler, »Hellenismus«. Geschichte und Problematik eines Epochenbegriffs, Darmstadt 1983.

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– die Konstruktion der Epoche Urchristentum,33 eine normative Größe, deren Bedrohung, Ende und Transformation durch Hellenisierung des Christentums,34 (Re-)Judaisierung des Christentums und Alt- oder Frühkatholizismus35 indiziert wird. Innerhalb des Urchristentums kann zwischen Judenchristentum36 und Heidenchristentum37 differenziert werden. Innerhalb des Judentums wird eine Gruppe von Texten (und deren Trägerkreise) als Apokalyptik isoliert. »Apokalyptik« konnte zur positiv besetzten »Prophetie« in Kontrast gesetzt und von einer als unterscheidend und wesentlich christlichen »Eschatologie« abgegrenzt werden.38 »Apokalyptik« wurde als »jüdisch« etikettiert und dem Christlichen gegenübergestellt.39 Eine weitere Segmentierung des Judentums erfolgt durch das Konzept »rabbinisches Judentum«. Dabei sind die Synthese von Ferdinand Weber (1836–1879)40 und die Belegsammlung von Hermann L. Strack (1848–1922) und Paul Billerbeck (1853–1932)41 prägend. Die Rabbinen werden oft in Kontinuität zu den Pharisäern gesehen oder die Pharisäer als Rabbinen interpretiert.42 33 Im Titel von Buchveröffentlichungen begegnet »Urchristentum« seit Johann Bernhard Basedow, Für forschende Selbstdenker. Lehren der Christlichen Weisheit und Zufriedenheit. Eine Folge des Friedens zwischen dem wohlverstandnen Urchristenthume und der wohlgesinnten Vernunft, Christianopel in Alethinien 1780. Vgl. Stefan Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, Tübingen 1993. 34 Vgl. Walther Glawe, Die Hellenisierung des Christentums in der Geschichte der Theologie von Luther bis auf die Gegenwart, Berlin 1912. 35 Bisheriger Erstbeleg: Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen. In: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Neue Folge 26 (1908), S. 1–55, 292–342, 649–692, hier 306. Zur Frage nach möglichen früheren Belegen vgl. Norbert Nagler, Frühkatholizismus. Zur Methodologie einer kritischen Debatte, Frankfurt a. M. 1994, S. 52–62, auch S. 25, Fn. 27. 36 Vgl. Hella Lemke, Judenchristentum. Zwischen Ausgrenzung und Integration. Zur Geschichte eines exegetischen Begriffes, Münster 2001. 37 Vorläufiger Erstbeleg: Johannes Schulthess, Die evangelische Lehre von dem heiligen Abendmahl nach den fünf unterschiedlichen Ansichten die sich aus neutestamentlichen Texten wirklich oder scheinbar ergeben, Leipzig 1824, S. 397. 38 Zur Forschungs- und Wertungsgeschichte vgl. Johann Michael Schmidt, Die jüdische Apokalyptik. Die Geschichte ihrer Erforschung von den Anfängen bis zu den Textfunden von Qumran, Neukirchen-Vluyn 1969; Werner Zager, Begriff und Wertung der Apokalyptik in der neutestamentlichen Forschung, Frankfurt a. M. 1989. Das Substantiv »Apokalyptik« ist zuerst 1832 bei Friedrich Lücke nachweisbar. Lücke hat es nicht selbst geprägt; er bezieht sich auf eine heute verschollene Schrift Carl Immanuel Nitzschs von 1822. 39 Vgl. John S. Kloppenborg/John Marshall (Hg.), Apocalypticism, Anti-Semitism and the Historical Jesus: Subtexts in Criticism, London 2005. 40 Vgl. Ferdinand Weber, Jüdische Theologie auf Grund des Talmud und verwandter Schriften gemeinfasslich dargestellt, 2. Auflage Leipzig 1897. 41 Vgl. Hermann L. Strack/Paul Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Mi­ drasch, Band I–VI, München 1926–1961. Fundamentalkritik an Strack/Billerbeck bei Ed Parish Sanders, Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, London 1977, S. 33–59. 42 Vgl. Roland Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, Tübingen 1997; Hans-Günther Waubke, Die Pharisäer in der protestantischen Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1998.

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Räumlich wird von evangelischen Theologen weiterhin zwischen palästinischem Judentum43 und Diasporajudentum44 unterschieden. Diese Unterscheidungen innerhalb des Judentums sind vergleichspolitisch bedeutsam: Phänomene, die zu als christlich definierten Phänomenen in großer Nähe stehend wahrgenommen werden, können durch Zuordnung zu einem der Unterypen des Judentums als partikular, nicht für das gesamte Judentum repräsentativ gewertet und damit marginalisiert werden. Apokalyptik, rabbinisches Judentum (und weitere Judentümer wie die ­Essäer/ Essener) und Diasporajudentum können unter das Konzept »Spätjudentum« subsumiert werden, das seit seinen ersten Verwendungsweisen als Opposition zu »(Ur-)Christentum« verwandt wird.45 Was die relevanten Quellentexte angeht, wurden sie zum Teil unter dem Begriff »zwischentestamentliche Literatur« zusammengefasst, eine Konstruktion, die den christlichen Bibelkanon als Parameter nutzt.46 Eine wichtige Unterscheidung stellt die zwischen Judentum und Hellenismus dar, die als unüberbrückbarer Gegensatz, als Begegnung, als Inklusion des Judentums in eine größere Kultur ausformuliert werden kann.47

43 Vgl. Christian Wilhelm Niedner, Geschichte der christlichen Kirche. Lehrbuch, Leipzig 1846, S. 68–71. 44 Vgl. Hermann von Soden, Die Briefe an die Kolosser, Epheser, Philemon; die Pastoralbriefe, Freiburg 1891, S. 100. 45 Der älteste dem Autor bekannte Beleg für das Kompositum ist Carl Friedrich, Beiträge zur Grundlegung der christlichen Glaubenslehre. In: Jahrbücher für Deutsche Theologie, 21 (1876), S. 353–391, hier 391. Von den in der Forschungsliteratur kursierenden unzutreffenden Verweisen auf frühere Belege greife ich einen heraus: Martin Ritter, Spätjudentum. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 9 (1995), Sp. 1312–1315, hier 1312, behauptet fälschlich, dass Pölitz (1772–1838) 1795 den Begriff »Spätjudentum« als Erster verwende (ebenso unzutreffend ist, dass de Wette auf Pölitz verweise, ebd. Sp. 1313; die ebd. Sp. 1315 erwähnte Schrift Boussets erschien nicht 1894, sondern 1892). Poelitz, Decretis, verwendet im Buchtitel die Bezeichnung »seriores Judaei«, in der deutschsprachigen Publikation Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Pragmatische Uebersicht der Theologie der spätern Juden. Erster Theil, Leipzig 1795, »spätere Juden«. Kritik am Konzept »Spätjudentum« seit Reinhold Mayer, Christentum und Judentum in der Schau Leo Baecks, Stuttgart 1961, S. 15; wichtig der Lexikonartikel von Kurt Schubert, Spät­ judentum. In: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Auflage, IX (1964), Sp. 949 f. Der Autor schreibt sich in seinen hier zitierten Werken teils mit »ö« (1795), teils mit »oe« (1794). 46 Kritik in George W. E. Nickelsburg/Robert A. Kraft (Hg.), Introduction: The Modern Study of Early Judaism. In: dies. (Hg.), Early Judaism and Its Modern Interpreters, Philadelphia 1986, S. 1–30, hier 1. 47 Vgl. u. a. Martin Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts vor Christus, 2. Auflage Tübingen 1973; Lee I. Levine, Judaism and Hellenism in Antiquity: Conflict or Confluence?, Seattle 1998; Anders Gerdmar, Rethinking the Judaism-Hellenism Dichotomy: A historiographical case study of Second Peter and Jude, Stockholm 2001.

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Schließlich wird der Gegensatz Judentum versus Christentum als Gegensatz von Nationalreligion (mit einem Nationalgott) versus Universalreligion kon­ struiert.48 Unter den narrativen Techniken sind evolutionistische Narrative grundlegend, sei es als Fortschritts- oder als Niedergangsnarrative. Der Fortschritt kann mit der Rhetorik der Negation oder der des Neuen konstruiert werden. Der Niedergang kann als Überwältigung, Überfremdung, Verunreinigung einer reinen Größe verstanden werden. Einflüsse, Abhängigkeiten, Übereinstimmungen und mangelnder Differenznachweis können als Bedrohung von Originalität und Einzigartigkeit konstruiert werden. Zur christlichen Konstruktion des antiken Judentums wird ein Quellenkorpus konstruiert, das Texte höchst unterschiedlicher Provenienz, die zwischen dem dritten Jahrhundert v. Chr. und dem elften Jahrhundert n. Chr. entstanden sind, dem »Spätjudentum« zuordnet. Darüber hinaus werden zahlreiche antike und mittelalterliche Texte, die ausschließlich in christlichem Kontext überliefert sind, erstens dem Judentum zugeschrieben und zweitens in die Zeit des ersten Jahrhunderts n. Chr. (oder früher) datiert.49 Das meist unausgesprochene Motiv für diese Zuordnungen ist, eine Vergleichsbasis für das NT herzustellen. Auch griechische Texte vom achten Jahrhundert v. Chr. bis zum sechsten Jahrhundert n. Chr. werden zum Zweck des Vergleichs mit den zwischen etwa 50 und 130 entstandenen Schriften des NT als homogenes Quellenkorpus konstruiert. Die Defizite der Kompendien, die jüdisches und hellenistisches Vergleichsmaterial bereitstellen,50 zeigen sich nicht nur im Verzicht auf die Begründung der chronologischen Relevanz. Die zum Vergleich herangezogenen Texte werden aus ihren jeweiligen literarischen Kontexten isoliert. Sie werden entsprechend der Struktur des NT jeweils an entsprechender Stelle als Vergleichsmaterial arrangiert.

48

Zum Judentum als Nationalreligion mit einer Nationalgottheit vgl. etwa Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Fortgesezte Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion. Hinterlaßne Fragmente, Braunschweig 1792, S. 33–74. Johann Gottfried Herder, Christliche Schriften. Fünfte Sammlung. Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen, Leipzig 1798, S. 22, schrieb: »Als das Christentum unter die Völker trat, ward dieser Unterschied offenbar. Von einer Familien-Religion Abrahams, von einer Landes- und Staatsreligion Moses konnte im Angesicht des Universum nicht mehr die Rede sein; was Christus ›Reich Gottes‹ nannte, trat als eine Menschenreligion unter die Völker« (Hervorhebungen im Original). 49 Grundlegende Problematisierung im Blick auf die sogenannten Pseudepigraphen: James R. Davila, The Provenance of the Pseudepigrapha: Jewish, Christian, or Other?, Leiden 2005. 50 Während für das Judentum mit Strack-Billerbeck eine umfangreiche Quellensammlung für Vergleichszwecke zur Verfügung stand, stagnierte der seit 1914 bestehende Plan, ein Corpus Hellenisticum Novi Testamenti zu schaffen, immer wieder, bis Anfang des 21. Jahrhunderts ein mehrbändiges Kompendium erscheinen konnte, das Johann Jakob Wettsteins »Novum Testamentum Graecum« (1751/52) als Kompendium ablösen soll.

Antijudaismus und Antisemitismus im ThWNT

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Antijudaismus im ThWNT 1. »Antijudaismus« – Stichworte zur Begriffsgeschichte

Das lateinische Adjektiv »antijudaicus« bezieht sich im 17. und 18. Jahrhundert auf akademische Tätigkeiten protestantischer Theologen, ein Teilgebiet der Theologia polemica, im 18. Jahrhundert auf judenmissionarische Aktivitäten.51Ab Ende des 18. Jahrhunderts werden das Adjektiv »antijüdisch« und das Substantiv »Antijudaismus« in deutschsprachigen Texten evangelischer Theologen als analy­tische Begriffe angewandt, um die Stellung neutestamentlicher und außerneutestamentlicher antiker christlicher Texte und Autoren zum antiken Judentum zu klassifizieren.52 Vereinzelt wird »Antijudaismus« auch zur Beschreibung des – universalen – Christentums im Kontrast zum – partikularen – Judentum verwendet.53 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnet das Konzept seltener. Im ThWNT hat der Autor vier Belege registriert, von denen sich drei auf pagane judenfeindliche Propaganda und Praxis beziehen,54 einer auf eine der Apokalypse zugeschriebene Judenfeindlichkeit.55 Als ab 1960 in der neutestamentlichen Exegese die Frage nach Antijudaismus im NT zu einer anhaltenden Diskussion führt, wird »Antijudaismus« als analytischer Begriff verwendet, mit dem zugleich die moralische Wertung einer problematischen oder normüberschreitenden Praxis verbunden ist.56 Diesem Stadium der Begriffsentwicklung sind die Antijudaismus-Konzepte von Vos zuzuordnen, bei dem sie sich nicht auf das NT, sondern auf christliche Theologen beziehen.

51 Erstbeleg des Autors: 1644–1646 veröffentlichte der reformierte Theologe Johannes Hoornbee(c)k (1617–1666) 14 »Disputationes anti-judaicae«. Der lutherische Theologe Stephan Schultz (1714–1776), seit 1760 Direktor der jüdischen Missionsanstalt in Halle (eines Produkts des Francke’schen Pietismus), las noch 1775 »ein Collegium anti-judaicum, ein jüdisch deutsches und ein Judaico-Scriptorium mit vielem Beifall«. J. F. A. de Le Roi, Die evangelische Christenheit und die Juden unter dem Gesichtspunkte der Mission geschichtlich betrachtet. Band 1: Die evangelische Christenheit und die Juden in der Zeit der Herrschaft christlicher Lebensanschauung unter den Völkern. Von der Reformation bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, Karlsruhe 1884, S. 323. 52 Erstbelege des Autors: Johann Friedrich Kleuker, Neue Prüfung und Erklärung der vorzüglichsten Beweise für die Wahrheit und den göttlichen Ursprung des Christenthums, wie der Offenbarung überhaupt. Dritter Theil, welcher die Untersuchung der Gründe für die Aechtheit der schriftlichen Urkunden des Christenthums, und für die Glaubwürdigkeit ihres Inhalts enthält, Riga 1794, S. 187 (der »Anti-Judaismus eines Paulus«), 302 (»anti-jüdisch«). 53 Vgl. Herder, Schriften, S. 241–247, hier 244: »Aus dem harten Judentum entsprang der reinste Anti-Judaismus, Religion der Völker« (Hervorhebung im Original). 54 Vgl. Hans Windisch, II, S. 504; Gustav Stählin, V, S. 12; Wolfgang Schrage, VII, S. 825. 55 Vgl. Carl Schneider, IV, S. 639. 56 Vgl. z. B. Rudolf Pfisterer, »... sein Blut komme über uns ...«. Antijudaismus im Neuen Testament? – Fragen an den kirchlichen Unterricht. In: Wolf-Dieter Marsch/Karl Thieme (Hg.), Christen und Juden. Ihr Gegenüber vom Apostelkonzil bis heute, Mainz 1961, S. 19–37.

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Die Differenzierung zwischen Antijudaismus und Antisemitismus – sie ist bereits 1890 belegbar57 – dient dazu, verschiedene Bezugspunkte und Zielsetzungen christlicher Judenfeindschaft zu unterscheiden. Bezogen auf die Analyse des ThWNT soll hier ähnlich wie bei Vos zwischen zwei Formen christlichen Antijudaismus, einem vormodernen und einem auf die These von der Überlegenheit des Christentums bezogenen modernen Antijudaismus, unterschieden werden.58 2. Struktureller Antijudaismus im ThWNT

Insgesamt bestätigt sich Vos’ Eindruck, dass traditioneller christlicher Antijuda­ ismus im ThWNT marginal ist. Er fehlt allerdings nicht völlig. An einer Stelle wird der bereits antike Christusmord-Vorwurf reproduziert: »Die Juden selbst haben Jesus als Teufelsboten und Gotteslästerer verklagt und getötet und mit den gleichen Anklagen seine Gemeinde verfolgt.«59 Hingegen ist der moderne christliche Antijudaismus dem ThWNT programmatisch und strukturell inhärent. Die Deklassierung aller Vergleichsgrößen, der griechischen wie der jüdischen, gegenüber dem NT ist das im Wörterbuch soweit nur irgend möglich durchgeführte Verfahren. Dieser moderne Antijudaismus findet sich auch in den Wörterbuchartikeln, in denen Vos ihn nicht wahrgenommen hat, bei Kittel, Kuhn und anderen. Die Politik der Abwertung des Judentums lässt sich exemplarisch an drei Topoi zeigen, die in der lutherischen Christentumsapologie seit dem 19. Jahrhundert immer wieder ins Feld geführt werden: Intimität der Gottesbeziehung, Universalisierung der Nächstenliebe, Status unterprivilegierter Gruppen. Bereits auf der sechsten Seite der ersten Lieferung des ThWNT ist zu lesen: »Der jüdische Sprachgebrauch zeigt, wie das urchristliche Vater-Kind-Verhältnis zu Gott alle im Judentum gesetzten Möglichkeiten der Intimität weit übertrifft, vielmehr an deren Stelle etwas Neues setzt.«60 In den lutherischen Abgrenzungsdiskursen gegen das Judentum wird die christliche Nächstenliebe als universal, die jüdische 57

Vgl. Arthur Seidl, Jesus der Arier – Christenthum oder Buddhismus? Eine religionsphilosophische Neujahrs-Betrachtung über »Undogmatisches Christenthum«. In: Bayreuther Blätter, 13 (1890), S. 45–65, hier 57: »Hier liegt ohne Zweifel ein lapsus linguae und in zweiter Linie eine Verwechselung vor. ›Physische Existenzberechtigung‹ meint der Verf.[asser] offenbar zunächst und die wird ihm allerdings vom Antisemitismus, der sich im Übrigen um das Moralische an diesen Fragen oft grausam wenig schert, tatsächlich bestritten; dagegen der Antijudaismus – und den treiben wir hier – ihm die moralische Existenzberechtigung vor Allem bestreitet, ihm aber dafür die physische ausdrücklich belässt!« (Hervorhebungen im Original). 58 Vos’ Entgegensetzung von »theologisch« und »exegetisch« leuchtet mir hingegen nicht ein; sie schließt die Exegese entgegen ihrem Selbstverständnis aus der Theologie aus. 59 Ethelbert Stauffer, III, S. 122. 60 Gerhard Kittel, I, S. 5 f. Zur Kritik vgl. u. a. Angelika Strotmann, »Mein Vater bist du!« (Sir 51,10). Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Schriften, Frankfurt a. M. 1991; Elke Tönges, »Unser Vater im Himmel«. Die Bezeichnung Gottes als Vater in der tannaitischen Literatur, Stuttgart 2003.

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als partikular klassifiziert,61 die Feindesliebe als etwas Neues behauptet und die goldene Regel Jesu der älteren goldenen Regel Hillels als überlegen hingestellt.62 Genau dies geschieht im ThWNT ebenfalls bereits in der ersten Lieferung im Artikel »agapao«.63 In den Leitkulturdebatten der letzten zwei Jahrhunderte behaupteten christliche, insbesondere lutherische Apologeten die Stellung der Frau, der Sklaven und der Kinder sei im Christentum am besten und würdigsten.64 Eben diese Überzeugungen werden im ThWNT vom ersten Band an artikuliert.65 Es ist dieser strukturelle moderne christliche Antijudaismus, der das ThWNT insgesamt als philologisches Instrument unbrauchbar macht.

Antisemitismus im ThWNT 1. »Antisemitismus« – Stichworte zur Begriffsgeschichte

Das Adjektiv »anti-Semitic« taucht seit 1851 auf,66 das Substantiv »Antisemitismus« zu Beginn der 1880er-Jahre (erste Belege des Autors 188167), als aktueller politischer Kampfbegriff, zur Bezeichnung judenfeindlicher Politik. Ideologisch 61 Vgl. dazu Martin Leutzsch, Nächstenliebe als Antisemitismus? Zu einem Problem der christlich-jüdischen Beziehung. In: Ekkehard W. Stegemann/Klaus Wengst (Hg.), »Eine Grenze hast Du gesetzt«. Edna Brocke zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2003, S. 77–95. 62 Vgl. Martin Leutzsch, »Alles nun, was ihr wollt, daß es euch die Menschen tun, das sollt ihr ihnen auch tun ...«. In: Ulfrid Kleinert/Martin Leutzsch/Harald Wagner, Herausforderung »neue Armut«. Motive und Konzepte sozialer Arbeit, Leipzig 1996, S. 49–64. 63 Vgl. Gottfried Quell, I, S. 24–26; Ethelbert Stauffer, I, S. 38–40, 43, 46. 64 Diese apologetischen Topoi sind nach Wissensstand des Autors nicht untersucht. Im Blick auf die Kinder vgl. Martin Leutzsch, Jesus der Kinderfreund – eine antijüdische Konstruktion im Kontext der Identitätsproblematik des neuzeitlichen Christentums. In: Johanna Schneider/Sylvi Sehm-Schurig (Hg.), Vom Sinn für den Augenblick. Erzählungen und Betrachtungen für Harald Wagner zur Emeritierung 2015, Berlin 2015, S. 87–106. 65 Vgl. Albrecht Oepke, I, S. 776–784; Karl Heinrich Rengstorf, II, S. 273–275; Walter Grundmann, IV, S. 539; vgl. Albrecht Oepke, V, S. 636–653. 66 Vgl. Thomas Carlyle, The Life of John Sterling, London 1851, S. 6 (Carlyles Korrespondent über John Sterling): »It was not as a ghastly phantasm, choked in Thirty-nine-article controversies, or miserable Semitic, Anti-semitic street-riots, – in scepticisms, agonised self-seekings, – that this man appeared in life; nor as such, if the world still wishes to look at him, should you suffer the world’s memory of him now to be.« Ein weiterer früher Beleg findet sich bei Dunbar I. Heath, On the Great Race-Elements in Christianity. In: Journal of the Royal Anthropological Society London, 5 (1867), S. xix–xxxi, hier xxvii. Im Deutschen begegnet das Adjektiv »antisemitisch« 1860 bei Moritz Steinschneider, Journallese. In: Hamazkir – Hebräische Bibliographie. Blätter für neuere und ältere Literatur des Judenthums, 3 (1860), S. 15 f., hier 16: »Je mehr das glänzende, dialektische und stilistische Talent Renans die Leser mit sich fortreißt, desto notwendiger war es, die Konsequenzen, oder richtiger Inkonsequenzen seiner antisemitischen Vorurteile, – die zuletzt auch nicht ohne spezifischen Beisatz bleiben konnten (vgl. hier S. 336) – aufzudecken.« 67 Vgl. Ludwig Philippson, Wie steht es gegenwärtig um den »Antisemitismus«? In: Allgemeine Zeitung des Judenthums, 45 (1881), S. 267 f. (Nr. 17 vom 26.4.1881); Cosima Wagner, Die Tagebücher. Band IV: 1881–1883, 2. Auflage München 1982, S. 809 (16.10.1881).

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verbindet sich Antisemitismus bald mit Rassismus. Schnell wird »Antisemitismus« auch als analytischer Begriff zur Beschreibung von judenfeindlichen Phänomenen der Vergangenheit angewandt. Ab 1891 ist vom »Antisemitismus der Antike« die Rede.68 Seit 1898 von Altphilologen und Althistorikern benutzt, findet »Antisemitismus« 1931 und 1942 Eingang in altertumswissenschaftliche Standardlexika.69 Die antisemitische Propaganda versteht Christus spätestens 1891 als größten Antisemiten.70 Die christlich-völkische Propaganda findet spätestens 1920 antisemitische Bestandteile im AT,71 die alttestamentliche Exegese spätestens 1931.72 Auf Texte und Autoren des NT und deren Stellung zum Judentum wird der Begriff »Antisemitismus« in der Exegese spätestens seit 1936 angewandt (auf Joh bezogen, seit 1942 auf Paulus).73 Im ThWNT kommt »Antisemitismus« siebenmal vor, sechsmal bezogen auf antike pagane Judenfeindschaft (III, S. 122; III, S. 371; IV, S. 841; IV, S. 855; V, S. 12; VI, S. 731), die an einer Stelle als weder in erster Linie rassisch bedingt noch wirtschaftlich motiviert verstanden wird (III, S. 371). Einmal distanziert sich ein Artikel durch Anführungsstriche von der Klassifikation einer Paulusbriefpassage als »antisemitisch« (V, S. 436). Die Selbst- und Fremdklassifikation von Personen und Praktiken als »anti­ semitisch« beginnt im Berliner Antisemitismusstreit 1880/81. Als analytischer Begriff wird »Antisemitismus« nach 1945 in der Forschung verwendet. Verbunden ist damit die moralische Wertung als eine abzulehnende und zu verurteilende Einstellung und Praxis. In diesem Sinn verwendet Vos den Begriff. Der Autor versteht »Antisemitismus« dagegen als modernen Typ politischer, oft rassistischer Judenfeindschaft, die auch metaphysisch aufgeladen sein kann. Moralisch ist Antijudaismus nicht weniger schwerwiegend als Antisemitismus.

68 Erstbeleg des Autors: Marcus Ettinger, Psychologie und Ethik des Antisemitismus im Alter­ thum, Mittelalter und in der Neuzeit, Wien 1891. 69 Vgl. Isaak Heinemann, Antisemitismus. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Supplement, 5 (1931) Sp. 3–43; Johannes Leipoldt, Antisemitismus. In: Reallexikon für Antike und Christentum, I (1950), Sp. 469–476 (Die dritte Lieferung des Reallexikons für Antike und Christentum, die Leipoldts Artikel enthält, erschien 1942; sie kann deshalb nicht als Beleg für Leipoldts Nachkriegsantisemitismus gewertet werden). 70 Vgl. o. V. [August Julius Langbehn], Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, 47. Auflage Leipzig 1906; S. 353 (zuerst in der 37. Auflage des Buchs von 1891). 71 Vgl. Karl Gerecke, Biblischer Antisemitismus. Der Juden weltgeschichtlicher Charakter, Schuld und Ende in des Propheten Jona Judenspiegel, München 1920. 72 Vgl. Joachim Begrich, Antisemitisches im Alten Testament, Jena 1931. 73 Vgl. Ernest C. Colwell, John Defends the Gospel, Chicago 1936, 41, 50; Leipoldt, Antisemitismus, Sp. 474.

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2. Marginaler Antisemitismus im ThWNT

Vos kam zu dem Ergebnis, dass Antisemitismus im ThWNT selten sei und dass Autoren, die in anderen Veröffentlichungen antisemitisch argumentierten, dies in den Wörterbuchartikeln in der Regel nicht zum Ausdruck brachten. Vos fand einen einzigen belastbaren Beleg in Carl Schneiders Artikel »metopon« (1940/41).74 Schneider schreibt zu Apk 13,16; 14,9; 20,4: »Das Bild, das den scharfen, auch äußerlich erkennbaren Gegensatz zwischen den Geretteten und den Gerichteten und ihre Zugehörigkeit zu zwei entgegengesetzten Herrschermächten ausdrückt, hat drei Wurzeln. α. Nahe liegt eine unmittelbare Anknüpfung an Ez 9,4: wer den Götzendienst in Jerusalem nicht mitgemacht hat, erhält von einem Engel ein [taw] auf die Stirn geprägt. Das althebräische [taw] ist kreuzförmig, es handelt sich also um die am bequemsten einzuschneidende, auch bei Isis [...] bezeugte Form der kreuzförmigen σϕραγις [= Siegel, M. L.]. Ob von hier aus noch Verbindungen zum Kainszeichen bestehen, ist mehr als fraglich. Eher ist an das Blutzeichen vor dem Auszug Ex 12, 13 zu denken; auch hier werden die Gezeichneten von einer Gerichtsplage verschont. Beim Zeichen des Tieres ist an allen drei Stellen deutlich auf die Tephillin angespielt, da hier Stirn und Hand genannt werden. Aus dieser Gleichsetzung wird die antijüdische Haltung der Apk erkannt; Apk 13, 16 bedeutet dann: Wer die Tephillin nicht trägt, wird von den Juden wirtschaftlich boykottiert. Eine der treibenden Mächte der Christenverfolgungen war ja noch zur Zeit der Apokalypse im römischen Reich das seit Nero am römischen Hof besonders einflussreiche Weltjudentum.«75

Diese Passage wird in der Vos folgenden Forschung regelmäßig als Beleg für Antisemitismus im ThWNT angeführt.76 Vos macht den Anhaltspunkt für seine Klassifikation nicht explizit. Er ist in dem letzten Satz gegeben, der das »Weltjudentum« als eine das Christentum aktiv bedrohende Größe einführt. Im Kontext folgt diese Verwendungsweise von »Weltjudentum« als einer Größe, die organisiert wirtschaftlich und politisch gegen das Christentum vorgeht, dem nationalsozialistischen (NS-)Gebrauch des Wortes, der damit das polemische Konstrukt einer jüdischen Weltverschwörung verbindet.77 Ohne Berücksichtigung des jeweiligen Textzusammenhangs lässt sich das »Weltjudentum« als solches nicht eindeutig als Indiz für Antisemitismus heran­ziehen. Das spätestens 1860 belegbare Wort78 ist ab 1903 wiederholt von dem evangelischen Neutestamentler Adolf Deißmann (1866–1937) benutzt

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Vgl. Vos, Antijudaismus/Antisemitismus, S. 100 f. Carl Schneider, IV, S. 638 f. Vgl. Annette Merz, Carl Schneiders exegese van de Openbaring van Johannes en de invloed van het nationaal-socialisme. In: Geert van Oyen (Hg.), Een tip van de sluier. Vier wegen naar het boek Openbaring, Utrecht 2005, S. 35–50, hier 43 f.; Nicklas, Umgang, S. 1913; Gerdmar, Roots, S. 477, Fn. 268; Dirk Schuster, Die Lehre vom »arischen« Christentum. Das wissenschaftliche Selbstverständnis im Eisenacher »Entjudungsinstitut«, Göttingen 2017, S. 230 f. Vgl. Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 2000, S. 689–693. Der Erstbeleg des Autors stammt aus jüdischer Feder: o. V. [Samson Raphael Hirsch], Das Zion der Zukunft und die heutige Reform. In: Jeschurun, 6 (1860), S. 579–594, hier 582.

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worden.79 Deißmann sieht als die entscheidende religiöse und kulturelle Leistung des »griechischen Weltjudentums« die Übersetzung der jüdischen Bibel in die Weltsprache Griechisch, die dazu beigetragen habe, dass das Christentum sich zur Weltreligion habe entwickeln können.80 »Griechisches Weltjudentum« ist ein Synonym für das griechisch sprechende antike Judentum in der Diaspora. Deißmann wertet es uneingeschränkt positiv, und ihm folgend begegnet das Stichwort im ThWNT in Karl Ludwig Schmidts (1891–1956) Artikel »diaspora«.81 Über Carl Schneiders Artikel hinaus sind Indizien für Antisemitismus selten. Gelegentlich begegnet in Fußnoten »indogermanisch« in der etymologischen Klassifikation griechischer Wortwurzeln;82 eine rassistische Ausbeutung fehlt. Die eine Stelle, wo »Rasse« vorkommt, spricht dem Konzept jedes Erklärungspotenzial ab: Das Judentum sei nicht Rasse, sondern Religion;83 an einer zweiten Stelle wird dem Konzept »rassischer Verfall« jede moralphilosophische Erklärungskraft bestritten.84 Beides geschieht in Fußnoten. Im Haupttext begegnet als eine der Wortbedeutungen für »barbaros« »fremdrassig«;85 der Wörterbuchartikel kommt auf diese Bedeutung nirgends zurück. Selten kommt das Adjektiv »völkisch« vor (der Verfasser hat sieben Belege registriert86), immer in der Bedeutung »auf ein Volk bezogen«. An wenigen Stellen wird generalisiert »der Jude« gebraucht,87 ähnlich wie einmal »der Grieche«88 und zweimal »der Orientale«89 und zweimal das ahistorische Konzept »Wesen«.90 Die These, Jesus sei Arier gewesen,91 wird auch von den Mitarbeitern, die sie in anderen Publikationen äußern (Grundmann, Schneider, Bertram), nicht in ihren Wörterbuchartikeln vertreten; das gilt auch für die These, Paulus sei Arier

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Zuerst in Adolf Deißmann, Die Hellenisierung des semitischen Monotheismus. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur, 6 (1903), S. 161–177, hier 163, 168 (im selben Kontext ebd. Weltsprache, Weltreligion, Weltmission, Weltbibliothek, Weltmächte, Weltgrieche, Weltbibel, das Weltganze usw.). Vgl. Adolf Deissmann, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, 4. Auflage Tübingen 1923, S. 331. Vgl. Karl Ludwig Schmidt, II, S. 10, Anm. 1. Vgl. Heinrich Schlier, II, S. 484, Anm. 1. Vgl. Georg Bertram, II, S. 362, Anm. 3. Vgl. Friedrich Büchsel, III, S. 172, Anm. 38. Hans Windisch, I, S. 545. Vgl. Gottfried Quell, I, S. 29; Hans Windisch, I, S. 502, Anm. 6, 504, 509, 513 (zweimal), 544. Vgl. Werner Foerster, II, S. 594, Anm. 59; Hermann Wolfgang Beyer, II, S. 758. Vgl. Georg Bertram, II, S. 635, Anm. 11. Vgl. Werner Foerster, III, S. 1007; ders., III, S. 1047. Vgl. Karl Heinrich Rengstorf, I, S. 418 (»jüdisches Wesen«); ders., II, S. 903 (»Wesen der Judenschaft«). Vgl. Martin Leutzsch, Karrieren des arischen Jesus zwischen 1918 und 1945. In: Uwe Puschner/ Clemens Vollnhals (Hg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012, S. 195–217.

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gewesen (Schneider).92 Das ThWNT spricht einmal ausdrücklich von »Jesus als Jude«,93 und das überrascht nicht, weil Jesu Mutter »Maria Vollisraelitin war«;94 auch »der Jude Paulus« kommt vor.95 Die seit Anfang des 20. Jahrhunderts geführte Diskussion um arische Elemente im AT,96 die Debatte um Antisemitismus im AT,97 die These, die Amoriter seien Arier gewesen,98 finden in das ThWNT keinen Eingang. Die Konstruktion Galiläas als einer semitisch-arischen Mischbevölkerung klingt in einem Artikel an.99 3. ThWNT und Nationalsozialismus

Weitete man die Frage nach den im ThWNT vertretenen ideologischen Standpunkten über das Antijudaismus/Antisemitismus-Thema hin aus, wären die Artikel daraufhin zu untersuchen, ob und wie sie sich gegenüber der NS-Ideologie positionieren. Erstaunlicherweise ist in einer Anmerkung des ersten Bandes der folgende Satz zu lesen: »Im Lauf der Jahrhunderte hat ein solcher absoluter Sprachgebrauch [sc. βασιλεια = von basileia/ Reich] immer wieder zu einem zwar religiösen oder sich religiös gebenden, aber durchaus immanent-weltlichen und pseudotheologischen und pseudokirchlichen Reden vom ›Reich‹ geführt. Das reicht bis hin zum religiösen Sozialismus einerseits und zum ›Dritten Reich‹ des Nationalsozialismus anderseits (im Zusammenhang mit dem Glauben an das alte ›heilige römische Reich‹, der seinerseits wieder auf die absolute Rede von der βασιλεια zurückweist).«100

Gustav Stählins (1900–1985) Artikel »mythos« erwähnt in den Fußnoten mehrfach Rosenberg und grenzt sich im Haupttext von der Relevanz des Mythos für die biblische Theologie ab.101 Johannes Behm (1883–1949) schreibt im Artikel »pronoia«: »Dass der Gedanke an die Vorsehung im NT keinen Ausdruck

    92 Vgl. Martin Leutzsch, Der arische Paulus. Ein Seitenstück des Mythos vom arischen Jesus. In: Mit Paulus in der Welt. Festschrift für Gerhard Jankowski zum 80. Geburtstag, Dortmund 2017, S. 65–99.     93 Karl Heinrich Rengstorf, III, S. 295.     94 Gerhard Kittel, III, S. 2.     95 Karl Ludwig Schmidt, III, S. 1037.     96 Vgl. Isidor Scheftelowitz, Arisches im Alten Testament I, Königsberg 1901; Georg Beer, Die Bedeutung des Ariertums für die israelitisch-jüdische Kultur, Heidelberg 1922.     97 Vgl. Begrich, Antisemitisches; Karl Kautzsch, Semitisches und Antisemitisches im Alten Testament, Leipzig 1933.     98 Typisch für die Ablehnung dieser von Archäologen, Völkerkundlern und Vertretern der völkischen Bewegung befürworteten These seitens der Exegese ist Anton Jirku, Wer waren die Amoriter? In: Zeitschrift für Rassenkunde, 2 (1931), S. 225–231, hier 225.     99 Vgl. Hans Windisch, II, S. 503 (halbhellenische Städte Galiläas), 507 (Mischbevölkerung). 100 Karl Ludwig Schmidt, I, S. 583, Anm. 75. 101 Vgl. besonders Gustav Stählin, IV, S. 800.

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g­ efunden hat, ist ein Zeichen unter vielen für die Eigenwüchsigkeit der nt.-lichen Gedankenwelt und ihren Abstand von jeglicher philosophischer Weltanschauungslehre.«102

Fazit: Struktureller Antijudaismus, marginaler Antisemitismus Auch die zuletzt zitierten Bemerkungen sind selten, ein Bruchteil der Textmenge von 4 000 Seiten bis Band IV, 1942, und von 9 000 Seiten bis Band IX. Das dominierende und in der Ausarbeitung systematisch durchgehaltene Ziel des ThWNT war es, mithilfe der Neuheitsrhetorik ein Überlegenheitsnarrativ zu entfalten. Andere ideologische Standpunkte wurden dem weitestgehend untergeordnet oder suchten sich außerhalb des ThWNT Publikationsforen und organisatorische Zusammenhänge. Dies gilt auch für jene Mitarbeiter des Wörterbuchs, die zugleich Mitglieder des Eisenacher »Entjudungsinstituts« waren und dort offen und programmatisch antisemitische Exegese betrieben.103 Umgekehrt war das Programm, die Superiorität des Christentums lexikografisch zu erweisen, auch für Exegeten aus anderen kirchlichen und theologischen Lagern plausibel – ja, dieses Programm war es, das eine heterogene Gruppe von Exegeten vereinte. Der Verdacht, dass das ThWNT von Antisemitismus durchdrungen sei, basierte darauf, dass der erste Herausgeber, Gerhard Kittel, und eine ganze Reihe von Mitarbeitern explizite Antisemiten waren oder wurden und in ihren Veröffentlichungen antisemitische Propaganda betrieben. Dieser Verdacht lässt sich nur aufrechterhalten, wenn darauf verzichtet wird, das Wörterbuch zu lesen. Was die Lektüre des ThWNT durchgehend zeigt, ist die ideologische Funktionalisierung von Philologie und Religionsvergleich für die These von der Überlegenheit des Christentums. Es ist dieses Projekt einer wissenschaftlichen Selbstvergötzung des Christentums, die das Wörterbuch als Ganzes für eine realistische Sichtung der Vergangenheit und einen fairen Umgang des Christentums mit anderen Religionen – und mit sich selbst – unbrauchbar macht.

102 Johannes Behm, IV, S. 1010. 103 Vgl. dazu Oliver Arnhold, »Entjudung« – Kirche im Abgrund. Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen und das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« 1939–1945, Berlin 2010, und den Beitrag von Oliver Arnhold in diesem Band.



Oliver Arnhold  Gerhard Kittel und seine Schüler. Welche Verbindungen bestanden zum Eisenacher ­»Entjudungsinstitut«?

In einem Artikel mit dem Titel »Ein Vermächtnis Kaiser Wilhelms II. Was hat Walter Grundmanns Eisenacher ›Entjudungsinstitut‹ mit Martin Luther zu tun?«1 beschäftigt sich der emeritierte Kirchenhistoriker Johannes Wallmann unter anderem mit der Bedeutung des kirchlichen »Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«, das am 6. Mai 1939 feierlich auf der Wartburg gegründet und im Juli 1945 vom thüringischen Landeskirchenrat aufgelöst wurde. In dem Artikel merkt Wallmann über den Forschungsstand an, dass »alle, die sich in den letzten Jahren mit dem Eisenacher Institut befasst haben, den Eindruck entstehen lassen, die halbe evangelische Theologie und Kirche habe hinter dem Eisenacher Entjudungsinstitut gestanden«.2 Diesem Eindruck möchte Wallmann nun entgegenwirken, indem er herausstellt, dass »nur ein Fünftel der etwa hundertzehn evangelischen deutschen Theologieprofessoren« in das Institutsprojekt involviert waren und »keiner der bedeutenden deutschen Theologen« vertreten gewesen sei.3 Zu diesen »bedeutenden deutschen Theologen« zählt Wallmann auch Gerhard Kittel, denn er führt im Weiteren in seinem Aufsatz aus: »Interessant ist, dass niemand von der Theologischen Fakultät Tübingen unter den ›Mitarbeitern‹ des Eisenacher Instituts aufgelistet ist. In Tübingen lehrte Gerhard Kittel, führender deutscher Judaist und akademischer Lehrer Grundmanns, der mit seinen zahlreichen gegen das Judentum gerichteten Publi­kationen eng mit den Nationalsozialisten zusammenarbeitete, weshalb er 1945 sofort verhaftet wurde und in ein Internierungslager kam. Kittel konnte kein Mitarbeiter oder Förderer von Grundmanns Eisenacher Institut sein, weil er sich zu ihm im tiefsten Gegensatz befand.« Kittel »hielt am Alten Testament und am Messiasbegriff fest und verurteilte nicht das alttestamentliche Judentum,

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Johannes Wallmann, Ein Vermächtnis Kaiser Wilhelms II. Was hat Walter Grundmanns Eisenacher »Entjudungsinstitut« mit Martin Luther zu tun? In: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 3 (2017), S. 289–314. Ebd., S. 305. Ebd., S. 306.

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sondern das den Messias ablehnende nachbiblische Judentum. Das Hebräisch für anstehende Theologen, das Grundmann in Jena abschaffen wollte, hielt er für nötig. Gerhard Kittel und sein Schüler Karl Georg Kuhn […] konnten dem Eisenacher Entjudungsinstitut gar nicht zustimmen.«4

Tatsächlich befinden sich die Namen von Gerhard Kittel (1888–1948) und seinem Schüler Karl Georg Kuhn (1906–1976)5 nicht im Mitarbeiterverzeichnis6 des von Walter Grundmann (1906–1976)7 geleiteten kirchlichen »Entjudungsinstituts«. Grundmann war Schüler Kittels und von Oktober 1930 bis März 1932 als dessen Assistent in Tübingen tätig. Der spätere wissenschaftliche Leiter des Eise­ nacher »Entjudungsinstituts« beschäftigte sich während dieser Zeit wesentlich mit der Redaktion des von Kittel herausgegebenen »Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament« (ThWNT). Während seiner Assistentenzeit promovierte Grundmann bei seinem akademischen Lehrer im Jahr 1931 mit der Arbeit »Der Begriff der Kraft in der neutestamentlichen Gedankenwelt«.8 Kittel und Grundmann hielten über Grundmanns Tübinger Zeit hinaus Kontakt. In den bis 1945 von Kittel herausgegebenen ersten vier Bänden des ThWNT ist Grundmann mit 22 Artikeln vertreten. Es stellt sich also tatsächlich die von Wallmann aufgeworfene Frage, warum Kittel, der seit 1936 mit dem Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands bereits in einer antijüdischen Forschungseinrichtung des nationalsozialistischen (NS-)Staates tätig war, nicht auch in dem von Grundmann geleiteten kirchlichen »Entjudungsinstitut« aktiv wurde, wie es eine ganze Reihe weiterer Mitarbeiter am ThWNT jedenfalls taten.

4 Ebd. 5 Zwar wird Kuhn von Susannah Heschel als Mitarbeiter des Eisenacher Instituts angeführt, jedoch hat der Autor hierfür keinerlei Belege gefunden. Vgl. Susannah Heschel, Theologen für Hitler. Walter Grundmann und das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«. In: Leonore Siegele-Wenschkewitz (Hg.), Christlicher Anti­judaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen, Frankfurt a. M. 1994, S. 125–170, hier 140. 6 Oliver Arnhold, »Entjudung« – Kirche im Abgrund, Band II: Das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« 1939–1945, Berlin 2010, S. 852–861. Zu Grundmann vgl. auch Peter von der Osten-Sacken, Walter Grundmann – Nationalsozialist, 7 Kirchenmann und Theologe. In: ders. (Hg.), Das mißbrauchte Evangelium. Studien zu Theologie und Praxis der Thüringer Deutschen Christen, Berlin 2002, S. 280–312. Oliver Arnhold, Walter Grundmann und das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«. In: Manfred Gailus/Clemens Vollnhals (Hg.), Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im »Dritten Reich«, Göttingen 2016, S. 203–217. 8 Walter Grundmann, Der Begriff der Kraft in der neutestamentlichen Gedankenwelt. In: Albrecht Alt/Gerhard Kittel, Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 4. Folge, Heft 8, Stuttgart 1932.

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Das vom »Entjudungsinstitut« konzipierte »Theologische Wörterbuch Deutsch« als Ergänzung des ThWNT Ein Beispiel für einen solchen Mitarbeiter stellt Georg Bertram (1896–1979) dar, seit 1925 Professor für Neues Testament in Gießen, der insgesamt 37 Artikel zum ThWNT beisteuerte. Im Eisenacher Institut war er in den Arbeitskreisen »Neues Testament«, »Schriftprinzip« und »Neues Testament und altjüdische Religionsgeschichte« tätig.9 Bert­ram übernahm ab 1943 auch kommissarisch die wissenschaftliche Leitung des Instituts, nachdem Grundmann zum Wehrdienst einberufen worden war.10 Seit 1944 beschäftigte sich der Gießener Professor in Eisenach mit Arbeiten an einem vom »Entjudungsinstitut« geplanten »Theologischen Wörterbuch Deutsch«, das bis Kriegsende bereits in einer Kartei von 30 Zettelkästen bis zum Buchstaben G vorlag. Am 6. Mai 1945, drei Tage vor der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, unternahm Bertram einen Versuch zur Umwandlung des kirchlichen »Entjudungsinstituts« in ein theologisches Forschungsinstitut. Er präsentierte dem thüringischen Landeskirchenrat eine Denkschrift mit dem Titel »Aufgaben eines theologischen Forschungs-Instituts zu Eisenach«, in der er auch auf das ThWNT zu sprechen kam. Zunächst skizzierte er allerdings die bisherigen Tätigkeiten des Eisenacher Instituts wie folgt: »Im April 1939 wurde in Eisenach das Institut zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben gegründet. Es diente zunächst der Erforschung der religionsgeschichtlichen, geistesgeschichtlichen, politischen und allgemein kulturellen Zusammenhänge, Gegensätze und Auseinandersetzungen zwischen Judentum und Christentum. Damit hat es eine apologetische Aufgabe im Dienste der Kirchen und des deutschen Christentums in ihrem Abwehrkampf gegen die immer wieder auftretende und in der Gegenwart mit besonderer Energie und starkem propagandistischem Einsatz vertretene These übernommen, dass das Christentum dem Judentum gleichzusetzen und völlig von ihm abhängig sei. Diese These wurde neben anderen parteiamtlichen Instanzen besonders vom Amte Rosenberg vertreten. Das von Rosenberg begründete Frankfurter Institut zur Erforschung der Judenfrage hat den Versuch unternommen, die These auch wissenschaftlich zu begründen. Die Partei ist mit dieser ihrer Propaganda, ohne es sich einzugestehen, abhängig von immer wiederkehrenden jüdischen Behauptungen, dass das Christentum nichts anderes als ein Unternehmen jüdischer Propaganda im Abendland sei und dass damit letztlich die ganze abendländische Geistesgeschichte als unter jüdischem Einfluss und in Abhängigkeit vom Judentum stehend betrachtet werden müsste. Daneben allerdings hat die jüdische Wissenschaft auch den Nachweis versucht, dass Jesus als verbrecherischer messianischer Aufrührer, den die Obrigkeit mit Recht ans Messer geliefert habe, die abendländische Menschheit auf einen Irrweg geführt habe. Diesen parteiamtlichen und jüdischen Thesen gegenüber steht die Arbeit des Instituts in einem Zweifrontenkrieg. Es ergab sich dabei die Notwendigkeit, in neuem Ansatz das Bild Jesu und des Urchristentums zu zeichnen, da in der protestantischen Leben-Jesu-Forschung der Einfluss des Judentums sich seit Jahrzehnten geltend gemacht

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Arnhold, »Entjudung«, Band II, S. 852. Ebd., S. 743 ff.

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hatte. […] Der bewusste Gegensatz zum Judentum, von dem das Institut bei seinen Arbeiten ausging, war weder politisch bedingt, noch kam er politisch zum Ausdruck. Ihn zu betonen, war vielmehr zumal während des Krieges eine Notwendigkeit für das Institut, um überhaupt von den parteiamtlichen und staatlichen Stellen Duldung zu erlangen und Gehör auch außerhalb der kirchlichen Kreise zu finden. Sachlich begründet aber ist der Gegensatz unserer Arbeit zum Judentum in der Haltung Jesu selber, der den Kampf gegen das Judentum in aller Schärfe aufgenommen hat und ihm zum Opfer gefallen ist, und in der Haltung unserer Kirche, die in der Nachfolge Jesu nicht vergessen konnte, dass es die Juden waren, die Jesus ans Kreuz brachten.«11

Bertram legitimierte in seiner Denkschrift die Notwendigkeit des kirchlichen »Entjudungsinstituts« also auf eine zweifache apologetische Weise. Einerseits wäre es notwendig gewesen, die These »Christentum sei Judentum für Nicht­juden« zu widerlegen. Diese sei von parteiamtlichen Stellen kolportiert worden, die damit letztlich jüdischen Behauptungen »auf den Leim« gegangen seien. Andererseits wäre unter dem Einfluss des Judentums das Bild Jesu und des Urchristentums verfälscht worden. Das Institut habe es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, den unüberbrückbaren Gegensatz von Christentum und Judentum h ­ erauszuarbeiten, der letztlich in der Haltung Jesu selbst begründet sei, der in aller Schärfe den Kampf gegen das Judentum geführt habe. Bertrams Aussagen sind auch deshalb besonders interessant, da er gegen die christentumsfeindlichen Kräfte innerhalb des NS polemisiert, um die Arbeit des Instituts zu legitimieren. Zu diesen Kräften waren so einflussreiche NS-Größen wie Martin Bormann, Alfred Rosenberg, Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich und Joseph Goebbels zu zählen, die, wie Wallmann richtig herausstellt, die Kirche »allmählich zum Absterben« bringen wollten.12 Demgegenüber glaubten die Institutsmitarbeiter an eine »Vereinbarkeit von Christentum und antisemitischen Nationalsozialismus«.13 Wallmann spricht von einer tragischen Blindheit der Institutsmitarbeiter, die glaubten, »durch die Verbindung von Christentum und Nationalsozialismus die Kirche« retten zu können.14 Das »Bewusstsein und die Intention Grundmanns […], die Arbeit zur Verteidigung der Kirche getan zu haben«, müsse, so Wallmann, aber ebenso »zur Kenntnis« genommen werden.15

11 Georg Bertram, Denkschrift über die Aufgaben eines theologischen Forschungs-Instituts zu ­Eisenach, unveröffentlichte 10-seitige maschinenschriftliche Denkschrift vom 6.5.1945. In: Volker Lubinetzki, Von der Knechtsgestalt des Neuen Testaments. Beobachtungen zu seiner Verwendung und Auslegung in Deutschland vor dem sowie im Kontext des »Dritten Reichs«, Münster 2000, S. 415–422, hier 415 f. 12 Wallmann, Vermächtnis, S. 302. Damit widerspricht Wallmann Dirk Schuster, der den Einfluss der »kirchenfeindlichen Kräfte innerhalb des polykratischen NS-Herrschaftssystems« gering einschätzt. Vgl. Dirk Schuster, Die Lehre vom »arischen« Christentum. Das wissenschaftliche Selbstverständnis im Eisenacher »Entjudungsinstitut«, Göttingen 2017, S. 75 ff. 13 Wallmann, Vermächtnis, S. 313. 14 Ebd., S. 300. 15 Ebd.

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Leider blendet Wallmann bei seiner Argumentation die Frage aus, zu welchem Preis hier Apologie betrieben wurde. Es war deutlich eine Apologie, die auf der Akzeptanz der NS-Judenverfolgung fußte und damit auf Kosten der Opfer betrieben wurde, die zur selben Zeit in den Gaskammern ermordet wurden. Eine solche Apologie hätte sich verbieten müssen, auch wenn sie dadurch den Fortbestand einer wie auch immer gearteten Kirche hätte wahren können. Ferner muss die Frage erlaubt sein, um welche Art von Kirche und Bekenntnis es bei Grundmann denn überhaupt noch ging. Eine »entjudete« christliche Kirche, die die Ideologie der Nationalsozialisten »christlich« zu legitimieren suchte, ist ihres Fundaments beraubt und ihrem Wesen nach keine christliche Kirche mehr. In seiner Denkschrift wirft Bertram den antichristlichen Kräften in der Natio­ nalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) 1945 sogar vor, dass sie selbst in ihrem antichristlichen Kampf unter jüdischem Einfluss gestanden hätten. Dass eine solche Auffassung nicht auf Gegenliebe stoßen konnte, versteht sich von selbst, wollten sich die Institutsmitarbeiter doch mit dieser Argumentation als »die besseren Nationalsozialisten« profilieren, die in der Position sind, jeglichen jüdischen Einfluss endgültig zu brechen.16 Dieses schließe, so Bertram weiter, eben auch die jüdische Verfälschung des Bildes Jesu und des Urchristentums mit ein, die durch die Forschungen des Eisenacher Instituts aufgedeckt werden sollten. Um die Notwendigkeit der Weiterführung der Institutsarbeit auch nach 1945 gegenüber dem neuen Thüringer Landeskirchenrat zu unterstreichen, führte Bertram ferner in der besagten Denkschrift an den Thüringer Landeskirchenrat auch das von Kittel herausgegebene »Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament« an. In dem Wörterbuch sei in »einer evangelisch-theologischen Gemeinschaftsarbeit größten Ausmaßes, an der fast sämtliche Neutestamentler und eine große Anzahl von Fachleuten verschiedener Nachbargebiete (Altes Testament, Orientalistik, griechische Philosophie, Religionsgeschichte) aus allen theologischen und kirchlichen Richtungen vereint sind«, eine »Gabe der deutschen Theologie der Gegenwart an die protestantischen Kirchen in aller Welt« entstanden.17 Das Wörterbuch sei zwar »noch nicht vollendet«, aber »auch unter den gegenwärtigen Verhältnissen« sei mit seiner »Vollendung in absehbarer Zeit«

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Hier muss Dirk Schuster widersprochen werden, der eine Verteidigungshaltung der Eisenacher Institutsmitarbeiter gegenüber den christentumsfeindlichen Kräften infrage stellt. Vgl. Schuster, Lehre, S. 74 ff. Diese geht aus dem Quellenmaterial auch aus der Zeit vor 1945 eindeutig hervor. Das sich dem NS-Herrschaftssystem anbiedernde Konzept der Mitarbeiter im Eisenacher Institut, sich als »bessere Nationalsozialisten« profilieren zu wollen, schloss allerdings im Gegensatz zur Folgerung Schusters eine aktive Beteiligung »an der Gestaltung des ›judenfreien‹ ›Dritten Reichs‹« (ebd., S. 74) gerade nicht aus. Bertram, Denkschrift. In: Lubinetzki, Knechtsgestalt, S. 418.

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zu rechnen.18 Aus diesem Werk ergebe sich, so Bertram, bereits jetzt eine neue Aufgabe, nämlich die »Schaffung eines deutschen theologischen Wörterbuches auf der Grundlage der Lutherbibel bzw. des deutschen Neuen Testaments«,19 ein Projekt, mit dem das Eisenacher Institut bereits begonnen habe. Geschickt versuchte Bertram also die Arbeiten am ThWNT mit den bereits im »Entjudungsinstitut« begonnenen Arbeiten zu verknüpfen, das vom Institut konzipierte »Theologische Wörterbuch Deutsch« sei eine logische Fortsetzung und Ergänzung des ThWNT. Der Professor für Neues Testament erhoffte damit, die bereits begonnenen Arbeiten im Eisenacher Institut auch über das Jahr 1945 hinaus als wissenschaftlich notwendig erscheinen zu lassen und damit die Fortexistenz des Instituts auch nach Kriegsende zu sichern. Ganz im Sinne der in der Denkschrift verfolgten Argumentation sei dies folgerichtig, da die im Institut verfolgte Idee einer »Entjudung« des Christentums nicht in erster Linie durch die NS-Ideologie, sondern vielmehr in der Nachfolge Jesu und der Haltung der christlichen Kirche gegenüber dem Judentum begründet sei.

Mitarbeiter des »Entjudungsinstituts« und Autoren am ThWNT Bertrams Gedanke einer Verknüpfung der Arbeiten des Eisenacher Instituts und des ThWNT war schon deshalb naheliegend, da neben Grundmann und ihm noch eine ganze Reihe weiterer Mitarbeiter im Eisenacher »Entjudungsinstitut« ebenfalls als Autoren am ThWNT beteiligt waren. Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang beispielsweise Herbert Preisker (1888–1952), Professor für Neues Testament in Breslau, der vor 1945 18 Artikel zum ThWNT beisteuerte. Der NS-orientierte und judenfeindlich eingestellte Hochschullehrer hatte noch 1937 vergeblich versucht, in die NSDAP einzutreten, was aber an der Verfügung gescheitert war, dass Geistliche sowie sonstige »Volksgenossen«, die konfessionell stark gebunden waren, zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in die Partei aufgenommen wurden. Im Institut war er im Arbeitskreis »Neues Testament« und im Arbeitskreis »Neues Testament und altjüdische Religionsgeschichte« tätig. An der Herausgabe des »entjudeten« Neuen Testaments, der Botschaft Gottes, war Preisker ebenfalls mitbeteiligt.20 Ein weiteres Beispiel ist Gerhard Delling (1905–1986), der ab Oktober 1929 wie Grundmann auch als wissenschaftlicher Assistent bei Kittel in Tübingen tätig war und dort redaktionelle Vorarbeiten für das ThWNT vornahm. Grundmann

18 Ebd. 19 Ebd. 20 Vgl. Arnhold, »Entjudung«, Band II, S. 859.

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und Delling kannten sich schon seit ihrer Schulzeit. Seit 1938 war Delling als Pfarrer in Leipzig tätig und nahm einen Lehrauftrag für Neues Testament an der Leipziger Universität wahr.21 Bis 1945 verfasste er 21 Artikel für das ThWNT. Im Eisenacher Institut war er wie Preisker im Arbeitskreis »Neues Testament« tätig.22 Da er im Mai 1940 als Kriegspfarrer einberufen wurde, konnte er seinen für das Institut geplanten Forschungsvorhaben nur noch bedingt nachkommen, er sorgte aber nach seiner Einberufung für die Verbreitung der Institutspublikationen auch an der Front.23 Wie Delling war auch Rudolf Meyer (1909–1991)24 Schüler von Johannes Leipoldt (1880–1965),25 der seit 1916 den Lehrstuhl für Neues Testament in Leipzig innehatte. Auch Leipoldt war ein führender Mitarbeiter im Eisenacher Institut,26 allerdings nicht als Autor für das ThWNT tätig. Meyer hatte im April 1934 von Leipoldt eine Assistentenstelle an der Universität Leipzig übertragen bekommen. Diese hatte zuvor Lazar Gulkowitsch (1898–1941) inne, der 1934 aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus dem Universitätsdienst entlassen worden war. Gulkowitsch wurde 1941 in Estland in der Stadt Tartu, in die er nach seiner Entlassung emigriert war, von einem deutschen Einsatzkommando ermordet.27 Meyer hielt während seiner Assistentenzeit in Leipzig Übungen zum Neuen Testament und zur hebräischen und aramäischen Sprache. Er wurde 1937 promoviert, seine 1938 fertiggestellte Habilitationsschrift blieb allerdings unveröffentlicht. Seine Bewerbung für eine Lehrbefugnis als Dozent für Neues Testament und Aramaistik lehnte das Reichserziehungsministerium Ende Dezember 1938 ab. Wie Dirk Schuster herausgestellt hat, muss es »als sehr unwahrscheinlich gelten, dass Meyers politische Haltung eine Dozentur an der Theologischen ­Fakultät

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Vgl. zu Delling auch Schuster, Lehre, S. 216–224, 269–271. Arnhold, »Entjudung«, Band II, S. 853. Schuster, Lehre, S. 223 f. Ebd., S. 199–208, 271 f. Zu Leipoldt vgl. auch Dirk Schuster, »Jesu ist von jüdischer Art weit entfernt.« Die Konstruktion eines nichtjüdischen Jesus bei Johannes Leipoldt. In: Gailus/Vollnhals (Hg.), Für ein artgemäßes Christentum, S. 189–201; Maike Schult, Anpassungsbereit und stets zu Diensten. Zeit- und Streitfragen zu Johannes Leipoldt (1880–1965). In: Felix John/Swantje Rinker (Hg.): Exegese in ihrer Zeit. Ausleger neutestamentlicher Texte. Porträts, zusammengestellt anlässlich des 350-jährigen Bestehens der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Leipzig 2015, S. 121–140; Leonore Siegele-Wenschkewitz, Ablösung des Christentums vom Judentum? Die Jesus-Interpretation des Leipziger Neutestamentlers Johannes Leipoldt im zeitgenössischen Kontext. In: Georg Denzler/Leonore Siegele-Wenschkewitz (Hg.), Theologische Wissenschaft im »Dritten Reich«, Frankfurt a. M. 2000, S. 114–135; Anne Losinski, »Ja, ich soll doch verbrannt werden.« Das Leben der Professorengattin Käte Leipoldt (1887–1941), Pirna 2012, S. 49–56. Arnhold, »Entjudung«, Band II, S. 857. Schuster, Lehre, S. 149–168. Vgl. Wolfgang Schenk, Der Jenaer Jesus. Zu Werk und Wirken des völkischen Theologen Walter Grundmann und seiner Kollegen. In: Osten-Sacken (Hg.), Das mißbrauchte Evangelium, S. 237 f.

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v­ erhindert habe«,28 da von »einer politischen Gegnerschaft Rudolf Meyers gegenüber dem NS-Regime […] keine Rede sein« könne.29 Vielmehr dürften eher der mangelnde Bedarf oder die zunehmend kirchenfeindliche Haltung der nationalsozialistischen Stellen mögliche Ursachen für die Nichtberücksichtigung Meyers gewesen sein. Daraufhin sollte Meyer nach dem Willen Grundmanns neben einer Stelle als hauptamtlicher Mitarbeiter im Institut als Assistent des wissenschaftlichen Leiters zusätzlich eine Dozentur an der Theologischen Fakultät Jena erhalten. In einem Empfehlungsschreiben vom 1. Dezember 1939 an seinen Jenaer Kollegen Wolf Meyer-Erlach (1891–1982), Professor für Praktische Theologie und ebenfalls führender Institutsmitarbeiter, stellte Grundmann nicht nur Meyers ausgezeichnete Kenntnis über das alte Judentum, sondern auch dessen politische Zuverlässigkeit heraus.30 Meyer arbeitete im Institut im Arbeitskreis »Neues Testament« und im Arbeitskreis »Neues Testament und altjüdische Religionsgeschichte« mit.31 Ferner sollte er nach dem Willen Grundmanns an einer Übersetzung des Jerusalemer Talmud arbeiten.32 1940 konnte Grundmann Meyer vermelden, dass er als Dozent in Jena vorgesehen sei. Diese Stelle konnte er allerdings aufgrund seiner Einberufung zum Kriegsdienst nicht mehr antreten, auch seine Arbeitsmöglichkeiten für das Eisenacher Institut waren damit stark eingeschränkt. Für das ThWNT schrieb Meyer bis 1945 sieben Artikel. In denselben Institutsarbeitskreisen wie Meyer war auch Carl Schneider (1900–1977) tätig.33 Schneider, der seit 1933 NSDAP-Mitglied war, hatte seit 1935 den Lehrstuhl für Neues Testament in Königsberg inne. Der Königsberger Theologieprofessor war auch als Mitarbeiter für die »Kommende Kirche« tätig, eine deutschchristliche Vereinigung, die von dem Bremer Bischof Heinz Weidemann (1885–1976) ins Leben gerufen worden war. In diesem Kreis war ebenfalls der fanatische Nationalsozialist Emanuel Hirsch (1888–1972) publizistisch tätig, Professor für Kirchengeschichte und seit 1936 Ordinarius für Systematische Theologie in Göttingen.34 Im Verlag der »Kommenden Kirche« gab Schneider 1940 eine Schrift »Das Frühchristentum als antisemitische Bewegung« heraus, die auch in den Verbandsmitteilungen des Eisenacher »Entjudungsinstituts« vorgestellt wurde. Schneiders Forschungsergebnisse wurden darin wie folgt skizziert:

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Schuster, Lehre, S. 199. Ebd., S. 200 f. Ebd., S. 204. Vgl. Arnhold, »Entjudung«, Band II, S. 858. Vgl. Schuster, Lehre, S. 206 f. Ebd., S. 224–235, 267–269. Vgl. Oliver Arnhold, »Entjudung« – Kirche im Abgrund, Band I: Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928–1939, Berlin 2010, S. 307–313.

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»Die Spätantike hat für seltsame Völker und Menschen Verständnis oder gutmütigen Spott gehabt, […] gehasst aber hat sie mit einem geradezu sicheren Instinkt immer nur den Juden. Das ist weithin bekannt. Leider aber ist bisher viel zu wenig gesehen […], dass das Frühchristentum, soweit es überhaupt etwas Neues und Lebendiges war, diesen antiken Hass gegen das Judentum übernahm, fortführte und weithin sogar überbot. […] Dass das Judentum immer wieder versucht hat, diesen gefährlichsten Gegner nicht nur zu bekämpfen, sondern auch von hinten her anzugreifen und zu verfälschen […] und dass es damit häufig Erfolg hatte, ist nicht zu übersehen, bedarf aber einer besonderen Untersuchung.«35

Mit diesen Thesen, dass das Frühchristentum die bedeutendste antisemitische Bewegung der Antike gewesen und dass das Christentum durch das Judentum verfälscht worden sei, fügte sich Schneider passgenau in das Arbeitsprogramm des Eisenacher »Entjudungsinstituts« ein. Laut Schuster »versuchte Schneider«, auch »im ThWNT einen direkten Gegensatz zwischen Judentum und Christentum herzustellen«.36 Für das Kittel’sche Wörterbuch veröffentlichte Schneider bis 1945 elf Artikel. Einen Artikel in Band IV des ThWNT verfasste auch Hans Heinrich Schae­ der (1896–1957),37 der seit 1931 den Lehrstuhl für Semitische Philologie an der Berliner Universität innehatte. Schaeder gehörte, so Schuster, zu den »angesehensten Köpfen der Islamforschung und Iranistik«38 und konstruierte »mit seinen Forschungen ein rasseanthropologisches Geschichtsbild mit dem Iran als ›arisches Ur-Reich‹«.39 Im Eisenacher Institut wirkte er wie Bertram, Preisker, Meyer und Schneider auch im Arbeitskreis »Neues Testament und altjüdische Religionsgeschichte« mit.40 Seinen ersten Auftritt als Vortragender für das Eisenacher Institut hatte Schaeder offenbar im Rahmen einer Institutsarbeitstagung 1941 in Weißenfels. Im Herbst 1941 war vom »Entjudungsinstitut« eine Arbeitsgemeinschaft »Germanentum und Christentum« gegründet worden, in der skandinavische und deutsche Wissenschaftler die »germanische Kulturforschung« vorantreiben wollten.41 Die Ergebnisse der deutsch-skandinavischen Forschungskoopera­tionen wurden auf zwei Tagungen 1941 und 1942 in Weißenfels vorgestellt und später veröffentlicht. Eine gewichtige Rolle nahm dabei auf skandinavischer Seite der renommierte schwedische Neutestamentler und Rabbinist Hugo Odeberg (1898–1973) ein. In den Institutspublikationen finden

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Verbandsmitteilungen des »Instituts zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«, Eisenach, Nr. 2/3 vom 31.12.1940, S. 77. Schuster, Lehre, S. 230. Ebd., S. 235–245, 274–277. Ebd., S. 236. Ebd., S. 237. Vgl. Arnhold, »Entjudung«, Band II, S. 859. Ebd., S. 617–637.

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sich mehrere Beiträge von ­Odeberg, so über »Die Muttersprache Jesu als wissenschaftliche Aufgabe«42 und über »Hellenismus und Judentum, Verjudung und Entjudung der antiken Welt«.43 Für das ThWNT verfasste Odeberg fünf Beiträge in den Bänden II und III. Neben der Arbeitsgemeinschaft »Germanentum und Christentum« treten besonders zwei Arbeitskreise hervor, in denen die vorgestellten Mitarbeiter am Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament im Eisenacher Institut tätig waren. Dies war zum einen der bereits 1939 gegründete Arbeitskreis, der »die Entstehungsverhältnisse des Christentums unter dem rassischen Gesichtspunkt und unter Einbeziehung des bevölkerungspolitischen und religiösen Einflussverhältnisses Palästinas« untersuchen sollte. Dieser Arbeitskreis hatte sich eine groß angelegte »Geschichte Jesu und des Urchristentums« in zehn Bänden zur Aufgabe gestellt.44 Meyer sollte den Band zu »Palästina im 1. vor- und nachchristlichen Jahrhundert« übernehmen, Schneider den zu der »Welt des Hellenismus« und zum »Urchristentum in Rom«, Bertram den zum »Judentum in der hellenistischen Welt«, Delling den zu Paulus, Preisker den zum Johannesevangelium und zum »Urchristentum in Kleinasien« und Grundmann zu »Traditionen über Jesus von Nazareth« und zur »palästinischen und antiochanischen Urgemeinde«. Im selben Jahr veröffentlichte Grundmann den Artikel »Das Problem des hellenistischen Christentums innerhalb der Jerusalemer Urgemeinde«,45 in dem er die These aufstellte, dass es ursprünglich zwei christliche Urgemeinden gegeben habe: eine in Jerusalem und eine in Galiläa. Das Ziel, das Grundmann damit verfolgte, war offensichtlich: Er wollte, wie Schuster richtig herausstellt, »einen Teil der christlichen Urgemeinde zu rassischen ›Nichtjuden‹« machen.46 Die Argumentation glich derjenigen, die Grundmann auch in seiner 1940 publizierten Institutsveröffentlichung »Jesus der Galiläer und das Judentum«47 benutzte, um eine nichtjüdische Herkunft Jesu nachzuweisen. Um 150 v. Chr. sei Galiläa, so Grundmann, judenfrei gewesen und erst danach sei die »Unterwerfung der Galiläer unter die Juden […] durch Zwangsbeschneidung und Zwangsannahme der

42 Hugo Odeberg, Die Muttersprache Jesu als wissenschaftliche Aufgabe. In: Walter Grundmann (Hg.), Germanentum, Christentum und Judentum, 3. Band, Leipzig 1943, S. 69–82. 43 Ders., Hellenismus und Judentum, Verjudung und Entjudung der antiken Welt. In: Walter Grundmann (Hg.), Die völkische Gestalt des Glaubens, Leipzig 1943, S. 101–118. 44 Vgl. Arnhold, »Entjudung«, Band II, S. 554. 45 Walter Grundmann, Das Problem des hellenistischen Christentums innerhalb der Jerusalemer Urgemeinde. In: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und Kunde der älteren Kirche, 38 (1939), S. 45–73. 46 Schuster, Lehre, S. 178. 47 Walter Grundmann, Jesus der Galiläer und das Judentum, Leipzig 1940.

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jüdischen Religion« erfolgt. 48 Somit sei Jesus zwar jüdischer Konfession gewesen, die er aber, so Grundmann, selbst »restlos durchstoßen« habe. Rassisch sei er so »mit größter Wahrscheinlichkeit kein Jude gewesen«, da seine galiläischen Ahnen »blutsmäßig« auch keine Juden gewesen seien.49 Auch der im Mai 1942 gegründete Arbeitskreis für »Neues Testament und altjüdische Religionsgeschichte«, in dem neben Grundmann unter anderem Leipoldt, Schaeder, Bertram, Preisker, Meyer und Schneider mitarbeiteten, hatte sich zur Aufgabe gemacht, die Differenz zwischen Jesus und dem Judentum ­herauszuarbeiten und durch religionsgeschichtlichen Vergleich das Urchristentum aus einem jüdischen Entstehungskontext herauszulösen.50 So referierten auf den Sitzungen des Arbeitskreises unter anderem Schaeder über »Arische Einflüsse im Urchristentum« und Leipoldt sowie Schneider über »Jesu Verhältnis zum Griechentum«.51 Beide betonten Jesu geistige Nähe zum Hellenismus und übernahmen mit »der Einordnung der antiken Griechen als ›Arier‹«, so S­ chuster, »eine Ansicht, die unter Wissenschaftlern im ›Dritten Reich‹ Anerkennung genoss«.52 Die Beiträge der Mitglieder des Arbeitskreises sollten in einer besonderen Publikation veröffentlicht werden, die aber aufgrund von kriegsbedingten Druckbeschränkungen nicht mehr erscheinen konnte. In der zweiten Sitzung des Arbeitskreises »Neues Testament und altjüdische Religionsgeschichte« im September 1942 in Leipzig hielt Bertram zudem ein Referat »Jesus und das Alte Testament«, in dem er unter anderem herausstellte: »In der geschichtlichen Wirklichkeit des Lebens Jesu begegnet das AT nur als jüdisches Buch. Nach der herrschenden jüdischen Auffassung dient die atliche [alttestamentliche] Religion der Beherrschung des menschlichen Alltags durch das Religionsgesetz, hinter dem ein in tyrannischer Willkür vernichtender Gott steht, der das von ihm erwählte Israel durch Leiden erzieht. Jesus befreit davon, indem er die Unmittelbarkeit des Menschen zu Gott an sich selbst offenbart. Jesus kämpft gegen die Träger der atlichen Religion und hebt deren Grundlage, den Erwählungsglauben auf. [...] So hat Jesus keine innere Bindung an das AT, und seine Haltung führt notwendig fort vom AT. Das AT ist der religionsgeschichtliche Hintergrund seines Lebens und bildet für ihn Gegenstand und Mittel seiner Auseinandersetzung mit dem Judentum.«53

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Ebd., S. 169. Ebd., S. 175. Vgl. Arnhold, »Entjudung«, Band II, S. 584 ff. Vgl. dazu auch Bertrams Bericht über Arbeit und Aufgaben des neutestamentlichen Arbeitskreises, abgedruckt in: Lubinetzki, Knechtsgestalt, S. 402–414. Arnhold, »Entjudung«, Band II, S. 586. Schuster, Lehre, S. 163. Protokoll der zweiten Sitzung des »Arbeitskreises für Neues Testament und altjüdische Religions­ geschichte« am 15. und 16.9.1942 von Max-Adolf Wagenführer (Landeskirchenarchiv Eisenach, DC III 2f., unpag.). »AT« steht für Altes Testament (Anm. der Redaktion).

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Die Befreiung von der heilsgeschichtlichen Bedeutung des Alten Testaments sollte nach Auffassung der Institutsmitarbeiter verbunden werden mit verstärkten Bemühungen zur Erforschung einer spezifisch germanisch-deutschen Frömmigkeit, eines arteigenen, rassegebundenen Glaubens. Man betonte, dass die Botschaft Jesu besonders für Germanen nachvollziehbar und akzeptabel gewesen sei, da sie »arische« Elemente enthalte. In den Verbandsmitteilungen des Instituts hieß es 1941 dazu: »Die Bedeutung, die das Alte Testament gehabt hat, kann nicht durch eine Abschaffung verneint werden, vielmehr muss deutlich werden, dass das Alte Testament eine solche Bedeutung, wie es sie gehabt hat, nur gewinnen konnte, weil eine Lücke vorliegt. Deshalb muss das Alte Testament in einer positiven Weise abgelöst werden durch eine Geschichte Gottes mit den Deutschen und der Deutschen mit Gott.«54

Gerhard Kittel und das kirchliche »Entjudungsinstitut« Bereits am 11. Dezember 1938 schrieb Grundmann in einem Brief an seinen Doktorvater Kittel, in dem er sich unter anderem über Kittels Glückwünsche zu seiner Ernennung zum Professor für Neues Testament in Jena bedankte: »Ich bin der grundsätzlichen Überzeugung, dass für den Glauben einer deutschen christlichen Gemeinde die heilsgeschichtliche Konstruktion, die auf den Gedanken des Israels katapneuma zielt, eine zu überwindende Konstruktion ist, dass vielmehr die auf Christus zielende Heilsgeschichte für uns nicht im AT, sondern in unserer germanisch-deutschen Situation besteht, also sowohl zeitlich, d. h. in unserer Vorgeschichte, als auch grundsätzlich, in unserer gegenwärtigen religiösen Situation.«55

In dieser grundsätzlichen Überzeugung, die Grundmann mit den anderen Institutsmitstreitern teilte, scheint der eigentliche Grund zu liegen, warum Kittel nicht daran dachte, im Eisenacher »Entjudungsinstitut« mitzuarbeiten. In einem Brief vom 7. September 1941 schrieb Kittel an Grundmann: »Dass ich in der ­Sache ›Bibel und Judentum‹ natürlich eine sehr erheblich andere wissenschaftliche Position vertrete als Sie, jedenfalls soweit einige Ihrer neueren Publikationen und Äußerungen sie zeigen, wissen sie ohnehin.«56

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Verbandsmitteilungen des »Instituts zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«, Nr. 4 vom 25.9.1941, S. 85. 55 Landeskirchenarchiv Eisenach, DC III 2f., unpag. 56 Landeskirchenarchiv Eisenach, DC III 2b., unpag. Bereits im Jahr 1929 hatte Kittel seine wissenschaftliche Position in der 2. Auflage von »Die Religion in Geschichte und Gegenwart« im Artikel: »Judentum« wie folgt dargelegt: »Die Tatsache des geschichtlichen und sachlichen Zusammenhangs zwischen J. [Judentum] und Christentum ergibt sich schon aus der Entstehungsgeschichte des Christentums. Jesus, der Kreis seiner Anhänger, ebenso Paulus, waren nach

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Wie Leonore Siegele-Wenschkewitz herausgestellt hat, vertrat Kittel allerdings die Auffassung, dass es seit dem babylonischen Exil einen rassischen »Umschichtungsprozess« in der Geschichte Israels gegeben habe, in dem sich der »Typus Judentum« durch »soziologische und geistesgeschichtliche Wandlung« herausgebildet habe.57 So konnte Kittel das »Judentum völlig vom Alten Testament« trennen58 und erklären, »Religion und Frömmigkeit des Alten Testaments seien nicht jüdisch, jüdisch sei einzig das Talmudjudentum«.59 Während sich das Judentum somit von der alttestamentlichen Tradition gelöst habe, wahre das Christentum, so Kittel, religiös und ethisch die Kontinuität mit dem Alten Testament. Es habe sich dadurch in seiner Geschichte zum schärfsten Gegner der jüdischen Gesetzes­religion entwickelt. Kittel vertrat somit im Gegensatz zu den Eisenacher Institutsmitarbeitern ein eher konservativeres Kanonverständnis, das sich für eine Beibehaltung des Alten Testaments und einen nichtselektiven Umgang mit dem Neuen Testament aussprach. Diese Einstellung wird auch durch Kittels Mitarbeit in der von seinem Vater Rudolf Kittel (1853–1929)60 begründeten Reihe »Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament« und bei der Revision der Lutherbibel bestätigt. Folgerichtig ist auch im ThWNT das Alte Testament in vielen Artikeln berücksichtigt. Neben dem Dissens in der Frage des Festhaltens am Alten Testament war aber auch die für Grundmann zentrale Frage nach der rassischen Zugehörigkeit Jesu für Kittel längst geklärt. Vielleicht ist dadurch auch erklärbar, ­warum Grundmann in Band IV des ThWNT nur noch mit zwei Artikeln (15 und 2 Druckseiten) und damit im Vergleich zu seinem vorherigen Engagement dürftig vertreten war. In der Konsequenz allerdings verfolgten beide trotz besagter Differenzen ein ähnliches Konzept. Sowohl Kittel als auch die Mitarbeiter im Eisenacher Institut versuchten, wie Schuster es treffend beschreibt, ein »angebliches, durch die Rasseforschung bestätigtes Bild über ›den Juden‹ der Gegenwart […] mithilfe von selektiv ausgewählten Quellenbelegen oder bloßen Behauptungen über die Handlungs- und Denkeigenschaften ›des Juden‹« auf die Antike zu projizieren,

57 58 59 60

Rasse, Nationalität und Religion Juden. Alle Versuche, die nicht-jüdische und nicht-semitische Abstammung Jesu zu erhärten, bleiben im Gebiet der Phantasie. Selbst wenn das Blut des Galiläers ein paar Tropfen nicht-jüdischen Blutes enthalten haben sollte, so enthielt es doch auf alle Fälle sehr viele Tropfen voll-jüdischen Blutes. Wichtiger ist, dass Jesus ohne allen Zweifel sich selbst als ein Glied seines Volkes gewusst und empfunden hat.« (Band 3, 2. Auflage Tübingen 1929, Sp. 492). Leonore Siegele-Wenschkewitz, Mitverantwortung und Schuld der Christen am Holocaust. In: dies., Christlicher Antijudaismus, S. 1–26, hier 8. Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Kittels Vater war zudem Herausgeber der Standardausgabe der Biblia Hebraica.

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um damit das Christentum aus seinem jüdischen Kontext herauszulösen und es damit kompatibel mit der NS-Ideologie zu machen.61 Daher kann man auch nicht, wie Wallmann es tut, davon sprechen, dass sich Kittel und Grundmann »im tiefsten Gegensatz« zueinander befunden hätten.62 Letztlich verfolgten beide in unterschiedlichen Nuancen die gleiche antisemitische Konzeption.

»Ein Stück Arbeit […], die über den Tag hinausgeht«63 Mit derartigen theologischen Aussagen und Denkmodellen über das Judentum und über das Verhältnis von Christentum und Judentum, wie sie Kittel und Grundmann verfolgten, wurde nach 1945 in der deutschen Theologie und Kirche nicht eindeutig gebrochen. Es ist ja bezeichnend, dass Bertram in seinem Schreiben an den Thüringer Landeskirchenrat 1945 zur Umwandlung des Instituts keinerlei Abstriche von der eigentlichen antisemitischen Konzeption des Instituts gemacht hat, da er davon ausgehen konnte, dass das antijüdische Denken theologisch weiterhin konsensfähig sei. Er unterschätzte allerdings, dass unter den veränderten politischen Vorzeichen eine weitere Unterhaltung eines antisemitischen Forschungsinstitutes durch die evangelische Kirche natürlich nicht mehr möglich war. Die Bedeutung des Eisenacher Instituts abzutun, wie Wallmann es tut, indem er bei den »Rezipienten des Eisenacher Entjudungsinstituts« von einer »im Gesamt der evangelischen Kirche belanglosen Minderheit« spricht,64 wird dem Problem daher nicht gerecht. Da es der Mehrheit der 180 Institutsmitarbeiter, darunter 24 Universitätsprofessoren von 14 evangelisch-theologischen Fakultäten, nach 1945 gelang, weiter publizistisch und wissenschaftlich tätig zu bleiben, stellt sich vielmehr deutlich die Frage nach Kontinuitäten in deren Wissenschaftsverständnis sowie der weiteren Tradierung von antijüdischen Denkmustern in der Theologie auch nach Kriegsende. Wolfgang Schenk hat die Beobachtung gemacht, dass Grundmann in den nun von Gerhard Friedrich (1908–1986) herausgegebenen Bänden V (1954) und VI (1959) des ThWNT nicht vertreten ist, obwohl er wohl schon 1941 für einen Artikel in Band V vorgesehen war.65 Der Artikel war ihm offensichtlich aufgrund seiner besonders exponierten Stellung im »Entjudungsinstitut« und bei

61 Schuster, Lehre, S. 247. 62 Wallmann, Vermächtnis, S. 306. 63 Walter Grundmann, Die Arbeit des Instituts zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben, Unveröffentlichte Denkschrift an den Landeskirchenrat der Thüringer Ev. Kirche aus dem Jahre 1945, Kap. VIII (Landeskirchenarchiv Eisenach, A921, Bl. 85). 64 Wallmann, Vermächtnis, S. 310. 65 Schenk, Jenaer Jesus, S. 234.

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den Deutschen Christen entzogen worden, nachdem er auch in Jena im Rahmen der Entnazifizierungsmaßnahmen 1945 von seiner Professur entlassen worden war. Ab Band VII des »Theologischen Wörterbuchs«, der im Jahr 1964 erschien, finden sich dann aber wieder fünf Artikel von Grundmann. Inzwischen war er längst wieder wissenschaftlich rehabilitiert und hatte anerkannte Kommentare zum Markus- und Lukasevangelium herausgegeben. Ein Kommentar zum Matthäusevangelium sollte 1968 noch folgen. In Eisenach wirkte er seit 1954 als Rektor des Katechetenseminars, ab 1970 dozierte er zusätzlich im Theologischen Seminar der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in der DDR in Leipzig und wurde 1974 in Anerkennung seiner Verdienste von der thüringischen Landeskirche zum Kirchenrat ernannt.66 Georg Bertram, seit 1947 als Pfarrer und ab 1955 mit Lehraufträgen an der Universität Frankfurt am Main tätig, war bereits in dem 1954 herausgegebenen Band V mit sechs Artikeln wieder vertreten. Zu Band VII steuerte er weitere sieben, für Band VIII drei und für Band IX vier Artikel bei. Preisker, der 1947 die Nachfolge Grundmanns als Professor für Neues Testament in Jena antrat, schrieb nach 1945 noch vier Artikel für das ThWNT. Meyer, ebenfalls seit 1947 als Nachfolger von Gerhard von Rad (1901–1971) als Professor für Altes Testament in Jena tätig, verfasste sieben Artikel; Delling, seit 1950 Professor in Halle an der Saale, 19 Artikel. Schneider, der seine Tätigkeit an der Universität nicht weiter fortsetzen durfte, wurde vom Kirchenpräsident der Evangelischen Landeskirche der Pfalz, Hans Stempel (1894–1970), nach dem Krieg nach Speyer geholt, wo er eine Pfarrstelle für gesamtkirchliche Aufgaben bekleidete, bevor er 1961 Leiter der Evangelischen Akademie in Enkenbach in der Pfalz wurde. Seine Forschungen zum Hellenismus und Christentum setzte er auch nach dem Krieg weiter fort, für das ThWNT verfasste er nach 1945 noch einen Artikel. Mit Konrad Weiß (1907–1979), einem Schüler von Erich Seeberg (1888–1945), der ab 1946 als Professor für Neues Testament in Rostock tätig war und 1961 von der Universität Kiel mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet wurde, zählte noch ein weiterer ehemaliger Institutsmitarbeiter mit sechs Artikeln zum Autorenkreis des ThWNT. In Grundmanns Kommentaren nach 1945 werden, wie Torsten Lattki herausgestellt hat, ähnliche antijüdische Konzepte weiterverfolgt, wie dieser sie schon während der Nazizeit vertreten hat.67 Allerdings sind sie weniger offensichtlich,

66 Vgl. Arnhold, »Entjudung«, Band II, S. 755 ff. 67 Torsten Lattki, »Das Bundesvolk kommt um im Gericht«. Der wenig verhüllte Antijudaismus Walter Grundmanns in der DDR. In: Hans-Joachim Döring/Michael Haspel (Hg.), Lothar Kreyssig und Walter Grundmann. Zwei kirchenpolitische Protagonisten des 20. Jahrhunderts in Mitteldeutschland, Weimar 2014, S. 78–92.

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da in den Nachkriegswerken der Bezug zur NS-Rasseideologie fehlt. Weiterhin stellt Grundmann das Christentum gegenüber dem Judentum als überlegene Religion dar und die Einzigartigkeit Jesu wird in seiner Gegensätzlichkeit zum Judentum beschrieben. Letztlich erscheint das Judentum weiterhin nur als eine Art Negativfolie, auf der das von ihm entworfene Jesusbild umso glänzender erstrahlt. Angesichts der Kontinuität in der Mitarbeiterschaft am ThWNT über das Jahr 1945 hinaus, die auch Vertreter des Eisenacher »Entjudungsinstituts« mit einschloss, ist es daher überaus unwahrscheinlich, dass mit der These von der Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Judentum im »Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament« gebrochen wurde. Auch wenn nach 1945 in dem theologischen Standardwerk der innere Zusammenhang des traditionell »theologisch begründeten Antijudaismus« und des »modernen rassischen Antisemitismus«68 weniger offensichtlich ist als noch in den Arbeiten des kirchlichen »Entjudungsinstituts«, so ist trotzdem davon auszugehen, dass die im ThWNT verfolgten antijüdischen Konzepte auch nach der Nazizeit weiter wirkungsmächtig geblieben sind.

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Wallmann, Vermächtnis, S. 311 f. Wallmann beharrt auf einer strengen begrifflichen Trennung von religiösem Antijudaismus und rassistischem Antisemitismus und will sich damit von Susannah Heschel absetzen, die die Unterscheidung für eine Erfindung der Theologen nach 1945 hält, um sich von ihrer Schuld an der Shoa freizusprechen. Auch wenn Heschels These schwerlich zu belegen ist, muss Wallmann gegenüber betont werden, dass sich der säkulare Antisemitismus durchaus aus religiösen Wurzeln speist und viele antisemitische Denkmuster auch heute noch mit religiösen Motiven durchsetzt sind.



Lukas Bormann Gerhard Kittels wissenschaftliche Auslandsbeziehungen und die internationale Rezeption seiner Werke

Der Tübinger Neutestamentler Gerhard Kittel (1888–1948) gehörte neben Rudolf Bultmann (1884–1976) und Martin Dibelius (1883–1947) zu den bedeutendsten Wissenschaftlern der deutschen neutestamentlichen Forschung seiner Generation.1 Während aber zu Bultmann und Dibelius umfangreiche wissenschaftliche Biografien vorliegen, fehlt eine solche zu Kittel.2 Das ist kein Zufall.

Zur Quellenlage Forschungen zu Kittel haben sich mit dem Sachverhalt auseinanderzusetzen, dass die Quellenlage in seinem Fall eine besondere ist. Während zu den übrigen genannten Persönlichkeiten öffentlich zugängliche und archivalisch betreute Nachlässe vorliegen, fehlt ein solcher Nachlass von Kittel, und es ist nach derzeitiger Lage der Dinge auch kein Zugang über Familienangehörige möglich.3 Hinzu kommt der Sachverhalt, dass im Fall Kittels viele Quellen durch Kriegseinwirkung verloren sind. Das Archiv der Universität Leipzig, an der Kittel 1917 zum Privatdozenten und am 1. April 1921 zum Extraordinarius ernannt worden war, wurde fast vollständig zerstört. Sämtliche Unterlagen des Verlags Kohlhammer, der das »Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament« (ThWNT) betreut hat, sind ebenfalls vernichtet.4 Die Forschung zu Kittel ist auf Quellen a­ ngewiesen, die aus 1 2 3 4

Vgl. Hans Lietzmann an Helmuth Kittel am 15.2.1938. In: Kurt Aland (Hg.), Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutsche Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892–1942), Berlin 1979, S. 916 f., Nr. 1041. Hans Bringeland, Religion und Welt. Martin Dibelius (1883–1947), Oslo 2011; Konrad Hamann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 3. Auflage Tübingen 2012. Nachlass Martin Dibelius (Universitätsbibliothek Heidelberg, Hs. 3814); Nachlass Rudolf Bultmann (Universitätsarchiv Tübingen – UAT). Gerhard Friedrich, Vorwort. In: ders. (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Band V, Stuttgart 1954, S. III f., hier III.

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Vorgängen hervorgegangen sind, in die Kittel aufgrund administrativer Erfordernisse eingebunden war. Bis heute ist zudem der Zugang zu einzelnen bekannt gewordenen Schriftstücken, die von Kittel stammten, nicht einfach herzustellen, etwa zum Schriftwechsel zwischen Hans Lietzmann (1875–1942) und Gerhard Kittel. Kurt Aland hat diese Briefe, die ihm 1968 von der Witwe Lietzmanns übergeben worden waren, auf Ersuchen der Erben Kittels ausgespart, obwohl er selbst ihren Gehalt wie folgt einschätzt: »Das bei manchen verzerrte Bild G. Kittels hätte durch den Abdruck der vollständigen Korrespondenz in das richtige Licht gerückt werden können.«5 Elf dieser Briefe sind verwahrt im Institut für neutesta­mentliche Textforschung, Münster, aber ebenfalls aus verschiedenen Gründen unzugänglich.6 Die Briefe könnten Aufschluss über die Überlegungen geben, die zur Übernahme der Herausgeberschaft der »Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft« durch Kittel im Jahr 1944 geführt haben und die Angelika Königs­eder in ihrer Darstellung des Verhaltens des Verlags de Gruyter während der Zeit des Nationalsozialismus (NS) als »Kotau des Verlages vor den Machthabern« bewertet hat.7 In Bezug auf die hier zu behandelnden Auslandsbeziehungen ist zudem da­ rauf zu verweisen, dass angelsächsische Universitäten eine vergleichbare öffentlich-rechtliche archivalische Betreuung der Professorennachlässe nicht kennen. Die »private papers« großer Forscher, mit denen Kittel in Kontakt war, blieben in der Regel privat. Etwas besser ist die Situation in den Niederlanden und in den skandinavischen Ländern. Aufgrund vergleichbarer Rechtsverhältnisse der Universitäten als staatliche Einrichtungen und – was im Fall von Theologie und Kirche bedeutsam ist – auch vergleichbarer staatskirchenrechtlicher Grundprinzipien, liegen dort gelegentlich archivalisch betreute Nachlässe vor, die Aufschluss über die Beziehungen zu deutschen Wissenschaftlern geben, etwa die des Professors für Biblische Exegese in Åbo und späteren Bischofs von Tampere Elis Gideon Gulin (1893–1975), des Professors für Neues Testament an der Universität Leiden Johannes de Zwaan (1883–1957) oder des Professors für Neues Testament an der Universität Amsterdam Frederik Willem Grosheide (1881–1972).8 5 6

7 8

Aland, Glanz und Niedergang, S. X. Holger Strutwolf an Lukas Bormann vom 12.2.2013: »Unsere Recherche im Archiv ergab, dass wir nur elf Briefe aus dem Briefwechsel Kittel–Lietzmann im Institut haben. Es dürfte sich bei diesen nur um einen kleinen und zugleich sehr unerheblichen Teil dieses Briefwechsels handeln. Zugleich hat Kurt Aland ausdrücklich nicht die Erlaubnis der Familie erhalten, diese Briefe zu veröffentlichen oder weiterzugeben.« In einer Auskunft aus dem Jahr 2017 verweist das Institut zudem auf Umbaumaßnahmen und die daraus resultierende Unzugänglichkeit der ausgelagerten Bestände. Angelika Königseder, Walter de Gruyter. Ein Wissenschaftsverlag im Nationalsozialismus, Tübingen 2016, S. 253–255, hier 255. Nachlass E. G. Gulin (Kansallisarkisto [KA] – National Archive of Finnland); Nachlass J. de Zwaan (Universitätsbibliothek Leiden); Nachlass F. W. Grosheide (Historisch Documentatiecentrum voor het Nederlands Protestantisme [HDC], Inv. 111).

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Trotz oder gerade aufgrund dieser Quellenlage ist die wissenschaftliche Literatur, die sich mit Kittel befasst, recht umfangreich. Standen zunächst Fragestellungen zu Kittels theologischer Position in den Auseinandersetzungen zwischen den evangelischen Kirchen und dem NS-Staat und sein Einfluss auf die Tübinger Evangelisch-theologische Fakultät im Mittelpunkt, richtete sich das Interesse zunehmend auf Kittels wissenschaftspolitische Aktivitäten als führender Forscher zur sogenannten »Judenfrage«.9 In den letzten Jahren sind wichtige Arbeiten zu Kittel als Forscher zum antiken Judentum während der Zeit des NS erschienen.10 Die Frage, inwiefern die als wissenschaftlich akzeptierbaren Arbeiten Kittels von seinen ideologisch-propagandistisch verzerrten, aber doch immer im Gewand rationaler, kritischer und ergebnisoffener Forschungen auftretenden Schriften abzugrenzen sind, wird sehr detailliert behandelt und führte zu grundsätzlichen Überlegungen zur Unterscheidung von Wissenschaft und Pseudowissenschaft.11 Auch sein wissenschaftspolitisches Wirken ist durch überraschende Funde von Quellen, die aus der Feder Kittels stammen, neu erforscht worden.12 Schließlich sind Teile der Entnazifizierungsunterlagen Kittels als Quelle genutzt, wenn auch nicht systematisch und gattungsadäquat erschlossen worden.13 Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich dort, wo sie nicht eigene Quellen anführen können, bezüglich biografischer Daten aus dem Leben Kittels auf die biografischen Skizzen von Leonore Siegele-Wenschkewitz sowie von Otto Merk und Matthias Morgenstern.14    9

Leonore Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage. Gerhard Kittels theologische Arbeit im Wandel deutscher Geschichte, München 1980; dies., Gerhard Kittel und die Judenfrage. In: Eberhard Jüngel (Hg.), Tübinger Theologie im 20. Jahrhundert, Tübingen 1978, S. 53–80; Karl W. Schwarz, »Grenzburg« und »Bollwerk«. Ein Bericht über die Wiener Evangelisch-theologische Fakultät in den Jahren 1938–1945. In: Leonore Siegele-­ Wenschkewitz/Carsten Nicolaisen (Hg.), Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus, Göttingen 1993, S. 361–389, hier 374–377. 10 Alan E. Steinweis, Studying the Jew. Scholarly Antisemitism in Nazi Germany, Cambridge, MA 2006, S. 66–76; Horst Junginger, Die Verwissenschaftlichung der »Judenfrage« im Nationalsozia­ lismus, Darmstadt 2011, S. 133–175; Dirk Rupnow, Judenforschung im Dritten Reich. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, Baden-Baden 2011, S. 55–57. 11 Steinweis, Studying, S. 18–22; Rupnow, Judenforschung, S. 388–422; ders., »Pseudowissenschaft« als Argument und Ausrede. Antijüdische Wissenschaft im »Dritten Reich« und ihre Nachgeschichte. In: ders. (Hg.), Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2008, S. 279–307. 12 Lukas Bormann, »Sie sagen Christus und meinen Weltherrschaft«. Stereotypen im Englandbild des deutschen Protestantismus am Beispiel der Englandschriften von Martin Dibelius und Gerhard Kittel. In: Angermion, 6 (2013), S. 85–99; ders., »Auch unter politischen Gesichtspunkten sehr sorgfältig ausgewählt«: Die ersten deutschen Mitglieder der Studiorum Novi Testamenti Societas (SNTS) 1937–1946. In: New Testament Studies, 58 (2012), S. 416–452. 13 Robert P. Ericksen, Complicity in the Holocaust. Churches and Universities in Nazi Germany, Cambridge 2012, S. 167–235. 14 Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft, S. 47–50; Otto Merk, Die Evangelische Kriegsgeneration. In: Roland Gebauer (Hg.), Otto Merk. Wissenschaftsgeschichte und Exegese.

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Der Vater Rudolf Kittel Die knapp skizzierte Quellenlage gilt in ähnlicher Weise auch für Rudolf Kittel (1853–1929), den Vater von Gerhard Kittel. Rudolf Kittel wirkte von 1898 bis 1924 als Ordinarius für das Alte Testament an der Universität Leipzig. In den Jahren 1917/18 sowie 1918/19 hatte er zudem das Rektorat inne. Der Einfluss des Vaters auf die wissenschaftliche Karriere des Sohnes wird über die familiäre Bindung hinaus auch kollegiale wie behördliche Interventionen umfasst haben, die sich aber aufgrund der eingangs erläuterten Quellenlage zu Rudolf und Gerhard Kittel nur teilweise näher analysieren lassen.15 In der Darstellung der internationalen wissenschaftlichen Bedeutung Kittels wird auch im Folgenden mehrfach gezeigt, wie sehr der Vater die wissenschaftliche Entwicklung des Sohnes bestimmt hat bzw. wie der Sohn den Ruhm des Vaters immer wieder für sich einzusetzen suchte. Rudolf Kittel war ein weltberühmter und überaus anerkannter Alttestamentler.16 Der amerikanische Alttestamentler, Orientalist und Archäologe William Foxwell Albright (1891–1971) ehrte den Vater Kittels mit der Bezeichnung »in his time the most eminent Old Testament Scholar in Germany«.17 Im Jahr 1922 ernannte ihn die Society for Biblical Studies zu ihrem Ehrenmitglied.18 Die Leipziger Universität hatte zudem vor dem Ersten Weltkrieg international einen herausragenden Ruf in Bezug auf Sprachforschungen, an dem die Mitglieder der Theologischen Fakultät führend beteiligt waren. An der Fakultät wirkte von 1912 bis 1914 als erster Professor für Religionswissenschaft der spätere Erzbischof von Uppsala und Organisator der Weltkirchenkonferenz in Stockholm

Band 2: Gesammelte Aufsätze 1998–2013, Berlin 2015, S. 3–68, hier 34–40; Matthias Morgenstern, Von Adolf Schlatter zum Tübinger Institutum Judaicum. In: ders./Reinhold Rieger (Hg.), Das Tübinger Institutum Judaicum, Stuttgart 2015, S. 11–147, hier 46–67. 15 Vgl. Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft, S. 47, Fn. 10. 16 Vgl. Rudolf Smend, Rudolf Kittel (1853–1929). In: Theologische Zeitschrift, 55 (1999), S. 326– 353; ders., Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft, Göttingen 2017, S. 454–481; Dietmar Mathias, Das Alte Testament in Lehre und Forschung an der Theologischen Fakultät Leipzig. In: Andreas Gößner (Hg.), Die theologische Fakultät der Universität Leipzig. Personen, Profile und Perspektiven aus sechs Jahrhunderten Fakultätsgeschichte, Leipzig 2005, S. 371–420, hier 418–420; Zev Garber, Art. Kittel, Rudolph [sic!]. In: Encyclopedia Judaica, Band 10, Jerusalem 1971, Sp. 1079 f. 17 William F. Albright, Gerhard Kittel and the Jewish question in antiquity. In: ders., History, Archaeology and Christian Humanism, New York 1964 [Orig. 1951], S. 229–240, hier 229. 18 Vgl. Matthew A. Collins, SOTS, SBL and WWI: Anglo-American Scholarly Societies and the Great War. In: Andrew Mein/Nathan MacDonald/Matthew A. Collins (Hg.), The First World War and the Mobilization of Biblical Scholarship, London 2018, S. 89–108, hier 101; SBL, Proceedings December, 1922. In: Journal of Biblical Literature, 42 (1923), S. I–VI, hier II: »Also on nomination of the council the following honorary members were elected: Professor Rudolf Kittel, Ph. D., Leipzig, Germany«.

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1925 Nathan Söderblom (1866–1931).19 Das Ehepaar Söderblom und Kittel hatten 1920 veranlasst, dass »100 sächsische hungernde Kinder für einige Monate nach Schweden eingeladen wurden«.20 Söderbloms wohnten bis 1925 bei Aufenthalten in Leipzig im »gastfreien« Hause Kittel.21 Anna Söderblom berichtet 1940, der 1929 verstorbene Rudolf Kittel habe häufig Schweden besucht und dort viele Freunde gewonnen. Auch wenn aufgrund der skizzierten Quellenlage nur wenige verlässliche Aussagen über die Einbeziehung des Sohnes Gerhard in die internationalen Netzwerke des Vaters gemacht werden können, ist davon auszugehen, dass Gerhard Kittel weit mehr als andere Fachkollegen seiner Generation, vermittelt über den Vater und durch eigene Anschauung, ein Gespür für die Besonderheiten internationaler Forschungskontakte in Theologie und kirchlicher Ökumene gewinnen konnte. Zudem wird er am Beispiel der Forscherkooperation rund um die Biblia Hebraica recht anschaulich die Erfordernisse komplexer Wissenschaftsorganisationen miterlebt haben. Der wichtigste judaistische Lehrer des jungen Kittel, der Rabbinica-Spezialist und Extraordinarius für Judaistik (ab 1921) an der Leipziger Universität Israel I. Kahan (1885–1924), war vom Vater an das alttestamentliche Institut der Universität Leipzig geholt worden.22 Kittel verweist im Vorwort zur ersten Lieferung der Übersetzung und Erklärung der Sifre zu Deuteronomium im Jahr 1922 auf die »jahrelange Arbeitsgemeinschaft des Unterzeichneten mit seinem Lehrer und Freunde Israel I. Kahan«, die nach dieser Information mindestens bis zum Jahr 1913 zurückreicht.23 Man wird auch sagen können, dass der Sohn an die Forschungsinteressen zum antiken Judentum, die der Vater gegen Ende seiner wissenschaftlichen Karriere entwickelt hatte, angeknüpft hat.24 In seiner 19 Vgl. Dietz Lange, Nathan Söderblom und seine Zeit, Göttingen 2011, S. 220–223; ders. (Hg.), Nathan Söderblom Brev – Lettres – Briefe – Letters. A Selection from his Correspondence, Göttingen 2006, S. 154–158. 20 Lange, Nathan Söderblom, S. 221. 21 Anna Söderblom, Erinnerungen an Leipzig 1912–1914. In: Nachrichten der Lutherakademie Sondershausen, Dezember 1940, Heft 24, S. 8–14. 22 Gerhard Kittel, Die Oden Salomos. Überarbeitet oder einheitlich? Mit 2 Beilagen: I. Bibliographie der Oden Salomos. II. Syrische Konkordanz der Oden Salomos, Leipzig 1914, S. III. Zu Israel Kahan vgl. Timotheus Arndt, Bemerkungen zum Studium des Judentums unter Franz Delitzsch, Rudolf Kittel und Johannes Leipoldt. Ein Zwischenbericht. In: Leqach, 6 (2005), S. 153–172, hier 158–161; Dietmar Mathias, Das Alte Testament in Lehre und Forschung an der Theologischen Fakultät Leipzig. In: Gößner (Hg.), Die theologische Fakultät der Universität Leipzig, S. 371–420, hier 402–404; Markus Hein/Helmar Junghans (Hg.), Die Professoren und Dozenten der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig von 1409 bis 2009, Leipzig 2008, S. 219. 23 Sifre zu Deuteronomium Lieferung 1, übersetzt und erklärt von Gerhard Kittel, Stuttgart 1922, S. I. 24 Johannes Hempel, Rudolf Kittel. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, 84 (1930), S. 78–93, hier 89.

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a­ utobiografischen Skizze hatte Rudolf Kittel mitgeteilt, seine Interessen hätten sich immer mehr dem Judentum zugewandt, und er plane »die Fortführung der Studien über das Judentum zu einer zusammenhängenden Geschichte desselben«.25 In diesem Zusammenhang ist jedoch auch darauf hinzuweisen, dass der Vater politisch wie theologisch deutlich andere Sichtweisen als sein Sohn vertrat. 1930 notierte Johannes Hempel (1891–1964) in seinem Nachruf auf den Kollegen, Rudolf Kittel sei »für demokratische Ideen aufgeschlossen gewesen«.26 Als Rektor hatte er die studentische Mitbestimmung bei der Rektoratswahl durchgesetzt.27 Am 29. Juni 1922 hatte der Emeritus Kittel angesichts der Weigerung des amtierenden Rektors die Aufgabe übernommen, eine Gedenkrede zum Tod Walther Rathenaus zu halten.28 Allerdings war auch Rudolf Kittel von der Exklusivität der Forschung überzeugt: »Die Wissenschaft als solche ist ein ausschließlich aristokratisches Unternehmen […]. Denn der Kreis der Gelehrten ist eine Oligarchie der Erleuchteten. Nur eine erlesene Schar der dafür Begnadeten kann der Forschung wirklich dienen.«29 Die Quellenlage lässt es derzeit nicht zu, eine quellenbasierte und differenzierte Sicht des Verhältnisses des Vaters zum Sohn vorzustellen. Man wird jedoch sagen können, dass der Vater eher eine politisch liberale Weltsicht mit einer gewissen Offenheit gegenüber Arbeiterbewegung und Demokratie innehatte.30 Der Sohn stand hingegen schon recht früh rechtskonservativen Kreisen nahe und war Mitglied des antisemitisch geprägten Vereins Deutscher Studenten zu Tübingen, dessen 50-jährigem Bestehen die Schrift »Die Judenfrage« von 1933 gewidmet ist.31 Die mir von Professor Otto Merk, Erlangen, mitgeteilte Einschätzung des Erlanger 25

Rudolf Kittel, Autobiographie. In: Erich Stange (Hg.), Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Band 1, Leipzig 1925, S. 113–144, hier 142 f. 26 Hempel, Rudolf Kittel, S. 89. 27 Vgl. Ulrich von Hehl, Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Band 3: Das zwanzigste Jahrhundert 1909–2009, Leipzig 2010, S. 76, 87 und 104 f. 28 Vgl. Rudolf Kittel, Rede bei der Trauerfeier der Universität Leipzig für Walther Rathenau. In: Akademische Nachrichten – Leipziger Hochschulzeitung vom 6.7.1922, S. 28 f. 29 Rudolf Kittel, Die Universität Leipzig und ihre Stellung im Kulturleben, Dresden 1924, S. 41. 30 Vgl. Lukas Bormann, Between prophetic critique and raison d’état. Rudolf Kittel on German Jews during the Great War and on Old Testament Hebrews in Biblical Wars. In: Andrew Mein/ Nathan MacDonald/Matthew A. Collins (Hg.), The First World War and the Mobilization of Biblical Scholarship, London 2019, S. 49–67, hier 49–55. 31 Gerhard Kittel, Die Judenfrage, Stuttgart 1933, S. 3. Vgl. Martin Rese, Antisemitismus und neutestamentliche Forschung. In: Evangelische Theologie, 39 (1979), S. 557–570, hier 564. Auch die Publikation Gerhard Kittel, Jesus und die Juden, Berlin 1926, erschien als Heft 42 in der Reihe »Stimmen aus der deutschen christlichen Studentenbewegung«, die sich ausdrücklich die Aufgabe gestellt hatte, »vom Standpunkt des biblischen Christentums zur völkischen Frage Stellung« zu nehmen. Ebd., S. 2. Zur Gründung des Vereins Deutscher Studenten und dessen erster konkreter Zielsetzung, »die Beseitigung von Juden in studentischen Gremien«, vgl. Norbert Kampe, Studenten und »Judenfrage« im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, Göttingen 1988, S. 125–132, hier 127.

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Alttestamentlers Friedrich Baumgärtel (1888–1981), der mit Gerhard Kittel befreundet und Assistent Rudolf Kittels war, der Vater Kittel habe sich spöttisch über die antisemitischen Ansichten des Sohnes geäußert, kann, solange Baumgärtels Memoiren nicht veröffentlicht sind, als eine immerhin plausible Verdichtung von Erinnerungen Baumgärtels aus einer Perspektive der Zeit nach 1945 gelten.32 Die Promotion des Sohnes aus dem Jahr 1913 ist in der 1908 vom Vater begründeten und herausgegebenen wissenschaftlichen Reihe »Beiträge zur Wissenschaft vom Alten Testament« als Band 16 im Jahr 1914 erschienen.33 Der Sohn führte die Reihe ab 1926 unter dem erweiterten Titel »Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament« als Herausgeber weiter.34 Rudolf Kittel erläutert die Umbenennung in einer Vorbemerkung zum ersten Heft der umbenannten Reihe mit dem Hinweis, »dass die Grenzlinien zwischen den Forschungen zum Alten und Neuen Testament und der beide umgebenden Religionsgeschichte immer fließender geworden sind«.35 Genau an diesem Punkt des Forschungstandes der Bibelwissenschaft, wie er sich dem Vater Kittel darstellte, berühren und befruchten sich in den 1920er-Jahren die Arbeiten von Vater und Sohn. Gerhard Kittel erwähnt im Vorwort zum ersten Band des Theologischen Wörterbuchs, der Vater habe die Liste der alttestamentlichen Begriffe, die im Wörterbuch zu berücksichtigen seien, kurz vor seinem Tod ausgewählt.36 Der Vater Rudolf Kittel hat erheblichen Druck sowie wirksamen Einfluss auf den Entwicklungsgang des Sohnes ausgeübt. Die berufliche Ausrichtung des Sohnes, die Wahl seines wissenschaftlichen Schwerpunkts, das Forschungsgebiet antikes Judentum (damals: »Spätjudentum«), und schließlich auch die ersten Schritte im akademischen Leben waren vom Vater beeinflusst, wenn nicht gar bestimmt. Auch die bedeutendste wissenschaftliche Leistung des Sohnes, die ­Herausgabe des ThWNT, verdankte sich in Teilen der Expertise des Vaters. 32

33 34 35 36

Baumgärtels Bibliothek wurde von der Universität Bayreuth übernommen, sodass dort bis heute die Werke Gerhard Kittels mit Widmung des Autors und Namenseintrag Baumgärtels zugänglich sind. Baumgärtel gab bereits Helmut Heiber Auskunft. Vgl. Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Teil II: Die Kapitulation der hohen Schulen: das Jahr 1933 und seine Themen, Band 2, München 1994, S. 248. Nach Auskunft des Archivs des Instituts für Zeitgeschichte vom 3.6.2014 sind im Nachlass Heiber »keine Unterlagen über seine Projekte (Mitschriften, Gesprächsprotokolle, Notizen) überliefert« und auch kein Schriftwechsel mit Friedrich Baumgärtel auffindbar. Vgl. die Notizen über ausführliche Gespräche mit Baumgärtel in: Siegele-Wenschkewitz, Neutesta­mentliche Wissenschaft, S. 47, Fn. 10; Merk, Evangelische Kriegsgeneration, S. 34, Fn. 130. Kittel, Oden Salomos. Ab Folge 3, Heft 1 = Heft 37 als »Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament«. Der erste Titel nach der Umbenennung ist nicht zufällig von Kittel selbst: Gerhard Kittel, Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Urchristentum, Stuttgart 1926. Rudolf Kittel, Vorbemerkung zur 3. Folge der Beiträge. In: Kittel, Probleme, o. S., Klappentext. Vgl. Gerhard Kittel, Vorwort. In: ders. (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Band I, Stuttgart 1932/33, S. V–VII, hier VI.

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Kittels Auslandsbeziehungen vor 1933 Die dem Autor zugänglichen Informationen zu den Auslandsbeziehungen Kittels beginnen mit einem Brief Kittels an den Amsterdamer Professor für Neues Testa­ ment Frederik W. Grosheide im September 1922, in dem er diesen um Unterstützung für die Drucklegung eines Werkes bittet.37 Geschickt verweist Kittel in dem Schreiben darauf, dass auch »Erzbischof Söderblom an dem Werke starkes Interesse nimmt«.38 Im Frühjahr 1924 forschte Kittel auf Einladung Grosheides mehrere Wochen in Amsterdam. Er hielt dort Vorlesungen und arbeitete sowohl in der Universitätsbibliothek als auch in der dieser angegliederten jüdischen Spezialsammlung Bibliotheca Rosenthaliana.39 Er habe sich dort ein Bild von der »Kriegs- und Nachkriegsliteratur des Auslandes« verschafft.40 Die aus diesen Arbeiten hervorgegangene Schrift widmete Kittel wiederum seinem Lehrer in Rabbinica Israel Kahan. Die Widmung des Jahres 1926 verband er mit dem Verweis auf Joh 1,47: »ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist«. Der Widmung des Jahres 1926 liegt eine Unterscheidung zwischen guten und schlechten jüdischen Menschen zugrunde, die für die ambivalente Haltung Kittels zum Judentum bezeichnend ist. Zu britischen Kollegen hatte Kittel seit 1927 wissenschaftliche Beziehungen aufgenommen. Er war Mitglied einer vom Bischof von Chichester George K. Bell (1883–1958) und Adolf Deißmann (1866–1937) geleiteten ökumenischen Forschergruppe zur Christologie, die sich im Mai 1927 und Oktober 1928 auf der Wartburg versammelt hatte.41 Der Titel von Kittels Vortrag lautete: »Der ›historische Jesus‹«. Von britischer Seite nahmen neben Bischof Bell Wissenschaftler und Theologen aus Cambridge, Manchester und Oxford teil: Charles Harold Dodd (1884–1973), Edwyn Clement Hoskyns (1884–1937), John Martin Creed (1889 –1940), John Kenneth Mozley (1883–1976), Nathaniel Micklem (1888– 1976) und Alfred Edward John Rawlinson (1884–1960). Die dort geschlossenen

37 Kittel an Grosheide vom 30.11.1922 (HDC, Inv. 111, K 134). Der Briefwechsel umfasst etwa 62 Briefe Kittels und weitere Unterlagen, die in einer eigenen Publikation vertieft ausgewertet werden sollen. 38 Ebd. 39 Vgl. Kittel, Probleme, S. 1. Die Bibliotheca Rosenthaliana wurde während der deutschen Besatzung vom Einsatzstab Rosenberg geraubt und in Hungen (Oberhessen) deponiert. Sie konnte nach dem Krieg wieder zurückgeführt werden. Vgl. Herman de la Fontaine Verwey, The Bibliotheca Rosenthaliana during the German Occupation. In: Irene E. Zwiep (Hg.), Omnia in Eo. Studies on Jewish Books and Libraries in Honour of Adri Offenberg. Celebrating the 125th Anniversary of the Bibliotheca Rosenthaliana in Amsterdam, Louvain 2006, S. 61–71. 40 Kittel, Probleme, S. 1. 41 Vgl. George Kennedy Bell/Adolf Deißmann (Hg.), Mysterium Christi. Christologische Studien britischer und deutscher Theologen, Berlin 1931; englische Ausgabe: dies. (Hg.), Mysterium Christi. Christological studies by British and German theologians, London 1930.

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Kontakte wirkten sich später erheblich auf die Rezeption der Arbeiten Kittels aus. Aus diesen englisch-deutschen Beziehungen ging auch der Austausch zwischen Theologiestudierenden des Tübinger Stifts und des Queen’s College Birmingham zwischen 1934 und 1939 hervor.42 Eine noch wichtigere Folge dieser Kontakte zu britischen Neutestamentlern und Theologen war die Einladung Kittels durch Hoskyns zu Gastvorlesungen nach Cambridge im Jahr 1937.43 Hoskyns’ 1931 auf Englisch erschienenes Buch über »The Riddle of the New Testament« wurde auf Wirken Kittels ins Deutsche übersetzt und von ihm gemeinsam mit Julius Schniewind (1883–1948) mit einem überschwänglichen Vorwort versehen.44 Die Beziehungen nach Großbritannien waren demnach schon vor 1933 eng. Die Theologie in den USA spielte damals wissenschaftlich nur eine geringe Rolle. Kittel selbst behauptet in seiner Verteidigungsschrift im Jahr 1946, er hätte eine Einladung in die USA zu Vorträgen aus gesundheitlichen Gründen abgelehnt.45 Ericksen hält das für glaubwürdig.46 Neben Großbritannien waren die skandinavischen Länder von besonderer Bedeutung für Auslandskontakte deutscher Theologen. Das gemeinsame lutherische Bekenntnis und die sprachliche Nähe sowie der starke Einfluss der deutschen Wissenschaften auf die skandinavischen Universitäten spielten dabei eine Rolle. So war es nicht ungewöhnlich, dass Kittel im Jahr 1931 Vorlesungen in Kopenhagen, Lund und Uppsala hielt.47 Die Vorlesungen, die Kittel in Uppsala auf Einladung der Olaus-Petri-Stiftung vom 26. bis 29. Oktober 1931 hielt, wurden 1932 gedruckt.48 In diese Zeit muss auch Kittels Mitwirkung an der Besetzung des Lehrstuhls für Exegese in Lund gefallen sein. Kittel hatte sich für Hugo Odeberg (1898–1973) eingesetzt, der den Lehrstuhl von 1933 bis 1964 innehatte. Neben der fachlichen Nähe zu den Arbeiten Kittels spielten aber auch gemeinsame Überzeugungen auf anderen Gebieten eine Rolle. Odeberg stand dem NS

42

Vgl. Rainer Lächele, Begegnung junger englischer und deutscher Theologen 1934–1939. Briefe des Tübinger Dozenten Albrecht Stumpff. In: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte, 49 (1990), S. 393–418, hier 394 f. 43 Vgl. Mitteilung vom 7.12.2017 an den Autor von Professor Robert Morgan, Universität Oxford. 44 Gerhard Kittel/Julius Schniewind, Vorwort zur deutschen Ausgabe. In: Edwyn Hoskyns/Noel Davey, Das Rätsel des Neuen Testaments, Stuttgart 1938, S. V: »Die beiden Unterzeichneten haben sich für diese deutsche Ausgabe eingesetzt, weil sie kein Buch kennen, das in so geschlossener und eindrücklicher Weise die Lage der neutestamentlichen Wissenschaft nach einem Jahrhundert historisch-kritischer Forschung beschreibt.« 45 Vgl. Gerhard Kittel, Meine Verteidigung, erweiterte 2. Fassung 1946, S. 3 (UAT, 162/31). 46 Vgl. Robert P. Ericksen, Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München 1986, S. 48. 47 Vgl. Gerhard Kittel an Frederik Grosheide vom 9.1.1932 (HDC, Inv 111, K 148). 48 Gerhard Kittel, Die Religionsgeschichte und das Urchristentum. Vorlesungen der Olaus-Petri-­ Stiftung gehalten in der Universität zu Uppsala 26.–29. Oktober 1931, Gütersloh 1932.

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nahe, war mit Kittel befreundet und kooperierte während des Krieges mit Walter Grundmanns »Institut zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«, zu dem Kittel selbst Abstand wahrte.49 In den Jahren zwischen 1932 und 1944 fanden in der Lutherakademie Sondershausen ökumenische Tagungen lutherischer Theologen statt.50 Die Tagungskosten für diese in der Regel 14-tägigen »Sommerakademien« wurden teilweise vom Kirchlichen Außenamt der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) und vom Propagandaministerium übernommen.51 Neben Kittel und Odeberg trugen dort u. a. die Neutestamentler Frederik E. Torm (1870–1953), Kopenhagen, Elis Gideon Gulin, Helsinki, und Raffael Gyllenberg (1893–1982), Åbo, vor. Mit Kriegsbeginn verschärften sich die Spannungen zwischen den Theologen im besetzten Norwegen und Dänemark einerseits, dem neutralen Schweden und schließlich Finnland, das ab 1941 eine Waffenbruderschaft mit Deutschland eingegangen war, andererseits.52 Kittel schlug Odeberg 1941 dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda als internationalen Gutachter für den geplanten, aber nie durchgeführten Schauprozess gegen den Attentäter Herschel Grynszpan (1921 – Todesdatum unbekannt) vor.53 Dieser Prozess solle nach Absicht des Propagandaministeriums erweisen, »dass auch der gegenwärtige Krieg ein Werk der Juden ist«.54 Kittel wollte die abgründige Gefährlichkeit des Judentums und besonders den Einfluss des Buches Esther und des Purimfestes auf die Tat Grynszpans in einem wissenschaftlichen Gutachten nachweisen.55

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Vgl. Oliver Arnhold, »Entjudung« – Kirche im Abgrund, Band 2: Das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« 1939–1945, Berlin 2010, S. 618–628. 50 Vgl. Hans Mikosch, Systematisch-theologische Überlegungen zur Zeit- und Wirkungsgeschichte der Luther-Akademie (Sondershausen) unter besonderer Berücksichtigung ihrer wissenschaftlichen Leiter Carl Stange und Rudolf Hermann von 1932–1962, Diss. (A) Jena 1993, S. 6–29. Vgl. den ergänzten Neudruck: Hans Mikosch, Trotz Hakenkreuz und Ährenkranz. Der Weg der Luther-Akademie Sondershausen in den Jahren 1932–1962, Neuendettelsau 2005. Martin Seils/Dorothea Ott (Hg.), Die Luther-Akademie Sondershausen. Eine Dokumentation, Münster 2003. 51 Vgl. Torleiv Austad, Nordische Kirchen. In: Joachim Heubach (Hg.), Aufbruch und Orientierung. Zur Gegenwart der Theologie Luthers, Erlangen 2000, S. 11–29, hier 20–25; Gerhard Besier, Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 3: Spaltungen und Abwehrkämpfe 1934–1937, Berlin 2001, S. 283 f. 52 Vgl. Austad, Nordische Kirchen, S. 23–25; Eino Murtorinne, Die finnisch-deutschen Kirchenbeziehungen 1940–1944, Göttingen 1990, S. 89–123. 53 Vgl. Dr. Schmid-Burgk an MR Diewerge vom 31.12.1941 zum vorläufigen Bericht von Prof. Kittel zum Fall Grünspan (BArch, R 55/628, Bl. 26f.). 54 Ebd. Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung, S. 287–297. 55 Gutachten von Prof. Kittel, Wien, über Grynszpan, 1941 (BArch, R 55/628).

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Man wird also recht sehen, dass Kittel bereits vor 1933 ein relativ dichtes wissenschaftliches Netzwerk ausgebildet hatte, das ihn mit schwedischen, niederländischen, britischen und amerikanischen Wissenschaftlern in Kontakt und teilweise intensiven Austausch gebracht hatte. Diese Kontakte versuchte Kittel auch für seine offen judenfeindlichen Forschungen nach 1933 zu nutzen. Jedenfalls war Kittel in der internationalen Wissenschaftlergemeinschaft der evangelischen Theologen, der Bibelexegeten beider Konfessionen und der Judaisten kein unbeschriebenes Blatt mehr, als im April 1932 die erste Lieferung des ThWNT erschien. Mit diesem Werk ist der Name Kittels bis heute verbunden (»Der Kittel«).

Kittels internationaler Durchbruch: Das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament (1932/33) Erste Überlegungen zur Konzeption des Wörterbuchs wird Kittel ab 1927 angestellt haben. In diesem Jahr spricht ihn der Kieler Neutestamentler Julius Kögel (1871–1928) an, ob er das »Biblisch-theologische Wörterbuch der neutestamentlichen Gräcität« von Hermann Cremer (1834–1903) weiterführen wolle.56 Cremer hatte 1902 noch die 9. Auflage besorgt, Kögel selbst 1915 und 1923 die 10. und 11. Auflage. Das Wörterbuch war innerhalb der Grenzen seiner Konzeption, die sich auf die Gräzität konzentrierte, ständig erweitert und weiterentwickelt worden.57 Kögel sah es als Mangel an, dass das Wörterbuch die Rabbinica nicht genügend berücksichtigte.58 Kittel war unter diesem Gesichtspunkt tatsächlich einer derjenigen Theologen in Deutschland, die für die Aufgabe, rabbinische Texte in ein theologisches Wörterbuch zu integrieren, die notwendige Fachkompetenz mitbrachten. Kittel begann im November 1928 mit den Vorarbeiten, in die er sofort seinen Vater und weitere Wissenschaftler, u. a. Grosheide, mit einbezog.59 Anders als Cremer und Kögel, die einzelne Lexeme behandelt hatten, sah Kittel eine Ordnung nach gemeinsamer Wurzel und damit Wortfamilien sowie Wortkreisen vor und folgte damit dem Stand der Lexikografie dieser Zeit.60 Kittel gelang es, zahlreiche Fachgelehrte aus Deutschland und der Schweiz zur ­Mitarbeit

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Gerhard Friedrich, Zur Vorgeschichte des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament. In: ders. (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Band 10, Stuttgart 1978, S. 1–52, hier 39; Hermann Cremer, Biblisch-theologisches Wörterbuch der neutestamentlichen Gräcität, Gotha 1866. 57 Hermann Cremer/Julius Kögel, Biblisch-theologisches Wörterbuch der neutestamentlichen Gräcität, 11. Auflage Gotha 1923. 58 Vgl. Friedrich, Vorgeschichte, S. 39 f. 59 Vgl. Kittel an Grosheide am 27.12.1927 (HDC, Inv. 11, K 166). Vgl. Friedrich, Vorwort, S. III. 60 Vgl. Friedrich, Vorgeschichte, S. 40.

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zu bewegen. Aus dem Ausland wird neben Grosheide auch Arthur Darby Nock (1902–1963) genannt, der mit Literaturhinweisen behilflich gewesen sei.61 Die Artikel wurden von ihm und einem Kreis von studentischen Mitarbeitern und Doktoranden Korrektur gelesen. Sie zirkulierten unter den mit einem Wortstamm befassten Beiträgern, deren Bemerkungen dann der Hauptverfasser berücksichtigen konnte. Gelegentlich zog Kittel Korreferenten heran. Im Rahmen der Vorbereitungen für das Wörterbuch schreibt Kittel an Rudolf Bultmann: »Ich möchte, dass die Manuskripte von vier Spezialisten gelesen werden.«62 Unter diesen Spezialisten ist als ausländischer Wissenschaftler Thomas Walter Manson (1893–1958), Professor in Oxford und ab 1936 in Manchester, zu nennen.63 Bereits lange vor der ersten Lieferung des neuen theologischen Wörterbuchs am 1. April 1932 hatte Kittel auf dessen Erscheinen hingewiesen und die internatio­nale Fachwelt über dieses Projekt informiert. Die erste Lieferung wurde demnach bereits vor ihrem Erscheinen im In- und Ausland mit großer Spannung erwartet. Die Reaktionen waren sehr positiv. Einer der schärfsten Kritiker des Wörterbuchs von Cremer/ Kögel, Adolf Deißmann, beglückwünschte Kittel zur ersten Lieferung in einem Brief vom 13. April 1932 und konstatierte, dass im Wörterbuch nun »der Rhythmus der Gegenwartswissenschaft überall kräftig zu spüren ist«.64 Der Erfolg rief auch Neider auf den Plan. Hans Lietzmann, der Nestor der neutestamentlichen Wissenschaft aus der älteren Generation, hatte sich nicht beteiligt. Im Januar 1934 weiß er zu berichten, dass das Wörterbuch 4 000 Abonnenten habe und er gedenke, die Konzeption seines Handbuchs zum Neuen Testament nach diesem Vorbild etwas anzupassen und »eine theologische Vertiefung der Exegese« anzustreben.65 Kittel notiert in seiner Verteidigungsschrift aus dem Jahr 1946, dass das Wörterbuch »in einer Auflage von 9 000 Exemplaren in der ganzen Welt verbreitet ist«.66 Die vor Erscheinen des Wörterbuchs geknüpften Kontakte bilden nun die Basis für die bald einsetzenden Übersetzungen ins Englische. Über den Stand der Planungen wurde Kittel nach eigener Aussage in einem letzten Brief vor dem Kriegseintritt der USA von einem amerikanischen Kollegen 1941 informiert.67 Zunächst wurde eine Reihe konzipiert, in der ausgewählte Begriffe übersetzt werden sollten. Sie trug den Namen »Bible Key Words from Gerhard Kittel’s Theo-

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Vgl. Kittel, Vorwort, S. VII. Gerhard Kittel an Rudolf Bultmann vom 10.5.1929 (UAT, Nachlass Bultmann, Mn 2 1135). Vgl. Friedrich, Vorwort. S. IV. Friedrich, Vorgeschichte, S. 41. Hans Lietzmann an Martin Dibelius vom 18.1.1934. In: Aland, Glanz und Niedergang, S. 756, Nr. 851. Kittel, Meine Verteidigung, S. 3. Vgl. ebd.

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logisches Wörterbuch zum Neuen Testament«.68 Kittel war es mit dem Titel, in dem sein Name genannt wurde, gelungen, die internationale Wahrnehmung des Gemeinschaftswerks der deutschsprachigen Alt- und Neutestamentler seiner Generation aufs Engste mit seinem Namen zu verbinden. Der erste Band war bereits vor dem Krieg geplant worden, konnte aber erst 1949 erscheinen. Der Übersetzer John Rider Coates (1879–1956) stand mit Kittel bis 1938 in Briefkontakt und gehörte dann auch zu den wichtigsten Unterstützern seiner angestrebten Rehabilitation nach 1945. Die Reihe mit Schlüsselbegriffen brachte bis 1965 14 Bände hervor.69 An ihre Stelle trat dann die vollständige Übersetzung des gesamten Wörterbuchs ins Englische durch den Verlag Eerdmans Publishers, dessen erster Band im Jahr 1964 erschien.70 Die Bedeutung des Wörterbuchs für die internationale neutestamentliche Forschung und Theologie ist vielfach beschrieben worden. Sie wird aber vielleicht am unverdächtigsten aus einer unscheinbaren Briefnotiz eines englischen Gelehrten aus Oxford ersichtlich. Robert Henry Lightfoot (1883–1953) nahm nach dem Krieg den Kontakt mit Bultmann wieder auf. In seinem ersten Brief fragte er nach dem Fortschritt des Wörterbuchs, das er als »the very valuable Kittel Wörterbuch« bezeichnete.71 Im Frühjahr überstellte Lightfoot von den aus Marburg vertriebenen und inzwischen in Oxford etablierten ehemaligen Kollegen Bultmanns, den Professoren Paul Jacobsthal (1880–1957) und Eduard Fränkel (1888–1970), Grüße, teilte aber ebenfalls mit, dass er Band IV des Wörterbuchs benötige, und fragte an, ob Bultmann ihm diesen vermitteln könne.72 In den Nachkriegsjahren dominiert das nun von Kittel unabhängig gewordene und von seinem Schüler Gerhard Friedrich (1908–1986) herausgegebene Wörterbuch die exegetische Lehre und Forschung. Manche neutestamentliche Lehrveranstaltung bestand nach der Erfahrung der Generation des Autors dieses Beitrags darin, das Wörterbuch »hoch und runter« zu studieren. Ende der 1970er-Jahre geriet das Wörterbuch aufgrund seiner Konzeption, aber auch aufgrund seiner Herkunft aus Deutschland und aufgrund des ersten Herausgebers, der nun als führender Vertreter einer judenfeindlichen theologischen und geisteswissenschaftlichen Forschung wahrgenommen wurde,

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John Rider Coates, Bible Key Words from Gerhard Kittel’s Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, London 1949. Bible Key Words from Gerhard Kittel’s Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Band 14: Life and death, London 1965. Theological Dictionary of the New Testament, 10 Bände. Hg. von Gerhard Kittel und Gerhard Friedrich, Grand Rapids, Mich. 1964–1976. Reprints 1995 und 2006. Daneben wurden noch mehrere Exzerptbände gedruckt, z. B. Theological Dictionary of the New Testament, one-vol­ ume edition, Grand Rapids 2013. Robert Henry Lightfoot an Bultmann vom 10.10.1945 (UAT, Nachlass Bultmann, Mn 2 1294). Vgl. Robert Henry Lightfoot an Bultmann am 29.3.1946 (ebd.).

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immer mehr in Kritik. In der Auseinandersetzung mit dem Wörterbuch werden oftmals Gesichtspunkte, die sich aus dem Fortschritt der philologischen Forschung, insbesondere das enorm angewachsene Wissen über das antike Judentum, ergeben, mit der theologischen Neuorientierung, die die heilsgeschichtliche Überlegenheit des Christentums über das Judentum ablehnt, und der moralischen Herausforderung, die die judenfeindlichen Machenschaften sowie Ansichten des Herausgebers und vieler Autoren des Wörterbuchs darstellen, verständlicherweise vermischt.73 In den Niederlanden weigerten sich seit den 1970er-Jahren Studierende der Theologie, das Wörterbuch überhaupt nur zu benutzen. In dieser Situation war es bedeutsam, dass Johan S. de Vos eine Analyse des Werks vorlegte, in der er sehr differenziert den Gebrauch der Rassenterminologie, den Antijudaismus und Antisemitismus einzelner Autoren, ebenso wie deren verzerrtes Bild vom Judentum thematisierte, aber damit auch deutlich machte, dass nicht alle Artikel gleichermaßen betroffen sind.74 Dennoch hält de Vos fest, dass auch die nach 1945 erschienenen Bände das Judentum aus christlicher bzw. paulinischer Perspektive sehen und bewerten und das heißt, ihm damit nicht wirklich gerecht werden.75 Diese Analyse ist umso bedeutsamer, als auch de Vos im Jahr 1984 die Erfahrung macht, dass »das ThW nicht als historisches Dokument« gekauft werde und deswegen längst nicht »Vergangenheit« sei.76 Der Name Kittels ist heute so eng mit allen drei problematischen Kontexten – der veralteten Judentumsforschung, dem theologischen Antijudaismus der christlichen Kirchen und der rassistischen Judenfeindschaft der Nationalsozialisten – verbunden, dass der Neutestamentler Wayne Meeks einen Aufsatz über Kittel in der Festschrift für einen jüdischen Kollegen mit dem alle diese Gesichtspunkte verdichtenden Titel versah: »A Nazi New Testament Professor reads his Bible«.77

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Vgl. Lukas Bormann, Art. Holocaust II Christianity: 1. The Jewish Question and Christian Exegesis until the Holocaust. In: Encyclopedia of the Bible and its Reception, Band 12, Berlin 2016, S. 87–89. 74 Johan S. de Vos, Antijudaismus/Antisemitismus im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament. In: Nederlands Theologisch Tijdschrift, 38 (1984), S. 89–110, hier 110. 75 Vgl. ebd., S. 110. 76 Ebd. 77 Wayne Meeks, A Nazi New Testament Professor reads his Bible. The Strange Case of Gerhard Kittel. In: The Idea of Biblical Interpretation: Essays in Honor of James L. Kugel, Leiden 2004, S. 513–544.

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Der Höhepunkt des internationalen Ansehens: Lexicographia Sacra und Studiorum Novi Testamenti Societas 1938 Das ThWNT führte recht umfassend die führenden deutschsprachigen Neutesta­ mentler und wichtige Alttestamentler der Evangelischen Theologie zu einem wissenschaftlichen Projekt zusammen, das mehr war, als eine Sammlung individueller Forschungsleistungen. Kittel selbst nennt das Wörterbuch eine »deutsche theologische Gemeinschaftsarbeit«.78 Die koordinierte Zusammenarbeit verschiedener Fachwissenschaftler und die Zuarbeit durch begabte Studenten und junge Wissenschaftler ermöglichte eine Vollständigkeit und Zuverlässigkeit der zusammengetragenen Daten und Belege, die bis heute beeindruckt. Die politische Situation nach 1933 ermöglichte es Kittel zudem, im Ausland stärker noch als in Deutschland, den Sachverhalt zu unterstreichen, dass er die zentrale Figur des Projekts war. Der Schriftwechsel Kittels mit Bultmann, der nach 1933 verschiedentlich als Sprecher der als »Mitarbeiter« bezeichneten Autoren gegenüber Kittel auftrat, macht deutlich, dass Kittel gegenüber dem Kreis der Autoren, zumindest aber derjenigen, die als Ordinarien eine gewisse Stellung innehatten, in seiner Dominanz zurückhaltend blieb.79 So wirkte Bultmann in verschiedenen kontroversen Fragen wie der Widmung des ersten Bandes an Adolf Schlatter, der Beteiligung des nationalsozialistischen Deutschen Christen Walter Grundmann (1906–1976) und dem Konflikt um den Herausgeber der »Theologischen Blätter« Hermann Strathmann (1882–1966) auf Kittel ein. Kittel traf sich im Jahr 1937 mit Bultmann in Frankfurt zu einem klärenden Gespräch, in dessen Vorfeld er gegenüber Bultmann erklärte, man fürchte wohl seine »Macht«.80 Dennoch war Kittel als Herausgeber nicht völlig frei in seinen Handlungen. Er war durch die Verträge, die der Verlag Kohlhammer mit den einzelnen Autoren abgeschlossen hatte, auch gebunden, wie die Diskussionen um die Verträge und möglichen Ergänzungen im Jahr 1937 zeigen.81 Es wundert deswegen nicht, dass sich in verschiedenen Briefen dieser Zeit Charakterisierungen Kittels finden, die seine Wendigkeit thematisieren, wie etwa: Kittel laufe mit »so betont frommem Augenaufschlag durch die Welt«, verfolge eine »zweifelhafte Taktik«, falle aber auch gelegentlich mit seiner »jesuitischen Schläue« herein.82 Diejenigen allerdings, die von Kittels Aktionen profitieren wie sein Assistent Albrecht Stumpff (1908–1940), sprechen von seiner »bemerkenswert geschickten Art«.83 78 Gerhard Kittel, Lexicographia Sacra. In: Deutsche Theologie, 5 (1938), S. 91–109, hier 91 f., Fn. 1. 79 Vgl. Schriftwechsel Bultmann mit Kittel sowie Bultmann mit Hermann Strathmann und ­Joachim Jeremias (UAT, Nachlass Bultmann, Mn 2 1072, 1135, 1883, 2249 und 2264). 80 Kittel an Bultmann vom 13.4.1937 (ebd., Mn 2 1135). 81 Vgl. Bultmann an Strathmann vom 26.4.1937 (ebd., Mn 2 2390). 82 Strathmann an Bultmann vom 10.1. und 22.1.1937 (UAT, Nachlass Bultmann, Mn 2 1883). 83 Albrecht Stumpff an Richard Gutteridge vom 18.6.1939. In: Lächele, Begegnung, S. 416 f.

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Im Ausland nun erschien Kittel manchen als der Mann der Stunde. Anders als Karl Barth oder Rudolf Bultmann wurden ihm allerdings keine E ­ hrendoktorate britischer Universitäten verliehen. Diese Ehrungen wurden als Unterstützung der Bekennenden Kirche (BK) verstanden, die nicht wenigen in England als verfolgte Kirche und mit der Verhaftung des Dahlemer Pfarrers Martin Niemöller (1892–1984) am 1. Juli 1937 endgültig als Märtyrerkirche erschien.84 Kittel wurde im Guten wie im Schlechten als derjenige wahrgenommen, der die Unterstützung NS-Deutschlands hatte. Die Präsenz Kittels im Ausland beruhte aber auch auf vermeintlich praktischen Gesichtspunkten: Kittel hatte kaum Schwierigkeiten, Reisegenehmigungen und die für die Reisen ins Ausland notwendigen Devisen zu erlangen, während andere Neutestamentler wie Martin Dibelius und Bultmann langwierige Genehmigungsverfahren mit unsicherem Ausgang, etwa durch kritische Einwände vonseiten des NS-Dozentenbundes oder staatlicher Stellen, zu gewärtigen hatten.85 Im Rückblick auf seine Stellung im Ausland hebt Kittel selbst zwei Sachverhalte zu Recht hervor: 1. Die Einladung zu Gastvorlesungen über das ThWNT nach Cambridge 1937 und 2. die Berufung als einziges Mitglied aus Deutschland in den Vorstand (»committee«) der im September 1938 in Birmingham gegründeten Gesellschaft zur Erforschung des Neuen Testaments, Studiorum Novi Testamenti Societas (SNTS).86 1. Lexicographia Sacra

Die Einladung nach Cambridge war ein weiterer Schritt in der Festigung des internationalen Netzwerkes von Gerhard Kittel. Der ihm bekannte und vertraute Hoskyns hatte sich dafür eingesetzt, obwohl es aufgrund der kirchenpolitischen Verhältnisse in Deutschland durchaus Vorbehalte gegen Kittel gab.87 Diese Ambivalenzen spiegeln sich nicht zuletzt in der verdichteten Erinnerung wider, Kittel habe die Vorträge in »NS uniform or insignia or something« gehalten und dadurch Unruhe unter den Zuhörern ausgelöst.88 Kittel geht auf diese Vorbehalte, 84

Vgl. Alfred Wiener, Untersuchungen zum Widerhall des deutschen Kirchenkampfes in England (1933–1938). In: Max Beloff (Hg.), On the Track of Tyranny, London 1960, S. 211–232, hier 222; Markus Huttner, Britische Presse und nationalsozialistischer Kirchenkampf. Eine Untersuchung der »Times« und des »Manchester Guardian« von 1930 bis 1939, Paderborn 1995, S. 285, 301 und 655–707. 85 Vgl. Bormann, Politische Gesichtspunkte, S. 423–427; ders., Christus und Weltherrschaft, S. 87–89. 86 Kittel, Verteidigung, S. 3. Vgl. Bormann, Politische Gesichtspunkte, S. 427–434. 87 Vgl. Gerhard Kittel, Lexicographia Sacra. Two Lectures on the Making of the »Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament«; delivered on Oct. 20th and 21st, 1937, in the Divinity School, Cambridge 1938, S. 3. 88 Mitteilung an den Autor vom 7.12.2017 von Professor Robert Morgan, Universität Oxford.

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die ihm sicher vorher zugetragen worden waren, ein, indem er seinem Vortrag ausführliche Bemerkungen zur Situation der Kirchen in Deutschland voran- und nachstellt.89 Diese Ausführungen fehlen in der deutschen Übersetzung, was Kittel immerhin in einer einleitenden Anmerkung andeutet.90 Er behauptet, dass Professoren aus Jena und Basel, Deutsche Christen und Barthianer im Wörterbuch auf der Basis wissenschaftlicher Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit zusammenarbeiten würden und er die Entscheidung, das Werk weiterzuführen, mit Bultmann in Marburg vereinbart habe.91 Das ThWNT werde zudem eifrig von Mitgliedern der BK studiert.92 Viele der Anwesenden werden die Anspielungen auf den Jenenser Neutestamentler Walter Grundmann sowie den aus Deutschland vertriebenen Baseler Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt (1891–1956), den Kittel aber 1939 aus dem Mitarbeiterkreis ausschloss, verstanden haben.93 Die im Ausland notwendige Legitimation des Werks wird aber letztlich auf den Marburger Rudolf Bultmann zurückgeführt, der nach Meinung Kittels neben seiner fachlichen Reputation auch eine hohe moralische Glaubwürdigkeit unter den britischen Neutestamentlern besaß. Kittel führte aus, dass dem Wörterbuch eine Überzeugung zugrunde liege, nach der die Wörter, die das Neue Testament verwendet, einerseits dem Alltag entnommen seien, andererseits aber durch Jesus von Nazareth eine Prägung erfahren hätten, die sie einzigartig und das Unternehmen eines Wörterbuchs zur Lexicographia Sacra machten, worunter Kittel eine theologische Philologie verstand, die den philologisch exakten Forscher, unabhängig von seinen weltanschaulichen und religiösen Ansichten, direkt mit dem Sohn Gottes konfrontierte: »New Testament terminology is, however, centered upon the person of Jesus Christ in no chance or superficial manner.«94 Diese Sichtweise ist mit Sicherheit nicht von allen Autoren des Wörterbuchs geteilt worden. Kittel zitiert auch an keiner Stelle in seinen Gastvorlesungen Autoren namentlich und verstärkt gerade so seine eigene Bedeutung als Herausgeber. Wer heute die Artikel Bultmanns zu Tod und Leben im Theologischen Wörterbuch mit Beiträgen von Grundmann, Kittel oder Kuhn vergleicht, wird schnell feststellen, dass den existenzialanalytischen Ausführungen Bultmanns und den

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Vgl. Kittel, Lexicographia Sacra. Two Lectures, S. 3–6 und 31. Vgl. Kittel, Lexicographia Sacra (Deutsch), S. 91, Fn. 1: »aus zwei Gastvorlesungen«. Vgl. Kittel, Lexicographia Sacra. Two Lectures, S. 6. Vgl. ebd., S. 31. Vgl. Andreas Mühling, Karl Ludwig Schmidt. »Und Wissenschaft ist Leben«, Berlin 1997, S.  34–163 und 220–223; Wolfgang Schenk, Der Jenaer Jesus. Zu Werk und Wirken des völkischen Theologen Walter Grundmann und seiner Kollegen. In: Peter von der Osten-Sacken (Hg.), Das mißbrauchte Evangelium. Studien zu Theologie und Praxis der Thüringer Deutschen Christen, Berlin 2002, S. 167–279. Kittel, Lexicographia Sacra. Two Lectures, S. 26.

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christuszentrierten Artikeln der Kittelschüler sehr verschiedene wissenschaftliche Ausrichtungen zugrunde liegen. Kittel war aber geschickt genug, einerseits auf die kirchenpolitische und theologische Vielfalt der Autoren zu verweisen und andererseits zugleich den Eindruck zu erwecken, dass diese alle in einem Geist, Kittels Geist der Lexicographia Sacra, am Wörterbuch arbeiteten. Er schließt deswegen geschickt seine Vorlesung mit Worten, die in der deutschen Übersetzung der Vorlesungen fehlen: »May this work, as it unites us around the New Testament, contribute to the well-being and true unity of the Church.«95 Für Kittel waren die Vorlesungen in Cambridge ein Triumph, den er immer wieder hervorhob, um seine außerordentliche Stellung unter den deutschen Theologen zu unterstreichen. Tatsächlich war es ihm nicht zuletzt aufgrund der durch die NS-Kirchen- und Universitätspolitik bewirkten Lähmung anderer Neutestamentler gelungen, im Ausland das Wörterbuch viel deutlicher als in Deutschland selbst als sein Werk erscheinen zu lassen und nicht als die »Gemeinschaftsarbeit«, die das Wörterbuch tatsächlich gewesen war und als die er es auch gegenüber seinen Kollegen in Deutschland darstellte.96 2. Studiorum Novi Testamenti Societas 1938

Aus dem bisher Gesagten ist schon deutlich geworden, wie sehr Kittel gerade in Großbritannien als Repräsentant deutscher philologischer und theologischer Gelehrsamkeit angesehen wurde. Man war zwar über seine judenfeindlichen Ansichten einigermaßen im Bilde, auch über seine Nähe zum NS und seine kirchenpolitische Mittelstellung informiert, meinte aber, die wissenschaftlichen Leistungen von diesen für viele Briten unangenehmen Sachverhalten trennen zu können. Insbesondere Kittels Forschungen zum antiken Judentum und die Integration rabbinischen Materials in die Struktur der Wörterbuchartikel erschienen als eine Leistung, die den Anstoß, der von Kittels antisemitischen Ansichten über das Judentum der Moderne ausging, erträglich machte. Coates urteilte 1949 in diesem Sinn: »Gerhard Kittel held views on the Jewish Question which were not shared by the majority of his fellow Christians. But, paradoxically, one of the outstanding merits of his dictionary is that it does full justice to the bearing of Hebrew and Rabbinical studies on the interpretation of the New Testament.«97 Die Vernetzung Kittels in der Forschungslandschaft Großbritanniens wurde stabilisiert durch den regen Austausch von Studierenden und Doktoranden,

95 Ebd., S. 31. 96 Kittel, Lexicographia Sacra (Deutsch), S. 91 f., Fn. 1. 97 John Rider Coates, In Memoriam Gerhard Kittel. In: Bible Key Words from Gerhard Kittel’s Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, London 1949, S. VII–IX, hier VIII f.

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durch die nach 1933 vom weitgehend staatlich kontrollierten Außenamt der DEK unter Bischof Theodor Heckel (1894–1967) unterstützten Auslandskontakte und die staatliche Förderung, die Kittel durch seine judenfeindlichen Forschungen im Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands und dessen Forschungsabteilung »Judenfrage« erfuhr.98 In der Person Kittels liefen Fäden zu einem dichten Netzwerk von Förderung und Einflussnahme zusammen, von denen die überwiegende Anzahl der deutschsprachigen Neutestamentler abgeschnitten waren. In wissenschaftlicher Konkurrenz zu Kittel standen nur der ältere Lietzmann, der sich zurückhielt, und die bereits genannten Bultmann und Dibelius. Rudolf Bultmann war als Mitglied der BK, gerade was seine internationalen Kontakte betraf, unter Beobachtung, und Martin Dibelius hatte sich als exponierter Vertreter der Weimarer Demokratie als Gegner der NS-Weltanschauung erwiesen.99 Kein anderer Neutestamentler oder evangelischer Theologe genoss in den Jahren zwischen 1933 und 1945 eine auch nur annähernd vergleichbar vielfältige und sich wechselseitig stabilisierende Förderung von wissenschaftlichen, parteiamtlichen, staatlichen und kirchenamtlichen Stellen. Der »weltfremde Gelehrte« Gerhard Kittel – so Kittel nach 1945 über sich selbst – war ein mächtiger Wissenschaftspolitiker, dem Kommunikationskanäle zu Entscheidern offenstanden, über die kein anderer evangelischer Theologe in dieser Zeit verfügte.100 Die geschickt gewählten Eingangs- und Schlussworte seiner Vorlesungen in Cambridge belegen, dass Kittel von diesen Möglichkeiten virtuos Gebrauch machte. Er sah auch die Grenzen seiner Möglichkeiten, die durch die britische

    98 Vgl. Gerhard Kittel, Die Entstehung des Judentums und die Entstehung der Judenfrage. In: Schriften des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands, Forschungen zur Judenfrage. 1. Sitzungsberichte der Ersten Arbeitstagung der Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands vom 19. bis 21. November 1936, Hamburg 1937, S. 43–63. Zur Forschungsabteilung vgl. Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966; Patricia von Papen, »Scholarly« Antisemitism during the Third Reich. The Reichsinstitut’s Research on the »Jewish Question« 1935–1945, New York 1999 (Dissertation an der Columbia University); Steinweis, Studying, S. 12–14; Matthias Berg, Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands. In: Ingo Haar/Michael Fahlbusch (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen, Institutionen, Forschungsprogramme, Stiftungen, München 2008, S. 169–178; Junginger, Verwissenschaftlichung, S. 223–280; Rupnow, Judenforschung, S. 67–85.     99 Vgl. Eike Wolgast, Nationalsozialistische Hochschulpolitik und die evangelisch-theologischen Fakultäten. In: Siegele-Wenschkewitz/Nicolaisen (Hg.), Theologische Fakultäten, S. 45–87, hier 66–79; Christian Jansen, Professoren und Politik. Politisches Denken und Handeln der Heidelberger Hochschullehrer 1914–1935, Göttingen 1992, S. 196–199. 100 Kittel, Meine Verteidigung, S. 53. Diese Schrift gibt unfreiwillig darüber Auskunft, über welch wirkungsvolle Einflussmöglichkeiten Kittel in Hinsicht auf Pfarrer, Universitätsprofessoren sowie theologische Verlage verfügte, z. B. S. 18–20.

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Wahrnehmung der kirchenpolitischen Situation in Deutschland gesteckt waren, und vermied Beschädigungen, die durch allzu dominantes Auftreten im sensiblen Kommunikationsnetz der internationalen Wissenschaft entstehen konnten. Wie eng Kittel in seinen internationalen Beziehungen mit staatlichen Stellen kooperierte, erhellen die Berichte, die er im Zusammenhang mit seinen Auslandsaufenthalten anlässlich der Gründung der SNTS an das Reichserziehungsministerium (REM) in den Jahren zwischen 1937 und 1939 sandte.101 Der Personenkreis, der für die Gründung der Gesellschaft bestimmend wurde, kam aus der ökumenischen Bewegung. Am Rande der Weltkirchenkonferenz für Glaube und Kirchenverfassung (Faith and Order) in Edinburgh vom 3. bis 18.  August 1937 fand eine erste informelle Zusammenkunft einiger Neutesta­ mentler statt, in der Überlegungen zur Gründung einer Gesellschaft für die Erforschung des NT angestellt wurden. Federführend war zu diesem Zeitpunkt der Leidener Neutestamentler Johannes de Zwaan. Er konnte das Interesse seiner britischen Kollegen wecken, die dann tatsächlich die Initiative übernahmen, um nach dem Vorbild der 1917 gegründeten Society for Old Testament Studies eine ähnliche Gesellschaft für das NT zu gründen. Unter den Teilnehmern dieses ersten Gedankenaustauschs war kein deutscher Exeget. Hitler hatte am 3. Juni 1937 der deutschen Delegation die Reise nach Oxford untersagt, für die neben Martin Niemöller auch Dietrich Bonhoeffer vorgesehen war.102 Die in Edinburgh versammelten Wissenschaftler hatten nun unter diesen Bedingungen zu entscheiden, welchen deutschen Neutestamentler sie heranziehen wollten. Im Ergebnis wurden mit einem Schreiben vom 8. März 1938 aus Deutschland Kittel, Lietz­ mann und Dibelius zu einer ersten offiziellen Zusammenkunft im September 1938 nach Birmingham eingeladen.103 Nachdem Kittel diese Einladung erhalten hatte, nahm er sofort mit staatlichen Stellen Kontakt auf und wandte sich schließlich selbst direkt an das REM.104 Tatsächlich war er der einzige deutsche Theologe, der im September 1938 nach Birmingham reiste. Er wurde sofort als Vertreter der deutschen neutestamentlichen Wissenschaft in den vorläufigen Vorstand berufen und schließlich mit der Aufgabe betraut, gemeinsam mit de Zwaan eine Liste von ca. 30 kontinental­ europäischen Gelehrten zusammenzustellen, denen eine Mitgliedschaft ange-

101 Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM), Neutestamentler Tagung (BArch, R4901/2924). 102 Vgl. Armin Boyens, Kirchenkampf und Ökumene. Darstellung und Dokumentation unter besonderer Berücksichtigung der Quellen des Ökumenischen Rates der Kirchen, München 1969, S. 150. 103 Vgl. George H. Boobyer, The Early History of Studiorum Novi Testamenti Societas. In: NTS, 1 (1954/55), S. 6–9, hier 7; Bormann, Politische Gesichtspunkte, S. 425–427. 104 Vgl. Kittel an REM vom 17.6.1938 (BArch, R4901/2924).

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tragen werden sollte. Am 15. Januar 1939 fand das Treffen zwischen de Zwaan und Kittel in Leiden statt. Zuvor hatte Kittel am 13. Januar 1939 im Ministerium ein vorbereitendes Gespräch, wie aus einem ausführlichen Bericht Kittels an das Ministerium vom 25. Februar 1939 hervorgeht.105 Kittel hatte eine Gruppe deutscher Exegeten zusammengestellt, deren Zusammensetzung zum einen auf die Erwartungen der englischen Gründungsmitglieder Rücksicht nahm, die aber zum anderen Person für Person mit den staatlichen Stellen abgesprochen war. Zur endgültigen Liste und zu den weiteren Plänen Kittels wurden das Reichskirchenministerium (RKM), das Auswärtige Amt (AA), der Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) Reinhard Heydrich und der Reichsführer SS Heinrich Himmler um Stellungnahmen gebeten.106 Am 2. Dezember fand eine Ressortbesprechung mit Vertretern des AA, des RKM und des RSHA statt, da die Beam­ ten des REM die Befürchtung hatten, »dass von englisch-ökumenischer Seite die staatsfeindlichen klerikalen Tendenzen in Deutschland gestützt werden sollen«.107 Die ersten Mitglieder der wissenschaftlichen Gesellschaft waren demnach nicht nur nach Meinung Kittels »auch unter politischen Gesichtspunkten sehr sorgfältig ausgewählt«.108 Vom 20. bis 22. September 1939 sollte die erste Tagung in Birmingham stattfinden. Die Einladungen waren versendet, aber der Kriegsbeginn machte diese Pläne zunichte. Die hier nur knapp zusammengefassten Ereignisse zeigen, dass Kittel in den Jahren 1937 bis 1939 auf dem Höhepunkt seiner Einflussmöglichkeiten stand.109 Er hatte die politischen und kirchlichen Verhältnisse so für sich zu nutzen gewusst, dass er im In- und Ausland, von Freund und Feind als der einflussreichste und wirkungsvollste Neutestamentler Deutschlands wahrgenommen und angesprochen wurde.

Die Reaktion des wissenschaftlichen Auslands auf Kittels Entfernung aus dem Amt (1945 bis 1948) Kittel hatte demnach bis kurz vor Kriegsausbruch ein engmaschiges Wissenschaftlernetzwerk ausgebildet. Das wissenschaftliche Kapital, das er in dieses Netzwerk einbrachte, waren die Forschungen, die der Gemeinschaftsarbeit am ThWNT zugrunde lagen. Jeder Artikel stellte den unumgänglichen Ausgangspunkt für weitere neutestamentliche Arbeiten dar. Ohne die neueste Lieferung

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Vgl. Bericht Kittels an das REM vom 25.2.1939 (BArch, R 4901/2924, Bl. 52 f.). Vgl. Vermerk Dahnke, REM vom 16.12.1938 (ebd., Bl. 34–37). Vermerk Dahnke, REM vom 16.12.1938 (ebd., Bl. 35r). Bericht Kittels an das REM vom 25.2.1939 (ebd., Bl. 52 f.). Zu weiteren Details vgl. Bormann, Politische Gesichtspunkte, S. 427–443.

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des »Kittel« war man als Wissenschaftler vom Forschungsstand abgeschnitten und konnte nicht sicher sein, ob die eigenen Arbeiten nicht an wichtigen Stellen unvollständig oder gar überholt seien. Kittel tat zudem alles, um es unmöglich zu machen, den »Kittel« von seiner Person zu trennen. In dieser wissenschaftlich und historisch einmaligen Situation in der Forschungsgeschichte des Neuen Testa­ments war jeder Wissenschaftler herausgefordert, zwischen dem wissenschaftlichen Fortschritt, den das ThWNT zweifellos darstellte, und dem Risiko, dass dieses wichtige Projekt unvollendet bleiben könnte, abzuwägen. Die Abwägungen erfolgten zudem auf einem sehr unterschiedlichen Kenntnisstand über Kittels Mitwirkung an der NS-Politik und seiner Beteiligung an den Verbrechen des NS-Staates. Die meisten Forscher gingen davon aus, dass Kittel selbst keine Mordtaten vollbracht hatte. Inwiefern er aber als Wissenschaftler durch ideologisierte Forschungen kompromittiert war oder als Einzelperson durch die Unterstützung der NS-Politik als moralisch belastet gelten konnte, waren Fragen, die in den ersten Jahren der Nachkriegszeit nicht leicht zu beantworten waren. Die alleinige Tatsache der Verhaftung Kittels und seiner Entfernung aus dem Dienst durch die französische Militäradministration hinterließ für sich betrachtet offensichtlich keinen tiefgreifenden Eindruck, waren doch viele andere deutsche Theologen durch die breit angelegten Entnazifizierungsmaßnahmen und die »übersteigerte Ausdehnung des Personenkreises« unter Druck geraten und hatten sich vielfach an ihre ausländischen Kollegen um Fürsprache gewandt.110 Kittel hatte zudem unmittelbar nach seiner Inhaftierung damit begonnen, eine Verteidigungsschrift aufzusetzen. Er hatte in Tübingen und später in Beuron einen Unterstützerkreis, der die notwendigen Arbeiten bei der Erstellung von Abschriften, Beglaubigungen und im Schriftverkehr übernahm. Es ist nicht bekannt, wie viele Exemplare seiner Verteidigungsschrift Kittel versandte. Es muss sich aber um eine erhebliche Anzahl gehandelt haben. In dieser Schrift stellte sich Kittel als überzeugten christlichen Antijudaisten dar, der aber in keiner Weise die NS-Verbrechen gutgeheißen oder gar unterstützt hätte. Die Parteinahmen für Kittel von John R. Porter 1947 und die posthume Würdigung von John Rider Coates 1949 waren offensichtlich von Kittels Verteidigungsschrift beeinflusst und nahmen Teile der Argumentationslinie Kittels auf, indem sie zwischen dem For-

110 Clemens Vollnhals, Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945–1949. Die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit, München 1989, S. 177. Vgl. Lutz Niethammer, Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, 2. Auflage Berlin 1982, S. 83–89. Beispielsweise fragte Paul Althaus bei Gulin im August 1947 an, ob dieser und weitere Kollegen aus Finnland der Spruchkammer bestätigen könnten, dass sich Althaus im Oktober 1943 kritisch über die deutschen Zustände geäußert habe. Paul Althaus (1888–1966) an Elis G. Gulin vom 6.8.1947 (KA, E. G. Gulin, Nr. 23).

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scher und dem Antijudaisten zu unterscheiden suchten.111 Eine wichtige Folge der von Kittel ausgehenden Informationen war, dass die neu gegründete SNTS an ihm als Vorstandsmitglied festhielt und ihm in einem Schreiben ihr Mitgefühl ausdrückte: »The committee wishes to express its deep sympathy with you.«112 Außer auf Kittels Verteidigungsschrift konnte man in den ersten Jahren nach dem Krieg nur auf die wichtige Studie von Max Weinreich (1894–1969) zurückgreifen, wenn man etwas über Kittels Wirken zwischen 1933 und 1945 wissen wollte. Weinreich hatte Informationen über die Mitwirkung von deutschen Wissenschaftlern an den Verbrechen gegen die Juden zusammengestellt.113 Der 1923 in Marburg promovierte Wissenschaftler des Instituts für Jiddische Wissenschaft (Yidisher visnshaftlekher institut) konnte dabei auf die Zuarbeit von zahlreichen Wissenschaftlern des Instituts aus verschiedenen Fachgebieten zurückgreifen.114 Dennoch war die Aussagekraft des in kurzer Zeit zusammengestellten Werks durch zahlreiche Fehler im Detail infrage gestellt, etwa wenn Weinreich Gerhard Kittel als Alttestamentler bezeichnet.115 Gleichwohl diente Weinreichs Arbeit einem der führenden Alttestamentler und Archäologen der USA, dem bereits genannten William Foxwell Albright, als Grundlage für seine Verurteilung der deutschen Wissenschaft, insbesondere der deutschen Bibelwissenschaft und der Person Kittels. Albright bewertete die Arbeit Weinreichs als »bewundernswürdig« und »in der Regel zutreffend«.116 Er brachte Kittel in direkte Verbindung zur NS-Vernichtungspolitik, indem er 1947 festhielt: »In the view of the terrible viciousness of his attacks on Judaism and the Jews, which continues at least until 1943, Gerhard Kittel must bear the guilt of having contributed more, perhaps, than any other Christian theologian to the mass murder of Jews by Nazis.«117 Im Jahr 1951 formulierte er das folgende scharfe Urteil über Kittel: »Yet he [G. Kittel] became the mouthpiece of the most vicious Nazi anti-semitism, sharing with Emanuel Hirsch of Göttingen the grim distinction of making extermination of the Jews theologically respectable.«118 Albrights nachvollziehbare, wenn auch unausgewogene Attacken 111 Vgl. John R. Porter, The Case of Gerhard Kittel. In: Theology, Nr. 329 vom 1.11.1947, S. 401–406; Coates, In Memoriam, S. VII–IX. 112 De Zwaan/Boobyer an Kittel vom 29.3.1947 (StA Sigmaringen, Württemberg, 13 T2–2136). Vgl. Kittel, Verteidigung, Beilage: »Die ›Studiorum Novi Testamenti Societas‹ und Prof. Kittel«. 113 Vgl. Max Weinreich, Hitler’s Professors: The Part of Scholarship in Germany’s Crimes Against the Jewish People, New York 1946 (Nachdruck: New Haven/London 1999), S. 40–43. 114 Max Weinreich, Studien zur Geschichte und dialektischen Gliederung der jiddischen Sprache, 3 Bände, Diss. Universität Marburg 1923. 115 Vgl. Weinreich, Hitler’s Professors, S. 41. 116 Albright, Gerhard Kittel, S. 229, Fn. 1. 117 William F. Albright, The War in Europe and the Future of Biblical Studies. In: Harold W. Willoughby, The Study of the Bible today and tomorrow, Chicago 1947, S. 165. 118 Albright, Gerhard Kittel, S. 229–240.

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gegen Kittel wurden aber in ihrer Wirkung dadurch geschwächt, dass er zugleich die Wissenschaft und die Exegese in Deutschland insgesamt der Vergangenheit überantworten wollte. Er erklärte die Zeiten für beendet, in denen gegolten habe: »German scholarship ruled the world of learning with undisputed authority.«119 Robert P. Ericksen distanziert sich von Albright und erklärt, dass er nicht damit einverstanden sei, und »dass er die Komplexität des Problems Gerhard Kittel offenbar nicht zur Kenntnis nimmt. Sein Angriff erlaubt keine Verteidigung. Aber in den Jahren nach 1945 hat es viele vertrauenswürdige Menschen gegeben, die Kittel in Schutz nahmen.«120 Worin liegt aber die Komplexität des Problems? Alan E. Steinweis nennt die Widersprüchlichkeit im Schicksal des Neutestamentlers und Rabbinica-Spezialisten »tragisch«: »If there is a single tragic figure in the history of Nazi anti-­ Jewish scholarship, it is Gerhard Kittel.«121 Vielleicht trifft das den Sachverhalt, dass der vom weltberühmten Vater dominierte Sohn angesichts seiner eigenen beschränkten wissenschaftlichen Originalität und Exzellenz nach jeder Möglichkeit suchte, durch Wissenschaftsorganisation und Anpassung an die politischen Verhältnisse erfolgreich zu sein. Aber diese Tragik in der Lebensführung macht ihn noch nicht im klassischen Sinn zur tragischen Figur, die das als gut Erkannte erstrebt und in diesem Streben unwissentlich und unvermeidlich in die Katastrophe drängt. Dazu hatte sich Kittel von 1933 an viel zu deutlich für die Ausgrenzung und Entrechtung der jüdischen Deutschen eingesetzt und schließlich auch zu viel über Deportation und Ermordung der europäischen Juden gewusst, ohne aus diesem Wissen erkennbare Konsequenzen zu ziehen. Nicht zuletzt belegt ein Brief an Martin Dibelius, wie sehr er noch im Januar 1945, einem Zeitpunkt, zu dem sich schon viele Deutsche eine passende biografische Narration für die zu erwartende Niederlage bereit gelegt hatten, an seinen antisemitischen Phantasmen festhielt. Er erklärte gegenüber Dibelius in einem Schreiben vom 19. Januar 1945, dass die Antike das Judentum als »Weltgefahr«, die »zu wesentlichen Teilen immer eine oberflächenhaft unsichtbare, hintergründige, darum mit Berufung auf den Augenschein abstreitbare ist«, angesehen habe.122 Er bezieht dieses aus seiner Sicht wissenschaftlich-historische Urteil, das aber tatsächlich durch und durch antisemitisch verzerrt ist, zudem auf die Gegenwart: »Die zwischen uns im Blick auf die Antike [sic!] Situation gestellte Frage scheint mir genau dieselbe wie die moderne Frage nach der ›Weltgefahr‹ des Judentums, oder auch nach

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Albright, The War in Europe, S. 162 f. Ericksen, Theologen unter Hitler, S. 104. Steinweis, Studying the Jew, S. 66. Kittel an Martin Dibelius vom 19.1.1945 (Universitätsbibliothek Heidelberg, Hs. 3814 III A).

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der anderen, ob es wahr ist oder ob es Illusion ist, dass letzte Hintergründe des gegenwärtigen Krieges in der Judenfrage liegen.«123 Bis heute ist eine Ambivalenz im Urteil der Forscher im In- und Ausland über Kittel zu beobachten. Manche schrecken angesichts der wissenschaftlichen Bedeutung Kittels davor zurück, seine Beteiligung an der Legitimierung der NS-Verbrechen in ihrer vollen Tragweite einzugestehen, andere meinen, die Person und ihr wissenschaftliches Werk gemeinsam verurteilen zu müssen.124 Jeder Wissenschaftler des NT steht bis heute vor dem gleichen ethischen Dilemma: Die nach wie vor unersetzliche Leistung des ThWNT und die damit verbundene wissenschaftliche Anerkennung des Herausgebers auf der einen Seite und die heute mehr noch als in der direkten Nachkriegszeit offensichtliche Tatsache seiner tiefen Verstrickung in die judenfeindliche Propaganda des NS und seiner Beteiligung an dessen Verbrechen auf der anderen Seite.125 Gleichzeitig wird bezüglich Kittel eine weitere Ambivalenz zu reflektieren sein. Kittel hatte in den Augen vieler seiner Zeitgenossen, auch und insbesondere der jüdischen, endlich auch den auf Hebräisch und Aramäisch überlieferten Texten des antiken Judentums wissenschaftliche Beachtung geschenkt und damit als Sohn des Herausgebers der berühmten »Biblia Hebraica« die Erwartung geweckt, dass nun das Renommee der weltweit geachteten deutschen Wissenschaft auch diese Texte als würdigen Gegenstand wissenschaftlichen Bemühens anerkennen würde. Als christlicher Judentumsforscher hatte er zudem die These vertreten, dass die Verkündigung Jesu von Nazareth weder in der Ethik noch im Gottesverständnis etwas Neues gegenüber den ihm bekannt gewordenen rabbinischen Quellen vertreten hätte. Er hatte damit bei nicht wenigen die Erwartung geweckt, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Quellen das Judentum der Gegenwart vollständig rehabilitiere, indem sie den gängigen Vorwurf, das Judentum sei eine überholte Form von Religion, die in den Worten Friedrich Schleiermachers (1768–1834) nur als eine »tote Religion« und »unverwesliche Mumie« weiter­existiere,126 wissenschaftlich widerlegt habe. Wenn die Ethik der Rabbinen 123 Ebd. 124 So etwa Wayne Meeks, A Nazi New Testament Professor reads his Bible. The Strange Case of Gerhard Kittel. In: Hindy Najmann/Judith H. Newman (Hg.), The Idea of Biblical Interpretation: Essays in Honor of James L. Kugel, Brill 2004, S. 513–544. 125 Neben das Wörterbuch sind zwischenzeitlich getreten: Horst Balz/Gerhard Schneider (Hg.), Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 3 Bände, 3. Auflage Stuttgart 2011. Es stellt sich ausdrücklich in die Tradition des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament (S. VII), sodass viele Artikel eher als überarbeitete Exzerpte derjenigen des Theologischen Wörterbuchs zu betrachten sind. Des Weiteren die englischsprachige »Encyclopedia of the Bible and its Reception«, die aber einen rezeptionsgeschichtlichen Schwerpunkt setzt und die philologischen Leistungen des Theologischen Wörterbuchs nicht ersetzen kann. 126 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Stuttgart 1980, S. 191.

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der Ethik Jesu in der Antike gleichwertig gewesen sei, was Kittel immer wieder ausgesprochen hatte, dann sei damit, gemäß des historistischen Ursprungsdenkens der Zeit, auch belegt, dass das gegenwärtige Judentum dem Christentum in dieser Hinsicht zumindest gleichwertig, wenn nicht gar durch das höhere Alter bedingt, in vielerlei Hinsicht überlegen sei. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass viele Vertreter und Insti­ tutionen der philologischen und theologischen Forschung im Ausland Kittel nicht fallen lassen wollten. Das Päpstliche Archäologische Institut bat ihn, das durch den Tod des Herausgebers und Bearbeiters Jean Baptiste Frey (1878–1939) verwaiste »Corpus Inscriptionum Judaicarum« weiterzuführen.127 Zahlreiche Gelehrte aus aller Welt setzten sich in Briefen dafür ein, dass Kittel das Wörterbuch weiterführen sollte. Kittels Amtsenthebung wurde hingegen nur selten infrage gestellt. Die internationalen Unterstützerschreiben, die in diesem Sinn argumentierten und sich in der Entnazifizierungsakte Kittels finden, reichen von den Schweizer Professoren Albert Debrunner (1884–1958) und Gottlob Schrenk (1879–1965) über die Chicago Society for Biblical Research, den Präsidenten der Universität Chicago Ernest Cadman Colwell (1901–1974), die Harvard-Professoren Arthur Darby Nock und Henry J. Cadbury (1883–1974), den Professor für Neues Testament an der Yale Divinity School Clarence Craig (1895–1953) bis zum Kanzler der Vanderbilt University Harvie Branscomb (1894–1998).128 Der Tod Kittels am 11. Juli 1948 setzte diesen Bemühungen, den Tübinger Neutesta­ mentler mit reduziertem Status wieder in die internationale Forschergemeinschaft zu integrieren, ein Ende.

127 Vgl. Jean-Baptiste Frey (Hg.), Corpus Inscriptionum Judaicarum, Rom 1936. 128 Staatskommissariat für die politische Säuberung: Kittel, Gerhard, Prof. Dr. (StA Sigmaringen, Württemberg 13 T 2, Nr. 2136).



Manfred Gailus Gerhard Kittels »Meine Verteidigung« von 1946: Rechtfertigungsversuche eines schwer kompromittierten Theologen

Seit dem 19. April 1945 rückte französisches Militär in Tübingen ein und errichtete ein Besatzungsregime über die Universitätsstadt. Die Hochschule wurde vorübergehend geschlossen, sodass das Sommersemester 1945 ausfiel. Am 3. Mai wurden acht Professoren der Eberhard-Karls-Universität, die als überzeugte und aktivistische Nationalsozialisten galten, verhaftet. Zu ihnen gehörte auch Gerhard Kittel, der zunächst in Untersuchungshaft in das Amtsgerichtsgefängnis und später für mehrere Monate in das Schlossgefängnis Tübingen kam. Ein universitätsinterner »Säuberungsausschuss«, der während dieser ersten Nachkriegswochen über 40 Tübinger Professoren und Dozenten begutachtete, stufte Kittel in Gruppe I der meistbelasteten Hochschullehrer ein. Im Rahmen einer ersten Suspendierungswelle vom Juli 1945 wurden 35 Professoren und Dozenten zwangsbeurlaubt. Darunter befanden sich zwei Hochschullehrer der Evangelisch-theologischen Fakultät: Betroffen waren der renommierte Lehrstuhlinhaber Kittel und der außerordentliche Professor Ernst Stracke (1894–1963). Ende Oktober wurde der größte Teil der suspendierten Hochschullehrer, darunter auch Kittel, auf Anordnung der Militärregierung offiziell entlassen.1

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Grundlegend für die verschlungenen und von häufigen Richtungswechseln bestimmten Wege der Entnazifizierung in der französischen Besatzungszone ist Klaus-Dietmar Henke, Politische Säuberung unter französischer Besatzung. Die Entnazifizierung in Württemberg-Hohenzollern, Stuttgart 1981; für die ebenso wechselhaften Entnazifizierungsmaßnahmen an der Universität Tübingen vgl. Stefan Zauner, Die Entnazifizierung (Epuration) des Lehrkörpers. Von der Suspendierung und Entlassung 1945/46 zur Rehabilitierung und Wiedereinsetzung der Professoren und Dozenten bis Mitte der 1950er-Jahre. In: Urban Wiesing/Klaus-Rainer Brintzinger/ Bernd Grün/Horst Junginger/Susanne Michl (Hg.), Die Universität Tübingen im Nationalsozia­ lismus, Stuttgart 2010, S. 937–998; dort auch die Angaben über die Entnazifizierung Tübinger Hochschullehrer, S. 941, 944, 947 f., 953. Zum Kontext vgl. auch Jörg Thierfelder, Die Kirchenpolitik der Besatzungsmacht Frankreich und die Situation der evangelischen Kirche in der französischen Zone. In: Kirchliche Zeitgeschichte, 2 (1989) 1, S. 221–238; der »Fall Kittel« und die Entnazifizierungsmaßnahmen an der Universität Tübingen kommen hier jedoch nicht vor.

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Nach halbjähriger Gefängnishaft wurde Kittel im November 1945 in das ca. 70 Kilometer südwestlich von Stuttgart gelegene Internierungslager Balingen eingeliefert, ein Lager für belastete Zivilpersonen der Zeit des Nationalsozialismus (NS). Unter anderem betätigte er sich dort als Seelsorger an den Internierten und hielt Lagergottesdienste.2 Unterdessen musste Kittels Familie Tübingen für längere Zeit verlassen. Sie lebte vorübergehend im Kittel’schen Ferienhaus am Walchensee in Bayern. Kittels Lagerhaft währte knapp ein Jahr. Am 6. Oktober 1946 wurde er aus dem Lager Balingen entlassen. Als Aufenthaltsort und provisorische Arbeitsstätte wies ihm die französische Militärregierung das Kloster Beuron zu. Er erhielt zugleich die Erlaubnis, die dort vorhandene Klosterbibliothek für wissenschaftliche Arbeiten zu benutzen. Ein Aufenthalt in Tübingen war ihm weiterhin untersagt. Während seiner Zeit in Beuron erhielt Kittel durch Augustin Kardinal Bea (1881–1968), Rektor des päpstlichen Bibelinstituts in Rom, den Auftrag, eine von Jean-Baptiste Frey (1878–1939) begonnene Quellenedition »Corpus Inscriptionum Judaicarum« (Band 1 erschien 1936) nach dem Tod ihres ersten Bearbeiters weiterzuführen.3 Zugleich betätigte sich der ordinierte Theologe Kittel, nun mit einem offiziellen Auftrag der Kirche versehen, als Seelsorger in einem Beuroner Krankenhaus sowie einer kleinen evangelischen Diaspora­ gemeinde.4 Nach etwa eineinhalb Jahren Zwangsaufenthalt in Beuron erhielt Kittel im Februar 1948 die Erlaubnis, in sein Wohnhaus nach Tübingen zurückzukehren, wo inzwischen auch seine Familie wieder lebte. Wenige Wochen später, im April, musste sich der Theologe wegen akuter Erkrankung in die Tübinger Universitätsklinik einliefern lassen.5 Am 11. Juli 1948 verstarb Kittel im Alter von 59 Jahren an einer schweren Krankheit in Tübingen.

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Vgl. Landeskirchliches Archiv (LKA) Stuttgart, A 127, Nr. 1267 a und 1267 b – fortan zit. als Personalakten (PA) Kittel, Band 1 und 2 –, hier Band 2: »Bericht« von Gerhard Kittel vom 16.2.1946 über seine Zeit im Lager Balingen. Über Kittels Zeit in Beuron informieren zahlreiche Schriftwechsel, die im Band 2 der Personalakten Kittels überliefert sind. Zur Beauftragung vgl. Beuroner Erzabt Dr. Baur an Landesbischof Wurm vom 3.2.1947 (ebd.). Augustin Kardinal Bea stammte aus dem Badischen und war seit 1930 Rektor des Päpstlichen Bibelinstituts in Rom. Sein Einsatz für Kittel kann nicht zuletzt auch als ökumenische Hilfsaktion für einen in Not geratenen südwestdeutschen Landsmann interpretiert werden. Vgl. Kittel an Ev. Oberkirchenrat (EOK) in Stuttgart vom 19.12.1946 und Prof. Köberle (Tübingen) an Landesbischof Wurm vom 23.1.1947 (LKA Stuttgart, PA Kittel, Band 2). Vgl. Kittel an EOK vom 21.4.1948 (ebd.). Welcher Art Kittels Erkrankung war, die relativ plötzlich seit April 1948 auftrat, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Landesbischof Wurm erwähnt in seinen Memoiren, Kittel sei an »einem während der Haft ausgebrochenen Krebsleiden« verstorben. Theophil Wurm, Erinnerungen aus meinem Leben, Stuttgart 1953, S. 150. Eine detaillierte zusammenhängende Schilderung der letzten Lebensphase Kittels von 1945 bis 1948 existiert bisher nicht. Zur Biografie Kittels insgesamt vgl. Leonore Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage. Gerhard Kittels theologische Arbeit im Wandel deutscher Geschichte, München 1980; Robert P. Ericksen, Theologen unter Hitler. Das Bündnis

Gerhard Kittels »Meine Verteidigung«

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Soweit in knappen Strichen die wichtigsten Stationen und Ereignisse während der letzten drei Lebensjahre des einst international hoch renommierten Tübinger Ordinarius für Neues Testament und Experten des antiken Judentums. Ein halbes Jahr Gefängnishaft, knapp ein Jahr Internierungshaft als mutmaßlicher NS-Belasteter in einem Lager, schließlich eineinhalb Jahre Zwangsaufenthalt in einem abgelegenen kleinen Ort im Süden Württembergs (Hohenzollern) mit Arbeitserlaubnis in der Klosterbibliothek Beuron – der angesehene Hochschulprofessor, bis dahin eine Zelebrität des öffentlichen Lebens in der Universitätsstadt Tübingen und weit darüber hinaus im deutschen Protestantismus, war nicht mehr ein freier Mann. Er lebte bis Februar 1948 inhaftiert, kontrolliert, eingeschränkt was seine Kontakte und Bewegungsfreiheit betraf.6 Wissenschaftlich war er, soweit erkennbar, zu dieser Zeit nur noch in geringem Maße aktiv. Es existieren jedenfalls keine Publikationen von neuen Arbeiten Kittels, die während seiner letzten drei Lebensjahre entstanden. Ob er während seines eineinhalbjährigen Aufenthalts beim Kloster Beuron das jüdische Quellenwerk tatsächlich bearbeiten und die unterbrochene Edition voranbringen konnte, muss einstweilen offenbleiben.7 Seit Sommer 1947 bemühte sich Kittel um Wiederaufnahme der Arbeiten am »Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament« (ThWNT) und bat die Stuttgarter Kirchenleitung um Gestellung eines Redaktionsassistenten, der ihm seit September 1947 zur Verfügung stand.8 Ohne dass es ein formelles Verfahren gegeben hätte, fühlte Kittel offenbar sofort bei Kriegsende, dass er in Teilen der deutschen und wohl auch internationalen Öffentlichkeit wegen seiner Parteimitgliedschaft, seiner Kollaboration mit NS-Stellen und vor allem wegen seiner Publikationen zur »Judenfrage« irgendwie als »schuldig« galt und nun vor einem imaginären Gericht stand. Ein reguläres Spruchkammerverfahren gegen ihn war zwar im Frühjahr 1948, also noch zu Lebzeiten, eingeleitet worden, kam aber nicht mehr zum Abschluss. Unmittelbar nach seinem Ableben teilte die zuständige Spruchkammer mit, dass das Verfahren eingestellt worden sei.9

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zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München 1986; Horst Junginger, Die Verwissenschaftlichung der »Judenfrage« im Nationalsozialismus, Darmstadt 2011; ders., Gerhard Kittel – Tübinger Theologe und Spiritus rector der nationalsozialistischen »Judenforschung«. In: Manfred Gailus (Hg.), Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933–1945, Göttingen 2015, S. 81–112. In einem Schreiben an Bischof Wurm teilte Kittel im Februar 1948 mit, dass er vor wenigen Tagen von der Militärregierung die Nachricht erhalten habe, dass er sich in der französischen Zone wieder frei bewegen könne. Kittel an Bischof Wurm vom 3.2.1948 (LKA Stuttgart, PA Kittel, Band 2). Der zweite Band der jüdischen Quellenedition erschien im Jahr 1952. Vgl. EOK Stuttgart (Entwurf) an Kanzlei der EKD vom 14.7.1947; Eberhard Reyher (Tübingen) an EOK Stuttgart vom 21.9.1948 (LKA Stuttgart, PA Kittel, Band 2). Vgl. Zauner, Entnazifizierung, S. 973.

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Kittels Schrift »Meine Verteidigung« Das umfassendste schriftliche Selbstzeugnis Kittels aus dieser Zeit ist »Meine Verteidigung«. Eine erste Fassung entstand bis Juni 1945, war also noch im Gefängnis Tübingen verfasst worden. Eine zweite, erweiterte Fassung schloss Kittel im Dezember 1946 ab. Sie entstand während seiner Lagerhaft in Balingen.10 Dieses Schriftstück umfasst, einschließlich zwei Seiten Literaturanhang, 78 eng beschriebene Schreibmaschinenseiten und stellt so etwas wie Kittels Lebensarbeitsbilanz und zugleich die politisch-moralische Selbstrechtfertigung eines einstmals hochgeachteten, seit Kriegsende schwer unter öffentlichem Druck stehenden Hochschultheologen dar.11 Parallel dazu entstand während Kittels Niederschrift eine Sammlung von Gutachten, Briefen und sonstigen Statements zum »Fall Kittel«, das heißt wohlmeinende Äußerungen (»Persilscheine«) aus dem Kreis seiner ehemaligen Kollegen, von Freunden und Bekannten, die unter der Überschrift »Beilagen zu Gerhard Kittel: Meine Verteidigung« der Selbstverteidigungsschrift hinzugefügt sind, insgesamt ein Konvolut von 104 Seiten.12 Im Folgenden werden wesentliche Gehalte von Kittels »Verteidigung« referiert. Es kann dabei zunächst nicht darum gehen, das »Wahre« und das »Falsche« dieser Darlegungen zu unterscheiden, sondern ausschließlich darum, zu zeigen, welches Bild Kittel in früher Nachkriegszeit von sich selbst, seiner Wissenschaft und seinem politischen wie privaten Verhalten während der Hitlerzeit zeichnet. Der Text teilt sich in 18 Abschnitte, die jeweils mit einer Kapitelüberschrift versehen sind. Im ersten Abschnitt, überschrieben »Die grundsätzliche Frage«, schildert der Verfasser knapp seine persönliche Lage seit Kriegsende. Die »Maßnahmen« gegen Kittel – er schreibt durchgängig von sich selbst in der dritten Person Singular – seien mit seiner Haltung zur »Judenfrage« begründet worden. Es sei 10

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Ein gewöhnlicher Lagergefangener war Kittel in Balingen nicht. Seinem Bericht vom 16.2.1946 ist zu entnehmen, dass er faktisch die Rolle eines Lagergeistlichen einnahm. Vermutlich hatte er ein Zimmer allein für sich, war von den übrigen Gefangenen (die in »Stuben« mit Mehrfachbelegung untergebracht waren) getrennt und hatte darüber hinaus erheblichen Bewegungsfreiraum. Er hielt größere gottesdienstliche Feiern am 1. Advent und zu Weihnachten 1946 im Lager und teilte das Abendmahl aus. Zeitweilig bot er allabendlich Andachten in den einzelnen Stuben an. Zugleich führte er, der Internierte, seelsorgerliche Gespräche mit vielen anderen Internierten. Nach seinen Eindrücken sei der Bedarf nach dem »Wort Gottes« unter den Gefangenen sehr groß gewesen, jedenfalls zu Beginn seiner Haftzeit in Balingen. Später sei das Interesse daran zurückgegangen. Lediglich etwa 10 Prozent der Internierten zeigten sich unzugänglich und hätten sich bei seinem Erscheinen demonstrativ abgewandt und ihr »Kartenspiel« fort­ gesetzt, wenn er bei ihnen zur Stubenandacht eintrat. »Meine Verteidigung – von Gerhard Kittel, Doktor und Professor der Theologie« (maschinenschriftl. Manuskript, 76 + 2 S., Tübingen 1946) ist im Universitätsarchiv Tübingen, Signatur 162/31, überliefert. »Beilagen zu GERHARD KITTEL: Meine Verteidigung« (maschinenschriftl. Manuskript, ohne Paginierung [104 S.], Tübingen 1947) (ebd.).

Gerhard Kittels »Meine Verteidigung«

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»weltbekannt«, dass er sich mit der »Geschichte der älteren Judenfrage« wissenschaftlich befasst habe. Das sei stets »vom Boden des Christentums« aus geschehen. Er bestreite kategorisch, dass seine wissenschaftliche Arbeit eine unwürdige gewesen sei. Er sei bereit, alles ihm in jüngster Zeit Widerfahrene als ein Stück Schicksal seines Volkes auf sich zu nehmen. Als Glied seines Volkes sei er auch bereit, alle Folgen des »furchtbaren Geschehenen« mit zu tragen. Eine ungeheure Kollektivschuld hätten die Deutschen auf sich geladen. Es sei allerdings die Frage, ob bei ihm auch individuelle Schuld vorliege, die seine Bestrafung erfordere.13 Unter Punkt zwei »Kittels Stellung in der wissenschaftlichen Welt« rekapituliert der Hochschullehrer seinen akademischen Werdegang. Er dürfe, sagt er, als »Gelehrter internationalen Ranges« auf seinem Gebiet gelten. Er sei Begründer und Herausgeber des ThWNT und verweist auf ein Zitat seines Schweizer Kollegen Emil Brunner (1889–1966), der das Wörterbuch im Jahr 1940 als »bedeutendste Leistung protestantischer Theologie seit der Reformationszeit« gekennzeichnet habe. Kittel betont seine zahlreichen internationalen wissenschaftlichen Kontakte und Einladungen. Alles zusammen beweise, dass sein Ansehen durch seine Arbeiten über das Judentum nicht gemindert gewesen sei. In der christlichen theologischen Welt beider Konfessionen und beider Kontinente habe man seine Haltung nicht als »unwürdig« geschweige denn als »kriminell« gesehen.14 Im folgenden, sehr ausführlichen Kapitel stellt Kittel als seine »wissenschaftliche Lebensarbeit« den Gang seiner Judenforschungen dar. »Zu den wissenschaftlichen Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft«, so schreibt er einleitend, »gehört die historische Erforschung des dem Neuen Testament zeitgenössischen Judentums, mit welchem sich sowohl Jesus Christus wie die Apostel wie die Kirchenväter auseinandergesetzt haben, und von welchem Jesus Christus selbst gekreuzigt worden ist.«15 Von seiner ersten Schrift (erschienen 1913) an habe er immer wieder das Verhältnis Judentum-Christentum dargestellt, und zwar stets unter dem »Doppel-Gesichtspunkt der Zusammengehörigkeit und des Gegensatzes«. Er habe niemals, auch nach 1933, aufgehört, die enge Verknüpfung des Urchristentums mit Religion und Geschichte des Volkes Israel sowie die »heilsgeschichtliche Würdestellung dieses Volkes« zu betonen. Er habe den abgründigen Gegensatz zwischen Christentum und demjenigen Judentum geschildert, das Jesus Christus gekreuzigt und den Übergang von der alttestamentlich-prophetischen Religion in die Religion des Pharisäismus und Talmudismus vollzogen habe. Seine These sei zu allen Zeiten gewesen, »dass dieses Judentum, wie es seit 13 Vgl. Kittel, Meine Verteidigung, S. 1 f. 14 Ebd., S. 3 f. Zur Äußerung Brunners siehe Emil Brunner, Die Bedeutung des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament für die Theologie, Beilage zu Band 4 des ThWNT, ausgegeben im August 1940; abgedruckt in: ders., Ein offenes Wort. Vorträge und Aufsätze 1935–1962, Band 2, Zürich 1981, S. 62–64, hier 62 (mit Dank für diesen Hinweis an Horst Junginger). 15 Ebd., S. 5.

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der nachexilischen Zeit sich gestaltet und allmählich über das ganze Abendland ausgebreitet hat, im Lichte der biblischen Offenbarung des Alten und des Neuen Testaments ›Abfall‹ und ›Ungehorsam‹, und dass seine Geschichte, theologisch gesehen, ›Fluch‹ und ›Verwerfung‹ sei«. Die Theologie habe beide Seiten, die »Heilsgeschichte« wie die »Unheilsgeschichte« Israels und des Judentums, gleich ernst zu nehmen und gleich nachdrücklich zu bezeugen.16 Kittel, so berichtet er über sich selbst, habe immer, auch lange Zeit vor 1933, auf den unerbittlichen und unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der christlichen und der jüdischen Auffassung hingewiesen. Es gehe dabei nicht um einen historisch-zufälligen Gegensatz, sondern um einen »metaphysischen Gegensatz«. Kittel zitiert zur Bekräftigung sein abschließendes Statement aus »Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Urchristentum« (1926), dessen Gehalt er von 1925 bis 1928 viermal in Schriften wiederholt habe: »Wo Judentum Judentum bleiben will, da kann es nicht anders als der Person Jesu den Kampf ansagen; wo jedoch Jesu Vollmacht als Wirklichkeit und Wahrheit anerkannt ist, da hat das Judentum sein Ende gefunden.«17 Kittel habe später mehrfach die Formel aufgestellt, das Neue Testament (NT) sei »das antijüdischste Buch der Weltgeschichte«. Der Antijudaismus des NT sei deshalb der antijüdischste, weil er den Gegensatz an der letzten und tiefsten Stelle aufzeige; es gehe hier um einen Gegensatz, der tiefer sei als alle völkischen und alle Rassengegensätze, denn es handele sich um den »in der metaphysischen Wirklichkeit verwurzelten und aus ihr gegebenen« Gegensatz. Der Theologe verweist zur Bekräftigung seiner Glaubensposition auf einschlägige Bibelstellen wie Matth. 23. 1518 und Joh. 8. 40–44.19 In einer Hinsicht, so erklärt Kittel, bestehe allerdings ein Unterschied zwischen seinen Arbeiten vor 1933 und jenen nach 1933: Bis 1933 habe er zu Fragen der aktuellen Judenpolitik nicht Stellung genommen. Eine oberflächliche Betrachtung habe daraus zu schließen gemeint, dass sich seine Stellung plötzlich mit dem Jahr 1933 gewandelt habe. Heute sähe er ein, dass seine vor 1933 geübte Zurückhaltung ein Fehler gewesen sei. Er habe die suggestiven Massenwirkungen der primitiven Demagogie des »Vulgärantisemitismus« unterschätzt. 1933 habe er »mit Erschrecken« wahrnehmen müssen, dass jene Elemente im Begriff waren, über »die Partei« die offizielle Judenpolitik zu gestalten. »Erst in 16 17 18 19

Ebd., S. 5 f. Ebd., S. 7. »Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr Land und Meer durchzieht, damit ihr einen Judengenossen gewinnt; und wenn er’s geworden ist, macht ihr aus ihm ein Kind der Hölle, doppelt so schlimm wie ihr.« Hier nur Vers 44: »Ihr habt den Teufel zum Vater und nach eures Vaters Gelüste wollt ihr tun. Der ist ein Mörder von Anfang an und steht nicht in der Wahrheit; denn die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er Lügen redet, so spricht er aus dem Eigenen; denn er ist ein Lügner und der Vater der Lüge.«

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diesem Zeitpunkt wurde ihm [...] klar bewusst, in welchem Maße die Probleme der Judenfrage nicht theoretisch zu erörternde, sondern in furchtbarer konkreter Leibhaftigkeit gestellte waren. Aus diesem Grunde ergab sich ihm jetzt, 1933, die Berufung und Verpflichtung, zu reden, öffentlich Stellung zu nehmen, wie er dies etwa in seinem Vortrag ›Die Judenfrage‹ tat.«20 Und dies sei nun der schwerste Vorwurf eines schuldhaften Versäumnisses, räumt Kittel ein, den er sich heute im Blick auf die Vergangenheit mache: Dass er in den Jahren vor 1933 nicht schon klarer gewarnt und damit der Verharmlosung und Vernebelung – in der sich fast alle, Juden wie Christen, befunden hätten – Vorschub geleistet habe. Er hätte, so meint er inzwischen, schon vor 1933 unerbittlich auf das Vorhandensein einer aktuellen »Judenfrage« hinweisen sollen, damit sie nicht auf eine gewaltsame explosive Lösung hindränge. Daher hätte er ernsthafte Polemik gegen die Unsinnigkeiten des vulgären Antisemitismus führen sollen, indem er auf Grundlage der biblisch-theologischen, theoretischen Grunderkenntnisse jenem Radauantisemitismus die Forderungen eines »klaren christlichen Antijudaismus« hätte entgegensetzen sollen.21 Ausführlich schildert Kittel sodann seine politische Haltung, seine »Stellung zur Partei«. Den NS habe er begrüßt, weil er in ihm »eine völkische Erneuerungsbewegung auf christlich-sittlicher Grundlage« sah. Aus diesem Grund sei er am 1. Mai 1933 der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (­NSDAP) beigetreten. Er habe gehofft, dass die propagierte »Volksgemeinschaft« die Klassengegensätze überwinden würde. Dabei habe er sich auf die Zusagen des Parteiprogramms (Punkt 24)22 und Versprechungen Hitlers verlassen, wonach Christentum und christliche Kultur als eine der Grundlagen des deutschen Neuaufbaus zu gelten hätten. Zugleich habe er eine Überwindung des Freidenkertums und der »atheistischen Zersetzung des Volkslebens« erhofft. Er habe sich lange Zeit verleiten lassen, der »Lauterkeit der innersten Gesinnung Hitlers« zu vertrauen. Dabei habe er nicht gewusst, in welchem Maße der echte nationale Gedanke zu einem »System der imperialistischen und größenwahnsinnigen Brutalitätspolitik umgefälscht und das soziale und sozialistische Ideal zur Tarnung für Lüge und Gewalttat und Korruption missbraucht« worden sei. Heute müsse er bekennen, dass sein

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Kittel, Meine Verteidigung, S. 8. Ebd., S. 8 f. »Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen. Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden. Sie bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns und ist überzeugt, dass eine dauernde Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von innen heraus auf der Grundlage: Gemeinnutz vor Eigennutz.« Zit. nach: Georg Denzler/Volker Fabricius (Hg.), Die Kirchen im Dritten Reich. Christen und Nazis Hand in Hand? Band 2: Dokumente, Frankfurt a. M. 1986, S. 14 (Hervorhebungen im Original).

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Mitmachen (Kittel spricht für seine Kollaboration ­wörtlich von ­»Versuch«) »auf der wohl bittersten Täuschung seines ganzen Lebens beruhte«. Man werde heute die Frage aufwerfen, räumt der Theologe ein, warum er nicht aus der NSDAP ausgetreten sei, als er die Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen um eine christliche Läuterung der Partei erkannt habe. Entscheidend für ihn sei gewesen, dass er es den Parteifanatikern nicht so leicht machen und freiwillig habe ausscheiden wollen. Vielmehr sei es seine Absicht gewesen, mit seinem »niemals einen Augenblick verhüllten Bekenntnis als Christ und als Theologe sozusagen ›ein Pfahl im Fleisch‹ für die Partei« sein zu wollen, bis diese ihn hinaus­werfen würde.23 Kirchlich habe Kittel »eine kurze Zeit lang« versucht, die Bewegung der Deutschen Christen (DC) zu beeinflussen, sei aber noch im weiteren Verlauf des Jahres 1933 wieder ausgetreten. Sein Gegensatz zu den DC sei während der späteren Jahre immer schärfer geworden. Zu dem Eisenacher »Entjudungsinstititut« habe er sich in schärfste Opposition gestellt.24 Seine kirchliche Haltung sei in allen Stadien des Kirchenkampfes durch den »engen Anschluss« an die beiden der Bekennenden Kirche (BK) angehörenden Bischöfe Theophil Wurm (1868–1953) in Stuttgart und Hans Eder (1890–1944) in Wien bestimmt worden.25 Im Herbst 1934 habe er sich, zusammen mit seiner Tübinger Fakultät, mit dem abgesetzten Bischof Wurm solidarisiert. »Wesentlich durch diese Haltung der Tübinger Fakultät wurde damals die Zerstörung der Württembergischen Kirche aufgehalten und der Zusammenbruch der Kirchenpolitik des von Hitler eingesetzten Kirchenkommissars August Jäger (1887–1949) herbeigeführt. Dies dürfte der überhaupt erste Fall gewesen sein, dass die Partei seit ihrer Machtergreifung eine offene Niederlage erlebte.« Kittel habe sich nicht gescheut, den unter Hausarrest stehenden Bischof in seiner Wohnung zu besuchen. Er zählt sodann eine Reihe von kirchlichen Persönlichkeiten auf, denen er in Verfolgungssituationen beigestanden habe. Wiederholt sei er bei Parteiveranstaltungen, in denen Christus oder andere biblische Personen oder die Kirche verunglimpft worden seien, aufgestanden und habe die Versammlungen demonstrativ verlassen.26

23 Kittel, Meine Verteidigung, S. 11–15. 24 Gemeint ist das 1939 maßgeblich durch seinen Schüler Walter Grundmann (1906–1976) gegründete kirchliche »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«. Vgl. hierzu den Beitrag von Oliver Arnhold im vorliegenden Band. 25 Der Wiener evangelische Bischof Hans Eder verfügte ursprünglich über gute Kontakte zur NSDAP. Er war eng vertraut mit dem bayerischen Landesbischof Hans Meiser (1881–1956). Während seiner letzten Lebensjahre ging er zunehmend auf Distanz zu den DC und Nationalsozialisten. Vgl. zu Eder und zum Kontext: Karl W. Schwarz, Ein Kirchenkampf in Österreich? Zum Konflikt um das Bischofsamt. In: Katarzyna Stokłosa/Andrea Strübind (Hg.), Glaube – Freiheit – Diktatur in Europa und den USA. Festschrift für Gerhard Besier zum 60. Geburtstag, Göttingen 2007, S. 141–158. 26 Kittel, Meine Verteidiung, S. 16–20 (Hervorhebungen im Original).

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Viel Platz räumt Kittel seinem am 1. Juni 1933 in der Universität Tübingen gehaltenen Vortrag »Die Judenfrage« ein. Es ist wohl kein Zufall, dass er hier ausschließlich von dem Vortrag, nicht jedoch von der erweiterten Buchpublikation spricht, die drei Auflagen erfuhr und zu den einflussreichsten Statements von protestantischer Seite überhaupt zählte. Zu Fragen der »Judenpolitik im engeren Sinn«, so sagt er, habe er seit 1933 nur einmal in jenem Vortrag Stellung genommen. Kittel habe unterschieden zwischen einem traditionellen »treuen, frommen Judentum« und einem säkularisierten »Assimilationsjudentum«. Die Resultate von Aufklärung und Judenemanzipation hätten im christlichen Abendland zur modernen »Judenfrage« geführt und müssten mit rechtlichen Mitteln (»Gastrecht«) rückgängig gemacht werden. Sein judenpolitisches Plädoyer von 1933 sei ein Versuch gewesen, gegenüber der aufbrechenden antisemitischen Leidenschaft einen biblisch-christlich motivierten Lösungsweg aufzuzeigen. Bereits am Folgetag, so betont Kittel, sei er wegen seines Vortrags in der Tübinger NS-Zeitung scharf angegriffen worden. Auch wenn er die »Entartungserscheinungen« des modernen wie antiken Judentums gebrandmarkt habe, konzediert er, so hätten doch die Vulgärantisemiten in der NSDAP gespürt, dass sein christlicher Antijudaismus nur äußerlich dem Rassenantisemitismus ähnlich erschien, tatsächlich aber etwas »völlig anderes«, etwas ihnen gegenüber schlechthin Anti­ thetisches dargestellt habe. Sein damaliger Vortrag, behauptet Kittel, habe sich jeder Bezugnahme auf die NSDAP, deren Programm und Personen enthalten. In der Druckfassung, so räumt er ein, habe er dann allerdings auch Bezüge auf die NSDAP und Hitler eingefügt. Teils sei dies aus taktischen Gründen geschehen, teils auch, weil er zu diesem Zeitpunkt an »die Entwicklungsmöglichkeit innerhalb der Partei zu idealistischen Zielen« geglaubt habe.27 Was die Stellung der evangelischen »Nichtarier« in der Kirche betrifft, beruft er sich auf ein von ihm verfasstes Gutachten der Tübinger Theologischen Fakultät »Kirche und Judenchristen« (1933).28 Demnach sei und bleibe der »christliche Jude« in vollem Sinn und Umfang Glied der Kirche. Der »Judenchrist« werde durch die Taufe zwar nicht Deutscher, jedoch ohne Einschränkung »christlicher Bruder«. Ein Sonderproblem sei die Frage einer »judenchristlichen Kirche«. 27 28

Ebd., S. 21–28. Zu Kittels Schrift »Kirche und Judenchristen« von 1933 vgl. Axel Töllner, Eine Frage der Rasse? Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, der Arierparagraf und die bayerischen Pfarr­ familien mit jüdischen Vorfahren im »Dritten Reich«, Stuttgart 2007, S. 71–73. Der Stuttgarter Evangelische Landeskirchentag vom 13.9.1933 beschloss mit DC-Mehrheit, einen Arierparagraf für die württembergische Landeskirche zu übernehmen, der jedoch keine rückwirkende Geltung haben sollte. Vgl. hierzu auch Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft, S. 93 f. Zur partiellen Anwendung dieser Maßnahme in der württembergischen Landeskirche vgl. Siegfried Hermle, Die Bischöfe und die Schicksale »nichtarischer« Christen. In: Manfred Gailus/Hartmut Lehmann (Hg.), Nationalprotestantische Mentalitäten. Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, Göttingen 2005, S. 263–306, bes. 277 ff.

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­ ittel habe niemals, so behauptet er 1946, die Forderung nach einer solchen abK gesonderten Kirche für evangelische »Nichtarier« gestellt. Wohl aber habe er die Möglichkeit erwogen, dass eine solche Zusammenfassung der »christlichen Juden« in eigenen kirchlichen Gruppen nahegelegen habe und sich als praktisch hätte erweisen können.29 Mit Blick auf seine Mitarbeit im »Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands«, geleitet von dem NS-Historiker Walter Frank (1905–1945), betont Kittel: Es habe sich nicht um ein Parteiunternehmen, sondern ein staatliches Institut gehandelt, dessen Leiter nicht NSDAP-Mitglied war.30 Hätte er sich dem Ruf verweigert, argumentiert er, wäre vermutlich ein Theologe der DC an seine Stelle getreten. Alle Arbeiten, die Kittel in diesem Zusammenhang geleistet und in den »Forschungen zur Judenfrage« publiziert habe, hätten zum Ziel gehabt, der historischen Wahrheit gegenüber den vulgärantisemitischen Verzerrungen der Zeit zu dienen. Es handele sich ausschließlich um Arbeiten zum antiken Judentum. Kapitel 10 überschreibt Kittel mit »Die Zusammenarbeit mit den Anthropologen«. Er meint an dieser Stelle völkisch oder NS-orientierte, mit Partei und Staat eng kooperierende Rassenanthropologen wie Eugen Fischer (1874–1967)31 und Otmar von Verschuer (1896–1969).32 Man übertreibe nicht mit der Feststellung,

29 Kittel, Meine Verteidigung, S. 29–31. 30 Walter Frank, aus evangelischer Familie in Fürth stammend, studierte von 1923 bis 1927 Geschichte in München und wurde 1927 mit einer Arbeit über Adolf Stoecker promoviert. Von 1934 bis 1936 war er Referent für Geschichte in der Dienststelle Rosenberg, zugleich Referent für Geschichte in der Hochschulkommission der NSDAP. Im Mai 1935 zum Professor ernannt, avancierte er im August 1935 zum Präsidenten des neu gegründeten »Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands«. Er kann als führender NS-Historiker gelten. Nach Auseinandersetzungen mit Alfred Rosenberg wurde er im Dezember 1941 von seinem Präsidentenamt beurlaubt. Frank verübte am 9.5.1945 Suizid. Vgl. Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966; Patricia von Papen, Schützenhilfe nationalsozialistischer Judenpolitik. Die »Judenforschung« des »Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands« 1935–1945. In: »Beseitigung des jüdischen Einflusses …«: Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus. Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, 1998/1999, S. 17–42. 31 Eugen Fischer studierte Medizin und Anthropologie in Freiburg und München. Nach Promo­ tion (1898) und Habilitation (1900) in Freiburg war er seit 1904 a. o. Professor, seit 1918 ordentlicher Professor (Anatomie) in Freiburg. Von 1927 bis 1942 wirkte er an der Universität Berlin und als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin. Seit 1940 gehörte er der NSDAP an. 32 Otmar Freiherr von Verschuer studierte seit 1919 Medizin in Marburg, Hamburg, Freiburg und München und wurde 1923 in München promoviert. 1927 folgte die Habilitation (Menschliche Erblehre) in Tübingen. Von 1927 bis 1935 war er Abteilungsleiter am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin. Anschließend amtierte er von 1935 bis 1942 als ordentlicher Professor an der Universität Frankfurt am Main. 1940 schloss von Verschuer sich der NSDAP an. Seit 1942 leitete er das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropolo-

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so resümiert der Theologe diesen Abschnitt, »dass Kittel auf dem Wege war, über die Anthropologie und im Bunde mit ihr den vulgären Rassenantisemitismus endgültig an der Wurzel zu überwinden!«33 Zur »Judenverfolgung« führt Kittel im Jahr 1946 aus: Konkrete Nachrichten über »wirkliche Judenmisshandlungen oder gar Judenmorde« seien bis ca. 1942 in Deutschland sehr selten gewesen. Gleichwohl habe es Informationen über Unterdrückungen und, besonders im Zusammenhang mit den Ereignissen des 9. Novembers 1938, von Plünderungen gegeben. Kittel habe wiederholt bis in höhere Stellen hinein vor diesem Treiben gewarnt. Er habe Anzeichen dafür gehabt, dass man ihn genau beobachtete und kontrollierte. Schon seit dem Tübinger Angriff der NS-Presse vom 2. Juni 1933 habe er gewusst, »dass er beständig mit einem Fuß sich im K. Z. befand«. Von den in großem Umfang durchgeführten Judenmorden in Polen und Russland habe er erst Anfang 1943 durch seinen auf Kriegsurlaub zu Hause weilenden Sohn Eberhard erhalten.34 Die radikal antisemitischen Kreise in der Partei hätten ihn gehasst. Andererseits habe es in der NSDAP durchaus Personen gegeben, die ein Interesse daran zeigten, die »antijudaistische Propaganda« auf festere wissenschaftliche Grundlagen zu stellen. »Sie haben mehrfach versucht, vor allem in den Jahren von 1938 bis 1941, Kittel für ihre Zwecke dienstbar zu machen, teilweise unter gleichzeitiger Loslösung von der Theologie. Kittel nimmt für sich in Anspruch, allen diesen Versuchen dieser Art in allen Fällen radikal widerstanden zu haben.« Kittel zeigt sich bemüht, sein angeblich widerständiges Verhalten anhand einiger Beispiele zu belegen, etwa anlässlich seiner Mitarbeit an einer von Alfred Rosenberg eröffneten Ausstellung zum NSDAP-Parteitag im Jahr 193835 oder im Kontext seines Gutachtens (1941) im Fall des seit 1940 in Berlin inhaftierten Pariser Attentäters Herschel Grynszpan36 (geb. 1921, Todesdatum unbekannt). Seine öffentliche Vortragstätigkeit sei gering gewesen, nach eigenen Angaben habe er zum Thema »Judenfrage« in den zwölf Jahren lediglich neunmal gesprochen.37 Heute werde die Frage aufgeworfen, ob er durch seine Forschungen nicht

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gie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin. Ein in der Nachkriegszeit gegen von V ­ erschuer eröffnetes Verfahren wegen Verstrickungen in Konzentrationslager-Verbrechen wurde 1967 eingestellt. Kittel, Meine Verteidigung, S. 33–39, Zitat 39. Ebd., S. 40–43. Ebd., S. 44 (Zitat) und 46; Kittel war »Ehrengast des Führers« auf dem NSDAP-Parteitag 1938 und steuerte zu einer von Rosenberg eröffneten Ausstellung »Europas Schicksalskampf im Osten« einen eigenen Raum mit Karten über die Ausbreitung des Judentums in der Antike bei. Vgl. hierzu den Beitrag von Horst Junginger im vorliegenden Band. Vgl. den Beitrag von Horst Junginger; Kittels Gutachten ist im Anhang dieses Bands dokumentiert. Kittel, Meine Verteidigung, S. 44–52.

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geholfen habe, den Antisemitismus der NS-Propagandisten zu untermauern. Diese Behauptungen seien »reine Fiktion«. So sehr er als Glied seines Volkes in einer Solidarität der Schuld stehe, so entschieden bestreite er zugleich, dass durch seine Schriften »auch nur einem Juden auch nur ein einziges Haar gekrümmt worden« sei. Es sei abwegig, Kittels Arbeiten einen auch nur indirekt verstärkenden Einfluss auf die NS-Judenpolitik zuzuschreiben.38 Gegen Ende seiner »Verteidigung« zählt Kittel eine Reihe von Juden und christlichen »Nichtariern« auf, die er persönlich kannte. Beginnend mit dem Jahr 1920 schildert er, welchen positiv-freundschaftlichen Umgang er mit ihnen gepflogen habe. Schließlich und vielfach wiederholend rekapituliert er in Kapitel 16 »Einzelne Beschuldigungen« ausführlich und weist sie zurück.39 In seinem Schlussplädoyer resümiert er alles Gesagte dann noch einmal wie folgt: »Kittel ist Vertreter eines christlichen Antijudaismus. Die daran entstehende sehr grundsätzliche Frage lautet: ob es in der christlichen Kulturwelt als Verbrechen gilt und mit Gewaltmaßnahmen verhindert werden muss, eine an die Weisungen Jesu Christi und seiner Apostel anknüpfende und von dort her normierte Stellung zur Judenfrage zu vertreten? Wer diese Stellung Kittels für verwerflich erklärt, wird nicht umhin können, zuerst die Stellungnahme Jesu Christi, seiner Apostel Paulus u. Johannes, der Kirchenväter, der altkirchlichen Synoden, ebenso die Martin Luthers und Goethes als Verirrung zu brandmarken und zu verwerfen.«40

Mit seinen Schriften habe er den »kirchlichen Widerstand« gestärkt, sie stellten in ihrer »sachlichen Unbestechlichkeit eine wirksame Abwehrposition« gegen den Totalitätsanspruch der Partei dar. Er verlange nun Klarstellung, ob seine menschliche und wissenschaftliche Ehre »befleckt oder rein sei«, und ob sich seine Familie, seine Schüler und Freunde seiner zu schämen hätten oder nicht.41

Kontexte und Vernetzungen Gerhard Kittel verfasste diese Verteidigungsschrift während der ersten zwei Nachkriegsjahre 1945 und 1946. Und zweifellos geschah dies unter persönlich prekären Umständen. Eine formelle Anklageschrift gegen ihn lag nicht vor. Die Besatzungsmacht, so vermutete Kittel, habe ihn wohl allein wegen seiner Haltung zur »Judenfrage« inhaftiert. Als einziger Grund für seine Einlieferung in das Internierungslager Balingen habe auf seiner Karteikarte im Lager gestanden:

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Ebd., S. 53–58. Ebd., S. 66–72. Ebd., S. 74. Ebd., S. 76.

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»Antisémite, propagandiste du parti.«42 Der französischen Besatzungsmacht, die bei ihrer Ankunft in Tübingen im Frühjahr 1945 sicher nicht über ein Dossier in Sachen Kittel verfügte, genügten wohl diverse Hinweise dieser Art, um die geschilderten Zwangsmaßnahmen gegen ihn zu verhängen.43 Durch die von der Besatzungsmacht angeordnete Gefängnis- und Lagerhaft sah sich Kittel zu Unrecht bestraft. Er sprach in seiner »Verteidigung«, in zahlreichen begleitenden Erklärungen und Briefen der Jahre 1946 bis 1948 wiederholt von »Beschuldigungen«, von »Vorwürfen« oder »Anklagen«, auch von böswilliger Denunziation war die Rede, ohne dass hieraus hervorginge, wer im Einzelnen das Wort gegen ihn erhob. Nach Lage der Dinge stammten die belastenden Informationen aus antifaschistischen Kreisen seines Tübinger universitären Umfeldes, möglicherweise auch von jüdischer Seite und von Christen jüdischer Herkunft, die die NSZeit überlebt hatten. Anfang Januar 1947 besuchte der Tübinger Theologe Professor Adolf Köberle (1898–1990) Kittel in Beuron und berichtete anschließend Landesbischof Wurm über das Gespräch. Kittel beschäftige derzeit sehr, dass sein Fall bald vor eine Tübinger Spruchkammer komme. Er möchte in dem Verfahren das Folgende erreichen: die Gewährung freier wissenschaftlicher Betätigung; weiteres Publizieren auf dem Gebiet der neutestamentlichen Forschung; die Erlaubnis, Tübingen wieder für Studien- und Familienzwecke betreten zu können; schließlich eine angemessene Pension. Auf die Wiedererlangung seiner Professur wolle er verzichten. Inzwischen habe die Militärbehörde die gegen ihn verhängte Vermögenssperre aufgehoben. Kittel habe daraus geschlussfolgert, dass man ihm dort wohl nicht mehr gram sei. Seine Verhaftung, so vermutete er, sei höchstwahrscheinlich auf feindseliges lokales Denunziantentum zurückzuführen.44 In einem Schreiben vom 3. Februar 1948 an Landesbischof Wurm, das der Vorbereitung auf sein Spruchkammerverfahren diente, wurde Kittel etwas konkreter: Er habe jetzt Informationen erhalten, dass man »von einer gewissen Seite her« die Bemühungen des Staatskommissars für die politische Säuberung Anton Traber (1897–1948) um eine unvoreingenommene und gerechte Klärung zu e­ rschweren

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Statement Gerhard Kittel vom 2.2.1948 (LKA Stuttgart, PA Kittel, Band 2). Zur Situation in Tübingen bei Ankunft der französischen Besatzungsmacht vgl. Carlo Schmid, Erinnerungen, Bern 1979, S. 213–233. Erstaunlicherweise kommt der »Fall Kittel« bei Schmid nicht vor, obwohl er als zeitweiliger Landesdirektor für Unterricht und Kultur auch mit Universitätsangelegenheiten befasst war. Adolf Köberle an Landesbischof Wurm vom 23.1.1947 (LKA Stuttgart, PA Kittel, Band 1). Köberle war zu dieser Zeit eine Art Vertrauensmann für Kittel und nahm von Tübingen aus dessen Interessen wahr. Köberle wurde 1928 in Tübingen zum Dr. theol. promoviert und trat 1930 eine a. o. Professur in Basel an. Von 1939 bis 1965 wirkte er als Professor für Systematische und Praktische Theologie in Tübingen.

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versuche. Trabers Absicht, den Präsidenten des Oberlandesgerichts Tübingen Emil Niethammer (1869–1956) zum Vorsitzenden der Spruchkammer für die Universität zu machen, sei hintertrieben worden. Andererseits versuche »jene kleine Clique innerhalb der Universität«, die seinerzeit die »Professorenfälle« angezettelt habe, sich um jeden Preis die Herrschaft in der Spruchkammer zu sichern. Bezeichnend sei, meint Kittel, dass »derjenige Herr«, der die Absetzungen 1945/46 ausführte, unbedingt Vorsitzender der Kammer habe werden wollen. Als dies abgelehnt wurde, habe er sich durch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) ­hineindelegieren lassen. Dass hingegen der ihm gewogene und vertraute Theologe Professor Adolf Köberle von der Christlich-Demokratischen U ­ nion Deutschlands (CDU) in die Spruchkammer entsandt werde, bewertete Kittel als eines der wenigen positiven Zeichen für sein Verfahren.45 Dichtung und Wahrheit in Kittels über 70-seitigen Ausführungen präzise auseinanderzuhalten, ist nicht immer einfach. Eine bloße Ansammlung von Falschbehauptungen ist seine Verteidigungsschrift selbstverständlich nicht. Bildlich gesprochen: Hier war einer von Teilen der Öffentlichkeit beschuldigten Person die Schlinge um den Hals gelegt, und natürlich versuchte der Betroffene mit vielerlei Mitteln, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Und er tat dies scheinbar ziemlich erfolgreich. Hätte Kittel mit dieser Schrift, dem Konvolut an Gutachten, Empfehlungen und »Persilscheinen«, die er beibringen konnte, sowie mit einer stattlichen Anzahl von teils namhaften »Zeugen« vor einem Entnazifizierungskomitee gestanden, so wäre er höchstwahrscheinlich als »unbelastet« oder als »Mitläufer«, im ungünstigsten Fall als »geringfügig belastet« eingestuft worden und damit letztlich frei aus dem Verfahren herausgekommen.46 Wie sollten Richter – in diesem Fall kurzfristig nach Parteienproporz bestellte Laienrichter – in den Jahren 1946 bis 1948 ein Urteil über die Strafwürdigkeit seiner theologischen Positionen zu Antijudaismus und Antisemitismus und zu seinem politisch changierenden, nicht immer eindeutigen Verhalten im »Dritten Reich« treffen können? Kittel selbst jedenfalls sah das entschieden so und stellte deren Kompetenz infrage. Er verlangte parallel zu seinem Spruchkammerverfahren die Einsetzung eines aus Fachleuten gebildeten Theologenkonzils oder zumindest die Heran­ziehung eines theologischen Gutachtens, um die Würdigkeit (oder Unwürdigkeit) seiner theolo­gie­

45 Gerhard Kittel an Landesbischof Wurm vom 3.2.1948 (LKA Stuttgart, PA Kittel, Band 2). Die seit Januar 1948 tätige Universitäts-Spruchkammer bestand aus je einem Vertreter der vier zugelassenen Parteien (CDU, SPD, Freie Demokratische Partei, Kommunistische Partei Deutschlands), einem Gewerkschaftsvertreter sowie zwei Professoren. Aufgabe war, sämtliche Fälle bisher entlassener oder suspendierter Personen noch einmal zu untersuchen. Vgl. Zauner, Entnazifizierung, S. 970. 46 Die Einstellung seines Verfahrens im Juli 1948 kam faktisch einem Freispruch gleich. Kittels Witwe wurden die üblichen Versorgungsbezüge zugesprochen.

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politischen Positionen und seine hieraus resultierende Praxis im »Dritten Reich« überprüfen zu lassen.47 Natürlich stellte Kittel sein Wirken zwischen 1933 bis 1945 in ein möglichst günstiges Licht. Dabei bediente er sich einer Reihe einschlägiger Methoden, auch mancherlei darstellerischer und semantischer Tricks: Kompromittierendes weglassen; Entlastendes groß herausstreichen; ambivalentes Verhalten im Licht der Nach-Hitlerzeit umdeuten; entlastende Episoden erzählen, für die es keine Zeugen gab; unzeitgemäß gewordene NS-Terminologie durch neue Terminologie ersetzen und dergleichen Verfahren mehr. Einige Beispiele fallen dabei besonders ins Auge: etwa sein verfälschender Rückbezug auf die einflussreiche Schrift »Die Judenfrage« (1933) oder seine semantische Umwandlung von »Rasse«-Begriffen und antisemitischen Terminologien der NS-Rassenforschung in ein verharmlosendes Vokabular anthropologischer Forschung. Im ersten Fall sprach er in unzulässig verkürzender Weise fast ausschließlich von seiner Vortragsfassung vom 1. Juni 1933, nicht jedoch von der wenige Wochen später folgenden, erweiterten Buchfassung. Aber es war diese Schrift, die in mehreren Auflagen zu den wirkmächtigsten Stellungnahmen zur »Judenfrage« im protestantischen Milieu der Epoche gehörte. Darin ließ Kittel in seiner wort­reichen Klage über die verderblichen Folgen der jüdischen Assimilation kaum ein antisemitisches Klischee aus. Er beklagt die tief eingerissene »Blut- und Rassen­mischung«, bezeichnet sie als ein »Gift«, das die »Zersetzung« des deutschen Volkes bewirkt habe. Dabei zitiert er wiederholt zustimmend aus Hitlers »Mein Kampf« und spricht von echten und gesunden »Instinkten des Volkes«. Im Unterschied hierzu bedauert er das Versagen der deutschen geistigen Eliten in der Vergangenheit, sie hätten der unheilvollen Judenemanzipation Tür und Tor geöffnet. Die Juden im Deutschen Reich müssten, so wie früher, wieder unter ein strenges Fremdenrecht gestellt werden. Auch der Christ habe seinen Platz an dieser Front »unseres antisemitischen Kampfes«. Entgegen seinen Einlassungen von 1946 plädierte er 1933 in weitgehender Übereinstimmung mit den Forderungen der DC explizit für eine abgesonderte judenchristliche Kirche.48 Positionen der zeitgenössischen Rassenforschung verwandeln sich in Kittels »Verteidigung« unter der Hand in eine harmlose wissenschaftliche ­Anthropologie: 47

So Gerhard Kittel an Landesbischof Wurm vom 17.3.1947 mit der Forderung nach einem »auto­ ritativen theologischen Gremium«, vor dem er sich verantworten könne; ähnlich auch persönliches Statement (ohne Adressat) vom 2.2.1948: Die Spruchkammer werde die Grundfragen eines »christlichen Antijudaismus« nicht bewerten können, daher sei ein aktuelles theologisches Gutachten erforderlich (LKA Stuttgart, PA Kittel, Band 2). 48 Gerhard Kittel, Die Judenfrage, Stuttgart 1933, das Plädoyer für »judenchristliche« Sonderkirchen S. 69–72. Vgl. hierzu auch Manfred Gailus, Die Judenfrage (Gerhard Kittel, 1933). In: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Band 6: Publikationen, Berlin 2013, S. 339–341.

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Kittel nennt eine Reihe zeitgenössischer Forscher, mit denen er wissenschaftlich kooperierte und mit deren Positionen er weithin übereingestimmt habe: etwa Walter Frank und Wilhelm Grau (1910–2000)49 vom Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands; ferner Eugen Fischer, Otmar von ­Verschuer und andere aus dem Kreis der Eugeniker und Rassenanthropologen. Der Rassenbegriff und diverse Rassentheorien durchdrangen deren Terminologien in den 1930er- und frühen 1940er-Jahren. Verschuers Aufsatz »Die Rasse als biologische Größe« beispielsweise, publiziert in dem von den Theologen Walter Künneth (1901–1997) und Helmuth Schreiner (1893–1962) im kirchlichen Wichern-Verlag herausgegebenen Band »Die Nation vor Gott« (zuerst 1933), ist durch und durch von rassenterminologischen Begriffen durchsetzt.50 Dass aus diesen Kooperationen einschlägiges Rassenvokabular und genuin völkisches Denken in Kittels religionsund theologiegeschichtliche Texte übergingen, lässt sich anhand zahlreicher seiner Publikationen der späten 1930er-Jahre und der Kriegszeit belegen.51 Gewiss hätte auch das umfangreiche Konvolut an Entlastungsschreiben Kittel vor einer Spruchkammer geholfen. Die meisten Schriftstücke entstanden 1946 und dürften zweifelsfrei auf Anforderung durch Kittels Helferkreise entstanden sein. Hier finden sich mehr oder weniger entlastende Statements von Professorenkollegen, Pfarrern und Kirchenbeamten, von ehemaligen Studenten Kittels, ehemaligen NS-Funktionären, von Freunden und Bekannten der Familie. Emilie König, Frau des Weichenwärters Friedrich König und 15 Jahre lang Putzfrau im Hause Kittel, schrieb am 21. November 1946: »Habe in den 15 Jahren Herrn Prof. Kittel als sehr edlen guten hilfsbereiten Herrn kennengelernt. Er hat sich stets um das Wohl und Weh meiner Familie gekümmert und war immer sehr freundlich und gut zu mir. Ich und meine Familie waren sehr erschüttert, als wir von der Festnahme des Herrn Prof. hörten und können es nicht glauben, dass Herr Prof. jemandem etwas zuleid getan hat. Habe nie ein Wort für den Hitlerstaat aus seinem Munde gehört, wie wir in seinem Haus auch nie mit Heil Hitler gegrüßt haben.«52 49 Wilhelm Grau entstammte einer katholischen Familie in Straubing; er studierte 1930 bis 1933 Geschichte in Frankfurt a. M., Berlin sowie München und wurde 1933 in München mit einer Arbeit über »Antisemitismus im späten Mittelalter« promoviert. Seit 1935/36 war er Mitarbeiter am Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands. Grau wurde 1937 in München habilitiert und schloss sich im selben Jahr der NSDAP an. Nach Konflikten mit Walter Frank schied er 1938 beim Münchener Reichsinstitut aus. Seit 1940 war er in der Dienststelle Rosenberg tätig, wo er bis 1942 Rosenbergs »Institut zur Erforschung der Judenfrage« in Frankfurt a. M. leitete. Vgl. Matthias Berg, Wilhelm Grau. In: Michael Fahlbusch/Ingo Haar/Alexander Pinwinkler (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme, 2. Auflage Berlin 2017, S. 229–235. 50 Otmar von Verschuer, Die Rasse als biologische Größe. In: Walter Künneth/Helmuth Schreiner (Hg.), Die Nation vor Gott, 5. Auflage Berlin 1937, S. 45–61. 51 Zu Kittels Aufnahme rassenterminologischer Begriffe in seine Publikationen vgl. den Beitrag von Horst Junginger in diesem Band sowie den Dokumentenanhang. 52 Vgl. Kittel, Beilagen, S. 96.

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Sicherlich mehr Gewicht wäre den Gutachten von Professorenkollegen beigemessen worden, etwa das vierseitige Schreiben des Heidelberger Theologen Martin Dibelius (1883–1947). Er bestätigt im Allgemeinen die Wissenschaftlichkeit der Kittel’schen Arbeiten, konzediert allerdings, dass in einigen Abhandlungen auch Passagen vorkämen, die Übereinstimmung des Verfassers mit den Maßnahmen der Partei »anzudeuten scheinen«.53 Zu den eindrücklichsten Entlastungsschreiben dürfte die Auskunft von Annemarie Tugendhat (1922–2013) aus Tübingen vom 1. Oktober 1945 zählen. Ihr Vater sei Jude, sie selbst habe als »Mischling 1.  Grades« gegolten. Sie habe Kittel anlässlich eines Vortrags in Stuttgart nach dem 9. November 1938 kennengelernt. Es habe sich unmittelbar danach ein langes Gespräch mit ihm ergeben, das erst nachts um 2.00 Uhr endete. Kittel habe in diesem Gespräch Einspruch gegen die antijüdischen Pogrome erhoben.54 Seine Rechtfertigungsschrift, in der er häufig aus eigenen Publikationen und anderen Quellen zitieren konnte (also während seiner Haft in erheblichem Maße Hilfsmittel zur Hand hatte), das umfangreiche Konvolut an Entlastungsschreiben und sein intensiver Briefwechsel der Jahre 1946 bis 1948 verweisen darauf, dass Kittel weder im Tübinger Gefängnis noch im Internierungslager Balingen oder während des Zwangsaufenthalts im entlegenen Beuron von der Außenwelt völlig abgeschnitten war. Vielmehr konnte er sich bei seinen Bemühungen um Rehabilitation auf ein einflussreiches Netzwerk von Helferkreisen stützen, mit dem ihn eine intensive Kommunikation verband. Am wichtigsten dürfte die Unterstützung durch die württembergische Landeskirche mit Landesbischof Wurm an ihrer Spitze gewesen sein. Theophil Wurm galt als prominente kirchliche Widerstandsfigur des »Dritten Reiches«, als maßgeblicher Repräsentant der BK. Zugleich repräsentierte er als erster Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (1945–1949) sämtliche deutschen evangelischen Christen in der frühen Nachkriegszeit.55 Der

53 Martin Dibelius, Gerhard Kittels Arbeiten über das antike Judentum. In: Kittel, Beilagen, S. 18–21. Dibelius lehrte von 1915 bis 1947 Neues Testament an der Universität Heidelberg. Er verfasste 1946 eine kritische Bilanz deutscher Geschichte, die unter den zeitgenössischen Theologen kaum ihresgleichen findet. Vgl. Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Martin Dibelius. Selbstbesinnung des Deutschen, Tübingen 1997. 54 Schreiben Annemarie Tugendhat vom 1.10.1945. In: Kittel, Beilagen, S. 89. Annemarie Tugendhat (1922–2013) war im Schuldienst tätig und berichtete wiederholt über ihre Erlebnisse während der NS-Zeit. 55 Theophil Wurm studierte 1887–1891 Theologie in Tübingen und stieg nach ersten Pfarrstellen 1929 zum Kirchenpräsidenten (seit 1933 »Landesbischof«) der Landeskirche Württembergs auf. Als Mitglied der BK gehörte er zeitweilig dem Reichsbruderrat und seit 1936 dem maßgeblich von den »intakten« lutherischen Kirchen geführten Lutherrat an. Seit 1941 trat er als I­ nitiator eines Kirchlichen Einigungswerks zur Sammlung der zersplitterten deutschen Protestanten hervor. In seinen Memoiren von 1953 resümierte Wurm, Kittel sei nach Kriegsende »schweres Unrecht« geschehen. Er sei kein »Nazi« gewesen und habe bei der NSDAP lediglich Verständnis für

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S­ chriftwechsel der Jahre 1946 bis 1948 zwischen dem württembergischen Oberkirchenrat in Stuttgart und Kittel war rege. Zusammengefasst ergibt sich aus ihm, dass die württembergische Landeskirche und ihr Bischof den entlassenen Tübinger Theologen als einen zu Unrecht in Not geratenen »Glaubensbruder« ansahen und alles Erdenkliche unternahmen, um ihn so weit als möglich zu rehabilitieren. Das schloss die offizielle Beauftragung Kittels mit pfarramtlichen Tätigkeiten in Beuron sowie finanzielle Unterstützungen unterschiedlicher Art ein.56 Am 24. April 1947 sandte Landesbischof Wurm ein drei Seiten umfassendes »Gutachten« an den Staatskommissar für die politische Säuberung in Reutlingen.57 Gegen Professor Kittel, so führt er darin aus, »scheint als schwerste Anschuldigung seine angeblich antisemitische Haltung und seine direkte oder indirekte Mithilfe an den Exzessen des vulgären Antisemitismus erhoben zu werden«. Es gehöre indessen zu den Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft und zu den Grundlagen christlichen Glaubens, dass man sich mit der »Frage des Judentums« beschäftige: »Gott hat es wohlgefallen, zuerst aus diesem Volk seine Gemeinde zu erwählen, wie es in der Geschichte des Alten Testaments bezeugt ist. Aber neben der durch das ganze Alte Testament hindurch sichtbaren Heilslinie der Erwählung ist daneben von Anfang an die Linie der Verwerfung sichtbar, die mitten durch dies Volk hindurch geht und die alle einschließt, die sich im Ungehorsam gegen Gottes Gebote aus falsch verstandenem Rassedünkel erhoben haben. [...] Die Kirche Jesu Christi hat von Gott her den Auftrag, vor der Welt zu bezeugen, dass Gott seine Heilsgeschichte, die er bei dem Volk Israel begonnen hat, herrlich zu Ende führt und dass er auch dieses Volk einmal in sein Reich rufen wird. Aber sie hat ebenso sehr den Auftrag, zu bezeugen, dass die Geschichte der Verwerfung des Volkes Israel, die anhebt bei den Erzvätergeschichten, sich fortpflanzt über die ägyptische Knechtschaft weiter zum babylonischen Exil bis zur Vernichtung des Tempels durch die Römer und bis zur Zerstreuung des Judentums in die Welt, ein Gerichtszeichen für alle Menschen bedeutet.«58

die Anliegen der Kirche wecken wollen. Wurm besuchte Kittel nach eigenen Angaben dreimal: im Tübinger Gefängnis, im Lager Balingen und zuletzt in der Tübinger medizinischen Klinik kurz vor seinem Tod. Wurm, Erinnerungen, S. 150 f. 56 Als Seelsorger im kirchlichen Auftrag in Beuron erhielt Kittel von der württembergischen Landeskirche seit Oktober 1946 monatlich 200 Reichsmark (RM). Zusätzlich gewährte ihm die Kirche seit Februar 1947 ein monatliches (zinsloses) Darlehen von 100 RM. Diesen Betrag leitete Kittel mit kirchlicher Zustimmung zur Unterstützung an seinen in Heidelberg noch in der medizinischen Ausbildung stehenden Sohn Eberhard Kittel weiter. Nach Kittels Tod wurde das eineinhalb Jahre gezahlte Darlehen nachträglich in eine »Beihilfe« umgewandelt. Außerdem finanzierte die württembergische Kirche vom 1.9.1947 bis 1.9.1948 zur Hälfte (die andere Hälfte trug die EKD) die Kosten für einen wissenschaftlichen Hilfsarbeiter, der Kittel bei der Wiederaufnahme seiner Arbeiten zur Fortführung des ThWNT unterstützte (sämtlich Angaben nach brieflichen Informationen in: LKA Stuttgart, PA Kittel, Band 1 und 2). 57 Landesbischof Wurm an Staatskommissar für die politische Säuberung vom 24.4.1947 (LKA Stuttgart, PA Kittel, Band 2). 58 Ebd., S. 1 f.

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Es habe zum kirchlich-theologischen Lehrauftrag Professor Kittels gehört, die »göttlichen Ursachen der Verwerfung des Volkes Israel« aufzuzeigen. Dieser Lehrauftrag sei begründet in den Stellungnahmen Jesu, seiner Apostel, der Kirchenväter und Synoden. Daher könne man ihn nicht als eine »Verirrung« brandmarken oder mit dem vulgären Antisemitismus identisch setzen. Dieses »Zeugnis« habe Kittel in der ganzen wissenschaftlichen Welt vor und nach 1933 abgelegt. Der Tübinger Theologe habe für seine wissenschaftliche Haltung internationale Anerkennung gefunden und auch nach Kriegsende sei dies weiterhin der Fall.59 Sei nicht, so die rhetorische Frage von Bischof Wurm, diese internatio­ nale Wertschätzung »weit erhaben über alle Beschuldigungen, die diesen Mann von Weltruf zum Handlanger eines Streicher stempeln wollen?« Kittel habe sich durch »ostentativen Besuch« des unter Hausarrest stehenden Bischofs im September 1934 mit ihm als Repräsentanten der BK solidarisiert. Kaum minder engagiert bei den Bemühungen um Rehabilitation Kittels erwies sich die katholische Kirche in Gestalt des Leiters des Klosters Beuron. Kittel war nicht allein Benutzer der Klosterbibliothek, sondern erfuhr an diesem Ort durch vertrauliche Gespräche, durch Vorträge und andere Kontakte viel Verständnis und Unterstützung für seine »Verteidigung«. Am 3. Februar 1947 unterbreitete der Leiter von Sanct Martin Beuron, Erzabt Benedikt Baur (1877–1963), Bischof Wurm konkrete Vorschläge zur »endgiltigen Rehabilitation« Kittels. Sein »Fall« sei, meinte Baur, für eine »große Anzahl von Pg’s. [Parteigenossen]« typisch, »die durch ihre treu-festgehaltene kirchlich-christliche Haltung gerade innerhalb der Partei eine deren Zügellosigkeit hemmende Wirkung hatten und so unabschätzbares Unheil verhüteten, indem an ihnen eine Atmosphäre des Widerstandes schon in der Partei entstand. Wenn man den Fall Kittel zu einer positiven Entscheidung durchficht, ist es vielleicht möglich, damit für eine gerechtere Beurteilung vieler kleinerer Fälle eine Bahn zu brechen.« Erzabt Baur kündigte in seinem Brief eigene Schreiben zugunsten Kittels an General Marie-Pierre König (1898–1970) und Gouverneur Guillaume Widmer (1906–1968) an und schlug darüber hinaus vor, Bischof Wurm möge das Gleiche für die protestantische Seite tun.60 Wenig später sandte der Vorsteher des Klosters Beuron ein achtseitiges Schreiben gleichen Sinnes an den Staatskommissar für die politische Säuberung

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Bischof Wurm verwies auf die Anfrage aus dem Vatikan an Prof. Kittel, die unterbrochene Quellenedition zur jüdischen Geschichte fortzusetzen; ferner auf eine Einladung der Internationalen Gesellschaft für Neutestamentliche Studien zur Teilnahme Kittels an ihrer Jahrestagung 1947 in Oxford; schließlich auf ein kürzlich erhaltenes Schreiben des Bischofs von Chichester George Bell, der darin seine weiterhin uneingeschränkte Wertschätzung für Kittel ausgedrückt habe. Zur internationalen Wahrnehmung und den Netzwerken Kittels vgl. auch den Beitrag von Lukas Bormann in diesem Band. Erzabt Baur an Landesbischof Wurm vom 3.2.1947 (LKA Stuttgart, PA Kittel, Band 2).

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in Reutlingen. Er machte sich Kittels Argumentationen in dessen »Verteidigung« in vollem Umfang zu eigen. Kittel wegen seiner »Arbeiten zur Judenfrage« zu verurteilen sei gleichbedeutend mit einer Verurteilung der Propheten des Alten Bundes und mit einer »Verurteilung Christi des Herrn selbst«. Lediglich aus christlicher Verantwortung sei Kittel bis Kriegsende in der Partei geblieben und habe damit einer »inneren Widerstandsbewegung« angehört. Auch habe Kittel in den Gefängnissen und Internierungslagern den »gefährlichen Erscheinungen der trotzigen Verstockung und politischen Verhärtung« entgegengewirkt. Baur verwies auf die auch weiterhin eine hohe Wertschätzung für Kittel ausdrückende Beauftragung aus Rom, die Edition jüdischer Quellen fortzusetzen sowie auf die an Kittel ergangene Einladung nach Oxford zur Jahrestagung 1947 der wissenschaftlichen Gesellschaft zur Erforschung des Neuen Testaments. Es sei keine Übertreibung, so wird im Schlussabsatz hervorgehoben, »dass die gesamte wissenschaftliche Welt aller Konfessionen und aller Kulturländer der ganzen Erde mit Spannung und Erwartung auf die Entscheidung der maßgebenden Stellen über die endgiltige Liquidation des ›Falles Kittel‹ wartet«.61 Repräsentativ für die Unterstützung aus unmittelbaren Freundeskreisen Kittels war ein 15 Seiten umfassendes Schreiben vom Oktober 1947 mit mindestens 78 Anlagen, gerichtet an den Säuberungskommissar (Reutlingen) und den Vorsitzenden der Tübinger Universitätsspruchkammer. Unterzeichnet hatten die Eingabe der Tübinger emeritierte Theologe Karl Heim (1874–1958),62 Friedrich Lang (1913–2004, Repetent am Theologischen Stift Tübingen), Dora Schlatter (1890–1969), Tochter des verstorbenen Tübinger Theologen Adolf Schlatter (1852–1938), und Gustav Eppinger (Stadtpfarrverweser in Balingen). Die Verfasser bewegten sich, was kaum überrascht, ganz auf der Linie der Argumentation Kittels in seiner Verteidigungsschrift und versuchten dabei wiederholt, ihn in der Charakterisierung als Mann des christlichen Widerstands – gegenüber Kittels Selbstdarstellung – noch zu überbieten. Sie schrieben ihm einen »beständigen aktiven Widerstand« gegen den NS zu. Kittels Verbleiben in der NSDAP sei, betonten sie, so erstaunlich das klingen möge, »ein Teil seines Widerstandes« gewesen. Sehr ausführlich wurde Kittels Haltung zur »Judenfrage« geschildert mit dem Ergebnis, er sei weder Vertreter des »nazistischen Antisemitismus« gewesen, noch habe er diesem »auch nur irgendwie, unmittelbar oder mittelbar, Vorschub geleistet«. Kittel könne, so schlussfolgerten die Verfasser, bezüglich der »Judenfrage« auch keinerlei Vorwurf einer Mittäterschaft gemacht werden. Daher müsse

61 Erzabt Baur an Staatskommissar für die politische Säuberung vom 22.2.1947 (ebd.). 62 Karl Heim studierte 1892–1897 Theologie und Philosophie in Tübingen und wurde 1899 zum Dr. phil. promoviert. 1905 folgte die theologische Promotion, zwei Jahre später die Habilitation. Nach einer ersten Professur in Münster (1914) amtierte er von 1920 bis 1939 als ordentlicher Professor für Systematische Theologie und Kirchengeschichte in Tübingen.

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dieser Punkt bei der Beurteilung des Falles Kittel als belastendes Moment völlig ausscheiden. Es sei vielmehr anzuerkennen, dass der Tübinger Theologe seine christliche Überzeugung und Lehre stets mutig verfochten habe, und zwar »auf dem gefährlichsten Frontabschnitt des weltanschaulichen Ringens im Dritten Reich, nämlich auf dem Gebiet der Judenfrage.« Alles dies sei »aktiver Widerstand im ausgeprägtesten Sinn« gewesen.63

Resümee Gerhard Kittel, der renommierte Tübinger Theologieprofessor, ein prominenter Zeitgenosse, ein nationalsozialistischer Christ,64 der in der Hitlerzeit als geistiger Mittäter an der Ausgrenzung der Juden zweifelsfrei durch Wort und Tat beteiligt gewesen war, behauptete nach dem Krieg von sich: Ich war nicht wirklich mit dabei. Und nicht nur das, sondern darüber hinaus reklamierte er für sich: Ich war eigentlich dagegen. Kittels Selbstverteidigung baut auf dem bekannten Argumentationsmuster vieler Mittäter und Mitläufer auf: Er habe sich der ­NSDAP angeschlossen, um von innen her und vom Standpunkt eines christlichen Anti­ judaismus aus gegen das Vulgärantisemitische und Antichristliche in ihr und damit letztlich gegen den weltanschaulichen Haupttrend in der NSDAP zu arbeiten. Im Zentrum seines Wirkens als gläubiger Christ und Theologe stand ein auf zahlreiche Belegstellen im NT sich berufender christlicher Antijudaismus, freilich zugleich durchsetzt von explizit völkisch-antisemitischen Positionen und Haltungen. Vor dem imaginären Gericht, das am Ende nicht stattfand, stand mit der Person Kittel während der Jahre 1946 bis 1948 folglich die Frage nach der Legitimität eines christlichen Antijudaismus im frühen 20. Jahrhundert, und dessen theologische, moralische, politische und juristische Bewertung nach Hitler und dem Holocaust. Eine Frage, die zu entscheiden wohl jedes Gericht überfordert hätte und die generell kaum im strafrechtlichen Sinn justiziabel erscheint.65 Nimmt man die Diktion seiner Verteidigungsschrift als Maßstab, so starb Kittel im Juli 1948 im Alter von 59 Jahren nicht – wie der Autor ­ursprünglich

63 Schreiben von Karl Heim u. a. an den Staatskommissar für die politische Säuberung und den Vorsitzenden der Spruchkammer für die Universität vom Oktober 1947 (LKA Stuttgart, PA Kittel, Band 2). 64 Vgl. Manfred Gailus, »Ein Volk – ein Reich – ein Glaube«? Religiöse Pluralisierungen in der NS-Weltanschauungsdiktatur. In: Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Große Kracht (Hg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Köln 2007, S. 247–268; ders., Artikel »Religion«. In: Shelley Baranowski/Armin Nolzen/Claus-Christian W. Szejnmann (Hg.), A Companion to Nazi Germany, Hoboken (USA) 2018, S. 351–366. 65 Kittel selbst verlangte in seiner »Verteidigung« die Einberufung eines Konzils, eines Expertengremiums von Theologen, das über diese grundsätzlichen Fragen befinden müsse.

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a­ ngenommen hatte – an innerer Gebrochenheit, an seelischer Zerknirschung oder einem Übermaß an Scham. Es finden sich in seinen Schriftzeugnissen nach 1945 geringe Spuren von subjektiver Schuldeinsicht. Er bekannte lediglich Mitschuld an der allgemeinen Katastrophe der Deutschen. Individuell und subjektiv fühlte er sich als rechtgläubiger Christ mit sich selbst im Großen und Ganzen im Reinen. Er habe, so schrieb er 1946, nicht einem einzigen Juden auch nur ein Haar gekrümmt. Vielmehr zeichnete er von sich das Bild eines mutigen christlichen Bekenners, der dem zeitgeistigen Trend der NS-Weltanschauung widersprochen habe, der gegen den immer mächtiger anschwellenden Strom der Rassentheoretiker und »Vulgärantisemiten« geschwommen sei, der dabei viel riskiert habe und dem angeblich mehr als einmal das Konzentrationslager gedroht hätte. Bezieht man die Motive seines weit gespannten Unterstützerkreises der Jahre 1945 bis 1948 ein – die evangelischen Kirchen mit dem damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Wurm an der Spitze, die katholische Kirche in Gestalt des Beu­roner Erzabts Baur und neben ihm etlichen weiteren katholischen Theologen, zahlreiche Hochschullehrer, besonders solche der evangelischen Theologie –, so wird deutlich, dass es im Fall Kittel nicht allein um »Meine Verteidigung« ging, sondern viel grundsätzlicher um »Unsere Verteidigung«, in der Spitzenvertreter beider großen christlichen Konfessionen sich selbst, ihre tradierte antijudaistische Theologie, ihren religiösen Glauben, nicht zuletzt ihr Handeln im »Dritten Reich« und damit die Unschuld und ungebrochene Legitimität eines christlichen theologischen Antijudaismus im 20. Jahrhundert verteidigten. Wäre Kittel als politischer Akteur für seine Mittäterschaft und seine teils antisemitischen Schriften der Jahre 1933 bis 1945 vor der Spruchkammer für schuldig befunden worden, so wären zugleich die beiden großen christlichen Konfessionen, jedenfalls zu erheblichen Teilen, für ihr Wirken während der Hitlerzeit für schuldig gesprochen worden.



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Gutachten Gerhard Kittels für den geplanten Prozess gegen ­Herschel Grynszpan vor dem Volksgerichtshof 1942

Herschel Feibel Grynszpan hatte als verzweifelter Jugendlicher nach der gewaltsamen Massenabschiebung polnischer Juden Ende Oktober 1938, von der auch seine Familie betroffen war, am 7. November 1938 mehrere Schüsse auf den Legationssekretär Ernst vom Rath in der Deutschen Botschaft in Paris abgegeben, der zwei Tage später an den Folgen verstarb.1 Dieses Attentat diente der NS-Führung als Vorwand für die Auslösung der reichsweiten Pogrome am 9./10. November. Nach der Kapitulation Frankreichs wurde Grynszpan von der Vichy-Regierung völkerrechtswidrig am 14. Juli 1940 an das Deutsche Reich ausgeliefert. Im Sommer 1941 wies das Reichsjustizministerium die Reichsanwaltschaft an, gegen Grynszpan Anklage vor dem Volksgerichtshof zu erheben. Die Anklageschrift datiert vom 16. Oktober 1941, wobei der Prozess unter Vorsitz von Otto Thierack zuerst im Januar, dann im Mai 1942 stattfinden sollte. Als Urteil war die Todesstrafe wegen Hochverrats vorgesehen. Der auf sieben Tage terminierte Schauprozess sollte, wie eine »Führerinformation« des Reichspropagandaministeriums, bei dem die Federführung lag, im November 1941 festhielt, den Nachweis erbringen, dass Herschel Grynszpan sich stets »als Werkzeug des Weltjudentums gefühlt« habe. »Er ist nach der Mordtat von führenden Organisationen der ganzen Welt als Vorkämpfer gegen den Nationalsozialismus verherrlicht worden. Seine Tat ist vom Weltjudentum als bewusstes Signal zum Kriege bezeichnet worden.« Der Prozess biete daher die Möglichkeit, »vor aller Welt die entscheidende Mitwirkung des Weltjudentums bei dem Ausbruch des jetzigen Krieges nachzuweisen. In sorgfältiger Kleinarbeit sind alle Argumente zusammengetragen worden, die die geistige Urheberschaft des Weltjudentums bei der Tat und seine Solidarität mit dem Mörder nach der Tat beweisen.«2 1 2

Vgl. die ausführliche Darstellung bei Armin Fuhrer, Herschel. Das Attentat des Herschel Gryn­ szpan am 7. November 1938 und der Beginn des Holocaust, Berlin 2013. Zum geplanten Prozess vgl. Fuhrer, Herschel, S. 264–283; Faksimile der Führerinformation in: Hans-Jürgen Döscher, »Reichskristallnacht«. Die November-Pogrome 1938, Frankfurt a. M. 1988, S. 163–165, hier 163.

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Um dies zu belegen, waren verschiedene Gutachter vorgesehen. So sollte u. a. der Gauleiter der NSDAP-Auslandsorganisation Ernst Wilhelm Bohle »über die Verfolgung des Auslandsdeutschtum durch jüdische Hetze« vortragen, Professor Friedrich Grimm »über die jüdischen Vorbereitungen zur Störung des Ribbentrop-Besuches in Paris sowie über das Verhalten des Weltjudentums bei politischen Prozessen«,3 Professor Friedrich Schönemann »über den Einfluss des Judentums in Amerika und dessen Einfluss zugunsten Grünspans« und Ministerialrat Wolfgang Diewerge vom Reichspropagandaministerium »über die Vorbereitung des Weltjudentums zum Kriege gegen das Reich, insbesondere durch die Tat Grünspans«.4 Gerhard Kittel, der zu dieser Zeit in Wien lehrte, sollte im Prozess vor dem Volksgerichtshof in Berlin eine Stellungnahme »über die Bedeutung des Besuchs Grünspans der Talmudschule in Frankfurt am Main und über die Ziele dieses Unterrichts« abgeben.5 Zu diesem Zweck führte Kittel am 9. Dezember 1941 in Gegenwart von Staatsanwalt Hans Künne ein längeres Gespräch mit Herschel Grynszpan, das vermutlich im Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit stattfand. Am Vorabend hatte Kittel auf Einladung der »Antisemitischen Aktion« noch im Hotel »Kaiserhof« in Berlin einen Vortrag gehalten: »Die Äußerungen der normativen religiösen Schriften des Judentums über die Stellung der Juden zum Nichtjuden«.6 Am Morgen des 9. Dezember gab es ein gemeinsames Frühstück, an dem neben Kittel auch der Vizepräsident des Volksgerichtshofs Karl Engert, Jurist Friedrich Grimm, Ministerialrat Heinrich Junke aus dem Reichspropa­ gandaministerium sowie Walter Tießler von der Reichspropagandaleitung der ­NSDAP teilnahmen.7 Des Weiteren fand noch eine Besprechung mit Vizepräsident Engert und mit Oberreichsanwalt Ernst Lautz statt, der zusammen mit

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Friedrich Grimm, der seit November 1938 das Reichspropagandaministerium bei der Prozess­ planung beriet, war in Paris als Nebenklägervertreter der Familie vom Rath aufgetreten. Von ihm stammt auch die Veröffentlichung: Der Grünspan Prozess, Nürnberg 1942; sowie unter dem Pseudonym »Pierre Dumoulin«, L’affaire Grynspan [sic!], un attentat contre France, Paris 1942. Zur Biografie vgl. Fuhrer, Herschel, S. 190–193. 4 Ministerialrat Diewerge war bereits am 11.11.1938 von Goebbels mit der Leitung der Prozess­ planungsgruppe im Propagandaministerium beauftragt worden, der auch je ein Vertreter des Auswärtigen Amtes, der Auslandsorganisation der NSDAP sowie Professor Friedrich Grimm als Rechtsberater angehörten. Vgl. Döscher, »Reichskristallnacht«, S. 147. Zur Biografie Diewerges vgl. Fuhrer, Herschel, S. 193–201. 5 Aufzeichnung des Ministerialrat Diewerge vom 11.4.1942. Zit. nach Helmut Heiber, Der Fall Grünspan. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 5 (1957) 2, S. 134–172, hier 158 f. Dort auch die Namen und Themen weiterer vorgesehener Gutachter. Vgl. auch Fuhrer, Herschel, S. 273– 276. 6 Vgl. Horst Junginger, Die Verwissenschaftlichung der »Judenfrage« im Nationalsozialismus, Darmstadt 2011, S. 292. 7 Ebd.

Gutachten Kittels zu Herschel Grynszpan

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­ ünne die Anklage vertreten sollte. Am 31. Dezember 1941 erhielt Ministerialrat K Diewerge den »vorläufigen Bericht von Universitätsprofessor Dr. Kittel, Wien, zum Fall Grünspan«.8 Der geplante Schauprozess wurde mehrfach verschoben und im Oktober 1942 auf Weisung Hitlers ohne formellen Beschluss eingestellt. Die letzte Lebensspur von Herschel Grynszpan verliert sich im KZ Sachsenhausen.9

Gutachten Gerhard Kittels vom Dezember 1941 [Seite 1 nicht überliefert, folgt Seite 2].10 Diese Einzigartigkeit besteht im Folgenden: Natürlich gibt es auch sonst zwischen Völkern, die in Feindschaft miteinander leben, scharfe, tödliche Gegensätze, die sich in ähnlichen Äußerungen niederschlagen können. Das Judentum aber hat seit dem Jahre 70 keine eigene völkische Situation mehr, weder ein eigenes Reich noch einen eigenen Volkskern an irgendeiner Stelle der Erde, der Mittelpunkt und völkischer Ausgangspunkt dieses »Volkes« wäre. Jeder Jude lebt seit 2 000 Jahren als Glied nicht eines jüdischen Gemeinwesens, sondern als Teil einer Minderheit innerhalb eines fremden Volkes und fremden Staates, als Gast, aber gleichzeitig (so z. B. schon im alten Alexandria) als alle Rechte eines »Bürgers« in Anspruch Nehmender. Seine Maximen über den Nichtjuden betreffen nicht den oder jenen Angehörigen eines anderen, ihm gerade besonders feindlichen Volkes, sondern sind a) völlig generell gemeint, einfach über die »anderen« (»Acherim«) oder die »Völker« (»Gojim«), b) über diejenigen gesagt, in deren Ländern und Völkern man lebt, mit denen man Handel treibt usw., unter denen man Rechte und Privilegien hat, bei denen man den Ton angeben, die man beherrschen will. Es ist genau diejenige Erscheinung, die man heute als »Weltjudentum« bezeichnet und die seit 2 000 Jahren das eigentümliche Wesen dieses Judentums ausmacht. Fügen jene »Anderen« sich dem jüdischen Anspruch, so kann man die eigene Grundhaltung verhüllen – »um des Friedens willen«, sagt in solchen Fällen der Talmud –, widerstehen sie dem Judentum, so sind alle Mittel

    8 Vermerk Dr. Schmid-Burgk für Ministerialrat Diewerge vom 31.12.1941 (Bundesarchiv, R 55/628, Fiche 1, Bl. 26 f.).     9 Vgl. Ron Roizen, Herschel Grynszpan: The fate of a forgotten assassin. In: Holocaust and Genocide Studies, 1 (1986) 2, S. 217–228; Fuhrer, Herschel, S. 325–339. 10 Bundesarchiv, R 55/628, Fiche 1, Bl. 28–36; Durchschlag im Center of Contemporary Jewish Documentation (CDJC), Paris, CDXXXII, Bl. 118–126. Das Gutachten Kittels wurde erstmals von Horst Junginger ausgewertet. Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 289–293, ders., Politische Wissenschaft. Reichspogromnacht: Ein bisher unbekanntes Gutachten des antisemitischen Theologen Gerhard Kittel über Herschel Grynszpan. In: Süddeutsche Zeitung vom 9.11.2005. (Sämtliche Hervorhebungen im Original; die Schreibweise wurde der neuen Rechtschreibung angepasst.)

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gegen sie recht, beides genau wie einem fügsamen oder einem unbotmäßigen Stück Vieh gegenüber. Klassisches Beispiel: das Buch Esther und das aus ihm erwachsene Purimfest, das jeder Jude in jedem Jahr als das hauptsächlichste Freudenfest feiert. – Die Erinnerung an den Großkönig, der den Juden gefügig war, die Jüdin zur Königin und den Juden zum Minister machte; an die Tötung der 75 000 Nichtjuden, mit dem judenfeindlichen Minister und der judenfeindlichen Königin an der Spitze. Wobei zu beachten ist, dass es sich schon hier nicht etwa um deportierte gefangene Angehörige eines anderen Staates handelt, die gegen ihre Feinde sich erheben, sondern um die freiwillig in Persien gebliebenen, dort sesshaft und heimisch gewordenen Juden, die zwischen den Persern leben und sich so sehr als in diesem persischen Reich Berechtigte fühlen, dass sie den Minister und die Königin zu stellen in Anspruch nehmen. Und es ist weiter zu beachten, dass in diesem Sinne seit 2 000 Jahren alle Juden, wenn sie im Geiste des Talmud das Purimfest feiern, genau wissen, dass es sich um den Hassgesang gegen ihre jeweiligen Gastvölker und deren politische Stellen, soweit sie den Juden entgegen sind, handelt. Erst aus dieser Situation des nicht im eigenen völkischen Verband, sondern überall und immer quer durch die Völker hindurch lebenden Weltjudentums gewinnen die Äußerungen und Betätigungen gegen die Nichtjuden ihren wirklichen und einzigartigen Sinn. Sie bedeuten, dass es sich um eine wesenhaft para­ sitäre Erscheinung handelt. Das Wesen des Parasiten ist: 1. dass er seine eigene Existenz immer nur als Gast eines anderen hat; 2. dass unter seinen Aspekten die Existenz dieses anderen ihren Sinn und Zweck nicht in sich selbst hat, sondern allein darin, von ihm, dem Parasiten, ausgesogen zu werden, und seiner, der Parasiten, Existenz dienstbar zu sein; 3. dass jener andere, wenn keine Gegenmaßnahmen erfolgen, unweigerlich an ihm zu Grunde gehen muss; 4. dass dies alles dem Parasiten als ein Gesetz der Natur bzw. der göttlichen Vorsehung erscheint. Das ist die talmudische Stellung des Juden zum Nichtjuden.

II. Über Herschel Grünspan [sic!] ergibt sich aus den Akten der Staatsanwaltschaft des Volksgerichtshofes sowie aus der persönlichen Unterredung, die ich am 9. Dezember 1941 in Gegenwart des Herrn Staatsanwalt Dr. Künne mit ihm hatte folgendes Bild. Grünspan ist erzogen im streng orthodoxen Judentum, dem seine Eltern und Vorfahren angehört haben. Die jüdischen Fest[e], auch das Purimfest, wurden regelmäßig gefeiert. Nach Besuch der Volksschule kam er für ein Jahr in die Talmudschule nach Frankfurt, die gleichfalls ausgesprochen orthodoxer Richtung

Gutachten Kittels zu Herschel Grynszpan

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war.11 In seiner Pariser Zeit hatte er wesentlich unter Kreisen des [f]reidenkerischen, nicht mehr rituell lebenden Judentums sich bewegt; auch sein Pariser Onkel hat dieser Richtung angehört. Es scheint, dass er selbst in dieser Zeit nur sehr selten – an ein oder zwei hohen Festtagen – zur Synagoge gegangen ist, doch wurde z. B. das Versöhnungsfest kurz vor der Tat im Hause des Onkels noch gefeiert. Äußerungen über den ihn in der Pariser Untersuchungshaft besuchenden Rabbiner klangen wenig respektvoll; das Verhältnis zu den Rechtsanwälten d[ü] rfte damals sehr viel intensiver gewesen sein. Es ist nun nicht so, dass man – sei es an Hand der Akten, sei es aufgrund von unmittelbaren Äußerungen des Grünspan – irgendeinen bestimmten Punkt nennen könnte, wo die Anknüpfung an das talmudische Urteil über den Nichtjuden unmittelbar gegeben wäre. Es ist mir fraglich, ob Grünspan den Talmud selber gelesen hat, ja ob er ihn, mindestens in den schwereren Partien, überhaupt lesen könnte. Seitdem er in Haft ist, hat er ihn jedenfalls nicht gelesen, auch kein eigentliches Interesse daran gezeigt, ihn zu erhalten. Es ist mir weiter fraglich, ob der Besuch der Frankfurter Talmudschule eine besondere Intensivierung des Interesses am Talmud zur Folge hatte. Der Besuch diente nicht der Rabbinatsausbildung, sondern in erster Linie einer Ausbildung in der hebräischen Sprache zwecks späterer Auswanderung nach Palästina. Eigentlich talmudische Texte wurden, soweit sich noch feststellen lässt, im Unterricht nicht gelesen, sondern nur zwei verhältnismäßig nichtssagende Mischna-­Traktate (Baba Bathra und Baba Mezia). Man wird wohl auch annehmen müssen, dass die rabbinischen Lehrer dieser Schule im Jahre 1937, mindestens in dem, was sie ausdrücklich sagten und lehrten, vorsichtig waren. Jedenfalls lässt sich, soweit ich den Fall zu übersehen vermag, weder an dieser noch an einer anderen Stelle unmittelbar und konkret aufzeigen, dass Herschel Grünspan von bestimmten einzelnen Sätzen jener talmudischen Äußerungen inspiriert worden ist. Auch der gegenseitige Austausch der Eindrücke zwischen Herrn Staatsanwalt Dr. Künne und mir hat dies für uns beide bestätigt. Dazu kommt, dass Grünspan, vor allem seit dem Eingreifen des Rechtsanwaltes de Moro-Giafferi,12 sehr bewusst und bedacht die ursprünglich zugegebene 11 Herschel Grynszpan hatte von 1926 bis 1935 die Volksschule I in Hannover besucht, ohne jedoch die Abschlussklasse zu erreichen. Von Mai 1935 an besuchte er die »Rabbinische Lehranstalt Jeschiwo« in Frankfurt am Main, die er jedoch bereits nach elf Monaten ohne Abschluss wieder verließ. Anschließend hielt er sich für kurze Zeit in Brüssel auf, danach lebte er (illegal) bei seinem Onkel Abraham in Paris. Vgl. Fuhrer, Herschel, S. 32 f. 12 Der sehr bekannte französische Strafverteidiger Vincent de Moro-Giafferi hatte auf Vorschlag der Fédération des sociétés juives de France die Verteidigung Grynszpans in Paris übernommen, die finanziell von einem US-amerikanischen Komitee, das die angesehene Journalistin Dorothy Thompson ins Leben gerufen hatte, abgesichert wurde. Vgl. Fuhrer, Herschel, S. 147– 162. Zur Biografie de Moro-Giafferis, der bereits in mehreren Prozessen NS-Gegner verteidigt hatte, vgl. ebd., S. 182–190.

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Tötungsabsicht verschleiert und abstreitet. Schon aus diesem Grunde wird es völlig aussichtslos sein, aus ihm ein Geständnis der Bekanntschaft mit jenen talmudischen Maximen – falls er sie im Einzelnen gekannt haben sollte – jetzt noch herauszuholen. Er ist viel zu intelligent, um nicht sofort zu wittern, dass hier eine Gefahr für ihn läge. Ebenso aber haben die mit ihm zusammenhängenden Juden alle in diese Richtung weisenden Andeutungen von Anfang an peinlich vermieden. Charakteristischer Weise hat sein »Freund« Naphtali Kaufmann13 in der Vernehmung vor dem französischen Richter betont, dass sie niemals über Politik gesprochen hätten. (Was natürlich in jeder Hinsicht unglaubhaft ist.) So werden voraussichtlich auch alle Versuche, direkter Ermittlungen über Unterhaltungen, die Grünspan mit diesem seinem »Freund« oder mit anderen Juden über jene jüdischen Grundsätze gehabt haben könnte, heute nicht mehr zu einem Ziel führen. Es kann sich allein um einen indirekten Schluss handeln, der freilich in diesem Fall umso kräftiger durchzuführen sein wird. 1. Schon die Zusammensetzung der weiteren Familie Grünspans und ihre Wohnsitze sind lehrreich. Genauere Angaben finden sich bei Wolfgang Diewerge, Gelbbuch Seite 35 ff.14 Diese polnische Judenfamilie sitzt in Polen, Deutschland, Frankreich, Belgien, Holland, Südamerika, Palästina. Sie ist überall »zu Hause«, sie ist typisches »Weltjudentum«, – und so auch Herschel Grünspan selbst. Für diesen in Hannover geborenen und aufgewachsenen polnischen Juden ist ebenso die französische Regierung wie der amerikanische Präsident wie die angloamerikanische Öffentlichkeit je ein Faktor, mit dem er für die Entscheidung über seine eigene Person intensiv rechnet. Er denkt völlig in den Kategorien jener quer durch die Völker lebenden Juden. 2. Herschel Grünspan wächst auf und lebt in der Tradition einer Familie, für welche die talmudische Mentalität selbstverständliche Grundlage ihrer Existenz ist, auch wo man nicht einen einzigen Satz des Talmud unmittelbar liest. Man versteht die wirkliche Situation dieser Menschen nur, wenn man sich darüber klar ist; es handelt sich gar nicht so sehr darum, dass diese Gesinnung in einzelnen Sätzen steckt, die jemand kennt oder nicht kennt, sondern das Urteil über den »Acher«, den »Goj« gehört wesenhaft als solches, unabhängig von jeder Einzelbegründung zum Wesen dieser Frömmigkeit. In dieser jahrhundertealten Tradition steht die Familie Grünspan völlig darin. Sie feiert z. B. wie alle Generationen vor ihr mit ungebrochener Überzeugung das Purimfest; schon dies ist unmöglich, ohne dass Reflexionen über die Nichtjuden im allgemeinen, vor allem über die Judenfeinde aller Länder und aller Zeiten,

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Gemeint ist Nathan Kaufmann, ein ebenfalls aus Hannover stammender jüdischer Jugendlicher. Wolfgang Diewerge, Anschlag gegen den Frieden. Ein Gelbbuch über Grünspan und seine Helfershelfer, München: Eher 1939, 179 S.

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und über das Schicksal, das sie verdienen, ausgelöst werden. Dabei ist noch zu beachten, dass Herschel Grünspan 1933 12 Jahre alt war, also, als er Herrn vom Rath erschoss, von seinem 12. bis 17. Lebensjahr gleichzeitig die Urteile der Judenschaft über den Nationalsozialismus und die Regierung des Dritten Reiches und gleichzeitig die orthodox-talmudische allgemeine Mentalität über Juden und Nichtjuden in sich aufgenommen hatte. Es ist völlig ausgeschlossen, dass nicht dabei beides ineinander floss, z. B. dass man nicht beim Purimfest und der Erinnerung an die Vernichtung der Judenfeinde an Adolf Hitler und seine Herrschaft dachte. 3. Nun ist natürlich eine solche Ostjudenfamilie nicht einfach in grobem Sinn eine Familie von aktivistischen Mördern, d.h.: von Menschen, die bei jeder Gelegenheit ihre nichtjüdischen Mitmenschen totzuschlagen suchen. So einfach liegen die Dinge nicht. Der durchschnittliche Ostjude ist dazu nicht bloß im allgemeinen zu feige; er ist nicht bloß dadurch gehemmt, dass er genau weiß, so etwas würde zu schweren Unzuträglichkeiten für die Judenschaft führen; sondern vor allem sind diese Juden seit Jahrhunderten in einer Tradition des sich Duckens, in der man »um des Friedens willen«, d. h. um des friedlichen und unangefochtenen Lebens willen, seine eigentliche Gesinnung über den Nichtjuden verbirgt, wobei man im allgemeinen die Erfahrung gemacht hat, dass man mit dieser Methode in jeder Hinsicht gut fährt. Es wird auch Zeiten geben, wenn es den Juden gut geht und eine judenfreundliche Regierung vorhanden ist, dass tatsächlich diese Hassgefühle etwas von ihrer Aktualität verlieren und in den Hintergrund treten (wohlgemerkt in den Hintergrund, – womit sie aber ganz und gar nicht aufgehoben sind!). Umso besser und bequemer, wenn man die Gojim für seine Zwecke benutzen kann, ohne dass der tiefe Gegensatz sichtbar wird. 4. Besinnen sich die Gojim auf sich selber, erwachen sie aus ihrer Judenhörigkeit und weisen sie die Juden in ihre Schranken, wie es der nationalsozialistische Staat seit 1933 tut, dann bricht jene Grundhaltung der Purimgesinnung mit absoluter Notwendigkeit wieder auf. Es ist auch jetzt nicht gesagt, dass sie sich offen ans Tageslicht wagt und zur Tat wird. Sie kann auch unter der Oberfläche glühen. Das Letztere wird bei dem durchschnittlichen orthodoxen Judentum in der Regel der Fall sein, schon weil jene jahrhundertealte Tradi­tion der Nichtaktivität nachwirken wird. Aber es gibt in den Akten einen sehr deutlichen Beweis für die wirkliche innere Haltung der orthodoxen Judenschaft, in deren Kreis Herschel Grünspan aufgewachsen war. Nach seiner Tat, als er in französischer Untersuchungshaft war, bekam er zahlreiche Briefe von seinen Verwandten. In diesen Briefen ist nicht wenig von Gott die Rede. Es wird auch gelegentlich die Klage laut, dass Grünspan durch seine Tat die Lage der Juden verschlechtert habe, diese Tat also ungeschickt gewesen und unter diesem Gesichtspunkt zu missbilligen sei. Aber wenn ich

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nichts übersehen habe, es ist nicht ein einziges Mal auch nur der leiseste Ton eines Vorwurfes in diesen Briefen angeklungen, dass er einen unschuldigen Menschen ermordet habe oder auch nur, dass er überhaupt gemordet habe. Die Tötung des Deutschen – »sale boche«, rief Herschel Grünspan unmittelbar nach der Tat – wird offenbar als völlig in Ordnung und nach dem jüdischen Gesetze und allem jüdischen Empfinden als nicht eine Strafe oder einen Vorwurf verdienend angesehen. Sie ist höchstens zu missbilligen, weil sie für die Judenschaft unangenehme Folgen hat. Es ist bezeichnend, dass sämtliche Juden fest überzeugt waren, der Prozess vor dem französischen Gericht, eventuell noch begleitet von einem Druck des Präsidenten Roosevelt und amerikanischer sonstiger Kreise, werde dazu führen, dass Herschel freigesprochen werde. Am 13. Januar 1939 schreibt der Brüsseler Onkel S. Grünspan15 an ihn, er freue sich schon jetzt, als Zeuge im Prozess auftreten zu können; »es ist zu hoffen, dass die Herren bei Deinem Prozess begreifen werden, dass Du nicht auf ungerechte Weise gehandelt hast«. Und wenn er fortfährt: »Gott wird Dein Richter sein!«, so heißt das dem Zusammenhang nach völlig eindeutig: »Gott wird dafür sorgen, dass Du freigesprochen wirst«, also: Gott billigt Deine Tat. Und er schließt mit den Worten; »Ich hoffe, dass wir uns bald in Freuden wiedersehen werden!« Diese Sätze, geschrieben in dieser Situation, sind echter Ausdruck der echten talmudischen Haltung gegenüber dem Nichtjuden. Ob der Schreiber irgendeinen jener einzelnen Talmudsätze dabei im Sinne gehabt oder überhaupt gekannt hat, ist ebenso belanglos wie, ob er von sich aus auf den Gedanken einer solchen Tat gekommen wäre bzw. ob er sie für ratsam oder für unzweckmäßig gehalten haben würde. 5. Wie weit die Talmudschule in Frankfurt diese Gesinnung gefördert hat, dürfte sich, wie schon gesagt, nicht mehr erweisen lassen. Jedenfalls kann man als sicher unterstellen, auch wenn wahrscheinlich jene Zitate aus dem Talmud nicht ausdrücklich studiert worden sein werden und wenn ebenso wahrscheinlich war, schon um die Existenz der Schüler nicht zu gefährden, im Ganzen höchst vorsichtig gewesen sein wird, dass in der Situation des Jahres 1937 unter den jüdischen Schülern und Lehrern nicht gerade eine diese talm[u]dische Haltung abschwächende Tendenz geherrscht haben wird. 6. Dagegen ist es sehr wohl möglich, dass die Pariser Zeit nach 2 anderen Seiten von Einfluss wurde. Einmal wäre zu fragen, ob und inwieweit Herschel Grünspan dort in den jüdischen Klubs und Kaffees mit jüdisch-aktivistischen,

15

Gemeint ist der Brüsseler Onkel Wolf Grynszpan, dessen Vorname Kittel hier wohl mit dem des Vaters Sendel (Sindel) Grynszpan verwechselt hat.

Gutachten Kittels zu Herschel Grynszpan

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kommunistischen Kreisen in Berührung kam; insbesondere liegt es nahe, dass die jüdisch-deutsche Emigration den aktivistischen Hass gegen Hitler und sein Deutschland gepflegt und verbreitet hat. Es dürfte sich empfehlen, zu versuchen, ob sich solche Tendenzen in den Kreisen noch nachweisen lassen, in denen damals Herschel Grünspan in Paris verkehrte, wenn ja, so würden dadurch jene in ihm schlummernden talmudischen Elemente einen unmittelbaren Antrieb erhalten haben. 7. Ebenso ist für Paris etwas anderes anzunehmen. In dem nur orthodoxen Juden wird in der Regel gegen die Umsetzung seiner Hassgefühle in einem wirklichen Sinn eine Hemmung vorhanden sein, eben weil er durch Jahrhunderte hin sich ganz daran gewöhnt hat, diese Hassgefühle in endzeitliche, für die Gegenwart mehr oder weniger theoretische »fromme« Wunschträume zu projizieren und sich auf Gott als den zu verlassen, der sie einmal durchführen wird. Es ist kein Zweifel, dass schon für sich allein auf diesem Boden der Fanatiker erwachsen kann, der sich als Werkzeug dieses Judengottes vorkommt. Aber diese Möglichkeit wird in dem Augenblick noch weiter intensiviert, in dem die – noch so depravierte – letzte »fromme« Bindung, nämlich jener religiöse Aspekt auf das endzeitliche Eingreifen der Gottheit, wegfällt. In Paris verweltlichte der bis dahin rein orthodox erzogene Herschel Grünspan. Bei seiner Vernehmung am 15.11.1938 sagte er selbst: »Ich muss sogar gestehen, dass ich mir infolge der Berührung mit meinem (Pariser) Onkel16 die Ausübung meiner Religion abgewöhnt habe.« Mir selbst gegenüber hat er erzählt, alle Pariser Juden, mit denen er zu tun gehabt habe, seien »liberal« und freidenkerisch gewesen, was durchaus glaubhaft ist. Er hat also offenbar im Augenblick seiner Tat nicht im eigentlichen Sinn als religiöser Fanatiker gehandelt, sondern als in diesem Zeitpunkt mehr oder weniger areligiöser Mensch, bei dem der religiöse Hass in das rein Politische umgeschlagen war. Ich halte es für durchaus möglich, dass in dieser Pariser Zeit der Umgang mit der Pariser Judenschaft und ihren kommunistischen Tendenzen geradezu die Wirkung hatte, in jene latente, bis dahin aber noch in irgendeinem Sinn religiös gebundene und von der Aktivität zurückgehaltene Grundgesinnung des Hasses und der talmudischen Einschätzung des Nichtjuden den Funken des Aktivismus zu werfen. Es ist wahrscheinlich in der Tat nicht zufällig, dass jetzt, in diesem Augenblick und in diesem Zusammenhang, jene uralten talmudischen Grundsätze, die ihm von Vätern und Vorvätern her und von Kind auf im Fleisch und Blut waren, zur Tat des Mordes wurden.

16

Abraham Grynszpan.

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8. Es ist aber auch umgekehrt kein Zufall, dass unter diesen Pariser Juden derjenige, bei dem der Funke zündet und die Tat ausgelöst wird, ein mit eben dieser uralten und gemein jüdischen Mentalität geladener junger Talmudjude ist. Denn im Hintergrund steht der Gedanke, dass dieser Schuss in der deutschen Botschaft das Fanal sei für das gottgewollte Purim über die Judenfeinde. Die Spekulationen auf die französische Regierung und die amerikanische Öffentlichkeit treten so offenkundig bei Grünspan selbst wie bei der ganzen Judenschaft zu Tage, dass daran nicht zu zweifeln ist. Dann aber bricht der Tag der Judenschaft aus: »Ich hoffe, dass wir uns in Freude wiedersehen werden!«, schreibt der Jude dem Juden. Wie weit eine klare Spekulation auf einen deutsch-französischen Krieg und einen daraus erwachsenden Weltkrieg sich nachweisen lässt, entzieht sich meiner Beurteilung. Aber dies ist deutlich erkennbar, dass die Tat – weit über den Einzelakt der Tötung eines Goj hinaus – eine Wirkung auslösen wollte zu Gunsten der Gesamtjudenschaft und zu Ungunsten der Judenfeinde, und dass sie so von Herschel Grünspan gemeint und von der gesamten Judenschaft verstanden wurde.



Gerhard Kittel »Meine Verteidigung« (1946)

[Kap.] XIII. Die Frage nach Kittels indirekter Mitschuld an den ­Judenverfolgungen1 Der Vorwurf, dass Kittel dem vulgären Antisemitismus gehuldigt, ja mit ihm etwas gemein hatte, ist somit abzuweisen. Seine kritische Auseinandersetzung mit dem Judentum ging von völlig anderen Voraussetzungen aus und führte zu anderen Zielen. Sein Anliegen war, Verirrungen durch sachlich-wissenschaftliche Beweisführung zu überwinden. Man hat eine weitere Frage an Kittel gestellt: Ob er nicht durch seine wissenschaftlichen Arbeiten den Propagandisten und Vulgärantisemiten das Material geliefert habe, geholfen habe, ihren Antisemitismus zu untermauern. Er wäre dann zwar nicht direkt, aber doch vielleicht indirekt an den Judenverfolgungen und Judenmorden mitschuldig. Man würde wohl zu seiner Entschuldigung sagen, er, der weltfremde Gelehrte, habe guten Glaubens nur seine objektive Wissenschaft treiben wollen und in seiner Weltfrem[d]heit nicht geahnt, wie sie missbraucht würde. Das würde nichts an dem Tatbestand ändern – falls dieser bestünde –, dass durch ihn die Lage der Juden verschlimmert worden und er damit an ihrem Schicksal mit verantwortlich wäre. Dazu ist aber zu sagen, dass in Wirklichkeit dieser vermutete Tatbestand, so überaus einleuchtend er scheint, schlechterdings nicht besteht, vielmehr eine reine Fiktion ist, eine durch nichts beweisbare Behauptung, die im Gegenteil durch alle feststellbaren Tatsachen widerlegt wird. Es lässt sich, wenn dies im Folgenden gezeigt wird, nicht vermeiden, dass teilweise auf schon Gesagtes zurückgegriffen wird.

1

Der folgende Text stammt aus Gerhard Kittel, Meine Verteidigung, unveröff. Manuskript 1946 (Universitätsarchiv Tübingen, Signatur 162/31, 76 S. + 2 S., hier 53–58). Sämtliche Hervorhebungen im Original; die Schreibweise wurde der neuen Rechtschreibung angepasst.

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1. Kittel ist, dies sei auch an dieser Stelle ausdrücklich betont, tief durchdrungen von der Solidarität der Schuld und Verantwortung, die um der Judengräuel und anderer Dinge willen auf dem ganzen deutschen Volke und so auch auf ihm persönlich als auf einem Glied dieses Volkes liegt und zu tragen ist. Aber so rückhaltlos dies für ihn gilt, so kategorisch bestreitet er gleichzeitig, dass um seinet- und seiner Schriften willen – weder in direkter noch in indirekter Wirkung – auch nur einem Juden auch nur ein einziges Haar gekrümmt worden ist; dass, wenn er irgendwelche Teile seines Schrifttums oder irgendwelche Sätze seiner Bücher nicht geschrieben oder wenn er überhaupt nichts über die Juden geschrieben hätte, eine einzige Synagoge weniger verbrannt, ein einziger Jude weniger deportiert, ein einziger weniger umgebracht worden wäre. Er selbst hat noch eine Zeit lang gehofft, etwa – wie früher erwähnt – auf dem Wege Rudolf Heß, gewisse Hemmungen einschalten zu können;2 heute ist offenkundig, dass auch diese Versuche illusionär und dass die dynamischen Kräfte der Dämonien unaufhaltsam waren, gleichgültig was immer ein Professor für oder gegen die Juden oder über deren Geschichte schreiben mochte. Gewiss hat es Menschen gegeben, etwa wie den Grafen Reventlow,3 auf die Kittels Schriften Eindruck machten und die von ihnen stark beeinflusst wurden, aber da war in keinem Fall einer der Judenmörder oder deren Hintermänner, Hetzer und Befehlsgeber, sondern immer und ausschließlich solche, die die Fragwürdigkeit der offiziellen Juden­politik und Weltanschauungspolitik sahen und deren Haltlosigkeit und Unsinnigkeit durch Kittels Forschungen bestätigt fanden. Das eigentliche Studium seiner Arbeiten blieb beschränkt auf den verhältnismäßig engen Kreis von Fachgelehrten – der Historiker, der Anthropologen, der Religionswissenschaftler – und solcher Männer, die unabhängig vom Tagesgeschrei nach der Wahrheit suchten. Kittel selbst hat dies Letztere dadurch gefördert, dass er seine Arbeiten in der Hauptsache in den »Forschungen zur Judenfrage« als einer spezifisch wissen-

2 3

Kittel schildert auf S. 42, dass er in den Jahren 1938 bis 1940/41 dreimal versucht habe, seine »Warnungen« bezüglich der NS-Judenpolitik Rudolf Heß als »Stellvertreter des Führers« über Mittelsmänner vorzutragen. Ob die »Warnungen« Heß erreicht hätten, wisse er jedoch nicht. Ernst Graf zu Reventlow (1869–1943) betätigte sich als Publizist und veröffentlichte im späteren Kaiserreich in konservativen Blättern, von 1908 bis 1914 war er Chefredakteur der »Alldeutschen Blätter«. Von 1920 bis 1943 war er Herausgeber der völkischen Zeitschrift »Der Reichswart«. 1922 gehörte er mit zu den Gründern der »Deutschvölkischen Freiheitspartei«, seit 1927 war er Mitglied der NSDAP und vertrat sie als Reichstagsabgeordneter. Wie Kittel gehörte er seit 1937 dem Beirat der »Forschungsabteilung Judenfrage« im Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands an. In einer »Eidesstattlichen Erklärung« berichtet Oberstudiendirektor Dr. Reinhold Graeter (vormals Leiter der Napola Backnang) im September 1946, Graf zu Reventlow habe ihm vor seinem Tod mitgeteilt, dass er infolge der Lektüre der Schriften Kittels seine Ansichten zur »Judenfrage« geändert und seine antijüdische Polemik eingestellt habe (vgl. Beilagen zu Gerhard Kittel, Meine Verteidigung, S. 83).

Kittel: »Meine Verteidigung« (1946)

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schaftlich sein wollenden, in relativ kleiner Auflage erscheinenden Publikationsreihe oder in fachwissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlichte. Das mit Eugen Fischer4 gemeinsam bearbeitete Buch über das antike Weltjudentum z. B. sollte eigentlich seiten[s] des Verlages als selbstständiges Werk erscheinen; auf Kittels persönlichen Vorschlag und Wunsch wurde es in die »Forschungen« eingereiht, wodurch seine Wirkung noch mehr dem Propagandistischen entrückt, auf das rein Sachliche gestellt und der Leserkreis von vornherein noch mehr auf die im engeren Sinn wissenschaftlichen Kreise beschränkt wurde.5 Es ist richtig, dass – worüber früher berichtet wurde6 – gewisse Kreise der Partei, vor allem in den Jahren 1938–1940, in mehreren Anläufen, von verschiedenen Seiten her, versuchten, Kittels wissenschaftliche Autorität für die Parteidoktrin nutz- und dienstbar zu machen. Das Ergebnis war, dass man seit ungefähr 1941 diese Versuche als gescheitert einstellte. Das hieß: Man hatte sich davon überzeugt, dass Kittel zu einer Änderung seiner Methoden und Tendenzen nicht zu bewegen, und dass seine Arbeiten, wie sie waren, als Förderung der Partei­ tendenzen und als Rechtfertigung der Judenmaßnahmen nicht auszuwerten seien. Das ist die Bestätigung der Behauptung, dass Kittels Arbeiten an keinem Punkt die offizielle Judenpolitik gestärkt, gestützt oder intensiviert haben. ­Grade dass man dies eine Zeitlang gehofft hatte, aber die Hoffnung als irrig aufgab, macht den Beweis schlüssig. 2. Dem entsprechen eine große Zahl anderer Beobachtungen und Tatsachen. Es ist schon früher erwähnt worden, dass in der antisemitischen Partei- und Vulgärliteratur Kittels Arbeiten so gut wie niemals zitiert und ausgewertet worden sind, sein historisches Material wohl in keinem Fall verwendet wurde. Es ist festgestellt, dass in einer bibliografischen Publikation des Amtes Rosenberg die Zitation von Kittels Schriften in der letzten Druckkorrektur gestrichen wurde, während andere historische und theologische (protestantische wie katholische) Schriftentitel in derselben Bibliografie unbeanstandet gelassen wurden. Dagegen wurde in dieser Literatur des Öfteren, meist in versteckter Form, fast immer ohne Namensnennung, gegen ihn polemisiert. Ein Beispiel war ein durch zwei Nummern hindurchgehender größerer Aufsatz in einer NS-Zeitungskorres­ pondenz im Herbst 1944, der offenkundig von Anfang bis Ende eine Warnung

4 5 6

Eugen Fischer (1874–1967) war Mediziner und Anthropologe und lehrte von 1927 bis 1942 an der Universität Berlin; zugleich leitete er das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin. Vgl. Eugen Fischer/Gerhard Kittel, Das antike Weltjudentum. Tatsachen, Texte, Bilder, Hamburg 1943. Kittel berichtet hierüber in »Meine Verteidigung«, S. 48 f.: Man habe ihm dreimal unter »glänzenden Bedingungen« eine Professur für Judaica an einer Philosophischen Fakultät angeboten. Ziel sei gewesen, Kittel von der Theologie loszulösen. Er habe jedoch jedes Mal abgelehnt.

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und Polemik gegen Kittels Position sein sollte, der aber trotz reichlicher Literaturangaben anderer Arbeiten, auch von theologischer Seite (etwa: Schürer, Volz, Leipoldt, Stähelin)7 den Namen Kittels und jede Erwähnung seiner Schriften auf das Peinlichste vermied. Eben dieses Vermeiden beweist zwingend, dass es sich hier nicht um Zufälligkeiten, sondern um bewusstes Verschweigen polemischer Art handelte. Als Verfasser des anonym erschienenen Aufsatzes ergab sich später Johann von Leers,8 einer der maßgeblichen Literaten und Propagandisten des Vulgärantisemitismus. Ein anderes Beispiel war das Rosenberg gewidmete Buch von Hellmuth S­ chramm über die jüdischen Ritualmorde (Hammerverlag 1943),9 in dessen Vorwort ein Überblick über die antisemitische »Wissenschaft« gegeben wurde, wobei wiederum Kittels Name und Arbeiten mit völligem Schweigen übergangen waren, lediglich die Unbrauchbarkeit gewisser »konfessioneller« Arbeiten festgestellt wurde. Dasselbe Schlagwort von der »konfessionellen Gebundenheit« Kittels kehrte im Kreis der Eisenacher DC [Deutschen Christen] wieder. Die Art und Weise, wie in ihren Schriften Kittels Forschungen zitiert bzw. nicht zitiert und wie dort ihre Auswertung und jede ernstliche Auseinandersetzung mit ihnen vermieden war, ist in jeder Hinsicht bezeichnend.10 Offen, mit Namen, hat man, wie es scheint, nur selten, jedenfalls in der Öffentlichkeit, gegen Kittel zu polemisieren gewagt. Immerhin hat J. W. Hauser [sic!]11 einmal in seiner Zeitschrift »Deutscher Glaube« unter der Überschrift: »Konfessionelle Ehrenrettung des Alten Testamentes« direkt vor Kittels Arbeiten gewarnt. Wahrscheinlich würde eine planmäßige Durchsicht der Bücher und Schriften aus dem Hammer-, Stürmer-, Nordland- und ähnlichen Verlagen und der Schulungsliteratur der SA, SS, HJ usw. noch manches an offenen und versteckten Angriffen auf Kittel ergeben. Kittel hat diese ganze Literatur, soweit sie überhaupt zugänglich war, kaum gelesen, sodass Beispiele dieser Art nur auf Zufalls- und Gelegenheitsfunde zurückgehen.

     7 Gemeint sind die Theologen Emil Schürer (Göttingen), Paul Volz (Tübingen), Johannes Leipoldt (Leipzig) und Wilhelm Stählin (Münster).      8 Der Publizist Johann von Leers (1902–1965) schloss sich nach dem Studium der Rechtswissenschaften und Geschichte bereits 1929 der NSDAP an. Er gehörte während der NS-Zeit zu den radikalsten Stimmen einer antisemitischen Parteipropaganda. 1940 avancierte er zum ordentlichen Professor an der Universität Jena.     9 Gemeint ist Hellmut Schramm, Der jüdische Ritualmord. Eine historische Untersuchung, Berlin 1943. Das Buch erschien im Theodor Fritsch-Verlag. 10 Gemeint sind die mit dem Eisenacher »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« verbundenen Theologen um Walter Grundmann. Vgl. hierzu den Beitrag von Oliver Arnhold in diesem Band. 11 Gemeint ist Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962), der von 1927 bis 1945 als Religionswissenschaftler an der Universität Tübingen lehrte. Seit 1933 leitete er (bis 1936) mit Graf zu Reventlow die Deutsche Glaubensbewegung.

Kittel: »Meine Verteidigung« (1946)

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Vor allem die Geheimanweisungen, die im Gebrauch der Parteidienststellen umliefen, enthalten sicherlich noch manches. Ein »Merkblatt der SA-Gruppe Südwest« mit einer energischen Warnung vor Kittels Arbeiten kam zufällig einmal dadurch zu Kittels Kenntnis, dass es einem Freunde Kittels in die Hände fiel und dieser es ihm zeigte. Dass, wie früher erwähnt, in der Zeitschrift »Der Biologe« ein Aufsatz Kittels12 erschien, führte zu wilden Angriffen, vor allem der bayrischen Führung des NS-Lehrerbundes, gegen den Herausgeber der Zeitschrift, weil er es gewagt hatte, in der Person Kittels »konfessionellen« Tendenzen das Wort zu geben, die, wie es hieß, das Gegenteil der vom NS-Lehrerbund vertretenen und propagierten Anschauungen darstellen. Soviel bekannt, wurde jener Herausgeber mit aus diesem Grunde von der Leitung der Zeitschrift abgesetzt. Ferner ist in diesem Zusammenhang nochmals daran zu erinnern: – dass Kittel nicht ein einziges Mal zu Schulungsvorträgen, weder von einer Ortsgruppe noch von einer Kreisleitung noch von irgendeiner SA- oder sonstigen Formationsstelle, aufgefordert wurde, was wohl sonst bei den meisten Professoren, die Parteigenossen waren, geschah; – dass man niemals versuchte, ihn im Radio propagandistisch einzusetzen, was bei der internationalen Autorität seines Namens immerhin nahegelegen hätte; – dass man ihn – im Unterschied von zahllosen anderen Professoren, Pg.s [Partei­genossen]und Nicht-Pg.s, niemals zu Vorträgen im Ausland über die Judenfrage (die das Ausland doch um der deutschen Maßnahmen willen auf das Höchste bewegte) zu gewinnen suchte; – dass man im Gegenteil seine in Schweden geplanten Vorträge verhinderte; – dass der Tübinger NS-Dozentenbund ihn gleichfalls niemals um die Beteiligung an seinen Vortrags- und Vorlesungsreihen bat, an denen ein großer Prozentsatz der Tübinger Professorenschaft teilhatte; – dass, nach einem einmaligen Versuch, der NS-Lehrerbund Kittel niemals wieder einlud, obwohl in seinen Gruppen und Tagungen sehr viele Professoren zu Vorträgen über alle möglichen fachlichen und allgemein bildenden Themen herangezogen wurden; – dass jener »Versuch« auf der Kreisleiter-Konferenz des Jahres 1943 noch drei Jahre später von dem Gauschulungsleiter als »ein völliges Fiasko« bezeichnet wurde, wobei jener »sich gezwungen sah, im Anschluss an den Vortrag Kittels das Wort zu ergreifen und den von den Ausführungen Kittels völlig abweichenden Standpunkt der Partei klar und eindeutig herauszustellen«.13 12

Vgl. Gerhard Kittel, Das Urteil über die Rassenmischungen im Judentum und in der biblischen Religion. In: Der Biologe, 6 (1937), S. 342–352. 13 Kittel bezieht sich hier auf eine »eidesstattliche Erklärung« von Dr. Helmuth Gesler vom 4.10.1946 (Internierungslager Balingen). Demnach habe Gesler im Lager Balingen Dr. phil. Eugen Klett, den ehemaligen Gauschulungsleiter in Württemberg, gefragt, aus welchen Gründen

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Als ca. 1941 das große Rosenberg’sche Institut zum Studium der Judenfrage in Frankfurt a. M. (das einzige parteioffizielle antisemitische Institut) gegründet wurde, wurden zahlreiche Universitätsprofessoren, darunter auch solche aus Tübingen, zur Gründungsfeier eingeladen und einige in einen wissenschaftlichen »Beirat« berufen. Es fiel damals allgemein auf, dass Kittel nicht unter denselben war, obwohl er sich länger und gründlicher als sie alle mit der Judenfrage befasst hatte und obwohl er der Einzige von ihnen gewesen wäre, der auf diesem Gebiet einen internationalen Ruf besaß. Es hatte seine guten Gründe, dass Kittel mit dieser maßgebendsten und zentralsten Parteistelle des Parteiantisemitismus niemals irgendeine Berührung hatte. Die Männer dieses Instituts wussten genau, dass er, Kittel, etwas ihren Doktrinen Widerstrebendes, sie an der Wurzel Zerstörendes vertrat.14 3. Alles dies beweist zwingend, in welchem Maße sich mehr und mehr die Überzeugung durchgesetzt hatte, dass Kittels Methode und Sicht der Judenfrage als völlig ungeeignet zur Förderung der offiziell propagierten Weltanschauungsund Judenpolitik zu gelten habe; – womit der andere, ebenso zwingende Beweis gegeben ist, dass es in jeder Hinsicht als abwegig zu bezeichnen ist, Kittels Arbeiten einen auch nur indirekt verstärkenden Einfluss auf die nationalsozialistische Judenpolitik zuzuschreiben. Wenn wirklich, wie man Kittel vorwirft, seine Schriften und Arbeiten und seine Autorität einer »Untermauerung« des Parteiantisemitismus gedient und für eine solche missbraucht worden wären, dann müssten selbstverständlich sein Name und seine Schriften – mindestens, wenn schon nicht ihre Lektüre, so doch ihre Tatsache, ihr Vorhandensein – wenigstens bei einem Teil der politischen und propagandistischen Führer eine Rolle gespielt haben. Darauf ist folgende Feststellung geeignet, eine schlechthin eindeutige Antwort zu geben: Im Balinger Interniertenlager waren insgesamt etwa 2 800 internierte politische National­sozialisten, von denen die Mehrzahl in irgendeiner Form sich mit dem Anti­semitismus beschäftigt hatte. Viele von ihnen hatten selbst antisemitische Vorträge oder Ansprachen gehalten, so gut wie alle haben antisemitische Parteischulungen durchgemacht. Wenn sie Kittel kennenlernten oder über seine

Kittel eigentlich interniert sei. Klett berichtete in diesem Zusammenhang, dass er seinerzeit nur einmal Kittel zu einem Vortrag vor höheren Parteiführern eingeladen habe. Dieser Versuch sei jedoch ein völliges »Fiasko« gewesen, da Kittel nur christliche Fragen abgehandelt habe. Klett habe sich daraufhin gezwungen gesehen, dagegen den abweichenden Parteistandpunkt klar herauszustellen (Beilagen zu Gerhard Kittel, Meine Verteidigung, S. 82). 14 Das maßgeblich durch Alfred Rosenberg initiierte »Institut zur Erforschung der Judenfrage« in Frankfurt a. M. wurde im März 1941 eröffnet und zunächst von Wilhelm Grau (1910–2000) geführt; 1944 übernahm Klaus Schickert (1909–unbekannt) die Leitung. Vgl. Dirk Rupnow, Judenforschung im Dritten Reich. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, Baden-Baden 2011, S. 85–100.

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Person als über einen Mitinternierten befragt wurden, ergab sich Folgendes: Einige kannten Kittels Namen als den eines bekannten württembergischen Theologen. Dass er ein international angesehener Forscher auf dem Gebiet der Judenfrage war, wusste von den Kreis- und Ortsgruppenleitern, von den Schulungs- und Propagandaleitern kaum einer, nicht einmal der besonders gut orientierte und gebildete Direktor der früheren Napola in Backnang,15 der vielmehr bezeugt: » … wusste ich nichts davon, dass er auch als Forscher auf dem Gebiet der Judenfrage eine Rolle spielte. Von seinen Arbeiten auf diesem Gebiet hatte ich keine gekannt oder gelesen, und Hinweise auf diese Arbeiten oder Zitationen derselben in der Parteiliteratur waren oder sind mir nicht in der Erinnerung. Auch unter den übrigen Balinger Internierten ist mir keiner begegnet, der den Eindruck machte, als kenne er diese Arbeiten.« Selbst der Gauschulungsleiter Dr. Klett hat, wie durch die eidesstattliche Erklärung des Internierten Dr. Gesler bezeugt ist, im Kameradenkreise zugegeben, »dass nicht einmal er als Gauschulungsleiter eine der Schriften Kittels gelesen habe«.16 Es kann wohl keinen unmittelbareren und stärkeren Beweis dafür geben, in welchem Maße Kittels Forschungsarbeiten von der Parteipropaganda und -schulung nicht nur nicht verwendet, sondern ignoriert und totgeschwiegen wurden. Die Vulgärantisemiten haben zu allen Zeiten genau gespürt – seit Kittels erstem Tübinger Vortrag17 –, dass alle antijudaistisch klingenden Sätze Kittels mit ihnen selbst und ihren Doktrinen nichts zu tun hatten, ihre eigene vulgärantisemitische Position nicht stärkten, vielmehr in einer Feindschaft auf Leben und Tod mit ihr standen. So glaubt Kittel fordern zu dürfen, dass entweder seine Beweise entkräftet und andere an ihre Stelle gesetzt werden, oder aber, dass die billigen unbewiesenen Behauptungen, er habe den Parteiantisemiten und den Judenmördern das Material geliefert und deren Lehren »untermauert«, aus der Erörterung verschwinden! 4. Gewiss hat Kittel oftmals die Entartungserscheinungen des modernen wie des antiken Judentums so scharf wie irgendein Antisemit herausgestellt: Es finden sich bei ihm in der Tat solche Sätze und Abschnitte, die für sich genommen irgendeiner sonstigen antisemitischen Auslassung ähnlich stehen. In diesen Fällen aber kann sich Kittel darauf berufen, dass auch die Worte des Apostels Paulus über das Judentum seiner Zeit öfter der Polemik des damaligen heidnischen Anti­ judaismus zum Verwechseln ähnlich sehen; ja, es kommt sogar vor, dass Paulus die Stichworte dieses vulgären Antijudaismus aufnimmt und sie sich – ohne jede

15 Vgl. Anm. 13. 16 Ebd. 17 Gemeint ist Kittels Tübinger Vortrag vom Juni 1933 über »Die Judenfrage«, der wenig später erweitert als Buch erschien.

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Polemik, damit aber scheinbar ohne jede Abgrenzung! – zu eigen macht (wofür 1. Thess. 2, 15 den unwiderleglichen exegetischen Beweis bietet18). Keiner der antiken Vulgärantisemiten wäre je auf den Gedanken gekommen, sich auf Paulus zu berufen, und wenn jemand ihn heute als Wegbereiter (oder Untermauerer) jener bezeichnen wollte, so würde kein fachmännischer Ausleger zögern, dies eine vollendete Absurdität, ein Hirngespinst, zu nennen. Dann darf auch Kittel in Anspruch nehmen, dass, was seine vulgärantisemitischen Zeitgenossen gesehen und beachtet haben, nunmehr auch von der anderen Seite nicht ignoriert oder bestritten, sondern ernstlich in die Waagschale der Entscheidung geworfen wird.

18 An zitierter Stelle schreibt der Apostel Paulus über »die Juden«: »Die haben den Herrn Jesus getötet und die Propheten und haben uns verfolgt und gefallen Gott nicht und sind allen Menschen feind.«



Horst Junginger Gerhard Kittel. Ein biografischer Abriss im Kontext der politischen und ­kirchlichen Zeitgeschichte

1888 23.9.

Geburt Gerhard Kittels in Breslau. Sein Vater war der bekannte Alttestamentler Rudolf Kittel (1853– 1929), der von 1898 bis zu seiner Emeritierung (1924) an der Universität Leipzig gelehrt und dort zwischen 1917 und 1919 auch das Rektorat innegehabt hatte.

1907

Nach dem Abitur am Leipziger König-Albert-Gymnasium studierte Kittel ab 1907 Theologie und orientalische Sprachen in Leipzig, Tübingen, Berlin und Halle. Bereits im ersten Semester trat er dem Verein deutscher Studenten (Kyffhäuserverband) bei.

1911 16.11.

Eingabe Rudolf Kittels für die Anstellung des jüdischen Hebräisch­ lektors Israel Isser Kahan (1858–1924) an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Rudolf Kittel begründete als Dekan der Evangelisch-theologischen Fakultät und Herausgeber der »Biblica Hebraica« seinen Antrag beim sächsischen Kultusministerium mit dem Argument, dass die Anstellung eines jüdischen Mitarbeiters aus dem Mangel an geeigneten christlichen Wissenschaftlern heraus erfolge. Er werde aber darauf achten, dass diesem Missstand durch die Heranbildung christlicher Kräfte Abhilfe geschaffen werde.

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Gerhard Kittel bezeichnete Israel Isser Kahan 18 Jahre später als seinen Leipziger Hebräischlehrer, um über ihn zu schreiben: »Körperlich unscheinbar, gebrechlich und mit jahrelangem Leiden behaftet, persönlich von ängstlicher Bescheidenheit, literarisch vollkommen unproduktiv, als Lehrer höchst unbeholfen, war er doch für einen kleinen Kreis von Freunden und Schülern um der Lauterkeit seines Charakters willen und durch die immense Fülle seines Wissens, sowie die von ihm ausgehenden Anregungen mannigfachster Art von nicht geringer Bedeutung.«1

1913 November Promotion an der Universität Kiel bei Johannes Leipoldt (1880– 1965) über »Die Oden Salomos«. Im Vorwort der ein Jahr später unter dem Titel »Die Oden Salomos. Überarbeitet oder einheitlich?« veröffentlichten Dissertation nennt Kittel Kahan seinen Lehrer, um ihm 1926 auch sein Buch »Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Urchristentum« zu widmen. 18.12. Habilitation an der Universität Kiel für das Fach Neues Testament.

1914 30.8.–31.10. Freiwilliger Hilfsgeistlicher im evangelischen Garnisonspfarramt in Cuxhaven. Die evangelische St. Petrikirche wurde 1909 in Cuxhaven gebaut und 1911 als Marinegarnisonkirche eingeweiht. 23.10. Unterzeichnung Kittels der »Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches«. Mit der Erklärung bekannten sich über 3 000 Hochschullehrer zur »Friedenspolitik« des Deutschen Reiches, die von ihren Feinden zu Unrecht als »preußischer Militarismus« verunglimpft werde. Der mannhafte deutsche Geist sei nicht nur in Preußen lebendig, son-

1

Vgl. Henry Wassermann, Die »Wissenschaft vom späteren Judentum« an der Universität Leipzig (1912–1942). In: Stephan Wendehorst (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, S. 321–346, hier 326 f.; und Horst Junginger, Die Verwissenschaftlichung der »Judenfrage« im Nationalsozialismus, Darmstadt 2011, S. 88; sowie Christian Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere?, Tübingen 1999, S. 328 f. Das Zitat aus: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, Band 3 (1929), Sp. 582 f.

205

Biografischer Abriss

1.11.

dern in allen Teilen des Landes, im Heer wie in der Wissenschaft. »Unser Glaube ist, dass für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche ›Militarismus‹ erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien deutschen Volkes.«2 Marinefeldgeistlicher in Cuxhaven. Kittel amtierte vom 1.11.1914 bis zum 20.12.1918 als Marinefeldgeistlicher in Cuxhaven. Sein Nachfolger wurde der spätere Reichsbischof Ludwig Müller (1883–1945).

1917 Februar 10.5. Herbst

Umhabilitierung von Kiel an die Universität Leipzig. Heirat mit Elisabeth Rohde (1886–1972) in Dresden. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor: Elisabeth (geb. 1918) und Eberhard (geb. 1920). Eintritt in die Deutsche Vaterlandspartei (DVLP). Noch als Marinegeistlicher schloss sich Kittel 1917 der DVLP an. Die DVLP war im September 1917 aus Protest gegen die Friedensresolution des Deutschen Reichstags gegründet worden und vertrat bis zu ihrer Auflösung im Dezember 1918 eine am Programm des Alldeutschen Verbands ausgerichtete annexionistische Kriegszielpolitik.

1919 1919–1921 Direktor des kirchlichen Lehrerseminars in Leipzig. In Leipzig stand Kittel auch dem Christlichen Volksdienst vor, einer sozialpolitischen Bewegung in der Tradition Adolf Stoeckers.

1921 1.4. 1.10.

2

Außerordentlicher Professor für Neues Testament an der Universität Greifswald. Ordentlicher Professor für Neues Testament an der Universität Greifswald.

Vgl. Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches/Déclaration des professeurs des universités et des écoles supérieures de l’Empire Allemand vom 23.10.1914, Berlin 1914, S. 1 (http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/files/2180/A008838631.pdf; 12.7.2019).

206

15.6.

Anhang

Vortrag in Uppsala über die religiöse und kirchliche Lage in Deutschland. Kittels Vortrag bei der schwedischen Priestersynode (Prästmöte) kam auf Einladung Nathan Söderbloms (1866–1931) zustande und liegt auch als Separatdruck (Leipzig 1921) vor. Söderblom war von 1912 bis 1914 Professor für Religionswissenschaft an der Universität Leipzig und hatte Kittel in dieser Zeit kennengelernt.

1922 20.11.



Gescheitere Berufung an das Institutum Judaicum Berolinense. Ernst Sellin (1867–1946) plädierte in einem Gutachten dafür, Gerhard Kittel als Nachfolger des verstorbenen Leiters des Institutum Judaicum Berolinense, Hermann Leberecht Strack (1848–1922), auf ein Ordinariat in der Berliner Evangelisch-theologischen Fakultät zu berufen. Der Alttestamentler Ernst Sellin argumentierte bei der Suche nach einem Nachfolger für den am 5.10. verstorbenen Strack, dass Kittel zwar noch nicht als eine »wirklich anerkannte Autorität« gelten könne, dass er aber »nach allem bisher Geleisteten bestimmt verspricht, es zu werden«. Besonders seine Kenntnisse auf dem Gebiet der rabbi­nisch-talmudischen Literatur in Verbindung mit der neutestamentlichen Exegese sprächen für Kittel. Eine Berufung des von der Fakultät vorgeschlagenen Kittel kam aus unbekannten Gründen nicht zustande, sodass Hugo Greßmann (1877–1927) das Institutum Judaicum kommissarisch weiterführte.3

1923

3

Ehrendoktor der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Kiel.

Vgl. Ralf Golling, Das Institutum Judaicum Berolinense. In: ders./Peter von der Osten-Sacken (Hg.), Hermann L. Strack und das Institutum Judaicum in Berlin, Berlin 1996, S. 70–122, hier 93 f., mit Bezug auf Sellins Gutachten im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin (UK/Per. St.89, Band 2, Bl. 15v); zu Strack vgl. auch Wiese, Wissenschaft des Judentums, S. 112–123.

207

Biografischer Abriss

1926

Ordentlicher Professor für Neues Testament an der Universität Tübingen. Kittel übernahm den Lehrstuhl Adolf Schlatters (1852–1938), der 1898 als Gegengewicht zur Religionsgeschichtlichen Schule geschaffen worden war. Von 1922 bis zu seinem Tod hatte der zur Religionsgeschichtlichen Schule zu zählende Wilhelm Heitmüller (1869–1926) den Lehrstuhl gegen Schlatters Willen innegehabt. Mit der Berufung Kittels orientierte sich die Ausrichtung der Professur wieder stärker an den kirchlich »positiven« Interessen des Stuttgarter Konsistoriums.4



1930 7.12.

Rede Adolf Hitlers in der Stuttgarter Stadthalle. Unter den 10 000 Zuhörern befanden sich auch die aus Tübingen angereisten Gerhard Kittel und Walter Grundmann (1906–1976). Grundmann war von Oktober 1930 bis März 1932 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen und promovierte im Juli 1931 bei Kittel. Sechs Tage vor Hitlers Stuttgarter Vortrag hatte er sich am 1.12. in Tübingen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) angeschlossen. Als Kittels Assistent gehörte Grundmann dem Redaktionsteam des »Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament« (ThWNT) an, für das er mehr als 20 Beiträge verfasste.5

1932 1.1. 5.11. 4

5 6

Vorwort Kittels für den ersten Band des ThWNT.6 Unterzeichnung des Wahlaufrufs »Mit Hindenburg für Volk und Reich!« in der »Tübinger Chronik«.

Vgl. Reinhold Rieger, Die evangelisch-theologische Fakultät während der Zeit der Weimarer Republik. In: Rainer Lächele/Jörg Thierfelder (Hg.), Württembergs Protestantismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 2003, S. 174–186, sowie den Beitrag von Gerhard Lindemann in diesem Band. Vgl. Lukas Bormann, Walter Grundmann und das Ministerium für Staatssicherheit. Chronik einer Zusammenarbeit aus Überzeugung (1956–1969). In: Kirchliche Zeitgeschichte, 22 (2009), S. 595–623, hier 599. Siehe zu Grundmann den Beitrag von Oliver Arnhold in diesem Band. Die Herausgabe des ThWNT stellt Kittels bedeutendste wissenschaftliche Leistung dar. Das Vorwort für Band 1 datiert auf Neujahr 1932/Juli 1933; Band 2 erschien 1935; Band 3 1938 und Band 4 1942. Siehe zum ThWNT den Beitrag von Martin Leutzsch in diesem Band.

208



Anhang

Der Aufruf sprach sich am Tag vor der am 6. November stattfindenden Reichstagswahl dafür aus, die rechtsextreme Deutschnationale Volkspartei zu wählen. Zu den Unterzeichnern aus Tübingen gehörte neben Kittel auch der völkisch-antisemitische Philosoph Max Wundt (1879–1963).7

1933 30.1. 25.2.

28.2.

8.3.

7 8

9

Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch Reichspräsident Paul von Hindenburg. Erklärung des Tübinger Universitätskanzlers August Hegler (1873– 1937). Im Großen Senat erklärte Hegler, dass die württembergische Landesuniversität es schon immer verstanden habe, Juden »ohne viel Worte zu machen stets von sich fern zu halten«. Tübingen hatte deshalb 1933 mit 1,6 Prozent die niedrigste Entlassungsquote unter allen deutschen Universitäten. Mit 4,2 Prozent nahm die Universität Rostock bei einem reichsweiten Durchschnitt von 16,3 Prozent den vorletzten Platz ein.8 Kittel unterzeichnete in der Tübinger Lokalpresse ein politisches Bekenntnis zum Nationalsozialismus (NS). Weitere Unterzeichner der am 1.3. in der »Tübinger Chronik« erschienenen Erklärung, dass man auf dem Boden der neuen Reichsregierung stehe, waren aus Kittels näherem Umfeld: Karl Georg Kuhn, Wilhelm Pressel, Adolf Schlatter, Eugen Stahlecker, Max Wundt und Rechtsanwalt Max Stockburger. Bei der am 5.3. durchgeführten Reichstagswahl erhielt die NSDAP dann 43,9 Prozent der Stimmen. Die nationalsozialistischen Studentenführer Erich Ehrlinger (1910– 2004) und Martin Sandberger (1911–2010) hissten auf dem Hauptgebäude der Eberhard-Karls-Universität Tübingen die Hakenkreuzfahne.9

Mathias Kotowski, Die öffentliche Universität. Veranstaltungskultur der Eberhard-Karls-Universität Tübingen in der Weimarer Republik, Stuttgart 1999, S. 117, unter Bezugnahme auf die »Tübinger Chronik« vom 4./5.11.1932. Vgl. Uwe Dietrich Adam, Hochschule und Nationalsozialismus. Die Universität Tübingen im Dritten Reich, Tübingen 1977, S. 30; die Entlassungszahlen in Tübingen nach Michael Grüttner/ Sven Kinas, Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933–1945. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 55 (2007), S. 123–186, hier 126 f. und 140. Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 173 und 320. Der Einband des von Urban Wiesing, Klaus-Rainer Brintzinger, Bernd Grün, Horst Junginger und Susanne Michel herausgegebenen Sammelbandes, Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, Stuttgart 2010, zeigt die mit der Hakenkreuzfahne geschmückte Neue Aula.

Biografischer Abriss

21.3.

23.3. 1.4.

7.4. 1.5.

1.6.



10

209

»Tag von Potsdam«: feierlicher Handschlag zwischen Reichspräsident von Hindenburg und dem neuen Reichskanzler Hitler in der Potsdamer Garnisonkirche anlässlich eines Staatsakts zur Eröffnung des neu gewählten Reichstags. Regierungserklärung Hitlers mit weitreichenden Zusicherungen gegenüber den beiden großen christlichen Konfessionen. Karl Georg Kuhn (1906–1976) hielt für den »Tübinger nationalsozialistischen Ausschuss gegen die jüdische Gräuelpropaganda« von der Rathauskanzel herab die Boykottansprache. Der Kittel-Schüler Kuhn war seit dem 19.3.1932 Parteimitglied und unter anderem als Kreisredner und Kulturwart der Tübinger Ortsgruppe der NSDAP und als Referent für weltanschauliche Schulung der Sturmabteilung (SA) tätig.10 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (Berufsbeamtengesetz). Eintritt Kittels in die NSDAP (Mitgliedsnummer 3 243 036). Mit dem Praktischen Theologen Karl Fezer (1891–1960), dem Kirchenhistoriker Ernst Stracke (1894–1963) und dem Alttestamentler Artur Weiser (1893–1978) schlossen sich drei weitere Fakultätskollegen Kittels zum selben Zeitpunkt der NSDAP an.11 Vortrag Kittels über »Die Judenfrage« im Rahmen einer von der theologischen Fachschaft in Tübingen organisierten Vortragsreihe. Wenige Wochen später erschien Kittels gleichnamiges Buch »Die Judenfrage« im Stuttgarter Kohlhammer Verlag. Dem theologischen Fachschaftsleiter Walter Göbell (1911–1988) zufolge diente die Vortragsreihe dem Zweck, das Programm der Deutschen Christen (DC) in der Öffentlichkeit besser bekannt zu machen. In Tübingen habe sich daraufhin eine Ortsgruppe der DC gegründet, und die ganze Fakultät stehe dem deutschchristlichen Anliegen aufgeschlossen gegenüber. Am 2.6. erschien im »Neuen Tübinger Tagblatt« ein Vortragsbericht, der Kittel in polemischer Weise stark kritisierte. Kittels Ausführungen hätten volkstumsfeindlichen Charakter getragen und stünden im »schärfsten Widerspruch« zum Programm der NSDAP. Überdies hätte Kittel die Judenmission verteidigt und sich nicht »entblödet«,

Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 183; allgemein zu Kuhn: Gerd Theißen, Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945: Karl Georg Kuhn und Günther Bornkamm, Heidelberg 2009. 11 Personalakte Kittel (Universitätsarchiv Tübingen [UAT] 126/326c); Bundesarchiv Berlin, BDC-Akten; Adam, Hochschule und Nationalsozialismus, S. 38.

210





13.6.

12

Anhang

für das Schächten einzutreten. Der mit »W.U.J.B.« gezeichnete Artikel war grob verzeichnend und in schlechtem Deutsch geschrieben. Sein Verfasser stammte allem Anschein nach aus dem Lager der Deutschgläubigen. In seiner nach dem Krieg geschriebenen »Verteidigung« verwies Kittel besonders auf diesen Zeitungsartikel, um die feindliche Haltung des NS ihm gegenüber zu belegen. Um der unsachlichen Kritik des – erst seit dem 1.5. erscheinenden  – »Neuen Tübinger Tagblatts« entgegenzutreten, brachte die alteingesessene »Tübinger Chronik« am 13.6. einen mit dem Kürzel »Bg.« gezeichneten Gegenartikel: »Professor D. Kittel über die Judenfrage«. Demzufolge fand Kittels Vortrag durch »seine überzeugende Klarheit und ernste Entschiedenheit« allgemeinen Beifall. »Ein vereinzelter Widerspruch in der Presse rief nur eine umso lebhaftere Erörterung des Vortrages und ausdrückliche Zustimmung von natio­nalsozialistischer Seite hervor.« Es sei zu begrüßen, dass der Vortrag so schnell gedruckt wurde, um über die vom modernen Assi­milationsjudentum ausgehende Gefahr aufklären zu können. »Die Forderungen, die in dieser Schrift aufgestellt werden, mögen manchem hart und streng erscheinen, aber sie sind nur unerbittliche Folgerungen aus der klar gesehenen Lage der Dinge. Die außerordentliche Bedeutung dieser neuen Schrift von Gerhard Kittel liegt darin, dass sich hier mit dem geschichtlichen Urteil des gelehrten Kenners des Judentums die tiefe religiöse Erkenntnis des christlichen Theologen verbindet. Damit wird die Judenfrage in ihrer ganzen Tiefe erfasst als religiöse Frage. Es wird am entscheidenden Punkt eingesetzt und ein klarer Weg zur Lösung gezeigt. Man möchte wünschen, dass über die Judenfrage nicht mehr diskutiert wird ohne Kenntnis dieser Schrift.«12 Brief Kittels an Martin Buber (1878–1965). Unmittelbar nach ihrem Erscheinen schickte Kittel seine Schrift »Die Judenfrage« auch an Martin Buber. Kittel kannte Buber von einer persönlichen Begegnung während einer »Studientagung zur Judenfrage«, die mehrere deutsche Missionsgesellschaften im März 1930 in Stuttgart durchgeführt hatten. Obwohl sich Kittel bewusst war, dass »Die Judenfrage« Buber nicht unbedingt gefallen würde, hoffte er in seinem Brief doch annehmen zu dürfen, dass das »in einem tieferen Sinn« vielleicht doch nicht der Fall sein werde. In einem undatierten Brief äußerte sich Buber klar ablehnend, um wenig

Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 155 f.

Biografischer Abriss



16.6.



211

später in den »Theologischen Blättern« einen »Offenen Brief an Gerhard Kittel« zu veröffentlichen, in dem er Kittels Interpretation des Judentums zurückwies. Als Reaktion darauf fügte Kittel der zweiten Auflage von »Die Judenfrage« eine »Antwort an Martin Buber« bei, worauf Buber wiederum in den »Theologischen Blättern« reagierte. Gershom Scholem (1897–1982) schrieb am 24.8. an Buber: »In der vorigen Woche brachte Fritz Baer aus Deutschland die Broschüre von Gerhard Kittel mit und ich habe sie gerade in diesen Tagen gelesen, mit einem Ekel und einer Empörung, die ich durch Ihren offenen Brief ebenfalls hindurchgespürt habe. Es ist, scheint mir, unter allen schmachvollen Dokumenten eines beflissenen Professorentums, die uns doch immer wieder überraschen, gewiss eines der schmachvollsten. Welche Verlogenheit, welch zynisches Spiel mit Gott und Religion. Und das war einer jener Herren, die von unserer Seite doch noch emporgelobt worden sind.« Ernst Lohmeyer (1890–1946) hatte sich am 19.8. an Buber gewandt und ihm versichert, dass nicht alle deutschen Neutestamentler Kittels Meinung teilen würden.13 »Christlicher Antisemitismus«, eine Besprechung von Kittels Schrift »Die Judenfrage« durch Wilhelm Pressel (1895–1986) im »Neuen Tübinger Tagblatt«. Der Tübinger Stadt- und Studentenpfarrer Pressel nannte Kittels »ausgezeichnete Untersuchung« eine große Hilfe in der Auseinandersetzung mit der »Judenfrage«. Die Lektüre des Buches habe ihn erschüttert. Kittels Behandlung des Themas würde »mit tiefem Ernst und hervorragender Sachkenntnis« erfolgen und die von ihm erhobenen Folgerungen »eine überraschende Übereinstimmung mit den politischen Maßnahmen unserer Tage« aufweisen. Außer Hitlers »Mein Kampf« habe er nichts Besseres zur »Judenfrage« gelesen. Pressel gehörte seit dem 1.10.1931 der NSDAP und dem NS-Pfarrerbund an. Am 4.5.1933 zog er als Mitglied der NSDAP-Fraktion in den Tübinger Stadtrat ein, um wenig später am 12.5. von Landesbischof Theophil Wurm (1868–1953) in den Stuttgarter Oberkirchenrat berufen zu werden. Dort wurde er im Januar 1934 selbst Oberkirchenrat und geistliches Mitglied der Kirchenleitung. Nach schweren Konflikten innerhalb der DC in Württemberg ­spaltete

13 Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 176 f.; zu Lohmeyers Brief vom 19.8.1933 an Buber: Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Band 1: 1933–1935, Stuttgart 1990, S. 172 f. und 386 f.; sowie Andreas Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer. Studien zur Biographie und Theologie, Tübingen 2004, S. 75.

212



17.6.



19.6.

14

Anhang

sich Pressel am 20.9. mit einer Gruppe von Gleichgesinnten ab. Am 14.10. wurde er deshalb aus dem NS-Pfarrerbund und nach einem Verfahren vor dem Parteigericht am 12.12.1934 auch aus der ­NSDAP ausgeschlossen. Als beliebter Studentenseelsorger zeigte Pressels Eintreten für den Nationalsozialismus besonders unter den Studierenden evangelischer Konfession Wirkung. Viele traten seinetwegen in die NSDAP ein. Zu den von Pressel mehrmals in der Woche abgehaltenen Morgenandachten kamen über 100, zu seinen Semesterabschlussgottesdiensten bis zu 600 Studenten.14 Brief Kittels an Friedrich von Bodelschwingh (1877–1946). Unumwunden teilte Kittel dem am 27.5. für das Amt des Reichs­ bischofs designierten Friedrich von Bodelschwingh mit, er halte ihn nicht für den Reichsbischof, »den die deutsche evangelische Christenheit heute braucht«. Stattdessen sprach sich Kittel für Ludwig Müller aus, dem er 1918 seine Cuxhavener Marinegemeinde übergeben habe. »Der Kampf, um den es heute geht, heißt konkret: ob die völkische Bewegung und ob der völkische Staat ihr Leben aus den Kräften des Evangeliums oder ohne und gegen sie haben werden; das heißt, wo wir von dem Taumel derer um Rosenberg, Reventlow, Ludendorff, Bergmann usw. verschlungen werden oder nicht.«15 Kundgebung der Tübinger Studentenschaft für Wehrkreispfarrer Ludwig Müller. Nachdem der Tübinger Kirchenhistoriker Hanns Rückert (1901– 1974) in einem Vortrag in der Neuen Aula das Programm der DC verteidigt hatte, erklärten sich die Studenten danach im Ehrenhof der Neuen Aula gegen den designierten Reichsbischof Friedrich von Bodelschwingh und für Ludwig Müller. Das Anliegen der Studenten wurde von Fezer und Kittel unterstützt. Im Vormonat hatte Fezer an den DC-Richtlinien mitgewirkt, die eine Reichskirche lutherischer Prägung für »Christen arischer Rasse« forderten.16

Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 165; zu Pressel allgemein: Johannes Michael Wischnath, Wilhelm Pressel (1895–1986). In: Rainer Lächele/Jörg Thierfelder (Hg.), Wir konnten uns nicht entziehen. 30 Porträts zu Kirche und Nationalsozialismus in Württemberg, Stuttgart 1998, S. 299–310. 15 Gerhard Schäfer (Hg.), Die evangelische Kirche in Württemberg. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf, Band 2, Stuttgart 1972, S. 176–180, hier 177 und 179. 16 Vgl. Benigna Schönhagen, Tübingen unterm Hakenkreuz. Eine Universitätsstadt in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1991, S. 169 f.

Biografischer Abriss

14.7. 20.7. 23.7. 6.9. 13.9.

11.9. 27.9. 5.10.

8.10.

17 18

213

Gesetz über die Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK). Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich. Kirchenwahlen in sämtlichen evangelischen Landeskirchen. Die neu gewählte preußische Generalsynode beschließt die Übernahme des Arierparagrafen für den Bereich der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union. Evangelischer Landeskirchentag in Stuttgart. Für die Kampfgruppe Deutscher Christen schlug Kittel vor, die württembergische Landeskirche solle den Arierparagrafen übernehmen, ihn aber mit der Einschränkung einer nicht rückwirkenden Geltung versehen. Der Antrag wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen.17 Gründung des Pfarrernotbunds als Reaktion auf die geplante Einführung des Arierparagrafen in der DEK. Die wenig später am 27.9. in Wittenberg abgehaltene Nationalsynode der DEK verzichtete auf die Übernahme des Arierparagrafen. Ludwig Müller wird von der Nationalsynode der DEK in Wittenberg zum Reichsbischof berufen. Infolge der innerkirchlichen Opposition konnte Müller jedoch erst am 23.9.1934 im Berliner Dom in sein Amt eingeführt werden. Brief Kittels an Landesbischof Theophil Wurm. Es ging um die kircheninternen Streitigkeiten und eine etwaige Spaltung der württembergischen Landeskirche. Pressel hätte sein ungeschicktes Verhalten beinahe die Zugehörigkeit zur NSDAP gekostet. Weil dieser nach dem 20.9. auf das Schwerste gefährdet gewesen sei, habe er die Tübinger Studentenführer veranlasst, zu seinen Gunsten beim Gauleiter und Reichsstatthalter in Stuttgart vorstellig zu werden.18 Situationsbericht Kittels über die kirchliche Lage in Württemberg. Mit dem augenscheinlich für Gauleiter Wilhelm Murr (1888–1945) geschriebenen Situationsbericht versuchte Kittel zur Entschärfung der Lage beizutragen. Ein Durchschlag ging an Landesbischof Wurm. Kittel argumentierte damit, dass die meisten Pfarrer in Württemberg auch schon vor 1933 keine Feinde des NS gewesen seien.

Schäfer (Hg.), Die evangelische Kirche in Württemberg, Band 2, S. 176–180, hier 177 und 179; Leonore Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage. Gerhard Kittels theologische Arbeit im Wandel deutscher Geschichte, München 1980, S. 93 f. Schäfer (Hg.), Die evangelische Kirche in Württemberg, Band 2, S. 562–566, hier 564.

214



20.10.



19

Anhang

»Im Laufe des Sommers 1933 hat sich dann immer mehr ein starkes und volles Vertrauensverhältnis der überwiegenden Mehrzahl der württembergischen Pfarrer zum Staate Adolf Hitlers entwickelt. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, dass mindestens 80 % der Pfarrerschaft mit heißem und ehrlichem Herzen heute Hitlers Tat anerkennen und ihm folgen wollen. Sie sind gewiss noch keine hundertprozentigen Nationalsozialisten, werden es vielleicht teilweise auch nie im spezifisch politischen Sinne sein; aber, und das ist für die Erfüllung der ihnen im Volk gegebenen Aufgabe vielleicht das noch größere, sie haben verstanden und mit heiligem Ernst aufgenommen, dass Adolf Hitler dem deutschen Volke als ein Retter aus der tiefsten Not von Gott gesandt ist! Dies alles ist politisch von hoher Bedeutung, weil gerade in Württemberg noch viele auf die Pfarrer schauen. An vielen Orten strahlt das Vertrauen zu Adolf Hitler und der Wille zur Mitarbeit von Pfarrer und Kirche auf die Bevölkerung über.«19 Brief Kittels an Rechtsanwalt Max Stockburger. Kittels Schüler und Mitarbeiter am ThWNT Karl Georg Kuhn sah sich von nationalsozialistischer Seite dem Vorwurf philosemitischer Tendenzen ausgesetzt. Seine frühere Verlobte (Irmgard Gräfin von Hardenberg, die Tochter eines Dekans der Betheler Anstalten) sei außerdem Kommunistin gewesen. Um dem entgegenzutreten, wandte sich Kittel mit einer zweiseitigen Erklärung an den Tübinger Rechtsanwalt Max Stockburger. Kuhn hätte zunächst versucht, seine Braut »aus den Klauen des Bolschewismus zu retten«. Doch als ihm das misslang, habe er die Verlobung sofort gelöst. »Mit dem Judentum und seinen Problemen hat sich Kuhn seit Jahren in seiner fachwissenschaftlichen Arbeit beschäftigt. Er steht, wie ich aus vielen Äußerungen weiß, auf dem Standpunkt meiner Schrift über die Judenfrage; dieser Standpunkt ist von den amtlichen Stellen der Partei (Propagandaministerium, Außenpolitisches Amt) anerkannt worden. Diesen Standpunkt hat sich Kuhn, soviel ich gesehen habe, in den letzten Jahren allmählich in seiner Beschäftigung mit dem Judentum erarbeitet. Es ist natürlich möglich, dass er früher gelegentlich einen Standpunkt vertreten hat, der noch nicht abgeschlossen und konsequent durchgeführt war.«

Ebd., Band 2, S. 581–587, hier 582.

Biografischer Abriss

23.10.

9.11.



215

Das Kreisgericht der Tübinger NSDAP lehnte am 28.7.1934 die Eröffnung eines Verfahrens gegen Kuhn ab. Sein Habilitationsverfahren konnte deshalb ohne Schwierigkeiten abgeschlossen werden.20 Brief Kittels an Hans Ehrenberg (1883–1958). Der Bochumer Pfarrer jüdischer Herkunft Hans Ehrenberg hatte sich am 16.10. bei Kittel über dessen Schrift »Die Judenfrage« beschwert. Wenn Kittel im Falle der Judenchristen von Brüderlichkeit spreche, sei das pure Heuchelei. Kittel verteidigte sich eine Woche später mit dem Argument der schöpfungsmäßigen und völkischen Eigenart der Deutschen, die auch von der Kirche zu beachten sei. »Ich will gern immer wieder sagen, dass ich eine Entlassung von Ihnen und Ihresgleichen für denkbar überflüssig halte; mehr als dies: dass die Herausreißung eines im Vertrauen seiner Gemeinde stehenden Geistlichen ohne triftigen Grund ein unerhörter Missbrauch ist.«21 Die Evangelisch-theologische Fakultät der Universität Tübingen verschickt Kittels Addendum »Kirche und Judenchristen«. Um sich gegen ausländische Kritik an der kirchlichen Übernahme des Arierparagrafen zu wehren, schickte der Dekan der Evangelisch-theologischen Fakultät Georg Wehrung (1880–1959) »allen theologischen Dozenten außerhalb Deutschlands in Europa und Amerika« das 13-seitige Addendum »Kirche und Judenchristen« zu, das Kittel am Ende seiner Schrift »Die Judenfrage« hinzugefügt hatte. Wie im Haupttext betonte Kittel auch in diesem Anhang den unüberwindbaren Gegensatz zwischen Deutschtum und Judentum. Die Kirche habe das Recht, die antijüdischen Maßnahmen des Staates zu unterstützen und solle auch in ihrem Bereich die notwendigen Konsequenzen ziehen. »Es ist nicht wahr, dass solche Forderungen unchristlich sind!« Für die geringe Zahl konvertierter Juden in der Kirche werde sich eine Lösung finden. Am 30.10. hatte der Tübinger Systematische Theologe Karl Heim (1874–1958) in den »Theologischen Blättern« im Sinne des Fakultätsvotums seine Unterschrift unter die Marburger Erklärung »Neues Testament und Rassenfrage« zurückgezogen, da diese vom Ausland instrumentalisiert werde.

20 Verfahren vor dem Parteigericht (UAT 126a/286, Personalakte Kuhn). 21 Röhm/Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Band 1, S. 172 und 182–189. Zu Ehrenbergs Amtsenthebung vgl. Röhm/Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Band 2/II: 1935–1938, Stuttgart 1992, S. 35–58.

216



13.11. 25.11. 1.12.

Anhang

Karl Barth (1886–1968) schrieb dagegen am 13. und 17.11. an Rudolf Bultmann (1884–1976): »Ich las eben kopfschüttelnd die neuesten Tubingensia: Heim, Kittel, das Fakultätsschreiben an die auswärtigen Theologen. […] Leider kann ich Ihnen die Tübinger S­ achen nicht zugänglich machen, da ich sie selber nur vorübergehend einsehen konnte. Es handelt sich um ein mir neues kleines Scriptum von Kittel zum Arierparagrafen und um ein Schreiben des Dekans Wehrung, in welchem dieses Scriptum als einhelliger Ausdruck der Überzeugungen der Fakultät in die Hände der sämtlichen ausländischen Theologieprofessoren gelegt wird.«22 Skandalträchtige Sportpalastrede des Berliner DC-Gauobmanns Reinhold Krause (1893–1980). Austritt Kittels aus der Glaubensbewegung DC. Gleichzeitig traten seine Fakultätskollegen Fezer, Rückert und Weiser aus. Auf einer Studentenversammlung in Tübingen erklärten die drei Professoren am 1.12. ihre Motive.23 Ernennung des praktischen Theologen Karl Fezer zum Rektor der Universität Tübingen. Die miteinander befreundeten Professoren Kittel und Fezer, die am 1.5. gemeinsam in die NSDAP eingetreten waren, hatten kein Problem damit, ihre Vorlesungen mit »Heil Hitler« zu beginnen und offen das Parteiabzeichen zu tragen. Kittel und Fezer waren auch die zwei Tübinger Universitätslehrer mit der größten Hörerzahl. 1936/37 hatte Fezer 851 und Kittel 646 Hörer unter den in diesem Semester 2 355 Studenten. In der Philosophischen Fakultät wies Max Wundt mit 159 Studenten die meisten Hörer auf.

22 Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 166 f., und Theologische Blätter, 1933, Sp. 373–375; die Tübinger Stellungnahmen sind abgedruckt bei Heinz Liebing (Hg.), Die Marburger Theologen und der Arierparagraph in der Kirche. Eine Sammlung von Texten aus den Jahren 1933 und 1934, Marburg 1977, S. 46–48: »Die Evangelisch-theologische Fakultät der Universität Tübingen und der Arier-Paragraph im Raum der Kirche«. Wehrungs Begleitbrief vom 9.11.1933 findet sich auch im Evangelischen Zentralarchiv Berlin, 1/C3/170-2, fol. 135; die beiden Barth-Zitate bei Bernd Jaspert (Hg.), Karl Barth – Rudolf Bultmann. Briefwechsel 1911–1966, 2. Auflage Zürich 1994, S. 137 und 139. 23 Sowohl die Tübinger Chronik (28.11.1933) als auch das Neue Tübinger Tagblatt (27.11. und 2.12.1933) berichteten über das Aufsehen erregende Ereignis. Fezer verneinte dabei die Mutmaßung, wonach sich mit ihrem Schritt eine prinzipielle Abkehr vom deutschchristlichen Anliegen verbinden würde. »Die Sache haben wir überhaupt nicht verlassen. Wir haben die Männer verlassen.« Schäfer (Hg.), Die evangelische Kirche in Württemberg, Band 2, S. 936–941, hier 936.

217

Biografischer Abriss



5.12.

19.12.

In seiner Antrittsrede zur Übernahme des Rektorats forderte Fezer am 18.1.1934 zum wiederholten Mal die Politisierung der Tübinger Studentenschaft. Bereits im Juni des Vorjahres hatte er Hitler als Geschenk Gottes an das deutsche Volk bezeichnet und die Deutschen zur Mitarbeit im neuen Staat aufgerufen. Da Fezer von 1931 bis 1956 auch als Ephorus des Evangelischen Stifts in Tübingen amtierte, war sein Einfluss auf die evangelischen Studenten beträchtlich.24 Brief Kittels an den Präsidenten der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Friedrich Schmidt-Ott (1860–1956), zur Fortsetzung der »Rabbinischen Texte«. Kittel bat in seinem Rechenschaftsbericht um weitere Unterstützung für die von ihm 1933 begründete Reihe »Rabbinische Texte«, wobei er besonders auf die Leistung des frühen Christentums im Kampf gegen das Judentum hinwies. Das rabbinische Judentum zu studieren sei gerade auch aus politischen Gründen angebracht.25 Brief Kittels an Herbert M. J. Loewe (1882–1940). In einem Brief an Herbert M. J. Loewe, Dozent für Rabbinica an der Universität Cambridge, bestritt Kittel, dass seine Meinung zur »Judenfrage« lediglich der Tagespolitik geschuldet sei.26

1934 23.1.

Teilnahme Kittels an einer Beratung von evangelischen Christen unterschiedlicher konfessioneller Richtungen zur Vorbereitung der Kirchenführeraudienz bei Adolf Hitler am 25.1.

24 Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 170 f.; zur Hörerzahl Kittels: Johannes Michael Wischnath, Eine theologische Baselfahrt im Jahre 1937. Die Tübinger Bekenntnis-Studenten und ihr Besuch bei Karl Barth. In: Bausteine zur Tübinger Universitätsgeschichte, 8 (1997), S. 135 f. Dass Kittel stets das Parteiabzeichen getragen und seine Vorlesungen mit »Heil Hitler!« begonnen habe: Reginald H. Fuller, »Peace in our time« – eine Außenansicht. In: Siegfried Hermle/Rainer Lächele/Albrecht Nuding (Hg.), Im Dienst an Volk und Kirche. Theologiestudium im Nationalsozialismus. Erinnerungen, Darstellungen, Dokumente und Reflexionen zum Tübinger Stift 1930 bis 1950, Stuttgart 1988, S. 86–101, hier 88 f. 25 Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 146; Henry Wasserman, False start. Jewish studies at German universities during the Weimar Republic, New York 2003, Kap. 8: »Prof. Dr. Gerhard Kittel« (S. 171–190); sowie Kittels ins Englische übersetzte Briefe vom 5.12.1933 und 10.7.1937 (S. 191–193); die Briefe selbst finden sich im Bundesarchiv Berlin, R 73 (Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft/Deutsche Forschungsgemeinschaft), 12142 und 16316. 26 Vgl. Robert P. Ericksen, Theologians in the Third Reich: The case of Gerhard Kittel. In: Journal of Contemporary History, 12 (1977), S. 595–622, hier 607 f. Der Briefwechsel zwischen Kittel und Loewe befindet sich im Archiv der Wiener Library for the Study of the Holocaust and Genocide in London.

218

Anhang



Diskutiert wurde bei dem Vorbereitungstreffen in Berlin unter anderem die Forderung nach einer Abberufung von Reichsbischof Ludwig Müller. Während der Zusammenkunft kam es zu einer persönlichen Begegnung zwischen Gerhard Kittel und Karl Barth. Auf den von Karl Fezer gemachten Vorschlag, das Memorandum an ­Hitler mit einem Wort des Dankes an Gott für alles, was er im Jahr 1933 »dem deutschen Volke durch Adolf Hitler getan« habe, beginnen zu lassen, reagierte Barth mit entschiedener Ablehnung. Wenige Tage später machte er seine Kritik an den beiden Tübinger Theologen mit der Formulierung öffentlich: »Wir haben einen anderen Glauben, wir haben einen anderen Geist, wir haben einen anderen Gott«, um hinzuzufügen: »Die deutsch-christliche Sache ist falsch und faul bis auf den Grund. Es gibt ihr gegenüber nur ein Entweder-Oder.«27 24.1. Ernennung Alfred Rosenbergs zum »Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP«. 31.1. Dorotheenpakt. Nach der Besprechung mit Hitler versuchte Theophil Wurm, den Kirchenstreit in Württemberg zu befrieden. In der Folge kam es zu einem vom württembergischen Innenministerium organisierten Treffen in der Stuttgarter Dorotheenstraße, bei dem neben dem Landesbischof und Oberkirchenrat Pressel auch die Tübinger Professoren Fezer, Kittel und Weiser sowie hochrangige Vertreter der Regierung, Polizei und NSDAP teilnahmen. Die Deutsche Glaubensbewegung entsandte im Auftrag Jakob Wilhelm Hauers (1881– 1962) Paul Zapp (1904–1999) als ihren Repräsentanten. Einstimmig wurde der Beschluss gefasst, dass sich alle kirchlichen und religiösen Gruppen darauf verpflichten sollten, keine öffentliche Kritik an der Neugestaltung der Evangelischen Kirche mehr zu üben. Auch die Auflösung des württembergischen Pfarrernotbunds wurde beschlossen.28 11.5. »Zwölf Tübinger Sätze« zur programmatischen Neuausrichtung der Kirche. Die an die kirchliche Öffentlichkeit adressierten »Zwölf Sätze« gingen aus Beratungen in Tübingen hervor, an denen Kittel, sein Assistent Albrecht Stumpff (1908–1940) und die Professoren Fezer, Heim 27 28

Das Zitat bei Diether Koch (Hg.), Karl Barth. Offene Briefe 1909–1935, Zürich 2001, S. 270. Es entstammt dem von Barth am 26.1.1934 geschriebenen Vorwort zu seinem Buch: Gottes Wille und unsere Wünsche, München 1934, S. 4. Vgl. Gerhard Schäfer (Hg.), Die evangelische Kirche in Württemberg, Band 2, S. 1065–1072.

Biografischer Abriss



29.–31.5. 9.6.

29

219

und Paul Volz (1871–1941) teilnahmen. Ihr Ziel, zwischen den sich widerstreitenden Strömungen in der württembergischen Kirche zu vermitteln, war insofern erfolgreich, als auch nicht-nationalsozialistische Theologen wie Adolf Schlatter »freudig« zustimmten. Insgesamt unterschrieben neben 14 Tübinger Theologiedozenten mehr als 600 württembergische Pfarrer. Der dritte der zwölf Sätze enthielt die von Barth am 23.1. kritisierte Danksagung an »den Führer« und Reichskanzler Adolf Hitler: Satz 3: »Wir sind voll Dank gegen Gott, dass er als der Herr der Geschichte unserem Volk in Adolf Hitler den Führer und Retter aus schwerer Not geschenkt hat. Wir wissen uns mit Leib und Leben dem deutschen Staat und diesem seinen Führer verbunden und verpflichtet. Diese Verbundenheit und Verpflichtung hat für uns als evangelische Christen ihre tiefste und heiligste Verantwortung darin, dass sie Gehorsam gegen das Gebot Gottes ist.« Satz 7: »Wir sehen in dem württembergischen Landesbischof D. Wurm den rechtmäßigen Bischof und Diener unserer Landeskirche und Bruder eines jeden von uns. Wir bezeugen, dass sein echt evangelisches Wirken als Landesbischof von der überwältigenden Mehrheit der kirchlichen und staatstreuen Bevölkerung Württembergs mit großem Vertrauen getragen wird. Wir bezeugen weiter, dass er schon vor dem Umschwung eine positive Haltung Adolf Hitler gegenüber eingenommen und dass er in dieser Haltung zum Dritten Reich bis auf den heutigen Tag niemals ein Schwanken gezeigt hat.«29 1. Reichsbekenntnissynode in Wuppertal-Barmen, Barmer Theologische Erklärung. Gerhard Kittel: »Offene Frage an die Männer des Bruderrates der ›Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche‹«. Kittel wandte sich mit seinem offenen Brief an die Männer des Bruderrates der Bekenntnissynode, wobei er die historische Bedeutung des nationalsozialistischen Machtumschwungs hervorhob und ihn mit den Worten kommentierte: »Wir verwerfen die falsche Lehre, als ob es zu irgendeiner Zeit oder an irgendeinem Ort eine Verkündigung des Evangeliums ohne Bezogenheit auf den geschichtlichen Augenblick gäbe, welche erfolgen könnte, ›als wäre nichts geschehen‹; eine Verkündigung, die nicht in Angriffsrichtung und in ihrem

Ders. (Hg.), Die evangelische Kirche in Württemberg, Band 3, Stuttgart 1974, S. 334–339, hier 335 f. Am 21.5. schrieb Kittel an den Landesbischof und erläuterte ihm den Sinn der Tübinger Sätze (ebd., S. 339).

220

28.6.





9.10.

Anhang

ganzen Geformtsein durchgängig mitbestimmt wäre durch die von Gott ihr geordnete Stunde von Volk und Mensch.«30 Brief Kittels an Karl Barth. Kittel hatte am 9.6. seine »Offene Frage« auch Karl Barth, »in Gedanken an den Händedruck, den wir in Berlin tauschten«, zugeschickt. In der Folge kam es zu einem längeren Briefwechsel, der noch 1934 vom Stuttgarter Kohlhammer Verlag publiziert wurde. Im längsten Brief teilte Kittel seinem theologischen Gegenspieler am 28.6. mit, dass er »Die Judenfrage« »in allem Wesentlichen genau so schreiben würde wie damals«. Er glaube, das neutestamentliche Problem des Judentums ernster zu nehmen als die christlichen Beschützer des Assimilationsjudentums. Den Dissens mit Barth resümierte Kittel mit den Worten: »Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt unseres Streites. Er begann am 23. Januar 1934 damit, dass als Einleitung für ein dem Reichskanzler von den Kirchenführern zu übergebendes Memorandum ein Wort des Dankes an Gott formuliert war für alles, was er im Jahre 1933 dem deutschen Volk durch Adolf Hitler getan habe. Gegen dieses Memorandum und insbesondere gegen diesen Dank haben Sie Einspruch erhoben, und als er Ihnen mit dem Hinweis auf die Rettung vor dem Bolschewismus, auf die Bekämpfung der Arbeitslosennot, auf das Winterhilfswerk u. a. begründet wurde, da haben Sie die Position, aus welcher heraus jener Satz des Dankes gesprochen war, im Namen des Reformierten Moderamens in aller Feierlichkeit als häretisch erklärt; haben wenige Tage darauf diese Erklärung über uns dem Druck und damit der vollen kirchlich-theologischen Öffentlichkeit übergeben.«31 Brief Kittels an Werner Lagemann. Der Religionslehrer Werner Lagemann aus Düsseldorf hatte sich am 12.9. handschriftlich an Kittel gewandt. Er sei Religionslehrer und wolle sich nicht an dem Hass gegen die Juden beteiligen. Wie erkläre Kittel als Nationalsozialist und Christ die Diskrepanz zwischen der christlichen Lehre und den hetzerischen Äußerungen von Politikern wie Julius Streicher und wie könne dagegen vorgegangen werden?

30 Vgl. Gerhard Niemöller, Die erste Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Barmen, 2. Auflage Göttingen 1984, S. 156 f.; ferner Horst Dohle, Die Stellung der evangelischen Kirche in Deutschland zum Antisemitismus und zur Judenverfolgung zwischen 1933 und 1945, Diss. phil. Ost-Berlin 1963, S. 83. 31 Karl Barth und Gerhard Kittel. Ein theologischer Briefwechsel, Stuttgart 1934; Nachdruck mit ausführlichem Kommentar bei Koch (Hg.), Karl Barth, S. 268–319, das Zitat 311 f.

Biografischer Abriss

221



In seiner Antwort betonte Kittel den zentralen Unterschied zwischen einer christlichen und nichtchristlichen Antwort auf die Judenfrage: »Je nachdem man sie von Christus her sieht oder nicht von Christus her; das heißt: je nachdem ich etwas von dem Fluch sehe, der über diesem Volke liegt. Vieles von dem, was der Stürmer schreibt, ist richtig, z. B. stimmen die meisten Zitate aus dem Talmud tatsächlich. Und es ist richtig, dass im Judentum sich weithin etwas Satanisches zeigt, von Machthunger und Gier, aber die Frage ist, wo dies seine Wurzeln hat, und da ist die aus der Bibel geschöpfte Antwort: In jenem Fluch, der über dem Volke liegt, das den Herrn verworfen hat.« In Einzelfällen, etwa bei der Ablehnung des Alten Testaments (AT), sei es gleichwohl angebracht, öffentlich Stellung zu beziehen.32 19./20.10. Zweite Reichsbekenntnissynode in Berlin-Dahlem. 31.10. Versuch der Reformierung des evangelischen Fakultätentages. Aus Unzufriedenheit mit der Tätigkeit des Vorsitzenden des theologischen Fakultätentages Hans Schmidt (1877–1953) bildete sich ein »Aktionsausschuss« zur Reform des alten bzw. zur Konstituierung eines neuen Fakultätentages. Kittel gehörte dem Ausschuss an, der am 31.10. in Erfurt zusammentrat. Im Protokoll des Treffens heißt es, dass alle Anwesenden an der Seite der Bekenntnisbewegung stünden. Kittel machte aber den Einwand geltend, dass die Gefahren nicht zu unterschätzen seien, »die in theologischer, kirchlicher und politischer Hinsicht auf der Seite der Bekenntnisbewegung sich erheben«. Nach einem weiteren Treffen am 6.1.1935 in Berlin kamen die Aktivitäten des »Konkurrenzunternehmens« zum Erliegen.33 19.12. Antrittsvorlesung von Karl Georg Kuhn in der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen über »Die Ausbreitung des Judentums in der antiken Welt«.34

32 33 34

Stiftsarchiv Tübingen, Nachlassteil Gerhard Kittel, N 5. Vgl. Kurt Meier, Die Theologischen Fakultäten im Dritten Reich, Berlin 1996, S. 110 f., mit Bezug auf den Nachlass Hans von Soden (1881–1945), in dem das zitierte Protokoll enthalten ist. Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 184 f., mit Bezug auf den Bericht in der Tübinger Chronik vom 24.12.1934: »Die Ausbreitung des Judentums in der antiken Welt. Antrittsrede von Privatdozent Dr. Kuhn von der Philosophischen Fakultät Tübingen am Mittwoch, den 19. Dezember 1934«.

222

Anhang

1935 28.2.

17.4.





Erlass des Reichserziehungsministeriums. Als Staatsbeamte müssten sich auch Theologieprofessoren einer Zurückhaltung befleißigen, die der politischen Verantwortung eines Amtsträgers des nationalsozialistischen Staates entspreche. Eine aktive Teilnahme am Kirchenkampf sei damit nicht vereinbar. Stellungnahme der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen gegen den »Maulkorberlass«. Die Tübinger Stellungnahme schloss sich einem an Bernhard Rust (1883–1945) adressierten Schreiben Gerhard Kittels vom 5.4. und Georg Wehrungs vom 13.4. an. Sie betonte zum einen die Übereinstimmung mit dem NS-Staat, andererseits aber auch das Recht der Theologie, sich an öffentlichen Diskussionen zu beteiligen. Obwohl der Erlass die gewünschte Wirkung erzielte, wurde er im Februar 1936 wieder zurückgenommen, als Rust eine theologische Stellungnahme zugunsten der Kirchenausschüsse wünschte. Kittel hatte am 5.4. an Rust über seine Rolle als Kirchenmann und Staatsbeamter geschrieben: »Ich glaubte ein verachtenswerter Natio­nalsozialist und das Gegenteil des vom Nationalsozialismus geforderten Professors zu sein, wenn ich mich auf den ›akademischen‹ Charakter meines Lehramts zurückzöge und neutral bliebe. [...] Irgendeiner kirchenpolitischen oder im Kirchenkampf stehenden Organisation habe ich niemals angehört, mit einziger Ausnahme der Organisation der Deutschen Christen. Aus ihr bin ich mit der Begründung ausgetreten, dass sie durch ihre Methoden das zerstöre, dem meine Lebensarbeit, seitdem ich Theologe geworden bin, gegolten und was mit neuer Wucht der Führer uns als Ziel gesetzt habe: eine lebensvolle im deutschen Volke verwurzelte und wirkende Deutsche Evang. Kirche und eine dieser Kirche dienende echte Theologie.« Am 11.4. wandte sich der württembergische Landesbischof Wurm an Rust, um die Belange der Theologie zu verteidigen und um ihm zu versichern, dass die Deutschen Christen nicht repräsentativ für die evangelische Kirche seien. Der Staat solle aufhören, sie als Treuhänder des Nationalsozialismus in der Kirche zu sehen. »Welch aufgeschlossene Stimmung für den Nationalsozialismus herrschte z. B. im evangelischen Württemberg vor und nach dem Umbruch! Es war einfach selbstverständlich, dass die Wahlparole für Hitler lautete. Unser treues Kirchenvolk war immer noch das Bollwerk gegen auflösende Tendenzen gewesen und begrüßte den National-

223

Biografischer Abriss

Mai

2.–5.7. 16.7.

sozialismus als Rettung Deutschlands. Und nun musste es zu seinem tiefen Schmerz wahrnehmen, dass dieser Staat sich mit den DC kompromittierte.«35 Treffen Kittels mit dem amerikanischen Prediger und Führer der Oxford-Gruppenbewegung Frank Buchman (1878–1961). Karl Fezer, der in engem Kontakt mit Buchman stand, hatte den Evangelisten nach Tübingen eingeladen. An dem Treffen im Ephorat des Tübinger Stifts nahmen außer Buchman und seinen Mitarbeitern die Professoren Fezer, Heim, Kittel und Weiser teil.37 Teilnahme Kittels am Deutschen Lutherischen Tag in Hannover.36 Ernennung von Hanns Kerrl (1887–1941) zum Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten.

1936 Februar 11.3. 28.5. 7./8.6. 24.7. 19.11.

Endgültige Spaltung der Kirchenopposition auf der 4. Reichsbekenntnissynode in Bad Oeynhausen und Bildung der 2. Vorläufigen Kirchenleitung. Gründung des Rats der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (Lutherrat). Vertrauliche Denkschrift der 2. Vorläufigen Kirchenleitung an Reichskanzler Hitler. Feier des 400-jährigen Bestehens des Tübinger Stifts. Berufung Kittels in den Sachverständigenbeirat der Forschungsabteilung Judenfrage.38 Offizielle Eröffnung der Forschungsabteilung Judenfrage in der Großen Aula der Universität München.

35 Die von Dekan Artur Weiser unterzeichnete Stellungnahme der Fakultät vom 17.4.1935, die Briefe Kittels und Wehrungs vom 5.4. und 14.4.1935 sowie das Schreiben Wurms vom 11.4.1935 sind wiedergegeben bei Gerhard Schäfer (Hg.), Die evangelische Kirche in Württemberg, Band 4, Stuttgart 1977, S. 209–218; die Zitate Kittels und Wurms, ebd., S. 211 und 216. Der Brief des De­kans vom 14.4.1935 findet sich bei Matthias Wolfes, Protestantische Theologie und moderne Welt. Studien zur Geschichte der liberalen Theologie nach 1918, Berlin 1999, S. 242 f., unter Bezugnahme auf Wehrungs Nachlass in der Tübinger Universitätsbibliothek, der auch Kittels Schreiben vom 5.4.1935 und andere Dokumente zum Thema »Fakultät und Kirchenstreit« enthält. 36 Vgl. Handbuch der deutschen evangelischen Kirchen 1918 bis 1949, Band 1, Göttingen 2010, S. 136. 37 Vgl. Jörg Thierfelder, Karl Fezer – Stiftsephorus in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Hermle/ Lächele/Nuding (Hg.), Im Dienst an Volk und Kirche, S. 126–156, hier 137. 38 Personalakte Kittel (UAT 126/326c); allgemein zur Forschungsabteilung Judenfrage: Bundesarchiv Berlin, R4901, 2595, Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands.

224

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Die Forschungsabteilung Judenfrage war Teil des am 19.10.1935 gegründeten Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands und der wichtigste nationalsozialistische Think Tank auf dem Gebiet der »Judenforschung«. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, die nationalsozialistische Judenpolitik theoretisch zu legitimieren und mit gesichertem Faktenmaterial zu untermauern. Zwischen 1936 und 1939 wurden vier hochkarätig besetzte Arbeitstagungen abgehalten. An allen nahm Gerhard Kittel als der bei Weitem renommierteste Wissenschaftler der Forschungsabteilung Judenfrage teil. Kittel hatte außerdem mit Karl Georg Kuhn und Günter Schlichting (1911–1989) noch zwei seiner Mitarbeiter an der Forschungsabteilung untergebracht. Schlichting leitete in Tübingen die theologische Seminarbibliothek, bevor er in München eine antisemitisch ausgerichtete »Spezialbibliothek zur Judenfrage« aufzubauen begann.39 19.–21.11. Erste Arbeitstagung der Forschungsabteilung Judenfrage in München. Kittel hielt auf der ersten Arbeitstagung einen Vortrag über »Die Entstehung des Judentums und der Judenfrage«, Kuhn über »Die Entstehung des talmudischen Denkens« und Wundt über »Nathan der Weise oder Aufklärung und Judentum«. Alle Vorträge wurden in der eigens geschaffenen Publikationsreihe »Forschungen zur Judenfrage« veröffentlicht.40 23.11. »Entstehung des Judentums und der Judenfrage. Dr. Kittel und Dr. Kuhn auf der Tagung der Forschungsabteilung Judenfrage in München«, Artikel in der »Tübinger Chronik«. Dem Zeitungsbericht zufolge sprach Kittel dem Judentum sowohl die Kraft als auch den Willen zur Staatsbildung ab. Die Juden seien ein Rassengemisch, dem Heimat und Boden fehle, und erst in der Diaspora seien sie zu einer »volklichen Einheit« geworden. Deswegen verlaufe ihre Existenz quer durch die Völker. Der alte

39 Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 227–232, speziell zu Schlichting S. 245–249; ein allgemeiner Überblick bei Patricia von Papen, Schützenhilfe nationalsozialistischer Judenpolitik. Die »Judenforschung« des »Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands« 1935–1945. In: Fritz Bauer Institut (Hg.), »Beseitigung des jüdischen Einflusses  …«. Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 17–42; und Matthias Berg, Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands. In: Michael Fahlbusch/Ingo Haar/Alexander Pinwinkler (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme, Band 2, 2. Auflage Berlin 2017, S. 1375–1385. 40 Zu den Vorträgen von Kuhn und Kittel vgl. Junginger‚ Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 188 f. und 238 f.

225

Biografischer Abriss

r­ eligiös-sittliche Erwählungsgedanke sei im Judentum in eine sich verselbstständigende Privilegierungsvorstellung übergegangen, die ihre entscheidende Zuspitzung durch die Assimilation erfahren habe, als die Juden begannen, sich des politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens zu bemächtigen.

1937 10.1.

26.1.

41

Schreiben Kittels an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft zur Förderung der »Rabbinischen Texte«. Wie in seinem früheren Schreiben an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft argumentierte Kittel auch jetzt mit der politischen Bedeutung der »Rabbinischen Texte«. Es handele sich vermutlich um das einzige Projekt auf der Welt, das die Schriften des »Talmudjudentums« ohne jüdische Beteiligung herausbringe; was aber insofern nicht stimmte, als mit Charles Horowitz (1890–1969) in Tübingen auch ein jüdischer Wissenschaftler daran mitwirkte. Nach dem »Ausscheiden« von Horowitz wurde dessen Hilfsassistenz im April 1933 Karl Georg Kuhn übertragen. Der am Londoner Jews College lehrende Arthur Marmorstein (1882–1946) hatte sich unter Protest von seiner Mitherausgeberschaft an den »Rabbinischen Texten« zurückgezogen, nachdem ihm Kittels Schrift »Die Judenfrage« zu Gesicht gekommen war.41 »Der Geist des Talmudjudentums. Professor Dr. Kittel spricht auf der Kreistagung des NSLB«, Artikel in der»Tübinger Chronik«. Dem Bericht zufolge erklärte Kittel das Wesen des Judentums mit dem in der jüdischen Diaspora entstandenen talmudischen Denken. Dieses charakterisiere sich durch Selbstgerechtigkeit, den Anspruch auf Weltherrschaft, Bodenlosigkeit, Mechanismus, Kasuistik und durch das Fehlen wahrer Sittlichkeit. Kittel wurde mit den Worten zitiert: »Mit dem Judentum entsteht immer und überall die Judenfrage, die also eine wesentliche Erscheinung am Judentum ist; nur sentimentale Weichlichkeit kann das heute übersehen. Was das nationalsozialistische Deutschland mit der Judengesetzgebung getan hat, ist nicht Barbarei, sondern die kühle Folgerung einer nüchternen geschichtlichen Erkenntnis, die die Welt Adolf Hitler zu danken haben wird.«

Junginger‚ Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 143–149. Zu Horowitz vgl. Katrin Dönges, Die lange Flucht des Charles Horowitz. In: Schichtenwechsel. Journal für die Geschichte Oberhausens, Heft Mai–September 2009, S. 38–41; Matthias Morgenstern, Otto Michel und Charles Horowitz – ein Briefwechsel nach der Schoa. In: Judaica, 68 (2012), S. 278–294.

226

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12.–14.5. Zweite Arbeitstagung der Forschungsabteilung Judenfrage in München. Auf der zweiten Arbeitstagung der Forschungsabteilung Judenfrage sprach Kittel über »Das Konnubium mit Nicht-Juden im antiken Judentum«, Kuhn über »Das Weltjudentum in der Antike« und Wundt über »Das Judentum in der Philosophie«. Der ebenfalls anwesende Julius Streicher hielt einen mehrstündigen Vortrag mit dem Titel »Mein politischer Kampf gegen das J­ udentum«. Weitere Teilnehmer waren General Ritter von Epp, Gauleiter Martin Mutschmann, der frühere Chef des ­Nachrichtendienstes der ­Obersten Heeresleitung, Oberst Walther Nicolai, sowie Adolf Eichmann und Dieter Wisliceny vom Sicherheitsdienst der SS.42 18.6. Vortrag Kittels auf dem Tübinger Universitätsfest über »Mischehe und Rassenmischung im Judentum«. Die »Tübinger Chronik« berichtete unter der Überschrift »Rassenmischung im Judentum. Prof. Dr. Kittel über das Judenvolk in der Vergangenheit« am 19.6. über Kittels Ausführungen, die überzeugend dargelegt hätten, wo und wann das jüdische Rassengemisch entstanden sei. Weiter heißt es: »Der Vortragende schloss mit dem Hinweis, dass diese Ergebnisse nicht nur in anthropologisch-biologischer, sondern auch in theologischer und religionsgeschichtlicher Hinsicht bedeutungsvoll seien. In politischer Beziehung aber heißen sie: es zeigt sich unwiderleglich aus der geschichtlichen Analyse, dass die nationalsozialistischen Verbote der Mischehen zwischen Juden und Nichtjuden nicht, wie unsere Feinde behaupten, eine unerhörte Grausamkeit gegen die Juden sind, sondern in Wirklichkeit der heilsame Zwang auf das Assimilationsjudentum, zu seinen echten Grundlagen und zu deren Gesetzen zurückzukehren.« 20./21.10. Lexicographia Sacra. In zwei Vorträgen zum Thema »Lexicographia Sacra« stellte Kittel in der Divinity School der Universität Cambridge das Konzept des ThWNT vor. Dabei scheute er sich nicht, das Parteiabzeichen der NSDAP am Revers zu tragen.43

42 43

Zur Teilnahme Eichmanns und Wislicenys vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 243. Kittels Vorträge wurden später auf Deutsch und Englisch publiziert. Dass Kittel in Cambridge sein Parteiabzeichen trug, bei Peter M. Head, The Nazi quest for an Aryan Jesus. In: Journal for the study of the historical Jesus, 2 (2004), S. 55–89, hier 72.

227

Biografischer Abriss

8.11.



16.12.



Beginn der Münchner Ausstellung »Der ewige Jude«. Neben Julius Streicher nahm als prominentester Nationalsozialist Joseph Goebbels an der Ausstellungseröffnung teil. In seiner Ansprache verwies der Propagandaminister auf die wissenschaftliche Grundlage des Gezeigten. Alles sei historisch belegt und könne deshalb nicht als bloße Propaganda abgetan werden. Bis zum Ende der Ausstellung am 31.1.1938 kamen mehr als 400 000 Besucher. Sowohl die Münchner Forschungsabteilung Judenfrage als auch das im Geschäftsbereich des Propagandaministeriums angesiedelte Institut zum Studium der Judenfrage beteiligten sich an ihrer Durchführung. Kittel bekundete 1939, er selbst habe für die Ausstellung »geeignete Wandsprüche über die Juden aus der antiken Literatur« zusammengetragen. Darüber hinaus trug Kittel antike Judenkarikaturen und Terrakottafiguren aus dem Rheinischen Landesmuseum in Trier zusammen, mit denen er das angeblich fratzenhafte Wesen des Judentums anschaulich machen wollte.44 Vortrag Kittels im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitveranstaltung zur Ausstellung »Der ewige Jude«. Zur wissenschaftlichen Unterstützung der Ausstellung veranstaltete man eine Vortragsreihe, bei der Kittel »Die rassische Entwicklung des antiken Judentums« erörterte. Kuhn hatte in der Woche davor über den »Talmud als Spiegel des Judentums« gesprochen, Max Wundt behandelte am 11.1.1938 ein weiteres Mal »Die Juden in der Philosophie«. In ihrer Ankündigung der Vorträge hoben die »Münchner Neuesten Nachrichten« am 14.12. auf die wissenschaftliche Bedeutung Kittels und seine politisch klare Haltung in der »Judenfrage« ab. Der Vortragsbericht des »Völkischen Beobachters« betonte am 19.12. ebenfalls das Renommee Kittels und das hohe Niveau seiner Ausführungen. Erst dem Christentum sei es gelungen, der verhängnisvollen Entwicklung des Judentums ein Ende zu setzen.45

1938 30.1.

Brief Kittels an Hans Ehrenberg (1883–1958). Der evangelische Pfarrer Hans Ehrenberg, Mitbegründer der Bekennenden Kirche und aufgrund seiner jüdischen Herkunft verfolgt, hatte Kittel am 5.1. wegen seiner Aussagen über das ­Verhältnis

44 Zu Kittels Beteiligung vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 255 ff. 45 Ebd.

228





25.4.

46

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von Christen und Juden in 14 Punkten kritisiert. Im 9. Punkt führte Ehrenberg aus: »9. Ist die Wertung des A[lten] T[estaments] als eine Mischung von zwei verschiedenen Strömen eine Grundlage für irgendeine theologische Besinnung über das Kreuz Jesu Christi und das, was um des Kreuzes willen im Himmel und auf Erden ist? Ist hier der Boden der Bibel nicht in Wahrheit verlassen? Wird hier daher nicht auch die Judenfrage rein profangeschichtlich angefasst? Dass sie dann von Ihnen noch ›wohlwollend‹ gesehen wird, soll nicht bestritten werden. Es ist nur zweifelhaft, ob das der Wahrheit dient bez. ob die Kirche darin ihr Wort erkennen kann.« Darauf antwortete Kittel: »9) Eben das Vorige ist ja ein wesentlicher Punkt der Kreuzesgeschichte: dass es nämlich 2 Berufungen auf den Herrn Israels gab, und dass deshalb Jesus gekreuzigt wurde nicht von Leugnern des AT, sondern von denen, die es zu erfüllen meinten. Im Übrigen liegt der wohl tiefste Gegensatz zwischen Ihnen und mir in dem Verständnis der ›Profangeschichte‹. Für Sie ist die Heilsgeschichte aus der Profangeschichte exempt, während ich dies ein doketisches Denken nenne, das in striktem Gegensatz zum biblischen Denken steht, für welch letzteres es keine Heilsgeschichte gibt, die nicht immer zugleich Profangeschichte (d. h. aber nichts anderes als: wirkliche Geschichte) ist. Deshalb, wenn ich die Judenfrage profangeschichtlich ›anfasse‹, gebe ich zum mindesten einen legitimen Beitrag zu ihrer Erkenntnis.« Der seit dem 1.6.1937 zwangspensionierte Ehrenberg erhielt im September 1938 Predigt- und Redeverbot. Im Zuge des Novemberpogroms wurde seine Wohnung verwüstet, er selbst in das Konzen­ trationslager Sachsenhausen verbracht. 1939 gelang ihm die Emigration nach England.46 Fakultätentag der Evangelisch-theologischen Fakultäten in Halle. Auf dem Fakultätentag in Halle diskutierten 18 Dekane der Evangelisch-theologischen Fakultäten im Deutschen Reich (einschließlich Wiens) über eine Reform des Theologiestudiums. Besonderes Augenmerk galt dabei der Frage nach der Bedeutung des AT und des von radikalen DC gleichfalls zur Disposition gestellten Hebräisch­ unterrichts. Die Tübinger Fakultät verfasste hierzu eine Denkschrift, die sowohl den Hebräischunterricht als auch das AT zum elementaren Bestandteil des theologischen Curriculums erklärte. Nicht ohne antisemitische Untertöne betonte sie dabei die Wichtigkeit authen-

Archiv des Evangelischen Stifts Tübingen, Nachlassteil Gerhard Kittel, N 5, 82, 1/1.

Biografischer Abriss

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tischer Kenntnisse über das Judentum, ohne die kein fester Standpunkt in der »Judenfrage« zu gewinnen sei. Das eindeutige Votum der theologischen Fakultäten trug dazu bei, dass vom Reichserziehungsministerium Abstand davon genommen wurde, den Hebräischunterricht abzuschaffen. Die Brisanz des Themas veranlasste Hans Schmidt als Präsident des Fakultätentages jedoch, von Gerhard Kittel eine weitere Stellungnahme zu erbitten. Dieser antwortete am 16.12. (siehe dort).47 23.5. Gedenkrede Kittels bei der akademischen Feier der Universität Tübingen anlässlich des Todes von Adolf Schlatter (19.5.). 5.–7.7. Dritte Arbeitstagung der Forschungsabteilung Judenfrage im Großen Senatssaal der Universität München. Kittel behandelte in seinem Vortrag »Die Abstammung der Mutter des Origenes«, und Kuhn sprach über »Ursprung und Wesen der talmudischen Einstellung zum Nichtjuden«. 2.8. Eröffnung der Propagandaausstellung »Der ewige Jude« in Wien.48 6.9. Eröffnung der Ausstellung »Europas Schicksalskampf im Osten« auf dem Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg durch Alfred Rosenberg. Kittel nahm nicht nur als »Ehrengast des Führers« am Reichsparteitag teil. Für die von Rosenbergs Dienststelle organisierte Parteitagsausstellung »Europas Schicksalskampf im Osten« gestaltete er auch einen eigenen Raum, der die Ausbreitung des Judentums im Römischen Reich darstellte. Zu diesem Zweck hatte Kittel in Tübingen mit Geldmitteln des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands von Otto Stumpff, einem seiner Studenten, eine Wandkarte über »Die Verbreitung des siebenarmigen Leuchters (Menorah) im Imperium Romanum« zeichnen lassen.49 14.–16.9. Gründungstreffen der internationalen Gesellschaft »Studiorum Novi Testamenti Societas« (SNTS) in Birmingham. Bereits am 17.6. hatte sich Kittel mit der Bitte um Genehmigung der Dienstreise nach England an das Reichserziehungsministerium gewandt – »soviel mir bisher bekannt ist, ist außer mir kein ­weiterer

47 Vgl. Kurt Meier, Anpassung und Resistenz der Universitätstheologie. Ein Beitrag zur institutionsgeschichtlichen Debatte. In: Leonore Siegele-Wenschkewitz/Carsten Nicolaisen (Hg.), Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus, Göttingen 1993, S. 81–87; Kurt Meier, Die Theologischen Fakultäten im Dritten Reich, Berlin 1996, S. 309–312; Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 151–155. 48 Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 258 f. 49 Ebd., S. 268 f.

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deutscher oder österreichischer Teilnehmer eingeladen« – und diese am 5.7. auch erhalten. Kittel, der seinen Tübinger Assistenten Albrecht Stumpff als Begleitung mitnahm, wurde in Birmingham in den provisorischen Vorstand der Studiorum Novi Testamenti Societas gewählt. Am 22.9. erstattete Kittel dem Ministerium Bericht über das Treffen, wobei er besonders die politische Bedeutung seiner Teilnahme hervorhob: »Schon die Tatsache meiner Anwesenheit in Birmingham in diesen Tagen wurde von den ausländischen Kollegen stark eingeschätzt; noch größer war allerdings ihr Erstaunen, als sich herum­sprach, dass ich unmittelbar aus Nürnberg kam und dass ich dort als Ehrengast des Führers am Reichsparteitag teilgenommen hatte.« Um von Deutschland aus Einfluss nehmen und ein Gegengewicht gegen die englische Dominanz in der Gesellschaft bilden zu können, sei es angeraten, die Teilnahme weiterer reichsdeutscher Wissenschaftler zu unterstützen und dafür die entsprechenden Devisen bereitzustellen. Zudem ließ Kittel die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen, um Neutestamentler auszuschließen, die eine andere Meinung als er vertraten. Konkret hatte er dabei seine beiden Intimfeinde in Basel und Zürich, Karl Ludwig Schmidt (1891–1956) und Werner Georg Kümmel (1905–1995), im Auge, über die er schrieb: »Das scheint mir von besonderer Bedeutung vor allem für die Schweiz. Ich hoffe bestimmt, dass es möglich sein wird, 2 bestimmte Schweizer Neutestamentler auszuscheiden, von denen der eine Halbjude und der andere deutscher Emigrant und dezidierter Barthianer ist, und damit die Schweizer Delegation so zu gestalten, dass es für uns tragbar wird.« Nach Einholung verschiedener Gutachten stimmte das Ministerium Kittels Überlegungen am 2.12. grundsätzlich zu und empfing ihn am 19.12. in Berlin zu einem weiteren persönlichen Gespräch. Von dort aus fuhr Kittel am 20.12. nach London, um an einer Vorstandssitzung der SNTS teilzunehmen. Auch darüber fertigte er einen Bericht für das Ministerium an.50 9./10.11. Reichspogromnacht.

50

Vgl. Lukas Bormann, »Auch unter politischen Gesichtspunkten sehr sorgfältig ausgewählt«: Die ersten deutschen Mitglieder der Studiorum Novi Testamenti Societas (SNTS) 1937–1946. In: New Testament Studies, 58 (2012), S. 416–452, hier 427–434 (»Gerhard Kittel, der NS-Staat und die Gründung der SNTS«), die Zitate S. 430 und 436; siehe auch den Beitrag von Lukas Bormann in diesem Band.

231

Biografischer Abriss

16.12.

Brief Kittels an Hans Schmidt. In seiner Antwort an den Präsidenten des Fakultätentages, Hans Schmidt, erklärte Kittel den Hebräischunterricht zu einem integralen Bestandteil des evangelischen Theologiestudiums. Die neutestamentliche Gräzität sei ohne Kenntnis des Hebräischen nicht zu erfassen. Das theologische Denken im Urchristentum beruhe weithin auf hebräisch-alttestamentlichen Begriffen, die im Neuen Testament allerdings einen neuen und »oft geradezu gegensätzlichen Inhalt« bekommen hätten. Das ThWNT verfolge das Ziel, diesen Transformationsprozess vom Alten zum Neuen Testament herauszuarbeiten. Das ThWNT in einen antisemitischen Zusammenhang stellend, schrieb Kittel: »Nur wo das Verhältnis Altes Testament – Neues Testament und Judentum – Neues Testament aus der sprachlichen Beherrschung der Fragestellung am Stoff selbst klargelegt wird, wird das Urteil über den schlechthinnigen Antijudaismus des NT ein festes und begründetes sein. Es kann kein falscheres Urteil geben als dies, dass die Beschäftigung mit dem Hebräischen den Studenten judaisiere, – wer in dieser Gefahr ist, wird ihr ohne Hebräisch sehr viel schneller erliegen! Heil Hitler, Kittel.«51

1939 12.–28.1. 13.1.

51

Vortragsreihe der Forschungsabteilung Judenfrage zum Thema »Judentum und Judenfrage« in Berlin. Vortrag Kittels im Rahmen dieser Reihe über »Die historischen Voraussetzungen der Rassenmischung des Judentums«. In der Presse wurde ausführlich über die Vortragsreihe berichtet. So brachte die »Tübinger Chronik« am 18.1. einen langen Artikel von Walter Frank (1905–1945), dem Präsidenten des Reichsinstituts, mit dem Titel: »Deutsche Wissenschaft gegen das Weltjudentum«. Unter der Überschrift »Wie wurde das Judentum? Universitätsprofessor Dr. Kittel-Tübingen sprach in Berlin« referierte die »Tübinger Chronik« einen Tag später über Kittels Ausführungen und am 1.2. publizierte der Evangelische Pressedienst den Vortragsbericht »Ein Theologe über die jüdische Rassengeschichte«, in dem es heißt: »Die judaistische Umbildung der alttestamentlichen Religion in die Sphäre der religiösen Machtidee, die schon im Neuen Testament schärfste Kritik gefunden hatte, förderte den u ­ ngeheuren ­Verjudungsprozess der antiken Welt. Den Abschluss dieser Periode

Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 153.

232



15.1.

19.1.

Anhang

der jüdischen Rassengeschichte bildete der Einbruch des Christentums. Das Judentum wurde zurückgedrängt, die Mischehe untersagt, den Juden christliche Sklaven verboten. Es ist dem Christentum zu danken, dass der damalige gewaltige Mischungsprozess aufhörte. Der Vortrag Professor Kittels, den der Präsident des Reichsinstitutes, Professor Franck [sic!] als einen hervorragenden Kenner der Rassengeschichte des Judentums begrüßte, zeigte, wie die theologische Wissenschaft hier an einer Stelle für die klare Erkenntnis eines unserem Volke gestellten Problems wertvolle Mitarbeit leistet.« Im Kulturbeiblatt des »Stuttgarter Neuen Tagblattes«, »Die geistige Welt«, wurde am 21.1. außerdem Kittels Parallelisierung des ­jüdischen Mischehenverbots mit den Nürnberger Gesetzen angesprochen.52 Teilnahme Kittels an einem Treffen der kontinentalen SNTS-Mitglieder in Leiden. Zur Vorbereitung des Treffens nahm Kittel die Gelegenheit seines Berliner Vortrags wahr, um am 13.1. auch beim Reichserziehungsministerium vorzusprechen. Als Kittel am 25.2. dem Ministerium über die Zusammenkunft in Leiden berichtete, nannte er 15 deutsche Wissenschaftler, die für eine Mitgliedschaft in der SNTS geeignet seien, darunter auch Karl Georg Kuhn und den unter seriösen Neutestamentlern isolierten Walter Grundmann.53 Rundschreiben des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands an die Dekane der Evangelisch-theologischen und Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen. In einem Rundschreiben an alle Universitäten hatte der Leiter des Reichsinstituts Walter Frank am 10.1. um Nennung der auf judaistischem Gebiet tätigen Hochschullehrer gebeten. Kittel antwortete, er sei Fachmann auf dem Gebiet der antiken Judenfrage und sehe vor allem Karl Georg Kuhn, Karl Heinrich Rengstorf (1903–1992), Günter Schlichting und im Ausland Hugo Odeberg (1898–1973) und Erik Sjöberg (1907–1963) als seine Schüler an.54

52 Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 259 und 310. Ein vom Evangelischen Presseamt der Mark Brandenburg aus der Märkischen Volks-Zeitung vom 15.1.1939 nachgedruckter Artikel (»Professor Kittel über das Judentum«) findet sich bei Röhm/Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Band 2/I, Stuttgart 1991, S. 312 f. 53 Vgl. Bormann, »Auch unter politischen Gesichtspunkten sehr sorgfältig ausgewählt«, S. 437 f. Einem Brief Bultmanns an Kittel vom 4.4.1937 ist zu entnehmen, dass sowohl der Marburger als auch der Göttinger Neutestamentler Joachim Jeremias (1900–1979) »wegen der Art seiner Propaganda für seine kirchliche Richtung« Grundmanns Ausschluss aus dem Mitarbeiterkreis des ThWNT gefordert hatten (ebd., S. 438). 54 Personalakte Kittel (UAT, 126/31, fol. 177.

Biografischer Abriss

4.2.



19.2.

55

233

Schreiben von Landesbischof Theophil Wurm an den Reichsführer SS Heinrich Himmler. Wurm dankte Himmler zunächst für die Entlassung von Pfarrer Theodor Dipper (1903–1969) aus dem Schutzhaftlager Welzheim, um dann sein eigentliches Anliegen vorzubringen. Bei der Tübinger Universitätsfeier am 30.1. sei die Evangelisch-theologische Fakultät von Mitgliedern der Schutzstaffel (SS) – insbesondere von dem in SS-Uniform auftretenden Dozentenführer Robert Wetzel – zu Unrecht kritisiert und »zum Gegenstand eines schweren öffentlichen Angriffs geworden«. Es sei ihm zudem zu Ohren gekommen, dass im Stuttgarter Kultusministerium über die Auflösung der Fakultät nachgedacht werde. Wurm hielt dagegen und verwies auf die große Tradition der Tübinger Theologie, wobei er unter den amtierenden Fakultätsmitgliedern besonders den Systematiker Karl Heim und den Neutestamentler Gerhard Kittel erwähnte. Beide hätten einen »über die europäischen Grenzen hinausgehenden, bis nach Amerika reichenden Ruf«. Den Vorwurf politischer Unzuverlässigkeit wies der Landesbischof entschieden zurück. »Wie steht diese Fakultät zum Dritten Reich? Das dürfte schon daraus ersichtlich sein, dass der erste Universitätsrektor nach der Machtergreifung ein Theologe war, Professor D. Dr. Fezer, der Ephorus der berühmten theologischen Bildungsanstalt, des Stifts. Fünf Mitglieder der Fakultät sind Pg., einer ist Adjutant der Reiterstandarte der SA. Professor Kittel ist als hervorragender Kenner des Judentums Mitarbeiter an dem Reichsinstitut für die Geschichte des Neuen Deutschland und hat kürzlich einen von der gesamten Parteipresse sehr gewürdigten Vortrag über die Rassenmischung im Judentum in dem überfüllten Auditorium maximum der Berliner Universität gehalten. Beim letzten Parteitag in Nürnberg war er Ehrengast des Führers. [...] Welches Hohngelächter wird in Basel erschallen, wenn bekannt wird, dass ausgerechnet die Theologische Fakultät in Deutschland, die man dort als stärkste Gegnerin ansieht, Gegenstand eines solchen Angriffs geworden ist, vollends wenn sie aufgehoben würde!«55 »Die Wissenschaft geht ins Volk. Maßgebende Beteiligung Tübinger Dozenten an der Berliner Vortragsreihe ›Judentum und Judenfrage‹«, »Tübinger Chronik«.

Gerhard Schäfer (Hg.), Die evangelische Kirche in Württemberg, Band 6, Stuttgart 1986, S. 68– 71, hier 69 f.

234



26.3.

4.4. 12.4.

15.4.

56

57

Anhang

Der Bericht in der »Tübinger Chronik« würdigte besonders die Leistungen der Tübinger Referenten, um darauf hinzuweisen, dass der Vortrag von Karl Georg Kuhn mit 2 500 Anwesenden die meisten Zuhörer gefunden habe. Der gerade von Tübinger Gelehrten so erfolgreich vertretene Ansatz einer wissenschaftlichen und zugleich anwendungsorientierten Erforschung der »Judenfrage« fand Ausdruck in der Formulierung: »Hitler-Jugend und Studenten saßen neben greisen Männern und Frauen und bewiesen, dass der Anti­ semitismus keine Sache des Radaus, sondern eine Sache der gesunden Rasse und des Volksinstinktes und eine Sache ernster wissenschaftlicher Erkenntnis ist. Das gesunde Gefühl des deutschen Volkes sucht seine Bestätigung in wissenschaftlicher Beweisführung.« Unterzeichnung Kittels der »Godesberger Erklärung« deutschchristlich gesinnter Kirchenkreise. Hierin hieß es unter anderem: »Indem der Nationalsozialismus jeden politischen Machtanspruch der Kirchen bekämpft und die dem deutschen Volke artgemäße nationalsozialistische Weltanschauung für alle verbindlich macht, führt er das Werk Martin Luthers nach der weltanschaulich-politischen Seite fort und verhilft uns dadurch in religiöser Hinsicht wieder zu einem wahren Verständnis des christlichen Glaubens.« Zum Verhältnis von Judentum und Christentum konnte man ganz im Sinne Kittels lesen: »Der christliche Glaube ist der unüberbrückbare religiöse Gegensatz zum Judentum.«56 Gründung des »Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« in Eisenach. Rundschreiben Kittels an die für eine SNTS-Mitgliedschaft in Aussicht genommenen deutschen Neutestamentler. In seinem ausführlichen Rundbrief erkundigte sich Kittel unter anderem nach den Englischkenntnissen der angeschriebenen Wissenschaftler und nach ihrer Bereitschaft, eine Auslandsreise anzutreten. Nicht alle könnten aber berücksichtigt werden.57 Gründung des »Instituts zur Erforschung der Judenfrage«. Die offizielle Eröffnung des im Geschäftsbereich Alfred Rosenbergs angesiedelten Instituts erfolgte jedoch erst zwei Jahre nach seiner Gründung im März 1941.

Vgl. Marc Zirlewagen, Biographisches Lexikon der Vereine Deutscher Studenten, Band 1 (A–L), Norderstedt 2014, S. 420–424, hier 423. Druck der Godesberger Erklärung bei Siegfried Hermle/ Jörg Thierfelder (Hg.), Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, S. 466 f. Ein Aktenvermerk im Reichskirchenministerium vom 3.6.1939 legt nahe, dass Kittel auch an der innerkirchlichen Verbreitung der Godesberger Erklärung beteiligt war (Evangelisches Zentralarchiv Berlin, 1/A4/170, fol. 89 f.). Vgl. Bormann, »Auch unter politischen Gesichtspunkten sehr sorgfältig ausgewählt«, S. 439 f.

Biografischer Abriss

8.5.

4.–6.7.



235

Eröffnung der Sonderausstellung »Das körperliche und seelische Erscheinungsbild der Juden« im Naturhistorischen Museum in Wien. Für die rassenanthropologische Ausstellung in Wien steuerte Kittel neben seiner im Vorjahr auf dem NSDAP-Parteitag gezeigten »Wanderungskarte« zahlreiche Fotos vermeintlich jüdischer Köpfe und Skulpturen bei. Außerdem stellte er geeignete Wandsprüche über die Juden aus der antiken Literatur zur Verfügung, wie »ich das schon für die Ausstellung ›Der Ewige Jude‹ und ›Deutschlands Schicksalskampf im Osten‹ getan habe«. Am 18.2. schrieb er dem Ausstellungsmacher Josef Wastl (1892–1968) in einem weiteren Brief: »Den Wandsprüchen habe ich einige von mir gesammelte altkirchliche Synodalbeschlüsse beigegeben. Für Ihre anthropologischen Zwecke werden vor allem die Canones über die Mischehen wichtig sein, die vielleicht gerade in Wien als altkirchliches Gegenstück zu den Nürnberger Gesetzen einen guten Hinweis geben könnten.« Es sei nun schon die dritte Ausstellung, an der er sich beteilige: »Ich halte es für einen ungemein glücklichen Gedanken, auf dem Wege über das konkrete Ausstellen die Judenfrage zu einem Verständnis der Volksgenossen zu erschließen [sic!].«58 Vierte Arbeitstagung der Forschungsabteilung Judenfrage in München. Kittel machte seinen neuesten Forschungsschwerpunkt zum Gegenstand eines Doppelvortrags über »Die ältesten jüdischen Bilder. Eine Aufgabe für die wissenschaftliche Gemeinschaftsarbeit« und »Die ältesten Judenkarikaturen. Die ›Trierer Terrakotten‹«. Schon am 1.3. hatte er Abbildungen von Terrakottafiguren aus dem Provinzialmuseum in Trier nach Wien geschickt. Und auch in dem 1943 mit Eugen Fischer (1874–1967) veröffentlichten Buch über »Das antike Weltjudentum« kamen diese, von Kittel als älteste Karikaturen des Weltjudentums ausgegebenen »Belege« für eine bereits in vorchristlicher Zeit vorhandene Judenfeindschaft, zum Einsatz.59

58 Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 269–273, 270 f.; die Zitate aus zwei Briefen Kittels vom 7.2. und 18.2.1939. Der gesamte Briefwechsel zwischen Kittel und Josef Wastl liegt im Naturhistorischen Museum Wien, Anthropologische Abteilung, Korrespondenz 1939. 59 Einige der Terrakottafiguren sind abgebildet bei Horst Junginger, Das Bild des Juden in der nationalsozialistischen Judenforschung. In: Andrea Hoffmann/Utz Jeggle/Reinhard Johler/Martin Ulmer (Hg.), Die kulturelle Seite des Antisemitismus zwischen Aufklärung und Schoah, Tübingen 2006, S. 171–220, hier 209 f. Vgl. außerdem Christina Hebben, Ein Museum unter dem Hakenkreuz. Das Rheinische Landesmuseum in Trier im Spannungsfeld von Ideologie und Wissenschaft 1933–1945. In: Hans-Peter Kuhnen (Hg.), Propaganda, Macht, Geschichte. Archäologie an Rhein und Mosel im Dienst des Nationalsozialismus, Trier 2002, S. 93–138, hier 145; Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 257.

236

15.9.



8.11.

Anhang

Vertretung des neutestamentlichen Lehrstuhls in Wien. Parallel zu seinem Tübinger Lehrstuhl übernahm Kittel im September 1939 die nach der Emeritierung des langjährigen Ordinarius für Neues Testament und Mitarbeiters des Eisenacher »Entjudungs­ instituts« Richard Adolf Hoffmann (1872–1948) unbesetzte Lehrkanzel in Wien. Kittel wurde in der österreichischen Hauptstadt als »Mann der Stunde« begrüßt, mit dessen Hilfe sich die theologische Fakultät einen Aufschwung erhoffte. Am 13.10.1942 schrieb der Dekan der Evangelisch-theologischen Fakultät Gustav Entz (1884–1957) im Hinblick auf die längst überfällige Neuregelung von Kittels Bezügen an das Berliner ­ Reichs­erziehungsministerium: »Prof. Kittel hat niemals in irgendeiner Weise um eine Berufung nach Wien sich bemüht. Er hat niemals irgendeinen Hehl daraus gemacht, dass er nicht den geringsten Anlass habe, Tübingen, wo er Inhaber der führenden deutschen Professur seines Faches ist, zu verlassen und mit einer anderen Wirkungsstätte zu vertauschen. Er hat seine Wiener Aufgabe niemals anders, als unter dem Gesichtspunkt einer zu erfüllenden Pflicht und Aufgabe angesehen, wie ihm dies von den zuständigen amtlichen Stellen nahegelegt wurde. Der Versuch, bei der Berufung materielle Vorteile zu erlangen, hat bei ihm, wie alle, die in dieser Angelegenheit mit ihm zu tun gehabt haben, bezeugen können, niemals eine Rolle gespielt.«60 Gutachten Kittels über die Habilitationsschrift des katholischen Talmudforschers Johannes Pohl (1904–1960). Nachdem Kittel am 20.7.1939 zunächst abgesagt hatte, verfasste er von Wien aus ein ebenso ausführliches wie vernichtendes Gutachten zur Habilitationsschrift des katholischen Theologen und an der Preußischen Staatsbibliothek als Hebraist tätigen Pohl, die die katholische Talmudzensur zum Gegenstand hatte. Pohl repräsentierte eine katholische Variante antisemitischer Talmudkritik, die Kittel nicht zuletzt aus konfessionellen Gründen ablehnte. Pohl gehörte überdies dem Institut zur Erforschung der Judenfrage an, das in Konkurrenz zur Forschungsabteilung Judenfrage stand. Wie

60 Vgl. Personalakte Kittel (UAT, Tübingen 126/326c); Bundesarchiv Berlin, R 49.01 (Reichs­ erziehungsministerium), Nr. 2179, fol. 13 f.; Karl Schwarz, »Haus in der Zeit«. Die Fakultät in den Wirrnissen dieses Jahrhunderts. In: ders./Falk Wagner (Hg.), Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien, 1821–1996, Wien 1997, S 125–208, hier 181–184: »Gerhard Kittel als Lehrstuhlverwalter in Wien«. Das Zitat aus dem Entz-Schreiben vom 13.10.1942 (Universitätsarchiv Wien, Personalakte Kittel, PH PA 2193, fol. 3).

237

Biografischer Abriss



Schlichting in München, so übernahm Pohl in Frankfurt die Leitung einer Bibliothek mit antisemitischer Zielsetzung. Dass jemand wie Pohl Universitätsprofessor werden wollte, widersprach Kittels Wissenschaftsverständnis in fundamentaler Weise. Insbesondere kritisierte der Tübinger Neutestamentler die Ahnungslosigkeit Pohls auf dem Gebiet des normativen jüdischen Schrifttums. Konsequenterweise hätte ihn diese in eine »sklavische Abhängigkeit von der Talmudübersetzung des Juden Lazarus Goldschmidt« gebracht. Aufgrund seiner geringen Talmud- und Hebräischkenntnisse sei Pohl zu einer »kritischen Selbstständigkeit gegenüber allen jüdischen Bearbeitungen« überhaupt nicht imstande.61

1940 8.2. 17.5.

8.–13.7. 28.11.

Errichtung des Ghettos in Łódź. Karl Georg Kuhn begab sich für drei Wochen im Rahmen eines »Sonderauftrags zum Studium des talmudistischen Judentums in Polen« in das von den Deutschen besetzte Generalgouvernement. Den Tagebucheinträgen des Judenratsvorsitzenden im Warschauer Ghetto, Adam Czerniaków (1880–1942), zufolge inspizierte Kuhn im Juni 1940 Archiv und Museum der jüdischen Gemeinde in Warschau. Auch wenn darüber keine konkreteren Belege vorhanden sind, liegt es nahe, dass Kuhns Sonderauftrag der Sicherstellung jüdischer Kulturgüter diente.62 Vortrag Kittels über »Jesus Christus« und »Die Stellung der ersten Christen zum Staat« bei einem theologischen Schulungskurs in Gallneukirchen bei Linz.63 Uraufführung des Propagandafilms »Der ewige Jude«. Gutachten Kittels über Erwin Goldmann (1891–1981). Der Stuttgarter Zahnarzt Erwin Goldmann, der 1909 zum Protestantismus übergetreten war, amtierte im Auftrag der württembergischen Landeskirche als Geschäftsführer der Stuttgarter Hilfsstelle für

61 Vgl. Maria Kühn-Ludewig, Johannes Pohl (1904–1960). Judaist und Bibliothekar im Dienste Rosenbergs, Hannover 2000, S. 108–111, Zitat 110; Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 252–255. 62 Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 198–200; Das Tagebuch des Adam Czerniaków. Im Warschauer Ghetto 1939–1942. Mit einem Nachwort von Marcel Reich-Ranicki, München 1986, S. 78 f. und 84 (Tagebucheinträge vom 6.6., 7.6. und 20.6.1940). 63 Quellentexte zur österreichischen evangelischen Kirchengeschichte zwischen 1918 und 1945. Zusammengestellt und hrsg. von Gustav Reingrabner und Karl Schwarz. In: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich, 104/5 (1988/89), S. 568–570.

238







Anhang

»nichtarische Christen«, um die Bezirksgruppe Südwest des Paulusbundes zu leiten, nachdem das Propagandaministerium im Sommer 1936 diesen als alleinige Organisation für die »nichtarischen Christen« in Deutschland bestimmt hatte. Goldmann arbeitete auch für das im September 1938 gegründete Büro Grüber. Zugleich war er als Zuträger für die Geheime Staatspolizei (Gestapo) und den SD tätig. Goldmann hatte an der Eberhard-Karls-Universität Zahnmedizin studiert und bis 1935 der Tübinger Studentenverbindung Roigel angehört, bis ihn diese nach 25-jähriger Mitgliedschaft als »­ Rassejuden« ausschloss. Die Art und Weise wie sich Goldmann als Konvertit, Freiwilliger des Ersten Weltkriegs, Angehöriger der »Schwarzen Reichswehr« und Geheimdienstmitarbeiter das Anliegen des NS zu eigen machte, lies ihn aus Kittels Sicht zum Musterbeispiel für einen »christlichen Nichtarier« werden. In seinem Gutachten schrieb er: »Es wäre unredlich, wenn ich nicht rückhaltlos bestätigen würde, dass, wie dieser Mann in diesen Jahren sein Schicksal getragen hat, auch dem schärfsten Gegner seiner Rasse Achtung abnötigen muss. Auch in den schwersten und verzweifeltesten Stunden, die ihm diese Jahre als Juden brachten, wird niemals jemand von ihm ein bitteres Wort oder eine Andeutung bitterer Gedanken über das nationalsozialistische Deutschland gehört haben, sondern allein Bitterkeit über das Weltjudentum, das sein Schicksal verdient habe.« Vermutlich bildete die Auflösung des Büros Grüber im Dezember 1940 den Hintergrund für Kittels Stellungnahme, da Goldmann nun nach einer neuen Betätigung suchen musste. Ende 1939 hatte er seine Approbation verloren und die Zahnarztpraxis in Stuttgart schließen müssen. Dort war er seit Mitte der 1920er-Jahre nicht nur Facharzt für Mund- und Kieferkrankheiten, sondern auch ärztlicher Direktor der Zahnkliniken der Allgemeinen Ortskrankenkasse gewesen. Während des »Dritten Reiches« versuchte Goldmann mithilfe eines rassenbiologischen Gutachtens der Universität Tübingen nachzuweisen, dass seine Mutter eine außereheliche Beziehung eingegangen und sein Vater »arischer Rassenzugehörigkeit« war. Wie Kittel weiter ausführte, habe sich Goldmann, seit er ihn kenne, der ihm im Ersten Weltkrieg verliehenen Tapferkeitsmedaille würdig erwiesen. »Über alle anthropologischen Fragen, die seine Person betreffen, kann selbstverständlich nur der Fachmann etwas Stichhaltiges ausmachen. Immerhin glaube ich als jemand, der vom Judentum einiges weiß, sagen zu dürfen: Wenn die Anthropologen feststellen sollten, dass in diesem Manne irgendein deutscher Blutsfaktor sich durchzusetzen scheine, so würde ich mich nicht nur nicht wundern, sondern

Biografischer Abriss

28.12.







239

darin eine Erklärung des sonst nahezu unbegreiflichen Tatbestandes sehen, dass dieser Jude so völlig unjüdisch denkt und handelt.«64 Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien über die ältere Geschichte des Judentums. Gerade im katholischen Österreich war es für Kittel von Bedeutung, dass er mit einem zusätzlichen Lehrauftrag in der Philosophischen Fakultät auch Nichtprotestanten ansprechen konnte, ohne seine Zugehörigkeit zur Theologie aufgeben zu müssen. »Dadurch, dass Kittel seine Forschungen zur Geschichte des Judentums und zur Judenfrage an der Philosophischen Fakultät präsentierte (2. Trimester 1940, 3. Trimester 1940, Wintersemester 1941/42, Wintersemester 1942/43), erzielte er eine weitreichende Beachtung, die ihm als erstem Theologieprofessor in Wien die Anstellung eines Assistenten (zuerst Heinz Zahrnt aus Kiel, später Hans Theodor Alswede aus Hamburg sowie die Hilfskräfte Otto Stumpff und Charlotte Schiller) erlaubte.« Am 6.12. hatte Gustav Entz als Dekan der Evangelisch-theologischen Fakultät die Notwendigkeit für diesen Lehrauftrag nicht nur mit dem wissenschaftlichen Renommee Kittels begründet. Er ließ sich dabei auch von praktischen Erwägungen leiten: »Um Prof. Kittel die Versehung dieses Lehrauftrags zu erleichtern, bitte ich, am Orientalischen Institut der Universität zusätzlich die Stelle einer wissenschaftlichen Hilfskraft zu schaffen, die neben der Unterstützung der an der philosophischen Fakultät auszuübenden Lehrtätigkeit Prof. Kittels auch noch die Katalogisierung und Verwaltung der in der letzten Zeit dem genannten Institut zur Verfügung gestellten Bibliothek Feuchtwanger München (über 2 000 Bände) und der Bibliothek S. Kraus – Wien (ca. 200 Bände) zu besorgen hätte.« Hierbei handelte es sich um die Privatbibliothek des Verlegers und Herausgebers der »Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung« Ludwig Feuchtwanger (1885–1947), die diesem während des Novemberpogroms 1938 in München gestohlen worden war. Feuchtwanger wurde von der Gestapo in das Konzentrationslager Dachau

64 Kittels Stellungnahme findet sich zusammen mit etlichen Briefen Goldmanns im Archiv des Evangelischen Stifts Tübingen (Nachlassteil Gerhard Kittel, N 5, 84, 1/3). Zu Goldmann vgl. auch Wolfgang Benz, Patriot und Paria. Das Leben des Erwin Goldmann zwischen Judentum und Nationalsozialismus, Berlin 1997; Hermann G. Abmayr, Erwin Goldmann. Der »Jude«, der gern ein Nazi gewesen wäre. In: ders. (Hg.), Stuttgarter NS-Täter. Vom Mitläufer bis zum Massenmörder, Stuttgart 2009, S. 152–159; Röhm/Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Band 3/I, Stuttgart 1995, S. 156–160, und Band 4/II, Stuttgart 2007, S. 440–443.

240

Anhang

verbracht und ein Drittel seiner Bibliothek der SS-Forschungsgemeinschaft »Ahnenerbe« zur Verfügung gestellt. Von dort kamen die Bücher, darunter zahlreiche Judaica, nach Wien, wo sie katalogisiert und zum Teil an andere NS-Instanzen weiterverliehen wurden. Über die zweite von Entz angesprochene Bibliothek – sie war dem bekannten jüdischen Wissenschaftler Samuel Krauss (1866–1948) im Zuge des Wiener Pogroms am 10.11.1938 geraubt worden – berichtet der Dekan der Philosophischen Fakultät, Viktor Christian (1885–1963), am 11.6. an das Reichserziehungsministerium: »Schließlich hat über meine Bitte der Sicherheitsdienst auch die Fachbibliothek des Wiener T ­ almudarchäologen Dr. S. Krauss, der Professor an der hiesigen israe­litisch-theologischen Lehranstalt war, dem Orientalischen ­Institut der Universität Wien als Leihgabe überwiesen. Es bieten sich also in Wien überaus günstige sachliche Voraussetzungen für die Erforschung der geistigen Grundlagen des Judentums.« Mit der Erwähnung dieser Bestände hoffte Christian, ein zusätzliches Argument für die von ihm beantragte Professur zum Studium der Judenfrage zu haben, die entweder Kittel oder Kuhn übernehmen sollte. Unklar blieb bei Christians Ausführungen, ob der von Walter Stahlecker (1900–1942) geleitete Sicherheitsdienst die 3 000 Bände umfassende Bibliothek von Krauss der Universität in Gänze »als Leihgabe überwies«. Die Bibliothek der Israelitisch-theologischen Lehranstalt in Wien, deren Rektor Krauss seit 1937 war, hatte man schon vor dem Pogrom im August 1938 nach Deutschland verschafft. Einiges spricht dafür, dass ein Teil dieser 3 000 Bände Eingang in die von Günter Schlichting in München geleitete Bibliothek der Forschungsabteilung Judenfrage fand.65



1941 21.1.

65

Forderung Kittels für den Ausbau der Evangelisch-theologischen Fakultät in Wien.

Vgl. Karl Schwarz, »Grenzburg« und »Bollwerk«. Ein Bericht über die Wiener Evangelisch-theologische Fakultät. In: Siegele-Wenschkewitz/Nicolaisen (Hg.), Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus, S. 361–389, hier 375. Das zweite Zitat aus dem Schreiben von Entz an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten in Wien vom 6.12.1939 (Universitätsarchiv Wien, Personalakte Kittel, PH PA 2193, fol.11); zum ganzen Vorgang Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 211–214 und 272.

Biografischer Abriss





7.2.

26.–28.3. 8.12.

241

Kittel sprach im Büro des Wiener Gauleiters und Reichsstatthalters Baldur von Schirach (1907–1974) vor, um seine von politischer Seite gewollte Berufung an die Universität Wien mit der Forderung nach einem Ausbau der Evangelisch-theologischen Fakultät zu verknüpfen. Der Wiener Universitätsrektor Fritz Knoll (1883–1981) hatte sogar behauptet, die Berufung Kittels werde die Alma Mater Rudolfina zur führenden Bildungsstätte im europäischen Südosten machen. Der Wunsch nach einem größeren Einfluss der evangelischen Theologie in Wien scheiterte jedoch an den äußeren Verhältnissen, sodass der Büroleiter Baldur von Schirachs, Gaupropagandaleiter Günter Kaufmann (1913–2001), in seinem Protokoll über das Gespräch mit Kittel festhielt: »Rust will ausbauen – Heß nicht genehmigen – Kittel will in Tübingen bleiben – falls Fak[ultät] in W[ien] nicht ausgebaut« wird. Zwei Tage später schrieb Kaufmann im Auftrag seines Chefs an Kittel, »dass dem Vernehmen nach vorübergehend geringe Aussichten zum Ausbau Ihrer Fakultät vorhanden sind und daher Ihnen der von mir erbetene Rat persönlich gegeben wird, Ihre Tübinger Posi­tion nicht aufzugeben«.66 Denkschrift Kittels über »Die Evangelisch-Theologischen Fakultäten und die Studenten der Evangelischen Theologie«. Im Zusammenhang dieser Gespräche in Wien schickte Kittel eine aller Wahrscheinlichkeit nach von ihm selbst verfasste Denkschrift über »Die Evangelisch-Theologischen Fakultäten und die Studenten der Evangelischen Theologie« an das Büro von Schirachs. Die 20-seitige Denkschrift trug den handschriftlichen Vermerk »Sommer 1939« und plädierte im Stil Kittels für eine Symbiose zwischen Protestantismus und NS.67 Eröffnung des Frankfurter Instituts zur Erforschung der Judenfrage. Vortrag Kittels bei der »Antisemitischen Aktion« über »Die Äußerungen der normativen religiösen Schriften des Judentums über die Stellung des Juden zum Nichtjuden« im Berliner Hotel Kaiserhof. Kittels Vortrag bei der Antisemitischen Aktion des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda – bis 1939: Institut zum Studium der Judenfrage – fand um 18 Uhr im Gelben Saal des Berliner Kaiserhofs statt. Der Kaiserhof war lange Zeit das erste

66 Vgl. Schwarz, »Grenzburg« und »Bollwerk«, S. 376. 67 Ebd.

242

9.12.



68 69

Anhang

Hotel Berlins und seit den frühen 1930er-Jahren ein maßgebliches Zen­trum der NS-Bewegung. Hitlers Einbürgerung für seine Kandidatur bei der Reichspräsidentenwahl 1932 erfolgte im Kaiserhof, wo er dann ganz einzog, um von hier aus den Wahlkampf zu organisieren. Auch andere NS-Größen wie Goebbels und Göring wohnten des Öfteren in dem Berliner Luxushotel. Kittel war mit der V ­ ortragseinladung gewissermaßen im Zentrum der politischen Macht angekommen. Für die Zeitschrift der Antisemitischen Aktion verfasste Kittel zwei auch für seine Verhältnisse extreme Artikel über »Das talmudische Denken im Judentum« und »Die Behandlung des Nichtjuden nach dem Talmud«.68 An den Vortrag schlossen sich eine Besprechung und der Kameradschaftsabend der Antisemitischen Aktion an. Befragung Herschel Grynszpans (1921– Todesdatum unbekannt) durch Kittel im Gefängnis Berlin-Moabit. Am Morgen traf sich Kittel mit dem Vizepräsidenten am Volksgerichtshof, Karl Engert (1877–1951), dem Juristen Friedrich Grimm (1888–1959), dem Ministerialrat in der Auslandsabteilung des Propagandaministeriums Heinrich Hunke (1902–2000) und weiteren NS-Funktionären zu einem politischen Frühstück, bei dem der Fall Grynszpan besprochen wurde. Danach suchte Kittel zusammen mit dem Ersten Staatsanwalt am Volksgerichtshof, Dr. Hans Künne (1904–1944), Grynszpan im Untersuchungsgefängnis in Moabit auf, um ihn eingehend zu verhören. Im Anschluss daran verfasste er ein zehnseitiges Gutachten, das einen Zusammenhang zwischen Grynszpans »talmudischer Mentalität« und der Tötung Ernst vom Raths (1909–1938) herstellte. Die Schüsse auf den deutschen Legationssekretär am 7.11.1938 in der Pariser Gesandtschaft interpretierte Kittel als Fanal eines jüdischen Angriffskrieges gegen das Deutsche Reich.69

Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 292 f. In den Unterlagen des Propagandaministeriums sind für die Besprechung mit Kittel 32,25 Reichsmark an Spesen vermerkt (Bundesarchiv Berlin, R 55, 373, Fiche 2, fol. 88 f.). Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 289; ders., Politische Wissenschaft. Reichspogromnacht: Ein bisher unbekanntes Gutachten des antisemitischen Theologen Gerhard Kittel über Herschel Grynszpan. In: Süddeutsche Zeitung vom 9.11.2005, S. 13. Eine Kopie des Gutachtens befindet sich im Bundesarchiv Berlin (R 55 – Reichspropagandaministerium, 628, Fiche 1, fol. 26–36) und im Centre de Documentation Juive Contemporaine in Paris (CXXXII, fol. 117–126), vgl. auch S. 187–194 in diesem Band.

243

Biografischer Abriss

1942 20.1. Wannseekonferenz. 28.9. Ernennung von Karl Georg Kuhn zum außerplanmäßigen Professor an der Universität Tübingen.70 1.10. Denkschrift Kittels über »Die Stellung der Judaistik im Rahmen der Gesamtwissenschaft«. Das 16-seitige Manuskript enthält Kittels Sicht auf den Stand der nationalsozialistischen Judenwissenschaft in dieser Zeit. Es war für eine spätere Publikation vorgesehen, diente zunächst aber dazu, die Bemühungen der Philosophischen Fakultät der Universität Wien für die Einrichtung einer Professur zum Studium der Judenfrage zu unterstützen. Kittel schickte es deshalb an den Wiener Dekan Viktor Christian, der das Manuskript seinem Antrag an das Berliner erziehungsministerium beifügte. Zur Erläuterung schrieb Reichs­ Christian: »Die Bedeutung der Judenfrage für die Gegenwart steht außer Frage. Der ganze jetzige Krieg ist letzten Endes nur der mit Waffen ausgetragene Kampf gegen das Judentum. Ein Kampf wird aber mit umso größerer Aussicht auf Erfolg geführt, je genauer man seinen Gegner kennt.« In der Denkschrift selbst bezeichnete Kittel jede unpolitische, lediglich wissenschaftliche Erforschung des Judentums als das »totaliter alter« der von ihm vertretenen nationalsozialistischen Judaistik. Eine von Volk und Rasse abstrahierende Beschäftigung mit dem Judentum müsse zwangsläufig zur Verharmlosung des »Judenproblems« führen. Das Judentum sei eine Krankheit am deutschen Volkskörper, deren Schwere es nicht erlaube, sich einer »romantisierenden Humanisierung und Idealisierung« hinzugeben. Sobald die Judenforschung aufhöre, »ihren Gegenstand als Ab-Art, als Un-Art, als Krankheit und als Pervertierung zu sehen«, vergehe sie sich an ihrer Bestimmung, »Dienerin zu sein an der Erkenntnis der Natur, des Echten, des Gesunden«. Sie mutiere dann zum »Satansdienst«, der »das instinkthaft sichere Wissen um das, was gesund, und das, was krank ist«, außer Kraft setze. Die Geschichte beweise, dass die Ghettoexistenz des jüdischen Volkes seinem talmudischen

70 Personalakte Kuhn (UAT, 126a/284); zu Kuhn vgl. Gerd Theißen, Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945. Karl Georg Kuhn und Günther Bornkamm, Heidelberg 2009, S. 15–149.

244

Anhang

Wesen am besten entspreche. Gerade wegen seiner monströsen Singularität und »wesenhaften Pervertierung echten Völkerdaseins« sei eine eigenständige wissenschaftliche Judaistik vonnöten. Kittel schloss mit dem nicht uneigennützigen Hinweis darauf, dass man die Beurteilung der jüdischen Rasse nicht den Laien und Banau­sen überlassen dürfe. Vielmehr sei eine »planvolle und ­zielsichere Judaistik« erforderlich, die an der Gesamtgeschichte des Judentums dessen wesenhafte Erscheinung bestimmen und wissenschaftlich analysieren könne. Auf dieser Grundlage werde es möglich sein, die jüdische Gefahr zu bannen.71



1943 8.2.



71

72

Rücknahme von Kittels Vertretung des neutestamentlichen Lehrstuhls in Wien. Kittel, der seit September 1939 die neutestamentliche Professur in Wien vertreten hatte, kehrte zum 1.4. nach Tübingen zurück, führte aber im Sommersemester noch mehrere Blockveranstaltungen in Wien durch: 12. bis 16.5., 26. bis 30. 5., 9. bis 12.6., 24.6. bis 2.7. und 14. bis 17.7. Durch Kittels Rückkehr nach Tübingen entstand für Otto Michel (1903–1993), der ihn während seiner Abwesenheit vertreten hatte, eine schwierige Situation. In Michels Autobiografie heißt es dazu: »Bis 1943 hatte ich diese Kittel/Schlatter’sche Professur innegehabt, als Kittel eines Tages im März 1943 plötzlich, von Wien kommend, in Tübingen wieder auftauchte und ich nicht mehr wusste, was aus mir werden sollte.« Michel wurde stellungslos und im Herbst 1943 zum Militärdienst eingezogen.72

Vgl. Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 398–402. Die Denkschrift befindet sich im Archiv der Universität Wien, Philosophische Fakultät 1129. Vgl. auch Dirk Rupnow, Brüche und Kontinuitäten – Von der NS-Judenforschung zur Nachkriegsjudaistik. In: Mitchell G. Ash/Wolfram Neiß/Ramon Pils (Hg.), Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Wien 2010, S. 79–110, hier 92–95; ders., Judenforschung im Dritten Reich. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, Baden-Baden 2011, S. 327–330: Kittels Wiener Konzept einer »Judaistik«. Personalakte Kittel (UAT, 126/326c) sowie Schwarz, »Grenzburg« und »Bollwerk«, S. 377, hier auch die Auflistung der Blockseminare. Das Michel-Zitat bei Matthias Morgenstern, Von Adolf Schlatter zum Tübinger Institutum Judaicum. Gab es in Tübingen im 20. Jahrhundert eine Schlatter-Schule? Versuch einer Rekonstruktion. In: ders./Reinhold Rieger (Hg.), Das Tübinger Institutum Judaicum. Beiträge zu seiner Geschichte und Vorgeschichte seit Adolf Schlatter, Stuttgart 2015, S. 11–147, hier 86 (aus Otto Michel, Anpassung oder Widerstand. Eine Autobiographie, Wuppertal 1989, S. 86).

Biografischer Abriss

16.2.





22.3.

73

245

Gutachten Kittels zur rassischen Einordnung der in Paris lebenden Iraner mosaischen Glaubens. Nachdem die »Association Culturelle Sépharadite de Paris« 1942 beantragt hatte, ihre Mitglieder von der Verfolgung auszunehmen, da sie als Ario-Lateiner mosaischen Glaubens nicht der jüdischen Rasse angehörten, fragte die Deutsche Botschaft in Paris beim Auswärtigen Amt in Berlin nach, ob das zutreffe und wie man überhaupt diese und andere Gemeinschaften mosaischen Bekenntnisses »blutmäßig« einzustufen habe. Daraufhin holte das Außenministerium bei den für Rassenfragen zuständigen Instanzen verschiedene Gutachten ein. Kittel wandte sich in seiner Stellungnahme »Über die persischen, afghanischen und kaukasischen Juden« dagegen, den in Paris lebenden »Iraniern mosaischen Glaubens« eine Ausnahmeregelung zuzugestehen. Wie Adolf Eichmann für das Reichssicherheitshauptamt wies Kittel für die Forschungsabteilung Judenfrage deren Behauptung einer nichtjüdischen Rassenzugehörigkeit als »historisch in keiner Weise haltbar« zurück. So argumentierte auch Friedrich Wilhelm Euler (1908–1995), der aber im Falle der kaukasischen Juden wie Kittel für eine gesonderte Behandlung plädierte, da dort die Dinge komplizierter lägen. Andere Rassenforscher sprachen sich grundsätzlich gegen eine differenzierende Behandlung von Juden, egal welcher Ethnie und Gemeinschaft, aus. Nach Auswertung der eingelaufenen Stellungnahmen fiel das Votum über die iranischen Juden in Frankreich eindeutig aus: »Am 2. Juni 1943 vermerkte das Auswärtige Amt intern, dass es aufgrund der eingeholten Gutachten zu dem Schluss gekommen sei, die fraglichen Juden als Juden zu behandeln und dass sie in die allgemeinen Judenmaßnahmen mit einbezogen worden seien.«73 Vortrag Kittels über »Die Entstehung des Judentums« an der Universität Wien.

Vgl. Patricia von Papen, Schützenhilfe nationalsozialistischer Judenpolitik, S. 31 f. Vgl. außerdem Dirk Rupnow, Racializing historiography: anti-Jewish scholarship in the Third Reich. In: Patterns of Prejudice, 42 (2008), S. 27–59, hier 51; ders., Judenforschung im Dritten Reich, S. 302–304. Eine Kopie des Euler’schen Gutachtens mit Briefkopf des Reichsinstituts vom 23.10.1942 über »Die Abstammung der kaukasischen und georgischen Angehörigen des mosaischen Bekenntnisses« findet sich im Archiv des Evangelischen Stifts Tübingen (Nachlassteil Gerhard Kittel, N 5, 82, 1/1).

246





1.9.

74

Anhang

Kittels Abschiedsvorlesung in Wien bewegte sich ganz auf der Linie seiner sonstigen Veröffentlichungen, wobei er ein weiteres Mal die Leistung des frühen Christentums im Kampf gegen das Judentum thematisierte. Allerdings sei das Judenproblem nicht zuletzt deswegen so prekär geworden, weil die Kirche ihr von Gott verliehenes Wächteramt vernachlässigt habe. Assimilation und Emanzipation hätten die »Selbstverständlichkeit der Ghettolösung« brüchig werden lassen. Beeinflusst von aufklärerischen Ideen habe die Kirche angefangen, sich ihres Wächteramtes zu schämen, um es schließlich sogar zu verleugnen. Die Konsequenzen seien entsprechend gewesen. Vom Landeskirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Bayerns wurde Kittels Vortrag am 12.8.1944 im Rahmen der kirchlichen Berufshilfe und im Auftrag von Landesbischof Hans Meiser (1881–1956) allen Pfarrämtern zugesandt: »Mit Zustimmung des Verfassers geben wir den von Professor D. Gerhard Kittel an der Wiener Universität am 22. März 1943 gehaltenen Vortrag ›Über die Entstehung des Judentums‹ an unsere Geistlichen als Berufshilfe weiter. gez. D. Meiser.«74 SD-Gutachten über Kittel. Das von Erich Hahnenbruch (1902–1965) aus der SD-Abteilung IV B 2, Politischer Protestantismus verfasste dreiseitige Gutachten ging auf eine Anfrage des Auswärtigen Amtes vom 3.7. zurück, deren Hintergrund jedoch unklar ist. Unter Berufung auf eine Beurteilung der Tübinger Kreisleitung der NSDAP schrieb Hahnenbruch, dass Kittel, wie in Tübingen, auch in der Wiener Ortsgruppe der NSDAP aktiv gewesen sei. Während des Kirchenstreits habe er sich für den NS »positiv betätigt«. »Die Veranstaltungen der Partei und auch die Sprechabende der Ortsgruppe hat Pg. Kittel fleißig besucht.« Kittel sei freilich dem Dilemma ausgesetzt, dass sich die christliche mit der nationalsozialistischen Weltanschauung in einem ideologischen Widerspruch befinde. Wegen seines unbedingten Eintretens für die Kirche sei daher bei ihm ein gewisses Lavieren zu konstatieren.

Ein Durchschlag des noch im selben Jahr publizierten Vortrags findet sich in Kittels Personal­ akte im UAT 126/31. Zu seiner Verwendung im Rahmen der kirchlichen Berufshilfe vgl. Clemens Vollnhals, Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945–1949. Die Last nationalsozialistischer Vergangenheit, München 1989, S. 233; Axel Töllner, Eine Frage der Rasse? Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, der Arierparagraf und die bayerischen Pfarrfamilien mit jüdischen Vorfahren im »Dritten Reich«, Stuttgart 2007, S. 163; das Meiser-Zitat bei Traugott Simon, Schlimme Sache. Gerhard Kittel und die Juden. In: Korrespondenzblatt. Hg. vom Pfarrer- und Pfarrerinnenverein in der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, 1997, S. 176.

247

Biografischer Abriss



Kritischer urteilte der als Kirchengegner bekannte Führer des Tübinger Dozentenbunds Robert Wetzel (1898–1962) in einem ebenfalls von Hahnenbruch zitierten Gutachten vom 28.6.1942. Kittel habe sich zwar große Verdienste um die Judenforschung erworben, doch Wetzel hielt ihn für jemanden, »der unter der Oberfläche des freizügig denkenden und gewandten Weltkindes ein viel verbissenerer Verfechter des kirchlichen Christentums ist als mancher andere, der sein Christentum mehr auf der Zunge trägt«. Außerdem sei Kittel ein »typischer Vertreter der in Süddeutschland frommen Leute, die mit ihrer Frömmigkeit ein verblüffendes Geschick zur günstigen Regelung ihrer irdischen Angelegenheit zu verbinden wissen«. Hahnenbruch selbst betonte ebenfalls die Leistungen Kittels auf dem Gebiet der Judenforschung. Er habe sich dadurch einen weit über Deutschland hinausreichenden Namen gemacht. Sein Urteil schloss mit dem Satz: »Zusammenfassend kann gesagt werden: Der Pg. Kittel hat sich im Kirchenstreit der evangelischen Bekenntnisfront positiv im Sinne einer vom Führer angestrebten Reichskirche betätigt. Mit der Partei hat er stets enge Fühlung gehalten. In politischer Beziehung ist Nachteiliges nicht bekannt geworden.«75



1944 15.6.

75

Vortrag Kittels über »Das Rassenproblem der Spätantike und das Frühchristentum« an der Universität Wien. Kittel führte in seinem Vortrag, über dessen nähere Umstände nichts bekannt ist, aus, dass die Rassenfrage nicht nur zur Schicksalsfrage des Altertums geworden sei. Vielmehr werde die Auseinandersetzung mit dem Judentum insgesamt von ihr geprägt. Freilich hätten nicht die geistigen Kräfte der Antike das »antike Weltjudentum zerbrochen und seinen Ansturm zum Stehen gebracht«, sondern das Christentum. Kittel bekundete zwar, dass er »der rassischen Zugehörigkeit Jesu von Nazareth und seiner ersten Anhänger« in seinem Vortrag keine größere Aufmerksamkeit schenken wolle. Doch was er über den christlichen Messias dann sagte, ließ eine bei ihm bis dahin unbekannte Nähe zu den radikalen Strömungen der DC erkennen: »Alles was wir über ihn wissen, wirkt in einem Maße anti- und unjüdisch, dass man immer wieder fragte und fragt, ob es

Bundesarchiv Berlin, R 98821 (Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes). Das Gutachten wird auch zitiert von Anders Gerdmar, Roots of Theological Anti-Semitism. German Biblical Interpretation and the Jews, from Herder and Semler to Kittel and Bultmann, Leiden 2009, S. 451.

248

Anhang

denn möglich sei, ihn rassisch und seelisch aus diesem Judentum zu erklären, aus dem er doch zu stammen scheint? Genau diejenigen geistigen und religiösen Entwicklungen, die uns als die spezifisch ›jüdischen‹ erscheinen, haben in ihm ihren schlechthinnigen Widerpart: der Pharisäismus, der Talmudismus, der Theokratismus.« Statt auf die rassische Herkunft Jesu weiter einzugehen, wolle er danach fragen, »ob und inwiefern die Bewegung des jungen Christentums für die Entwicklung der Rassengeschichte des Abendlandes von Bedeutung geworden ist«. Erwartungsgemäß kam Kittel dabei zu einer positiven Antwort, auch wenn seine rassische Überhöhung des religiösen Gegensatzes zum Judentum eher den Eindruck einer nachträglichen Rationalisierung der alten theologischen Substitu­ tionstheorie erweckt. Der Antijudaismus gehöre von Anfang an zum Wesen der christlichen Religion. Erst ihr sei es gelungen, eine »Mauer gegen die Judaisierung aufzuwerfen«. Am 9.9. ließ Kittel den Vortrag Landesbischof Wurm zukommen, versehen mit der Widmung »Mit verehrungsvollem Gruß in ernsten Tagen. K.«.76





1945 3.5. 13.8.

76 77

Verhaftung Kittels in Tübingen. Nach seiner Verhaftung saß Kittel bis zum 2.11. sechs Monate im Gefängnis des Tübinger Amtsgerichts bzw. im Tübinger Schlossgefängnis.77 Unterstützungserklärung des Dekans der Evangelisch-theologischen Fakultät Wien, Gustav Entz. Bereits im Sommer erhielt Kittel die ersten Unterstützungserklärungen. Sein früherer Wiener Kollege Gustav Entz legte in einem Schreiben an den württembergischen Landesbischof Theophil Wurm dar, wie er zusammen mit Kittel Widerstand gegen die Nazifizierung der Universität geleistet habe. Kittel hätte maßgeblich dazu beigetragen, die Wiener Theologiestudenten in wissenschaftlich einwandfreier Weise und in einem ungebrochen christlichen Geist zu erziehen.

Durchschläge des Vortrags finden sich in Kittels Personalakte im UAT, im Archiv des Evangelischen Stifts und im Rara-Bestand der Evangelisch-theologischen Seminarbibliothek Tübingen; das Wurm-Zitat bei Röhm/Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Band 4/II, S. 342 f. Akademisches Rektoramt, Personalakten des Lehrkörpers (UAT 126/31).

Biografischer Abriss



25.10.

12.11.

3.12.

78

249

»Was aber Prof. Kittels Forschungen zur Judenfrage und speziell seine hiesigen öffentlichen Universitätsvorträge über diesen Gegenstand anbelangt, so bezeuge ich hiermit mit allem Nachdruck, dass Kittel sich dabei immer im Rahmen strengster wissenschaftlicher Sachlichkeit gehalten hat.«78 Entlassung Kittels an der Universität Tübingen. Kittel gehörte mit dem Indologen, Religionswissenschaftler und Führer der Deutschen Glaubensbewegung Jakob Wilhelm Hauer, dem Psychologen und Erziehungswissenschaftler Gerhard Pfahler (1897–1976), dem Direktor des anatomischen Instituts, SS-Sturmbannführer und Leiter des NS-Dozentenbundes Robert Wetzel sowie dem Rassenanthropologen Wilhelm Gieseler (1900–1976), von dem sich Erwin Goldmann ein entlastendes rassenbiologisches Gutachten erhofft hatte, zur Gruppe der fünf am stärksten belasteten Hochschullehrer.79 Internierung Kittels in Balingen. Während der fast elfmonatigen Internierung bis zum 6.12.1946 in Balingen, 35 Kilometer südlich von Tübingen, war Kittel als Lagerpfarrer tätig und arbeitete an seiner Verteidigungsstrategie. Die französische Sureté habe ihn mit der Begründung aus dem Balinger Lager entlassen, ihm die Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Arbeit zu ermöglichen. Als neuen Aufenthaltsort erhielt er das Kloster Beuron an der Donau zugewiesen.80 »Erklärung des Professors Gerhard Kittel«. Parallel zur Ausarbeitung seiner ausführlichen Niederschrift »Meine Verteidigung« fasste Kittel seine Argumente in einem zweiseitigen Abriss zusammen: Er sei in die NSDAP eingetreten, um in Deutschland »das Starkwerden der demagogischen Elemente zu verhindern und die sittlichen Grundlagen der Politik und des öffentlichen Lebens zu bewahren«. Heute wisse er jedoch, dass dieser Versuch »auf der wohl bittersten Täuschung« seines Lebens ­beruhte.

Die Stellungnahme von Entz wie die im Folgenden zitierten Erklärungen für Kittel finden sich als Anhang zu Kittels »Meine Verteidigung« im Universitätsarchiv Tübingen (UAT 162 – Evangelisch-theologische Fakultät, Dekanatsakten IV/31). 79 Zum allgemeinen Kontext vgl. Stefan Zauner, Die Entnazifizierung (Epuration) des Lehrkörpers. Von der Suspendierung und Entlassung 1945/46 zur Rehabilitierung und Wiedereinsetzung der Professoren und Dozenten bis Mitte der 1950er Jahre. In: Urban Wiesing/Klaus-Rainer Brintzinger/Bernd Grün/Horst Junginger/Susanne Michl (Hg.), Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, Stuttgart 2010, S. 937–997, speziell zu Kittel: S. 947, 953, 958, 973 und 992. 80 Personalakte Kittel (UAT 126/31).

250



Anhang

Seine Arbeiten über das antike Judentum hätten das Ziel verfolgt, »den kirchlichen Kampf beider Konfessionen um die Bibel durch Klärung der historischen Tatbestände zu unterstützen«. Von den radikalen Nationalsozialisten seien seine Veröffentlichungen als »Störung« empfunden und darum »in deren Propaganda nicht nur nicht verwendet, vielmehr weithin bewusst verschwiegen und bekämpft worden«. Er habe erkennen müssen, dass dem Anliegen, »durch historische Belehrung eine richtige Sicht der Bibel und der biblischen Religion zu wirken«, der Erfolg versagt bleiben musste, da die Welt­ anschauungspolitik des Nationalsozialismus auf »die radikale Ausrottung der biblischen Religion« ausgerichtet gewesen sei. »Was meine historischen Forschungsarbeiten anlangt, so wird mir schwerlich irgendjemand, der diese Arbeiten kennt, abstreiten, dass niemals, weder in den Methoden noch in den Ergebnissen, die Wissenschaft durch mich zur Hure der Zeitströmungen oder der politischen Postulate gemacht worden ist.« Er sei jederzeit bereit, »jeder wissenschaftlichen Autorität oder Versammlung über diese meine Arbeiten Rechenschaft zu geben und Rede und Antwort zu stehen«. [...] »Meine theologische Stellung zur Judenfrage gründet sich auf die Heilige Schrift und auf die altchristlich-kirchliche Tradition. Ich bitte, mir Gelegenheit zu geben, diese meine Stellung und Haltung vor einem autoritativen theologischen Forum von Männern, die auf dieser selben Grundlage stehen, zu verantworten. Ich werde auch da jederzeit mich beugen, sobald ich mit Gründen der Heiligen Schrift einer irrtümlichen Lehre oder Haltung überführt werde.«81

1946 29.4.

81 Ebd.

Berufung von Otto Michel zum Nachfolger Kittels auf den neutestamentlichen Lehrstuhl Schlatters an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Hatte die Rückkehr Kittels aus Wien nach Tübingen bei Michel 1943 zu Missstimmungen geführt, so die Berufung Michels drei Jahre später bei Kittel. Der Umstand, dass Michel im Jahr darauf an seinen Dekan, Hanns Rückert, schrieb – »Es stehen zwischen Herrn Professor D. Kittel und mir Dinge, die vor Gott und Menschen nicht bereinigt sind« –, könnte allerdings ein Hinweis darauf sein, dass darüber hinaus noch weitere Differenzen zwischen beiden Professo-

Biografischer Abriss

2.7.

6.10. 29.10. 13.12.



14.12.

82

251

ren bestanden. Die Familie Kittels untersagte Michel die Teilnahme bei dessen Begräbnis im Juli 1948.82 Verteidigungsschrift Kittels an den Leiter des Balinger Internierungslagers, Capitaine Manhaudier. In seiner auf Französisch geschriebenen Apologie führte Kittel aus, dass er die einzige wissenschaftliche Autorität auf dem Gebiet der »Judenfrage« in Deutschland (»la seule autorité scientifique en Allemagne sur la question juive«) gewesen sei, und dass er nicht bestreite, einen dezidiert christlichen Antijudaismus (»un antijudaisme déterminé chrétien«) vertreten zu haben.83 Entlassung Kittels aus dem Internierungslager in Balingen. Das Aufenthaltsverbot für Tübingen blieb jedoch bestehen.84 Beauftragung Kittels durch den Evangelischen Oberkirchenrat in Stuttgart mit der Seelsorge in der evangelischen Diasporagemeinde in Beuron.85 Weitere Unterstützungserklärung des Wiener Dekans Gustav Entz. In dem an das Dekanat der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien gerichteten Schreiben führte Entz aus: »Herr Prof. Kittel hat während der sieben Semester, in denen er als Professor an der Wiener Evangelisch-theologischen Fakultät und als Ephorus im Wiener evangelischen Theologenheim wirkte, in seinen Bibelstunden und Andachten vor den Studenten, die ich nach meiner Erinnerung ausnahmslos persönlich gehört habe, nie in irgendeiner Weise oder nach irgendeiner Richtung hin politisiert, sondern sich ausschließlich auf das religiöse und biblische Gebiet beschränkt.« Durch Kittels Bereitschaft, den neutestamentlichen Lehrstuhl in Wien vertretungsweise zu übernehmen, sei es gelungen, die deutschchristliche Richtung nicht nur in Wien, sondern in der evangelischen Kirche ganz Österreichs einzudämmen.86 »Meine Verteidigung«, Abschluss der zweiten Niederschrift.

Das Zitat aus dem Brief Michels an Rückert vom 12.11.1947 bei Reinhold Rieger, Otto Michel und das Institutum Judaicum in Tübingen. In: Morgenstern/Rieger (Hg.), Das Tübinger Institutum Judaicum, S. 149–211, hier 169. 83 Personalakte Kittel (UAT 126/31). 84 Ebd. 85 Ebd. 86 Ebd.

252



19.12.

Anhang

Kittels Verteidigungsschrift umfasst 76 Seiten Text und etwa 100 Seiten an Beilagen. Die erste Fassung datiert auf Juni 1945, die zweite wurde am 14.12. abgeschlossen. »Meine Verteidigung« ist ein in politischer, wissenschaftlicher und psychologischer Hinsicht einzigartiges Dokument, das in teils direkter, teils indirekter Weise Zeugnis über einen einflussreichen und international anerkannten Gelehrten ablegt. Der Text wurde von seinem Verfasser mit großer Umsicht erstellt und planmäßig unter Kollegen und Freunden verbreitet. So gut wie alle von Kittel für sich reklamierten oder ihm von anderen zugesprochenen Verhaltensweisen, die eine antinazistische oder projüdische Einstellung zum Ausdruck bringen, haben hier ihren Ursprung.87 Aufhebung der Vermögensperre Kittels.88

1947 2.1.

8.1.

Unterstützungserklärung von Günter Schlichting. Er kenne Kittel seit April 1931 als sein Student, später als Assistent, Doktorand und über die gemeinsame Arbeit im Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands. Kittels »wissenschaftlich unantastbare Autorität« habe seinem biblischen Standpunkt überall im Deutschen Reich, selbst bei den Gegnern der Kirche, Nachdruck und Achtung verschafft. Mit seinen einflussreichen Verbindungen hätte Kittel es verhindert, dass sich Vertreter der Deutschen Christen dem Reichsinstitut anschließen konnten. »Durch seine Forschungen auf dem Gebiet der alt- und neutestamentlichen Zeitgeschichte hat Kittel den Parteidoktrinen in Bezug auf Bibel und Christentum weitgehend den Boden entzogen.«89 Unterstützungserklärung von Wilhelm Euler. Der Statistiker und Genealoge Friedrich Wilhelm Euler war stellvertretender Leiter der »Forschungsabteilung Judenfrage« und hatte in dieser Funktion eng mit Kittel und Schlichting zusammengearbeitet. Kittel sei im Reichsinstitut »als einer der besten nichtjüdischen Kenner der Frühgeschichte des jüdischen Volkes« angesehen worden. Deswegen suchte man mit ihm »nicht etwa einen ›wissenschaftlichen Antisemiten‹, sondern vielmehr einen bewusst christlichen

87 Ebd. Siehe hierzu den Beitrag von Manfred Gailus in diesem Band. Da Kittel seine Verteidigungsschrift im In- und Ausland verbreitete, sind zahlreiche Exemplare davon im Umlauf. 88 Personalakte Kittel (UAT 126/31). 89 Ebd.

Biografischer Abriss



9.1.





90 Ebd.

253

Vertreter der theologischen, sprach- und kirchengeschichtlichen Forschung zu gewinnen, von dem man sich rein fachlich bedeutsame und in erster Linie kritische Beiträge zu den Forschungsthemen des Instituts erwartete«. Vor allem Kittel sei es zu danken gewesen, dass die Angriffe auf das Reichsinstitut »seitens der NSDAP und des radikalen Antisemitismus« abgewehrt werden konnten. »Durch seine immer wache Kritik konnte er verhindern, dass im christliche oder auch nur ›deutschchristliche‹ Reichsinstitut anti­ Tendenzen Fuß fassen konnten. Er hat die Berufung weiterer überzeugt christlicher Forscher in das Reichsinstitut angeregt und mit diesem Kreis von Sachverständigen die Veröffentlichung manchen antisemitischen Machwerks verhindert. Über seine völlig ablehnende Haltung zu den antijüdischen Maßnahmen des Staates hat er niemand in Zweifel gelassen und mit allen Mitteln der Beeinflussung versucht, in milderndem Sinne zu wirken.« Das Reichsinstitut selbst sei »politisch abgemeldet und ohne jeden Einfluss« gewesen.90 Unterstützungserklärung von Oberkirchenrat Thomas Breit (1880– 1966). Breit hatte als Personalreferent des Evangelisch-Lutherischen Landeskirchenrats im Auftrag von Bischof Meiser Kittel gebeten, seinen Vortrag über »Die Entstehung des Judentums« für die kirchliche Berufshilfe zur Verfügung zu stellen (s. auch unter 22.3.1943): »Aufgrund der mir freundlich erteilten Genehmigung versandte der Landeskirchenrat diesen Vortrag an alle ihm unterstellten Geistlichen in Bayern.« Kittel habe mit seiner Darstellung des Judentums der Kirche in ihrem Ringen mit dem Nationalsozialismus einen »unersetzlichen Dienst« geleistet. »Das kann nur von dem in Zweifel gezogen werden, der von dem entschlossenen Angriff des Nationalsozialismus auf die Grundlagen der kirchlichen Verkündigung nichts weiß. Die Intention des Vortrags und die darin entwickelten Erkenntnisse sind als theologische Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus zu werten.« Der katholische Fundamentaltheologe Karl Prümm (1890–1981) hatte in seinem »Gutachten zur wissenschaftlichen Vortragstätigkeit Prof. Kittels zur Judenfrage« am 6.12.1946 ähnlich argumentiert. Im nationalsozialistischen Deutschland sei »nie mit größerer Sachlichkeit« öffentlich über das Judentum gesprochen worden. Kittels »vor

254

12.2.

26.3.

Anhang

einem gewaltigen Publikum« in einem der größten Hörsäle der Universität Wien gemachte Ausführungen seien der offiziellen Ideologie »schnurstracks« zuwidergelaufen. Nicht nur seiner Meinung nach hätte damals »jeder andere auf einen solchen Vortrag hin mindestens ein Redeverbot bekommen«.91 Schreiben Kittels an den Staatskommissar für die politische Säuberung in Reutlingen. Als Kittel einen Antrag auf Entnazifizierung stellte, bat er auch da­ rum, man solle bei Landesbischof Theophil Wurm eine Stellungnahme über seine Person einholen. »Ich weiß heute, dass meine frühere Beurteilung des Nationalsozialismus, insbesondere seiner Führung, und mein Beitritt zur Partei auf einer bitteren Täuschung beruht haben, mit der ich an der Schuld vieler meiner Volksgenossen teilhabe. Ich habe bisher ohne Murren und ohne Klagen die Folgen getragen. Wenn ich nunmehr darum bitte, dass mein Handeln, seine Motive und sein ­Gesamtcharakter der gesetzlich vorgeschriebenen Prüfung unterzogen werden möchten, so tue ich dies in dem Vertrauen, dass dabei auch denjenigen Gesichtspunkten Rechnung getragen werden wird, die ich am Ende meiner Verteidigungsschrift dazulegen versucht habe (S. 75/76, Abschnitt XVII 13 und XVIII). Ferner bitte ich darum, dass in der Entscheidung ausdrücklich klargestellt werden möchte, ob meine publizistische und Herausgebertätigkeit über das Maß der allgemeinen Bestimmungen hinaus irgendwelchen Einschränkungen zu unterwerfen ist.«92 Kittel und die Studiorum Novi Testamenti Societas. Kittel war zwar zu der vom 26. bis 28.3. in London abgehaltenen SNTS-Tagung eingeladen worden, konnte aber aus einleuchtenden Gründen nicht teilnehmen. Auf dem Treffen des Vorstands-Komitees wurde auch sein Fall diskutiert: »A Letter was read from Prof. Gerhard Kittel in which he expresses his great disappointment at not being able to attend the committee and the General meeting. He also made reference to the suffering he had undergone; but from other letters received by the secretary from Prof. Kittel it was learnt that Prof. Kittel was not able to resume academic work in the library of a Benedictine abbey at Beuron in the French zone of Germany. The

91 Ebd.; Anhang zu Kittels »Meine Verteidigung«, hier auch das Votum des Innsbrucker Theologieprofessors Karl Prümm. 92 Personalakte Kittel (UAT 126/31).

Biografischer Abriss





24.4.



93

255

committee decided that the new President, Prof. J. de Zwaan, and the secretary should together write a letter to Prof. Kittel on behalf of the committee.« Obwohl man im SNTS-Vorstand einigermaßen über Kittel informiert war, blieb Kritik an dem Tübinger Herausgeber des ThWNT aus. Für Kittel selbst bildete die Beziehung zur internationalen Neutestamentlervereinigung einen wichtigen Baustein seiner Verteidigungsstrategie. In einem von ihm – wie üblich in dritter Person – geschriebenen und dem Korpus der Beilagen hinzugefügtem Vermerk heißt es dazu: »Es ergibt sich, dass weder die Tatsache, dass er Deutscher, noch dass er (was gleichfalls bekannt ist) seine Arbeiten zur Judenfrage geschrieben hat, noch dass er (was, wie sich ergibt, ebenfalls bekannt war) abgesetzt und ins KZ verbracht war, die englischen Fachkollegen veranlasst hat, ihn aus der Societas, ja nicht einmal aus deren Vorstand zu entfernen. Dies dürfte das stärkste Vertrauensvotum für Kittel sein, das denkbar ist. Die Einladung nach Oxford haben außer Kittel von deutschen Neutestamentlern nur noch Dibelius-Heidelberg und Bultmann-Marburg erhalten.« In »Meine Verteidigung« hatte Kittel behauptet, er sei sich seit dem gegen ihn gerichteten Artikel im »Neuen Tübinger Tagblatt« im Juni 1933 bewusst gewesen, dass er sich »beständig mit einem Fuss im K.Z. befand«. In diesem Vermerk über seine Beziehungen zur SNTS meinte er mit »KZ« jedoch das Balinger Internierungslager der französischen Besatzungsmacht.93 Unterstützungserklärung von Landesbischof Theophil Wurm. Wurm hielt noch im April 1947 am Recht der neutestamentlichen Wissenschaft fest, sich – in der Weise wie Kittel es tat – mit dem Judentum auseinanderzusetzen. Denn die Kirche habe von Gott her den Auftrag, sowohl die christliche Heilsgeschichte als auch die »Geschichte der Verwerfung des Volkes Israel« zu bezeugen. »Das besondere Arbeitsgebiet Prof. Dr. Kittels war die Geschichte des Volkes Israel von der nachbiblischen bis zur talmudischen Zeit. Dass hierbei die letzten göttlichen Ursachen der Verwerfung des Volkes Israel aufgezeigt werden mussten, gehörte darum zu seinem

Ebd. Das englische Zitat bei Bormann, »Auch unter politischen Gesichtspunkten sehr sorgfältig ausgewählt«, S. 448. Der undatierte Vermerk findet sich in den Beilagen, das Zitat aus »Meine Verteidigung«, S. 43.

256

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theologischen Lehrauftrag, der seinem Inhalt nach ein Auftrag der Kirche ist. Dieser Lehrauftrag ist aber zuerst und für immer gegründet und vorgebildet in der Stellungnahme Jesu und seiner Apostel, der Kirchenväter und Synoden und man kann ihn sachlich nicht als eine Verirrung brandmarken oder ihn mit dem vulgären Antisemitismus identisch erklären.«94

1948 30.1.



94

Eidesstattliche Erklärung Kittels über Gustav Adolf Scheel (1907– 1979). Obwohl Kittel in aller Regel selbst der Adressat von Entlastungsschreiben war, gibt es ein prominentes Beispiel für den umgekehrten Fall, den nationalsozialistischen Multifunktionär Gustav Adolf Scheel: Mitglied des Reichstages, Reichsstudentenführer, Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Stuttgart, Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD im Elsass, SS-Obergruppenführer, General der Waffen-SS, Gauleiter und Reichsstatthalter in Salzburg und von Hitler in seinem politischen Testament am 29.4.1945 zum Reichserziehungsminister bestimmt. Kittel kannte Gustav Adolf Scheel durch dessen Vater Wilhelm Scheel, einem evangelischen Pfarrer, der das Diakonissenmutterhaus in Mannheim leitete. Als Scheel Ende der 1920er-Jahre in Tübingen auch zwei Semester Theologie studierte, war er öfter zu Besuch im Hause Kittels. In dieser Zeit schloss sich Scheel dem antisemitischen Verein Deutscher Studenten an, dem Kittel 1933 sein Buch über »Die Judenfrage« widmete und für dessen Verbandsorgan er seit 1908 Artikel geschrieben hatte. Scheel wechselte dann nach Heidelberg, wo er eine steile Karriere in der SS und im SD einschlug. In seiner Eigenschaft als Führer des SD-Oberabschnitts Südwest holte er zahlreiche Jungakademiker in den Sicherheitsdienst, darunter auch einige Tübinger wie Walter Stahlecker, Martin Sandberger und Erich Ehrlinger, die später eine führende Rolle im Holocaust spielen sollten. Scheel selbst organisierte im Oktober 1940 die Deportation der Juden aus Karlsruhe.

Landesbischof Wurm an Staatskommissar für die politische Säuberung vom 24.4.1947. Zit. nach Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage, S. 118 f.

Biografischer Abriss





Februar 11.7. 15.7.

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Dass Scheel im SD seine kirchennahe Haltung nicht verheimlicht hatte, trug maßgeblich dazu bei, sich in seinem Entnazifizierungsverfahren erfolgreich verteidigen zu können. Auch Kittel betonte in seiner eidesstattlichen Erklärung das Eintreten Scheels für die Belange der Kirche. In Tübingen hätte Scheel per Anweisung an die Studentenführung dafür gesorgt, dass der Altfreunde-Verband der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung unter anderem Namen »seine alte christlich-missionarische Tätigkeit im wesentlichen weiterführen konnte«. Die Übertragung des Tübinger DCSV-Hauses in den Besitz der Kirche sei ebenfalls ihm zu danken gewesen. In Wien sei es Kittel mit Scheels Hilfe gelungen, das Theologenheim als kirchliche Heimstätte für die evangelischen Theologiestudenten zu erhalten. Für diesen Zweck sei er eigens nach München gefahren, um sich mit Scheel zu treffen. Kittel attestierte Scheel in jeder Hinsicht eine anständige Gesinnung. Er habe alles in seiner Macht stehende getan, um Unrecht zu verhindern und Härten zu vermeiden, was für ihn »höchst gefährlich« gewesen sei. Die Spruchkammer verurteilte Scheel am 23.12. als Hauptschuldigen zu fünf Jahren Arbeitslager. Doch bereits an Heiligabend wurde er unter Anrechnung seiner früheren Internierungszeit vom 14.5.1945 bis 24.12.1947 auf freien Fuß gesetzt. Danach arbeitete Scheel von 1949 bis 1977 als Arzt in Hamburg.95 Rückkehr Kittels nach Tübingen. Tod Kittels im Alter von 59 Jahren in Tübingen. Einstellung des Entnazifizierungsverfahrens gegen Kittel durch die Universitäts-Spruchkammer.96

95 Vgl. Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München, Sp. 42, Spruchkammerverfahren Scheel (Zeugenbefragung Euler), sowie Georg Franz-Willing, »Bin ich schuldig?« Leben und Wirken des Reichsstudentenführers und Gauleiters Dr. Gustav Adolf Scheel 1907–1979. Eine Biographie, Leonie (Berg) 1987, S. 84–87. Zu Scheel vgl. auch Junginger, Verwissenschaftlichung der »Judenfrage«, S. 174, 311–315. 96 Universitäts-Spruchkammer: Einstellung des Verfahrens (Staatsarchiv Sigmaringen Bestand Wü 13, Nr. 2655).

2 58

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Allgemeine Literatur zur Vita Gerhard Kittels Christophersen, Alf: Kittel, Gerhard. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Band 4 (2001), Sp. 1387. Dahm, Christof: Kittel, Gerhard. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchen­ lexikon, Band 3 (1992), S. 1544–1546. Deines, Roland: Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, Tübingen 1997, S. 413–421. Ericksen, Robert P.: Theologen unter Hitler, München 1986, S. 47–114. Friedrich, Gerhard und Johannes: Kittel, Gerhard (1888–1948). In: Theologische Realenzyklopädie, Band 19 (1990), S. 221–225. Merk, Otto: Kittel, Gerhard. In: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Band 6 (1997), Sp. 107. –: Gerhard Kittel (1888–1948). In: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese, Band 2, Berlin 2015, S. 34–40. Michel, Otto: Das wissenschaftliche Vermächtnis Gerhard Kittels. Zur 70. Wiederkehr seines Geburtstages. In: Deutsches Pfarrerblatt, 58 (1958), S. 415–417. –: Kittel, Gerhard. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3.  Auflage, Band 3 (1959), Sp. 1626. –: Kittel, Gerhard. In: Neue Deutsche Biographie, Band 11 (1977), S. 91 f. Morgenstern, Matthias: Gerhard Kittel als Schlatter-Schüler. In: ders./Reinhold Rieger (Hg.), Das Tübinger Institutum Judaicum. Beiträge zu seiner Geschichte und Vorgeschichte seit Adolf Schlatter, Stuttgart 2015, S. 46–67. N. N.: Kittel, Gerhard. In: Deutsche biographische Enzyklopädie der Theologie und der Kirchen, Band 1 (2005), S. 776 f. Rieger, Reinhold: Gerhard Kittel. In: Morgenstern, Matthias/Rieger, Reinhold (Hg.), Das Tübinger Institutum Judaicum, S. 168–170. Siegele-Wenschkewitz, Leonore: Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage. Gerhard Kittels theologische Arbeit im Wandel deutscher Geschichte, München 1980, S. 44–50. Zirlewagen, Marc: Kittel, Gerhard. In: ders., Biographisches Lexikon der Vereine Deutscher Studenten, Band 1 (A–L), Norderstedt 2014, S. 420–424.



Horst Junginger Bibliografie Gerhard Kittel

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Der »historische Jesus« (Stimmen aus der deutschen christlichen Studentenbewegung, Heft 70, 22 S., Berlin: Furche-Verlag 1930 (2. Auflage 1932) [englische Übersetzung in: The Jesus of History. In: George K. A. Bell/Adolf Deismann (Hg.), Mysterium Christi. Christological Studies by British and German Theologians, London: Longman Green 1930, S. 31–49. Die Religionsgeschichte und das Urchristentum, 160 S., Gütersloh: Bertelsmann 1932 (2. Auflage Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1959). [Kittels Vorlesungen der Olaus-Petri-Stiftung an der Universität Uppsala vom 26.–29. Oktober 1931 wurden auch ins Schwedische übersetzt: Religionshistorien och urkristendomen, Stockholm: Svenska kyrkans diakonisstyrelses bokförlag 1933]. Die Judenfrage, 78 S., Stuttgart: Kohlhammer 1933 (2. erw. Auflage 1933, 128 S.; 3. Auflage 1934, 135 S.; mit »Antwort an Martin Buber«, S. 87–100; und »Kittel und Judenchristen«, S. 101–113). (Zus. mit Heinrich Rendtorff und Walther Schönfeld), Günther Holstein. 22. Mai 1892 – 11. Januar 1931, 74 S., Stuttgart: Kohlhammer 1933. Karl Barth und Gerhard Kittel. Ein theologischer Briefwechsel, 40 S., Stuttgart: Kohlhammer 1934 [Nachdruck in: Diether Koch (Hg.), Karl Barth. Offene Briefe 1909–1935, Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2001, S. 268–319]. Jesus Christus, Gottes Sohn und unser Herr (Wittenberger Reihe, Heft 7), 23 S., Berlin: Evangelischer Preßverband für Deutschland 1937. (Zus. mit Paul Althaus und Hermann Strathmann), Adolf Schlatter und Wilhelm Lütgert zum Gedächtnis (Beiträge zur Förderung christlicher Theologie, 40,1), 55 S., Gütersloh: Bertelsmann 1938. Lexicographia sacra. Two lectures on the making of the Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, delivered on Oct. 20th and 21st 1937 in the Divinity School, Cambridge, 31 S., London: Society for Promoting Christian Knowledge 1938. Die historischen Voraussetzungen der jüdischen Rassenmischung (Schriften des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands, Band 27), 46 S., Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1939. Christus und Imperator. Das Urteil der ersten Christenheit über den Staat, 56 S., Stuttgart: Kohlhammer 1939. Dürfen wir dem Neuen Testament trauen? Die Geschichte des Neuen Testaments, 24 S., Stuttgart: Kohlhammer 1939 (2. Auflage, Stuttgart: Quell-Verlag der Evangelischen Gesellschaft 1939). (Zus. mit Eugen Fischer), Das antike Weltjudentum. Tatsachen, Texte, Bilder (Forschungen zur Judenfrage, Band 7, bzw. Schriften des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands, Nr. 47), 236 S. und 227 Abbildungen, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1943 (Nachdruck Viöl: Verlag für ganzheitliche Forschung 1996).

Bibliografie

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II. Artikel

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rische Kirchenzeitung, 54 (1921), Sp. 466–468, 483–486, 501–503, 518–520, 535–536 [auch als Separatdruck, 21 S.: Die religiöse und die kirchliche Lage in Deutschland, Leipzig: Dörffling und Franke 1921; sowie Schwedisch: Religiösa och kyrkliga läget i Tyskland, Uppsala 1922]. Das Religionslehrer-Seminar in Leipzig: Aufbau und Ziele. In: Zeitschrift für den evangelischen Religionsunterricht an höheren Lehranstalten, 32 (1921), S. 3 f. Die γενεαλογίαι der Pastoralbriefe. In: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 20 (1921), S. 46–69. Die Schallanalyse und das Neue Testament. In: Theologisches Literaturblatt, 43 (1922), Sp. 1–8, 17–22, 289–291. Zur Judenfrage. In: Akademische Blätter, 1922/23, S. 7 f. Goethe und das Kreuz. In: Allgemeine evangelisch-lutherische Kirchenzeitung vom 16.3.1923, Sp. 166–169. Johannes und die Christusidee. In: Evangelisches Missionsmagazin von September 1923, S. 209–212. Jeschu ha-nosri. Ein hebräisches Leben Jesu eines modernen jüdischen Gelehrten. In: Theologisches Literaturblatt, 44 (1923), Sp. 241–246, 257–263. Das älteste geschichtliche Zeugnis für die Auferstehung Jesu. In: Allgemeine evangelisch-lutherische Kirchenzeitung vom 13.4.1924, Sp. 226–228, und vom 20.4.1923, Sp. 242–245. Zeitgemäße kirchliche Opfer! Flugblatt. Hg. von der Wichern-Vereinigung zur Förderung christlichen Volkslebens, Hamburg 1925. Die Bergpredigt und die Ethik des Judentums. In: Zeitschrift für systematische Theologie, 2 (1925), S. 555–594. Grundsätzliches und Methodisches zu den Übersetzungen rabbinischer Texte. In: Angelos. Archiv für neutestamentliche Zeitgeschichte und Kulturkunde, 1 (1925), S. 60–64. Die Heilsgewissheit bei Paulus und bei den Pharisäern, Beth-El, 18 (1926) 7, S. 171–173. Der Sieg des Christentums über die Religionen der ausgehenden Antike. In: Zeitwende, 2 (1926) 3, S. 237–252. Friedhof der Heimatlosen. In: Der Türmer. Deutsche Monatshefte, 30 (November 1927) 2, S. 102 f. Das innerweltliche Reich Gottes in der Verkündigung Jesu. In: Theologische Blätter, 6 (1927) 5, S. 122 f. [englische Übersetzung: The This-Worldly Kingdom of God in our Lord’s Teaching. In: Theology. A monthly journal of historic Christianity, 16 (1927), S. 260–262]. ΊΗΣΟΥΣ Ο ΔΙΔΑΣΚΑΛΟΣ ΚΑΙ ΠΡΟΦΗΤΗΣ. In: Theologische Blätter, 7 (1928) 10, S. 237–282 (Britisch-Deutsche Theologenkonferenz auf der Wartburg vom 11.–18.8.1928) [englische Übersetzung: Primitive Christology and Its Signifi-

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Bibliografie

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Das Urteil über die Rassenmischungen im Judentum und in der biblischen Religion. In: Der Biologe, 6 (1937), S. 342–352. Das Gegenüber von Kirche und Staat in der Gemeinde des Neuen Testaments. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 34 (1937), S. 651–680. Das Urteil des Neuen Testamentes über den Staat. In: Zeitschrift für Systematische Theologie, 14 (1937), S. 651–680. Der Judaskuß. In: Die Christliche Welt, 51 (1937), S. 207. Zu dunklen Bibelstellen. In: Die Christliche Welt, 51 (1937), S. 498. Eduard von Gebhardt in seinen Briefen. Zu seinem 100. Geburtstag. In: Die Christliche Welt, 52 (1938), S. 436–440. Zu dunklen Bibelstellen. In: Die Christliche Welt, 52 (1938), S. 740. Neue Revision der Lutherbibel. In: Das Evangelische Deutschland, 15 (1938), S. 28–30. Das »Wort Gottes« im Neuen Testament. In: Pastoralblätter für Predigt, Katechetik und kirchliche Unterweisung, 80 (1938), S. 345–355. (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Band 3, 1104 S., Stuttgart: Kohlhammer 1938. θαμαρ, Ραχαβ, Ρουϑ, η του Ουριου, S. 1–3; ϑεατρον κτλ., S. 42 f. Die Abstammung der Mutter des Origenes. In: Forschungen zur Judenfrage, Band 3, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1938, S. 235 f. Europas Schicksalskampf im Osten. Der Untergang des ersten römischen Imperiums. In: Bücherkunde. Organ des Amtes Schrifttumspflege. Hg von Hans Hagemeyer, Gauverlag Bayreuth, 5 (1938), S. 461–463. Gedenkrede bei der akademischen Feier am Nachmittag des 23. Mai 1938 im Festsaal der Universität Tübingen. In: Ein Lehrer der Kirche, Stuttgart: Calwer Vereinsbuchhandlung 1938, S. 19–33 [auch in: Deutsche Theologie, 5 (1938), S. 124–135]. Adolf Schlatter. Gedenkrede, gehalten am 23. Mai 1938 im Festsaal der Universität Tübingen von Gerhard Kittel. In: Beiträge zur Förderung christlicher Theologie, 40,1 (1938), S. 16–30 [auch in: Deutsche Theologie, 5 (1938), S. 124–135]. Lexicographia Sacra. In: Deutsche Theologie, 5 (1938), S. 91–109. Neue Revision der Lutherbibel. In: Das Evangelische Deutschland, 15 (1938), S. 28. Einbruch des Orients. In: Europa und der Osten. Hg. von Reichsamtsleiter Hans Hagemeyer und Reichsamtsleiter Dr. Georg Leibbrandt, München: Hoheneichen Verlag 1939, S. 61–71. Staatsbürgertum ohne völkische Verpflichtung bedeutet nationalen Untergang und soziales Chaos. Das Beispiel der jüdischen Zersetzung des Ersten Römischen Imperiums. In: Der Schulungsbrief, 6 (1939), S. 239–246 [Wiederabdruck in: Tübinger Chronik vom 19.6.1939].

266

Anhang

Die Rassenmischung des Judentums in ihren geschichtlichen Voraussetzungen. In: Kosmos. Handweiser für Naturfreunde 1939, S. 152–156. Dichter, Bibel und Bibelrevision. In: Pastoralblätter, 81 (1939), S. 337–355 [auch als Separatdruck, 21 S., Dresden/Leipzig: Verlag C. Ludwig Ungelenk 1939]. Die Quellen zum Leben Jesu und ihre neueste Behandlung. »Jesus Christus und die Wissenschaft«, über das Buch von Rudolf Thiel. In: Zeitwende, 15 (1939), S. 577–587. Weltjudentum und Rassenmischung in der römischen Kaiserzeit. In: Velhagen & Klasings Monatshefte, 53 II (1939), S. 337–342. Die ältesten jüdischen Bilder. Eine Aufgabe der wissenschaftlichen Gemeinschaftsarbeit. In: Forschungen zur Judenfrage, Band 4, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1940, S. 237–249 (2. Auflage 1943). Die ältesten Judenkarikaturen. Die »Trierer Terrakotten«. In: Forschungen zur Judenfrage, Band 4, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1940, S. 250–259. Um die Kunst Eduard von Gebhardts. In: Deutsches Pfarrerblatt, 42 (1940), S. 764. Die Ausbreitung des Judentums bis zum Beginn des Mittelalters, Teil 1. In: Forschungen zur Judenfrage, Band 5, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1941, S. 290–310 [Teil 2: Band 9, 1944]. Kol. 1, 24. In: Zeitschrift für Systematische Theologie, 18 (1941), S. 186–191. Joh. 17, 24 im Probetestament. In: Theologische Blätter, 20 (1941), S. 94–96. Die Wurzeln des englischen Erwählungsglaubens. In: Historische Zeitschrift, 163 (1941), S. 43–81. [Wiederabdruck in: Walter Frank (Hg.), Reich und Reichsfeinde, Band 2, Hamburg 1943, S. 99–129; sowie als Separatdruck, Hamburg 1943]. Zur Geschichte der Judenfrage. In: Historische Zeitschrift, 163 (1941), S. 327– 335. Das antike Weltjudentum. In: Wille und Macht. Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend, Heft 13 vom 1.7.1941, S. 8–12. Die neue Revision der Lutherbibel. Eine Überschau. In: Das Evangelische Deutschland, 19 (1942), S. 120–123. (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Band 4, 1120 S., Stuttgart: Kohlhammer 1942. καταλαλεω κτλ., S. 3–5; λεγω κτλ. (D. ›Wort‹ und ›Reden‹ im NT); λογιος, λογιον, αλογος, λογικος, λογομαχεω, λογομαχια, S. 100–147; λογεια, S. 285 f. Das talmudische Denken und das Judentum. In: Die Judenfrage vom 1.10.1942, S. 208 f. Der geschichtliche Ort des Jakobusbriefes. In: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 41 (1942), S. 71–105. Das Ergebnis der Diskussion um das Probetestament. In: Theologische Literaturzeitung, 67 (1942), Sp. 65–87.

Bibliografie

267

Die Entstehung des Judentums. In: Die Welt als Geschichte, 1943, Heft 1/3, S. 68–82. Die Behandlung des Nichtjuden nach dem Talmud. In: Archiv für Judenfragen. Schriften zur geistigen Überwindung des Judentums, Band 1, Berlin: P. Hochmuth 1943, S. 7–17. In memoriam Dr. theol. Ewald Burger, Dr. theol. habil. Albrecht Stumpff, Dr. theol. habil. Walter Gutbrod und Dr. theol. Hermann Fritsch. In: Theologische Literaturzeitung, 68 (1943), Sp. 50–53. Rom und die Christen im ersten Jahrhundert. In: Theologische Literaturzeitung, 68 (1943), Sp. 65–70. Die Ausbreitung des antiken Judentums bis zum Beginn des Mittelalters, Teil 2. In: Forschungen zur Judenfrage, Band 9, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1944, S. 159–218. Das kleinasiatische Judentum in der hellenisch-römischen Zeit. Ein Bericht zur Epigraphik Kleinasiens. In: Theologische Literaturzeitung, 69 (1944), S. 9–20. Die Bevölkerungszahlen des antiken Judentums. In: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes, 1944/45 [nicht mehr erschienen*]. Die Probleme der Erforschung des antiken Judentums. In: Fortschritte der Erbpathologie, 1944/45 [nicht mehr erschienen*]. Israel – Judentum – Christentum. In: Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 1944/45 [nicht mehr erschienen*]. Die Judenfrage im Neuen Testament. In: ebd. [nicht mehr erschienen*]. [* Erwähnungen in: Gerhard Kittel, Meine Verteidigung (1946), »Die wichtigsten Veröffentlichungen Kittels zur Judenfrage«]. Der Jakobusbrief und die Apostolischen Väter. Von Gerhard Kittel † [Heinrich Rengstorf]. In: Zeitschrift für Neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 43 (1950/51), S. 54–112.

Auswahl von Quellen für diese Zusammenstellung Friedrich, Gerhard: Bibliographie Gerhard Kittel. In: Theologische Literaturzeitung, 74 (1949) 1, Sp. 171–174. Geiser, Stefan: Bibliographie zur neutestamentlichen Forschung im deutschen Protestantismus. In: Kirchliche Zeitgeschichte, 17 (2004), S. 383–385. Zirlewagen, Marc: Biographisches Lexikon der Vereine Deutscher Studenten, Band 1 (A–L), Norderstedt 2014, S. 420–424.



Abkürzungsverzeichnis AA AT a.o. BK DAF DC DEK DNVP EKD ELCA EOK HDC HJ KA KPD KZ NS NSDAP NSEP NT REM RGG RKM RM RSHA SD SNTS SPD SS ThWNT UAT USA u. Z. v. u. Z.

Auswärtiges Amt Altes Testament außerordentlich Bekennende Kirche Deutsche Arbeitsfront Deutsche Christen Deutsche Evangelische Kirche Deutschnationale Volkspartei Evangelische Kirche in Deutschland Evangelical Lutheran Church in America (Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika) Evangelischer Oberkirchenrat Historisch Documentatiecentrum voor het Nederlands Protestantisme Hitlerjugend Kansallisarkisto – National Archive of Finnland

Kommunistische Partei Deutschlands Konzentrationslager Nationalsozialismus, nationalsozialistisch Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistischer Evangelischer Pfarrerbund Neues Testament Reichserziehungsministerium Religion in Geschichte und Gegenwart Reichskirchenministerium Reichsmark Reichssicherheitshauptamt Sicherheitsdienst Studiorum Novi Testamenti Societas Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Universitätsarchiv Tübingen United States of America (Vereinigte Staaten von Amerika) unserer Zeitrechnung vor unserer Zeitrechnung



Personenverzeichnis Seitenangaben mit Asteriskus beziehen sich auf Fußnoten. Aland, Kurt 136 Albright, William Foxwell 29 f., 37, 138, 157 f. Alswede, Hans Theodor 239 Althaus, Paul 12, 20, 52, 156* Baeck, Leo 80 Baer, Fritz 211 Barr, James 102, 105 Barth, Karl 57, 150, 216–220 Bauernfeind, Otto 70 Baumgärtel, Friedrich 141 Baur, Benedikt 179 f., 182 Bea, Augustin Kardinal 162 Bedford-Strohm, Heinrich 7 Behm, Johannes 117 Bell, George K. 142, 179* Bertram, Georg 103, 116, 121–124, 127– 129, 132 f. Beyer, Hermann Wolfgang 103 Billerbeck, Paul 108 Bodelschwingh, Friedrich von 212 Bohle, Ernst Wilhelm 186 Bonhoeffer, Dietrich 19, 41*, 60, 154 Bormann, Martin 122 Bousset, Wilhelm 69, 109* Branscomb, Harvie 160 Brunner, Emil 8, 165 Buber, Martin 24, 80, 210 f. Buchman, Frank 223 Büchsel, Friedrich 103 Bultmann, Rudolf 74, 103, 135, 146 f., 148–151, 153, 216, 255 Christian, Viktor 240, 243 Coates, John Rider 147, 152, 156 Colwell, Ernest Cadman 160 Conway, John 30, 40* Craig, Clarence 160 Creed, John Martin 142 Cremer, Hermann 101, 104 f., 145 f. Czerniaków, Adam 237

Dahm, Christof 17* Dalman, Gustaf 64 Debrunner, Albert 28*, 160 Deißmann, Adolf 115 f., 142, 146 Delitzsch, Franz 64 Delling, Gerhard 103, 124 f., 128, 133 Dibelius, Martin 28, 135, 150, 153 f., 158, 177, 255 Dibelius, Otto 55, 87 Diewerge, Wolfgang 186 f., 190 Dipper, Theodor 233 Dodd, Charles Herold 142 Droysen, Johann Gustav 107* Dryander, Ernst von 46 Eberhart I., im Bart, Herzog von Württemberg 86 Ebert, Friedrich 67 Eder, Hans 168 Ehrenberg, Hans 215., 227 f. Ehrlinger, Erich 99, 208, 256 Eichmann, Adolf 92, 226, 245 Engert, Karl 186, 242 Entz, Gustav 236, 239 f., 248, 251 Eisenmenger, Johann Andreas 98 Eißfeldt, Otto 80 Elbogen, Ismar 80 Epp, Franz Ritter von 226 Eppinger, Gustav 180 Ericksen, Robert P. 143, 158 Ettlinger, Sophie 96 Feine, Paul 68 Feuchtwanger, Ludwig 239 Fezer, Karl 209, 212, 216–218, 223, 233 Fischer, Eugen 20, 197* Fischer, Fritz 25, 91, 96, 170, 176, 235 Frank, Walter 11*, 24, 32, 35, 37–39, 90–92, 170, 176, 231 f. Fränkel, Eduard 147 Frey, Jean-Baptiste 160, 162 Friedrich, Gerhard 14, 101, 132, 147

272 Fritsch, Theodor 65 f. Gailus, Manfred 39 f., 97 Gerlach, Wolfgang 40 Gesler, Helmuth 199*, 201 Gieseler, Wilhelm 249 Göbel, Klaus 13 Göbell, Walther 209 Goebbels, Joseph 93, 95, 122, 186*, 227, 242 Goethe, Johann Wolfgang von 106, 172 Goldmann, Erwin 237 f., 249 Goldschmidt, Lazarus 237 Göring, Hermann 242 Graeter, Reinhold 196* Grau, Wilhelm 91, 176, 200* Greive, Hermann 98 Greßmann, Hugo 74, 206 Grimm, Friedrich 186, 242 Grosheide, Frederik Willem 136, 142, 145 f. Grundmann, Walter 16 f., 79, 103, 116, 119–126, 128–134, 144, 149, 151, 168, 198, 207, 232 Grynszpan, Abraham 189*, 193 Grynszpan, Herschel Feibel 94 f., 97, 144, 171, 185–194, 242 Grynszpan, Sendel 192 Grynszpan, Wolf 192* Gulin, Elis Gideon 136, 144, 156* Gulkowitsch, Lazar 125 Gutteridge, Richard 28, 29* Gyllenberg, Raffael 144 Hahnenbruch, Erich 246 f. Hardenberg, Irmgard Gräfin von 214 Harnack, Adolf von 69 Hauer, Jakob Wilhelm 198*, 218, 249 Heckel, Theodor 153 Hegler, August 208 Heiber, Helmut 141* Heim, Karl 180, 215 f., 218, 223, 233 Heitmüller, Wilhelm 74, 207 Hempel, Johannes 140 Herder, Johann Gottfried 106* Heschel, Susannah 40, 120*, 134* Heß, Rudolf 196, 241

Anhang

Heydrich, Reinhard 122, 155 Hillel 113 Himmler, Heinrich 122, 155, 233 Hindenburg, Paul von 45, 84 f., 207–209 Hirsch, Emanuel 12, 13*, 15, 20, 126, 157 Hitler, Adolf 8 f., 19, 22 f., 26, 31 f., 36–40, 45, 52 f., 56 f., 85, 87, 94 f., 154, 167–169, 175, 181, 187, 191, 193, 207–209, 211, 214, 216–220, 222 f., 225, 242, 256 Hoffmann, Richard Adolf 236 Hoornbee(c)k, Johannes 111* Horowitz, Charles 81, 225 Hoskyns, Edwyn Clement 142 f., 150 Hossenfelder, Joachim 53, 87 Jacobsthal, Paul 147 Jäger, August 168 Jancke, Gabriele 107 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 106 Joll, James 12, 19 f. Jülicher, Adolf 81 Junginger, Horst 9*, 41 Jung-Stilling, Johann Heinrich 106 Junke, Heinrich 186 Kahan, Israel Isser 64, 67, 72, 139, 142, 203 f. Kaufmann, Günter 241 Kaufmann, Nathan 190 Kaufmann, Thomas 8 Kerrl, Hanns 58, 223 Kittel, Eberhard 26, 31 f., 37, 97, 171, 178* Kittel, Elisabeth (Ehefrau, siehe Rohde, Elisabeth) 32 Kittel, Elisabeth 32, 37 Kittel, Emilie 63, 70 Kittel, Gerhard 7–18, 20–41, 63 f., 67–82, 84–105, 112, 118–120, 123 f., 130–132, 135–182, 186 f., 195–256 Kittel, Rudolf 21, 32, 35, 63–67, 70, 75, 131, 138–141, 203 Kittel, Theodor 67 Klett, Eugen 199 f.*, 201 Knoll, Fritz 241 Köberle, Adolf 173 f. Kögel, Julius 101, 104, 145 f.

273

Personenverzeichnis

König, Emilie 176 König, Marie-Pierre 179 Königseder, Angelika 136 Krause, Reinhold 55, 216 Krauss, Samuel 240 Kuhn, Karl Georg 16, 17*, 41, 91, 93, 95, 103, 112, 120, 151, 208 f., 214 f., 221, 224–227, 229, 232, 234, 238, 240, 242 f. Kümmel, Werner Georg 230 Künne, Hans 186, 188, 242 Künneth, Walter 176 Lagemann, Werner 220 Lang, Friedrich 180 Laqueur, Walter 21 Lattki, Torsten 133 Lautz, Ernst 186 Leers, Johann von 198 Leipoldt, Johannes 68, 74*, 125, 129, 198, 204 Lietzmann, Hans 75*, 136, 146, 153 f. Lietzmann, Jutta 136 Lightfoot, Robert Henry 147 Lessing, Gotthold Ephraim 76 Loewe, Herbert M. J. 23 f., 29, 217 Lohmeyer, Ernst 211 Ludendorff, Erich 212 Luther, Martin 7–9, 47, 53, 88, 119, 172, 234 Manhaudier (Leiter des Balinger Internierungslagers) 251 Manson, Thomas Walter 146 Marahrens, August 57 Marmorstein, Abraham 72, 225 Meeks, Wayne 103, 148 Meier, Kurt 13* Meiser, Hans 43, 61, 168*, 246, 253 Merk, Otto 137, 140 Meyer, Rudolf 125–129 Meyer-Erlach, Wolf 126 Michel, Otto 244, 250 Micklem, Nathaniel 142 Moeller, Reinhard 45 Morgenstern, Matthias 137 Moro-Giafferi, Vincent de 189

Mosse, George 20 Mozley, John Kenneth 142 Müller, Karl 94 Müller, Karlheinz 102 Müller, Ludwig 70, 87, 205, 212 f., 217 Murr, Wilhelm 213 Mutschmann, Martin 226 Nero 115 Nicolai, Walther 226 Niemöller, Martin 51, 56, 61, 150, 154 Niethammer, Emil 174 Nipperdey, Thomas 46 Nock, Arthur Darby 146, 160 Odeberg, Hugo 103, 127 f., 143 f., 232 Pfahler, Gerhard 249 Pohl, Johannes 236 f. Pölitz, Karl Heinrich Ludwig (Poelitz) 109 Porter, John R. 156 Preisker, Herbert 103, 124 f., 127–129, 133 Pressel, Wilhelm 208, 211–213 Preus, Herman 21*, 28 Preuß, Hans 52 Rad, Gerhard von 133 Rath, Ernst vom 94 f., 185, 186*, 191, 242 Rathenau, Walther 67, 76, 140 Rawlinson, Alfred Edward John 142 Rengstorf, Karl Heinrich 72, 103, 232 Rese, Martin 30, 33 f., 37 Reventlow, Ernst Graf zu 196, 198*, 212 Rohde, Elisabeth (siehe Kittel, Elisabeth) 205 Roosevelt, Franklin D. 192 Rosenberg, Alfred 11, 93, 117, 121 f., 170*, 171, 176, 198, 200*, 212, 218, 229, 234 Rückert, Hanns 212, 216, 250 Rust, Bernhard 222, 241 Sandberger, Martin 99, 208, 256 Schaeder, Hans Heinrich 127, 129 Scheel, Gustav Adolf 99, 256 f. Scheel, Wilhelm 99 Schenk, Wolfgang 132 Schickert, Klaus 200*

274 Schiller, Charlotte 239 Schirach, Baldur von 241 Schlatter, Adolf 74 f., 86, 149, 180, 207 f., 219, 229, 250 Schlatter, Dora 180 Schleiermacher, Friedrich 105, 106*, 159 Schlichting, Günter 91, 96, 224, 232, 237, 240, 252 Schmid, Carlo 11, 173 Schmidt, Hans 221, 229, 231 Schmidt, Karl Ludwig 116, 151, 230 Schmidt-Ott, Friedrich 217 Schneider, Carl 103, 115–117, 126–129, 133 Schneider, Paul 60* Scholder, Klaus 11, 30, 33, 38, 45 Scholem, Gershom 211 Schönemann, Friedrich 186 Schramm, Hellmuth 198 Schreiner, Helmuth 176 Schrenk, Gottlob 103, 160 Schultz, Stephan 111 Schulze, Walter 102 Schürer, Emil 198 Schuster, Dirk 122 f.*, 125, 127–129, 131 Seeberg, Erich 15, 133 Sellin, Ernst 74, 206 Siegele-Wenschkewitz, Leonore 11–13, 30–34, 37–39, 41, 131, 137 Sjöberg, Erik 232 Soden, Hans von 221* Söderblom, Anna 139 Söderblom, Nathan 139, 142, 206 Spengler, Oswald 73 Stahlecker, Walter 99, 208, 240, 256 Stählin, Gustav 117 Stählin, Wilhelm 198* Stauffer, Ethelbert 103 Steinweis, Alan E. 17, 158 Stempel, Hans 133 Stern, Fritz 20 Stockburger, Max 208, 214 Stoecker, Adolf 49, 68, 87 f., 90, 170*, 205 Strack, Hermann Leberecht 66, 74, 108, 206 Stracke, Ernst 161, 209

Anhang

Strathmann, Hermann 103, 149 Strauß, David Friedrich 106* Streicher, Julius 92 f., 179, 220, 226 f. Stumpff, Albrecht 149, 218, 230 Stumpff, Otto 229, 239 Teller, Wilhelm Abraham 106 * Thierack, Otto 185 Thompson, Dorothy 189* Tießler, Walter 189* Torm, Frederik E. 144 Traber, Anton 173 f. Treitschke, Heinrich von 47, 49 Tugendhat, Annemarie 28, 177 Veit, Friedrich 51 Verschuer, Otmar von 170, 171*, 176 Vollnhals, Clemens 39 f. Volz, Paul 198, 219 Vos, Johan S. de 102 f., 111 f., 114 f., 148 Wallmann, Johannes 119 f., 122 f., 132, 134* Walter, Johannes von 70 Wastl, Josef 93, 235 Weber, Ferdinand 108 Wehrung, Georg 215 f., 222, 223* Weidemann, Heinz 126 Weinreich, Max 26, 29 f., 33, 37, 157 Weiß, Konrad 133 Weiser, Arthur 209, 216, 218, 223 Wellhausen, Julius 69 Werner, Fritz 91 Wette, Wilhelm Martin Leberecht de 109* Wetzel, Robert 233, 247, 249 Widmer, Guillaume 179 Wisliceny, Dieter 92, 226 Wright, Jonathan 20 Wundt, Max 208, 216, 224, 226 f. Wurm, Theophil 11, 17, 45, 61, 87, 162 f.*, 168, 173, 177–179, 182, 211, 213, 218 f., 222, 233, 248, 254 f. Zahrnt, Heinz 239 Zapp, Paul 218 Zwaan, Johannes de 136, 154 f., 255



Autorenverzeichnis Oliver Arnhold, geb. 1967 in Neheim-Hüsten, Dr. phil., Studiendirektor am Christian-Dietrich-Grabbe-Gymnasium in Detmold, Fachleiter für Ev. Religionslehre am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Detmold, Lehrbeauftragter für Religionspädagogik und kirchliche Zeitgeschichte an den Universitäten Bielefeld und Paderborn. Veröffentlichungen u. a.: »Entjudung« – Kirche im Abgrund. Band 1: Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928–1939, Band II: Das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« 1939–1945, Berlin 2010; Hg. (zus. mit Hartmut Lenhard), Kirche ohne Juden. Christlicher Antisemitismus 1933–1945, Göttingen 2015; Walter Grundmann und das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«. In: Manfred Gailus/ Clemens Vollnhals (Hg.), Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im »Dritten Reich«, Göttingen 2016, S. 203–217. Lukas Bormann, Dr. theol. habil., geb. 1962 in Frankfurt a. M., Ev. Theologe, Professor für Neues Testament an der Philipps-Universität Marburg. Veröffentlichungen u. a.: Das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament im 21. Jahrhundert. Überlegungen zu seiner Geschichte und heutigen Benutzung. In: ThWNT, hg. von G. Kittel und G. Friedrich, Darmstadt 2019, S. V–XXII; Theologie des Neuen Testaments. Grundlinien und wichtigste Ergebnisse der internatio­nalen Forschung, Göttingen 2017. Robert P. Ericksen, geb. 1945, emeritierter Professor für Geschichte und Kurt Mayer Chair in Holocaust Studies an der Pacific Lutheran University in Tacoma (USA). Veröffentlichungen u. a.: Complicity in the Holocaust: Churches and Universities in Nazi Germany, Cambridge 2012; Theologians under Hitler: Gerhard Kittel, Paul Althaus and Emanuel Hirsch, New Haven 1985; Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München 1986; Theologian in the Third Reich: The Case of Gerhard Kittel. In: Journal of Contemporary History, 12 (1977), S. 595–622. Manfred Gailus, Dr. phil., geb. 1949 in Winsen (Luhe), apl. Professor für Neuere Geschichte am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz, Göttingen 2010; Hg., Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933–1945, Göttingen 2015; Friedrich Weißler. Ein Jurist und bekennender Christ im Widerstand gegen Hitler, Göttingen 2017.

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Horst Junginger, Dr. phil., M.A., geb. 1959 in Gerstetten, Professor für Religionswissenschaft und Religionskritik an der Universität Leipzig. Veröffentlichungen u. a.: Hg., The study of religion under the impact of fascism, Leiden 2008; Die Verwissenschaftlichung der »Judenfrage« im Nationalsozialismus, Darmstadt 2011 (engl. Leiden 2017); Religionsgeschichte Deutschlands in der Moderne, Darmstadt 2017. Gerhard Lindemann, Dr. theol., geb. 1963 in Uelzen, apl. Prof. für Historische Theologie an der Technischen Universität Dresden. Veröffentlichungen u. a.: »Typisch jüdisch«. Die Stellung der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers zu Antijudaismus, Judenfeindschaft und Antisemitismus 1919–1949, Berlin 1998; Hg. (zus. mit Konstantin Hermann), Zwischen Christenkreuz und Hakenkreuz. Biografien von Theologen der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens im Natio­ nalsozialismus, Göttingen 2017. Martin Leutzsch, Dr. theol., geb. 1956 in Bayreuth, Professor für Biblische Exegese und Theologie an der Universität Paderborn. Veröffentlichungen u. a.: Die Bewährung der Wahrheit. Der dritte Johannesbrief als Dokument urchristlichen Alltags, Trier 1994; Karrieren des arischen Jesus zwischen 1918 und 1945. In: Uwe Puschner/Clemens Vollnhals (Hg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012, S. 195–217. Clemens Vollnhals, Dr. phil., M. A., geb. 1956 in München, Historiker, stellvertretender Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e. V. an der Technischen Universität Dresden und Lehrbeauftragter für Zeitgeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Hg. (zus. mit Uwe Puschner), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012; Hg. (zus. mit Manfred Gailus), Mit Herz und Verstand – Protestantische Frauen im Widerstand gegen die NS-Rassenpolitik, Göttingen 2013; Hg. (zus. mit Manfred Gailus), Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im »Dritten Reich«, Göttingen 2016.