Christliche Sozialethik: Herausgegeben:Stosch, Klaus von 9783506768919, 9783825233372, 3825233375

Wie kann christliche Sozialethik Orientierungshilfen für die rechte Gestaltung moderner Gesellschaften entwickeln? Ausge

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German Pages 203 [204] Year 2010

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Table of contents :
Christliche Sozialethik
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Moral und Ethik in der modernenGesellschaft
2. Was ist Sozialethik?
3. Das Besondere christlicher Sozialethik
4. Sozialethik in der Geschichte desChristentums
5. Sozialethische Begründungsversuche
6. Zentrale Begriffe und Prinzipien
7. Gesellschaft gestalten
Ausblick
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Christliche Sozialethik: Herausgegeben:Stosch, Klaus von
 9783506768919, 9783825233372, 3825233375

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UTB 3337

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Günter Wilhelms

Christliche Sozialethik

Ferdinand Schöningh

Der Autor: Günter Wilhelms, Dr. theol. habil., ist Univ.-Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät Paderborn.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) ISBN 978-3-506-76891-9 Internet: www.schoeningh.de Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart UTB-Bestellnummer: 978-3-8252-3337-2

Inhaltsverzeichnis Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Moral und Ethik in der modernen Gesellschaft . . . . . . . . .

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2. Was ist Sozialethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Moderne Gesellschaftstheorie und Ethik . . . . . . . . . . . 2.2. „Das Soziale“ – der Gegenstand der Sozialethik . . . . . 2.3. Person und Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Individual- und Sozialethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Das Besondere christlicher Sozialethik. . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. „Christliche“ Sozialethik – Orientierungshilfen . . . . . 3.2. Biblische und theologische Motive . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Sozialethik in der Geschichte des Christentums . . . . . . . . . 4.1. Die „Vorgeschichte“. Von der Bibel bis zur revolutionären Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Die Bewegung des sogenannten deutschen „Katholizismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Kirchliche Sozialverkündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Sozialethische Begründungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Sozialethik als Naturrechtsethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Sozialethik als Diskursethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Sozialethik als Strukturenethik . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Zentrale Begriffe und Prinzipien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1. Die menschliche Person und ihre Gesellschaft . . . . . . 6.2. Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3. Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4. Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5. Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6. Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Gesellschaft gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 7.1. Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 7.2. Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

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Inhaltsverzeichnis

7.3. Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 7.4. Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Vorwort Eine Einführung in ein bestimmtes Fach zu schreiben, ist so reizvoll wie undankbar. Reizvoll, weil die Chance besteht, eine größere Leserschaft zu erreichen und reizvoll, weil sie die Chance bietet, eine Gesamtschau zu entwickeln und sie mit eigenen Akzenten zu versehen. Undankbar, weil jede Einführung, zumal dann, wenn sie sich auf einen sehr begrenzten Umfang bescheiden soll, notwendig verkürzen, zuspitzen, verallgemeinern, ja Mut zur Lücke beweisen muss und das alles in einer für Einsteiger geeigneten Sprache. Außerdem reiht sich jede Einführung in eine mehr oder weniger umfangreiche Tradition von ähnlichen Werken ein und muss sich um eine eigene Profilierung bemühen, ohne den Einleitungscharakter des Werkes zu verlieren. Bei einem solchen Anforderungsprofil wird es den Leser nicht mehr wundern, wenn ihn der Autor um Nachsicht bittet und zugleich versichert, dass er sich alle Mühe gegeben hat, diesem Profil wenigstens nahe zu kommen. Die Leserin wird es mir nachsehen, dass ich um der Lesbarkeit willen auf die weibliche Form verzichte. Sie ist aber immer mitgemeint. Diese Einführung in die christliche Sozialethik ist vor allem für Studierende in den Anfangssemestern gedacht. Sie will nicht nur einen ersten Überblick und eine möglichst griffige Formulierung der zentralen Themen bieten, sondern insbesondere Interesse am Fach wecken und die Relevanz der Disziplin für die Auseinandersetzung mit den drängenden Problemen unserer Gesellschaft deutlich machen. Sie ist den Studierenden gewidmet, die sich der Thematik in einer Zeit zuwenden, in der es der christliche Glaube schwer hat, seine Bedeutung für gesellschaftspolitische Fragen deutlich zu machen, ganz zu schweigen von einer tatsächlichen Einflussnahme auf Politik oder Wirtschaft. Dass es sich dennoch lohnt, für eine humanere Gesellschaft zu kämpfen, dieses Bewusstsein lebendig zu halten, ist das zentrale Anliegen christlicher Sozialethik. Ihre Pflicht ist es, sich durch die vielen gesellschaftlichen Krisen herausfordern zu lassen und Orientierungen anzubieten. Noch eine Anmerkung zur Gewichtung der einzelnen Themen und Kapitel: Weil die Sozialethik die Veränderung von Gesellschaft zum Ziel hat, ist die Auseinandersetzung mit bestimmten Lebensbereichen und ihren Problemen so wichtig und ist das Kapitel „Gesellschaft gestalten“ verhältnismäßig umfangreich ausgefallen. Und weil die Ethik zwischen gerechten und ungerechten gesellschaftlichen Bedin-

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Vorwort

gungen unterscheiden will, darf sie sich auch nicht der Stellungnahmen und Wertungen enthalten. Mein Zugang zum Fach ist durch einen intensiven Austausch mit Theorien moderner Gesellschaft gekennzeichnet. Sie sollen dabei helfen, einen Zugang zu den Herausforderungen unserer Gesellschaft zu finden. Dabei steht das Verhältnis von Person und Institution, von Individuum und Gesellschaft im Vordergrund des Interesses und zwar in besonderer Weise: Der Mensch als Person muss der „Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen“ (Papst Johannes XXIII.) sein. Alle gesellschaftlichen Ordnungen und Institutionen haben die Aufgabe, dem Menschen zu „sittlich fundierter humaner Entfaltung seines Daseins“ (Wilhelm Korff) zu verhelfen. Man kann die einzelnen Kapitel als Variationen dieses Themas lesen. Obwohl gerade in sozialethischen Fragen die konfessionelle Unterscheidung immer mehr an Gewicht verloren hat, kann eine Einführung schon aus historischen Gründen nicht darüber hinwegsehen: Für meine Ausführungen ist die katholisch-theologische Perspektive leitend und zwar mit dem Ziel der Profilierung von Sachfragen und nicht der Akzentuierung von konfessionellen Sonderlehren. Eine solche Schrift kann nicht ohne tatkräftige Unterstützung verfasst werden. Veronika Spanke, Dr. Helge Wulsdorf und Dr. Andreas Hochholzer danke ich die kritische Durchsicht des Manuskriptes und so manche Anregung. Cordula Adams und Janina Steffens haben das Projekt in vielfältiger Weise unterstützt. Ihnen gilt mein herzlicher Dank. Schließlich habe ich dem Herausgeber der Reihe „Basiswissen Theologie“, Prof. Dr. Klaus von Stosch zu danken, der mich eingeladen hat, dieses Buch zu schreiben und dem Verlag Ferdinand Schöningh, namentlich Dr. Diethard Sawicki, für die verlegerische Betreuung. Paderborn, im Oktober 2009

Günter Wilhelms

1. Moral und Ethik in der modernen Gesellschaft Vor über zehn Jahren hat die 2002 verstorbene prominente Liberale Marion Gräfin Dönhoff in der von ihr mit herausgegebenen Wochenzeitung „Die Zeit“ beinahe beschwörend den moralischen Zustand unserer Gesellschaft skizziert. Sie warnt vor einer Tendenz, die das Gewinnstreben, die „Gier nach Beute“, immer mehr in den Vordergrund rückt und bringt die allgemeine Stimmungslage treffend auf den Punkt: „Das ungebremste Streben nach immer mehr Fortschritt, nach immer mehr Freiheit, nach Befriedigung ständig steigender Erwartungen zerstört jede Gemeinschaft und führt schließlich zu anarchischen Zuständen. (...) Der Zwang zur Gewinnmaximierung“, der Motor der Marktwirtschaft, „zerstört jede Solidarität und läßt ein Verantwortungsbewußtsein gar nicht erst aufkommen.“ Ihr Resümee gerät zum dringenden Appell: „Es muß doch möglich sein, die marktwirtschaftlichen Strukturen so zu ergänzen, daß die Menschen veranlaßt werden, sich menschlich zu verhalten und nicht wie Raubtiere nach Beute zu gieren. (...) Alles hängt vom Menschen ab – von jedem einzelnen von uns.“1 Keine Frage: Die Probleme sind kaum zu überschätzen. Massenarbeitslosigkeit, Ökologiekrise, Erosion des Rechtsbewusstseins und Korruption, um nur die wichtigsten Indikatoren zu nennen, gefährden den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Diese „Pathologien der Moderne“ drohen immer mehr ihre Errungenschaften wie Selbstbestimmung und Wohlstand zunichte zu machen. Die Gräfin hebt eine Ursache hervor: die liberale Marktwirtschaft mit ihrem Streben nach Gewinnmaximierung. Und in ihrem Appell deutet sie die Richtung an, in der nach Therapiemöglichkeiten zu suchen wäre: Es bedürfte ergänzender Strukturen zum Marktmechanismus, die die Menschen zur Mitmenschlichkeit anhielten. Oder hängt nicht doch, und so beschließt sie ihr Statement, alles von jedem Einzelnen von uns ab, von unserer Gesinnung, von unserem „Ehrgefühl“, von unserem Engagement? Zwischen „Ethikwelle“ und „Ethikkrise“

Vor dem Hintergrund solch mahnender Worte, ob von Politikern, Publizisten oder Kirchenführern, hat sich seit geraumer Zeit eine Debatte über die Rolle von Moral und Ethik in unserer Gesellschaft

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1. Moral und Ethik in der modernen Gesellschaft 2

entwickelt. Selbst wenn man nur einen flüchtigen Blick auf die öffentliche Auseinandersetzung über die uns alle bedrängenden Probleme wirft, auf Umweltkrise, Sicherung des Sozialstaats, Bildungskatastrophe, den Zusammenbruch des Kapitalmarktes, und nach Antworten Ausschau hält, sind es vorrangig zwei Reaktionsmuster, die immer wieder auffallen: Auf der einen Seite setzt man auf die Spezialisten und ihre Sachkompetenz. Unter den Spezialisten scheinen die Ökonomen die Führung übernommen zu haben, weitgehend unbeeindruckt von der viel beschworenen neuen Rolle der Politik. Auf der anderen Seite erhofft man sich Abhilfe durch mehr Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein. Der Ruf nach mehr (Selbst-)Verantwortung tönt buchstäblich aus allen Richtungen: aus der der Politik, der Wirtschaft und aus der der Kirchen. Die aktuelle Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise ist ein gutes Beispiel: Die hektische Suche nach Lösungen operiert mit moralischen Kategorien – Gewissenlosigkeit, Unanständigkeit, ausufernder Egoismus der Manager und Investmentbanker, Verantwortungslosigkeit, so lauten die Schlagworte. Der Kapitalismus gerät in die Krise und verantwortlich gemacht wird der Mensch in seiner „Sündhaftigkeit“ und Schwäche. Gleichzeitig zeigen Politik und Staat ihre Abhängigkeit von den diversen Sachverständigen. Sie suchen nach Rat gerade bei denjenigen, die immer schon auf den freien Markt gesetzt haben und den sie jetzt bändigen sollen. Versucht man nicht auf diesem Wege mit Beelzebub den Teufel auszutreiben, fragt sich kritisch so mancher Kommentator. Der Ruf nach Verantwortung ist Teil einer „Ethikwelle“, auf der wir gegenwärtig schwimmen, so lautet die provozierende These des 1998 verstorbenen bedeutenden Soziologen Niklas Luhmann. Ethik sei zum Marktrenner geworden: „Also fahren Manager zu Tagungen und Fortbildungskursen, lassen sich über Kultur und Ethik oder ,ganzheitliches Denken‘ belehren, üben sich in Meditation oder in seltsamsten Arten des survival training. Ein wachsender Dienstleistungsmarkt scheint sich hier zu entwickeln, und Ethik mitten mang.“3 Ethik-Institute, Ethik-Kommissionen und Managementnormen entstehen allerorten. Die Philosophen bieten mittlerweile für jeden Bereich des öffentlichen Lebens eine eigene Ethik an: Verkehrsethik und Medizinethik, Wirtschaftsethik und Umweltethik, Ethik der Technikfolgenabschätzung und Bioethik. Ist das nicht verschleudern von Ethik zum „Sonderangebot“? Mit der zwangsläufigen Folge, dass man das „Serviceangebot der Ethiker freundlich zur Kenntnis nehmen“ und im „Ernstfall haargenau“ das machen wird, was man sowieso geplant hat?4 Sind nicht diese Formen von „Bereichsethik“ nur

1. Moral und Ethik in der modernen Gesellschaft

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Hohn und Spott wert? Oder sind sie gefährlich naiv, weil sie einer schlechten Praxis nurmehr einen moralischen Mantel umwerfen? Soziologen wie Luhmann oder der renommierte Wirtschaftsethiker Karl Homann haben immer wieder vor der Inflation normativer Forderungen, vor allen Formen von „Appellitis“ gewarnt. Ihre Polemik richtet sich gegen das wohlfeile Mittel, die Moral gegen die drängenden Probleme ins Feld zu führen. Mit den Worten Homanns: „Als probate Sofortmaßnahme zur Lösung der drängenden Probleme werden Bewußtseinsänderung, Umkehr und die Restitution von Tugend und Moral empfohlen. In der öffentlichen und zum Teil auch wissenschaftlichen Diskussion ist moralische Aufrüstung angesagt, und die Tatsache, daß diese in aller Regel nichts bewirkt, wird als Indiz für das Verderbnis des Zeitalters genommen.“5 Kein Wunder, dass er auch den kirchlichen Verlautbarungen vorhält, völlig unangemessen auf die Herausforderungen der modernen Gesellschaft zu reagieren: Sie glichen, so Homann, dem „Pfeifen im dunklen Wald, wobei man um so lauter pfeift, je weniger man mit der Situation vertraut ist.“6 Und Luhmann fragt sich nicht ganz zu Unrecht, ob etwa Ethik gerade deshalb „als Medizin verschrieben“ wird, „weil sie zwar nicht heilt, aber den Juckreiz der Probleme verringert?“7 Angesichts dieser Sachlage empfiehlt er der Ethik, vor Moral zu warnen. Hinter diesen Polemiken steckt ganz offensichtlich die Annahme, dass Moral vereinfacht, „entdifferenziert“, eine Unmittelbarkeit sucht, die angesichts einer hochkomplexen und undurchschaubar gewordenen Wirklichkeit keine Probleme mehr löst. Gegenüber solcher Skepsis gilt es, den Anspruch von Ethik und Moral ins gesellschaftliche Spiel zu bringen, ja einzufordern. Gegenüber solcher Skepsis muss man darauf hinweisen, dass der illustrierte Ethikboom nicht automatisch und ausschließlich als unsachgemäß qualifiziert werden muss. Er kann nämlich darauf aufmerksam machen, dass mit mehr Effizienz und Sachlogik, mit mehr Markt und Technik allein, wie Luhmann und Homann zu suggerieren scheinen, die Probleme nicht zu lösen sind. Dann wird der Ruf nach Verantwortung als Aufruf interpretierbar, die „Eigendynamiken“ zu bremsen und aufeinander abzustimmen. Zugleich muss die Ethik die gesellschaftlichen Bedingungen ernst nehmen und die gesellschaftlichobjektiven Mechanismen und Strukturen als ethisch relevante Größen wahrnehmen. Sie muss nach dem Ort der Moral in der Gesellschaft fragen und die gesellschaftlichen Strukturen als besondere Bedingungen für die Anwendung von Ethik einkalkulieren. Weil der ethische Anspruch gerade darin besteht, der Moral des Einzelnen Beteili-

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1. Moral und Ethik in der modernen Gesellschaft

gungsmöglichkeiten zu eröffnen, sich als sittliches Subjekt in der Gesellschaft entfalten zu können, muss die Ordnung der Gesellschaft diesem Anspruch entgegenkommen. Keine Frage: Die Konjunktur von Ethik und Moral muss aufhorchen lassen. Sie könnte ihr Ende ankündigen, dann, wenn der Mensch vor den überkomplexen und undurchdringlich scheinenden Verhältnissen kapitulierte, sich mit seinen kleinen, privaten Freiheiten begnügte und ansonsten darauf hoffte, dass alles Andere schon gut gehen möge. Aber diese Ethikkonjunktur könnte auch Ausdruck für eine fortschreitende Selbstkritik der gesellschaftlichen Bereiche sein und dadurch neue Möglichkeiten eröffnen. Einer solch optimistischeren Einschätzung kommen Soziologen wie Ulrich Beck mit ihrer Gesellschaftsanalyse entgegen. „Die Hereinnahme der Unsicherheit in unser Denken und Tun“, so Beck, „kann genau die Verkleinerung der Zwecke, die Langsamkeit, die Revidierbarkeit und Lernfähigkeit, Sorgfalt, Rücksichtnahme, Toleranz, Ironie erringen helfen, die zum Wechsel in eine andere Moderne notwendig sind.“8 Dann käme es zu einer anderen Machtverteilung, anderen Entscheidungsstrukturen, anderer Architektur von Institutionen, einer anderen Technik, einer anderen Wissenschaft, einer anderen Wirtschaftsordnung und veränderter Unternehmensstrukturen. „Alles ein paar Nummern kleiner, langsamer, offener für das Gegenteil, den Gegensatz, die Widerlegung (…).“9 Entmoralisierung der Gesellschaft

Schauen wir noch einmal auf die These von der „Entmoralisierung“ der Gesellschaft. Gemeint ist damit die Vorstellung, dass die moderne Gesellschaft im Prozess ihrer fortschreitenden Differenzierung in einen Zustand gelangt, „wo die Moral als Faktor gesellschaftlicher Integration immer mehr ausfällt.“10 Dann wird der gesellschaftliche Zusammenhalt nur noch über einen Funktionszusammenhang vermittelt, wie ihn die Organisationsform der Teilsysteme der Gesellschaft darstellt. Zwar hat sich die Kraft von Traditionen und Konventionen aufgelöst und eine allgemeine Begründung von Normen unmöglich gemacht. Aber es sind wohl weniger der von vielen beklagte Werteverfall und der Verlust von allgemein verbindlichen Normen, die die Situation der Moral heute kennzeichnen. Trotz aller Rede von der „Pluralisierung“ und „Individualisierung“ ist das zentrale gesellschaftliche Problem für die Ethik die Ausdifferenzierung oder Funktionalisierung der Moral. Luhmann hat Recht, wenn er faktisch eine

1. Moral und Ethik in der modernen Gesellschaft

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weitgehende Entmoralisierung feststellt, auch im Hinblick auf die Erwartungen der Gesellschaft an die Individuen. „Statt persönlicher Moral kommt es darauf an“, so kann man Luhmann zusammenfassen, „daß die Individuen sich am jeweiligen Ort ihrer Tätigkeit in den Subsystemen der Gesellschaft funktionsgerecht verhalten. Was sie sonst tun, bleibt der freien Lebensgestaltung des einzelnen überlassen.“11 Wie schon mehrfach angedeutet besteht die Gefahr darin, dass sich Funktionsbereiche und Lebenswelten der Menschen zu weit voneinander entfernen. Mit der Folge für die Funktionsbereiche, dass die für ihr Funktionieren unabdingbare moralische Motivation, wenigstens ein gewisses Maß an persönlicher Verlässlichkeit, nicht mehr zur Verfügung steht. Mit der Folge für die Lebenswelt, dass sie zu einer privaten, unpolitischen Welt zusammenschrumpft. Das Funktionieren des Gesellschaftssystems insgesamt dürfte jedenfalls in weit höherem Maße, als es der öffentlichen Meinung bewusst ist, „von der moralischen Prägung und Motivation abhängen, die die meisten Individuen aus ihrer Sozialisation, insbesondere aus dem Familienleben ihrer Herkunft mitbringen, gleichgültig, wie die moralischen Verhaltensregeln begründet sind.“12 Man denke nur daran, wie in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise gerade von den Ökonomen der Verlust an Vertrauen, eine urmoralische Kategorie, beklagt wird. Das Problem besteht vor allem darin, dass bestimmte moralische Vorstellungen im Verhältnis zur eigenen Lebensführung und dem zugehörigen gesellschaftlichen Kontext abstrakt bleiben. Zwar ist beispielsweise das Bewusstsein für die Erhaltung der Umwelt heute sehr ausgeprägt. Doch nur wenige Menschen ziehen daraus Konsequenzen für das eigene Verhalten, ganz gleich ob im privaten oder beruflichen Kontext. Also bleibt es dabei: Integration gelingt nur, wenn „moralische Prägung und Motivation“ wieder mehr Platz greifen in den ausdifferenzierten Gesellschaftssystemen. Und die Ethik?

Was heißt das für die Ethik? Welche ist es, die auf diese besonderen gesellschaftlichen Herausforderungen antworten kann? Wie müssen ihre Kategorien beschaffen sein, damit sie nicht als weltfremd und abstrakt oder naiv und kontraproduktiv abgetan werden kann? Zunächst ist jede Ethik Reflexion einer vorausliegenden, kulturell und geschichtlich geprägten sozialen Praxis. Alle Ethikentwürfe reagieren erkennbar auf aktuelle Herausforderungen und versuchen auch konkret Stellung zu nehmen: 1. Was wahr oder falsch, gut oder

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1. Moral und Ethik in der modernen Gesellschaft

böse ist, lässt sich nicht durch Rückgriff auf ein System fester Sätze entscheiden, sondern bedarf der Auseinandersetzung mit unerträglich bedrängenden Lebensverhältnissen. 2. Die moderne Gesellschaft ist durch Merkmale gekennzeichnet, die die Möglichkeitsbedingungen für Moral unterlaufen, Stichwort „Entmoralisierung“. Dieses Phänomen muss die Ethik in ganz besonderer Weise herausfordern. Die Ethik hat dann vor Moral zu warnen, wenn sie Sachfragen vorschnell vereinfacht. Die Ethik hat mehr Moral einzufordern, wenn die Sachfragen keinen Spielraum mehr lassen. Und die „christliche“ Ethik? Was kann sie beitragen zur Lösung dieser Probleme? Zunächst einmal ist sie als ein Teil der soeben geschilderten gesellschaftlichen Lage zu begreifen. Also gilt auch für sie alles das, was ich soeben festgestellt habe über das Verhältnis von Ethik und moderner Gesellschaft. Sofort drängt sich aber die Frage auf, wo und wie denn das Spezifische des Christlichen dieser Ethik zu verorten ist? Die übliche Antwort lautet: Es findet sich auf der Motivationsebene, findet sich dort, wo die Menschen sich herausgefordert fühlen, angesprochen von den Problemen. Es findet sich gerade nicht auf der Sachebene, dort, wo nach Lösungen gesucht wird oder grundlegende Orientierungen formuliert werden. Das heißt, bei der Suche nach und der Gestaltung einer humanen Gesellschaft sitzen alle in einem Boot, Gläubige wie Nichtgläubige. Gleichwohl besteht die Herausforderung für die christliche Ethik darin, die Relevanz des Glaubens für die Gestaltung der Gesellschaft aufzuweisen. Und wenn die Botschaft im Kern lautet, dass es mit den Dingen dieser Welt nicht abgetan ist, dass wir unser Herz nicht an die Logik der Ökonomie hängen sollen, dann hat das sehr wohl Konsequenzen für die Gestaltung der Gesellschaft, über die Ebene der Motivation für das Handeln hinaus. Dann gilt es, diese Botschaft greifbar, sichtbar, eben gestaltbar zu machen. Und die Kirche? Sie ist in diesem Sinne als ein „Biotop der Hoffnung“ (Joachim Gnilka) zu charakterisieren. Die Kirche will mithelfen, die Welt humaner zu machen, indem sie an der Verantwortlichkeit des Menschen festhält. Das kann sie, weil sie eben nicht alles vom Menschen und seiner Leistungsfähigkeit erwartet. Diese ihre Botschaft in allen Lebensbereichen der Gesellschaft spürbar werden zu lassen, ist ihr Anspruch, wohl wissend, dass sie kein Monopol geltend machen kann, sondern mit allen Menschen guten Willens um die je gerechtere Gestalt unserer Welt ringen muss. Dass sie die „hervorragende“ Gestalt dieser Botschaft sein will, verpflichtet sie vielmehr dazu, glaubwürdig zu sein und die Frage nach der Glaubwürdigkeit zielt zugleich auf die eigenen Strukturen.

1. Moral und Ethik in der modernen Gesellschaft

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Mit diesem Versuch einer Ortsbestimmung von christlicher (Sozial-)Ethik sind sicherlich viele Fragen aufgeworfen worden. Diese Einführung in die christliche Sozialethik will versuchen, einige der hier angesprochenen Aspekte aufzugreifen und einer Klärung zuzuführen, wohl wissend, dass diese nur vorläufig erfolgen kann. Außerdem kann es nicht die Aufgabe der Ethik sein, das darf man nicht vergessen, Lösungen für bestimmte Probleme zu liefern oder konkrete Regelwerke aufzustellen. Ihre Aufgabe muss sich auf die Orientierungsfunktion beschränken. In diesem Sinne will diese Einführung für bestimmte Problemstellungen sensibilisieren, normative Grundsätze formulieren und daraus Orientierungshilfen für die richtige Gestaltung der Gesellschaft ableiten. Der Mensch muss seine Freiheit in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft gewinnen, einer Gesellschaft, die sich mit ihren treibenden Kräften vom Einzelnen entfernt hat. Ziel ist es, die Verantwortlichkeit und Beteiligung des Einzelnen, das individuelle sittliche Subjekt, zu stärken – nicht durch Moralappelle, sondern durch entsprechende Institutionalisierungen und Ordnungen, um der Humanität der Gesellschaft willen.

Zusammenfassung Die moderne Gesellschaft ist im Umgang mit Moral und Ethik eigentümlich widersprüchlich: Auf der einen Seite setzt man auf die Spezialisten mit ihrer Sachkompetenz, auf der anderen Seite appelliert man an die Moral, ans Gewissen und Verantwortungsgefühl. Die Ethik muss diese Unsicherheit aufgreifen und sich von der Gesellschaft herausfordern lassen. Die individuelle Moral ist unverzichtbar für eine gerechte Gestaltung der Gesellschaft.

Literatur Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Rede von Niklas Luhmann anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989. Laudatio von Robert Spaemann: Niklas Luhmanns Herausforderung der Philosophie. Frankfurt 1990.

2. Was ist Sozialethik? Bevor wir uns dem besonderen Gegenstand der Sozialethik, der Gesellschaft und ihrem spezifischen Interesse, dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, zuwenden, soll auf eine wichtige Unterscheidung aufmerksam gemacht werden, nämlich die zwischen Moral und Ethik. Unter „Moral“ versteht man üblicherweise einen beschreibend gebrauchten Begriff, der „alle von einem Menschen oder einer Gesellschaft als richtig und wichtig anerkannten Normen und Ideale des guten und richtigen Sichverhaltens“ bezeichnet, einschließlich der „mehr oder weniger vernünftigen Überzeugungen, die es ermöglichen, diesen Normen und Idealen einen ernst zu nehmenden Sinn zu geben, sie zu rechtfertigen oder gegebenenfalls auch kritisch zu modifizieren.“1 „Ethik“ meint demgegenüber eine bestimmte Disziplin, eine „theoretische Reflexion der gelebten Moral, der praktisch vorhandenen und in Geltung stehenden moralischen Überzeugungen. Es ist die Aufgabe der Ethik, unseren moralischen Urteilen (...) auf den Grund zu gehen, d.h. sie auf ihre Verallgemeinerbarkeit, Einsichtigkeit, Triftigkeit und Vereinbarkeit mit unseren übrigen moralischen, aber auch sonstigen Überzeugungen und Urteilsgründen zu untersuchen.“2 2.1 Moderne Gesellschaftstheorie und Ethik Die moderne Gesellschaft setzt die Ethik unter „Revisionsdruck“ (Hans-Joachim Höhn). Die Ethik, das gilt auch für die christliche Ethik, muss, wenn sie heute noch gehört werden will, ihren Geltungsanspruch unter den Plausibilitätsbedingungen der Gegenwart einlösen. Diese Feststellung setzt zweierlei voraus: 1. Ethik ist zu begreifen als eine Reflexion einer vorausliegenden sozialen Praxis. 2. Diese Praxis ist dazu angetan, die Ethik in besonderer Weise herauszufordern. Was kennzeichnet diese Praxis, die unter dem Stichwort „moderne Gesellschaft“ in ihrer objektiven, sozialen Wirklichkeit auf den Begriff gebracht werden soll und wie geht die Ethik mit ihr um? Um diese Frage zu beantworten, ist die sozialethische Debatte auf den Dialog mit den Gesellschaftswissenschaften angewiesen. Was sind die typischen Strukturmerkmale moderner Gesellschaft? Wer sind die Akteure? In modernen Gesellschaften können, so zeigt sich, Ziele wie Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit oder Solidarität nicht

2.1 Moderne Gesellschaftstheorie und Ethik

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schlicht beschlossen und verwirklicht werden, weil Störfaktoren, Gegenbewegungen, Eigendynamiken, Überreaktionen, unbeabsichtigte Nebenfolgen umso wahrscheinlicher sind, je differenzierter und komplexer eine Gesellschaft strukturiert ist. Unter solchen Bedingungen sind Moral und Verantwortungsbewusstsein, überhaupt die Unmittelbarkeit von Wertbezügen, nicht mehr in der Lage, auf die eingangs genannten Probleme wie Umweltverschmutzung oder Arbeitslosigkeit angemessene Antworten zu geben. Zu unsicher ist der Einzelne in seinem Pflichtgefühl, zu unangemessen der moralische Standpunkt angesichts der komplexen Sachverhalte. Den typischsten Ausdruck findet dieses Dilemma, wie gesagt, in der Spannung von Markt und Moral. Dort wo Marktgesetze herrschen, haben Solidarität und Mitgefühl nicht nur keine Chance, sie sind schlicht unsachgemäß, ja kontraproduktiv, weil sie Mitwirkungsmöglichkeiten des Einzelnen suggerieren, die de facto nicht bestehen und Erwartungen wecken, die nicht erfüllt werden können. Und doch verstummen die Moralappelle nicht und offenbaren ein tiefes Unbehagen gegenüber den etablierten, eingespielten Reaktionen, die sich als personferne, abstrakte Mechanismen zeigen und dadurch den Ruf nach Verantwortung regelrecht provozieren. Aber an wen richten sich die Erwartungen? Wer oder was ist nun eigentlich der Adressat? Der Einzelne, die Strukturen, die Ordnung der Gesellschaft? Was sind die richtigen Mittel? Tugenden oder rechtliche Regelungen? Oder doch der Markt? Mit Hilfe der Begriffe Komplexität und Risiko lassen sich die modernitätstypischen Entwicklungen abbilden. Immer mehr gesellschaftliche Bereiche werden als komplex beschrieben. Der Wissensbestand wird immer größer, die technischen Machbarkeiten erstaunlich, die Medien vervielfältigen die Wirklichkeit, die Marktmechanismen sind undurchschaubar, die wechselseitigen Abhängigkeiten, ob gewusst oder nicht, mindestens so vielfältig wie die immer unbestimmter werdenden Einflussfaktoren. Diese überbordende Komplexität müsste alles gesellschaftliche Leben paralysieren, gäbe es nicht bestimmte Mechanismen, die sie wieder auf ein handhabbares Maß reduzieren würden. Der wichtigste Mechanismus ist die Arbeitsteilung oder soziologisch abstrakter ausgedrückt, die funktionale Differenzierung. Das heißt, die Komplexität zwingt zur Auswahl, zur Grenzziehung, zum Ausscheiden von Möglichkeiten. Das Spezialistentum ist eine Folge dieser Zusammenhänge. Also, so könnte man folgern, haben sie alles im Griff. Die Spezialisten durchschauen ihr Sachgebiet und können die Folgen ihres Handelns abschätzen. Dass dem nicht so ist, demonstrieren die

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2. Was ist Sozialethik?

Fachleute schon dadurch selbst, dass sie zu jedem Gutachten ein Gegengutachten finden. Diese Selbstkritik oder Selbstrelativierung führt dazu – das kann man am Beispiel der Wissenschaft demonstrieren –, dass paradoxerweise die Abhängigkeit anderer gesellschaftlicher Bereiche von der Wissenschaft keinesfalls abnimmt. Das Gegenteil ist der Fall: Im Zuge des Prozesses der „Demystifizierung der Wissenschaften“, so der Soziologe Ulrich Beck, wird Wissenschaft „immer notwendiger, zugleich aber auch immer weniger hinreichend für die gesellschaftlich verbindliche Definition von Wahrheit.“3 Wenn sich die Ethik mit diesen Entwicklungen auseinandersetzen will, greift sie vor allem auf zwei „Großtheorien“ von moderner Gesellschaft zurück: die Systemtheorie und die Diskurstheorie. Soziologische Systemtheorie

Die Eigendynamik, ja Eigensinnigkeit sozialer Phänomene hat die soziologische Systemtheorie wie keine andere Gesellschaftstheorie auf den Punkt gebracht. Für Niklas Luhmann, ihren Hauptvertreter, ist die moderne Gesellschaft funktional differenziert. Das bedeutet, dass sie als Ganzes aus „ungleichartigen, aber gleichrangigen Teilen“ zusammengesetzt ist. Luhmann denkt dabei vor allem an Wirtschaft, Politik, Recht, Militär, Wissenschaft, Kunst, Religion, Massenmedien, Erziehung, Gesundheitswesen, Sport, Familie und Intimbeziehungen. Alle diese „Teilsysteme leisten aufgrund ihrer funktionalen Spezialisierung einen anderen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Reproduktion. Gleichrangig sind sie (…) deshalb, weil alle gleichermaßen unverzichtbar für die Reproduktion der modernen Gesellschaft sind und auch keines dabei durch ein anderes ersetzt werden kann. Die Wirtschaft dürfte genauso wenig ausfallen wie die Massenmedien oder das Gesundheitswesen (...).“4 Die klassische Vorstellung von funktionaler Differenzierung, etwa bei den Vätern der Soziologie Emile Durkheim (1858-1917) oder auch Talcott Parsons (1902-1979), fasst diese noch als gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung auf. Jedes Teilsystem trägt das seine zum Erhalt des Ganzen bei, wie der Arbeitnehmer am Fließband. Aber die Koordination der einzelnen Beiträge geschieht bei Luhmann nicht nach einem irgendwie gearteten Plan, sondern eher zufällig, evolutiv.5 Die Entstehung der modernen Gesellschaft ist eben nicht nach dem Muster der Arbeitsteilung zu verstehen, „sondern als spannungsreiches Neben- und Gegeneinander. (…) Was z. B. wirtschaftlich nützlich ist, ist nicht unbedingt auch politisch opportun oder künstlerisch

2.1 Moderne Gesellschaftstheorie und Ethik “6

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wertvoll. Jedes Teilsystem tendiert zur Selbstverabsolutierung und entsprechenden Gleichgültigkeit gegenüber den Belangen anderer Systeme. Oftmals gerät so ein und dasselbe soziale Ereignis unter den Zugriff divergierender Sachlogiken: „Das Kunstwerk kostet Geld oder ist darüber hinaus politisch anstößig, und politische Machtkalküle durchkreuzen wirtschaftliche Investitionspläne.“7 Die Gesellschaft zerfällt regelrecht in die Vielfalt der möglichen Perspektiven, aus denen ein soziales Ereignis beobachtet werden kann. „Ein Zugunglück beispielsweise lässt sich nicht der alleinigen Zuständigkeit eines bestimmten Teilsystems zuordnen, um so gleichsam unsichtbar, nämlich bedeutungslos – im doppelten Sinne des Wortes – für die übrigen Teilsysteme zu bleiben. Sondern das Zugunglück stellt sich als rechtliches, wirtschaftliches, politisches, massenmediales, wissenschaftlich-technisches, medizinisches, gegebenenfalls auch militärisches, pädagogisches oder künstlerisches Geschehen dar – und jedes Mal ganz anders!“8 Wie muss man solche soziologischen Szenarien beurteilen? Viel für sich hat die aus dieser Theorie folgende Vorstellung von der Rücksichtslosigkeit der gesellschaftlichen Bereiche, weil sie aktuelle Probleme wie Umweltverschmutzung oder Arbeitslosigkeit als „Nebenfolgen“ sachrationalen Handelns plausibel machen kann. Ökologiekrise, Arbeitslosigkeit, Technikfolgen, aber auch die Debatte über die Schwäche des Staates lassen sich als unbeabsichtigte Folge eigensinnig ablaufender Systemlogiken interpretieren. Die Politik kümmert sich um Machterhalt und Machtgewinnung und „beobachtet“ alle Probleme unter dieser Perspektive; die Wirtschaft reagiert nur auf das, was sich in Geldform ausdrücken lässt. Was Wunder, dass dann die möglichen Folgen eigenen Handelns für Dritte nicht angemessen in den Blick geraten. Mehr noch: Wenn Probleme auftauchen, können Täter- wie Opferrolle solcher politisch oder wirtschaftlich rationaler Entscheidungen den einzelnen Personen zugewiesen werden: „Menschliches Versagen“, Schwäche, Egoismus sind beliebte Kategorien, Arbeitslosigkeit und Gesundheitsschäden die Opfer, die der Einzelne zu bringen hat. Aber ist es nicht denkbar, dass Nebenfolgen die Sachrationalitäten zum „Umdenken“ nötigen, wie etwa der Individualisierungstheoretiker Ulrich Beck interpretiert? Beck geht davon aus, dass die Krisen oder Probleme die Systeme dazu zwingen, „reflexiv“ zu werden und die möglichen Folgen ihres Handelns besser zu kalkulieren. Dann bekämen Demokratisierung und „Moralisierung“ wieder eine Chance, weil die Logik der Systeme aufgebrochen, „flüssig“, wieder ge-

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2. Was ist Sozialethik?

staltbar werden würde. Das heißt, der Verantwortlichkeit des Einzelnen oder bestimmter Organisationen und Initiativen würden wieder Einflussmöglichkeiten eingeräumt. Alle ausdifferenzierten Bereiche bekämen die Möglichkeit, sich neu zu organisieren. Das klingt zunächst ganz anders als bei Luhmann, für den die Risikokommunikation den Effekt hat, die Teilsysteme noch mehr gegeneinander abzuschließen. Aber in welche Zukunft eine solche reflexive Moderne geht, ist auch für Beck noch einmal völlig offen. Sie kann „Weiterentwicklung oder Gegenmoderne zur Folge haben: Neofaschismus oder ökologische Demokratie; Ökodiktatur, Gewalt, Fundamentalismus oder eine Weiterentwicklung von Demokratie und Aufklärung über die Verkrustungen und Bornierungen der Industriezivilisation hinweg.“9 Demokratie- und Diskurstheorie

Bei den Verselbständigungstendenzen mit ihren Nebenfolgen setzen auch moderne Demokratie- und Diskurstheorien an. Funktionale Differenzierung und die mit ihr einhergehende Anonymisierung der Gesellschaft bedeuten einen Verlust an Beteiligungsmöglichkeiten. Deshalb suchen sie nach einem Gegengewicht gegenüber diesen tendenziell undemokratischen Tendenzen und finden es in vielfältigen Formen und Assoziationen partizipatorischer Demokratie.10 Was bei der Systemtheorie noch von einem eher evolutiv gedachten, hinter dem Rücken der Akteure ablaufenden, gesamtgesellschaftlichen Prozess erwartet wird, ordnet sich nun in den demokratischen, rechtsstaatlichen Prozess ein. Die Folgen mangelnder Systemintegration, so Jürgen Habermas gegen Luhmann, werden gerade vor dem „lebensgeschichtlichen Hintergrund verletzter Interessen und bedrohter Identitäten“11 als lösungsbedürftig erfahren. Nicht zuletzt deshalb bleiben für Politik und Recht zentrale integrative Aufgaben – auch und gerade in hochkomplexen, funktional ausdifferenzierten und anonymisierten Gesellschaften. Sie bleiben, weil Politik und Recht zur Lebenswelt hin geöffnet sind. Politik und Recht benutzen gerade nicht eine Spezial- oder Fachsprache, sondern die gesellschaftsweit kursierende Umgangssprache für die Behandlung gesamtgesellschaftlicher Probleme. Deshalb kann die Integration der Gesellschaft „an der kommunikativen Macht des Staatbürgerpublikums vorbei“12, systempaternalistisch, nicht sinnvoll abgewickelt werden. Das heißt, der Diskurs der Experten muss mit dem demokratischen Meinungsund Willensbildungsprozess rückgekoppelt werden.13 Die heute weit-

2.1 Moderne Gesellschaftstheorie und Ethik

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gehend privatisierte Lebenswelt der Menschen muss ihre kritische Kraft, die ihr aufgrund ihrer Freiheit stiftenden Funktion zukommt, gegenüber Wirtschaft und Bürokratie entfalten können. Dazu dienen Recht und Politik. Für die liberalistisch argumentierende Systemtheorie wird die Freiheit gerade dadurch gesichert, dass man moralische Lebenswelt und rationale Systemwelt strikt trennt. Mit Blick auf unser Rechtssystem kann man sich nun fragen, ob die Diskurstheorie nicht zu optimistisch urteilt. Immerhin wird gerade die Verständlichkeit der Rechtssprache für Jedermann immer wieder eingefordert. Außerdem lässt das Recht doch zu viele Lücken, die nicht nur ein cleverer Geschäftsmann für sich nutzen kann. Auch die Politik wird zu Recht kritisiert, wenn sie beispielsweise vor Wahlen reflexhaft den Bürgern nicht die „harten Wahrheiten“ zumuten will. Und die Experten, man denke nur an die Rolle der Banker und Wirtschaftswissenschaftler in der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise, sind die gefragtesten Politikberater. Immerhin reagiert die Politik auf das Bürgervotum, wenn sie die Managergehälter neu regeln will. Wie auch immer: Die Diskurs- und Demokratietheorien legen den Finger in die Wunde, auch wenn sie dabei die gesellschaftliche Realität nicht immer angemessen abbilden. Letzteres wirft Habermas aber auch der Systemtheorie vor: Sie zeichne ein sehr einseitiges Bild von der Gesellschaft, so als bestünde sie ausschließlich aus selbstreferentiell geschlossenen Systemen. Als ein solches kann er nur die kapitalistische Wirtschaft und die Administration verstehen.14 Insgesamt kann man festhalten, dass die Probleme die Frage nach der Ordnung unserer Gesellschaft aufwerfen. Sie zwingen uns, über die Möglichkeiten der Gestaltung von Gesellschaft neu nachzudenken und zu fragen, welche Rolle Ethik und Moral bei der Bewältigung dieser Probleme überhaupt spielen können. Was kann man von beiden Gesellschaftstheorien, von Systemtheorie und Diskurstheorie, lernen? Kann man die Einsichten der Systemtheorie mit denen der Demokratietheorie so in Verbindung bringen, dass auf der einen Seite die „Härte der Fakten“, die Eigendynamik der gesellschaftlichen Systeme nicht unterschätzt und auf der anderen Seite ihre Freiheit und Wohlstand verbürgende Kraft nicht überschätzt wird? Wie kann man die Idee von einer humanen, von den Menschen zu verantwortenden Gesellschaft retten ohne zugleich ein naiv ideales Bild vom Menschen zu zeichnen? Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Einsicht in die Problematik der Ausdifferenzierung und Privatisierung der Moral für die Gestaltung der Gesellschaft? Soviel kann schon an dieser Stelle angedeutet wer-

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2. Was ist Sozialethik?

den: Es geht um mannigfaltige Vermittlungen, nicht um Einheitsvisionen von Gesellschaft. Gerade weil wir eine Antwort suchen müssen auf eine zunehmende Dezentralisierung der Gesellschaft, weil wir dem Auseinanderfall von Person und Gesellschaft entgegenwirken wollen, kommen vielfältige Formen von gesellschaftlichem Engagement in den Blick. „Zivilgesellschaft“, „systemische Diskurse“, überhaupt „Demokratisierung“ sind nur Stichworte, die die Richtung angeben. Solche Vermittlungen geben der Moral des Einzelnen (wieder) eine Chance. Zusammenfassung Die modernen Gesellschaftstheorien sehen unsere Gesellschaft vor allem geprägt durch Komplexität und Risiko und durch die Nebenfolgen sachlogischen Handelns. Staat und Politik verlieren ihre Steuerungskraft, Beteiligungsmöglichkeiten für die Menschen gehen verloren. Unter solchen Umständen muss nach neuen institutionellen Möglichkeiten gesucht werden.

2.2 „Das Soziale“ – der Gegenstand der Sozialethik Jede Ethik, auch die Sozialethik, muss von einer bestimmten Vorstellung vom Menschen ihren Ausgang nehmen. Ausgangspunkt ist der konkrete Mensch. Und der ist ein soziales Wesen. Er ist abhängig von seinen Mitmenschen, er bedarf einer gemeinsamen Lebenswelt, einer gemeinsamen Kultur, um sein „geistiges Wesen“ entfalten zu können. Schon seine leiblichen Bedürfnisse verbinden ihn mit seinen Mitmenschen und seiner Gesellschaft insgesamt. Diese „Geselligkeit“ geht allerdings mit einer mindestens ebenso ausgeprägten „Ungeselligkeit“ einher, um Immanuel Kants (1724-1804) berühmte Formulierung aufzugreifen.15 Das heißt, seine Sozialnatur hält ihn nicht davon ab, egoistisch zu sein, die Anderen für eigene Zwecke zu missbrauchen. Kant fragt sich, ob es eine Auswirkung von Naturgesetzen im gesellschaftlichen Leben gibt. Als Antwort verweist er auf einen in der Natur des Menschen angelegten Antagonismus, die „ungesellige Geselligkeit“. Die Menschen können nicht umhin, sich zu vergesellschaften, selbst wenn sie sich vereinzeln wollen. „Deshalb sei die Natur gepriesen für die Unverträglichkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die unersättliche Begierde zum Besitz und zur Herrschaft!“16 Aber wohin führt dieser Weg? Kant ist Optimist. Er ist

2.2 „Das Soziale“ – Der Gegenstand der Sozialethik

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davon überzeugt, dass er den Menschen letztlich zur „Bildung einer rechtlichen bürgerlichen Gesellschaft führt, die dem einzelnen Mitglied größte Freiheit gewährt, eine Freiheit, die mit der Freiheit aller anderen nicht kollidiert.“17 Eine List der Natur ist es also, die die Menschen schließlich dazu anhält, eine vernünftige Ordnung zu schaffen. Von einem solchen Antagonismus hatte schon vor Kant Bernard Mandeville (1670-1733) in seiner berühmten Bienenfabel gesprochen18, diesen Gegensatz findet man beinahe zeitgleich auch bei Adam Smith (1723-1790), dem Moralphilosophen und Begründer der klassischen Nationalökonomie, in seinem Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“,19 obwohl beide, anders als Kant, die gesellschaftliche Ordnung weniger als Konsequenz der, wenn auch von der Natur angebahnten, Einsichtsfähigkeit des Menschen interpretieren. Sie setzte sich sowohl bei Mandeville als auch bei Smith hinter dem Rücken der Akteure ungewollt durch. Smith spricht von der „unsichtbaren Hand“, die das Schicksal der Menschheit schließlich zum Guten führen soll. Damit brachten sie eine Entwicklung auf den Weg, die in der Gründung einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mündete, nämlich die der Soziologie. Emile Durkheim war wohl der erste, der sich konsequent der Frage zuwandte, um welche Art von Wirklichkeit es sich denn handele, wenn von der Gesellschaft die Rede sei. Dazu musste er sowohl die physische als auch die psychische Realität von der genuin sozialen abgrenzen. So antwortet er auf die selbst gestellte Frage, was ist ein „soziologischer Tatbestand“ wie folgt: „Man gebraucht ihn hergebrachterweise, um beinahe alle Erscheinungen zu bezeichnen, die sich in der Gesellschaft vollziehen, wenn sie nur ein Mindestmaß an sozialem Interesse mit einer gewissen Allgemeinheit vereinigen. (...) Jedes Individuum trinkt, schläft, ißt, denkt und die Gesellschaft hat alles Interesse daran, daß diese Funktionen regelmäßig vor sich gehen. Wären sie aber soziologische Tatbestände, so gäbe es keinen besonderen Gegenstand der Soziologie (...). In Wahrheit gibt es in jeder Gesellschaft eine fest umgrenzte Gruppe von Erscheinungen, die sich deutlich von all denen unterscheiden, welche die übrigen Naturwissenschaften erforschen. Wenn ich meine Pflichten als Bruder, Gatte oder Bürger erfülle oder wenn ich übernommene Verbindlichkeiten einlöse, so gehorche ich damit Pflichten, die außerhalb meiner Person und der Sphäre meines Willens im Recht und in der Sitte begründet sind. (...) Denn nicht ich habe diese Pflichten geschaffen, ich habe sie vielmehr im Wege der Erziehung übernommen. (...) Daß sie vor ihm (dem Menschen, G.W.) da waren, setzt voraus, daß sie außer-

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2. Was ist Sozialethik?

halb seiner Person existieren. Das Zeichensystem, dessen ich mich bediene, um meine Gedanken auszudrücken, das Münzsystem, in dem ich meine Schulden zahle, die Kreditpapiere, die ich bei meinen geschäftlichen Beziehungen benütze, die Sitten meines Berufes führen ein von dem Gebrauche, den ich von ihnen mache, unabhängiges Leben. (...) Ein soziologischer Tatbestand ist jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt.“20

Auch wenn sofort kritisch eingewendet werden muss, dass man soziologische Tatbestände nicht wie Dinge oder Sachen betrachten kann – zu sehr sind sie eingebunden in die jeweilige Gesellschaft, zu sehr sind sie Produkt sozialer Interaktion –, so bleibt gleichwohl die Einsicht in ihre Unabhängigkeit und ihr Eigenleben. Und doch ist für die meisten Menschen unerschütterlich klar, dass letztlich nur Menschen handeln können, auch wenn man davon spricht, dass der Staat „etwas tut“, die Regierung „handelt“, das Unternehmen „eine Strategie realisiert“.21 Wie hat man sich diese sozialen Einheiten genauer vorzustellen? Offensichtlich ist es die spezifische Operationsweise, die soziale Systeme von Personen unterscheidet. Personen interagieren direkt oder symbolisch, soziale Systeme aber abstrakt-normativ. Durkheim spricht von „Zeichensystemen“, wie etwa dem Geld oder dem Recht. Beispiele dafür, wie wenig es auf der Ebene von Kollektiven und Organisationen auf die Intentionen oder Interessen der beteiligten Individuen ankommt, finden sich zuhauf. Einen eindrucksvollen Anschauungsunterricht bieten die vielfältigen Veränderungsprozesse der ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas. „Reformgruppierungen mit einem ,naiven‘ Politikverständnis, die auf die Wirkung von Personen und individuellen Intentionen setzten, scheiterten in einer schon tragisch anmutenden Weise an der Realität organisierter Interessenvermittlung und systemischer Kommunikation.“22 Die moderne Familie ist ein anderes Beispiel. Auch hier lässt sich zeigen, in welchem Maße dieses „System“ von seinen Individuen unabhängig ist und Gesetzmäßigkeiten gehorcht, denen die meisten Mitglieder einer Familie schlechterdings ausgesetzt sind: die Trennung von Haushalt und Betrieb, die Mobilisierung der Familie, die Emanzipation der Frau. Diese Eigengesetzlichkeit hat bis heute eine besondere Form angenommen. Man nennt sie üblicherweise „moderne Gesellschaft“. Drei ihrer wesentlichen Merkmale sollen an dieser Stelle kurz zusam-

2.2 „Das Soziale“ – Der Gegenstand der Sozialethik

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mengestellt werden: 1. Funktionale Differenzierung, 2. Individualisierung und 3. Globalisierung. 1. Differenzierung

Wesentliches Kennzeichen der modernen Gesellschaft ist die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Subsysteme, die jeweils einen bestimmten Funktionsbereich der Gesellschaft umfassen. Folgende gesellschaftliche Bereiche werden häufig genannt: der ökonomische Bereich, der politisch-rechtliche Bereich, der Bereich des Wissens und Könnens sowie der kulturell-religiöse Bereich.23 Die einen halten sie für historisch kontingent und beliebig und erweitern die Liste je nach gesellschaftlicher Entwicklung, andere verbinden sie eng mit der Definition des Sozialen selbst. Aber gerade der Mechanismus der Arbeitsteilung, Spezialisierung und Professionalisierung zeigt sich als Produkt der Neuzeit. Was ursprünglich als wesentlich zur Natur des Sozialen zugehörig erscheinen konnte, entwickelt sich immer mehr zu einem je ganz bestimmten funktionalen Imperativen gehorchenden Instrumentarium. Dieser Mechanismus ist es, der die hohe Leistungsfähigkeit und Effizienz der modernen Gesellschaft überhaupt plausibel macht. Zugleich ist dafür ein hoher Preis zu entrichten. Weil mehr Leistungsfähigkeit immer auch Komplexitätssteigerung bedeutet, kommt es zu einer Überforderung der gesellschaftlichen Akteure sowie zu zunehmender Intransparenz und Unbeherrschbarkeit der Zusammenhänge. Mit den Worten Ulrich Becks: „Je höher der Grad der Spezialisierung, desto größer die Reichweite, Anzahl und Unkalkulierbarkeit der Nebenfolgen wissenschaftlich-technischen Handelns. (...) Die auf die Spitze getriebene Arbeitsteilung produziert alles: die Nebenfolgen, ihre Unvorhersehbarkeit und die Wirklichkeit, die dieses ,Schicksal‘ unabwendbar erscheinen läßt.“24 Dementsprechend werden etwa dem ökonomischen Sektor wesentliche Krisenerscheinungen der modernen Gesellschaft zugerechnet: An erster Stelle stehen die sozialen Probleme. Wettbewerb und Geld als die bereichsspezifischen Mechanismen „erwarten“ vom Arbeitnehmer Mobilität und zwar nicht nur räumlich gesehen, sondern auch bezogen auf die Arbeitszeit und die Möglichkeit des Arbeitsplatzverlustes. Vom „Abnehmer“ erwarten sie Konsum, sicherlich der wichtigste Faktor, wenn es um die Selbstgenügsamkeit des Systems geht. Konsum hält die Wirtschaft in Bewegung. Der Konsum erzeugt wie-

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2. Was ist Sozialethik?

derum verschiedenste Folgekosten. Sie reichen von Werte- und Bewusstseinsveränderungen bis zu technisch-materiellen Auswirkungen auf die Umwelt. Die Vielfalt der Rollen, die der Einzelne zu übernehmen hat und die ihn zunehmend überfordern, sind das subjektive Pendant zur ausdifferenzierten, hochkomplexen Gesellschaft und zeigen, wie tief die gesellschaftlichen Erwartungen in die Persönlichkeit eindringen.25 Bleiben wir bei dem Beispiel Wirtschaft: Mit dieser Differenzierungsdynamik und der mit ihr einhergehenden Autonomisierung der Wirtschaft, tritt das Vermittlungsproblem von Ethik und Wirtschaft erst auf: Weil aufgrund der fortschreitenden Differenzierung der Gesellschaft die Organisationsform der Teilsysteme die Moral als Faktor gesellschaftlicher Integration abgelöst hat, wird individuelle Moral gesellschaftlich-öffentlich ortlos oder privatisiert – und die Wirtschaft eben autonom. Extrem zeigt sich in diesem Sinne der liberalisierte Kapitalmarkt. 2. Individualisierung

Das aus sozialethischer Sicht gesehene Grundlagenproblem schlechthin ist das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum. Und die Modernisierungstheorien von Max Weber über Emile Durkheim bis Georg Simmel beschreiben den Übergang von traditionalen zu modernen Gesellschaften unter besonderer Berücksichtigung des Schicksals des Individuums. Schon die soziologischen Klassiker sehen hier einen Individualisierungsschub am Werke. Aber die uns heute vertraute Thematik der Individualisierung wurde 1983 in Bamberg von Ulrich Beck angestoßen. „Mit diesem Begriff ist ein Ensemble gesellschaftlicher Entwicklungen und Erfahrungen gemeint, das vor allem durch zwei Bedeutungen gekennzeichnet ist, wobei diese sich (...) immer wieder überschneiden und überlagern (...): Individualisierung meint zum einen die Auflösung vorgegebener sozialer Lebensformen – zum Beispiel das Brüchigwerden von lebensweltlichen Kategorien wie Klasse und Stand, Geschlechtsrollen, Familie, Nachbarschaft usw.; oder auch, wie im Fall der DDR und anderer Ostblockstaaten, der Zusammenbruch staatlich verordneter Normalbiographien, Orientierungsrahmen und Leitbilder. Wo immer solche Auflösungstendenzen sich zeigen, stellt sich zugleich die Frage: Welche neuen Lebensformen entstehen dort, wo die alten, qua Religion, Tradition oder vom Staat zugewiesenen, zerbrechen? Die Antwort, auf die zweite Seite von Individualisierung verweisend, heißt

2.2 „Das Soziale“ – Der Gegenstand der Sozialethik

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schlicht: In der modernen Gesellschaft kommen auf den einzelnen neue institutionelle Anforderungen, Kontrollen und Zwänge zu. Über Arbeitsmarkt, Wohlfahrtsstaat und Bürokratie wird er in Netze von Regelungen, Maßgaben, Anspruchsvoraussetzungen eingebunden. Vom Rentenrecht bis zum Versicherungsschutz, vom Erziehungsgeld bis zu den Steuertarifen: all dies sind institutionelle Vorgaben mit dem besonderen Aufforderungscharakter, ein eigenes Leben zu führen.“26

Individualisierung heißt also nicht beliebige Auswahl unbegrenzt freier Möglichkeiten, sondern vielmehr das Streben nach Autonomie unter den Bedingungen neuer, durch die ausdifferenzierte Gesellschaft hervorgebrachter Zwänge. So kann eine solche „Bastelbiographie“ durchaus schnell zur „Bruchbiographie“ werden: „Ich kann nicht langfristig auf meinen Arbeitsplatz, meinen Beruf, ja nicht einmal auf meine eigenen Fähigkeiten bauen; ich kann darauf wetten, daß mein Arbeitsplatz wegrationalisiert wird, daß mein Beruf sich bis zur Unkenntlichkeit verändert, daß meine Fähigkeiten nicht länger gefragt sind.“27 Der Schriftsteller Gottfried Benn (1886-1956) hat diese „artistische Zivilisationslage“ treffend so beschrieben: „Denn meiner Meinung nach fängt die Geschichte des Menschen heute erst an, seine Gefährdung, seine Tragödie. Bisher standen noch die Altäre der Heiligen und die Flügel der Erzengel hinter ihm, aus Kelchen und Taufbecken rann es über seine Schwächen und Wunden. Jetzt beginnt die Serie der großen unlösbaren Verhängnisse seiner selbst (...).“28 3. Globalisierung

Das Wort Globalisierung gehört zu den Zauberworten, wenn es um die Legitimation ökonomischer Entscheidungen geht. Fällt das Wort, erübrigt sich jede weitere Suche nach Gründen, um sachgemäße, d.h. wirtschaftlich rationale Entscheidungen zu rechtfertigen. Nicht ich, der Manager oder Unternehmer, entscheide, sondern der Zwang der globalen Verhältnisse. Der britische Soziologe Anthony Giddens gehört sicherlich zu den Autoren, die der globalen Dimension des Sozialen besondere Beachtung schenken. So heißt es bei ihm: „Definieren läßt sich der Begriff der Globalisierung demnach im Sinne einer Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen, durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, daß Ereignisse am einen Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen und umgekehrt.“29 Und weiter: „Worum es bei Globalisierung eigentlich geht, ist die

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2. Was ist Sozialethik?

Umwandlung von Raum und Zeit. Ich würde sie als Handeln auf Entfernung definieren und ihre Intensivierung in den letzten Jahren auf die Entwicklung von extrem schnellen globalen Kommunikations- und Massenverkehrsmitteln zurückführen.“30 Die Globalisierung greift in die konkrete Lebenswelt ein und beeinflusst die persönlichen Erfahrungskontexte. „Immer stärker werden unsere Alltagsaktivitäten von Ereignissen beeinflußt, die sich auf der anderen Seite der Welt abspielen. Umgekehrt sind lokale Lebensstile global folgenreich geworden. So wirkt sich meine Entscheidung für den Kauf eines bestimmten Kleidungsstücks nicht nur auf die internationale Arbeitsteilung aus, sondern auch auf die Ökosysteme der Erde.“31 Für die Wirtschaft bedeutet Globalisierung zunächst den zunehmenden Bedeutungsverlust nationaler Grenzen für wirtschaftliche Entscheidungen und Prozesse (Investition, Produktion, Angebot und Nachfrage, Finanzierung). Dies bezieht sich auch auf die Arbeitsmärkte. Dadurch wird zugleich die wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit der Völker und der Volkswirtschaften voneinander verstärkt, die Verletzbarkeit wächst – allerdings mit erheblichen Asymmetrien. Die Spielräume für die nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik werden durch den Prozess der Globalisierung beziehungsweise durch die enger werdende Verflechtung der Volkswirtschaften untereinander geringer. Zugleich steigen die Anforderungen an die internationale Kooperation und Koordination der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Der immer schwächer werdende nationale Staat ist auf globale Vereinbarungen (GATT, G8 u. a.) angewiesen, um die Ökonomie in regulierte Bahnen zu lenken oder um nationale Regulationen, die als schädlich erkannt werden, abzubauen (etwa der Protektionismus der Industrienationen gegenüber Dritte-Welt-Ländern). Globalisierung verlangt politische Gestaltungsverantwortung, etwa in der Festlegung sozialer und ökologischer Standards. Dabei wächst den wohlhabenden Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland eine Vorreiterrolle zu. Sie haben Umweltschutzmaßnahmen und sozial notwendige Absicherungen zuerst einzuführen, um Preise und Anforderungen international zu beeinflussen.32 Mit anderen Worten: Die Globalisierung hat die Frage nach der Möglichkeit von politischer Gestaltung neu aufgeworfen. Alte Grenzen und Zuordnungen lösen sich auf, alte Kräfte wie die Wirtschaft werden entfesselt, neue Ordnungen müssen gefunden werden.

2.3 Person und Institution

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Vier strukturelle Ebenen

Neben der Suche nach charakteristischen Merkmalen unserer Gesellschaft ist es im Rahmen der soziologischen Gesellschaftsanalyse üblich, die soziale Realität noch einmal in vier strukturelle Ebenen zu unterteilen. 1. Die Ebene kultureller Deutungsmuster. Diese implizieren vor allem die Werte, Normen, Institutionen und Denkweisen, denen aufeinanderfolgende Generationen einer gegebenen Gesellschaft primäre Bedeutung beigemessen haben. Samuel Huntingtons Kulturkreise33, die in beträchtlichem Umfang von Religionen wie dem Christentum und dem Islam geprägt sind, wären ein Beispiel hierfür. 2. Die Ebene gesellschaftlicher Funktionsbereiche. Niklas Luhmanns „Systeme“, vor allem Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Recht, Massenmedien, die als soziologische Größen mit dem Wegfall der nationalen Grenzen in den Vordergrund gerückt und durch eine ausgeprägte Eigenlogik gekennzeichnet sind, sind hier gemeint. 3. Die Ebene formaler Organisationen. Nach James Coleman sind nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche formal-bürokratisch organisiert, Unternehmen, Schulen, Krankenhäuser, Gerichte und vieles mehr. 4. Die Ebene individueller Akteure. Die Annahme, dass die Einzelnen nicht vollständig gesellschaftlich determiniert sind, sondern in gesellschaftliche Prozesse eingreifen können, findet sich durchaus auch in soziologischen Gegenwartsdiagnosen. Man denke etwa an die These von der Erlebnisgesellschaft bei Gerhard Schulze oder an Amitai Etzioni und die „Kommunitarier“, die die Bedeutung der Gemeinschaft für den Einzelnen hervorgehoben haben.34 Zusammenfassung Der Gegenstand der Sozialethik, „das Soziale“, hat einen besonderen Charakter. Personen interagieren unmittelbar, soziale Systeme abstrakt-normativ. Das Soziale tritt dem Einzelnen gegenüber. Die Intentionen und Interessen des Einzelnen spielen kaum eine Rolle. Er ist eher Opfer als Gestalter der gesellschaftlichen Prozesse.

2.3 Person und Institution Wir sind auf der Suche nach der Natur des Sozialen und müssen feststellen, dass uns diese Suche immer wieder auf den Einzelnen, die individuelle Person stoßen lässt. Wie könnte es anders sein,

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2. Was ist Sozialethik?

schließlich beobachten wir die Gesellschaft notwendig als das Andere unserer Selbst. Und wir richten unsere bewertende Referenz auf das Individuum, das gerade im Zuge des Prozesses der Modernisierung aber eher als Opfer ansichtig wird. So urteilt auch die Mehrzahl der Gesellschaftsdiagnostiker: „Es überwiegt eine Bewertung, die eine mehr oder weniger gravierende Negativbilanz der gesellschaftlichen Zustände und Tendenzen für die ,Lebenschancen‘ der einzelnen Gesellschaftsmitglieder verzeichnet.“35 Warum ist das so? Welche Bedeutung hat die Gesellschaft mit ihren Normen, Institutionen und Ordnungen für den Einzelnen? Wie lässt sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von Person und Institution bestimmen? Es begann schon Ende des 17. Jahrhunderts, als John Locke (16321704), der englische Empirist, mit Blick auf die sich formierende bürgerliche Gesellschaft bemerkte: „Wir sind alle eine Art Chamäleon und nehmen die Farbe der Dinge an, die in unserer Nähe sind.“36 Damit bahnte sich eine Entwicklung an, die schließlich in Karl Marx (1818-1883) berühmter 6. These über Feuerbach ihre extreme Ausformulierung gefunden hat: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“37 Die Aufklärung des Menschen über sich selbst führte in seinem emanzipatorischen Interesse zur Einsicht in die soziale Bestimmtheit des Menschen. In der Weiterentwicklung der bürgerlichen Gesellschaft trat zunehmend die Spannung, ja der Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft hervor. Man denke etwa an die typisch moderne Problematik der Identitätsfindung. Der Anspruch auf Autonomie und Freiheit trifft auf eine Vielfalt an gesellschaftlich-kulturellen Angeboten und auf sich verselbständigende soziale Anforderungen, zu denen er sich nur verhalten, die er aber kaum verändern kann. Auch für Sigmund Freud (1856-1939), den Begründer der Psychoanalyse, spielte die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft eine ganz besondere Rolle. So heißt es in seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ von 1930: Der Mensch möchte in seinem Leben glücklich werden (Lustprinzip), und gerade dieses Programm ist „im Hader mit der ganzen Welt“38. Dem Glück stehe das Leid entgegen. Es komme, so Freud, aus der „Übermacht der Natur“, der „Hinfälligkeit unseres eigenen Körpers“ und habe doch auch eine soziale Quelle, nämlich die Unzulänglichkeit der Einrichtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regelten. Die Psychoanalyse hat wie kaum eine andere Wissenschaft bewusst zu machen versucht, dass soziales Leid den

2.3 Person und Institution

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Menschen sprachlos machen kann, so dass er es endlich nur noch erleiden, jedoch nicht mehr erkennen, geschweige denn verändern kann. Der Soziologe Georg Simmel (1858-1919) hat diesen Widerstreit, diese Spannung als das grundlegende Motiv aller Prozesse bezeichnet, die sich zwischen einer sozialen Einheit, sei sie politischer, religiöser, familiärer, wirtschaftlicher, geselliger oder sonstiger Natur, und seinen Individuen abspielen. „Das Individuum begehrt, ein geschlossenes Ganzes zu sein, eine Gestaltung mit eigenem Zentrum, von dem aus alle Elemente seines Seins und Tuns einen einheitlichen, aufeinander bezüglichen Sinn erhalten. Soll dagegen das überindividuelle Ganze in sich abgerundet sein, soll es mit selbstgenügsamer Bedeutsamkeit eine eigene objektive Idee verwirklichen –, so kann es jene Abrundung seiner Glieder nicht zulassen.“39 Am Beispiel der Arbeitsteilung versucht er zu zeigen, wie die Veränderung gesellschaftlich-objektiver Strukturen auch ihre subjektive Bedeutsamkeit beeinflusst. Die Arbeitsteilung, so Simmel, löst die „subjektive Färbung des Produkts auch nach der Seite des Konsumenten hin“ auf, „schon weil der Abnehmer sich mit einem Produzenten, nicht jedoch mit vielen Teilarbeitern in Verbindung setzen könne.“40 Der Gesamtcharakter des Warenverkehrs ändert sich, objektiviert sich, die Subjektivität schlägt um in kühle Reserviertheit und Anonymität, weil so viele Zwischeninstanzen den Einzelnen aus dem Blickfeld geraten lassen. Aber diese neue Fremdheit bedeutet nicht nur Distanz und Anonymität, sondern auch eine Erweiterung individueller Freiheit. Gerade weil der mit Geld wirtschaftende Mensch von unvergleichlich mehr Menschen abhängig ist, ist er frei – weil er vom Einzelnen unabhängiger ist. Für Marx handelt es sich dabei um „Entfremdung“, für Simmel aber um eine „doppelte Möglichkeit“, um eine Ambivalenz in den subjektiven Formbestimmtheiten sozialen Handelns. Mit dieser Verhältnisbestimmung von Gesellschaft und Individuum hat Simmel die Individualisierungsthese in gewisser Weise vorweggenommen. Allerdings wird, etwa bei dem „Individualisierungstheoretiker“ Ulrich Beck, die durch die Strukturänderung miteröffnete individuelle Freiheit, wie schon bei Marx oder Freud, eher skeptisch gesehen: Für ihn gehen Individualisierung und Abhängigkeit heute Hand in Hand. Mit dem Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft, von der statischen, integrierten Gesellschaft zur freiheitlichen, vernunftorientierten Gesellschaft lösen sich regionale Bindungen und traditionale Lebenszusammenhänge auf. Aber „an die Stelle traditionaler Bindungen und Sozialformen (so-

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2. Was ist Sozialethik?

ziale Klasse, Kleinfamilie) treten sekundäre Instanzen und Institutionen, die den Lebenslauf des einzelnen prägen und ihn gegenläufig zu der individuellen Verfügung, die sich als Bewußtseinsform durchsetzt, zum Spielball von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und Märkten machen.“41 Konkurrenzdruck fördert via Vereinzelung die Austauschbarkeit und setzt den Zwang frei, „diese Austauschbarkeit durch Betonung und Inszenierung der Besonderheit, Einmaligkeit und Individualität der eigenen Leistung und Person zu unterlaufen und zu minimieren.“42 Auch das Fernsehen „vereinzelt und standardisiert“ zugleich. „Es löst die Menschen einerseits aus traditional geprägten und gebundenen Gesprächs-, Erfahrungs- und Lebenszusammenhängen heraus. Zugleich befinden sich aber alle in einer ähnlichen Situation: Sie konsumieren institutionell fabrizierte Fernsehprogramme (...). Die Individualisierung – genauer: Herauslösung aus traditionalen Lebenszusammenhängen – geht einher mit einer Vereinheitlichung und Standardisierung der Existenzformen. Jeder sitzt selbst innerhalb der Familie vereinzelt vor der Flimmerkiste.“43 Diese Gesellschaftsdiagnose geht davon aus, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse tief ins Individuum eingegraben haben. Aber verbleibt nicht doch ein Rest? Muss der Modernisierungsprozess so absolut gedacht werden? Muss man nicht doch annehmen, dass auch im individualisierten Menschen etwas glücklich überlebt hat gegenüber dem herrschenden System? Bleibt nicht, ganz gleich wie weitgehend man die Verschränkung von Individuum und Gesellschaft auch denken mag, eine letzte Unverfügbarkeit im Drang nach Selbstverwirklichung, nach Erfüllung des eigenen Glücksverlangens lebendig? Haben nicht doch diejenigen Recht, die angesichts menschlicher Ohnmacht nach Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse rufen? Statt, aus der Not eine Tugend machend, den Menschen zu raten, sich um ihrer Schwäche willen mit den gegebenen Institutionen abzufinden, sich zu fügen? Letztere Position findet sich in der Tradition der philosophischen Anthropologie eines Arnold Gehlen (19041976), die gerade heute weit verbreitet zu sein scheint. Man denke nur an die liberalistischen, systemtheoretischen Optionen eines Niklas Luhmann, der die gesellschaftlichen Kräfte und Mächte gegenüber den moralischen Ansprüchen des Einzelnen möglichst frei setzen will, gerade weil der Mensch als Person begrenzt und schwach ist. Die hier zu vertretende sozialethische Option will demgegenüber die Gesellschaft so verändert wissen, dass sie dem konkreten Menschen mit seinen (Un-)Möglichkeiten gleichsam entgegenkommt,

2.4 Individual- und Sozialethik

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sein Verantwortungsbewusstsein einbezieht, statt möglichst darauf zu verzichten. Sie weiß um die Notwendigkeit, die Autonomie des Menschen zu fördern, solange sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ins Individuum hinein fortsetzen, solange Ohnmacht vorherrscht. Ihr geht es letztlich darum, soziale, politische, ökonomische und kulturelle Strukturen zu etablieren, „in denen autonome Personen heranreifen, leben und sich entfalten können.“44 Der Drang nach Selbstverwirklichung findet sich dabei nicht nur im rationalen Diskurs, sondern auch in der Phantasie, in der Sinnlichkeit, in der Tradition beheimatet. Diese Feststellung gilt umso mehr, je vollständiger alle Lebensbereiche von rationaler Durchdringung betroffen sind. Sinnlichkeit und Phantasie stehen in diesem Sinne für das Nicht-Machbare und -Planbare, für das Nicht-Objektivierbare, das sich die Vernunft nicht einfach unterwerfen darf. Diese Andeutungen, denen hier nicht nachgegangen werden kann, verweisen in Richtung eigener kulturethischer Reflexionen. Zusammenfassung Person und Gesellschaft stehen in einem besonderen Verhältnis zueinander. Auf der einen Seite bedeutet die typisch moderne arbeitsteilige und warenförmige Gesellschaft Distanz und Anonymität für den Einzelnen, auf der anderen Seite aber auch eine Erweiterung seiner individuellen Freiheit.

2.4 Individual- und Sozialethik Nicht allein die Hinordnung des Menschen auf ein Leben in Gesellschaft als Bedingung der Möglichkeit seiner Entfaltung verlangt nach entsprechenden sozialen Regelungen und Institutionen. Erst mit der Neuzeit wird dem Menschen bewusst, dass er für eben diese Regelungen verantwortlich ist. Aber mit der zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft wird dieses Bewusstsein noch einmal eigentümlich widersprüchlich: Die überall behauptete Selbstzwecklichkeit und Autonomie des Menschen stellt in der politischen und gesellschaftlichen Realität keine mehr dar. Zu stark scheinen die vielfältigen Abhängigkeiten, gerade im Zuge wissenschaftlich-technischer und politisch-ökonomischer Instrumentalisierung. Die Ethik muss sich dieser Herausforderung stellen und nach Antworten suchen. Sie kann aus dieser Not keine Tugend machen und

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2. Was ist Sozialethik?

mit Niklas Luhmann vor Moral warnen wollen. Eine Antwort ist die Unterscheidung zwischen Individual- und Sozialethik. Der Gegenstandsbereich der Sozialethik ist nun nicht mehr das gute Leben des Einzelnen, sind nicht mehr die Tugenden, sondern „das Soziale“, all die Ordnungen und Institutionen, die menschliches Handeln normieren und sich der Verfügung durch den Einzelnen, seinem unmittelbaren sittlichen Gestaltungswillen entziehen. Was ist die sittliche Form dieser Ordnungen, was qualifiziert sie als gerechte – das fragt die Sozialethik. Indem sie so fragt, kommt sie der Individualethik gleichsam entgegen. Denn das sozialethische Grundlagenproblem schlechthin ist die Spannung zwischen dem Anspruch des Sittlichen, dessen Verbindlichkeit sich an den Menschen als freies Vernunftwesen richtet, und den sozialen Ordnungen und Institutionen, die sich in ihrer organisationsförmigen Realität, in ihrer „Selbstgenügsamkeit“ diesem Anspruch entziehen. Ziel ist es, das moralische Subjekt zu retten und dem Einzelnen die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Die Institutionen und Ordnungen sind so zu gestalten, dass sie die Verantwortlichkeit des Einzelnen ermöglichen und unterstützen. Nicht die Dispensierung individueller Verantwortlichkeit, sondern ihre Ermöglichung ist das zentrale Interesse der Sozialethik. Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Recht und Technik, aber auch Familie, Bildung und Kultur müssen als soziale Orte begriffen werden, die die verantwortliche Freiheit des Menschen herausfordern und unterstützen. Eine Wirtschaft, Politik, oder Bildung, die sich nur auf Kosten-Nutzen-Kalkulation, Machterhalt und Wissensvermittlung konzentrierten, die für ihr Funktionieren auf das Verantwortungsgefühl der Manager, der Politiker, der Eltern und Lehrer verzichteten, wären im wahrsten Sinne des Wortes inhuman. Wende zum Subjekt

Ein Blick zurück kann zeigen, dass das Verhältnis zwischen Einzelnem und Gemeinschaft, das dieser Zuordnung von Individual- und Sozialethik zugrunde liegt, im Laufe der Geschichte einen Wandel durchgemacht hat. In Antike und Mittelalter findet der Mensch sein gutes Leben, indem er sich in das ihm vorgegebene Gemeinwesen einordnet. Das Ganze hat Vorrang vor dem Teil. Die Tugenden haben die Aufgabe, den Menschen in die kollektive Ordnung einzufügen. Im Mittelalter gilt diese Ordnung für Kirche wie Welt als vorgegeben, fraglos gültig, nicht als menschlicher Entwurf, der Verantwortung des Menschen aufgegeben. Mit der Wende zur Neuzeit ändert sich die

2.4 Individual- und Sozialethik

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Konstellation. Hauptverantwortlich, so die übliche Deutung, sind zum einen die Religionskriege und zum anderen die „Wende zum Subjekt“. Da also offensichtlich die Religion nicht mehr imstande ist, die friedliche Integration der Gesellschaft zu gewährleisten, muss man die Fundamente für politisches Handeln und die politische Organisation des Gemeinwesens woanders suchen. Und man findet sie zum einen in der naturwissenschaftlich zu beschreibenden Natur und zum anderen in der menschlichen Vernunft. Nach verschiedenen Vorläufern steht Immanuel Kant für eine Zuordnung von gutem Leben und Gemeinwesen, die bis heute ihre prägende Kraft nicht verloren hat. Was als gutes und gelingendes Leben gelten soll, wird dem Einzelnen und seiner Freiheit überlassen, und die für das Gelingen notwendigen strukturellen Bedingungen sichert das Recht. „Einerseits sind Gesetze zu schaffen, die sanktionsbewert sind und mit Zwangsmitteln bzw. deren Androhung einen befriedeten gesellschaftlichen Raum eröffnen, in dem jede Person ihren moralischen Selbstentwurf betreiben und verfolgen kann. Andererseits sollen diese Personen sich zu einem ethischen Gemeinwesen zusammenschließen, das die Moralität in der Welt zur Darstellung kommen läßt.“45 Das Gemeinwesen hat schließlich die Aufgabe, die Einzelnen bei ihrer „Moralisierung“ zu unterstützen. Allerdings ist dieser Entwurf einer liberalen Gesellschaftsethik nicht unumstritten geblieben. Zu nennen wäre beispielhaft die politische Philosophie des sogenannten „Kommunitarismus“, der vor einer Formalisierung des Gemeinwesens gewarnt hat und die Aufmerksamkeit auf materiale Bedingungen, auf positive und konkrete Freiheit gelenkt hat.46 Der Mensch braucht bestimmte Vorgaben, um sich entfalten zu können, braucht Tradition, Familie und Religion. Deshalb reicht es nicht aus, den Staat auf die Sicherung individueller Freiheit zu verpflichten. Er muss die Möglichkeit der Entwicklung „kultureller Identitäten“ gezielt fördern. Wie dem auch sei, die ethische Frage lautet jetzt nicht mehr: Wie muss das Verhalten des Einzelnen beschaffen sein, um den gegebenen Strukturen zu entsprechen? Sie lautet: Wie müssen diese Strukturen beschaffen sein, damit sie die Entfaltung des Menschen, seine Freiheit ermöglichen und fördern?47 Damit erweisen sich, wenn man so zuordnen will, Antike und Mittelalter als „Zeitalter der Individualethik“ und die Neuzeit als „Zeitalter der Sozialethik“ – weil die Strukturen erst in der Neuzeit zu einem ethisch relevanten Thema geworden sind.48 Wie die eingangs dargestellten Gesellschaftsdiagnosen zeigen können, geraten wir in ein Dilemma, weil die moderne Gesellschaft so

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2. Was ist Sozialethik?

wenig steuerbar scheint. Wie immer man dieses Phänomen einschätzen mag, aus ethischer Sicht ist an der Gestaltbarkeit der Gesellschaft festzuhalten. Personen und einzelne Gruppen gestalten Gesellschaft unter bestimmten Bedingungen. Die jeweilige Gestalt von Gesellschaft entsteht aus der Interaktion aller beteiligten Personen – trotz der Widerständigkeit und bleibenden Vorgegebenheit geschichtlichen und sozialen Geschehens und trotz der Tatsache, dass Entscheidungen des Einzelnen die gemeinsame Welt in undurchschaubarer Weise beeinflussen und umgekehrt.49 Individual- und Sozialethik?

Das heißt, „subjektive“ und „objektive“ Ebene interagieren, nicht nur die einzelnen Personen untereinander. Diese Interaktion vollzieht sich zwischen den einzelnen Subjekten und der gesellschaftlichen Praxis. Das heißt, das als ethisch positiv zu qualifizierende Handeln eines Einzelnen kann gar nicht anders als auf die ethische Qualität der Gesamtordnung positiven Einfluss zu nehmen. Und umgekehrt nimmt die positive ethische Qualität einer bestimmten Interaktionsordnung Einfluss auf die ethische Qualität des Handelns jedes einzelnen Mitglieds.50 Für den evangelischen Theologen Eilert Herms ist Ethik „in concreto“ immer Sozialethik, weil die einzelnen Personen gar nicht anders können als zu interagieren und dadurch zwangsläufig auf die bestehende gesellschaftliche Ordnung Einfluss zu nehmen. Aber wäre es nicht plausibler, die Ethik als Individualethik zu verstehen, wenn die Gesellschaft als Produkt der Handlungen einzelner Personen angesehen wird? Dann kommt es doch auf die Gesinnung des Einzelnen an, die seine Entscheidungen leitet. Werden so die sozialen Umstände nicht nur als Randbedingungen individuellen Entscheidens einkalkuliert? Diese Möglichkeit würde aber den „harten Fakten“ gesellschaftlicher Wirklichkeit nicht gerecht, die vom Einzelnen nur schwer verändert werden können. Ich gehe davon aus, dass eine Trennung von Individual- und Sozialethik notwendig ist, gerade unter modernen Bedingungen. Der Mensch ist Träger, Schöpfer und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen, so drückt es die katholische Soziallehre aus, und zwar der Mensch nicht als Gattungswesen verstanden, sondern als konkrete individuelle Person, die nur in Gemeinschaft gedacht werden kann. Das Ziel ist es, die gesellschaftlichen Einrichtungen so zu gestalten, dass er tatsächlich ihr „Träger, Schöpfer, Ziel“ sein kann. Aber warum diese Trennung von Sozial- und Individualethik, wenn alles darauf ankommt, dem Einzelnen Mitwirkungsmöglich-

2.4 Individual- und Sozialethik

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keiten zu eröffnen? Solange die Spannung zwischen Person und Gesellschaft nicht aufgehoben ist, der Einzelne nicht in einer Gesellschaft lebt, die ihn tatsächlich frei zu sich selbst kommen lässt, solange ist diese begriffliche Unterscheidung zwischen Individualund Sozialethik unverzichtbar. Das ist so, weil sie mit dem Wissen um die je eigene Wirklichkeitsform von Individuum und Gesellschaft zugleich die Kritik an den bestehenden Verhältnis möglich macht, Individuum und Gesellschaft kritisch aufeinander beziehen lässt. Solange noch Hoffnung und Sehnsucht nach einem geglückten Leben lebendig sind, solange wir ahnen, dass es mit den Dingen dieser Welt nicht abgetan ist, solange müssen wir von einem Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft ausgehen und ihn konstruktiv werden lassen: als Aufruf zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse. Übrigens wäre diese Unterscheidung auch dann verzichtbar, wenn der Einzelne nur als Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse angesehen würde. Wie können wir aber wissen, was richtig und was falsch ist, wenn die Bedingungen unseres Handelns so komplex und undurchschaubar sind? Man denke nur an die typischen Strukturen unserer modernen Gesellschaft und daran, dass der je Andere für mich unergründlich bleibt. Wie können wir unter solchen Umständen überhaupt handeln? Denn jede Handlung geht doch von einer Handlungsfähigkeit aus, die wiederum auf handlungsleitende Gewissheiten zurückgehen muss. Für Eilert Herms liegen jeder alltäglichen Handlung zwei derartige Gewissheiten zugrunde: technisch orientierende und ethisch orientierende. Die technischen Gewissheiten beziehen sich auf das Wissen, die ethischen auf die unhintergehbaren Bedingungen von Interaktion selbst: nämlich die Unterstellung von „selbstbewusst-freier Wahl“ aller Beteiligten, von gegenseitiger Anerkennung der Personen, von „Verständigung über Sinn und Konsequenz solcher Anerkennung“.51 Über diese Gewissheiten können in einem Verständigungsprozess durchaus zuverlässige Einsichten gewonnen werden. Wenn diese Bestimmung für alles Handeln und Entscheiden gilt, dann auch für die Funktionsträger in Wirtschaft und Politik, also für alle systemischen Vollzüge. An der Möglichkeit, solche Gewissheiten zu gewinnen, muss, um der Gestaltbarkeit der Gesellschaft willen, festgehalten werden. Zusammenfassend lassen sich Individual- und Sozialethik wie folgt unterscheiden: Die Individualethik erörtert Praxis insofern, als Praxis individuellen Personen zugeordnet und auf deren persönliche Verantwortung bezogen werden kann. Es geht darum, Motive, Einstellungen,

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2. Was ist Sozialethik?

Haltungen von Personen moralisch zu beurteilen. Der Sozialethik geht es um die moralische Bewertung des Sozialen, also jener institutionellen Gebilde, zu denen sich Interaktionen verdichtet und verfestigt haben. Sind gegebene Institutionen gerecht, so lautet die zentrale Frage. Dabei ist zu beachten, dass der jeweilige Zustand der Institutionen nicht ohne weiteres auf die persönliche Verantwortung des Einzelnen zugerechnet werden kann – gleichwohl werden die sozialen Gebilde als grundsätzlich veränderbar und gestaltbar angesehen. Was das Verhältnis von Sozial- und Individualethik betrifft, so muss man sowohl vor einer Reduktion der Sozialethik auf die Individualethik warnen – dann, wenn das Soziale nur als die Summe individueller Wechselwirkungen angesehen wird – als auch vor einer Reduktion der Individualethik auf die Sozialethik – dann, wenn man glaubt, die persönliche Verantwortung ausblenden zu können.

Zusammenfassung Als Reaktion auf die Herausforderungen der modernen Gesellschaft hat die Ethik zwischen Individual- und Sozialethik unterschieden. Der Sozialethik geht es um die Strukturen und Institutionen der Gesellschaft und um ihre Bewertung. Es geht ihr nicht um Tugenden und Haltungen als solche. Die Institutionen müssen sich daran messen lassen, inwiefern sie den Einzelnen als Subjekt ernst nehmen und präsent halten.

Literatur Kaufmann, F.-X.: Der Ruf nach Verantwortung. Risiko und Ethik in einer unüberschaubaren Welt. Freiburg 1992. Pannenberg, W.: Grundlagen der Ethik. Philosophisch-theologische Perspektiven. Göttingen 1996. Reese-Schäfer, W.: Grenzgötter der Moral. Der neue europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik. Frankfurt 1997, 111-172 u. 568-597.

3. Das Besondere christlicher Sozialethik Das Grundlagenproblem aller Sozialethik ist die Spannung zwischen dem Anspruch des Sittlichen, dessen Verbindlichkeit sich an den Menschen als freies Vernunftwesen richtet, und den sozialen Ordnungen und Institutionen, die sich in ihrer organisationsförmigen Realität, in ihrer „Selbstgenügsamkeit“, diesem Anspruch entziehen. Wobei man mit einer tiefen Ambivalenz rechnen muss: Die Distanz der Ordnungen und Institutionen zum Einzelnen ist nämlich auch als Raum für Freiheit zu verstehen, gerade weil sie keine Totalidentifikation des Individuums mit ihnen verlangt. Entkommen kann der Mensch diesen Spannungen nicht, weil er als soziales Wesen auf solche Formen von Vergemeinschaftung angewiesen ist. Wie auch immer: Ziel ist es, das moralische Subjekt zu stärken, dem Einzelnen die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und die Gesellschaft in diesem Sinne zu gestalten. Genau diese Problematik ist es, die die christliche Sozialethik herausfordert, herausfordern muss, wenn sie heute ernst genommen werden will. Kann der mit dem christlichen Glauben wesentlich verbundene Unbedingtheitsanspruch der Heilszusage Gottes zur Bewältigung dieses Problems beitragen? Dieser Frage soll nun nachgegangen werden. 3.1 „Christliche“ Sozialethik – Orientierungshilfen Wenn man recht unvermittelt nach dem Verhältnis von christlichem Glauben und Wirtschaft oder Politik fragt, so wird man vermutlich Achselzucken hervorrufen und dann vielleicht auf die Kirchen verwiesen, die als Sachwalter der Schwachen und Benachteiligten ihr mahnendes Wort zu erheben hätten. Doch mit welcher Kompetenz können denn die christlichen Kirchen am gesellschaftspolitischen Diskurs teilnehmen? Als Kirchen, als Gemeinschaften, müssen sie sich zweifellos auf den Sinnhorizont des christlichen Glaubens beziehen. Aber gibt es überhaupt so etwas wie eine spezifische Kompetenz aus dem Glauben, wenn es um die Bearbeitung gesamtgesellschaftlicher Probleme geht? Und wie muss man sich eine solche Kompetenz, wenn überhaupt, vorstellen? Ursprünglich und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beanspruchte die für diese Frage zuständige wissenschaftliche Disziplin, „katholische“ oder „christliche Soziallehre“ genannt, eine ganz bestimmte

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3. Das Besondere christlicher Sozialethik

Vorstellung vom richtigen Aufbau und der rechten Ordnung von Gesellschaft zu besitzen, die dann nur noch kritisch auf Wirtschaft und Politik angewendet werden musste. Seitdem sie ihr Selbstverständnis im Sinne einer christlichen Sozial-„Ethik“ erweitert hat, muss sie sich mühsamer „fragend und begleitend auf die vorfindlichen Umstände“1 einlassen, sie zu verstehen suchen, „Implikationen, Chancen und Hindernisse für gelingendes Zusammenleben von Menschen“2 untersuchen. Sie entwirft auch weiterhin normative Orientierungen, bringt sie aber in einen „vielstimmigen gesellschaftlichen Diskurs über Ziele und Wege der Entwicklung gerechter(er) gesellschaftlicher Strukturen argumentativ ein.“3 Oder anders gesagt: Ihr Anspruch ist bescheidener und anspruchsvoller zugleich geworden. Bescheidener, weil sie sich einreiht in den Kreis der um die Humanisierung der Gesellschaft Ringenden, anspruchsvoller, weil sie ihren Anspruch vor der durch alle einsehbaren Vernunft einlösen muss. Noch einmal bescheidener ist sie, weil sie, wie alle Ethik, keine festen Regeln oder Rezepte zur Lösung konkreter Probleme anbieten kann; sie will vielmehr orientieren und aus christlicher Perspektive zum Handeln ermutigen. Außerdem darf man nicht außer Acht lassen, dass der Dialog zwischen sozialwissenschaftlichen und sozialphilosophischen Reflexionen einerseits und dem Sinnhorizont des christlichen Glaubens andererseits noch aus einem anderen Grund besonderer Rücksicht bedarf: Dieser Dialog darf nicht allzu unvermittelt erscheinen; eine letzte Unverrechenbarkeit muss dabei in Kauf genommen werden. Das beruht nicht zuletzt darauf, „daß der Wirklichkeitsgehalt bestimmter Grundbegriffe des Glaubens außerhalb des Glaubens grundsätzlich unerschwinglich ist, etwa Heiliger Geist, Offenbarung, Auferstehung, Sünde, Heil – und vor allem Gott.“4 Dass diese „Unverrechenbarkeit“ durchaus gesellschaftskritische Kraft gewinnen kann, diese Möglichkeit kennzeichnet einen wesentlichen Aspekt der spezifischen Kompetenz des Glaubens in sozialethischen Fragen: Mit den Dingen dieser Welt ist es grundsätzlich nicht abgetan, so lautet die christliche Botschaft. Strukturveränderung und Nächstenliebe

Das bedeutet nun aber nicht, dass sich der Glaube von der Welt abwenden und sich nur noch um sich selbst kümmern will. Im Gegenteil: Von Anfang an ließ sich der christliche Glaube von den vielfältigen sozialen Problemen herausfordern. Jesus selbst war es, der das

3.1 „Christliche“ Sozialethik – Orientierungshilfen

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Schicksal der Armen angeprangert und mit dem Glauben an Gott engstens verbunden hat. Gottes- und Nächstenliebe gehören zusammen, sie bedingen einander, so lautet seine Botschaft. Zu einer besonderen Herausforderung wird diese christliche Grundforderung, wenn die persönliche Ebene überschritten und Politik, also die Frage der Gesellschaftsgestaltung, in diese Forderung einbezogen wird. Die Kirche solle sich aus der Politik heraushalten, eine solche Einstellung findet sich nicht selten unter Politikern und Wirtschaftsführern. Aber die Nächstenliebe hört nicht beim Nächsten auf. Sie greift aus auf die Strukturen und Institutionen. Auch die Kirche hat das mühsam lernen müssen. Obschon die Botschaft Jesu vorrangig den damaligen etablierten Kreisen mit ihren Privilegien und der Ausbeutungspraxis gegenüber den Bauern sehr kritisch begegnet ist – erst im 19. Jahrhundert unter dem Druck der Verelendung des Proletariats im Zuge der Industrialisierung wuchs die Einsicht in die Notwendigkeit von Strukturveränderungen, aus der sich wiederum die Disziplin der „Sozial“-Ethik entwickeln konnte. Erst dieser Blick auf die Strukturen und Ordnungen sensibilisiert für die sozialen Bedingungen, die individuelles Handeln prägen und lässt den Einzelnen in seinen Verantwortlichkeiten hervortreten. Der christliche Glaube hält an der Verantwortlichkeit des Einzelnen fest, auch noch dort, wo Abhängigkeiten und Zwänge herrschen, wo die Globalisierung alle individuellen Einflussmöglichkeiten als Illusion erscheinen lässt. Dass gesellschaftliches Handeln auf individuelle Moral angewiesen bleibt, dass man sein Herz nicht an die Logik der Ökonomie hänge, diese Botschaft „zugriffsfähig“ zu halten, ist nämlich seine vornehmste Aufgabe. Dem Glauben geht es darum, dass der Mensch „wieder weniger Objekt und mehr Subjekt“ werden soll, um an ein geflügeltes Wort des „Urvaters“ der katholischen Soziallehre Oswald von Nell-Breuning zu erinnern. Nun ist es üblich, den Glauben in seiner sozialethischen Kompetenz auf der Ebene der individuellen Moral zu verorten, dort, wo Motive und Einstellungen das Handeln prägen. Das heißt, seine Kompetenz erschöpfte sich darin, zum richtigen Verhalten anzuhalten; was richtiges Verhalten ist und welche strukturellen Konsequenzen zu ziehen sind, sei dagegen kein mögliches Unterscheidungsmerkmal, da es für alle Menschen, unabhängig vom Glauben, gleich sein müsse. Sicherlich ist das nicht wenig. Dennoch: Der Glaube setzt inhaltliche Akzente dann, wenn er daran erinnert, dass es mit dieser Welt nicht abgetan ist. Er erinnert an die Veränderbarkeit der Welt und die Verantwortlichkeit des Menschen für diese

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3. Das Besondere christlicher Sozialethik

Welt, ohne alles vom Menschen erwarten zu müssen. Und diese Akzentsetzung bedarf der Institutionalisierung, bedarf der Ausdrucksformen, wenn sie die Chance zur Tradierung behalten soll. Symbolisch verdichtet findet sich diese Botschaft in der Liturgie, weil sie für das Unverfügbare, Nicht-Machbare eine besondere Sprache entwickelt hat.5 Sie müsste sich aber auch, wie vermittelt auch immer, in den anderen Lebensvollzügen der Kirche, in Diakonie und Verkündigung, wiederfinden und sich kritisch auf die Gesellschaft beziehen lassen. Quellen christlicher Ethik

Aber worauf greift die soziale Botschaft der Kirche zurück? Was sind ihre Quellen und welche zentralen Motive lassen sich benennen, wenn das Besondere der christlichen Sozialethik herausgestellt werden soll? Zunächst, das hatte ich gerade festgestellt, lässt sich der Glaube durch die Sorgen und Nöte der Menschen herausfordern; dazu gehört wesentlich die soziale Dimension menschlichen Daseins. Um diesen Herausforderungen angemessen begegnen zu können, muss der Glaube sowohl auf die philosophische Ethik als auch auf die Sozialwissenschaften zurückgreifen – zur begrifflichen Klärung der Praxis und zur empirischen Erschließung der Wirklichkeit. Diese Quellen theologischer Ethik sind zu ergänzen durch theologische Quellen im engeren Sinne, durch die Bibel und die Tradition der Glaubensgemeinschaft der Kirche. „Beide stehen für den spezifischen Kontext, in dem sich eine christliche Ethik herausbildet und ihr eigenes Profil gewinnt“ – genauso wie eine marxistische oder eine postchristliche Ethik. „Jede Ethik steht (...) in der Bindung an einen solchen beschreibbaren Kontext, der die Tätigkeit der praktischen Vernunft prägt und durch soziale Erfahrungen, durch die Entwicklung und Weitergabe von Deutungsmustern, Werturteilen bzw. Wertpräferenzen orientiert und ,erdet‘.“6 Diese Bestimmung will darauf aufmerksam machen, dass jede Vernunft geschichtlich, sozial, kulturell vermittelt ist, auch wenn sie nicht in diesen Vermittlungen aufgeht. Diese Vermittlungen jedenfalls müssen sich ausweisen und mit der Logik praktischer Vernunft konfrontiert werden. Das hebt die christliche Ethik nicht heraus, sondern qualifiziert sie wie alle Ethik als lebensweltlich und weltanschaulich „infiziert“ und verlangt nach einem öffentlichen Dialog über genau diese Vermittlungen.

3.1 „Christliche“ Sozialethik – Orientierungshilfen

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Autonomie der irdischen Wirklichkeiten

Der öffentliche Dialog genügt natürlich nicht, wenn es um vernünftige Lösungen geht. Jede sozialethische Reflexion muss sich, wie gesagt, wiederum auf die tatsächliche, empirische Verfasstheit der Praxisfelder und Interaktionsbereiche beziehen. Erst dann kann sie die soziale Situation richtig beurteilen. Dazu ist sie auf die Ergebnisse der vielen Einzelwissenschaften angewiesen und muss interdisziplinär arbeiten. Also muss sie sich mit dem Autonomieanspruch der jeweiligen Sachbereiche, ihrer Sachgesetzlichkeiten, und der ihnen korrespondierenden Wissenschaften auseinandersetzen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat in einem berühmt gewordenen Text zu dieser Frage Stellung genommen: „Wenn wir unter Autonomie der irdischen Wirklichkeiten verstehen, daß die gesellschaftlichen Dinge und auch die Gesellschaften ihre eigenen Gesetze und Werte haben, die der Mensch schrittweise erkennen, gebrauchen und gestalten muß, dann ist es durchaus berechtigt, diese Autonomie zu fordern. Das ist nicht nur eine Forderung der Menschen unserer Zeit, sondern entspricht auch dem Willen des Schöpfers. Durch ihr Geschaffensein selber nämlich haben alle Einzelwirklichkeiten ihren festen Eigenstand, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Gutheit sowie ihre Eigengesetzlichkeit und ihre eigenen Ordnungen, die der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methoden achten muß. Vorausgesetzt, daß die methodische Forschung in allen Wissensbereichen in einer wirklich wissenschaftlichen Weise und gemäß den Normen der Sittlichkeit vorgeht, wird sie niemals in einen echten Konflikt mit dem Glauben kommen, weil die Wirklichkeiten des profanen Bereichs und die des Glaubens in demselben Gott ihren Ursprung haben. Ja wer bescheiden und ausdauernd die Geheimnisse der Wirklichkeit zu erforschen versucht, wird, auch wenn er sich dessen nicht bewußt ist, von dem Gott an der Hand geführt, der alle Wirklichkeit trägt und sie in ihr Eigensein einsetzt.“ (Gaudium et spes, Art. 36.)

Das Konzil greift das Grundmerkmal moderner Gesellschaft auf: nämlich die Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Verselbständigung der einzelnen Sachbereiche und der auf sie bezogenen Wissenschaften. Autonomie, noch einmal sei es gesagt, bezieht sich zum einen auf die Ausdifferenzierung der Bereiche und zum anderen auf den „Pluralismus der methodischen Abstraktionen“7 der Wissenschaften. Genau darum ist auch der Wahrheitsanspruch eines auf dieser Spezialisierung beruhenden Wissens grundsätzlich begrenzt und fragmentarisch. Und deshalb ist interdisziplinäre Forschung so

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3. Das Besondere christlicher Sozialethik

wichtig, weil das Ganze beziehungsweise das Verhältnis der Wissenschaften und ihrer Sachbereiche zueinander nicht Thema der Einzelwissenschaften ist. Außerdem spielen in den Sozialwissenschaften, anders als in den Naturwissenschaften, Voraussetzungen eine Rolle, die in die Theoriebildung notwendig eingehen, nämlich Annahmen über „Wesen und Bestimmung des Menschen“8. Gegenwärtig wird dieser Sachverhalt insbesondere im Zusammenhang mit Fragen der Wirtschafts- und Sozialordnung diskutiert: Was für ein Bild vom Menschen setze ich eigentlich voraus, wenn ich das System sozialer Sicherung nur noch als „Anreizsystem“ interpretiere oder von „Humankapital“ spreche? Aufgabe der christlichen Sozialethik ist es, diese Voraussetzungen und häufig stillschweigenden Annahmen aufzudecken und auf ihre christlichen Gewissheiten zu beziehen. Sozialverkündigung und Sozialethik

Auf eine wichtige Unterscheidung, die bisher nur vorausgesetzt wurde, muss eigens aufmerksam gemacht werden: die zwischen der Sozialverkündigung der Kirche und der christlichen Sozialethik. Die Verkündigung der Glaubensbotschaft ist Aufgabe der ganzen Kirche, sie erstreckt sich auf den ganzen Menschen und seine Gesellschaft, sie verlangt nach tatkräftigem Engagement. Die Sozialverkündigung ist also ein Moment kirchlicher Praxis, die nach begleitender und kritischer Reflexion verlangt. Deshalb muss es verschiedene Träger oder Subjekte der sozialethischen Kompetenz der Kirche geben: „Die ,Basis‘ der Kirche in Gemeinden, Gruppen, Initiativen und Verbänden, das Lehramt auf seinen verschiedenen Ebenen vom einzelnen Ortsbischof bis zum Papst, und die christliche Sozialethik als theologische Wissenschaft (…).“9 Ich werde später eigens auf die Sozialverkündigung im engeren Sinne eingehen, die vor allem die lehramtliche Sozialverkündigung meint. Die Frage nach den Trägern der sozialethischen Kompetenz ist für die christliche Sozialethik auch deshalb so wichtig, weil sie zugleich die Frage nach ihren Quellen aufwirft. Denn der ursprüngliche Träger sozialethischer Kompetenz ist nicht das Lehramt, sondern sind die „einzelnen christlichen Gemeinschaften“, wie sich das Lehrschreiben „Octogesima adveniens“ von 1971 ausdrückt. Dass gerade den christlichen Gemeinschaften diese hervorragende Stellung in Sachen „Soziales“ zugewiesen wird, liegt daran, dass die sittliche Bedeutsamkeit des Glaubens nur im „unmittelbaren Umgang mit der Daseinsgestaltung entwickelt und realisiert werden“10 kann, im sozialen Nahbe-

3.2 Biblische und theologische Motive

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reich, in dem in einem prinzipiell offenen Prozess gemeinsam und gemeinsame Erfahrungen reflektiert und Wertüberzeugungen entwickelt werden, die für gelingendes Leben wichtig sind. Diese Funktion von Gemeinschaften ist gerade heute, angesichts der Tatsache, dass Spezialisten und anonyme Kräfte unser Leben bestimmen, besonders wichtig, weil auf diese Weise das intuitive Wissen der Beteiligten, die „Multifunktionalität“ der bloßen Umgangssprache, um mit Jürgen Habermas zu sprechen, gegenüber den Spezialsprachen als Raum für die Ausbildung moralischen Bewusstseins ernst genommen wird. Wenn es der Kirche gelänge, solche offenen Räume anzubieten, erwiese sie sich als eine Rückhalt gewährende Kraft mit sozial-politischer Wirkung. Zusammenfassung Die christliche Botschaft bezieht sich nicht nur auf den Nächsten, sondern auch auf die gesellschaftlichen Strukturen und Ordnungen. Im Dialog mit den Sozialwissenschaften und im Rückgriff auf die Bibel und die Tradition, versucht die christliche Sozialethik an der Humanisierung der Gesellschaft mitzuwirken.

3.2 Biblische und theologische Motive In der Grundlegung christlicher Sozialethik sind einige theologische Motive von besonderer Bedeutung. Dabei handelt es sich sowohl um Motive aus den theologischen Traktaten Schöpfungslehre und Anthropologie, Eschatologie, Geschichtstheologie und Ekklesiologie als auch um Motive aus der Bibel. Von „Motiven“ zu sprechen hat nicht zuletzt den Sinn, keine überzogenen Ansprüche aufkommen zu lassen. Denn es handelt sich eben nicht um konkrete Handlungsanweisungen zur Lösung bestimmter sozialer Probleme, sondern um sehr grundlegende Orientierungen zur Gestaltung der Gesellschaft und zur Kritik an bestimmten bestehenden Verhältnissen. Aus ihnen lassen sich „Optionen“ entwickeln: „die Option für die universelle Anerkennung der Würde des Menschen, für Freiheit und Befreiung, die Option für die Armen, für den Frieden, für die je größere Gerechtigkeit sowie die Option für die Bewahrung der Schöpfung.“11 So allgemein diese auch sind, so vermitteln sie doch eine prinzipielle Orientierung, eine Ausrichtung, die jedem christlich-sozialen Engagement als „not-

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3. Das Besondere christlicher Sozialethik

wendige Bedingung“ zugrunde liegen sollte. Auch wenn diese Motive „nur“ eine Orientierungsfunktion haben können, so sind sie auf der anderen Seite durchaus in der Lage, eminent kritisch zu wirken, indem sie die gerade heute dominierenden Ideologien aufdecken helfen – man denke nur an den quasi naturgesetzlichen Charakter, den die Wirtschaft in den Augen vieler angenommen hat, man denke nur an ein Verständnis von Globalisierung, das die Gestaltungskraft des Menschen entmutigt. Biblische Motive

Als Teilgebiet der Theologie ist auch für die christliche Sozialethik die Bibel die zentrale Quelle ihrer Erkenntnis. Deshalb muss sich das Spezifikum christlicher Sozialethik im Rückgriff auf einige zentrale biblische Hauptmotive aufweisen lassen. Zu diesen zählen das Schöpfungsmotiv, das Bundes- und Exodusmotiv, das soziale Ethos der Propheten, die nicht nur eschatologische Ethik Jesu und die Theologie des Paulus. Es handelt sich für die Sozialethik um „Motive“, das heißt eine unmittelbare Anwendung biblischer Normen auf die Gegenwart verbietet sich – nicht etwa deshalb, weil diese Motive schon ursprünglich zu allgemein und grundsätzlich gewesen wären, nur auf das Heil des Menschen gerichtet, sondern weil der „garstige Graben“ der Geschichte zwischen Bibel und Moderne liegt und eine unmittelbare Anwendung ausschließt. Zu unterschiedlich sind die jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen damals und heute, zu unterschiedlich das Verständnis vom Menschen und seiner Gesellschaft. Diese Feststellung darf aber nicht dazu führen, den biblischen Texten ausschließlich „historisch-kritisch“ zu begegnen, in einer Art und Weise, die die Texte nur in einer uns fremden Welt erschließen lassen. Ist es nicht sogar möglich, den „garstigen Graben“ auch positiv zu wenden und sich vorzustellen, dass durch die biblischen Texte Fremderfahrung, also Distanz, also kritisches Bewusstsein gefördert werden kann? Wie auch immer: Gerade die Sozialethik hat großes Interesse daran, auch solche Interpretationswege zu suchen, die die Bedeutung der Bibel für uns heute deutlich werden lassen. Weil die Bibel ein ganz bestimmtes Beziehungsgefüge von Mensch, Welt und Gott entfaltet, eine „universale Hoffnungsvision für die Vollendung der Welt“12, weil sie es nicht abstrakt, sondern in Geschichten und Bildern tut, kann sie sittliche Einsicht befördern. Es wird zu zeigen sein, wie ganz bestimmte Vorstellungen etwa über das Verhältnis der Menschen zueinander in ihrer strukturellen Form Orientierungskraft für die Sozialethik gewinnen können.

3.2 Biblische und theologische Motive

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Altes Testament Das Schöpfungsmotiv und die theologische Anthropologie sind engstens miteinander verbunden: „Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn, als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: ,Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde und macht sie euch untertan‘.“ (Gen 1,27f.)13 Mit der Ebenbildlichkeit Gottes ist dem Menschen eine unverlierbare Würde verliehen, die ihn umfassend in die Verantwortung nimmt. Darüber hinaus hat der christliche Schöpfungsglaube durch die Umweltthematik eine neue Relevanz gewonnen, indem er den Eigenwert der Natur im Sinne der Mitgeschöpflichkeit hervorhebt, ohne zugleich die fundamentale anthropozentrische, auf den Menschen zentrierte, Ausrichtung des Mensch-Umwelt-Verhältnisses in Frage zu stellen.14 Auch das Exodus- und Bundesmotiv hat sozialethische Relevanz. Besonders eindrücklich zeigt sich die soziale Gerechtigkeitsdimension im alttestamentlichen Projekt des sogenannten Jubeljahres: „Heiligt das fünfzigste Jahr und verkündet Freiheit im Lande für alle Bewohner. Ein Jobeljahr soll es für euch sein. Da soll jeder wieder in den Besitz seines Grundeigentums gelangen und jeder zu seinem Geschlecht zurückkehren. (...) Grund und Boden darf nicht für immer verkauft werden, denn mir gehört das Land.“ (Lev 25,10.23) Ähnliches gilt auch für das Zinsnehmen und den Umgang mit den Sklaven. „Alle fünfzig Jahre, also immer wieder neu, soll Chancengleichheit für alle wiederhergestellt werden. Die sozioökonomischen Mechanismen, in welchen die einen reich, die andern arm, die einen Herren, die andern Sklaven werden, die einen gewinnen, die andern verlieren, sollten im Sinne der Gerechtigkeitsperspektive der Bundesidee als etwas Vorläufiges begriffen und relativiert werden. Das Jubeljahrprojekt verweist auf die Aufgabe der immer wieder neuen Wiederherstellung einer gottgewollten Ausgangslage, in der alle frei sind und vergleichbare Chancen besitzen.“15 Auch wenn dieses Projekt wohl so nie umgesetzt wurde und mit anderen Geboten des Alten Testamentes kaum versöhnt werden kann, so bleibt doch der vehemente Verweis auf die absolute Liebe Gottes und mit ihr auf seinen absoluten Eigentumsanspruch auf Menschen und Land.16 Dieser Anspruch findet sich auch bei den Propheten des Alten Testamentes. Sie gehören zu den großen Gestalten, mit denen die Auflehnung gegen die Idee einer Normalität des Bösen Eingang in die Geschichte gefunden hat. Ihr soziales Ethos, ihre Moral des Mitgefühls führte dazu, gerade jene Missstände als unnormal und uner-

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3. Das Besondere christlicher Sozialethik

träglich zu brandmarken, welche die Menschheit zuvor als „unabänderlichen Bestandteil der ewigen Ordnung der Dinge hinnahm“17. Hintergrund war das mit der Entstehung des Staates und des Königtums einhergehende Auseinanderdriften der Gesellschaft. Das Ergebnis des Aufstiegs der mit dem Königtum eng verbundenen schmalen Oberschicht war eine scharfe Klassenteilung. Die Propheten nahmen die Verelendung der breiten Masse des Volkes als unmittelbare Folge des Reichtums der Oberschicht wahr und betrachteten sie als zutiefst ungerecht und unvereinbar mit dem Glauben an den Gott Israels. Ein besonderes Instrument der Bereicherung stellte beispielsweise die Gabe von Darlehn dar: „Der Reiche beherrscht die Armen; wer borgt, wird der Knecht des Mannes, der ausleiht“ (Spr 22,7), so lautete ein Sprichwort. Die Rechtsordnung selbst war es, die Ungerechtigkeit hervorrief. Das Ideal war ein „egalitäres, das auf die Gleichheit aller und ihre Solidarität ausgerichtet war.“18 Die Propheten waren erfüllt von der Hoffnung, dass die Herrschaft Gottes der menschlichen Willkür ein Ende setzen werde (vgl. Jes 9,1-6). Letztlich geht es auch hier um die zutiefst theologische Frage, „ob wir Gott den Herrn der Erde sein und alle Menschen an ihren Gütern partizipieren lassen wollen oder ob wir uns selbst als Herren über die Erde setzen und ihren Reichtum allein für uns usurpieren.“19 Neues Testament Die Beziehung zwischen Arm und Reich ist auch ein zentrales Thema der Botschaft Jesu. Wie zur Zeit der Propheten waren Ausbeutung und Unterdrückung an der Tagesordnung. Auch er will deutlich machen, dass beide, Arm und Reich, aufeinander bezogen sind, sich gegenseitig bedingen. Großer Reichtum auf der einen ist ohne großes Elend auf der anderen Seite kaum zu haben. Diese Trennung bedeutet, dass die Zusammengehörigkeit, die beide Seiten als Volk Gottes verbindet, verlorengegangen ist. Der reiche Mann im Gleichnis ist unfähig, Buße zu tun und Lazarus als seinen Bruder anzunehmen (vgl. Mt 20,1-16). Weder sind die Reichen von Gott gesegnet, noch ist Armut eine Strafe Gottes. Die üblichen Rationalisierungen, die die bestehende Ordnung rechtfertigen, werden von Jesus beiseite geschoben. Auch hier findet sich die Verbindung zwischen den bestehenden Unrechtsverhältnissen und der Frage nach der Anerkennung Gottes als Eigentümer von Land und Menschen. Jesus geht es nicht um konkrete Normierungen, nicht um Abwägungen oder bestimmte Verhaltenskataloge; er beschreibt eine grundsätzliche Einstellung, er zwingt den Hörer zu der Frage, wer bin ich? Wer bin ich angesichts

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der aufziehenden Herrschaft Gottes? Erst diese Neuausrichtung macht den Menschen frei, sein Leben in Verantwortung zu gestalten. Sie zwingt ihn dazu, nach dem Sinn und Zweck des Wirtschaftens zu fragen, Rechenschaft zu fordern von denjenigen, die ihren Dienst am Mammon leisten, ihr Herz an die Logik der Ökonomie hängen. Ein anderes Beispiel findet sich in der Apostelgeschichte. Es geht um das Leben der Gemeinde: „Die Menge der Gläubiggewordenen war ein Herz und eine Seele. Und kein einziger sagte, daß etwas von seinem Besitz sein eigen sei, sondern sie hatten alles gemeinsam. Mit großer Kraft legten die Apostel von der Auferstehung des Herrn Jesus Zeugnis ab, und große Gnade war auf ihnen allen. Auch gab es keinen Bedürftigen unter ihnen. Denn wer Grundstücke oder Häuser besaß, verkaufte sie und brachte den Erlös und legte ihn den Aposteln zu Füßen. Davon wurde jedem zugeteilt, je nachdem er bedürftig war.“ (Apg 4,32-35) Auch wenn man zugesteht, dass der Evangelist hier ein idealistisches Bild von der Gemeinde zeichnet, so bleibt doch die Forderung nach sozialen Konsequenzen aus dem Gebot der Liebe und der neuen Heilswirklichkeit. Für Jesus ging es ums Ganze. Mit der Verkündigung der Gottesherrschaft „gerät die Welt, so wie sie lebt, in die Krise.“20 Jesus wollte keine Ethik, keine Moral, keine Mahnpredigt. Ihm geht es vielmehr um eine grundsätzliche Einstellung. Er führt seine Zuhörer vor die Frage, „wes Geistes Kinder sie sind, und in der Gebundenheit an diese Antwort läßt er sie in Freiheit Leben gestalten.“21 Seine Botschaft von der ankommenden Gottesherrschaft bedingt eine Nachfolge, die auf die vielen Umstände des Lebens keine Rücksicht nimmt. Jesus stellt seine Zuhörer mit dieser Botschaft „vor den absoluten Willen Gottes, der ,alles‘ will und sich mit einem verkleinerten Maß darunter nicht zufrieden gibt.“22 Mit anderen Worten: Die ankommende Gottesherrschaft schärft die Verantwortung aller Menschen vor Gott und gegenüber den Mitmenschen ein. Die Bergpredigt des Matthäusevangeliums (5,1-7,29) fasst die Ethik Jesu in diesem Sinne noch einmal zusammen. „Im Blick auf die kommende Gottesherrschaft werden die vor Gott Armen, die Trauernden, Gewaltlosen, nach Gerechtigkeit Hungernden, Barmherzigen, die im Herzen Reinen, die Friedensstifter und die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten selig gepriesen. (...) Mit dem Kommen der Gottesherrschaft wird die Macht der Sorge um die Dinge des irdischen Lebens, um Nahrung, Kleidung, Vorräte, relativiert. (...) Der Dienst am ,Mammon‘ macht diese Bestimmung zunichte.“23 Auch wenn sich diese Botschaft dem Einzelnen zuwendet, so greift sie doch verändernd auf die gesell-

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schaftlichen Verhältnisse und Ordnungen aus. Es geht um den Einsatz für eine gerechtere Welt. Der heilige Paulus schließlich wird von Sozialethikern, wenn er denn überhaupt Erwähnung findet, als derjenige angesehen, der das christliche Erlösungsverständnis und die gottebenbildliche Würde des Menschen mit Blick auf die sozialen Schranken, die die Menschen trennen, konsequent weiterdenkt. „Ihr seid also alle Kinder Gottes durch den Glauben in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Da gibt es nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Weib. Denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,26-28) Die damals üblichen institutionellen Grenzen werden grundsätzlich relativiert und ein Bewusstsein befördert, das auf eine entsprechende, befreiende Veränderung der Verhältnisse drängt. Diese Idee von der im Glauben ergriffenen Freiheit ist in der Geschichte trotz aller Brüche und Rückschläge nicht mehr verloren gegangen. Vielleicht ist es deshalb gar nicht so überraschend, dass man seit einigen Jahren eine regelrechte Renaissance des Apostels beobachten kann – keine Renaissance in der christlichen Sozialethik, sondern eine in der politischen Philosophie. Sind es doch gerade die Debatten über die Zukunft der Demokratie und über die universale Anerkennung des Menschlichen im Menschen, die seine Freiheitsbotschaft in Erinnerung rufen. Gibt es in unserer Gesellschaft überhaupt noch einen Raum für die Politik angesichts des „entpersonalisierenden Systems“ des Konsums? Ist eine demokratische und solidarische Veränderung bestehender Verhältnisse noch denkbar? Und wie kann man Pluralität wahrnehmen ohne die Universalität aufzugeben? Die politische Relevanz des Paulus liegt, so kann man die Debatte zusammenfassen, in seinem Menschenverständnis. Er denkt den Glauben universal und er denkt das christliche Subjekt als „Singularität“. Der Universalismus ist altbekannt und bezieht sich auf die Radikalisierung der im Schöpfungsmotiv angesprochenen Würde des Menschen: „Ihr seid also alle Kinder Gottes durch den Glauben in Christus Jesus“ (Gal 3,26), die Heilslehre gilt allen Menschen. Das christliche Subjekt als „Singularität“ zu denken, diese Interpretation des Paulus ist dagegen ungewohnt und versteht ein Leben in Christus als ein Leben, das der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung entgegensteht. Die Singularität wird durch die Offenbarung des Auferstandenen und die Berufung des Einzelnen – das Bekehrungserlebnis des Paulus vor Damaskus ist dafür typisch – konstituiert. Und gerade die Singularität ist es, die die Universalität begründet: Die Wahrheit des Glaubens ist

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allen angeboten, für jeden bestimmt. Es geht um eine universelle Idee, um die Wahrheit, die dem Einzelnen zugesagt ist und seine Identität begründet, indem sie ihn aus seiner Welt „herausreißt“. Sicherlich vermag eine solche Interpretation die paulinischen Texte nicht voll auszuschöpfen, zumal sie ausdrücklich nichttheologisch und agnostisch daherkommt. Aber sie vermag mit ihrer Kritik an den bestehenden Verhältnissen an die befreiende Kraft des Glaubens, an seine sozialethische Dimension zu erinnern.24 Wenn man sich noch einmal das soziale Ethos, so wie es sich in den verschiedenen biblischen Motiven wiederfindet, vor Augen führt, drängt sich die Frage auf, was hat das mit Glaube und Theologie zu tun? Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung ist doch nicht notwendig an den Glauben an einen liebenden Gott gebunden. Auch wenn man dieser Feststellung kaum widersprechen kann, so bleibt doch der Hinweis, dass dieser Glaube davor bewahren kann, sein Herz nicht an die Logik der Ökonomie zu hängen, nicht alles vom Menschen und seiner Leistungsfähigkeit zu erwarten, den Blick zu klären, sich nicht von falschen Versprechen blenden zu lassen und gerade dadurch Mut für Veränderungen, fürs Engagement zu gewinnen. Der Philosoph Theodor W. Adorno hat davon gesprochen, dass Erkenntnis kein anderes Licht hat, „als das von der Erlösung her auf die Welt scheint“25. Christliche Sehnsucht und Hoffnung sind Ausdruck für ein Bewusstsein, dass es mit dieser Welt nicht abgetan ist. Dieses Bewusstsein lebendig zu halten, ist die vornehmste Aufgabe der christlichen Sozialethik. Zusammenfassung Auch für die christliche Sozialethik ist die Bibel die zentrale Quelle ihrer Erkenntnis. Sie hat großes Interesse daran, die Bedeutung der Bibel für uns heute deutlich werden zu lassen. Wer ist der Herr der Erde? so fragen die biblischen Autoren. Die Hoffnung richtet sich darauf, dass Gott der menschlichen Willkür ein Ende setzen werde und alle Menschen an den Gütern der Erde partizipieren können. Sie „optieren“ für die Anerkennung der Würde des Menschen, für Freiheit und Befreiung, für die Armen, für die Bewahrung der Schöpfung.

Theologische Motive

Die biblischen Motive sollen nun durch einige zentrale theologische Motive ergänzt werden. Es geht um Schöpfungslehre und Anthropologie, Eschatologie, Geschichtstheologie und Ekklesiologie.

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Für die Sozialethik ist der Mensch letzter Maßstab und zwar der Mensch als Person in seiner unverfügbaren Würde. Aber was ist der Mensch aus der Sicht des christlichen Glaubens? Das christliche Menschenbild und die Kernaussagen theologischer Anthropologie bestimmen den Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes und als sündigen Menschen. Er weiß sich in die Verantwortung gerufen vor Gott und weiß um seine Schwäche. Die zwei wichtigsten theologischanthropologischen Bezugsgrößen sind also die Idee von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und die Lehre von Sünde und Erlösung. In der Schöpfungsordnung erscheint der Mensch auf die Gestaltung der Welt verwiesen. Seine Würde zeigt sich in seiner Freiheit und Verantwortung. Zugleich will die Lehre von der Sündigkeit des Menschen darauf aufmerksam machen, dass der Mensch immer auch danach trachtet, sich zum Maß aller Dinge zu erheben und alles andere und alle anderen nur noch als Mittel seiner Selbstbehauptung dem Ich dienstbar zu machen. Der Mensch als freier muss sich „immer erst bilden zu dem, was die Gestalt seines Lebens ausmachen wird.“26 Dabei kann er scheitern und dieses Scheitern muss nicht nur persönliche Gründe haben. Auch die gesellschaftlichen Umstände können die Möglichkeiten des Menschen verstellen, seine Motive dauerhaft beeinflussen. Deshalb bedarf der Mensch zu seiner Selbstentfaltung der Institutionen. Weil das christliche Menschenbild mit menschlichen Schwächen rechnet, rechnen muss, darf man den Menschen nicht überfordern. Deshalb müssen die gesellschaftlichen Regelungen und Ordnungen seiner Verantwortung gleichsam „entgegen kommen“. Aber woran soll der Mensch Maß nehmen, woran soll er sich orientieren angesichts dieser Widersprüchlichkeiten? Ein starkes Motiv ist die Reich-Gottes-Botschaft. „Wir Christen hoffen auf den neuen Menschen, den neuen Himmel und die neue Erde in der Vollendung des Reiches Gottes. (…) Die Verheißungen des Reiches Gottes, das durch Jesus unter uns unwiderruflich angebrochen und in der Gemeinschaft der Kirche wirksam ist, führen uns mitten in unsere Lebenswelt hinein – mit ihren je eigenen Zukunftsplänen und Utopien.“27 Diese Hoffnung ist es, die sowohl unsere Allmachtsphantasien als auch unsere Ohnmächtigkeiten fragwürdig erscheinen lässt, die in uns aber zugleich eine „gesellschaftskritische Freiheit und Verantwortung“28 weckt. Ähnliches könnte auch Herms im Sinn gehabt haben, als er das Handeln aus dem Glauben zu bestimmen versuchte. Die Verantwortlichkeit des Christen hat einen besonderen Charakter. Sein Resümee lautet: Der Glaube verlangt zweierlei,

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„Genauigkeit verbunden mit Gelassenheit. Eine Genauigkeit, die bewußt Rechenschaft gibt über die Bestimmung des Menschen, über die ethische Vorzüglichkeit von Zielzuständen, die aus der gegenwärtigen Situation erreichbar sind; sowie über die technische Vorzüglichkeit von dahin führenden Wegen. Und eine Gelassenheit, die bereit ist, die Folgen der eigenen Tat dem Lauf der Dinge zu überlassen; aber auch darauf gefaßt, von ihm nicht unbedingt bestätigt, sondern möglicherweise auch korrigiert zu werden.“29

Die Hoffnung auf die Vollendung im Reiche Gottes, als Hoffnung auf das Seinsollende, der von Gott gewollte Endzweck der Welt, nämlich die sittliche Organisation des Menschengeschlechts durch das Handeln aus dem Motiv der Liebe, lässt sich nicht nur als individuelle Entscheidung oder private Nächstenliebe allein verwirklichen, sondern greift verändernd auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und Ordnungen aus. Wobei sich diese Hoffnung zugleich aus der Erfahrung der Gebrochenheit und des Scheiterns von Geschichte nährt. Das heißt, als eschatologisches Futurum stellt das Symbol des Reiches Gottes jeden Zustand der Welt in die Perspektive der Vorläufigkeit. Deshalb hat der Reich-Gottes-Gedanke die Funktion sowohl einer kritischen Begrenzung der Möglichkeit ethischen Handelns, als auch eine orientierende und ermutigende Funktion. Vor allem die befreiende Tradition der Bibel ist es – prototypisch ist das Exodus-Motiv –, die als Begründungsbasis für eine vehemente Kritik an den schlechten bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen dient. Durch die konkrete, praktisch werdende Kritik hindurch bewahrheitet sich der Glaube an den befreienden, erlösenden Gott. Zu denken ist hier vor allem an die sogenannte „Theologie der Befreiung“, die sich in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts in Lateinamerika gebildet hat.30 Im Zentrum dieser Theologie steht die „Option für die Armen“: „Die von der Gerechtigkeit und Liebe Gottes bewegte ,Option für die Armen‘ verträgt keine Abstinenz gegenüber den Ursachen ihrer Armut, auch nicht gegenüber deren gesellschaftlichen, sozialstrukturellen Ursachen: Die Herstellung subjektgerechter Strukturen ist mit dem Sinn von Geschichte als Heilsgeschichte untrennbar verbunden.“31 Die Reich-Gottes-Botschaft ist der Gemeinschaft der Gläubigen, der Kirche, in besonderer Weise anvertraut, um sie in der Welt wirksam werden zu lassen. Von ihrem Selbstverständnis her hat die Kirche ihren „gesellschaftlichen Ort eben nicht primär in binnenkirchlichen Gruppen“, sondern „im Kontext der jeweiligen Kultur und Gesell-

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schaftsordnung, in der sie lebt, für die sie sich einsetzt und mit der sie sich auseinandersetzt.“32 Mit Hilfe von drei zentralen Begriffen des Zweiten Vatikanischen Konzils kann man das Verständnis von Kirche, mit Blick auf ihr Verhältnis zur Welt und zur Gesellschaft, noch einmal zusammenfassen: Sakrament, Volk Gottes und Gemeinde. 1. Die sichtbare Kirche, ihre Sozialgestalt, ist Symbol ihrer Botschaft, greifbare Gestalt der Reich-Gottes-Idee. Die sichtbare Kirche vermittelt die geglaubte Wirklichkeit Gottes. 2. Als Volk Gottes ist die Kirche die Gemeinschaft jener, die an Jesus Christus glauben. Zugleich ist sie aber mehr, nämlich „unzerstörbare Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils (...) für das ganze Menschengeschlecht“, so heißt es in „Lumen gentium“ (Nr. 9).33 3. Schließlich stellt sich die Kirche aktuell und wahrhaft in der Gemeinde dar, wenn sie Diakonie übt, Zeugnis gibt und Liturgie feiert. Alle drei Begriffe verstehen die Kirche als „Mittlerin“ zwischen den Menschen, zwischen den Einzelnen und ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen und vor allem zwischen den Einzelnen und der geglaubten Wirklichkeit Gottes.34 Das Konzil spricht von einer offenen Kirche, offen für die Welt, aber nicht unverbindlich, sondern zielgerichtet: „So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört“ (Mk 12,17). Richtig verstanden heißt es: „Gebt dem Kaiser nicht mehr, als was ihm gebührt! Gebt ihm nicht, was Gottes ist.“35 Das bedeutet, dass die Vermittlung einen spezifischen Charakter trägt: Ohne der Welt gleichförmig zu werden, wirken Kirche und Christen im Vollzug der Botschaft Jesu im Bereich des Politischen als soziale Kraft. Und schließlich wird der ethisch-normative Anspruch auf sein eigentliches hin befreit: „Der Sabbat ist des Menschen wegen da und nicht der Mensch des Sabbats wegen“ (Mk 2,27). Also weder eine strikte Trennung von Gott und Welt, von geistlichem und weltlichem Bereich, noch eine Identifizierung von Gott und Welt ist in diesem Kirchenbild enthalten. Die gelebten Überzeugungen christlicher Gemeinschaften sind als Orte verstehbar, die Normen und Werte lebendig erhalten, die für die Humanisierung des Menschen wichtig sind. Genauer: Sie haben die für die Gesellschaft durchaus beispielhafte Aufgabe, das Bewusstsein dafür wach zu halten, dass der Einzelne unersetzbar bleibt und die Systeme und gesellschaftlichen Faktizitäten in all ihrer Übermächtigkeit relativ und revidierbar sind. Indem sie sich der Quelle ihres Glaubens feiernd, verkündigend, dienend vergewissern, finden sie Kraft und Motivation, die solches Bewusstsein trägt und konkrete Veränderungen möglich macht. Die christliche

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Kultur und Kunst in all ihrer Vielgestaltigkeit, vom Kirchenbau über die Musik bis zur Liturgiefeier, sind sie nicht ein Gegenbild der Wirklichkeit? Einer Wirklichkeit, die durch die Ökonomisierung eine Kultur der Erbarmungslosigkeit geschaffen hat? Heißt es nicht oft, jeder sei seines Glückes Schmied und Arme seien dumm, faul, zu nichts nütze, eine Schande? Bringt nicht der Glaube in all seinen Symbolformen ein Bewusstsein von der Gnade Gottes zum Ausdruck, dass angesichts der „Gnadenlosigkeit“ der Welt erlösende Kraft gewinnen kann?36 Wenn man die Aufgabe der Kirche in der modernen Gesellschaft noch einmal zusammenfassend definieren will, können folgende Optionen hervorgehoben werden: Sie zwingt die Gesellschaft, öffentlich über ihre normativen Grundlagen nachzudenken, indem sie ihre eigenen normativen Traditionen in die aktuellen Streitfragen einbringt. Sie bildet mit ihrem Selbstverständnis als sittliche Gemeinschaft ein Gegengewicht zu den gegenwärtigen Tendenzen eines radikalen Individualismus, für den sich das Gemeinwohl auf die Gesamtsumme persönlicher Interessen reduziert. Sie ist es, die mit Nachdruck für eine Solidarität eintritt, die vor allem den Benachteiligten gilt und grundsätzlich die ganze Menschheit in den Blick nimmt. Anders gesagt: Die Kirche in der Gesellschaft soll ein „Biotop der Hoffnung“ (Gnilka) sein, auch und gerade für die Benachteiligten, nicht im Sinne einer Vertröstung, sondern als Ermutigung. Sicherlich sind grundsätzlich auch andere gesellschaftliche Gruppen denkbar, die diese Aufgaben übernehmen könnten; die Kirche hat keinen Alleinvertretungsanspruch, wenn es um die Humanisierung der Gesellschaft geht. Aber es ist keine andere Gruppe in Sicht, die eine solche Aufgabe übernehmen könnte. Ob sie diesem Anspruch immer gerecht wird, ist eine andere Frage. Zusammenfassung „Theologische Motive“ haben für die christliche Sozialethik den Sinn, grundlegende Orientierungen zur Gestaltung der Gesellschaft zu vermitteln. Der Mensch als Ebenbild Gottes und Sünder verlangt nach entsprechenden gesellschaftlichen Ordnungen. Die Reich-GottesBotschaft hält die Hoffnung auf Veränderung wach. Die Kirche als Gemeinschaft jener, die an Christus glauben, solidarisiert sich vor allem mit den Benachteiligten.

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Literatur Heimbach-Steins, M.: Sozialethik als kontextuelle theologische Ethik – eine programmatische Skizze, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 43 (2002) 46-64. Dies.: Biblische Hermeneutik und christliche Sozialethik, in: Dies. (Hg.): Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch, Bd. 1 Grundlagen. Regensburg 2004, 83-110. Herms, E.: Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik. Tübingen 1991, 56-94.

4. Sozialethik in der Geschichte des Christentums Der katholische Soziallehrer Oswald von Nell-Breuning hat einmal auf die selbst gestellte Frage, „was haben wir von Marx gelernt?“ geantwortet: „geschichtlich zu denken“.1 Dieser Hinweis richtete sich vor allem gegen ein damals, vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der katholischen Kirche noch recht häufig anzutreffendes Denken in abstrakten Begriffen, gegen eine Verwechselung von historischen mit „ewigen“ Kategorien, wenn es darum ging, die Struktur der Gesellschaft, ihre fundamentalen Institutionen zu bestimmen. Dabei ist es die inkarnatorische Grundstruktur des Glaubens selbst, die es verbietet, die konkreten geschichtlich-sozialen Realitäten zu ignorieren oder in vermeintlicher Konzentration auf das „Wesentliche“ des Glaubens zu überspringen. Heute ist es selbstverständlich geworden, die Dinge geschichtlich zu sehen. Die dem Einzelnen vorgegebenen Schranken seiner Aktivität werden nicht mehr als natürlich hingenommen, mögen sie noch so undurchdringlich und übermächtig erscheinen. Ein solch geschichtliches Denken hat zur logischen Konsequenz, die Frage nach der historischen Entwicklung auch an die Sozialethik als wissenschaftliche Disziplin heranzutragen: Was hat die sozialethische Perspektive auf den Weg gebracht? Welche historischen Wendepunkte lassen sich ausmachen? Diese Fragen sollen nicht nur für spezifische Veränderungen in der Wahrnehmung von Gesellschaft sensibilisieren und den mühsamen Prozess der „Subjektwerdung“ des Menschen nachzeichnen, sondern auch in Erinnerung rufen, dass die Botschaft des Glaubens in diesem Prozess eine besondere Rolle gespielt hat. Wenn man bedenkt, wie zentral die Verhältnisbestimmung von Individuum und Gesellschaft für die Sozialethik ist, wie zentral die jeweils gegebenen gesellschaftlichen Umstände, dann ist es umso bemerkenswerter, dass die meisten Einführungen und Lehrbücher christlicher Sozialethik auf eigene geschichtliche Kapitel verzichten. Einig ist man sich in der Einschätzung, dass die Entwicklung der Sozialethik zu einer eigenständigen Disziplin in einem engen Zusammenhang mit der neuzeitlichen Wende zum Subjekt steht. Das heißt, erst in dem Augenblick, in dem der Mensch als Person zum grundlegenden normativen Bezugspunkt für alles menschliche Handeln wird, kommen die das Handeln prägenden Ordnungen und Institutionen als

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4. Sozialethik in der Geschichte des Christentums

zu verantwortende, zu gestaltende in den Blick. Was in der Aufklärungsepoche zur Idee der Pflichtenkreise führte, man denke vor allem an Kant, der den Anspruch des Sittlichen wesenhaft aus dem Selbstverständnis des Menschen als Subjekt begründete, führte schließlich durch die Übernahme des Wortes „sozial“ im Laufe des 19. Jahrhunderts zu der uns vertrauten Unterscheidung von „Individualethik“ und „Sozialethik“. Mit anderen Worten: Anders als Antike und Mittelalter greift die Neuzeit zur Bearbeitung und Systematisierung der Fülle von moralischen Problemen nicht mehr allein auf einen tugendethischen Ansatz zurück, sondern entwickelt einen eigenen „bezugsethischen“ Ansatz.2 4.1 Die „Vorgeschichte“. Von der Bibel bis zur revolutionären Gesellschaft Wenn man so interpretiert, dann mag die Zeit vor dem 19. Jahrhundert als bloße „Vorgeschichte“ christlicher Sozialethik erscheinen. Aber schon in der Bibel finden sich viele sozialethische Elemente: Der alle Menschen umfassende Universalitätsanspruch des Evangeliums, seine Botschaft vom Reich Gottes, an welchem der Mensch mitzugestalten berufen ist und ganz besonders das zentrale Gebot der Nächstenliebe, das alle gleicherweise einschließt. Dabei ging es zunächst um konkrete Hilfe, um die Heilung und Linderung von Not und die Unterstützung Bedürftiger. Aber diese Elemente, darin zeigt sich ihre sozialethische Bedeutung, „relativieren so alle staatlichen und gesellschaftlichen Ab- und Ausgrenzungen. Zugleich bedingen sie notwendigerweise eine wenigstens latente gesellschaftskritische Kraft“3. Dabei steht die Botschaft Jesu ganz im Zeichen der Tradition Israels. Die prophetischen Texte mit ihrer Sozialkritik werden nicht zu Unrecht häufig genannt: Amos, Micha, Jesaja kritisierten vor allem das Zerbrechen der alten Strukturen von Solidarität und Familie – Egoismus und Gewinnsucht gefährden die Zukunft und das Ideal Israels. Diese Botschaft durchzieht beide Testamente, weil für beide Teile der Bibel die soziale Frage eine zugleich theologische Frage ist. Die Glaubenshoffnung richtet sich darauf, dass Gott die Macht der Mächtigen zerbrechen und die Niedrigen erhöhen wird (1 Sam 2,1-10 und Lk 1,46-55).4 Auch wenn die kleinen urchristlichen Gemeinden noch kaum gesellschaftsweite Wirkung erzielten – die Zahl der Christen war gering und sie wurden verfolgt –, so führte die „Moral des Mitgefühls“ dazu,

4.1 Von der Bibel bis zur revolutionären Gesellschaft

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jene Missstände als unerträglich und nicht hinnehmbar zu betrachten. Ganz gleich, ob wir selbst die Ursache für bestehendes Leid sind, wir müssen uns doch mitverantwortlich fühlen, so lautete die Botschaft. Aber unabhängig davon war in der römischen Kaiserzeit das Leben der Christen im Verhältnis zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit durch Distanz gekennzeichnet. Die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion im 4. Jahrhundert unter Kaiser Theodosius bedeutete Macht und politische Handlungsfähigkeit der Kirche, bedeutete aber auch eine Verquickung von staatlichen und kirchlichen Interessen, die mit ihren Möglichkeiten und Problemen bei uns bis heute spürbar geblieben ist. „Die Zunahme an Reichtum und Privilegien seitens der Kirche hat notwendig zur Konsequenz, dass ihre Hilfeleistungen nicht mehr aus dem Bewusstsein einer grundlegenden Verbundenheit mit den Bedürftigen in der gemeinsam erlebten gesellschaftlichen Randlage erfolgen.“5 Die Bedürftigen werden zu rechtlosen Zeitgenossen und von den Reichen dafür benutzt, mit sozialen Hilfen das eigene Heil zu erlangen. Auf der anderen Seite eröffnen sich große Chancen, die humanisierenden Impulse aus dem Evangelium in der Gesellschaft geltend zu machen, gerade weil die Kirche Mitverantwortung für die Ordnung der ganzen Gesellschaft bekommt. Eine Gesellschaftskritik von erheblicher Breitenwirkung erleben wir dagegen erst im Mittelalter. Es war vor allem die sogenannte Armutsbewegung, die mit der neuen religiösen Option für die freiwillige Armut als Weg der Nachfolge Christi eine teilweise harsche Reichtums- und Machtkritik artikulierte; man denke an das Wirken des Franz von Assisi (1181-1226). „Am wichtigsten war das neue Beispiel, das die Armutsbewegung bot. (...) Die dem nackten Christus nachfolgten, entblößten sich aller Habe, wandelten die in der Mängelgesellschaft aufgezwungene Armut in eine freiwillige um und traten an die Seite der Armen, um sich ihnen zu solidarisieren. Ein (weiteres, G.W.) eindrückliches Beispiel dafür liefert Elisabeth von Thüringen (1207-1231, G.W.), eine Landgräfin, die sich im Spitaldienst verausgabte.“6 Die kurze Blütezeit dieser Aufbrüche des 13. Jahrhunderts wirkte immer wieder wie ein Stachel im Fleisch der christlichen Kirchen. Zu Recht wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Almosen in dieser Zeit beileibe nicht immer „selbstlos“ gegeben wurden; nur allzu häufig verwandelten sie sich in ein religiöses Mittel, um die eigenen Sünden loszuwerden. Aber bedeutete es nicht doch einen Fortschritt, wenn die wie auch immer motivierte Freigebigkeit die Härte der mehr oder weniger sinnvollen Rechtslage

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wenigstens milderte? Und sicherlich ist Almosengeben nur als ein indirekt sozialethisches Motiv zu werten, weil es nicht die gesellschaftlichen Strukturen in den Blick nimmt, ja eine Veränderung derselben verhindern helfen kann. Mit etwas gutem Willen kann man in der scholastischen Theologie, vor allem bei Thomas von Aquin (1225-1275), eine Weiterentwicklung des Denkens im Sinne sozialethischer Problemstellung beobachten. Er machte sich Gedanken über den Handel, den gerechten Preis, unrechtmäßigen Profit und das Zinsnehmen. Bemerkenswert ist seine Auseinandersetzung mit der Eigentumsfrage. Zunächst, so Thomas, sind die Erdengüter für alle da: Gott hat sie zum Unterhalt für jeden Menschen geschaffen. Dann aber stellt er zur konkreten Eigentumsordnung fest, dass das Privateigentum sehr wohl seinen Sinn hat, nämlich zur effektiven Sicherung von Frieden und Ordnung und der Versorgung aller beizutragen. Dann geht es also nicht mehr um die tugendethische Frage nach dem rechten Umgang mit dem persönlichen Besitz, sondern um die Eigentumsordnung und ihre sittliche Rechtfertigung. Allerdings darf man auch bei Thomas nicht übersehen, dass diese Rechtfertigungsabsicht gerade nicht darauf abzielt, die bestehende Ordnung zu ändern, sondern ihre Sinnhaftigkeit aufzuweisen. Zu fest ist nach mittelalterlichem Verständnis der Einzelne in der ihm vorgegebenen Ordnung verankert.8 Jedenfalls ist die Idee von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums bis heute erhalten geblieben und hat in Artikel 14 Eingang in unser Grundgesetz gefunden. Das vorneuzeitliche Verständnis von Gesellschaft, von dem also, was dem Handeln des Einzelnen insgesamt zugrunde- und vorausliegt, hat das, was unter sozialer Anlage des Menschen verstanden wird, als gleichsam sich selbst definierende Größe eingeführt, häufig aber mit der faktisch gegebenen Ordnung gleichgesetzt. In dieser Zeit ist jede Vorstellung von gesellschaftlicher Einheit engstens mit der jeweils bestehenden Glaubensordnung verbunden. Sie wird zur naturgegebenen und gottgewollten Ordnung erklärt und damit der Gestaltungsverantwortung des Menschen entzogen – die Menschen hatten sich einzufügen und den Mächtigen zu dienen. Mit der durch die Reformation herbeigeführten Glaubensspaltung büßt diese Ordnungsbegründung ihre bis dahin fraglose Gültigkeit ein. Die Religion verliert ihre Kraft zur Begründung gesellschaftlicher Ordnung. An ihre Stelle tritt das freie Subjekt, das sich nun mit „seinesgleichen“ verständigen muss: „Das, was die Einheit von Gesellschaft stiftet und darin ihr Gemeinwohl fundamental sichert, ist keine metaphysisch vorgegebene Ordnung, sondern ihre Konstituierung durch Vertrag.

4.1 Von der Bibel bis zur revolutionären Gesellschaft

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Der Staat (...) ist bei aller Naturnotwendigkeit keine Naturgegebenheit (mehr, G.W.), sondern ein Produkt gesellschaftlicher Übereinkunft.“9 Dabei ist der Protestantismus einen eigenen Weg gegangen, indem er die soziale Hilfeleistung und Armenfürsorge der städtischen Obrigkeit als deren Aufgabe zuschrieb und sie von ihr einforderte. Das Prinzip des „sola fide“, das heißt, der Glaube kann nicht als Werk des Menschen angesehen werden, und die sogenannte „Zwei-ReicheLehre“, nach welcher sich der Glaube auf das „erste Reich“ bezieht, während die irdischen Belange, das „zweite Reich“, der Autorität der Fürsten obliegen, standen sichtlich dahinter und führten zu einer „prinzipiellen Reserviertheit gegenüber dem Gedanken, dass das unmittelbare Tun von Hilfeleistungen eine Sache des christlichen Glaubens sein könnte (...).“10 Sicherlich war auch für Martin Luther (14831546) die Diakonie eine dem Christen auferlegte Pflicht. Aber mit der Arbeitsteilung zwischen Staat und Kirche ging die zunehmende „Kommunalisierung und Bürokratisierung“ der Armenfürsorge einher.11 Zwar kann man diese Entwicklung als eine Entkoppelung des sozialen Engagements von einer ihrer wichtigen Motivationsgrundlagen beklagen, aber aus sozialethischer Sicht bedeutete sie auch einen Schritt in Richtung struktureller Bewältigung von sozialer Hilfeleistung. Beide Motive, die Wende zum Subjekt mit ihrer Verantwortlichkeit für die Ordnung der Welt und die Arbeitsteilung zwischen Staat und Kirche, bedeuteten also eine neue Qualität des Handelns. „Das ,Gesamtkunstwerk‘ der geordneten Schöpfung wird zergliedert und entzaubert und in ganz neuer Weise dem Menschen – als dem neuen ,Herrn‘ der Schöpfung – dienstbar und verfügbar gemacht.“12 Das Denken „zersplittert“, das moderne Kulturbewusstsein ist durch „Zerrissenheit“ gekennzeichnet: „Die einzelnen Nationen bilden sich aus, und die Völker treten auseinander, und mit ihnen auch der Geist des Abendlandes und seine einheitliche Schau der Welt. Nicht nur theoretische und praktische Vernunft, Wissen und Glauben, Religion und Metaphysik, Politik und Moral werden getrennt und je auf sich selbst gestellt, sondern der Probleme, Methoden, Theorien werden so viele hervorgebracht, daß man sie fast nicht mehr überschauen kann (...).“13 Diese Arbeitsteilungen, diese strukturellen Veränderungen lassen den neuzeitlichen Menschen bewusster nach Freiheit und Mündigkeit streben als es dem mittelalterlichen Menschen möglich war. Im 19. Jahrhundert, mit dem Übergang zur Industriegesellschaft, weitete sich die Perspektive nochmals: Die sozialethische Frage stell-

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te sich nicht mehr länger nur als Frage nach der Ordnung des Staates, sondern als Frage nach „den gesellschaftlichen Ordnungsgestaltungen insgesamt“14. In dieser Zeit liegt nun der eigentliche Beginn der heutigen christlichen Sozialethik. Allerdings muss man mit Blick auf die Rolle der katholischen Kirche feststellen, dass sie keinesfalls eine Vorreiterin war, wenn es um die notwendige Reklamation von sozialethischen Forderungen ging. Viel zu spät kam sie bei der Proklamation der Menschenrechte, nicht ganz so spät mit der Kritik am Proletarierelend. Eindeutig besser gemacht hat sie es nur mit der Entwicklungsthematik, die sie sehr frühzeitig thematisiert und in die politische Debatte eingebracht hat. Der Sozialethiker Franz Furger hat der katholischen Kirche in Bezug auf die Entwicklung der Menschenrechtsidee nicht ganz zu Unrecht einen „verpassten Einstieg“ in die genuin sozialethische Fragestellung vorgeworfen. Er hat dabei vor allem die amerikanische Menschenrechtsdeklaration von 1776 im Auge, ein aus praktischer Erfahrung und ethischer Reflexion resultierendes und „im Selbstverständnis ihrer Verfasser (...) gerade auch aus christlicher Glaubensüberzeugung vertretenes Gesellschaftskonzept.“15 Warum dieses Konzept im katholischen Bereich keine Chance hatte, liegt unter anderem an der Entwicklung, die die Menschenrechtsidee in der französischen Revolution von 1789 genommen hatte. Man denke nur daran, dass das Postulat der Religionsfreiheit regelrecht weggespült wurde. Wie dem auch sei, so sehr diese Ablehnung der Menschenrechtsidee durch die Kirche mit Blick auf die gegebenen Umstände ein gewisses Verständnis verdient, „der Sache nach bedeutet sie nicht nur ein Fehlurteil hinsichtlich einer letztlich sich gerade auch christlichen Quellen verdankenden ethischen Entwicklung, sondern auch eine Isolierung der Kirche von der Möglichkeit, ihre eigene sozialethische Kompetenz in die sich gestaltende moderne Welt einzubringen.“16 Erst im Jahre 1963, mit der Enzyklika „Pacem in terris“ von Papst Johannes XXIII., nahm die katholische Kirche offiziell und unter Verwendung von Formulierungen aus der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 die Idee der Menschenrechte in ihren Forderungskatalog auf. Dass auch die kirchenamtlichen Stellungnahmen Vorläufer hatten, wird die Auseinandersetzung mit dem sogenannten „Katholizismus“ zeigen. Die beginnende Industrialisierung und das damit wachsende Proletarierelend bedeuteten ganz neue Impulse für die Sozialethik. Erst diese konkrete geschichtliche Herausforderung machte es möglich, „die neuen Probleme aufzugreifen, sie im Licht des Evangeliums zu

4.2 Die Bewegung des sogenannten deutschen „Katholizismus“

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bedenken und neue Forderungen hinsichtlich der Gestaltung von Gesellschaft und Staat aus christlicher Verpflichtung und Einsicht heraus zu erheben.“17 Allerdings lassen sich im Umgang mit den sozialen Problemen dieser Zeit nicht unerhebliche konfessionelle Unterschiede ausmachen. Für die Katholiken spielte der von Bismarck ausgelöste Kulturkampf ein große Rolle, wohingegen die enge Bindung der protestantischen Landeskirchen an den Staat gesellschaftliche Kritik eher erschwerte und „so die ersten Initiativen zur Auseinandersetzung mit der sozialen Frage im freikirchlichen Raum entstanden.“18 Außerdem darf man für die richtige Einschätzung des katholischen Problembewusstseins nicht vergessen, dass gerade die traditionell katholisch geprägten Gebiete erst spät von der Industrialisierung erfasst wurden. Das mag ein Grund dafür sein, dass sich dort erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Problematik der „sozialen Frage“ entwickeln konnte. Zusammenfassung Angefangen von der neutestamentlichen Zeit finden sich in der Geschichte des Christentums vielfältige „sozialethische“ Elemente. Ursprünglich standen die konkrete Hilfe, die Linderung von Not und die Unterstützung Bedürftiger, im Vordergrund. Die Moral des Mitgefühls ließ bestimmte Missstände als unerträglich und nicht hinnehmbar erscheinen. Im 19. Jahrhundert weitete sich schließlich die Perspektive, die sozialethische Frage wurde zur Frage nach der gesellschaftlichen Ordnung insgesamt.

4.2 Die Bewegung des sogenannten deutschen „Katholizismus“ Wir befinden uns nun in der Zeit, die für das politische und soziale Engagement der Kirche und ihre Reflexion durch die katholische Soziallehre beziehungsweise die christliche Sozialethik entscheidend geworden ist. Wie hat sich in dieser Zeit das Verhalten der Kirche geändert? Wer waren die Träger ihres sozialen und politischen Engagements? Welches ihre Formen? Und wie kam es zu diesem Umbruch? Die Beschränkung auf Deutschland ist nicht nur dem begrenzten Umfang einer Einführung geschuldet, sondern hat auch den Sinn, das gerade hier gut zu beobachtende Ringen der Kirche um Integration in die moderne Gesellschaft beispielhaft darzustellen. Außerdem

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4. Sozialethik in der Geschichte des Christentums

soll nicht zuletzt durch diesen Blick in die Geschichte das heutige Verhältnis von Kirche, Staat und Gesellschaft erhellt werden, das in Deutschland bekanntermaßen eine ganz besondere Ausprägung gefunden hat. Neue Aktionsweisen

In der nachrevolutionären Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bildeten sich ganz neuartige Aktionsweisen der Kirche. Diese Aktionsweisen sind zunächst und grundlegend dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht mehr präzise abgrenzbar sind; deshalb spricht man von „Katholizismus“, nicht von katholischer Kirche. Gemeint ist also eine Bewegung, die nicht mit der Kirche identisch ist. Sie geht vielmehr über sie hinaus. Sie ist gesellschaftlich eingebunden und gehört weder zum „bleibenden Wesen der Kirche“, noch kann sie als dessen „notwendige geschichtliche Ausprägung“ angesehen werden, um mit Karl Rahner (1904-1984), dem großen Theologen, zu sprechen.19 Der Beginn des Jahrhunderts war für die Kirche durch fundamentale Umbrüche und massive Infragestellung ihrer Position gekennzeichnet. An diesem Prozess war die Aufklärung maßgeblich beteiligt: „Erkenntnis des natürlichen Verstandes, nicht göttliche Offenbarung war nach den neuen Ideen die Grundlage jeglicher Ordnung.“20 Solche Ideen mussten mit radikaler Kirchenkritik einhergehen, wenn auch in Deutschland weniger massiv als in Westeuropa. Auf der anderen Seite bedeutete die Aufklärung eine Intensivierung der kirchlichen Arbeit: „Die Pastoraltheologie wurde zur akademischen Disziplin, die Aufgabe der Seelsorgsgeistlichen neu konzipiert, der Religionsunterricht organisiert, die Liturgie den Gläubigen durch stärkere Verwendung der Muttersprache nähergebracht und nicht zuletzt der Vorrang der Bibel als Quelle theologischer Erkenntnis betont.“21 Diese Intensivierung wurde allerdings mit einer Rationalisierung der Religion und ihrer Indienstnahme durch den Staat erkauft. Dazu kam, dass der Kirche mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 die materielle Basis fast vollständig wegbrach – als nämlich das deutsche Reich das linke Rheinufer an das revolutionäre Frankreich abtreten musste und eine Entschädigung durch den Rückgriff auf die geistlichen Fürstentümer erfolgte. Nicht zuletzt diese Umstände und Motive waren es, die die Kirche auf den Weg der Anpassung an die moderne Gesellschaft brachten. Sie war gezwungen, ganz neuartige Aktionsweisen in der Gesell-

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schaft zu entwickeln. Der Historiker Heinz Hürten hat es wie folgt auf den Punkt gebracht: „Keinem umfassenden Plan entnommen, oft mehr aus dem Willen zur Erreichung eines einzelnen Zweckes als aus einer Gesamtanalyse der gesellschaftlichen Situation entstanden, meist aus der Initiative einer kleinen Gruppe von Freunden und Gesinnungsgenossen erwachsen, darum ohne Weisung und Leitung der Bischöfe, die wegen ihrer Einbindung in das staatskirchenrechtliche System dazu oft nicht einmal fähig gewesen wären, bildete die Summe dieser unkoordinierten Vorgänge eine der zentralen Antworten der Kirche auf die Herausforderung, die der Umsturz der sozialen Ordnung (...) bedeutete. Weil diese neue katholische Bewegung ihre Ziele nur in der Auseinandersetzung mit dem die Kirche einengenden Staat und einer nicht mehr an christlichen Normen orientierten Gesellschaft erreichen konnte, wurde sie notwendig politisch und sozial. Sie entwickelte dabei moderne Organisationsformen. Die Katholiken, die an ihr teilnahmen, schlossen sich zu Vereinen, Verbänden, schließlich zu Parteien zusammen (...). Sie bewegten sich damit außerhalb der vom Kirchenrecht vorgesehenen Gesellungen, Kongregationen und Bruderschaften. Die weltliche Form ihres Zusammenschlusses war vielmehr die Voraussetzung für ihr Wirken, das eben die gesellschaftliche Stellung der Kirche wahren oder verbessern sollte in einer Gesellschaft, die der Kirche nicht mehr einen vorgegebenen Rang einräumte und sie darum in die Gefahr brachte, zu einem privaten Zirkel von Glaubensgenossen zu werden, der nicht über den eigenen Kreis hinaus zu wirken vermochte.“22

Eine gewisse traurige Bestätigung findet diese Interpretation gerade heute, da solche kirchlichen Organisationsformen ihre Bedeutung weitgehend verloren haben und die Privatisierung des Glaubens das politische Engagement der Christen beinahe zum Erliegen gebracht hat. Und wieder muss sich die Kirche auf den Weg machen und ihre Rolle in der Gesellschaft neu finden. Die neuen Organisationsformen, in denen die Kirche um ihren Platz in der nachrevolutionären Gesellschaft kämpfte, zeigten sich vor allem in dreifacher Gestalt: 1. im Zentrum, einer eigenen Partei der Katholiken, 2. im Volksverein für das katholische Deutschland, dem Verein der Vereine, und 3. in den christlichen Gewerkschaften und Arbeitervereinen. Über alle drei Formen fand die Kirche ihren Weg in die moderne Gesellschaft. Mit dem Zentrum entdeckte man den Appell an das wahlberechtigte Volk, über Presse und Parlament, als Mittel, um für die Freiheit zu kämpfen – für die eigene, aber damit auch für die des Bürgers. Also nicht unbedingt aus eigener Überzeugung, sondern um die eigene Sache besser vertreten zu können mach-

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4. Sozialethik in der Geschichte des Christentums

te der „Katholizismus“ Politik, vor allem Sozialpolitik und unterstützte die Demokratie. Auch der Volksverein für das katholische Deutschland bejahte die gegebene gesellschaftliche Situation und betrachtete sie als zu gestaltende Aufgabe. Was zunächst als Abschottung oder Milieubildung erscheinen mochte, bedeutete doch zugleich einen Schritt zur Modernisierung. Man denke nur an die vielfältigen publizistischen, sozialen und pädagogischen Bemühungen des Vereins. Jedes Mitglied erhielt monatlich ein Vereinsheft zugestellt; Flugschriften zu aktuellen Fragen, Kurse zur Ausbildung von Laienführern, zahlreiche Versammlungen im ganzen Land zeigen die Dialektik zwischen dem Kampf für die Kirche und den gerade dadurch vermittelten Weg in die moderne Gesellschaft. Auch im sogenannten „Gewerkschaftsstreit“ versuchte der Volksverein sich allen Bestrebungen zu widersetzen, die Gewerkschaftsarbeit paternalistisch zu gestalten und den katholischen Arbeitervereinen zuzuweisen. Die Arbeitervereine, anders als die christlichen Gewerkschaften, hatten eine seelsorgerische Zielsetzung, ihnen gehörte ein Geistlicher als Präses an, die Gliederung von Bistümern und Pfarreien war ihr organisatorisches Prinzip. Allerdings verlief die Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Kirche und moderner Gesellschaft alles andere als geradlinig. Im Verlauf des letzten Jahrhunderts wurde die katholische Bewegung (wieder) „frömmer, kirchlicher, klerikaler“23. Dieser Prozess, der von soziologischer Seite auch als „Verkirchlichung“ des Christentums beschrieben wurde, dauert bis heute an – man denke nur an die Strategie der Zentralisierung, ob bei der Caritas oder im pastoralen Handeln oder man denke an Profilierungsstrategien, die die Konfessionsgrenzen neu entdeckt haben, auf beiden Seiten. Die „soziale Frage“

Ein anderes historisches Phänomen, das das katholisch-soziale Denken und die katholische Soziallehre entscheidend geprägt hat, war die sogenannte „soziale Frage“ des 19. Jahrhunderts. Gemeint ist damit eine massive Verelendung weiter Teile der Arbeiterschaft. Hintergrund war die industrielle Revolution in Europa. In England begann sie schon Mitte des 18. Jahrhunderts, in Deutschland folgte sie mit einiger Verspätung. Über die Gründe für diesen massiven gesellschaftlichen Wandlungsprozess kann man nur Vermutungen anstellen: dynamisches Bevölkerungswachstum, technische Innovationen, Arbeitsteilung, aber auch rechtlich-institutionelle Reformen wie die

4.2 Die Bewegung des sogenannten deutschen „Katholizismus“

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Bauernbefreiung und die Gewerbefreiheit gehören sicherlich dazu. Außerdem war der sogenannte „Pauperismus“ des 19. Jahrhunderts nicht nur durch die Industrialisierung bedingt: Man denke nur an die Verarmung der ländlichen Bevölkerung und der Handwerker – gerade nach ihrer Befreiung und damit Loslösung aus der sozialen Sicherheit der Zünfte – und an das durch die Bauernbefreiung „freigesetzte“ Landproletariat. Alles drängte in die Städte und schaffte dadurch ein Überangebot an ungelernten Arbeitskräften. Zunächst war die Industrie nicht in der Lage, die Nachfrage nach Arbeit zu befriedigen und nutzte diese Situation zum Teil gnadenlos aus. Der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1877), eine der zentralen Persönlichkeiten des deutschen Katholizismus, hat in seiner viel zitierten Schrift „Die Arbeiterfrage und das Christentum“ von 1864 die soziale Frage und die Lage der Fabrikarbeiter beschrieben und sich dabei vom Mitbegründer der sozialdemokratischen Bewegung, Ferdinand Lassalle (1825-1864), inspirieren lassen: „Das ist die Lage unseres Arbeiterstandes; er ist angewiesen auf den Arbeiterlohn; dieser Arbeiterlohn ist eine Ware; ihr Preis bestimmt sich täglich durch Angebot und Nachfrage; die Achse, in die er sich bewegt, ist die Lebensnotdurft; ist die Nachfrage größer als das Angebot, so steigt er etwas über diese Achse; ist das Angebot größer als die Nachfrage, so fällt er unter sie herab; die allgemeine Tendenz ist aber, wie bei der Ware, die Wohlfeilheit der Produktion; die Wohlfeilheit der Produktion ist hier Beschränkung der Lebensbedürfnisse; und so kann bei dieser ganz mechanisch-mathematischen Bewegung der Fall nicht ausbleiben, daß zuweilen selbst die äußerste Notdurft nicht mehr durch den Preis der Arbeit gedeckt werden kann und daß ein Hinsiechen ganzer Arbeiterklassen und Arbeiterfamilien, ein langsames Verhungern derselben eintritt. (...) Ich kenne nichts Beklagenswerteres als diese Tatsache.“24

Der soziale Katholizismus ließ sich durch diese Umstände herausfordern; das kirchliche Lehramt protestierte. Jetzt wird die Ordnung der Gesellschaft zum Problem und es kommt zu einer intensiven theoretischen Auseinandersetzung über die Prinzipien ihrer Gestaltung. Erst jetzt entwickelt sich eine eigene wissenschaftliche Disziplin, die christliche Sozialethik. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass der deutsche Katholizismus erst allmählich und durch engagierte Einzelpersonen auf diese enormen Probleme der industriellen Revolution reagierte – Jahrzehnte nach der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifestes. Zur besseren Übersicht kann man die wesentlichen Denklinien und politischen Optionen des Katholizismus in folgenden drei Argumen-

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4. Sozialethik in der Geschichte des Christentums

tationsfiguren zusammenfassen: 1. Gesinnungsreform oder Zuständereform, 2. ständisch-korporative Ordnung oder Sozialpolitik, 3. Sozialreform durch den Staat oder durch nichtstaatliche Kräfte. Die in den drei Optionen enthaltenen Alternativen wurden schließlich durch den politischen Prozess gleichsam zwangsläufig entschieden. Und zwar von der ursprünglichen Gegenposition zur Gesellschaft hin zur Mitverantwortung und Integration in die Gesellschaft. Wieder bestätigt sich die These: Der Weg der Kirche zur Anpassung an die moderne Gesellschaft lief zwar nicht geradlinig, er wurde auch nicht bewusst angezielt, sondern entwickelte sich aus einer intensiven Auseinandersetzung mit dieser Gesellschaft, im Ringen um die eigene Identität und Rolle. 1. Gesinnungs- oder Zuständereform

Bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein war die religiösmoralische Sicht der sozialen Frage dominierend. Entsprechend erwartete man eine Beseitigung der sozialen Missstände primär von sittlich-moralischen Kräften und pastoral-caritativem Engagement. Beeinflusst durch die romantische Glorifizierung des Mittelalters war man überzeugt, „dass Entchristlichung und Sittenverfall das Massenelend herbeigeführt hätten und ihm allein mit Hilfe kirchlicher Pastoral und Karitas begegnet werden könne.“25 Auch Bischof Ketteler, damals war er noch Pfarrer in Hopsten, äußerte sich in seinen Adventspredigten von 1848 ähnlich: „Mit der besten Staatsform haben wir noch keine Arbeit, noch kein Kleid, noch kein Brot (...). Der Abfall vom Christentum ist der Grund unseres Verderbens. (...) Die sozialen Zustände (sind) eine Folge des Abfalls von Christus. (...) Nicht in der äußeren Not liegt unser soziales Elend, sondern in der inneren Gesinnung.“26 Wie gesehen hat der Bischof gelernt und die Ursachen des Pauperismus im gesellschaftlichen Wandel gesehen, in den vom Marktmechanismus provozierten unmenschlichen Arbeitsbedingungen, in der völligen politischen Entrechtung der Arbeiter durch ihre totale Abhängigkeit vom Fabrikherren. Deshalb ist die Gesinnungsreform nicht der richtige Ansatz; es bedarf der Zuständereform. 2. Korporative Ordnung oder Sozialpolitik

Zur Überwindung der sozialen Not taten sich für die katholischen Reformer wiederum zwei Wege auf: – eine völlige Neugestaltung der bestehenden Ordnung nach mittelalterlichem, ständisch-korporati-

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vem Vorbild oder – eine Beseitigung der Auswüchse auf dem Boden der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Adam Heinrich Müller (1779-1829), ein Vertreter der romantischen Sozialkritik, schilderte die ständische Ordnung in leuchtenden Farben: Der Einzelne war „einer Familie, einer Korporation, einer Gemeinde, einem Stande für immer verpflichtet (...), er war auf Tod und Leben einem gewissen Stande (...) ergeben und dieser Zustand oder Stand hatte seinesteils wieder die Verpflichtung, für ihn zu sorgen. Eine solche Vorsorge war kein Almosen, welches den Empfänger erniedrigt, sondern eine strenge Verpflichtung, deren Erfüllung das edlere Selbstgefühl der Menschen niemals verletzen konnte (...). Die große Masse des Volkes war durch die Erhaltung der unzähligen natürlichen und einzelnen Körperschaften, Obrigkeiten, Familien, Gemeinden, Stände, denen jeder einzelne angehörte, gegen den Verfall seiner eigenen Kräfte geschützt und für die eigentlich Verlassenen, Gebrechlichen, Heimatlosen, für die wenigen, denen kein besonderes Obdach zuteil geworden war, sorgte die Kirche.“27

Diese Idee entwickelte eine beachtliche Spannbreite. Während die einen am Ideal der mittelalterlichen Ständeordnung festhielten und eine entsprechende Rückführung der Gesellschaftsordnung forderten, modifizierten andere das Konzept bis hin zu den Vorstellungen eines Franz Hitze (1851-1921), der das Geblütsrecht ablehnte, die Zuständigkeit der Stände auf die Wirtschaft einschränken, sie demokratisieren und für alle öffnen wollte. Ein Hauptmotiv der sozialromantischen Richtung war die massive Kritik an der liberalen Wirtschaftsordnung. Der Lohnvertrag, also das Kaufen und Verkaufen von Arbeit, wurde abgelehnt, Zins und Wucher als identisch aufgefasst, „Eigentum ist Diebstahl“, so lautete die Parole. Doch die Macht der Verhältnisse erwies sich als zu stark. Eine Rückkehr zur alten Zunft- und Standesordnung erschien gerade angesichts der sozialen Frage und angesichts der großen Wanderungsbewegungen im Zuge der Bevölkerungsexplosion als unangemessen. Die soziale Sicherung war so nicht mehr zu organisieren. So arrangierte sich der Katholizismus allmählich mit den Gegebenheiten und versuchte mit sozialpolitischen Konzepten zu intervenieren – aber eben auf Grundlage des bestehenden kapitalistischen Wirtschaftssystems. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gewann diese reformerisch orientierte Bewegung die Oberhand. Ein gutes Beispiel ist der sogenannte „Antrag Galen“ von 1877, die erste große sozialpolitische Initiative der Zentrumspartei während des abflauenden Kulturkamp-

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4. Sozialethik in der Geschichte des Christentums

fes. Dabei handelte es sich um einen Forderungskatalog sozialpolitischer Einzelmaßnahmen – Sonntagsruhe, Arbeitsschutz, Verbot von Kinderarbeit, Beschränkung der Frauenarbeit u.a. –, den Ferdinand Graf von Galen in den Deutschen Reichstag einbrachte.28 Warum sich diese sozialreformerische Bewegung letztlich durchsetzte, mag, neben den gesellschaftsstrukturellen Veränderungen, auch mit der starken Verankerung des Sozialkatholizismus in der gläubigen Basis zu tun haben. Könnte nicht sie es gewesen sein, die mit ihrem „Realismus“ pragmatische statt ideologisch-fundamentale Lösungen der sozialen Frage beförderte? 3. Staat oder nichtstaatliche Kräfte

Wie schon mehrfach angesprochen, hatte die katholische Kirche damals ein gespanntes Verhältnis zum preußisch dominierten Staat. Zwar forderte etwa Bischof Ketteler 1869 zur Überwindung der sozialen Missstände neben kirchlichen Hilfsmaßnahmen und dem Einsatz von Streiks umfassende staatliche Arbeiterschutzgesetze. Aber wie schwer sich der soziale Katholizismus mit staatlichen Regelungen tat, zeigt die ursprünglich große Zurückhaltung des Zentrums gegenüber den Bismarckschen Arbeitsschutzgesetzen. Auf der einen Seite verstand sich das Zentrum ausdrücklich als „Verfassungspartei“, also den Staat bejahend, auf dem Boden der Verfassung stehend, national eingestellt. Auf der anderen Seite fürchtete man Staatsdirigismus und Dominanz des Staates gegenüber der Kirche. So signalisierte Ludwig Windhorst (1812-1891), der unumstrittene Führer der Zentrumspartei, in Richtung Bismarck, dass das Zentrum wohl zu „sachlicher Mitarbeit, nicht aber zu bedingungsloser Gefolgschaft“29 bereit sei. Einerseits verlangte das Zentrum immer wieder staatliche Arbeitsschutzgesetze, Beispiel Antrag Galen. Andererseits lehnte die Partei die staatlichen Versicherungspläne Bismarcks zunächst leidenschaftlich ab, und zwar sowohl die Gründung einer Reichsversicherungsanstalt als auch die staatlichen Zuschüsse zu den Unfallrenten – beides sollte ja dazu führen, den Staat als wohltätige Einrichtung schätzen zu lernen. Originalton Windhorst: „Das Ende dieser Forderungen (nach staatlichen Zuschüssen zur Sozialversicherung, G.W.) ist gar nicht absehbar. Wir eröffnen einen praktisch ganz gangbaren Weg zur Ernährung ganzer Klassen aus Staatsmitteln. Der Staat soll alles ordnen, und wir sind im Begriffe, diese Entwicklung zu fördern (...). Es ist ein voller Schritt – nicht in das Dunkel – nein!

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4.2 Die Bewegung des sogenannten deutschen „Katholizismus“ 30

sondern auf dem hellerleuchteten Weg der Sozialdemokratie.“ Die Konzentration auf den Staat bedeutete, so die Sorge, eine Entmündigung des Bürgers und die Erziehung zur Verantwortungslosigkeit. Eine Minderheit in der Zentrumspartei sah das schon damals anders und votierte für die Idee eines fürsorgenden Staates. Nach dem Tode Windhorsts schwenkte die Partei endgültig um und kam zu einer weitgehenden Bejahung des bestehenden Systems, zu einer „entschiedenen Reichsfreudigkeit“31. Man kann diese Entwicklung auch als Weg von einem bloß rechtsstaatlichen (im Sinne eines Nachtwächterstaates) zu einem wohlfahrtsstaatlichen Standpunkt beschreiben, genauer gesagt im Sinne eines gemäßigten Wohlfahrtsstaates, „eine Haltung, die sowohl die grundsätzliche antikapitalistische Einstellung überwunden hatte wie auch die Beseitigung der kapitalistischen Auswüchse als staatliche Aufgabe bejahte.“32 Wenn man aus heutiger Sicht einen Blick auf dieses Ringen um das richtige gesellschaftliche Engagement werfen will, fallen Parallelen auf. Man denke nur daran, was in letzter Zeit unter dem Stichwort zivilgesellschaftliches Engagement der Kirche lanciert wird: Die Kirche hat ihre zentrale Stellung neben dem Staat verloren und ordnet sich ein in die Vielfalt gesellschaftspolitischen Engagements, so lautet eine häufig zu hörende Diagnose. Was gegenüber damals fehlt ist das ausgeprägte Milieubewusstsein der Katholiken, die starke „Basis“. Was fehlt ist auf der einen Seite das starke Gefühl der Zugehörigkeit zur Kirche und auf der anderen Seite das starke Bewusstsein von der Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit gläubigen Engagements in der „profanen Welt“. Erstes wird erschwert durch die bekannte Individualisierung des Glaubens, Zweites durch die funktionale Differenzierung der fortgeschrittenen Modernität der Gesellschaft. Allerdings kann man fragen, ob nicht der Preis zu hoch war, den die Katholiken für ihren integrativen Kurs, für ihren Einfluss auf Gesetzgebung und Verwaltung im Deutschen Reich, bezahlen mussten. Die kritische Distanz zum Staat ging allmählich verloren. Aus einem Zwang zur Integration in die moderne Gesellschaft wurde schließlich eine integrierende Kraft im bestehenden Gesellschaftssystem – eine Entwicklung, die in dem Augenblick zum Problem werden muss, in dem die Identifikation mit der Kirche sich auflöst und der Glaube individualisiert wird. Denn dann, das scheint gegenwärtig der Fall zu sein, verliert die Kirche ihre gesellschaftspolitische Bedeutung.

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4. Sozialethik in der Geschichte des Christentums

Zusammenfassung Mit „Katholizismus“ ist eine Bewegung vor allem des 19. Jahrhunderts gemeint, die über die verfasste Kirche hinausgeht. Die Umwälzung der sozialen Ordnung nötigte die Kirche zur Anpassung. Sie war gezwungen, ganz neuartige Aktionsweisen in der Gesellschaft zu entwickeln. Von unten, spontan, aus der Initiative kleiner Gruppen und ohne Weisung der Bischöfe entstanden, wurde diese Bewegung notwendig politisch und sozial. Der Katholizismus ebnete der Kirche den Weg in die moderne Gesellschaft.

4.3 Kirchliche Sozialverkündigung Die ursprüngliche Bedeutung der Titel „kirchliche Sozialverkündigung“ oder auch „Soziallehre der Kirche“ bezieht sich auf die Forderung des Evangeliums, „jenseits aller persönlichen Vervollkommnungen seinem Wesen nach in gleicher Weise eine gemeinsame gesellschaftliche Anstrengung beim Aufbau der Welt und für den Fortschritt der Menschheit“33 zu sein. Die römische Bischofssynode von 1971 hat es auf den Punkt gebracht: „Für uns sind Einsatz für die Gerechtigkeit und die Beteiligung an der Umgestaltung der Welt wesentlicher Bestandteil der Verkündigung der Frohen Botschaft.“34 Oder noch weiter zugespitzt: „Das in Christus gegebene Heil verwirklicht sich durch und in der Befreiung der Unterdrückten. Dabei muß man in Kauf nehmen, daß das Evangelium gegenüber der herrschenden Ordnung als umstürzlerisch erscheint.“35 Dass es das kirchliche Lehramt mit dieser Versprechung durchaus ernst gemeint hat, demonstriert es schon, wie zu zeigen sein wird, in seinem ersten zentralen Rundschreiben. Aus theologischen Gründen weiß sich die Kirche aufgerufen: Es ist die inkarnatorische Grundstruktur des Glaubens, die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, die es verbietet, die konkreten gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu ignorieren „oder in einer vermeintlichen Konzentration auf das ,Wesentliche‘ des Glaubens zu überspringen.“36 Dieser ursprüngliche Sinn dessen, was unter „Soziallehre“ oder „Sozialverkündigung“ der Kirche zu verstehen ist und notwendig die ganze Kirche als Subjekt und Träger des Handelns einbezieht – die Basis in den Gemeinden, die Verbände, die wissenschaftliche Reflexion durch die Sozialethik genauso wie das Lehramt auf seinen ver-

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schiedenen Ebenen – wird ergänzt durch ein Verständnis im engeren Sinne und bezeichnet dann den Kernbestand an kirchenamtlichen Texten oder Verlautbarungen, der aus diesem Bemühen erwachsen ist. Gemeint ist insbesondere die lehramtliche Sozialverkündigung, deren Beginn Ende des 19. Jahrhunderts einen „neuen Strang lehramtlichen Sprechens“37 eben zu gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen Problemen markiert. Im Folgenden wird diese lehramtliche Tradition im engeren Sinne im Vordergrund stehen – als eine wichtige Quelle christlicher Sozialethik. Was den Anspruch und die Eigenart kirchlicher Soziallehre betrifft, muss man zwei Aspekte hervorheben: 1. Jede Soziallehre steht auf zwei Prämissen – einer Prämisse grundsätzlicher und einer Prämisse faktischer Art. Das heißt, jede Kritik an bestehenden Verhältnissen muss auf ein Wissen um die Sachen zurückgreifen, will sie mit Nachdruck den Grundsatz der Gerechtigkeit einfordern. 2. Gleichwohl ist ihr Anspruch eher bescheiden. Er bezieht sich darauf, um mit NellBreuning zu sprechen, „daß man die von ihnen (den Päpsten, G.W.) ausgesprochene Sorge ernst nehme; daß man das, was sie sagen, nicht einfach als belanglos beiseite schiebe, sondern ehrlich prüfe (...).“ Mit anderen Worten: Wenn es darum geht, bestehende Unrechtsverhältnisse zu ändern, mag der vorgeschlagene Weg strittig sein, die Forderung aber, „den Übelständen, insoweit sie tatsächlich bestehen, effektiv abzuhelfen, ist unbedingt verbindlich (...).“38 Im Folgenden sollen nur einige wenige aber markante Etappen der Sozialverkündigung der Kirche vorgestellt werden. „Rerum novarum“

Das Jahr 1891 stellt für die katholische Soziallehre ein beinahe magisches Datum dar. Papst Leo XIII. verkündete die Enzyklika „Rerum novarum“, das erste Sozialrundschreiben und die später sogenannte „Magna Charta“ der Arbeitswelt. Naturgemäß fällt es heute schwer sich vorzustellen, welches Aufsehen der Papst mit seiner Enzyklika über den „Geist der Neuerung“ – mit diesen Worten beginnt das Lehrschreiben – erregte. Mit dem „Geist der Neuerung“ war der mit der „sozialen Frage“ einhergehende tiefgreifende gesellschaftliche Wandel gemeint. Der 1990 verstorbene französische Dominikaner Marie-Dominique Chenu bringt es auf den Punkt: „Der Papst schlug im wahrsten Sinne des Wortes Lärm.“39 In Nr. 2 des Textes heißt es: „In der Umwälzung des vorigen Jahrhunderts wurden die alten Genossenschaften der arbeitenden Klassen zerstört (...) und so geschah es,

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4. Sozialethik in der Geschichte des Christentums

daß die Arbeiter allmählich der Herzlosigkeit reicher Besitzer und der ungezügelten Habgier der Konkurrenz isoliert und schutzlos überantwortet wurden. Ein gieriger Wucher kam hinzu, um das Übel zu vergrößern, und wenn auch die Kirche zum öfteren dem Wucher das Urteil gesprochen, fährt dennoch Habgier und Gewinnsucht fort, denselben unter einer anderen Maske auszuüben. Produktion und Handel sind fast zum Monopol von wenigen geworden, und so konnten wenige übermäßig Reiche einer Masse von Besitzlosen ein nahezu sklavisches Joch auflegen. (…) Die Arbeiter dürfen nicht wie Sklaven angesehen und behandelt werden; (…) unehrenvoll und dagegen unwürdig ist es, Menschen bloß zu eigenem Gewinne auszubeuten und sie nur so hoch anzuschlagen, als ihre Arbeitskräfte reichen.“40

Dem Papst scheint es mit seinem Anliegen ernst gewesen zu sein, denn er grenzt sich prinzipiell ab von der „Mentalität einer großen Zahl von Honorationen“, so Chenu, die der „traditionellen Gesellschaft, in der das ländliche Element überwog, mit Wehmut nachtrauerten. (…) Selbst noch dort, wo sie großherzig waren, vermochten sie nicht zu erkennen, welch schreiende Ungerechtigkeit die Not der Arbeiter darstellte.“41 Genau das war es, was Papst Leo den Ruf einbrachte, sich der Welt geöffnet zu haben. Sein Anliegen war es aber nicht, die kapitalistische Wirtschaftsweise abzuschaffen. Er stand ihr vielmehr recht unbefangen gegenüber. Auf der anderen Seite schreckte ihn die Lösung des Kommunismus. Es galt also die neue Wirtschaftsweise in die rechte Ordnung zu bringen, sie zu zähmen, „den unbändig wilden individualistischen Liberalismus zum sozial temperierten Kapitalismus umzuwandeln.“42 „Quadragesimo anno“

Die nächste Sozialenzyklika trägt den Namen „Quadragesimo anno“, datiert also 1931, eben 40 Jahre nach „Rerum novarum“, und ist von Papst Pius XI. unterzeichnet. Zwar erscheint dieser Text wie ein Nachtrag zu „Rerum novarum“, Nell-Breuning hat ihn gar als „Gelegenheitsschrift“43 qualifiziert. Doch er geht darüber hinaus. Die Enzyklika hat nämlich nicht nur die Situation der Arbeiterschaft zum Gegenstand, „sondern die wirtschaftliche und soziale Ordnung im ganzen, deren oberste Richtschnur die soziale Gerechtigkeit ist.“44 Im Kern geht es also um eine Ordnung der Gesellschaft, jenseits der Klassengegensätze und vor allem jenseits des von den Marxisten geforderten Klassenkampfes und möglichst um eine Ordnung ohne staatliche Intervention und Regelungen. Der Papst ließ sich wie schon Leo XIII. von der aktuellen gesellschaftspolitischen Lage beeindru-

4.3 Kirchliche Sozialverkündigung

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cken und suchte sich von Marxismus und Nationalsozialismus auf der einen Seite und vom Wirtschaftsliberalismus auf der anderen abzugrenzen. Er entwickelte eine Vorstellung von menschlicher Gesellschaft, die Maß nehmen sollte am christlichen Verständnis vom Menschen als sowohl individuell freies wie nur sozial, das heißt in mitmenschlicher Gemeinschaft, existierendes Wesen. „Ziel jedes menschlichen Gemeinwesens ist es daher, das individuelle Personwohl wie das soziale Gemeinwohl bestmöglich und ausgewogen zu gewährleisten.“45 Deshalb gilt es, zugleich auf die Solidarität der Menschen untereinander zu achten und sie strukturell zur Geltung zu bringen. In den Worten von „Quadragesimo anno“: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“46

Die Vorstellung, die im Subsidiaritätsbegriff zum Ausdruck gebracht werden sollte, war die von einer ständischen Mediatisierung des Individuums: Statt Klassenkampf und Staatsdirigismus sollte eine vertikale Gliederung der Gesellschaft nach Produktionsgemeinschaften zum Ordnungsprinzip gemacht werden. Diese Gemeinschaften oder „Berufsstände“ vermitteln, so die Idee, als Zwischengebilde zwischen Staat und Einzelnen den Zusammenhalt der Gesellschaft – weil sie sich um eine gemeinsame Aufgabe und nicht, wie die Klassen, um gegensätzliche Interessen organisieren – und weil sie damit die angemessene soziale Vermittlung der Einzelnen leisten. Eine solche Gesellschaft hat man später auch die „klassenfreie“ Gesellschaft genannt.47 Diese Idee gesellschaftlicher Ordnung ist Idee geblieben, ist nirgends in dieser Form umgesetzt worden.48 Gleichwohl markiert sie ein Problem, das bis heute für die Sozialethik zentral geblieben ist, nämlich das der strukturellen Vermittlung von Person und Gesellschaft. „Mater et magistra“, „Populorum progressio“

Wie geht die Geschichte der lehramtlichen Sozialverkündigung weiter? Viele sehen in der ersten Sozialenzyklika von Papst Johan-

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4. Sozialethik in der Geschichte des Christentums

nes XXIII. aus dem Jahre 1961, genannt „Mater et magistra“, eine Trendwende. Es sind vor allem drei Aspekte, die diese Wende ausmachen: 1. Der Papst will ein Schreiben nicht für die Gelehrten, sondern für die Menschen. Er setzt deshalb nicht oben bei den Normen an, sondern unten bei den Tatsachen. Es herrscht nicht mehr das neuscholastisch-naturrechtliche Argument vor, sondern die soziologische Analyse bestimmt die Gedankenführung.49 2. Statt der die Eigenständigkeit des Einzelnen hervorhebenden „Subsidiarität“, siehe „Quadragesimo anno“, rückt nun eine weltweite und wirtschaftliche Belange übersteigende Solidarität in den Vordergrund. Der Stellenwert des naturrechtlich gesicherten Privateigentums, das bei Leo XIII. den Ton angab, wird relativiert. Mitbestimmung und Beteiligung am Besitz und Gewinn produktiver Tätigkeiten werden zu selbstverständlichen Forderungen. 3. Zum ersten Mal kommt die Problematik der „Dritten Welt“ in den Blick. Allerdings ist einer anderen Enzyklika die Ehre zuteil geworden, als die „Magna Charta christlicher Weltsolidarität“ betitelt zu werden: das Rundschreiben „Populorum progressio“ Papst Pauls VI. von 1967.50 „Pacem in terris“, „Gaudium et spes“

Wie sehr sich trotz aller „Wenden“ die ursprünglich den politischen und sozialen Katholizismus dominierende anti-moderne, anti-aufklärerische, anti-liberale Tendenz in der lehramtlichen Verkündigung bis weit ins 20. Jahrhundert durchhielt51, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass sich erst mit der zweiten Sozialenzyklika von Johannes XXIII., „Pacem in terris“ von 1963, die Kirche die Menschenrechte zu eigen machte. Ging es bis dahin vor allem um soziale Gerechtigkeit und Liebe, so wurde nun ein weiterer zentraler ethischer Begriff hinzugefügt: die Freiheit. Das sich unmittelbar anschließende Zweite Vatikanische Konzil hat sich ebenfalls in der Konstitution „Gaudium et spes“ (1965) mit der sozialen Thematik beschäftigt, aber der Soziallehre inhaltlich nichts Neues hinzugefügt. Erwähnenswert ist vor allem die Tatsache, dass das Konzil mit der Bezugnahme auf die „Zeichen der Zeit“ der von Johannes XXIII. initiierten Trendwende treu geblieben ist: Die „Zeichen der Zeit“ werden als ein Mittel verstanden, um im „Innern der sozialen und politischen Veränderungen“ die „Werte des Evangeliums“ zu erkennen.52

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„Octogesima adveniens“

Ein Schreiben von Papst Paul VI. an den Vorsitzenden des Laienrates und der päpstlichen Kommission „Justitia et Pax“ zum 80. Geburtstag von „Rerum novarum“ (1971), „Octogesima adveniens“ betitelt, bedeutete eine neue Akzentsetzung. Infolge von „Populorum progressio“, der Entdeckung der Verschiedenartigkeit der Lebenssituationen der Christen in aller Welt, der Entdeckung des Freiheitsbegriffs und der „Zeichen der Zeit“ in „Mater et magistra“ und „Gaudium et spes“, wird nun die Welt selbst der Ort, wo der Christ die Herausforderungen des Evangeliums wahrnehmen muss. Der „Pluralismus“ der gesellschaftlichen Wirklichkeit wird zum Wesen der Kirche zugehörig erklärt; die Kirche begreift sich als durch „ihre Gegenwart in der Welt und nicht als absolute, durch ihre institutionelle Eigenart bestimmte Wirklichkeit.“53 Das heißt, hier kommt die Einsicht zum Tragen, dass situations- und sachgerechte Stellungnahmen zu den diversen gesellschaftlichen Problemen nicht primär „von oben“, vom gesamtkirchlichen Lehramt kommen können, sondern dass diesbezüglich in erster Linie die Kompetenzen „vor Ort“ gefordert und gefragt sind.54 Paul VI.: „Angesichts solch unterschiedlicher Voraussetzungen erweist es sich für Uns als untunlich, ein für alle gültiges Wort zu sagen oder allerorts passende Lösungen vorzuschlagen (...). Das ist vielmehr Sache der einzelnen christlichen Gemeinschaften (…). Diesen einzelnen christlichen Gemeinschaften also obliegt es, mit dem Beistand des Heiligen Geistes, in Verbundenheit mit ihren zuständigen Bischöfen und im Gespräch mit den anderen christlichen Brüdern und allen Menschen guten Willens darüber zu befinden, welche Schritte zu tun und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Reformen herbeizuführen, die sich als wirklich geboten erweisen und zudem oft unaufschiebbar sind.“55

Ein Verständnis von kirchlicher Sozialverkündigung, wie es hier angesprochen wird, läuft nicht Gefahr, die Glaubenserfahrung und damit auch die Auslegungskompetenz der Gläubigen zu marginalisieren, läuft nicht Gefahr, unglaubwürdig zu werden. „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“

Es hat einige Jahre gedauert, bis mit diesem Selbstanspruch kirchlicher Soziallehre ernst gemacht wurde. Nach Vorläufern in den USA und Österreich56 versuchten 1997 die beiden deutschen Kirchen mit

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4. Sozialethik in der Geschichte des Christentums

einer Form von Sozialverkündigung zu experimentieren, die ausdrücklich die Kompetenz der Christinnen und Christen vor Ort einbeziehen und einen Dialog mit allen Menschen guten Willens initiieren wollte. Dazu wurde dem Schreiben ein Konsultationsprozess vorgeschaltet, der ein umfassendes innerkirchliches wie gesellschaftsweites Meinungsbild über die Situation in Deutschland erstellen sollte. Die Ergebnisse dieses Beratungsprozesses wurden in das Papier aufgenommen. Es handelt sich um das Gemeinsame Wort der beiden deutschen Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“.57 Insgesamt wollte sich das Lehramt auf diese Weise stärker in den Erkenntnisvorgang einbeziehen lassen, von dem es in „Octogesima adveniens“ hieß, er sei vornehmlich in den christlichen Gemeinschaften vor Ort angesiedelt. Das Augenmerk richtet sich nun, neben dem Staat, auf die gesamte Gesellschaft mit ihren Solidarpotentialen. Diese Akzentsetzung wird plausibel, wenn man sich an die seit geraumer Zeit zu hörende Diagnose von Staats- und Marktversagen erinnert. Die uns heute bedrängenden Probleme können nicht mehr allein vom Staat oder vom Markt gelöst werden. Im Gegenteil: Vor allem die aktuell zu beobachtende Forcierung der Marktkräfte stößt bei den Kirchen auf Kritik. Dass Solidarität und Gerechtigkeit heute keine „unangefochtene Wertschätzung“ mehr genießen, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass viele fälschlich glauben, „ein Ausgleich der Interessen stelle sich in der freien Marktwirtschaft von selbst ein.“58 Auf der anderen Seite schwindet das „Vertrauen in die demokratische Gestaltbarkeit der Gesellschaft“, weil sich die Politik nur noch um sich selbst kümmert und die Gestaltungskompetenz immer mehr abgibt.59 Demgegenüber favorisiert das Gemeinsame Wort ein anderes Modell von Gesellschaft: Für die gesellschaftliche Wohlfahrt werden, neben Staat und Markt, „gesellschaftliche Gruppen und Institutionen“, die einen „eigenständigen Beitrag“ leisten, immer wichtiger.60 Das Papier spricht von einer „neuen Besinnung auf die Sozialkultur“ und meint damit „soziale Netzwerke und Dienste, lokale Beschäftigungsinitiativen, ehrenamtliches Engagement und Selbsthilfegruppen“. In ihnen liegt ein „großes Potential für soziale Phantasie und Engagement“.61 Dass sich die Kirchen als Teil dieser Kultur begreifen und an ihrem Engagement gemessen werden wollen, zeigt schließlich das 6. Kapitel: „Die Kirchen dürfen sich nicht in eine Nische der pluralistischen Gesellschaft mehr oder weniger bequem einrichten. Ihre Verkündigung muss sich auch darin bewähren, dass sie Ferment einer gerechten und solidarischen Gesellschaftsordnung wird.“62 Das heißt, der Anspruch, den die Kirchen in ihrem soziale-

4.3 Kirchliche Sozialverkündigung

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thischen Engagement nach außen tragen, muss auch nach innen gelten; nur so können sie glaubwürdig verkündigen. Entsprechend müssen sie sich organisieren, Subsidiarität gestalten, mit ihren Mitarbeitern umgehen. Zur Glaubwürdigkeit gehört auch die Frage nach der Ökumene. Dass die beiden deutschen Kirchen in sozialethischen Fragen mehr und mehr zusammenarbeiten, hat nicht zuletzt mit der Tatsache zu tun, dass ihre gesellschaftliche Stellung immer ähnlicher geworden ist. Sie haben sich immer mehr einander angenähert, man denke an das Staat-Kirche-Verhältnis oder an die Privatisierung von Moral und Religion, und nehmen deshalb die gesellschaftlichen Probleme ähnlich wahr. Johannes Paul II.

Papst Johannes Paul II. hat der Sozialverkündigung der Kirche eine besondere Bedeutung beigemessen und in mehreren Sozialenzykliken zum Ausdruck gebracht. Die Idee der Menschenrechte, die menschliche Arbeit und die kapitalistische Wirtschaft, Entwicklung, Frieden und Familie standen dabei im Mittelpunkt seines Interesses. Immer geht es um den Menschen als Person. Immer dort, wo die Würde der menschlichen Person auf dem Spiel steht, muss die Kirche ihr kritisches Wort erheben. Aus seinem personalistischen Ansatz heraus sind es vor allem die kulturellen Mechanismen, geistig-sittliche Kräfte, die als Ursachen für Missstände in den Blick geraten. Sündhafte Haltungen sind es, die falsche und unterdrückende Strukturen und Mechanismen entwickeln lassen. In der Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ von 1987, die sich der prekären Lage der Entwicklungsländer widmet, heißen sie „Strukturen der Sünde“ (Nr. 36). Allerdings konzentriert sich der Papst weniger auf die strukturelle Ebene sondern fordert einen grundlegenden Werte- oder Bewusstseinswandel. Nur ein solcher ist letztlich in der Lage, eine „wahre“ wirtschaftliche und politische Ordnung zu garantieren. Allerdings bleibt zu fragen, ob man mit dieser Betonung der sittlich-personalen Perspektive den gesellschaftlichen Mechanismen gerecht zu werden vermag. „Caritas in veritate“

Mit diesem für unsere Gesellschaft so charakteristischen Problem der Vermittlung von moralischen Ansprüchen und sachgesetzlichen Komplexitäten hat ganz offensichtlich auch Papst Benedikt XVI. zu

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4. Sozialethik in der Geschichte des Christentums

kämpfen. Seine erste Sozialenzyklika von 2009, „Caritas in veritate“, versucht mit den beiden theologischen Kategorien Liebe und Wahrheit die aktuellen gesellschaftspolitischen Probleme zu strukturieren. Seine Unsicherheit zeigt sich zum Beispiel in der Bewertung der Wirtschaft. Auf der einen Seite will er an der inneren Verbindung zwischen ethischen Maßstäben und den Funktionserfordernissen des Marktes festhalten (vgl. Nr. 65), und auf der anderen Seite spricht er davon, dass sich der Appell nicht an die Instrumente des Marktes richten müsse, sondern an die Moral, an das Gewissen des Menschen (vgl. Nr. 36). Insgesamt aber bleibt der Papst einer Tugendethik verpflichtet, die gegenüber Strukturfragen zwangsläufig abstrakt und wirklichkeitsfern erscheint. So richtig und wichtig es ist, den Menschen mit seinem Verantwortungsbewusstsein und Gewissen zum Adressaten für Veränderung zu machen – Mittel wie Rechtsordnung, Institutionen, Marktmechanismus reichen nicht aus, um die Gesellschaft in eine positive Richtung zu lenken –, so unabdingbar bleiben Reformen der Strukturen und Institutionen. Will die Sozialverkündigung der Kirche ihre Mitverantwortung für die Humanisierung der Gesellschaft wahrnehmen, muss sie diese Dimension, die Johannes Paul II. mit dem Begriff „Strukturen der Sünde“ zu begreifen versuchte, konsequent im Blick behalten. Wenn man sich die Geschichte der lehramtlichen Sozialverkündigung noch einmal anschaut, fällt ein Problem auf, das in den letzten Jahren immer dringlicher geworden ist, nämlich das der öffentlichen Resonanz. Was Nell-Breuning 1977 noch als kircheninternes Dilemma bezeichnen konnte, an dem die Theologen selbst schuld seien, weil sie die Texte kaum zitierten, ist heute ein grundlegendes Problem: der massive Geltungsverlust der katholischen Soziallehre.63 Die Verlautbarungen erscheinen als moralische Appelle und prallen ab an den Sachzwängen der Wirtschaft oder den Zuständigkeitsgrenzen der Politik. Oder sie werden totgelobt – dieses Schicksal ereilte das Gemeinsame Wort und wurde auf diesem Wege entwertet. Aber davon sollten sich die Kirchen nicht abschrecken lassen. Gerade ihr ethisches Interesse, ihr „unspezialisierter“ Umgang mit der Wirklichkeit – sie wollen nicht selbst Politik machen64, sondern Politik möglich machen – kann daran erinnern, dass die individuelle Moral unverzichtbar und die Gesellschaft der Verantwortlichkeit des Menschen aufgetragen bleibt angesichts der drängenden Probleme heute.

4.3 Kirchliche Sozialverkündigung

81 Zusammenfassung

Es ist die inkarnatorische, die Menschwerdung Gottes betreffende, Grundstruktur des Glaubens, die die Kirche aufruft, sich für die Gerechtigkeit in der Welt einzusetzen. Subjekt und Träger der Sozialverkündigung der Kirche sind die Gemeinden, die wissenschaftliche Reflexion und das Lehramt. Im engeren Sinne sind lehramtliche Texte oder Verlautbarungen zu sozialen, politischen und wirtschaftlichen Problemen gemeint. Sie sind eine wichtige Quelle christlicher Sozialethik.

Literatur Chenu, M.-D.: Kirchliche Soziallehre im Wandel. Das Ringen der Kirche um das Verständnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Fribourg 1991. Hürten, H.: Kurze Geschichte des deutschen Katholizismus 1800-1960. Mainz 1986. Zippelius, R.: Staat und Kirche. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart. München 1997.

5. Sozialethische Begründungsversuche Im Zuge der Neuzeit, als man allmählich die gesellschaftliche Ordnung als Gestaltungsaufgabe des Menschen zu begreifen begann, entwickelte sich, zunächst als Teil der Moraltheologie, später verselbständigt, eine sozialethische Reflexion innerhalb der wissenschaftlichen Theologie, die es sich „unter dem Namen Christliche Gesellschaftslehre zur Aufgabe gemacht hat, die lehramtlichen Texte zu interpretieren, zu analysieren, sie theoretisch zu untermauern sowie in ihrem Lichte konkretere Problemstellungen der Sozialpolitik, der Gestaltung des Wirtschaftslebens und der Entwicklung des Rechts (...) zu erwägen und Lösungsmöglichkeiten dafür zu prüfen.“1 Spätestens mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, als das Engagement und die Stellung der Laien in der Kirche hervorgehoben und insgesamt die Entwicklungen in der Gesellschaft als theologische Anliegen identifiziert und gerechtfertigt worden waren, weitete sich das Verständnis der Disziplin zur „Christlichen Sozialethik“.2 Je mehr sich das Fach als Ethik verstand, desto mehr wurde es in den Diskurs der allgemeinen Ethik hineingezogen und die Frage nach dem Selbstverständnis unausweichlich. Dieser Herausforderung versucht eine mittlerweile intensive Auseinandersetzung innerhalb des Faches gerecht zu werden. Wenn man eine vereinfachende Darstellung und Aufteilung der wichtigsten Positionen im Begründungsdiskurs vornehmen will, kann man folgende Ansätze unterscheiden: naturrechtliche, strukturenethische und diskursethische. Um diesen Begründungsdiskurs richtig einschätzen zu können, muss man wissen, dass bestimmte Anliegen der drei Ansätze wiederum in allen Positionen wiederzufinden sind. Das hat damit zu tun, dass die moderne Gesellschaft mit ihrem Anspruch auf Autonomie und der Pluralisierung von Lebensentwürfen Bedingungen geschaffen hat, die jede Form von Sozialethik beachten muss. Das hat auch damit zu tun, dass es sich um einen Diskurs innerhalb der christlichen Theologie handelt. Ihr gemeinsames Interesse aus dem Glauben ist die Humanisierung der Gesellschaft, die sich mit Blick auf die moderne Gesellschaft als Rettung des individuellen moralischen Subjekts bestimmen lässt. Das heißt, die Ordnungen und Institutionen sind so zu gestalten, dass sie den Menschen weniger Objekt und mehr Subjekt sein lassen sollen. Die verschiedenen Begründungswege können also als Antwortvarianten auf die Herausforderungen moderner Gesellschaft interpretiert werden. Die christliche Sozialethik ver-

5.1 Sozialethik als Naturrechtsethik

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sucht nichts anderes, als ihr Selbstverständnis unter den Plausibilitätsbedingungen der modernen Gesellschaft zu klären. 5.1 Sozialethik als Naturrechtsethik Die Idee des Naturrechts hat eine lange und verwickelte Geschichte. Sie reicht weit in die Anfangsgründe griechischer Philosophie zurück und hat bis heute ihre Bedeutung nicht verloren – trotz mancher Fundamentalkritik, der sich das Naturrecht seit dem 19. Jahrhundert bis heute ausgesetzt sieht. Insbesondere die kirchliche Sozialverkündigung hat in ihren ersten großen Texten, den Sozialenzykliken, auf diese Idee zurückgegriffen. Ihre zentrale Funktion, die die Frage nach dem Naturrecht nicht verstummen lässt, ist es nämlich, jede gesellschaftliche Ordnung, jedes Normengeflecht zu legitimieren und zu limitieren. Diese Aufgabe ist ein existentielles Anliegen jedes Menschen, weil der Mensch die Ordnungen braucht als Bedingung seiner Selbstentfaltung, und weil die Ordnungen immer Gefahr laufen, genau diese unmöglich zu machen. Klassisches Naturrecht

Seit der Frühzeit findet sich im Abendland die Idee eines Rechtes, „das sich nicht menschlicher Autorität verdankt, vielmehr aller Setzung und Vereinbarung enthoben ist und das für jede Rechts- und Staatsinstanz, insbesondere den Gesetz- und Verfassungsgeber, unbedingte Verbindlichkeit beansprucht.“3 Diese überzeitlich gültige Rechtsidee hat gegenüber dem gesetzten Recht die Bedeutung eines „sittlichen Fundamentes und Maßstabes.“ Das heißt, die Geltung, die Legitimität dieses Rechts hängt nicht von der Macht, sondern von der „Natur“ ab. Mit Natur war immer das Wesen des Menschen gemeint, die „natura humana“. Entsprechend enthält jede Naturrechtstheorie einen „normativen anthropologischen Rekurs und damit eine mehr oder weniger starke (…) weltanschauliche Perspektive“ 4. In den Begründungsfragen von Recht und Gerechtigkeit geht es also um wahrheitsfähige Geltungsansprüche. Ihre maßgebliche Gestalt erhielt das klassische Naturrecht durch Thomas von Aquin (1225-1274). Die Normbegründung setzt nach Thomas bei der Bestimmung des Menschen als Bild Gottes an. Durch die Schöpfung hat der Mensch aktiv teil an der schöpferischen Herrschaft Gottes. Das heißt, der Mensch ist Bild Gottes kraft seiner

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5. Sozialethische Begründungsversuche

Selbstursächlichkeit als Vernunft- und Freiheitswesen. Er hat Macht über seine Werke. Naturgesetz ist nach Thomas „die sich auf Nichtwidersprüchlichkeit hin vollziehende Erkenntnis- und Entscheidungsvernunft als dem Inbegriff menschlicher Würde“5, einschließlich der Befähigung zur Unterscheidung von Wahr und Falsch, Gut und Böse. Inhaltlich näher bestimmt wird das natürliche Gesetz durch „natürliche Neigungen“. Dazu gehören die Neigung zur Selbsterhaltung, zur Arterhaltung, das Streben nach Wahrheitserkenntnis, nach Erkenntnis Gottes und ein Leben in Gemeinschaft. Die sittliche Entscheidungsvernunft ist also konkreter gebunden an empirische Bedingtheiten des Menschen. Allerdings müssen diese sehr allgemeinen Prinzipien noch einmal durch positives Recht beziehungsweise eine rechtlich strukturierte gesellschaftliche Ordnung näher bestimmt werden. Diese Vorstellungen gehen sichtlich von einer in sich geschlossenen und von Gott bestimmten Ordnung der Welt aus. Alle Geschöpfe haben im System der Welt ihren von Gott geplanten Platz und Auftrag. Auch in seiner Vernunft und Freiheit bringt sich die Hinordnung des Menschen auf die von Gott gegebene Ordnung zum Ausdruck. Die natürlichen Gesetze werden ohne Mühe von Jedermann, nicht nur vom Gläubigen, nicht nur vom Gebildeten, eingesehen. Modernes Naturrecht

Bis Thomas Hobbes (1588-1679) ist die Berufung auf eine vom menschlichen Willen unabhängige Instanz allen frühneuzeitlichen Naturrechtstheorien gemeinsam: die Natur- oder Schöpfungsordnung, der Wille Gottes, die in der Natur des Menschen eingeschriebenen Neigungen und Normen. Die Neuzeit stellt mit Hobbes das Naturrecht auf ein neues Fundament, den Willen und die Einsicht des Einzelnen. Die naturrechtlichen Normen, Eigentumsrecht zu beachten, Verträge zu halten, werden schließlich zu konventionellen Regeln, die die Menschen zu ihrem gemeinsamen Nutzen erfunden haben.6 Mit der Neuzeit zerfällt also die einheitliche und allen vorgegebene gesellschaftliche Ordnung. Der Einzelne tritt mit seinen Ansprüchen, aber auch mit seiner Verantwortlichkeit ins Bewusstsein. Eine Vielfalt an Vorstellungen geglückten Lebens drängt auf Anerkennung. Wie soll unter solchen Bedingungen auf eine allen vorgegebene und normierende Instanz zurückgegriffen werden? Die neuzeitliche Antwort besteht in der Unterscheidung zweier relativ unabhängiger Bereiche: dem Bereich der Gerechtigkeitsfragen und

5.1 Sozialethik als Naturrechtsethik

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dem des guten Lebens, dem Bereich des äußeren, legalen Verhaltens und dem des Moralischen, der Gesinnung, der privaten Glücksvorstellungen. Der Philosoph Jürgen Habermas hat die Unterscheidung zwischen „klassischem“ und „neuzeitlichem“ Naturrecht benutzt, um das Verhältnis von materialem und formalem Recht zu bestimmen: „Während dem klassischen Naturrecht zufolge die Normen des sittlichen und rechtlichen Handelns gleichermaßen inhaltlich am guten, und das heißt tugendhaften Leben der Bürger orientiert sind, ist das Formalrecht der Neuzeit von den Pflichtenkatalogen einer materialen Lebensordnung, sei es der Stadt oder des Standes, entbunden. Es berechtigt vielmehr zu einer neutralen Sphäre des persönlichen Beliebens, in der jeder Bürger als Privatmann Ziele der Nutzenmaximierung egoistisch verfolgen kann. Formale Rechte sind prinzipiell Freiheitsrechte (…).“7 Legalität und Moralität sind grundsätzlich getrennt. Klassisches und modernes Naturrecht

Früher waren also Moralität und Legalität, materiales und formales Recht ineinander, ungeschieden. Aber anders als Habermas, der mit Kant die Entwicklung zum neuzeitlichen Naturrechtsverständnis als Entwicklung hin zu mehr Freiheit interpretiert – gerade ihre Unterscheidung und Zuordnung zu den Sphären der Öffentlichkeit auf der einen und Privatheit auf der anderen Seite sichert die Freiheit des Menschen: „Kein Ketzer braucht mehr zu brennen“8 – will der Sozialethiker Arno Anzenbacher das klassische Naturrecht retten, indem er die Grenzen der Problemlösungsfähigkeit der liberalen Trennung von Gutem und Gerechtem, materialem und formalem Recht, aufzuzeigen versucht. Seine These, die nicht nur in der aktuellen sozialethischen Debatte durchaus populär ist, lautet: Auch formal-prozedurale Gerechtigkeitskonzeptionen bleiben auf weltanschaulich erschlossene materiale Perspektiven der Humanität angewiesen,9 Recht und Gerechtigkeit sind notwendig anthropologisch „infiziert“. Ein Beispiel ist das Verhältnis der Menschenrechte zur Demokratie: Solange der Sinngehalt der Menschenrechte rein formal gefasst wird, er also eindeutig ist, gibt es keine Probleme. Je mehr sie aber materiale Gehalte in sich aufnehmen wie etwa soziale Anspruchsrechte, umso problematischer werden sie. Aber ist das Recht der Frauen auf Gleichbehandlung ein rein formales Recht, ist die Zuordnung überhaupt so eindeutig möglich? Ein Problem ergibt sich auch, wenn

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5. Sozialethische Begründungsversuche

Regierungen, die die Menschenrechte mit Füßen treten – als demokratisch gewählte –, durch die Wahl legitimiert werden sollen; man denke etwa an den Iran oder an Russland. Oder das Beispiel Wirtschaft: Welche Stellung der Einzelne in der Wirtschaft einnimmt, hängt ganz wesentlich davon ab, ob man ihn einfach der teilsystemischen ökonomischen Eigenlogik und -dynamik überlässt oder aber „Gesichtspunkte ins Spiel bringt, die auf Konstanten der Humanität verweisen“10, etwa die Forderung nach einer Humanisierung der Arbeit oder die nach einem Mindestlohn.11 Diese Beispiele zeigen die Grenzen des neuzeitlichen Naturrechts auf und verweisen letztlich auf weltanschauliche Fragestellungen, jedenfalls aus der Sicht der Vertreter einer naturrechtlich begründeten Sozialethik. Diese Problematik wird in folgender, sehr häufig zitierter Textstelle auf den Punkt gebracht: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzuheben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“12

Der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde kommt damit der naturrechtlich argumentierenden christlichen Sozialethik weit entgegen. Insgesamt gesehen behält das klassische Naturrecht seine Berechtigung, wenn die Naturrechtsidee als ein starkes Korrektiv gegenüber dem herrschenden Recht fungieren kann. Im Laufe der Geschichte ist es dagegen nur allzu häufig, von Aristoteles über Thomas von Aquin bis Martin Luther, dazu benutzt worden, der jeweiligen Ordnung und Obrigkeit Legitimation und Gehorsam zu verschaffen, indem etwa Ungleichheit gerechtfertigt wurde. Die kritische Funktion des Naturrechts konnte allerdings erst in dem Augenblick zu wirken beginnen, in dem das herrschende Recht als korrekturfähig erkannt wurde, also in der Neuzeit. Früher waren Naturrecht und positives Recht zu nahe beieinander. Kant bedeutete auf diesem Weg einen Meilenstein, weil er die Tradition der Begründung des Naturrechts auf Freiheit einleitete und das Naturrecht in den Dienst der Freiheit stellte. Die Spannung

5.1 Sozialethik als Naturrechtsethik

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zwischen Freiheit und Ordnung nicht einseitig aufzulösen, sondern als wechselseitiges Bedingungsgefüge ansichtig zu machen, wäre die bleibende Aufgabe, an der das Naturrecht Maß zu nehmen hätte. Und immer wieder geht es um den Menschen und seine Institutionen. Mit dem Verweis auf das Naturrecht sollen die Positionen kritisiert werden, die der Natur des Menschen als biologischem Mängelwesen misstrauen und die Sicherung des Humanum eher von seinen institutionellen Vermittlungen her erwarten. Der Mensch ist „von seiner Natur her in der Tat durchaus nicht nur jener selbstbezogene, aggressive Egoist, der einzig über die List der Institutionen zum Altruisten erzogen werden kann.“ Was ihn ebenso prägt ist die „gleichermaßen naturhaft angelegte Neigung, Geborgenheit zu schenken, Solidarität zu üben und mit konstruktivem Vertrauen auf die Welt zuzugehen.“13 Christliche Sozialethik und Naturrecht

Für Anzenbacher drängen sich folgende Anknüpfungspunkte für eine christliche Sozialethik auf: 1. Gerade in der modernen Gesellschaft braucht es einer umfassenden Idee und Konzeption des Guten, einer bestimmten Vorstellung vom Gemeinwohl. Eine solche Konzeption verweist wiederum letztlich auf einen Begriff vom Menschen und seiner Bestimmung, hat also weltanschaulichen Charakter. Die Menschenrechte gründen in einer solchen Konzeption des Guten. 2. Weil wir in einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft leben, ist jede bestimmte Konzeption des Guten, auch die christliche, umstritten. „Jede Position, sei sie ökonomistisch, naturalistisch, sozialistisch, libertär, rechtsextrem, postmodern, christlich oder was immer, operiert letztlich mit einer gewissen weltanschaulich relevanten Vorstellung vom Wesen und der Bestimmung des Menschen.“14 Der Zusammenhalt einer solchen Gesellschaft, solange er menschenrechtlich und demokratisch legitimiert werden soll, bedarf gleichwohl zumindest einer „schwachen gemeinsamen Konzeption des Guten.“15 Deshalb muss der weltanschaulich neutrale Staat größtes Interesse an öffentlichen Diskursen haben, die sich um Weltanschauungsfragen kümmern. Zu den Institutionen, die in unserer Gesellschaft diese Aufgabe übernehmen, gehören die Kirchen. 3. Schließlich stellt sich die Frage, was eine christliche Sozialethik in diesem Kontext leisten kann und soll. Ihre Aufgabe ist es, die weltanschaulichen Positionen „wissenschaftlich zu differenzieren und in den pluralistischen Diskurs einzubringen.“ Und das „braucht nicht in einer spezifisch theologischen Sprache zu geschehen.“16

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5. Sozialethische Begründungsversuche

Zusammenfassung Um die jeweilige gesellschaftliche Ordnung legitimieren zu können, hat man auf die Idee eines Rechtes zurückgegriffen, dass aller Setzung oder Vereinbarung enthoben ist und unbedingte Gültigkeit für sich beansprucht. Dieses Recht beruft sich auf die „Natur“ des Menschen, auf seine Bestimmung und gewinnt dadurch kritische Kraft gegenüber dem je herrschenden Recht.

5.2 Sozialethik als Diskursethik Der insbesondere auf Jürgen Habermas und Karl Otto Apel zurückgehende Begründungsansatz der Diskursethik ist ausgesprochen einflussreich und wirkt weit in konkurrierende Ansätze hinein. Seinen Erfolg auch und gerade für die christliche Sozialethik verdankt er unter anderem der Hochschätzung menschlicher (rationaler) Kommunikation, seiner Formalität und weltanschaulichen Neutralität und seiner Achtung gegenüber den Betroffenen. Damit kommt er der Stimmungslage moderner Menschen sehr entgegen, die Autonomie und Selbstverantwortung fordern und sich gleichwohl ohnmächtig fühlen, sich gerade in diesem Anspruch als eingeschränkt erfahren. Seine Kritik an der modernen Gesellschaft, die ihre zentralen Begriffe und Motive aus der Tradition der sogenannten „Frankfurter Schule“17 bezieht, spiegelt diese Stimmung wider. In diesem Zusammenhang muss auf den Begriff „Lebenswelt“ hingewiesen werden, weil er für die moderne Gesellschaftsdiagnose eine enorme Bedeutung gewonnen hat: Er stammt ursprünglich von dem Philosophen Edmund Husserl (1859-1938) und bezeichnet die Gesamtheit der vortheoretischen Erfahrungen und Praxisbezüge. Seit den 1960er Jahren taucht er vor allem bei Jürgen Habermas auf, zusammen mit dem Systembegriff. Lebenswelt bezeichnet jene gesellschaftlichen Bereiche, die sich über Normen, Werte und verständigungsorientierte soziale Verkehrsformen und kommunikative Praxis reproduzieren. System steht bei ihm für die Ökonomie und den administrativen Komplex, die durch ihre spezifischen Kommunikationsmedien Geld und Macht gekennzeichnet sind. Habermas, dessen Ansatz hier im Vordergrund stehen soll, hat außerdem zu verschiedensten kulturellen und gesellschaftspolitischen Themen Stellung bezogen und ist nicht zuletzt deshalb für viele der einflussreichste lebende Philosoph.

5.2 Sozialethik als Diskursethik

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Strukturen des Diskurses

Der kommunikationstheoretische Ansatz versucht über den Aufweis von unabdingbaren Strukturen verständigungsorientierten Handelns – was muss ich notwendig voraussetzen, wenn ich mit dem Anderen in ein Gespräch eintreten will – zu den normativen Gehalten und den Grundlagen einer vernünftigen Gesellschaft vorzudringen. Dabei bezieht er das Faktische, die vorherrschenden gesellschaftlichen Zustände, kritisch auf das Ideal der Verwirklichung seiner rational-normativen Grundlagen, um von dorther Kriterien für die Kritik an den schlechten, bedrückenden, unvernünftigen bestehenden sozialen Verhältnissen zu gewinnen. Sowohl die zweckrationale Verfügung über eine zum „Gegenstand gemachte Natur“ als auch die „narzißstisch überzogene Autonomie im Sinne strategischer Selbstbehauptung“18 erscheinen als Abkapselung von den ideal gedachten kommunikativen Strukturen und Gehalten der Lebenswelt. Das heißt aber nicht, dass diese Strukturen und Gehalte völlig lebensfremd wären. Denn was ist die Sprache der Lebenswelt? Es ist nicht die der strategischen Hintergedanken, die nur dazu dient, den Menschen den funktionalen Erfordernissen unterzuordnen, ihn zu verzwecken. Es ist vielmehr eine „ehrliche, wahrhaftige, nicht-widersprüchliche, sogar freundliche Sprechweise“, auch kommunikatives Handeln genannt. „Der kommunikativ handelnde Mensch will verstehen, was andere meinen, und mitteilen, was er selbst meint.“19 Im alltäglichen Gespräch steckt also ein oft verborgenes Ziel: sich auf ein gemeinsames Verständnis zu einigen. Dieses Ziel wird für Habermas zum sittlichen Ideal. Er hat keine Normen entworfen, die uns sagen könnten was zu tun ist; er hat ein Prüfungsverfahren für bestehende Geltungsansprüche entwickelt. Dieses Verfahren des sogenannten herrschaftsfreien Diskurses richtet an jede Sozialordnung, Institution, Lebensform und Verhaltensnorm die Frage, „unter welchen Bedingungen sie eine Praxis fördert, die es den Subjekten möglich macht, vernunftorientiert zu diskutieren, zu entscheiden und ihren konsensfähigen Urteilen gemäß zu handeln.“20 Die ethische Beurteilung eines Sozialsystems, und darum geht es in der Sozialethik, hängt also davon ab, ob sie eine zwangfreie und chancengleiche Teilnahme der Bürger an politischen und moralischen Diskursen ermöglicht. Es können nur diejenigen Normen allgemeine Geltung beanspruchen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden können. Das ist, ähnlich wie bei Kant, nur sozial ausgeweitet, der Test der Universalisierbarkeit.

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5. Sozialethische Begründungsversuche

Dieser Verweis auf Immanuel Kant ist natürlich nicht zufällig. Es ist die Idee der Autonomie und Freiheit, die Habermas aufgreifen will und die ihn dazu bringt, eine rein formale Ethikbegründung zu liefern. Autonomie bei Kant heißt, sich die „Vielfalt seiner empirischen Bedingungen eingestehen, sie sogar bejahen und sie doch nicht als letzten Bestimmungsgrund zuzulassen. Autonomie bedeutet mehr als ein bloßes Bedürfnis- und Gesellschaftswesen zu sein und in dem Mehr – hier liegt die Provokation – zum eigentlichen Selbst zu finden, zum moralischen Wesen, der reinen praktischen Vernunft.“21 Das moralische Gesetz treibt den Menschen über sich hinaus und macht ihn gerade deshalb zu einem freien. „Autonom handelt, wer auch dort an der Hilfsbereitschaft, der Ehrlichkeit usw. festhält, wo nicht schon natürliche Neigungen oder gesellschaftliche Üblichkeiten dazu auffordern.“22 Was ist das anderes, so kann man interpretieren, als der vehemente Hinweis auf die bleibende Differenz zwischen den Forderungen der reinen praktischen Vernunft und dem „was der Fall ist“, das heißt, den konkreten persönlichen und sozialen Bedingungen moralischen Handelns? Oder noch einmal anders formuliert: Nur wenn wir unser Handeln zu einem bestimmten Ideal in Beziehung setzen – mögen wir es auch niemals vollständig verwirklichen –, haben wir die Möglichkeit, in Zukunft besser zu handeln. Hatte noch die christliche Naturrechtsethik (s.o.) zu zeigen versucht, dass auch formal-prozedurale Gerechtigkeitskonzeptionen auf weltanschauliche Perspektiven der Humanität angewiesen bleiben, so versucht die Diskursethik ohne Weltanschauung auszukommen. Ob das möglich ist und sie sich dabei auf Kant berufen kann, was immer wieder geschieht,23 ist die Frage. Schließlich war es Kant, der an der Würde der Person als einem absoluten Wert festgehalten hat. Und wie eine auf wechselseitige Anerkennung abzielende Kommunikation auf die Voraussetzung dieses Wertes verzichten können soll, ist nicht zu sehen. Kant will die Freiheit des Menschen retten. Er ist in der materiellen Welt, der Welt der Erscheinungen verankert, und er ist mehr, er führt ein von der ganzen Welt unabhängiges Leben, er hat absoluten Wert. Kant hat das am Ende seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ in einem berühmten Wort zum Ausdruck gebracht: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“24 Für Kant ermöglichen sich Freiheit und Pflicht gegenseitig. Erst die Pflicht gegenüber dem moralischen Gesetz macht den Menschen frei von empirischen Bedingtheiten aller Art, hebt ihn heraus

5.2 Sozialethik als Diskursethik

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aus dem Reich der Naturgesetze. Und erst die Freiheit ermöglicht die Achtung gegenüber dem Sittengesetz, die in der Pflicht zum Ausdruck kommt. Die heute so betonte Willkürfreiheit, die sich gegenüber dem Staat in Form von Menschenrechten absichert und durch den Sozialstaat ermöglicht wird, bleibt auf die Pflicht verwiesen, die Pflicht, Mitverantwortung zu übernehmen für sich und die Gemeinschaft. Das gilt auch für den Diskursteilnehmer, der wenigstens die Pflicht hat, den anderen als gleichberechtigt anzuerkennen. Der logische Status der Diskursethik lässt sich mit Höhn noch einmal so zusammenfassen: 1. „Die Strukturen des argumentativen Diskurses müssen als das faktisch Nichthintergehbare für alle diejenigen angesehen werden, die eine Frage sinnvoll und vernünftig erörtern wollen.“25 2. „Die Anerkennung der Urteilsfähigkeit des anderen als eines argumentationsfähigen Subjekts (...), seine Anerkennung als gleichberechtigter Diskussionspartner (...) sind normative Voraussetzung für sinnvolles Argumentieren. (...) Eine Diskussion kann nur dann sinnvoll durchgeführt werden, wenn die Argumentierenden einander im emphatischen Sinn als ,Personen‘, d.h. als gleichrangige, zurechnungs- und wahrheitsfähige Gesprächspartner, respektieren.“ 3. Diese Normen der wechselseitigen Anerkennung von Personen definieren das Vernunftprinzip zugleich als Moralprinzip. „Sie besagen zwar nicht, welches Handeln in welchen Situationen sittlich richtig ist, geben aber die Kriterien eines Verfahrens an, mit dem sich die Sittlichkeit konkreter Normen, Werte und Maximen prüfen läßt.“26 John Rawls

An dieser Stelle soll eine weitere sehr einflussreiche Variante des formalethischen Ansatzes Erwähnung finden: Die „Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls. Wie Habermas will er ein Verfahren zur Verfügung stellen, anhand dessen man die Frage beantworten kann, ob eine bestehende gesellschaftliche Ordnung als gerecht zu qualifizieren ist. Dabei greift er auf die Tradition der vertragstheoretischen Argumentationsform (Hobbes, Locke, Rousseau, Kant) zurück. Ausgangspunkt ist eine problematische Ausgangslage (Naturzustand), die die Betroffenen rational bewältigen sollen. In diesem Falle soll der Urzustand eine faire Übereinkunft garantieren und zwar dadurch, dass die Gerechtigkeitsprinzipien hinter einem Schleier des Nichtwissens gewählt werden. Mit Wolfgang Kersting kann man dieses Verfahren so zusammenfasen: „Wenn jemand Verfassungsprinzipien auszuwählen hat, über sich selbst aber nichts weiß (Schleier des

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5. Sozialethische Begründungsversuche

Nichtwissens, G.W.), somit auch nicht feststellen kann, welche der zur Entscheidung stehenden Verfassungsprinzipien für ihn vorteilhaft sein könnten, muss er notgedrungen eine Wahl unter allgemeinen Gesichtspunkten vornehmen, kann er sich nicht fragen, welche Verfassungsprinzipien seinen besonderen Interessen und Anlagen dienlich sind, sondern nur, welche Verfassungsprinzipien den allgemeinen und formalen Interessen förderlich sind, die jedermann besitzt.“27 Kersting deutet zwei zentrale Einwände gegen diese Begründungsvariante an: Wie kann unter solchen Bedingungen noch eine rationale Entscheidung möglich sein? Und die „Entindividualisierung erlaubt nur noch eine allgemeine Orientierung an den formalen, allgemeinen, allen individuellen Lebensplänen und Glücksstrategien“ gemeinsamen Bedingungen und an den „grundlegenden gesellschaftlichen Gütern (...), deren Besitz über die Lebensqualität und die Zukunftsaussichten eines jeden gleichermaßen entscheidet (...).“28 Rawls Begründungsanspruch bleibt insofern hinter dem von Habermas zurück, als seine Überlegungen politisch-pragmatisch die jeweils herrschende öffentliche Kultur einer demokratischen Gesellschaft voraussetzen.29 Grenzen der Diskursethik

Will man nun die Diskursethik mit der christlichen Sozialethik in Verbindung bringen, kann man zunächst feststellen, dass sie darin übereinkommen, ihren Anspruch auf eine allgemein akzeptierte Handlungsorientierung mit Gründen zu erheben; beide wollen nicht etwa Moral verkündigen. Aus ihrer Sicht muss sich eine Ethik abheben von einer appellativen, soziale Belange betreffenden Moralpredigt. Eine weitere wichtige Übereinstimmung besteht in der Annahme einer wechselseitigen Verschränkung von Individualität und Sozialität, also der Achtung der Unantastbarkeit der Individuen und der Beachtung der Beziehungen intersubjektiver Anerkennung. Kann man aber darüber hinaus von einem Proprium, einem Eigensinn einer „theologischen“ Theorie kommunikativen Handelns sprechen? Das ist möglich. Und es zeigt sich in der Reflexion über die Grenzen der Diskursethik, so lautet die übliche Position von Seiten der Theologie. Will die Vernunft die selbstgestellte Aufgabe der Sicherung von Humanität erfüllen, ist sie auf Voraussetzungen angewiesen, die sich ihrem Verfügungsbereich entziehen. So hat die Diskursethik die Frage offengelassen, wie auf ethisch gerechtfertigte Weise mit dem Vernunftwidrigen und Unvernünftigen umzugehen sei. Nach deren Lo-

5.2 Sozialethik als Diskursethik

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gik wäre es nur konsequent, diese Bereiche von den Vorgängen politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung auszuschließen. Denn der Ausschluss von Unvernunft und ihrer Träger ist geradezu die Grundbedingung für einen gelingenden Diskurs. Aber Humanität verlangt nach Anerkennung der Person ohne Ansehen ihrer Argumentationskompetenz. Also muss die Diskursethik, will sie nicht totalitär werden, die Vernünftigen zur Solidarität mit den Unvernünftigen anhalten. Aber wie soll man die damit auftretende Spannung zwischen Humanität und Vernünftigkeit auflösen? Dazu müsste man auf ein allen Gemeinsames, „Vor-vernünftiges“ verweisen, das Sprecher, weil kompetent, und Nichtsprecher, weil unfähig oder unwillig, verbindet. Dieser Einwand trifft in noch stärkerem Maße den Kontraktualismus von Rawls, auch wenn er mit seiner Idee vom „übergreifenden Konsens“ eine Antwort zu geben versucht: Sein Gerechtigkeitskriterium hängt von normativen Voraussetzungen ab, die er nicht noch einmal durch einen Kontrakt absichern kann, will er nicht in einen unendlichen Zirkel geraten. Um diesem Problem zu entgehen, betreibt er Formalisierung und Entindividualisierung. Ein weiteres Problem taucht auf, wenn man, wie die Diskursethik, nur auf den eigentümlichen Zwang des besseren Arguments setzen will. Nach aller Erfahrung beeindruckt der nur sehr begrenzt, wenn überhaupt. Und die Theologie

Diese Grenzen sind es, die die Theologie ins Spiel bringen. Ihre Aufgabe besteht darin, die „Rationalität des der Vernunft Unverfügbaren, aber für sie Not-wendigen“30 nachzuweisen. Dabei geht es im Letzten um „Ziel und Zweck von Ethik und Vernunft überhaupt: die Zukunft der Menschheit, das Menschliche als Maßstab dieser Zukunft und die Maßstäbe des Menschlichen.“31 Es ist naheliegend, an dieser Stelle an die neueren Versuche einer theologischen Reformulierung der Naturrechtsethik zurückzudenken, wie ich sie oben dargestellt habe. Wieder geht es um bestimmte Vorstellungen von Humanität, um gemeinsame Konzeptionen des Guten. Aus dem Glauben wird man der gesuchten Maßstäbe gewahr in der Erfahrung unbedingter Zuwendung und wo diese Unbedingtheit immer wieder neu erfahren werden kann in der wechselseitigen Anerkennung – als Personen, nicht als Argumentationspartner. Das „Andere“ der Vernunft offen zu halten, das „Seinsollende nicht in der Ordnung der Dinge verankert zu sehen“32, ist das Proprium religiöser Rede vom Unbe-

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5. Sozialethische Begründungsversuche

dingten. Religiöse Vollzüge vermitteln das Unverfügbare, Nichtinstrumentalisierbare und Außeralltägliche als auch die unmittelbaren, emotionalen, lebensweltlich eingebundenen Persönlichkeitsanteile. Christliche Symbole geben der Spannung zwischen Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit, Alltäglichkeit und Nichtalltäglichkeit, Einzelnem und Gemeinschaft Ausdruck. Sie zeigen Möglichkeiten von Leben auf, die in der alltäglichen Erfahrung so nicht gemacht werden. Man denke an das eschatologische Bewusstsein, an die zeichenhaft vermittelte Erfahrung von der endgültigen Vollendung inmitten einer noch unvollendeten Welt. Das Papier „Unsere Hoffnung“ der Gemeinsamen Synode der Bistümer in Deutschland (1971-1975) spricht von den Bildern, die unübersetzbar sind: „Wir Christen hoffen auf den neuen Menschen, den neuen Himmel und die neue Erde in der Vollendung des Reiches Gottes. Wir können von diesem Reich Gottes nur in Bildern und Gleichnissen sprechen, so wie sie im Alten und Neuen Testament unserer Hoffnung, vor allem von Jesus selbst, erzählt und bezeugt sind. Diese Bilder und Gleichnisse vom großen Frieden der Menschen und der Natur im Angesichte Gottes, von der einen Mahlgemeinschaft der Liebe, von der Heimat und vom Vater, vom Reich der Freiheit, der Versöhnung und der Gerechtigkeit, von den abgewischten Tränen und vom Lachen der Kinder Gottes – sie alle sind genau und unersetzbar. Wir können sie nicht einfach übersetzen, wir können sie eigentlich nur schützen, ihnen treu bleiben und ihrer Auflösung in die geheimnisleere Sprache unserer Begriffe und Argumentationen widerstehen, die wohl zu unseren Bedürfnissen und von unseren Plänen, nicht aber zu unserer Sehnsucht und von unseren Hoffnungen spricht.“33

In diesem Sinne protestiert die christliche Ethik gegen eine Gesellschaft, die verspricht, den Menschen wunschlos glücklich zu machen; „für Mensch und Welt ist mehr drin, als in der Welt wirklich und möglich ist.“34 Theologisches Denken begreift den Menschen als Beschenkten, der nicht alles aus sich heraus leisten kann oder muss, ein Denken, das die Geschichte des Menschen ernst nimmt, als Geschichte seiner Freiheit, ein Denken, das weiß, dass Gott dem Menschen Maß und Ziel gibt, weil ihm ansonsten nichts mehr heilig ist und er sich sonst in seinen grenzenlosen Möglichkeiten zu verlieren droht. Aus dem Glauben heraus, dass menschliches Handeln nicht mit sich selbst anfängt, sondern aus vorgegebener Freiheit lebt, die sich der Zusage Gottes verdankt, wird der Mensch wirklich frei. Er begreift sich im Glauben nicht als zur Freiheit verdammter, der dann zwanghaft danach trachten

5.3 Sozialethik als Strukturenethik

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muss, sich selbst in Schach zu halten, indem er, subtil genug, Freiheit als Konsum und Gewinnmaximierung umdeutet. Eine solche Freiheit als Beliebigkeit verlangte eine Rationalitätsform, die den Menschen als kosten-nutzen-maximierenden Egoisten begriffe. Aber auch der erklärte Egoist lebt von Voraussetzungen, vor die er nicht noch einmal zurückspringen kann. „Am Anfang steht nicht das Chaos einer unbestimmten Natur und das sich daraus zwingend ergebende ,Du mußt!‘ als Nötigung zur Kulturleistung. Am Anfang steht kein Verbot, sondern ein Gebot (...), eine Zusage, die unbedingt und bedingungslos allen gilt: Gewährung des Lebensraumes – des Raumes zur Arbeit und Mitmenschlichkeit.“35 Also braucht der Mensch solche Räume: Der Glaube verweist kritisch auf solche Sozialgestalten, die der „ethischen Sphäre gemeinsamer Erzählung, Interpretation und Suche nach dem guten Leben vorgelagert“ und gerade deshalb für den „Aufbau moralischer Infrastruktur konstitutiv“ sind. Das bedeutet: Die Theologie fragt nach „unverfügbaren Vollzügen wechselseitiger Anerkennung, die jeder moralischen Anstrengung zuvorkommen und in denen sich das gute Leben zwanglos einspielt.“36 Die „Vernünftigkeit“ des Glaubens versucht zusammenzudenken, ohne sich das Gedachte gleichzeitig zu unterwerfen. Sie ist geduldig gegenüber den Widersprüchlichkeiten der Erfahrung. Und sie weigert sich, dem „sichtbar sich Durchsetzenden einfach wegen seines Erfolgs recht zu geben.“37 Dieser erweiterte Vernunftbegriff ist es, mit dessen Hilfe man die Grenzen der Diskursethik bestimmen kann. Zusammenfassung Für die Diskursethik steckt im alltäglichen Gespräch ein verborgenes Ziel: sich auf ein gemeinsames Verständnis zu einigen. Dieses Ziel wird zum sittlichen Ideal und zur normativen Grundlage einer vernünftigen Gesellschaftsordnung erklärt. Die Diskursethik entwirft keine Normen, die uns sagen was zu tun ist. Sie entwickelt ein vernunftgeleitetes Verfahren zur Prüfung von Geltungsansprüchen. Allerdings bleibt die Vernunft von Voraussetzungen abhängig, die sich ihrer Verfügung entziehen.

5.3 Sozialethik als Strukturenethik Auch dieser Begründungsansatz christlicher Sozialethik lässt sich durch die moderne Gesellschaft herausfordern. Gemeint ist ein Ver-

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5. Sozialethische Begründungsversuche

ständnis von Gesellschaft, wie es uns von der Aufklärung und ihrer Idee der Wende zum Subjekt überkommen ist: Die gesellschaftlichen Bedingungen insgesamt sind nun als Produkte des Menschen ansichtig geworden und vor seiner Vernunft zu verantworten – anders als noch in der Antike und im Mittelalter, als sich der Einzelne in die vorgegebene Ordnung einzufügen hatte. Weil sich der Mensch aber nicht nur als Vernunft- sondern auch als Freiheitswesen begreifen lernte, verlangt die neue Zeit zugleich eine Unterscheidung zwischen Rahmenbedingung und Freiheit. Der Anspruch auf Autonomie und Freiheit verlangt eine Ordnungsstruktur, die diese ermöglicht und vor Angriffen Dritter schützt. Der Staat verzichtet nun auf Vorentscheidungen in Sachen Wahrheitsfragen und Fragen des guten Lebens, überlässt sie dem Einzelnen in seiner Privatheit und einzelnen Gruppen mit ihren Interessen. Staat und Gesellschaft differenzieren sich aus. Auf diese strukturelle Entwicklung versucht das Programm der sogenannten Strukturenethik eine Antwort zu geben. Die Kernthese lautet: Die Gesellschaft ist so zu gestalten, dass ihre Strukturen und Institutionen dem Menschen zu „sittlich fundierter humaner Entfaltung seines Daseins verhelfen.“38 Die Strukturenethik, das hebt sie deutlich von den anderen Ansätzen ab, versucht der Eigendynamik und dem besonderen Charakter der objektiven gesellschaftlichen Mechanismen und Ordnungen in besonderer Weise gerecht zu werden und begrifflich zu integrieren. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass dieser Ansatz von vornherein als sozial-ethischer konzipiert ist. Mit „Struktur“ ist zunächst und ganz allgemein eine zusammengesetzte Ganzheit gemeint, wobei diese Ganzheit mehr ist als die Summe ihrer Teile. Der Sozialethik geht es vor allem um die sozialen Strukturen. Um dem möglichen Missverständnis, es ginge nur um vom Einzelnen weit entfernte soziale Regelungsformen wie etwa das Recht oder die Wirtschaft in ihrer Sachlogik und sacheigenen Dynamik, zu wehren, wird in der Regel ein weiter Strukturbegriff benutzt: Gemeint sind dann alle über das einzelne Subjekt hinausreichenden, aus lebensweltlichen Interaktionen und systemischen Prozessen hervorgehende Strukturen. Nur ein so weiter Begriff, so die These, ist in der Lage, den Einzelnen im Blick zu behalten, also handlungstheoretisch anschlussfähig zu bleiben. Das soll aber nicht etwa heißen, dass Diskurs- und Naturrechtsethik die Anwendungsproblematik nicht sehen würden. Aber aus strukturenethischer Perspektive rückt sie in den Vordergrund, weil die Autonomie und Eigendynamik „des Sozialen“, ihre Unabhängigkeit vom individuellen Subjekt und über-

5.3 Sozialethik als Strukturenethik

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haupt die vielen sozialen Vermittlungen von Moral sehr ernst genommen werden sollen. Mit dem ethischen Blick auf die Strukturen steht die sogenannte Implementationsfrage zur Debatte. Dabei geht es um das Problem, wo Normen zu verorten und wie sie zur Geltung zu bringen sind, ein Problem, das erst mit den typisch modernen gesellschaftlichen Bedingungen aufgekommen ist. Bestimmte Wertvorstellungen wie etwa der Umweltschutz lassen sich nicht mehr schlicht beschließen und dann umsetzen – zu vernetzt, zu komplex, zu differenziert, zu folgenlastig sind die Bedingungen, unter denen solche Werte realisiert werden müssen. Und nicht zuletzt diese strukturellen Bedingungen sind es, die die individuellen Motivationslagen der Menschen beeinflussen: Alle wollen den Umweltschutz, doch nur wenige bringen von sich aus die Kraft auf, weniger Auto zu fahren. Jeder wartet auf den Anderen. Diese Problematik, so die Strukturenethiker, hat bestimmte Konsequenzen für die Begründungsfrage. Was im Begründungsdiskurs erkannt worden ist, kann nicht einfach auf die Anwendungsebene übertragen werden. Die Frage der Implementierung „normativer Lösungen“ ist dabei „nicht etwas, das gewissermaßen erst am Ende stünde, als Suche nach der Anwendungsform erarbeiteter normativer Lösungen – diese wäre bloße Operationalisierung. Wo Normen zu verorten und wie sie zur Geltung zu bringen sind, muss vielmehr bei ihrer Verfertigung mitbedacht werden, wenn sie ,richtig‘ ausfallen soll.“39 Mit anderen Worten: Man darf bei der ethischen Prüfung von Normen die Menschen nicht mit zu hohen moralischen Erwartungen überfordern, wenn man zu einer humanen und gerechten Gestaltung von Institutionen und Strukturen finden will. Gerade weil an der Gestaltbarkeit der Gesellschaft durch den Menschen festgehalten werden soll, trotz der Widerständigkeit und bleibenden Vorgegebenheit geschichtlichen und sozialen Geschehens, muss die Gesellschaft auf ihre Bedingungen für diese Gestaltbarkeit hin befragt werden. Normierungsebenen

Die Strukturenethik versucht also dieses Verhältnis von Anwendung und Begründung durch eine Aufklärung der Rahmenbedingungen individuell-sittlichen Verhaltens näher zu bestimmen. Dabei ist, wie gesagt, davon auszugehen, dass Normierungen auf verschiedenen sozialen Ebenen angesiedelt sind und diese Ebenen jeweils in einem besonderen Verhältnis zur Autonomie des sittlichen Subjekts stehen.

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5. Sozialethische Begründungsversuche

Welche Normierungsebenen lassen sich unterscheiden? Üblich ist eine dreifache Gliederung: Person, Institution und komplexe Sozialsysteme. Sozialethisch präziser formuliert: subjektives Ethos, institutionalisierte Selbstbindung und rechtliche Rahmenordnung.40 Die Sozialwissenschaften sprechen eher von Mikro-, Meso- und Makroebene: 1. Die personale Ebene ist die des Ethos; man könnte auch von kulturellen Deutungsmustern sprechen. Was prägt das Gewissen des Einzelnen, wie bilden sich Verantwortungsbewusstsein und Tugenden aus? Welche Rolle kann überhaupt das individuelle sittliche Subjekt spielen? Ist es auf die Privatsphäre beschränkt oder was kann und darf man überhaupt vom Einzelnen erwarten? 2. Mit der Ethik der Institutionen erreicht die menschliche Handlungswirklichkeit ihre nächst größere Einheit. Zu fragen ist hier nach der Struktur und Funktion sozialer Institutionen, ihren Gesetzmäßigkeiten und ihrer ethischen Legitimation. Es geht um unternehmerische Strategien, aber auch um Institutionen wie Familie oder Bildung, sofern sie formal organisiert, rechtlich strukturiert und in Form von bestimmten Verhaltenserwartungen fixiert und sofern sie als je abgrenzbare soziale Einheit (als Betrieb, Schule, Familie) identifizierbar sind. 3. Die Ebene sozialer Systeme umgreift noch einmal die Zuweisungsebenen von Person und Institution. Gemeint sind die großen ausdifferenzierten Teilsysteme der Gesellschaft wie Recht, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Medien. Sie heben sich von den Institutionen oder Organisationen dadurch ab, dass sie nurmehr eine bestimmte Sachlogik voneinander unterscheidet. Ethisch greifbar werden sie in den Rahmenordnungen. Sie steuern Verhalten allein durch die Abgrenzung von Sachbereichen – Wirtschaft ist nicht Wissenschaft, Wissenschaft ist nicht Politik – und sie lenken beispielsweise wirtschaftliches Handeln durch Änderung der Anreizbedingungen. Diese Ebene ist am abstraktesten und hat sich am weitesten von der individuellen Ebene entfernt – und spiegelt sich doch im individuellen Verhalten dann, wenn der Einzelne eine bestimmte Rolle zu übernehmen hat oder ökonomisch sachgerecht handeln will. Auf allen drei Ebenen können wir nun moralisch Wünschenswertes zu bestimmen und zu gestalten versuchen: Man kann einen Verhaltenskodex für Manager entwerfen oder eine Kultur des Maßhaltens anregen, mehr Mitsprache im Unternehmen organisieren oder Umweltstandards einführen, via Steuern nachhaltiges Wirtschaften fördern oder überhaupt auf internationaler Ebene eine Wirtschafts-

5.3 Sozialethik als Strukturenethik

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ordnung einrichten. Wir können fragen, wie sich moralisches Bewusstsein durch die Ausdifferenzierung dieser Ebenen verändert hat, zu denken wäre an die Bedeutung von Tugenden oder die Unterscheidung von privater und öffentlicher Sphäre. Aber das sozialstrukturelle Grundlagenproblem schlechthin bleibt die Spannung zwischen den sich dem Einzelnen entziehenden Ordnungen und Systemen auf der einen und dem Anspruch auf sittliche Autonomie und Verantwortung des individuellen Subjekts auf der anderen Seite. Aus ethischer Perspektive geht es darum, eine soziale Prinzipienlehre zu entwickeln, „die das generelle Zuordnungsproblem von Person, Institution und übergreifenden sozialen Systemen in ihrem inneren Verweisungszusammenhang“41 gesellschaftstheoretisch einsichtig macht und ethisch bestimmt. Das heißt nichts anderes als alle gesellschaftlichen Institutionen und Ordnungen daraufhin zu prüfen, ob sie dem Menschen zu sittlich fundierter Entfaltung seines Daseins verhelfen. Diesen ausgesprochen voraussetzungsvollen Anspruch gilt es festzuhalten, gerade angesichts von Verhältnissen, die sich der Verfügung durch den Einzelnen und seinem unmittelbaren Gestaltungswillen entziehen. Augenblicklich muss der Beobachter des Zeitgeistes eher den Eindruck gewinnen, dass wir uns zu lange und zu konsequent auf bestimmte selbstlaufende soziale Mechanismen verlassen haben. Man denke auch an die in letzter Zeit oft beschriebene Tendenz zur Entdemokratisierung vieler Lebensbereiche.42 Der Ruf nach mehr Tugenden und mehr Moral angesichts der modernen Krisenphänomene belegt genau diesen Zusammenhang: Faulheit, Habgier, Verschwendungssucht sind verantwortlich, nicht die besondere Gestalt unserer Marktwirtschaft, so klingt es in Politik und Öffentlichkeit. Solche einseitigen Vorstellungen aufzuklären, ist die Aufgabe der Sozialethik. Theologische Perspektive

Und die theologische Perspektive? Der emeritierte Münchener Sozialethiker Wilhelm Korff antwortet mit dem Verweis darauf, dass grundsätzlich Gottes Heilshandeln und die Humanisierung der Welt untrennbare Größen sind. Die „Stellungnahme zu den sich ständig fortentwickelnden sozialstrukturellen Problemen“ ist ein „unverzichtbares Moment der Verkündigung der christlichen Botschaft in der modernen Welt.“43 Die Berufung des Menschen zur Freiheit muss auch „tatsächlich zu größerer struktureller Freiheit führen.“44 Und wenn tatsächlich die Humanisierung der Welt heute ganz wesentlich davon

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5. Sozialethische Begründungsversuche

abhängt, wie die Regelungen, Ordnungen, Institutionen gestaltet sind, die individuelles Handeln normieren, bekommt die Frage nach der Ordnung moderner Gesellschaft eine „theologisch-ethische Schlüsselbedeutung“45. Das biblische Menschenverständnis mit dem aus ihm hervorgehenden Liebesgebot reklamiert den „sittlichen Anspruch der Gleichwertigkeit, Unverfügbarkeit und Würde menschlichen Personseins“46 und enthält damit alle Voraussetzungen für die spätere Ausweitung des Liebesgebotes auf die gesellschaftlichen Strukturen. Die Strukturenethik vermeidet den Eindruck, als könnte der christliche Glaube zu gänzlich anderen Konsequenzen führen als die menschliche Vernunft. Deshalb versucht sie auch gar nicht, anders als etwa die christliche Sozialethik als Diskursethik, ein Proprium christlicher Rede von gesellschaftlicher Ordnung herauszuarbeiten. Damit nimmt sie allerdings in Kauf, als „systemstabilisierend“ missverstanden zu werden. Auf der anderen Seite sind aber mit ihr bestimmte Optionen grundsätzlich auszuschließen: Mit der Unverrechenbarkeit menschlicher Existenz, mit der unverzichtbaren Verantwortlichkeit des individuellen Subjekts lassen sich positivistische oder liberalistische (systemtheoretische) Positionen kaum vereinbaren. Aus der Sicht einer christlichen Sozialethik kann man das Verhältnis von Begründung und Anwendung nur dialektisch bestimmen. Eine methodische Entkoppelung, aus Sorge um einen zu harten Aufeinanderprall von Ideal und „harter“ Realität, kommt jedenfalls nicht in Frage, wenn die kritische Kraft des ethischen Diskurses erhalten bleiben soll. Die christliche Sozialethik ist kein starres, überzeitliches System von Normen, das dann nur noch möglichst effektiv anzuwenden wäre. Sie erwächst vielmehr aus den Fragen und Problemen des gesellschaftlichen Lebens, aus den Sorgen und Nöten der Menschen. „Denn so wie Handlungsorientierungen im Lichte von Situationen verstanden werden, so werden Situationen erst im Lichte von Handlungsorientierungen als Situationen einer bestimmten Art verstanden.“47 Mehr noch: Ein Ideal mag niemals vollständig verwirklicht werden, doch gibt es uns zumindest einen wichtigen Maßstab an die Hand. Nur wenn wir unser Handeln zu einem bestimmten Ideal in Beziehung setzen, haben wir die Möglichkeit, in Zukunft besser zu handeln. Das ist eine überlegene Methode gegenüber derjenigen, die das Ideal so lange herunterschraubt, bis wir es ohne größere Anstrengung erreichen können. Letzteres kann man bei einer ganz bestimmten Form von Strukturenethik beobachten, auf die ich wegen ihrer großen Resonanz anschließend noch kurz eingehen möchte: die sogenannte „ökonomische Ethik“.

5.3 Sozialethik als Strukturenethik

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Ökonomische Ethik

Wie schon angedeutet, steht die Strukturenethik in der Gefahr, sich zu sehr auf die gesellschaftlichen Institutionen und Ordnungen zu konzentrieren und dabei die Verantwortlichkeiten in und für diese Strukturen auf der „objektiven“ Ebene anzusiedeln; dann kommt der Einzelne kaum in den Blick, ganz gleich ob als Betroffener oder als (Mit-)Gestalter. Die zentrale sozialethische Herausforderung besteht aber darin, die Spannungseinheit zwischen Person und Gesellschaft nicht einseitig aufzulösen, wobei der Einzelne die Führung behalten muss: Nur er ist mit einer unantastbaren Würde ausgestattet. Gleichwohl braucht er die Gesellschaft, um sich zu entfalten, um zu sich selbst zu finden. Entsprechend ist sie zu gestalten. Dass die Sorge um eine einseitige Interpretation des strukturenethischen Ansatzes nicht unbegründet ist, zeigt beispielhaft die aktuelle wirtschaftsethische Debatte, zeigt der Einfluss, den etwa der Wirtschaftsethiker Karl Homann auf den christlich-sozialethischen Diskurs gewonnen hat. Homann nämlich lässt die Ethik erst bei der Reflexion über die Implementierungsfrage beginnen, lässt diese Frage den Ausschlag geben, wenn es um die Rechtfertigung von Normen geht. Weil die modernen gesellschaftlichen Verhältnisse, wie oben beschrieben, durch lange Handlungsketten, Komplexität und Unübersichtlichkeit gekennzeichnet sind, kann man auch nicht mit einer Kleingruppenmoral intervenieren wollen. Personale Kategorien sind theoretisch unangemessen in einer mit systemischen Begriffen zu beschreibenden Welt. Deshalb muss jede moralische Option daraufhin geprüft werden, ob sie in systemische Begriffe übersetzt, „operationalisiert“ werden kann – wenn nicht, verliert sie ihre Rechtfertigung. Homann und Ingo Pies haben es so ausgedrückt: „Mögen moralische Normen so letztbegründet sein, wie sie wollen (...) – wer an der Funktionslogik der modernen Gesellschaft und ihrer Subsysteme vorbei mit moralischen Appellen aufwartet, verschärft die Probleme, anstatt sie zu lösen – und er gefährdet die Moral, denn sie erodiert, wenn sie mit Ansinnen und Zumutungen verknüpft wird, die der einzelne systematisch nicht erfüllen kann.“48 Daraus wird dann die Konsequenz gezogen, jede Begründung von Normen an der Möglichkeit ihrer Anwendung bzw. motivkräftigen Umsetzung zu messen. Erst wenn zum Beispiel der Schutz der Umwelt so umformuliert worden ist, dass er von den Wirtschaftsakteuren in ihrer Sprache, hier des Geldes, verstanden werden kann, besteht die Chance, dass er zum Zuge kommt. Vertraute man stattdessen auf die Einsicht der Unter-

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5. Sozialethische Begründungsversuche

nehmen oder auch der Einzelnen, würde man sie überfordern, so die Logik der „ökonomischen Ethik“. Allerdings setzt das ein großes Vertrauen in entsprechende Regelungen voraus, unterschätzt die Kraft der Moral und damit die der Person und lenkt die Aufmerksamkeit zu sehr auf die ökonomische Logik. Die Abhängigkeit und Schwäche des Menschen kann man nicht so kompensieren wollen, dass man aus der Not eine Tugend macht und sich schlicht mit ihr abfindet, ja sie sogar zum Maßstab für rechtes Verhalten macht. Letztendlich läuft es auf eine reine Bestandserhaltungsethik hinaus, wenn die jeweils herrschenden gesellschaftlichen Strukturen den Maßstab bilden sollen für gerecht oder ungerecht. Der Anspruch an die Sittlichkeit des Einzelnen reduziert sich auf die Minimalmoral der eigenen Interessenverfolgung oder die Erfüllung vorgegebener Sachzwänge. Ethik wird zu einer ökonomischen Theorie der Moral. Demgegenüber setzt die richtig verstandene Strukturenethik, wieder sei es gesagt, darauf, gesellschaftliche Ordnungen so zu gestalten, dass sie den Menschen in seiner Verantwortlichkeit einbeziehen, herausfordern und unterstützen.

Zusammenfassung In der modernen Gesellschaft kann man bestimmte Werte nicht einfach durchsetzen, zu vernetzt, zu komplex, zu folgenlastig sind die Bedingungen, unter denen sie realisiert werden müssen. Deshalb bekommt die Frage der Anwendung von Normen begründungstheoretische Bedeutung. Das heißt, man darf die Menschen nicht mit zu hohen moralischen Erwartungen überfordern, wenn man zu einer gerechten Gestaltung der gesellschaftlichen Institutionen finden will.

Literatur Gesellschaft begreifen – Gesellschaft gestalten. Konzeptionen Christlicher Sozialethik im Dialog, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften. Bd. 43. Münster 2002. Höhn, H.-J.: Sozialethik im Diskurs. Skizzen zum Gespräch zwischen Diskursethik und Katholischer Soziallehre, in: Arens, E. (Hg.): Habermas und die Theologie. Beiträge zur theologischen Rezeption, Diskussion und Kritik der Theorie kommunikativen Handelns. Düsseldorf 1989, 179-198. Korff, W.: Sozialethik, in: Ders./Beck, L./Mikat, P. (Hg.): Lexikon der Bioethik, Bd. 3. Gütersloh 2000, 377-388.

6. Zentrale Begriffe und Prinzipien 6.1 Die menschliche Person und ihre Gesellschaft Als normative Disziplin fragt die Sozialethik nach Maßstäben für die Gestaltung der Gesellschaft. Letzter Maßstab ist der Mensch, und zwar der Einzelne in seiner Unverfügbarkeit und Würde. Papst Johannes XXIII. hat das damit angesprochene Verhältnis von Einzelmensch und Gesellschaft 1961 in klassischer Weise definiert: „Die Soziallehre, die die katholische Kirche überliefert und verkündet, bleibt ohne Zweifel für alle Zeiten in Geltung. Nach dem obersten Grundsatz dieser Lehre muß der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein. Und zwar der Mensch, sofern er von Natur aus auf Mit-Sein angelegt und zugleich zu einer höheren Ordnung berufen ist, die die Natur übersteigt und diese zugleich überwindet. Dieses oberste Prinzip trägt und schützt die unantastbare Würde der menschlichen Person.“1 Anders gesagt: Es geht um eine Gesellschaft, die nicht nach mechanischen Regeln funktioniert, sondern sittlich integriert ist. Die christliche Sozialethik hat im Laufe ihrer Geschichte dieses zentrale Verhältnis mit Hilfe verschiedener Grundbegriffe ausgelegt: Solidarität, Subsidiarität, Gerechtigkeit, Verantwortung und Nachhaltigkeit sind die wichtigsten und bis heute die am meisten gebrauchten. In der Tradition der katholischen Soziallehre werden Personalität, Solidarität und Subsidiarität auch „Sozialprinzipien“ genannt. Wobei diese Auswahl etwas willkürlich erscheint, so dass hier eher gleichsinnig von „Grundbegriffen“ und „Sozialprinzipien“ die Rede sein soll.2 Nell-Breuning hat von „Baugesetzen“ der Gesellschaft gesprochen und wollte damit auf ihren logischen Status hinweisen; sie bestimmen die innere Struktur der menschlichen Gemeinschaft, das, was sie „im Innersten trägt und zusammenhält.“3 Sie meinen etwas Ursprüngliches, wovon etwas seinen Ausgang nimmt. Sie meinen einheitsstiftende Grundsätze und Regeln. Diese ihre Regelhaftigkeit und Gesetzlichkeit schöpfen die Sozialprinzipien letztlich aus den „tiefsten Schichten menschlichen Seins“ 4, so hat es die Tradition der Soziallehre ausgedrückt. Sie stehen gleichsam zwischen theoretischer Begründung und konkreter Anwendung. Dabei sind sie nicht nur vom Begründungsdiskurs abhängig, sondern müssen ihre Gültigkeit im Anwendungsdiskurs immer wieder erweisen.

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6. Zentrale Begriffe und Prinzipien

Dass die Personalität das zentrale Prinzip darstellt, ist unstrittig. Der Personbegriff ist der letzte Maßstab für die Gestaltung der Gesellschaft, weil der Mensch ein mit persönlicher Würde und mit Freiheit ausgestattetes Geschöpf ist. Zugleich ist er verflochten in seine konkrete und geschichtliche Wirklichkeit. Er ist sich selbst aufgegeben, er kann, soll und will seine Persönlichkeit entfalten. Deshalb ist der Mensch niemals nur Objekt, das, was Andere aus ihm machen. Allen gesellschaftlichen Gestaltungsformen und Institutionen kommt grundsätzlich instrumentelle Funktion zu. „Sie gewinnen ihre Rechtfertigung also erst daraus, dass sie sich als funktionale Vollzugs- und Entfaltungsbedingungen menschlichen Personseins erweisen.“5 Die Gesellschaft ist der Menschen wegen da und nicht umgekehrt. Dabei ist aufgrund der Fehlbarkeit des Menschen darauf zu achten, dass die gesellschaftlichen Ordnungen ihn und seine moralischen Möglichkeiten nicht überfordern, sondern seinen Möglichkeiten entgegenkommen. Denn das wesentliche Kennzeichen des Sozialen ist – neben seinem „Eigenleben“ – seine Unverzichtbarkeit für den Menschen. Man spricht traditionell auch von der menschlichen „Sozialanlage“, der Gesellschaftlichkeit des Menschen. Ganz gleich, ob man diese Tatsache mit Verweis auf die Schwäche und Begrenztheit des Menschen plausibel zu machen versucht, oder sein Wesen als symbolisches charakterisiert und das Soziale als notwendiges Mittel zur Selbstwerdung interpretiert, immer ist damit die Frage nach dem Verhältnis von Person und Institution angesprochen. Dabei geht es nicht darum, das sei eigens angemerkt, vorschnell bestimmte überzeitliche Merkmale des Menschen zu fixieren und dadurch einer Ontologisierung des Sozialen das Wort zu reden. Es geht vielmehr darum, den Menschen möglichst unverstellt und konkret in den Blick zu nehmen und zu Wort kommen zu lassen. Allerdings erscheint die im Personbegriff enthaltene normative Option alles andere als selbstverständlich, wenn man auf die soziale Wirklichkeit schaut. Je mehr im Zuge der Neuzeit der Anspruch auf Selbstverwirklichung betont wird, umso mehr geraten die vielfältigen Abhängigkeiten, gerade im Zuge wissenschaftlich-technischer und politisch-ökonomischer Instrumentalisierung, in den Blick. Je mehr sich der Mensch zum Gestalter der Welt aufschwingt, umso mehr gerät er in die Fänge seiner eigenen Produktionen. Also ist dem individuellen Subjekt nicht zu trauen? Um die einmalige Würde der menschlichen Person zu begründen und gegenüber ihren faktischen Schwächen abzugrenzen unterscheidet die theologische Anthropologie zwischen Person und Subjekt.

6.1 Die menschliche Person und ihre Gesellschaft

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„Subjekt“ meint das Menschsein, insofern es ständig aufgegeben ist und verwirklicht werden muss. Subjekt muss der Mensch immer erst werden, „Person“ dagegen ist er immer schon. Person ist der Mensch als geschöpfliches Gegenüber des Schöpfers. Als Person ist der Mensch mehr als die Summe dessen, was er im Prozess seiner Persönlichkeitsbildung aus sich machen kann. „Das Insistieren auf dem Personsein des Menschen wahrt die Würde des ganzen Menschen in der Entfremdung angesichts der Reduktion auf partielle Aspekte, Rollen und Funktionen. Weil er Person ist, kann er Rollen und Funktionen übernehmen, kann er lernen, sich von den Rollen und Funktionen wieder zu distanzieren und selbständig und verantwortlich zu handeln.“6 Mit Hilfe dieser Unterscheidung lässt sich das, was der Mensch faktisch ist, einschließlich seiner Schwächen, an dem messen, was er sein kann und soll. Sie hält die Erinnerung an das mögliche Mehr in der Welt wach und an das, was den Menschen in der Gesellschaft vorenthalten wird. Die Idee vom Menschen als Person zieht sich wie ein roter Faden durch alle zentralen Begriffe und Prinzipien hindurch, ja alle Begriffe und Prinzipien müssen als Ausfaltungen, als Variationen des Personalitätsprinzips verstanden werden. Mehr noch: Das sozialethische Grundlagenproblem schlechthin ist die Spannung zwischen dem Anspruch des Sittlichen, dessen Verbindlichkeit sich an den Menschen als freies Vernunftwesen richtet, und den sozialen Ordnungen und Institutionen, die sich in ihrer organisationsförmigen Wirklichkeit, in ihrer „Selbstgenügsamkeit“ diesem Anspruch entziehen. Ziel ist es, das moralische Subjekt zu retten und dem Einzelnen die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Die Institutionen und Ordnungen sind so zu gestalten, dass sie die Verantwortlichkeit des Einzelnen ermöglichen und unterstützen. Anders gesagt: Ausgangspunkt und Ziel aller sozialethischen Bemühungen ist die menschliche Person. Wie verhalten sich nun die anderen Begriffe zur Personalität? Gegenüber der Personalität sind Solidarität und Subsidiarität ergänzende Ordnungsprinzipien einer als gerecht zu qualifizierenden Gesellschaft. Solidarität steht für die Wechselseitigkeit der Hilfe, Subsidiarität für die Art und Weise ihrer Institutionalisierung. Der Gerechtigkeit geht es ebenfalls umso etwas wie eine durchgängige Perspektive für die Gestaltung der Gesellschaft. Ihr geht es genauer um soziale Beziehungen unter dem Gesichtspunkt konkurrierender Interessen und Ansprüche.7 Ob sie deshalb als „allgemeiner Maßstab“ und „oberster Bewertungsgrundsatz“ gleichsam an die Spitze der

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6. Zentrale Begriffe und Prinzipien

Prinzipien zu setzen ist oder ob in ihr im Sinne konkurrierender Interessen und Ansprüche ein eigener Aspekt des Sozialen ethische Aufmerksamkeit findet, ist eine noch offene Frage.8 In den letzten Jahren ist die Liste der Sozialprinzipien durch einen weiteren Begriff ergänzt worden und zwar den der Nachhaltigkeit. Er versucht die Belange der Natur und der nachfolgenden Generationen als für den Menschen wesentliche Bezüge auf den Begriff zu bringen. Die Verantwortung in diese Aufzählung mit aufzunehmen hat schließlich seinen Grund nicht zuletzt darin, dass sie heute in der öffentlichen Debatte zu den meistbenutzten moralischen Kategorien zählt. Schließlich meint auch sie, ähnlich der Solidarität, nichts als die „bewußtgemachte Beziehung gegenseitiger Abhängigkeit“ und bedeutet, die „eigene Freiheit in den Dienst überindividueller Aufgaben zu stellen.“9 Was noch fehlt ist das „Gemeinwohl“. Aber ich schließe mich der Feststellung von Nell-Breuning an: Soziale Gerechtigkeit und Gemeinwohl sind „geradezu zwei Namen für ein und dieselbe Sache.“10 Wie immer man diese Erweiterungen der Liste bewerten mag – was alle Begriffe verbindet ist ihre Reaktion auf bedrückende gesellschaftliche Umstände. Zu denken ist an die Verelendung der Arbeiterschaft und die soziale Frage, die Abwehr totalitärer Systeme, die Umweltproblematik, die Frage nach den Grenzen technischer Möglichkeiten. Und sie wollen zugleich eine Orientierung sein, indem sie sich gewissermaßen auf einen „Kern tradierter kollektiver Lebenserfahrung und ethischer Reflexion“11 beziehen. Sie helfen dem Menschen, „seine Erkenntnis- und Handlungswelt nach übergeordneten Gesichtspunkten transparent zu machen, zu ordnen und zu gestalten. (...) Prinzipien sind keine unmittelbar zu exekutierenden Normen, keine Verordnungen und keine Ausführungsbestimmungen, sondern strukturierungs- und verfahrensrelevante Grundsätze.“12 In ihnen bringt sich der moralische Selbstanspruch der modernen Gesellschaft zum Ausdruck, weil mit ihnen die Frage der gesellschaftlichen Strukturen der Gestaltungsverantwortung des Menschen zugewiesen wird. Sie erweisen sich in ihrer Entstehung wie ihrem funktionalen Stellenwert als Kategorien, die die sozialethische Frage erst als solche erschließen helfen. Sie sind Suchbegriffe, die bedrückende, entmenschlichende Verhältnisse aufspüren helfen, sie anprangern und zur Veränderung aufrufen wollen. Dem entspricht durchaus ihr häufig appellativer Charakter, weil sie den moralischen Gesichtspunkt in einer von wissenschaftlich-technischer und politisch-ökonomischer Instrumentalisierung dominierten Welt zur Geltung bringen wollen.

6.2 Solidarität

107 Zusammenfassung

Weil es um eine Gesellschaft geht, die nicht nach mechanischen Regeln funktioniert, sondern sittlich integriert ist, deshalb ist der Personbegriff der letzte Maßstab für ihre Gestaltung. Alle anderen Sozialprinzipien sind als Ausfaltungen des Personalitätsprinzips zu verstehen.

6.2 Solidarität Die Solidarität scheint gegenwärtig eine besondere Konjunktur zu erleben. Die möglichen Folgen unseres Handelns, bezogen vor allem auf die Umweltverschmutzung und die soziale Sicherung, treten immer stärker ins Bewusstsein. Zugleich wächst die Sorge, dass diese Folgen nicht mehr mit denselben Mitteln kontrolliert werden könnten, mit denen wir bisher Umwelt und Soziales gestaltet haben: mit technisch-wissenschaftlicher Rationalität. Diese Sorge bringt sich auch im Ruf nach Solidarität zum Ausdruck. Appelliert wird dabei an ein Ethos, das globale Züge annimmt: Das moralische Bewusstsein richtet sich auf die Menschheit als Schicksalsgemeinschaft und richtet sich auf die kommenden Generationen. So sehr aber auf der einen Seite Solidarität zur Lösung der drängenden Probleme reklamiert wird, so sehr wird gegen bloßes Moralisieren und Appellieren polemisiert. Vor allem von wirtschaftsliberaler Seite wird der Ruf nach Solidarität als „Pfeifen im dunklen Wald“ abqualifiziert, so der Wirtschaftsethiker Karl Homann. Und haben solch skeptische Stimmen nicht Recht angesichts der beliebten Diagnose von der Entsolidarisierung unserer Gesellschaft? „Solidarität und Gerechtigkeit genießen heute keine unangefochtene Wertschätzung. Dem Egoismus auf der individuellen Ebene entspricht die Neigung der gesellschaftlichen Gruppen, ihr partikulares Interesse dem Gemeinwohl rigoros vorzuordnen“, so heißt es im Gemeinsamen Wort der beiden deutschen Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ von 1997. Eine der wesentlichen Aufgaben der Sozialethik besteht darin, in solchen „Gemengelagen“ für mehr begriffliche Klarheit zu sorgen. Schauen wir also genauer hin. Der Begriff Solidarität stammt ursprünglich aus dem französischen Sprachraum und zwar aus der Rechtssprache.13 Er bezeichnet dort die Rechtsfigur der gesamtschuldnerischen Haftung, innerhalb welcher „jeder Einzelne für die Gesamtschuld herangezogen werden kann und zugleich alle für die

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6. Zentrale Begriffe und Prinzipien

Schuld jedes Einzelnen einzustehen haben“14. In der Folge weitet sich der Begriff allmählich und nimmt neben der rechtlichen auch moralische Bedeutung an. Erst in der Arbeiterbewegung nach 1848 wird Solidarität schließlich zur „durchschlagenden politischen Parole“15 und zu einem sozialethisch interessanten Begriff. In ihr bringt die Arbeiterklasse ihr Gruppeninteresse, ihren Kampfeswillen, ihr Selbstbewusstsein zum Ausdruck. Auch in der Geschichte der Soziologie spielt der Begriff eine prominente Rolle und zwar nicht als sittliches Ideal, sondern als soziale und moralische Realität. Auguste Comte (1798-1857) führte den Begriff ein und verband mit seiner Hilfe die Phänomene gesellschaftlicher Arbeitsteilung und gesellschaftlicher Integration. Aber erst mit Emile Durkheim rückte die Solidarität in eine für die Theorie zentrale Position ein. Die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft verlangt, so Durkheim, nach einer neuen Bindekraft, die moralisch-solidarisierende Funktionen erfüllen muss. Früher, in der Archaik, so Durkheim weiter, war das die Aufgabe der Religion beziehungsweise einer starken disziplinierenden Gewalt. Heute ist eine solche „kulturelle“ Integration unmöglich geworden. An ihre Stelle tritt die „morphologisch-strukturell“ bewirkte Integration. Die arbeitsteilige Interdependenz erzeugt Solidarität, eine „organische“ Solidarität, so nennt er sie etwas missverständlich, in Abhebung von der bloß „mechanischen“ der Vorzeit. Die großen sozialen Zusammenballungen der Neuzeit lassen keine unmittelbaren Kleingruppenbeziehungen mehr zu. Genau diese Vermittlungen leistet nun die Struktur arbeitsteiliger Differenzierung. Die alleinige Quelle der Solidarität in der modernen Gesellschaft ist also die Arbeitsteilung.16 Mit dieser Zuordnung ist zugleich das bis heute in der Soziologie hochaktuelle Problem des Verhältnisses von systemischer und moralischer Integration angesprochen. Für die kirchliche Soziallehre schließlich hat der Begriff eine besondere Bedeutung erlangt. Es war vor allem der Jesuit Heinrich Pesch (1854-1926), der Begründer des sogenannten „Solidarismus“, der die Solidarität zum Sozialprinzip der christlichen Gesellschaftslehre erhob. Die damals dominierende klassische Lehre der Nationalökonomie mit ihrem Individualismus und der Betonung der Autonomie der Wirtschaft wurde von ihm scharf kritisiert und angesichts der „sozialen Frage“ die Sozialpolitik ins Zentrum wirtschaftswissenschaftlichen Interesses gerückt. Im Hintergrund stand die sogenannte „historisch-ethische Schule“ der Nationalökonomie, die, vom deutschen Idealismus beeinflusst, mit Sitte, Moral und Recht gerade die

6.2 Solidarität

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Faktoren wirtschaftlicher Entwicklung in den Vordergrund rückte, die von der klassischen Theorie der Ökonomie ignoriert worden waren. Es ging um die konkreten Bedürfnisse und die Lebenslage der Arbeiter, um Lohnhöhe, Wohnbedingungen, Verbrauchergewohnheiten. Das hat den Vertretern dieser Richtung von Seiten der Liberalen den Titel „Kathedersozialisten“ eingebracht. Für Pesch leitet sich die Solidarität als sittliche Pflicht von der „tatsächlichen, in der vielfältigen gesellschaftlichen Abhängigkeit des Menschen sichtbaren und in seiner sozialen Natur begründeten Solidarität“ her, die er allerdings nicht „als individuelle personale Tugend, sondern als gesellschaftliches Strukturprinzip und damit wesentlich als ,Rechtsgesetz‘ interpretiert.“17 Seitdem steht der Begriff für ein Gesellschaftsmodell, das sich gegen Kommunismus und Liberalismus abhebt und die Position der katholischen Soziallehre kennzeichnet. Wieder ist es Nell-Breuning, der den Sinn des Solidaritätsprinzips markant auf den Punkt gebracht hat: „Der Volksmund spricht es so aus: ,Wir alle sitzen in einem Boot‘. Damit ist gemeint: das gesellschaftliche Ganze und seine Glieder sind aufs engste schicksalhaft miteinander verbunden. Soll es dem Ganzen wohl ergehen, dann muß es allen seinen Gliedern wohl ergehen; soll es den Gliedern wohl ergehen, dann muß das Ganze in gutem Befund sein.“18 Als sozialethisches Prinzip bezieht sich die Solidarität auf die sozialen Strukturen und Institutionen der Gesellschaft und formuliert den Anspruch, wechselseitigen Beistand institutionell abzusichern. Die in unserer Sozialordnung festgelegten Sicherungssysteme sind ein Versuch, Solidarität in diesem Sinne zu organisieren. Nicht zu Unrecht dreht sich die Auseinandersetzung um die Finanzierung der Sozialversicherungen immer wieder um die Frage nach der Solidarität zwischen den Generationen, häufig auch „Generationengerechtigkeit“ genannt. Mit Rückgriff auf das Solidaritätsprinzip jedenfalls können die Generationen nicht gegeneinander ausgespielt werden, wie es in der aktuellen politischen Debatte des Öfteren versucht wird. Weil die Solidarität wesentlich als Auslegung des Personalitätsprinzips verstanden werden muss – wir alle tragen Menschenantlitz aufgrund unserer gemeinsamen personalen Würde –, öffnet sie den Blick auch für die Strukturen, in denen sich wechselseitige Rücksichtnahme, Identifizierung, Fürsorge, Versöhnung unmittelbar einspielen und erfahren werden können. Zu denken ist dabei vor allem an die Familie. Das Prinzip hat vermittelnden Charakter – zwischen Individuum und Gesellschaft. Ähnliches kann man mit Blick auf das Problem der Entwicklungshilfe feststellen. In das Ver-

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6. Zentrale Begriffe und Prinzipien

hältnis von Mensch und Gesellschaft ist immer die weltweite Perspektive einzubeziehen. Die Solidarität ist unteilbar. Sie kann nicht auf ganz bestimmte soziale Gruppen und ihre Interessen beschränkt werden, sondern verlangt weltweite Berücksichtigung. Das Entwicklungsproblem ist übrigens ein Thema, das sich die Kirchen wie kaum eine andere gesellschaftliche Gruppe schon sehr frühzeitig zu ihrem ureigenen Anliegen gemacht haben. Zusammenfassend kann man drei Kennzeichen von Solidarität hervorheben: 1. Sie bezeichnet ein „wechselseitig verpflichtendes Identifizierungsgeschehen“19. Sie richtet sich sowohl an die Gruppe und ihre Beistandspflicht gegenüber dem Einzelnen als auch an den Einzelnen und seine Verantwortungsbereitschaft gegenüber der Gemeinschaft. 2. In der Solidarität macht sich ein „universeller Anspruch“ geltend. Gruppenegoismus ist mit ihr nicht vereinbar. Sie erstreckt sich prinzipiell auf alle. 3. Sie richtet sich vorrangig an die Benachteiligten. Ihr Ethos zeigt sich im Engagement für die Armen, in ihrer Sensibilität für Diskriminierungen und Gefährdungen des Humanen.20 In der aktuellen gesellschaftswissenschaftlichen Debatte geht es vor allem um die Frage, ob und wie die Forderung nach Solidarität eine die Gesellschaft steuernde Kraft gewinnen kann. Der schon mehrfach zitierte Wirtschaftsethiker Karl Homann hat dieses Problem wie folgt auf den Punkt gebracht: „Wettbewerb ist solidarischer als Teilen“21. Moralische Intentionen, als solche interpretiert er Solidarität, müssen in Institutionen, hier den Wettbewerb, transformiert werden. Das muss so sein, so argumentiert er, weil die Erwartung solidarischen Verhaltens die Interdependenz der Handlungen und die daraus oft resultierenden Sachzwänge, typisch für die moderne Gesellschaft, ignoriert und individuelle Moral als naiv und ausbeutbar erscheinen lässt. Dabei übersieht er aber, dass die „Herzen und Köpfe“ der Menschen beteiligt sein müssen, wenn man Solidarität zum Strukturprinzip machen will.22 Auch die Soziologen Karl Otto Hondrich und Claudia Koch-Arzberger wollen die Solidarität als typisch moderne Bindekraft neu interpretieren. Allerdings ist sie für sie eine „nicht festgelegte Ressource soziopolitischer Steuerung“.23 Typisch modern ist sie, weil sie auf der freien Entscheidung des Einzelnen beruht. Es ist gerade ihre Flexibilität – sie bindet die Menschen nicht auf Gedeih und Verderb aneinander, sie verausgabt sich nicht an eine Sache, sie entzieht sich amtlichen und anderen Versuchen, sie ganz für sich in Dienst zu nehmen –, die sie zu einer gegenüber Staat und Markt alternativen Form der Selbststeuerung macht. Wenn man so

6.3 Subsidiarität

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interpretiert, dann ist „Wettbewerb nicht solidarischer als Teilen“, aber Wettbewerb führt auch nicht zwangsläufig zur Entsolidarisierung der Gesellschaft. Die verschiedenen Steuerungskräfte sichern vielmehr gemeinsam den Zusammenhalt der modernen Gesellschaft. Zusammenfassung Die Solidarität macht auf die Verbundenheit von gesellschaftlichem Ganzen und seinen Gliedern aufmerksam: Wir sitzen alle in einem Boot. Deshalb hat die Gemeinschaft eine Beistandspflicht gegenüber dem Einzelnen und der Einzelne eine Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft.

6.3 Subsidiarität Ganz so populär wie der Solidaritätsbegriff ist der der Subsidiarität ganz offensichtlich nicht. Dennoch erfährt auch er eine gewisse Konjunktur. Nachdem er lange Zeit beinahe von der Bildfläche verschwunden war, verschwunden sowohl aus der Verfassungsdebatte als auch aus der Sozialverkündigung der Kirche, erlebt er heute eine Wiederbelebung. Sowohl in den Maastrichter Verträgen der Europäischen Union von 1992 als auch im neu eingeführten Europa-Artikel des deutschen Grundgesetzes wird die Subsidiarität explizit genannt und rückt im „Gemeinsamen Wort“ der beiden deutschen Kirchen von 1997 „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ in den Mittelpunkt. Die Subsidiaritätsidee wird heute auf mehreren Ebenen diskutiert und steht in verschiedenen Begründungszusammenhängen: „So würde Subsidiarität zusammen mit den sinnverwandten Begriffen Solidarität und Toleranz gut zu einer multikulturellen und kulturintegrativen Gesellschaft passen. Auch könnte Subsidiarität in Verbindung mit dem pluralistischen Ziel der differenzierten Einheit in der legitimen Vielfalt in die seit längerem geführte Diskussion über die ,Civil Society‘, über die Bürgergesellschaft also, eingeführt werden.“24 Zu erwähnen wäre auch die Diskussion über die Zukunft unseres Sozialstaates oder die Debatte über die Ordnung moderner Gesellschaft – man denke nur an die Stichwörter „Deregulierung“ oder auch „Regionalisierung“, nicht nur bezogen auf die „Demokratisierung“ Europas, sondern auch auf die Umweltdebatte (Regionalisierung der Energieerzeugung oder Regionalisierung der Märkte). Und schließ-

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6. Zentrale Begriffe und Prinzipien

lich das Stichwort „Entmachtung des Staates“, das sich auf seine mangelnde Steuerungskraft bezieht – nicht nur gegenüber der Wirtschaft – und im Gegenzug die Lobbyisten auf den Weg gebracht hat. Aber worum geht es eigentlich, wenn von Subsidiarität die Rede ist? Viel unmittelbarer als bei der Solidarität wird der Begriff Subsidiarität mit der kirchlichen Sozialverkündigung in Verbindung gebracht, genauer mit der von Papst Pius XI. 1931 verfassten Enzyklika „Quadragesimo anno“. Was aber nicht bedeutet, dass das Prinzip als „katholisches“ vereinnahmt werden könnte, zu lang ist seine Vorgeschichte, man denke etwa an die vielzitierten Namen Johannes Althusius (1557-1638) und Abraham Lincoln (1809-1865), zu vielfältig sein Gebrauch. In Quadragesimo anno jedenfalls heißt es in Nr. 79: „Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, daß unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muß doch allzeit unverrückbar jener höchst gewichtige sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“25

Zwar geht es auch bei den anderen Sozialprinzipien um die Gesellschaft und ihre Ordnung, aber die Subsidiarität richtet die Aufmerksamkeit ausdrücklich auf die institutionelle Seite. Sie bezeichnet gleichsam die Rahmenbedingungen, ohne die eine solidarische Verbundenheit nicht möglich wäre. Und es geht um den Menschen, den Einzelnen, als gesellschaftliches Wesen. Wie kann er seine sittliche Identität als Person entfalten und wie können gesellschaftliche Institutionen und Ordnungen so organisiert werden, dass sie dabei hilfreich sind – das ist die Perspektive der Subsidiarität. „Hilfe zur Selbsthilfe“ oder „hilfreicher Beistand“, so kann man den Begriff, der aus dem Lateinischen „subsidium“ stammt, übersetzen. Die Hilfe muss so geartet sein, dass sie den Menschen instandsetzt oder erleichtert,

6.3 Subsidiarität

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sich selbst zu helfen oder seine Hilfe erfolgreicher zu machen. Nur eine solche Hilfe ist echte Hilfe. Mehr noch: Der Text spricht von einer Pflicht: „subsidiarium officium“. Es geht also um die Pflicht der Gemeinschaft, ihren Gliedern hilfreich zu sein. Dabei ist zu beachten, dass der Text in „Quadragesimo anno“ von Anfang an und bis heute auf eklatante Weise missdeutet und fehlinterpretiert worden ist und zwar vor allem in individualistischer Manier. Viele kennen nur den Namen, so beklagte sich etwa Nell-Breuning immer wieder, und hören das Eigenschaftswort „subsidiär“ heraus, „das in unserem Sprachgebrauch so viel bedeutet wie ersatzweise, als Behelf, wenn es nicht anders geht, als Notbehelf, nach dem man greift, wenn man nichts Besseres zur Verfügung hat.“26 Das bedeutet dann angewandt auf das Subsidiaritätsprinzip: Es wolle „die Staatstätigkeit und überhaupt die Wirksamkeit aller öffentlichen Institutionen soviel wie möglich einschränken, auf das unvermeidliche Mindestmaß zurückdrängen“27. Eine solch extrem individualistische Interpretation hat mit dem klassischen Wortlaut nichts gemeinsam. Der Einzelne ist auf die Gesellschaft angewiesen so wie die Gesellschaft auf den Einzelnen angewiesen ist. Anders gesagt: Wenn die Gesellschaft ihre ureigene Aufgabe erfüllen will, nämlich den Einzelnen zu unterstützen, kann sie das nur, wenn sie so organisiert ist, dass sie ihm Verantwortung zutraut. Weil der Mensch Subjekt ist und sein soll, niemals nur Objekt, nur das, was andere aus ihm machen, deshalb ist alles das für ihn hilfreich, was es ihm erlaubt, sich als Subjekt zu betätigen und sich dadurch zu entfalten. Zwar macht jede Hilfe den Bedürftigen per definitionem zum Objekt. Aber der Sinn solcher Maßnahmen darf kein anderer sein, als dem hilfsbedürftigen Menschen zu helfen, „wieder weniger Objekt und mehr Subjekt zu sein. Das besagt: die Hilfsmaßnahmen haben es darauf abzulegen, dem Hilfsbedürftigen soviel Gelegenheit wie möglich zu bieten, zu seiner Befreiung aus der Not durch eigenes Tun mitzuwirken, sollen Hilfe zur Selbsthilfe sein.“28 Die Gemeinschaft hat die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Glieder bestehen können, etwas unternehmen können, der Einzelne sich entfalten kann. Man denke in diesem Zusammenhang auch an die Idee der Menschenrechte, die von Freiheitsrechten und politischen Gestaltungsrechten aber auch von Sozialrechten spricht. Die Rechte werden dem Einzelnen nicht vom Staat verliehen, er hat sie „von sich aus“. Und die Idee der Freiheit, die in der Menschenrechtsidee impliziert ist, ist immer eine konkrete, die die materiellen Voraussetzungen der Frei-

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6. Zentrale Begriffe und Prinzipien

heits- und Gestaltungsrechte, also ihre vielfältigen Vermittlungen, einschließt. In letzter Zeit wird das klassische Verständnis von Subsidiarität durch ein neueres ergänzt. Ursprünglich ging es um eine rein institutionelle Frage, also um die Frage der hierarchischen Gliederung der verschiedenen gesellschaftlichen Sachbereiche. So hat etwa NellBreuning darauf hingewiesen, dass man für die Anwendbarkeit des Prinzips darauf achten muss, ob es sich um ein Verhältnis von Ganzem und Glied handelt: „Im Verhältnis von Ortsgruppe zu Kreisverband, von Kreisverband zu Landesverband, von Landesverband zu etwa bestehendem noch höherem, übergeordnetem Verband ist dieses Verhältnis gegeben (...); ebenso im Verhältnis von Fachverband zu Gesamtverband (Fachverband Textil zu Gesamtverband Industrie, Einzelgewerkschaft zu Gewerkschaftsbund); nicht anwendbar ist es auf Sozialgebilde verschiedener Zielsetzung, am allerwenigsten, wenn die Ziele nicht nur verschieden, sondern gegensätzlich sind.“29 Dagegen macht Peter Koslowski zu Recht darauf aufmerksam, dass das Subsidiaritätsprinzip nicht nur auf die Zuständigkeitsverteilung innerhalb eines Ganzen anzuwenden ist, sondern über die institutionelle Ebene hinausgeht und Fragen der „Funktionsverteilung und -koordination zwischen Subsystemen und Kultursachbereichen“30 miteinbezieht. Koslowski will damit eine Interpretation im Sinne „linearer Subsidiarität“, nur in eine „Richtung“ zielend, oder im Sinne einer „aufhebenden Abfolge“, abwehren und sie vor allem als Kooperationsprinzip verstanden wissen. Staat und Markt sollen ihr Versagen in der Erfüllung der eigenen Funktion wechselseitig kompensieren.31 Diese Erweiterung der „klassischen“ Interpretation von Subsidiarität um die funktionale Perspektive findet ihren Anhalt bei näherem Hinsehen schon in „Quadragesimo anno“. Weil die Enzyklika die eigentliche Funktion der Gesellschaft als Dienst an der Vervollkommnungsmöglichkeit des Menschen bestimmt und der Text vor allem die Erosion intermediärer Gesellschaftsformen beklagt32, erweitern sich die Anwendungsbedingungen – und zwar in dem normativen Sinn, dass intermediäre Gesellschaftsformen zu stärken und gegebenenfalls neu zu etablieren sind.33 Was bedeutete das anderes als die streng hierarchische Gliederung als Anwendungsbedingung des Prinzips zu relativieren? Der Einzelne gibt den letzten Bezugspunkt, nicht die Gemeinschaft, ganz gleich ob „oben“ oder „unten“. Eine solche „Funktionalisierung“ bringt das Subsidiaritätsprinzip in Verbindung mit der zentralen Kritik an eingespielten Sachrationalitäten, hier vor

6.3 Subsidiarität

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allem Marktmechanismen und Verwaltungsformen, die den Einzelnen außen vor lassen, und der Kritik an fremdbestimmten Lebensräumen (s.o.); bringt es in Verbindung mit einer Liberalismuskritik, wie sie etwa die Kommunitarier34 betrieben haben. Hierher gehört alles, was in der Debatte über die Bürger- oder Zivilgesellschaft zusammengetragen worden ist. Es geht also darum, konkrete Vermittlungen zu suchen, die das individuelle Subjekt in den Sachbereichen zum Zuge kommen lassen. Diese Vermittlungsstellen hätten, ganz allgemein gesagt, die Aufgabe, die Systeme zur Legitimation zu zwingen.35 Sie hätten die Aufgabe, den Subjekten Möglichkeitsbedingungen anzubieten für die Übernahme von Verantwortung. Je größer, komplexer, differenzierter, folgelastiger die gesellschaftlichen Gebilde werden, umso wichtiger sind vermittelnde Instanzen, die den Einzelnen die Chance einräumen, an der Willensbildung „unmittelbarer“ beteiligt zu sein. Und solche Instanzen erhöhten wiederum die Chance, die Teilrationalitäten jeweils zu unterbrechen. Nur so ist die persönliche Verantwortung zu retten. Nicht dadurch, dass ihre Nichtexistenz zur Bedingung gesellschaftlicher Ordnung gemacht wird, um ihre faktische Labilität und Beschränktheit zu kompensieren. Die „Minima moralia“ moderner Gesellschaften finden sich nicht schon und ausschließlich in den moralfreien, evolutiven Steuerungserfordernissen der wichtigsten Subsysteme. Vielmehr müssen Strukturen entwickelt werden, die die funktionalen Erfordernisse mit persönlichem Verantwortungsbewusstsein zu vermitteln gestatten. Noch einmal anders gesagt und formelhalft zusammengefasst: Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird mit dem Subsidiaritätsbegriff nach dem Prinzip des „hilfreichen Beistandes“ bestimmt. Diese Bestimmung hat ihren Grund im christlichen Menschenbild. Die entsprechenden Institutionalisierungen müssen wiederum unter drei zentralen Aspekten beurteilt werden: 1. Freiheit, im Sinne gesellschaftlicher Vermittlung der Entfaltung des Individuums; 2. Institutionalisierung, im Sinne der kooperativen Zuordnung der Bereiche; 3. Funktionalität, im Sinne von Kompetenz und Effizienz. Zusammenfassung Das Subsidiaritätsprinzip fragt nach den sozialen Vermittlungen der Selbstbestimmung des Menschen. Es fordert Hilfe zur Selbsthilfe. Hilfreich ist alles, was es dem Menschen erlaubt, wieder weniger Objekt und mehr Subjekt zu sein.

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6. Zentrale Begriffe und Prinzipien

6.4 Verantwortung Auch im Verantwortungsbegriff spiegelt sich die grundlegende Strukturproblematik moderner Gesellschaft. Jetzt steht die Frage im Vordergrund, was von der Sittlichkeit des Menschen überhaupt noch erwartet werden darf. Schaut man sich die typisch modernen Strukturen näher an, so scheint für sie kein Platz mehr zu sein. Lange Handlungsketten, anonyme Austauschbeziehungen, Spezialisierung und Teamarbeit sind typisch moderne strukturelle Einschränkungen individueller Verantwortlichkeit. Sie lassen eine Zurechnung bestimmter Handlungsfolgen kaum mehr zu, ganz zu schweigen von ihrer moralischen Qualifizierung. Je lauter in der Öffentlichkeit nach den Verantwortlichen gerufen wird, desto deutlicher geraten diese Zusammenhänge in den Blick. „Des Teufels Wörterbuch“ des amerikanischen Schriftstellers Ambrose Bierce (1842-1914) bringt es auf die sarkastische Formel: „Verantwortung: eine abnehmbare Last, die sich leicht Gott, dem Schicksal, dem Zufall oder dem Nächsten aufladen läßt.“36 Nach diesem Motto haben offensichtlich so manche Aufsichtsräte und Manager verfahren, wie man beinahe täglich in der Presse nachlesen kann. Der Begriff Verantwortung ist erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einer „ethischen Schlüsselkategorie unseres gegenwärtigen Selbstverständnisses“37 aufgestiegen. Zum zentralen Thema wurde die Verantwortung im Zuge der Industrialisierung und Technisierung, als sich der Mensch als Focus der Welt wahrzunehmen lernte und zugleich erkennen musste, dass er diesen von ihm auf den Weg gebrachten gesellschaftlichen Prozessen zunehmend hilflos ausgeliefert ist. „Das Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas (1903-1993) steht dafür.38 Ihrem Gegenstand nach bezieht sie sich auf die Übertragung beziehungsweise Übernahme von Aufgaben und die mit ihnen verknüpften Handlungserfordernisse sowie auf die entsprechende Zurechnung von Handlungsfolgen. Dabei kann man noch einmal zwischen einem „klassischen“ und einem „modernen“ Begriff unterscheiden: Ersterer bezieht sich auf sozial übersichtliche Kontexte mit eindeutigen Zurechenbarkeiten. Zweiter dagegen rechnet mit weitaus anspruchsvolleren gesellschaftlichen Bedingungen, mit hoher Komplexität und tiefer Arbeitsteilung. Auf der einen Seite muss den autonomen Sachbereichen mit ihren Sachzwängen Rechnung getragen werden. Nur so können sie ihre Aufgaben effektiv erfüllen. Auf der anderen Seite müssen die Akteure ihre Zuständigkeit als moralische Wesen erhalten. Nur so ist „sittliche Autonomie“, das moralische Subjekt überhaupt zu denken.

6.4 Verantwortung

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Muss nicht mit der Komplexität und Undurchschaubarkeit der modernen Gesellschaft die Verantwortung den Systemen und Organisationen übertragen werden, die sie offensichtlich de facto schon lange ausüben? Oder muss nicht umgekehrt das individuelle moralische Subjekt wieder in seine ihm allein zukommende, allein Verantwortung vermittelnde Position eingesetzt werden? Diese Fragen prägen die aktuelle sozialphilosophische Debatte über den Verantwortungsbegriff. Die einen vertreten die These, dass moderne gesellschaftliche Prozesse nicht mehr personal verantwortbar sind. Also muss man sie gleichsam in Regeln und Ordnungen übersetzen. Die anderen folgern aus der Tatsache, dass das Subjekt soziotechnischen Handelns häufig nicht mehr das Individuum allein ist, zu Recht nicht, dass es deswegen aus der Verantwortung zu entlassen wäre. Sicherlich: Auch Institutionen haben eine „objektive Haftungsverantwortung”, die aber auf die subjektiv-individuelle Verantwortungsebene gleichsam herunterzudeklinieren ist. Es muss plausibel gemacht werden können, dass das Verantwortungssubjekt auch Handlungen zu verantworten hat, die nicht von ihm allein ausgeführt oder veranlasst worden sind. Das ist der Fall, weil Verantwortung nichts als die bewusst gemachte Beziehung gegenseitiger Abhängigkeit ist, und weil man, sobald man handelt, mit jedem und allen in Beziehung tritt. Das ist die objektive Ebene des Verantwortlich-Seins. Allerdings entspricht dem beileibe nicht immer die subjektive Seite des Sich-verantwortlich-Fühlens. Deshalb besteht eine wichtige Aufgabe darin, zu mehr Verantwortungsbewusstsein zu erziehen oder Modelle und Verfahren zu entwickeln für die Umsetzung von objektiven Haftbarkeitsstrukturen der institutionellen Ebene in Verantwortlichkeitsstrukturen der individuellen Ebene. Und umgekehrt: Es müssen den Individuen Möglichkeiten angeboten werden für die Übernahme von Verantwortung. Dann verlagert sich das Problem. Dann steht nicht mehr die Frage der Zurechenbarkeit im Vordergrund, sondern die nach den Bedingungen der Möglichkeit von Verantwortungsübernahme.39 Ähnlich wie bei der Subsidiarität kommen Vermittlungen in den Blick, Strukturen und Institutionen individueller Verantwortlichkeit. So naheliegend solche Vorschläge auch sein mögen, letztlich müssen sie mit einem gehörigen Maß an Unberechenbarkeit und Ambivalenz leben. Denn solche Vermittlungen beruhen auf mindestens zwei Unwägbarkeiten: 1. Das Emergenzniveau der ausdifferenzierten Systeme lässt sich nicht überspringen. 2. Die Verantwortlichkeit der Einzelnen bleibt ein unsicherer Kandidat. Aber diese Unwägbarkeiten verweisen noch einmal auf den Sinn von Verantwortung heute.

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6. Zentrale Begriffe und Prinzipien

Er schließt die „Übernahme der Mehrdeutigkeit und der Ambivalenz der Problemlagen mit ein“40 und versucht gleichzeitig, das Subjekt institutionell einzubinden. Nicht zuletzt deshalb sind die vermittelnden Instanzen als Such- und Lernprozesse zu organisieren. Und wenn sich die christliche Sozialethik angesichts dieser Situation fragen muss, welchen Beitrag sie zum Verantwortungsdiskurs leisten kann, drängt sich die Relativierung der beiden Lösungsvorschläge auf: Dem Einzelnen grenzenlos zu vertrauen ist ebenso unmöglich wie die Verantwortung gänzlich den Systemen zu übertragen. Diese Einsicht gewinnt man auch ohne die spezifisch christliche Perspektive. Aber durch den Glauben wird diese Relativierung begründbar. Die Zukünftigkeit des Reiches Gottes stellt jeden Zustand der Gesellschaft und alles menschliche Handeln „in die Perspektive der Vorläufigkeit. Diese Vorläufigkeit der Welt begründet die Unterscheidbarkeit des Menschen von seiner Welt und bestimmt ihn relativ zur Welt als selbständiges, verantwortliches Subjekt. Das ist die kritisch-distanzierende Funktion der Eschatologie für die Ethik.“41 Zugleich fordert der Glaube an die Verheißung vom umfassenden Frieden, von der umfassenden Gemeinschaft mit Gott und den Menschen zum Handeln auf, auch „über menschliches Gelingen hinaus“42. Das ist die ermutigende Funktion der Eschatologie für die Ethik. Beide Funktionen geben den Versuchen eine Chance, die sowohl dem Einzelnen Verantwortung zutrauen als auch von den notwendigen Vermittlungen wissen. Das ist die Perspektive einer Theologie der Verantwortung, die mit der Offenheit menschlicher Geschichte und Freiheit rechnet und im Vertrauen auf die endgültige Erlösertat Gottes die konfliktreiche menschliche Existenz unverstellt wahrnehmen und entsprechend handeln lässt. Zusammenfassung Verantwortung bezieht sich auf bestimmte Aufgaben und die Zurechnung von Handlungsfolgen. Weil sie die bewusst gemachte Beziehung gegenseitiger Abhängigkeit ist, deshalb reicht eine Folgenverantwortung nicht und müssen die strukturellen Bedingungen für Verantwortungsübernahme in den Blick genommen werden.

6.5 Gerechtigkeit Mit den Begriffen Solidarität und Verantwortung teilt die Gerechtigkeit nicht nur das Schicksal, in den unterschiedlichsten Kontexten und im Dienst unterschiedlichster Interessen gebraucht zu werden.

6.5 Gerechtigkeit

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Dank seines moralisierenden und appellierenden Charakters wird er in öffentlichen Debatten regelrecht inflationär gebraucht. In fast jeder Rede, in fast jedem Artikel, ganz gleich ob es um Politik, Recht oder Wirtschaft oder um eine Predigt geht, taucht der Begriff irgendwann auf. Häufig nach dem Muster, dass Ungerechtigkeiten beklagt und Abhilfe eingefordert wird. Kein Wunder also, dass ihm mit viel Skepsis begegnet wird. Muss man nicht angesichts solcher Erscheinungen mit Luhmann wieder die Frage stellen, ob diese Begriffe nicht nur deshalb als Medizin verschrieben werden, weil sie zwar nicht heilen, aber den „Juckreiz“ der Probleme verringern? Für den 1992 verstorbenen österreichisch-englischen Ökonomen Friedrich August von Hayek ist Gerechtigkeit nichts als eine Fata Morgana. Das Problem sozialer Gerechtigkeit gehöre nicht in die Kategorie des Irrtums, sondern in die des Unsinns, so Hayek. Auf der einen Seite sieht er die Gerechtigkeit als Leerformel, die sich zu politischen Zwecken beliebig ausfüllen lässt; auf der anderen Seite will er mit seiner Kritik irgendwelche Absicherungsmentalitäten abwehren. Jedenfalls passen für ihn, den neoliberalen Nobelpreisträger, moralische Kategorien nicht zur Logik des Marktes, weil dieser in einer komplexen Gesellschaft nur als das Ergebnis einer spontanen Ordnung verstanden werden kann, einer Ordnung, die sich eben nicht auf einen praktischen Diskurs zurückführen lässt, sondern als Produkt eines evolutiven Prozesses begriffen werden muss.43 Zweifellos kann die Ethik eine solche Situation nur als Herausforderung begreifen. Schließlich geht es um die Frage, ob und inwiefern sie eine kritische Kraft entfalten kann und noch grundsätzlicher, ob sie überhaupt noch einen Beitrag leisten kann zur Lösung der uns bedrängenden Probleme. Es wird zu zeigen sein, dass der Begriff Gerechtigkeit trotz aller Skepsis als Problemanzeiger und Orientierungshilfe verstanden werden kann, gerade weil er auf Probleme hinweist, die eng mit den typisch modernen gesellschaftlichen Strukturen zusammenhängen. Wenn man sich klarmachen will, wie die verschiedenen Bedeutungsvarianten des Begriffs Gerechtigkeit zu verstehen sind, ist es sinnvoll, einen Blick in die Geschichte zu werfen. Jahrhunderte hindurch bedeutete Gerechtigkeit die sittliche Haltung des Einzelnen, die dazu motivierte, geltendes Recht und Gesetz zu achten. Noch bis ins 18. Jahrhundert hinein herrschte in Europa eine Idee von Gerechtigkeit vor, die sie als Anpassung an die ständisch geordnete und vorgegebene Gesellschaft interpretierte. Der so verstandene Begriff war ausgerichtet auf die Stabilisierung der gegebenen Ordnung der

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6. Zentrale Begriffe und Prinzipien

Gesellschaft. Man könnte auch von „Besitzstandsgerechtigkeit“ sprechen. Mit dem aufstrebenden Bürgertum und der Industrialisierung änderte sich die Szenerie grundlegend. Durch die Liberalisierung von Wissenschaft und Handel und die Revolution der Produktionsbedingungen löste sich die statische Ordnung auf. Nicht die Zugehörigkeit zu einem Geburtsstand oder überkommene Privilegien umschreiben das, worauf Jemand einen Anspruch erheben kann, sondern die persönliche Leistung bestimmt die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft und damit seine Rechte und Pflichten – auch „Leistungsgerechtigkeit“ genannt.44 Beide Begriffsvarianten neigen dazu, ideologischen Charakter anzunehmen, wenn sie die Einpassung des Einzelnen in die vorgegebene Wirklichkeit verlangen. Insofern kann man sie im eigentlichen Sinne nicht als ethische begreifen.45 Zu einem im eigentlichen Sinne ethischen Begriff wurde die Gerechtigkeit erst, als schließlich diese Form der Abhängigkeit des Menschen bewusst wurde, und zwar im 19. Jahrhundert, als mit der fortschreitenden Industrialisierung weite Schichten vor allem der Arbeiterschaft in Armut versanken. Jetzt sprach man von „sozialer Gerechtigkeit“ und meinte damit eine angemessene gesellschaftliche Beteiligung aller Schichten und Klassen. Konkrete Unrechtsverhältnisse waren es also, die dieses Verständnis von Gerechtigkeit hervorgebracht haben. Ganz ähnlich versucht nun die neueste Begriffsvariante, die sogenannte „Beteiligungsgerechtigkeit“, auf die Bedingungen einer hoch spezialisierten und differenzierten Gesellschaft zu reagieren, einer Gesellschaft, die dem Einzelnen umfassende Rechtssicherheit gewährt, ihn aber zugleich abhängig macht im Zuge von wissenschaftlich-technischer und politisch-ökonomischer Instrumentalisierung. Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach hat es sehr treffend so ausgedrückt: „Im Kontext stark ausdifferenzierter Gesellschaften, repräsentativ verfestigter Demokratien, beschleunigter Unternehmenskonzentration und zugespitzter Machtasymmetrien wächst die Neigung, den Gerechtigkeitsbegriff vom Grundrecht auf Beteiligung her neu zu definieren.“ Und mit Blick auf das Gemeinsame Wort der beiden deutschen Kirchen von 1997 zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland fügt er an: „Beteiligungsgerechtigkeit ist demnach eine Suchbewegung auf diejenigen hin, denen die Mitwirkung an politischen Entscheidungen versagt ist, eine Parteinahme zu Gunsten der Armen und Machtlosen am Rand der Gesellschaft.“46 Zu denken ist dabei an einkommensschwache Gruppen, an Geringqualifizierte, an Alleinerziehende. Auch die Gender-Kategorie gehört hierher, in-

6.5 Gerechtigkeit

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sofern sie zur Analyse von Machtverhältnissen und ideologischen Strukturen genutzt werden kann. In der aktuellen moralphilosophischen Debatte geht es vor allem um die Frage, ob die Forderung nach Gerechtigkeit in erster Linie eine Forderung nach Gleichheit ist oder nicht. Die eine Fraktion, die der sogenannten „Egalitaristen“, verfolgt das Anliegen, gleiche Freiheiten, gleiche Lebenschancen oder ausgeglichene Güterverteilungen unter den Bürgern eines Gemeinwesens herzustellen. Wie kann es gerecht sein, fragen sie, wenn die einen hungern müssen und die andern Austern und Champagner schlürfen? Strittig ist allerdings die Frage, in Bezug worauf Gleichheit herrschen soll: in Bezug auf die Verteilung oder auf ein Verfahren oder auf das zu erzielende Ergebnis. Die „Nonegalitaristen“, die andere Fraktion, verweisen darauf, dass die Herstellung von Gleichheit weder ein geeignetes Maß noch ein angemessenes Motiv für Gerechtigkeit ist. Wirklich moralische Bedeutung hat demgegenüber die Frage, ob Menschen ein gutes Leben führen und ob sie einen hinreichenden Anteil an Gütern haben und nicht, wie deren Leben relativ zu dem Leben anderer steht. Hier handelt es sich also um das alte Prinzip, jedem das ihm Zustehende zuzuteilen.47 Mit Hilfe des Anerkennungsbegriffs ist schließlich die Gerechtigkeitsdebatte noch einmal erweitert worden. Die Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser spricht von der „partizipatorischen Gleichheit“. Das heißt, die Gesellschaft ist so zu gestalten, dass sie allen ihren Mitgliedern erlaubt, „miteinander als Ebenbürtige zu verkehren.“48 Es sind Sozialverhältnisse zu schaffen, in denen die Subjekte in dem Sinn als vollwertige Mitglieder einbezogen sind, „daß sie ohne Scham und Demütigung ihre Lebensziele öffentlich vertreten und praktizieren können.“49 Es geht um eine umfassende Teilnahme nicht nur am demokratischen Diskurs, sondern am sozialen Leben oder der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Ganzen. Man denke vor allem an die Frauen, Familien, Alten, Hartz-IV-Empfänger, Emigranten, Behinderten. Auch in modernen Gesellschaften mit anerkannten demokratischen Rechtsstandards existieren noch „gravierende soziale Vorurteile, eingespielte Unterdrückungsmuster, stereotype Beurteilungen von Außenseitern, mehr oder minder subtile Diskriminierungsformen (...). Umgekehrt gilt ebenso, dass bestimmte Kreise von positiven Voreinschätzungen profitieren, von wohlwollenden Unterstellungen, von Privilegien zu ihren Gunsten und von Sonderregelungen, die mit solchen Gruppendifferenzen (Differenzen der Geschlechter, Herkunftsidentitäten, Kulturen, Religionen, ...) in Verbindung stehen.“50

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6. Zentrale Begriffe und Prinzipien

Es ist sicher kein Zufall, dass Kinder von Ärzten wahrscheinlicher auch Ärzte werden. Die These der Anerkennungstheoretiker lautet, dass man allein mit wirtschaftlicher Umverteilung die ungerechten Prozesse in unserer Gesellschaft nicht auflösen kann. Man kann das sogar und noch einmal beispielhaft an den sogenannten klassenförmigen Ungerechtigkeiten zeigen. Zu der offensichtlichen ökonomischen Benachteiligung kommt die mangelnde Anerkennung hinzu: nämlich kulturelle Interpretationen, die die „ärmeren und arbeitenden Menschen erniedrigen, wie beispielsweise die Ideologien einer ,Kultur der Armut‘, die nahelegen, daß die Armen nur das bekommen, was sie verdienen.“51 Das heißt, Ansprüche auf Umverteilung und solche auf Anerkennung dürfen nicht getrennt werden. Wie wichtig es ist, beide Ansprüche zu berücksichtigen, zeigt sich mit Blick auf die politische Dimension: Um ihren „Kampf um wirtschaftliche Gerechtigkeit“ zu führen, brauchen die Betroffenen auch eine „Politik der Anerkennung“, die sie erst in die Lage versetzt, „Gegenkulturen“ aufzubauen, sich zu Solidarisieren und dadurch die nötige Zuversicht zu entwickeln, um für die eigenen Rechte einzutreten. Insgesamt muss man die Kategorie der sozialen Gerechtigkeit als eine Suchbewegung begreifen, als Suche nach bestehenden Benachteiligungen, nach Ausschlussbedingungen, nach Unfreiheiten, nach Exklusion vom sozialen Leben. Ein solcher Gerechtigkeitsbegriff kommt einem christlichen Verständnis weit entgegen. Aus der Perspektive des Glaubens meint Gerechtigkeit 1. immer einen umfassenden Begriff. Der biblische Begriff umschließt alles, was eine heile Existenz des Menschen ausmacht, so heißt es etwa im Gemeinsamen Wort der beiden Kirchen in Deutschland von 1997: „Er steht in der Bibel in Verbindung mit Frieden, Freiheit, Erlösung, Gnade, Heil.“ (Nr. 108) Deshalb ist es nicht möglich, einen bestimmten Bereich menschlichen Lebens gleichsam freizustellen von der Forderung nach Gerechtigkeit. Es kann sich keine gesellschaftliche Einrichtung, kein Lebensbereich, auch die Wirtschaft nicht, in diesem Sinne „ethikfrei“ stellen wollen. 2. Die Suche nach Gerechtigkeit ist unmittelbarer Ausfluss der biblischen „Option für die Armen“. Gemeint sind die Schwachen und Benachteiligten, die von der Gesellschaft Ausgeschlossenen und die, die keine Stimme haben. 3. Christliche Gerechtigkeit gründet im Personalitätsprinzip. Personwürde heißt, dass jedem Einzelnen ganz unabhängig von seinen Eigenschaften und Leistungen ein unbedingter Wert zukommt, der jede Instrumentalisierung verbietet. 4. Im christlichen Gerechtigkeitsbegriff steckt ein

6.6 Nachhaltigkeit

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„Verheißungsüberschuss“ gegenüber den Möglichkeiten seiner geschichtlichen Verwirklichung. Durch die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu weiß der Christ, dass die innerweltliche Gerechtigkeit immer fragmentarisch ist. Zugleich weiß er sich aber aufgerufen, für die „je größere“ Gerechtigkeit zu kämpfen. 5. Weil der Gerechtigkeitsbegriff als eine Auslegung des Liebesgebotes unter den Bedingungen moderner Gesellschaft interpretiert werden kann, verweist er auf die notwendige Balance zwischen Freiheit und Bindung. „Balance“ meint, sowohl kollektivistische als auch individualistische Vereinnahmungen zu vermeiden. Um den Begriff Gerechtigkeit wirklich auszuschöpfen, müsste man noch auf die sogenannte „ökologische Gerechtigkeit“, auf die „Generationengerechtigkeit“ und die „Prozessgerechtigkeit“ eingehen. Allerdings hat sich mittlerweile ein weiteres Sozialprinzip etabliert, dass diese Aspekte eigens auf den Begriff zu bringen gestattet, die „Nachhaltigkeit“. Zusammenfassung Im Gerechtigkeitsbegriff geht es um soziale Beziehungen unter dem Gesichtspunkt konkurrierender Interessen und Ansprüche. Der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit setzt eine Suchbewegung in Gang: die Suche nach Unfreiheiten, nach Ausschluss vom sozialen Leben insgesamt.

6.6 Nachhaltigkeit Keine Frage, auch die Nachhaltigkeit gehört mittlerweile zu den sozialethischen Schlüsselkategorien und steht häufig sogar synonym für Ethik überhaupt. Von „nachhaltiger“ Energieversorgung, über „nachhaltige“ Wertpapiere bis zur „nachhaltigen“ Gestaltung unserer sozialen Sicherungssysteme – in einer Vielzahl von Bereichen wird der Begriff benutzt und trägt das Schicksal vieler moralischer Kategorien, nämlich mit Bedeutung aufgeladen und vielfältig eingesetzt zu werden. Auch hier ist es die Aufgabe der Ethik, für eine Abgrenzung und Klärung des Begriffs zu sorgen. Und wieder sind es ganz bestimmte gesellschaftliche Herausforderungen und Krisenlagen, auf die mit moralischen Kategorien geantwortet werden soll und die die Richtung angeben.

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6. Zentrale Begriffe und Prinzipien

Seit Beginn des 18. Jahrhunderts findet sich der Nachhaltigkeitsgedanke, und zwar ursprünglich in einem sehr begrenzten forstwirtschaftlichen Kontext. Die Wälder sollten, so hatte man damals erkannt, kontinuierlich wieder aufgeforstet und nur soviel entnommen werden, wie auch nachwachsen konnte.52 Dieser Gedanke erinnert an das mittelalterliche Institut der Allmende, ein Gemeineigentum, an dem alle Gemeindemitglieder das Recht zur Nutzung hatten. Erinnert vor allem an das mit der Allmende verbundene Dilemma, dass frei verfügbare Ressourcen nicht effizient genutzt werden und durch Übernutzung bedroht sind. Ökonomisch ausgedrückt geht es um nichts anderes als um eine Investition in den Faktor Zukunft. Im sogenannten „Brundtland-Bericht“ der UN-Kommission für Umwelt und Frieden aus dem Jahre 1987 definiert ihre gleichnamige Vorsitzende und damalige norwegische Ministerpräsidentin den Begriff „sustainable development“ als eine Form des Fortschritts, die „den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“53 Spätestens mit dem sogenannten 1. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit aus dem Jahre 1972 „Die Grenzen des Wachstums“ und mit der ersten UN-Umweltkonferenz in Stockholm im gleichen Jahr wuchs allmählich das Bewusstsein von einer weltweiten ökologischen Krise. Mit dem Bericht des Club of Rome wurde das bis dahin vorherrschende Paradigma des Fortschritts- und Wachstumsoptimismus durch das von der Grenze wenn nicht abgelöst so doch relativiert. Die sogenannten „neuen sozialen Bewegungen“ der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts mit ihrer antikapitalistischen Gesellschaftskritik bildeten den Hintergrund für diesen Paradigmenwechsel. In aller Munde ist das Wort Nachhaltigkeit aber erst seit 1992 mit der UN-Umweltkonferenz von Rio. „Auf den Punkt gebracht findet seit Rio im Nachhaltigkeitskonzept die Erkenntnis Ausdruck, dass soziale, ökonomische und ökologische Entwicklungen nicht voneinander getrennt begriffen und betrachtet werden dürfen. Sie sind als eine innere Einheit zu sehen, die zukünftige Entwicklungsstrategien kennzeichnen soll.“54 Alle wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen haben Auswirkungen auf die Umwelt und umgekehrt. Deshalb muss der Umweltschutz als politische Querschnittsaufgabe begriffen werden. Wir haben zu verstehen begonnen, so könnte man auch sagen, dass wir heute unsere Zukunft in Händen halten. Das heißt, zunächst ist die Auszeichnung der Nachhaltigkeit als neues Sozialprinzip als Reaktion auf die ökologische Krise zu ver-

6.6 Nachhaltigkeit

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stehen. Mittlerweile hat sie aber diesen Bezugsrahmen verlassen und ist durch ihren integrativen Charakter zu einer Schlüsselkategorie für verschiedene gesellschaftliche Problemlagen geworden. Zwei Aspekte sind es also, die mit der Nachhaltigkeit hervorgehoben werden sollen: erstens die Zeit, die zukünftigen Generationen und ihre Lebensgrundlagen, und zweitens der Integrationsaspekt, die Verknüpfung von Sozialem, Ökonomischem und Ökologischem. Die diesen Bewusstseinsprozess tragende gesellschaftliche Entwicklung ist die von der klassischen Industriegesellschaft zur sogenannten „Risikogesellschaft“. Risiko besagt hier, dass die Gefährdungen des Menschen nicht mehr örtlich, zeitlich und sozial begrenzt sind und wir deshalb die möglichen Folgen unseres Handelns nicht mehr kalkulieren können. Dazu kommt die typisch moderne Differenzierungsdynamik: „Je höher der Grad der Spezialisierung, desto größer die Reichweite, Anzahl und Unkalkulierbarkeit der Nebenfolgen wissenschaftlich-technischen Handelns. (...) Die auf die Spitze getriebene Arbeitsteilung produziert alles: die Nebenfolgen, ihre Unvorhersehbarkeit und die Wirklichkeit, die dieses Schicksal unabwendbar erscheinen läßt.“55 Diese Merkmale moderner Gesellschaft sind der strukturelle Grund dafür, dass heute die Idee der Integration und Vernetzung im Mittelpunkt des Konzeptes nachhaltiger Entwicklung steht: Ökologische, ökonomische und soziale Aspekte dürfen nicht getrennt betrachtet werden. Denn die Differenzierungsdynamik führt dazu, dass zum Beispiel die Wirtschaft „selbstgenügsam“ funktioniert, die Folgen eigenen Handelns anderen aufbürdet, insbesondere der Umwelt und dem Einzelnen. Hier findet sich auch der Anknüpfungspunkt für die „klassischen“ Sozialprinzipien, insofern sie in ihrer Kernidee, dem Personalitätsprinzip, an der Gestaltbarkeit der Gesellschaft festhalten, die wiederum die Beteiligung aller Betroffenen fordert. Integration muss nämlich gestaltet werden und Gestaltung verlangt nach dem verantwortlichen sittlichen Subjekt. Die grundsätzlich anthropozentrische Ausrichtung des Mensch-UmweltVerhältnisses, die sich aus dem Glauben heraus nahelegt, wird auf diese Weise festgehalten, ohne den Eigenwert der Natur im Sinne der Mitgeschöpflichkeit in Frage zu stellen. Mit den typisch modernen gesellschaftlichen Bedingungen hängt auch ein weiteres Problem zusammen. Das gefährliche am Klimawandel ist, dass wir zwar schnell handeln müssen, um die Natur und unseren Wohlstand zu wahren, doch wir spüren es nicht. Genau das, was der Politik die nötige Kraft gibt, angemessen zu reagieren, fällt

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6. Zentrale Begriffe und Prinzipien

beinahe ganz aus: ein uns alle wachrüttelndes Erlebnis, wie wir es etwa am 11. September 2001 oder am 15. September 2008, dem Zusammenbruch der Lehman-Bank, erlebt haben. Geringer wird diese Herausforderung auch nicht gerade durch die Notwendigkeit, weltweit, als Menschheit, handeln zu müssen. Wenn wir uns angesichts dieses Szenarios nicht mit der vagen Hoffnung begnügen wollen, dass die Sachgesetzlichkeiten mit ihren Experten die Probleme schon richten werden, wenn wir das Risiko ernst nehmen wollen, dann müssen wir viele Wege gehen. Dann ist unter Umständen auch das Grenzparadigma nicht angemessen, weil es von bestimmbaren Größen, von Grenzwerten eben, ausgeht. Bestehende Normen und Regeln müssen „verflüssigt“ werden, Organisationen und Strukturen transparent, Ordnungen vorsorgend. Und das auf allen Ebenen. Angefangen von der Privatsphäre, über die vielen Engagementformen der Zivilgesellschaft, Selbstverpflichtungen der Wirtschaft bis hin zu intelligenten, vorsorgenden rechtlichen Rahmenbedingungen. Es geht insgesamt um eine „Kultur der Aufmerksamkeit“, so heißt es in dem Kommissionspapier der deutschen Bischöfe „Handeln für die Zukunft der Schöpfung“. „Es ist eine durchaus lohnende, zutiefst humane und christliche Herausforderung, lebbare Alternativen zum konsumorientierten Lebensstil zu entwickeln. Dies bedarf zunächst der ,Einübung‘ einer Grundhaltung freiwilligen Maßhaltens und der Unabhängigkeit von Konsumzwängen, erweist sich jedoch auf Dauer als Weg zu neuen Formen von Lebensqualität, die nicht durch ein Mehr an Produkten und Erlebnisangeboten zu haben sind. Die Fähigkeit, sich unabhängig von ihrem Besitz und Verbrauch an den Dingen zu freuen, erfordert eine Schulung der Sinne und der Kultur der Aufmerksamkeit.“56 Eine solche Kultur würde Wirtschaft und Politik schließlich zu Reformen drängen, so die Hoffnung.

Zusammenfassung Die Auszeichnung der Nachhaltigkeit als neues Sozialprinzip ist eine Reaktion auf die Umweltkrise. Mittlerweile hat sich ihre Bedeutung ausgeweitet und zwar um die Aspekte Zeit und Integration: Es geht um die Lebensgrundlagen der künftigen Generationen und um die Verknüpfung von sozialer, ökonomischer und ökologischer Dimension gesellschaftlichen Handelns.

6.6 Nachhaltigkeit

127 Literatur

Baumgartner, A./Putz, G. (Hg.): Sozialprinzipien. Leitideen in einer sich wandelnden Welt (Salzburger Theologische Studien 18). Innsbruck 2001. Nell-Breuning, O. von: Baugesetze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität. Freiburg 1990. Wilhelms, G.: Die Ordnung moderner Gesellschaft. Gesellschaftstheorie und christliche Sozialethik im Dialog. Stuttgart 1996, 125-190.

7. Gesellschaft gestalten Die christliche Sozialethik muss sich von den gegenwärtigen gesellschaftlichen Problemlagen unter „Revisionsdruck“ (Höhn) setzen lassen, so hatte ich mehrfach festgestellt. Die Problemlagen sind in der modernen Gesellschaft vor allem durch den Mechanismus der funktionalen Differenzierung gekennzeichnet. Also muss man sich zunächst auf diese Eigenart gesellschaftlichen Lebens einlassen und die je eigene „Logik“ der verschiedenen Bereiche in den Blick nehmen. Das bedeutet aber nun nicht, für die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Politik je eigene Ethiken zu entwerfen. Vielmehr geht es darum, das sozialethische Grundlagenproblem in diesen Bereichen zu identifizieren und daraus Orientierungshilfen für die beteiligten Subjekte zu entwickeln. Eigentlich müsste die Liste der gesellschaftlichen Bereiche, die hier eigens in den Blick genommen werden sollen, lang sein. Nicht nur Politik, Wirtschaft, Familie und Bildung sind eine eigene sozialethische Betrachtung wert. Medien, Technik und Wissenschaft, Recht, Medizin, Sport, Kunst und Religion wären, wollte man eine halbwegs vollständige Liste der relevanten gesellschaftlichen Bereiche erstellen, notwendig hinzuzunehmen. Außerdem müsste die Umwelt eigens thematisiert werden, die, man denke nur an den Klimawandel, einer eigenen Zwangsläufigkeit folgt und nicht zuletzt deshalb einer eigenen ethischen Auseinandersetzung bedarf. Auch die Entwicklungsproblematik wäre zu nennen, weil ihre Berücksichtigung zum Kern christlicher Weltverantwortung gehört. Aber es geht hier nicht um Vollständigkeit, sondern um einen beispielhaften Diskurs spezialisierter Sachbereiche aus sozialethischer Perspektive. Das Interesse richtet sich dabei vor allem auf bestimmte aktuelle Probleme, die in den jeweiligen Bereichen hervortreten. 7.1 Politik Die „traditionelle“ Vorstellung von Staat und Politik geht davon aus, dass sie eine herausragende Stellung innerhalb der Gesellschaft einnehmen und als Demokratie den Bürgern eine aktive Beteiligung an der Gestaltung des öffentlichen Lebens ermöglichen.1 Diese Vorstellung gerät gegenwärtig in die Krise. Zwei Probleme sind es, die die traditionelle Vorstellung von Staat und Politik in Frage stellen: zum

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einen der Verlust ihrer Gestaltungs- oder Steuerungskraft und zum anderen die „Passivierung“ der Bürger, auch Politikverdrossenheit genannt. Das erste Problem wird gewöhnlich mit dem Prozess der Globalisierung in Verbindung gebracht. Die Nationalstaaten, die noch immer den entscheidenden Gestaltungsrahmen für die Politik markieren, sind nicht mehr in der Lage, Einfluss auf die zunehmend global agierenden Wirtschaftsunternehmen auszuüben. Der Verlust an Steuerungskraft hat aber vor allem mit der hohen Komplexität und Autonomie der zu steuernden Sachbereiche zu tun. In den „primitiven“ Gesellschaften war die Ordnung der Gesellschaft in den Sitten und Gebräuchen und Ritualen eingelassen und verdankte ihre unbefragte Selbstverständlichkeit nicht zuletzt den engen sozialen Bindungen der Gruppenmitglieder. Dann übernahm die hierarchische Zuordnung von Kirche und Staat oder Staat und Gesellschaft die Ordnungsfunktion: Die Kirche beziehungsweise der Staat definierten die gesellschaftlichen Ziele und setzten sie durch. Heute, das heißt in komplexen, entwickelten Gesellschaften, können Ziele wie Gerechtigkeit, Abrüstung, Frieden „nicht mehr schlicht beschlossen und verwirklicht werden, weil Störfaktoren, Gegenbewegungen, Eigendynamiken, Überreaktionen, unbeabsichtigte Nebenfolgen etc. um so wahrscheinlicher sind, je differenzierter und komplexer eine Gesellschaft ist.“2 „Nicht nur Großstädte, Bildungssysteme, Versicherungssysteme, technologische oder militärische Großorganisationen scheinen mit wachsender Komplexität weniger regierbar und steuerbar zu werden; inzwischen wird dies immer häufiger von ganzen Gesellschaften behauptet.“3 Was also zunächst als ein rein theoretisches Problem erscheint, die Steuerung der Gesellschaft, erweist sich bei näherem Hinsehen als konkret und folgenreich und ethisch hoch relevant. Das zweite Problem verweist auf einen tiefgreifenden Widerspruch im Selbstverständnis des modernen Menschen. Die überall behauptete Selbstzwecklichkeit und Autonomie des Menschen stellt in der politischen und gesellschaftlichen Realität keine mehr dar. Je mehr der Anspruch auf Selbstverwirklichung betont wird, je mehr geraten die vielfältigen Abhängigkeiten, gerade im Zuge wissenschaftlichtechnischer und politisch-ökonomischer Instrumentalisierung, ins Bewusstsein. Der Einzelne fühlt sich hilflos, in wichtigen Fragen seines Lebens fremden Mächten ausgeliefert. Und das immer häufiger zu beobachtende Phänomen der moralischen Empörung scheint diesen Widerspruch nur noch einmal zu bestätigen. Ist Moralismus nicht ein Ausdruck eher wachsender Ohnmacht der Menschen ange-

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7. Gesellschaft gestalten

sichts der eingespielten rationalen Mechanismen von Markt und Staat? Wie sollte man sonst die nicht enden wollenden Mahnungen an die Manager verstehen, mehr Verantwortung zu übernehmen und Pflichtbewusstsein zu zeigen? Es scheint doch so zu sein, dass Glauben, Moral, überhaupt die Unmittelbarkeit von Wertbezügen nicht mehr imstande sind, adäquate Reaktionen auf reale Problemlagen zu strukturieren, gerade weil sich die moderne Gesellschaft so verändert hat, dass der Einzelne mit seinem sittlichen Bewusstsein die falsche Ebene ist, wenn es um die Gestaltung der Gesellschaft geht, einer Gesellschaft, die durch hohe Komplexität und Differenziertheit gekennzeichnet ist. Die Frage nach der Steuerung moderner Gesellschaft und die nach der Beteiligung der Menschen stellen also die herkömmliche Vorstellung von Politik und Staat in Frage. Deshalb wollen die nun folgenden Überlegungen einen Eindruck davon vermitteln, wie Demokratie (wieder) möglich gemacht werden kann. Neuzeitliche Freiheitsgeschichte

Zunächst möchte ich aber kurz die Entwicklung unseres Verständnisses von Politik und Staat und insgesamt von gesellschaftlicher Ordnung skizzieren. Die Antwort auf diese Frage findet sich durch einen Blick auf den neuzeitlichen Entwicklungsprozess. Der Sozialethiker Arno Anzenbacher hat die neuzeitliche Freiheitsgeschichte anhand dreier zentraler Motive gekennzeichnet: 1. Eine erste Wurzel des neuzeitlichen Prozesses liegt im Entstehen eines feudal und zünftig nicht integrierten Bürgertums. Das Bürgertum verfolgte das Ziel der Befreiung. Es richtete sich gegen die integrale, hierarchisch-feudal durchstrukturierte Einheit des alten Systems. Dabei muss man noch einmal zwischen Besitz- und Bildungsbürgertum unterscheiden. Das Besitzbürgertum entstand mit der zunehmenden Bedeutung des Handels, und der Handel brauchte ökonomische Freiheit: die Freiheit der Person, des Eigentums, des Vertrags. Das Bildungsbürgertum war gekennzeichnet durch kulturelle Freiheit – Freiheit vor allem von der Kirche und der feudalen Herrschaft. 2. Ein zweites Motiv ist die „Wende zum Subjekt“: Der Mensch will sich nicht mehr nur als Teil eines vorgegebenen Ganzen verstehen. Daraus resultiert der für die Neuzeit so charakteristische Glaube an die Vernunft, an die Machbarkeit und Gestaltbarkeit der Zukunft und an den Fortschritt der Menschheit. Dieser Freiheitsanspruch zeigt

7.1 Politik

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sich insbesondere im neuzeitlichen Natur- oder Vernunftrecht mit seinem Menschenrechtsethos: „Jeder Mensch ist Subjekt und besitzt als Mensch natürliche, unverletzliche Freiheitsrechte.“4 Die Anerkennung dieser Rechte ist nun nicht nur moralische Pflicht des Einzelnen, „sondern hat institutionelle Konsequenzen im politisch-rechtlichen Bereich, der diese Rechte konstitutionell als Grundrechte etabliert und sich als System der Freiheit begreift.“5 3. Ein letztes Motiv ist das der Aufklärung. Immanuel Kant ist wie kein zweiter mit dem Epochenbegriff Aufklärung verbunden. „Aufklärung“, so heißt es in seiner kleinen programmatischen Schrift von 1784, „ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“6 Kant ist der Aufklärung verpflichtet und zwar als einem Zeitalter des „Prüfens, des Infragestellens und der Kritik, der sich alles zu unterwerfen habe – Majestät, Gesetzgebung, Denken, Religion und Sittlichkeit.“7 Aufklärung ist aber nicht nur eine Aufgabe des Verstandes, eine Aufgabe, die nur der klaren und logischen Darlegung bedürfte, der nur übers Denken vermittelten Einsichtsfähigkeit des Menschen – man erinnere sich nur des Einflusses, den Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), der das Gefühl als mächtiger ansah als den Verstand und der dem Handeln einen Vorrang gegenüber dem Wissen einräumte, auf Kant ausübte. Vielmehr will Kant hervorheben, dass das Ende der Bevormundung vor allem einen praktischen Impuls erfordere, nämlich Mut, von seiner Vernunft öffentlich Gebrauch zu machen. Liberales Ordnungsmodell

Trotz so mancher Gegenstimme – insbesondere von Rousseau und Karl Marx (1818-1883), die beide auf die negativen Folgen des freien Spiels der (Markt-)Kräfte aufmerksam gemacht haben und auf den unverzichtbaren „Kollektivwillen“ als Basis gesellschaftlicher Ordnung – hat sich das liberale Ordnungsmodell durchgesetzt. Üblicherweise werden seine wichtigsten Elemente wie folgt zusammengefasst:8 1. Die Trennung von Staat und Gesellschaft. Diese für die Neuzeit zentrale Entwicklung wurde von einer ganz bestimmten Vorstellung über das Verhältnis von Mensch, Staat und Gesellschaft auf den Weg gebracht. Was für die mittelalterliche Staatslehre noch undenkbar war, wird mit dem Individualismus der Renaissance möglich: Staat und Gesellschaft trennen sich. Die politische Welt hat ihre Verbindung zum ethischen und kulturellen Leben der Menschen verloren und der Staat

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7. Gesellschaft gestalten

seine Autonomie gewonnen. Schon damals, man denke etwa an Niccolò Machiavelli (1469-1527), war es ein tiefer Skeptizismus, der die Staatslenker und -theoretiker der menschlichen Natur mit Misstrauen begegnen ließ. „Weil der Rationalität und Moralität des einzelnen nicht zu trauen ist, muß der Staat von der Gesellschaft getrennt und nach streng rationalen Maßstäben geordnet werden.“9 Die moderne Staats- und Verfassungslehre interpretiert demgegenüber die Ausdifferenzierung von Staat und Gesellschaft optimistischer als Ausdruck neuzeitlichen Freiheitsbewusstseins und dienstbar der Bewahrung der Freiheit des Menschen. So lässt sich etwa aus der Sicht des Staatsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde das Verhältnis von Staat und Gesellschaft letztlich als eine „Erhaltungs- und Gewährleistungsfunktion des Staates für eine freie Gesellschaft“10 verstehen. 2. Die Idee des Rechtsstaats. Sie wurde aus genau der soeben beschriebenen Einsicht geboren: Um der Freiheit der Bürger willen braucht es eine Verfassung, braucht es bestimmter Legitimationsbedingungen, auf denen das staatliche Handeln aufruht. Damit ist zugleich willkürliches Handeln der Staatsgewalt ausgeschlossen. In der Regel umfasst die Verfassung einen Grundrechtskatalog, der die Menschenrechte in positives Recht umwandelt. Dass die Demokratisierung allein nicht ausreicht, um eine ethisch legitime gesellschaftliche Ordnung zu garantieren, zeigt das Beispiel Russland. Dort werden zwar Wahlen abgehalten, eine rechtsstaatliche Ordnung fehlt aber, so dass staatliche Willkür und Korruption nach wie vor eine große Rolle spielen. Zur Idee des Rechtsstaats gehört auch die Gewaltenteilung. Es geht darum, in den Staat einen Kontrollmechanismus einzubauen, der die Freiheit der Bürger sichern und staatliche Willkür unmöglich machen soll. Deshalb wird zwischen der gesetzgebenden (Legislative), der ausführenden (Exekutive) und der richterlichen (Judikative) Gewalt unterschieden. 3. Die Demokratisierung. Ihr geht es um die „Rückbindung der Staatsgewalt an die Bürger“.11 Aus liberaler Sicht steht als unabdingbare Legitimationsbedingung des Staates das allgemeine und gleiche Wahlrecht im Vordergrund. Deshalb gilt auch die Legislative „als die erste und gewissermaßen vorrangige Gewalt, da sie die beiden anderen Gewalten gesetzlich normiert.“12 Keine Frage, im allgemeinen Bewusstsein beschränkt sich die Beteiligung des Bürgers an der Gestaltung seiner Gesellschaft auf den regelmäßigen Urnengang. Ansonsten bleibt ihm die Zuschauerrolle. Was Wunder, dass sich die Politik entsprechend in den Medien in Szene setzt. Wie muss man diese Entwicklung bewerten?

7.1 Politik

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Demokratie in der Krise?

Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch ist durch seine teils massive Kritik am liberalen Demokratieverständnis hervorgetreten. Dabei geht es ihm insbesondere darum, vor einer verhängnisvollen Entwicklung hin zur sogenannten „Postdemokratie“ zu warnen. Ihre Symptome sind Politikverdrossenheit, Sozialabbau und Privatisierung. Normativer Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist ein bestimmtes Ideal von Demokratie. Sie kann nur gedeihen, so stellt er fest, „wenn die Masse der normalen Bürger wirklich Gelegenheit hat, sich durch Diskussionen und im Rahmen unabhängiger Organisationen aktiv an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu beteiligen – und wenn sie diese Gelegenheit auch aktiv nutzt.“13 Diesem Verständnis von Demokratie stellt er das des Liberalismus entgegen, das, so seine These, die Vorherrschaft innehat. Folgende Aspekte stehen, so Crouch, für den Liberalismus im Vordergrund: „die Wahlbeteiligung als wichtigster Modus der Partizipation der Massen, große Spielräume für Lobbyisten (...) und eine Form der Politik, die auf Interventionen in die kapitalistische Ökonomie weitgehend verzichtet. (...) Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf Signale, die man ihnen gibt.“14 Die Politik spezialisiert sich auf „Talk“, wie es Niklas Luhmann einmal ausgedrückt hat, auf Inszenierungen von Politik und in ihrem Schatten, hinter verschlossenen Türen, wird „reale“ Politik gemacht. „Während die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt sind (...), entwickeln sich politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtung zurück, die typisch war für vordemokratische Zeiten: Der Einfluß privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt“, die vom Staat zu leistende Umverteilung, „zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert.“15 Üblicherweise greift die Theorie liberaler Politik auf ein Verständnis von moderner Gesellschaft zurück, das diese als Produkt eines umfassenden Ausdifferenzierungsprozesses begreift. Ich habe mehrfach davon gesprochen. Die hier wichtige ursprüngliche Unterscheidung ist die zwischen Staat und Gesellschaft. In seiner Folge wird der Einzelne mehr und mehr freigesetzt von öffentlichen Ansprüchen. Aber wie konnte es dazu kommen, dass eine ursprünglich Freiheit bewahrende Entwicklung, die Trennung von Staat und Gesellschaft, schließlich in das moderne Ordnungsproblem (Steuerungsproblem und Demokratiemüdigkeit) mündete? Die Ausdifferenzierung von

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Staat und Gesellschaft eröffnete, wie gesagt, größere gesellschaftliche Spielräume, die gerade deshalb möglich wurden, weil sie der Staat garantierte. Die Ausdifferenzierung war in diesem Sinne eine der Initialzündungen für die Entwicklung moderner Gesellschaft. Diese „Freisetzung“ der Gesellschaft setzte wiederum eine Dynamik in Gang, vor allem gekennzeichnet durch funktionale Differenzierung und Komplexität, die die ursprünglichen Bedingungen staatlichen Handelns zunehmend in Frage stellt: Der Staat zeigt sich überfordert und seine ursprüngliche Aufgabe, die Gestaltung von Freiheit, fällt an die Gesellschaft zurück.16 Im neu gewonnen Freiraum etablieren sich neue „Mächte“ und Eliten, bilden sich Lobbys und werden bestimmte Interessen rücksichtslos bedient. Was die Systemtheorie der Gesellschaft ausblendet, nämlich die Bildung von Macht, kann sehr wohl mit der Vorstellung zunehmend funktional differenzierter und hochkomplexer Gesellschaften in Verbindung gebracht werden. Wenn Staat und Recht ihre Steuerungskraft einbüßen, eröffnen sich neue Möglichkeiten, in den jeweiligen Systemen das Machtvakuum zu nutzen und „quasi politisch“ zu wirken.17 Gegengewichte

Gibt es Lösungsansätze für die Probleme? Wie können die Bürger ihre ureigene Kompetenz, wie können der Staat und die Politik ihre Gestaltungsverantwortung zurückgewinnen? Die Antworten weisen zunächst in eine bestimmte Richtung. Wenn Staat und Markt als integrierende, Gemein- und Personwohl garantierende Mächte mehr und mehr ausfallen, dann muss man nach alternativen Kräften in der Gesellschaft Ausschau halten. Selbsthilfegruppen, Nichtregierungsorganisationen, überhaupt die vielfältigen Initiativen, überwiegend ehrenamtlich organisiert, die sich angesichts verschiedenster Herausforderungen auf allen möglichen Ebenen bilden, sind nicht sie es, die das für den Zusammenhalt der Gesellschaft notwendige Engagement aufbringen? Sind nicht sie es, die den notwendigen Ausgleich gegenüber den liberalen, die Menschen entzweienden Marktkräften schaffen und dem Bürger Möglichkeiten aktiver Mitwirkung eröffnen? Braucht es nicht eines umfassenden Bewusstseinswandels, der dann, gleichsam indirekt, die Sachbereiche wie die Wirtschaft „zur Vernunft bringen“ kann? Wer wenn nicht die zivilgesellschaftlichen Kräfte könnten diesen Wandel vermitteln? Die beiden Kirchen in Deutschland haben übrigens in ihrem Gemeinsamen Wort von 1997 solche Szenarien im Blick, wenn sie von einer „neu-

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en Sozialkultur“ sprechen (vgl. Nr. 156-160). Und die Tradition der katholischen Soziallehre war schon immer skeptisch gegenüber einem zu großem Vertrauen in die Ordnungskraft des Staates, hob die Bedeutung der vielfältigen gesellschaftlichen Initiativen hervor und favorisierte eine „subsidiäre“ Form gesellschaftlicher Ordnung.18 Auch die modernen Demokratietheorien diagnostizieren durchweg einen Mangel an Partizipationsmöglichkeiten für die Bürger und hegen deshalb große Sympathien für diesen Weg. Sie suchen nach einem Gegengewicht gegenüber diesen undemokratischen Tendenzen und finden es in vielfältigen Formen und Assoziationen partizipatorischer Demokratie.19 Die Krisen moderner Gesellschaft darf man nicht allein den verschiedenen Sachbereichen, ganz gleich ob der Wissenschaft, der Technik, der Wirtschaft, aber auch nicht der Politik überlassen, wie die Luhmannsche Systemtheorie meint – man darf es nicht, so Jürgen Habermas, weil sie gerade vor dem „lebensgeschichtlichen Hintergrund verletzter Interessen und bedrohter Identitäten“20 als lösungsbedürftig erfahren werden. Aber Habermas will den zivilgesellschaftlichen Kräften nicht allein vertrauen. Zu Recht, denn die Zivilgesellschaft ist kein neues gesellschaftliches Steuerungszentrum, sie ersetzt kein Expertengremium und tritt nicht an die Stelle des Staates. Sie kann vielmehr nur indirekt auf die Funktionssysteme einwirken und als Katalysator für sozialen Wandel wirken.21 Das heißt, der Staat, das Recht und die Politik behalten zentrale integrative Aufgaben – auch und gerade in einer hochkomplexen, funktional ausdifferenzierten und anonymen Gesellschaft. Sie bleiben, wenn und insofern Politik und Recht ihre Vermittlungsfunktion zwischen Bürger und systemisch differenzierter Gesellschaft erfüllen. Wer sollte sonst den Bürgerwillen gesamtgesellschaftlich durchsetzten? Staat und Politik sind dazu in der Lage, weil sie „zur Lebenswelt hin geöffnet“ sind. Staat und Politik können ihrerseits nicht als geschlossene Systeme begriffen werden, weil sie die „unterhalb der Differenzierungsschwelle der Spezialkodes (...) gesellschaftsweit zirkulierende Umgangssprache“ gerade für die Behandlung gesamtgesellschaftlicher Probleme nutzen und also eine Integration „an der kommunikativen Macht des Staatsbürgerpublikums vorbei“22, systempaternalistisch, nicht sinnvoll abgewickelt werden kann. Auch der Diskurs von Experten muss an den demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess rückgekoppelt werden, wenn Integration durch Legitimation gelingen soll. Außerdem zeichnet, so Habermas, die Systemtheorie ein sehr einseitiges Bild von der Gesellschaft, so als bestünde sie ausschließlich aus selbstre-

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ferentiell geschlossenen Systemen. Als ein solches im engen Sinne kann er nur die kapitalistische Wirtschaft verstehen und vielleicht noch die öffentliche Administration.23 Die modernen Demokratietheorien versuchen die sozialen Bewegungen mit Politik und Recht so in Verbindung zu bringen, dass Demokratie wieder möglich wird.24 Nur in dieser Verbindung kann auf der einen Seite Politik an die Bürger zurückgebunden und auf der anderen Seite das Phänomen sozialer Bewegungen der Willkür von Konkurrenzmechanismen entzogen werden. Aber reicht das aus? Prallen Moral und Wertbezüge nicht ab an den „harten Fakten“ der Wirtschaft und gilt das nicht auch für den Staat, wenn er in die Wirtschaft hineinregieren will? Muss man nicht noch einen Schritt weiter gehen und nach weiteren Vermittlungsmöglichkeiten suchen? Der Soziologe Helmut Willke scheint solche Möglichkeiten im Blick zu haben, wenn er von „systemischen Diskursen“ spricht: „In der Praxis entwickelter Gesellschaften haben sich systemische Diskurse (in Form von Verhandlungssystemen, konzertierten Aktionen, sozialökonomischen Räten, Bildungsrat, Wissenschaftsrat, tripartistischen Kommissionen und ähnlichen) an Brennpunkten sozietaler Konflikte herausgebildet. Inzwischen rücken entsprechende Diskurssysteme auch auf regionaler und kommunaler Ebene – z. B. im Bereich der Sozialpolitik oder der Berufsbildung – ins Blickfeld (...). Es gibt keine zentrale Instanz, welche die Richtung sozietaler Steuerung angeben oder kontrollieren könnte. Die Kontrolle der Richtung der Steuerung erfolgt im Zusammenspiel der betroffenen autonomen Akteure; sie ist deshalb notwendig dezentral und zurückverlagert in die Prozesse der Reflexion und Abstimmung eigenständiger Funktionssysteme.“25

Und abschließend stellt er fest: „(...) überzogene Ansprüche an Kontrolle, Beherrschbarkeit, Machtausübung und Steuerung von Gesellschaften“ sind zu reduzieren. „Zugleich macht diese Perspektive deutlich, daß bloßes Durchwursteln nicht mehr ausreicht.“26 Der Ausweg liegt darin, die Fähigkeiten zu „dezentraler Selbstorganisation“ zu stärken, indem das Verantwortungsbewusstsein der beteiligten Akteure in den Systemabläufen zur Geltung gebracht wird. Alle drei gesellschaftlichen Orte, so kann man zusammenfassen, Staat und Politik, Zivilgesellschaft, gesellschaftliche Systeme, müssen in besonderer Weise zusammenwirken, um die Beteiligung der Bürger an ihrer Gesellschaft und insgesamt ihre demokratisch legitimierte Gestaltung zu sichern. Es bedarf des bürgerschaftlichen Engagements, es bedarf der vielfältigen Aktionen „vor Ort“, die dem Einzelnen das Gefühl geben, dass es (noch) gesellschaftliche Bereiche gibt, die er

7.2 Wirtschaft

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mitgestalten kann. Es gilt, das individuelle sittliche Subjekt zu retten. Nur so kann beispielsweise das fatale Bild der (Partei-)Politik, nämlich sich auf Talk spezialisiert zu haben (Luhmann), korrigiert werden und sie ihre Handlungsfähigkeit Stück für Stück zurückgewinnen. Auch das Wirtschaftssystem braucht Einrichtungen, die die möglichen Folgen von Entscheidungen für die Umwelt, für die Menschen in den Unternehmensprozess integrieren (Beispiel Umweltbeauftragte, Datenschutzbeauftragte u. a.), braucht handlungsrelevante Leitbilder, die die Verantwortung des Einzelnen auf allen Ebenen einbeziehen wollen. Nur so kann sie wieder rückeingebunden werden in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs und die Sorge ums Gemeinwohl. Und es braucht ein Medium, „über das sich die aus einfachen Interaktionen und naturwüchsigen Solidarverhältnissen bekannten Strukturen gegenseitiger Anerkennung in abstrakter, aber bindender Form auf die komplexen und zunehmend anonymen Handlungsbereiche einer funktional differenzierten Gesellschaft übertragen lassen.“27 Das ist die bleibende Aufgabe der Institutionen des Rechtsstaats. Dass das zivilgesellschaftliche Engagement seine „katalytische“ Wirkung durch die mediale Öffentlichkeit erheblich verstärken kann, sei wenigstens erwähnt. Schlagende Beispiele liefert immer noch die Nichtregierungsorganisation „Greenpeace“ mit ihren spektakulären Protestaktionen. Mit dieser Perspektive wäre das Eingangsszenario eingeholt und eine Möglichkeit angedeutet, die moderne Gesellschaft so zu gestalten, dass sie sowohl auf die Steuerungsproblematik als auch auf die „Passivierung“ der Bürger eine Antwort zu geben wüsste. Auf den Staat allein zu vertrauen, reicht nicht. Eine solche Gesellschaft wäre eine (sozial)ethisch richtig gestaltete Gesellschaft. Zusammenfassung Staat und Politik müssen ihre Steuerungskraft zurückgewinnen. Das können sie nur, wenn sie den Bürgern neue Partizipationsmöglichkeiten eröffnen, wenn die Bürger wieder das Gefühl bekommen, dass es noch gesellschaftliche Bereiche gibt, die sie mitgestalten können.

7.2 Wirtschaft Es ist noch gar nicht lange her, da wurde der freie Markt als das beste Ordnungsinstrument für die moderne Gesellschaft empfohlen, Entschränkung des freien Spiels der Kräfte als einzige Möglichkeit

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7. Gesellschaft gestalten

angesehen, die Ordnungsprobleme in den Griff zu bekommen. Margaret Thatcher und Ronald Reagan waren in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts die Vorreiter, Tony Blair und Gerhard Schröder in den 90er Jahren ihre Nachahmer. „Das dominante Muster kann als ,Aus-dem-Wege-Räumen von Bremsklötzen‘, Deregulierung, Abbau von Rigiditäten, Verflüssigung und Erleichterung von Transaktionen auf Güter-, Finanz- und Arbeitsmärkten, Flexibilisierung, Steuerentlastung und Liberalisierung beschrieben werden.“28 Der Staat solle sich zurücknehmen, so lautete die Forderung. Zwar ist der Glaube an die Selbstregulierungskräfte des Marktes mit der aktuellen Finanzmarktkrise keineswegs verschwunden, doch Zweifel und Unsicherheit prägen die Szene. Ob sie zu einem Umdenken oder zu ernsthaften Reformbemühungen führen, erscheint gegenwärtig noch offen. Wie wenig lernfähig wir sind, wenn es um den Glauben an den Markt geht, zeigt ein Blick zurück. Die häufig angesprochene Weltwirtschaftskrise von 1929 ist zu lange her. Aber noch vor 15 Jahren hat uns eine Bankenpleite auf ein grundlegendes Problem aufmerksam gemacht: Wie kontrolliert oder steuert man Organisationen, die durch ihre Spezialisierung und Komplexität undurchschaubar geworden sind? Ein 28-jähriger Wertpapierhändler namens Nick Leeson schaffte es quasi über Nacht, seinen Arbeitgeber, die britische Barings-Bank, zu ruinieren. Wie das Beispiel zeigt, gehen zwei wesentliche Kennzeichen moderner gesellschaftlicher Systeme, ihre Komplexität und Risikogeneigtheit, unter Umständen eine verhängnisvolle Verbindung ein. Die Komplexität macht es für Außenstehende, aber auch zunehmend für sogenannte Insider unmöglich, die Abläufe eines bestimmten Systems, hier den Geldmarkt, zu durchschauen und eigene Entscheidungen zu kalkulieren. Die Risikogeneigtheit liegt zum einen darin, dass dem Mitarbeiter mehr Risikobereitschaft zugemutet wird und gleichzeitig darin, dass die Anfälligkeit des Systems offensichtlich erheblich ist. Nun könnte man sich als Beobachter schadenfroh zurücklehnen und sagen: Das geschieht gerade den Banken recht. Schließlich haben sie sich immer mehr von den Kundenwünschen entfernt, ihre gesellschaftliche Macht weiter ausgedehnt und, wie das Beispiel zeigt, Maßnahmen der Selbstkontrolle sträflich vernachlässigt. Ein solcher Dämpfer war überfällig. Derartige Reaktionen sind verständlich, dürfen aber nicht beruhigen, etwa im Sinne von alles reguliert sich schließlich von selbst, für niemanden wachsen die Bäume in den Himmel. Diese Pleite bleibt eben nicht im Rahmen des jeweiligen

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Systems. Sie hat vielfältige Rückwirkungen auf die Kunden, die Arbeitnehmer, die Wirtschaft, die Politik. Das ist kein Null-SummenSpiel, bei dem man sich mit dem Hinweis beruhigen könnte, dass jeder Verlust eben auch Gewinner hat und sich so alles irgendwie ausgleicht. Auch solche Aussagen sind unter komplexen Bedingungen naiv wie risikoreich, weil niemand mehr ernstlich die am Prozess beteiligten Faktoren, geschweige denn ihre Wechselwirkungen beschreiben oder vorhersagen könnte. So ist denn auch der Ruf nach den Verantwortlichen und nach effektiveren Kontrollen allenthalben zu Recht ertönt. Gerade diese Diskussion kann die Charakteristik moderner Systeme verdeutlichen: Die Branchenkontrolleure und Bankenaufseher bewegen sich auf einem schmalen Grat: „Zu strenge Regeln würden das Geschäft zum Erliegen bringen oder in aufsichtsfreie Zonen treiben, was niemand will; bei zu laschen Vorschriften besteht die permanente Gefahr eines Unfalls mit verheerenden Folgen für das international immer enger zusammenwachsende Finanzsystem. Bleibt nur der Appell“, so resümiert der Kommentator, „an die Vernunft der Marktteilnehmer und die Hoffnung, daß der Welt der derivate Super-Gau erspart bleibt“.29 Nur zur Erinnerung: So hätte man auch vor 15 Jahren analysieren können – und hat es auch.30 Zunächst hat es den Anschein, als läge die Lösung gerade in der Moral – und nicht etwa in der Forcierung der Marktkräfte. Ob Politiker, Journalisten oder Bischöfe, alle beklagen den „Sittenverfall“ in Managerkreisen und erwarten von mehr Pflichtbewusstsein und Verantwortungsgefühl eine Lösung der Probleme. Ich werde zu zeigen versuchen, dass auch aus sozialethischer Sicht die Dinge nicht ganz so einfach liegen, wie der zunächst verständliche Ruf nach mehr Moral nahezulegen scheint. Das unbestimmte Gefühl, dass der freie Markt für verschiedenste Probleme in unserer Gesellschaft zumindest mitverantwortlich ist, begleitet uns schon eine geraume Zeit. Und es hat nicht zuletzt dazu beigetragen, im Laufe der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts eine neue Subdisziplin zu installieren: die Wirtschaftsethik. Wirtschaftsethik

Initiator und Ausgangspunkt aller wirtschaftsethischen Reflexionen ist ein zunehmender Zweifel an den Versprechungen der Wirtschaft, die ja ursprünglich angetreten ist, den Menschen aus seiner nicht nur materiellen Not und Unmündigkeit zu befreien. Die Gründe liegen

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auf der Hand. Trotz unumstrittener Erfolge sind die Kehrseiten und negativen Begleiterscheinungen wirtschaftlichen Handelns deutlich sichtbar. Nur einige Stichworte: Armut inmitten des Überflusses, notorische Arbeitslosigkeit, entwürdigende Arbeitsbedingungen, „Überkonsum“, Verschuldung und Unterentwicklung der Dritten Welt, Umweltzerstörung und Lebensmittelskandale, Korruption, Managerabzocke und vieles andere mehr. Konkurrenz und Leistungsdruck verleiten zu Korruption und Täuschung. Diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer nicht mithalten können, fallen heraus; statt unsere Bedürfnisse zu befriedigen, schafft der Markt seine eigene Nachfrage, der Konsum wird zum Hauptinhalt des guten Lebens. Dazu kommt, dass wirtschaftliche Aspekte in immer mehr gesellschaftliche Bereiche vorstoßen und den Bedarf an ethischer Reflexion verstärken: Angefangen bei den Börsennachrichten, die mittlerweile den Rang des Wetterberichts eingenommen haben, über Fragen der persönlichen Alterssicherung, der Kulturförderung via Sponsoring oder Privatisierung bis hin zur Bildungsreform. Kaum ein Lebensbereich, der nicht betroffen wäre. Da machen auch die Kirchen keine Ausnahme, wenn sie externe Unternehmensberatung zur Hilfe nehmen, um pastorale Reformen auf den Weg zu bringen oder PRAgenturen engagieren, um für den Gottesdienst zu werben. Wie auch immer: Wirtschaftsethik ist von einer Randfrage ökonomischer Theorie und Praxis zu einem zentralen Thema öffentlicher Auseinandersetzung avanciert. Von ethischen Kodizes in Unternehmen bis zu Fragen der Wirtschaftsordnung erstreckt sich ein weites Feld von Aktivitäten, in denen auf die eine oder andere Weise die Aufmerksamkeit für Grundlagenprobleme der Wirtschaft gewachsen ist. Seit über 20 Jahren erleben wir in Deutschland, nach Vorläufern in den USA,31 eine Flut von Veröffentlichungen zum Thema; Institute, Gesellschaften, Gesprächsforen wurden ebenso eingerichtet wie gleichnamige Lehrstühle an Universitäten. Zusätzliche Unterstützung erfahren diese Bemühungen durch Gegenbewegungen, man denke etwa an Firmen- oder Warenboykotts, an die vielen Nichtregierungsorganisationen und Bürgerinitiativen. Dass die Ethik auch als Imagefaktor nachgefragt wird, kann angesichts solcher Entwicklungen kaum wundern. Außerdem darf man nicht vergessen, dass diese Entwicklung von Anfang an von einem umfassenderen Reformprozess begleitet wurde, Gesellschaftsanalytiker sprechen auch von einem „Reflexivwerden“ der Gesellschaft. Spätestens mit der Friedens- und Umweltbewegung wurde die Fragwürdigkeit der Fort-

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schrittsidee und mit ihr die Fragwürdigkeit der Versprechungen von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft überdeutlich. Wenn man sich nun die aktuelle wirtschaftsethische Debatte ansieht, so scheinen sich zunächst alle einig zu sein, von wo aus das Projekt zu starten ist: „Ausgangspunkt einer zeitgenössischen Wirtschaftsethik sind die komplexen Realitäten der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“32 mit allen soeben angesprochenen Problemen. Entsprechend wird die Ökonomie als relativ autonomes soziales System begriffen. Außerdem wird dem Wirtschaftssystem von Vielen ein gewisser gesellschaftlicher Primat gegenüber den anderen Bereichen zugesprochen. Einigkeit scheint auch darin zu bestehen, dass die Rahmenordnung für das Funktionieren der Wirtschaft eine große Bedeutung hat. Allgemein akzeptiert ist also die Unterscheidung zweier Ebenen: die der Ordnungsethik und die der Handlungsethik.33 Zum Teil große Unterschiede bestehen schon bei der Bewertung dieser Sachverhalte. Ist die Autonomie der gesellschaftlichen Bereiche zu überwinden oder zu stärken? Mehr Staat oder mehr Markt ist dann die Frage. Muss der Vorrang des Wirtschaftssystems zurückgenommen werden, damit Politik (wieder) möglich wird, Gesellschaft überhaupt gestaltbar bleibt? Oder sollte man auf die Logik der Ökonomie setzen, um effektiver steuern zu können, so fragen manche mit Blick auf die Politik und das Recht. Und was ist mit der Moral in der Wirtschaft? Wer ist überhaupt ihr Träger? Die einzelnen Wirtschaftsakteure wie die Manager oder die Mitarbeiter oder gar die Konsumenten und alle potentiell oder tatsächlich von wirtschaftlichen Entscheidungen Betroffenen? Wer ist überhaupt als Verantwortlicher zu identifizieren, wenn es beispielsweise um die Erderwärmung oder die Massenarbeitslosigkeit geht? Ist in diesen Fällen eine solche ethische Kategorie noch zu gebrauchen oder muss sie ganz neu definiert werden? Wie lassen sich Markt und Moral vermitteln, das ist die zentrale Frage der Wirtschaftsethik. Wirtschaftsethik als Diskursethik

Die wirtschaftsethische Debatte der letzten zwei Jahrzehnte in Deutschland ist durch zwei konträre Positionen gekennzeichnet. Die eine wird von Peter Ulrich vertreten. Er plädiert dafür, das ökonomische Kalkül grundsätzlich wieder in die allgemeinen gesellschaftlichen Verständigungsprozesse heimzuholen. Ein neues Verständnis von ökonomischer Vernunft, erweitert um die ethisch-praktische Perspektive, ist angezielt. Die Ethik gibt die Richtung an: Letztlich muss

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die Subjektstellung und die Würde des Menschen auch im Arbeitsund Wirtschaftsprozess gewahrt werden. Das gelingt nur, wenn das Unternehmen willens ist, mit allen, die von unternehmerischen Entscheidungen betroffen sind, in einen Dialog einzutreten. Das heißt, der moralische Gesichtspunkt wird durch die Idee eines praktischen Diskurses konkretisiert. Referenz ist die Diskursethik: Der herrschaftsfreie und konsensorientierte Diskurs soll ein Prüfungsverfahren für Geltungsansprüche bereitstellen. Dann hängt die ethische Beurteilung einer Sozialordnung oder einer Institution davon ab, ob sie eine zwangfreie und chancengleiche Teilnahme der Betroffenen an politischen und moralischen Diskursen ermöglicht. Zweifellos bedeutet die Diskursanforderung eine hohe Belastung für alle Beteiligten, die nur durch eine Trennung von Grundlagendiskurs und konkretem Handeln und Entscheiden34 praktikabel gemacht werden kann: Der Grundlagendiskurs verhandelt über die Voraussetzungen, Regeln, Zuständigkeiten, die dann den weiteren Diskurs aussetzen.35 Für Ulrich ist klar: Ökonomische Rationalität greift grundsätzlich zu kurz, wenn sie nicht in diesen Diskurs rückgebunden wird. Dieser Diskurs hätte die folgenden Fragen zu klären: „Was für Werte werden denn da beim ökonomischen Wertschaffen für wen geschaffen, und wer trägt welche Kosten?“36 Die Kernthese Ulrichs lautet also: Es gilt, den Vorrang der Ethik vor der Ökonomik geltend zu machen, indem die Subjektstellung des Einzelnen auch im Wirtschaftsprozess an zentraler Stelle verankert wird. Damit steht prinzipiell alles zur Diskussion; es gibt keine Präferenzordnung im Sinne wirtschaftlichen Handelns. Wirtschaftsethik als Strukturenethik

Das Kontrastmodell wird von Karl Homann vertreten. Er hält die Position von Ulrich schlicht für einen Rückzug auf vormoderne Positionen. Die moderne Gesellschaft hat die Möglichkeit der Integration der Einzelnen in die Gesellschaft über „Face-to-face-Beziehungen“, im Sinne einer Kleingruppenmoral, unmöglich gemacht. Integration läuft heute über die demokratische Verfassungsordnung und die Marktwirtschaft. Sie dienen dazu, die vielen Einzelhandlungen zu koordinieren. Unter anonymen und komplexen Bedingungen muss die Moral institutionell verankert werden, da sonst die Gefahr des Trittbrettfahrens zu groß ist, eines Verhaltens, das Moral systematisch schlechter stellt. Daraus ergibt sich die These: „Der systematische Ort der Moral in der Marktwirtschaft ist die Rahmenordnung.“37

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Die Ethik muss konsequent umgestellt werden von der Individual- auf Institutionenethik: „Die Institutionen sind so zu gestalten, daß individuelle Moral möglich wird.“38 Und in der Tat, das Beispiel Umweltzerstörung kann verdeutlichen, wie wenig sinnvoll es ist, bestimmte Verantwortliche, seien es einzelne Bürger, seien es einzelne Unternehmen, benennen zu wollen. Statt nach Schuldigen zu suchen und von mehr Moralität Abhilfe zu erwarten, sollten marktgerechte Instrumente eingesetzt werden, zum Beispiel die Besteuerung der Ressourcen Wasser, Boden, Luft. Das Verursacherprinzip greift zu kurz, weil es auf relativ einfache, klar zurechenbare Tatbestände beschränkt ist. Ist es nicht doch so, dass Normen und Ideale sich heute nur noch so motivkräftig vermitteln lassen, dass man sie dem Wettbewerb entzieht und in der Rahmenordnung unterbringt? Dann stehen „moralische“ Rahmenordnung und „egoistische“ Handlungen innerhalb dieser Ordnung wie Innovation, Verkaufsstrategie, Preispolitik, einander nicht mehr einfach gegenüber, so Homann, sondern ermöglichen gemeinsam die größtmögliche Wohlfahrt. Ein anderes Beispiel ist der Aufbau Ost: Von der Notwendigkeit zu teilen war die Rede („Solidaritätszuschlag“). Stattdessen hätte man, ökonomisch korrekt, von notwendigen Investitionen sprechen sollen. Die Aufforderung zum Teilen wirkte schließlich demotivierend, und so musste man feststellen, dass letztendlich und im Effekt „Investieren solidarischer ist als Teilen“. Diese Argumente Homanns sind die alten von Adam Smith: Letztlich und langfristig kommt auch eine durch den Wettbewerb bedingte Benachteiligung bestimmter Gruppen eben diesen selbst zugute. Nach Smith setzt sich das für alle Wünschbare hinter dem Rücken der Akteure durch und wird eben nicht direkt angezielt: „Nicht vom Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern von der Rücksichtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Menschenliebe, sondern an ihr Selbstinteresse und sprechen zu ihnen nie von unserem Bedarf, sondern von ihren Vorteilen.“ Jeder Einzelne „wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat.“39 Auf die Anwendungsproblematik aufmerksam gemacht zu haben, ist das große Verdienst der Wirtschaftsethik von Homann. Das heißt, man muss die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse immer auch als „Anreizbedingungen“ für moralisches Verhalten interpretieren. Und die sind in der modernen Gesellschaft hochkomplex und hochdifferenziert. Allerdings wird seine Position dann problematisch,

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wenn er die ethische Richtigkeit von Normen von deren Anwendbarkeit abhängig macht. Dann gerät die ökonomische Perspektive zum Ausschließlichkeitskriterium. Das moralische Subjekt wird nur noch als „Interessenkalkulierer“ ansichtig. Die verbreitete These von der Entsolidarisierung der Gesellschaft durch die Maximen des Marktes wird auf den Kopf gestellt: Die Solidarisierung der Gesellschaft wird gerade durch die Marktmechanismen vermittelt, oder sie gelingt nicht. Mehr noch: Diese Mechanismen sind nicht mehr auf die Moral des Einzelnen angewiesen. Es genügt, wenn der Einzelne seinen Interessen folgt, alles andere regelt die Rahmenordnung. Moral in der Wirtschaft

Der Markt ist, so könnte man auch sagen, durch eine tiefe Ambivalenz gekennzeichnet: Er verheißt Freiheit und führt, wenn man ihn lässt, zu Zwang. Gerade diese Spannung ist es, die den Weg weist: hin zur „Bändigung“, den Kapitalismus „umbiegen“, so hat es Nell-Breuning einmal formuliert,40 nicht zum Laissez-faire, Weiter-so, Mehr-desGleichen. Und das geht eben nur, dass zeigt die Analyse der Aporien der Differenzierungsdynamik,41 wenn das individuelle sittliche Subjekt eingebunden und nicht außen vor oder allein gelassen wird. Sicherlich ist es nicht möglich, gänzlich auf die Moral der Einzelnen zu vertrauen. Aber das autonome sittliche Subjekt bleibt der Vermittler von Moral. Das verlangt seine Würde als Person. Auch die Wirtschaft ist kein moralfreier Raum. Deshalb ist sie so zu gestalten, dass sie dem Menschen zu sittlich fundierter humaner Entfaltung seines Daseins verhilft. Will man also Ethik ins gesellschaftliche und vor allem ins wirtschaftliche „Spiel“ bringen, dann muss man eine umfassendere Perspektive suchen und die Wirtschaft (wieder) als Teil ihrer Gesellschaft begreifen. Außerdem sind die modernen gesellschaftlichen Bedingungen viel zu komplex, als dass sie mit Hilfe der klassischen Gegenüberstellung von Staat und Markt angemessen auf den Begriff gebracht werden könnten. Es bedarf vielmehr des Zusammenwirkens verschiedener Institutionen, verschiedener Träger und Quellen der Moral: das individuelle Gewissen, die sozialen Bewegungen, das Recht, der Markt und seine Akteure. Das individuelle Gewissen mit seinem kritischen Potential muss als Quelle neuer moralisch motivierter Möglichkeiten begriffen werden. Soziale Bewegungen, ob Selbsthilfegruppen oder Nichtregierungsorganisationen, sind zivilgesellschaftliche Solidaritätsformen, die diese Kritik bündeln und arti-

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kulieren helfen. Das Recht und die Politik wiederum vermitteln den demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess, vermitteln zwischen der Lebenswelt der Menschen und den Marktakteuren auf vielfältige Weise. Man denke etwa an das Betriebsverfassungsgesetz, an das Produkthaftungsrecht, an Mindestlöhne und vieles andere mehr. Der Staat garantiert den freien Wettbewerb, sorgt für sozialen Ausgleich und insgesamt für die Integration der Wirtschaft in die Gesellschaft. Ein solcher „starker“ Staat kann das alles auf Dauer nur, wenn sich die Menschen mit ihm identifizieren. Sie identifizieren sich aber nur, wenn der Staat als gestaltende Kraft erkennbar bleibt.42 Und die einzelnen Wirtschaftsakteure? Auch die einzelnen Unternehmen bleiben in der Verantwortung, können nicht nur auf die Rahmenordnung verweisen. Deshalb müssen die Organisationsstrukturen für die Mitarbeiter Spielräume für kritische Reflexion eröffnen, für ethische Fragestellungen sensibilisieren, freiwillige Selbstverpflichtungen eingehen. Beispiele für „selbstreflexive“ Strukturen sind (unternehmens-)intern Vertrauensleute, Ombudsmänner, Beschwerdesysteme, sogenannte „task forces“ zur Bewältigung aktueller Konfliktfälle. Spezielle externe Strukturen sind etwa Ethik-Kommissionen als Mittler zwischen Konfliktparteien. Alle diese Träger und Strukturen haben eine eigene unverzichtbare und wechselseitig kritische Aufgabe wenn es darum geht, Ethik ins wirtschaftliche Spiel zu bringen, wohl wissend, dass sie auf diese vielfältige Weise der Wirtschaft nicht etwas Fremdes antragen, sondern dazu beitragen, die Wirtschaft zur „ethischen Vernunft“ zu bringen. Christliche Ethik und Ökonomie

Und die christliche Ethik? Welchen Beitrag kann sie leisten zur Verhältnisbestimmung von Markt und Moral? Zugegeben, die soeben entwickelte ethische Perspektive kommt dem Interesse aus dem Glauben weit entgegen. Aber welche theologischen Einsichten kommen überhaupt in Frage? Zunächst einmal muss man mit einem Blick in die Ideengeschichte feststellen, dass das, was heute als die Begegnung zweier Welten erscheint, die Begegnung zwischen Theologie (aber auch Ethik) und Ökonomie, lange Zeit selbstverständlich zusammengehörte. So war etwa für den großen Theologen des Mittelalters43, Thomas von Aquin, das Wirtschaften zwar eine Realität dieser Welt, aber eingebettet in die Grundvorstellung, dass alles (!) von Gott ausgeht und zu ihm als dem letzten Ziel zurückkehren soll. Auf diesem Heilsweg hat das unvollkommene Zwischenziel des Wirt-

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schaftens die Aufgabe, der Bedürfnisbefriedigung für die leiblichseelisch-geistigen Notwendigkeiten zu dienen. Dabei darf der Umgang mit materiellen Gütern die vernünftigen Grenzen nicht überschreiten; er soll sich durch Klugheit und Weisheit leiten lassen. Das heißt, nach Thomas und bis weit in die aktuelle Theologie und kirchliche Lehrverkündigung hinein – zu denken ist insbesondere an die äußerst kritische Auseinandersetzung mit den sozialen Folgen der Industrialisierung – ist es nicht die Aufgabe der Wirtschaft, unbegrenzt Reichtümer zu vermehren, wie sollte das auch mit der Botschaft Jesu vereinbar sein. Der Gewinn soll sich auf ein notwendiges und sittlich gutes Ziel, letztlich auf das „Gemeinwohl“, ausrichten. Unter Gemeinwohl kann man mit Nell-Breuning jenen „guten Befund oder Zustand eines gesellschaftlichen Gebildes oder Gemeinwesens“ verstehen, „kraft dessen es imstande ist, seinen Gliedern zu helfen, zu erleichtern oder überhaupt zu ermöglichen, durch ihre eigenen Anstrengungen das, was sie erstreben, das ist ihr eigenes Wohl oder ihre eigene Vervollkommnung oder ein von ihnen gemeinsam erstrebtes Ziel, zu erreichen.“44 Übrigens bezieht sich diese Maßgabe nicht nur auf das Ziel, sondern auch auf den Weg, die Art und Weise des Wirtschaftens und Arbeitens selbst. Der hier implizierte einheitliche Vernunftbegriff ist im Zuge der Neuzeit zerfallen. Und sicherlich kann auch eine christlich inspirierte Sozialethik die moderne Differenzierung der Rationalitätsformen nicht einfach überspringen wollen.45 Aber die Idee von der notwendigen Abhängigkeit der verschiedenen Rationalitätsformen voneinander, das Wissen darum, das die Wirtschaft ohne Moral nicht auskommt, oder grundsätzlicher gesagt, die Abhängigkeit von Zweckhaftem, Instrumentellem, von Zweckfreiem, Nicht-Instrumentellem, diese Idee festzuhalten, ist ein wesentliches Interesse christlicher Ethik. Nicht zuletzt deshalb kann es kein zentrales Anliegen der christlichen Sozialethik sein, auf Augenhöhe mit den Wirtschaftswissenschaften über einzelne technische Fragen zu streiten. Vielmehr muss der Blick von Anfang an auf den gesellschaftlichen Zusammenhang gerichtet sein. Deshalb muss christliche Ethik vehement Einspruch erheben, wenn auf der einen Seite die Verantwortung des individuellen sittlichen Subjekts gleichsam für überflüssig erklärt wird oder auf der anderen Seite alles von der Selbstverantwortung des Einzelnen erwartet wird. Weder das Vertrauen auf eine anonyme soziale (Markt-)Macht, noch das Vertrauen auf einen freien und guten Willen, gepaart mit einem falschen Versprechen, dass Jeder seines Glückes Schmied sei, sind angemessen. Und sie muss Einspruch erheben, wenn systematische Benachteiligun-

7.3 Familie

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gen billigend in Kauf genommen werden, um einer Systemlogik zu folgen, manchmal abgemildert durch Vertröstungen auf eine ungewisse Zukunft. Und weil die konkrete Freiheit nicht vom Himmel fällt, sondern eingebunden ist in das Wechselspiel von Individuum und Gesellschaft, geht es, positiv gewendet, darum, die verantwortliche Freiheit des individuellen Subjektes zu ermöglichen, ihr strukturell entgegenzukommen. Das gilt für die Wirtschaftsordnung im Besonderen, gilt aber auch für andere Bereiche, wenn sie betroffen sind von Entscheidungen der Wirtschaft und deshalb zu Recht Einspruch erheben und Rücksicht von den Wirtschaftsakteuren einfordern. Zusammenfassung Die Wirtschaft genießt einen gewissen gesellschaftlichen Vorrang gegenüber anderen Bereichen und eine gehörige Portion Autonomie. Umso wichtiger ist die Erinnerung an ihren ureigenen Auftrag, nämlich dem „ganzen Menschen“ und dem Wohl Aller zu dienen (vgl. Gaudium et spes, Nr. 64).

7.3 Familie Auch im Leben der Familie spiegeln sich die typischen Strukturen moderner Gesellschaft. Auf der einen Seite wird schon seit geraumer Zeit von einer Krise der Familie gesprochen, von „Funktionsverlust“, von „De-Institutionalisierung“, vom „Niedergang“ oder „Ende der Familie“. Ist dann nicht, wie mancher Gesellschaftsanalytiker meint, die Grundfigur der modernen Gesellschaft, ganz bis zum Ende gedacht, der oder die Alleinstehende? Auf der anderen Seite scheint die Familie „trotz allem“ für die große Mehrheit der Bevölkerung „unumstrittener Fixpunkt und Leitbild ihrer privaten Lebensorientierung.“46 Unter Jugendlichen nimmt sie in der Einschätzung der Wichtigkeit der Lebensbereiche und -ziele den höchsten Rang ein.47 Dann sind „Singularisierungstendenzen“ in unserer Gesellschaft offensichtlich nicht absehbar? Wenn sich die Gesellschaftsanalytiker so uneins sind, ist Vorsicht angebracht. Familie im Wandel

Vorsicht ist auch angebracht, wenn man auf die historische und vergleichende Familienforschung zurückgreifen will, um ein bestimmtes

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7. Gesellschaft gestalten

Bild von der Familie zu legitimieren. Das gilt vor allem gegenüber den Vorstellungen, die eine Entwicklung der Familie von archaischen und ausgestorbenen Formen in gerader Fortschrittslinie bis heute zeichnen. Mit den Worten des Ethnologen Claude Lévi-Strauss: „Wir dürfen nicht länger dem Glauben frönen, die Familie habe sich von archaischen und ausgestorbenen Formen in gerader Fortschrittslinie weiterentwickelt. Im Gegenteil: Dem flexiblen Menschenverstand könnten schon früh alle möglichen Familienformen zur Auswahl gestanden haben. Was wir für Evolution halten, wäre dann nichts anderes als eine Folge von Entscheidungen zwischen mehreren Möglichkeiten, mit denen lediglich verschiedene Entwicklungsrichtungen in einem bereits vorgezeichneten Raster eingeschlagen wurden.“ Dazu zählt ausdrücklich der Familientyp, „für den monogame Ehe, selbständiger Wohnsitz des jungen Paares und affektive Beziehungen zwischen Eltern und Kindern typisch sind (...). Heute wird allgemein anerkannt, daß es in allen menschlichen Gesellschaften Familienleben in unserem Sinne gibt.“48 Außerdem, auch das ist eine beliebte Interpretationsschablone, erweist sich die sogenannte „Pluralisierung“ der Familie als weniger dramatisch, als viele glauben mögen. „Im Prinzip reduziert sich das Angebot auf vier Grundformen: verheiratet, ledig bei den Eltern, ledig allein oder ledig in nichtehelicher Lebensgemeinschaft lebend.“49 Insbesondere das Phänomen der Einpersonenhaushalte und das des unehelichen Zusammenlebens können häufig in eine „Sequenz im Lebenslauf“50 eingeordnet werden und sind eben nicht als bedeutsame alternative Lebensentwürfe zur Familie zu qualifizieren. Auch die bewusst kinderlose Ehe ist kaum zu einer alternativen Lebensform geworden, sondern weitgehend Folge struktureller gesellschaftlicher Rücksichtslosigkeit – Berufsorientierung und fehlende Betreuungsmöglichkeiten fördern Kinderlosigkeit.51 Gleichwohl hat auch die Familie im Zuge des neuzeitlichen Ausdifferenzierungsprozesses der Gesellschaft einen charakteristischen Wandel durchgemacht. Sie ist „autonomer“ und „privater“ geworden. Ihren prägnantesten Ausdruck hat diese Entwicklung im bürgerlichen Familienideal gefunden: „Die Ausdifferenzierung der bürgerlichen Familie (...) hat wesentlich zum Inhalt, dass die Familie nunmehr ihren eigenen Interaktionsstil findet, der den neuen personalisiertintimen Ansprüchen Raum gibt und sie thematisch zum Tragen kommen lässt.“52 Diese Idee vom Eigenwert der ehelich familialen Sphäre hat die „Negierung jeder externen, etwa auch staatlich-rechtlichen Instrumentalisierung und Reglementierung von Ehe und Familie zur

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7.3 Familie 53

logischen Konsequenz.“ Dieser Intimbereich will sich von keiner Institution in Beschlag nehmen lassen, auch nicht von der Kirche. Typisch für dieses Ideal ist auch die innerfamiliale Rollenaufteilung: „Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben (...) und drinnen waltet die züchtige Hausfrau“, so heißt es in Schillers Lied von der Glocke. Allerdings handelte es sich dabei um das Leitbild einer kleinen Gruppe des Bürgertums und der Beamtenschaft, das sogar 1794 im Allgemeinen Preußischen Landrecht erstmalig gesetzlich verankert wurde. Große Teile der Bevölkerung aber lebten unter Bedingungen, die beide Elternteile zur Arbeit zwangen und die infolgedessen ihre Kinder vielfach sich selbst überlassen mussten. Das bürgerliche Familienideal hat sich erst nach 1945 in weiten Teilen der Bevölkerung durchgesetzt. Bis heute ist in den unteren Einkommensschichten die Erwerbsquote der Ehefrauen am höchsten. Die Autonomie der Familie schließt also keineswegs die Abhängigkeit der familialen Verhältnisse von ökonomischen, politischen und kulturellen Gegebenheiten aus. Im Gegenteil: Mit Hilfe differenzierungstheoretischer Einsichten kann nämlich der Zusammenhang von Abgrenzung und Abhängigkeit plausibel gemacht werden. Und er zeigt sich auf beiden Seiten: Man denke nur an die immer wieder apostrophierte Rede von der „strukturellen Rücksichtslosigkeit“ von Wirtschaft und Staat gegenüber dem Tatbestand der Elternschaft,54 sie beuten sie aus, obwohl beide, Staat wie Wirtschaft, von der Familie abhängen. Übrigens hat vor allem die katholische Kirche an diesem „bürgerlichen“ Prozess der Individualisierung kräftig mitgewirkt und das Bild von Ehe und Familie nachhaltig geprägt und zwar durch den Einschluss in die christlichen Sakramente und die dadurch geförderte Spiritualisierung der Ehe sowie durch ihre vertragsrechtliche Interpretation. Der ursprünglich dominierende Einfluss und die Bedeutung der Verwandtschaftsfamilie wurden so zurückgedrängt und wirkten sich schließlich auch auf das religiöse Verständnis der Familie aus.55 Autonomie der Familie

Im Zuge des neuzeitlichen Differenzierungs- oder Freisetzungsprozesses hat die Familie eine ganz eigene „Logik“ entwickelt. Was darunter verstanden werden kann, hat der Bielefelder Familiensoziologe Franz-Xaver Kaufmann wie folgt beschrieben: Sie meint den auf „emotionalen Bindungen beruhende(n) Zusammenhalt, eine emotio-

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7. Gesellschaft gestalten

nal begründete Solidarität, die aus der körperlichen und psychischen Intimität sowie dem Vertrauen in die Dauerhaftigkeit der familialen Beziehungen ihre Kraft zieht.“56 Unmittelbare sinnliche Erfahrungen werden immer wichtiger, besonders für das Kleinkind. Es geht nicht mehr um die Vermittlung von Einzelkompetenzen, sondern um die „emotionale Unterstützung und Stärkung des Selbstbildes, in der Förderung der Identität.“57 Auch wenn die traditionalen Motive der Familiengründung weiter an Einfluss verlieren, so behält sie doch einen „intrinsischen Wert“, der diese Erfahrungen beinhaltet.58 Dieser Autonomiegewinn hat allerdings seinen Preis: „Ehe und Familie können nicht mehr als vorgegeben, sondern Ehe kann nur noch als zu leistende Partnerschaft, als Verknüpfung zweier Biographien und als Koevolution zweier Individuen, und Familie nur noch als zu leistende Nestbildung, als mühsam zu erringender Erholungs- und Gestaltungsraum inmitten einer geräuschvollen und übermächtigen Umwelt angemessen begriffen werden.“59 Wir leben in einer „Kultur der Kontingenz“. Zwar ist es richtig, auch anderen Sozialformen, ob Nachbarschaften, Selbsthilfegruppen, nicht-familialen Gemeinschaften aller Art eine Solidarität stiftende Funktion zuzuschreiben, und es geht nicht darum diejenigen zu despektieren, die sich aus welchen Gründen auch immer gegen eine Familiengründung entschieden haben. Aber die besondere Intimität, gepaart mit einem Vertrauen in die Dauerhaftigkeit der Beziehung, hebt die Familie aus den verschiedenen Gemeinschaftsformen heraus und lässt sie, gerade aus der Sicht der Jugendlichen, einen so hohen Stellenwert genießen. Christliches Familienbild

Für die Sozialethik ist die Familie deshalb von besonderem Interesse, weil sie gleichsam die Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft darstellt. Sie ist (noch immer) die Sozialisationsinstanz schlechthin. Zur Erinnerung: Gegenstand der Sozialethik ist nicht die Wertung und Gewichtung der Handlungsalternativen des Einzelnen, sondern die soziale Realität, deren Beschaffenheit gerade nicht im Bereich der individuell verfügbaren Handlungsalternativen liegt. Sie beschäftigt sich mit den kulturellen Leitbildern von Familie, mit den der Familie zugewiesenen Aufgaben und den damit verbundenen Erwartungen, den sozialen Normen in Form von Verhaltensmustern und Rollenzuweisungen zwischen Mann und Frau sowie zwischen Eltern und Kindern, die sich den Familienmitgliedern gegenüber mit

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dem Gewicht der Tradition oder mit moralischem und rechtlichem Anspruch geltend machen. Auf die institutionellen Momente der Familie und deren Wesenszüge richtet sich das sozialethische Interesse, weil sie Produkte des Menschen sind, Produkte, die fortwährend auf ihre Produzenten zurückwirken. Die sozialethische Perspektive kann weder die vorherrschenden Leitbilder noch die tatsächlich gelebten Formen von Familie ignorieren. Sie hat vielmehr die Aufgabe, die vorgefundenen Definitionen und Lebensformen daraufhin zu prüfen, ob sie dem Menschen zu sittlich fundierter humaner Entfaltung seines Daseins verhelfen, ob sie ihm helfen weniger Objekt und wieder mehr Subjekt zu werden. Für die christliche Sozialethik hatte die Familie schon immer einen besonderen Stellenwert. Mit dem Bamberger Moraltheologen Volker Eid kann man die Familie als „eigenständiges Werk des Menschen bei der Erfüllung der ihm von Gott gestellten Aufgabe schöpferischer humaner Lebensgestaltung“ begreifen. „Die Familie ist damit keine überzeitlich vorgegebene, gewissermaßen ,natürliche‘ Institution, sondern in kulturell und sozioökonomisch je verschiedener Weise der Versuch, die elementaren Bedürfnisse zu erfüllen: nach der Gewinnung individueller Identität und Stabilität aller Familienmitglieder im unmittelbaren mitmenschlichen Zusammenleben und zugleich nach der Gestaltung umfassend gelingender Partnerschaft und Partnerschaftsfähigkeit.“60 Auf die Tatsache aufmerksam zu machen, dass es eine beschreibbare Geschichte der Familie gibt und dass es in den „verschiedenen Kulturen zur Entwicklung teilweise voneinander verschiedener und sogar gegensätzlicher Formen der Familie kam“61, ist wichtig, weil dieses Wissen uns davor behüten kann, die Familie als eine menschliche Gestaltungsgeschichte von Gott einfach vorgegebene, nur noch zur richtigen Erfüllung aufgegebene, in ihrer Struktur immer identische Größe zu sehen. Gleichzeitig kann uns aber dieselbe Geschichte lehren, dass die Familie der Erfüllung „bestimmter, unausweichlicher Grundbedürfnisse“ dient. Sie ist zu verstehen als „integrale oder menschlich-ganzheitliche Lebensform, welche jedem Grundbedürfnis erst seinen richtigen Lebensort zuteilt. (…) Wenn Familie dadurch ,entsteht‘, daß sie die Erfüllung von Grundbedürfnissen im Rahmen ganzheitlicher Lebensentfaltung ermöglicht, dann ist sie in der Tat der Gesellschaft und dem Staat vorgegeben und als vor ungerechtfertigten Eingriffen unbedingt zu schützende und überhaupt zu fördernde Institution aufgegeben.“62 Diese Spannung zwischen dem der Gesellschaft vorgegebenen Eigenwert und ihrer kulturellen Variabilität ist das Kennzeichen christ-

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lichen Familienverständnisses. Diese Spannung findet sich auch in den anthropologischen und geschichtlichen Phänomenen wieder: Die vergleichende Forschung spricht, wie gesehen, von einem „vorgegebenen Raster“, die Soziologie von Solidaritätserfahrungen und „Grundformen“ von Familie. Christliche Ethik tritt ein für die großen Hoffnungen und Sehnsüchte der Menschen und protestiert gegen die Halbierung seiner Zukunfts- und Lebenserwartungen. Sie steht kritisch einer Gesellschaft gegenüber, die verspricht, den Menschen wunschlos glücklich machen zu können. Für Mensch und Welt ist mehr drin, als in der Welt wirklich und möglich ist. Diese Botschaft von der Freiheit drückt sich strukturell aus in der Spannung zwischen den sich dem Einzelnen entziehenden und normierenden Ordnungen und Institutionen einerseits und dem Anspruch auf sittliche Autonomie und Verantwortung des individuellen Subjekts andererseits. Aus christlicher Sicht ist die Familie nicht um ihrer selbst willen da, sie ist nicht Selbstzweck. Zweck an sich ist allein der individuelle Mensch als Person. Da aber die Familie als personale Partnerschaft in einzigartiger und unersetzlicher Weise der Entfaltung der Person dient und gleichzeitig aus dieser Entfaltung lebt, sie ist mit anderen Worten die „personnächste“ Institution, hat sie einen Eigenwert, der ihr nicht von der Gesellschaft oder vom Staat zugewiesen werden kann. Im Gegenteil: Gerade die in der Familie lebbare Solidarität hat mit dazu beigetragen, den Widerstand gegen eine Integration aller menschlichen Beziehungen in eine voll entfaltete Tauschgesellschaft aufrecht zu erhalten. Der „Eigenwert“ ist also nicht nur, wie Kaufmann meint, als ein Produkt der sich ausdifferenzierenden Gesellschaft zu verstehen, sondern zugleich als ihr Widerpart. Deshalb beansprucht sie im Sinne des Subsidiaritätsprinzips das Recht, ihre Aufgaben möglichst eigenverantwortlich zu gestalten und dafür seitens der Gesellschaft angemessene Hilfeleistungen zu erhalten. Sie hat einen Anspruch auf besondere Unterstützung. Da die Familie gegenüber den großen sozialen Teilsystemen wie Wirtschaft und Politik jeweils als kleine, vielfach abhängige Gruppe existiert, ist dieser Anspruch permanent gefährdet und muss ständig eingefordert werden. Familienpolitische Optionen

Wenn es um Unterstützung geht, sind wir bei der Familienpolitik angelangt. Endlich ist die Familie in den Vordergrund getreten und wird von den Politikern ernst genommen. Mehr noch: Es herrscht eine in politi-

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schen Fragen ungewöhnliche Einmütigkeit, wenn es um konkrete familienpolitische Maßnahmen geht. Alle wollen den Familien helfen und fordern an erster Stelle mehr Betreuungsangebote, dann mehr Transferleistungen, schließlich mehr Rücksicht in der Arbeitswelt, Anrechnung von Erziehungszeiten in der Rentenberechnung und vieles mehr. Politischen Streit gibt es nur noch auf Nebenschauplätzen, so der Eindruck: Die Diskussion um die sogenannte „Herdprämie“ erscheint eher als Rückzugsgefecht bayerischer Lokalpolitik. Bei so viel Einmütigkeit muss der Ethiker skeptisch werden. Allein schon deshalb, weil auch eine Optimierung der Infrastrukturangebote nicht alle Probleme lösen kann. Allem „Politgetöse“ zum Trotz gibt es die Kombination Karrierefrau und glückliche Mehrkindmutter wohl nur als Schimäre. Der „normale“ Alltag sieht anders aus. Außerdem hat man das unbestimmte Gefühl, dass die Sorge um die Familie gleichsam fremdbestimmt ist. Soziale Sicherung, Bildung, Arbeitsmarkt und Bevölkerungsentwicklung sind die Stichworte. Die Wirtschaft braucht kompetenten Nachwuchs, braucht bezahlbare soziale Sicherung, braucht Regeneration, braucht Konsumenten. Gerät die Familie nicht in ein tiefes Dilemma? Auf der einen Seite die besagten Erwartungen von Seiten der Gesellschaft und auf der anderen die Sehnsucht und Hoffnung des Menschen auf Geborgenheit und Autonomie? Anpassung und Wahlfreiheit, sind das die politischen Optionen? Anpassung an die Erfordernisse der Arbeitswelt und Wahlfreiheit, Familie oder Beruf, als Ausdruck von Autonomie und Selbstbestimmung? Oder präziser gesagt: Wahlfreiheit als Antwort auf die Anpassungsforderungen? Das strukturelle Grundlagenproblem der Familie in der modernen Gesellschaft ist die tiefe Ambivalenz zwischen den Erwartungen der Arbeitswelt auf der einen und den Erwartungen, ja der Sehnsucht nach Entlastung von den Erwartungen der Arbeitswelt auf der anderen Seite. Diese Spannung zeigt sich vielfältig: in dem Zwang der Frauen, Familie und Erwerbsarbeit unter einen Hut bringen zu müssen, zeigt sich in der Erziehung, die auf die Leistungsgesellschaft vorbereiten soll und das in Räumen ohne Leistungszwang, zeigt sich auch im Freizeitbereich, der zwischen Muße und Spaß und Leistungsanspruch changiert. Dass gerade für die Jugendlichen die Familie einen so überaus hohen Stellenwert besitzt, hat sicherlich mit der tiefen Sehnsucht nach Geborgenheit und Orientierung zu tun, die eine individualisierte Arbeitsgesellschaft regelrecht produziert. Die Überforderungen folgen auf dem Fuße. Also muss man nach Entlastung für die Familie suchen. Da man die gesellschaftlichen Erwartungen nicht ändern kann oder will, der

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Druck vor allem seitens der Wirtschaft scheint einfach zu hoch, bleibt für die Auflösung dieses Dilemmas nur die Familie. Also sollen ihre „traditionellen“ Aufgaben wie Kinderbetreuung, Freizeitgestaltung, überhaupt Erziehung von anderen Organisationen übernommen werden. Für den amerikanischen Soziologen James Coleman ist diese Entwicklung nur ein Symptom einer durch zunehmende Entpersönlichung gekennzeichneten Gesellschaft. Organisationen oder „korporative Akteure“ sind es, die die Art der sozialen Beziehungen mehr und mehr prägen. Sie kultivieren Unpersönlichkeit, das einzelne Mitglied der Organisation ist als Person austauschbar. Die Person interessiert nur noch als Inhaber bestimmter gesellschaftlicher Positionen. So sehr diese Strukturen (Wahl-)Freiheit ermöglichen, so sehr sieht Coleman in ihnen eine „Freisetzung der Person“, die sie zugleich überflüssig macht. Auch die Kinder treten immer mehr als Konsumenten von öffentlichen Dienstleistungen in Erscheinung. Für Coleman ist es gerade die Familie, die sich nicht aus Positionen aufbaut, sondern aus Personen besteht.63 Der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno spricht ganz ähnlich von der Familie als einer „naturwüchsigen Gruppe“ und grenzt sie ab von der Organisation als einem bewusst geschaffenen und gesteuerten „Zweckverband“.64 Übernehmen nun spezialisierte Organisationen zunehmend die Aufgaben, die bisher der Familie oblagen, versprechen sie etwas, dass sie nicht halten können, nämlich Raum der Befriedigung emotionaler und seelischer Bedürfnisse und Basis sozialer Interaktion zu sein, in der sich die Akteure als „Gesamtperson“ gegenübertreten und wahrnehmen. Oder, um wieder mit Adorno zu sprechen, die Institutionen sozialer Sicherheit machen die Menschen zu Objekten und nicht zu solidarischen Subjekten, indem sie helfen, die technisch-bürokratischen Arbeitsprozesse über das ganze Leben auszubreiten.65 Zwar wurde die Familie, gerade von Adorno und der kritischen Theorie, immer auch mit Misstrauen beobachtet, als Ort der Unterdrückung und Stabilisierung bestimmter ungerechter Verhältnisse – aber immer auch als Gegenwelt zur modernen industriekapitalistischen Gesellschaft. In der aktuellen familienpolitischen Debatte wird dagegen einhellig behauptet, dass die Unterscheidung zwischen „dienstleistungsförmiger“ und familialer Betreuung keine besondere Relevanz besitzt. Dann ist es gleichgültig, ob die Kinder von den Eltern oder professionellen Einrichtungen erzogen werden. Erst unter dieser Voraussetzung haben die Eltern tatsächlich „freie Wahl“, auch bezogen auf das Wohl der Kinder. Schließlich ist daran zu erinnern, dass Wahlfreiheit auch heute noch zu häufig ein Privileg der Besserver-

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dienenden und Akademiker ist. Gerade die unteren Einkommensgruppen sind darauf angewiesen, dass beide Elternteile arbeiten und das in oftmals wenig attraktiven Jobs, die kaum Selbstbestätigung vermitteln im Vergleich zur Familienarbeit. Wahlfreiheit wird aber nicht nur und ausschließlich mit Blick auf die Arbeitsgesellschaft gefordert. Es geht auch um die Geschlechtergerechtigkeit. Die Gesellschaft verlangt nicht nur Anpassung an die Erwerbsbedingungen, sie ist auch geprägt von einem tiefliegenden Stereotyp: der traditionellen Rollenverteilung in der Familie. Wenn man diese Verbindung herstellt, will man die familienpolitischen Maßnahmen danach beurteilen, ob sie diese Rollenaufteilung befördern oder nicht. Dann sind alle Optionen gerecht, die die bestehende Unterdrückung der Frau abzubauen helfen, und alle Optionen ungerecht, die dazu beitragen, die bestehenden Verhältnisse zu zementieren. Weil die bestehenden Verhältnisse der Autonomie der Frau im Wege stehen, deshalb darf und muss der Staat die Familien so fördern, dass für die Frauen mehr Autonomie möglich wird und deshalb soll er mehr Infrastrukturmaßnahmen und weniger direkte finanzielle Unterstützung der Familien vornehmen. Direkte finanzielle Hilfen für die Familienarbeit, so die Annahme, zementieren die bestehenden geschlechtertypischen Ungleichheiten und ermöglichen deshalb keine Wahlfreiheit. Keine Frage: Es muss alles getan werden, um bestehende Benachteiligungen für Frauen zu beseitigen. Ob der Staat aber darüber hinaus bestimmte Formen von Familie, hier die mit „Vollzeitbetreuung“ einhergehende Vollerwerbstätigkeit beider Eltern, gezielt fördern darf, ist zu Recht umstritten.66 Alle die soeben aufgelisteten familienpolitischen Optionen sind nicht von der Hand zu weisen. Was aber im aktuellen Forderungskatalog fehlt, ist der Hinweis auf die Familienzeit. Warum wird so selten, wenn überhaupt, für mehr Zeit für die Familie geworben? Ist es die Tatsache, dass noch immer in erster Linie die Frauen angesprochen sind, wenn es um mehr Zeit für die Familie geht? Muss man denn das Wohl der Frauen gegen das Wohl der Familie ausspielen? Ist der Preis nicht doch zu hoch, der für eine Wahlfreiheit gezahlt werden muss, die eher von der Familie wegführt oder zumindest weniger Zeit für die Familie übrig lässt? Um es grundsätzlicher zu formulieren: Es bedarf einer Überbrückung der Kluft zwischen familialen und nicht-familialen Handlungsräumen, im Interesse der Personen und des Gemeinwohls. Infrastrukturmaßnahmen sind auszubauen und die Gesellschaft muss sich in allen ihren Bereichen, die Wirtschaft ist hier ganz besonders herausgefordert, auf die Familien

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zubewegen. Es ist eine Familienförderung notwendig, die das „familiale Teilsystem“ so unterstützt, dass sie dessen Autonomie nicht gefährdet. Dann müssen die Optionen lauten: mehr Hilfen für die Familie und mehr Zeit für die Familie! Zusammenfassung Auch in der modernen Gesellschaft hat die Familie eine herausragende Bedeutung, für die Persönlichkeitsbildung und damit für die Gesellschaft insgesamt. Deshalb muss sie Anerkennung und Unterstützung finden. Die zentrale familienpolitische Option ist die der Wahlfreiheit.

7.4 Bildung Wie die Familie hat auch die Bildung in letzter Zeit in der öffentlichen und politischen Debatte eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dass es gerade diese beiden Themen sind, ist kein Zufall. Welche Chancen der Einzelne in der Gesellschaft hat, darüber entscheiden ganz wesentlich seine familiale Herkunft und seine Bildung. Und beide gehen in Deutschland, darin sind sich alle einig, eine unter Umständen verhängnisvolle Verbindung ein: Je größer die Nähe zur bildungsbürgerlichen Schicht, desto höher die Kompetenz und Bildungsbeteiligung. Das wissen wir spätestens seit PISA und mit Hilfe der neu etablierten wissenschaftlichen Disziplin der „empirischen Bildungsforschung“. Umgekehrt scheinen die Hoffnungen, die in die Bildung gesetzt werden, in dem Maße zu steigen, in dem unserem Bildungssystem schlechte Noten ausgestellt werden. Denn erst mit den Schulleistungstests entdecken wir ihre zentrale Bedeutung. Mit dieser Beobachtung soll noch nichts über den Sinn oder Unsinn vergleichender Bildungsstudien gesagt sein. Tatsache ist, dass sie eine enorme Wirkung auf die bildungspolitische Debatte ausüben und schon so manche Reform initiiert haben. Mehr noch: Mit ihnen haben wir die Bildung als Wettbewerbsfaktor entdeckt – eine nicht unproblematische Entwicklung, wie zu zeigen sein wird. Gerade in einer solchen Gemengelage, so lautet die zentrale These, ist eine Klärung des Bildungsbegriffs unerlässlich. Nur wenn wir Bildung umfassend verstehen, als Moment menschlicher Selbstentfaltung im sozialen Zusammenhang, wird es gelingen, die richtigen Antworten auch auf die Herausforderungen zu geben, die die schicksalhafte Verknüpfung von sozialer Herkunft und Kompetenz beziehungsweise Bildungsbeteiligung bedeutet.

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Bildung ist „der Schlüssel“

Egal ob Politik oder Wissenschaft, alle, so scheint es, sehen in der Bildung den Garanten für die Zukunft des Einzelnen und unserer Gesellschaft insgesamt. So heißt es etwa in der Erklärung der Regierungschefs der Länder vom 22. Oktober 2008 „Aufstieg durch Bildung. Die Qualifizierungsinitiative für Deutschland“: „Für persönliche Lebenschancen und Chancengerechtigkeit in einer Wissensgesellschaft ist Bildung der Schlüssel.“ Und in dem von Bund und Ländern in Auftrag gegebenen „deutschen Bildungsbericht“ aus demselben Jahr wird festgestellt: „Bildung bestimmt nicht nur die Entwicklungs- und Handlungschancen jedes und jeder Einzelnen in Beruf, Privatleben und als Bürger, sondern auch die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.“67 Wenn man der Bildung in der Zuteilung gesellschaftlicher Chancen die Position eines zentralen und quasi autonomen Stellrades zukommen lässt, drängt sich die Frage auf, was denn da unter Bildung eigentlich zu verstehen ist. Der soeben zitierte Bildungsbericht kommt ohne große Umschweife zur Sache: Der Grund für diese herausragende Bedeutung der Bildung hat zu tun mit „Veränderungen im Wirtschafts- und Beschäftigungssystem“. „Die Humanressourcen sind in hochentwickelten Volkswirtschaften für die Wirtschaftsdynamik wichtiger als das Sachkapital. Personenbezogene Dienstleistungen sowie Wissens- und Informationsberufe, die neue und hohe Qualifikationen erfordern, binden einen überproportional wachsenden Anteil der Erwerbstätigen, während die Nachfrage nach Arbeitskräften ohne abgeschlossene Ausbildung weiter zurückgeht. Zum anderen verlangen demographische Veränderungen danach, mehr Menschen für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren und zu gewinnen.“68 In dieser Art der Zuordnung steht der Bildungsbericht keineswegs allein. Gegenwärtig dominiert in der nicht nur öffentlichen Diskussion die Verbindung von Bildung und Wirtschaft. Maßstab ist der Beitrag, den Bildung zum wirtschaftlichen Erfolg eines Landes leistet.69 Wie man es auch dreht und wendet, in einem solchen Verständnis geht es nicht vordringlich um persönliche Selbstverwirklichung, sondern um den gesellschaftlichen Zwang zur ökonomischen „Selbstverwertung“. Oder tut sich in der Verhältnisbestimmung von Bildung und Wirtschaft ein Paradox auf? Etwa im Sinne der bayerisch-sächsischen Zukunftskommission: „Das politisch zu gestaltende Bildungsparadox lautet: Die konsequente Orientierung am wohlverstandenen Bedarf der Wirtschaft führt zu einer Wiederbelebung Humboldtscher Bil-

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dungsideale. Die Zukunft gehört den sattelfest spezialisierten Generalisten.“70 Ist damit die Richtung markiert? Wenn man diese Beobachtungen zugrunde legt, ist die Feststellung naheliegend, dass es in der gegenwärtigen Diskussion an einer tiefer reichenden anthropologischen Reflexion mangelt. Die Bildungspolitik hält sich mit ihr nicht auf, so der Eindruck.71 Also wird die Frage dringlich: Was verstehen wir unter Bildung? Um sich einen ersten Überblick über die aktuelle Bildungsdebatte zu verschaffen, kann man zwei ganz unterschiedliche Denkweisen identifizieren: 1. Die eine greift auf ökonomische Kriterien zurück und richtet ihr Augenmerk auf eine Strategie der Anpassung des Menschen an die veränderten gesellschaftlichen Anforderungen, als da sind: hohe Flexibilität und Mobilität, Pluralisierung, Individualisierung und Globalisierung. „Humanisierung“ der Gesellschaft heißt dann, den Einzelnen fit machen für die jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen. Die Forderungen lauten: mehr Flexibilität für die Bildung, mehr Anreize für private Initiativen, mehr Autonomie und Wettbewerb unter den Bildungsanbietern. Hierher gehören auch die vielfältigen Instrumente zur Effektivierung von Bildung wie Evaluation, zentrale Tests und vieles mehr. 2. Die andere geht durchaus von ähnlichen gesellschaftlichen Kräften und Anforderungen aus, sieht sie aber in einer massiven Spannung zu den Bedürfnissen des Menschen, zu seiner Gestaltungsfreiheit und Verantwortung. Dann kann nicht Anpassung die Lösung sein, sondern Stärkung der Persönlichkeit und in diesem Sinne Humanisierung der Gesellschaft; schließlich habe auch die Wirtschaft dem Menschen zu dienen. Gefordert wird eine Rückkehr zu den Humboldtschen Bildungsidealen und ein Freiraum von gesellschaftlichen Anforderungen. Damals, von Herder über Schiller und Hölderlin bis zu Fichte und Pestalozzi, wurden die entmenschlichenden Tendenzen eindringlich hervorgehoben.72 Der Mensch wird, so die damalige Sorge, im Zuge der Industrialisierung und Technisierung zu einem Fragment, zu einer Maschine, wie es damals hieß, die für beliebige Zwecke verfügbar ist. Uniformität statt Individualität ist die Folge. Die Führung hat gegenwärtig, so scheint es, der funktionalistische Bildungsbegriff übernommen. Die notwendige Antwort der christlichen Sozialethik auf den dominierenden Bildungsdiskurs liegt, soviel sei schon an dieser Stelle festgehalten, in der Rückbesinnung auf das, was der Mensch ist und sein soll. Zweck von Bildung ist der Mensch selbst und muss es sein. Deshalb ist Bildung nur als Selbstbildung

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denkbar. Jede vorzeitige Inanspruchnahme durch äußere Zwecke lässt Bildung in diesem Sinne erst gar nicht aufkommen. Das christliche Bildungsverständnis sieht Wissen und Lernen nicht als Prozess ihrer Selbststeigerung, sondern bezieht sie umfassend auf den Menschen in seinen jeweiligen Lebenssituationen.73 Es protestiert ausdrücklich gegen die Vision des grenzenlos Machbaren, das eine ideale Welt suggeriert. Es weiß, dass es mit dieser Welt nicht abgetan ist. Das spezifisch sozialethische Interesse für die Bildung ist noch nicht sehr alt. Zwei zentrale Perspektiven sind bisher in den Blick genommen worden: 1. Der Blick auf die Ziele von Bildung. Welche Prioritäten werden gesetzt? Welches Verständnis von Bildung sollte warum leitend sein? 2. Der Gerechtigkeitsaspekt. Dann ist die Frage, in welcher Weise und in welchem Umfang für wen eine Teilhabe an Bildungsgütern möglich ist und nach welchen Kriterien sich die Bildungschancen in einer Gesellschaft verteilen. Beide Zugangsweisen sind notwendig aufeinander verwiesen, weil erst ein umfassendes Verständnis von Bildung die angemessene Antwort auf das Problem der Bildungsgerechtigkeit zu geben vermag. Allgemeine und spezielle Bildung

Wenn man sich einen ersten Zugang zum Bildungsbegriff eröffnen möchte, ist die Unterscheidung zwischen „spezieller“ und „allgemeiner“ Bildung hilfreich. Anzenbacher definiert spezielle Bildung wie folgt: „Dazu gehören einerseits das spezielle Fachwissen, dessen Standardisierung im Wissenschaftsbetrieb der diversen methodischabstrakten Einzelwissenschaften vorgenommen wird, und andererseits spezielle Fertigkeiten, z.B. Sprachkompetenz, technisches Know-how, Kunstfertigkeit, sportliches Können etc. In diesen Bereich der speziellen Bildung gehört insofern das gesamte instrumentelle Wissen und Können, das auf die teilsystemischen Qualifikationserfordernisse bezogen ist und sich an der ,Brauchbarkeit‘ für ,äußere Zwecke‘ orientiert.“74 Die „spezielle“ Bildung zielt also auf die Aneignung bestimmter Fertigkeiten, das Lernen spezifischen Wissens, zielt auf berufliche Qualifikation und unterliegt damit den Kriterien systemischer Logik. Der Lernende soll sich anpassen an die jeweiligen sachspezifischen Erfordernisse. Moralische Verantwortung des Einzelnen ist nicht gefordert. Anders als die spezielle Bildung, die sich an den teilsystemischen Qualifikationserfordernissen ausrichtet, zielt die allgemeine Bildung aufs Ganze, auf den umfassenden Zusammenhang, auf den ganzen

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Menschen, seine Lebensgeschichte und die wesentlichen Weisen seiner Welterfahrung. Es geht um die Begegnung mit kognitiver, moralisch-evaluativer, ästhetisch-expressiver und religiös-konstitutiver Rationalität. Es geht um Fragen der „Weltorientierung sowie der Existenzerhellung“, aber auch um die „Frage nach der letzten Sinnbestimmung des Menschen“.75 Es geht um eine Idee vom Menschen, die es erlaubt, die speziellen teilsystemischen Verselbständigungen, an denen wir als Bürger, Wirtschaftssubjekte, Eltern, Fachkräfte, Lehrende oder Lernende teilnehmen, „kritisch (...) zu integrieren.“76 Es geht darum, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, die teilsystemischen Aktivitäten, moralisch zu bewerten und zu verantworten, sie mit einem bestimmten Verständnis von Humanität, Verantwortung, aber auch mit einer Idee vom „gutem Leben“ zu konfrontieren. Vermittelbar ist auch dieser Aspekt von Bildung nur als „Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit“77 des Menschen. Schließlich geht es um das künstlerische Schaffen und Erleben, um ästhetische Bildung, um das Schöne im Raum der Kunst und um das Naturschöne. Noch einmal Anzenbacher: „Vielleicht läßt sich behaupten, daß moralische Bildung und ästhetische Bildung miteinander die allgemeine theoretische Bildung zu dem weiterbestimmen, was wir Herzensbildung nennen können.“78 Thomas Mann hat es einmal das „Übernützliche“ genannt. Allgemeine Bildung ist umso dringlicher in einer Zeit, in der die mit der funktionalen Differenzierung einhergehende Tendenz der „Ent-Moralisierung“ und mit ihr die „Expertokratie“ weiter fortzuschreiten scheinen und Bildung sich auf den Aspekt der Verwertbarkeit des Wissens reduziert. Das kulturelle Gedächtnis darf nicht auf wenige Allgemeinplätze zusammenschrumpfen. Ethik ist so wichtig wie Englisch, Religion so wichtig wie Mathematik und Kulturwissen so wichtig wie Informatik. Auf der anderen Seite kann die spezielle Bildung davor bewahren, Bildung einseitig als Selbstbildung, bezogen auf die reine Innerlichkeit, privat, unpolitisch, als Kompensationsraum für eine sich zunehmend „entsubjektivierende“ Welt misszuverstehen. Die Wirklichkeit in ihrer Vielgestaltigkeit und Spezialisiertheit muss als Gestaltungsaufgabe bewusst bleiben. Außerdem kann ohne die Plackerei der täglichen Arbeit kein „Diener des reinen Geistes“ sein, auch wenn er andere für sich arbeiten lässt. Das heißt nun aber nicht, dass beide in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stünden. Die allgemeine Bildung ist für die spezielle unverzichtbar – das gilt nicht auch umgekehrt. Der Grund liegt im Begriff von Bildung selbst, insofern es um die Selbstentfaltung des

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Menschen geht, um freie Selbsttätigkeit, die den ganzen Menschen einschließt. Deshalb ist es ein Irrweg, die berufliche Bildung immer mehr von allgemeinbildenden Anteilen zu „entlasten“. Beteiligung durch Bildung

Gibt es eine Verbindung zwischen einem bestimmten Verständnis von Bildung und dem nicht nur in Deutschland zu beobachtenden empörenden Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft auf der einen und Kompetenz beziehungsweise Bildungsbeteiligung auf der anderen Seite? Mit dieser Frage ist der zweite sozialethische Zugang zum Thema Bildung gemeint, die Suche nach der Verbindung von Bildung und Armut, von Bildung und Beteiligungsgerechtigkeit. Dabei geht es nicht nur um monetäre Armut, sondern insgesamt und umfassend um soziale Ausgrenzung.79 Die Sozialethik hat für die Qualifizierung dieses Zusammenhangs im Verlaufe der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts den Begriff Beteiligungsgerechtigkeit ausgewählt. Dieser Begriff ist als eine „Suchbewegung“ auf diejenigen hin zu verstehen, denen die Mitwirkung nicht nur an politischen Entscheidungen versagt ist. Er bedeutet eine Parteinahme zu Gunsten der Armen und Machtlosen am Rande der Gesellschaft.80 Wichtig ist der Hinweis, dass die Beteiligungsfrage in entscheidender Weise durch die Eigenlogiken der gesellschaftlichen Teilsysteme und entsprechend gestalteter Zugangskriterien geprägt wird. Vom Einzelnen und seinen Möglichkeiten und Wünschen auszugehen und die gesellschaftliche Seite lediglich als Rahmenbedingung mit einfließen zu lassen, erscheint dann als individualistische Verkürzung. Oder anders gesagt: Für die Personen sind die Institutionen nicht einfach nur Spielräume für ihr Handeln. Personen bilden sich innerhalb ihrer institutionellen Einbindungen, ohne in ihnen völlig aufzugehen.81 Das ist einer der Gründe dafür, warum Bildung nicht als alleiniger oder zentraler „Schlüssel“ zur Erklärung von Armut, im Sinne der Einschränkung von Beteiligungsmöglichkeiten, dienen kann. So bedeutet das „System Schule“ beispielsweise immer eine Unterscheidung der Schüler nach Leistung und damit nach Begabung. Begabungen sollen gefördert werden. Allerdings sind Begabungen immer das, was die Kinder schon mit in die Schule bringen. Der Kreis schließt sich. Ein Hinweis auf solche verhängnisvollen Zusammenhänge findet sich auch in einem Gutachten zur Vorbereitung des 3. Armuts- und Reichtumsberichts: „An keiner Stelle wird

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erkennbar, dass die Risiken materieller Armut durch nichtmaterielle Formen der Partizipation kompensiert werden könnten. Vielmehr belegt diese Analyse, dass ausgrenzende Tendenzen in mehreren Lebenslagedimensionen wie Bildung, Einkommen und Partizipation parallel auftreten, sich wechselseitig verstärken und eine Kumulation von Armutsrisiken in mehreren Dimensionen zur Folge haben.“82 Das bedeutet, dass man nicht einfach davon ausgehen kann, dass verstärkte Bildungsanstrengungen die Folgen beispielsweise negativer Einkommensverhältnisse kompensieren könnten. Aber die Auseinandersetzung um die Gerechtigkeitsproblematik ist damit noch nicht zu Ende. Im Diskurs um die Bildungsgerechtigkeit wird neben dem Stichwort „Beteiligungsgerechtigkeit“ auch das der „Chancengleichheit“ benutzt. Dann soll das Bildungssystem als „großer Gleichmacher“ fungieren und anschließend, so die Erwartung, „würden sich bei freier Entfaltung der Begabungen und Neigungen jene legitimen Unterschiede einstellen, die sich allein oder überwiegend der eigenen Leistung verdanken.“83 Aber ist nicht der Glaube daran, echte Chancengleichheit erreichen zu können, weitgehend verloren gegangen? Schon seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts wird die These vertreten, Bildung sei die entscheidende Determinante des sozialen Status und der entscheidende Faktor gesellschaftlicher Partizipation. Diese Vorstellung wird nun mit Recht nicht nur von linken Theoretikern unter Ideologieverdacht gestellt, weil auf diese Weise eine „Auslagerung“ der Bildungspraxen aus der Marktlogik bloß behauptet wird. Tatsächlich kann es aber eine Herstellung von „Chancengleichheit“ außerhalb der Marktprozesse gar nicht geben. Denn der Arbeitsmarkt bestimmt nach wie vor, welche Chancen der Einzelne hat. Markt und Gesellschaft haben eben eine ganz bestimmte Form von Chancengleichheit ausdifferenziert. Ist es nicht so, dass Chancengleichheit immer mehr im Sinne von gleichen „juristischen Eintrittsbedingungen“ in sich selbst regulierende Märkte interpretiert wird und kein Kriterium der gesellschaftlichen Beteiligung bzw. der selbstbestimmten Verfügung über die eigenen Lebensumstände darstellt? Am Beispiel junger Frauen kann man den besonderen Zusammenhang von Bildungspraxen und gesellschaftlicher Beteiligung deutlich machen: Auf der einen Seite können sie als die eigentlichen Gewinnerinnen der Bildungsexpansion angesehen werden. Die Anzahl der Abiturientinnen und Hochschulabsolventinnen hat seit den 60er Jahren mit denen der Jungen und Männer mindestens gleichgezogen. Auf der anderen Seite scheint aber der Übergang in das Berufsleben über

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die soziale und gesellschaftliche Stellung von Frauen zu entscheiden. Und der gestaltet sich nach wie vor für Frauen weit problematischer als für Männer. Das heißt, die Selektionsschwelle hat sich nur verlagert, von der Schule zur beruflichen Qualifikation. Dieses Beispiel zeigt, dass der Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Diskriminierung zu komplex ist, um im Sinne einfacher Kausalitäten aufgelöst zu werden. Gleichzeitig tun beispielsweise die Schulen viel, um den Erwartungen der Wirtschaft entgegenzukommen. Im Mittelpunkt stehen hier die Kategorien Wissen, Testen, Leistung – und das alles immer schneller. Die vielen in der letzten Zeit auf den Weg gebrachten Reformen belegen diesen Zusammenhang. Man denke nur an die verschiedenen ökonomischen Instrumente, die zur Effektivierung des Lehrbetriebs eingeführt werden sollen beziehungsweise schon eingeführt worden sind: angefangen von der Autonomie von Schulen oder Universitäten bis hin zu Evaluierungen oder Maßnahmen zur engeren Verbindung von Gymnasien bzw. Universitäten und Wirtschaft.84 Die sogenannte Schulinspektion erinnert nicht nur Kabarettisten an die gängige Unternehmensberatungspraxis.85 Aber ist nicht die Gefahr sehr groß, dass die Benachteiligten mit leeren Bildungsversprechen und illusionären Aufstiegshoffnungen abgespeist werden, statt mehr zu tun für überforderte, hilfsbedürftige Familien? Wird durch die Wirtschaftsorientierung der Bildung der Druck gerade auf die Benachteiligten nicht noch einmal erhöht, weil damit die schon angesprochene Subjektivierung von Armut befördert wird? Wenn schließlich alle die vielen Maßnahmen der Bildungsförderung nicht greifen, müssen doch der Einzelne und sein familiales Umfeld „schuld“ sein. Wird Bildung einseitig auf verwertbares Wissen, als Zurüstung für ganz bestimmte gesellschaftliche Aufgaben, reduziert, verstärkt sie dann nicht eher den Druck gerade auf die Benachteiligten, statt ihnen zu helfen? Der 1992 verstorbene Soziologe Pierre Bourdieu bemühte sich um den Aufweis des Zusammenhangs von sozialen Tatbeständen und der Praxis von Bildungsinstitutionen und um die Entlarvung der Bildung als ideologisches Konstrukt. Die „Begabungsideologie“, so kann man seine Kritik zusammenfassen, als Grundvoraussetzung des Schulund Gesellschaftssystems, bietet, in Verbindung mit der Vorstellung, durch harte Arbeit alles schaffen zu können, nicht nur der „Elite“ die Möglichkeit, sich in ihrem Dasein gerechtfertigt zu sehen. Sie trägt auch dazu bei, den Angehörigen der Benachteiligten das Schicksal, das ihnen die Gesellschaft beschieden hat, als unentrinnbar erschei-

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nen zu lassen. Deswegen glaubt der kulturell Gebildete an seine Begabung und der Unterprivilegierte daran, dass diese ihm fehle.86 Die Schlussfolgerungen können nur lauten: Es ist unangemessen, Bildung isoliert von der Familie fördern zu wollen. Es ist unangemessen, Bildung isoliert von der Arbeits- und Lebenswelt beurteilen zu wollen. Man darf nicht zulassen, dass das Thema Bildung und Armut die drängende Frage nach der Höhe der Hartz-IV-Regelsätze in den Hintergrund drängt. Beides gehört zusammen. Denn ein unter Armutsbedingungen lebendes Schulkind wird nicht automatisch durch mehr Bildung aus seinen entwürdigenden Verhältnissen befreit und diese Verhältnisse wiederum können nicht etwa durch mehr Bildung „kompensiert“ werden, im Gegenteil: Vieles spricht dafür, dass Achtungsentzug auch die Integration in den Bereich Bildung massiv erschwert. Und das setzt sich fort im Übergang in die Arbeitswelt. Ein weiterer Beleg für diesen Zusammenhang ist das Phänomen, dass sich Personen mit einem Einkommen unter der Armutsgrenze deutlich weniger in der Gesellschaft engagieren, ob politisch oder zivilgesellschaftlich, als Personen mit höherem Einkommen. Auch hier ist mit Prozessen der Selbstausgrenzung aufgrund der Antizipation von Zugangsschwellen zu rechnen.87 Achtungsentzug, auch bloß antizipierter, führt zum (freiwilligen) Rückzug aus der Gesellschaft. Autonomie der Bildung?

Beide Aspekte, die gesellschaftliche „Isolierung“ von Bildung und die damit einhergehende Ausblendung bestimmter Inhalte, machen darauf aufmerksam, dass man Bildung nicht formalistisch verengt verstehen darf. Bildung geschieht nicht nur in der Schule. Sie geschieht primär im Alltag, in der Familie, in der Nachbarschaft, im Freundeskreis, in der Arbeit und in der Freizeit. Sie bedeutet nicht nur Wissensvermittlung, sondern auch Schulung von „Kulturtechniken“, angefangen von Tischmanieren, über die Kunst der Unterhaltung, Musik, Gespür für Wertvolles, zu Achtendes und vieles andere mehr. Übrigens kann man den Tenor der jüngsten Schülerproteste (im November 2008) in Deutschland ganz in diesem Sinne interpretieren: Kaum Zeit für Verabredungen, das Privatleben wird total eingeschränkt, Zeit für Sport oder Musik gibt es kaum noch: „Viele haben einfach aufgehört“. Und was nützt die Bildung, so fragte eine Sprecherin sinngemäß, wenn die Menschen am Ende nicht mehr unterscheidbar sind? Die Bedeutung freier und unverplanter Zeit für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen scheint gegenwärtig völ-

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lig aus dem Blick geraten zu sein. Die den Alltag immer mehr dominierende Schule kann sich sehr wohl auch nivellierend und individuell bildungshemmend auswirken. Feiert nicht die Idee der Massenpädagogik fröhliche Urstände? Wird dabei nicht von so manchem unterstellt, alle Schüler müssten von der Straße geholt und weg vom Fernseher oder von der Spielkonsole? Anders gesagt: Jede Reformmaßnahme bedarf auch der Gegenprobe, ob durch sie nicht nur Benachteiligungen abgebaut, sondern an anderer Stelle neue geschaffen werden.88 Gerade wenn die Bildung auf der einen Seite zum „Alles-Problemlöser“ stilisiert und auf der anderen Seite Bildung aufs ökonomisch Verwertbare reduziert wird, muss man die Autonomie der Bildung stärken, um ihren eigentlichen Zweck zu bewahren und die schicksalhafte Verknüpfung von Wirtschaft und Bildung aufzulösen. Erst dann kann sie auch der Wirtschaft dienlich sein. Eine Bildung, die sich den Erwartungen der Wirtschaft anpasst, kann kaum das kritische und kreative Potential entfalten, das auch die Wirtschaft braucht – ganz im Sinne der eingangs zitierten bayerisch-sächsischen Zukunftskommission: „Das politisch zu gestaltende Bildungsparadox lautet: Die konsequente Orientierung am wohlverstandenen Bedarf der Wirtschaft führt zu einer Wiederbelebung Humboldtscher Bildungsideale. Die Zukunft gehört den sattelfest spezialisierten Generalisten.“89 Zusammenfassung Wenn Bildung Selbstentfaltung im sozialen Zusammenhang bedeutet, dann darf sie nicht ausschließlich als Zurüstung für den Bedarf der Wirtschaft verstanden werden. Gerade die Förderung von Benachteiligten verlangt eine „Autonomie“ der Bildung. Erst wenn man der Bildung den ihr entsprechenden Raum gewährt, kann sie auch der Wirtschaft dienlich sein.

Literatur 7.1 Politik Anzenbacher, A.: Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien. Paderborn 1997, 56-72. Höffe, O.: Ethische Grundlagen und Formen der Demokratie, in: Rauscher, A. (Hg.): Handbuch der Katholischen Soziallehre. Berlin 2008, 861-870. Liedhegener, A.: Bürger- und Zivilgesellschaft, in: Rauscher, A. (Hg.): Handbuch der Katholischen Soziallehre. Berlin 2008, 887-897.

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7.2 Wirtschaft Hengsbach, F.: Wirtschaftsethik. Aufbruch – Konflikte – Perspektiven. Freiburg 1991. Homann, K./Lütge, Ch.: Einführung in die Wirtschaftsethik. Münster 2. Aufl. 2005. 7.3 Familie Baumgartner, A.: Familienautonomie und Familienförderung. Sozialethische Anmerkungen zu einem familienpolitischen Spannungsverhältnis, in: Goldschmidt, N./Beestermöller, G./Steger, G. (Hg.): Die Zukunft der Familie und deren Gefährdungen (FS N. Glatzel). Münster 2002, 217222. Gestrich, A./Krause, J.-U./Mitterauer, M.: Geschichte der Familie. Stuttgart 2003. Kaufmann, F.-X.: Ehe und Familie zwischen kultureller Normierung und gesellschaftlicher Bedingtheit, in: Rauscher, A. (Hg.): Handbuch der Katholischen Soziallehre. Berlin 2008, 257-272. 7.4 Bildung Dabrowski, M./Wolf, J. (Hg.): Bildungspolitik und Bildungsgerechtigkeit. Paderborn 2008. Kirchenamt der EKD (Hg.): Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft. Eine Denkschrift. Gütersloh 2003.

Ausblick Wie sich die Gesellschaft weiter entwickeln wird, ist schwer absehbar. In welche Richtung es nicht gehen sollte, ist schon leichter zu sagen. Mehr Desgleichen, mehr Markt oder mehr Staat, mehr Spielraum für den Selbstlauf der verschiedenen Sachbereiche, dieser Weg scheint Folgen zu zeitigen, die wenigstens sehr risikoreich, wenn nicht hochproblematisch sind. Vor allem der Einfluss, der ganz offensichtlich von der Wirtschaft und ihrer Rationalitätsform ausgeht, muss zu denken geben. Sicherlich geht es nicht ohne Staat und Markt. Aber gerade angesichts der drängenden Probleme richtet sich die Aufmerksamkeit immer mehr auf das, was man den „sozialen Kontext“ nennen könnte, in den Staat und Markt eingebunden sind und ohne den sie ihre Aufgaben nicht erfüllen können. Was ist es, das Vertrauen bildet, was ist der Nährboden, der Verantwortung und Respekt wachsen lässt, was ist nötig, „damit Menschen den Mut finden, Irrtümer einzugestehen und neue Wege zu beschreiten“, so fragt sich das neue Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise von 2009.1 Diese Fragen richten sich an alle gesellschaftlichen Bereiche, auch an die Wirtschaft und die Politik. Wie können sie dazu beitragen, solches Wertbewusstsein zu fördern? Wie müssen sie organisiert werden, damit Freiheit und Verantwortung sich bilden können? Nicht eine „Freistellung“ von Moral ist die Lösung, etwa im Sinne von: die Moral gehört in die Rahmenordnung. Im jeweiligen Sachkontext muss nach Möglichkeiten der Vermittlung von Moral gesucht werden. Wirtschaftliches Handeln ohne Moral ist unethisch. Das ist auch deshalb so, weil unethisches Verhalten durch Strukturen, die „moralfreies“ Handeln belohnen, systematisch gefördert wird. Der Mensch bedarf in seinem Handeln der Unterstützung durch Ordnungen und Institutionen. Die Krisen, Umweltzerstörung, Armut, Arbeitslosigkeit, Korruption und Managerabzocke, verlangen sicherlich den höchsten Einsatz rechtlicher, technischer und wissenschaftlicher Mittel. Aber sie verlangen auch nach Orientierung, nach Vergewisserung der Grundlagen menschlichen Zusammenlebens. Letztlich geht es darum, dass der eigentliche Zweck, der Mensch als Person, nicht aus dem Blick gerät, sondern als „Träger, Schöpfer und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen“, wie es Papst Johannes XXIII. ausgedrückt hat, zum Zuge kommt. Diese Forderung ist unter Bedingungen hoher Komplexität,

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Ausblick

hoher Differenzierung und Vernetztheit, wie sie die moderne Gesellschaft kennzeichnen, sehr voraussetzungsvoll. Wie immer man die gesellschaftliche Entwicklung im Einzelnen prognostizieren mag, das sozialethische Anliegen, die Ordnungen und Institutionen so zu gestalten, dass sie dem Menschen zu sittlich fundierter humaner Entfaltung seines Daseins verhelfen, dieses Anliegen wird seine Dringlichkeit nicht verlieren.

Anmerkungen 1. Moral und Ethik in der modernen Gesellschaft 1 M. Gräfin Dönhoff: Gier nach Beute, in: Die Zeit 48 (1995) 11. 2 Vorerst ist es ausreichend, „Moral“ und „Ethik“ synonym und im umfassenden Sinne als Beschreibungen vom guten und richtigen Verhalten zu verstehen. 3 N. Luhmann: Wirtschaftsethik als Ethik? In: J. Wieland (Hg.): Wirtschaftsethik und Theorie der Gesellschaft. Frankfurt 1993, 134-147, 134. 4 M. Barth: Ethik im Angebot, in: ZeitPunkte 2 (1995) 6-9, 6. 5 K. Homann: Wider die Erosion der Moral durch Moralisieren, in: Forum für interdisziplinäre Forschung 11 (1993) 47-68, 47. 6 K. Homann: „Mut zur Zukunft“ – in Kleinmut verstrickt. Vom Pfeifen im dunklen Wald, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 39 (1995) 116-120, 117. 7 N. Luhmann: Wirtschaftsethik als Ethik? A.a.O., 139. 8 U. Beck: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt 1993, 260. 9 Ebd., 261. 10 W. Pannenberg: Grundlagen der Ethik. Philosophisch-theologische Perspektiven. Göttingen 1996, 15. 11 Ebd., 16. 12 Ebd., 17. 2. Was ist Sozialethik? 1 M. Kettner: Moral, in: M. Düwell/Ch. Hübenthal/M.H. Werner (Hg.): Handbuch Ethik. Stuttgart 2002, 410-414, 410. 2 Ebd. 3 U. Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt 1986, 256. 4 Vgl. U. Schimank: Ökologische Gefährdungen, Anspruchsinflationen und Exklusionsverkettungen – Niklas Luhmanns Beobachtungen der Folgeprobleme funktionaler Differenzierung, in: Ders./U. Volkmann (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. Eine Bestandsaufnahme. Opladen 2000, 125-142, 126. 5 Allerdings wollte Durkheim nicht einem Automatismus vertrauen. Es sollten vielmehr Regelsysteme entwickelt werden, zum Beispiel in Form von Korporationen, die das soziale Band fördern und garantieren, vgl. G. Wilhelms: Die Ordnung moderner Gesellschaft. Gesellschaftstheorie und christliche Sozialethik im Dialog. Stuttgart 1996, 50. 6 U. Schimank: Ökologische Gefährdungen, a.a.O., 127. 7 Ebd. 8 Ebd., 128. 9 U. Beck: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt 1993, 64. 10 Vgl. etwa R. Dahl: On Democracy. New Haven/London 1998 oder M.G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung. Opladen 3. Aufl. 2000, bes. 251ff. 11 J. Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt 1992, 426. Zur Kritik an der Systemtheorie vgl. ebd., 399-467, bes. 420ff. 12 Ebd., 427. 13 „Integration“ meint ganz allgemein den Zusammenhalt der Gesellschaft, eine Ordnung, die das Verhältnis von Person und Gesellschaft so gestaltet, dass den

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Anmerkungen

Personen die ihnen zukommende Rolle ermöglicht wird und dadurch der Gestaltungscharakter der Gesellschaft erhalten bleibt. J. Habermas: Faktizität und Geltung, a.a.O., 427f. Vgl. I. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Bd. VI (Werke in sechs Bänden, hrsg. von W. Weischedel). Darmstadt 1964, 33-50, 37f. A. Gulyga: Immanuel Kant. Eine Biographie. Frankfurt 2004, 165. Ebd. Vgl. B. Mandeville: Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile. Mit einer Einleitung von Walter Euchner. Frankfurt 2. Aufl. 1980. Vgl. A. Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen (1789) (hrsg. von H.C. Recktenwald). München 8. Aufl. 1999. E. Durkheim: Regeln der soziologischen Methode (1893). Berlin 2. Aufl. 1965, 105f., 114. Vgl. H. Willke: Systemtheorie. Eine Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer Systeme. Stuttgart 3. Aufl. 1991, 128. Ebd., 131. Vgl. etwa A. Anzenbacher: Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien. Paderborn 1997, 12. U. Beck: Risikogesellschaft, a.a.O., 295. Vgl. G. Wilhelms: Die Ordnung moderner Gesellschaft, a.a.O., 35f. U. Beck/E. Beck-Gernsheim: Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: Dies. (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt 1994, 10-39, 11f. Z. Baumann, zit. nach ebd., 13. G. Benn: Essays und Reden. Frankfurt 1979, 150f. A. Giddens: Konsequenzen der Moderne (1990). Frankfurt 1995, 85. A. Giddens: „Schöne neue Welt“. Der neue Kontext von Politik, in: Berliner Journal für Soziologie 4 (1994) 449-462, 450. Vgl. zu Giddens: Th. Kron: Anthony Giddens „Konsequenzen der Moderne“, in: U. Schimank/U. Volkmann (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I, a.a.O., 199-213. A. Giddens: Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie (1994). Frankfurt 1997, 23. Vgl. H. Hesse: Globalisierung, in: Lexikon der Wirtschaftsethik (hrsg. von G. Enderle u.a.). Freiburg 1993, 402-410, 407. Vgl. S.P. Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert (1996). München 6. Aufl. 1998, insbes. 49-57. Zu den wichtigsten soziologischen Gegenwartsdiagnosen vgl. U. Schimank/U. Volkmann (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I, a.a.O. U. Schimank: Individuelle Akteure: Opfer und Gestalter gesellschaftlicher Dynamiken, in: Ders./U. Volkmann (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen II. Vergleichende Sekundäranalysen. Opladen 2002, 367-389, 368. Zit. nach A. Schmieder: Individuum und gesellschaftliches Leben, in: H. Kerber/ Ders. (Hg.): Soziologie. Arbeitsfelder, Theorien, Ausbildung. Ein Grundkurs. Reinbek 1991, 18-42, 18. Zit. nach ebd. S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Gesammelte Werke Bd. XIV. Frankfurt 1948, 419-506, 434.

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A. Schmieder: Individuum und gesellschaftliches Leben, a.a.O., 18f. Ebd., 21. U. Beck: Risikogesellschaft, a.a.O., 211. U. Beck: Jenseits von Klasse und Stand? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: R. Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen 1983, 35-74, 46. U. Beck: Risikogesellschaft, a.a.O., 213. Ganz ähnliche strukturelle Zusammenhänge könnte man etwa am Beispiel des Städtebaus aufzeigen, vgl. A. Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt 1965. Ch. Hübenthal: Autonomie als Prinzip. Zur Neubegründung der Moralität bei Kant, in: G. Essen/M. Striet (Hg.): Kant und die Theologie. Darmstadt 2005, 95-128, 128. Th. Hausmanninger: Problemgeschichte philosophischer Ethik, in: M. HeimbachSteins (Hg.): Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch. Bd. 1 Grundlagen. Regensburg 2004, 113-164, 159. Vgl. W. Reese-Schäfer: Was ist Kommunitarismus? Frankfurt 1994. Vgl. Th. Hausmanninger: Problemgeschichte, a.a.O., 163. Hausmanninger ordnet anders zu: Antike und Mittelalter bestimmen die Individualethik als Dienerin der Sozialethik; Neuzeit und Moderne umgekehrt die Sozialethik als Dienerin der Individualethik. Diese Zuordnung halte ich aber für missverständlich. Schließlich war es kein Zufall, dass die „Sozialethik“ erst sehr spät als eigene Disziplin sich hat etablieren können. Die Sozialethik hat es zu tun mit der enormen Bedeutung der gesellschaftlichen Bedingungen und dem Anspruch auf Autonomie und Freiheit, den die Neuzeit auf den Weg gebracht hat und die zwangsläufig in ein Spannungsverhältnis zueinander geraten mussten. Vgl. E. Herms: Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik. Tübingen 1991, VIII. Ebd., XVII. Ebd., XXII.

3. Das Besondere christlicher Sozialethik 1 M. Heimbach-Steins: Sozialethik als kontextuelle theologische Ethik – Eine programmatische Skizze, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 43 (2002) 46-64, 46. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 O.H. Pesch: Frei sein aus Gnade. Theologische Anthropologie. Freiburg 1983, 33. 5 Vgl. G. Wilhelms: Über die ethische Dimension der Liturgie, in: Theologie und Glaube 97 (2007) 268-280. 6 M. Heimbach-Steins: Biblische Hermeneutik und christliche Sozialethik, in: Dies. (Hg.): Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch, Bd. 1 Grundlagen. Regensburg 2004, 83-110, 85. 7 A. Anzenbacher: Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien. Paderborn 1997, 36. 8 Ebd., 38. 9 M. Heimbach-Steins: Kirchliche Sozialverkündigung – Orientierungshilfe zu den Dokumenten, in: Dies. (Hg.): Christliche Sozialethik Bd. 1, a.a.O., 200-219, 200. 10 V. Eid: Christliches Ethos ist Gemeindeethos. Eine Skizze zur ekklesiologischen Situierung „christlicher Moral“, in: G. Mertens u.a. (Hg.): Markierungen der Humanität. Paderborn 1992, 81-90, 85.

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Anmerkungen

A. Anzenbacher, a.a.O., 29. M. Heimbach-Steins: Biblische Hermeneutik und christliche Sozialethik, in: Dies. (Hg.): Christliche Sozialethik Bd. 1, a.a.O., 83-110, 88. Die biblischen Zitate stammen aus: Die Bibel. Die hl. Schrift des Alten und Neuen Bundes. Deutsche Ausgabe mit den Erläuterungen der Jerusalemer Bibel (hrsg. von D. Arenhoevel/U. Schütz). Freiburg 1968. Vgl. W. Veith: Nachhaltigkeit, in: M. Heimbach-Steins (Hg.): Christliche Sozialethik Bd. 1, a.a.O., 302-314, 311. A. Anzenbacher: Christliche Sozialethik, a.a.O., 22. In diesem Zusammenhang müsste man auch auf das ältere Gesetz des Erlassjahres in Dtn 15,1-11 verweisen. Dabei geht es um einen alle sieben Jahre zu gewährenden Schuldenerlass. Ph. Nemo: Was ist der Westen? Die Genese der abendländischen Zivilisation. Tübingen 2005, 35. W. Schottroff: Gerechtigkeit lernen. Beiträge zur biblischen Sozialgeschichte (hrsg. von F. Crüsemann/R. Kessler). Gütersloh 1999, 17. Ebd., 18. J. Becker: Jesus von Nazareth. Berlin 1996, 282. Ebd. Ebd., 358. A. Anzenbacher: Christliche Sozialethik, a.a.O., 25. Vgl. A. Gignac: Neue Wege der Auslegung. Die Paulus-Interpretation von Alain Badiou und Giorgio Agamben, in: Zeitschrift für Neues Testament 9 (2006) 15-25; D. Finkelde: Politische Eschatologie nach Paulus. Badiou – Agamben – Žižek – Santner. Wien 2007. Th.W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Bd. 4 (Gesammelte Schriften, hrsg. von R. Tiedemann). Darmstadt 1997, 283. W. Pannenberg: Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie. Göttingen 6. Aufl. 1981, 13. Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Beschlüsse der Vollversammlung. Offizielle Gesamtausgabe I. Freiburg 1976, 95. Ebd., 96. E. Herms: Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik. Tübingen 1991, XXIX. Vgl. J.B. Metz (Hg.): Die Theologie der Befreiung: Hoffnung oder Gefahr für die Kirche? Düsseldorf 1986. W. Korff: Sozialethik, in: Staatslexikon, Bd. 4 (hrsg. von der Görres-Gesellschaft). Freiburg 7. Aufl. 1995, Sp. 1281-1290, Sp. 1288; zum Ganzen vgl. Kap. 2: Integrationsansätze christlicher Ethik, in: Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1 (hrsg. von A. Hertz/W. Korff u.a.). Freiburg 1993, 407-473. M. Kehl: Wohin geht die Kirche? Eine Zeitdiagnose. Freiburg 1996, 136. Die Zitate aus den Konzilsdokumenten stammen aus: Dogmatische Konstitution über die Kirche, in: K. Rahner/H. Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium. Alle Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen des Zweiten Vaticanums in der bischöflich genehmigten Übersetzung. Freiburg 1966. Vgl. W. Huber: Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche. Gütersloh 1998, 269. Huber aber hat vor allem die Verortung der Kirche in die Zivilgesellschaft im Blick und spricht von ihr als „intermediärer Institution“, denkt also an ihre funktionale Integration.

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O. Cullmann: Der Staat im Neuen Testament. Tübingen 1956, vgl. P. Mikat: Kirche und Staat, in: Staatslexikon, Bd. 3 (hrsg. von der Görres-Gesellschaft). Freiburg 7. Aufl. 1987, Sp. 470-474. Religion und Kunst haben diesbezüglich eine ähnliche Funktion. Man denke etwa an die soziale Kraft der Kunst, wie sie Josef Beuys beschrieben hat. Vgl. J. Beuys: Kunst heute, Nr. 1. J. Beuys im Gespräch mit K. Fischer und W. Smerling. Köln 1989.

4. Sozialethik in der Geschichte des Christentums 1 O. von Nell-Breuning: „Wir alle stehen auf den Schultern von Karl Marx“, in: Ders.: Den Kapitalismus umbiegen. Schriften zu Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Lesebuch (hrsg. von F. Hengsbach). Düsseldorf 1990, 188-196, 190. 2 Dieser geschichtliche Abschnitt kann nur eine ganz grobe Übersicht liefern und muss sich auf einige wenige, die jeweilige Zeit charakterisierende Beispiele konzentrieren. 3 F. Furger: Christliche Sozialethik. Grundlagen und Zielsetzung. Stuttgart 1991, 17. 4 Vgl. U. Berges/R. Hoppe: Arm und reich (Die Neue Echter Bibel. Themen Band 10). Würzburg 2009. 5 H. Haslinger: Diakonie. Grundlagen für die soziale Arbeit der Kirche. Paderborn 2009, 51. 6 A. Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, 589f. 7 Vgl. M. Mollat: Die Armen im Mittelalter. München 1984, 69. 8 Vgl. M. Heimbach-Steins: Sozialethische Spurensuche in der Geschichte von Christentum und Kirche, in: Dies. (Hg.): Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch, Bd. 1 Grundlagen. Regensburg 2004, 165-186, 176f u. vgl. A. Anzenbacher: Christliche Sozialethik. Paderborn 1997, 46. 9 W. Korff: Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik. München 1985, 101. 10 H. Haslinger: Diakonie, a.a.O., 62. 11 Ebd., 63. 12 M. Heimbach-Steins: Sozialethische Spurensuche, a.a.O., 179. 13 J. Hirschberger: Geschichte der Philosophie. Neuzeit und Gegenwart. Freiburg 10. Aufl. 1979, 4f. 14 W. Korff: Wie kann der Mensch glücken? A.a.O., 104. 15 F. Furger: Christliche Sozialethik, a.a.O., 20. 16 Ebd., 21. 17 Ebd., 22. 18 Ebd., 23. 19 K. Rahner: Katholizismus. Begriff, in: LThK, Bd. 6 (hrsg. von J. Höffner/K. Rahner). Freiburg 2. Aufl. 1961, Sp. 88f. 20 H. Hürten: Kurze Geschichte des deutschen Katholizismus 1800-1860. Mainz 1986, 11. 21 Ebd., 12. 22 Ebd., 9. 23 Ebd., 47. 24 Zit. nach E. Iserloh (Hg.): Wilhelm Emmanuel von Ketteler 1811-1877, Bd. 4 (Quellentexte zur Geschichte des Katholizismus). Paderborn 1990, 82. 25 F.J. Stegemann/P. Langhorst: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, in: H. Grebing (Hg.): Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland.

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Anmerkungen

Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch. Essen 2000, 599-862, 619. Zit. nach ebd., 621f. Zit. nach ebd., 619. Vgl. ebd., 656. Ebd., 677. Ebd., 678. Ebd., 679. Ebd., 682. M.-D. Chenu: Kirchliche Soziallehre im Wandel. Das Ringen der Kirche um das Verständnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Fribourg 1991, 13. Ebd., teilw. zit. Römische Bischofssynode: De iustitia in mundo, in: Texte zur katholischen Soziallehre (hrsg. vom Bundesverband der Kath. Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands, KAB). Kevelaer 8. Aufl. 1992, Nr. 6. Ebd., 13f. M. Heimbach-Steins: Kirchliche Sozialverkündigung – Orientierungshilfe zu den Dokumenten, in: Dies. (Hg.): Christliche Sozialethik Bd. 1., a.a.O., 200-219, 202. Ebd., 201. O. von Nell-Breuning: Soziallehre der Kirche. Erläuterungen der lehramtlichen Dokumente. Wien 1977, 18f. M.-D. Chenu: Kirchliche Soziallehre im Wandel, a.a.O., 18. Leo XIII.: Rerum novarum, in: Texte zur katholischen Soziallehre, a.a.O., Nr. 2 u. 16. M.-D. Chenu: Kirchliche Soziallehre im Wandel, a.a.O., 21. O. von Nell-Breuning: Soziallehre der Kirche, a.a.O., 35. Ebd., 46. M.-D. Chenu: Kirchliche Soziallehre im Wandel, a.a.O., 39. F. Furger: Sozialethik – warum eigentlich? In: Ders. u.a. (Hg.): Einführung in die Sozialethik. Münster 1996, 11-27, 21. Pius XI.: Quadragesimo anno, in: Texte zur katholischen Soziallehre, a.a.O., Nr. 79. Mit „Leistungsgemeinschaften“, so wurden die Berufsstände später genannt, sind Körperschaften gemeint, „in denen alle an einer bestimmten sozialen Leistung beteiligten Menschen zusammengeschlossen sind, gleich, ob sie als Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, in leitender oder bloß ausführender Tätigkeit beteiligt sind. Die Leistungsgemeinschaften sind für das Individuum frei wählbar und wechselbar (anders als die alten Berufsstände, G.W.) und sind genossenschaftlich einander nebengeordnet. (...) Die Leistungsgemeinschaften sollen Körperschaften des öffentlichen Rechts sein, mit weitgehender Autonomie gegenüber der staatlichen Gewalt.“ (N. Monzel: Die katholische Kirche in der Sozialgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (hrsg. von T. Herweg/K.H. Grenner). München 1980, 273.) Auch nicht im Italien Mussolinis, im Gegenteil: gegen dessen faschistischen Korporationenstaat hat der Papst eine ironisch verkleidete vernichtende Kritik geübt (vgl. Quadragesimo anno Nr. 91-96); auch nicht in der sogenannten österreichischen Maiverfassung. Was der Papst vor allem ablehnte war die zentrale Stellung des Staates und die politische Indienstnahme der Ständeidee für solchen Zentralismus. Vgl. O. von Nell-Breuning: Soziallehre der Kirche, a.a.O., 74; F. Furger: Christliche Sozialethik, a.a.O., 38f.

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Vgl. F. Furger: Christliche Sozialethik, a.a.O., 40. Sicherlich hat die Neuscholastik, die hinter dem Antimodernismus stand, insbesondere in ihrem Rekurs auf das klassische Naturrecht, auch sehr positiv gewirkt. Sie hat das ethisch-rechtliche Argumentieren an den Begriff des Menschen als Person zurückgebunden und den Gemeinwohlbegriff erneuert und damit Gesellschaftstheorie wie Politik daran erinnert, dass dem Menschen Normatives, Unbeliebiges vorgegeben und aufgegeben ist. (Vgl. etwa A. Anzenbacher: Christliche Sozialethik, a.a.O., 133ff.) Außerdem kann die naturrechtliche Argumentation sogar davor bewahren, sich auf bestimmte, historische Ordnungen festzulegen und sie absolut zu setzen. Denn die naturrechtlichen Ordnungen und Normen können nur ganz allgemeiner Art sein; jede Anwendung dieser Normen lässt also verschiedene Möglichkeiten ihrer Verwirklichung zu. Das kann sie vielleicht; tatsächlich hat sie aber zu häufig das Gegenteil bewirkt. (vgl. etwa J.F. Stegemann/P. Langhorst: Geschichte der sozialen Ideen, a.a.O., 658; die sich auf Georg Freiherr von Hertling berufen). M.-D. Chenu: Kirchliche Soziallehre im Wandel, a.a.O., 68f. Ebd., 84. Vgl. M. Heimbach-Steins: Kirchliche Sozialverkündigung, a.a.O., 208. Paul. VI.: Octogesima adveniens, in: Texte zur katholische Soziallehre, a.a.O., Nr. 4. Vgl. den sogenannten Wirtschaftshirtenbrief der amerikanischen Bischöfe von 1986 und den sogenannten Sozialhirtenbrief der Österreichischen Bischöfe von 1990. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland (hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz). Bonn 1997. Ebd., Nr. 2. Ebd., Nr. 53. Ebd., Nr. 156. Ebd., Nr. 221. Ebd., Nr. 253. Vgl. O. von Nell-Breuning: Soziallehre der Kirche, a.a.O., 11. Vgl. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, a.a.O., Nr. 4.

5. Sozialethische Begründungsversuche 1 K. Hilpert: Sozialethik, in: P. Eicher (Hg.): Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 4. Neuausgabe München 2005, 160-173, 162f. 2 Auch wenn die wissenschaftliche Disziplin noch heute unter verschiedenen Titeln firmiert, so hat sich doch vom Selbstverständnis her die Bezeichnung „Sozialethik“ durchgesetzt. 3 O. Höffe: Naturrecht I. Begriff und Problematik, in: Staatslexikon, Bd. 3 (hrsg. von der Görres-Gesellschaft). Freiburg 7. Aufl. 1995, Sp. 1296-1299, 1296. 4 A. Anzenbacher: Sozialethik als Naturrechtsethik, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 43 (2002) 14-32, 15. Allerdings muss man berücksichtigen, dass wir zwischen der Sache, dem Wesen des Menschen, und dem Begriff von der Sache zu unterscheiden haben. Wenn wir also von der „Natur“ sprechen, kann es nur darum gehen, die in den Begriffen vom Menschen enthaltenen „Sinnansprüche“ auf einen diskursfähigen Begriff zu bringen. 5 W. Korff: Norm und Sittlichkeit. Untersuchungen zur Logik der normativen Vernunft. Freiburg 2. Aufl. 1985, 7.

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Vgl. E. Wolf/R. Brandt u.a.: Naturrecht. IV. Neuzeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6 (hrsg. von J. Ritter/K. Gründer). Darmstadt 1984, Sp. 560623, 585ff. J. Habermas: Naturrecht und Revolution (1963), in: Ders.: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien. Frankfurt 1978, 89-127, 90f. A. Anzenbacher: Sozialethik als Naturrecht, a.a.O., 22. Der „materiale Gehalt“ wird zur sittlichen Aufgabe der Freiheit; die Tugenden, die Wert- und Sinnoptionen des guten Lebens, werden privatisiert und damit der freien „kommunitären Gesellschaftstätigkeit und ihrem Ethos“ zugerechnet. Vgl. ebd., 23f. Ebd., 25. Ein anderes treffendes Beispiel: „Wenn sich die öffentlichen (Schul-)Träger nicht darauf beschränken wollen, Erziehung und Bildung auf den Bedarf der diversen Teilsysteme hin zu instrumentalisieren, sondern wenn sie bestrebt sind, darüber hinaus ganzheitlich zu erziehen und zu bilden, Wert- und Sinnoptionen sowie Grundorientierungen des guten Lebens zu vermitteln, dann stellt sich die Frage nach ihrer diesbezüglichen Kompetenz in der weltanschaulich-pluralistischen modernen Gesellschaft (...).“ (Ebd., 26f.) E.W. Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt 1976, 60. W. Korff: Norm und Sittlichkeit, a.a.O., 11. A. Anzenbacher: Sozialethik als Naturrecht, a.a.O., 28. Ebd., 29. Ebd. Zu den Begründern dieser Schule zählen insbesondere Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Erich Fromm. H.-J. Höhn: Sozialethik im Diskurs. Skizzen zum Gespräch zwischen Diskursethik und Katholischer Soziallehre, in: E. Arens (Hg.): Habermas und die Theologie. Beiträge zur theologischen Rezeption, Diskussion und Kritik der Theorie kommunikativen Handelns. Düsseldorf 1989, 179-198, 182. M. Funken: Vom Außenseiter zum geachteten Intellektuellen, in: Ders. (Hg.): Über Habermas. Gespräche mit Zeitgenossen. Darmstadt 2008, 13-34, 26. H.-J. Höhn: Konsens und Konflikt. Diskursethik als Paradigma einer Christlichen Sozialethik, in: M. Heimbach-Steins/A. Lienkamp/J. Wiemeyer (Hg.): Brennpunkt Sozialethik. Theorie, Aufgaben, Methoden. Freiburg 1995, 135-151, 141. O. Höffe: Ethik des kategorischen Imperativs, in: A. Pieper (Hg.): Geschichte der neueren Ethik, Bd. 1. Tübingen 1992, 124-150, 145, kursiv: G.W. Ebd., 146. Vgl. etwa W. Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt 1994, 180ff. I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, in: Ders.: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Bd. IV (Werke in sechs Bänden, hrsg. von W. Weischedel). Darmstadt 1983, 103-302, 300. H.-J. Höhn: Sozialethik im Diskurs, a.a.O., 185. Ebd., 186. W. Kersting: Kontraktualismus, in: M. Düwell/Ch. Hübenthal/M.H. Werner (Hg.): Handbuch Ethik. Stuttgart 2002, 163-178, 176. Ebd.; vgl. auch Ders.: John Rawls zur Einführung. Hamburg 1993. Zur Kritik an John Rawls vgl. den sogenannten Kommunitarismus: W. Reese-Schäfer: Was ist Kommunitarismus? Frankfurt 1994.

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Ob er deshalb für eine christliche Sozialethik besser als Gesprächspartner taugt ist zweifelhaft – richtet sich ihr Anspruch doch an einem grundlegenden, unhintergehbaren Verständnis vom Menschen und seiner Gesellschaft aus. H.-J. Höhn: Sozialethik im Diskurs, a.a.O., 196. Ebd. H.-J. Höhn: Konsens und Konflikt, a.a.O., 148f. Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Beschlüsse der Vollversammlung. Offizielle Gesamtausgabe I (hrsg. im Auftrag des Präsidiums der Gemeinsamen Synode). Freiburg 1976, 95. H.-J. Höhn: Konsens und Konflikt, a.a.O., 150. O. Bayer: Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik. Tübingen 1995, 13. J. von Soosten: Sünde und Gnade und Tugend und Moral. Die Erbschaft der religiösen Traditionen, in: C. Zahlmann (Hg.): Kommunitarismus in der Diskussion. Eine streitbare Einführung. Berlin 1994, 48-56, 55. J. Werbick: Vom entscheidend und unterscheidend Christlichen. Düsseldorf 1992, 117. W. Korff: Institutionstheorie: Die sittliche Struktur gesellschaftlicher Lebensform, in: A. Hertz u.a. (Hg.): Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1. Freiburg 1993, 168-176, 173. Th. Hausmanninger: Grundlegungsfragen der Christlichen Sozialethik als Strukturenethik auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 43 (2002) 185-203, 196f. Allerdings ist kaum nachvollziehbar, wieso eine „methodische Entkoppelung“ von Begründung und Anwendung, wie sie etwa von Michael Schramm vorgeschlagen wird, das Problem lösen soll (vgl. M. Schramm: Kontingenzeröffnung und Kontingenzmanagement – Christliche Sozialethik als theologische Systemethik, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 43 (2002) 85-116.) Vgl. etwa W. Korff: Grundzüge einer künftigen Sozialethik, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 24 (1983) 29-49, 39ff. W. Korff: Sozialethik, in: Staatslexikon, Bd. 4 (hrsg. von der Görres-Gesellschaft). Freiburg 7. Aufl. 1995, Sp. 1281-1290, 1286f. Man denke nur an die aktuelle politikwissenschaftliche Debatte über das Phänomen der sogenannten „Postdemokratie“; es geht um Politikverdrossenheit, Sozialabbau, Privatisierung und ihre Folgen für die Demokratie. Vgl. C. Crouch: Postdemokratie. Frankfurt 2008. W. Korff: Sozialethik, a.a.O., Sp. 1287. Ebd. Ebd. Ebd., Sp. 1283. M. Möhring-Hesse: „Eigentlich gerecht“ gibt es nicht – Drei kritische Anmerkungen zu Michael Schramms „theologischer Systemethik“, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 43 (2002) 126-137, 132. K. Homann/I. Pies: Wirtschaftsethik in der Moderne: Zur ökonomischen Theorie der Moral, in: Ethik und Sozialwissenschaften 5 (1994) 3-12, 6.

6. Zentrale Begriffe und Prinzipien 1 Johannes XXIII.: Mater et magistra, in: Texte zur katholischen Soziallehre (hrsg. vom Bundesverband der Kath. Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands, KAB). Kevelaer 8. Aufl. 1992, Nr. 218-220. Diese Aussage und damit die ganze katholische Soziallehre, so hat sich Nell-Breuning immer wieder ausgedrückt, lässt sich

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Anmerkungen

„auf einen Fingernagel schreiben“ (vgl. O. von Nell-Breuning: Soziallehre der Kirche. Erläuterungen der lehramtlichen Dokumente. Wien 1977, 20 u.v.a.) Wobei die in letzter Zeit häufiger diskutierten Fragen, welchen Umfang eine solche Liste haben sollte und in welchem Verhältnis die Begriffe zueinander stehen, vernachlässigt werden kann, geht es doch in allen hier aufgeführten Begriffen um das Verhältnis von Person und Gesellschaft und sind doch die verschiedenen Begriffe, die dieses Verhältnis aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu bestimmen versuchen, weitgehend durch ihren historischen Entstehungskontext, die Einbettung in ganz bestimmte gesellschaftliche krisenhafte Umstände aufzuklären. O. von Nell-Breuning: Baugesetze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität. Freiburg 1990, 15. Ebd. A. Baumgartner: Personalität, in: M. Heimbach-Steins (Hg.): Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch, Bd. 1 Grundlagen. Regensburg 2004, 265-269, 266. P. Biehl/K.E. Nipkow: Bildung und Bildungspolitik in theologischer Perspektive. Münster 2003, 40. Vgl. O. Höffe: Gerechtigkeit, in: Ders. (Hg.): Lexikon der Ethik. München 7. Aufl. 2008, 96-100, 97. Vgl. H. Wulsdorf: Nachhaltigkeit. Ein christlicher Grundauftrag in einer globalisierten Welt. Regensburg 2005, 39. T. Rendtorff: Vom ethischen Sinn der Verantwortung, in: A. Hertz u.a. (Hg.): Handbuch der Christlichen Ethik, Bd. 3. Freiburg 1993, 117-129, 117f. O. von Nell-Breuning: Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre. Wien 1980, 342. A. Baumgartner/G. Putz: Vorwort, in: Dies. (Hg.): Sozialprinzipien. Leitideen in einer sich wandelnden Welt (Salzburger Theologische Studien 18). Innsbruck 2001, 7. A. Baumgartner/W. Korff: Sozialprinzipien als ethische Baugesetzlichkeiten moderner Gesellschaft: Personalität, Solidarität und Subsidiarität, in: Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 1. Gütersloh 1999, 225-237, 225. Vgl. K. Bayertz (Hg.): Solidarität. Begriff und Problem. Frankfurt 1998. A. Baumgartner: Solidarität und Liebe, in: Ders./G. Putz (Hg.): Sozialprinzipien, a.a.O., 91-106, 94. Ebd., 95. Vgl. G. Wilhelms: Die Ordnung moderner Gesellschaft. Gesellschaftstheorie und christliche Sozialethik im Dialog. Stuttgart 1996, 49. A. Baumgartner: Solidarität und Liebe, a.a.O., 96. O. von Nell-Breuning: Gerechtigkeit und Freiheit, a.a.O., 46. A. Baumgartner: Freiheit und Solidarität. Anmerkungen zur Zuordnungsproblematik sozialethischer Grundbegriffe, in: Ders./G. Putz (Hg.): Sozialprinzipien, a.a.O., 79-90, 83. Vgl. ebd. K. Homann: Gerechtigkeit und Wirtschaftsordnung, in: W. Ernst (Hg.): Gerechtigkeit in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Freiburg 1992, 115-133, 131. Vgl. A. Baumgartner: Solidarität, in: M. Heimbach-Steins (Hg.): Christliche Sozialethik, a.a.O., 291. K.O. Hondrich/C. Koch-Arzberger: Solidarität in der modernen Gesellschaft. Frankfurt 1992, 29. A. Waschkuhn: Was ist Subsidiarität? Ein sozialphilosophisches Ordnungsprinzip: von Thomas von Aquin bis zur „Civil Society“. Opladen 1995, 17.

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Pius XI: Quadragesimo anno, in: Texte zur katholischen Soziallehre, a.a.O., Nr. 79. O. von Nell-Breuning: Subsidiarität – ein katholisches Prinzip? In: Ders.: Den Kapitalismus umbiegen. Schriften zu Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Lesebuch (hrsg. von F. Hengsbach). Düsseldorf 1990, 349-370, 350. Ebd. Ebd., 352. Ebd., 356f. P. Koslowski: Subsidiarität als Prinzip der Koordination der Gesellschaft, in: K.W. Nörr/Th. Oppermann (Hg.): Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit. Zur Reichweite eines Prinzips in Deutschland und Europa. Tübingen 1997, 39-48, 46. Vgl. ebd., 44. „In Auswirkung des individualistischen Geistes ist es so weit gekommen, daß das einst blühend und reichgegliedert in einer Fülle verschiedenartiger Vergemeinschaftungen entfaltete menschliche Gesellschaftsleben derart zerschlagen und nahezu ertötet wurde, bis schließlich fast nur noch die Einzelmenschen und der Staat übrigblieben – zum nicht geringen Schaden für den Staat selber.“ (Quadragesimo anno Nr. 78) Vgl. O. Höffe: Subsidiarität als staatsphilosophisches Prinzip, in: K.W. Nörr/Th. Oppermann (Hg.): Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit, a.a.O., 49- 67, 55. Zum Kommunitarismus vgl. W. Reese-Schäfer: Was ist Kommunitarismus? Frankfurt 1994. Die Kommunitarier machen vor allem darauf aufmerksam, dass der Liberalismus seine eigenen Grundlagen zerstört. Hierher gehört auch die Frage nach der Demokratisierung der gesellschaftlichen Bereiche, vgl. etwa U. Beck: Die Erfindung des Politischen, a.a.O., bes. die Kap. Vff. Zit. nach F.-X. Kaufmann: Der Ruf nach Verantwortung. Risiko und Ethik in einer unüberschaubaren Welt. Freiburg 1992, 10. F.-X. Kaufmann: Der Ruf nach Verantwortung, a.a.O., 11. Vgl. H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt 1979. Vgl. G. Wilhelms: Wie kann „systemische Verantwortung” gedacht werden? In: Ethica 5 (1997) 167-191. T. Rendtorff: Vom ethischen Sinn von Verantwortung, a.a.O., 119. T. Rendtorff: Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, Bd. 1. Stuttgart 2. Aufl. 1990, 179f. Ebd. Diese Skepsis gegenüber dem Gerechtigkeitsbegriff findet sich aber auch in der modernen Gesellschaftstheorie und zwar in der prominenten soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann (verstorben 1998): Insofern Gerechtigkeit eine funktionsunspezifische Normativität meint, ist für sie in der modernen Gesellschaft kein Platz, weil diese sich aus relativ autonomen Bereichen zusammensetzt, die von einer je anderen, eben funktionsspezifischen Normativität bestimmt ist. Vgl. W. Kerber: Sozialethik (Grundkurs Philosophie 13). Stuttgart 1998, 80. Wobei man eigens über den hinter der Gerechtigkeit stehenden Freiheitsbegriff nachdenken müsste, der heute wie früher typischen Restriktionen unterliegt bzw. unterlag. F. Hengsbach: Die andern im Blick. Christliche Gesellschaftsethik in den Zeiten der Globalisierung. Darmstadt 2001, 88. Vgl. A. Krebs: Einleitung: Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, in: Dies.: Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt 2000, 7-37.

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N. Fraser: Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Identitätspolitik. Umverteilung, Anerkennung und Beteiligung, in: Dies./A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt 2003, 13-128, 55. A. Honneth: Die Pointe der Anerkennung. Eine Entgegnung auf die Entgegnung, in: N. Fraser/Ders.: Umverteilung oder Anerkennung? A.a.O., 271-305, 298. Ch. Horn: Einführung in die Politische Philosophie. Darmstadt 2003, 100. N. Fraser: Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Identitätspolitik, a.a.O., 13-128, 38. Vgl. H. Wulsdorf: Nachhaltigkeit. Ein christlicher Grundauftrag in einer globalisierten Welt. Regensburg 2005, 15f. Zit. nach V. Hauff (Hg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Greven 1987, 46. H. Wulsdorf: Nachhaltigkeit, a.a.O., 21. U. Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt 1986, 295. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg): Handeln für die Zukunft der Schöpfung (Die deutschen Bischöfe – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen 19). Bonn 1998, Nr. 148.

7. Gesellschaft gestalten 1 Klassischerweise wird der Staat als Gegenüber der Gesellschaft interpretiert; aus sozialwissenschaftlicher Sicht bezeichnet er häufig ein Subsystem der Gesellschaft und wird außerdem ersetzt durch die drei Bereiche Politik, Recht und Bürokratie. Zu den Begriffen von Politik und ihren Funktionen vgl. Th. Meyer: Was ist Politik? Opladen 2000, 15-99. 2 H. Willke: Systemtheorie entwickelter Gesellschaften. Dynamik und Riskanz moderner gesellschaftlicher Selbstorganisation. Weinheim 2. Aufl. 1993, 69. 3 H. Willke: Systemtheorie. Eine Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer Systeme. Stuttgart 3. Aufl. 1991, 59. 4 A. Anzenbacher: Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien. Paderborn 1997, 50f. 5 Ebd. 6 I. Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Bd. VI (Werke in sechs Bänden, hrsg. von W. Weischedel). Darmstadt 1964, 53-61, 53. 7 S. Dietzsch: Immanuel Kant. Eine Biographie. Leipzig 2003, 202. 8 Vgl. etwa A. Anzenbacher: Christliche Sozialethik, a.a.O., 62ff. 9 G. Wilhelms: Die Ordnung moderner Gesellschaft. Gesellschaftstheorie und christliche Sozialethik im Dialog. Stuttgart 1996, 152. 10 Vgl. E.W. Böckenförde: Staat und Gesellschaft, in: Staatslexikon, Bd. 5 (hrsg. von der Görres-Gesellschaft). Freiburg 7. Aufl. 1989, Sp. 228-235, 233. Auch Böckenförde sieht mit den modernen Gesellschaftstheorien die Grenzen der staatlichen Regulierungskraft. Das wichtigste Steuerungsinstrument, das regulatorische Recht, kommt auch aus seiner Sicht angesichts der Komplexität der Lebensverhältnisse mehr und mehr an die Grenzen seiner Wirksamkeit. 11 A. Anzenbacher: Christliche Sozialethik, a.a.O., 64. 12 Ebd. 13 C. Crouch: Postdemokratie (2003). Frankfurt 2008, 8f. 14 Ebd., 9f. 15 Ebd., 13.

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Vgl. G. Wilhelms: Die Ordnung moderner Gesellschaft, a.a.O., 156. Ulrich Beck hat dieses Phänomen mit Hilfe des Begriffs „Subpolitik“ zu beschreiben versucht: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt 1993, 149-171. Vgl. die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips und die Tradition lehramtlicher Verkündigung. Vgl. etwa R. Dahl: On Democracy. New Haven/London 1998. Vgl. dazu M.G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung. Opladen 3. Aufl. 2000, bes. 251ff. J. Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt 1992, 426f. Zur Kritik an der Systemtheorie vgl. ebd., 399-467, bes. 426. Vgl. G. Kneer: Zivilgesellschaft, in: Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen. München 1997, 228-251, 245ff. J. Habermas: Faktizität und Geltung, a.a.O., 427. Vgl. ebd., 427f. Weil die „aktiven, an der Gestaltung des öffentlichen Lebens interessierten Bürger“ das „wahre Wesen der idealtypischen Demokratie“ (Postdemokratie, a.a.O., 140) ausmachen, deshalb will Crouch nicht wie üblich an die politische Klasse appellieren, die demokratische Qualität unseres Gemeinwesens zu verbessern, will sich aber auch nicht auf die „sozialen Bewegungen“ verlassen und schlägt eine Kombination von sozialen Bewegungen und Parteien vor. H. Willke: Systemtheorie entwickelter Gesellschaften, a.a.O., 139. Ebd., 140. J. Habermas: Faktizität und Geltung, a.a.O., 387. C. Offe: Fessel und Bremse. Moralische und institutionelle Aspekte „intelligenter Selbstbeschränkung“, in: A. Honneth u.a. (Hg.): Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag. Frankfurt 1989, 739-774, 748. M. Müller: Der Geist aus der Flasche, in: Die Zeit 10 (1995) 23f. Vgl. G. Wilhelms: Die Ordnung moderner Gesellschaft, a.a.O., 9f. Zu denken ist vor allem an die sogenannte „business ethics“ in den USA . P. Ulrich: Wirtschaftsethik auf der Suche nach der verlorenen ökonomischen Vernunft, in: Ders. (Hg.): Auf der Suche nach einer modernen Wirtschaftsethik. Stuttgart 1990, 179-226, 179. Vgl. K. Homann: Wirtschaftsethik: Versuch einer Bilanz und Forschungsaufgaben, in: Th. Beschorner u.a. (Hg.): Wirtschafts- und Unternehmensethik. Rückblick, Ausblick, Perspektiven. München 2005, 197-211, 198. Vgl. den Versuch von H.-J. Giegel: Steuerung des ökonomischen Systems durch moralische Orientierungen? In: Forum für Philosophie Bad Homburg. S. Blasche/ W.R. Köhler/P. Rohs (Hg.): Markt und Moral. Die Diskussion um die Unternehmensethik. Bern 1994, 37-73, 41ff; er spricht von „konstitutiven Diskursen“. Auf die Vor- und Nachteile dieser Ethik müssen wir an dieser Stelle nicht näher eingehen. P. Ulrich: Integrative Wirtschafts- und Unternehmensethik – ein Rahmenkonzept, in: Forum für Philosophie Bad Homburg. S. Blasche/W.R. Köhler/P. Rohs (Hg.): Auf der Suche nach einer modernen Wirtschaftsethik. Lernschritte zu einer reflexiven Ökonomie, a.a.O., 75-107, 83. K. Homann: Wirtschaftsethik, in: Lexikon der Wirtschaftsethik (hrsg. von G. Enderle u.a.). Freiburg 1993, Sp. 1286-1296, 1290. K. Homann. Gerechtigkeit und Wirtschaftsordnung, in: W. Ernst (Hg.): Gerechtigkeit in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Freiburg 1992, 115-133, 131.

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Anmerkungen

A. Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen (1789) (hrsg. von H.C. Recktenwald). München 8. Aufl. 1999, 17 u. 371. Vgl. O. von Nell-Breuning: Wie kam es zur Montan-Mitbestimmung? In: Ders: Den Kapitalismus umbiegen. Schriften zu Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Lesebuch (hrsg. von F. Hengsbach). Düsseldorf 1990, 291-302, 292. Mit Blick auf die Mitbestimmung fragt er, ob eine solche genüge, „um den Kapitalismus entweder zu überwinden oder ihn doch grundlegend zu wandeln? Ihn, wenn man ihn nicht brechen kann, so doch zu biegen?“ Ich denke dabei vor allem an die Eigendynamik, ja Eigensinnigkeit der mit der funktionalen Differenzierung einhergehenden gesellschaftlichen Prozesse, hier die der Wirtschaft. Ein großes Problem ist sicherlich, dass der Nationalstaat im Zuge der Globalisierung als solche Kraft zunehmende ausfällt und eine weltweit gestaltende politische Kraft nicht in Sicht ist. Der übrigens in kaum einem Geschichtswerk ökonomischen Denkens fehlt. O. von Nell-Breuning: Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre. Wien 1980, 34. Auch das Zweite Vatikanische Konzil hat mit der Anerkennung der Autonomie der irdischen Wirklichkeiten ein entsprechendes Zeichen gesetzt. Th. Meyer: Das „Ende der Familie“ – Szenarien zwischen Mythos und Wirklichkeit, in: U. Schimank/U. Volkmann (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen II. Vergleichende Sekundäranalysen. Opladen 2002, 199-224, 210. Vgl. Deutsche Shell Holding (Hg.): Jugend 2006. 15. Shell Jugendstudie. Frankfurt 2006. C. Lévi-Strauss: Vorwort, in: A. Burguière u.a. (Hg.): Geschichte der Familie, Bd. 1. Darmstadt 1996, 9-15, 14f. A. Gestrich/J.-W. Krause/M. Mitterauer: Geschichte der Familie. Stuttgart 2003, 403. Ebd., 401. Vgl. R. Nave-Herz: Über die Gegenwart prägende Prozesse familialer Veränderungen. Thesen und Anti-Thesen, in: H.G. Krüsselberg/H. Reichmann (Hg.): Zukunftsperspektive Familie und Wirtschaft. Grafschaft 2002, 133-150, 142f. H. Tyrell: Familie und Religion im Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung, in: V. Eid/L. Vaskovics (Hg.): Wandel der Familie – Zukunft der Familie. Mainz 1982, 19-74, 57. Ebd., 56. Vgl. u.a. F.-X. Kaufmann: Zukunft der Familie. Stabilität, Stabilitätsrisiken und Wandel der familialen Lebensformen sowie ihre gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, Bd. 10 (Perspektiven und Orientierungen. Schriftenreihe des Bundeskanzleramtes). München 1990, 132ff. Vgl. A. Gestrich: Geschichte der Familie, a.a.O., 367. Ebd., 146f. Ebd., 147. Johannes Huinink spricht sogar von „modernisierungs-resistenten“ Motiven der Familienbildung und meint vor allem „persönliche Affirmation“ als Bedingung für eine gelingende Ich-Identitätsbildung. Vgl. J. Huinink: Warum noch Familie? Zur Attraktivität von Partnerschaft und Elternschaft in unserer Gesellschaft. Frankfurt 1995; vgl. auch F.-X. Kaufmann: Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen. Frankfurt 2005, 138, der u.a. auf Huinink Bezug nimmt.

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F.-X. Kaufmann: Zukunft der Familie, a.a.O., 85. V. Eid: Elemente einer theologisch-ethischen Lehre über die Familie, in: Ders./L. Vaskovics: Wandel der Familie – Zukunft der Familie. Mainz 1982, 179-200, 189f. Ebd., 185. Ebd., 185f. Vgl. J. Coleman: Die asymmetrische Gesellschaft. Vom Aufwachsen in unpersönlichen Systemen. Weinheim 1986. Th.W. Adorno: Individuum und Organisation (1953), in: Soziologische Schriften I, Bd. 8 (Gesammelte Schriften, hrsg. von R. Tiedemann). Frankfurt 1997, 440456, 441 u. 451f. Vgl. ebd., 451f. Vgl. Ch. Eckstein: Geschlechtergerechte Familienpolitik. Wahlfreiheit als Leitbild für die Arbeitsteilung in der Familie. Stuttgart 2009. Bildung in Deutschland 2008. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I (hrsg. von der Autorengruppe Bildungsberichterstattung im Auftrag der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung). Bielefeld 2008, 6. Ebd. Vgl. M. Heimbach-Steins: Bildung und Chancengleichheit, in: Dies. (Hg.): Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch, Bd. 2 Konkretionen. Regensburg 2005, 50-81, 52 oder 61. Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen: Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland, Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen, Teil III, Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage. Bonn 1997, 44f. So urteilt auch die evangelische Denkschrift: Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh 2003, 58f. Vgl. C. Menze: Bildung, in: Staatslexikon, Bd. 1 (hrsg. von der Görres-Gesellschaft). Freiburg 7. Aufl. 1995, Sp. 783-796, 785. Vgl. Maße des Menschlichen, a.a.O., 55. A. Anzenbacher: Bildungsbegriff und Bildungspolitik, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 40 (1999) 12-37, 24. Ebd., 25. Ebd., 26. Ebd., 27. Ebd. Ein solches Verständnis von Armut entspricht der biblischen Option, die im Kern darauf zielt, um mit dem Gemeinsamen Wort der Kirchen von 1997 zu sprechen, „Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen.“ Diese Option lenkt den Blick auf die „Empfindungen der Menschen, auf Kränkungen und Demütigungen von Benachteiligten, auf das Unzumutbare, das Menschenunwürdige, auf strukturelle Ungerechtigkeit“ (Nr. 107) und führt sie auf gesellschaftliche Ausgrenzung zurück. Vgl. A. Anzenbacher: Bildungsbegriff und Bildungspolitik, a.a.O., 27. D.h. aber nicht, dass nicht zugleich von einer ausgeprägten Autonomie und Selbstgenügsamkeit der gesellschaftlichen Subsysteme ausgegangen werden dürfte. Im Gegenteil: Es ist gerade die „gesellschaftliche Konstruktion“ des Einzelnen, die die Eigensinnigkeit der Systeme so problematisch macht. Hierher gehörte etwa die

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von Habermas und Luhmann geführte gesellschaftstheoretische Debatte über das Verhältnis von System und Lebenswelt: Eine Beteiligung des Einzelnen im Sinne sozialer Integration hängt in weitem Maße davon ab, ob die Imperative der Wirtschaft mit der kommunikativen Lebenswelt vermittelt werden können. Dominieren sie, ist sie sehr unwahrscheinlich. D. Engels: Gestaltung von Politik und Gesellschaft. Armut und Reichtum an Teilhabechancen. Gutachten zur Vorbereitung des 3. Armuts- und Reichtumsberichtes. Köln 2007, 37. C. Mandry: Chancen- oder Beteiligungsgerechtigkeit? Zum fairen Wettbewerb zwischen Gerechtigkeitskonzeptionen, in: M. Dabrowski/J. Wolf (Hg.): Bildungspolitik und Bildungsgerechtigkeit. Paderborn 2008, 31-38, 33. In Bayern wurden sogenannte „Projekt-Seminare zur Studien- und Berufsorientierung“ an den Gymnasien eingeführt, um den „Praxisbezug“ oder „realitätsnahe Einblicke in die Arbeitswelt“ zu eröffnen. Vgl. die Kabarett-CD: die daktiker: Evaluator 4. 2007. Ein weiteres problematisches Beispiel ist der auch aus kirchlichen Kreisen in letzter Zeit immer wieder zu hörende Vorschlag, sogenannte Bildungsgutscheine einzuführen. Vgl. P. Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt 1987 oder Ders.: Die Illusion der Chancengleichheit. Stuttgart 1971. „Der Bildungseffekt differenziert hinsichtlich des politischen Interesses am stärksten, auch über mehrere Jahre hinweg.“ (Vgl. D. Engels: Gutachten politische und gesellschaftliche Partizipation, a.a.O., 20.) Allerdings sind die Zusammenhänge komplexer als es scheinen mag, denn der Migrationseffekt lässt sich nicht auf den Bildungseffekt zurückführen. D.h. „Interessen“ lassen sich nicht hinreichend als personenbezogene Dispositionen erklären, sondern entstehen in dem Maße, wie soziale Handlungsspielräume faktisch bestehen. Ein weiteres Beispiel für diese Zusammenhänge liefert der HIS-Projektbericht vom April 2009: „Das soziale Profil in der Begabtenförderung“. Er belegt den Zusammenhang zwischen Herkunft und Begabtenförderung. Stipendien bekommen vor allem Kinder gut verdienender Akademiker; vgl. www.his.de [21.09.2009]. Vgl. A.B. Kunze: Wann ist Bildungsgerechtigkeit verletzt? In: M. Dabrowski/J. Wolf (Hg.): Bildungspolitik und Bildungsgerechtigkeit, a.a.O., 87-95, 91f. Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen: Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland, Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen, Teil III, Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage. Bonn 1997, 44f.

Ausblick 1 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (Hg.): Wie ein Riss in einer hohen Mauer. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise. Hannover 2009, 7.

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Personenregister1 Adorno, Theodor W. 51, 88, 154 Althusius, Johannes 112 Anzenbacher, Arno 85, 87, 130, 159, 160 Apel, Karl Otto 88 Aquin, Thomas von 60, 83, 84, 86, 145, 146 Aristoteles 86 Assisi, Franz von 59 Beck, Ulrich 12, 18, 19, 20, 25, 26, 31 Benedikt XVI. 79 Benn, Gottfried 27 Bierce, Ambrose 116 Bismarck, Otto von 63, 70 Blair, Tony 138 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 86, 132 Bourdieu, Pierre 163 Brundtland, Gro Harlem 124 Chenu, Marie-Dominique 73, 74 Coleman, James 29, 154 Comte, Auguste 108 Crouch, Colin 133 Dönhoff, Marion Gräfin 9 Durkheim, Emile 18, 23, 24, 26, 108 Eid, Volker 151 Etzioni, Amitai 29 Fichte, Johann Gottlieb 158 Fraser, Nancy 121 Freud, Sigmund 30, 31 Furger, Franz 62 Gehlen, Arnold 32 Giddens, Anthony 27 Gnilka, Joachim 14, 55 Graf von Galen, Ferdinand 69, 70 1

Habermas, Jürgen 20, 21, 45, 85, 88, 89, 90, 91, 92, 135 Hayek, Friedrich August von 119 Hengsbach, Friedhelm 120 Herder, Johann Gottfried 158 Herms, Eilert 36, 37, 52 Hitze, Franz 69 Hobbes, Thomas 84, 91 Höhn, Hans-Joachim 16, 91, 128 Hölderlin, Friedrich 158 Homann, Karl 11, 101, 107, 110, 142, 143 Hondrich, Karl Otto 110 Huntington, Samuel 29 Hürten, Heinz 65 Husserl, Edmund 88 Johannes Paul II. 79, 80 Johannes XXIII. 8, 62, 76, 103, 167 Jonas, Hans 116 Kant, Immanuel 22, 23, 35, 58, 85, 86, 89, 90, 91, 131 Kaufmann, Franz-Xaver 149, 152 Kersting, Wolfgang 91, 92 Ketteler, Wilhelm Emmanuel von 67, 68, 70 Koch-Arzberger, Claudia 110 Korff, Wilhelm 8, 99 Koslowski, Peter 114 Lassalle, Ferdinand 67 Leeson, Nick 138 Leo XIII. 73, 74, 76 Lévi-Strauss, Claude 148 Lincoln, Abraham 112 Locke, John 30, 91 Luhmann, Niklas 10, 11, 12, 13, 18, 20, 29, 32, 34, 119, 133, 135, 137 Luther, Martin 61, 86

Anmerkung: Die in der Heiligen Schrift erwähnten Personen werden nicht aufgeführt.

198 Machiavelli, Niccolò 132 Mandeville, Bernard 23 Mann, Thomas 160 Marx, Karl 30, 31, 57, 131 Müller, Adam Heinrich 69 Nell-Breuning, Oswald von 41, 57, 73, 74, 80, 103, 106, 109, 113, 114, 144, 146 Parsons, Talcott 18 Paul VI. 77 Pesch, Heinrich 108, 109 Pestalozzi, Johann Heinrich 158 Pies, Ingo 101 Pius XI. 74, 112 Rahner, Karl 64

Personenregister Rawls, John 91, 92, 93 Reagan, Ronald 138 Rousseau, Jean-Jacques 91, 131 Schiller, Friedrich 149, 158 Schröder, Gerhard 138 Schulze, Gerhard 29 Simmel, Georg 26, 31 Smith, Adam 23, 143 Thatcher, Margaret 138 Thüringen, Elisabeth von 59 Ulrich, Peter 141, 142 Weber, Max 26 Willke, Helmut 136 Windhorst, Ludwig 70, 71

Sachregister Achtung 88, 91, 92 Alleinerziehende 120 Altes Testament 47 Anerkennung 37, 43, 45, 48, 50, 51, 84, 90, 91, 92, 93, 95, 122, 131, 137, 156 Anreizsystem 44 Antagonismus 22, 23 Anthropologie 32, 45, 47, 51, 52, 104 Antike 34, 35, 58, 96 Arbeit 64, 67, 68, 69, 79, 86, 95, 149, 160, 163, 164, 153 Arbeiterverein 65, 66 Arbeitgeber 138 Arbeitnehmer 18, 25, 139 Arbeitslosigkeit 9, 17, 19, 140, 141, 167 Arbeitsmarkt 27, 28, 138, 153, 157, 162 Arbeitsplatz 27 Arbeitsteilung 17, 18, 25, 28, 31, 61, 66, 108, 116, 125 Armut 48, 51, 53, 59, 120, 122, 140, 161, 162, 163, 164, 167 Aufklärung 20, 30, 58, 64, 96, 97, 131 Ausbeutung 41, 48 Autonomie 27, 30, 33, 43, 82, 88, 89, 90, 96, 97, 99, 108, 116, 129, 132, 141, 147, 149, 150, 152, 153, 155, 156, 158, 163, 164, 165 Autorität 61, 83 Begründungsdiskurs 82, 97, 103 Benachteiligte 39, 55, 110, 122, 163, 165 Benachteiligung 122, 143, 155, 165 Beschäftigung 78, 157 Beteiligung 15, 20, 22, 72, 76, 120, 125, 128, 130, 132, 136, 156, 161, 162 Bevölkerung 66, 67, 147, 149, 153 Bibel 42, 45, 46, 51, 53, 58, 64, 122 Bildung 23, 34, 98, 128, 134, 153, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165 Bürgertum 120, 130 Bürokratisierung 61 Caritas 66 Caritas in veritate 79, 80 Christ/inn/-en 77, 123

Christentum 29, 67, 68 Demokratie 20, 50, 66, 85, 128, 130, 133, 135, 136 Dialog 16, 40, 42, 43, 45, 78, 142 Differenzierung 12, 25, 26, 108, 146, 168 funktionale 17, 18, 20, 25, 71, 108, 128, 134, 160 Diskurs 20, 21, 33, 39, 40, 82, 87, 93, 96, 101, 119, 121, 128, 135, 137, 142, 162 Egoismus 10, 19, 58, 107 Ehe 148, 149, 150 Eigengesetzlichkeit 24, 43 Eigentum 69 Einkommen 162, 164 Ekklesiologie 45, 51 Emanzipation 24 Entwicklung 23, 25, 28, 30, 35, 40, 42, 57, 61, 62, 70, 71, 79, 82, 85, 96, 109, 125, 130, 131, 132, 133, 134, 140, 148, 151, 154, 156, 164, 168 Enzyklika 62, 73, 74, 76, 79, 112, 114 Erlebnisgesellschaft 29 Erziehung 18, 23, 71, 153, 154 Eschatologie 45, 51, 118 Ethik Bio-10 Christliche 14, 16, 42, 94, 145, 146, 152 Diskurs- 88, 90, 91, 92, 93, 95, 100, 141, 142 Individual- 34, 35, 36, 37, 38, 58 Institutionen- 143 Naturrechts- 83, 90, 93, 96 Ökonomische 100, 101 Sozial- 7, 15, 16, 22, 29, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 42, 44, 45, 46, 50, 51, 52, 55, 57, 58, 62, 63, 67, 72, 73, 75, 81, 82, 83, 86, 87, 88, 89, 92, 95, 96, 99, 100, 103, 107, 118, 128, 146, 150, 151, 158, 161 Strukturen- 95, 96, 97, 100, 101, 102, 142 Umwelt- 10 Wirtschafts- 10, 139, 140, 141, 142, 143

200 Ethos 46, 47, 51, 98, 107, 110 Europa 66, 111, 119 Evangelium 59, 72 Familie 18, 24, 26, 30, 32, 34, 35, 58, 69, 79, 98, 109, 128, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 164 Flexibilisierung 138 Fortschritt 9, 59, 72, 130 Frankfurter Schule 88 Französische Revolution 62, 64 Frau 24, 47, 85, 121, 149, 150, 153, 155, 162,163 Freiheit 9, 12, 15, 21, 23, 30, 31, 33, 34, 35, 39, 45, 47, 49, 50, 51, 52, 61, 65, 76, 77, 84, 85, 86, 90, 91, 94, 95, 96, 99, 104, 106, 113, 115, 118, 121, 122, 123,130, 131, 132, 133, 134, 144, 147, 152, 154, 167 Freizeit 153, 154, 164 Frieden 45, 60, 79, 94, 118, 122, 124, 129, 140 Fundamentalismus 20 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit 77, 78, 107, 111 Fürsorge 61, 109 Gaudium et spes 43, 76, 77, 147 Gebot 47, 49, 58, 86, 95, 100 Geld 19, 24, 25, 27, 31, 88, 101, 138 Gemeinsames Wort 78, 80, 107, 111, 120, 122, 134 Gemeinschaft 9, 29, 34, 36, 52, 53, 54, 55, 75, 84, 91, 94, 103, 110, 111, 112, 113, 114, 118 Gemeinwohl 55, 60, 75, 87, 106, 107, 137, 146 Generationen 29, 106, 107, 109, 124, 125, 126 Gerechtigkeit Beteiligungs- 120, 161, 162 Chancen- 157 Generationen- 109, 123 Soziale Gerechtigkeit 74, 76, 106 Geschlechter- 155 Gesellschaft moderne 8, 12, 14, 15, 16, 18, 24, 35, 43, 63, 64, 65, 66, 68, 71, 72, 82, 95, 100, 110, 111, 116, 123, 125, 130, 133, 134, 135, 137, 142, 147, 168

Sachregister pluralistische 78, 87 Gesellschaftsanalyse 12, 29 Gesetz 17, 22, 35, 43, 60, 70, 71, 83, 84, 90, 91, 103, 109, 111, 119, 131, 132, 145 Gesinnung 9, 36, 65, 68, 85 Gewerkschaft 65, 66, 114 Gewinne 74 Gewissen 10, 15, 80, 98, 144 Gewissheit 37, 44 Glaube 7, 14, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 47, 48, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 57, 58, 60, 61, 62, 65, 71, 72, 77, 81, 82, 93, 94, 95, 100, 118, 122, 125, 130, 138, 145, 148, 162 Gleichheit 48, 86, 121, 155 Chancen- 47, 162 Globalisierung 25, 27, 28, 41, 46, 129, 158 Gnade 49, 55, 122 Gott 39, 40, 41, 43, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 58, 60, 72, 91, 83, 84, 94, 99, 116, 118, 145, 151 Gottebenbildlichkeit 52 Gottes- und Nächstenliebe 41 Grundbedürfnisse 151 Grundrechte 131 Güter 48, 51, 60, 92, 121, 138, 146, 159 Heil 40, 46, 59, 72, 122 Heiliger Geist 40, 77 Hoffnung 37, 46, 48, 51, 52, 53, 54, 55, 58, 94, 126, 139, 152, 153, 156, 163 Humanisierung 40, 45, 54, 55, 80, 82, 86, 99, 158 Humanität 15, 85, 86, 90, 92, 93, 160 Humankapital 44 Ideologie 46, 122, 162, 163 Individualisierung 12, 19, 25, 26, 27, 31, 32, 71, 92, 93, 149, 158 Individuum 8, 16, 23, 26, 30, 31, 32, 33, 37, 39, 57, 75, 109, 115, 117, 147, 150 Industrialisierung 41, 62, 63, 67, 116, 120, 146, 158 Institution 8, 12, 15, 22, 27, 29, 30, 32, 33, 34, 38, 39, 41, 42, 52, 57, 78, 80, 82, 87, 89, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 104, 105, 109, 110, 112, 113, 115, 117, 133, 137, 142, 143, 144, 147, 149, 151, 152, 154, 161, 163, 167, 168

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Sachregister Interaktion 24, 36, 37, 38, 96, 137, 154 -sbereiche 43 -sordnung 36 Investitionen 143 Kapitalismus 10, 74, 144 Kapitalmarkt 10, 26 Kinder 49, 50, 94, 122, 148, 149, 150, 154, 161, 164 Kirche 10, 34, 39, 41, 42, 44, 45, 52, 53, 54, 55, 57, 59, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 87, 103, 107, 110, 111, 120, 122, 129, 130, 134, 140, 149, 167 Kirchliche Sozialverkündigung 72, 77, 83, 112 Klasse 26, 32, 48, 67, 70, 73, 74, 75, 108, 120 Klima 125, 128 Kommunikation 24, 28, 88, 90 Kommunismus 74, 109 Kommunitarismus 35 Komplexität 17, 22, 25, 79, 101, 116, 117, 129, 130, 134, 138, 167 Konjunktur 12, 32, 107, 111 Konflikt 43, 136, 145 Konsens 89, 93, 142 Konsultationsprozess 78 Konsum 25, 31, 50, 95, 126, 140, 141, 153, 154 Kontraktualismus 93 Konzeption des Guten 87 Korruption 9, 132, 140, 167 Kosten-Nutzen-Kalkulation 34 Kultur 10, 22, 29, 30, 34, 53, 55, 61, 78, 92, 95, 98, 114, 121, 122, 126, 140, 150, 151, 160, 164 -kampf 63 Lebensformen 26, 151 Lebenswelt 13, 20, 21, 22, 28, 52, 88, 89, 135, 145, 164 Lehramt 44, 67, 72, 77, 78, 81 Liberalismus 74, 75, 109, 115, 133 Liebe 47, 49, 53, 76, 80, 94 Macht 19, 20, 32, 34, 49, 58, 59, 69, 83, 84, 88, 120, 121, 129, 134, 135, 136, 138, 146, 161

Markt 10, 11, 17, 78, 110, 114, 130, 131, 134, 137, 138, 139, 140, 141, 144, 145, 146, 162, 167 Marktwirtschaft 9, 78, 99, 142 Marxismus 75 Mater et magistra 75, 76, 77 Medien 17, 98, 128, 132 Menschenbild 52, 115 Menschenrechte 62, 76, 79, 85, 86, 87, 91, 113, 132 Menschenwürde 45, 47, 50, 51, 52, 79, 84, 90, 100, 101, 103, 104, 105, 109, 142, 144 Metaphysik 61 Mindestlohn 86, 145 Mitbestimmung 76 Mittelalter 34, 35, 58, 59, 68, 96, 145 Moderne 9, 12, 20, 46 Modernisierung 26, 30, 32, 66 Moral 9, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 21, 22, 26, 34, 41, 47, 49, 58, 61, 63, 79, 80, 92, 97, 99, 101, 102, 108, 110, 130, 136, 139, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 167 Moralität 35, 85, 132, 143 Nachhaltigkeit 16, 103, 106, 123, 124, 125, 126 Nächstenliebe 40, 41, 53, 58 Nationalstaat 129 Naturrecht 83, 84, 85, 86, 87 Naturwissenschaften 23, 44 Neofaschismus 20 Neues Testament 48, 94 Neuzeit 25, 33, 34, 35, 58, 82, 84, 85, 86, 104, 108, 130, 131, 146 Nichtregierungsorganisationen 134, 144 Norm 10, 12, 16, 29, 30, 43, 46, 48, 54, 65, 76, 83, 84, 85, 88, 89, 91, 95, 97, 98, 100, 101, 102, 106, 126, 143, 144, 150 Octogesima adveniens 44, 77, 78 Offenbarung 40, 50, 64 Ökonomie 14, 23, 28, 41, 49, 51, 88, 108, 109, 133, 141, 145 Ökumene 79 Opfer 19, 29, 30 Option für die Armen 45, 53, 122 Partei 65, 69, 70, 71, 120, 137

202 Partizipation 133, 135, 137, 162 Pauperismus 67, 68 Person 8, 19, 22, 23, 24, 29, 30, 32, 33, 35, 36, 37, 52, 57, 67, 75, 79, 90, 91, 93, 98, 99, 101, 102, 103, 104, 105, 107, 112, 130, 144, 152, 154, 155, 161, 164, 167 Personalität 103, 104, 105 Philosophie 35, 50, 83 Politik 7, 10, 18, 19, 20, 21, 22, 29, 34, 37, 39, 40, 41, 50, 61, 66, 78, 80, 98, 99, 119, 122, 125, 126, 128, 129, 130, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 139, 141, 145, 152, 153, 157, 158, 160, 167 Sozial- 28, 66, 68, 82, 108, 136 Populorum progressio 75, 76, 77 Prinzipien 67, 84, 91, 92, 99, 103, 105, 106, 107, 112, 125 Privatisierung 65, 79, 133, 140 Proletariat 41, 67 Propheten 46, 47, 48 Quadragesimo anno 74, 75, 76, 112, 113, 114 Rahmenordnung 98, 141, 142, 143, 144, 145, 167 Rationalität 19, 93, 95, 107, 114, 115, 132, 142, 146, 160, 167 Recht 18, 20, 21, 23, 24, 29, 34, 35, 83, 84, 85, 86, 88, 96, 98, 108, 119, 124, 128, 132, 134, 135, 136, 141, 144, 145, 152 Grund- 120, 131, 132 Menschen- 62, 76, 85, 86, 87, 91, 113, 131, 132 Natur- 83, 84, 85, 86, 87 Reform 156 Gesinnungs- 68 Zustände- 68 Reformation 60 Rechtsordnung 48, 80 Rechtsstaat 192, 137 Reich Gottes 52, 53, 54, 55, 58, 94, 123 Reichtum 48, 59, 146, 161 Religion 18, 26, 29, 35, 59, 60, 61, 62, 64, 79, 108, 121, 128, 131, 160 Religionsfreiheit 62 Rerum Novarum 73, 74, 77 Risiko 17, 20, 22, 125, 126, 138

Sachregister Sachbereiche 43, 44, 98, 114, 115, 116, 128, 129, 134, 135, 167 Sakrament 54, 149 Schöpfungs(ordnung) 52, 84 Selbstbestimmung 9, 115, 153 Selbsthilfe 112, 113, 115 Selbstverwirklichung 32, 33, 104, 129, 157 Sicherheit 67, 154 Sittlichkeit 43, 91, 102, 116, 131 Solidarismus 108 Solidarität 9, 16, 17, 48, 55, 58, 75, 76, 77, 78, 87, 93, 103, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 118, 150, 152 Sollicitudo rei socialis 79 Soziale Bewegungen 144 Soziale Frage 58, 66, 67, 106 Sozialenzykliken 74, 76, 79, 80, 83 Soziale Sicherung 69, 107, 153 Sozialität 92 Soziallehre 36, 39, 41, 63, 66, 72, 73, 76, 77, 80, 103, 108, 109, 135 Sozialordnung 44, 89, 109, 142 Sozialpflichtigkeit 60 Sozialpolitik 28, 66, 68, 82, 108, 136 Sozialstaat 10, 91, 111 Sozialverkündigung, kirchliche 72, 83 Sozialversicherung 70, 109 Sozialwissenschaft 42, 44, 45, 98 Soziologie 18, 23, 108, 152 Spezialisierung 18, 25, 43, 116, 125, 138 Staat 10, 22, 24, 26, 28, 30, 35, 61, 63, 64, 65, 68, 70, 71, 75, 78, 79, 86, 87, 91, 96, 110, 113, 114, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 141, 144, 145, 149, 151, 152, 155, 167 National- 129 Sozial- 10, 91, 111 Steuer 27, 98, 143 Steuerungsprobleme 133, 137 Struktur 9, 11, 14, 16, 17, 31, 33, 35, 37, 38, 40, 41, 45, 53, 57, 58, 60, 72, 79, 80, 81, 89, 91, 96, 97, 98, 100, 101, 102, 103, 106, 108, 109, 110, 115, 116, 117, 119, 121, 126, 137, 145, 147, 151, 153, 155, 167 Subsidiarität 75, 76, 79, 103, 105, 111, 112, 113, 114, 115, 117, 152 Subsysteme 13, 25, 101, 114, 115

Sachregister Sünde 40, 52, 59, 79, 80 System 12, 13, 14, 18, 19, 20, 24, 32, 44, 65, 84, 88, 100, 131, 141,161 -theorie 18, 20, 21, 134, 135 Soziales System 99, 141 Theologie 46, 51, 53, 60, 82, 92, 93, 95, 118, 145, 146 Moral- 82 Theorie Demokratie- 21, 135, 136 Diskurs- 18, 20, 21 Gesellschafts- 16, 18, 21, 22 System- 18, 20, 21, 134, 135 Tod 69, 71 Toleranz 12, 111 Tradition 7, 12, 26, 32, 33, 35, 42, 45, 53, 55, 58, 73, 86, 88, 91, 103, 135, 151 Tugend 17, 32, 33, 34, 38, 98, 99, 102, 109 Umwelt 13, 26, 47, 101, 107, 124, 125, 128, 137, 150 -schutz 28, 97, 124 Ungerechtigkeit 48, 74, 119, 122 Ungleichheit 86, 155 Universalität 50, 58 Unrecht 11, 48, 58, 62, 73, 109, 120 Unternehmen 24, 29, 98, 129, 140, 142, 143, 145 Utopie 52 Verantwortung 9, 10, 11, 15, 17, 28, 33, 34, 37, 38, 47, 49, 52, 59, 60, 68, 80, 88, 91, 98, 99, 103, 106, 110, 113, 115,

203 116, 117, 118, 128, 130, 134, 136, 137, 139, 145, 146, 152, 158, 159, 160, 167 Verbände 44, 65, 72 Verfahren 89, 91, 95, 117, 121, 133, 142 Verfassung 70, 83, 91, 92, 111, 132, 142 Vernunft 33, 35, 40, 42, 61, 84, 90, 92, 93, 95, 96, 100, 130, 131, 134, 139, 141, 145 Volk Gottes 48, 54 Wachstum 66, 124 Wahrheit 18, 21, 23, 43, 50, 80, 84, 96 Weltanschauung 87, 90 Wende zum Subjekt 34, 35, 57, 61, 96, 130 Wettbewerb 25, 110, 111, 143, 145, 156, 158 Wirtschaft Markt- 9, 78, 99, 142 Volks- 28, 15 Wirtschaftsliberalismus 75 Wirtschaftsordnung 12, 69, 140, 147 Wissenschaft 12, 18, 29, 30, 34, 44, 98, 120, 128, 135, 141, 157, 160 Wohlfahrtsstaat 27 Wohlstand 9, 21, 23, 125 Zeichen der Zeit 76, 77 Zivilgesellschaft 22, 115, 126, 135, 136 Zukunft 20, 50, 58, 77, 78, 90, 93, 100, 107, 111, 124, 126, 130, 147, 157, 158, 165 Zwei-Reiche-Lehre 61 Zweites Vatikanisches Konzil 43, 57, 76, 82

Grundwissen Theologie Herausgegeben von Klaus von Stosch