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German Pages [510] Year 2016
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie
Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Christiane Tietz
Band 156
Thomas-Andreas Plder
Solidarische Toleranz Kreuzestheologie und Sozialethik bei Alexander von Oettingen
Vandenhoeck & Ruprecht
Der Druck dieses Bandes erfolgte durch die freundliche Unterstützung der Evangelischen Kirche Kurhessen-Waldeck, des Martin-Luther-Bundes, des Gustav-Adolf-Werkes, der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.
Mit 5 Abbildungen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 0429-162X ISBN 978-3-525-56451-6 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de T 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Für Anne-Maarja
Vorwort
Die vorliegende Untersuchung ist die leicht überarbeitete Fassung meiner im September 2014 an der Theologischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald eingereichten Dissertationsschrift Solidarische Toleranz. Systematische Erstgestalt einer Kreuzestheologie und Sozialethik in der Postaufklärung – das Werk Alexander von Oettingens. Das Promotionsverfahren wurde im Januar 2015 mit dem Rigorosum und der Disputation abgeschlossen. Zu ihrer Entstehung haben viele auf verschiedene Weise beigetragen. Ein ganz besonderer Dank gilt Prof. Dr. Heinrich Assel, meinem Greifswalder Betreuer, der entscheidende Anstöße zur Fertigstellung der Arbeit gegeben hat, aber auch Prof. Dr. Eberhard Jüngel, bei dem ich in Tübingen mit der Untersuchung begonnen habe und der diesem Wechsel als Ehrendoktor der Greifswalder Fakultät mit einer freundlichen Selbstverständlichkeit zugestimmt hat. Für die Anfertigung des Zweitgutachtens bin ich Prof. Dr. Michael Beintker dankbar. Wichtige Impulse habe ich während des Arbeitprozesses in Tübingen und darüber hinaus von Prof. Dr. Eilert Herms, Prof. Dr. Anton Friedrich Koch, Prof. Dr. Ulrich Köpf, von jetzigem Prof. Dr. Hans-Peter Großhans und von Prof. Dr. Otfried Hofius erhalten. Die Sozietäten des Lehrstuhls für Systematische Theologie in Greifswald haben durch ihre stets sachlichen und kritischen Diskussionen diese Arbeit bereichert und zu ihrem Abschluss gedrängt. Prof. Dr. Stefan Beyerle hat als Greifswalder Dekan die theologische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Estland unterstützt und sich daran beteiligt. Nennen möchte ich an dieser Stelle auch die Gespräche in Tübingen mit meinen Kommilitonen Thomas Vogt, Stefan Krauter, Idar Kjølsvik, John Bradbury und Martin Wendte und in Greifswald mit PD Dr. Henning Theißen. Prof. Dr. Wilfried Härle bin ich für die Initiative der Herausgabe einer Auswahl der Grundtexte neuerer evangelischer Theologie auf Estnisch dankbar. Diese Übersetzungsarbeit hat in ihrer Weise auch diese Untersuchung befruchtet. Einen wichtigen Stellenwert hatte auch die Unterstützung durch die Tartuer Theologische Fakultät, insbesondere durch Dekan Prof. Dr. Riho Altnurme und
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Vorwort
Prof. Dr. Anne Kull, sowie durch das Theologische Institut der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Tallinn. Herzlicher Dank gebührt Dr. Alar Laats als langjährigem systematisch-theologischem Wegweiser, sowie Pfr. Dr. Tiit Pädam, der als Theologe und Freund bei der Entstehung der Arbeit in vielfacher Hinsicht eine unüberschätzbare Rolle gespielt hat. Für Blickfeldweitung in ökumenischer Perspektive bin ich dem Catholic Institute of Sydney zu Dank verpflichtet, dem Ökumenischen Gesprächskreis des Evangelischen Stiftes und des Wilfhelmstiftes in Tübingen, der theologischen Dialoggruppe zwischen der Estnischen Apostolischen Orthodoxen Kirche und der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche sowie der Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen in Europa und ihrem Rat. Finanziell wurde die Arbeit durch die Promotionsstipendien des Lutherischen Weltbundes (LWB) und des Deutschen Nationalkomitees des LWB, sowie durch eine Forschungsassistenz aus Mitteln des DAAD und der Greifswalder Universität unterstützt. Der Evangelischen Kirche Kurhessen-Waldeck, dem Martin-Luther-Bund, dem Gustav-Adolf-Werk, der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands und der Evangelischen Landeskirche in Württemberg möchte ich für die Druckkostenzuschüsse danken. Den Herausgeberinnen Prof. Dr. Christine Axt-Piscalar und Prof. Dr. Christiane Tietz gebührt mein Dank für die Aufnahme der Untersuchung in die Reihe Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie und Herrn Moritz Reissing und Herrn Christoph Spill für ihre Betreuung der Publikation. Für die sprachliche Korrektur möchte ich Frau stud. theol. Luise Höhne und Pfr. Matthias Burghardt danken. Schließlich ist dieses Buch nicht ohne meine Familie zu denken. Für die geduldige und liebevolle Begleitung meiner Frau, für die Neugier meiner nun sechsjährigen Zwillinge, für die stete Unterstützung meiner Eltern und insbesondere für die Gespräche mit meinem klugen „kleinen“ Bruder und besten Freund bin ich von Herzen dankbar. Gewidmet ist dieses Buch meiner Schwester Anne-Maarja (1984–2004), die mit ihrer Lebenslust und Liebe in Gottes heilsamer Präsenz für uns stets gegenwärtig ist. Tallinn, am 3. Januar 2016
Thomas-Andreas Plder
Inhalt
Erster Teil: Einleitung in die Studie und in das Werk von Oettingens 1. Vorüberlegungen zum Thema und Ziele der Untersuchung . . . . . 1.1 Vorüberlegungen zum Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Das Kreuz und der christliche Glaube: der Kreuzesglaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Theologie des Kreuzes – „a trendy concept“? . . . . . 1.1.3 Kreuzestheologie – ein modernes Konzept? . . . . . . 1.1.4 Explizite Verwendungsarten des Terminus „Theologie des Kreuzes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5 Postaufklärerische Impulse für das eigentliche kreuzestheologische Jahrhundert, oder : Warum scheint explizite Kreuzestheologie in das 20. Jahrhundert zu gehören? . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Ziele dieser Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Explizite Kreuzestheologie – eindeutig eine Sache schon des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 „Die beste ethische Leistung des 19. Jahrhunderts“ (E. Brunner)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Alexander von Oettingen – explizite Kreuzestheologie und explizite Sozialethik im 19. Jahrhundert . . . . . . 1.2.4 Impulse für eine Weitergestaltung des heutigen theologischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Forschungslage bezüglich des Werkes von Oettingens . . . . . . . . 2.1 Linnenbrink 1961: die Moralstatistik und ihre Bedeutung für den Entwurf einer christlichen Sozialehre . . . . . . . . . . . 2.2 Böhme 1969: die Moralstatistik – ein Beitrag zur Geschichte der Quantifizierung in der Soziologie . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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Krimmer 1973: die Moralstatistik als von Oettingens Ethik – Empirie und Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Pawlas 1991: zur Integration statistischer Aussagen in der Ethik im Anschluss an die Sozial- und Wirtschaftsethik von Oettingens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Kleinere Arbeiten über das Werk von Oettingens . . . . . . . 2.6 Art und Ertrag bisheriger Forschung . . . . . . . . . . . . . 3. Eine biographische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Livland – zur Vergegenwärtigung . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Von Oettingens Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Schule, Studium, Heirat und Beginn der akademischen Karriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Bemerkungen zum historischen Kontext des Lebens und Wirkens von Oettingens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Lehrtätigkeit, Forschungsaufenthalte in Europa und das Dekanat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Kirchliche und soziale Aktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Familienleben, Hobbys und interdisziplinäres Gespräch . . . 3.8 Charakterporträt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Phasen des Werkes als Rezeptionsproblem und ein neuer Vorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Hermeneutische Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Ein Werk in drei Phasen – das seebergsche Modell . . . . . . 4.3 Die vier Phasen des oettingenschen Werkes im Überblick . . 5. Erste Phase: kirchliche Theologie, oder : Erste theologische Positionierung jenseits von Subjektivismus und Objektivismus (1853–1863) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die synagogale Elegie des Volkes Israels als Ausdruck der Hoffnung Israels im Lichte der heiligen Schrift (1853) . . . . 5.2 Über das Wesen und die Entwicklung der kirchlichen Glaubenswahrheit (1854) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Über die Sünde wider den Heiligen Geist unter Berücksichtigung der christlichen Eschatologie (1856) . . . . 5.4 Gefühl und Glaube (1858) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Theologie und Kirche (1859) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Die Wiedergeburt durch die Kindertaufe (1862/1863) . . . . 5.7 Eine kurze Charakterisierung der ersten Phase . . . . . . . .
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6. Zweite Phase: die Sozialethik, oder : Zweite theologische Positionierung jenseits von Subjektivismus und Objektivismus (1863–1874) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Unterwegs zur eigenen Ethik und von Oettingens Grundanliegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Über Kants Pflichtbegriff mit Beziehung auf unsere Zeit (1863) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Rezensionen über die Neuerscheinungen auf dem Gebiet theologischer Ethik (1864–1866) . . . . . . . . 6.1.3 Auseinandersetzung mit der Ethik von Adolf Harleß (1865) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Spinozas Ethik und der moderne Materialismus (1865) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.5 Schopenhauers Philosophie in ihrer Bedeutung für christliche Apologetik (1865) . . . . . . . . . . . . . . 6.1.6 Rudolf Hofmanns Buch über das Gewissen als Beispiel eines Grundproblems neuerer Ethik (1866) . . . . . . 6.1.7 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Das erste Hauptwerk und weitere wichtige Schriften . . . . . 6.2.1 Zur Verteidigung der sog. Zweinaturenlehre gegenüber dem modernen Monophysitismus (1867) . 6.2.2 Die Moralstatistik als Teil eines Versuchs einer Sozialethik auf empirischer Grundlage (1867–1869) . . 6.2.3 Der geschichtliche Charakter der biblischen Theologie Neuen Testaments (1870) . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Die biblische Idee des Volkes Gottes, mit Rücksicht auf die eschatologischen Fragen der Gegenwart (1870) 6.2.5 Die christliche Sittenlehre als Teil eines Versuchs einer Sozialethik auf empirischer Grundlage (1870–1873) . . 6.2.6 Die Auseinandersetzung mit dem Soziologen Paul von Lilienfeld (1873–1874) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.7 Die zweite Auflage der Moralstatistik (1874) . . . . . . 7. Dritte Phase: zwischen den Hauptwerken (1874–1894) . . . . . . . 7.1 Arbeiten zu den ethischen, soziologischen und sozialethischen Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Besprechungen der neuen soziologischen und ethischen Werke (1873–1882) . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Zeitbetrachtungen (1881–1893) . . . . . . . . . . . . . 7.2 Schriften mit dogmatischem Schwerpunkt . . . . . . . . . . 7.2.1 Autorität und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Reich Gottes und Eschatologie (die 1880er) . . . . . .
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12 7.3 Zusammenfassende Charakterisierung der dritten Phase . 8. Vierte Phase: staurozentrische Dogmatik und eine letzte Auseinandersetzung um die „Moderne“ (1894–1905) . . . . . . . 8.1 Zur Lehre vom Heiligen Geist – vorläufiges Programm einer „staurozentrischen“ Glaubenslehre (1894–1895) . . . 8.2 Lutherische Dogmatik (1897–1902) . . . . . . . . . . . . . 8.3 Das Lebensproblem und die „Moderne“ (1903) . . . . . . . 8.4 Zur Frage über modernes Christentum und moderne Theologie (1904) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Einführende Kontextualisierung des Werkes von Oettingens . . . 9.1 Eine Typologie der kirchlich-theologischen Landschaft von Oettingen zufolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.1 Eine gewaltige Geistesbewegung im Anschluss an die spekulative Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.2 Ein Erwachen des tieferen religiösen Gefühls und des Bedürfnisses christlicher Glaubensgemeinschaft . . . 9.1.3 Eine positive bibelgläubige Richtung innerhalb der unierten Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.4 Eine positiv-kirchliche Strömung . . . . . . . . . . . 9.2 Die wichtigsten Impulsgeber in der Vorphase des Werkes von Oettingens und seine Selbstverortung . . . . . . . . . . 9.2.1 Ein erster Lehrer : Philippi in Tartu als lutherischer Kerntheologe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2 Ein zweiter Lehrer : Hofmann in Erlangen und seine heilsgeschichtliche Methode . . . . . . . . . . . . . . 9.2.3 Theologischer Realismus und sozialethische Grundeinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.4 Hofmann und Philippi als die wichtigsten Lehrer in der Studienzeit von Oettingens . . . . . . . . . . . . 9.3 Typologien der theologischen Landschaft in der neueren Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.1 Der Forschungsbericht Falk Wagners (1988) . . . . . 9.3.2 Der Forschungsbericht Jörg Dierkens (2001) . . . . . 9.3.3 Die Einleitungen F.W. Grafs zu den Profilen des neuzeitlichen Protestantismus (1990, 1992) . . . . . . 9.3.4 Die enzyklopädische Gesamtdarstellung Eckhard Lessings (2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Zusammenfassung der einführenden Kontextualisierung .
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Zweiter Teil: Zwei Leitkonzepte in ihrer Genese: „Theologie des Kreuzes“ und „Sozialethik“ im Gesamtwerk Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erster Abschnitt: Unterwegs zur staurozentrischen Dogmatik, oder : Wo und wie erscheint „Theologie des Kreuzes“ . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Was könnte von Oettingens Bezugnahme auf Luthers Theologie des Kreuzes bedingt haben? Hinweise und Überlegungen zum Entdeckungszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Die Anfänge der Lutherforschung in Mitte des 19. Jahrhunderts und die Erlanger Theologen . . . . . . . . . 10.2 Der Streit um die Versöhnungslehre von Hofmanns – ein Katalysator für die Beschäftigung mit Luther . . . . . . . . . 10.3 Von Hofmann, Philippi und Th. Harnacks Lutherbuch – Werk eines Erlanger Theologen? . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Von Oettingen, Luther und seine theologia crucis . . . . . . . 10.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Eine Vergegenwärtigung der theologia crucis im Anschluss an Luther (1859) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Theologie der Ehre – Theologie des Kreuzes . . . . . . . . . 11.3 Kreuzesschule als Bedingung für wahre Wissenschaft und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Keine Spekulation, sondern Praxis – ihr Grund ist Christus, ihr Ziel das Ergreifen seines Werkes im Glauben . . . . . . . 11.5 Theologie ohne Kreuz als verkehrte Realitätswahrnehmung . 11.6 Ehrentheologie als Inbegriff der Sünde – Kreuzestheologie als Erkenntnis der Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.7 Zusammengehörigkeit von Theologie des Kreuzes und Kirche des Kreuzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.8 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Theologie des Kreuzes als kirchliche Theologie – kirchliche Theologie in kreuzestheologischer Deutung . . . . . . . . . . . . . 12.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Wort – Glaube – Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Erfahrung – Anfechtung – Kampf . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Positive Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5 Konfessionalität – Katholizität – Ökumenizität . . . . . . . . 12.6 Rechtfertigungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.7 Ehrentheologische Tendenzen der Gegenwart . . . . . . . . . 12.8 Konkretheit – Kontextualität – Solidarität . . . . . . . . . . .
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14 13. Durch Kreuz zum Licht – zur Kreuzesgestalt der Offenbarung und des Christenlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Der Grundgedanke „Durch Kreuz zum Licht“ und die Grundstimmung „Als die Traurigen, allezeit fröhlich“ (1862) 13.1.1 Kreuzgeheimnis als Offenbarung . . . . . . . . . . . . 13.1.2 Kreuz und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1.3 Kreuz und Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1.4 Kreuz und Wort – Wort vom Kreuz . . . . . . . . . . . 13.1.5 Kreuz und Auferstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1.6 Nachfolge Christi – Leiden als Kampf . . . . . . . . . 13.1.7 Kirche als Kreuzgemeinde – Kreuz und Gemeinschaft . 13.2 Kreuzesgestalt der Offenbarung – die Unumgänglichkeit der Anfechtung und des steten geistlichen Kampfes (1873) . . . . 13.2.1 Kreuzesgestalt der Offenbarung . . . . . . . . . . . . . 13.2.2 Kreuzesgestalt des Christenlebens . . . . . . . . . . . 13.2.3 Kreuzesgestalt der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Weitere Explikationsformen der Theologie des Kreuzes . . . . . . . 14.1 Wahre Theologie des Reichs Gottes als Theologie des Kreuzes (1880, 1883) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.2 Reichstheologie in kreuzestheologischer Deutung . . . 14.1.3 Differenzbewusstsein von Reich und Kirche als reformatorisches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.4 Das Reich Gottes – gegenwärtig unter dem Kreuz verborgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.5 Mangelhafte Behandlung der Reichsidee in der altlutherischen Dogmatik, Reaktion im Pietismus, Opposition im Rationalismus und die drei gegenwärtigen Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.6 Luthers Lehre vom Reich Gottes . . . . . . . . . . . . 14.2 Der gekreuzigte Christus als Real- und Erkenntnisprinzip der Theologie (1883, 1886) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.1 Rückblickende Eigencharakterisierung der Tartuer/Dorpater Theologie . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.2 Der Grundgedanke der Reformation – Versöhnung und Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.3 Die evangelisch-lutherische Kirche und ihre Theologie des Kreuzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3 Theologie des Kreuzes in Form dreier Grundlehren oder Prinzipien der evangelisch-lutherischen Theologie (1887) . .
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15. Zum Verständnis der Theologie des Kreuzes – die göttliche Selbstbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2 „Leide dich mit dem Evangelio“ (2Tim 1, 8): zum Verständnis der theologia crucis (1894) . . . . . . . . . . . . 15.2.1 Zum Leiden der baltischen evangelischen Kirche – eine kleine Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . 15.2.2 Eine Vergegenwärtigung der „Theologie des Kreuzes“ angesichts der Erfahrung des Leidens und des Streites in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3 Luthers Theologie (des Kreuzes) und das göttliche „Noch nicht!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3.1 Kreuzestheologie als wahre Theologie – spekulative Theologie als Anti-Theologie . . . . . . . . . . . . . . 15.3.2 Zur Profilierung: über eine Inkonsequenz Luthers . . 15.3.3 Die Leidensgeschichte Gottes des Heiligen Geistes . . . 15.4 Vorläufiges Programm einer Glaubenslehre vom Standpunkt der theologia crucis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Abschnitt: Die Einführung des Begriffes Sozialethik in die Theologie, oder : Ein Rekonstruktionsversuch der Ethik als Sozialethik unter Einbeziehung empirischer Sozialforschung in Gestalt der Moralstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16. Einführende Kontextualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.2 Die Wendung „social ethics“ bzw. „Social-Ethik“ vor dem Jahr 1867 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3 Zur Geschichte der Sozialethik in Deutschland . . . . . . . 16.4 Zur Entdeckung der Sozialethik in den USA . . . . . . . . 16.5 Ethik als Sozialethik oder Sozialethik als Bestandteil der Ethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. Motive für eine Transformation der Ethik in eine Sozialethik auf empirischer Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.1 Vor dem Jahr 1867 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2 Die Geburt des Begriffes aus einem Gegensatz . . . . . . . 17.3 „Einleitung“ im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.4 Vorbereitung einer realistischen Wende in der Ethik . . . . 17.5 Alle Wissenschaften sind positiv . . . . . . . . . . . . . . . 17.6 Keine Trennung, sondern Kombination von Induktion und Deduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.7 Exaktheit der Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
17.8 Der realistische Charakter der Theologie bzw. Theologischer Realismus und das Grundvertrauen als Bedingung aller Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.9 Realismus innerhalb der Systematischen Theologie . . . . . . 17.10 Realismus in der Ethik bzw. Ethischer Realismus: Sozialethik unter der Einbeziehung der Moralstatistik . . . . . . . . . . . 18. Funktion und Pointe der Moralstatistik oder des analytisch-induktiven Teils eines Versuchs empirisch ansetzender Sozialethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.1 Die Aufgabe der Moralstatistik im sozialethischen Gesamtwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.2 Der Inhalt der Moralstatistik im Überblick . . . . . . . . . . 18.3 Das Resultat der Moralstatistik: formale Gesetze sittlicher Lebensbewegung bzw. allgemeine Struktur der Geschichte . . 18.4 Die Moralstatistik – Anknüpfungspunkt für eine materielle Ethik als Sozialethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19. Der synthetisch-deduktive Teil eines Versuchs empirisch ansetzender Sozialethik: Die christliche Sittenlehre . . . . . . . . . 19.1 Weiteres zum sozialethischen Gesamtprogramm . . . . . . . 19.1.1 Zur Bedeutung der (Moral-)Statistik für die Ethik . . . 19.1.2 Sozialethische Grundeinsichten bzw. Motive für eine Auffassung der Ethik als Sozialethik . . . . . . . . . . 19.1.3 Zwei Versprechungen hinsichtlich der Sozialethik: weder ein Instrument polemischen Konfessionalismus noch eine Gleichschaltung des Individuums . . . . . . 19.1.4 Reaktion auf die Kritik aus Erlangen . . . . . . . . . . 19.2 Aufbau der Christlichen Sittenlehre . . . . . . . . . . . . . . 19.2.1 Allgemeine Grundlegung der christlichen Sittenlehre als Rechtfertigung einer Sozialethik . . . . . . . . . . . 19.2.2 Abriss des Systems christlicher Sittenlehre als Entwurf einer Sozialethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259 260 262
267 267 271 275 280 287 288 288 289
293 295 296 296 300
Dritter Teil: Die Kreuzestheologie in Gestalt einer Glaubenslehre und in ihrem Verhältnis zur Sozialethik Erster Abschnitt: Lutherische Dogmatik als kreuzestheologische Glaubenslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20. Zur Gegenstandsbestimmung der Dogmatik . . . . . . . . . 20.1 Dogma und Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . .
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307 307 309 309
17
Inhalt
20.2 Der Weg zur Wesensbestimmung der christlichen Religion aus dogmatischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3 Zum Status des Realprinzips und des Systems . . . . . . . 21. Zur Methode der Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.1 Die dogmatische Erkenntnistheorie – ihr Problem und ihre Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.2 Dogmatik als Glaubenswissenschaft . . . . . . . . . . . . . 22. Die methodische Eigenart und das Idealprinzip lutherischer Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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310 315 318
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318 320
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326
Zweiter Abschnitt: Die kreuzestheologische Dogmatik von Oettingens im Spiegel zeitgenössischer Wahrnehmung – die Perspektiven der Ritschl-Schule, der religionsgeschichtlichen Schule, der social-gospel-Bewegung und des baltischen Luthertums . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23. Eine Dogmatik in subjektiv-authentischer Kongenialität mit der gesamten altprotestantischen Lehrtradition einschließlich der Dogmatik der Reformatoren (O. Ritschl) . . . . . . . . . . . . . . . 24. Ein Denkmal des Gegensatzes gegen die gesamte geistige Bewegung der Gegenwart, auch gegen die Religion des modernen Europa (E. Troeltsch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.1 Einführung zu Troeltschs Auseinandersetzung mit von Oettingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.2 Zur Prinzipienlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.3 Über die Darlegung der christlich religiösen Ideen selbst . . 24.3.1 Zur Methode: das volle lutherische Dogma als Implikation der Heilserfahrung . . . . . . . . . . . . . 24.3.2 Die vorausgesetzte Auffassung von Bibel und Dogmengeschichte: eine analogielose, absolute Wundergeschichte und die Betrachtung ihres Werdens 24.3.3 Der Blick auf den Inhalt des ersten Systemteils: Sündenerkenntnis als Schlüssel der Dogmatik . . . . . 24.3.4 Gegensatz zur Moderne wegen eines mangelnden Verständnisses der modernen Welt . . . . . . . . . . . 24.3.5 Allgemeine Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.3.6 Spezifisch theologische Methode . . . . . . . . . . . . 24.3.7 Konfessionalismus und der Kampf gegen die Moderne 24.4 Zum Gehalt des zweiten Systemteils . . . . . . . . . . . . . . 24.5 Zusammenfassende Charakterisierung . . . . . . . . . . . . 24.6 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25. Eine wohlwollende amerikanische Stimme (W. Rauschenbusch) . .
338 338
341
349 349 350 354 355
356 357 358 359 360 361 361 363 364 367
18
Inhalt
26. Stimmen aus dem baltischen Luthertum . . . . . . . . . . . . . . . 26.1 Ausdrückliche Empfehlung mit Überlegungen zur Rhetorik einer Kreuzestheologie (E. Külpe) . . . . . . . . . . . . . . . 26.2 Rechtzeitiges Geschenk an unsere Kirche und an unser Land (H. Eisenschmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.3 Beitrag zur Evangeliumsverkündigung und zur Glaubenseinheit (E. Kaehlbrandt) . . . . . . . . . . . . . . .
370
Dritter Abschnitt: Kreuzestheologie und Sozialethik . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27. Eine idealtypische Komparation der Konfessionen . . . . . . . . . 27.1 Zum Kontext und zum Status der vergleichenden Analyse . . 27.2 Eine Erinnerung an Troeltschs Soziallehren . . . . . . . . . . 27.3 Von Oettingens Analyse: die Verhältnisbestimmung zwischen Göttlichem und Kreatürlichem als die zugrundeliegende Differenz der Konfessionen bzw. der Konfessionskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.4 Der immanente Theismus, oder : Die Gefahr einer Vergöttlichung des Kreatürlichen . . . . . . . . . . . . . . . 27.5 Der abstrakt-transzendente Theismus, oder : Die Gefahr einer Trennung des Göttlichen und des Kreatürlichen . . . . 27.6 Der christologische Theismus, oder : Die Einheit des Göttlichen und des Menschlichen unter dem Gegensatz . . . 27.7 Zum sozialethischen Charakter des lutherischen Konfessiontypus, oder : Zur Rekonstruktion der sozialethischen Bedeutung des Dogmas bzw. der Lehre der lutherischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.8 Abschließende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28. Dogmatik und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.2 Die Sicht des Verhältnisses von Dogmatik und Ethik im ethischen Hauptwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.3 Die Verhältnisbestimmung der Disziplinen im dogmatischen Hauptwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29. Das christologisch-soteriologische Zentrum der Theologie des Kreuzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.1 Gegenstand, Methode und Architektonik der dogmatischen Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.1.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.1.2 Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.1.3 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
382 382 383 383 387
370 373 377
390 393 394 395
400 402 404 404 405 411 412 413 413 414 415
19
Inhalt
29.1.4 Dogmatische Behandlung der Christologie in Theanthropologie, Soterologie und Soteriologie . . . . 29.1.5 Status der Soteriologie innerhalb der Christologie und in ihrem Verhältnis zur Pneumatologie . . . . . . . . . 29.1.6 Strukturierung des soteriologischen Materials . . . . . 29.2 Christologie in Geschichte und Gegenwart . . . . . . . . . . 29.2.1 Hermeneutische Vorbemerkung zur Rede von „Kirchenlehre“ und „Gegensatz“ . . . . . . . . . . . . 29.2.2 Eine christologiegeschichtliche Orientierung mit systematischer Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.3 Die Heilsbedeutung des Todes Jesu: das hohepriesterliche Sühnopfer Christi als die definitive Realisierung und Erschließung der Toleranz und Solidarität Gottes . . . . . . . 29.3.1 Selbstbeschränkung und Tod Gottes . . . . . . . . . . 29.3.2 Die Selbstbeschränkung Gottes in der Gegenwart: die Auferstehung und das Wort vom Kreuz . . . . . . . . 29.3.3 Das Kreuz Christi: Genugtuung und Stellvertretung (Solidarität) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.3.4 Absage an einen falschen Objektivismus . . . . . . . . 30. Toleranz und Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30.1 Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30.1.1 Aufgeklärte Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30.1.2 Persönliche Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30.1.3 Soziale Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30.1.4 Göttliche Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30.2 Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30.2.1 Kontextualisierende Einführung . . . . . . . . . . . . 30.2.2 Das große Gesetz der Solidarität und Stellvertretung . 30.2.3 Beispiele für die Bezugnahme auf die Solidarität in der Analyse moralstatistischen Materials . . . . . . . . 30.2.4 Solidarität der Sünde, Solidarität des Heils und Solidarität Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30.2.5 Solidarität, Zeitdiagnostik und sozialpolitische Einstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
416 418 419 420 421 423
431 431 435 436 442 443 443 443 445 447 450 451 451 456 459 462 463
Zusammenfassung und Ausblick: Solidarische Toleranz . . . . . . . .
469
Literatur . . . . . . . . . . . Abkürzungen . . . . . . Bibliographie Alexander Weitere Quellen . . . . . Forschungsliteratur . .
475 475 475 485 491
. . . . . . . . . . . . . . . . . . von Oettingens . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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20
Inhalt
Anhang: „Lehrbild“ der Lutherischen Dogmatik von Oettingens (Beilage zu 1897a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
501
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
503
Erster Teil: Einleitung in die Studie und in das Werk von Oettingens
Vorüberlegungen zum Thema
23
1.
Vorüberlegungen zum Thema und Ziele der Untersuchung
1.1
Vorüberlegungen zum Thema
1.1.1 Das Kreuz und der christliche Glaube: der Kreuzesglaube Das Kreuz gehört ganz zentral zur Lebensgestalt christlichen Glaubens. Wir sehen es auf der Spitze vieler Türme der Kirchen, in denen die Glaubenden sich am Tag der Auferstehung des Gekreuzigten zum Gottesdienst versammeln. Wir begegnen ihm auf Friedhöfen, wo Christen beigesetzt werden. In der estnischen Sprache, meiner Muttersprache, wird diese elementare Bedeutung des Kreuzes für den christlichen Glauben besonders hervorgehoben. Für sie sind der christliche Glaube und das Kreuz untrennbar verbunden. Das estnische Eigenwort für das Christentum bzw. für den christlichen Glauben heißt „ristiusk“ – Kreuzesglaube. Das Wort „Kreuz“ steckt als Wurzel in vielen anderen Worten, die zum Kernbestand der christlichen Glaubenssprache gehören (u. a. in der Bezeichnung für „Taufe“, deren Wortbedeutung die Herstellung einer Verbindung bzw. Gemeinschaft der getauften Person mit dem Kreuz Christi ankündigt). Ein Christenmensch heißt „Kreuzesmensch“, der sich durch die „Freiheit eines Kreuzesmenschen“ charakterisieren lässt. Die Christenheit insgesamt wird als „Kreuzesvolk“ bezeichnet, etc. Eine derartige Sprachentwicklung wird nachvollziehbar, wenn wir daran denken, worauf sich nach dem Apostel Paulus der Glaube gründet, nämlich auf das „Wort vom Kreuz“ bzw. auf das Evangelium vom Tod und der Auferstehung Jesu Christi. Die Evangelien des Neuen Testaments, die das eine Evangelium bezeugen, sind im Sinn des berühmten Dictums Martin Kählers als ausführlich eingeleitete Passionsgeschichten anzusehen.1 Wilfried Härle präzisiert dies, indem er sie als von Anfang an vom Passionsmotiv durchzogen bewertet.2 Deshalb kann es beispielsweise nicht überraschen, wenn dasselbe Motiv in allen Kunstarten häufig bearbeitet und dargestellt worden ist.3 Die Gestalt und das Wort des Kreuzes weisen auf den Ursprung und die Mitte des christlichen Glaubens hin. Das Leben in diesem Glauben und aus ihm heraus ist deshalb oft als „Tragen des Kreuzes“ bezeichnet, dabei jedoch mit ganz unterschiedlichen Pointen gedeutet worden. 1.1.2 Theologie des Kreuzes – „a trendy concept“? In Anbetracht dieser Phänomene sowohl sprachlicher als auch nichtsprachlicher Art könnte man meinen, dass die Umschreibung christlicher Theologie als 1 Vgl. Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 60. 2 Vgl. Härle, „… gestorben für unsere Sünden“, 407. 3 Vgl. z. B. Viladesau, The Beauty of the Cross; Viladesau, The Triumph of the Cross.
24
Vorüberlegungen zum Thema und Ziele der Untersuchung
„Kreuzestheologie“ oder als Theologie des Kreuzes selbstverständlich sei. Doch dies ist nicht der Fall. Wohl spricht man in der neueren Forschung davon, dass die Kreuzestheologie Konjunktur habe4 – im Blick ist dabei vor allem die evangelische Theologie – oder man stellt fest: „the theology of the cross is a ,trendy‘ theological concept“5. Der natürliche Grund solchen Interesses liegt darin, dass die Kreuzestheologie auf irgendeine Weise als eine Theologie der Theologie oder eine Theorie des Theologischen in der Theologie aufgefasst wird. Doch ist hier m. E. mindestens dreierlei zu bedenken. Erstens, solche bzw. ähnliche Beobachtungen und Aussagen beinhalten das Eingeständnis, dass es Zeiten, aber auch geographische Kontexte gegeben hat, in denen eine Theologie des Kreuzes nicht Konjunktur gehabt hat bzw. dieser Begriff nicht in Mode war. Christliche Theologie hat sich an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Zeiten nicht immer, auf jeden Fall nicht explizit, d. h. unter der Anwendung des entsprechenden Begriffs, als Kreuzestheologie verstanden. Kreuzesglaube ist also nicht immer mit Kreuzestheologie verbunden gewesen. Zweitens gibt es auch in der heutigen theologischen Diskussion sowohl Stimmen, für die der Rückgriff auf das Kreuz gar keine oder nur nebensächliche Bedeutung hat als auch solche, die sich wegen wahrgenommener Schwierigkeiten des Begriffs oder aus anderen Gründen von seiner programmartigen Verwendung explizit distanzieren. Drittens kann in unserem ökumenischen Zeitalter konstatiert werden, dass insbesondere seitens der Tradition der orthodoxen bzw. „östlichen“ Theologie prinzipielle Bedenken gegenüber der Rolle, die das Kreuz in der „westlichen“ Theologie, sowie Frömmigkeit gespielt hat, geltend gemacht werden.6 Dieser Vorwurf einer Entstellung des Glaubens und der Theologie durch falsche Konzentration auf das Kreuz ist dabei natürlich ein ganz anderer als die vor allem im Zusammenhang der „westlichen“ Neuzeit und Aufklärung geläufig gewordene Kritik. Deren Stoßrichtung ist zwar dieselbe, aber sie ist ganz anders motiviert und wird mit ganz anderen Argumenten vorgetragen.
1.1.3 Kreuzestheologie – ein modernes Konzept? Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind im gleichen Jahr zwei Studien erschienen, die sich erstmals in monographischer Form eine Vergegenwärtigung der Geschichte der Kreuzestheologie zum Ziel gesetzt haben. Michael Korthaus meint in seiner ausführlichen Studie Kreuzestheologie. Geschichte und Gehalt eines Programmbegriffs in der evangelischen Theologie (2007) gezeigt zu haben, dass das Zustandekommen der programmatischen Verwendung dieses Begriffs, i. e. 4 Vgl. Korthaus, 1. 5 Madsen, 231. 6 Vgl. z. B. Nikolau, Kreuzestheologie aus orthodoxes Sicht; Papathomas, Kiriku alus.
Vorüberlegungen zum Thema
25
als einer Aussage darüber, worauf sich jede ordentliche Theologie inhaltlich und deshalb auch methodisch zu orientieren hat, in der Neuzeit, genauer in der Zeit der Neuorientierung der deutschsprachigen7 Theologie nach dem Ersten Weltkrieg zu verorten ist.8 Dabei gelte, dass dieser Terminus sich im Status eines Orientierungs- oder Leitbegriffes vor allem innerhalb der evangelischen Theologie durchgesetzt habe. Von daher bzw. soweit ihr dieser Status zuerkannt wird, könne die evangelische Theologie, oder konkreter : die evangelische Dogmatik, als Theologie des Kreuzes verstanden werden. Kreuzestheologie sei ein Programmbegriff der evangelischen Theologie des 20. Jh. geworden. Sie sei also, theologiegeschichtlich betrachtet, „das Erbe des 20. Jahrhunderts“9, in dogmatischer Hinsicht jedoch zugleich „das unaufgebbare Erbe der evangelischen Theologie“ überhaupt.10 Einige bekannte Theologen und Theologinnen, für die das Kreuz Christi im 20. Jh. in explizierter und programmartiger Weise – obwohl natürlich oft auf sehr unterschiedliche oder sogar einander widersprechende Art – die Quelle, das Zentrum und das Kriterium des theologischen Denkens angedeutet hat, sind Edith Stein (1891–1942), Hans-Joachim Iwand (1899–1960), Dietrich Bonhoeffer (1906–1945), Gerhard Ebeling (1912–2001), Kazoh Kitamori (1916–1998), Jürgen Moltmann (*1926), Gerhard O. Forde (1927–2005), Douglas John Hall (*1928), Dorothee Sölle (1929–2003), Kosuke Koyama (1929–2009), Carl E. Braaten (*1929), Choan-Seng Song (*1929), Eberhard Jüngel (*1934), John Sobrino (*1938), David Tracy (*1939), Alan E. Lewis (1944–1994), V&tor Westhelle (*1952). Diese Namen verweisen auf verschiedene (Sprach-) Kontexte und auf unterschiedliche konfessionelle Traditionen. Man kann also keinesfalls von einem Monopol etwa der lutherischen Theologie sprechen. Anna M. Madsen hat 7 Korthaus spricht zwar generell von „der evangelischen Theologie“, aber faktisch hat er die deutschsprachige evangelische Theologie im Blick. 8 „(E)s hat seinen Ausgang in der Zeit der ,dialektischen Theologie‘ genommen und stellt zunächst das Ergebnis einer Verbindung dialektisch-theologischer Grundgedanken mit den Resultaten der Lutherforschung dar.“ (Korthaus, 405). „Erst im 20. Jahrhundert begegnen wir in der evangelischen Theologie wieder kreuzestheologischen Konzepten. Nun erst beginnt sich der Begriff ,theologia crucis‘ überhaupt als häufig gebrauchter terminus technicus zu etablieren.“ (Ibid., 4). 9 Ibid., 405. 10 Ibid., 412f. Die andere These von Korthaus (neben der theologiegeschichtlichen Identifizierung der Theologie des Kreuzes als einer neuzeitlichen [Re-]Konstruktion) besagt, dass die Kreuzestheologie als Aufgabe ihren Ursprung nicht im 20. Jh., sondern vielmehr in den Theologien von Paulus und Martin Luther habe. Somit sei sie im dogmatischen Sinn zu verstehen als Vergewisserung der Identität der evangelischen Theologie, d. h. einer solchen Theologie, „die im Evangelium selber ihren Grund, ihr Kriterium und ihre Grenze findet“ und zugleich „ins Praktische des aus Glauben gelebten Lebens“ (das doch auch durch das Evangelium sein Gepräge erhält) zielt (ibid., 412). Die Kreuzestheologie sei nicht nur das Erbe des 20. Jh., sondern „das unaufgebbare Erbe der evangelischen Theologie und Kirche“ (ibid.).
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Vorüberlegungen zum Thema und Ziele der Untersuchung
vor Kurzem in ihrer Untersuchung The Theology of the Cross in Historical Perspective den Kreis der üblichen Beispiele erweitert und zu rekapitulieren versucht, wie die Kreuzestheologie z. B. in der Feministischen Theologie und der Befreiungstheologie aufgefasst, kritisch angeeignet und zur Geltung gebracht worden ist.11 Dank der beiden im Jahr 2007 erschienenen monographischen Behandlungen der Geschichte der Kreuzestheologie, die von der Beobachtung ausgehen, dass „Theologie des Kreuzes“ en vogue ist und nach der Herkunft und der Bedeutung dieses Begriffes fragen, kann mit Vorbehalt (da Korthaus und Madsen bei der Materialauswahl keine Vollständigkeit, sehr wohl aber Repräsentativität beanspruchen) eine Verallgemeinerung mit Blick auf den gegenwärtigen deutschund englischsprachigen Forschungsstand unternommen werden. Ich reduziere also die Geschichte, die heute anhand dieser beiden Darstellungen darüber erzählt wird bzw. werden kann, wie Kreuzestheologie zur Signalbezeichnung für eine genuin christliche Theologie wurde, auf ihr Grundschema. Die entscheidenden Ursprungsimpulse lägen in den Theologien des Paulus und Martin Luthers. Nach einer langen Unterbrechung tauche die Formel am Ende des 19. Jh. im Zusammenhang des Rückgriffes auf Luther und Paulus wieder auf. Jedoch erst das 20. Jh. werde ein richtiges Jahrhundert der Kreuzestheologie.12 Ausgehend von der deutschsprachigen Theologie zwischen den Weltkriegen verbreite sich das Interesse daran in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auch im anglophonen Raum.13 Eine solche Verbindung der theologia crucis als eines dogmatischen bzw. fundamental-theologischen Leitbegriffes mit dem 20. Jahrhundert und ihre gegenwärtig „gefühlte“ „Hochkonjunktur“ kann auch als ein Krankheitssymptom interpretiert werden. Diese theologiehistorische Verortung ist z. B. von dem bekannten nordamerikanischen lutherisch-römischkatholischen Theologen und Ökumeniker Michael Root in einem vielbeachteten Vortrag mit ausdrücklichem Verweis auf das Werk von Korthaus sehr wohl geteilt, jedoch auch 11 Vgl. Madsen, 207–223; vgl. auch Janssen/Joswig, Erinnern und aufstehen. 12 Vgl. Madsen, 169; Korthaus, 4. 13 Walther von Loewenich (1903–1992) und sein Buch Luthers Theologia crucis spielen in dieser Geschichte eine zentrale Rolle. „Mit dieser Untersuchung nahm die kreuzestheologische Hochkonjuktur in der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts ihren Anfang.“ (Korthaus, 9). Das Jahr 1929, in dem die erste Auflage dieser Lutherstudie erschien, sieht Korthaus als Schnittpunkt für die Etablierung des Begriffes als „terminus technicus des dogmatischen Diskurses“ (ibid., 8). Für Madsen gilt: „English-speaking attention to the theology of the cross swelled after 1975, the year in which J.A. Bouman translated Luther’s Theology of the Cross.“ (Madsen, 169). Sie fasst die Bedeutung von Löwenichs Studie folgendermaßen zusammen: „Perhaps as important as the contribution of the book itself was the renaissance it inspired in world-wide consideration of the the theology of the cross.“ (Ibid., 178).
Vorüberlegungen zum Thema
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als Anlass und Baustein für eine Dekonstruktion und Totalkritik des „standard 20th Century Lutheranism“ verwendet worden.14 Es handele sich um eine späte und erfolgreiche, aber letztendlich höchst fragwürdige Neuentwicklung. Douglas John Hall, ein profilierter nordamerikanischer Vertreter einer Theologie des Kreuzes, ist dagegen der Überzeugung, dass für die Christen und Christinnen seines Kontextes eine Auseinandersetzung mit gerade jener Tradition, die Luther als theologia crucis bezeichnet, unbedingt erforderlich ist. Diese Tradition ist seiner Wahrnehmung zufolge „thin“: Sie ist „neglected, and frequently rejected“.15
1.1.4 Explizite Verwendungsarten des Terminus „Theologie des Kreuzes“ Die Wendung „Theologie des Kreuzes“ und ihre Modifikationen können explizit als Schlüsselformel für und Anleitung zu einer echten Theologie überhaupt gebraucht werden. Dieser Gebrauch, so die These von Korthaus, kommt eigentlich erst im 20. Jh. in Gang, wobei Paulus und Luther sachlich als ihre Pioniere angesehen werden. Ich nenne es den fundamentaltheologischen Gebrauch der Wendung. Davon unterscheide ich ihre doppelte explizite Verwendung im engeren Sinn. Sie kann zum einen schlicht und allgemein als Bezeichnung der Weise gelten, in der von einer Theologie vom Kreuz (Jesu) gesprochen wird. Zum Beispiel kann Wolfhart Pannenberg die theologia crucis von Schleiermacher und Ritschl als zwei Varianten des spezifisch modernen Typus der Theologie des Kreuzes behandeln und darstellen, obwohl im Denken der beiden dem Kreuz bekanntlich keine zentrale Stellung zukommt.16 Sie kann zum zweiten die Reflexion speziell über die für zentral gehaltene Bedeutung des Kreuzestodes Jesu bezeichnen. Ende des 20. Jh. und in der heutigen Diskussion wird dem Begriff des „Opfers“ ein erstaunlich großes Interesse entgegengebracht. Dieses erneute Interesse an dem alten und für lange Zeit von vielen für überholt gehaltenen Begriff ist nicht zuletzt den kulturtheoretischen Arbeiten von Ren8 Girard (*1923) zuzuschreiben. Vor wenigen Jahren ist im Anschluss an ihn ein beachtenswerter Versuch unternommen worden, in monographischer Gründlichkeit „A Theology of the Cross“, so der Untertitel des Werkes Saved from Sacrifice, zu schreiben.17 Doch betont Mark S. Heim selbst, dass er darin gerade nicht, und sei es in nuce oder prinzipientheoretisch, eine Behandlung des Ganzen der Theologie beansprucht, sondern 14 15 16 17
Vgl. Root, Lutheranism. Hall, 23. Vgl. Pannenberg, A Theology of the Cross, 165–167. Vgl. Heim, Saved from Sacrifice.
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Vorüberlegungen zum Thema und Ziele der Untersuchung
seinen Blick „at one limited and troubled corner in a much larger landscape“ wirft.18 Hier hat die Bezeichnung „Theologie des Kreuzes“ nicht diesen fundamentaltheologischen Sinn, sondern will zur Klärung eines zentralen Punktes der Christologie und Soteriologie, der schwer verständlich und oft missverständlich ist, beitragen. Es ist bezeichnend, dass diese Monographie ohne eine einzige Erwähnung Luthers auskommt. Sie ist ein aktuelles Beispiel dafür, wie das Kreuz für das theologische Denken sehr wohl wichtig sein kann, aber eine „Theologie des Kreuzes“ keinen fundamentaltheologischen Rang besitzt.
1.1.5 Postaufklärerische Impulse für das eigentliche kreuzestheologische Jahrhundert, oder: Warum scheint explizite Kreuzestheologie in das 20. Jahrhundert zu gehören? Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass die im 20. Jahrhundert zunehmend anerkannte fundamentaltheologische Auffassung der „Theologie des Kreuzes“ zwar nicht explizit, aber der Sache nach sehr wohl im früheren Denken der Neuzeit durch wichtige Impulsgeber vorbereitet wurde. Das große und bekannte Beispiel spekulativer Art ist natürlich Friedrich Hegel.19 M. E. ist es aber interessant und produktiv zu sehen, wie V&tor Westhelle in seinem Buch The Scandalous God. The Use and Abuse of the Cross den inspirierenden Anstoß für die Rückgewinnung der Theologie des Kreuzes in der Postaufklärung nicht 18 Ibid., x. 19 Vgl. dazu exemplarisch das im Jahr 1977 zum ersten Mal erschienene Hauptwerk von Eberhard Jüngel (Jüngel, Gott). Einen sehr knappen, aber informativen Zwischenbericht über die neuzeitliche Rede vom Tod Gottes, der mit Jean Paul, Hegel und Nietzsche beginnt und bis zu den theologischen Diskussionen der 1960er Jahre reicht, hat Sigurd Daecke verfasst (Daecke, Der Mythos vom Tode Gottes). Weiterführend ist auch der jüngst erschienene enzyklopädische Beitrag von Heinrich Assel über die Luther-Rezeption im 19. Jh. (vgl. Assel, The Use of Luther’s Thought). Es scheint mir bedauerlich, dass Korthaus den großen Hegel, aber dann auch die an ihn anschliessenden spannungsreichen theologischen Diskussionen im Vormärz und danach, in seine Darstellung der (Vor-) Geschichte des Begriffes „Kreuzestheologie“ gar nicht einbezogen hat. Er konzentriert sich „auf die evangelische Theologie im Allgemeinen und auf den paulinisch-lutherischen Ursprung der Kreuzestheologie in ihr“ und meint deshalb eine klare Grenze zur Philosophie ziehen zu können. Zwar ist der Verzicht auf die Berücksichtigung namentlich der Philosophien von Hegel und Nietzsche „schmerzlich“, aber doch „gerechtfertigt“, weil ihr „Verständnis des Kreuzestodes Jesu für die Rede von Gott eine derartig weitgehende Modifikation des biblisch-reformatorischen Verständnisses des Kreuzestodes Jesu darstellt, daß es durch den […] explizit theologischen […] Begriff von ,Kreuzestheologie‘ nicht getroffen wird.“ (Korthaus, 13f). Auch wenn dies tatsächlich so wäre und eine Geschichte der „Kreuzestheologie“ ohne jene Philosophen – ich füge noch Johann Georg Hamann hinzu – auskommen könnte, ergibt sich immer noch die Frage, ob tatsächlich keiner der unterschiedlichen Hegel-Schüler der theologischen Zunft im engeren Sinn etwas zur modernen Geschichte der Kreuzestheologie beigetragen hat.
Vorüberlegungen zum Thema
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allein idealtypisch auf Hegel, sondern auch auf Karl Marx zurückführt.20 Dieser weise nämlich die spätere Kritik von Friedrich Nietzsche am Christentum, an seiner Sklavenmoral und an seiner Pflege des schwachen Willens, mit einem „praxiologischen Argument“ zurück. Ich möchte den Hinweis Westhelles, der durch Johan Baptist Metz und Walter Benjamin vermittelt ist, vielleicht etwas eigenwillig folgendermaßen interpretieren: Diese außerhalb der engeren Zunft der Theologie entwickelten Impulse tragen zur Einsicht bei, dass die fundamentaltheologische Auffassung der Theologie des Kreuzes – das Kreuz Christi als Quelle der Erkenntnis Gottes und somit aller theologischen Erkenntnis – zugleich eine fundamentalethische ist. D. h. sie ist im eminenten Sinne eine Sache der Praxis und mit einem Auftreten für die Gerechtigkeit verbunden, mit einem Leben aus dem Glauben, das auf die Überwindung und nicht bloß auf die Duldung der Ungerechtigkeit zielt. Hier ist also der eine große moderne Vorwurf angedeutet: Christlicher Glaube als Kreuzesglaube würde Sklavenmoral und Apathie erzeugen. Ich bringe diese Kritik auf die Kurzformel: Kreuzestheologie ist des Menschen unwürdig! Der andere moderne Vorwurf betrachtet das Kreuz als einen Gegensatz zur Liebe Gottes. Der christliche Glauben kann eigentlich also kein Kreuzesglaube sein. Wiederum kurz: Kreuzestheologie ist Gottes unwürdig! Könnte man mit diesem Hintergrund den bei Korthaus und Madsen entstehenden Schein eines sehr wenig bzw. fast unvorbereiteten (Durch-)Bruches des 20. Jh. zu einem Jahrhundert der Kreuzestheologie, das in seiner zweiten Hälfte viele kreuzestheologische Entwürfe hervorgebracht hat, vielleicht durch die folgende Überlegung ein stückweit überwinden? Im 20. Jh. hat sich zunehmend die Überzeugung verbreitet, dass das Kreuz bzw. der Kreuzesglaube unter den Bedingungen der Postaufklärung nur unter der Vorrausetzung denkerisch und existenziell verantwortbar sein kann, dass es gelingt, Kreuzestheologie (wieder) in den fundamentaltheologischen Rang zu erheben und von da aus, d. h. vom Kreuz bzw. vom Kreuzesglauben ausgehend, auch Kraft und Orientierung für eine aktive Lebensgestaltung zu gewinnen. Angesichts der Ungerechtigkeiten und Missstände der Welt erschöpft diese sich nicht im Tragen des Kreuzes im Sinne deren duldsamen Hinnehmens, des Sich-Tröstens mit der fremden Gerechtigkeit Christi und des Hoffens auf eine ewige Gerechtigkeit im Jenseits. Das würde bedeuten, dass die christliche Theologie in der Postaufklärung vor eine doppelseitige Aufgabe gestellt ist: Die Erneuerung der christlichen Theologie als Kreuzestheologie tut Not und diese sollte mit einer erneuerten Ethik Hand in Hand gehen.21 20 Vgl. Westhelle, The Scandalous God, 72–74. 21 Ein indirekter und exemplarischer Hinweis darauf, dass gerade in der Theologie des Vormärzes ein derartiges, die kreuzestheologischen Entwicklungen des 20. Jh. vorbereitendes
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Vorüberlegungen zum Thema und Ziele der Untersuchung
1.2
Ziele dieser Untersuchung
1.2.1 Explizite Kreuzestheologie – eindeutig eine Sache schon des 19. Jahrhunderts Die vorliegende Untersuchung beabsichtigt zu zeigen, dass der gegenwärtige Forschungsstand hinsichtlich des Verständnisses der Genese der Kreuzestheologie als modernem dogmatischem Leitbegriff und somit hinsichtlich der Beurteilung der Entwicklung der neueren (evangelischen) Theologie, sofern er durch die Arbeiten von Korthaus und Madsen repräsentiert wird, einer nicht unwesentlichen Revision bedarf. Nach Korthaus, der nur die deutschsprachige Theologie berücksichtigt,22 ist es Hans Joachim Iwand, bei dem theologia crucis zum ersten Mal zu einem dogmatischen terminus technicus erhoben wird – vor allem in seinen Schriften aus den 1950er und 1960er Jahren – und bei dem deshalb die Geschichte der kreuzestheologischen Entwürfe in der evangelischen Dogmatik im eigentlichen und expliziten Sinn erst richtig beginnt.23 Die besondere Leistung und Bedeutung von Gerhard Ebeling liegt für Korthaus in diesem Zusammenhang nicht zuletzt darin, dass bei Ebeling zum ersten Mal überhaupt das kreuzestheologische Programm, sofern es im Jahr 1979 die Probe einer voll ausgeführten Dogmatik besteht, eingelöst wird.24 In den Denkansätzen Martin Kählers, speziell in einigen seiner späteren um die Jahrhundertwende erschienenen Schriften, und seines Schülers Bernhard Steffen identifiziert Korthaus eine Vorgeschichte, die es erlaubt Kähler als „Vater“ der Kreuzestheologie des 20. Jh. zu bezeichnen.25 Doch betont Korthaus zugleich, dass der Begriff von Kähler selber nicht explizit und programmatisch verwendet worden ist und für ihn also nicht den Status einer „Leitkategorie theologischen Denkens“ gehabt hat.26 Der Anlass zu einer Revision derartiger Theologiegeschichtsschreibung, auch wenn wir bereit wären, sie von aller impliziten, mit dem Begriff „Kreuzestheologie“ nicht explizit operierenden Vorgeschichte, zu abstrahieren, ist – so meine These – durch das theologische Werk Alexander von Oettingens (1827–1905)
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Problembewusstsein, und das Bemühen um seine Bearbeitung im Anschluss an Hegel durchaus präsent sein dürfte, lässt sich aus der Studie Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat von Michael Theunissen entnehmen (Theunissen, Hegels Lehre). So wird z. B. der schottische evangelische Theologe Peter T. Forsyth (1848–1921), der zwar nicht explizit auf Luther zurückgreift und nicht explizit von theologia crucis redet, aber sachlich mit seinen späteren Schriften vielleicht doch in dieser (Vor-)Geschichte eine Würdigung verdient, außer Acht gelassen. Vgl. Korthaus, 15f, 408. Vgl. ibid., 408f. Vgl. ibid., 15, 60. Ibid., 57.
Ziele dieser Untersuchung
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eindeutig gegeben. Es liegt darin nicht nur eine Theoriegestalt vor, für die der Terminus theologia crucis schon seit dem Jahr 1859, d. h. fast hundert Jahre vor den relevanten Schriften Iwands, explizit als ein theologischer Leitbegriff dient, sondern die um die Jahrhundertwende (1897–1902), d. h. ca. 80 Jahre vor dem Erscheinen der Dogmatik des christlichen Glaubens von Ebeling,27 auch ihre Durchführung in einer großangelegten dogmatischen Gesamtdarstellung findet. Folglich ist auch die explizite Kreuzestheologie in der Moderne epochal anders zu verorten als Korthaus und Madsen vorschlagen: Sie ist theologiegeschichtlich nicht erst eine Sache des 20. Jahrhunderts, sondern ganz klar schon des 19. Jahrhunderts. Ihr Entstehungs- bzw. Entdeckungszusammenhang liegt also nicht in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – in der Verschmelzung von Resultaten der erneuerten Luther-Forschung bzw. der sogenannten Luther-Renaissance mit den Hauptmotiven der dialektisch-theologischen Bewegung Karl Barths und anderer. Es sind die Arbeiten von Oettingens in denen theologia crucis ausdrücklich zur theologischen Leitkategorie erhoben wird, in deren Licht die dogmatische Arbeit durchzuführen ist. Diese Arbeit wird in einem gewissen Sinn in seinem dogmatischen Hauptwerk, der „Lutherischen Dogmatik“, zu einem ersten Abschluss gebracht. So dürfte Ebeling evtl. als derjenige zu würdigen sein, der die Kreuzestheologie im 20. Jahrhundert als Erster – und in der Ansicht Korthaus auch als Letzter28 – in die Gestalt einer ausgeführten Dogmatik transformiert hat. Für von Oettingen gilt dies im Kontext der Theologie des 19. Jahrhunderts. 1.2.2 „Die beste ethische Leistung des 19. Jahrhunderts“ (E. Brunner)? Alexander von Oettingen gehört natürlich nicht zu den anerkannten großen Klassikern, auch nicht zu den heute gut bekannten Gestalten der Theologie des vorletzten Jahrhunderts. Sein Werk ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Wenn man an ihn in Lexika und Sekundärliteratur des 20. Jh. noch erinnert, dann geschieht das nicht wegen seiner Dogmatik, sondern aufgrund seiner Ethik, genauer : seiner Untersuchung Die Moralstatistik. Dieses Werk, das ursprünglich den ersten Teil seines ethischen Hauptwerkes – der die beiden Teile verbindende Untertitel des Werkes lautet Versuch einer Socialethik auf empirischen Grundlage – bildete, hat ihn zu seinen Lebzeiten weit über die Grenzen des deutschsprachigen Raumes und der theologischen Fachwelt hinaus bekannt gemacht. So liegt auch der Fokus der bisherigen vier monographischen Unter27 Ebeling, Dogmatik. 28 Vgl. Korthaus, 409. Ich lasse hier die Frage beiseite, ob sich diese Ansicht mit Blick auf die deutschsprachige Theologie relativieren lässt und verweise nur darauf, dass im späten 20. Jh. einige mehrbändige englischsprachige Werke erschienen sind, die als mögliche weitere Kanditaten eine Erwägung verdienen.
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Vorüberlegungen zum Thema und Ziele der Untersuchung
suchungen, die dem Werk von Oettingens gewidmet sind, auf seiner Ethik. Dabei dient allen Die Moralstatistik als Hauptquelle. Dank dieses Werkes gilt von Oettingen als einer der wichtigen Vorläufer der heutigen empirischen Sozialforschung. Wenn von Oettingen in der (Sekundär-)Literatur des vorigen Jahrhunderts auftaucht, dann ist das vor allem der Verdienst dieser Schrift, die von Seiten so verschiedener Theologen wie Emil Brunner und Friedrich Wilhelm Graf als „bahnbrechend“ angesehen worden ist.29 Hans Joachim Iwand widmet dieser „außerordentlich seltsam[en] und interessant[en]“ Erscheinung ein ganzes Kapitel in seiner Behandlung der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts.30 Alexander von Oettingen wird aber auch als derjenige behandelt und weiterhin in Erinnerung behalten, der den Begriff „Sozialethik“ bzw. „Socialethik“ geprägt und in die Wissenschaftssprache und Fachdiskussion eingeführt hat.31 Seine theologische Ethik ist jedoch im Schatten seiner Moralstatistik verborgen geblieben und zudem durch eine wiederholt fehlerhafte Titelangabe im 20. Jh. damit oft verwechselt bzw. identifiziert worden.32 Seine Die Moralstatistik wird schlichtweg als Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage vorgestellt. Dadurch wird unvermeidlich der abstoßende Eindruck vermittelt, als ob er hier eine Ethik statistisch begründe und in eine Moralstatistik verwandeln wolle. Die christliche Sittenlehre von Oettingens ist in der Forschung bisher nicht näher betrachtet worden. So steht das merkwürdiges Urteil des großen reformierten Theologen Emil Brunners, formuliert in einem seiner ethischen Hauptwerke, immer noch im Raum und lässt sich nicht richtig einschätzen: Von Oettingens „,Sittenlehre‘ […] hat man damals noch nicht verstanden; die beste ethische Leistung des 19. Jahrhunderts blieb verschollen bis heute.“33 Wenn auch jene Auszeichnung von Oettingens durch Brunner viel zu hoch greifen dürfte – eine direkte Untermauerung oder Widerlegung dieser Behauptung will und kann ich in dieser Studie nicht anbieten –, bleibt eine doppelte Beobachtung in Kraft. Erstens: Im Werk von Oettingens wird zum ersten Mal die (theologische) Ethik explizit – und zwar in einem grundsätzlichen, nicht
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Vgl. Brunner, Das Gesetz und die Ordnungen, 94; Graf, Gesellschaft des Kaiserreichs, 24. Iwand, Theologiegeschichte, 165. Das Recht dieser Rollenzuweisung und ihre Grenzen bespreche ich unten in Kap. 16. So z. B. in den Einträgen zu „Alexander von Oettingen“ in den drei ersten Auflagen der RGG. Leider findet sich dieser desorientierende Irrtum sogar bei den Autoren, die sich gründlich mit von Oettingen auseinandergesetzt haben (vgl. Linnenbrink, „Sozialethische Weltansicht“, 180, 183; Pawlas, Oettingen, 145). 33 Brunner, Das Gesetz und die Ordnungen, 91f. Irrtümlicherweise bezieht A. Pawlas, der zuletzt Teile des Werkes von Oettingens eingehender untersucht hat, Brunners Votum auf Die Moralstatistik (vgl. Pawlas, Oettingen, 145). Brunner spricht jedoch vom Band Die christliche Sittenlehre.
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allein einen Teilbereich der Ethik betreffenden Sinn34 – als Sozialethik aufgefasst und auf den Begriff gebracht. Zweitens: Es wird darin zum ersten Mal unter Einbeziehung empirischer Gesellschaftsforschung in Form von Moralstatistik ein Versuch ihrer umfassenden zusammenhängenden Durchführung unternommen. Diese Beobachtung ist der zweite Punkt, auf den die vorliegende Studie aufmerksam machen möchte. 1.2.3 Alexander von Oettingen – explizite Kreuzestheologie und explizite Sozialethik im 19. Jahrhundert Wie ist der erstaunliche und in dieser Deutlichkeit bisher nicht wahrgenommene und formulierte Sachverhalt zu verstehen und zu beurteilen, dass das explizite Programm einer „Kreuzestheologie“ und das explizite Programm einer „Sozialethik“ im Zusammenhang desselben theologischen Gesamtwerkes entwickelt wurden? Alexander von Oettingen, so der Vorschlag dieser Studie, sollte als derjenige Systematiker der Neuzeit gewürdigt werden, der als Erster Sozialethik explizit zum Programm erhoben hat – Ethik ist als Sozialethik zu verstehen und zu betreiben! Und er hat dasselbe ebenfalls als Erster auch für die Kreuzestheologie getan hat – Theologie ist als Kreuzestheologie aufzufassen und zu pflegen! Diesen Einsichten hat er nicht nur in seinem umfangreichen Werk Geltung zu schaffen versucht, sondern es ist ihm vergönnt gewesen ihre Erprobung und Entfaltung in zwei, nach eigener Bezeichnung, „Lebenswerken“, abzuschließen. Deshalb frage ich: In welchem Verhältnis stehen explizite Sozialethik und Kreuzestheologie in der Gestalt ihrer ersten systematischen Bearbeitung in der Postaufklärung? Des Weiteren: Wie ist zu beurteilen, dass die moderne Genese einer ausdrücklich als Kreuzestheologie begriffenen Theologie und einer als Sozialethik begriffenen Ethik so nahe beieinander liegen? Auch zur Beantwortung dieser Fragen versuche ich mit der vorliegenden Arbeit einen Beitrag zu leisten. 1.2.4 Impulse für eine Weitergestaltung des heutigen theologischen Denkens Wenn die theologiegeschichtliche Bedeutung von von Oettingens Werk in dem bisher Angedeuteten zu entdecken ist, dann darf zu erwarten sein, dass im Zuge einer erneuerten Lektüre seines Gesamtwerkes, die eine erneuerte bzw. etwas modifizierte Wahrnehmung der Entwicklung der Theologie in der Moderne mit sich bringt, eventuell auch einige Impulse für das heutige theologische Denken und seine Weitergestaltung sichtbar werden können. Doch ist hier m. E. ein Vorbehalt geboten. 34 Vgl. unten Kap. 16.
34
Forschungslage bezüglich des Werkes von Oettingens
Das Gesamtwerk von Oettingens ist umfangreich und bisher nur ansatzweise bearbeitet, d. h. es ist weder transparent noch bekannt.35 Es dokumentiert eine Theologie, die in das längst vergangene 19. Jh. gehört. Angesichts dieser Ausgangslage möchte ich gleich zu Beginn festhalten: Ich bemühe mich zwar darum, dass das Werk von Oettingens durchsichtiger und verständlicher wird, halte es aber in jetziger Situation für unangebracht, mit diesem Theoriegebilde in eine stete Auseinandersetzung um seine Geltung zu treten. Wenn dies also in der Studie nicht durchgehend erfolgt, bedeutet das nicht, dass ich die Stimme von Oettingens als eine solche betrachte und empfehle, die in der heutigen theologischen Diskussion unmittelbar wieder laut werden könnte. Das ist unmöglich. Vielmehr bedeutet es, dass eine eventuelle Transformation seiner Theologie in eine heute verantwortlich vertretbare systematisch-theologische Theorie eine Aufgabe für sich ist. Diese kann im Zuge dieser Arbeit nicht geleistet werden. Ich bin eher skeptisch, ob man sie sich überhaupt zum Ziel setzen sollte. Trotzdem möchte ich zum Schluss der Studie einige m. E. vielversprechende Züge in seiner Theologie ausdrücklich benennen. Was systematisch von Belang ist, ist immer im Historischen enthalten und will in einem Gespräch verstanden, offengelegt – und kritisch überprüft werden. Ich hoffe mit dieser Studie insgesamt ein Gespür dafür zu erwecken, dass das „außerkanonische“ und bisher weitgehend unbekannte Gesamtwerk von Oettingens zu manchen überraschend tiefgreifenden Korrekturen in der etablierten Sicht des Laufs der neueren Theologiegeschichte ruft. Es sind darin Züge und Potentiale enthalten, die nach einer genaueren kritischen Auslotung rufen und die in Gestalt systematischer Transformation auch im Zusammenhang der theologischen Herausforderungen und Diskussionen unserer Zeit produktiv und inspirierend wirken können.
2.
Forschungslage bezüglich des Werkes von Oettingens
Das Werk von Oettingens ist seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts vier Mal zum Gegenstand monographischer Untersuchungen geworden. Alle diese Monographien sind Qualifikationsarbeiten, denen keine endgültige Bearbeitung zu einem „normalen“ Buch zuteilgeworden ist. Deshalb gehe ich näher auf sie ein, um ihre Annäherungsweisen zu vergegenwärtigen und ihre Ergebnisse festzuhalten. Ich erwähne zudem kleinere Arbeiten über von Oettingens Werk und schließe mit einer Zusammenfassung der Art und des Ertrags bisheriger Forschung. 35 Vgl. zur Forschungslage unten Kap. 2.
Moralstatistik und ihre Bedeutung für den Entwurf einer christlichen Sozialehre
2.1
35
Linnenbrink 1961: die Moralstatistik und ihre Bedeutung für den Entwurf einer christlichen Sozialehre
Zunächst behandle ich die von Günter Linnenbrink (*1934) beim „Nestor der evangelischen Sozialethik“1 Heinz-Dietrich Wendland (1900–1992) in Münster verfasste Dissertationsschrift Die Sozialethik Alexander von Oettingens (Die Moralstatistik und ihre Bedeutung für den Entwurf einer christlichen Soziallehre). Erst im Schlussteil wird ausdrücklich gesagt, worum es ging: um eine Untersuchung von Oettingens „Begründung der ,Sozialethik‘“ bzw. seines „Versuch[es] einer Begründung christlicher Soziallehre“.2 Quellenmäßig wird zwar auf die Hauptwerke von Oettingens und auf die zwei kleineren Schriften verwiesen, hauptsächlich handelt es sich jedoch um eine Auseinandersetzung mit der 3. Auflage seiner Untersuchung Die Moralstatistik. Die Kontextualisierung der Untersuchung erfolgt in der Einleitung, die die Gefährdung der Theologie durch das naturwissenschaftliche Denken im 19. Jh. skizziert. Es folgt ein kurzes erstes Kapitel zum Selbstverständnis der Statistik im 19. Jh. als empirischer Gesellschaftsanalyse. In Folge des Siegeszuges des naturwissenschaftlichen Denkens und der Denkatmosphäre, die ihre Grundlegung durch Kants kritische Philosophie erhalten habe und zur Zeit von Oettingens maßgeblich durch den Neukantianismus geprägt sei, scheine die empirische Wirklichkeit durch einen Wirklichkeitsdualismus gefährdet: „Die eigentliche Wirklichkeit wurde für die Theologie mehr und mehr die Subjektivität und ihre innere Bewegtheit und deren Beschreibung […]. Oder eine sich oberhalb der empirischen Geschichte abspielende ,Heilsgeschichte‘“.3 Wenn konkret die Moralstatistik, „die empirisch-exakt arbeitende Gesellschaftswissenschaft jener Zeit“ – in der Tradition von Henri Saint-Simon (1760–1825), Auguste Comte (1798–1857) und Adolphe Quetelet (1796–1874) – die Gesellschaft als ein Kausalnexus betrachte, scheine die menschliche Freiheit bzw. das individuelle menschliche Handeln aufgehoben oder auf „die bloße Innerlichkeit reduziert“4. Von Oettingen versuche dagegen eine „Überwindung des neukantianischen Trennung des ,Reiches der Natur‘ und des ,Reiches des Geistes‘“ und somit eine Wiedergewinnung eines einheitlichen Verständnisses der Wirklichkeit.5 Er wolle die Moralstatistik und ihre Ergebnisse in eine Sicht der Gesamtwirklichkeit integrieren, in der „die Individualität des Menschen gerade unter der Voraussetzung seiner sozialen Abhängigkeit […] gegenüber der naturalis-
1 2 3 4 5
So Moes, Wendland, 45. Linnenbrink, Sozialethik, 171, 177. Linnenbrink, Sozialethik, 7. Ibid., 6. Ibid., 7.
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Forschungslage bezüglich des Werkes von Oettingens
tischen Nivellierung von Natur und Geschichte“ behauptet wird.6 Insofern von Oettingen die Einheit der Wirklichkeit vom Handeln Gottes und das Verhältnis von Natur und Geschichte am besten in dem Begriff „Teleologie“ aufgefasst verstehe, sei nach ihm das „teleologische Verständnis der Wirklichkeit […] die einzige Möglichkeit für die Theologie, ihrer Gefährdung durch das naturwissenschaftliche Denken zu entgehen“.7 Das zweite Kapitel behandelt Definition und Funktion der Statistik nach von Oettingen, wobei auch die Weise ihrer Integration in Form der Moralstatistik in das Projekt einer theologischen Ethik dargestellt wird. In einer Situation, in der die Trennung und Entgegensetzung der „empirisch-induktiven“ und „systematisch-deduktiven“ Arbeitsweisen geläufig waren, bemühe sich von Oettingen um eine sorgfältige und eingehende wissenschaftstheoretische Klärung. Er konzipiere „einen Wissenschaftsbegriff, der es ihm gestattet, die beiden methodischen Verfahrensweisen miteinander zu verbinden.“8 Er zeige, wie die Naturwissenschaft und die Geisteswissenschaft methodisch aufeinander angewiesen sind: beide schöpfen ihre Erkenntnisse aus der „Synthese […] empirischer Wahrnehmung und abstrakter Systematisierung“.9 Eben durch diese Korrelation beider methodischen Wege legitimiere von Oettingen seinen Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage. Die Statistik ermögliche zwar eine Feststellung der Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Lebens, deren Grund und Sinn könne sie jedoch nicht aufweisen. Die Funktion der Statistik bestehe also „in der Erkenntnis gesellschaftlicher Strukturgesetzlichkeiten“ und sie „harre […] auf die Wissenschaft, die ihre Ergebnisse aufgreift und sie philosophisch-theologisch deutet“.10 In Linnenbrinks Interpretation verwendet von Oettingen in seiner Auseinandersetzung mit der Moralstatistik und in ihrer Integration in die Ethik eine Methode, die man mit Paul Tillich eine „Methode der Korrelation“ nennen könnte: „die durch die Moralstatistik aufgeworfene Frage nach dem Sein des Menschen, nach der Verwirklichungsmöglichkeit seiner selbst innerhalb physischer und gesellschaftlicher ,Zwänge‘ wird von der Theologie aufgegriffen und zunächst als Frage explizit gemacht, die nicht schon in sich selbst die Antwort enthält. In diese Frage hinein spricht die Theologie ihre Antwort, die sie aus der Realität der Offenbarung Gottes entnimmt.“11 Im dritten Kapitel geht es um die „sozialethische Weltanschauung“ von Oettingens in ihrem Verhältnis zur Moralstatistik. Es wird die apologetische 6 7 8 9 10 11
Ibid. Ibid. Ibid., 22. Ibid., 26. Linnenbrink, Sozialethik, 29, vgl. 52. Ibid., 53.
Moralstatistik und ihre Bedeutung für den Entwurf einer christlichen Sozialehre
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Funktion der Moralstatistik in der Kritik sowohl eines naturalistischen Gesellschaftsdeterminismus, der das Menschsein gleichschaltet, als auch einer individualistischen-atomistischen Anthropologie und Ethik, die die „soziale Dimension des Individuums nur als sekundäres Attribut“12 betrachtet, hervorgehoben. Das vierte Kapitel beschreibt von Oettingens „sozialethische Weltansicht“ als Konsequenz der moralstatistischen Wirklichkeitserkenntnis. Die Moralstatistik entlarve nach von Oettingen den deterministischen Kollektivismus und den liberalistischen Individualismus als dogmatistische Ideologien. Durch sie seien die aufgewiesenen „menschlichen Verhaltensgesetzmäßigkeiten“ und eine „überindividuell sich vollziehende[] ,Naturordnung‘“ nicht zu verstehen.13 „Die von der Moralstatistik aufgezeigte Verflochtenheit des Einzelnen in das soziale Ganze lässt Oettingen zu einer anthropologischen Grundeinsicht kommen, die in engster Nähe zur thomistisch-naturrechtlichen Anthropologie steht.“14 Für die „sozialethische Weltansicht“ seien drei sich in einem inneren Wechselverhältnis befindenden Faktoren – „göttlich-universale“, „gattungsmäßig-soziale“ und „individuell-persönliche“ – konstitutiv. Mit Hilfe dieser Faktoren lasse sich für von Oettingen die menschliche Wirklichkeit in der Totalität ihrer Bezüge und Ausformungen im Zusammenhang der Geschichte hinreichend beschreiben. Doch ihr „ausgewogene[s] und harmonische[s] Verhältnis“ sei zugleich „die Bedingung für die Anerkennung und theologische Legitimation eines menschlich-gesellschaftlichen Phänomens“, d. h. diese sozialethische Weltansicht sei auch ein gesellschaftskritisches Prinzip.15 Im Urteil Linnenbrinks erschließt sich die sozialethische Position von Oettingens, die im Unterschied zum liberalistischen Individualismus und dem deterministischen Kollektivismus die moralstatistische Analyse durchsichtig zu machen und zugleich durch ihre Ergebnisse bestätigt zu sein beansprucht, „letztlich als in organologische Begrifflichkeit gekleidete aristotelisch-thomistische Gesellschaftsphilosophie“.16 Das fünfte und bei weitem umfangreichste Kapitel (90–170) bildet den Hauptteil der Studie und behandelt die zuvor angedeutete dreifache Bestimmtheit des Menschseins in ihrer Bedeutung für das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit im Verhalten des Menschen. Hier werden die durch von Oettingen analysierten einzelnen Wirklichkeitsaspekte bzw. die moralstatistischen Einzelergebnisse in ihrer Relevanz für seinen Ethikansatz theologisch ausgewertet. Der Hauptteil kulminiert in der Darlegung, dass der eigentliche Ort für das Zustandekommen dieser sozialethischen Weltansicht die Kirche sei, so 12 13 14 15 16
Ibid., 67. Ibid., 78. Ibid., 81. Vgl. Linnenbrink, Sozialethik, 88. Ibid., 89.
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Forschungslage bezüglich des Werkes von Oettingens
dass Linnenbrink von ihrer „ekklesiologischen Begründung“ sprechen kann. Zwar werde die teleologische Struktur und wechselseitige Zuordnung der drei Faktoren laut von Oettingen schon im Bereich der empirischen Wirklichkeit sichtbar. Doch erst im „Verhältnis des einzelnen Christen zur Kirche und deren Beziehung zu Gott und seinem Reich […] vermag man eigentlich erst erkennen, in welcher Weise die drei ,Faktoren‘ zueinander in Beziehung stehen, wie Gott, die soziale Umwelt und der Einzelne aufeinander bezogen sind“.17 Das Hauptproblem18 in der Konzeption von Oettingens scheint mir nach Linnenbrink zu sein, dass die ontologisch verstandene „sozialethische Weltansicht“ wegen ihrer inhärenten Teleologie die Besonderheit des Individuums (Individuum-Gattung) und der Geschichte (Natur-Geschichte) doch nicht hinreichend aufrecht hält. Obwohl er eine Überwindung des sozialphysischen Determinismus anstrebe und aus diesem Interesse heraus eine Sozialethik entwickele die von den Ergebnissen der Moralstatistik ausgeht und sie theologisch bzw. sozialethisch interpretiert, bleibe diese Deutung selbst naturalistisch. Das Resultat der Untersuchung Linnenbrinks summiere ich folgendermaßen: Oettingen ist „der erste Theologe, der nicht nur die Sozialwissenschaft seiner Epoche ernst nahm, sondern selbst auch eine umfangreiche und von den Fachstatistikern anerkannte sozialwissenschaftliche Untersuchung herausgab.“19 Die empirisch-exakte Soziologie seiner Zeit hat er „im apologetischen Interesse benützt“ – um sowohl die „Sozialphysik“ resp. Determinismus als auch „Personalethik“ resp. Individualismus zurückzuweisen – und „sie dabei zugleich ihrer eigenen Grenze“ zugeführt.20 Die Soziologie verlangt nach einer theologischen Deutung der Wirklichkeit, die aufgrund der Offenbarung Gottes über die Soziologie hinausgeht: Die Welt ist von Gott her und auf ihn hin, d. h. die Einheit der Wirklichkeit in ihrer Unterschiedlichkeit (individuell, sozial, universal; Natur, Geschichte, Gott) wird prinzipiell teleologisch hergestellt. Wie schon angedeutet, sind die Schwierigkeiten für Linnenbrink eben mit dieser teleologischen Struktur des Denkens von Oettingens verbunden (darin zeige sich eine Kontingenzvernachlässigung und ein Supranaturalismus). Linnenbrink selbst (er bezieht sich auf W. Pannenberg) ist der Ansicht, dass Eschatologie und Teleologie sich letztendlich exkludieren. Nicht der Teleologiebegriff, sondern der Gottesbegriff – Gottes Zukunft in der Offenbarung Jesu Christi – 17 Ibid., 164. 18 Als Probleme in der Konzeption von Oettingens werden durch Linnenbrink die folgenden identifiziert: Personalität als Teil-Sein des Ganzen (i. e. der Organismus-Gedanke), geschaffene Lebensstrukturen (i. e. der Gedanke von Schöpfungsordnungen), die Synthese der göttlichen Ordnung und menschlicher Freiheit in einer teleologischen Ontologie und die Auffassung von Geschichte als einer stufenförmigen Entwicklung. 19 Linnenbrink, Sozialethik, 177. 20 Ibid., 180.
Moralstatistik – ein Beitrag zur Geschichte der Quantifizierung in der Soziologie
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sollte für eine theologische Soziallehre grundlegend sein, um die Einheit der Geschichte ohne Verlust ihrer Geschichtlichkeit wahrnehmen zu können.21 Doch das Problem, mit dem von Oettingen in seiner „sozialethischen Weltansicht“ gerungen hat, sei durch ihn zutreffend und bis heute aktuell gestellt worden.
2.2
Böhme 1969: die Moralstatistik – ein Beitrag zur Geschichte der Quantifizierung in der Soziologie
Die zweite Arbeit ist eine soziologiegeschichtliche Arbeit, die den Titel Die Moralstatistik (Ein Beitrag zur Geschichte der Quantifizierung in der Soziologie, dargestellt an den Werken Adolphe Quetelets und Alexander von Oettingens) trägt. Sie wurde von Monika Böhme (*1942) bei dem Soziologen Heinz Maus (1911–1978) in Marburg verfasst. In der Einleitung wird das Verhältnis von Moralstatistik und Soziologie in der Geschichte der Soziologie skizziert und eine erste Einführung in die Moralstatistik gegeben. Es folgt ein knapper Überblick über die Geschichte der Statistik bis Quetelet und über das Leben und Werk beider Autoren. Böhme deutet an, dass der Begriff „Moral“ bei den meisten Moralstatistikern als Synonym für „sozial“ gebraucht wurde, und zwar in dem Sinn, dass es um die Beobachtung von Handlungen bzw. Willensphänomene geht.22 Das Hauptproblem sei die Frage nach der Vereinbarkeit der „beobachteten Gesetzmäßigkeiten in den scheinbar willkürlichen Handlungen“ mit dem „Postulat der Willensfreiheit“.23 Es bildeten sich nach Böhme zwei Richtungen heraus: die ältere, vorwiegend französische Schule, mit Quetelet aus Belgien als wichtigstem Vertreter, der naturwissenschaftlich im Sinne einer sozialen Physik argumentierte. Als Reaktion darauf entstand eine vorwiegend deutsche Schule mit von Oettingen als bedeutenden bzw. bedeutendsten Repräsentanten. Böhme hebt hervor, dass beide den Individualismus ablehnen und empirisch-exakt nachzuweisen versuchen, dass der Mensch ein soziales Individuum sei. Böhme fasst das Ziel von Oettingens pointiert folgendermaßen zusammen: seine „Arbeit […] ist eine polemisch-apologetische Antwort auf den Positivismus der Sozialwissenschaften und den dogmatischen Individualismus der Ethik“.24 Der Hauptteil enthält eine vergleichende Behandlung der moralstatistischen Werke beider Autoren. In einem kurzen Schlusskapitel werden sowohl die Wirkung Oettingens als auch
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Vgl. ibid., 182. Vgl. Böhme, Moralstatistik, 10. Ibid. Ibid., 31.
40
Forschungslage bezüglich des Werkes von Oettingens
die Frage, warum die einstige Modewissenschaft der Vergangenheit angehört, diskutiert. Der Schwerpunkt Böhmes liegt auf der Moralstatistik von Oettingens. Das Kapitel, das sich hiermit befasst, trägt den Titel „Die ,christliche Soziologie‘ Alexander von Oettingens“ (96–172). Als Quelle dient vor allem die 1. Auflage des Werkes Die Moralstatistik. Böhme beschränkt sich auf die soziologische Fragestellung und berücksichtigt die theologische Perspektive von Oettingens gar nicht (sie weist diesbezüglich jedoch auf die Arbeit von Linnenbrink hin). Nach Böhme hat von Oettingen in drei Auflagen seiner Studie Die Moralstatistik „nicht nur umfangreiche statistische Informationen über sozialbiologische und soziale Tatsachen vermittelt, sondern auch das Faktum der Soziabilität des Menschen nachgewiesen und gegen jeglichen Individualismus ins Bewusstsein geschrieben.“25 Damit hat er „der sich vorbereitenden soziologischen Disziplin […] in Deutschland wichtige Vorleistungen“ erbracht.26 Die Popularität des Buches von Oettingens begründe sich darin, dass es im Gegensatz zum naturwissenschaftlich-deterministischen Gesetzesbegriff Quetelets eine Denkweise darstellt, in der Freiheit und Notwendigkeit vermittelt werden. Die Ablehnung des Queteletschen Determinismus sei zwar nicht originell, aber von Oettingen biete „eine echte Alternative“, die „im methodischen Programm [den] heutigen Ansätzen nicht nachsteht“, obwohl dessen Durchführung unter dem Niveau eigener Ansprüche geblieben sei. Böhme hat die Absicht von Oettingens im Blick, „äußere Beobachtung und inneres Sinnverstehen […] gleichermaßen zu verwenden“. Dies würde einen „sich anbahnenden Zerfall von Theorie und Empirie“ von vornherein ausschließen.27 Böhmes Hauptkritik lautet: „Oettingens Programm, Wirklichkeitswissenschaft als Ethoswissenschaft auf der Basis des modernen Wissenschaftsbegriffes zu betreiben, scheiterte […], da er in eine ungeprüfte Morallehre zurückfiel.“28 Das Problem liege in seiner „soziologischen“ Gesamtinterpretation der Gesellschaft: „Die im christlichen Ethos gegründete, als Postulat formulierte Aussage, Gesellschaft sei ein Organismus, der ,letzten Endes‘ von sittlichen Mächten, vom teleologischen Prinzip regiert werde, mündet in einen ontologisch-normativen Theoriebegriff, in dessen Wesen die Nichtnachprüfbarkeit ihrer Sätze liegt.“29 Von Oettingen vertrete zwar einen „positivistischen Wissenschaftsbegriff[]“,30 sei aber nicht im Stande aus den moralstatistischen Daten eine dem entsprechende wissenschaftlich-soziologische Theorie zu abstrahieren. Alle gesam25 26 27 28 29 30
Ibid., 171. Ibid. Böhme, Moralstatistik, 171f. Ibid., 172. Ibid. Ibid.
Moralstatistik als von Oettingens Ethik
41
melten Daten werden vielmehr im Horizont einer harmonischen Gesellschaftsauffassung interpretiert, die „apriori als organisches System“ gelte.31 So fällt von Oettingen laut Böhme in eine unwissenschaftliche und nicht verifizierbare Metaphysik zurück. Obwohl er seinen richtigen methodologischen Anspruch nicht Genüge zu leisten vermochte, bleibt es sein großer Verdienst „den richtigen Stellenwert der Moralstatistik und damit der empirischen Sozialforschung innerhalb der soziologischen Forschung erkannt und ausführlich begründet zu haben.“32
2.3
Krimmer 1973: die Moralstatistik als von Oettingens Ethik – Empirie und Normativität
Die Arbeit von Heiko Krimmer (*1943) mit dem Titel Empirie und Normativität. Die Ethik Alexander von Oettingens (Moralstatistik, 3. Auflage 1882) ist bei einem der wichtigsten evangelischen Ethiker der Nachkriegszeit, Helmuth Thielicke (1908–1986), in Hamburg geschrieben worden. Für die Studie von Krimmer dient wiederum, wie im Fall von Linnenbrink, Die Moralstatistik in ihrer 3. Auflage als Hauptquelle. Auffällig ist, dass sein Interesse dabei der Ethik von Oettingens gilt. Die Untersuchung besteht aus einer Einführung, in der die zeitgenössische Beurteilung des Werkes kurz dargestellt wird. Im ersten Kapitel werden die Voraussetzungen für die Moralstatistik in Wissenschaft und Theologie des 19. Jh. beschrieben. Das zweite Kapitel handelt über von Oettingens Persönlichkeit und Theologie und im dritten Kapitel werden die Gliederung und Methodik des Buches Die Moralstatistik dargestellt. Das vierte Kapitel (57–210) bildet mit der Analyse des Werkes das Zentrum der Arbeit. Es geht dort um den Menschen als Individuum, um die soziale Grundstruktur des Menschen, seiner Welt und der Geschichte, um die Geschichte als Heilsgeschichte und – als Pointe bzw. Ergebnis – um Empirie und Normativität. Das abschließende Kapitel diskutiert die Wirkungsgeschichte des Buches anhand zweier Problemkreise, die aus seinem Ansatz hervorgehen: Theologie der Ordnungen (paradigmatisch im Anschluss an Emil Brunner) und Herausforderung der Theologie durch die Soziologie (im Anschluss an Peter L. Berger, dessen Anliegen dem von Oettingens sehr ähnlich sei). Die Arbeit Krimmers entspricht insofern nicht dem Forschungstand ihrer Entstehungszeit, als die Untersuchungen von Linnenbrink und Böhme nicht berücksichtigt werden. Diese erneute Fixierung auf die Moralstatistik wirkt im Vergleich repetierend und ist in beschreibenden Passagen weniger gelungen als 31 Ibid., 173. 32 Ibid.
42
Forschungslage bezüglich des Werkes von Oettingens
frühere Arbeiten. Nach Krimmers Ansicht hat die Moralstatistik zu „belegen und entwickeln“, dass der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist. Sie soll „die nachprüfbare Grundlegung für eine Sozialethik“ und somit zugleich eine Apologie der christlichen Weltanschauung sein.33 Krimmer ist der Meinung, dass sich aus den statistischen Beobachtungen für von Oettingen „ein abgewandelter teleologischer Gottesbeweis“ ergibt.34 Auf jeden Fall sei die „Moralstatistik“ der erste umfassende „Versuch […] theologische Wahrheiten mit statistischen Zahlen einsichtig zu machen oder gar zu untermauern.“35 Dahinter stehe die bis heute aktuelle Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Soziologie. Krimmer will klären, ob und wie „der versuchte Ausgleich beider Gebiete gelungen ist“.36 Es kommt wiederholt vor, dass Krimmer im Anschluss an Sekundärliteratur ohne Reservationen zu „Feststellungen“ kommt, für die im Quellenmaterial schwerlich ein Anhaltspunkt zu finden ist. Beispielweise rezipiert und verbreitet er in seiner Skizze über die Person und die Theologie von Oettingens jene Vorstellungen, die Reinhold Seeberg zu „verdanken“ sind.37 Dies weiter zuspitzend stellt Krimmer fest, dass von Oettingens Theologie in jungen Jahren abgeschlossen war, er Die Moralstatistik „als einer, der sich im sicheren Besitz der Wahrheit glaubt“ geschrieben habe und für den die Meinungen anderer letztendlich egal gewesen seien.38 Die Ablesbarkeit der „Schöpfungsordnungen an der Empirie“ gelte für von Oettingen als Voraussetzung. Eine sorgfältige Lektüre der „Moralstatistik“ mache den Schluss „auf den Ordner“ zwingend.39 Die Moralstatistik sei semipelagianisch, da die bürgerliche Gerechtigkeit die Rolle einer natürlichen Ethik übernehme und den Anknüpfungspunkt für das Heil bilde: „Der Mensch, wenn er nur in bürgerlicher Wohlanständigkeit und in den Ordnungen der sozialen Organisation treu lebt, kann sich für die Erlösung und das Heil vorbereiten.“40 Krimmers grundsätzliche Kritik führt darauf hin, „dass v. Oettingen mit seiner ,Moralstatistik‘ eine Linie in der Theologie repräsentiert, in der unter Berufung auf die Beobachtung der Empirie die Welt gerade ihres Eigenwertes beraubt wird 33 Krimmer, Empirie und Normativität, 5. 34 Ibid., 6, vgl. 17. Linnenbrink urteilt hier ganz anders: von Oettingen „verfällt […] nicht in den Fehler der Physiko-Theologie eines Süßmilch, aus dieser Gesetzmäßigkeit die Existenz Gottes als des weisen Weltordner aller Welt vordemonstrieren zu wollen“ (Linnenbrink, Sozialethik, 178). Er begründet es damit, dass von Oettingen „die Neutralität solcher soziologischer Einsichten gegenüber einer Sinnfrage erkannt hat.“ (Ibid.). 35 Krimmer, Empirie und Normativität, 6. 36 Ibid. 37 Vgl. dazu unten Kap. 4. 38 Krimmer, Empirie und Normativität, 38. 39 Ibid., 177. 40 Ibid.
Moralstatistik als von Oettingens Ethik
43
und damit nur in ,unernster‘ Rede behandelt werden kann.“41 Auf die Frage, wie denn bei der selbstverständlichen Voraussetzung der Schöpfungsordnungen und der Weltregierung Gottes noch Geschichte und Willensfreiheit möglich sei, antworte von Oettingen mit einem Gottesverständnis, für welches der (durch von Hofmann angeregte) Begriff „Selbstbeschränkung“ eine entscheidende Rolle spielt.42 Der Moralstatistik als Gottesbeweis, „der aus der empirischen Welt heraus geführt wird“43 hält Krimmer entgegen, dass das Leiden und die Sünde eine solche „vorschnelle Harmonisierung“ unmöglich und nichtnachvollziehbar machen.44 Es ist nicht untypisch für die Argumentationsweise in Krimmers Studie, wenn in diesem Zusammenhang deklariert wird: „Von Oettingens harmonisierender Gottesbeweis bleibt so lange in Kraft, wie das Unglück einen nicht selber zerschlägt. Der baltische Baron hatte als gutsituierter Mann, der internationales Ansehen genoss gut zu reden, zumal er auch von den baltischen Stürmen nur am Rande gestreift wurde.“45 Ein solches Urteil kann nur dann gefällt werden, wenn alle drei Faktoren – das persönliche Lebensgeschick von Oettingens, sein Lebenskontext und sein theologisches Werk – eher oberflächlich wahrgenommen werden. Krimmer spitzt seinen Vorwurf folgendermaßen zu: von Oettingen macht „aus der ,theologia crucis‘ eine ,theologia gloriae‘“.46 Man kann hier also festhalten, dass in der Ansicht Krimmers, die erklärterweise durch Jürgen Moltmann inspiriert ist, von Oettingen mit der Moralstatistik eine Art „theologia gloriae betreibt“.47 Im Zusammenhang der „heilsgeschichtlichen Theologie v. Oettingens“, die mit einer stufenweisen Offenbarung operiere, bekomme die „Moralstatistik“ einen „hervorragenden Platz“: indem sie „der ersten Offenbarung Gottes in der Schöpfung und de[n] ewigen Schöpfungsordnungen“ nachspüre, seien „ihre Thesen und Erkenntnisse […] die Grundlage auf der alle weitere Theologie aufgebaut werden muss“.48 Die Moralstatistik erschließe sich somit als die Grundlagendisziplin der Theologie überhaupt. Es wird nicht ganz klar, warum Krimmer sich zu derart steilen Thesen aufschwingt. Krimmer meint von der Untersuchung Die Moralstatistik ausgehend 41 42 43 44 45 46 47
Ibid., 185. Vgl. ibid., 186. Ibid. 188. Vgl. Krimmer, Empirie und Normativität, 190. Ibid. Ibid. „Es ist keine mitleidende und mitfragende Theologie mehr, also eine Theologie, die im Angesicht der Welt nach Worten ringt, sondern eine erklärende, harmonisierende Theologie, die aus ,himmlischer Höhen‘ herab die Welt überblickt.“ (Ibid., 190f). 48 Ibid., 192.
44
Forschungslage bezüglich des Werkes von Oettingens
die ganze Theologie von Oettingens entschlüsselt zu haben. Die gelegentlichen Verweise auf einige seiner anderen Schriften spielen nur am Rande eine Rolle. Im scharfen Gegensatz zu Linnenbrinks Interpretation erhellt die Moralstatistiknach Krimmer „nicht nur die Tatsache der providentia dei, sondern antwortet auch auf die Frage nach dem Sinn der Welt, der Existenz des Menschen, der Menschheit und der Geschichte“.49 Wenn Linnenbrink zufolge die Moralstatistik die Frage aufgeworfen hat, wie die Gesetzmäßigkeit im menschlichen Zusammenleben zu deuten ist, wenn sich sowohl deterministische als auch autonomistische Deutungen als ungemäß erweisen, behauptet Krimmer schlicht: die Moralstatistik beweist die Existenz Gottes, beleuchtet seine Weltregierung und beantwortet die Frage nach dem Sinn der Welt. Im Blick auf die Frage nach der Empirie und Normativität – die Begriffe, die Krimmer ohne weiteres auch zu Welt und Gott umschreibt50 –, kommt er zum Ergebnis, dass von Oettingen in seinem Buch Die Moralstatistik eigentlich doch nicht „an der Welt […] interessiert“ sei. Das Werk täusche ein solches Interesse nur vor. Von Oettingens Interesse gelte vielmehr dem „Himmel“51. Das Verhältnis von Empirie und Normativität sei bei ihm in zweierlei Hinsicht zu beschreiben: die Empirie „ist eigentlich keine eigene Größe mit einem Eigenwert, eigenen Gesetzen und Strukturen. Sie ist nur abgeleitet von der Normativität.“52 „Daraus folgt […], dass die Normativität, verstanden als Gott selber, sich nur zeitlich und räumlich eingekleidet hat. Die Empirie ist nur eine Erscheinungsform der Normativität.“53 In den folgenden Jahrzehnten habe sich Die Moralstatistik von Oettingens, welche eines der letzten großen Werke sei, das „auf einer optimistischen Grundlage der Welterklärung und Weltharmonie aufgebaut“ ist, als „überholt und unmöglich“ gezeigt.54 Der Verdienst von Oettingens liege jedoch darin, dass er „der Theologie den Weg zur Auseinandersetzung mit der Empirie“ gewiesen hat.55 Seine „Theologie ist überholt worden“, aber wenn man von Oettingens „empirische Untersuchung aus ihrer theologischen Klammer“ befreit, „dann liegen in der ,Moralstatistik‘ viele Ansätze vor, die geradezu danach verlangen, dass ,Fachleute‘ dieses Material auswerten.“56 Trotz mancher instruktiven Beobachtungen und Verdienste ist diese Unter-
49 50 51 52 53 54 55 56
Ibid., 195. Vgl. Krimmer, Empirie und Normativität, 212. Ibid., 206. Ibid., 207. Ibid., 203. Ibid., 209. Ibid., 210. Ibid.
Integration statistischer Aussagen in der Ethik
45
suchung m. E. vor allem ein Beispiel dafür, wie von Oettingens Theologie und seine „Moralstatistik“ nicht verstanden werden sollten.
2.4
Pawlas 1991: zur Integration statistischer Aussagen in der Ethik im Anschluss an die Sozial- und Wirtschaftsethik von Oettingens
Die bisher letzte größere Untersuchung, die dem Werk von Oettingens gewidmet wurde, ist die im Rahmen eines Habilitationsverfahrens verfasste Studie von Andreas Pawlas (*1946). Seine Arbeit Statistik und Ethik. Zur Problematik der Integration statistischer Aussagen in der Ethik, dargestellt an der Sozial- und Wirtschaftsethik Alexander von Oettingens ist durch den Hamburger Sozialethiker Christian Walther (1926–2006) angeregt worden. Nach der Einleitung, die sich mit der Kirche und der Rolle der Statistik in der modernen Lebenswelt, mit der bisherigen Rezeption der Statistik in der Sozialethik und zuletzt mit seiner eigenen Vorgehensweise beschäftigt, gliedert sich die Arbeit in vier Teile. Teil I, „Lebenserfahrung und lutherische Erfahrungstheologie“ (41–83), skizziert die Lebensgeschichte von Oettingens und den Einfluss seiner Lehrer. Teil II, „Der ethische Beitrag Oettingens zur Statistik des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart“ (85–229), untersucht den Beitrag zur Geschichte der Statistik im Horizont neuzeitlicher Wissenschaftsgeschichte und gibt einen Überblick über die Rezeption statistischen Denkens in Religionssoziologie, kirchlicher Sozialforschung und Kirchenstatistik. Teil III, „Oettingens Entwicklung eines statistisch fundierten Sozial- und Wirtschaftsethischen Systems“ (231–288), schildert den Aufbau seines sozialethischen Systems als „d[er] eigentliche[n] Frucht seines statistischen Forschens“, betrachtet es am Beispiel der wirtschaftsethischen Thematik näher und deckt mit Hilfe der Frage nach Gerechtigkeit im wirtschaftsethischen Sinne das Potential seines sozialethischen Denkens auf. Teil IV, „Beiträge statistischen Denkens zur Ethik. Ethische Beiträge zu Statistik und Ökonomie“ (289–303) enthält eine kurze, zusammenfassende Darstellung und Zuspitzung der Ergebnisse. Nach Pawlas charakterisieren „de[n] Aufbruch neuzeitlicher Sozialethik“ zwei Momente. „Einmal […] die durchaus im Sinne Schleiermachers liegende Betonung des so genannten ,Gemeinschaftsfaktors‘, des ,Sozialen‘, um so ein eigenständiges Gegenüber zur traditionellen Individualethik zu konstituieren. Sodann de[r] Versuch Oettingens, statistisches Denken für die christliche Ethik fruchtbar zu machen.“57 Das Ziel Pawlas ist es, „die […] Defizite in der sozialethischen Rezeption sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse […] im Hinblick auf die Statistik zu be57 Pawlas, Statistik und Ethik, 16f.
46
Forschungslage bezüglich des Werkes von Oettingens
seitigen“ und dafür die „Voraussetzungen und Implikationen statistischen Denkens“ aufzuarbeiten.58 Da er gezeigt hat, dass nur das Werk Oettingens konkrete Beiträge zur Frage enthält, was die Statistik zur ethischen Urteilsbildung beisteuern kann, will er nun untersuchen, „worin dieser Beitrag der Statistik für die Ethik damals bestand“, „wie er unter heutigen Bedingungen auszusehen hätte“ und „innerhalb welcher Grenzen er theologisch verantwortet werden kann“.59 Das „Gespräch mit Oettingen anhand seines ethischen Werkes“60 soll dieses Vorhaben anregen und profilieren. Trotz der Zeitbedingtheit mancher theoretischer Details im Verständnis der Statistik hält Pawlas als Generalurteil fest: Es ist von Oettingen gelungen „die ethische Grundproblematik statistischen Denkens einzukreisen und sich mit ihm als einem bedeutenden Modell für das gesamte neuzeitliche Denken auseinanderzusetzen“.61 Pawlas vertritt die These, dass der Stellenwert und die Funktion der Statistik in der Ethik von Oettingens sich verändert bzw. im Sinn einer Abschwächung relativiert haben. Von Oettingen halte später die Statistik von „allen induktiven ethischen Begründungsprozessen“ fern und verwende sie „bei ethischen Problemlagen“ als „Illustrationsmittel eigener Evidenz“.62 Im abschließenden Teil formuliert Pawlas als Fazit, dass von Oettingens „Vorhaben, mit Hilfe der Statistik Sozialethik […] ,erfahrungsgemäß‘ zu begründen“, gescheitert ist.63 Somit positioniert er sich in die Reihe derjenigen, die ihm eine solche Absicht unterstellen (wie Krimmer und R. Seeberg).64 Noch in einer anderen Hinsicht diagnostiziert Pawlas eine wichtige „Entwicklung“ bzw. Selbstkorrektur im Denken von Oettingens, den Begriff der Freiheit betreffend. Erst 1895 werde die Freiheit selbständig und originär in der „Selbstbeschränkung Gottes“ fundiert und fünf Jahre später in der Dogmatik näher entfaltet. In seiner Sittenlehre (1873) setze er die Freiheit des „natürlichen Menschen“ als Anlage einfach voraus: Sie sei ein Rest der Gott-Ebenbildlichkeit und Anknüpfungspunkt für die sittliche Wiedergeburt.65 Diese beiden „Entwicklungen“ – von einer statistischen Begründung zu einer statistischen Verdeutlichung der Ethik und von der anfänglichen Voraussetzung der Freiheit im Sinn einer natürlichen Anlage zu deren späteren Zurückführung auf die Selbstbeschränkung Gottes – bestehen m. E. eine Überprüfung anhand des Gesamtwerkes von Oettingens nicht. 58 59 60 61 62 63 64 65
Ibid., 37. Ibid., 38. Ibid. Pawlas, Statistik und Ethik, 38. Ibid., 91. Ibid., 290. Vgl. unten Kap. 4. Vgl. Pawlas, Statistik und Ethik, 134.
Integration statistischer Aussagen in der Ethik
47
Ein wichtiger Hinweis, den Pawlas mehrmals wiederholt, aber nicht näher erläutert, ist, dass in von Oettingens Denken die Rechtfertigungslehre eine Schlüsselfunktion spielt.66 Er schließt sich hier Emil Brunner an, der Theodosius Harnack und von Oettingen aus dem Kreis der lutherischen Theologen des 19. Jh. wegen ihres Verständnisses der Theologie Martin Luthers hervorgehoben hat.67 Pawlas will aus diesem Grund Carl Heinz Ratschow (1911–1999) korrigieren. Dieser bezeichnet in seinem berühmten Aufsatz „Rechtfertigung. Diakritisches Prinzip des Christentums im Verhältnis zu anderen Religionen“68 Martin Kähler mit seinem Werk Die Wissenschaft der christlichen Lehre aus dem Jahr 1883 als den letzten Systematiker in Deutschland, der die Rechtfertigungslehre in ihrer das ganze theologische Denken bestimmenden Funktion aufzunehmen versucht habe.69 Auch das ethische System von Oettingens ist nach Verweis Pawlas an der Rechtfertigungslehre orientiert.70 Wie diese Orientierung zu verstehen ist, wird nicht genauer erläutert. An dieser Stelle werde ich nicht allen Ergebnissen von Pawlas, die er zum Schluss diskutiert, nachgehen. Seine Studie wurde zwar in engem Zusammenhang mit von Oettingens Werk durchgeführt, doch ist sie letztendlich keine Studie zu seiner Theologie oder Ethik, sondern will grundsätzlich den Beitrag der Statistik zur Ethik (und umgekehrt) klären. Mit Blick auf das Werk von Oettingens gilt jedoch: da seine empirische Begründung der Sozialethik mittels Statistik nicht gelungen ist – und er diesen Anspruch und Wunsch später selbst aufgeben musste –, ist „ein großer Teil seines theologisch-ethischen Vorhabens“ gescheitert.71 Ein strenger Beweis geistlicher Weltdeutung und christlicher Lebensführung mit Hilfe der durch die Statistik gefundenen Daten ist „von der Sache her“ eine Unmöglichkeit.72 Es bleibt die Frage, ob von Oettingen die Moralstatistik je in dem Sinn verstanden hat bzw. verstehen wollte. Ich halte es für ausgeschlossen. Obwohl das Interesse vorliegender Studie nicht in der Statistik liegt, soll die Unmöglichkeit einer solchen Rollenzuweisung als eines ihrer Nebenprodukte sichtbar werden. Die Leistung der Statistik für die Ethik fast Pawlas in drei Punkten zusammen. Zum einen eröffne sie von Oettingen zufolge dem modernen Menschen Wege „sich mit dem göttlichen Gesetz zu befassen“.73 Sie helfe „das göttliche Gesetz
66 67 68 69 70 71 72 73
Vgl. ibid., 58–60, 289. Vgl. ibid., 59, Anm. 43. Vgl. Ratschow, Rechtfertigung. Vgl. Pawlas, Statistik und Ethik, 59, Anm. 44. Vgl. ibid., 85, 231, 236. Ibid., 290. Ibid. Ibid., 13.
48
Forschungslage bezüglich des Werkes von Oettingens
ernst“ zu nehmen und „in seiner […] richtenden Funktion“ zu begreifen.74 Diese theologische Funktion schreibe von Oettingen der Statistik zu und integriere sie dadurch in seine Sozialethik. Zum anderen hilft die Statistik die „kollektiven und sozialen Bezüge der Wirklichkeit“ wahrzunehmen.75 Darin liegt nach Pawlas die wichtigste Bedeutung des statistischen Denkens für die Ethik: „Die auf Massenerscheinungen und kollektive Phänomene ausgelegte Betrachtungsweise der Statistik bietet die Möglichkeit, ein Korrektiv zu formieren gegenüber einem ethischen Subjektivismus, der nur zu leicht Ideologisierungen ausgesetzt ist“.76 So fördere die statistische „Realitätswahrnehmung“ die sozialethische Perspektive. Sie ermögliche „Indizien zu präsentieren, wie weit das Individuum […] einerseits in die Gesellschaft oder auch übergreifende Schuldzusammenhänge, oder andererseits in die christliche Tradition eingebunden ist“.77 Drittens sei es heute selbstverständlich, dass „eine statistische Aufhellung der ,realen‘ Verhältnisse“ in unübersichtlichen sozialen Situationen als „eine Entscheidungshilfe“ herangezogen werde. Dass damit auch Gefahren verbunden und zu vermeiden sind, müsse berücksichtigt werden.78 Im Fall von Oettingens handele es sich um einen „Versuch sozialethischer Urteilsbildung mit Hilfe der Statistik“, um „ein statistisch orientiertes ethisches Denken“, um einen „statistisch orientierte[n] sozialethische[n] Ansatz“ im Unterschied zum „historisierenden“ Ansatz von Ernst Troeltsch.79 Das Quellenmaterial, auf das sich Pawlas stützt, ist umfangreicher als bei den vorangegangenen Untersuchungen. Als Hauptquelle gilt Die Moralstatistik in ihrer 1. Auflage. An zweiter Stelle folgen Die Sittenlehre und Lutherische Dogmatik. Bezüglich der Verwendung der beiden letzteren Werke durch Pawlas, insbesondere der Dogmatik, entsteht der Eindruck einer selektiven Lektüre. Eine nähere Auseinandersetzung mit der dogmatischen und ethischen Denkweise von Oettingens und eine Explikation des Status deren Argumente ist nicht Teil seiner Studie.
2.5
Kleinere Arbeiten über das Werk von Oettingens
Zuerst ist eine Studie G. Linnenbrinks zu nennen, die auf seiner Dissertationschrift basiert: „Die ,Sozialethische Weltansicht‘ Alexander von Oettingens. Ein Beitrag zur Geschichte der evangelischen Ethik“ (1969). Die Studie hat eine 74 75 76 77 78 79
Ibid., vgl. 83, 86–87. Ibid., 14. Pawlas, Statistik und Ethik, 298. Ibid. Vgl. ibid., 299–301. Ibid., 18, vgl. 301, 178f, 18–20.
Kleinere Arbeiten über das Werk von Oettingens
49
beachtliche Qualität. Sie skizziert die Grundlinien der Sozialethik von Oettingens im Rahmen ihrer theologiegeschichtlichen Voraussetzungen und deutet pointiert deren Relevanz und Grenze mit Blick auf die gegenwärtige Debatte um die Begründung einer Sozialethik an.80 A. Pawlas hat mehrere kurze Texte über von Oettingen verfasst. In der Studie „Zu den Einflüssen Erlanger Theologie auf das Baltische Luthertum: A. v. Oettingens Nähe und Distanz zur Theologie J.C.K. von Hofmanns“ (1990) versucht Pawlas die Beziehung zwischen der Dorpater/Tartuer und Erlanger Theologie näher zu bestimmen.81 Es werden der Erfahrungsbegriff, die Haltung zur historisch-kritischen Bibelforschung, die heilsgeschichtliche Methode, kenotische Christologie, der Rückgriff auf Luther und das Kirche-Staat-Verhältnis diskutiert. Zum Gedenken an den 100. Todesjahres von Oettingens hat Pawlas den Aufsatz „Alexander von Oettingen und die Impulse zur Erneuerung lutherischer Theologie in Estland“ (2005) veröffentlicht.82 Auch hier handelt sich um eine von der oben geschilderten Qualifikationsschrift (z. T. textidentisch) abhängige Schrift. Neu im Vergleich zur der Monographie ist die Weise, wie das Verdienst von Oettingens – trotz des „entscheidenden formalen Mangels“, dass sein Versuch „auf der Basis moralstatistischer Erkenntnisse eine Ethik aufzubauen“ gescheitert ist – zum Ausdruck gebracht wird: er hat „als erster und einziger Theologe der Neuzeit das Gespräch mit der Statistik aufgenommen und damit auch die Grundlagen“ für seine Fortsetzung gelegt.83 Warum Pawlas die Moralstatistik als „Basis von Oettingens theologischen Denkens“ bezeichnet und in welchem Verhältnis dieses Urteil zu seiner These steht, den Mittelpunkt der Dogmatik von Oettingens bilde „die Rechtfertigung des Sünders als articulus stantis et cadentis ecclesiae“, bleibt unklar.84 Eine auf eigenständiger Quellenarbeit und umfassender Kenntnis der Theologiegeschichte beruhende Kurzdarstellung der Grundzüge der Ethik von Oettingens befindet sich in der großen Theologiegeschichtsschreibung von Eckhard Lessing (*1935).85 Im Unterschied zu den bisher besprochenen Texten bezieht 80 Linnenbrink, „Sozialethische Weltansicht“, 194–196. Linnenbrink erweckt zunächst den Eindruck, als ob die Sozialethik eine Folge der Moralstatistik ist (vgl. ibid., 181, 183). Dieser Schein wird durch die ungenaue Angabe des Werktitels verstärkt. Im weiteren Verlauf wird deutlich, dass nach seiner Lektüre von Oettingens „die empirische Analyse nur die Möglichkeit“ hat „aposteriorisch eine Kontrollfunktion gegenüber auf systematisch-deduktiven Wegen gewonnenen normativen Prinzipien auszuüben“ (ibid., 188). 81 Pawlas, Einflüssen. 82 Pawlas, Oettingen. Ein weiterer Text aus dem Jahr 1993 ist gleichfalls zum großen Teil textidentisch mit Auszügen aus der Monographie und ähnlich zum Aufsatz anlässlich des 100. Todestages: Pawlas, Ein konservativer Fortschittler. 83 Pawlas, Oettingen, 148; vgl. Pawlas, Ein konservativer Fortschrittler, 30. 84 Pawlas, Oettingen, 145, 149. 85 Lessing, Geschichte, 242–244.
50
Forschungslage bezüglich des Werkes von Oettingens
die Präsentation und Interpretation Lessings sich exklusiv auf Die christliche Sittenlehre. Von Oettingen wird als theologischer Ethiker herangezogen und gewürdigt. Die Moralstatistik wird gar nicht erwähnt. Eine anregende eschatologiegeschichtliche Spezialstudie, in der von Oettingen eine wichtige Rolle zugewiesen wird, hat zuletzt Henning Theißen vorgelegt. Darin zeigt er, wie in der heilsgeschichtlichen Theologie von Hofmanns der traditionellen Eschatologie der lutherischen Theologie eine Neugestaltung widerfahren ist und wie im Austausch mit von Hofmann „ein schulähnlicher Gesprächszusammenhang“ entstanden ist.86 Die Traditionslinie des eschatologischen Denkens, „die über die Konsequente Eschatologie zur Dialektischen Theologie läuft“, zeichnet sich nach Theißen durch eine scharfe Ablehnung der heilsgeschichtlichen Theologie aus. Seine kurz ausgeführte These lautet, dass „in der Eschatologie des baltischen Luthertums“, in erster Linie in der führenden Gestalt von Oettingens, der Gedanke der „heilsgeschichtlichen Theologie“ fortgeführt worden sei, um im 20. Jh. wieder in Erlangen von Paul Althaus aufgenommen zu werden.87 Theißen schließt mit Hinweisen darauf, warum „anstelle der Magistrale“ in der neueren Eschatologiegeschichte (Schleiermacher – Vermittlungstheologie – Konsequente Eschatologie – Dialektische Theologie) eine stärkere Berücksichtigung der anderen „Traditionslinie“ (von Hofmann bzw. Erlangen – Mecklenburg – Baltikum – Erlangen) lohnend ist.88
2.6
Art und Ertrag bisheriger Forschung
Zusammenfassend kann man sagen, dass die größeren Untersuchungen zwischen den Jahren 1961–1991 entstanden sind. Da Pawlas seine Studie jedoch schon im Jahr 1989 abgeschlossen hat,89 ist die Zeitspanne beinahe symbolisch. Die Arbeiten entstanden, als Deutschland durch die Berliner Mauer geteilt war und der sog. „Eiserne Vorhang“ den einstigen Wirkungsort von Oettingens an der Grenze zwischen Ost und West in die anonyme Eindeutigkeit des Ostblocks bzw. der Sowjetunion gedrängt hat. Die neuere Beschäftigung mit dem Werk von Oettingens begann in der Zeit, die Hermann Fischer (*1933) in seiner Protestantischen Theologie im 20. Jahrhundert unter dem Stichwort „Theologie auf den neuen Wegen“ zusammenfasst. Diese Beschäftigung ist durch Heinz-Dietrich Wendland initiiert worden, der nach dem Zweiten Weltkrieg das erste In86 Theißen, Spuren, 119. 87 Ibid., 127f. 88 Ibid., 131. Jüngstlich hat noch Heinrich Wittram eine empfehlenswerte biographische Studie veröffentlicht (Wittram, Theologe und Sozialethiker in Dorpat). 89 Vgl. Pawlas, Statistik und Ethik, xiv.
Art und Ertrag bisheriger Forschung
51
stitut für evangelische Sozialethik im deutschsprachigen Raum, das Münsterer Institut für Christliche Gesellschaftswissenschaften, gegründet hat. Diesem ursprünglichen Impuls entsprechend stellt für alle Monographien Die Moralstatistik (1. oder 3. Auflage) das wichtigste Untersuchungsmaterial dar. Den Zugang zu seinem Werk sucht man über sie. Den bisher besten und auch leserfreundlichsten Eindruck von dieser Untersuchung, von ihrem Charakter und Anliegen, erhält man durch die Arbeit von Linnenbrink. Böhmes sozialwissenschaftliche Untersuchung folgt einem speziellen Interesse: die Geschichte der Quantifizierung in der Soziologie. Krimmers Dissertation ist in ihren Urteilen zu pauschal, dürftig in ihrem Bezug auf Quellen und ignoriert die vorangegangenen Arbeiten von Linnenbrink und Böhme. Sie ist Linnenbrinks Untersuchung zu ähnlich, aber gleichzeitig deutlich schwächer. Auch die Arbeit von Pawlas stellt eine spezielle Frage, nämlich die nach der Integration der Statistik in die Ethik. Sie bewegt sich in viele Richtungen und bleibt letztendlich in ihrer Argumentation unzureichend fokussiert. Damit, dass die Moralstatistik faktisch als ein Schlüssel zum Denken von Oettingens gebraucht wurde und andere Literatur nicht oder nur nebenbei berücksichtigt wurde, erklären sich m. E. die sehr unterschiedlichen und zum Teil gegensätzlichen Urteile, sowohl über den Status der Moralstatistik in seiner Ethik und Theologie als auch über seine Ethik und Theologie insgesamt. Es fällt auf, dass einerseits in den größeren Untersuchungen, die sich vorwiegend auf Die Moralstatistik als Quelle beziehen, beansprucht wird, seine „Sozialethik“ bzw. „sozialethische Weltansicht“ (Linnenbrink), seine „christliche Soziologie“ (Böhme) oder seine „Ethik“ (Krimmer, Pawlas) zu erschließen, andererseits aber Lessing von Oettingens „Ethik“ ohne jeden Hinweis auf die Moralstatistik skizzenhaft darstellen kann (als Quelle dient Die christliche Sittenlehre). Dieser Stand der Forschung gibt Anlass dazu, die Aufmerksamkeit mehr auf die theologische Tiefenstruktur des oettingenschen Denkens zu konzentrieren. Unabdingbar ist dabei eine umfassendere und genauere Berücksichtigung seiner quellenmäßigen Dokumentation. Dadurch kann nicht zuletzt der Status und die Leistung der Moralstatistik – der Fokus bisherigen Interesses – besser eingeschätzt werden.
52
3.
Eine biographische Skizze
Eine biographische Skizze [Von] Oettingen war ein Mittelpunkt des kirchlichen und des geistigen Lebens der baltischen Provinzen.1 (Reinhold Seeberg)
Alexander Konstantin von Oettingen wurde am 24.2 Dezember 1827 auf dem Rittergut Visusti (Wissust) in Livland geboren. Es liegt im heutigen Estland, knapp 40 Kilometer von Tartu (Dorpat) entfernt – der Stadt, in der er hauptsächlich studierte und wirkte und am 21.3 August 1905 auch starb. Aus heutiger Perspektive kann man ihn als einen estnischen Theologen deutschbaltischer Herkunft charakterisieren. Eine wissenschaftliche Biographie von Oettingens, z. B. in Form einer kleineren Studie, ist und bleibt ein Desiderat.4 Hier handelt es sich nur um eine Skizze, die die kleinen autobiographischen Überblicke und diesbezügliche Bemerkungen aus seinem Gesamtwerk, einige Angaben von Zeitzeugen und spätere Skizzen sichtet und dies zumindest ansatzweise im Horizont heutiger Geschichtsschreibung zu verantworten versucht. Für die kurzen Darstellungen aus der Hand deutschbaltischer Autoren, die in der Zeit zwischen den Weltkriegen einen Rückblick auf die baltische Geschichte im 19. Jh. werfen, ist eine besondere hermeneutische Sensibilität erforderlich. Hinsichtlich des Verständnisses der sozialpolitischen Transformation ist dringend die neuere und neueste internationale Forschung zu berücksichtigen, um die speziellen Perspektiven der früheren Darstellungen kritisch in den Blick zu bekommen und angemessen zu würdigen.
3.1
Livland – zur Vergegenwärtigung
Das Livland des 19. Jahrhunderts war das wichtigste unter den drei baltischen Gouvernements bzw. der Ostseegouvernements des Russischen Reiches.5 Wegen der sog. baltischen Sonderordnung hatten diese Territorien im Reich ein ganz eigenständiges Gepräge und enge Beziehungen zum Westen Europas, vor allem 1 2 3 4
R. Seeberg, Oettingen, 503. Nach dem alten Kalender war es der 12. Dezember. Nach dem alten Kalender am 7. August. Vgl. allerdings und ergänzend zum Folgenden die jüngst erschienene biographische Studie von H. Wittram (Wittram, Theologe und Sozialethiker in Dorpat). 5 Das waren: Estland, Livland und Kurland. Diese drei baltischen Provinzen entsprechen also grob dem heutigen Estland und Lettland und schließen das heutige Litauen nicht ein. Die Geschichte Litauens, des südlichsten der heutigen baltischen Länder, war vom 14. Jahrhundert bis zum Ende des 18. Jahrhunderts v. a. mit dem katholischen Polen verbunden.
Von Oettingens Familie
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zu Deutschland. Livland umfasste die Südhälfte des heutigen Estlands und den Nordosten des heutigen Lettlands. Sein administratives Zentrum war Riga, sein geistiges Zentrum Tartu. Die deutschsprachige Universität in Tartu, die einzige Universität in den baltischen Gouvernements, war eine sehr einflussreiche Stätte der höheren Bildung und Wissenschaft im Russischen Reich. Dort befand sich auch die einzige evangelische Theologische Fakultät6 auf dem Gebiet des Reiches, die sich um den theologischen Nachwuchs in den lutherischen baltischen Gebieten, aber auch den der anderen evangelisch geprägten Teile des Reiches, zu kümmern hatte. Tartu war der theologische Mittelpunkt des evangelischen Russlands. Die Geschichte des heutigen Estlands und Lettlands verlief insofern ähnlich, als dass in beiden Gebieten7 vom Beginn des 13. Jh. – seit der sog. Christianisierung und der Kolonialisierung – bis zum Ende des 19. Jh. bzw. bis zum Ersten Weltkrieg die herrschende und landbesitzende Oberschicht hauptsächlich von Menschen, die eine deutsche Herkunft hatten bzw. beanspruchten, gebildet wurde. Dies galt unabhängig von der unterschiedlichen Oberherrschaft über die Territorien, nach der sie zu den jeweiligen Zeiten zu dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, Dänemark, Schweden, Polen-Litauen oder Russland gehörten.
3.2
Von Oettingens Familie
Alexander von Oettingens Vorfahren („Otting“)8 stammten wahrscheinlich aus Westfalen, und lebten seit dem 15. Jh. in Tallinn (Reval) und seit dem 16. Jh. in Riga. Gegen Ende des 17. Jh. (1687) wurde Johann Oettingen als Bürgermeister von Riga durch Karl XI von Schweden nobilitiert. In der Nachfolgezeit wurden die von Oettingens in den einheimischen Adel von Liv-, Est- und Kurland aufgenommen. Alexanders Vater, der auch Alexander (1798–1846) hieß, gehörte dem livländischen Indigenatsadel an. Seine Mutter war Helene, geb. von Knorring (1794–1863). Der Familie wurden drei Töchter und sechs Söhne geboren. Alexander Senior hatte in Dorpat/Tartu Rechts- und Politikwissenschaft studiert. Die wirtschaftliche Lage seiner Familie war wegen des Vermögensverlusts seines Vaters sehr bescheiden. Er war jedoch landwirtschaftlich erfolgreich und vermochte trotz seines frühen Todes mit 48 Jahren – der junge Alexander war gerade 18 Jahre alt – der Familie mehrere Gutshöfe zu erwerben. 6 Es war die einzige theologische Fakultät im Reich überhaupt, weil orthodoxe Theologie damals nicht an den Universtitäten betrieben wurde. 7 Die Vorfahren der Esten besiedelten die Gebiete des heutigen Estlands seit mehr als 5000 Jahren. 8 Vgl. Arved von Oettingen, Gebrüder, 365–373.
54
Eine biographische Skizze
In den letzten Jahren seines Lebens wurde er in einige der wichtigsten Positionen der Selbstverwaltung des livländischen Adels gewählt und genoss hohes Ansehen.
3.3
Schule, Studium, Heirat und Beginn der akademischen Karriere
Der jüngere Alexander von Oettingen verbrachte seine frühe Kindheit auf dem Gutshof Visusti, wo er beim Spielen mit den Bauernkindern die estnische Sprache lernte. Unterrichtet wurde er zunächst im Hause bei seiner Großmutter9 in Dorpat/Tartu. Danach besuchte er (1837–1845), so wie seine Brüder, die sog. Krümmersche Anstalt in Vlru/Verro – ein deutschsprachiges humanistisches Elitegymnasium mit Internat.10 Nach dem Gymnasium immatrikulierte von Oettingen sich in Tartu zunächst für ein Studium der klassischen Philologie. Seine Brüder studierten Wirtschaftswissenschaft, Rechtswissenschaft, Medizin und Physik. Drei der Brüder, darunter Alexander, brachen später mit den Konventionen des lokalen Adels, indem sie eine akademische Laufbahn beschritten.11 Die anderen hatten sehr wichtige Positionen in der Landes- und Kommunalpolitik, einer zudem noch in der Landwirtschaft. Die Familie von Oettingens wurde während der zweiten Hälfte des 19. Jh. zu einer der einflussreichsten Familien Livlands.12 Von Oettingen beginnt im Herbst 1845 ein Studium der klassischen Philologie, wechselt jedoch im Herbst 1847 in die Theologie.13 Er legt Wert darauf, 9 Vgl. zu Charlotte Ottilie von Oettingen (geb. von Buxhöwden), die eine sehr eigenständige und charakterfeste Frau gewesen ist und als Erzieherin ihre Enkel stark geprägt hat: Vgl. Arved von Oettingen, Gebrüder, 371f. 10 Vgl. ibid., 373–378. Arved von Oettingen charakterisiert die religiöse Atmosphäre der Schule wie folgt (ibid., 374): „[D]er zu jener Zeit in Livland herrschende Herrenhutische Geist, wurde von den beiden Leitern der Schule, Krümmer und Mortimer in ein dem Leben zugewandtes praktisches Christentum abgewandelt, das den Akzent von dem rein gefühlsmäßigen Pietismus mehr auf die Seite der sittlich veantwortlichen Tat und Gesinnung verlegte.“ 11 Vgl. ibid., 365: „Die ungemein vielseitige Begabung der Brüder führte drei von ihnen auf Interessengebiete, welche zu jener Zeit dem Adel des Landes höchstens als Liebhaberei, nicht aber als passender Beruf galten. Sie ließ das Vorurteil durchbrechen und überwinden, das bisher ihrem Stande den akademischen Beruf verschloß.“ 12 Vgl. Arved von Oettingen, ibid.: „Alexander von Oettingen [der Ältere – T.-A.P] hat in seiner Person, seinen sechs Söhnen und drei Enkeln seiner livländischen Heimat drei Landmarschälle, sechs Landräte, einen Zivilgouverneur, drei Universitätsprofessoren, unter denen einen langjährigen Rektor der Universität Dorpat, und drei Stadhäupter (Bürgermeister) [für Dorpat und Riga – T.-A.P] gegeben.“ 13 Diese Daten sind anhand der Personalakten von Oettingens im Archiv der Universität Tartu präzisiert. Der Wechsel erfolgte 1847 und nicht 1846.
Schule, Studium, Heirat und Beginn der akademischen Karriere
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dass dieser Wechsel unter Zustimmung seines Vaters erfolgte.14 Als junger Student erlebt von Oettingen die Revolutionen in Europa (1848/1849).15 Diese Ereignisse beeinflussen auch die geistig-politische Atmosphäre im Kaiserreich Russland stark. 1849 besteht von Oettingen das Kandidatenexamen und wirkt im Schuljahr 1849/1850 zunächst als Religionslehrer in einer Schule für arme Kinder. Danach folgen ca. drei Jahre im Ausland, deren Verlauf in der Literatur nicht ganz kohärent dargestellt wird. Er schließt sich in den folgenden Sommern seiner Mutter und den Geschwistern an, die sich auf einer großen Europareise befinden,16 und setzt sonst seine Studien, mit dem Schwerpunkt zunächst auf Religionsphilosophie und Dogmatik, in Deutschland fort. Im Winter 1850/1851 hält er sich in Erlangen (zeitweilig auch in Bonn?),17 im Winter 1851/1852 in Berlin18 und 1852/1853 in Rostock auf. Während dieser Jahre beschäftigt er sich aufgrund von Signalen aus der Fakultät bezüglich einer Nachwuchsnot – ein Lehrstuhl für alttestamentliche Exegese und orientalische Sprachen schien in Kürze vakant zu werden, und in der Phase nach den europäischen Revolutionen im Jahr 1848/1849 erlaubte die Regierung des russischen Kaiserreichs es nicht, Personen ohne russische Staatsangehörigkeit nach Tartu zu berufen – intensiver mit orientalistischen Sprachen und judaistischen Studien.19 In Rostock, wo er eine damals wichtige Sammlung der judaistischen Spezialliteratur (die sog. Olav Tychsensche Bibliothek) benutzt, verfasst er seine erste Qualifikationsschrift.20 Auf die Einzelheiten des damaligen komplexen akademischen Qualifikationsverfahrens in Tartu, das mehrere Qualifikationsschriften, Examen und öffentliche Disputationen umfasste, gehe ich hier nicht ein. Zu Beginn des Jahres 1854 hält er seine Antrittsvorlesung, jetzt jedoch schon auf dem Gebiet der Systematischen Theologie, und beginnt seine Lehrtätigkeit an dem vakant gewordenen Lehrstuhl für Dogmatik und theologische Moral (seit 1865 Lehrstuhl für Systematische Theologie) zunächst als Dozent. Im De-
14 15 16 17
Vgl. 1887f, 448. Vgl. Hinweise in: 1882c, 20. Vgl. zur Reise: Arved von Oettingen, Gebrüder, 1928, 389f; 1882c, 22f. In Erlangen wohnte er im Haus von Karl von Raumer (1783–1865), Professor für Mineralogie, der „das geistig-geistliche Leben in Erlangen“, vor allem die akademische Jugend, stark geprägt hat (Keller, Neuluthertum, 38). 18 In Berlin studierte er vor allem bei dem Philosophen und Philologen Friedrich Adolf Trendelenburg und (1802–1872) bei dem klassischen Philologen und Altertumsforscher August Boeckh (1785–1867). 19 In Erlangen bei Franz Delitzsch und dem Orientalisten und Iranisten Friedrich Spiegel (1820–1905), in Berlin bei dem jüdisch-christlichen Gelehrten Joachim Heinrich Biesenthal (1800–1886). 20 Vgl. unten Kap. 5.
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Eine biographische Skizze
Das Foto „Von Oettingen Mitte der 1850er Jahre“ stammt aus der Sammlung des Museums der Universität Tartu.
zember 1856 wird er mit einer dritten Qualifikationsschrift, die er auf Latein verfasst, zum Doktor der Theologie promoviert. Schon davor, im Frühjahr 1856, wurde von Oettingen zum außerordentlichen Professor gewählt. Bald darauf erhielt der 28-Jährige einen Ruf nach Erlangen, nahm diesen jedoch – aus Rücksicht auf die schwierige Situation der Tartuer Fakultät bezüglich der Besetzung des Lehrstuhls: es durften weiterhin noch nicht wieder ausländischen Lehrkräfte berufen werden – nicht an. Auf den Lehrstuhl, den von Oettingen ablehnte, wurde Franz Reinhold Frank berufen. Diese Ablehnung ist umso bemerkenswerter, da für von Oettingen mit Erlangen enge Beziehungen nicht nur akademischer, sondern auch persönlicher Natur bestanden. Während seines Studiums in Erlangen hatte er Sophie von Raumer, eine Tochter von Karl von Raumer, kennengelernt. Die Hochzeit fand im Mai 1853 in Erlangen statt. Die solidarische Ablehnung des reizvollen Rufes aus dem bedeutsamen Erlangen führte zu dem ungewöhnlichen Ereignis, dass von Oet-
Bemerkungen zum historischen Kontext
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tingen zu Beginn des zweiten Semesters zum Ordinarius der Universität Tartu gewählt wurde.21 In dieser Funktion wirkte er vom Herbst 1856 bis zum Jahr 1890.22 Zusammen mit dem frühverstorbenen Kirchenhistoriker Moritz von Engelhardt (1828–1881) entwickelte er sich zu einem der führenden und einflussreichsten Mitglieder der Theologischen Fakultät.23 Von Engelhardt und er standen seit ihrer Kindheit in einem engen Freundschaftsverhältnis, waren zusammen in die Schule gegangen und hatten gemeinsam in Dorpat und in Deutschland Theologie studiert. Zudem war von Engelhardt mit einer Schwester von Oettingens verheiratet. Den im Jahr 1881 erfolgenden Ruf ins „Weltzentrum“ der evangelischen Theologie, nach Berlin, lehnt er ab. Die Stelle in Berlin, wo es seit 1836 zwei Lehrstühle für systematische Theologie gab, wurde von Julius Kaftan angetreten. Auch dem späteren Ruf (1889) nach Greifswald folgt er, trotz bzw. wegen der sehr schwierigen Lage in seinem Heimatland und an seiner Heimatuniversität, nicht.
3.4
Bemerkungen zum historischen Kontext des Lebens und Wirkens von Oettingens
Ich greife einige Züge der Dynamik der damaligen Zeitverhältnisse auf, die den unmittelbaren Horizont für Wirken und Werk von Oettingens bilden und für dessen Verständnis hilfreich sind. Zwei wichtige Stichworte sind „Russifizierung“ und „nationale Erweckung“. Im Hintergrund stehen außerdem die politisch-sozialen und geistigen Entwicklungen in Europa, vor allem in Deutschland, die ich hier aber nicht eigens thematisiere. Im Jahr 1832, als von Oettingen noch Kind war, wurde ein neues Kirchengesetz für das ganze Reich erlassen. Dadurch verschlechterte sich die Stellung der lutherischen Kirche in den baltischen Provinzen in mehreren Hinsichten. Zuvor hatte die lutherische Kirche aufgrund der sog. baltischen Sonderordnung, trotz dessen, dass die Orthodoxie im Russischen Reich als die Staatsreligion galt, ihren landeskirchlichen Status weitgehend aufrechterhalten. Diese Selbstständigkeit reduzierte man jetzt. Die lutherische Konfession wurde zu einer geduldeten Religion oder Sekte des Reiches, für die von orthodoxer Seite aus das Verbot des sog. Proselytentums galt. Die verschiedenen Implikationen dieses 21 Der Antrag der Fakultät wurde vom Konzil der Universität einstimmig genehmigt. Der Minister bestätigte die Wahl (vgl. Frey, Theologische Fakultät, 188). 22 Nach 25 Jahren wurde er, wie vorgesehen, emeritiert. Auf die Bitte der Fakultät hin wurde seine Amtsperiode, jeweils durch eine Wiederwahl, zwei Mal um 5 Jahre verlängert. 23 Auch mehrere andere Zeitzeugen stimmen weitgehend dem Urteil Arved von Oettingens bei: Sie haben „viele Jahrzehnte von der Mitte des Jahrhunderts an den Typus, die Physiognomie der theologischen Fakultät weitgehend bestimm[t]“ (Arved von Oettingen, Gebrüder, 477f).
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Eine biographische Skizze
Verbotes, i. e. der Umgang mit Fragen z. B. der Rekonversion (die Wiederaufnahme derjenigen ehemaligen Protestanten, die zurück in die evangelische Gemeinde wollten), der sog. Mischehe und der in ihnen geborenen Kindern etc., erweisen sich im späteren Verlauf des Jahrhunderts als höchst virulent. Bis zum russischen Toleranzedikt vom 1905 kommt es immer wieder zu Kriminalprozessen gegen Pastoren, die denjenigen Amtshandlungen gewährt haben, die nach einer Weile doch wieder Kontakt mit der evangelischen Gemeinde aufgenommen haben. Gegen sehr viele Pastoren werden Prozesse begonnen24 (während dieser Periode sind insgesamt ca. zwei Drittel der Pfarrerschaft davon betroffen), nicht wenige werden verurteilt, ihres Amtes enthoben, in andere Gebiete Russlands strafversetzt oder inhaftiert. Die 1840er Jahre sind Krisenjahre. Es herrscht Hungersnot. In Verbindung mit weiteren fördernden Faktoren kommt es so unter der Landbevölkerung zu massenhaften Konversionswellen zum „Glauben des Zaren“. In Livland erreichen die Übertritte in die orthodoxe Kirche zwischen 1845–1848 den Höhepunkt. Das führt zu einer Krise der lutherischen Kirche. Zwischen 1848 und 1853 wird in der Kirche, was bei weitem nicht alle kirchenleitenden Personen gutheißen, gegen die damals sehr einflussreiche Brüdergemeinebewegung, die als zusätzlicher Schub hin zur kirchlichen Desintegration, wohl aber auch als ein fördernder Faktor der problematisch gesehenen Emanzipationsbewegung der Landesbevölkerung empfunden wurde, mobilgemacht. Der baltische Adel beginnt in den 1840er Jahren die Gefahr der sog. Russifizierung, einer imperialistischen Zentralisierung und Gleichschaltung der baltischen Provinzen, zu spüren. Jene Russifizierung kann z. T. gewiss als gebotene Reichsmodernisierung betrachtet werden, doch sind dabei die nationalistischen oder gar chauvinistischen Dimensionen, wie sie z. B. die russische Presse dieser Zeit verdeutlicht, nicht zu unterschätzen. Nach dem Revolutionsjahr 1848 reduziert sich zunächst der Druck auf den deutschbaltischen Adel, der sich in der Landespolitik keinesfalls einheitlich darstellt. Miteinander ringen vor allem diejenigen, die für die Bewahrung der bisherigen Ordnung aufgetreten sind, und diejenigen, die sich für die Reformnotwendigkeit und eine Ausweitung der Rechte der Landesbevölkerung, die deren wirtschaftliche Lage und kulturelle Entwicklung fördern würde, ausgesprochen haben. An eine wirkliche politische Beteiligung der Landesbevölkerung an der Gestaltung der Landespolitik dachten damals allerdings nur wenige. In der Wahrnehmung ihrer politischen Unreife, nicht zuletzt wegen ihrer wirtschaftlichen Unselbständigkeit und Landlosigkeit („Bodenlosigkeit“), sah sich der baltische Adel verpflichtet die politische Verantwortung zu übernehmen. Sie setzten also auf eine Reformpolitik, nicht auf eine abrupte und radikale Reorganisation, wie sie später im Zuge 24 Arved von Oettingen zählt 200 Kriminalprozesse (vgl. ibid., 360). Vgl. Stephany, Konversion.
Bemerkungen zum historischen Kontext
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des Ersten Weltkrieges, der Unabhängigkeitserklärung der Estnischen Republik (24. 2. 1918) und des estnischen Freiheitskrieges (1918–1920) geschah. Jene Reformpolitik25 wurde, im Unterschied zum Vater,26 auch von allen Brüdern von Oettingens, sowie von den meisten ihrer Verwandten und Freunde vorangetrieben bzw. unterstützt. Ab 1849 werden einige wichtige Reformen durchgeführt, die für den Adel den Verlust mancher Privilegien bedeuten und eine zeitweilige Entspannung im Lande mit sich bringen. Der Krimkrieg (1853–1856) ist eine Zäsur, die das Russische Reich zur Reform bzw. Modernisierung nötigt. So stellen die 1860er Jahre in den Ostseeprovinzen einen letzten Höhepunkt der Herrschaft der kleinen deutschbaltischen Minderheit über Land und Leute dar. Doch schon am Ende des Jahrzehnts wird z. B. Russisch in den staatlichen Behörden zur pflichtmäßigen Verkehrssprache erhoben. Die 1870er Jahre beginnen mit polemischen Äußerungen der russischen Presse gegen den „Separatismus“ der Ostseeprovinzen. Die Reformen kommen ins Stocken. Die sog. nationale Erweckung, i. e. die Emanzipationsbewegung unter den Esten und Letten, erreicht einen neuen Stand. Mehrere führende Figuren innerhalb dieser nationalen Bewegung sind lutherische Pfarrer. Sie gehören zur ersten Generation der einheimischen Landesbevölkerung, die durch das Theologiestudium einen Zugang zur höheren Bildung erlangt hat. Der Anteil der Esten und Letten unter den Pastoren ist allerdings noch winzig. Es gibt Berichte darüber, dass von Oettingen Theologiestudierende aus ärmeren Verhältnissen, gerade auch Esten, regelmäßig zu sich (auch zum Mittagessen) eingeladen hat. Bei der Ordination von Jakob Hurt (1839–1907), einer Leitfigur der estnischen nationalen Erweckung, wirkt von Oettingen als Assistent mit. Auch zu Villem Reimann (1861–1917) hat er ein 25 Vgl. die spätere Schilderung (wahrscheinlich aus den 1920er Jahren) eines Sohnes von einem der Brüder von Oettingens: „Der bedeutende livländische Agrarpolitiker, Hamilkar von Fölkersahm […] hatte eine großzügige Rerformpolitik begonnen für die Emanzipation des estnischen und lettischen Bauernstandes aus seiner abhängigen Stellung vom adligen Rittergutsbesitzer. Von ihm […] empfingen die Brüder die Richtung ihres politischen Denkens. Will man die gemeinsame Grundeinstellung der Brüder in politischer Beziehung kurz bezeichnen, so lautet sie: ,Festhalten und Ausharren auf dem priviligienmäßigen deutschen Rechtsstandpunkt und Ausbau des livländischen Landesstaates durch zeitgemässe Hinzuziehung der bürgerlichen und bäuerlichen Stände zur Verwaltung des Landes.‘“ „[Z]wischen den Anhängern des alten Regimes, den Konservativen, und denen einer gerechten Neuordnung, den Liberalen, [kam es] zu heftigen Kämpfen und Zusammenstößen“ (Arved von Oettingen, Gebrüder, 380, vgl. 415). Die Liberalen – im Kontext der Adelspolitik Livlands – seien, so lautet seine Interpretation, für „einen echt deutschen organischen, aristokratischen Aufbau der Gesellschaft“ eingetreten (ibid., 383). 26 „[D]as Verständnis für den radikalen Umbruch alt-livländischer konservativer Gesinnung durch einen Hamilkar von Fälkersahm und seine Gesinnungsgenossen [lag] ihm fern.“ (Ibid.).
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Eine biographische Skizze
engeres Verhältnis. Rudolf Gottfried Kallas (1851–1913), ein Wegbereiter der estnischsprachigen theologischen Wissenschaft, ist der einzige Este, der im Werk von Oettingens namentlich und zwar wegen seiner wissenschaftlichen Leistung erwähnt wird. In den 1880er Jahren, nach dem Attentat auf Kaiser Alexander II., beginnen unter Alexander III. im Reich große Veränderungen und in den Ostseegouvernements wird die Russifizierung in die Wege geleitet. Neben den administrativen Maßnahmen drückt sich letztere insbesondere darin aus, dass Russisch zur offiziellen Geschäftssprache und, nach heftigen Widerständen, 1887 in den Schulen und im Jahr 1893 auch an der Universität, die jetzt den russischen Namen „Jurjew“ führt, zur Unterrichtssprache wird. Allein in der Theologischen Fakultät erfolgt die Arbeit weiter auf Deutsch, nicht zuletzt, um die Wirkung der evangelischen Theologie im Reich besser in Grenzen zu halten. Die Universität hatte sich in akademischer Hinsicht seit den 1850er Jahren ca. 30 Jahre lang sehr stark entwickelt und war auf einem Höhepunkt ihres Einflusses und wissenschaftlichen Ruhmes, weit über die Grenzen von Livlands und des Russischen Reiches hinaus, womit auch Berufungen aus Deutschland und überhaupt ein mobiler Austausch zwischen den Wissenschaftlern aus Tartu und denen der anderen deutschsprachigen Universitäten einhergingen. Mit Beginn der Russifizierung verließen viele Professoren Tartu, und auch der lokale Nachwuchs, unter den Theologen z. B. Adolf von Harnack und Reinhold Seeberg, entschied sich für eine Karriere in Deutschland. Es wurde auch abermals die Berufung von „Nichtbürgern“ verboten. Hieraus wird verständlich, dass auch der 62-Jährige von Oettingen ab Herbst 189027 keine Lehrveranstaltungen mehr anbieten darf, obwohl er als Emeritus dazu bereit und auch berechtigt ist. Der Wunsch der Fakultät, dass er den Lehrstuhl bis zur Neubesetzung stellvertretend leitet, wird staatlicherseits abgelehnt. Seit dem Jahr 1892 gilt im ganzen Reich eine einheitliche Gesetzgebung, womit die Sonderstellung der baltischen Provinzen aufgehoben ist. Von der Mitte der 1890er Jahre an nimmt der Russifizierungsdruck etwas ab. Von Oettingen erlebt im Jahr seines Todes noch den Beginn der revolutionären Ereignisse in Russland und auch, wie das im Zuge der Reformen im April 1905 erlassene Toleranzedikt den religiösen Minderheiten, inkl. den Lutheranern, die Religionsausübung erleichtert. Das wirkliche Ausmaß des Umbruches, den die folgenden Jahre mit sich brachten, erlebt von Oettingen nicht mehr. Das Gesicht der Gesellschaft hat sich tiefgreifend geändert, aber doch nicht – um ein
27 Die Dienstzeit eines Professors im Kaiserreich dauerte in der Regel 25 Jahre. 1880 und 1885 wurde der Vertrag mit von Oettingen für je fünf Jahre verlängert. Im Jahr 1890 bat er um seine Emeritierung (vgl. Frey, Theologische Fakultät, 191).
Lehrtätigkeit, Forschungsaufenthalte in Europa und das Dekanat
61
Stichwort von Oettingens aufzugreifen – organisch, sondern vielmehr höchst unorganisch, nämlich durch Revolutionen und Kriege.
3.5
Lehrtätigkeit, Forschungsaufenthalte in Europa und das Dekanat
Die Eckdaten für die Arbeit von Oettingens an der Universität, 1854 und 1890, wurden schon genannt. Eine Übersicht über seine wissenschaftliche Arbeit enthalten die Kapitel 5–8. Obwohl sich für das umfangreiche literarische Werk von Oettingens ein überaus deutlicher wissenschaftlicher Fokus konstatieren lässt, sind ihm auch Themen und Gattungen nicht fremd, die in mehrfacher Weise diesen Fokus dezentrieren.28 Die damaligen Vorlesungsverzeichnisse erlauben einen genauen Überblick über seine Lehrtätigkeit. Bis zur Universitätsreform 1865 sind darin oft auch die verwendeten Lehrbücher angegeben. Seit 1865 trug der bisherige Lehrstuhl für Dogmatik und Theologische Moral den Namen Lehrstuhl für Systematische Theologie. Von Oettingen beginnt mit Vorlesungen über die „Dogmengeschichte“ und wiederholt diese viermal (1854, 1856, 1858, 1860, 1875). „Prolegomena und Geschichte der Dogmatik“ trägt er regelmäßig zwischen 1855 und 1888 vor, insgesamt einundzwanzigmal. Der Name der Vorlesung variiert dabei, gelegentlich liest er „Geschichte der Dogmatik“ und „Prolegomena“ auch separat. Es fällt auf, dass er seit 1879 anstatt „Prolegomena“ den Begriff „Prinzipienlehre“ verwendet. „Dogmatik“ liest er regelmäßig (1854–1889) in zwei Teilen über zwei Semester, insgesamt während sechsunddreißig Semestern. Zwei Mal bietet er eine Vorlesung zur Eschatologie an (1855 und 1880). Auch den anderen Zweig der Systematischen Theologie behandelt er in großen Vorlesungen zwischen 1855 und 1889 regelmäßig, insgesamt achtzehnmal. Die Namen der Vorlesungen variieren (Theologische Moral, Christliche Ethik, Ethik, Christliche Sittenlehre, Geschichte und System der christlichen Ethik, Geschichte der heidnischen und christlichen Ethik, System der Ethik, Geschichte und System der Ethik). Dazu kommen Vorlesungen zur „MoralStatistik“ (fünfmal zwischen 1872 und 1888) und zur „Allgemeinen Sozialethik mit Bewertung der moralstatischen Daten und mit Rücksicht auf die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche“ (1875). Zu diesen letztbenannten Vorlesungen versammelte sich, wie mehrere Zeitzeugen berichten, stets eine besonders große Hörerschaft aus verschiedenen Fakultäten, sodass sie in der Aula der Universität stattfinden mussten. Wie es bis in das 20. Jh. hinein unter den Systematikern nicht unüblich war, bot von Oettingen fast während seiner gesamten Lehrtätigkeit auch Vorlesungen 28 Vgl. seine Bibliographie am Ende des Buches.
62
Eine biographische Skizze
zum Neuen Testament an. Regelmäßig liest er ab 1866 „Biblische Theologie des Neuen Testaments“ (bis 1885 zehnmal). Vor 1866 (und gelegentlich auch danach) behandelte er eine Reihe von Briefen für je ein Semester. Allein über den Römerbrief (1861, 1864, 1866, 1869, 1875) und über das Verhältnis zwischen Paulus und dem Jakobusbrief (1857, 1864, 1870) hat er mehrmals Vorlesungen gehalten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass von den Vorlesungen von Oettingens sechsundsechzig die Dogmatik bzw. Dogmengeschichte, vierundzwanzig die Ethik bzw. Moralstatistik und sechsundzwanzig das Neue Testament zum Thema hatten. Nachdem von Oettingen zum Ordinarius gewählt worden war, bot er jedes Semester auch eine Übung oder ein sog. Konversatorium an. Ab 1878 sind diese Veranstaltungen mit der Anmerkung „privatissime, gratis“ versehen. Fast die Hälfte heißt „Dogmatisches Conversatorium (und Disputatiorium)“ und es fehlt ein näherer Hinweis auf das Thema. Die andere Hälfte ist genauer beschrieben. Fast die ganze Zeit seiner Lehrtätigkeit hindurch bot von Oettingen zum einen Veranstaltungen speziell zu Augustin (insgesamt siebenmal, davon fünfmal Confessiones, einmal De spiritu et litera) und zum anderen zu Schleiermacher (sechsmal, davon viermal zur Glaubenslehre) an. Dazu kommen Seminare zu Melanchthons Loci (1859, 1887), Kants Kritik der praktischen Vernunft und philosophischen Religionslehre (1864), Spinozas Ethik (1864), Melanchthons und Chemnitz’ Loci (1871), zur Christologie (1875), zur dogmatischen Prinzipienlehre (1877, 1880), zur „Altdogmatischen Terminologie“ (1881), zur „Altlutherischen Dogmatik“ (1885) und zu Ritschls Theologie (1878). Es fehlen in der Aufzählung lediglich noch zwei biblisch-theologische Konversatorien (1868, 1870) und vier ethische Seminare: ein Sozialethisches Praktikum (1875), ein ethisches Konversatorium unter Berücksichtigung von Augustins De civitate Dei (1876) und ein ethisches Konversatorium über sozialethische Fragen der Gegenwart (1881). Auch das letzte Seminar ist ein ethisches Praktikum über Augustins De civitate Dei (1890). Seit ca. Mitte der 1860er Jahre bis zu Beginn der 1880er Jahre ist von Oettingen mehrmals in Europa unterwegs, um in Bibliotheken und Archiven Material für seine Moralstatistik (1868/1869), bzw. für deren bearbeitete und aktualisierte Neuauflagen zu sammeln (1874, 1882). Meistens geschieht das in den Sommerferien. Dreimal ist er für je ein Semester zu Forschungszwecken unterwegs (1864, 1873, 1880). Aufgrund seines Werkes wird er im Jahr 1889 zum Ehrenmitglied des noch heute aktiven International Statistical Institute gewählt. Es fällt auf, dass obwohl von Oettingen lange Zeit Mitglied der Fakultät war, er nur für eine Periode als deren Dekan (1873–1875) wirkte. Erklären dürften das seine zahlreichen Aktivitäten außerhalb der Fakultät.
Kirchliche und soziale Aktivitäten
3.6
63
Kirchliche und soziale Aktivitäten
Als Theologie zielt von Oettingen auf eine akademische Tätigkeit ab. Doch bemerkt er im Eröffnungsaufsatz der von ihm maßgeblich mitbegründeten Dorpater Zeitschrift für Theologie und Kirche, dass er als Lehrer der Pfarrer eine Ordination für wünschenswert hält. Als er als Ordinarius 1861 beim livländischen Konsistorium in Riga das notwendige Examen tatsächlich ablegt und von Bischof Paul Ferdinand Walter (1801–1861), dem Generalsuperintendenten von Livland,29 ordiniert wird, dürften diesem Schritt noch zusätzliche Erwägungen zugrunde gelegen haben. Gleich danach lässt er sich nämlich für ein Jahr beurlauben, um seine schwerkranke Frau zu einer Kur in Meran zu begleiten. Im Kurort ist er seelsorgerlich tätig, begründet dort eine evangelische Gemeinde mit und wirkt als deren Seelsorger und Pastor.30 Die dort gehaltenen Predigten veröffentlicht er später. Auf jeden Fall aber ist das Verhältnis von Theologie und Kirche für von Oettingen nicht nur ein theoretisches, sondern auch ein praktisches Anliegen. Die Pflege dieses Verhältnisses findet Ausdruck in der Zeitschrift, die von den Professoren der theologischen Fakultät unter Mitwirkung vieler Pfarrer herausgegeben wird. Sie zeigt sich aber auch in seiner jahrelangen aktiven Beteiligung, häufig auch mit eigenen Vorträgen, an der livländischen Synode. Mit konkreten Vorschlägen zur Gestaltung des kirchlichen Lebens meldet er sich 1863 in einem im Dorpater Tagesblatt erschienenen Artikel zur Frage der Kirchenverfassung zu Wort. Im Jahr 1860 gibt er eine Schulausgabe des Kleinen Katechismus von Luther heraus. Viele Neuauflagen folgen. Besonders intensiv engagiert er sich für das geistige Lied und eine Reform des Choralgesanges (vgl. 1874a). Er war aktives Mitglied des Synodalausschusses für ein neues kirchliches Gesangbuch gewesen. Im Jahr 1861 veröffentlicht er selbst eine Sammlung der kirchlichen Kernlieder, die er selbst später unterschiedlich (für Kirche, Schule und Haus bzw. für Schule und Haus, mit Singweisen oder ohne) überarbeitet, und die bis ins 20. Jh. hinein zahlreiche Neuauflagen hat. Diese Sammlung dient als wichtiger Anknüpfungspunkt für die damaligen neuen und so indirekt auch die heutigen Kirchengesangbücher. Im Jahr 1876 ruft er die sehr erfolgreichen sog. Dorpater Januarkonferenzen 29 „Bischof“ war damals ein Titel, der ehrenhalber verliehen werden konnte. 30 Vgl. unten Kap. 6, Anm. 1. „Er gründet in Meran eine evangelische Pfarrgemeinde, hält Bibelstunden ab, predigt, baut eine Kirche und versteht es sich mit der mit dem Treiben keineswegs einverstandenen katholischen Geistlichkeit auseinanderzusetzen und deren Widerstand zu überwinden. Oettingen schreibt: Unsere Gottesdienste werden überhaupt viel von Katholiken, vornehmen und geringen besucht […] Der Dekan schäumt vergeblich, denn wir wollen und werden die Türen nicht schliessen.“ (Arved von Oettingen, Gebrüder, 480).
64
Eine biographische Skizze
ins Leben, wo sich die Fakultät und die Pfarrer aus den baltischen Provinzen, aber auch aus anderen Gegenden Russlands zur Erörterung und Diskussion theologischer Themen treffen und dies mit gemeinsamen Stellungnahmen beschließen.31 Diese Tradition wird in modifizierter Form im heutigen Estland bis heute fortgesetzt, obwohl ihre Ursprünge nicht mehr allgemein bewusst sind. Auf das Familienleben von Oettingens komme ich gleich zurück. Der Verlust seiner Frau Sophie im Frühjahr 1863, der ihn schwer trifft, wird ein wichtiger Impuls für seine aktive Hinwendung zur sozialen Fürsorge und zu karitativen Tätigkeiten. Obwohl er schon früher unterstützungsbedürftige Studierende in sein Haus, zum Mittagstisch und zum Gespräch einlädt, ist es charakteristisch, dass er sich jetzt bei der Gründung bzw. Organisation institutioneller Hilfsformen engagiert und diese als Ausdruckformen kirchlicher Arbeit verstanden und gepflegt wissen will. 1865 wird er Vorsitzender eines kirchlichen Vereins, der die soziale Fürsorge bzw. Armenhilfe fördert. In diesen Zusammenhang dürfte auch das einjährige Wirken (1876–1877) als Religions- und Gesangslehrer in einem Privatgymnasium gehören. Im Jahr 1888 gründet er in Tartu eine diakonische Einrichtung (das sog. Alexander-Asyl),32 die sich um arbeitslose Handwerker kümmert. Von 1889 bis 1902 war er Leiter einer erweiterten Elementarschule für arme Kinder, wozu mit Sicherheit auch bzw. in erster Linie estnische Kinder gehörten. Zur finanziellen Förderung dieser Tätigkeiten hält er oft allein oder zusammen mit Kollegen allgemeinbildende Vorträge, mehrere davon werden auch publiziert, und liest in der Aula der Universität die Dramen von Shakespeares vor (vgl. 1861a).33 Ein markantes und damals Aufsehen erregendes weiteres Beispiel dieser Tätigkeit sind seine über zwei Semester gehaltenen Vorlesungen zu Goethes Faust.34
31 Vgl. unten Kap. 14.1. 32 Gleichnamige Anstalten hat es in Deutschland und Russland bereits früher gegeben. 33 „In hohem Grade beherrschte er die Kunst des dramatischen Leesens: nach Tausenden zählen die, welche beim Mangel eines ständigen Schauspiels in Dorpat, von ihm in die Grösse der Shakespeareschen Dramen und die neuzeitliche Dramenliteratur eingeführt wurden. […] Die Gestalten eines Lear, Hamlet, Othello wurden von ihm individuell und eigenartig geprägt.“ (Arved von Oettingen, Gebrüder, 385). Das literarische Interesse von Oettingens findet ganz besonders Ausdruck in einer mühsam neubearbeiteten und mit einer ausführlichen literarhistorischen Einführung versehenen Ausgabe von Theodor Gottlieb von Hippels Roman Lebensläufe nach aufsteigender Linie (Erstausgabe 1778–1781, vgl. 1878c–e, 1880b). Zu Lebzeiten des Autors wurde der Roman in den literarischen Kreisen (z. B. von Goethe, Schiller, Hamann, später Jean Paul) hoch geschätzt, nachher geriet er jedoch in Vergessenheit. Von Oettingens Neuausgabe erscheint zum 100. Jahrestag des Romans und ist durchaus erfolgreich (3. Auflage 1893). 34 Aus diesen Vorlesungen ist auch ein Buch entstanden, vgl. 1880f, 1880 g.
Familienleben, Hobbys und interdisziplinäres Gespräch
3.7
65
Familienleben, Hobbys und interdisziplinäres Gespräch
Von Oettingen und seine „feinsinnige“35 Frau Sophie stehen in einer sehr innigen Beziehung zueinander. Ihr Haus in Dorpat/Tartu wird „durch das junge Ehepaar bald zu einem geistigen Mittelpunkt des Landes […], in dem nicht nur die Berufsgenossen des Mannes und zahlreiche Studenten – auch solche ,nationaler Provenienz‘ [gemeint sind wohl Esten und Letten – T.-A.P.] – ein- und ausgehen, sondern das ebenso sehr vom Adel und den politischen Führern der Zeit aufgesucht wird“.36 Als sie 1860 in ein eigenes Haus ziehen, das nach seinen Plänen gebaut wurde,37 ist Sophie jedoch schon an einem schweren Kehlkopfleiden erkrankt. Eine einjährige Kur in Meran (1861/1862) bringt keine Genesung. Sie entscheidet sich zur Rückkehr um zu Hause zu sterben.38 Von Oettingen veröffentlicht 1862 unter dem Titel Durch Kreuz zum Licht noch seine Predigten aus der Meraner Zeit.39 Anfang des folgenden Jahres stirbt sie mit sechsunddreißig Jahren. Im selben Jahr stirbt auch von Oettingens Mutter. Nach einer längeren Trauerzeit, in der er auch seinen Schwiegervater (im Sommer 1864) in Erlangen besucht, geht von Oettingen im Frühjahr 1865 eine zweite Ehe mit der ebenfalls verwitweten Bertha40 Ewers (1818–1913) ein. Auch in dieser Ehe werden von Oettingen keine eigenen Kinder geboren. Er wird jedoch zum Stiefvater von Bertas Sohn Alfred,41 der (1875) mit einunddreißig Jahren stirbt. Noch zwei weitere schwere plötzliche Schläge treffen von Oettingen in den nächsten Jahren. Zum einen der Tod (1876) seines Lieblingsbruders Nicolai,42 der als 50-Jähriger acht Kinder hinterlässt, von denen sich einige häufig im Haus von Oettingens aufhalten werden. Zum anderen der Tod (1881) seines engen Freundes und wichtigsten Weggenossens Moritz von Engelhardt. Heimat und Haus bedeuten von Oettingen und seiner Familie sehr viel. Der Beginn der 1880er Jahre bringt diesbezüglich wichtige Veränderungen mit sich. Von Oettingen lässt sich ein neues Haus bauen, wieder nach eigenen Plänen. Im 35 Vgl. Arved von Oettingen, Gebrüder, 478–480. 36 Ibid., 478. 37 Das Haus steht noch heute (Pepleri Str. 4, Tartu) und ist wegen seiner ambitionierten und interessanten Bauart neuerlich Gegenstand einer wissenschaftlichen Studie gewesen. 38 Von Oettingen schreibt in einem Brief: „Dennoch leben wir recht freudig. Wenigstens innerlich ist Sophie, ich möchte sagen, in verklärter Stimmung. Ihr Auge strahlt in stiller Zuversicht, weil’s ,bergauf‘ geht, weil’s allmählich ,himmelan‘ geht. Wir bewegen uns jetzt überhaupt viel in Endgedanken!“ (Zitiert nach Arved von Oettingen, Gebrüder, 479). 39 Vgl. oben Kap. 1. 40 Anna Bertha Catharina von Ewers ist eine Tochter von Gustav von Ewers, dem früheren legendären Rektor der Dorpater Universität. Ihr erster Mann war Rudolf von Engelhardt, die rechte Hand des oben erwähnten Initiators der Reformpolitik Landmarschall Hamilkar von Fölkersahm. 41 Alfred Moritz von Engelhardt (1844–1876). 42 Nicolai Conrad Peter von Oettingen (1826–1876).
66
Eine biographische Skizze
Die Fotos „Das Haus von Oettingens – Vorderansicht, ca. 1880“ und „Das Haus von Oettingens – Rückseite, 1905“ stammen aus dem Archiv des Vereinhaus Tiigi.
Volksmund wird das große schlossartige Haus, das am Rande des Domberges einen Blick über die ganze Stadt zu werfen erlaubt, – scherzhaft? – „Vatikan“ genannt.43 1881 zieht die Familie dort ein. Auch dieses „Haus am Domgraben wurde zu einem Hort der Anregung und Belehrung für die Studierenden der Theologie.“44 Unter anderem finden dort die oben genannten nichtobligatorischen Privatseminare statt. 1882 baut er noch eine Villa an der Westküste Estlands (in der Nähe von Haapsalu), wo die Familie fast zwanzig Jahre lang ihre Sommer verbringt. Ein beliebter Zeitvertreib ist ihm die Gestaltung und Pflege der Gärten, die seine Häuser umgeben. Auch der zur Universität gehörende Park auf dem Domberg, ein Wahrzeichen von Dorpat, hinter dem Hauptgebäude gelegen, wird von ihm erweitert und gestaltet.45 Die Anziehungskraft der Musik auf von Oettingen ist schon angesprochen worden. Er soll selbst sehr gut die Zither gespielt haben. An dieser Stelle verdient noch eine besondere Zusammenarbeit Erwähnung. Der damalige Universitätsmusikdirektor Heinrich Zöllner schrieb zur Feier des 400. Geburtstags des Reformators das Oratorium „Luther“. Von Oettingen stellte aus Schrift- und Lutherworten das Libretto zusammen (vgl. 1883d). Die Familie von Oettingen, er selbst, und seine Brüder und andere Verwandte, umfasste Vertreter verschiedener akademischer Disziplinen, aber auch führende Figuren der Landespolitik. Diese enge Beziehungen zueinander pflegende Familie bildete insofern schon in sich selbst eine interdisziplinäre, den Theologen herausfordernde, aber wohl auch inspirierende Atmosphäre, die dem Denken von Oettingens und seinem Werk zu Gute gekommen sein dürfte. Ein Bruder war 43 Das Gebäude (Tiigi Str. 11, Tartu) ist heute in gutem Zustand und als sog. Vereinshaus im Munizipalbesitz. 44 Arved von Oettingen, Gebrüder, 482. 45 „Der Typus seiner Anlagen mit kleinen Brücken und Bänken aus dem schneeweißen Geäst der Birken mit künstlichen Wassergefäll und Grotten erinnerte an den Weimarer Park“ (ibid., 386).
Familienleben, Hobbys und interdisziplinäres Gespräch
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Professor für Physik, ein anderer Professor für Medizin (ab 1859 Prorektor, 1868–1878 Rektor der Universität). Durch den Verkehr mit den anderen drei Brüdern war der Kontakt zum politischen, rechtlichen und landwirtschaftlichen Leben vorhanden. Ein Schwager von Oettingens, Leopold von Schrenk, war Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, Zoologe, Ethnologe und Sibirienforscher in St. Petersburg. Der andere Schwager war, wie bereits erwähnt, Moritz von Engelhardt. Diese akademisch und politisch höchst aufgeladenen Verwandtschaftsverhältnisse um Alexander von Oettingen herum sind sehr komplex und brauchen hier nicht weiter verfolgt zu werden. Als noch ein letztes Beispiel für diese Komplexität füge ich nur noch hinzu, dass von Oettingens zweite Frau und die Frau des Praktischen Theologen Theodosius Harnack,46 einem engen Freund von Oettingens, Schwestern waren. So war auch die Familie Harnack mit der von Oettingens verwandt. Ein anderer sehr wichtiger Ort, an dem in Tartu regelmäßig und intensiv interdisziplinäre Gespräche geführt wurden, waren die sog. Mittwoch-Abende des weltberühmten und auch theologisch interessierten Karl Ernst von Baer, der aus dem heutigen Estland stammte und seine letzten Lebensjahre (1867–1876) in Tartu verbrachte. Während dieser Zeit organisierte er in Dorpat/Tartu wöchentlich wissenschaftliche Gesprächsabende.47 Jedes Mal gab es ein Referat über ein bestimmtes Gebiet der Wissenschaften, worauf eine Diskussion folgte. Die Teilnehmenden waren Professoren der Universität und der Höheren Veterinär-Schule, akademische Gäste aus St. Petersburg und aus Deutschland und Nachwuchswissenschaftler. Aus der Theologischen Fakultät beteiligten sich an diesen Abenden Theodosius Harnack, Moritz von Engelhardt und von Oettingen. Als ein besonders deutliches Zeichen für die Produktivität solcher interdisziplinärer Gespräche ist von Oettingens Verkehr (seit Mitte der 1860er) mit seinem Universitätskollegen Adolf Wagner anzusehen.48 In späteren Jahren, nach 1870, gehörten zu einem kleineren Freundeskreis um das Ehepaar von Oettingen neben dem Alttestamentler Wilhelm Volck und dem Kirchenhistoriker Ferdinand Mühlau, auch der Germanist und vergleichende Sprachwissenschaftler Leo Meyer und der klassische Philologe und Archäologe Eugen Adolf Herman Petersen. Ich thematisiere in der Studie das Interesse von Oettingens am Gespräch mit anderen Disziplinen noch näher. Hier weise ich vorerst nur noch darauf hin, dass die Kenntnis verschiedener Sprachen die Gesprächsoffenheit fördern kann. Von Oettingen verwendete viele Sprachen. In seiner Lebensumwelt waren in 46 Vgl. unten Kap. 10; vgl. 1904c. 47 Vgl. Tammiksaar/Kull, Tartu Tradition, 2001. 48 Vgl. Kap. 4.
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Eine biographische Skizze
verschiedenen Zusammenhängen, sich aber teilweise auch überdeckend, Deutsch, Estnisch und zunehmend Russisch in Gebrauch. Er besuchte ein humanistisches Gymnasium und begann zunächst mit einem Studium der klassischen Philologie. Für einige Jahre beschäftigte er sich intensiv mit Semitistik bzw. Judaistik und in gewissem Umfang auch mit anderen orientalischen Sprachen (z. B. mit Sanskrit). Seine wissenschaftlichen Hauptwerke sind ein Zeugnis dafür, dass er sich neben den alten Sprachen zwar vor allem mit deutschsprachiger, doch daneben auch mit englisch-, französisch-, niederländisch- und italienischsprachiger Literatur auseinandersetzte.
3.8
Charakterporträt
Um die Person von Oettingens plastischer vor Augen zu bekommen, sei zu allerletzt trotz aller Vorbehalte noch drei Zeitzeugen das Wort gegeben, die von Oettingens Charakter porträtieren. Arved von Oettingen beschreibt seinen Onkel Alexander wie folgt: Ein eigenartiger und reicher Glanz umstrahlt diese geistig blendende Gestalt, die in ihrer reichen Facettierung das Licht in vielfarbigen Strahlen reflektiert. Reich begabt, von schärfster Fassungsgabe, impulsiver Dialektik, beweglichen Geistes, der überall ein neues Feld für seinen Tatendurst und Gestaltungsdrang fand, eine kampfesfrohe Natur von unbefangenster Subjektivität, hinreißend im Schwung seiner Begeisterung für das Ideal, in der offenen und mutigen Bekenntnisfreudigkeit, so steht dieser Mann mit den edlen Zügen, umrahmt von weißen Locken und kurzgehaltenem Backenbart, dem unendlich beweglichen, fast schauspielerhaft veränderlichen Munde und dem wundervoll leuchtenden gütigen Augen vor uns. Alexander v. O. hatte etwas Faszinierendes in seinem Wesen, mit wem er auch in Berührung kam, ob Anziehung oder Abstoßung, es gab immer Funken, Blitz, Licht oder Wärme!49
Reinold Seeberg, ehemaliger Schüler von Oettingens, schließt seinen auf die Bitte einer Zeitschrift hin verfassten eingehenden Verständnisversuch der „Seele“ von Oettingens: Oettingen war ein Mittelpunkt des kirchlichen und des geistigen Lebens der baltischen Provinzen. Auf sein Urteil legten alle Kreise Gewicht. Und er war eine der merkwürdigsten Gestalten des baltischen Lehrtypus, eine typische Erscheinung und doch ein origineller Mensch; ein demütiger Diener seines Gottes und ein geborener Herrscher, ein Idealist der Theorie und ein Realist der Tat, ein warmer Patriot und doch voller Sehnsucht nach der ewigen Heimat.50
Der letzte Zeitzeuge ist der Volksmund: 49 Arved von Oettingen, Gebrüder, 385. 50 Seeberg, Oettingen, 503.
Charakterporträt
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Das Bild vom alten von Oettingen stammt aus dem Buch: Wittrock, Viktor, In Sturm und Stille. Ein baltisches Pfarrerleben in bewegter Zeit, Schwerin 1940.
Die wirkungsvollen Bäder in Hapsal vertrieben manches Rheuma. Ihre Heilkraft soll nicht geringer gewesen sein als die großer Weltbäder. Auch der Papst, wie Alexander von Oettingen, Professor der Theologie in Dorpat, bei seinen Hörern hieß, machte in Hapsal eine Kur. Seine um ihn besorgte Frau litt es derweil nicht tatenlos daheim. Sie mußte mal nachsehn, was der Papst im Bade trieb, und ob er auch alle medizinischen und häuslichen Verhaltungsmaßregeln innehielt. Das glaubte sie am besten durch einen überraschenden Überfall feststellen zu können. Sie selbst war jedoch mehr überrascht als der Professor. Er ging ohne Galoschen und ohne Mantel fidel mitten im Regen spazieren und begrüßte sie ohne ein Anzeichen des Erstaunens. Das war zuviel!
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Phasen des Werkes als Rezeptionsproblem und ein neuer Vorschlag
,Alexanderchen!‘, rief sie mit bebender Stimme, ,Alexanderchen, was soll das heißen? Ich bet und bet zum lieben Gott, daß er dich wieder jesund macht, und du – Alexanderchen, ich mach mich da oben ja einfach lächerlich!‘51
4.
Phasen des Werkes als Rezeptionsproblem und ein neuer Vorschlag
4.1
Hermeneutische Vorbemerkung
Alle spätere Wahrnehmung der Person und des Gesamtwerkes von Oettingens scheint zum großen Teil im Schatten (leider eben nicht im Lichte!) einer eingehenderen Charakterisierung zu stehen, die der aus dem heutigen Estland stammende Reinhold Seeberg (1859–1935),1 von Oettingens einstiger Schüler und Kollege (bis zum Jahr 1889)2 an der Theologischen Fakultät der Universität Dorpat/Tartu, aufgestellt hat. Es handelt sich um einen Beitrag aus Anlass des Todes von Oettingens im Jahr 1905, verfasst auf die Bitte der Redaktion der Zeitschrift Mittheilungen und Nachrichten für die evangelische Kirche in Rußland hin.3 Der Text dürfte zu denjenigen gezählt werden, die mehr über ihren Verfasser als über ihren eigentlichen Gegenstand aussagen. Einer naiven Affirmation zu entgehen, hilft die Berücksichtigung der Tatsache, dass von Oettingen und Seeberg kurz nach der Jahrhundertwende (1903–1904) ein literarisches, ziemlich scharfes Streitgespräch geführt haben. Darauf komme ich später zurück.4 Im Augenblick genügt der Hinweis, dass es in diesem letzten von von Oettingen publizierten Gespräch ganz prinzipiell um die „Moderne“, das Christentum und die Theologie gegangen ist. Der Gesamteindruck, den Seeberg ungefähr ein Jahr nach dieser Auseinandersetzung von der Persönlichkeit und der Theologie von Oettingens vermittelt, hat zweifellos Wirkung gehabt. Seine Einschätzungen, 51 Kraus, Die baltische Plaudertasche, 17. 1 Einführend zu Seeberg vgl. Graf, Lutherischer Sozialidealismus; Graf, Seeberg. 2 Seeberg war als Nachfolger von Oettingens im Gespräch gewesen. Doch die immer schwieriger werdenden Bedingungen in Tartu im Zuge der Russifizierung einerseits (vgl. oben Kap. 3) und die Wirkmöglichkeiten in Deutschland andererseits bewegten den damals Vierzigjährigen dazu, sein Heimatland und die Tartuer Fakultät zu verlassen. 3 Der Aufsatz (R. Seeberg, Oettingen) ist erneut abgedruckt worden (vgl. R. Seeberg, Alexander) und etwas später zum dritten Mal in einem Sammelband Seebergs zur Systematischen Theologie (vgl. R. Seeberg, Theologe). Es handelt sich um einen Versuch „die Seele eines merkwürdigen, starken und frommen Menschen zu verstehen“ und „die wissenschaftliche Entwicklung eines bedeutenden Theologen im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen“ (R. Seeberg, Oettingen, 502). 4 Vgl. unten Kap. 8.
Hermeneutische Vorbemerkung
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Behauptungen und Vermutungen werden in vielerlei Hinsicht nicht zuletzt in der in Kap. 2 besprochenen Forschungsliteratur wiederholt und tradiert. Mit Blick auf die Frage nach der Verlässlichkeit der Darstellung Seebergs konstatiere ich vorausgreifend, dass im Licht meiner Untersuchung mehrere zentrale Aussagen Seebergs über das Werk von Oettingens ganz deutlich widerlegt oder als nicht zutreffend ersichtlich werden. Dieser Sachverhalt erzeugt einen Verdacht oder zumindestens einen Vorbehalt über das durch ihn entworfene Charakterbild von Oettingens und verpflichtet auch diesbezüglich zu einer Vorsicht bzw. Skepsis. Mit anderen Worten: Solange aus anderen Quellen, d. h. anhand anderer Zeitzeugen, ein in eine ähnliche Richtung tendierendes Porträt aufgezeigt worden ist, kann Seebergs Skizze m. E. nicht mehr als eine hilfreiche Orientierung gewürdigt werden. Bis dahin wäre sie vielmehr insgesamt als eine von dem Gestus der eigenen Überlegenheit getragene halbwegs verborgene Rechtfertigung und Behauptung Seebergs eigener „moderner“ bzw. „modern-positiver“ Position zu verstehen.5 Auf jeden Fall enthält diese indirekte Mitteilung der eigenen Modernität und Bedeutung eine „zum Teil aus geschichtlicher und psychologischer Intuition“6 geleitete Gesamtwürdigung der Person und des Werkes von Oettingens, sowie eine (nicht nur implizite) Totalkritik. Die ersten Weichen für das Verstehen des Werkes von Oettingens werden mit seiner Periodisierung gestellt. Seit Seebergs Votum hat man darin drei Phasen unterschieden: „die Zeit der Grundlegung“, „die ethisch-ästhetische“ Phase und „die dogmatische Periode“.7 Das Quellenmaterial, worauf sich wohl schon Seeberg selber, insbesondere jedoch die ihm folgenden Autoren gestützt haben, ist ausgesprochen dürftig. Beim näheren Hinsehen erweist sich diese dreiteilige Periodisierung als in irreführender Weise oberflächlich und den Zugang zum Werk verhindernd. Die vorliegende Studie setzt u. a. ein Bemühen um die Zusammenstellung einer möglichst vollständigen Bibliographie, das Sammeln dieser Schriften aus verschiedenen Universitätsbibliotheken Europas und eine ca. zehnjährige Periode der Lektüre und Auseinandersetzung mit diesen Texten voraus. Aufgrund dieser Vorarbeiten wird hier eine Vierteilung vorgeschlagen und eine Übersicht über das Werk dargeboten. Doch zunächst rufe ich das „Standardmodell“, das ca. 100 Jahren die Perzeption und Rezeption von Oettingens, soweit – oder vielmehr : sowenig – es sie überhaupt gegeben hat, mitbestimmte, in Erinnerung. 5 Es herrsche zwischen beiden eine Kluft sowohl „in den philosophischen und historischen Voraussetzungen“ der Dogmatik als auch „in der Bestimmung“ ihrer „Prinzipien und der Methode“ (R. Seeberg, Oettingen, 501). 6 Ibid., 503. 7 Ibid., 496. So z. B. auch Krimmer, Empirie und Normativität, 37f; Pawlas, Statistik und Ethik, 53–58.
72
Phasen des Werkes als Rezeptionsproblem und ein neuer Vorschlag
4.2
Ein Werk in drei Phasen – das seebergsche Modell
„Die wissenschaftliche Entwicklung“ im Werk von Oettingens läuft im seebergschen Modell in drei Phasen. Den Ausgangspunkt bildet die „streng orthodoxe“ Theologie Friedrich Adolf Philippis (1809–1882), die Seeberg auch als die Wiederherstellung oder „Repristination der Dogmatik des 17. Jahrhunderts“ oder des „altorthodoxen System[s]“, bezeichnet.8 In der ersten Periode seines Schaffens habe sich von Oettingen „die überkommene altorthodoxe Theologie“ „innerlich angeeignet“ und „zur Grundlage seines Denkens gemacht“, zugleich habe er sich „an den Gegensätzen orientiert, die für ihn Zeit seines Lebens bestimmend gewesen sind“.9 Somit sei seine Theologie während dieser „dogmatisch gerichteten“ Phase – noch vor dem 35. Lebensjahr – „fertig“ geworden und diese „Tatsache“ erkläre, warum von Oettingen fast drei Jahrzehnte lang „über die Hauptfragen seiner Wissenschaft [i. e. der Dogmatik – T.-A.P.], abgesehen von gelegentlichen Bemerkungen“, geschwiegen habe.10 Die zweite Phase sei durch die ethischen und ästhetischen Interessen bestimmt. Wie in der ersten Phase mit Philippi, komme auch hier der entscheidende Impuls von einer konkreten Person, dem Wirtschaftswissenschaftler Adolf Wagner (1835–1917), der 1865 an der Universität Dorpat/Tartu von Oettingens Kollege geworden war. Die „bedeutendste wissenschaftliche Leistung“ von Oettingens sei „fraglos“ Die Moralstatistik. Doch Die christliche Sittenlehre zeige, dass sein Versuch einer Sozialethik auf empirischer Grundlage misslungen sei. Es sei hier hervorgehoben, dass nach Seeberg das Scheitern des Versuchs erst vom zweiten Teil her sichtbar werde und er es als das Scheitern des Versuchs „die Ethik in Sozialethik zu verwandeln“ charakterisiert (498). Der Grund des Misslingens bestehe darin, dass von Oettingen dem Ausgangspunkt seines Denkens entsprechend „nie aus dem Individualismus […] herausgekommen“ sei, d. h. konkret: die Dominanz des „altorthodoxe[n] Grundriss[es]“ bringe es mit sich, dass in von Oettingens Denken Begriffe wie „Gesamtleben“ oder „Geschichte“ keine konstitutive Funktion ausübten.11 Obwohl dem oettingenschen Transformationsversuch der Ethik in eine Sozialethik „allseitige[] Ablehnung“ zuteil geworden sei, könne „die bleibende Bedeutung seiner ethischen Arbeiten“ doch darin erblickt werden, dass er durch seine moralstatistische und ethische Arbeit „erheblich“ dazu beigetragen habe, „die sozialen Gesichtspunkte in der Ethik ausgiebiger und tiefer, als es bis dahin geschehen war, zur Geltung zu bringen“.12 Von den 1870er bis zu den 1890er Jahren sei die Mehrheit der 8 9 10 11 12
R. Seeberg, Oettingen, 496. Ibid. Ibid., 497. Ibid. R. Seeberg, 498f.
Ein Werk in drei Phasen – das seebergsche Modell
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wichtigeren Schriften, oft unter Einschluss der illustrierenden (sic!) moralstatistischen Daten, eben den ethischen Fragen gewidmet gewesen.13 Die letzte Phase „seiner theologischen Arbeit“ beginne nach dem Ende der akademischen Lehrtätigkeit von Oettingens im Jahr 1891: er kehre jetzt „zu seinen Anfängen zurück“ und habe „die dogmatische Forschung“ wieder aufgenommen. Dieses Mal sei es Seeberg selbst gewesen, der „diese Wendung“ bedingt habe, insofern ein Verlag ihn mit der Verfassung einer Dogmatik beauftragen wollte, und er wegen seines noch zu jungen Alters auf von Oettingen hingewiesen habe. Das Resultat dieser Phase sei seine im 75. Lebensjahr abgeschlossene Lutherische Dogmatik (1897–1902) geworden, von der zunächst gelte, dass „das altorthodoxe System“ ihre „alles beherrschende Grundlage“ bilde, worauf dann „einige Hofmann-Franksche Gedanken gesetzt“ und „eine dritte Schicht Ritschlscher Anregungen wahrzunehmen“ sei.14 Doch „[w]irklich fest und sicher steht nur die alte Philippische Grundlage da.“15 Von Oettingen halte „das überkommene Dogma ohne Umdeutungen aufrecht“. Er nehme „die Lehre des 17. Jahrhunderts als Norm des Luthertums“.16 So geschehe in dem Buch zu wenig: „alles [bleibt] bei dem Alten, man erfährt immer nur, wie gut und korrekt der alte Bau sei […]. Und das Resultat ist, dass man müde wird all der architektonischen Erörterungen, und die Lust in den alten Bau einzuziehen sich nicht einstellen will.“ Damit erkläre sich auch, warum „die große mühevolle Arbeit […] so wenig beachtet worden“ sei. Von Oettingen habe „keine Antwort für die ,modernen‘ Geistesbedürfnisse“ gefunden – er sei „unter […] die Suchende[n] als ein Fertiger“ getreten, der „prinzipiell ,unmodern‘“ war und „uns nicht mehr [verstand]“.17 Soweit die Einschätzung, die wohl eines Verrisses gleichbedeutend sein dürfte, wenn man bedenkt, dass der damals sehr einflussreicher Seeberg ihr Autor ist.18 Wenn man die chronologischen Ungenauigkeiten in Seebergs Schilderung außer Acht lässt, fällt es zunächst auf, dass er die Theologie Philippis mit dem 13 Vgl. ibid., 499. 14 Ibid., 500. 15 Ibid. Völlig unverständlich bleibt, wieso Seeberg in dem direkt darauf folgenden Satz behaupten kann: „Dessen ist sich Oettingen selbst wohlbewusst.“ Nirgends, absolut nirgends, kommt in den reichlich vorliegenden Quellen ein derartiges „Selbstbewusstsein“ von Oettingens zum Vorschein. 16 Ibid., 501. 17 Ibid., 501f. Die Bedeutung der „Dogmatik“ von Oettingens ließe sich gemäß Seeberg deshalb folgenderweise zusammenfassen: „Sie ist ein Stück von seinem Wesen, darum ist sie uns ehrwürdig. Sie ist eine treue Zusammenstellung des Erbes unserer Väter, darum fordert sie uns zu ernster Selbstprüfung auf. Und sie ist ein Lebenszeugnis aus der Vergangenheit, darum spornt sie uns an zum Kampf um die Zukunft.“ (Ibid., 502). Es scheint mir schwer dies anders zu verstehen als eine Aussage darüber, dass dieser Dogmatik jegliche aktuelle Relevanz und systematisch-theologische Bedeutung fehle. 18 Vgl. unten Kap. 23–26.
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Phasen des Werkes als Rezeptionsproblem und ein neuer Vorschlag
orthodoxen bzw. altorthodoxen System (oder auch umgekehrt) gleichsetzen möchte. Solche Parallelisierungen sind fragwürdig. Generell dürfte gelten, dass eine vorgeworfene Aufrechthaltung der überlieferten kirchlichen Lehre „ohne Umdeutungen“ an sich eine hermeneutische Unmöglichkeit darstellt. Wenn man speziell die Dogmatik von Oettingens studiert, kann so ein Urteil – deren exklusive Interpretation und Erschließung von diesem „einen“ Bezugspunkt, d. h. der Repetition der kirchlichen Lehrtradition her – nur als ein fatales Missverständnis oder als ein unbegründetes Vorurteil bezeichnet werden. Es ist wahr, dass von Oettingen hohen Wert auf die Aufrechthaltung der Kontinuität mit der kirchlichen Lehre legt. Doch kann diese in der Dogmatik nur als ein Bemühen um eine kritische, prinzipientheoretisch reflektierte bzw. von der Sache her erfolgende Umdeutung oder „Rekonstruktion“ geschehen.19 Des Weiteren wäre zu fragen, ob es in der Tat zutreffend und erhellend ist – wie oft geschehen –, die Theologie Philippis als eine Repristinationstheologie zu betrachten? Eine dritte Frage wäre, wie tragfähig jene vereinheitlichende Rede von der (alt-)orthodoxen Theologie als einem „System“ ist? Viertens müsste m. E. auf jeden Fall gesagt werden – dies dürfte im Laufe dieser Studie nebenbei ersichtlich werden –, dass bei einer Behauptung des völligen Bestimmtseins der Grundlagen der oettingenschen Theologie durch die Theologie Philippis oder durch die Theologie des 17. Jh. deren Bedeutung in irreführender Weise überschätzt wird. Letztlich – und wieder mehr allgemein –, dass überhaupt die „Norm des Luthertums“ von Oettingen zufolge in der Lehre des 17. Jh. zu finden sei, ist schlichtweg Unsinn bzw. eine bedauerliche und diskreditierend gemeinte Demagogie. Wie schon angedeutet, ist es aufschlussreich, wie Seeberg zwar die Die Moralstatistik als die bedeutsamste Leistung von Oettingens bezeichnet, aber – an dieser Stelle liegt ein wichtiger Unterschied zu den oben besprochenen Untersuchungen des oettingenschen Werkes – der Ansicht ist, dass eine Transformation der Ethik in eine Sozialethik, nicht etwa eine empirische Begründung der (Sozial-)Ethik, misslungen, und eben der systematische zweite Teil des Doppelwerkes, Die christliche Ethik, mit ihrem nicht überwundenen Individualismus dafür verantwortlich sei.
4.3
Die vier Phasen des oettingenschen Werkes im Überblick
Die genauere und nicht unwesentlich korrigierte Einteilung des Werkes von Oettingens, die ich vorschlage, impliziert u. a. eine Infragestellung des Bildes, wonach seine Theologie im Grunde in der ersten Phase fertig gewesen sei, so 19 Vgl. unten Kap. 20–22.
Die vier Phasen des oettingenschen Werkes im Überblick
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dass er dreißig Jahre lang dogmatisch kein Interesse und keine Aktivitäten entwickelt habe. Auch relativiert sich dadurch die Bedeutung der drei Personen, die Seeberg als Impulsgeber für Wendungen bzw. für Phasenzäsuren erwähnt. Die erste Phase des Werkes könnte man mit dem Jahr 1853 beginnen lassen. Sie würde bis zum Jahr 1863 dauern. Sie beginnt mit den Qualifikationsschriften, enthält sodann mehrere z. T. programmartige fundamentaltheologische Abhandlungen und kulminiert mit einem dogmatisch orientierten umfänglichen Traktat zum Begriff der Wiedergeburt. Die zweite Phase bliebe zwischen den Jahren 1863 und 1874. Darin vertieft sich von Oettingen zunächst weiter in die ethische bzw. fundamentalethische Diskussion und ihre Fragestellungen. Er veröffentlicht in diesem Bereich sowohl Rezensionen als auch eigene Abhandlungen. Der Schwerpunkt der zweiten Phase liegt auf dem ersten Hauptwerk Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre. Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage (Teil I: 1868/ 1869, Teil II: 1873, Teil I in einer gründlich überarbeiteten und erneuten Neuauflage: 1874). Abgesehen davon, dass in der (Sozial-)Ethik von Oettingens den gewohnten dogmatischen Topoi eine eigene, aus der ethischen Perspektive sich vollziehende ausführliche Bearbeitung und Interpretation widerfährt, setzt sich auch sonst eine Auseinandersetzung mit den dogmatischen und (bibel-)hermeneutischen Fragestellungen fort. Diese findet ihren Ausdruck sowohl in den dogmatischen und bibeltheologischen Lehrveranstaltungen von Oettingens als auch in einigen diesen Themen speziell gewidmeten kleineren Schriften (obwohl sich deren Zahl im Laufe der zweiten Phase tatsächlich reduziert). Die dritte Phase umfasse die Jahre 1874 bis 1893 (oder 1894) und wäre in mehrere Richtungen sehr produktiv. Obwohl im Denken und in den Schriften von Oettingens sowohl die ethische als auch die dogmatische Dimension immer untrennbar präsent sind, kann man hier um der Übersichtlichkeit willen mit relativem Recht doch eine Gruppierung angeben. Es sind zunächst einerseits die Rezensionen und anderen Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Soziologie und Ethik (aus den Jahren 1873 bzw. 1874–1882), sowie die sog. Zeitbetrachtungen oder Behandlungen aktueller sozialethischer Themen, Einzelgebiete und Spezialfragen (1881–1893). Hierzu zählt auch eine gründlich erneuerte 3. Auflage des moralstatistischen Werkes (1882). Des Weiteren gehören zu dieser Phase wichtige, den dogmatischen Zentralthemen gewidmete Schriften und kleinere Bücher – sowohl aus den 1870er als auch aus den 1880er Jahren. Sie deuten meist jedoch auch die sozialethische Relevanz dieser Themen an oder diskutieren diese gründlich. Die umfangreichste Arbeit in diesem Zusammenhang ist ein zweibändiges experimentierendes Handbuch Christliche Religionslehre (1886), das für den höheren Unterricht in der Schule gedacht war, sich aber in erster Linie eher für die Lehrer bzw. Lehrerinnen geeignet hätte. Die letzte Phase umfasst die Jahre 1893 (1894) bis zum Tode von Oettingens
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Phasen des Werkes als Rezeptionsproblem und ein neuer Vorschlag
im Sommer 1905. Hier ist eine deutliche Verlagerung auf die dogmatische Arbeit zu beobachten. Abgesehen von einer Schrift aus dem Jahr 1895, die nur einen Nachtrag zu der am Ende der dritten Phase geführten Diskussion darstellt, gehören die Veröffentlichungen in das Gebiet der Prinzipienlehre bzw. Fundamentaltheologie oder der materialen Dogmatik. Die Zahl der Schriften ist relativ gering – deren Umfang umso größer. Man kann hier folgendes unterscheiden: die mehrjährige Arbeit an einer Art Programm der Dogmatik (1895), das abschließende Lebenswerk selbst – zunächst Prinzipienlehre (1897), dann die Entfaltung der dogmatischen Gesamtdarstellung in zwei Teilbänden (1900, 1902) – und eine letzte Diskussion (1903–1904) über die „Moderne“, das Christentum und die Theologie. Letztere ist hauptsächlich mit Seeberg geführt worden. Aber auch dessen ebenfalls aus dem heutigen Estland stammender Schüler Karl Girgensohn (1875–1925), der damals als Privatdozent in Tartu lehrte und ab 1907 den einstigen systematisch-theologischen Lehrstuhl von Oettingens übernahm, war daran beteiligt. Wenn im Laufe der ersten Phase (im Alter von ca. 25–35 Jahren) eine erste öffentliche Positionierung und in der zweiten Phase (im Alter von ca. 35–45 Jahren) eine Weiterentwicklung und Konkretisierung in Richtung Ethik stattfindet, die in seiner moralstatistisch unterstützten und illustrierten Sozialethik – die übrigens von von Oettingen selbst in der Zeit ihrer Veröffentlichung schon als sein Lebenswerk bezeichnet wurde – kulminiert, so kann die dritte Phase als seine reife Phase (im Alter von ca. 45–65 Jahren) bezeichnet werden. Hier wird in vielen Richtungen und anhand unterschiedlicher Probleme die oettingensche Weise des Theologisierens „im Alltag“ vollzogen und erprobt. Auf jeden Fall hält er es für sinnvoll, den Weg in der Theologie zunächst schwerpunktmäßig über die Ethik zu finden und zu begehen. Eine letzte umfassende systematische Durchdringung und Darstellung der Theologie in Richtung der Dogmatik wird in der abschließenden Periode seines Lebens verwirklicht (im Alter von 65–77 Jahren). Wie schon erwähnt, ist eine ausführliche, alle Schriften berücksichtigende Darstellung der einzelnen Phasen als Vorarbeit für diese Studie zwar vorausgesetzt, würde ihren Fokus aber unnötigerweise entschärfen und gehört deshalb nicht in sie hinein. Eine kurze Bestandsaufnahme, die aus der angeführten Bibliographie die wichtigeren theologischen Arbeiten hervorhebt und knapp kommentiert, hilft jedoch eine erste Vorstellung von Art und Umfang dieses zum großen Teil vergessenen Werkes zu gewinnen. Außerdem soll sie ein hilfreicher Rahmen für den Nachvollzug der sich darin befindenden kreuzestheologischen und sozialethischen Spuren sein.
Die synagogale Elegie des Volkes Israels
5.
Erste Phase: kirchliche Theologie, oder: Erste theologische Positionierung jenseits von Subjektivismus und Objektivismus (1853–1863)
5.1
Die synagogale Elegie des Volkes Israels als Ausdruck der Hoffnung Israels im Lichte der heiligen Schrift (1853)
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Von Oettingen, der zunächst Altphilologie und dann Theologie studierte, setzte seine in Tartu als cand. theol. abgeschlossenen Studien in Deutschland fort. Die Schwerpunkte jener vertiefenden Studien lagen auf den Gebieten der Philosophie, der Dogmatik – und später auch der Semitistik.1 Seine erste Qualifikationsarbeit ist die in zwei Teilen erschienene Untersuchung Die synagogale Elegik des Volkes Israels, insbesondere die Zion-Elegie Judah ha Levi’s, als Ausdruck der Hoffnung Israels im Lichte der heiligen Schrift. In Folge der Verteidigung des ersten Teils Die synagogale Elegik des Volkes Israels, insbesondere die Zion-Elegie Judah ha Levi’s, in ihrer national-religiösen, historischen und ästhetischen Bedeutung (ca. 140 S.) erwarb er die Lehrerlaubnis. Den zweiten Teil Die Hoffnung des Volkes Israels im Lichte der heiligen Schrift (ca. 80 S.) verteidigte er nach dem Magisterexamen öffentlich als Magisterschrift. Beide sind Ende des Jahres 1853 erschienen. Judah ha Levi (ca. 1075–1141), ein spanisch-jüdischer Philosoph, Mediziner und einer der bedeutendsten hebräischen Poeten des Mittelalters, ist u. a. der Autor zahlreicher in der synagogalen Liturgie verwendeter Lob- und Klagelieder, worunter die sog. Zionlieder die bekanntesten sind. Im ersten Teil bemüht sich von Oettingen diese synagogalen Lieder analysierend um ein näheres Verständnis des Volkes Israel, um im zweiten Teil die Zukunft und die Hoffnung Israels einer biblisch-theologischen Deutung und Beurteilung zu unterziehen. Wenn also zunächst eine Bestimmung der Hoffnung des Volkes Israels aus dessen Eigenperspektive stattfindet, wird in einem zweiten Schritt die Zukunft Israels in der christlich interpretierten biblischen Perspektive erörtert. Ein eschatologisches Spezialthema in seiner Gegenwartsbedeutung ist somit der 1 Diese Wendung erfolgte aufgrund des Drängens der Dorpater/Tartuer Theologischen Fakultät, er möge sich für den vakant werdenden Lehrstuhl für alttestamentliche Exegese und orientalische Sprachen vorbereiten. Nach den europäischen revolutionären Ereignissen des Jahres 1848 folgte eine Periode, in der es der kaiserlichen Universität Dorpat/Tartu von Seiten des Staates verboten war, auslandsstämmige Professoren zu berufen. Der Lehrstuhl für Dogmatik und theologische Moral wurde nach der Berufung von Friedrich Adolf Philippi nach Rostock durch einen Lehrstuhlwechsel von Theodosius Harnack im Jahr 1852 besetzt. Jedoch näherte sich die Emeritierung von Karl Friedrich Keil (1807–1888) aufgrund der 25jährigen Frist der Amtszeit (1859), weswegen man von Oettingen auf den Ruf als sein eventueller Nachfolger vorbereiten wollte.
78
Erste Phase: kirchliche Theologie
Gegenstand: Die Frage nach der Zukunft und der Hoffnung Israels ist von Oettingen zufolge für die Kirche in allen Zeiten, besonders auch in seiner Gegenwart, bedeutsam.
5.2
Über das Wesen und die Entwicklung der kirchlichen Glaubenswahrheit (1854)
Im Januar 1854 hält von Oettingen seine Antrittsvorlesung,2 die in einer weiterentwickelten und ausführlicheren Form (ca. 45 S.) Ende des folgenden Jahres unter dem Titel „Gedanken über das Wesen und die Entwicklung der kirchlichen Glaubenswahrheit“ (1855) erscheint. Er geht von einer Zeitdiagnose aus, nach der das Glaubensleben zwar nach einer Überwindung der zeittypischen Priorisierung der Subjektivität strebe, jedoch die Kirchlichkeit – speziell auch das Dogma – oft als in Spannung oder sogar im Gegensatz zum lebendigen und persönlichen Glauben stehend verstanden wird. Die Gründe für eine Unterschätzung, Verachtung oder zurückweisende Kritik des Dogmas liegen ihm zufolge nicht zuletzt in dessen problematischen Verständnisweisen. Diese sind oft bei denen anzutreffen, die im Namen der Kirche auftreten und die Geltung und Verbindlichkeit des Dogmas in einer problematischen und den eigentlichen Charakter des Dogmas verfehlenden Weise hervorheben. Die Abhandlung bemüht sich um eine Überwindung sowohl der Unterschätzung als auch Überschätzung des Dogmas durch eine Erörterung und Darstellungen seines sachgemäßen Verständnisses im Horizont einer umfassenden christozentrischen geschichtstheologischen Skizze. Er erörtert den Gegenstandsbezug und die zentrale Rolle des sich in einem innerlich notwendigen und gerade so freien, d. h. „organischem“, Werden befindenden Dogmas im Leben der Gemeinschaft der Kirche und des einzelnen Glaubenden, sowie die Art der sich als zentral erweisenden Bedeutung des Dogmas für die Theologie – aber auch umgekehrt: Die Bedeutung der Theologie für das Dogma bzw. die Aufgabe eines Theologen im Hinblick auf das Dogma und seine notwendige Weiterenwicklung. Somit unterzieht von Oettingen zu Beginn seiner Lehrtätigkeit das Dogma einer öffentlichen Neubestimmung. Konkret unterscheidet und bespricht er drei Typen von Missverständnissen des Dogmas („starr objektivistisch“, „einseitig naturalistisch“ und „einseitig subjektivistisch“) und drei Typen von Missverständnissen der Dogmengeschichte („pragmatisch“ bzw. „unorganisch-rationalistisch“, „dialektisch-pantheis2 Da Theodosius Harnack im Jahr 1853 dem Ruf an die Universität Erlangen gefolgt war, stand für von Oettingen wieder eine Tätigkeit auf dem jetzt schon vakant gewordenen und auf eine Besetzung wartenden Lehrstuhl für Dogmatik und theologische Moral in Aussicht.
Gefühl und Glaube
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tisch“, „psychologisch-christlich“) und entfaltet die Grundlinien ihrer seines Erachtens „gesunden“ kirchlichen Auffassung. Der Einzelne gelangt zur wahren Freiheit – zur liebevollen Hingabe an das gemeinsame Objekt – als Glied des Gesamtleibes der Kirche. Die Gemeinschaft der Kirche bildet für den Einzelnen den Lebensraum bzw. den Kontext für die Vertiefung in die Heilige Schrift, das geschichtlich gewordene und werdende Dogma hilft dabei und dient zur Orientierung.
5.3
Über die Sünde wider den Heiligen Geist unter Berücksichtigung der christlichen Eschatologie (1856)
Eine weitere Qualifikationsschrift, auf Latein verfasst, ist die im Frühjahr 1856 fertiggestellte und nach dem Doktorexamen im Herbst öffentlich verteidigte Dissertation De peccato in spiritum sanctum, qua cum eschatologia christiana contineatur ratione disputatio (erschienen 1856, ca. 180 S.). Es ist eine dogmatische Abhandlung über die Sünde wider den Heiligen Geist, d. h. über eine Lehre, deren Sinn und Bedeutsamkeit von Oettingen zufolge nur unter Berücksichtigung der christlichen Eschatologie, insbesondere im Zusammenhang mit der Lehre vom jüngsten Gericht, verstanden werden kann. Diese Lehre kann auch ihrerseits problematische eschatologische Vorstellungen, wie etwa die „ganz trostlose“ Lehre von der Wiederbringung Aller, als solche deutlich machen und somit zurückweisen helfen. Diese Sünde stellt sich am Ende als die einzige nicht zu vergebende Sünde und somit als einziger Grund für die Verdammnis, die als solche ewig ist, dar. Jedenfalls enthält die These von Oettingens die Hervorhebung des wechselseitig erhellenden Zusammenhanges, wonach eine Klärung dieser Frage nur von der Eschatologie her und auf sie hin erfolgen kann. Die Abhandlung integriert, wiederum vor einem heilsgeschichtlichen Horizont, in lehrreicher Weise verschiedene Dimensionen der Lehre von der Sünde, der Pneumatologie und der Eschatologie, wobei eine wichtige Rolle der Erörterung der in sich differenzierten Wirkweise des Heiligen Geistes in der Heilsökonomie zukommt.
5.4
Gefühl und Glaube (1858)
Im Jahr 1858 erscheint der zweiteilige Aufsatz „Gefühl und Glaube“ (ca. 95 S.), dessen direkter Anlass das ein Jahr zuvor in Berlin erschienene Buch Das Gefühl in seiner Bedeutung für den Glauben, im Gegensatz zu dem Intellectualismus innerhalb der kirchlichen Theologie unserer Zeit ist. Der Verfasser ist der von Schleiermacher inspirierte, wie er selbst öffentlich zugegeben hatte, Tartuer
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Erste Phase: kirchliche Theologie
Theologe August Carlblom (1797–1877), der vertretungsweise (nach Sartorius und vor Philippi, i. e. zwischen 1835 und 1841) in Tartu den systematischen Lehrstuhl besetzt hatte, aber wegen eines Augenleidens und auch wegen seiner theologischen Ansichten nicht zum Professor berufen worden war. Carlblom wirft (gemäss einer Zusammenfassung von Oettingens) im Zusammenhang einer Typologisierung der verschiedener Glaubensauffassungen einer den Anspruch der Kirchlichkeit erhebenden Theologie (wie sie am Beispiel der Theologie von Friedrich Adolf Philippi und Theodosius Harnack veranschaulicht ist) vor, dass in dieser kirchlichen Theologie die überlieferte Lehrgestalt der Kirche und das religiöse Subjekt in einer rein äußerlichen Beziehung zueinander stehen und die kirchliche Lehrform somit als eine abstrakte Autorität dem Glaubenden gegenübersteht und ihn beansprucht. Die Ausgangslage für die Schrift von Oettingens ist also wiederum ein vermeintlicher Gegensatz zwischen der Hervorhebung der Bedeutung der Kirche für den Glauben einerseits, und der Bedeutung des persönlichen Gefühls und der persönlichen Erfahrung andererseits. Carlblom zufolge stellt in der Denkweise der kirchlichen oder konfessionellen Theologie die Kirche – gerade auch in der Gestalt ihrer Lehre – für den Einzelnen eine objektive Größe und Norm dar. Aus dem Verständnis des Glaubens heraus werde die – eigentlich entscheidende – Erfahrungsdimension in den Hintergrund gerückt oder sogar ausgeschlossen, insofern sie den starken Glauben als erfahrungslosen bzw. gefühllosen beschreibt. Der Ausgangspunkt der kirchlichen Theologie sei somit der Wahrheitsbesitz der Kirche und ihr Ziel die unverstellte Weitergabe der Wahrheit. Carlblom selbst plädiert jedoch dafür, dass die Autorität der Lehre auf ihre lebendige, geistliche Aneignung bezogen bleibt. Durch eine kritische Auseinandersetzung mit Carlbloms Schrift und eine erneute Erörterung des Wesens des Glaubens und seines Zustandekommens (inkl. einer Klärung des Verhältnisses des Glaubens zum Gefühl), die einen psychologisch-fundamentalanthropologischen Charakter hat, aber u. a. eine ausführliche Bezugnahme auf das Glaubensverständnis Luthers und dessen Analyse enthält, versucht von Oettingen diesen Gegensatz zu überwinden und die Konturen eines sachgemäßeren Bildes der Art und des eigentlichen Anliegens der kirchlichen Theologie herauszuarbeiten. Die Kritik insbesondere an Harnack, aber auch an Philippi, hält er für überzogen. Das „Prinzip der reinen Lehre“, der Ausgangspunkt der kirchlichen bzw. konfessionellen Theologie seiner Zeit, sei zwar nicht der persönliche Glaube bzw. das persönliche Gefühl, wie Carlblom und die „modern-gläubige“ – durch den Einfluss von Kant in Gang gesetzte und besonders durch Schleiermacher inspirierte – Position es wolle, aber auch nicht die geltende Lehre der Kirche – obwohl ein solches objektivistisches Missverständnis bedauerlicherweise gelegentlich auch im Namen der kirchlichen Theologie tatsächlich behauptet und vertreten sei –, sondern vielmehr das Evangelium als die Kraft Gottes (mit
Theologie und Kirche
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Verweis auf Röm 1,16). Die irrtümliche Grundvoraussetzung aller Kritik Carlbloms der kirchlichen Theologie gegenüber, nämlich dass diese eine abstrakt-intellektualistische Theologie sei, lasse die entscheidende Bedeutung des lebendigen Wortes Gottes in dessen konstituierendem Verhältnis zum Glauben völlig unberücksichtigt.
5.5
Theologie und Kirche (1859)
Ein Jahr später erscheint die durch von Oettingen mitbegründete und von ihm redigierte Dorpater Zeitschrift für Theologie und Kirche (DZ)3 erstmals. Der erste Aufsatz „Theologie und Kirche“ (1859, ca. 44 S.), der die Zeitschrift einleitet, stammt aus seiner Hand. Den Ausgangspunkt bildet eine eingehende Vergegenwärtigung des Verständnisses Luthers von der Theologie als Theologie des Kreuzes (im Gegensatz zur Theologie der Herrlichkeit) und ihres Verhältnisses zur Kirche des Kreuzes, der eine Skizze der spannungsvollen Lage in den Relationen zwischen den Fakultäten und den Landeskirchen Deutschlands folgt.4 Für von Oettingens Augen lassen sich als Extrempositionen eine einseitig kritische, die akademische Freiheit in einer bestimmten Weise verstehende Auffassung (wonach diese in Spannung oder im Gegensatz zur kirchlichen Theologie steht) und eine einseitig dogmatische Position (die in einer überzogenen und schiefen Weise die Kirchlichkeit der Theologie betont und verlangt) nennen. Bei beiden herrscht von Oettingen zufolge Unklarheit über das wahre Verhältnis und infolgedessen eine Erhellungsbedürftigkeit darüber, in welchem Sinn die Kirche theologisch und die Theologie kirchlich sein könnte und sollte. Deshalb bemüht sich von Oettingen in diesem Text um eine solche systematische Klärung. Der Schwerpunkt liegt auf dem Verständnis der Theologie, ihres Gegenstandes und dessen Gegebenheit, ihrer Freiheit und Bezogenheit (im Einzelnen erörtert er verschiedene Antwortversuche auf die Frage, woran genau Theologie gebunden ist bzw. sein sollte), sowie ihrer Aufgabe. Dadurch wird die Gründung 3 Auf dem Titelblat ist vermerkt: unter Mitwirkung mehrerer Pastoren herausgegeben von den Professoren und Docenten der theologischen Fakultät zu Dorpat. Es sollte also ein gemeinsames Organ bzw. ein brückenbauendes Publikationsorgan sein. 4 Im Jahr 1858 wurde z. B. in Rostock Michael Baumgartner seines Amtes enthoben. Die Lage vor Ort, d. h. das Verhältnis zwischen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland – so der offizielle Name seit 1832, den von Oettingen nie verwendet – und der Theologischen Fakultät in Tartu stelle sich in dieser Frage zwar auffallend anders dar, aber hier habe man eigene Herausforderungen und Probleme. Um sich diesen zu stellen, müsste das Verhältnis zwischen Kirche und Theologie sachgemäß und gesund sein. Für die Pflege und Förderung dieser Beziehung ist deshalb wohl auch die Zeitschrift als Organ der „Doprater Theologie“ gegründet worden.
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Erste Phase: kirchliche Theologie
eines neuen gemeinsamen Publikationsorgans kontextualisiert und in seiner Zielsetzung nachvollziehbar. Nach von Oettingen neigt die moderne theologische Wissenschaft, die um ihrer Universalität, Voraussetzungslosigkeit und Freiheit willen von der wirklichen Lebensgestalt der Kirche und deren Bedürfnissen abstrahiert und ihre Aufgabe vor allem als in der Kritik liegend betrachtet, zu einer Theologie der Herrlichkeit. Die Freiheit eines Theologen ist nicht als ein Recht zur Kritik des Dogmas aufzufassen und seine Aufgabe ist in erster Linie nicht dadurch zu bestimmen, sondern die wahre Freiheit eines Theologen besteht vielmehr in seiner Gebundenheit an die Wahrheit des gemeinsamen Glaubens der Kirche, dessen „inneres pulsierendes Herz“, dessen „Kern- und Grundwahrheit“ die Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden ist. In dieser wahren Freiheit – in der „Freiheit der Kinder Gottes“ – bilden das Zeugnis des Wortes Gottes (als einzig normierendes Prinzip), das Zeugnis des kirchlichen Konsenses (als regulierendes Prinzip) und das Zeugnis des persönlichen Erfahrungsglaubens (als reproduzierendes Prinzip) eine lebendige und innige Einheit. Die verschiedenen Aspekte dieser Trias lassen sich nicht als isolierte Größen denken bzw. richtig verstehen. Theologie reproduziert für die Gegenwart den gemeinsamen Glauben der Kirche. Sie tut dies ausgehend vom Medium des persönlichen Glaubens und von dessen lebendiger Sache, i. e. von dem in der Schrift bezeugten Heil in Christus.
5.6
Die Wiedergeburt durch die Kindertaufe (1862/1863)
Am Anfang der 1860er Jahre ist in der Heimatkirche von Oettingens die Taufe ein wichtiges Diskussionsthema. u. a. erscheint in der Dorpater Zeitschrift für Theologie und Kirche (DZ) auf Wunsch der livländischen Synode ein Synodalvortrag,5 der mit dem Auftauchen der baptistischen Bewegung in den umliegenden Gebieten zusammenhängt und die eigene Kirche darauf vorzubereiten versucht.6 Nach diesem Vortrag soll dem Lehrstück von der Taufe in der Schule, im Konfirmandenunterricht und in der Predigt mehr Aufmerksamkeit zuteil werden. Doch am dringlichsten ist demnach die Gewinnung eines gemeinsamen Verständnisses von Taufe, da die Auffassungen in der lutherischen Kirche faktisch sehr differierend sind. Der Vortrag rekonstruiert die „einfache und nüchterne“ Lehre der Bibel bzw. das „evangelische und apostolische“ Verständnis, das auch in den Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen 5 Vgl. zu dieser Diskussion noch J. Carlblom, Wiedergeburt; W. Seeberg, Baptistenfrage. 6 Vgl. P. Seeberg, Taufe.
Die Wiedergeburt durch die Kindertaufe
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Kirche zum Ausdruck komme. Dies stehe im Gegensatz zur Auffassung der heutigen „sog[enannten] kirchlichen“ Theologie. Nach der biblischen Lehre sei die Taufe (1) ein Bild für die Sinnesänderung bzw. für die Bekehrung, (2) die ein neues Verhältnis herstellt und damit (3) die Wiedergeburt oder das neue Leben bzw. die neue Lebenspraxis von Gott her mit sich bringt. Ein solches Verständnis hätte man in der Kirche auch aufrechterhalten sollen. Zurückzuweisen seien die ex opere operato-Vorstellung, der Subjektivismus und „die neulutherische Lehre“. Der Vortrag stellt die Auffassung in Frage, dass alle Getauften wiedergeboren sind und durch die bei der Taufe gesprochene Taufformel der Heilige Geist ein Werk von untilgbarem Charakter vollzieht. Von Oettingen reagiert mit der großen und tiefgehenden Abhandlung „Die Widergeburt durch die Kindertaufe, ein articulus stantis et cadentis ecclesiae“ (1862/1863, ca. 145 S.), die in mehreren Heften der DZ erscheint und in zwei Artikel geteilt ist: „Wiedergeburt und Taufe“ (ca. 115 S.) und „Kindertaufe und Kinderglauben“ (ca. 30 S.). Der erste Artikel umfasst nach einer ausführlichen Einleitung (1) eine „positiv-dogmatische Entwicklung“, in der der Begriff und das Wesen der Wiedergeburt und ihr Mittel untersucht werden. Mit Blick auf das Mittel der Wiedergeburt wird zunächst das Verhältnis von Wort und Sakrament sowie deren Eigenart, und dann speziell die Taufe erörtert. Fortlaufend wird gezeigt, dass und wie (2) diese Auffassung biblisch und (3) den Bekenntnissen entsprechend sei. Im Zuge der Darlegungen der Biblizität und der Bekenntnisgemäßheit erfolgt eine weitere Vertiefung und Verdeutlichung der im ersten Teil entwickelten Sacheinsicht. Im zweiten Artikel zeigt von Oettingen, dass die Wiedergeburt der Kinder (1) notwendig und (2) möglich bzw. dass das Taufen der Kinder gerechtfertigt ist. Das Ziel von Oettingens ist, zu der Erkenntnis beizutragen, worin die Bedeutung der Kindertaufe liegt und wie tief sie mit der Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnaden verbunden ist. Um zu zeigen, dass die Praxis der Kindertaufe eine notwendige Konsequenz der Rechtfertigungslehre ist, behandelt er das Verhältnis von Taufe und Wiedergeburt. Er fragt, was die Wiedergeburt ist und wie sie geschieht, und zeigt, dass Kinder die Wiedergeburt brauchen und dazu fähig sind. Also sei die Kindertaufe berechtigt. Er kritisiert zum einen die Auffassung, die die Heilsgewissheit nicht auf die Unerschütterlichkeit der Verheißung und Heilstat Gottes in Wort und Sakrament, sondern vielmehr auf die Lebendigkeit und auf das Maß des eigenen Glaubens gründen möchte, d. h. er kritisiert eine für ihn subjektivistische Umdeutung der Taufe. Andererseits kritisiert er die „moderne“ lutherische Theologie oder „neuere Theologie im lutherischen Lager“, d. h. konkret die „neue Sakramentstheorie“ vieler „solider“ lutherischer Theologen, die die Wiedergeburt zu abstrakt-exklusiv sowohl hinsichtlich ihres
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Erste Phase: kirchliche Theologie
Wesens als auch ihres Mittels sehen. Er kritisiert also eine für seine Augen objektivistische Umdeutung, die in der Behauptung einer „Naturwirkung“ der Taufe kulminiert. Nach von Oettingen ist die Wiedergeburt weder objektivistisch als plötzliche magisch-mechanische Transformation, noch subjektivistisch-spiritualistisch als innerer ethischer Entwicklungsprozess zu verstehen. Vielmehr sei sie ein die beiden Momente einschließender „organischer“ Begriff,7 der die ganze Entwicklung des Menschen von seiner Geburt bis zum Tod und eigentlich darüber hinaus im Blick hat. Deshalb habe das christliche Leben den Charakter eines „Freiheitskampfes zwischen Tod und Leben“, da der Christ (wie Luther betone) nicht fertig, sondern im Werden sei. Wiederum weist von Oettingen auf den heilsgeschichtlichen Horizont hin: Im allgemeinen Sinne ist die Wiedergeburt die Wiederherstellung des Kindesverhältnisses oder der Lebensgemeinschaft mit Gott dem Vater durch Jesus Christus in der Kraft des Heiligen Geistes, doch hat sie ein heilsgeschichtlich urbildliches Fundament. Urbildlich geschah sie in der Person Jesu Christi – d. h. die Inkarnation bzw. das Weihnachtswunder ist die Wiedergeburt der Menschheit –, vorbereitet wurde sie aber im Protoevangelium, vergegenwärtigt wird sie in der Inspiration, d. h. im Pfingstwunder als Beginn der Kirche bzw. als Wiedergeburt der Gemeinde, und zur Vollendung gelangt sie in der Wiederkunft Christi in Herrlichkeit. Die Inkarnation an Weihnachten und die Inspiration zu Pfingsten sind „die prototypische Quelle und Möglichkeit“ für die wiedergebärende Wirkung des Geistes am einzelnen Menschen (1862d, 339). Von Oettingen zufolge ist die Wiedergeburt mit Blick auf den Einzelnen, organisch verstanden, die Wiederherstellung des Kindesverhältnisses oder Rechtfertigung des Sünders, die mit dem Eintreten in das Grundverhältnis des Kindes beginnt und eschatologisch zur Vollendung gelangt. Der Glaube selbst sei nicht die Wiederherstellung dieser neuen Grundrelation, sondern die „notwendige subjektive Kehrseite der Wiedergeburt“ – „der reale subjektive Besitz des Geistes der Wiedergeburt“ (1862d, 340). Die Bekehrung wiederum sei die subjektive Gestalt der Wiedergeburt bei einer bewussten erwachsenen Person – das (bewusste) Nein zum nicht kindlichen Sinn. Da im Begriff der Wiedergeburt die Wirklichkeit des sich in Christo Person und Werk gründenden Kindesverhältnisses zu Gott entscheidend sei, kann es auch in einem Säuglingsalter einen von Gott geschaffenen Kindessinn bzw. Kindesglauben geben. Den Lebensstadien entsprechend ändert sich die subjektive Gestalt der Wiedergeburt. Entscheidend sei jedoch, dass der Mensch um Christi willen vom Tod zum Leben, vom Unglauben zum Glauben, von der Unfreiheit zur Freiheit gerettet ist. In der Analyse werden die Rechtfertigung, der Glaube und die Bekehrung als Aspekte im Begriff 7 Vgl. ähnlich Joest, Wiedergeburt. Von Oettingen kritisiert an mehreren Stellen die Erlanger Theologen, insb. Harleß, wegen einer konsequenzialistischen Auffassung der Wiedergeburt.
Die Wiedergeburt durch die Kindertaufe
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der Wiedergeburt erschlossen, wobei sich die ersten beiden als die notwendigen Elemente darstellen – entsprechend der göttlichen und menschlichen Seite bzw. der Gabe und des Empfangs des Heilslebens –, die Bekehrung jedoch die Form der Wiedergeburt ist, wie sie dem Erwachsenen widerfährt. Aus der Behandlung des Mittels der Wiedergeburt hebe ich nur die Tendenz hervor. Von Oettingen kritisiert die Entgegensetzung von Wort und Sakrament aufgrund der Identität des Heilsgehaltes und stellt dem ein sog. tief-realistisches Verständnis des Wortes Gottes im Anschluss an Luther entgegen. Es gibt nach von Oettingen zwei problematischen Anschauungen innerhalb der lutherischen Theologie. Zum einen die modern-lutherische Sicht,8 nach der die Wirkung des Wortes ein (geistliches) Verhalten, die des Sakramentes ein (reales) Verhältnis ist. Doch dadurch werde die reale Kraft des Wortes, das alles trägt und die ganze Heilswirkung vermittelt, unterschätzt. Nach der anderen, der exklusiven Sicht geschieht im Sakrament die „reale Mitteilung“ Christi, im Wort dagegen nur eine „geistliche“ Mitteilung. Von Oettingen insistiert jetzt jedoch: Wo Gottes Wort ist, ist Christus real gegenwärtig, da er selbst leibhaft Wort ist. Auch durch das Wort gibt sich uns der ganze Christus. Das angemessene Verständnis des Verhältnisses von Wort und Sakrament – beide vermitteln dasselbe, obwohl anders –, lässt sich als „organisch-inklusiv“ bezeichnen und wird näher charakterisiert (vgl. 1862d, 347–349). Im zweiten Artikel will von Oettingen zeigen, dass die Schätze der Gnade „gemäß der göttlichen Heilsordnung“ mit der Kindertaufe richtig gebraucht und vermittelt werden. Wenn die Kinder nicht getauft oder neu getauft werden, wird das Heil auf den subjektivistischen Glauben, nicht auf die Treue Gottes, gegründet und dadurch die Basis der kirchlichen Glaubensgemeinschaft, sofern sie auf die Taufkontinuität zurückgeht, untergraben. Von Oettingen weist darauf hin, dass in der Bejahung der Notwendigkeit der Wiedergeburt die Anerkennung der solidarischen Bestimmtheit des natürlich Geborenen durch die Gesamtschuld der Gattung impliziert ist. Wegen dieses Gattungsbezuges ist ihm zufolge auch ein Neugeborener als Sündiger zu verstehen und zu bezeichnen. Es gilt: Niemand „sündigt als Einzelner, sondern nur als Glied der Gattung, weil niemand ein sittliches Wesen als Einzelwesen [ist], sondern nur […] in der gliedlichen Gemeinschaft, zu der er gehört“ ist (1863d, 328). Von Oettingen erörtert die Rahmenbedingungen einer verantwortlichen Kindertaufe – das Gemeindeleben als „gottgesetzten Boden für die Taufe“ – und analysiert und entfaltet eingehend den Glaubensbegriff, um die innere Möglichkeitsbedingung der Kindertaufe transparent zu machen. Er setzt sich dabei ausführlich mit der 8 Als Vertreter werden die Erlanger Theologen Gottfried Thomasius, Johann Christian Konrad von Hofmann und Franz Delitzsch genannt. Nach eigenen Worten hat er diese Sicht früher auch selbst unter Einfluss von Martensen geteilt.
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Erste Phase: kirchliche Theologie
Kritik jener Praxis auseinander und versucht deren Wahrheitsgehalt zu berücksichtigen und aufzunehmen.
5.7
Eine kurze Charakterisierung der ersten Phase
In der ersten Phase kann beobachtet werden, wie von Oettingen sich stets um eine Position jenseits des Gegensatzes zwischen Subjektivität (eigener Glaube, eigene Erfahrung, persönliches Gefühl, wissenschaftliche Freiheit und Unabhängigkeit eines Theologen, etc.) und Objektivität des Glaubens (Kirche, Dogma, Heilige Schrift, Sakrament, etc.) bemüht. Die Fragestellungen werden dabei unter einem umfassenden heilsgeschichtlichen Horizont wahrgenommen und diskutiert. Die Qualifikationsschriften sind besonders durch das Thema „Eschatologie“ miteinander verbunden, andere hervorgehobene Abhandlungen bzw. programmatische Erörterungen zielen auf eine Klärung hinsichtlich des Dogmas bzw. der kirchlichen Lehre, des Glaubens, der Theologie und des Zustandekommens des Glaubens. Es kann konstatiert werden, dass dem expliziten Bezug auf die Theologie Martin Luthers in den meisten der angedeuteten Texte eine wichtige Rolle zukommt. Im Unterschied dazu bezieht sich von Oettingen selten auf Philippi oder auf Theologen des 17. Jh.9 Für mich ist die Charakterisierung der Texte aus der ersten Phase durch Reinhold Seeberg,10 insbesondere seine Behauptung eines allesbestimmenden Einflusses von Philippi und der Theologie des 17. Jh., wenig nachvollziehbar. Was die Einstellung von Oettingens betrifft, kann sicherlich konstatiert werden, dass eine Rhetorik des „Neuen“ für ihn fremd ist. Im Wiedergeburtstraktat beansprucht er z. B. eine genuine Deutung der „alten gut-lutherischen Lehre“ zu geben (1862d, 356). Die besondere Bedeutung der Bekenntnisschriften wird von ihm anerkannt – sie wird eigens auch öffentlich reflektiert und dargestellt (bes. in 1855a, 1855b, 1859a) – und er hat durchaus Hochachtung gegenüber der Theologie des 17. Jahrhunderts. Jedoch die „Lehre“ wird von ihm zunächst stets in eigener Verantwortung „reproduziert“ – wie dies zu geschehen hat, wird von ihm ebenfalls näher reflektiert und dargestellt (bes. in 1859a). Erst danach wird eine Darstellung bzw. Interpretation der Bibel und der Bekenntnisschriften vorgenommen, die eine Übereinstimmung mit der eigenen Reproduktion sichtbar macht. Die polemisch anmutende Charakterisierung von 9 Philippi spielt aus naheliegenden Gründen in dem Text „Gefühl und Glaube“ eine wichtige Rolle. Die Theologen des 17. Jh. kommen in der Dissertation von Oettingens ausführlich zu Wort. Sie hat einen sorgfältigen Apparat hat und berücksichtigt durchgehend die Behandlung ihres Themas in der Theologiegeschichte. 10 Vgl. oben Kap. 4.
Unterwegs zur eigenen Ethik und von Oettingens Grundanliegen
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Oettingens (früher) Theologie als Repristinationstheologie, als „starr orthodox“ etc., hat m. E. an den Texten selbst nicht hinreichend Anhaltspunkte und kann durch sie nicht gerechtfertigt werden. In der ersten Phase ist zu sehen, wie von Oettingen sich den ihm theologisch und persönlich nahe stehenden Erlanger Theologen – aber auch sich selbst – gegenüber im Verständnis des Wortes (und des Sakramentes) zu einer Distanzierung und Kritik verpflichtet sieht, weil er dem eigenem Urteil zufolge – mit Luther – zu einer tieferen und realistischeren Auffassung des Wortes gekommen ist. Es ist zu erkennen – und dies ist m. E. von direkter Relevanz für die Frage der Sozialethik –, wie schon in der ersten Schrift von Oettingens der Bezug zu einem heilsgeschichtlichen Gesamthorizont präsent ist. Dabei ist gerade nicht eine ausgewählte Einzellinie in der Geschichte, sondern die Geschichte im Ganzen vom Heil in Christus her im Blick – in diesem Rahmen wird alles interpretiert.11 Im Jahr 1863 – also vor dem Kontakt mit Adolf Wagner und dem Beginn der Beschäftigung mit der Moralstatistik – wird konkret mit einer das einzelne Individuum bestimmenden negativen Gattungsbestimmtheit der Menschheit, aber auch mit ihrer positiven Gattungsbestimmtheit in Christus (Inkarnation als Wiedergeburt der Menschheit), operiert und argumentiert. Schon seit den ersten Schriften von Oettingens wird der Glaube des Einzelnen konsequent im Zusammenhang mit der Gemeinschaft des Glaubens betrachtet. Als Glied des Gesamtleibes der Kirche gelangt er zu wahrer Freiheit.
6.
Zweite Phase: die Sozialethik, oder: Zweite theologische Positionierung jenseits von Subjektivismus und Objektivismus (1863–1874)
6.1
Unterwegs zur eigenen Ethik und von Oettingens Grundanliegen
6.1.1 Über Kants Pflichtbegriff mit Beziehung auf unsere Zeit (1863) Die erste direkt dem Gebiet der Ethik zuzuordnende Schrift1 „Über Kant’s Pflichtbegriff mit Beziehung auf unsere Zeit“ (1863, ca. 25 S.) – ursprünglich 11 Der Gebrauch des Konzeptes der „Heilsgeschichte“ durch von Oettingen bestätigt die Anatomie dieses Konzepts, wie sie Christoph Schwöbel angeführt hat (Schwöbel, „Heilsgeschichte“). Zur Kritik am Konzept vgl. Mildenberger, Heilsgeschichte. 1 Der Übergang zur zweiten Phase ist nicht exakt zu bestimmen, denn es handelt sich um keinen Bruch. Doch kann thematisch beobachtet werden, dass sich von Oettingen seit dem Jahr 1863 besonders intensiv mit der ethischen Diskussion, zunächst in Form von Rezensionen und speziellen Lehrveranstaltungen, zu beschäftigen beginnt. Neu ist die Arbeit auf ethischem
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Zweite Phase: die Sozialethik
handelte es sich um einen öffentlichen Vortrag beim Gründungsfest der Universität – ist eine konzentrierte, argumentative Auseinandersetzung mit der Ethik und Anthropologie Kants, in der sein bleibender Verdienst – mit Blick auf die Gegenwart von Oettingens –, sowie die prinzipiellen Schwierigkeiten und ein Selbstwiderspruch in seiner Position aufgezeigt werden. Außerdem wird der Ausgangspunkt zusammen mit einigen Hauptmomenten einer plausibleren Ethik oder eines sachgemäßeren Sittlichkeitsverständnisses angedeutet. Von Oettingen geht von der Beobachtung aus, dass die mangelnde Bereitschaft, sich der unbedingten Kraft des sittlichen Gesetzes zu unterstellen, ein Grundzug seiner Gegenwart ist. Kants bleibender Verdienst bestehe darin, dass er einerseits gegenüber dem Libertinismus „die Pflicht“2 und „die unbedingte Notwendigkeit“ betont, andererseits dem Determinismus gegenüber die „Freiheit“ und die „sittliche Verantwortung des Menschen“ hervorhebt. Doch sowohl Kants Pflichtbegriff als auch sein Freiheitsbegriff sind nach von Oettingens Meinung unzureichend bestimmt und stehen eigentlich im Widerspruch zueinander. Kants Bestimmung der Sittlichkeit von der Pflicht her, sowie sein Menschenverständnis bzw. seine Bestimmung des Ursprungs des Widerspruchs zur Pflicht (in der sinnlichen Sphäre des Daseins) entpuppen sich in von Oettingens Darlegung als unplausibel. Kants Fehler mit Blick auf die Freiheit bestehe in ihrer zu absoluten und abstrakt-formalen Auffassung, eben als „Autonomie“ oder „Selbstgesetzgebung“, obwohl sein Begriff „Heteronomie“ ein bleibendes Wahrheitsmoment enthalte. Autonomie bleibt jedoch eine Illusion bzw. ist letztendlich selbstzentriert und dem Egoismus verhaftet. Die wahre Freiheit besteht dagegen in der „Ennomie“ als einer „lebendigen Einheit“ des göttlichen und des menschlichen Willens. Sie ist jedoch keine angeborene, naGebiet für ihn jedoch nicht, da er schon seit dem Jahr 1855 regelmäßig Vorlesungen über Theologische Moral bzw. Christliche Ethik gehalten hat (vgl. oben Kap. 2). Im Jahr 1895 sagt er rückblickend, dass er sich von 1862 bis 1882 mit der Moralstatistik beschäftigte. Dies dürfte eine Verallgemeinerung bzw. Stilisierung sein, weil zum einen der diesbezüglich wichtige Impulsgeber, der Wirtschaftswissenschaftler Adolf Wagner, sein Wirken an der Universität Tartu erst im Jahr 1865 begonnen hat und zum anderen von Oettingen in den Jahren 1862 und 1863, aber wohl auch noch 1864 und in der ersten Hälfte von 1865, an anderen Sachen schreibt. Spätestens seit dem Jahr 1865 findet eine Beschäftigung mit der Moralstatistik statt. In persönlicher Hinsicht ist das Jahr 1863 für von Oettingen ein tragisches Wendejahr, da seine Frau, die er sehr geliebt hat und mit der er ca. zehn Jahre verheiratet war, stirbt. Nach dem Tod seiner Frau beginnt von Oettingen sich in der Fürsorgearbeit und deren Organisation zu betätigen und wird im Jahr 1865 Vorsitzender des kirchlichen Vereins für die Armenfürsorge (vgl. oben Kap. 2). 2 „Wie aber Kant selbst an der Pflicht Geschmack findet, das werden wir näher zu erkennen im Stande sein, wenn wir uns verwegegenwärtigen, wie in seinem Pflichtbegriff zwei Elemente, zwei Prinzipien zur Einheit zusammenströmen“ (1863f, 9). Entsprechend unterteilt sich die Behandlung nach einer Einleitung in die Darstellung und kritische Überprüfung des Begriffes des kategorischen Imperativs (1863f, 10–17) und der Autonomie (ibid., 17–23) und endet mit einem zusammenfassenden Schlusswort.
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türliche Eigenschaft, sondern unterliegt einer konkreten Werdegeschichte, einer Bildungsgeschichte, deren Zentrum mit dem Begriff „Wiedergeburt“ angegeben werden kann. Nach von Oettingens Meinung bedeutet das Prinzip der Ennomie, dass das Gesetz der Liebe als inhaltliche Bestimmtheit des göttlichen Willens zum inneren Prinzip der Herzens- und Lebensbewegung des Menschen geworden ist. Um also Freiheit konkret zu verstehen, muss ihr Werden, das FreiWerden bzw. die Befreiung des Menschen, mitberücksichtigt werden. Der Wille Gottes begegnet dem Menschen zunächst als äußeres Postulat und hat als solches eine wichtige pädagogische Bedeutung. Um jedoch für den Menschen zu einem eigenen inneren Prinzip zu werden, braucht er ein neues Herz. Letztendlich sei die Freiheit somit von einem Prozess der Wiedergeburt abhängig, der in diesem Leben nie zum Abschluss kommt und dessen Urquelle die „Gnade“ bzw. das Evangelium ist. 6.1.2 Rezensionen über die Neuerscheinungen auf dem Gebiet theologischer Ethik (1864–1866) In den Jahren 1864–1866 veröffentlicht von Oettingen eine Reihe von Rezensionen in der DZ, die die neuere Literatur auf dem Gebiet der theologischen Ethik kritisch besprechen und auch sehr aufschlussreich über von Oettingens eigene Gedanken zur Ethik sind.3 In der ersten Rezension, die eigentlich eine Sammelrezension ist, charakterisiert von Oettingen zunächst die Lage der (theologischen) Ethik als Wissenschaft. Er konstatiert, dass „das Interesse für das Ethische“ (1864a, 290) enorm groß sei, die Ethik als Wissenschaft jedoch „noch in den Geburtswehen“ liege (ibid., 291) und ihre Situation eine ganz andere sei im Vergleich zur Dogmatik, in der sich trotz aller Mannigfaltigkeit durchaus eine Grundübereinstimmung über das Was und Wie konstatieren lasse. Einen Konsens über den Gegenstand und die Methode der Ethik gibt es aber nicht. Die Bemühungen, die Theologie zu „ethisieren“, d. h. die „specifisch christliche[] Lebenswahrheit“ ethisch zu erfassen, sind noch unterentwickelt (ibid., 292). Auch die Werke, die er bespricht, werden der Aufgabe, die der Ethik 3 Die Werke, die er in diesen Rezensionen bespricht (ich nenne nur deren Titel und Autoren und verzichte hier auf die näheren Angaben; vgl. dazu die Bibliographie von Oettingens), sind das Handbuch der christlichen Sittenlehre (2 Bände, 1861–1862) von Karl Friedrich Adolf Wuttke (1819–1870) aus Halle, die posthum herausgegebene Christliche Sittenlehre (1861) von Christian Friedrich Schmid (1794–1852) aus Tübingen, Die Moral des Christenthums (1864) von Christian Palmer (1811–1875) aus Tübingen, Die christliche Ethik (I, 1864) von Philipp Theodor Culmann (1824–1863), die posthum herausgegebenen Vorlesungen über die Geschichte der christlichen Ethik (1864) von August Johann Wilhelm Neander (1789–1850) aus Berlin, Kirchliche Ethik vom Standpunkt der christlichen Freiheit (Teil I, 1864) von Bernhardt Wendt, Christliche Ethik (6. Aufl., 1864) von Adolf Harleß aus Erlangen und Die Lehre von dem Gewissen (1866) von Hugo Rudolf Hofmann (1825–1917) aus Leipzig.
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gegenwärtig gestellt sei, nicht gerecht: „die Eigentümlichkeit des ethischen Prinzips“ im Unterschied zum dogmatischen werde „nicht zur Klarheit und Ausgestaltung“ gebracht (ibid., 300). Von Oettingen hält eine Reflexion auf den „Einheits- und Ausgangspunkt“ (ibid., 298) der Ethik für dringend erforderlich, da nur dieser als Kriterium dafür dienen kann zu erkennen, welches Material zu verwenden und nach welcher Gliederung vorzugehen ist. Mit Vorsicht formuliert er die Aufgabe der theologischen Ethik als „Darstellung des neuen Menschen in seinem Heilsleben“ (ibid.). So liegt ihr Ansatzpunkt genau dort, wo die Dogmatik endet und kulminiert, d. h. in der Wiedergeburt und dem dadurch gesetzten neuen Menschen. In dieser Einsicht besteht nach von Oettingen der „unbestreitbare Verdienst“ von Adolf Harleß (1806–1879), einem Mitbegründer der sog. Erlanger Theologie.4 Eine für unseren Zusammenhang wichtige Fundamentalkritik wird in der Auseinandersetzung mit der Ethik Wuttkes formuliert. Bei ihm erscheine das einzelne Subjekt als Grundlage des sittlichen Lebens. Die sittliche Gemeinschaft oder das sittliche Zusammenleben stellen nur ein Ergebnis des sittlichen Tuns einzelner Personen dar. Dies sei jedoch der Grundirrtum der „modernen subjectivistischen Ethik“ überhaupt (ibid., 293). Eine „ethische Grundwahrheit“, wonach der Mensch nicht als einzelne Person ein sittliches Wesen ist, sondern nur als „Glied der Gemeinschaft“, werde ausgeblendet (ibid.). Sowohl das, was von Oettingen an den besprochenen Werken kritisiert, als auch das, was er anerkennend hervorhebt und selbst konstruktiv vorschlägt, ist für die Betrachtung der Genese seines ethischen Werkes sehr aufschlussreich. 6.1.3 Auseinandersetzung mit der Ethik von Adolf Harleß (1865) Die ausführliche Auseinandersetzung mit der Harleßschen Ethik, die von Oettingen gut kannte, verlangt nach einer Hervorhebung. Den unmittelbaren Anlass dazu bietet ihre gründlich bearbeitete und erweiterte 6. Auflage aus dem Jahr 1864.5 Die 5. Auflage hatte von Oettingen seit 1855 als Lehrbuch für seine Ethikvorlesungen verwendet. Die Besprechung erscheint, nachdem er im Jahr 1865 die 6. Auflage in seiner Vorlesung verwendet hatte. Die Christliche Ethik von Harleß ist eine der einflussreichsten Bearbeitungen der Ethik in der lutherischen Tradition des 19. Jahrhunderts und ein Grundtext der Erlanger Theologie. Trotz der hervorgehobenen Stärken und Leistungen 4 Die Dorpater/Tartuer Fakultät versuchte nach der Berufung von Ernst Sartorius zum Generalsuperintendent von Königsberg im Jahr 1835 Harleß als Nachfolger zu gewinnen. Dieser lehnte jedoch ab. 5 Die 1. Aufl. erschien 1842, die 8. Aufl. 1893. Im Jahr 1868 ist die 6. Aufl. ins Englische übersetzt worden.
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dieses Werkes, wie z. B. der grundlegenden Orientierung an der Rechtfertigung aus Glauben als Prinzip der Ethik, deckt von Oettingen in seiner Besprechung mehrere prinzipielle Probleme auf: u. a. (a) den „idealistischen Zug“ dieses Systems (1865c, 251–258), (b) die Auffassungsweise des Verhältnisses von Wiedergeburt und Glaube (ibid., 264–266), (c) das Fehlen einer ethischen Eschatologie – was für die meisten älteren und neueren ethischen Gesamtdarstellungen typisch ist (vgl. ibid., 261) –, sowie (d) eine unzureichende Berücksichtigung des sozialen Faktors im Verständnis des „Sittlichen“, die ein Grundfehler der meisten neueren Ethiken sei. Die Einsicht, dass die Sittlichkeit eines Individuums nur im Zusammenleben zustandekommen und sich entwickeln kann, komme also auch in der Ethik von Harleß nicht genügend zum Tragen. Zusammenfassend urteilt von Oettingen, dass die Frage, wie Ethik als Wissenschaft zu bearbeiten und zu gestalten ist, bei Harleß auch in der neuen Ausgabe keine befriedigende Antwort findet. An diesem Text lässt sich die Beziehung des jungen von Oettingens zu einer Hauptfigur der Erlanger Theologie gut studieren.
6.1.4 Spinozas Ethik und der moderne Materialismus (1865) Neben den z. T. recht gründlichen Rezensionen sind zwei große Aufsätze, erschienen im Jahr 1865 in der DZ, besonders wichtig: „Spinoza’s Ethik und der moderne Materialismus“ (ca. 35 S.)6 und „Schopenhauer’s Philosophie in ihrer Bedeutung für christliche Apologetik“ (ca. 40 S.). In der Spinoza-Studie versucht von Oettingen zu zeigen, dass die pantheistische Weltanschauung und der moderne Materialismus letztendlich identisch bzw. durch einen Naturalismus verbunden sind und deshalb in ihrem Rahmen die Ethik eigentlich zur Unmöglichkeit wird. Der Naturalismus beachtet die Differenz des Natur- und des Sittengesetzes nicht, und daher gehen ihm die Zurechnungsfähigkeit bzw. die Verantwortlichkeit und die Schuld verloren. Die Möglichkeit und die Art der Ethik ist also von Oettingen zufolge durch die weltanschaulichen Voraussetzungen bedingt. Deshalb hat die Theologie die Aufgabe, sich mit alternativen Weltanschauungen auseinanderzusetzen und sie kritisch zu prüfen. Von Oettingen behandelt die Grundansichten Spinozas in drei Schritten: Sein Gottes- bzw. Weltverständnis (1865d, 289–298), seine grundlegenden anthropologischen Vorstellungen bzw. sein Menschenverständnis (ibid., 298–310), und die Rolle und ethische Bedeutung des Soziums des Menschen bzw. sein Ge6 Einen Impuls für diese Abhandlung bilden die neuen Bücher der baltischen Theologen Johannes Matthias Lütkens (vgl. unten Kap. 10) und des schon erwähnten August Carlblom. Doch auch von Oettingen hatte schon im Jahr 1864 eine Übung zur Ethik Spinozas angeboten.
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meinschaftsverständnis (ibid., 310–315). Diese Anordnung entspricht den „drei Factoren“ (ibid., 290) des Ethischen. Es ist dies eine terminologische Wendung, die von Oettingen so zum ersten Mal verwendet, obwohl von der Sache her eine vergleichbare Trias auch in der ersten Phase deutlich vorausgesetzt ist. Sowohl im ethischen als auch im dogmatischen Hauptwerk wird dem rechten Verständnis der drei Faktoren in ihrer Differenz und Zusammengehörigkeit eine zentrale Rolle zukommen. In diesem Aufsatz findet sich bei von Oettingen auch zum ersten Mal ein Hinweis auf die Statistik und ihre Bedeutsamkeit, sowie eine kritische Bemerkung über die neueren statistischen Untersuchungen von Adolf Wagner und Adolphe Quetelet (vgl. ibid., 284). Dass Schleiermacher, insbesondere in seiner philosophischen Ethik, und Richard Rothe auf einer pantheistischen Grundlage aufbauen, zeige sich in der Behauptung der Identität von Ethik und Physik in ihrer vollendeten Gestalt und darin, dass das ethische Ideal als die vollkommene Durchdringung und Einheit von Natur und Vernunft charakterisiert wird. Da Vertreter der „modern-gläubigen Vermittlungstheologie“ (ibid., 288) Schleiermacher und Rothe als ihre größten Ethiker bezeichnen, lässt sich dieser Aufsatz von Oettingens auch als eine indirekte Kritik an der Ethik der sog. modern-gläubigen bzw. subjektivitätsorientierten Vermittlungstheologie lesen. Dies ist vergleichbar damit, dass er in der ersten Phase einige grundlegende Aspekte ihrer Dogmatik, d. h. die dogmatischen Ansichten der sog. Gefühlstheologie bzw. des theologischen Subjektivismus, kritisiert hatte. In seinen Augen ist „die ganze moderne Vermittlungstheologie seit Schleiermacher abhängig von einem spinozistischen Element“ (ibid., 315) und dient damit in verdeckter Form einem Weltsinn, der im Naturalismus und im Materialismus in nackter Gestalt auftritt. 6.1.5 Schopenhauers Philosophie in ihrer Bedeutung für christliche Apologetik (1865) Arthur Schopenhauer (1788–1860), der mit großer Verspätung um diese Zeit eine Berühmtheit geworden und en vogue war, bestätigt für von Oettingen das Urteil, dass Spinoza als Materialist betrachtet werden kann. Schopenhauer selbst sei für die Theologie, speziell für ihre apologetische Aufgabe, deshalb so interessant, weil er seine eigenartige Ethik auf einer entsprechenden Metaphysik gründet, deren Mitte der Wille bildet. Es wird deutlich, wie die Ethik von der Metaphysik abhängig ist. In der Studie versucht von Oettingen, die Wahrheitsmomente in der Philosophie Schopenhauers aufzuzeigen, aber auch ihre Sackgassen, die für ihn die Fehlerhaftigkeit der Voraussetzungen Schopenhauers signalisieren. Es gebe drei Aporien bei Schopenhauer : Zunächst in ontologischer Hinsicht der Widerspruch von Notwendigkeit und Freiheit, dann, be-
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züglich der negativen Qualifikation der Welt, der Widerspruch von Mitleid und Egoismus und zuletzt, mit Blick auf die positive Qualifikation der Welt, die Vorstellung von der Selbstbefreiung oder Selbsterlösung vom Egoismus. Allein der christliche Glaube weist für von Oettingen den Weg aus diesen Aporien. Er tut dies mit dem ersten Artikel (Gott der Vater bzw. die Schöpfung) – erforderlich ist also eine „Glaubensmetaphysik“, die das Problem des Verhältnisses zwischen Notwendigkeit und Freiheit, zwischen Natur und Geschichte, entfaltet –, mit dem zweiten Artikel (Gott der Sohn bzw. die Versöhnung) – mit dem Mitleiden Gottes im Kreuzestod als Wende – und mit dem dritten Artikel (Gott der Heilige Geist bzw. die Wiedergeburt) als Antwort auf das Problem der Freiheit. Explizit und als These, deren nähere Entfaltung folgen soll, spricht von Oettingen den Gedanken aus, dass der „lebendige dreieinige Gott“ jene Wahrheit ist, die für uns sowohl das Welträtsel (Ontologie) als auch das Rätsel unseres eigenen Herzens (Ethik) löst (1865e, 485). Die trinitarische Auffassung Gottes ist demnach sowohl für die Dogmatik als auch für die Ethik von konstitutiver Bedeutung. 6.1.6 Rudolf Hofmanns Buch über das Gewissen als Beispiel eines Grundproblems neuerer Ethik (1866) Die letzte Rezension vor dem ersten Hauptwerk, die das Buch Rudolf Hofmanns über das Gewissen bespricht, verdient eine Erwähnung, weil hierbei in konzentrierter Weise die grundsätzliche Kritik von Oettingens daran zum Ausdruck kommt, was für ihn als ein Hauptproblem der neueren Ethik gilt. Erstens sei bei Hofmann die Auffassung des Verhältnisses zwischen Gewissen und Sozium problematisch (1866b, 588–592). Der organische Gattungscharakter des (individuellen) Gewissens – dessen Abhängigkeit und Bedingtheit durch den Sozialfaktor des sittlichen Lebens – werde von ihm nicht verstanden. In der Konsequenz werden Verantwortung und Schuld etc. nur individuell verstanden, d. h. der „tiefen Solidarität der sittlichen Interessen“ (ibid., 590) wird nicht Rechnung getragen. Von Oettingen ist sich bewusst, dass die Hervorhebung des Gattungszusammenhangs allein nicht ausreicht, weil „der Mensch als sittliche Persönlichkeit [i. e. als Person – T.-A.P.] nicht bloß Gattungswesen, sondern auch einzigartiges Individuum“ ist (ibid.). Damit ist einer der schwierigsten und wichtigsten Punkte der ethischen Forschung berührt, der von fast allen neueren Ethikern – von Oettingen zufolge im Unterschied zu Luther – in unverantwortlicher Weise nicht berücksichtigt werde. Zweitens bleibe bei Hofmann das Verhältnis von Gesetz und Gewissen unklar, weil eine grundsätzliche Bestimmung des Gewissens fehlt und somit nicht sichtbar wird, dass es dabei sachlich um unsere Grundrelation zu Gott und deren Problematisierung geht. Drittens werde bei Hofmann auch das Verhältnis von Gesetz und Erlösung einseitig und
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oberflächlich verstanden, insofern die Wiedergeburt bzw. das wiedergeborene oder versöhnte Gewissen als Folge und Frucht der Heiligung erscheint. Doch gelangt, wie von Oettingen betont, das Gewissen nicht in der Liebe, sondern allein im Glauben zu seinem ursprungsgemäßen Sein. Anders formuliert: Die Erneuerung des Herzens ist allein durch die sola fide und durch die Unverbrüchlichkeit der sola gratia und nicht durch unsere Heiligung bedingt (vgl. ibid., 594). Die genannten drei Hauptprobleme Hofmanns lassen sich von Oettingen zufolge als Ausdrucksformen des Prinzips der Subjektivität verstehen, wodurch die Position Hofmanns durchgehend bestimmt sei (vgl. ibid., 588). 6.1.7 Zwischenergebnis Die Rezensionen, aber auch die genannten Aufsätze, gewähren einen Blick darauf, wie von Oettingen zu seinem eigenen ethischen Hauptwerk kommt. Es werden die Schwerpunkte seines Interesses, die anerkannten Leistungen und die wahrgenommenen Schwierigkeiten in den neueren Bearbeitungen der Ethik, aber auch die Richtungen, wie er sie zu überwinden bzw. die Ethik zu modifizieren und transformieren gedenkt, angedeutet und ansatzweise sichtbar. Ich nenne hier nur einige seiner Anliegen und Grundeinsichten: Der Versuch, die Zusammengehörigkeit und die Eigenart von Dogmatik und Ethik besser zu verstehen und auszugestalten, die Sensibilisierung dafür, dass ethics without metaphysics nicht existiert (vgl. 1865a, 122), sowie die Bearbeitung der ethischen Themen und Fragestellungen als mehr oder weniger indirekte Rechenschaft über den Glauben bzw. als Aussage über die Relevanz der Dogmatik, ferner das Bestreben, das personale Sein im Zusammensein und aus ihm heraus, d. h. als gemeinsames Sein, zu verstehen – dies sowohl im Rahmen der Dogmatik (hauptsächlich in der ersten Phase) als auch im Rahmen der Ethik (in der zweiten Phase). In Bezug auf Seeberg, der behauptete, dass die Dogmatik 30 Jahre lang nicht Zentrum des Interesses von Oettingens war und er dazu geschwiegen hat, möchte ich festhalten: Abgesehen von den direkt dogmatischen Texten, die er während der zweiten (und der dritten) Phase verfasst hat und den dogmatischen Lehrveranstaltungen, die er in diesen Jahren gehalten hat, zeigen gerade die ethischen Schriften von Oettingens durchaus sein dogmatisches Interesse.
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6.2.1 Zur Verteidigung der sog. Zweinaturenlehre gegenüber dem modernen Monophysitismus (1867) In der Rezension zur Geschichte der Ethik von Neander im Jahr 1865 geht es vorwiegend um das Verhältnis der christlichen Sittenlehre zur Glaubenslehre. Von Oettingen stimmt Neander darin zu, dass die Eigenart der Glaubenslehre ihre Entsprechung in der Lehre von der christlichen Lebensgestaltung findet bzw. dass die Lebensgestaltung von einem zugrunde liegenden Prinzip zeugt. Die theologische Ethik ist deshalb durch die Dogmatik bedingt. Von Oettingen stimmt Neander auch darin zu, dass die Christologie oder das Verständnis der Person Christi in dieser Hinsicht zentral ist und die ethische Grundanschauung entscheidend bedingt (vgl. 1865a, 122). Eine wichtige dogmatische Studie aus der zweiten Periode, die zwei Jahre später in der DZ erscheint, ist just der Christologie gewidmet. Sie trägt den Titel „Zur Wahrung der ,Zweinaturenlehre‘ gegenüber dem modernen Monophysitismus“ (1867a, ca. 50 S.)7 und geht von der Beobachtung aus, dass in der Christologie der Gegenwart eine Tendenz zur Betonung der Einheit der Person Christi und zur Verabschiedung der Lehre von den zwei Naturen herrsche. In der Einleitung (ibid., 1–10) gibt von Oettingen einen Überblick über die modernen angeblich monophysitischen Positionen8 und beschreibt das Anliegen der sog. Zweinaturenlehre als der Voraussetzung für die Gemeinschaft beider Naturen (communio naturarum) und für die gegenseitige Mitteilung ihrer Eigenschaften (communicatio idiomatum) im Zusammenhang mit der Versöhnungs- und Abendmahlslehre. Der kirchlichen Christologie, konkret: der Christologie der Konkordienformel, wird jedoch einerseits – durch den Pantheisten – Nestorianismus (i. e. Trennung der Naturen bzw. Dualismus), andererseits – durch den Reformierten – Monophysitismus (i. e. Reduktion der Naturen auf die eine Natur) vorgeworfen. Die Studie zeigt, worin der Grund für ein derart widersprüchliches Urteil über die Christologie der Konkordienformel liege. Der Grund für die Geringschätzung und Verachtung der sog. Zweinaturenlehre liege im modernen Monophysitismus (ibid., 10–22), der in zwei Hauptgestalten auftritt: Als pantheistischer Monophysitimus, als eine Vermischung der Naturen und als moderne Kenotik, i. e. kurz und idealtypisch die Auffassung, 7 Der unmittelbare Anlass dieser Studie ist der ein halbes Jahr zuvor in derselben Zeitschrift veröffentlichte Aufsatz von Emil Kaehlbrandt, einem baltischen Pastor (E. Kaehlbrandt, Die gottmenschliche Person). 8 Hierzu zählt er z. B. Fr.D.E. Schleiermacher (1768–1834), Isaak August Dorner (1809–1884), Wilhelm Beyschlag (1823–1900), Daniel Schenkel (1813–1885), Richard Rothe (1799–1867) und G.Fr.W. Hegel (1770–1831).
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dass die Voraussetzung für die Menschwerdung von Gottes Sohn in einem zeitweiligen Verzicht auf die göttliche Natur liegt.9 (Auch hier liegt eine Distanzierung von Oettingens von Vertretern der Erlanger Theologie wie Thomasius, von Hofmann, Delitzsch und Frank vor.) Der Erläuterung, warum der moderne Monophysitismus in beiden seiner Formen nicht schriftgemäß sei (ibid., 29–41), folgt eine Andeutung des Weges, auf welchem eine wissenschaftliche Fortbildung der Christologie auf dem von ihm als bekenntnis- und schriftgemäß betrachteten Grund der sog. Zweinaturenlehre möglich und auch notwendig ist (1867a, 41–51). 6.2.2 Die Moralstatistik als Teil eines Versuchs einer Sozialethik auf empirischer Grundlage (1867–1869) Wahrscheinlich beschäftigte sich von Oettingen seit der ersten Hälfte des Jahres 1865 mit der Statistik und den moralstatistischen Arbeiten. Ende 1867 veröffentlicht er in der DZ seine fast achtzigseitige Arbeit „Die Moralstatistik in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung für eine Socialethik“. Da der Text fast identisch10 mit der „Einleitung“ des ein Jahr später erscheinenden Buches ist, kann gesagt werden, dass dies der Beginn der Veröffentlichung des ersten Hauptwerkes von Oettingens war. Das zweiteilige Werk trägt den Titel Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre. Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage. Auch der erste Teil Die Moralstatistik. Inductiver Nachweis der Gesetzmässigkeit sittlicher Lebensbewegung im Organismus der Menschheit erscheint in zwei Teilen. Im Jahr 1868 erscheint als erste Hälfte (ca. 320 S.) die „Einleitung“ und „Erstes Buch. Geschichtliches und Methodologisches“. Im Vorwort wird die Wahl des Buchtitels bzw. des Titels für das Gesamtwerk folgendermaßen erklärt: Vor der Einen Seite standen mir die Vertheidiger einer auf naturalistischer Weltanschauung ruhenden Socialphysik (physique sociale) gegenüber : von der andern hatte ich die Vertreter einer blossen, auf atomistischem Spiritualismus ruhenden Perso9 Als Beispiele nennt er J.L. König, Ernst Wilhelm Sartorius (1797–1859), Karl Theodor Albert Liebner (1806–1871), Gottfried Thomasius (1802–1879), Johann Christian Konrad (von) Hofmann (1820–1877), Franz Delitzsch (1813–1890), Karl Friedrich Gaupp, Franz Ludwig Steinmeyer (1811–1900), Heinrich Eduard Schmieder (1794–1893), Georg Ludwig Hahn (1823–1903), Eduard Karl August Riehm (1830–1888), Johann Heinrich August Ebrard (1818–1888), Wolfgang Friedrich Geß (1819–1891) und mit Vorbehalt auch Carl Adolf Gerhard von Zezschwitz (1825–1886) und Franz Hermann Reinhold Frank (1827–1894). 10 Der Unterschied besteht vor allem darin, dass im Buch dieser einleitende Text in vier Teile und in 21 Paragraphen gegliedert ist. Da alle diese Einheiten zudem auch mit einer Überschrift versehen sind, lässt sich die Einleitung leichter lesen. Im Vergleich zum Aufsatz ist in der Einleitung nur deren letzter, kürzester Abschnitt ganz neu. Das Werk erscheint in Erlangen im Verlag von Andreas Deichert.
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nalethik zu bekämpfen. Im Hinblick auf beide glaubte ich in der Form einer Socialethik dem wahren, christlich-kirchlichen, wenn man will lutherischen Realismus eine tiefere wissenschaftliche Begründung geben zu können. (1868a, vi).
Etwa ein Jahr später wird „Zweites Buch. Analyse der moralstatistischen Daten“ (ca. 710 S.) mit einem umfangreichen Anhang der statistischer Tabellen, sowie Namens- und Sachregistern (ca. 200 S.) herausgegeben.
6.2.3 Der geschichtliche Charakter der biblischen Theologie Neuen Testaments (1870) Von Oettingen, der – wie es damals bei den Systematikern oft vorkam – seit dem Jahr 1857 regelmäßig exegetische Vorlesungen über das Neue Testament und zwischen 1866 und 1885 über die biblische Theologie des Neuen Testaments gehalten hat,11 veröffentlicht 1870 in der DZ zwei Studien: „Der geschichtliche Charakter der biblischen Theologie neuen Testaments, mit besonderer Rücksicht auf die neuesten Arbeiten“ (1870a, ca. 54 S.)12 und „Die biblische Idee des Volkes Gottes, mit Rücksicht auf die eschatologischen Fragen der Gegenwart“ (1870b, ca. 56 S.).13 Von Oettingen fragt, worin der historische Charakter der biblischen Theologie besteht und wie er sich präzisieren lässt. Er bemüht sich um einen Mittelweg zwischen einseitiger Historisierung und einseitiger Systematisierung der biblischen Theologie des Neuen Testaments. In der ausführlichen und kontextualisierenden Einleitung (1870a, 1–26) identifiziert er als das Problem „der biblisch-theologischen Anschauung“ der Alten, i. e. der Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts, ihre Ungeschichtlichkeit. (Gleiches gilt aber auch von deren Verständnis der sog. Fundamentalartikel des Glaubens bzw. der christlichen Lehre.) Der Grund dafür liege in einer ungeschichtlichen Auffassung der Heilsoffenbarung. Sie haben nach von Oettingens Beurteilung die „Geschicht11 Vgl. Kap. 2. 12 Den Hintergrund für die erste Studie bildet von Oettingens eigene Arbeit zum Thema – seit 1866 hatte er jedes Jahr zu diesem Thema eine Vorlesung oder ein sog. Konversatiorium bzw. ein Praktikum durchgeführt –, aber veranlasst wurde sie vor allem durch das Lehrbuch der biblischen Theologie des Neuen Testaments (1868, 7. Aufl. 1903) von Karl Philipp Bernhard Weiss (1827–1918). 13 Der Anlass (vgl. 1870b, 227–229) dafür ist die umfangreiche Studie seines Tartuer alttestamentlichen Kollegen und Freundes Wilhelm Volck und der darin verteidigte Chiliamus (vgl. Volck, Chiliasmus). Von Oettingen erwähnt in diesem Zusammenhang selbstkritisch seine eigene Qualifikationschrift (vgl. 1853b), in der er eine ähnliche Ansicht wie Volck vertreten hat. Er kritisiert also Volcks Chiliasmus, sein Verständnis der Prophetie, seine hermeneutischen Prinzipien und sein Verständnis der Idee von Gottes Volk, um am Ende eine wesentliche Übereinstimmung zwischen Volck und sich mit Blick auf die eschatologischen Vorstellungen zu formulieren und festzuhalten (vgl. 1870b, 228).
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lichkeit“ Gottes – d. h., dass Gott ein Gott der Geschichte ist – nicht hinreichend erkannt und hervorgehoben. Die neueren Versuche einer totalen „Naturalisierung des Entwicklungsprozesses“ der Schrift fordern die Kirche auf, sich neu auf die Geschichtlichkeit der Schrift zu besinnen. Von Oettingen skizziert, wie eine geschichtliche Anschauung der Heilsgeschichte und ihrer urkundlichen Fixierung aussehen könnte und worin der Unterschied im historischen Charakter des Alten und des Neuen Testaments liegt. Er stellt in Grundzügen die Position der „neueren negativen Kritik“ und der sog. Vermittlungstheologie mit Blick auf den historischen Charakter des Neuen Testaments dar und setzt sich damit kritisch auseinander. Einer eingehenden Kritik wird speziell die Behandlung der „neutestamentlichen biblischen Theologie“ durch Bernhard Weiss (1870a, 26–44) unterzogen. Darauf folgt von Oettingens eigener Vorschlag, wie die biblische Theologie des Neuen Testaments als historische Disziplin zu verstehen und zu gliedern ist (ibid., 45–54).
6.2.4 Die biblische Idee des Volkes Gottes, mit Rücksicht auf die eschatologischen Fragen der Gegenwart (1870) In der zweiten Studie geht es um grundlegende Fragen, die auch für die kirchliche Praxis seiner Gegenwart von unmittelbarer Relevanz sind. Von Oettingen erörtert mit Rücksicht auf die „in der Neuzeit besonders brennenden eschatologischen Fragen“14 die biblische Bedeutung des Begriffes „Volk Gottes“ – eines Korrelatbegriffes zum „Reich Gottes“ –, der aus dogmatischer Perspektive die ganze christliche Heilslehre bzw. den „Gesammtzusammenhang göttlicher Heilsöconomie“ enthält (1870b, 226f). Er grenzt das Thema ein und arbeitet heraus, wie das wahre Israel bzw. das Volk Gottes in der neutestamentlichen Gegenwart (ibid., 236–261), in der alttestamentlichen Vergangenheit (ibid., 261– 264) und in der „reichsherrlichen Zukunft“ (ibid., 264–280) biblisch-theologisch zu verstehen ist. Er sieht in der neueren Exegese drei Grundmodi, die biblischen Aussagen über die Zukunft zu deuten – eine spiritualisierende Umdeutung,15 eine rationalistisch-naturalistische Auslegung16 und eine heilsgeschichtlich-realistische Interpretation17 – und schlägt eine Verbesserungsmög14 Diese Wahrnehmung von Oettingens, so wie die Zahl seiner eigenen auf das Thema „Eschatologie“ bezogenen Schriften stehen in Spannung zu der im 20. Jh. geläufigen Rede von einer eschatologischen Vergessenheit oder Vergessenheit der Eschatologie, die für das 19. Jh. typisch sei und der sich dann im 20. Jh. eine Renaissance der Eschatologie entgegensetzt. 15 Diese sei charakteristisch für Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869), Friedrich Adolf Philippi und Theodor Kliefoth (1810–1895). 16 Als Vertreter nennt er Ferdinand Christian Baur (1792–1860). 17 Namentlich erwähnt er J. von Hofmann, F. Delitzsch, W. Volck.
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lichkeit der letzteren Zugangsweise, des hofmannschen heilsgeschichtlichen Realismus, vor (ibid., 271–280). Das Resultat des Ganzen wird thesenartig formuliert (ibid., 280–282). Die Studie ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich, u. a. mit Blick auf die hermeneutischen Grundprinzipien für das Verständnis der Prophetie, aber auch des Alten Testaments überhaupt, mit Blick auf die Eschatologie bzw. die Vollendungsgeschichte des Reiches Gottes, sowie mit Blick auf die „socialethische Weltanschauung“, die von Oettingen zufolge „in der biblischen Idee des Volkes Gottes gipfelt“ oder vielmehr „wurzelt“ (vgl. 1870b, 234). 6.2.5 Die christliche Sittenlehre als Teil eines Versuchs einer Sozialethik auf empirischer Grundlage (1870–1873) Im Jahr 1870 reagiert von Oettingen in der Zeitschrift Baltische Monatshefte (BM) auf eine Besprechung seiner Studie Die Moralstatistik mit einem ausführlichen „Wort zur Abwehr und Verständigung“ (so der Untertitel). Es trägt die Überschrift „Über das Verhältniss von Natur- und Geisteswissenschaft“ (1870d, ca. 30 S.). Ende des Jahres beginnt von Oettingen in der DZ mit einem dreiteiligen „Aufsatz“ (ca. 225 S.), der später in modifizierter Form in den zweiten systematischen Teil seines ethischen Hauptwerkes eingegliedert ist.18 Die Arbeit trägt den Titel „Zur Rechtfertigung einer Socialethik“ und erscheint in den Jahren 1870–1873.19 Ausgehend von der Konstatierung, dass die im Anschluss an den ersten Teil laut gewordene Kritik „das Hauptbestreben“ seines Gesamtwerkes nicht anerkannt, sondern vielmehr „als ein in seinem Grundgedanken verfehltes Unternehmen“ beurteilt hat (1871a, 539), will sich von Oettingen vor der Veröffentlichung des zweiten Teiles mit seinen Kritikern auseinandersetzen, sein Vorhaben verteidigen und dadurch dem Verständnis des „systematischen Haupttheiles“ den Weg ebnen. Seine umfängliche Rechtfertigung der Sozialethik schließt mit den Worten, die sein nicht zuletzt apologetisches Anliegen, sowie seine konfessionelle und ökumenische Absicht, prägnant zusammenfassen: So hat sich uns denn allseitig bestätigt, dass die christlich-sittliche Weltanschauung oder, was dasselbe ist, die Auffassung christlichen Heilslebens nach seiner Entstehung und Entfaltung gerade innerhalb des sogenannten lutherischen Lehrbegriffs sich im vollen Sinne socialethisch gestaltet, d. h. ebensowohl gegenüber der reformirten Gefahr des subjectivistischen Personalchristenthums das kirchliche Gemeinleben, als gegen18 Der Text wird in z. T. modifizierter und erweiterter Gestalt den Inhalt des „Einleitendes Vorwortes“ und des ersten Abschnittes (§§1–14) der allgemeinen Grundlegung bilden. 19 Faktisch sind jedoch der erste Teil des Aufsatzes erst zu Beginn des Jahres 1871 und der letzte Teil erst im Jahr 1874, i. e. schon nach dem Erscheinen des Buches, erschienen. Es scheint zu Beginn der 1870er Jahre mit der Herausgabe der DZ zunehmend Schwierigkeiten gegeben zu haben. Im Jahr 1874 wurde die Herausgabe eingestellt.
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Zweite Phase: die Sozialethik
über der römischen Gefahr des objectivistischen Autoritätschristenthums das persönliche Innenleben zu wahren und beide in ihrem organischen Wechselverhältniss zu erfassen sucht. Dass solche gesunde Vermittelung zwischen den beiden Extremen sittlicher Weltansicht den Vertretern des Lutherthums immer bewusst vorgeschwebt habe oder allezeit in praxi gelungen sei, behaupte ich nicht. Was ich als den socialethischen Charakter lutherisch-kirchlicher Gesinnung zu zeichnen versucht habe, ist nur das mir vorschwebende Ideal evangelischen Christenthums, wie es meiner Ansicht nach in den lutherischen Principien überall die Anknüpfungspunkte und wahren Grundlagen zu finden vermag. Es wird mit eine Hauptaufgabe der mir vorliegenden ethischen Arbeit sein, diese Ideen in dem System der Socialethik durchzuführen und dadurch den Gegnern die Ueberzeugung nahe zu bringen, dass, was sie als confessionellen Parteistandpunkt zu charakterisiren und als engherziges dogmatisches Lutherthum zu brandmarken pflegen, in moralischer Hinsicht jedenfalls von höchster Bedeutung und Tragweite ist. In dem Maasse, als es gelingt, die innere sittliche Wahrheit, die ethische Consequenz und Geschlossenheit sowie die wesentliche Freiheitstendenz der verschrieenen ,lutherischen‘ Anschauungsweise darzulegen, wird sich dieselbe als die wahrhaft evangelische, ja eben deshalb als die christlich-öcumenische Weltansicht entpuppen und vielleicht auch in den Augen des erbitterten Gegners Gnade finden. (1874c, 208f; vgl. 1873a, 238f).
Wie der erste Teil des Doppelwerkes, so besteht auch Die christliche Sittenlehre aus dem Jahr 1873 aus zwei Büchern, denen ein „Einleitendes Vorwort“ (ca. 45 S.) vorangeht und die in einem Band erscheinen: „Erstes Buch. Allgemeine Grundlegung zur christlichen Sittenlehre als Rechtfertigung einer Socialethik“ (ca. 340 S.) und „Zweites Buch. Abriss des Systems christlicher Sittenlehre als Entwurf einer Socialethik“ (ca. 355 S.). Zusammen mit dem Sachregister, einer Inhaltsübersicht und einer detaillierten Inhaltsangabe umfasst der zweite Teil fast 800 Seiten. Somit ist die sechs bzw. fünf Jahre andauernde Herausgabe von Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage abgeschlossen. Schon angesichts des Umfanges von ca. 2000 Seiten und dem Aufwand des Zusammentragens der statistischen Daten aus ganz Europa, aber auch des für einen Theologen ungewöhnlichen Terrains, ist es nicht allzu verwunderlich, dass der erst 46-Jährige von Oettingen dieses Werk schon als seine „Lebensarbeit“ bezeichnet. Darin kommt die Bedeutung, die er diesem Werk selbst zuspricht, klar zum Ausdruck.
6.2.6 Die Auseinandersetzung mit dem Soziologen Paul von Lilienfeld (1873–1874) Erwähnt werden darf noch die Auseinandersetzung zwischen von Oettingen und Paul von Lilienfeld (1829–1903), einem deutsch-baltischen Soziologen und Staatsmann des kaiserlichen Russlands, dem späteren Präsidenten des Institut
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International de Sociologie in Paris. Auf die Bitte der Zeitschrift Baltische Monatsschrift hin bespricht von Oettingen als jemand, der „seit Jahren […] in verwandter Sphäre“ arbeitet (1873b, 27), von Lilienfelds fünfbändiges Hauptwerk Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft (1873–1881) bzw. dessen im Jahr 1873 anonym erschienenen ersten Teil Die menschliche Gesellschaft als realer Organismus. Er schreibt dies unter dem Titel „Die neuesten ,Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft‘“ (1873b, ca. 20 S.). Damit beginnt eine prinzipielle und scharfe Debatte zwischen beiden.20 6.2.7 Die zweite Auflage der Moralstatistik (1874) Zuletzt ist im Rahmen der zweiten Phase noch Die Moralstatistik in ihrer zweiten und gründlich überarbeiteten Auflage (1874d) zu nennen. Diese Auflage erscheint in Gestalt eines eigenständigen, im Umfang stark reduzierten Buches. Der Titel lautet Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine christliche Socialethik. Im Zuge der Umgestaltung sind die ursprüngliche Einleitung und die erste grundlegende Hälfte („Geschichtliches und Methodologisches“) um das siebenfache verkürzt worden. Jetzt folgt einer „Einleitung“ (ca. 45 S.), in die auch die geschichtlichen und methodischen Aspekte aufgenommen sind, die Analyse des erneuerten und erweiterten statistischen Materials. Ein äußeres Signal dafür, dass von Oettingen selbst die 2. Auflage, sowie später die 3. Auflage, nicht als Ausdruck einer prinzipiellen Änderung seines anfänglichen Anliegens bzw. als eine Selbstkorrektur mit Blick auf die Bedeutung der (Moral-)Statistik für die (Sozial-)Ethik verstanden hat – contra Pawlas u. a.21 –, ist, dass die der Analyse folgende „Schlusserörterung“ (ca. 50 S.) in den Auflagen von 1868, 1874 und 1882 textidentisch geblieben ist. Auch der veränderte Titel der Neuauflagen drückt keine derartige Selbstrevision aus, sondern nimmt die Überschrift seines ersten Aufsatzes über die Moralstatistik aus dem Jahr 1867 wieder auf. Die inhaltlichen Änderungen betreffen also nicht die Grundkonzeption, sondern vor allem das Heranziehen und die Analyse neuer Daten. Wenn z. B. in der 1. Auflage u. a. die Daten bezüglich der Notjahre 1846/1847 und 1852/1853, sowie die des europäischen Revolutionsjahres 1848 analysiert werden, so kommen in der 2. Auflage die Betrachtung der sozialethischen Folgen der Kriegsjahre (1866 und 1870/1871) und in der 3. Auflage die des sog. Kultur20 Anderthalb Jahre später reagiert von Lilienfeld mit einer „Erwiderung auf die […] Kritik des Herrn Professors der Theologie Alexander von Oettingen“ (von Lilienfeld, Kritik). Der Erwiderung folgt von Oettingens Antwort als eine „Zuschrift an die geehrte Redaction“ (1874e). Von Lilienfeld kontert erneut mit einer „Erwiderung auf die […] Zuschrift“ (von Lilienfeld, Zuschrift). 21 Vgl. oben Kap. 2.
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Dritte Phase: zwischen den Hauptwerken (1874–1894)
kampfes in Deutschland hinzu. In den späteren Auflagen wird der theoretische Teil knapp gehalten und der Fokus liegt stets aktualisierend auf der Analyse der statistischen Daten. Der zusammenfassenden Schlusserörterung, in der auch die Bedeutung der Analyse für die Ethik besprochen wird, widerfahren keine Modifikationen. Auch deshalb kann die 2. Auflage noch zur zweiten Phase gezählt werden.
7.
Dritte Phase: zwischen den Hauptwerken (1874–1894)
Mit der Fertigstellung seines großen zweiteiligen ersten Hauptwerkes und der separaten Neuausgabe dessen ersten Teils, die zweifellos einen ersten Höhepunkt seines Gesamtwerkes darstellt, beginnt eine ca. zwanzig Jahre andauernde Periode. Von Oettingen bearbeitet mehrere verschiedene Fragestellungen und Themen und veröffentlicht eine Reihe verschiedenartiger Schriften. Um der Übersichtlichkeit willen sind bei der näheren Beschreibung dieser Phase chronologische und thematische Gesichtspunkte kombiniert.
7.1
Arbeiten zu den ethischen, soziologischen und sozialethischen Themen
7.1.1 Besprechungen der neuen soziologischen und ethischen Werke (1873–1882) Zwei Gruppen von Arbeiten sind ethischen, soziologischen und sozialethischen Themen gewidmet. Eine erste Gruppe bilden Besprechungen der neuen soziologischen und ethischen Werke. Von Oettingens Schriften, besonders die Aufsätze, werden oftmals durch Veröffentlichungen mit veranlasst. Insofern haben sie den Charakter einer direkten Auseinandersetzung, anders gesagt: Seine Schriften verdeutlichen gut, dass er sich, auch auf dem Schriftweg, an einem größeren, öffentlichen Gespräch beteiligt. Zu ethischer bzw. zu daran angrenzender Literatur hat er für Zeitschriften Rezensionen in den schon geschilderten Jahren 1864 bis 1866 (in der DZ) und zwischen den Jahren 1873 und 1882 geschrieben. Nach der Besprechung des ersten Teils des Werkes von Lilienfelds im Jahr 1873, die oben erwähnt wurde, bespricht er ab 1876 mehrere Bücher. Diese Texte erscheinen vor allem in der Theologischen Literaturzeitung, die in demselben Jahr von Emil Schürer und Adolf Harnack, einem ehemaligen Schüler von Oettingens, gegründet wurde. Zum Beispiel rezensiert er das im Zusammenhang mit dem sog. Kulturkampf entstandende Werk Das deutsche Reich und die kirchliche Frage (1876) von
Arbeiten zu den ethischen, soziologischen und sozialethischen Themen
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Constantin Rössler (1820–1896), einem in den Staatswissenschaften habilitierten Publizisten und preußischen Staatsmann. Die irrtümliche Grundvoraussetzung des Buches liegt von Oettingen zufolge in der Bestimmung der Kirche als Teiles der „Staatsfunktion“ (1876e, 543). Des Weiteren bespricht er den ersten Band des vierbändigen Hauptwerkes Bau und Leben des socialen Körpers. Encyclopädischer Entwurf einer realen Anatomie, Physiologie und Psychologie der menschlichen Gesellschaft mit besonderer Rücksicht auf die Volkswirtschaft als socialen Stoffwechsel (1875–1878) des Wirtschaftwissenschaftlers, Soziologen und Publizisten Albert Schäffle (1831–1903), sowie den zweiten Teil des Werkes Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft von Lilienfelds, der den Titel Die socialen Gesetze (1875) trägt. Er rezensiert eine Schrift von Adolf Heuermann (1839–?) – Die Bedeutung der Statistik für die Ethik (1876) – und auch Schäffles Werkes zweiten Teil Das Gesetz der socialen Entwickelung (1878). In einer Sammelrezension zur neueren ethischen Literatur (1879b, 1879c) vermittelt von Oettingen einen Überblick über die Entwicklungen auf dem Gebiet der ethischen Arbeit und bespricht die vier jüngsten Erscheinungen unter Einbeziehung weiterer Literatur. Zum einen nimmt er Bezug auf das Werk Phänomenologie des ethischen Bewusstseins. Prolegomena zu jeder künftigen Ethik (1879) des Philosophen Eduard Hartmann (1842–1906), den er als einen „typische[n] Repräsentant[en] des modernen atheistischen Weltgeistes“ wahrnimmt (1879b, 125). Als zweites berücksichtigt er den Grundriß der christlichen Ethik (1878) von Johann Peter Lange (1802–1884). Er bewertet diese Schrift als beispielhaft für die Tätigkeit „im Lager der Vermittelungstheologie oder des Protestantenvereins“ auf dem Gebiet der Ethik, wo seit Richard Rothes (1799– 1867) Werk Theologische Ethik (1845–1848) wenig Nennenswertes geschehen sei (ibid.). Im Unterschied zur bedürftigen Lage der Ethik in der Sphäre der modernen Vermittlungstheologie, die sich durch Langes Werk nicht verbessere, sei „auf lutherisch-kirchlichem Gebiete […] eine staunenswerthe Regsamkeit und ethische Zeugungskraft“ zu beobachten (ibid., 127). So werden „aus dem Kreise der lutherischen Theologie“ zwei neue „höchst bedeutende Werke“ (ibid.) vorgestellt und diskutiert: Die Christliche Ethik. Spezieller Theil (1878) des dänischen Theologen und Primas der dänischen lutherischen Volkskirche Hans Lassen Martensen (1808–1884) und die postum veröffentlichten Vorlesungen von Hofmanns über die Theologische Ethik (1878). Die letzte Rezension ist wieder dem Werk von Lilienfelds, dem fünften abschließenden Teil Die Religion, betrachtet vom Standpunkte der real-genetischen Socialwissenschaft, oder Versuch einer natürlichen Theologie (1881), gewidmet.
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Dritte Phase: zwischen den Hauptwerken (1874–1894)
7.1.2 Zeitbetrachtungen (1881–1893) Eine zweite Gruppe bilden die Schriften, die zum Teil an einen breiten Leserkreis gerichtet und zwischen 1881 und 1893 entstanden sind. In ihnen wird anhand einiger aktueller sozialethischer Einzelfragen eine Gegenwarts- bzw. Gesellschaftsdiagnostik und -deutung betrieben, Orientierungshilfe dargeboten und Vorschläge für eine verantwortbare Praxis angedeutet. Sie tragen Überschriften wie beispielsweise: Obligatorische und fakultative Civilehe nach den Ergebnissen der Moralstatistik (1881a),1 Über chronischen und akuten Selbstmord (1881b, ca. 85 S.),2 „Über die methodische Erhebung und Beurtheilung kriminalstatistischer Daten“ (1881d, ca. 20 S.) – ein für die Zeitschrift für die gesammte Strafrechtswissenschaft geschriebener Aufsatz – und „Bildung und Sittlichkeit“ (1883b, ca. 20 S.).3 Auch das wenig umfangreiche, aber wichtige Buch Was heißt christlich-social? (1886 g, ca. 85 S.) kann hierzu gezählt werden.4 Es enthält eine Analyse und prinzipiell-zurückweisende Kritik der sog. christlich-sozialen Politik von Adolf Stoecker (1835–1909),5 insbesondere seiner Auffassung des 1 Ab 1876 (aufgrund eines entsprechenden Gesetzes vom 2. Februar 1875) gilt im Deutschen Reich die Zivilehe als obligatorisch, d. h. nur die standesamtlich geschlossenen Ehen werden staatlicherseits als solche anerkannt. Diese Regelung hat heftigen Widerstand hervorgerufen. Die aus einem öffentlichen Vortrag zum Thema (das vom Stadtverein für Innere Mission in Bremen vorgegeben war) entstandene Schrift beleuchtet anhand des statistischen Materials die Frage, welche Wirkung die obligatorische Zivilehe auf das religiös-sittliche Leben der Bevölkerung ausübt und wie „die Aufgabe christlicher Missions- und Liebestätigkeit“ mit Blick auf die ungetrauten Ehen und nichtgetauften Kinder bestimmt werden soll (vgl. 1881a, 2). Von Oettingen, der schon in einer früheren Schrift (1876a) die kirchenpolitischen Maigesetze der Jahre 1873–1875 in Preußen und im Deutschen Kaiserreich insofern generell für gerechtfertigt gehalten hat – und ihm deshalb, wie er selber konstatiert, „von streng kirchlicher“ bzw. „konservativ kirchlicher Seite“ (1881a, 3) eine scharfe Kritik zuteilgeworden war –, als dass er darin eine zu befürwortende Reduktion der Abhängigkeit der Kirche vom Staat erkannte, stellt sich auch in dieser speziellen Frage gegen die konservativen Gegner der obligatorischen Zivilehe. In einem grundsätzlichen Sinn geht es also um das Verhältnis von Staat und Kirche, wobei auch die Notwendigkeit bzw. die Leistungsfähigkeit und das Recht der Statistik exemplarisch zum Ausdruck kommen. 2 Auch hier wird die Statistik für die Beurteilung des „Selbstmordes“, verstanden sowohl im üblichen Sinn als auch in einem erweiterten metaphorischen Sinn, verwendet. Die Behandlung dieses Themas in der 3. Auflage des Werkes Die Moralstatistik ist ein wiederholter Bezugspunkt in dem diesbezüglichen Klassiker von Durkheim aus dem Jahr 1897 (vgl. Durkheim, Suicide). 3 Der Inhalt der Schriften aus dem Jahr 1881 wird teilweise in der hinsichtlich des statistischen Materials grundlegend erneuerten 3. Auflage der Untersuchung Die Moralstatistik, die von Oettingen um diese Zeit vorbereitet, verwendet. Aber auch „Bildung und Sittlichkeit“, das die lebhaft diskutierte Frage, ob die Verbesserung der Volksbildung eine Verbesserung der Sittlichkeit des Volkes mit sich bringt oder nicht, behandelt, verwendet statistische Daten. Zwar geht es um Bildung und Sittlichkeit, aber doch auch um Sittlichkeit und Religion. 4 Vgl. oben Kap. 3. 5 In einer Bemerkung lehnt er strikt und explizit den Antisemitismus Stöckers ab (vgl. 1886 g, 5f). Dies ist insofern bemerkenswert, als dass die kirchlich-theologischen Strömungen und
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Verhältnisses von Kirche und Staat, von Religion und Politik. Trotz dessen werden Stoeckers Leistungen auf dem Gebiet der sog. Inneren Mission mit Nachdruck anerkannt. Des Weiteren ist der Aufsatz „J.H. Wicherns Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit“ (1888a, ca. 25 S.) zu nennen. In ihr wird mit Hochachtung und Bewunderung an Johann Hinrich Wichern (1808–1881), den „Bahnbrecher für das Werk der ,Inneren Mission‘“ (ibid., 27) und „[d]e[n] größte[n] christliche[n] Philanthrop[en] des modernen Deutschlands“ (die Bezeichnung ist aus einem Nekrolog übernommen) (ibid., 48) erinnert. Jedoch wird seine Tätigkeit auch kritisch-prinzipiell gewürdigt und „die Fehler seiner Anschauungsweise […] in Hinsicht der Tragweite der sogenannten ,inneren Mission‘ für die Hebung der socialen Nothstände“ offengelegt (ibid., 49). Ebenso gehören hierher die Schriften Zur Duellfrage (1889b, ca. 110 S.), Zur Theorie und Praxis des Heiratens (1892a, ca. 60 S.),6 Die Diakonissenfrage. Ein Beitrag zur Beurtheilung der „christlichen Liebesthätigkeit“ (1894a, ca. 40 S.),7 worin er vor allem das Verhältnis von Natur und Gnade, von Gottesliebe und Nächstenliebe, von sog. Reichgottesarbeit und weltlicher Berufsarbeit diskutiert, um Gesichtspunkte zur Orientierung und Urteilsbildung in der Kontroverse um die sog. christliche Liebestätigkeit anzubieten.
Milieus, zu denen von Oettingen oftmals gezählt wurde, häufig mit einer antisemitischen Haltung assoziiert werden. Vorsichtig kann man also formulieren, dass das Beispiel von Oettingens zeigt, dass die sich selbst als kirchlich-konfessionell verstehende breite und bunte Strömung der lutherischen Theologie des 19. Jh. keineswegs in all ihren Spielarten eine innere und notwendige Affinität zum Antisemitismus besitzt. 6 In dieser auch theologisch interessanten Schrift, anhand derer sich die Arbeitsweise von Oettingens gut beobachten lässt, wird zunächst das Problem und die Methode seiner Behandlung besprochen (1892a, 1–14), dann die verschiedenen Ehetheorien beleuchtet (ibid., 15–30) und zuletzt aus der sozialethischen und sozialpolitischen Perspektive die Praxis des Heiratens behandelt. Der zunächst in der Zeitschrift Socialpolitische Rundschau: Monatsschrift für die Geschichte und Kritik der socialen Bewegung (1891–92 in Leipzig vom Richter Verlag herausgegeben) als Aufsatzreihe erschienene Text, der aus einer Vortragsreihe im Zuge der Debatten um die Stellung der Frauen hervorgegangen ist, will eine erste Orientierunghilfe bieten und Interesse an der Frage wecken. In Aussicht wird eine Monographie gestellt, in der die Frage des Heiratens als eine soziale Kernfrage – es ist also nicht nur eine private Angelegenheit, sondern von grundlegender sozialer Relevanz – gründlicher erörtert werden soll. Diese ist jedoch nie zustande gekommen. 7 So der Titel des Separatabdruckes eines zweiteiligen Aufsatzes, der Ende des Jahres 1893 in der Zeitschrift Mittheilungen und Nachrichten für die evangelische Kirche in Rußland (MN) erschienen ist. Die sog. Diakonissenfrage ist seit Anfang der 1890er Jahre in der livländischen Synode wiederholt beraten worden und wurde auch darüber hinaus zu einem lebhaft debatierten Thema. Anfang 1895 erscheinen unter der Überschrift Noch einmal die Diakonissenfrage. Ein Wort zur Verständigung (1895a) in separat zusammengestellter Form weitere Texte, die von Oettingen 1894 veröffentlicht hatte. Da jene Voten die frühere Stellungnahme nur noch ergänzen bzw. erklären, können auch diese thematisch noch zur dritten Periode gezählt werden.
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Dritte Phase: zwischen den Hauptwerken (1874–1894)
Schriften mit dogmatischem Schwerpunkt
Obwohl es für alle genannten Arbeiten von Oettingens charakteristisch ist, dass die religiöse (Tiefen-)Dimension der Fragestellungen bzw. ihre dogmatische Relevanz entweder ausführlicher ausgearbeitet oder jedenfalls angedeutet wird, steht in einer zweiten Gruppe von Arbeiten das Dogmatische mehr im Vordergrund. Auch diese gehen jedoch der grundlegenden (sozial-)ethischen Bedeutung der Themen nach oder verfolgen sogar deren Konsequenzen bis in die politische oder kirchliche Praxis hinein und verdeutlichen diese. Diese mehr fundamentaltheologische bzw. dogmatische Gruppe lässt sich ebenfalls thematisch untergliedern. In einem Teil der Schriften wird der Begriff „Autorität“ bzw. das Verhältnis von Autorität und Glaube, also letztendlich der Ursprung und der Gegenstand des Glaubens, thematisiert – die anderen orientieren sich am Begriff „Reich Gottes“.8
7.2.1 Autorität und Glaube 7.2.1.1 Der Unfehlbarkeitsdoktrin vom Standpunkt evangelischer Glaubensgewissheit (1876) Ausgehend von zwei kleineren Studien aus dem Jahr 1875, zum einen über die Gewissheit des Glaubens und zum anderen über Inspiration und Infallibilismus, entsteht eine der theologisch wichtigsten Arbeiten von Oettingens. Der sog. Kulturkampf und die damit verbundenen Diskussionen bilden den Hintergrund dafür. Das Werk trägt den Titel Antiultramontana. Kritische Beleuchtung der Unfehlbarkeitsdoktrin vom Standpunkt evangelischer Glaubensgewißheit. Ein Beitrag zur Beurtheilung der konfessionellen und kirchenpolitischen Kämpfe der Gegenwart (1876a, ca. 160 S.). Die Schrift ist von fundamental-theologischer, aber auch von so etwas wie politisch-theologischer Natur. Es geht darin ganz grundsätzlich um differente Glaubensverständnisse und um die Klärung des Unterschiedes zwischen evangelischer und hierarchischer Autorität. Evangelisch verstanden habe der Glaube den Charakter von „Gewißheit“, welche im Gegensatz sowohl zur (dogmatistischen) „Sicherheit“ und zur (hierarchischen) „Unfehlbarkeit“ – die als Formen des Ultramontanismus verstanden werden können – als auch zum Skeptizismus steht. Obwohl deutlich das Vaticanum I den Hintergrund liefert, will die Abhandlung ausdrücklich 8 Nicht in diese Gruppierung gehört eine ausführliche und in mehrfacher Hinsicht interessante Rezension, die im Jahr 1876 in ThLZ erschienen ist. Sie ist die einzige Rezension einer dogmatischen Gesamtdarstellung aus der Hand von Oettingens. Ihren Gegenstand bildet Die lutherische Dogmatik, historisch-genetisch dargestellt, 2 Bd. (2. umgearb. Aufl., 1874–1875) von Karl Friedrich August Kahnis (1814–1888).
Schriften mit dogmatischem Schwerpunkt
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keine antirömische Polemik, sondern eine sachliche Klärung und Explikation sein. Damit richtet sie sich unvermeidlich genauso gegen die objektivistischen bzw. dogmatistischen „Ultramontanisten“ innerhalb der evangelischen Theologie. Sowohl die römisch-katholische Infallibilitätslehre als auch der hierarchische Dogmatismus der „protestantischen Orthodoxie“ stehen von Oettingen zufolge im Widerspruch zum evangelischen Prinzip. Es wird gezeigt, wie eine solche Auffassung des Glaubens prinzipielle Konsequenzen für das Verstehen der Lehrdifferenzen der Konfessionen, sowie für das Verstehen des Verhältnisses von Kirche und Staat hat, und wie dadurch Orientierungsmöglichkeiten für die Beurteilung der Streitfragen der Gegenwart sichtbar werden. Indirekt wird somit auch die Relevanz der kirchlichen Lehre bzw. des kirchlichen Bekenntnisses für den Umgang mit den Herausforderungen der Gegenwart und für das Zusammenleben hervorgehoben. Von Oettingen, der vom evangelischen Glaubensverständnis her sowohl das Staatskirchentum als auch das Kirchenstaatstum, wie sie auch immer motiviert sein mögen, zurückweist, und die sog. Maigesetze prinzipiell, obwohl mit Vorbehalt, begrüßt, hat wegen dieser Schrift scharfe „konservativ kirchliche“ Kritik einstecken müssen. Doch stand er auch quer zu den programmatisch konfessionsfreien bzw. antikonfessionellen Positionen, die sich auf nationaler Basis eine einheitliche protestantische Staatskirche zum Ziel gesetzt hatten.9 7.2.1.2 Zur Inspirationsfrage (1877) 1877 veröffentlicht von Oettingen einen bedeutsamen Beitrag „Zur Inspirationsfrage“ (ca. 45 S.).10 Es geht darin ganz grundsätzlich um das Schriftver9 Vgl. z. B. die oben erwähnte Rezension von Oettingens über das Buch von Constantin Rössler aus dem Jahr 1876, der sich für eine einheitliche nationale Staatskirche ausgeprochen hat. Nach Fr.-W. Graf stehen seit 1870/1871 bzw. im Deutschen Kaiserreich die tiefgreifenden Gegensätze zwischen den „liberalen Geschichtstheologen“ und den „konservativen Kirchentheologen“ im Zentrum fachtheologischer Debatten. Diese Debatten sind Graf zufolge eng verknüpft mit den kirchenpolitischen Kämpfen und haben zugleich eine wichtige gesellschaftspolitische Dimension, weil die Religion im Kaiserreich eine zentrale „Deutungskultur“ dargestellt habe (Graf, Vorwort, 1992, 8–10). Im Gegensatz zu den protestantischen Liberalen hätten die Konservativen den Kulturkampf entschieden abgelehnt (vgl. Graf, Gesellschaft des Kaiserreichs, 47). 10 Dieser Beitrag gehört in den Zusammenhang des sog. Streites um die Heilige Schrift in den baltischen Provinzen, für den bes. die Jahre 1869, 1875–1877 und 1884–1887/88 von Relevanz sind. Ich nenne hier nur die wichtigsten Beiträge, die den Kontext zu diesem Beitrag von Oettingens bilden und deren Titel einen Eindruck der Problematik der Texte vermitteln. Im Hintergrund steht literarisch die Schrift „Das gottmenschliche Wort der Schrift“ des Pastors Carl Ludwig Kaehlbrandt (1803–1888) (C. Kaehlbrandt, Das gottmenschliche Wort). Im Jahr 1876 erscheint die Schrift Antiultramontana von Oettingens, in die seine oben schon erwähnten Aufsätze aus dem Jahr 1875 eingegangen sind. Etwa gleichzeitig (1875–1876) hatte Pastor Paul Seeberg eine mehrteilige Abhandlung „Das Wort Gottes. Eine Revision der loci über Offenbarung, Inspiration, Schrift, Kanon“ veröffentlicht (P. Seeberg, Das Wort Gottes).
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ständnis und die Schrifthermeneutik. Die konstruktive Erörterung bezieht sich dabei auf die beiden von Oettingen zufolge diesbezüglich bedeutsamsten Grundoptionen neuerer Zeit – auf R. Rothe bzw. Fr. Schleiermacher einerseits und auf J. von Hofmann bzw. Christian August Crusius (1715–1775) andererseits. In der Antiultramontana und in den ihr vorangegangenenen Texten hatte er dieses Thema auch berührt und ausgehend von der christlichen Gewissheit die Infallibilitätsdoktrin kritisiert. Diese werde von der Sache her in einer orthodoxistischen bzw. dogmatistischen Gestalt auch bei den Protestanten vertreten. Sie verlange gesetzlich und hierarchisch eine ungeprüfte Anerkennung der geltenden Autoritäten und befördere dadurch eine gesetzliche Sicherheit, nicht jedoch eine lebendige Glaubensgewissheit. Die Verbreitung des Liberalismus und der mangelnde Respekt gegenüber der Schrift seien nicht zuletzt dadurch provoziert, dass ihre Autorität und Geltung in irreführender Weise behauptet wird und die „notwendige tiefe Wechselbeziehung“ zwischen dem Formal- und dem Materialprinzip bzw. der Schrift und dem Evangelium nicht berücksichtigt wird (vgl. 1877a, 443, 457). Er untersucht näher das Verhältnis und die Eigenarten von Inspiration, Heilsgeschichte, der Schrift und ihrer Autorität. Das Wort Gottes solle als Verkündigung des Evangeliums in der Christenheit lebendig sein, damit man zu einem erfahrungsgemäßen Verständnis der Heiligen Schrift als der lebendigen Autorität gelangt. Der Text besteht aus einer Einleitung (ibid., 433–444), einer Skizze der Entwicklung der Inspirationslehre seit der Reformation (ibid., 445–457) und aus drei Gruppen von systematischen Thesen samt Erläuterungen: „A. Glaube und Wort“, „B. Inspiration und Offenbarung“, „C. Schrift und Kanon“ (ibid., 458–466). 7.2.1.3 Wahre und falsche Autorität mit Bezug auf die gegenwärtigen Zeitverhältnisse (1878) Beschäftigt sich Antiultramontana ausgehend von der Glaubensgewissheit auch mit der Klärung der konfessionellen und kirchenpolitischen Verhältnisse und Der schon erwähnte Pastor Kaehlbrandt hielt bei einer Pastoralkonferenz im Januar 1877 einen Vortrag über von Oettingens Antiultramontana. Insb. die Ausführungen zu Bibel und Inspiration riefen eine lebhafte Diskussion hervor (vgl. Wendenschen, 189f). Etwa gleichzeitig veröffentlichte Pastor Franz Johann von Nerling (1835–1909) eine Aufsatzreihe „Ist es Herrn Pastor Seeberg wirklich gelungen, den Glauben an die Schrift als Gottes Wort fester und würdiger zu begründen, als die alte Inspirationslehre gethan?“ (von Nerling, Inspirationslehre). Auch Kaehlbrandt ergriff das Wort mit „Über das christliche Bewusstsein und die Wissenschaft mit Bezug auf die Stellung zur heil. Schrift“ (C. Kaehlbrandt, Bewusstsein). Beide, von Nerling und Kaehlbrandt, haben Seeberg scharf kritisiert und auch die Position von Oettingens als auf seiner Linie liegend wahrgenommen. In Zur Inspirationsfrage ist von Oettingen einerseits mit jener Identifizierung von seiner und Seebergs Position nicht einverstanden (vgl. 1877a, 457f), weist jedoch andererseits die Position Nehrings zurück und bemüht sich neben Klarstellung der eigenen Position auch um die Hervorhebung dieses Entscheidenden, was seines Erachtens alle gemeinsam bejahen.
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Zur Inspirationsfrage mit der Frage, was für den Glauben die lebendige Autorität ist, so behandelt eine weitere Schrift die Autoritätsfrage in einem umfassenderen Kontext gesellschaftlichen Zusammenlebens und geht dabei auch knapp deren Bedeutung in der Geschichte nach. Gemeint ist die auf zwei Vorträge zurückgehende Schrift Wahre und falsche Auctorität mit Beziehung auf die gegenwärtigen Zeitverhältnisse (1878a, ca. 70 S.). Die gegenwärtige Lage der Gesellschaft, die nach von Oettingen durch die Desintegration gefährdet ist, wird durch Überspitzung und Verzerrung des Autoritätsprinzips verursacht. Der Kirchenstaat und die Staatskirche als Leitvorstellungen und Ideale sind seiner Meinung nach große Irrtümer. Eine falsche Auffassung von Autorität haben laut von Oettingen sowohl diejenigen, die Autorität in einen Gegensatz zur Majorität oder Mehrheit (Demokratie) stellen – als beispielhaft dafür nennt er Friedrich Julius Stahl (1802–1861) –, als auch diejenigen, die die Mehrheit der Autorität entgegensetzen, wie z. B. der moderne Liberalismus. „Das protestantische Prinzip“ diene zur Vermeidung sowohl der Unter- als auch Überschätzung der Autorität (ibid., 19). Es ist jedoch entweder durch die einseitige Betonung der Schriftautorität oder durch die Transformation der Kirche (bzw. des Bekenntnisses oder Dogmas) mit Hilfe des Staates in eine gesetzliche Autorität gefährdet. Deshalb ist eine prinzipielle Klärung des Autoritätsbegriffs gerade auch für die Protestanten als solche und nicht nur als Kinder ihrer Zeit notwendig. Von Oettingen klärt den anhand des reformatorischen Glaubensverständnisses herausgearbeiteten Autoritätsbegriff, wendet ihn auf die verschiedenen Sphären gesellschaftlichen Lebens an, d. h. er zeigt dessen Bedeutung für das Zusammenleben (so sensibilisiert er indirekt auch für die Relevanz des Glaubens in Bezug auf das Zusammenleben), und erörtert zuletzt die Frage nach Bedeutung und Autorität der Bibel für den christlichen Glauben. Die Pointe ist dabei folgende: [D]e[n] negativen Zeitströmungen gegenüber oder im Angesicht[e] des ehrlichen Zweiflers [werden wir] nie auf die äußere Auctorität der Bibel pochen […]. Auch ist es nicht die Auctorität der Kirche oder das Ansehen der Priester und ,Schriftgelehrten‘, welche uns zum Glauben an ihren Inhalt nöthigt und berechtigt. Vielmehr soll und wird aus dem mächtigen Geistesinhalt heraus ihr Ansehen stets von Neuem sich erweisen und an dem Gewissen erproben müssen. Gerade die Reformatoren und Luther obenan waren es, welche gegenüber dem blos hierarchischen oder kirchlichen Machtspruch an jenes innere Zeugniß des Geistes appellierten und auf Christum, den Kern und Stern der Schrift, sich beriefen. Denn nur die Schriften, die ,Christum treiben‘ gelten ihm als Gottes Wort, es sage es sonst Paulus und Petrus oder Herodes und Caiphas. (Ibid., 65f).
7.2.1.4 Das Wort Gottes als kirchliches Gnadenmittel (1887) Behandeln die oben genannten Beiträge die Bedeutung des Glaubensverständnisses für die Auffassung des Verhältnisses zwischen christlicher Religion,
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Dritte Phase: zwischen den Hauptwerken (1874–1894)
Kirche und Staat und den entscheidenden Bezugspunkt des Glaubens – die Relevanz der Art des Autoritätsverständnisses – mit Schwerpunkt auf dem wahren Charakter der Schriftautorität und auf ihrer Bedeutung für das Zusammenleben, so geht es einige Jahre später um das Wort Gottes als kirchliches Gnadenmittel und um die Entstehung des Glaubens. Im Jahr 1887 erscheint in der MN eine wichtige und thematisch komplexe Abhandlung, die in separater Erscheinungsform den Titel Die Lehre von den Gnadenmitteln mit Beziehung auf Gebet und Wort Gottes trägt (1887b, ca. 40 S.).11 Sie gehört in den Zusammenhang des Streites um die Heilige Schrift, für die die schon erwähnten Jahre 1869 und 1875–1877 relevant waren. Dieser Streit entzündete sich im Anschluss an die im Jahr 1884 in der Aula der Universität gehaltenen öffentlichen Vorträge der Tartuer Exegeten Ferdinand Mühlau (1839–1914) und W. Volck erneut.12 Dieser Auseinandersetzung können auch die Jahre 1884–1887/8 aufgrund einer Reihe von Aufsätzen und Schriften verschiedener Autoren, u. a. von Theodosius Harnack und vom Rostocker Theologieprofessor August Wilhelm Dieckhoff (1823–1894) zugerechnet werden.13 Im Hauptteil der Schrift bespricht von Oettingen nach einer Vorbemerkung 11 Dieser Text ist eine Reaktion auf eine Schrift des Pastors Guido Pingoud (1851–1914) aus St. Petersburg (der später als Generalsuperintendent im St. Petersburger Konsistorium tätig wurde) (vgl. Pingoud, Gebet). Pingoud hatte 1886 den Aufsatz „Die altdogmatische und die Hofmannsche Lehre von der heiligen Schrift“ veröffentlicht (vgl. Pingoud, Schrift) und hatte in dessen Anhang (vgl. Pingoud, Wort Gottes) die Thesen der jährlichen Dorpater JanuarKonferenz über das Wort Gottes als kirchliches Gnadenmittel in deren Vorlageform kritisiert (vgl. Dorpater, 84–87). Von Oettingen hatte die zwölf Thesen in ihrer Vorlageform formuliert. Sie wurden auf der Konferenz gründlich diskutiert und in einer etwas modifizierten Form fast einstimmig von den Vetretern der theologischen Fakultät und der Pastoren als Ausdruck des gemeinsames Verständnisses zur Sache angenommen. (Zum Hauptproblem dieser Thesen aus dem Blickwinkel ihres Gegners vgl. von Nerling, Dorpater Januar-Conferenz.) Von Oettingen hatte auf Pingoud nicht reagiert. Als Pingoud jedoch auch die Thesen der Januar-Konferenz des folgenden Jahres (die dieses Mal von Reinhold Seeberg aufgestellt, auf der Konferenz diskutiert und auch angenommen worden waren) wiederum in deren Vorlageform – ohne also deren Veröffentlichung abzuwarten – scharf kritisiert, ergreift von Oettingen das Wort. Er kommentiert die Kritik gegen Seeberg und konzentriert sich dann auf die Einwände gegen die Konferenzthesen von 1886 und auf eine konstruktive Behandlung der Sreitfrage (1887a, 196–224). 12 Hier ist vor allem Pastor Nikolai von Nolcken (1830–1913) zu nennen, der in einem umfangreichen Vortrag die Tartuer Theologische Fakultät scharf angreift (vgl. von Nolcken, Inspirationstheorie). 13 Hierzu gehören z. B. Th. Harnack, Ueber den Kanon und die Inspiration der heil. Schrift. Ein Wort zum Frieden (vgl. Th. Harnack, Kanon), N. von Nolcken, „Zur Hermeneutik v. Hofmanns“ (vgl. von Nolcken, Hermeneutik), F. J. von Nerlings Anzeige von Dieckhoffs Schrift aus dem Jahr 1888 Das Wort Gottes. Gegen Dr. Volck und Dr. von Oettingen (vgl. von Nerling, Das Wort Gottes). Dieckhoff hatte sich schon zwei Jahre zuvor in einer kleinen Schrift Das gepredigte Wort und die heilige Schrift (vgl. Dieckhoff, Wort) gegen die auf von Oettingen zurückgehenden, aber mit großer Mehrheit auf der Januar-Konferenz von 1886 angenommenen Thesen, ausgesprochen.
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zum Verhältnis von wissenschaftlicher Theologie und kirchlicher Praxis (1887a, 198–201) die drei Themenkomplexe, die in umgekehrter Reihenfolge 1886 als Konferenz-Thesen behandelt worden waren: Die Schrift und der persönliche Glaube (ibid., 201–209), die Schrift und die Kirche (ibid., 209–216), die Offenbarung und die Schrift (ibid., 216–224). Auch hier wird die aus der zweiten Periode von Oettingens bekannte tripolare Struktur ersichtlich. Schließlich weist er von der Rechtfertigungslehre ausgehend darauf hin, dass die dogmatischen Formeln nicht verabsolutiert werden dürfen, sondern dass die Grundvoraussetzung aller Verständigung der Glaube selbst ist: Wenn nur ,in necessariis unitas‘ herrscht, indem Einen, was Noth thut, in dem rechtfertigenden Glauben an den gottmenschlichen Herrn und Heiland, unsern einigen Versöhner, wie er in der Schrift uns lebensvoll bezeugt, in der Kirche freudig bekannt und in dem Herzen der Wiedergeborenen als der einige Hort und Trost unserer Seele erfahren wird: dann wird aus dem Glauben auch jene Liebe sich ergeben, welche allüberall die Brücke der Verständigung bilden muß. In omnibus caritas. Nur Liebe hat Verständniß. (1887a, 224).
Auf einen weiteren Gegenartikel von Pingoud14 antwortet er mit „In verbis simus faciles“, das als ein „Wort zum Frieden“ gedacht ist. Von Oettingen ist nicht bereit „den Gegensatz […] in der theologischen Auffassungsweise der obschwebenden Fragen […] zu einem Gesinnungs- und Glaubensgegensatz auf[zu]bauschen“ (1887c, 411) und macht Vorschläge, wie man mit differierenden Ansichten umgehen sollte, um zu einem verantwortlichen Frieden im Unterschied zum faulen Kompromiss zu gelangen. Er formuliert knapp und in prägnanter Form, was die necessaria hinsichtlich der drei Punkte sind – und in welchen bei den „Evangelischen in den baltischen Landen und im weiten russischen Reiche“ nach seinem Urteil unitas herrscht – und gibt den dubia eine solche Gestalt, dass er zeigen kann, unter welchen Voraussetzungen auf sie mit „Ja“ und unter welchen mit „Nein“ geantwortet werden kann (ibid., 414). Diese necessaria entsprechen ihm zufolge dem Personal-, Kirchen- und Schriftprinzip der evangelisch-lutherischen Theologie bzw. der „theologia crucis im Sinne Luthers“ (1887c, 414).
7.2.2 Reich Gottes und Eschatologie (die 1880er) 7.2.2.1 Zwei Thesenreihen und Luthers Lehre vom Reich Gottes (1880–1881, 1883) Die zweite Gruppe hier zu nennender Schriften gehört in die 1880er Jahre. Sie konzentriert sich stärker auf den Begriff „Reich Gottes“ und ist zugleich cha14 Pingoud, Litera scripta manet.
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rakterisiert durch eine stärkere, jedoch mehr oder weniger explizite eschatologische Dimension. Es sind zunächst die zwei für die Tartuer Januar-Konferenzen aufgestellten Thesenreihen „Die Verkündigung des Reiches Gottes in ihrer Bedeutung für kirchliches Leben und Lehren“ (1880a) und „Wahres und weltförmiges Christenthum“ (1881e) zu nennen. Letztere beleuchtet den Weltbegriff, wobei die Bedeutung der Eschatologie für die Wahrnehmung der Welt hervorgehoben wird. Im Jahr 1883 erscheint in der Leipziger Allgemeinen Evangelisch Lutherischen Kirchenzeitung eine Festnummer zum 400. Geburtstag von Martin Luther, in der jeweils drei Beiträge von Professoren aus Leipzig (Kahnis, Delitzsch, Luthardt) und Tartu (Hoerschelmann, Th. Harnack, von Oettingen), sowie jeweils ein Beitrag von Professoren aus Rostock (Schulze), Erlangen (Zezschwitz) und Tübingen (Kübel) stammen. Von Oettingen schreibt eine Zusammenfassung mit dem Titel „Luther’s Lehre vom Reich Gottes in ihrer prinzipiellen Bedeutung für seine gesammte Glaubens- und Sittenlehre“. Er weist darin die Ansicht als grundfalsch zurück – egal ob sie als Vorwurf oder als Lob verstanden wird –, dass die Reformation Luthers „im Gegensatz gegen die papistische Knechtung der Gewissen den Christen […] auf seinen persönlich erfahrenen und errungenen Glauben gestellt“ hat und dass „ein Zug des Subjektivismus durch die protestantische Doktrin“ geht (1883c, 14). Doch die Berufung auf die Schrift und auf „die Bindung des Gewissens in Gottes Wort“ reicht seiner Meinung nach als Grund für die Zurückweisung des Subjektivismus nicht aus. Von Oettingen skizziert vielmehr, wie „Luther’s ganze Glaubens- und Gnadenlehre […] in seiner Reichsidee“ wurzelt und gerade auch „seine gesammte Sittenlehre“ nur dann richtig verstanden werden kann, wenn sie als „Reichsethik“ aufgefasst wird (ibid.). 7.2.2.2 Christliche Religionslehre auf reichsgeschichtlicher Grundlage (1885–1886) In der Mitte des Jahrzehnts erscheint das umfangreiche Handbuch Christliche Religionslehre auf reichsgeschichtlicher Grundlage in zwei Bänden (1885a, 1886a, insg. ca. 475 S.) für den höheren Religionsunterricht in der Schule. Aus didaktischen Gründen ist das Ziel von Oettingens eine allgemeinverständliche Gesamtdarstellung der biblisch-christlichen Weltanschauung, die mit einem Überblick sowohl über den Inhalt der Bibel als auch über den Gang der Kirchengeschichte kombiniert ist. Dabei dient der Begriff des Reiches Gottes bzw. die Geschichte des Reiches Gottes als der Schlüssel für die Integration und für die Deutung des biblischen, kirchengeschichtlichen und dogmatisch-ethischen Materials. Eine interessante und aufschlussreiche kurze systematische Einleitung entfaltet die drei Aspekte im Begriff der christlichen Religion (der persönliche Glaube, die Reichsgemeinschaft und Kirche, die reichsgeschichtliche
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Heilsoffenbarung). Es folgen zwei Hauptteile, die beide in zwei Abschnitte gegliedert sind: (I) Die alttestamentliche Reichsgeschichte, die in (a) die Urgeschichte des Reiches Gottes und in (b) die Geschichte des Reiches Gottes in Israel unterteilt ist und (II) die neutestamentliche Reichsgeschichte, die sich in (a) die evangelische Reichsgeschichte und in (b) die apostolische Reichsgeschichte oder in die Geschichte des Reiches Gottes als die Kirche Jesu Christi untergliedert. Letztere wird in vier Kapiteln abgehandelt: (1) Die Gründung der Kirche und die Verbreitung des Evangeliums durch die Apostel, (2) die kirchengeschichtliche Entwicklung des Reiches Gottes auf Erden (inkl. die Behandlung der Konfessionen), (3) die invariablen Lebensbedingungen der christlichen Kirche oder die Heilsordnung im Reich Gottes und (4) die Vollendung der Kirche im Reich der Herrlichkeit. Somit bietet das Handbuch eine Deutung des Christentums im Rahmen der Geschichte des Reiches Gottes mit der Absicht, dass der Charakter der eigenen Gegenwart sowohl mit Blick auf das Wesen der Kirche als auch auf ihre konfessionelle Differenziertheit in einem allumfassenden reichsgeschichtlichen Horizont sichtbar und verständlich wird. 7.2.2.3 Zur Geschichte des Jenseits (1889) Die letzte Arbeit dieser Gruppe, womit diese Vorstellung der dritten Phase schließt, ist die höchst bemerkenswerte Studie „Zur Geschichte des Jenseits“ (1889c, ca. 45 S.). Sie ist durch den Traktat „Das Jenseits der Naturvölker“ von Alois Emanuel Biedermann (1819–1885) mitveranlasst.15 Durch eine spekulative Deutung verbinde Biedermann die heidnische Idee des Jenseits mit der christlichen Weltanschauung bzw. transportiere sie in diese hinein (vgl. 1889c, 141). Von Oettingen widerspricht dem. Das Wort und die Idee vom Jenseits sind dem Christentum wesensfremd. Er ist jedoch auch nicht einverstanden mit einer einfachen – sei es pantheistisch oder naturalistisch motivierten – Verneinung des Jenseits, wie es etwa bei D.F. Strauß der Fall ist, der den christlichen Glauben deshalb kritisiert. Strauß sei sich zum einen nicht bewusst, dass das Wort und die Idee des Jenseits für das Christentum eigentlich fremd sind. Zum zweiten verkenne er, dass in der Idee vom Jenseits, die in irgendeiner Gestalt in allen heidnischen Naturreligionen nachweisbar sei, sich ein tiefes und genuin menschliches Bedürfnis und eine damit verbundene dunkle Ahnung ausdrücke (vgl. 1889c, 143). Der Ausdruck „heidnisch“ bezeichnet für von Oettingen also nichts, was man mit Verachtung und Geringschätzung behandeln sollte. Er blickt zuerst auf die heidnischen Vorstellungen vom Jenseits (bei den 15 Biedermann war ein evangelischer Systematiker hegelscher Prägung, der langjährig in Zürich wirkte und sich u. a. mit der Religionsgeschichte beschäftigt hat. Sein Traktat wurde bereits 1851 als Vortrag gehalten und ist nach seinem Tod in dem Band Ausgewählte Reden und Aufsätze (Berlin, 1885, 24–50) abgedruckt worden (vgl. Stolz, Theologie und Religionswissenschaft, 288).
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Dritte Phase: zwischen den Hauptwerken (1874–1894)
Naturvölkern im Norden und Süden, bei den alten Kulturvölkern sowohl des Orients als auch des Abendlandes, insb. bei den Griechen) und führt gewissermaßen deren existentielle Interpretation durch. Auf jeden Fall haben diese Vorstellungen eine Relevanz für das Verständnis der Welt, des Irdischen, des persönlichen Lebens, des Zusammenlebens etc. Zweitens stellt er dann das biblische und urchristliche Verständnis dar : Von welch durchschlagender Bedeutung diese eschatologischen (d. h. endgeschichtlichen) Gedanken für den gesammten Geist und die Weltanschauung der Christenheit aller Zeiten bis in die Gegenwart hinein sind, wird uns ein Blick in die Kirchengeschichte lehren. Alle confessionellen Unterschiede und alle neueren religiösen Gegensätze lassen sich geradezu daran messen, ob und wie die urchristliche und echt biblische Reichsidee sich mit den wesentlich heidnischen Ideen vom Jenseits berührt oder nicht. (1889c, 174f).
Darauf greift der abschließende Teil der Studie zurück. Dieser ist in methodischer Hinsicht aufschlussreich, da sich hier sowohl die Art der Apologetik von Oettingens als auch die Art seiner Hermeneutik der Vorstellungen anderer Religionen, sowie der Lehren des Christentums zeigen. Das gilt auch inhaltlich, weil hier fast eine eschatologisch orientierte Dogmatik-Ethik in nuce enthalten ist.
7.3
Zusammenfassende Charakterisierung der dritten Phase
Um diese vielschichtige und thematisch reiche dritte Phase „zwischen den Hauptwerken“ zusammenzufassen, wiederhole ich: Obwohl es in den Schriften von Oettingens häufig der Fall ist, dass einerseits zu den ethischen Themen die dogmatischen Implikate und Voraussetzungen angedeutet oder ausgeführt werden und andererseits bei den dogmatischen Themen deren angeblicher ethischer Relevanz oder ihrem Orientierungspotential bis in die politischen und kirchenpolitischen Fragestellungen hinein nachgegangen wird, finden sich in dieser Phase zum einen ethische bzw. sozialethische Arbeiten, aber – contra Seeberg und der Standardmeinung – zum anderen auch Arbeiten von dogmatischer, bibeltheologischer, fundamentaltheologischer und hermeneutischer Natur. Bei ersteren greift eine Gruppe auf Resultate der empirischen Sozialforschung bzw. der Moralstatistik zurück und treibt im Anschluss an konkrete Probleme und Herausforderungen eine Gegenwarts- bzw. Gesellschaftsanalyse mit ethisch-religiöser Absicht. Die andere Gruppe setzt sich mit den Beiträgen zur wissenschaftlichen Diskussion auf den Gebieten der Ethik und Soziologie auseinander. Die eher dogmatischen Arbeiten kreisen um das Verhältnis von Glaube und Autorität – jedoch so, dass die Bedeutung des Themas für das individuelle Leben, für das kirchliche Leben und für das gesellschaftliche Zu-
Vierte Phase: staurozentrische Dogmatik
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sammenleben mitberücksichtigt wird. Es kann konstatiert werden, dass es im Unterschied zur ersten Phase, wo Funktion und Status der geltenden kirchlichen Lehre bzw. des Dogmas öfter direkt zur Diskussion standen – obwohl dabei auch auf die Heilige Schrift rekurriert wurde –, in dieser Phase häufiger um die Rolle und die Bedeutung der Bibel geht. Der zweite Schwerpunkt der dogmatischen Arbeiten ist der Begriff „Reich Gottes“, der eine eschatologische Sinnrichtung impliziert. Durchgehend lässt sich ein mehr oder weniger explizites Bemühen, den drei Prinzipien der Theologie bzw. den drei Faktoren der Ethik gerecht zu werden, beobachten.
8.
Vierte Phase: staurozentrische Dogmatik und eine letzte Auseinandersetzung um die „Moderne“ (1894–1905)
In der letzten Phase des wissenschaftlichen Schaffens steht eindeutig die dogmatische Arbeit im Vordergrund. R. Seeberg verstand sich als entscheidenden Impulsgeber dafür, dass von Oettingen eine Dogmatik verfasste.1 Dies dürfte eine Überschätzung der eigenen Bedeutung sein, obwohl die Vermittlung des Verlegers durch Seeberg, des Verlages C.H. Beck (damals die C.H. Beck’sche Buchhandlung) in München, mit dem von Oettingen vorher nicht zusammengearbeitet hat, kein unwichtiger Impuls gewesen sein dürfte.2 Von Oettingen hätte jedoch wahrscheinlich auch ohne diese Anregung eine eigene Bearbeitung dieses anderen bzw. des ersten Zweigs der systematischen Theologie nach der Emeritierung durchgeführt. Jedenfalls spricht er in der ersten Hälfte des Jahres 1894 von der „so Gott will im nächsten Jahre erfolgenden Veröffentlichung meiner Dogmatik, an der ich bereits vier Jahrzehnte mit heißem Bemühen gearbeitet“ habe (1895b, 18). Er blickt also schon hier auf das Jahr 1854, in dem er seine akademische Lehrtätigkeit begann, zurück und ist gewillt die Arbeit der vorangegangenen vierzig Jahre als Vorarbeit für eine Gesamtdarstellung der Dogmatik zu deuten. Als einen weiteren Anhaltspunkt nennt von Oettingen 1 Vgl. oben Kap. 4. 2 In welchem Jahr genau diese Vermittlung stattgefunden hat, ist nicht bekannt. Möglich wäre das Jahr 1894. Der dreißigjährige R. Seeberg war 1889 aus Tartu nach Erlangen berufen worden – zunächst zum Professor für neutestamentliche Exegese und Kirchengeschichte. Es ist wenig wahrscheinlich, dass es jemandem, der kein Vertreter der Systematischen Theologie war, vorgeschlagen worden wäre, eine Dogmatik zu verfassen. 1894 übernahm Seeberg jedoch den Lehrstuhl für Systematische Theologie als Nachfolger von R. Frank (1827–1894). Der Vorschlag könnte also in dieser Zeit an ihn herangetragen worden sein. Aufgrund seines für so eine Arbeit zu geringen Alters verwies er daraufhin auf von Oettingen (vgl. R. Seeberg, Oettingen, 500).
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Vierte Phase: staurozentrische Dogmatik
seine seit 1884 im Sommer gehaltenen Predigtreihen, in denen er in jeweils acht bis zehn Predigten „für unsere Zeit besonders wichtig erscheinende Gebiete der Heilslehre und des Heilslebens […] zusammenhängend“ behandelt hat. Sein „ganzes dogmatisches Lehrsystem“ und seine „biblisch-theologische Begründung desselben“ habe allmählich „diese Goldprobe bestehen müssen“ (ibid., 32f). Es ist möglich diese Hinweise als nachträgliche Selbststilisierungen zu bewerten, in einer Situation, in der die Dogmatik für ihn schon ganz konkret – vielleicht sogar vertraglich – auf der Tagesordnung steht. Dennoch hätte man ein solches Werk von ihm aus der eigenen Motivation heraus, ohne Seebergs Vermittlung, höchst wahrscheinlich doch auch erwarten können.
8.1
Zur Lehre vom Heiligen Geist – vorläufiges Programm einer „staurozentrischen“ Glaubenslehre (1894–1895)
Eine lange gewachsene Schrift mit einer komplexen Vorgeschichte, in der die Wende zur dogmatischen Konzentration zum Ausdruck kommt, trägt den Titel Das göttliche „Noch nicht!“ Ein Beitrag zur Lehre vom Heiligen Geist (1895b, ca. 155 S.).3 Die drei miteinander verknüpften und kategorial auf unterschiedlichen Ebenen liegenden Denkimpulse, die darin in fruchtbarer Weise verschmelzen, sind (a) ein vertieftes Nachdenken über den Heiligen Geist, (b) eine Reflexion der Leidensthematik – ganz konkret mit Blick auf die Entwicklungen im eigenen Lande und auf die eigene Lebensgeschichte – und (c) eine erneute Besinnung auf die Theologie des Kreuzes. Als Antwort auf die Reaktionen, die seine Thesen in „,Leide dich mit dem Evangelio‘ (2 Tim. 1, 8). Ein Beitrag zum Verständnis der theologia crucis“ hervorriefen, legt von Oettingen in der Neuen Kirchlichen Zeitschrift ausführlich Rechenschaft „über die biblischen und dogmatischen Gründe [s]einer ,stauro3 Anhand der direkten und indirekten Hinweise innerhalb der Schrift habe ich die Genese der Schrift rekonstruiert und präsentiere hier eine Kurzform. (1) Im Sommer 1893 hält von Oettingen eine Predigtreihe zu Wesen und Wirken des Heiligen Geistes. Ein wichtiger Denkanstoß für ihn ist Joh 7, 39. Die Lutherübersetzung dafür lautet: „Das sagte er aber von dem Geist, welchen empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Heilige Geist war noch nicht da, denn Jesus war noch nicht verklärt.“ (2) Im August 1893 hält er auf der livländischen Synode einen theologischen Vortrag über das Thema „Das göttliche ,Noch nicht!‘“. (3) Für die Januar-Konferenz von 1894 verfasst er im Anschluss an 2Tim 1,8: „Leide dich mit dem Evangelio“ die Thesen „,zum Verständis der Theologie des Kreuzes‘ im Sinne Luthers“ (wiederabgedruckt auch in 1895b, 5–9). (4) In der ersten Hälfte des Jahres 1894 erscheint in der Neuen Kirchlichen Zeitschrift die vierteilige Aufsatzreihe „Das göttliche ,Noch nicht!‘“ (1894c–f). (5) In erweiterter und bearbeiter Form erscheinen die Aufsätze 1895 als Monografie: Das 1. Kapitel ist ganz neu, das 2. und 3. Kapitel beinhalten Ergänzungen und Veränderungen, das 4. und 5. Kapitel sind im Haupttext unverändert, jedoch sind die Unterabschnitte jetzt mit Überschriften versehen.
Lutherische Dogmatik
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zentrischen‘, d. h. die Theologie des Kreuzes verherrlichenden Glaubenslehre“ (ibid., 11) ab. Auch diese Aufsatzreihe wurde zur Monografie erweitert, wobei nur das erste Kapitel vollkommen neu ist. Darin positioniert er u. a. das eigene Vorhaben innerhalb des Gebietes der neueren Dogmatik, v. a. gegenüber den Standpunkten von Franz Reinhold Frank und Albrecht Ritschl. Von Oettingen, der „mit dem Abschluß einer ,Christlichen Dogmatik vom Standpunkte der Lutherschen Theologie des Kreuzes‘ beschäftigt“ ist, will hier „ein vorläufiges Programm“ seiner Dogmatik, die er als staurozentrisch charakterisiert, der Öffentlichkeit vorlegen (1895b, 3; vgl. 1897a, xii). Das Buch ist zwar kein Programm im Sinn eines Grundrisses oder eines Kurzentwurfes, aber es entwickelt versuchsartig einige Grundideen, die für die spätere Ausarbeitung der Gesamtdarstellung prägend werden. Besonders auffällig und interessant ist, dass dieses provisorische dogmatische Programm – wie der Untertitel sagt – sich als ein Beitrag zur Pneumatologie versteht. Der christliche trinitäre Gottesbegriff enthalte den Begriff der „Selbstbeschränkung“ und damit sei angedeutet, worin der Schlüssel der christlichen Weltanschauung liegt. Schwerpunktmäßig entfaltet das Buch ein trinitarisches Verständnis des Heiligen Geistes, der als leidensfähig und leidenswillig gedacht wird. Von jener göttlichen Selbstbeschränkung her, die sich gegenwärtig für die christliche Gemeinde speziell im Wirken des Heiligen Geistes manifestiere, ist die Lehre von der Kirche weiterzuentwickeln und zu vertiefen, genauso wie die Lehre vom Heiligen Geist, die Lehre von Gott, die Lehre von der Geschichte, vom Menschen etc. Das Geheimnis des Kreuzes Christi und die Heilsgeschichte lassen sich ohne die Selbstbeschränkung des Heiligen Geistes nicht verstehen, aber auch die Gegenwart – speziell die der Kirche – erscheint dadurch in einem neuen Licht.
8.2
Lutherische Dogmatik (1897–1902)
Nicht schon 1895 bzw. 1896 – wie angekündigt –, sondern erst ab dem Jahr 1897 erscheint die Lutherische Dogmatik. Sie ist in zwei Bänden konzipiert. Der erste Band enthält eine Prinzipienlehre. Apologetische Grundlegung zur Dogmatik (1897a, ca. 500 S.) – der zweite ein System der christlichen Heilswahrheit. Das System, zunächst im Umfang eines Bandes gedacht, gerät dann doch komplexer und erscheint in zwei Teilen. Der erste Teilband behandelt Die Heilsbedingungen (1900c, ca. 700 S.), der zweite Die Heilsverwirklichung (1902a, ca. 770 S.). Dieses „Lebenswerk“ (1897a, x, xiii; 1902a, vii) hat mit seinen fast 2000 Seiten etwa denselben Umfang wie das erste Hauptwerk. Seine Veröffentlichung dauert fünf Jahre.4 4 Ursprünglich sollte das System im gleichen Jahr wie die Prinzipienlehre erscheinen. Die
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Vierte Phase: staurozentrische Dogmatik
Im Vorwort zum ersten Band spricht von Oettingen von den Tendenzen seiner Gegenwart, die das Interesse an einer Dogmatik nicht gerade unterstützen. Er drückt die Hoffnung aus, dass die weitverbreitete Scheu vor dem Schreckgespenst ,Dogma‘ einem tieferen Verständniß dafür weichen möge, daß der im Bekenntnis zum Ausdruck kommende kirchliche Gemeinglaube nichts anderes sein will, als eine […] Zusammenfassung der evangelischen, urchristlichen, biblisch begründeten Heilswahrheit, [die] dem menschlichen Heilsbedürfniß [entspricht und] dem seelengefährlichen Irrthum [wehrt] (1897a, xi).
Der Titel Lutherische Dogmatik ist also mit Bedacht gewählt. Er drückt zweierlei aus. Zum einen, dass es hier um das Dogma bzw. um das kirchliche Bekenntnis geht. Doch soll dabei nicht von dem sog. fertigen Dogma ausgegangen, sondern vielmehr in der Entfaltung seiner Wahrheitsmomente ihr Endziel betrachtet werden. Eine Dogmatik hat zu explizieren, dass und in welcher Weise das Dogma mit sola gratia und sola fide als dem Material- und Erkenntnisprinzip der Dogmatik in Verbindung steht. Nur dadurch kann „das innere Verständniß für das gewordene und werdende Dogma“ aufgehen und sich vertiefen (vgl. ibid., viii).5 Auch mit Blick auf die aktuellen theologischen Streitfragen ist eine Klärung und Verständigung nur möglich, wenn diese in den Zusammenhang einer solchen systematischen Betrachtung gestellt werden. Zum anderen soll der Titel Lutherische Dogmatik nicht „im Sinne einer konfessionellen oder kirchlichen Parteirichtung“ aufgefasst werden, sondern er nimmt „die nun mal historisch geprägte Bezeichnung für die eigenartig christliche und echt evangelische Grundanschauung“ auf, wie sie in Luthers Traktat von der Freiheit eines Christenmenschen und in seinem Konzept der „Theologie des Kreuzes“ ausgedrückt worden ist (vgl. 1897a, xii). Im Zentrum dieser christozentrischen Theologie steht „die Idee der göttlichen Selbstbeschränkung in herablassendem Mitleid mit der zu erlösenden Menschheit“ (ibid.). Eine solche Theologie liege, wie das Vorwort zu erkennen gibt, jenseits des die Verzögerung ist vor allem auf gesundheitliche Gründe zurückzuführen (vgl. 1900c, vi; 1902a, vii). 5 „Wo man das articulierte Dogma, sei es mit Berufung auf das kirchliche Bekenntniß oder auf das ,infallible Bibelbuch‘ derart in den Vordergrund stellt, daß die gehorsame Annahme zur Heilsbedingung für jeden Einzelnen gemacht wird, da ist man schon auf halbem Wege nach Rom. Ernst suchende Gemüther schreckt man dadurch ab und erzeugt in den ,Gläubigen‘ nur jene unerquickliche Sicherheit, die ohne tieferes Selbstgericht und innere Anfechtung, ohne ernstes Ringen und Forschen sich des ,absoluten‘ Wahrheitsbesitzes auf Grund feststehender ,Auctorität‘ getröstet […]. Die fertigen Ja-Christen, mögen sie nun aufs kirchliche Dogma oder auf das inspirierte Bibelbuch schwören, sind Mißbildungen, die der protestantischen Gemeinschaft nicht zur Ehre gereichen. Und die im Sinne dieses kampfscheuen und erfahrungslosen Ja-Christenthums arbeitende evangelische Theologie verdient diesen Namen nicht.“ (1897a, viiif).
Lutherische Dogmatik
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damalige theologische Landschaft6 polarisierenden Gegensatzes zwischen der „liberalen“ und der „positiven“ Theologie. Obwohl von Oettingen sich auf der Seite der letzteren positionieren kann – allerdings an dieser Stelle nicht explizit –, weist er zu Beginn seiner Lutherischen Dogmatik die vermeintlichen infalliblen Tendenzen der „positiven Seite“ genauso scharf zurück, wie er die angeblichen Aporien der liberalen Theologie hervorhebt. Er ist aber auch bereit dazu, diejenigen Aspekte der liberalen Theologie, die er als deren Verdienste und Stärken bewertet, namhaft zu machen und zu loben (vgl. 1897a, vii, ix). Während des Abschlusses seiner Dogmatik, im Vorwort zum zweiten Teil des Systems, kommt von Oettingen erneut auf die Einstellung der „meisten Theologen der neuerer Richtung“, für die das sog. undogmatische Christentum „das einzig wahre“ ist und die auf die systematische Theologie und die Dogmatik mit Skepsis oder sogar Verachtung blicken, zu sprechen und zeigt sich als mit dieser Haltung nicht einverstanden (1902a, viii). Systematisches Denken sei unverzichtbar – nicht nur für die Klärung und Verständigung auf dem Gebiet der religiösen und spezifisch christlichen Grundbegriffe. Ohne systematisches und dogmatisches Denken mutiere das vielbeschworene „Wesen des Christentums“ viel zu leicht „in eine religiös gestimmte und mystisch angehauchte Moral“ (ibid., ix). Die sog. Vereinfachung und Elementarisierung der christlichen Religion neige also zu einer „Betonung der Liebe auf Kosten des Glaubens und des Gesetzes auf Kosten des Evangeliums“ (ibid.). Zu den letzten Worten am Ende seiner Dogmatik gehört der Wunsch von Oettingens, dass die heranwachsenden Studierenden der Theologie mehr und mehr aus der Tiefe schöpfen [lernen und] beim Studium der Dogmatik sich ebenso vor der bequemen Sicherheit einer fertigen Kirchlichkeit, wie vor dem Alles zernagenden Zweifel einer sich vornehm dünkenden Hyperkritik hüten mögen. (Ibid., x).
So macht von Oettingen in Begleittexten zu seiner Dogmatik wiederholt deutlich, dass weder die Sicherheit noch der Zweifel als Grundhaltungen oder Voraussetzungen theologischer Erkenntnis anerkannt werden können. In der Verwendung des Wortes „Hyperkritik“ oder der Wendung „negative Kritik“ impliziert von Oettingen meinem Verständnis nach, dass man die theologische Arbeit einem Diktat fragwürdiger Grundvoraussetzungen unterstellt – seien es etwa die vermeintliche Voraussetzungslosigkeit, die Vernünftigkeit, die Modernität o. ä. „[D]ie Dorpater Theologie, wenn wir von einer solchen reden dürfen“, hat gezeigt, „daß sie nicht im gewohnten Geleise kirchlicher oder biblischer Un6 Vgl. unten in Kap 9 die Charakterisierung der theologischen Landschaft im deutschen Kaiserreich durch F.-W. Graf.
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Vierte Phase: staurozentrische Dogmatik
fehlbarkeitsdoctrin sich bewegt“ (1897a, ix), und darüber hinaus, dass „wir auch der negativen Kritik der Neuzeit Rechnung zu tragen wissen, ohne uns von ihr gefangen nehmen zu lassen“ (ibid., x). Er meint deshalb, dass seine früheren Schüler merken werden, daß die ihnen vertraute alte Wahrheit, zu der ich mich von je her bekannte, hier ein neues Gewand erhalten hat. Die Eigenart meiner ,Lutherischen Dogmatik‘ dürfte es rechtfertigen, daß ich sie als ein Zeugniß meiner Lehrweise auch weiteren Kreisen zugänglich mache. (1897a, xf). So übergebe ich diese meine Lebensarbeit einer wohlwollenden Beurtheilung meiner Gesinnungsgenossen und – möchte ich hinzufügen – auch meiner Gegner. Sie werden, wie ich hoffe, zugestehen und anerkennen, daß mir die confessionell zugespitzte Streittheologie fern liegt. Durch meine lutherische Dogmatik vom Standpunkte einer Theologie des Kreuzes habe ich nur einen Beitrag liefern wollen zu friedlicher Verständigung über die tiefsten Probleme christlicher Weltanschauung. (Ibid., xiiif).
So vermag von Oettingen in seinem 75. Lebensjahr auch sein zweites systematisches Hauptwerk noch der Öffentlichkeit vorzulegen,7 obwohl die Rezeptionsbedingungen um die Jahrhundertwende nicht die günstigsten sind.8
8.3
Das Lebensproblem und die „Moderne“ (1903)
Damit komme ich zum Schluss der vierten und letzten Periode. Das theologische Gesamtwerk von Oettingens schließt ab mit einem Beitrag, der aus zwei längeren Texten und einem kurzen Nachwort besteht. Diese letzte Schrift ist eine sehr interessante Auseinandersetzung mit Reinhold Seeberg und Karl Girgensohn über die „Moderne“ aus den Jahren 1903–1904. Zuerst veröffentlicht er im Herbst 1903 in der Baltischen Monatschrift unter der Rubrik „Literarische Rundschau“, dann in separater und mit einem Vorwort ergänzter Form einen kleinen Text mit dem Titel Das Lebensproblem und die „Moderne“. Literarische Streiflichter (1903c, ca. 15 S.). Von Oettingen befindet sich mitten in der Auf7 Im Vorwort der Prinzipienlehre erwähnt von Oettingen eine „ausgearbeitete“ Geschichte der Dogmatik, die auf seine Vorlesungstätigkeit zurückgeht, die er ursprünglich in die Prinzipienlehre eingliedern wollte. Doch riet der Verlag ihm zu deren separater Veröffentlichung direkt nach dem Abschluss der Dogmatik (vgl. 1897a, xii). Die Arbeit an der Dogmatik dauerte viel länger als geplant. Im Vorwort zum letzten Teilband bemerkt er mit Bedauern, dass er aufgrund seines Alters und seiner Gesundheitsprobleme nicht mehr im Stande ist die Geschichte der Dogmatik in eine quellenmäßig überprüfte und druckreife Gestalt zu bringen (vgl. 1902a, x). Er hat die Geschichte der Dogmatik zusammen mit den Prolegomena (bzw. mit der Prinzipienlehre der Dogmatik) seit 1858 etwa jedes zweite Jahr gelesen, zuletzt 1890 (vgl. oben Kap. 2). Das Schicksal des Manuskripts ist unbekannt. 8 Vgl. unten Kap. 23–26.
Das Lebensproblem und die „Moderne“
121
zeichnung seiner Lebenserinnerungen9 und bemüht sich deshalb um eine nähere Bestimmung und genauere Auffassung des Lebensproblems. In diesem Zusammenhang stößt er in der neueren Literatur – er verweist auf eine Reihe von Titeln aus den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts – auf Versuche, das „Lebensrätsel“ im Sinne des „modernen Menschen“ zu lösen. Er möchte mit seinen Beobachtungen und Überlegungen, die er als Resultat seiner persönlichen Lebenserfahrung verstanden haben will, einen klärenden Impuls für die Urteilsbildung über die sog. Moderne bieten (vgl. 1903c, 3). Ausgehend von der Beobachtung, „die Eigenart des Einzelmenschen“, auch „die sittliche oder religiöse Richtung, in der er sich bewegt oder zu der er gelangt, ist bedingt und beeinflußt von der sozialen Zeitatmosphäre, die ihn umgibt oder von Kindesbeinen an umfangen hat“ (ibid., 5), versucht er anhand konkreter literarischer Zeugnisse, von denen jedes in seiner Weise ausdrücken (will), was die Moderne ist, dies zu bestimmen und zu charakterisieren: Wer ist denn der moderne Mensch? Welche Geistesrichtung vertritt er? Was ist die Moderne? Was bedeutet sie, wenn z. B. Friedrich Nietzsche (1844–1900) als ihre Verkörperung angesehen und verehrt wird? Im Zuge dieser Gegenwartshermeneutik (ibid., 5– 11) und der erstrebten Aufklärung über die Moderne, formuliert er ein Urteil über ihre Wahrheitsmomente, aber auch über ihre tiefgehenden Aporien und Probleme. Von Oettingen konstatiert, dass es in der neueren Zeit üblich geworden ist, vom „modernen Christentum“ und der „modernen Theologie“ zu sprechen. Im Horizont des ersten Schrittes setzt er sich in einem zweiten Schritt mit der Berechtigung solcher Begriffskombinationen auseinander (ibid., 11–14). Er erörtert, worin der „moderne“ Charakter der neueren Theologie besteht und meint feststellen zu müssen, dass die verschiedenen Zusammenfügungsversuche jener Begriffe fragwürdige Unternehmungen bleiben werden. Dies gilt auch im Blick auf eine vorsichtigere Herangehensweise, mit der z. B. Adolf Harnack „durch seine sensationelle Vorlesungen über das ,Wesen des Christentum‘ der neueren Theologie die Bahn zu ebnen gesucht“ (ibid., 12). Zugleich wendet er sich aber auch gegen „die ,sicheren‘ Vertreter[n] des hergebrachten kirchlichen Dogmas“ und lehnt „in der sog. positiven Theologie“ die „von der kirchlichen Seite neuerdings wiederholt aufgestellte Behauptung: das Christenthum sei ,die absolute Religion‘ (Frank-Seeberg)“ ab (ibid., 13). Doch „diese Warnung vor antizipierter ,Vollkommenheit‘“ spricht von Oettingen auch „den modernen Theologen gegenüber“ aus: Hier sei sie zwar nicht in Gestalt des dogmatischen 9 Die Erinnerungen sind nicht veröffenlicht worden. In modifizierter Form findet sich ein Auszug daraus in dem zweiten Text, von dem gleich die Rede sein wird. Der Auszug „Haus und Heimat“, den er noch selbst für den Druck fertigstellte, ist kurz nach seinem Tod erschienen (vgl. 1905b).
122
Vierte Phase: staurozentrische Dogmatik
„Fertigseins“ auffindbar, sehr wohl aber als die moralische „Vollkommenheit“, die „bekanntlich A. Ritschl als sein ,Programm‘ hinstellte“ (ibid.). Er nimmt somit kritisch Stellung zu den führenden Gestalten der älteren Generation, deren (damals empfundener) Gegensatz10 die theologische Landschaft im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts stark bestimmt hat. Zugleich distanziert er sich kritisch von zwei Leitfiguren der jüngeren Generation – A. von Harnack und R. Seeberg. Diese aus dem heutigen Estland stammenden früheren Schüler von Oettingens – der eine mehr durch Ritschl, der andere durch Frank geprägt – sind zu dieser Zeit wirkmächtige Akteure in Berlin, der „Welthauptstadt“ evangelischer Theologie vor dem Ersten Weltkrieg. Diese Kritik ändert nicht die Tatsache, dass sich von Oettingen trotz mehrerer Differenzen sowohl in der Ethik als auch in der Dogmatik als Gesinnungsgenosse von Frank (und nicht von Ritschl) und auf derselben „Seite“ wie dieser stehend, verstanden hat. Der Text schließt mit einem kurzen dritten Schritt – einer eigenen Skizze der christlichen Antwort auf das Lebensproblem (1903c, 14–15). Die Wortmeldungen aus dem Jahr 1904, die auf diese Schrift von Oettingens folgen, zeugen davon, wie von Oettingen weiterhin meint eine große Nähe zwischen sich selbst und Seeberg wahrnehmen zu können. Er begrüßt und bejaht eine Reihe von Seebergs Einzelforderungen und Leitvorstellungen, die dieser kurz zuvor formuliert hatte. Dennoch hat er grundsätzliche Schwierigkeiten mit der „modernen“ Theologie überhaupt und speziell mit Seebergs Imperativ einer „modernen positiven“ bzw. „modern-positiven“ Theologie. Karl Girgensohn (1875–1925),11 Privatdozent für Systematische Theologie in Tartu, Schüler und Freund Seebergs, der dessen Programm aufgenommen hatte, veröffentlicht in der MN den erläuternden und vermittelnden Aufsatz „Reinhold Seeberg’s Buch: ,Die Kirche Deutschlands im XIX. Jahrhundert‘ und seine Forderung einer modernen positiven Theologie“.12 Das Buch war 1903 erschienen. Es ist eine Erweiterung der beiden Artikel Seebergs über den Gang der Kirchen- und Theologiegeschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert, die zu Beginn des neuen Jahrhunderts in der Neuen Kirchlichen Zeitschrift unter dem
10 Die Berechtigung dieses damals faktisch wahrgenommenen theologischen Gegensatzes wird von der neueren Forschung stark in Frage gestellt (vgl. z. B. Slenczka, Der Glaube und sein Grund). 11 Auch Girgensohn stammte aus dem heutigen Estland und hatte in Tartu Theologie studiert (Abschluss 1896). In den Jahren 1900 und 1901 setzte er seine Studien in Berlin bei Seeberg fort. Zum Zeitpunkt dieser Diskussion war er Privatdozent in Tartu. Von 1907–1916 war er zunächst außerordentlicher, dann ordentlicher Professor für Systematische Theologie und im Jahr 1918 noch für kurze Zeit Professor und Dekan in Tartu. Danach wirkte er bis zu seinem frühen Tod jeweils drei Jahre in Greifswald und Leipzig. 12 Girgensohn, Seeberg’s Buch.
Zur Frage über modernes Christentum und moderne Theologie
123
Titel „An der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts“ erschienen sind.13 Darin fordert er eine Weitergestaltung der Theologie. Girgensohn ist der Überzeugung, dass gerade moderne Theologie als dringende Aufgabe anzusehen ist. Doch sei Seeberg ein Beweis dafür, wie es diese nicht nur „auf dem linken Flügel der Theologie“– als liberale Theologie –, sondern eben auch als positive Theologie geben kann.14 Eine solche Theologie sei die Aufgabe und – auch die Lutherische Dogmatik „de[s] verehrte[n] Nestor[s] der baltischen Theologen“ stelle, trotz seines Einspruches gegen das Wort „moderne“, letztendlich doch nichts anderes als einen Versuch dar die alte Wahrheit in zeitgemäßer Gestalt den Zeitgenossen zu vermitteln.15 Ein wenig später wird in der MN „Das Moderne und die ,Moderne‘“ (1904) von Seeberg selbst abgedruckt.16 Es ist die Anmerkung eingefügt, dass der Aufsatz durch den Text von Oettingens veranlasst ist. „Mein lieber alter Lehrer und ich urteilen scheinbar sehr verschieden, im tiefsten Grunde sind wir einig.“17 Vereinfacht kann gesagt werden, dass Seeberg den Widerspruch von Oettingens auf sein Konzept einer „modern-positiven“ Theologie auf einen Generationenunterschied (Großväter, Väter, Söhne, Enkel) zurückführt.
8.4
Zur Frage über modernes Christentum und moderne Theologie (1904)
Von Oettingen reagiert auf Seeberg, aber auch auf Girgensohn und Richard Heinrich Grützmacher (1876–1959), die Seeberg unterstützen, mit „Zur Frage über modernes Christenthum und moderne Theologie“ (1904a, ca. 25 S.). Der Text ist eine sehr wichtige, sowohl theologisch als auch theologiehistorisch inhaltsreiche, Ergänzung zu dem ersten Text von Oettingens und bezieht sich – mit Verweis auf das Buch Seebergs, das inzwischen in der 2. Auflage erschienen war – direkt auf die Forderung für die Gestaltung der „positiven“ Theologie im „modernen“ Geist (vgl. 1904a, 337). Der Text enthält in nuce eine Diagnostik und Fundamentalkritik der Moderne, die in vielerlei Weise sowohl die Kritik, die nach dem Ersten Weltkrieg gegenüber der vorangegangenen Theologie erhoben wurde – nicht nur von der sog. Dialektischen Theologie, sondern auch von den Vertretern der Lutherrenaissance und des religiösen Sozialismus –, als auch die sog. postmoderne Kritik der Moderne antizipiert. Auf jeden Fall widerspricht von Oettingen prinzipiell 13 14 15 16 17
R. Seeberg, An der Schwelle. Girgensohn, Seeberg’s Buch, 149. Ibid., 150. Zunächst ist der Text in der Zeitschrift Reformation (1904, Heft 14) erschienen. R. Seeberg, Moderne, 229.
124
Vierte Phase: staurozentrische Dogmatik
sowohl seinem „liebe[n] Neffe[n] und frühere[n] Schüler Ad. Harnack“ (ibid., 351) – oder der modernen Theologie in ihrer liberalen Gestalt –, als auch „sein[em] lieben Freund und Schüler Seeberg“ (ibid., 349) – oder dem Programm der modernen Theologie in ihrer positiven Gestalt. Erneuert und präzisiert wird auch die Kritik der „Absolutheit“ bzw. der „Vollkommenheit“: In dogmatischer Hinsicht bei den „Positiven“, auch bei Seeberg,18 in ethischer Hinsicht in den von Ritschl19 inspirierten Kreisen neuerer Theologie. Girgensohn antwortet in der MN mit „Noch ein Wort zur Forderung einer modernen positiven Theologie“.20 Unmittelbar im Anschluss an den Aufsatz Girgensohns folgt ein „Nachwort“ (1904b) von Oettingens, womit faktisch seine Teilnahme am öffentlichen theologischen Gespräch schließt und in dem zuletzt zu lesen ist: In der Sache selbst, d. h. im ernsten Streben nach ,zeitgemäßer‘ Ausprägung unseres ,Wahrheits- und Wirklichkeitssinnes‘, nach lebendiger persönlicher Aneignung der Glaubenswahrheit, nach ernster historisch-kritischer Forschung und – last not least – nach feinfühligem Verständnis für den ehrlichen Agnostizismus und die Zweifelfragen der Gegenwart bin ich mit meinem lieben jungen Freunde und Kampfgenossen ganz einverstanden und danke ihm für sein warmes und vielfach klärendes Wort. Was aber das Wörtlein ,modern‘ anbetrifft, – das mir wie eine von jenem ,Sumpf‘ aufsteigende Nebelwolke den klaren Himmel der ,positiven Theologie‘ momentan zu verdunkeln droht –, so hege ich trotz allem die stille Hoffnung: Nubecula transibit. (1904b, 468).
Es dauert noch zehn Jahre, bis die mit dem Jahr 1914 beginnende Katastrophe in der Lebenswirklichkeit es mit sich bringt, dass die damals junge Generation den Bruch mit der modernen Theologie in all ihren Spielarten deklariert. Ob es tatsächlich ein Bruch war, bleibt eine Frage für sich. Genau wie die Frage, ob und inwiefern dieses Verdikt doch auch für von Oettingens Denken gegolten hat.
18 In diesem Zusammenhang bemerkt von Oettingen zu der gerade erschienenen Girgensohnschen Schrift Die moderne historische Denkweise und die christliche Theologie (vgl. Girgensohn, Theologie): „Sie bewegt sich vom Anfang bis zum Ende in dem, wie mir scheint, vergeblichen Versuche, die beide Begriffe ,modern‘ und ,absolut‘ zusammenzuschweißen. Als ich in der mir sonst so sympatischen Darlegung meines jungen Freundes und Kollegen die schier hundertfache Wiederholung jener beiden von mir perhorrerszierten Schlagworte lesen mußte, geriet ich in die Versuchung, lieber schon ,modern‘ oder entwickelungs-geschichtlich das Christentum aufzufassen, als es ,absolut‘, d. h. wie eine fertig abgeschlossene Wahrheit hinzustellen! Denn dies letztere ist weder im Hinblick auf Gottes Offenbarungsweise, noch in Rücksicht auf unser Fassungsvermögen berechtigt.“ (1904a, 354). 19 Von Oettingen erwähnt, dass Ritschl ihm im Jahr 1886 persönlich bestätigt hat, dass sein Vortrag „Die christliche Vollkommenheit“ (1874) sein eigentliches „Programm“ sei (1904a, 356). 20 Vgl. Girgensohn, Forderung.
Eine Typologie der kirchlich-theologischen Landschaft
9.
125
Einführende Kontextualisierung des Werkes von Oettingens
In drei Schritten will ich den ersten Teil meiner Arbeit mit einer einführenden Kontextualisierung des Werkes von Oettingens beenden. Im Laufe der Übersicht über die Phasen dieses Werkes sind manche Anknüpfungen sowie Konfrontierungen schon angesprochen und damit eine Verortung von Oettingens und seines Werkes sowohl in persönlicher als auch in theoretischer Hinsicht im Relationengefüge der theologischen Landschaft des 19. Jahrhunderts angedeutet worden. Diesen Kontext rufe ich in Erinnerung – sowohl im Anschluss an das Eigenverständnis von Oettingens als auch im Anschluss an die neuere Forschung der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts.
9.1
Eine Typologie der kirchlich-theologischen Landschaft von Oettingen zufolge
Eine detaillierte Kurzdarstellung der neueren Kirchengeschichte mit Schwerpunkt auf den geistig-theologischen Strömungen findet sich im Rahmen der Christlichen Religionslehre in deren zweiter Hälfte (1886).1 Diese kann als Ausdruck des Verständnisses des reifen von Oettingens über die theologische Landschaft und deren Dynamik in seinem Jahrhundert verstanden werden. In zwei Paragraphen stellt er die neueren geistig-theologischen Strömungen dar. Dem mit „Der Pietismus und die Zeit der Aufklärung“ überschriebenen ersten Paragraphen folgt der hier relevante Paragraph über „Die Rückkehr zum kirchlichen Glauben im Kampf mit dem Pantheismus (Materialismus) und der neueren Vermittelungstheologie“ (1886a, 400–409).2 Ein weiterer Paragraph behandelt noch „Die neu erwachende Missionsarbeit in der evangelischen Kirche“. Die Geschichte, die der neunundfünfzigjährige von Oettingen erzählt, reduziere ich im Folgenden auf ihre Grundelemente bzw. Grundfiguren. Allein das Herausarbeiten der für ihn relevanten Kategorien und Theologen ist aufschlussreich. Durch die im letzten Abschnitt dieses Kapitels erfolgende Vergegenwärtigung exemplarischer Schemata und Paradigmen der neueren For1 Sie dokumentiert die Sicht von Oettingens ca. zwanzig Jahre vor der abschließenden Diskussion um die Moderne (1904a) und ca. zehn Jahre vor der Programmschrift seiner Dogmatik (1895b). Bereits in vorangegangenen Kapiteln habe ich darauf hingewiesen, dass diese Texte einen Eindruck der Gesamtlage (einschließlich der Namensnennungen) vermitteln. 2 Die Überschriften im Inhaltsverzeichnis des Gesamtwerkes sind im eigentlichen Text der zweiten Hälfte modifiziert.
126
Einführende Kontextualisierung des Werkes von Oettingens
schung werden die Wahrnehmungen und konzeptuellen Entscheidungen von Oettingens noch deutlicher. 9.1.1 Eine gewaltige Geistesbewegung im Anschluss an die spekulative Philosophie Eine Zäsur für von Oettingen stellen die Freiheitskriege dar (vgl. 1886a, 390, 400f). Aus ihnen erwächst „eine gewaltige Geistesbewegung“ im Anschluss an die spekulative Philosophie von Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Friedrich Wilhelm Schelling (1875–1854) und vor allem Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) mit seinem „idealistischen Pantheismus“.3 Trotz der Widersprüche des „pessimistischen“ Arthur Schopenhauer (1788–1860) und des „realistischen Erfahrungsphilosophen“ Johann Friedrich Herbart (1776–1841) weiß „die Hegelsche Religionsphilosophie die edelsten Geister der Zeit zu beherrschen und selbst positiv-christliche Theologen gefangen zu nehmen“ (ibid.). Die sog. rechte Schule der Hegelianer versucht, die dialektische Methode bzw. die pantheistische Spekulation mit der christlichen Glaubensüberzeugung zu vereinigen.4 David Friedrich Strauß (1808–1874), der Hauptvertreter der linken Schule der Hegelianer, zeigt einen Selbstwiderspruch im Anliegen der rechten Schule auf. Dank Strauß setzt sich die Erkenntnis durch, „daß der folgerichtig durchgeführte Pantheismus, der den persönlichen heiligen Schöpfergott leugnet, schließlich mit seiner Creaturvergötterung alle Religion zerstören und in antichristlichem Naturalismus und grundsätzlichem Materialismus (wie bei den Junghegelianer und Socialdemokraten)5 enden muß“ (ibid., 401).
3 Das Denken der wichtigsten Figuren wird in einem Anmerkungsteil stets näher charakterisiert und kritisch gewürdigt. 4 Neben den herausragenden Philosophen und Juristen dieser Schule nennt von Oettingen hier Theologen wie z. B. Karl Daub (1865–1936), Isaak August Dorner (1809–1883) und Hans Lassen Martensen (1808–1884). 5 „Zum Theil im Anschluß an Strauß, zum Theil angeregt durch die moderne, materialistische Richtung der Naturwissenschaft“ – von Oettingen nennt Charles Darwin (1809–1882), Jacob Maleschott (1822–1893), Ludwig Büchner (1824–1899), Carl Vogt (1817–1895) – bilden „die Jung-Hegelianer“ – er nennt z. B. Karl Ludwig Michelet (1801–1893), Bruno Bauer (1809– 1882), Ludwig Feuerbach (1804–1872), Max Stirner (1805–1856) – „die pantheistische Weltanschauung, welche Gott nur als unpersönliche Geistes- oder Naturkraft faßt, folgerichtig zu einem atheistischen Materialismus aus[], welcher theoretisch in der sogen. ,positiven Philosophie‘ der Franzosen […] und Engländer“ – er nennt Auguste Comte (1798–1857) und Herbert Spencer (1820–1903) –, „praktisch in der revolutionären Propaganda der Socialdemokraten und Nihilisten seine verhängnißvollen, alles religiös-sittliche Volksleben zerstörenden Giftfrüchte zu Tage gefördert hat.“ (1886a, 405, Anm. 6).
Eine Typologie der kirchlich-theologischen Landschaft
127
9.1.2 Ein Erwachen des tieferen religiösen Gefühls und des Bedürfnisses christlicher Glaubensgemeinschaft „Von der anderen Seite“ erwacht „das tiefere religiöse Gefühl und das Bedürfnis christlicher Glaubensgemeinschaft“ (1886a, 401). Nicht umsonst drängten und warnten Ernst Moritz Arndt (1769–1860) und Claus Harms (1778–1885). Eine besondere Rolle nimmt in diesem Zusammenhang allerdings Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) ein. Er übt Einfluss in mehrere Richtungen aus, sodass (a) „die Vertreter der positiven Unionsdoktrin“, (b) „die mehr negativ gefärbten Anhänger der neueren Vermittelungstheologie“ und auch (c) die Theologen „des sogen. Protestantenvereins“ bzw. der linken Seite seiner Schule sich auf ihn beziehen.6 Die positiven Unionstheologen sind diejenigen, welche innerhalb der landeskirchlichen Vereinigung der Reformierten und Lutheraner „den biblisch evangelischen Heilsglauben auf Grund der göttlichen Offenbarung festzuhalten“ versucht haben (ibid., 406).7 Die neuere Vermittlungstheologie bezieht sich sowohl auf Schleiermacher als auch auf Kant und hebt den ethisch gedeuteten Gedanken des Reiches Gottes hervor. Ihr wichtigster Vertreter ist Albrecht Ritschl (1822–1889), der mit Johann Wilhelm Herrmann (1846–1922), Adolf Harnack und Julius Wilhelm Martin Kaftan (1848–1926) schulbildend wirkte.8 6 „Er wollte die Frömmigkeit, die er als Gefühl der ,schlechthinnigen‘ Abhängigkeit von Gott auf Christum, das einige Haupt und geschichtliche Urbild des kirchlichen Gemeinlebens, zurückführte, als eine innere Erfahrungsthatsache scharf getrennt sehen von aller philosophischen Beweisführung. Seine halb romantische, halb herrnhutische, Spinozismus und Mystik vereinigende Gefühlstheologie hat neben tiefgreifender Anregung auch vielfache Unklarheit und Verschwommenheit im kirchlichen Leben zur Folge gehabt. Die Union […] ist hauptsächlich auf seinen Einfluß zurückzuführen.“ (Ibid., 401f). 7 Er nennt hier Johann August Wilhelm Neander (1789–1850), August Detlev Christian Twesten (1789–1876), Carl Immanuel Nitzsch (1787–1868), Julius Müller (1801–1878), Johann Peter Lange (1802–1884), Wilhelm Beyschlag (1823–1900) und Bernhard Weiss (1827–1918). Aber auch Otto Zöckler (1833–1906), Rudolf Friedrich Grau (1835–1893), Julius Köstlin (1826– 1902) und Christian Friedrich David Erdmann (1821–1905), die „mehr die lutherische Richtung innerhalb der Union vertreten“, finden Erwähnung (ibid., 406). 8 „Ritschl und seine Schule […] sucht das ,Evangelium Christi‘ mit Ausschluß aller Speculation (Metaphysik) und mit Abweisung des kirchlichen Dogmas (von der Dreieinigkeit und der gottmenschlichen Versöhnung in Christo) als Verwirklichung des Reichsgedankens in die christliche Praxis überzuführen (Sündenvergebung, Glaube an die in Christo offenbar gewordene verzeihende Vaterliebe Gottes und Bethätigung der christlichen Liebe und Vollkommenheit im Reichsberuf, in Demuth und Gebet), verkennt aber in rationalisierender Weise die heilsgeschichtliche Offenbarungsgrundlage der kirchlichen Glaubenswahrheit.“ (Ibid., 406f). In seinem letzten Aufsatz aus dem Jahr 1904 konstatiert von Oettingen rückblickend, dass „die um 1874 aufkommende Ritschlsche Richtung […] die sogen. ,moderne Vermittelungs-Theologie‘“ erzeugte, „die wesentlich aus einem Amalgam Kantischer und Schleiermacherschen Ideen bestand“ (1904a, 344). Für die Bezeichnung, aber auch für die Klärung „dieser Mischgestalt“, habe das vielgelesene Buch Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß (1872, 15. Aufl. 1908) von David Friedrich Strauß eine wichtige Rolle gespielt.
128
Einführende Kontextualisierung des Werkes von Oettingens
Das Prädikat „neuere“ impliziert eine vorangegangene Form der Vermittlungstheologie, die von Oettingen jedoch nicht explizit anführt. Doch darf die direkt vorher genannte Richtung, die sich um eine Vermittlung bzw. um eine Überwindung der Trennung des Lutherischen und des Reformierten bemüht hat – also die positive Unionstheologie – als ältere Gestalt einer Vermittlungstheologie gelten. Die neuere Vermittlungstheologie setzt die ältere voraus und vermittelt die Erkenntnisse von Schleiermacher und Kant bzw. modernes Denken. Die schleiermachersche Linke9 vereinigt sich „unter Vorgang des tiefsinnigen, vielfach von Hegel beeinflußten“ Richard Rothe (1799–1867) im Jahr 1863 „in dem sogen. Protestantenverein“.10 Dieser vertritt eine „negative Unionsdoctrin“ und tendiert zu einem „unkirchlichen Moralismus“. Die „sogen. freien Gemeinden“ (wie der Verein der Protestantischen Freunde bzw. der Lichtfreunde) werden aber das positive Christentum verlassen, um einen „rein humanistischen Vernunft-Kultus“ zu pflegen (1886a, 407). 9.1.3 Eine positive bibelgläubige Richtung innerhalb der unierten Kirche Auch innerhalb der unierten Kirche (in Preußen),11 bedingt durch eine Vermischung des schleiermacherschen Einflusses mit pietistischen Elementen, erwacht „ein neues, biblisch gegründetes Glaubensleben“ (ibid., 402). Die wichtigsten Gestalten dieser „positive[n] bibelgläubige[n] Richtung“ sind Friedrich August Gottreu Tholuck (1799–1877) und Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802– 1869). Der Letztgenannte wird „der einflußreichste Vorkämpfer des positiven Lutherthums innerhalb der unierten Kirche“ (ibid., 407). 9.1.4 Eine positiv-kirchliche Strömung „Im Kampfe mit dem verschwommenen Unionismus“ erstarkt „das lutherische kirchliche Bewußtsein“ (1886a, 402). Von Oettingen nennt hier zuerst Johann Gottfried Scheibel (1783–1843) und Henrik Steffens (1873–1845). „Trotz schwerer Verfolgung“ konstituiert sich in Preußen im Jahr 1841 die „altlutherische Partei“ als eine von der unierten Landeskirche separierte „lutherische Kirche“ (die erste „altlutherische“ Gemeinde war 1830 gegründet worden) und ist bis heute erhalten (ibid., 407f). Auch im unierten Baden, Hessen, Nassau etc. 9 Dazu zählt von Oettingen Theologen wie Alexander Schweitzer (1808–1888), Alois Emanuel Biedermann (1819–1885), Otto Pfleiderer (1839–1908), Richard Adelbert Lipsius (1830– 1892), Karl Theodor Keim (1815–1878), Adolph Hausrath (1837–1909) und Julius Heinrich Holtzmann (1832–1910). 10 Von Oettingen hat diesen Prozess aufmerksam verfolgt und in der DZ kommentiert (vgl. 1863e, 1865f). 11 D. h. vor allem in Preußen.
Eine Typologie der kirchlich-theologischen Landschaft
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gibt es eine separierte lutherische Kirche. „[I]n diese gutgemeinte kirchliche Bewegung“ schleicht sich durch „inneren Zwiespalt“ und „confessionellen Eifer“ – namentlich hebt von Oettingen diesbezüglich die Missouri-Synode in den Vereinigten Staaten hervor – „leider viel sectirerisch-separatistisches Treiben“ ein (ibid., 408). Trotz „ihrer schroffen Einseitigkeit“ wird die „Gemeinschaft der separierten Altlutheraner […] eine Weckstimme zur kirchlich-confessionellen Erneuerung“ werden (ibid., 402). Ab den 1830er Jahren entwickelte sich „[o]hne separatistische Tendenzen und in lebendiger Fühlung mit dem landeskirchlichen Bedürfniß […] eine lutherische Theologie“, welche „das kirchliche Bewußtsein zu wecken und zu fördern suchte“ (ibid., 408). Wendungen wie „Erstarken des kirchlichen Bewußtseins“, „Erneuerung der Theologie und Kirche“, „lutherisch-kirchliche Restauration“, „Erwachung des lutherischen Bewußtseins“ etc. bezeichnen alle dasselbe Phänomen (ibid., 408f). Die Übersicht von Oettingens über die lutherischen Landeskirchen und die ausgewählten Theologen, die auf eine kirchliche Erneuerung hingearbeitet haben, beginnt mit Bayern und der Erlanger Fakultät, bewegt sich in Richtung Norden bis nach Skandinavien, gelangt zu der Region und der Fakultät, in der von Oettingen selbst aktiv ist und schließt mit Württemberg. In Bayern wirkten „für praktisch lutherisches Christenthum“ Karl von Raumer (1783–1865)12 und Wilhelm Löhe (1808–1872). Als Erneuerer lutherischer Theologie und Kirche werden der inzwischen auch in Sachsen wirkende Gottlob Christoph Adolf von Harleß (1806–1879), Gottfried Thomasius (1802– 1875), Johann Christian Konrad von Hofmann (1820–1877) – Gründer einer theologischen Schule –, Franz Hermann Reinhold Frank (1827–1894), Carl Adolf Gerhard von Zezschwitz (1825–1886) und Theodor Zahn (1838–1933) genannt.13 „In den baltischen Provinzen Rußlands“ erwacht „nach einer Zeit rationalistischer Verflachung und pietistischer Innerlichkeit theils durch den Kampf wider Herrnhut14 […] theils gegenüber der Invasion der griechischen Kirche (seit 1845) das lutherische Bewußtsein“ (1886a, 409). In diesem Prozess hebt von 12 Er war von Oettingens Schwiegervater (vgl. oben Kap. 2). 13 In Sachsen nennt er die Theologen Karl Friedrich August Kahnis (1814–1888), Franz Delitzsch (1813–1890) und Christoph Ernst Luthardt (1823–1902) und die „Kirchenmänner“ Harleß und Karl Theodor Albert Liebner (1806–1871). In Halle führt er Heinrich Ernst Ferdinand Guericke (1803–1878) und in Kurhessen August Friedrich Christian Vilmar (1800–1868) auf. In Norddeutschland werden in Hannover Johann Gerhard Wilhelm Uhlhorn (1826–1901) und Georg Ludwig Detlef Theodor Harms (1808–1865), in Mecklenburg Theodor Kliefoth (1810–1895) und F.A. Philippi (seit 1851) genannt. In den lutherischen Kirchen Skandinaviens werden Andreas Gottlob Rudelbach (1792–1862), der auch schon im Zusammenhang der Hegel-Schule erwähnte Hans Lassen Martensen und Carl Paul Caspari (1814–1892) hervorgehoben. 14 Erwähnt werden auch die Bischöfe Ferdinand Walter (1801–1861, Generalsuperintendent Livlands 1855–1864) und Arnold Friedrich Christiani (1807–1886, Generalsuperintendent 1865–1881).
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Einführende Kontextualisierung des Werkes von Oettingens
Oettingen in der Dorpater/Tartuer Theologischen Fakultät Ernst Wilhelm Sartorius (1797–1859),15 Karl Christian Ulmann (1793–1871), August Carlblom (1797–1877) und besonders Friedrich Adolf Philippi (1809–1882, in Dorpat/ Tartu 1841–1851) hervor. Namentlich erwähnt er noch Johann Karl Friedrich Keil (1807–1888, in Dorpat/Tartu 1838–1858), Johann Heinrich Kurz (1809– 1890, in Tartu 1849–1870), Theodosius Harnack und Gustav Moritz von Engelhardt (1828–1881).16
9.2
Die wichtigsten Impulsgeber in der Vorphase des Werkes von Oettingens und seine Selbstverortung
Von den Passagen im Werk von Oettingens, die seinen eigenen Werdegang als Theologe kommentieren, stammen die wichtigsten aus den späteren Jahren. Seine Bemerkungen über die Bedeutung der direkten Lehrer für sein Denken räsonieren durchaus mit dem Eindruck, den das Corpus Oettingiensis auch sonst erweckt. Zwei Lehrer sind für ihn besonders bedeutsam und einflussreich gewesen. Während des Theologiestudiums in Dorpat/Tartu (1846–1849) wird Philippi zu seinem „geistlichen Vater“ – in Erlangen (1850/1851) ist von Hofmann sein wichtigster Mentor (vgl. 1882c, 19; 1883a, 6). Man kann deren Wichtigkeit einerseits mit der späteren berühmten Wendung „christologische Konzentration“ (K. Barth), andererseits mit dem Begriff „heilsgeschichtliche Betrachtungsweise“ zusammenfassen. 9.2.1 Ein erster Lehrer: Philippi in Tartu als lutherischer Kerntheologe Von Oettingen bezeichnet Philippi als einen „lutherische[n] Kerntheologe[n]“ (1883a, 6). Aus einer Darstellung des theologischen Weges seines früh verstorbenen engsten Freundes und Kollegen Moritz von Engelhardt lässt sich ent15 In Tartu 1824–1835, ab 1835 Generalsuperintendent in Königsberg. 16 Zuletzt spricht von Oettingen vom „protestantischen Württemberg“. Dort wirken die „zerstörenden (negativen) Tendenzen“ in Gestalt der Schule von Ferdinand Christian Baur (1792–1860). Ihn behandelt von Oettingen als Rechtshegelianer. Zu seiner Schule gehören u. a. Albert Schwegler (1819–1857), Adolf Hilgenfeld (1823–1907), Gustav Volkmar (1809– 1893), Eduard Zeller (1814–1908) und Karl Holsten (1825–1897). Baurs Schule hat „eine speculative Construction des Urchristenthums (Gegensatz von Judenchristenthum und Paulinismus) mit großer, umfassender Gelehrsamkeit, aber willkürlicher Quellenkritik durchzuführen“ versucht (1886a, 404f). Zum anderen gibt es in Württemberg die „pietistisch-sektirerischen Elemente[]“. Aber neben beiden findet „eine rege theol[ogische] Geistesarbeit im positiven Sinne“ statt: „die gläubige Theologie“ wird „neben dem geistvollen originellen Johan Tobias Beck (1804–1878)“ von einer Gruppe „biblisch-gesinnter“ Theologen wie Maximilian Albert Landerer (1810–1878), Christian Friedrich Schmid (1794– 1852) und Christan Palmer (1811–1875) vertreten (ibid., 409).
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nehmen, was auch für von Oettingen selbst das Entscheidende in der „Dorpater Schulung unter Philippi’s Leitung“ war (ibid., 14). Philippis „tiefgegründete Theologie“ wird hervorgehoben, wobei in erster Linie nicht „der altehrwürdige Bau der kirchlichen Orthodoxie“, sondern der „echt evangelisch-lutherische Kern des Glaubens“, der „Eine, man könnte sagen, christozentrische[] Grundgedanke“, anziehend wirkte (vgl. 1883a, 13, 20). Philippi hat seine Studenten „stets auf den Felsengrund des ,sola fide sola gratia‘ gestellt“ (ibid.). Von Oettingen blickt auf Philippi als einen solchen lutherischen „Kerntheologen“, nicht etwa auf einen Repristinator der Dogmatik des 17. Jahrhunderts, dankbar zurück.17 Untersucht man das Werk von Oettingens daraufhin, wie oft und in welcher Weise im Zuge theologischer Argumentation auf Philippi Bezug genommen wird, stellt man fest, dass dies generell selten passiert. Die Mehrheit dieser Stellen ist ihm gegenüber zudem eher kritisch.18
9.2.2 Ein zweiter Lehrer: Hofmann in Erlangen und seine heilsgeschichtliche Methode Als von Oettingen im Winter 1850/1851 zusammen mit Moritz von Engelhardt „im Hafen der Erlanger Theologie“ weilt, ist es „die vielleicht schwerste, wenn auch in der Rückerinnerung schönste Zeit unseres gemeinsamen Ringens und Arbeitens“ (1882c, 23). Er hat „den originellen Theologen“ Hofmann zur „Einleitung in’s Neue Testament“ sprechen hören und dadurch seine Grund17 An einer anderen Stelle verweist von Oettingen auf Philippis Vorlesung über den Römerbrief: „Besonders Philippi’s Einfluß wurde für uns durchschlagend. Seine Erklärung des Römerbriefes eröffnete uns eine neue Welt“ (1882c, 19). Den wichtigsten wissenschaftlichen Ertrag Philippis aus der Dorpater Zeit bildet sein Commentar über den Brief Pauli an die Römer (1850–1852). Es erschien in drei Auflagen (2. Aufl., 1856; 3. verb. und erg. Aufl., 1866; auf Norwegisch 1863; auf Englisch 1879). 18 Wenige Ausnahmen sind z. B. eine (differenzierte) Anerkennung von Philippis Kritik an Hofmanns Versöhnungslehre (vgl. unten Kap. 10) in den 1850er Jahren oder in den 1860er Jahren die Würdigung von Philippis Festhalten an der sog. Zweinaturenlehre (vgl. 1867a). Leider gibt es bis heute keine eingehende Untersuchung zur Theologie Philippis, obwohl – oder vielleicht: weil – er in der Literatur häufig als Paradebeispiel der sog. Repristinationstheologie gilt, einer Theologie, die sich exklusiv an der Orthodoxie des 17. Jh. orientiert, gilt. Eine vergleichbare Fremdbezeichnung oder polemische Etikettierung aus dem 20. Jh. ist z. B. die Charakterisierung der Theologie Karl Barths als „Neuorthodoxie“. Bei einer hinreichend groben Betrachtung ist es sicherlich vorstellbar, dass heute sowohl die Kirchliche Glaubenslehre Philippis als auch die Kirchliche Dogmatik Karl Barths als Spielarten eines Fundamentalismus angesehen werden. Aufgrund einer selektiven Lektüre und Analyse der Kirchlichen Glaubenslehre Philippis, nämlich der Prolegomena und Christologie, neige ich zu der Ansicht, dass eine solche „Glaubenslehre“ nur im Kontext der Neuzeit denkbar und also zumindest nicht als eine bloße Wiederholung der Dogmatik des 17. Jh. interpretiert werden kann. Zur Christologie der Tartuer Theologen des 19. Jh., speziell auch zu Philippi, vgl. Plder, Jumalinimene [dt. Gottmensch].
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Einführende Kontextualisierung des Werkes von Oettingens
anschauungen kennen lernen können. Die Grundgedanken der Monographie Der Schriftbeweis (1. Aufl. 1852–1856), die im Erscheinen begriffen war, hat Hofmann ihm und Engelhardt „beim persönlichen Verkehr gern […] in seiner ruhig geschlossenen Weise“ dargelegt (1883a, 20). Besonders wichtig und wegweisend für die eigene Arbeit wurde für beide Hofmanns „heilsgeschichtliche Methode“ und „seine Tendenz, die ganze Theologie als wissenschaftliche Selbstaussage des christlichen Thatbestandes der Wiedergeburt innerhalb der heilsgeschichtlich begründeten kirchlichen Gemeinschaft anzusehen“ (ibid., 20–21).19 9.2.3 Theologischer Realismus und sozialethische Grundeinsicht Von Oettingen spricht im Anschluss an die Tagebuchaufzeichnungen von Engelhardts – diese auch zitierend – davon, wie Engelhardt in jener Zeit, i. e. Anfang der 1850er Jahre, „in engem Anschluß an die Hofmannschen Ideen“, und „zum Theil“ im Gegensatz sowohl zu der „modern specula-tive[n]“ als auch zu der „alt-orthoxe[n]“ Denkweise, sowohl zum Materialismus als auch zum Idealismus, allmählich zu einem theologischen Realismus gelangte (ibid., 26, 32): Auf diesem Wege historischer Forschung gelangte Engelhardt auf denselben Boden eines social-ethischen Realismus, wie ich ihn auf einem ganz anderen Wege, durch die systematische Beobachtung der Gegenwart, aufzufinden und zu festigen versuchte. Ich erinnere mich, daß wir damals viel über diesen Punkt discutierten und daß uns vollkommen klar und gewiß wurde, daß christlicher Realismus nicht möglich sei, ohne eine – wie soll ich sagen – socialethische Kirchlichkeit oder kirchliche Reichs- und Socialethik. (1883a, 32).
In diesem Rückblick auf die theologische Entwicklung seines Freundes und seiner selbst datiert von Oettingen seine sozialethische Grundeinsicht also schon in die „Vorphase“ seines eigenen Werkes. Die Begrifflichkeit, die er in dieser Erinnerung verwendet, ist eine spätere. Doch die Tagebuchnotizen erlauben ihm eine Selbstinterpretation, wonach er schon damals zu einer Erkenntnis gelangt ist, an der er sowohl in dogmatischer als auch ethischer Richtung weiterarbeitet 19 Vgl. dazu die neuere und in mancher Hinsicht bahnbrechende Studie The Self-Giving God and Salvation History. The Trinitarian Theology of Johannes von Hofmann, die auf eine bei David Tracy geschriebene Doktorarbeit zurückgeht (ders., The Self-Giving God). Hofmann wird als einer der wichtigsten Trinitätstheologen der neueren Zeit dargestellt. „His ideas about God’s historical self-giving should still matter to contemporary theology, especially in ligth of recent Trinitarian theologies and kenotic Christologies, which explore, respectively, the themes of divine relationality and God’s self-emptying love in Jesus.“ (Ibid., xx.). Als neuere Studien zu Hofmann erwähne ich „Heilsgeschichte im Zeitalter des Historismus. Das geschichtstheologische Programm Hofmanns“ von J. Wischmeyer (Wischmeyer, Heilsgeschichte) und vor allem „,Heilsgeschichte‘. Zur Anatomie eines umstrittenen theologischen Konzepts“ von C. Schwöbel (Schwöbel, „Heilsgeschichte“).
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– und die er in der zweiten Phase des Werkes zu einer Sozialethik mit Einbezug der Moralstatistik ausarbeitet. Unklar bleibt im obigen Zitat die Wendung „die systematische Beobachtung der Gegenwart“. Man kann vermuten, dass es sich um einen Hinweis auf die Moralstatistik handelt. Diese wird für ihn allerdings erst in den 1860er Jahren zum Thema. Für diesen Fall würde hier eine nachträgliche Überinterpretation vorliegen. Wahrscheinlicher ist, dass diese Formulierung zeigt, dass von Oettingen schon während des Studiums in Tartu sichtbar durch „das systematische Denken“ angezogen wurde, von Engelhardt dagegen von „historischen und dogmenhistorischen Fächern“ (1882c, 19).20 Hier ist also m. E. nicht an die Moralstatistik, sondern vielmehr an die Analyse der gegenwärtigen Erfahrung auf der Linie der Erlanger „Erfahrungstheologie“ (mit Schleiermacher im Hintergrund) zu denken. Im Unterschied zu Philippi ist von Hofmann eine häufige Referenzfigur im Werk von Oettingens, obwohl einige seiner Auffassungen sowohl auf dem Gebiet der Dogmatik als auch dem der Ethik explizit in Frage gestellt oder zurückgewiesen werden. 9.2.4 Hofmann und Philippi als die wichtigsten Lehrer in der Studienzeit von Oettingens Etwa zehn Jahre später, als er seine eigenen dogmatischen Auffassungen zunehmend profiliert, in denen der Gedanke der Selbstbeschränkung Gottes eine grundlegende Bedeutung hat, setzt von Oettingen sich kritisch mit den Leitfiguren der damals dominierenden theologischen Richtungen – mit Frank und Ritschl –, auseinander. Aber auch Martin Kähler und Johann Tobias Beck, die in der neueren Theologie dem Grundgedanken der göttlichen Selbstbeschränkung am nächsten gekommen seien, so von Oettingen in seinem Urteil, finden Beachtung. Zugleich hebt er die Bedeutung hervor, die seine beiden direkten theologischen Lehrer auf ihn gehabt haben. Er erwähnt die von dem „gewaltigen Theologen“ Hofmann so „genial durchgeführte[] Grundansicht“ (1895b, 17f). Er bekennt:
20 In einem Brief von Engelhardts an einen Bruder von Oettingens, datiert mit Februar 1852, steht im Zusammenhang einer inhaltlichen Beschreibung der Anschauung, in der von Oettingens Position als „social-ethischer Realismus“ bezeichnet wird: „Du wirst in Alexanders Ansichten Vieles davon, wenn auch in ganz anderer Form wiederfinden. Neulich tauschten wir über diese Punkte unsere Ansichten aus und fanden uns – von ganz verschiedenen Wegen ausgehend – wieder in Einem Resultat.“ (1883a, 33, Anm.). Dies unterstützt die These dieser Untersuchung, wonach Sozialethik eben nicht als Resultat oder Konsequenz der Moralstatistik zu verstehen ist.
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schon in meiner Studienzeit, da ich vor fast einem halben Jahrhundert zu den Füßen dieses Meisters saß, eine entschiedene und für mein ganzes späteres Geistesleben entscheidende Anregung […] durch Hofmanns tiefgreifende und originelle Begründung der heilsgeschichtlichen Betrachtungsweise erhalten zu haben. (Ibid., 18).
Als früherer Schüler Philippis habe er jedoch mit jenen „großen dogmatischen Probleme[n], die im Kreuzgeheimnis, im Geheimnis der Versöhnung wurzeln oder gipfeln“, schwer gerungen. Diese wurden zum Gegenstand eines heftigen literarischen Streites zwischen seinen beiden Lehrern.21 Bei diesem Ringen sei ihm damals klar geworden: Beide sind sich einig darin, dass „die gnadenreiche[] Herablassung der versöhnenden, mittleidenden Gottesliebe in unser Fleisch und Blut, in unsere Armut und Bedürftigkeit […] der Hebelpunkt unserer Glaubensfreudigkeit“ ist und bleibt (ibid., 18). Er ist sich auch sicher, dass die beiden sich „im Zustande der Verklärung, wo nach dem Wort Pauli (1.Kor 13) das ,Schauen von Angesicht zu Angesicht‘ dem Stückwerk unseres dunkeln, spiegelartigen Erkennens folgen soll, […] in der höheren Wahrheit geeint und gefunden haben“ (ibid).22 Auf jeden Fall gelten beide nach dem Selbstzeugnis von Oettingens als seine wichtigsten Lehrer. In der theologischen Landschaft, die von Oettingen Mitte der 1880er Jahre umrissen hat, sind er, sowie beide Lehrer, im Rahmen der sog. kirchlichen oder positiven (oder) lutherischen Theologie zu verorten. Wie sieht die theologische Landschaft des 19. Jh. für die Augen von heute bzw. im Licht der neueren Forschung aus?
9.3
Typologien der theologischen Landschaft in der neueren Forschung
9.3.1 Der Forschungsbericht Falk Wagners (1988) Zunächst soll ein Blick auf zwei wichtige und umfangreiche Forschungsberichte geworfen werden. Der von Falk Wagner verfasste Text „Zur Theologiegeschichte des 19. und 20 Jahrhunderts“ berücksichtigt Beiträge aus den Jahren 1964–1985. Die Studien zu Schleiermacher sind nicht aufgenommen, da sie separat besprochen werden. Wagner behandelt zuerst die monographischen Arbeiten und Studien zu einzelnen Autoren und dann die übergreifenden Gesamtdarstellungen und Anthologien. Die Gliederung Wagners orientiert sich zum ersten
21 Vgl. unten Kap. 10. 22 Dies gilt auch für „ihre edlen, nun auch heimgegangen Genossen“ wie Thomasius und Theodosius Harnack, Delitzsch und Frank (vgl. 1895b, 18).
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chronologisch, zum zweiten inhaltlich und zum dritten an den faktisch vorliegenden Studien aus der Periode 1964–1985. Wagner gliedert seine Besprechung mit Blick auf das 19. Jh. so, dass zunächst die Arbeiten zur spekulativen Theologie im Kontext der Hegel-Schule diskutiert werden.23 Eine weitere Rubrik bildet die spätidealistische Vermittlungstheologie.24 Es folgen die Erlanger Theologie (ca. 1835–1894), die als „führende Stimme des konfessionell-lutherischen Lagers“ bezeichnet wird,25 und Albrecht Ritschl und seine Schule. Im Anschluss an Hermann Timm und Christoph Schwöbel behauptet Wagner, dass die Etiketten „liberale Theologie“, sowie „Kulturprotestantismus“ erst nach der theologiegeschichtlichen Epochenwende der 1920er Jahre von der sog. Dialektischen Theologie Ritschl und seiner Schule, sowie Ernst Troeltsch etc. angehängt worden sind. Ursprünglich wurden die Bezeichnungen „liberal“ bzw. „frei“ für Theologen wie etwa A.E. Biedermann, O. Pfleiderer und R.A. Lipsius verwendet.26 An die Betrachtung von Franz Overbecks (1835–1905) Kritik des geschichtlichen Christentums27 schließt sich eine Darstellung des liberalen Theologen Otto Pfleiderer (1839–1908) an. Nach der Erörterung dieser Einzelgestalten kommt Wagner auf die Positive Theologie zu sprechen. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jh. ist die evangelische Theologie durch die Polarität von „modern-liberaler“ und „positiv-konservativer“ Theologie bestimmt. Die letztere Richtung sei keine geschlossene und einheitliche Größe.28 Der letzte Abschnitt aus Wagners Forschungsbericht, den ich hier anführen möchte, widmet sich Ernst Troeltsch. Die darauf folgende Berichterstattung gehört bereits stärker zur Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts.
23 Wagner konstatiert, dass die durch Schelling und besonders durch Hegel inspirierte Spekulative Theologie weiterhin in der Theologiegeschichtsschreibung als ein Epiphänomen gilt (vgl. Wagner, Theologiegeschichte, 117). 24 Die Wendung „Vermittlungstheologie“ bereitet besondere Schwierigkeiten: „Klarheit herrscht weder über einen semantisch überprüfbaren Gebrauch des Vermittlungsbegriffes selber noch über die Frage, welche Theologen und theologischen Richtungen im einzelnen zur Vermittlungstheologie zu rechnen seien.“ (Ibid., 129). 25 Ibid., 132. 26 Vgl. ibid., 135. Ernst Troeltschs Rezension der Dogmatik von Oettingens, verfasst um die Jahrhundertwende, verlangt nach einer korrigierenden Präzisierung dieser These, weil Troeltsch sich darin auch selbst als einen „freien Theologen“ bezeichnet (vgl. unten Kap. 24). 27 Dieser „negative Theologe“ oder „ungläubige Berufstheologe“ stellt ein sui generis dar und ist mit seiner Christentums- und Theologiekritik nirgendwo zuzuordnen (vgl. Wagner, Theologiegeschichte, 147). 28 Vgl. Wagner, Theologiegeschichte, 151.
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9.3.2 Der Forschungsbericht Jörg Dierkens (2001) Jörg Dierken hat im Jahr 2001 den Bericht Wagners fortgeschrieben. Da die Theologische Rundschau die Schleiermacherforschung separat behandelt, ist diese auch bei Dierken ausgekoppelt. Wenn man von den zunächst besprochenen problemgeschichtlich orientierten Arbeiten absieht, geht es in dem dreiteiligen Dierkschen Bericht „Zur Theologiegeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts“, mehr oder weniger die Chronologie berücksichtigend, um die Studien zur Religionsphilosophie und philosophische Theologie der klassischen deutschen Philosophie mit dem Schwerpunkt auf Hegel. Die Abhandlung wird mit der Spekulativen Theologie, der Linkshegelianischen Religionskritik,29 Erweckungstheologie und dem Schnittfeld von Idealismus und Vermittlungstheologie,30 mit Ferdinand Christian Baur und der ,Jüngere[n] Tübinger Schule‘ und mit Vermittlungstheologie und liberaler Theologie fortgesetzt. Zu den Kennzeichen der sog. Vermittlungstheologie, einer ersten breiten theologischen Strömung in der Theologiegeschichte des 19. Jh., gehören nach Dierken die Aufnahme sowohl von erwecklichen Frömmigkeitsmotiven – dies jedoch in gedämpfter Form – als auch von historisch-wissenschaftlichen Fragen.31 Sie distanziert sich vom Rationalismus und von der radikalen Kritik, tendiert aber nicht zur erneuerten Verteidigung konfessioneller Positionen, sondern ist vielmehr mild unionskirchlich orientiert. Sie will den schleiermacherschen und hegelschen Schulgegensatz überwinden, aber ihre Vertreter sind, besonders in der zweiten Generation, mehrheitlich stärker von Schleiermacher als von Hegel beeinflusst.32 Das Grundanliegen der Vermittlungstheologie ist „eine elastische Verbindung von subjektivem Religionsleben und objektiver biblisch-dogmatischer Überlieferung“,33 weshalb es thematische Verbindungen mit einem „gemäßigten Neukonfessionalismus“, aber auch mit der freien Theologie gibt34. Es 29 „Wirkmächtiger als die ,rechtshegelianische‘ spekulative Dogmatiktradition ist die etwas später sich formierende ,linkshegelianische‘ Auflösung der im spekulativen Geistkonzept kunstvoll verwobenen Momente geworden, die in der Christentums- und Religionskritik gipfelte.“ (Dierken, Theologiegeschichte [II], 273). 30 „In zeitlicher Nähe zum Zenit des Einflusses der Spekulation erstarkt die neupietistische Erweckungstheologie. Knüpft sie auch an entschieden supranaturalistische Denkweisen an, so geht es ihr keineswegs um eine strenge Pflege des orthodoxen Dogmas […] Die Aufmerksamkeit auf die eigene religiöse Subjektivität […] befördert auch die […] Opposition gegen den vorgeblichen Pantheismus der Spekulation.“ (Ibid., 277f). 31 Vgl. ibid., 273. 32 Diese größere Gruppe ist auch als Vermittlungstheologie im engeren Sinn, die kleinere Gruppe als nachmalige sog. liberale Theologie bekannt. 33 Dierken, Theologiegeschichte (III), 372. 34 „Während jener [i. e. der gemäßigte Neukonfessionalismus – T.-A.P.] den subjektiven Glauben und die objektive Überlieferung dadurch zusammenrückt, daß beides vom übergreifenden kirchlichen Leben her verstanden wird, akzentuiert diese [i. e. die freie Theologie – T.-A.P] deren relative Differenz, insofern der subjektive Religionsvollzug diesseits dog-
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folgt ein Abschnitt zur Lutherischen Theologie,35 die in Erlanger Luthertum und in einen kleinen Unterabschnitt zu Wilhelm Löhe36 untergliedert ist, und zur Biblisch-positiven Theologie. Dierken konstatiert, dass man diesseits und jenseits der Wende zum 20. Jahrhundert von einer Grundopposition zwischen einer „liberalen“ und einer „konservativen“ Theologie reden kann. Dieser Gegensatz konzentriert sich Dierken zufolge auf zwei Probleme:37 Wie konsequent ist historisch-kritische Forschung an biblischen sowie dogmen- und religionshistorischen Fragen zuzulassen und auszuwerten? Wie ist die Stellung des Christentums in der Moderne zu beurteilen: Besteht die theologische Aufgabe in einer sich an die „moderne“ Bewusstseinslage orientierenden Neugestaltung der Glaubensgehalte, oder in einem Festhalten an der traditionellen Glaubensgestalt im Gegensatz zum unchristlichen Zeitgeist? Ein korrespondierender Forschungsbericht von Michael Murrmann-Kahl sollte die Studien zur Liberalen Theologie, zur Ritschl-Schule und zu Troeltsch und dem Kulturprotestantismus um die Jahrhundertwende besprechen.38 Dieser ist allerdings noch nicht erschienen. Diese Forschungsberichte aus den Jahren 1988 und 2001, die durch die Kontingenz der zur Besprechung vorliegenden Studien bedingt sind, sind in ihrer Struktur, besonders bei Dierken, zwar nuancierter als die Topologie von Oettingens aus dem Jahr 1886, lassen jedoch durchaus Ähnlichkeiten erkennen. Dies gilt noch mehr, wenn man von der Einteilung bzw. Zuordnung der Personen absieht. 9.3.3 Die Einleitungen F.W. Grafs zu den Profilen des neuzeitlichen Protestantismus (1990, 1992) Die einleitenden Texte zu der unabgeschlossenen Reihe Profile des neuzeitlichen Protestantismus sind selbst kleine Monographien, die vor der Darstellung einzelner Profile das Thema und die methodologischen Probleme der Theologiegeschichte behandeln und deren Verlauf mit Blick auf die soziopolitischen und
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matischer Normativität von seinem geschichtlichen Kontext her verstanden wird.“ (Dierken, Theologiegeschichte [III], 373f). Dieses steht nach Dierken „für eine Verbindung erweckungstheologischer und konfessionalistischer Traditionslinien mit Fragestellungen, die von transzendentalem Subjektivitätsverständnis und organologischem Geschichtsdenken inspiriert sind. Dabei wird die theologisch-dogmatische Sachdimension im Horizont der Erfahrungsdimension konfessionell gebundenen religiösen Lebens thematisch.“ (Ibid., 380). Er ist eine entscheidende Figur bei der Entstehung des hochkirchlichen Neokonfessionalismus. Für ihn ist „die strikt an die Bekenntnisformeln des 16. Jahrhunderts gebundene Kirche die eine und wahre Kirche überhaupt“ und ihr Zentrum bildet das geistliche Amt (ibid., 390). Vgl. ibid., 391. Vgl. ibid.; Dierken, Theologiegeschichte (I), 197.
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Einführende Kontextualisierung des Werkes von Oettingens
kulturellen Rahmenbedingungen skizzieren. Graf verortet den Anfang der Theologiegeschichte als einer eigenständigen theologischen Disziplin neben der Kirchen- und Dogmengeschichte in die 1830er Jahre. Ihr Thema sind die Transformationen protestantischer Theologie im Übergang von einem konfessionellen Kirchenprotestantismus – oder sog. Altprotestantismus – zu einem modernen aufklärungs- und idealismusgeprägten Bildungs- bzw. Kulturprotestantismus – oder sog. Neuprotestantismus. Die zentrale Aufgabe der theologiegeschichtlichen Disziplin ist die Untersuchung der inneren Modernisierung der protestantischen Theologie.39 Ich konzentriere mich in Grafs Darstellung auf die Periode des Deutschen Kaiserreiches (1870/1871–1918). In diese Zeit fällt die Wirksamkeit des reifen von Oettingens, der bei Graf als eines von drei Beispielen für eine bestimmte Art von Theologie fungiert. Seit der Gründung des Kaiserreiches stehen im Zentrum der theologischen Debatten die Gegensätze zwischen den „liberalen Geschichtstheologen“ – als Beispiele werden Ritschl und A. Harnack genannt – und den „konservativen Kirchentheologen“ – als Beispiele gelten hier Frank, Kähler und von Oettingen.40 Letztere haben Graf zufolge dem liberalen Bekenntnis, wonach die Theologie genauso wie alle Wissenschaft autonom sein sollte, prinzipiell widersprochen. Graf behauptet, dass diese sog. Positiven in der Theologie in erster Linie eine „Legitimationswissenschaft der Kirche“ gesehen haben. Die Hauptaufgabe einer solchen „kirchlichen“ Theologie besteht in der Versicherung biblischer „Heilstatsachen“, sowie in der Auslegung der traditionellen kirchlichen Lehre in strikter Orientierung an den Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts.41 Für die liberalen Theologen liegt dagegen das Wesen des Protestantismus nicht in der Beteiligung an kirchlichen Riten, auch nicht im Einverständnis mit dem überlieferten Bekenntnis, sondern in einer religiös-sittlichen geistigen Grundhaltung, die an der Entwicklung orientiert ist. Als höchster Leitwert gilt dabei die autonome Persönlichkeit.42 Die Liberalen verstehen sich nach Graf als Vertreter der freien wissenschaftlichen Forschung, befürworten die historisch-kritische Bibelforschung und halten zumeist konsequent an der „historischen Methode“ fest. Für die Konservativen ist die Historisierung bzw. die Betonung der Geschichtlichkeit des theologischen Denkens gleichbedeutend mit einer historischen Relativierung überlieferter Verbindlichkeiten und damit auch dem Geltungsanspruch alter Glaubenswahrheiten. Mittels einer „dogmatischen Methode“ hat man versucht, die übergeschichtliche universelle Verbindlichkeit der traditionellen Kirchenlehre aufzuzeigen.43 Bei den Liberalen ist die Ab39 40 41 42 43
Vgl. Graf, Vorwort (1990), 7. Graf, Vorwort (1992), 9. Ibid. Vgl. Graf, Gesellschaft des Kaiserreichs, 16. Vgl. Graf, Gesellschaft des Kaiserreichs, 70.
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wendung vom Dogma Hand in Hand mit einer Hinwendung zur historischempirischen bzw. psychologischen Religionsforschung gegangen. In dieser Weise ist die soziokulturelle Lebenswelt der christlichen Religion, und nicht das Dogma, ihr Thema. Für die Konservativen ist dagegen Theologie meistens „Kirchentheologie“. Sie soll dazu dienen, dass die Kirchen auch in der zeitgenössischen Kulturwelt zu einer zentralen Geistesmacht werden. Ihr Thema ist die Deutung der in der Bibel und im kirchlichen Bekenntnis bezeugten „Heilstatsachen“ als Akte der Selbstoffenbarung Gottes.44 Mit dem Programm einer solchen „kirchlichen Theologie“ ist eine Fundamentalkritik der Moderne und der modernen Rationalität verbunden. Zu den Grundzügen dieser „antimodernistischen Mentalität“ gehören Wissenschaftsfeindlichkeit, Kritik der historischen Rationalität, Fixierung auf die Autorität und dogmatischer Absolutismus.45 Besonders seit den 1880er Jahren hat sich die theologische Landschaft in den Debatten um die Frage, ob Theologie eine rein historische Kulturwissenschaft oder eine dogmatische „Legitimationswissenschaft der Kirche“ ist, fundamental polarisiert. Diese Debatte hat zugleich eine politisch-theologische Dimension impliziert.46 Graf zufolge lassen sich bei genauerer Betrachtung in der Theologie des Kaiserreiches idealtypisch drei Hauptrichtungen unterscheiden: konservatives Kulturluthertum, Ritschlianer und Religionsgeschichtliche Schule. Die Gemeinsamkeit der verschiedenen konservativen Gruppierungen bzw. der Positiven besteht darin, dass sie den liberalen Individualismus kritisieren, den sozialkonservativen Antikapitalismus vertreten und die unbedingte Alleingeltung der Bibel und des kirchlichen Bekenntnisses betonen. „Alle Krisen der Gegenwart“ sind für sie „eine Folge des aufklärerischen Rationalismus und modernen Subjektivismus“.47 Die breite Mittelgruppe ist vom ritschlschen Bestreben nach Gleichgewicht zwischen der protestantischen Tradition und den bürgerlichen Kulturidealen geprägt. Durch die Modernisierung der protestantischen Überlieferung soll das Christentum, besonders für die bildungsbürgerlichen Gruppen, in neuer Weise
44 Vgl. ibid., 72f. 45 Vgl. ibid., 76. 46 Vgl. ibid., 77f. Es ist interessant, wie in dieser Angabe der Alternative der Begriff „Legitimation“ nur im Fall der Theologie als „Kirchenwissenschaft“ auftritt. Es scheint, als ob dieses Modell von Graf mit einer Trennung – Kultur und Kirche bzw. historisch und dogmatisch – operiert. Diese Trennung darf wohl nur als eine modellierende Verallgemeinerung bzw. als eine heuristische Simplifizierung verstanden werden. Man kann aber naütrlich auch sagen, dass die Theologiegeschichte bei Graf, als auch z. B. im Meisterwerk von Emanuel Hirsch, die Funktion einer Legitimationsgeschichte bzw. -wissenschaft der modernen Theologie zu erfüllen hat. 47 Graf, Gesellschaft des Kaiserreichs, 80.
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Einführende Kontextualisierung des Werkes von Oettingens
plausibilisiert werden.48 Im Unterschied zu den alten Liberalen weist man jedoch den religiösen Individualismus zurück und hebt stattdessen den Gemeinschaftscharakter der christlichen Religion und das Verhältnis von Theologie und Kirche hervor. Die Ritschlianer halten am „Ideal der sittlichen Entwicklung“ fest und „bilden harmonistische Kulturkonzepte“, sodass sich ihre Sensibilität für Konfliktwahrnehmung durch die Betonung der Homogenität reduziert hat.49 Die Religionsgeschichtler sind durch die Rezeption von Paul de Lagarde (1827–1891) in dem Bewusstsein bestärkt worden, dass man sich in einer Kulturkrise befindet. Auch sie leiden unter der Lage der Moderne. Doch im Unterschied zu den konservativen Lutheranern sind sie prinzipielle Befürworter der Aufklärung und sehen darin den „eigentlichen Beginn der modernen Welt“. Die theologische Arbeit besteht in ihrem Kern „in der nichtdogmatischen historischen Erforschung der christlichen Tradition“.50 Neben der historizistischen Wissenschaftskultur hat auch die außertheologische Religionswissenschaft die religionsgeschichtliche Richtung geprägt. Anders als die konservativen Kulturlutheraner, die den ethischen Autoritätsanspruch der Kirche gegenüber der Gesellschaft hervorheben, betrachten die Religionsgeschichtler die einzelnen Christen und freie Verbindungen freier Persönlichkeiten als primäre Subjekte in der sittlichen Lenkung gesellschaftlicher Entwicklungen.51 9.3.4 Die enzyklopädische Gesamtdarstellung Eckhard Lessings (2000) Diese stichwortartige Vergegenwärtigung des Raumes in dem von Oettingen sich bewegt – aus seiner Eigenperspektive und aus exemplarischen Perspektiven neuerer Forschung – möchte ich mit einem Blick auf die große enzyklopädische Gesamtdarstellung von Eckhard Lessing abschließen. Lessing bestimmt die Aufgabe der Theologiegeschichtsschreibung als eine zweifache, der Stellung und Aufgabe der Theologie entsprechende. Ihre Aufgabe ist eine rationale Klärung der Implikationen des christlichen Glaubens und diese erfolgt im Zusammenhang mit der kirchlichen Lehrsituation.52 Der im Jahr 2000 erschienene erste
48 49 50 51 52
Vgl. ibid., 84. Ibid., 85f. Ibid., 90. Vgl. ibid., 92. Vgl. Lessing, Geschichte, 20. Im Unterschied zu Graf können Lessing zufolge deshalb die Bezeichnungen „neuzeitliche Theologie“ oder „moderne Theologie“ nicht als Leit- oder Oberbegriffe der Theologiegeschichtsschreibung dienen. Als ihr Thema kann somit auch nicht die Modernisierung der Theologie gelten, obwohl der Begriff zur Charakterisierung der geistesgeschichlichen Lage gebraucht werden kann. Lessing betont, dass auch die politischen Kategorien „liberal“ und „konservativ“ nicht als Leitbegriffe der Theologiegeschichtsschreibung taugen. Vgl. zu seinen Verfahrensgrundsätzen: Lessing, Geschichte, 20–
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Band seiner Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart behandelt die Jahre 1870–1918. Die Periode wird zweigeteilt. Unter der Überschrift „Theologie als Wissenschaft“ (1870–1890) behandelt Lessing zuerst die „Ansätze“ von Albrecht Ritschl, Hermann Cremer und Martin Kähler, Franz Hermann Reinhold Frank, Otto Pleiderer und Richard Adalbert Lipsius. Es folgt eine Schilderung der sich daraus entwickelnden „theologischen Schulen“. Es sind die Ritschlschule, die Greifswalder Schule und die zeitgenössische positive Theologie, die konfessionell-lutherische Theologie und die freie Theologie. Unter der Überschrift „Religion als Problem der Theologie“ (1890– 1918) werden zunächst die religionsgeschichtliche Schule und die modern-positive Theologie als „die neuen Ansätze“, dann aber auch die Weiterbildungen der ritschlschen, der positiven und der Erlanger Theologie präsentiert. Die Gegensätze, die die konfessionell-lutherische Theologie um die Jahrhundertmitte charakterisiert haben, relativieren sich Lessing zufolge in der von ihm dargestellten Periode, und die Erlanger Theologie gewinnt eine herausragende Bedeutung.53 Von Oettingen erscheint in seiner Theologiegeschichtsschreibung als Vertreter der konfessionell-lutherischen Theologie und wird als einer der drei bedeutsamsten Ethiker der Erlanger Richtung dieser Zeit gewürdigt.54 Die anderen sind Frank und Luthardt. Das positionierende Generalurteil Lessings zu von Oettingen im Kontext der konfessionell-lutherischen Theologie lautet: „Vermittlungsformen, wie sie besonders Alexander von Oettingen […] in bezug auf die konfessionell-lutherischen Gegensätze wie die Ritschlsche Theologie zu verwirklichen sucht, können sich nicht durchsetzen.“55
9.4
Zusammenfassung der einführenden Kontextualisierung
Mitte der 1880er Jahre versteht sich von Oettingen selbst als einen der positivkirchlichen Strömung zugehörigen Theologen. Die Theologie hat ihm zufolge 25. F.W. Grafs (vernichtendes) Urteil dazu kann man aus seiner Besprechung des ersten Bandes von Lessing entnehmen (Graf, Das Übrige Gott befohlen). 53 Vgl. Lessing, Geschichte, 133. Die wichtigsten Fakultäten, in denen die konfessionell-lutherische Theologie dominierte, waren nach Lessing Erlangen, Leipzig, Dorpat/Tartu und Rostock, z. T. auch Greifswald. Eine enge Beziehung bestand vor allem unter den ersten drei, d. h. zwischen Erlangen, Leipzig und Tartu. Nach dem Tod von Hermann Cremer hat der Erlanger Geist, und zwar im modern-positiven Sinn Reinhold Seebergs, auch Greifswald geprägt (vgl. ibid., 133). Auch der schon erwähnte Tartuer Systematiker und Religionspsychologe Karl Girgensohn (vgl. oben Kap. 8) wurde nach der Neuorganisierung der Dorpater/ Tartuer Theologischen Fakultät in der neugegründeten Republik Estlands zunächst Professor eben in Leipzig und dann in Greifswald. 54 Vgl. Lessing, Geschichte, 242–244. 55 Ibid., 133.
142
Einführende Kontextualisierung des Werkes von Oettingens
im 19. Jahrhundert einerseits von der philosophischen Spekulation starke Impulse bekommen, andererseits sind durch die Wirkung Schleiermachers das religiöse Gefühl und das Bedürfnis der christlich-religiösen Gemeinschaft für die Theologie wichtig geworden. Ich verstehe das so: Schleiermachers Einsicht, dass es Religion nur als Religionen gibt, hat die kirchlich-positive Richtung faktisch auf das Christentum angewandt: Es gebe christliche Religion nur in der Pluralität der Konfessionen bzw. der Kirchen. Damit steht für von Oettingen die Entwicklung eines konfessionell bestimmten Bewusstseins von Kirche in Verbindung, eines Sinnes für ihre besondere Bedeutung für den Glauben, eines Sinnes für ihre Stellung in der christlichen Religion. Seit den 1830er Jahren entwickelt sich in den lutherischen Kirchen eine Theologie, die sich durch eine Sensibilität für das „kirchliche Bedürfniß“ auszeichnet, und für eine kirchlichkonfessionelle Erneuerung und für die Förderung und Weckung des kirchlichen Bewusstseins arbeitet. Von Oettingen versteht sich als zweite Generation dieser theologischen und kirchlichen Erneuerungsbewegung. Seine wichtigsten Lehrer aus der Studienzeit sind seiner eigenen Einschätzung zufolge einerseits Friedrich Philippi als evangelischer „Kerntheologe“ und andererseits Johann von Hofmann mit seiner „heilsgeschichtlichen Betrachtungsweise“, die zugleich – wie M. Becker es m. E. ganz zutreffend beobachtet hat – als eine Art trinitarische Theologie zu verstehen ist. Im Anschluss an Hofmann erkannte er schon in der Studienzeit die sozialethischen Implikationen eines christlichen bzw. lutherischen Realismus. In den Forschungsberichten von Wagner und Dierken, die durchaus Ähnlichkeit mit von Oettingens eigener Übersicht über den Verlauf der Theologie im 19. Jh. aufzeigen, erscheint von Oettingen zwar nicht – in der früheren Theologiegeschichtsschreibung ist er häufig zu den Erlangern gerechnet worden –, aber bei Graf und Lessing, d. h. in einer Gesamtskizze und in einer ausführlichen Gesamtdarstellung der Entwicklung der Theologie im Kaiserreich, wird er jedoch sehr wohl erwähnt. Zusammen mit Frank und Kähler gilt er für Graf als Beispiel der „konservativen Kirchentheologie“, die sich in konservativer Haltung um eine Legitimierung der Kirche bemüht hat. Doch ragt er unter den Konservativen mit seiner „bahnbrechenden“ Moralstatistik heraus, die das Themenspektrum der Ethik entscheidend erweiterte. Bei Lessing ist er, aufgrund seiner Sittenlehre, mit Frank und Luthardt einer der bedeutsamsten Ethiker der Erlanger Richtung. Sowohl Graf als auch Lessing lassen das dogmatische Hauptwerk unberücksichtigt. Doch für Lessing gilt von Oettingens Theologie als Vermittlungsform zwischen konfessionell-lutherischer Theologie – als deren Hauptgestalt Frank gilt – und ritschlscher Theologie.
Zweiter Teil: Zwei Leitkonzepte in ihrer Genese: „Theologie des Kreuzes“ und „Sozialethik“ im Gesamtwerk
Einführung
145
Einführung Dieser zweite Teil der Studie soll die beiden Schlüsselkonzepte des Werkes von Oettingens in der Dynamik ihres Gebrauchs genauer in Augenschein nehmen und das Gesamtwerk von ihnen her analysieren. Die Formel „Theologie des Kreuzes“ taucht in von Oettingens Werk zum ersten Mal im Jahr 1859 in einer Abhandlung über „Theologie und Kirche“ auf. Wie schon gesagt1 ist diese Abhandlung so etwas wie der keynote article für die Dorpater Zeitschrift für Theologie und Kirche, die für ca. fünfzehn Jahre als gemeinsames theologisches Publikationsorgan der Dorpater/Tartuer Fakultätsmitglieder und der Pastoren der evangelisch-lutherischen Kirche diente. Zu Beginn dieses Aufsatzes wird direkt und ausführlich auf Luther, vor allem auf seine Heidelberger Disputation, Bezug genommen. Die Untersuchung des Gesamtwerkes von Oettingens bezüglich des expliziten Vorkommens dieser Formel und ihrer Variationen (theologia crucis, Kreuzestheologie) schließe ich mit der Betrachtung der dogmatischen Programmschrift Das göttliche „Noch nicht!“ (1895b) ab. Darin sind u. a. von Oettingens Thesen aus dem Jahr 1893 zu Luthers theologia crucis eingearbeitet. Eine fokussierte Auseinandersetzung mit seinem dogmatischen Hauptwerk, das vom Standpunkt einer Theologie des Kreuzes ausgehend verfasst zu sein beansprucht, verschiebe ich in den dritten Teil der Untersuchung. In den Schriften der Jahre 1859 bis 1895 findet sich eine Reihe von Textstellen, die das Konzept mit systematischer Absicht aufgreifen, ohne dabei näher an Luthers Einführungssituation dieses Sprachgebrauchs zu erinnern. So entsteht ein Bogen vom Traktat aus dem Jahr 1859 zur Schrift des Jahres 1895. Zwischen diesen beiden Eckdaten wird immer wieder durch das Heranziehen jener Begrifflichkeit Rechenschaft über den Gesamtcharakter der Theologie abgelegt, oder es werden einzelne materiale Erkenntnisse gerechtfertigt und begründet. Im ersten Abschnitt des zweiten Teils werde ich die wichtigsten Stellen, an denen das Konzept vor der Veröffentlichung von Lutherische Dogmatik verwendet wird, aufführen und analysieren. Um den Traktat von Oettingens aus dem Jahr 1859, besonders seine explizite Bezugnahme auf Luthers Theologie des Kreuzes, sowie seine Orientierung daran im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Kirche, besser verstehen und würdigen zu können, stelle ich einführend die heuristische Frage nach dem Entdeckungszusammenhang der Theologie des Kreuzes bei von Oettingen. Damit beanspruche ich keinen strengen Aufweis eines Begründungszusammenhangs. Auch eine detaillierte historische Rekonstruktion, die den Rückgriff von Oettingens auf Luther und auf die Kreuzestheologie als Antwort auf etwas genau Bestimmtes zu verstehen erlaubt, ist nicht mein Ziel. Ich erinnere vielmehr an die Anfänge der Lutherfor1 Vgl. oben Kap. 5.
146
Einführung
schung Mitte des 19. Jh. und stelle Überlegungen zur theologischen Konstellation und Atmosphäre dar, in der von Oettingen die „Theologie des Kreuzes“ als Schlüssel für das Ganze der Theologie Luthers, aber auch als Leitmotiv und als systematische Aufgabe für die eigene Theologie entdeckt zu haben scheint. Im zweiten Abschnitt dieses Teiles konzentriere ich mich auf die ursprüngliche Einführung des Begriffes Sozialethik in die Theologie. Sie erfolgte im Rahmen eines Rekonstruktionsversuchs der Ethik als Sozialethik mit der Integration empirischer Sozialforschung in Gestalt der Moralstatistik. Auch dieser Abschnitt beginnt mit einer einführenden Kontextualisierung. Unter Berücksichtigung der Forschungssituation bezüglich der Geschichte der Sozialethik in Deutschland und in den USA werde ich das Recht und die Grenzen, sowie den systematischen Grundsinn thematisieren, in dem von Oettingen als derjenige Theologe bezeichnet werden darf, der das Wort und das Konzept einer Sozialethik in die ethische Arbeit eingeführt hat. Die Wendung taucht bei ihm erstmals im Jahr 1867 auf. Ich weise auch auf ihre früheren Verwendungen, die jedoch stets eine andere Pointe haben, hin und schließe mit Überlegungen hinsichtlich jener Aspekte ab, die das rechte Verstehen des Anliegens von Oettingens erschweren. Es geht um das Verständnis aller Ethik als Sozialethik bzw. von Sozialethik als einem Bestandteil der Ethik. Danach arbeite ich Motive für eine Transformation der Ethik in eine Sozialethik auf empirischer Grundlage aus, untersuche die Funktion und die Pointe der Moralstatistik (oder des analytisch-induktiven Teils einer empirisch ansetzenden Sozialethik) und charakterisiere ihren synthetisch-deduktiven Teil, i. e. die christliche Sittenlehre. Die Differenz zwischen dem kreuzestheologischen und dem sozialethischen Abschnitt im zweiten Teil ist dadurch bedingt, dass einerseits in der gegenwärtigen Forschungslage die These einer postaufklärerischen systematischen Erstgestalt der Kreuzestheologie im Werk von Oettingens eine Neuheit darstellt, anderseits zwischen der erstmals ausdrücklichen Charakterisierung der Theologie als Kreuzestheologie und zwischen ihrer dogmatisch durchgeführten Vollgestalt ca. 40 Jahre liegen. So gilt es dem nachzugehen, wo und in welchem Sinn er in seinem Werk vor der dogmatischen Gesamtdarstellung explizit auf „Theologie des Kreuzes“ Bezug nimmt bzw. sich daran orientiert. Dagegen ist es bezüglich des Begriffes „Sozialethik“ heute durchaus verbreitet, obwohl präzisierungsbedürftig, von Oettingen als dessen Urheber anzusehen. Die Einführung des Begriffes erfolgte zwischen 1867 und 1873 im Rahmen eines großangelegten Versuchs empirisch ansetzender Sozialethik, der zugleich als das ethische Hauptwerk von Oettingens anzusehen ist. Im Unterschied zum ersten Abschnitt, der den Gebrauch der Wendung „Theologie des Kreuzes“ im Werk von Oettingens über mehrere Jahrzehnte und durch alle seine vier Phasen verfolgt, konzentriert sich der zweite Abschnitt vor allem auf die zweite Phase. Im dritten Teil der Untersuchung liegt der Fokus der Aufmerksamkeit speziell auf dem Verhältnis zwischen Kreuzestheologie und Sozialethik.
Erster Abschnitt: Unterwegs zur staurozentrischen Dogmatik, oder: Wo und wie erscheint „Theologie des Kreuzes“
10.
Was könnte von Oettingens Bezugnahme auf Luthers Theologie des Kreuzes bedingt haben? Hinweise und Überlegungen zum Entdeckungszusammenhang
10.1
Die Anfänge der Lutherforschung in Mitte des 19. Jahrhunderts und die Erlanger Theologen
Von Oettingen ist der erste Theologe, der sich in der Postaufklärung in einer programmartigen Weise explizit auf Luthers Konzept der theologia crucis bezogen und sich in seiner systematisch-theologischen Arbeit daran konstruktiv orientiert hat. Im Anschluss an eine noch durch Walther von Loewenich, den Autor der ersten Monographie über Luthers theologia crucis,1 angeregte neuere Untersuchung von Friedrich Wilhelm Winter lässt sich der Umgang der evangelischen Theologie des 19. Jh. mit Luther skizzieren.2 Die Spezialforschung über Luther begann Winter zufolge um das Jahr 1850. Bis dahin war Luther „von vielen Theologen kaum gelesen und nur von den Bekenntnisschriften her verstanden“ worden.3 Zwar ist die Wirkung der Arbeiten von Julius Köstlin (1826–1902) über Luthers Ekklesiologie (1853) und über Luthers Theologie (1863) bahnbrechend gewesen, doch beschäftigten sich etwa zeitgleich auch die Erlanger Theologen (wie Harleß, Höfling,4 von Hofmann und Thomasius) mit Luther. Deren entweder direkt zu Luther oder in ausführlicher direkter Bezugnahme auf ihn verfassten Arbeiten sind „zumindest
1 Vgl. oben Kap. 1. 2 Vgl. Assel, The Use of Luther’s Thought. 3 Winter, Lutherforschung, 21. Über die Beschäftigung mit Luther vor der Jahrhundertmitte: ibid., 19–21. 4 Johann Wilhelm Friedrich Höfling (1802–1853).
148
Oettingens Bezugnahme auf Luthers Theologie des Kreuzes
gleichzeitig“ oder haben sogar die Priorität gegenüber Köstlin.5 Auch wenn Albrecht Ritschl mit seinen in den Jahren 1870–1874 (Rechtfertigung und Versöhnung) und 1880–1886 (Geschichte des Pietismus) erschienenen Werken als „eigentlicher Begründer der wissenschaftlichen Lutherforschung gilt“, muss doch konstatiert werden, dass gerade im Zeitraum von ca. 1850–1870 die wichtigsten Schriften der Erlanger Theologen entstanden, die sich mit Luther auseinandersetzten. (In zeitlicher Hinsicht bildet der zweite Band von Luthers Theologie von Th. Harnack eine wichtige Ausnahme, weil er erst 1886 erschien.) Also: Die Deutung der Theologie Luthers bis etwa zur Mitte des Jahrhunderts war vor allem „durch die Bekenntnisschriften und das nachreformatorische Luthertum geprägt“ und der Verdienst der Erlanger Theologen6 besteht darin, dass sie ganz entscheidend „zur beginnenden Beschäftigung mit Luther“ und zur eigentlichen wissenschaftlichen Lutherforschung beigetragen haben.7 Wie ich oben festgehalten habe,8 stand von Oettingen in einer engen Beziehung zur Erlanger Theologischen Fakultät und der Denkatmosphäre dortiger Theologen. Als Antwort auf die Frage, ob konkrete Impulsgeber für seine kreuzestheologische Orientierung an Luther genannt werden können – er selbst tut es nicht –, liegt ein Verweis auf die Erlanger Theologen nahe. Von besonderer Relevanz dürfte hier eine große und berühmte Debatte um die Versöhnungslehre gespielt haben, auf die ich deshalb ausführlicher eingehe. Sowohl im Hinblick auf diese Debatte als auch auf die erste umfassende Darstellung von Luthers Theologie (1862, 1886), die mit ihrer Hervorhebung der besonderen Bedeutung der theologia crucis bis zur Studie von Loewenichs (1929) in der entstehenden wissenschaftlichen Forschung an der Theologie Luthers einzigartig bleibt, werden jedoch produktive Impulse sichtbar, die sich nicht auf die Erlanger Theologie zurückführen lassen und eine nähere Betrachtung verdienen. Dadurch lässt sich die Konstellation, in der von Oettingen Theologie im Jahr 1859 als Theologie des Kreuzes zu charakterisieren beginnt, zusätzlich zu den zu Beginn9 der Studie gemachten Andeutungen konkretisieren und veranschaulichen.
5 Ibid., 21. 6 Winter schließt sich der Meinung an, die die „Erlanger Theologie“ bzw. „Erlanger Schule“ als eine theologische Bewegung zwischen den Jahren 1836 (die Berufung von Adolf Harleß nach Erlangen) und 1894 (der Tod von Reinhold Frank) charakterisiert. 7 Winter, Lutherforschung, 209, 215. 8 Vgl. oben Kap. 9. 9 Vgl. Kap. 1.
Der Streit um die Versöhnungslehre von Hofmanns
10.2
149
Der Streit um die Versöhnungslehre von Hofmanns – ein Katalysator für die Beschäftigung mit Luther
In den Jahren 1852–1855 erscheint von Hofmanns großer theologischer Versuch Der Schriftbeweis zum ersten Mal.10 Von Oettingens Studienaufenthalt in Erlangen fällt in die Zeit kurz davor. Ganz besonders imponiert ihm gerade von Hofmann, der dort sein wichtigster Lehrer wird.11 1856 kritisiert kein anderer als Philippi, von Oettingens wichtigster Lehrer aus Dorpater/Tartuer Zeit,12 im Vorwort zur 2. Auflage seines Römerbriefkommentars äußerst scharf die Versöhnungsauffassung, die von Hofmann in dem genannten Werk vertritt. Er verabschiede die objektive biblisch-kirchliche Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre, indem er ihnen eine subjektive Gestalt gebe, die die Liebe Gottes von seiner Heiligkeit trennt. Philippi betont dagegen die Ewigkeit des göttlichen Gesetzes, sowie den Gedanken, dass der Zorn Gottes in seiner ebenso ewigen Gerechtigkeit begründet sei.13 Von Hofmann reagiert mit einem Aufsatz, der in der Erlangener Zeitschrift für Protestantismus und Kirche erscheint. Diese „Begründete Abweisung eines nicht begründeten Vorwurfs“ (1856) betont die Notwendigkeit, zwischen dem Glauben der Kirche und seiner Ausdrucksweise zu unterscheiden, wobei er den Verbesserungsbedarf der traditionellen Verständnis- bzw. Lehrweise hervorhebt. Mit seiner Lehrweise beansprucht er eine solche Verbesserung vollzogen zu haben.14 Darauf antwortet Philippi mit dem Büchlein Herr Dr. von Hofmann gegenüber der lutherischen Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre (1856), das sich um eine detaillierte Verteidigung der traditionellen Lehre von der stellvertretenden Genugtuung Christi bemüht. Die Liebe Gottes und der Zorn Gottes seien „antithetische Bestimmtheiten des göttlichen Wesens“ und die Versöhnung Christi löse die Spannung zwischen der Heiligkeit und Liebe Gottes. Nur die Gewissheit, dass der Gottmensch den Zorn Gottes erlitten hat, könne das Schuldbewusstsein zur Ruhe bringen. Nur wenn der göttlichen Heiligkeit als Zorn gegenüber der Sünde genuggetan ist, könne die Liebe gegeben werden. Die neue Lehrweise von Hofmanns ließe dagegen den Tod Christi nicht als die Satisfaktion des Zornes Gottes verstehen. Darin liege ihr Hauptproblem.15 10 Zur Vergegenwärtigung dieser Debatte beziehe ich mich hauptsächlich auf Mathew Becker (Becker, The Self-Giving God, 194–203). Vgl. auch z. B. Gerhard O. Fordes im Jahr 1969 erschienene Studie über die Geschichte der Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium (Forde, The Law-Gospel Debate, 49–68) und G. Wenz’ Darstellung der neueren Geschichte der Versöhnungslehre (Wenz, Versöhnungslehre, 32–62). 11 Vgl. oben Kap. 9. 12 Vgl. ibid. 13 Vgl. Becker, The Self-Giving God, 195. 14 Vgl. ibid. 15 Vgl. ibid., 195–197.
150
Oettingens Bezugnahme auf Luthers Theologie des Kreuzes
Die Erwiderung von Hofmanns erfolgt noch im selben Jahr mit der ersten von vier Schutzschriften für eine neue Weise, alte Wahrheit zu lehren (1856–1859).16 Die Versöhnung sei nicht das Ergebnis einer subjektiven Veränderung in den Menschen (z. B. eine Folge der Buße und des Glaubens), sondern des Handelns Gottes in der Inkarnation, im Wirken, im Tod und in der Auferstehung Jesu, um das Verhältnis Gottes zur Menschheit zu ändern.17 Gottes Liebe und Heiligkeit seien nicht getrennt, sondern „stand for the uniform self-fulfillment of the triune God“.18 Gegenüber der Wirklichkeit der Sünde wende sich die Liebe Gottes zum Zorn gegenüber der sündigen Menschheit. Das neue Verhältnis Gottes und der Menschheit könne ohne das Ende der alten Schöpfung, die durch die Sünde und den Tod gezeichnet ist, nicht hergestellt werden. Dieses Ende habe sich in Jesus ereignet, der die Sünde in seinem Leiden, Tod und Auferstehung gesühnt hat. In dieser Weise verwirkliche sich im Leben Jesu der ewige Liebeswille des dreieinigen Gottes: Der Zorn Gottes werde durch seine Liebe überwunden. Die Versöhnung sei das notwendige Handeln des sich-gebenden Gottes, um eine neue Kreatur zu beginnen und die alte zu ihrem Ende zu führen. „Such a necessity is grounded in the historical development of God’s eternal will of love for creation“.19 Mit dem Vorwurf, die Lehrgrundlage der evangelisch-lutherischen Bekenntnisschriften sei verlassen, stellen sich im darauf folgenden Jahr zwei Kollegen von Hofmanns auf die Seite Philippis. Der Dogmenhistoriker und Dogmatiker aus der ersten Generation der Erlanger Theologie, Gottfried Thomasius, schreibt das Büchlein Das Bekenntniß der lutherischen Kirche von der Versöhnung und die Versöhnungslehre D. Chr.K. v. Hofmann’s. Das ausführliche Nachwort, in dem es prinzipiell um das Verhältnis von Bekenntnis und Theologie geht, stammt aus der Feder von Th. Harnack. Beide Autoren bekunden ein volles Einverständnis mit den Gedanken des Anderen.20 Beide halten die traditionelle Auffassung von der stellvertretenden Genugtuung für die einzig sachgemäße Voraussetzung der Rechtfertigungslehre. Diese ist deshalb nicht zur Disposition zu stellen. Mit Blick auf diese Ansicht kritisiert Thomasius auch Luther. Besonders anstößig, weil dem Evangelium widrig, erscheint ihm zu bestreiten, dass Jesus stellvertretend für die Menschheit den Zorn Gottes erlitten hat. Dass Christus in seinem Tod das Urteil Gottes über die Sünde auf sich 16 Die erste Schutzschrift mit einem Umfang von ca. 30 Seiten trägt den Untertitel „Die Versöhnung Gottes und Rechtfertigung des Menschen betreffend, und zwar, was ich angeblich über sie nicht lehre, in Wirklichkeit aber doch lehre, und angeblich über sie lehre, in Wirklichkeit aber nicht lehre“ (von Hofmann, Schutzschriften [I]). 17 Vgl. ibid., 197. 18 Becker, The Self-Giving God, 197. 19 Ibid. 20 Vgl. Thomasius, Versöhnung, iv, 113.
Der Streit um die Versöhnungslehre von Hofmanns
151
genommen und durch sein Erleiden des göttlichen Zornes die Welt mit Gott versöhnt hat, gilt für Thomasius, sowie für Harnack als die biblisch-kirchliche bzw. evangelisch-lutherische Lehre.21 Noch im gleichen Jahr respondiert von Hofmann auf seine beiden Kollegen mit der umfänglichen zweiten Schutzschrift.22 Um seinen Widerspruch dagegen, dass zum unverzichtbaren Gehalt des Evangeliums die traditionelle Auffassung der stellvertretenden Genugtuung gehört, zu untermauern, oder – positiv formuliert – um seine These, dass diese vielmehr eine historische Gestalt der Lehre ist, auf die man ohne Verlust der Glaubenssubstanz verzichten kann, zu unterstützen, hat von Hofmann die Schriften Luthers in besonderer Weise studiert. Er versucht zu zeigen, dass Luthers Rechtfertigungslehre die traditionell-lutherische Lehrweise der stellvertretenden Genugtuung nicht notwendigerweise als Voraussetzung braucht. Vielmehr kann Luther den Tod und die Auferstehung Christi auch als Sieg im Kampf gegen den Teufel und die Mächte der Sünde, des Todes und des Bösen für die neue Menschheit interpretieren.23 Von Hofmann weist auf den Unterschied zwischen Luther und den Bekenntnisschriften hin und somit auf die Notwendigkeit zur Schrift nicht nur als der Überprüfungsinstanz, sondern auch als der Erkenntnisquelle zurückzukehren.24 In den unmittelbaren Streitzusammenhang gehört noch eine Reihe weiterer Schriften, auf die hier nicht näher eingegangen zu werden braucht. Auch hat von Hofmann die 2. Auflage seines Schriftbeweises (1857–1860) durchgängig bearbeitet (u. a. um den Begriff der menschlichen Schuld und der Erfahrung Gottes als zornigen Gottes besser gerecht werden zu können).25 Im Jahr 1859 veröffentlicht er jedoch noch eine dritte Schutzschrift,26 in der er den Verdacht auf21 Vgl. Becker, The Self-Giving God, 199f. 22 Der Untertitel lautet dieses Mal „Christi Versöhnungswerk betreffend, und zwar, was die Kirche davon lehrt, und wie sich hierzu verhält, was ich dazu lehre“ (von Hofmann, Schutzschriften [II]). 23 Vgl. Becker, The Self-Giving God, 199f. Das Urteil Winters dazu lautet: „Vor allem sieht er [i. e. von Hofmann – T.-A.P.] gegen die juridische Fassung des orthodoxen Versöhnungslehre das altchristliche Kampfmotiv bei Luther wieder aufgegriffen und eine ethisch vertiefte Fassung des Begriffs der Sühnung aufgenommen. So kann er vom Reformator her wieder zu einem vertieften Verständnis des ,Christus praesens‘ und des ,Christus in uns‘ gelangen. Dem steht auf der anderen Seite eine Verharmlosung der Sünde und des Zornes Gottes gegenüber, Aspekte, die gerade von Luther her eigentlich nicht hätten vernachlässigt werden dürfen.“ (Winter, Lutherforschung, 224f). 24 Vgl. von Hofmann, Schutzschriften (II), 106. 25 Vgl. Becker, The Self-Giving God, 202f. Dazu, in welchem modifizierten Sinn von Hofmann von dem stellvertretenden Charakter des Versöhnungswerk Christi hat reden können, vgl. von Hofmann, Schutzschriften (III), 27f; Becker, The Self-Giving God, 201f. „Because of Trinitarian kenosis, the eternal Son of God has suffered as a human being, as the true human being, for the sake of all human beings.“ (Ibid., 202). 26 Der Untertitel lautet jetzt „Christi Versöhnungswerk betreffend, und zwar, wie ich meine, daß man es die Unmündigen lehren soll“ (von Hofmann, Schutzschriften [III]).
152
Oettingens Bezugnahme auf Luthers Theologie des Kreuzes
räumen will, seine Lehrweise könne „volkstümlich“, i. e. in kirchlicher Predigt und im katechetischen Unterrichten der Kinder, nicht gebraucht werden und sei inkompatibel mit dem Gebet- und Liedgut der Kirche.27 Dafür stellt er auf hilfreiche Art nochmals seine wissenschaftliche Lehrweise im Zusammenhang dar,28 um dann zu zeigen: Auch wenn es darum geht, die Kinder zu unterrichten, „was wir in Christus haben“, bedarf es nicht „der Vorstellung […], als habe Gott die Welt dadurch mit sich versöhnt, daß er die Strafe, welche wir sonst hätten leiden müssen, Christum an unserer Statt erleiden ließ“.29 Auf diese Vorstellung weise „auch in Luther’s Worten Nichts“ hin.30 Also sei von Hofmanns Lehrweise sehr wohl dafür geeignet, die Kinder nach der Anleitung des zweiten Glaubensartikels und dessen Erklärung durch Luther im Katechismus zu unterrichten. Zuletzt überprüft von Hofmann die liturgischen Gebete und Lieder der Kirche daraufhin, ob sie mit seiner Auffassung vom Versöhnungswerk Christi im Einklang stehen. Die entscheidende Frage ist: ob die betende Kirche in ihrem Gedächtnisse des Leidens und Sterbens Christi von dem Gedanken beherrscht wird, daß uns die Sünden vergeben sind, weil die Strafe, welche wir hätten erleiden sollen, an Christi Jesu vollstreckt worden ist, oder von dem andern, daß dasjenige, was er gelitten hat, ein um unserer Sünden willen über ihn gekommenes Leiden seines uns zu Gute übernommenen und geleisteten Gehorsams gewesen, und daß des willen, weil er auch das Außerste gehorsamlich erlitten hat, was er erleiden konnte, uns die Sünde vergeben ist.31
Die Beantwortung dieser Frage schließt von Hofmann mit dem Ruf: „Luther selbst […] habe das letzte Wort in dieser Sache!“32 Er bittet die Leser das von ihm Dargelegte mit dem zu vergleichen, was Luther in seinem Lied „Nun freut euch lieben Christen gemein“ singt: ,Da jammert Gott in Ewigkeit / Mein Elend übermaßen; / Er dacht an sein Barmherzigkeit, / Er wollt mir helfen lassen; / Er wandt zu mir das Vaterherz, / Es war bei ihm fürwahr kein Scherz, / Er ließ sein Bestes kosten. // Er sprach zu seinem lieben Sohn: / Die Zeit ist hie zurbarmen‘.33
Zitiert werden die Strophen vier bis acht, die auch das Schlusswort des ganzen Büchleins bilden. In überaus pointierter Weise beansprucht von Hofmann mit seiner „neuen Weise, alte Wahrheit zu lehren“ der Katechese Luthers, dem liturgischen Gebet der Kirche, sowie dem Kirchengesang zu entsprechen. 27 28 29 30 31 32 33
Vgl. ibid., 1. Vgl. ibid, 3–30. von Hofmann, Schutzschriften [III], 51. Ibid., 51f. Ibid., 52. Ibid., 64. Ibid.
Von Hofmann, Philippi und Th. Harnacks Lutherbuch
10.3
153
Von Hofmann, Philippi und Th. Harnacks Lutherbuch – Werk eines Erlanger Theologen?
Emanuel Hirsch sieht im Jahr 1954 in von Hofmann jenen Theologen, der zum ersten Mal „in einer wichtiger Frage Luther wider das Luthertum“ ausgespielt hat. Damit sei „der Ausgangspunkt für die gesamte Lutherforschung des 19. und 20. Jahrhunderts“ gegeben.34 Friedrich Wilhelm Winter hat speziell die Erlanger Theologie und die Lutherforschung des 19. Jh. untersucht. Er würdigt von Hofmann, der sich im Verlauf der Debatte um die Versöhnungslehre intensiv mit Luthers Theologie beschäftigt habe, etwas zurückhaltender als denjenigen, der an einem wichtigen Beispiel den Dissens zwischen Luther und dem späteren Luthertum sichtbar gemacht hat.35 Wenn der bedeutsamste Beitrag zur „Erlanger Lutherforschung“ Winter zufolge „zweifellos“36 von Th. Harnack stammt, dann heißt das, dass auch dieses große Werk über Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine Versöhnungs- und Erlösungslehre (Bd. 1, 1862) vom eben geschilderten Streit inspiriert ist. Dabei dürften jedoch gewisse Momente, wie z. B. Harnacks „Einsicht in Luthers paradoxale Dialektik von Zorn und Liebe Gottes“37 oder auch sein Versuch Luthers Theologie als eine konsequent christozentrische zu erschließen,38 nicht zuletzt einen wichtigen, noch auf die gemeinsame Dorpater/Tartuer Zeit zurückreichenden Einfluss Philippis verraten. So wie der Widerspruch Harnacks (zusammen mit Thomasius) gegen von Hofmann in der Schrift aus dem Jahr 1857 durch seinen früheren intensiven Verkehr mit Philippi in Dorpat/ Tartu vorbereitet sein dürfte, so dürfte auch Harnacks Theologie Luthers bzw. deren erster Teil aus dem Jahr 1862 durch diesen Widerspruch gegen von Hofmann motiviert sein. Es scheint mir deshalb, dass auch in den jüngeren Studien zur Lutherrezeption und -forschung im 19. Jahrhundert, wie z. B. bei Winter und Hofmann, Th. Harnacks Theologie Luthers zu undifferenziert und vereinnahmend als ein Beitrag der Erlanger Theologie charakterisiert wird. Winter zufolge ist Harnack derjenige unter den Erlanger Theologen, der sich am intensivsten mit Luther beschäftigt, „die erste umfassende Darstellung der Theologie Luthers überhaupt“ verfasst und sie „vom Zentrum der Versöhnungslehre her“ erschlossen hat.39 Es fällt allerdings auf, dass Winter zwar 34 35 36 37
Zitiert nach Wagner, Theologiegeschichte, 31. Vgl. Winter, Lutherforschung, 215. Ibid. Ibid., 218. „Die scharfe Profilierung der Anschauung Luthers von Gottes Zorn gilt bis heute als ein besonderes Verdienst des Erlanger Theologen. Hier ist keine Verharmlosung des Zornes zu verspüren.“ (Ibid., 164). 38 Vgl. ibid., 217, 137. 39 Ibid., 14.
154
Oettingens Bezugnahme auf Luthers Theologie des Kreuzes
Harnack durchgehend als einen Erlanger Theologen charakterisiert (in der Theologiegeschichtsschreibung des 20. Jh. ist das Usus gewesen), jedoch mit Blick auf Luthers Theologie sorgfältig genug auf ein eventuelles Problem aufmerksam macht. Ein solches entsteht, wenn man sein Werk als Ganzes der Erlanger Theologie zurechnet, weil Harnack zur Zeit der Veröffentlichung des zweiten Bandes (1886) schon fast zwei Jahrzehnte lang wieder Bürger von Dorpat/Tartu war. Dass Winter trotz seines kritischen Vorbehaltes bei der Analyse des zweiten Bandes Harnack als Repräsentanten der Erlanger Theologie auffasst und auswertet, begründet er einerseits damit, dass nur so ein Urteil über den ganzen Entwurf möglich ist, und andererseits damit, dass auch Harnacks Dorpater/Tartuer Kollegen von Erlangen geprägt waren.40 Als Beispiel nennt er u. a. von Oettingen. Diese Überlegungen reichen jedoch nicht aus, um ohne Wahrnehmungsverluste Harnack und Luthers Theologie von Erlangen ausgehend zu verstehen. Der entscheidende Impuls für Harnacks extraordinäre Auseinandersetzung mit Luthers Theologie dürfte in der Tat durch den Erlanger Theologen von Hofmann bzw. durch die (vor allem) in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre geführte Debatte über die Versöhnungslehre bedingt sein. Der Hintergrund für Harnacks scharfe Kritik gegen von Hofmann aus dem Jahr 1857 wird jedoch in erster Linie nicht in Erlangen, sondern im anhaltenden Einfluss seines früheren Dorpater/Tartuer Kollegen Friedrich Adolf Philippi liegen.41 Harnack42 absolvierte sein ganzes Theologiestudium in Dorpat/Tartu, setzte danach seine Studien für ein paar Jahre in Deutschland fort und lehrte seit 1843 wieder in Dorpat/Tartu. Er wurde dort zum Magister und Doktor promoviert und wirkte ab 1847 als außerordentlicher und ab 1848 als ordentlicher Professor für Praktische Theologie. Dort studierte auch von Oettingen bei ihm. Harnacks wissenschaftlicher Werdegang und seine akademische Wirksamkeit waren also zwanzig Jahre (1834–1853) lang vor allem mit Dorpat/Tartu verbunden. Daneben beteiligte er sich aktiv am landeskirchlichen (synodalen) Leben und war als Universitätsprediger und Gründer der Universitätsgemeinde tätig. Mit sechsunddreißig Jahren wurde er nach Erlangen als Nachfolger von J. Höfling berufen. Seine dort verbrachten 13 Jahre waren in wissenschaftlicher Hinsicht sehr fruchtbar. 1866 folgte er dem Ruf zurück nach Dorpat/Tartu und wirkte dort die letzten 23 Lebensjahre. In diesen späteren Jahren erschienen u. a. seine große Gesamtdarstellung der Praktischen Theologie (1877/78) und der zweite Band 40 Vgl. Winter, Lutherforschung, 14. 41 Indirekt spricht dafür auch Winters Beobachtung, dass in der gemeinsam mit Thomasius gegen von Hofmann gerichteten Schrift die Kritik Harnacks deutlich schärfer ist (vgl. ibid., 115). 42 Zusammenfassend zum Leben und Werk des „Dorpaten Theologen“ Harnack vgl. Petti, Harnack.
Von Oettingen, Luther und seine theologia crucis
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von Luthers Theologie (1886). Vor allem ihm verdankte die evangelisch-lutherische Kirche Russlands ihre neue Agende.43 Von besonderer Relevanz scheint mir der Hinweis von Oettingens, dass nicht die Studienaufenthalte in Deutschland, u. a. bei Harleß in Erlangen, Harnack theologisch maßgeblich geprägt haben, sondern, dass vielmehr nach seiner Rückkehr der zwischen den Jahren 1841–1851 in Dorpat/Tartu tätige Philippi auf ihn einen „durchschlagenden Einfluss“ ausgeübt hat (1904c, 3). Harnack sei in Dorpat/Tartu „ein ,kirchlicher‘ Theologe im tieferen Sinne des Wortes“ geworden, „nicht durch äußerliche Aneignung traditioneller Ueberlieferung, sondern durch tiefgreifendes Selbstgericht, durch schmerzliche Sündenerfahrung, durch heißerrungene Glaubensüberzeugung auf dem Grunde des göttlichen Worts“ (ibid.). Dieser Dorpater/Tartuer Kontext, besonders seine frühe Prägung durch Philippi, sollte berücksichtigt werden, wenn man Harnacks Auftreten gegen von Hofmann im Streit um die Versöhnungslehre interpretiert und dessen fruchtbare Folge, Luthers Theologie, einzuordnen versucht.44 Hier konstatiere ich den Bedarf nach weiterer Forschung, weil z. B. zu Philippi keine Spezialstudien vorliegen.
10.4
Von Oettingen, Luther und seine theologia crucis
Von Oettingen hat sich nie als Lutherforscher verstanden und keine historischen Spezialstudien zu Luthers Theologie verfasst. Die bisherigen Überlegungen und Hinweise bündelnd wage ich zu vermuten, dass gerade von Hofmann oder genauer der Streit über von Hofmanns Versöhnungslehre von Oettingen zu einer erneuten und eigenständigen Lektüre Luthers gebracht hat. So dürfte ein Zusammenprallen der Wirkungen von Hofmanns und Philippis als der Hintergrund dienen, vor dem er nicht zuletzt auch die Schlüsselrolle der theologia crucis entdeckt hat. Ein frühes Zeugnis eigener eingehenderer Auseinandersetzung mit Luther findet sich in dem Traktat „Gefühl und Glaube“ aus dem Jahr 1858,45 in dem er u. a. die zeitgenössische „kirchliche Theologie“ – konkret sind 43 Nach einem späten Urteil von Oettingens, der sich in dessen ausführlichem Eintrag zu Th. Harnack in der Allgemeinen Deutschen Biographie finden lässt, ist Harnacks „Hauptinteresse und seine Hauptleistung […] – neben der Untersuchung der Cultusgeschichte – die strenge Systematisierung der gesammten praktischen Theologie vom Standpunkte evangelisch-lutherischer Glaubensüberzeugung“ (1904c, 1). (Diese Agende ist in Estland mit nur sehr geringfügigen Änderungen bis heute in Gebrauch – obwohl mittlerweile nur noch als offiziell anerkannte Alternative zu dem im Jahr 2009 eingeführten neuen Kirchenhandbuch.) 44 Der zweite Band aus dem Jahr 1886 entsteht in einer anderen Situation – Harnacks kritische Spitze richtet sich vor allem gegen Ritschl. 45 Vgl. oben Kap. 5.
156
Oettingens Bezugnahme auf Luthers Theologie des Kreuzes
es eben Philippi und Harnack –, gegen den Vorwurf des Intellektualismus verteidigt. In dasselbe Jahr 1858 fällt auch eine Magisterdisputation in Dorpat/ Tartu, bei der von Oettingen als einer der Opponenten auftritt. Johannes Matthias Lütkens (1829–1894) verteidigt seine Untersuchung Luthers Prädestinationslehre im Zusammenhange mit seiner Lehre vom freien Willen.46 Im Jahr 1859 erscheint von Oettingens Leitaufsatz der Dorpater Zeitschrift für Theologie und Kirche, in dem er sich auf die Heidelberger Disputation Luthers bezieht und die Theologie insgesamt als Theologie des Kreuzes verstanden haben will. In diesem Text ist eine Reihe von direkten Verweisen auf die Debatte um die Versöhnungslehre von Hofmanns enthalten. Wenn Harnack drei Jahre später im ersten Band von Luthers Theologie seine theologia crucis ähnlich wie von Oettingen fundamentaltheologisch versteht,47 ist es nicht auszuschließen, dass hier eine Anregung von Oettingens vorliegt. Man könnte vermuten, dass Harnack diese Einsicht von Oettingen verdankt. Wer auch immer von den beiden die Entdeckung gemacht hat, fest steht: Dokumentiert ist das Verständnis von Luthers Theologie als der theologia crucis zuerst bei von Oettingen – drei Jahre früher als bei Harnack. Diese Weise Luthers Theologie als Theologie des Kreuzes zu verstehen, fällt ganz besonders auf, wenn man das Buch Luthers Theologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihrem inneren Zusammenhange (2 Bd., 1863) von Julius Köstlin mitberücksichtigt. Es ist ein Jahr nach Harnacks Lutherbuch erschienen und hat dieses in seinen Schatten gestellt.48 Winter zufolge war es ein Werk von bahnbrechender Wirkung. Köstlin erwähnt zwar auch die Heidel-
46 Vgl. Lütkens, Prädestinationslehre. Von Oettingen verweist auf diese im Jahr 1858 erschienene Untersuchung und ihre Bedeutung auch später : vgl. z. B. 1895b, 20. Weil Winter Harleß’ Ethik (5. Aufl. 1853; 6. Aufl. 1864) als Dokument einer erneuten Beschäftigung mit Luther in Erlangen ansieht (vgl. Winter, Lutherforschung, 48–57), rufe ich in Erinnerung, dass von Oettingen seine regelmäßige Ethik-Vorlesung ab 1855 für eine Weile im Anschluss an dieses Buch hält. 47 Von Loewenich würdigt z. B. in seiner Monographie zu Luthers theologia crucis Harnack deshalb, weil dieser richtig erkannt habe, dass es dabei um die theologische Methode gehe (von Loewenich, Theologia crucis, 11f, Anm. 2). 48 Von Oettingen schreibt dazu: „Daß es [i. e. Harnack’s Luthers Theologie – T.-A.P.] in jener Zeit, wo die großen Köstlin’schen Werke über Luther erschienen, nicht allgemeinere Beachtung fand, lag wohl mit daran, daß die vorwaltend systematisierende Behandlungsweise des großen Stoffes der historisierenden Zeitrichtung nicht entsprach.“ (1904c, 7). Wie Winter konstatiert, erreicht Harnacks Buch eine Spätwirkung erst im 20. Jh. mit seiner Neuauflage (1927). Die Anregungen konnten „erst nach zwei Generationen in einer geschichtlich und theologisch völlig veränderten Situation aufgenommen werden“ (Winter, Lutherforschung, 220). Winter stimmt Otto Wolff zu, für den Harnack mit seinem „aus spannungsvollen Gegensätzen herauswachsenden Denken“ ein „mutiger Einzelgänger wider das 19. Jahrhundert“ gewesen ist (zitiert nach: ibid., 33).
Zusammenfassung
157
berger Thesen,49 doch werden daraus nur die Thesen 14 und 15 aufgegriffen. Die „Theologie des Kreuzes“ spielt in Köstlins Werk keine Rolle, von einer hervorgehobenen Bedeutung ganz zu schweigen.
10.5
Zusammenfassung
Im Zuge des Streites um die Versöhnungslehre, in den die beiden wichtigsten Lehrer von Oettingens aus Erlangen und Dorpat/Tartu maßgeblich involviert waren, scheint er das Konzept einer Theologie des Kreuzes als Schlüssel für das Ganze der Theologie Luthers, aber auch als Leitmotiv und als systematische Aufgabe für die eigene Theologie entdeckt zu haben. Diese Entdeckung sprach er zuerst im Jahr 1859 explizit aus. Der erste Band von Luthers Theologie von Th. Harnack wiederholt die These im Jahr 1862. Doch ist das Werk, inkl. seiner Deutung der theologia crucis, nur mäßig wirksam. Die damals weitaus einflussreichere Schrift Luthers Theologie von Köstlin (1863) erwähnt die theologia crucis nicht. Weder für das Verständnis der reformatorischen Theologie Luthers noch in eigener systematischer Absicht scheint auf Luthers theologia crucis im 19. Jh. vor von Oettingen, zumindest unter den sog. Fachtheologen, keiner explizit Bezug genommen zu haben.50 In den nächsten zwei Kapiteln steht diese Schrift von Oettingens aus dem Jahr 1859 im Zentrum. Es sollte bei diesem ersten Versuch sowohl deutlich werden, wie der junge von Oettingen Luthers Theologie von der theologia crucis her versteht, als auch, wie er die „Theologie des Kreuzes“ für die theologische Arbeit seiner Gegenwart fruchtbar machen will.
49 Die frühen Vorlesungen Luthers, die auch das Konzept der theologia crucis belegen, kannte man im 19. Jh. noch nicht. Ihre Rezeption war dem frühen 20. Jh. vorbehalten. 50 Luthers theologia crucis wird als noch der vorreformatorischen Periode zugehörig interpretiert (vgl. von Loewenich, Theologia crucis, 11–15, Anm. 2). Im Sinn einer Nachbemerkung möchte ich nun trotzdem an einen „Vorgänger“ von Oettingens erinnern. Es handelt sich um den im Jahr 1859 verstorbenen Ernst Sartorius (1797–1859), der während seiner Zeit als Professor in Dorpat/Tartu, als Vorgänger Philippis, öffentliche Vorlesungen zu Christi Person und Werk (1. Aufl. 1831) hielt und veröffentlichte. Das Buch war ein Erfolg. Es wurde in mehrere Sprachen übersetzt und erlebte viele Auflagen. In der ersten Vorlesung („Einleitung, über das Verhältniß der Christologie zur Astronomie“) bezeichnet Sartorius jene Theologie, deren Grundlage die Offenbarung im Kreuz ist, als „Theologie des Kreuzes“. Er verweist dabei auf Hamanns Rede vom Kreuz (vgl. Sartorius, Christi Person und Werk, 12f).
158
Eine Vergegenwärtigung der theologia crucis im Anschluss an Luther
11.
Eine Vergegenwärtigung der theologia crucis im Anschluss an Luther (1859)
11.1
Einleitung
Von Oettingens Behandlung des Themas „Theologie und Kirche“1 in dem gleichnamigen Eröffnungsaufsatz der Dorpater Zeitschrift für Theologie und Kirche trägt ein überraschendes und unerwartetes Motto: „Theologia macht Sünder. Luther.“ Der Satz wird dadurch zusätzlich hervorgehoben, dass er in modifizierter Form am Anfang des Hauptteils2 und in identischer Gestalt am Ende der Abhandlung wiederholt wird. Die Bedeutung dieser Aussage und ihr Verhältnis zur Überschrift des Aufsatzes sind alles andere als selbstevident. Nicht weniger überraschend ist der Beginn des Textes selbst: „Der Mensch, der die Theologie nicht unterm Kreuz studiert“ – so sagt Luther –, „mißbraucht alles Gute zum Bösen“ (1). Diese zwei Sätze geben den Ton für die prinzipielle Erörterung des Verhältnisses von Theologie und Kirche an.3 Der einleitende Teil des Textes besteht aus einer direkten, weitgehend als Zitat erfolgenden, ausführlichen Bezugnahme auf die Heidelberger Disputation Luthers (1518) auf Grundlage der Ausgabe und Übersetzung von J.G. Walch.4 Von Oettingen beginnt mit der zweiten Hälfte der 24. These, mit der Benennung des Ortes, an dem Theologie studiert werden soll – unter dem Kreuz. Wenn man dort Theologie studiert, werde man Sünder. Theologie macht Sünder. Was bedeutet das? Und 1 Im Rahmen dieses Kapitels verweise ich auf diese Hauptquelle (1859a) nur mit einer Seitenzahl. 2 „[D]ie wahre theologia crucis hat ihn zum Sünder gemacht“ (15). 3 Das Motto lässt sich in diesem Wortlaut aus der Weimarer kritischen Gesamtausgabe der Werke Luthers nicht verifizieren. Der einzige andere Autor, bei dem ich das Zitat in dieser Form noch finden konnte – abgesehen davon, dass von Oettingen selbst es noch ein Mal und zwar 41 Jahre später als Motto für den materialen Teil seiner Dogmatik verwendet –, ist Julius Schniewind (1883–1948), einer der wichtigsten Schüler von Martin Kähler, aber auch ein Weggenosse Hans Joachim Iwands (vgl. oben Kap. 1). In seinen berühmten Thesen zur geistlichen Erneuerung des Pfarrstandes aus dem Jahr 1947 taucht das Zitat in der 9. These auf: „Die rechte theologische Arbeit ist nichts anderes als die Entfaltung des articulus stantis et cadentis ecclesiae. ,Theologia macht Sünder‘ (Luther).“ (Schniewind, Erneuerung des Pfarrstandes, 76). Als Beleg für das Zitat Luthers bedient er allerdings nichts anderes als von Oettingens Lutherische Dogmatik. In der Erläuterung bekräftigt er : „Wir haben in Theologie und Verkündigung nichts anderes zu sagen als den Artikel von der Rechtfertigung.“ (Ibid., 77). Dies hätten „unsere Lehrer“ Hermann Cremer und Martin Kähler gezeigt. Den beiden sei bewusst gewesen, dass sie damit den bestimmten „Tübinger und Erlanger Traditionen“ widersprechen, gerade so jedoch „Schüler der Reformation“ sind (ibid.). 4 Genauer zitiert von Oettingen die Thesen 19–24, 29 und deren Erläuterungen bzw. Beweise durch Luther. Dabei nimmt er einige Umstellungen in der Reihenfolge vor und fügt hier und da seine eigene Stimme ein. Zur Ergänzung und Weiterführung des Gedankenganges werden einige andere Texte Luthers herangezogen.
Theologie der Ehre – Theologie des Kreuzes
159
was hat das mit der Kirche zu tun? Wieso wählte von Oettingen für eine Verhältnisbestimmung von Theologie und Kirche dies als Ausgangspunkt? Zunächst steht jedenfalls fest, dass von Oettingen deren Verhältnis, gerade auch in der spezifischen Form, wie es in seiner Gegenwart zu einer Herausforderung und zu einem kontrovers diskutierten Thema geworden war, im Rahmen bzw. auf der Grundlage des in den Heidelberger Thesen, vor allem in den Thesen 19–24, enthaltenen Verständnisses der Theologie diskutieren will. Damit ist schon im Ansatz eine Grundeinsicht von Oettingens zum Ausdruck gebracht: Luthers theologia crucis behandelt nicht etwa ein Thema oder einige Themen unter anderen; sie bezeugt aber auch nicht ein Theologieverständnis, bei dem die sog. vorreformatorische Prägung Luthers dominieren würde; und auch nicht eine Auffassung von Theologie, die Luther zwar schon als Reformator vertreten hat, die jedoch bloß eine Episode in seiner theologischen Existenz bildete. Von Oettingen verwendet „Theologie des Kreuzes“ als repräsentative Ausdrucksgestalt dafür, woraus das reformatorische oder evangelische Paradigma der Theologie besteht bzw. bestehen sollte. Eben dieser Schritt von Oettingens, die explizite Verwendung von „Theologie des Kreuzes“ als das Label für die genuin christliche oder evangelische Theologie, ist im Kontext der postaufklärerischen Theologie erstmalig. Dieses in seinem Gehalt an dieser Stelle noch unbestimmte Sachverständnis von Wesen und Aufgabe der Theologie kann und soll von Oettingen zufolge als Orientierung und Perspektive für die prinzipielle Klärung des sachgemäßen Verhältnisses von Theologie und Kirche und für die Beurteilung der faktischen Lage dieses Verhältnisses dienen.
11.2
Theologie der Ehre – Theologie des Kreuzes
Die Theologie des Kreuzes wird zuerst in ihrem „Gegensatz“ zur „Theologie der Ehre“ umrissen (vgl. 1f).5 Da von Oettingen eine nähere Deutung von Luthers Thesen an dieser Stelle nicht unternimmt,6 sondern diese fast rezitativ ver5 Dieser Gegensatz zwischen Theologie und Pseudotheologie, den Luther beschreibt, intendiert in von Oettingens Augen dieselbe Entgegensetzung (obwohl in einer tieferen und geistlicheren Weise), die August Vilmar als „Theologie der Thatsachen“ und „Theologie der Rhetorik“ bezeichnet hat (vgl. 2, Anm. 1; er bezieht sich auf die 2. Auflage seines Buches: Vilmar, Theologie des Tatsachen). Vilmar selbst bezieht sich nicht auf Luther und seine Unterscheidung. Es ist also von Oettingen, der diese Parallele sieht und zieht. Ob mit Recht oder nicht ist eine Frage für sich. Es ist aber nicht auszuschließen, dass von Oettingen eine Anregung oder einen Anstoß zur Verbindung von Luthers theologia crucis und einer Neuinterpretation bzw. einer besseren Begründung der positiven und kirchlichen Theologie aus dieser Schrift erhalten hat. 6 Der erste, der Luthers theologia crucis auf eigenem Recht, i. e. im Sinn der Luther-Exegese, näher erschließt und als seine reformatorische Hermeneutik entfaltet, ist Theodosius Har-
160
Eine Vergegenwärtigung der theologia crucis im Anschluss an Luther
wendet und als Voraussetzung gebraucht, muss die eigentümliche Weise, wie er sie bzw. die Theologie des Kreuzes – zumindest in Ansätzen – versteht, aus den der Rekapitulation Luthers folgenden Erörterungen erhoben werden. Wichtig ist, dass er die Thesen nicht mit Nachdruck als die Heidelberger Thesen darstellt: Seiner Auffassung zufolge formulieren sie „bloß“ die genuine Art, wie Luther Theologie verstanden hat. Er ist der Ansicht, dass die Thesen, die die Theologie des Kreuzes betreffen, durch andere Stellen aus dem Werk Luthers, die von derselben grundlegenden Sacheinsicht getragen sind (diese jedoch im Zusammenhang der Fragestellungen bezeugen, die in den Thesen selbst nicht direkt zum Thema werden), ergänzt werden können. Um von Oettingens eigenen Vorschlag einer kreuzestheologischen Neudeutung der Wendungen „positive Theologie“ und „kirchliche Theologie“ zu verstehen (darum geht es im nächsten Kapitel) und dessen Gelingen oder Scheitern einschätzen zu können, ist eine kurze Rekonstruktion von von Oettingens Darstellung des Theologieverständnisses Luthers notwendig. Hier soll besonders die von ihm vorgenommene Ergänzung der Thesen durch andere Lutherstellen und die Funktion dieser Ergänzungen hervorgehoben werden. Zum Schluss fasse ich die Strukturelemente des Begriffes „Theologie des Kreuzes“ vorläufig zusammen. Eine weitere Vertiefung, Anreicherung und Profilierung des Begriffsgehaltes von „Theologie des Kreuzes“ findet im Laufe der folgenden Kapitel7 statt. Anhand der Betrachtung z. B. der hermeneutischen Leitvorstellungen „positive Theologie“, „kirchliche Theologie“, „Theologie des Reiches“ usw., die von Oettingen zufolge alle kreuzestheologisch verstanden werden sollten, und die deshalb von ihm selbst als Ausdrucksformen einer Theologie des Kreuzes gedeutet werden, soll der Sinn des Ausdrucks „Theologie des Kreuzes“ in seiner für von Oettingen eigentümlichen Gebrauchsweise eingegrenzt und in seiner hermeneutischen Leit- bzw. Schlüsselfunktion sichtbar werden.
nack (vgl. oben Kap. 10). Vgl. aus den neueren Arbeiten dazu z. B. Sasse, Luther’s Theology ; Iwand, Theologia crucis; Kadai, Luther’s Theology ; Prenter, Theologie des Kreuzes; Blaumeiser, Kreuzestheologie; Ngien, The Suffering of God; Forde, On Being a Theologian of the Cross; U. Barth, Dialektik; Blaumeiser, Im gekreuzigten Christus; Plathow, Wirklichkeit; Kolb, Theology of the Cross; Bader, Was heißt, Kolb, Luthers Theology, Schöttler, „Vera theologia est practica“, McGrath, Luther’s Theology of the Cross; Kleffmann, Luther und Hamann; Bradbury, Cross Theology ; Richter, Luthers theologia crucis; Westhelle, The scandalous God; Westhelle, Theologia Crucis. 7 Vgl. Kap. 12–15.
Keine Spekulation, sondern Praxis
11.3
161
Kreuzesschule als Bedingung für wahre Wissenschaft und Philosophie
Nach der Vergegenwärtigung des Gegensatzes zwischen „Theologie der Ehren“ und „Theologie des Kreuzes“ konstatiert von Oettingen, dass in der Hervorhebung dieses Gegensatzes der Abschied Luthers von der „scholastisch und aristotelisch speculierenden, vornehmen Theologie“ zum Ausdruck kommt (2). Doch habe er damit keinesfalls das beabsichtigt, was man heute als Knechtung der Wissenschaft oder Tötung der Philosophie kritisiert. Vielmehr habe er „dieselbe grade neu beleben, tiefer gründen, wahrhaft fruchtbar machen wollen“ (ibid.). Der erste Gedankenkomplex erinnert also an die antithetische Unterscheidung Luthers zwischen der Theologie der Kreuzes und der Theologie der Ehre bzw. zwischen dem Theologen des Kreuzes und dem Theologen der Ehre– daran, wie Theologie unter dem Kreuz studiert werden soll, wie Ehrentheologen „alles Gute zum Bösen“ missbrauchen, die Kreuzestheologen dagegen „recht von der Sachen“ reden, etc. Im zweiten Schritt betont von Oettingen mit Verweis auf die Thesen „Aus der Philosophie“ (genauer, auf die Thesen 29–30), dass dies keinesfalls im Sinne einer Wissenschaftsfeindlichkeit oder einer Gleichschaltung der Wissenschaft zu verstehen ist: [D]ie Kreuzesschule, die Selbstdemüthigung, das ,Sünderwerden‘ und ,Narrwerden‘ im geistlichen Sinn [ist] Bedingung für die Aufrichtung der wahren Wissenschaft und Philosophie. (2)
Die Kreuzesschule bedeutet keine Gleichschaltung der Wissenschaft. Vielmehr ist sie eine Voraussetzung für wahre Wissenschaft und Philosophie – eben, weil sie den Realitätssinn schärft, besser gesagt: diesen saniert, oder noch besser : diesen hervor- bzw. beibringt. Weil also – negativ – vom Kreuz absehend oder ohne Kreuz die Wirklichkeit radikal missverstanden wird, und – positiv – vom Kreuz her wiederum die Bedingungen für die sachgemäße Erkenntnis überhaupt etabliert werden, ist die Theologie des Kreuzes alles andere als Ausdruck eines Obskurantismus Luthers (vgl. 3). Theologie des Kreuzes will Wissenschaft und Philosophie „neu beleben, tiefer gründen, wahrhaft fruchtbar machen“ (2).
11.4
Keine Spekulation, sondern Praxis – ihr Grund ist Christus, ihr Ziel das Ergreifen seines Werkes im Glauben
In einem dritten Gedankenkomplex zitiert von Oettingen den älteren Luther aus seinen Tischreden (1531/1532), worin dieser sich nicht gegen die Philosophie als solche, sofern sie „in ihrem Zirkel“ oder Bereich bleibt, sondern gegen die Tendenz zur Vermischung von Theologie und Philosophie ausspricht. Er ver-
162
Eine Vergegenwärtigung der theologia crucis im Anschluss an Luther
bindet also Luthers frühere Konfrontation in der Heidelberger Disputation, die Erkenntnis Gottes im Gekreuzigten im Gegensatz zur philosophisch spekulierenden Gotteserkenntnis, mit der späteren Antithetik zwischen der spekulativen und der praktischen Theologie in den Tischreden. Dieser Gedankenfortschritt wird durch den Kritikgegenstand, i. e. „spekulative“ Theologie, vermittelt. Mit dem Begriff „praktische Theologie“ wird nicht an einen Sonderzweig der Theologie, sondern an den Charakter genuiner Theologie überhaupt gedacht. Von Oettingen zitiert (nach Walcher Übersetzung): [D]ie wahre, rechtschaffene Theologie steht in der Practik, Brauch und Uebung und ihr Fundament und Grundveste ist Christus, daß man sein Leiden, Sterben und Auferstehen mit dem Glauben ergreife. (3)
Theologie hat somit einen konkreten Grund, worauf sie sich gründet – Christi Person –, und ein ganz konkretes Ziel, warum sie betrieben wird: Nämlich, dass der Glaube stets zu seinem wahren Ziel kommt, i. e. Christi Werk ergreift. Dazu soll Theologie gebraucht, geübt und praktiziert werden.
11.5
Theologie ohne Kreuz als verkehrte Realitätswahrnehmung
Diejenigen, die ihre Theologie nicht auf diesem Grund bauen und sich nicht auf dieses Ziel hin orientieren, also daran, wo Gott erkannt sein will, nämlich „im Kreuz und Leiden“ bzw. „in Christo dem Gekreuzigten“, und die „Gott nicht, wie er im Leiden verborgen ist“, kennen, treiben eine eigenwillige Theologie. Sie richten sich danach, „wie sie von der [sic – T.-A.P] Sachen speculiren“, nicht nach der im Gekreuzigten erschlossenen Wirklichkeit; nicht nach dem, wie Gott im Kreuz sichtbar ist. Wenn also die Erkenntnis Gottes nicht in der Schule des Kreuzes erworben ist, wenn „die Theologie nicht unterm Kreuz studiert“ wird (These 24), wenn Gott nicht als im Leiden Christi verborgen gegenwärtig und aktiv erkannt wird, dann handele es sich um einen Missbrauch. Gott wird nicht im Leiden, im Kreuz, in der Schwachheit, in der Torheit gesucht, i. e. da, wo er sich finden lassen wolle, sondern in den Werken, in der Ehre, in der Macht, in der Weisheit (vgl. Kommentar zur These 21). Jene „Orte“ als Erkenntnisorte Gottes zu gebrauchen, heißt jedoch „alles Gute zum Bösen“ (These 24) zu missbrauchen. Diese Orte werden dadurch korrumpiert. Man sucht Gott nicht da, wo er gefunden sein will, man lässt Gott nicht Gott sein, sondern will selbst Gott sein, indem man eigenwillig über das Gottsein, über das Sein als Gott, und seine Erkenntnis, entscheiden will. Dies sei geradezu typisch für die gefallene Menschheit: „alle Menschen stehen nach der Gottheit und wollten auch gerne mit Götter sein“. Die Menschheit ist auf eine Theologie ohne Kreuz aus. Sie will in Form der Gotteserkenntnis bzw. durch sie,
Zusammengehörigkeit von Theologie des Kreuzes und Kirche des Kreuzes
163
sie will in Form der Erkenntnis der Ehre und Herrlichkeit Gottes bzw. durch sie, selbst der Ehre Gottes teilhaftig werden. Doch wie der Mensch Gott und seine Ehre in dieser Weise fundamental missversteht, zeige, dass der Mensch auch seine eigene Lage fundamental missversteht. Er sagt eben nicht, was die Wirklichkeit ist.
11.6
Ehrentheologie als Inbegriff der Sünde – Kreuzestheologie als Erkenntnis der Sünde
Die Theologie der Ehre entpuppt sich somit letztendlich als Inbegriff der Sünde. Für wen? Für diejenigen, die in der Schule des Kreuzes Theologie studieren, weil die wahre Theologie und Gotteserkenntnis zugleich die Erkenntnis der wirklichen Lage der Menschheit ist. Sie widerspricht Gott, steht im Widerspruch zu Gott, und ist deshalb unfähig, ihn wahrhaft zu erkennen. So lautet der Leitsatz der Abhandlung „Theologia macht Sünder“. Das Kreuz unterbreche das für die Menschheit charakteristische Streben nach der Gottheit, das jedoch in der Gestalt einer spekulativen, vom Kreuz Christi abstrahierenden Theologie, nicht zu Gott hin, sondern von ihm weg führe. Eine solche Theologie gehört deshalb, wie von Oettingen im Anschluss an die Tischreden formuliert, „in die Hölle und zum Teufel“ (3). Noch einmal: Worin besteht die Sünde? In nichts anderem als im Versuch, den Unterschied von Gott und Mensch von sich aus zu verwischen, die zweistellige Relation auf eine einstellige zu reduzieren, Gott und Mensch zu identifizieren, das Geschaffene zu vergöttlichen.
11.7
Zusammengehörigkeit von Theologie des Kreuzes und Kirche des Kreuzes
Nach dieser eng auf Luthers Wortlaut beruhenden Vergegenwärtigung des Unterschiedes zwischen der wahren und falschen Theologie und der Beschreibung des eigentlichen Charakters der Theologie als einer Theologie des Kreuzes im Gegensatz zu ihrem paradigmatischen Missverständnis als einer Theologie der Ehre, kommt von Oettingen – wiederum direkt auf Luther verweisend –, auf die Kirche zu sprechen. Es sei nämlich die Theologie der Ehre, die sich, da der Mensch darin auf das Wie-Gott-Sein aus ist, von „den thatsächlichen und practischen Bedürfnissen der Kirche emancipiert“ (3). Von Oettingen verbindet somit die Bestimmung der wahren Theologie als Theologie des Kreuzes (Heidelberger Disputation), die in der Praktik besteht (Tischreden), mit den Überlegungen aus Luthers Schrift „Wider Hans Wurst“ (1541), in der der Unterschied zwischen der wahren (oder alten bzw. ältesten)
164
Eine Vergegenwärtigung der theologia crucis im Anschluss an Luther
und der falschen (oder neuen) Kirche behandelt wird. Die wahre Theologie im frühen Text und die wahre Kirche im späten Text werden jeweils mit Hilfe der Figur des Kreuzes ausgesagt. Mit Blick auf die Kirche gilt, dass sie „dem Herrn Christo selbst am Kreuze gleich sein“ soll – „das Kreuz ist das Zeichen der wahren, alten apostolischen Kirche“ (3f). Ich erinnere an den ursprünglichen Kontext dieser Lutherstelle. Dort soll gezeigt werden, dass die Anhänger der Reformation in der Kontinuität mit der alten Kirche stehen. Diese besteht u. a. in ihrer Solidarität im identischen Leiden. Sie sind nämlich „mitgenossen und gleiche Gesellen im Leiden“, und es geht um „dasselbe Leiden“, sofern es sich um das Leiden „um des Wortes willen“ handelt. Gemeint ist das Leiden um des Wortes vom Kreuz Christi willen. In ihrem Leiden wegen des Wortes, wegen der Verkündigung des Evangeliums, ist die Kirche – die wahre Kirche – „dem Herrn Christo selbst am Kreuze gleich“.8 So sind in der Wahrnehmung von Oettingens Theologie und Kirche Luther zufolge ursprünglich und grundlegend durch das Kreuz verbunden. Deshalb ist das Verhältnis von Theologie und Kirche vom Kreuz her zu bestimmen. Auf jeden Fall gehören Theologie und Kirche vom Kreuz her – bzw. in ihrer Kreuzesgestalt als Theologie des Kreuzes und als Kirche des Kreuzes – zusammen. Von Oettingen stellt hier die Zusammengehörigkeit der wahren Theologie des Kreuzes, die Gott im Leiden und Kreuz Christi erkennt, und der wahren Kirche des Kreuzes, die im Leiden um das Wort vom Kreuz Christi willen dem Gekreuzigten gleicht, als Annäherungsperspektive für eine nähere Erörterung der Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Kirche dar. Eine nähere konstruktive Erörterung dieser Zusammengehörigkeit, gerade mit Blick auf die zur Debatte stehenden aktuellen Fragen, erfolgt erst nach einem zeitdiagnostischen Überblick (4–13). Offensichtlich spiegelt der einleitende, Luthers theologia crucis in Erinnerung rufende, Teil durch zwei Akzentuierungen wieder, wie von Oettingen die Lage seiner Gegenwart wahrgenommen hat. Erstens: Eine Theologie des Kreuzes bedeutet keinen Gegensatz zur Freiheit der Wissenschaft. Zweitens: Eine Theologie der Ehre ist losgelöst von den konkreten Lebensbedürfnissen der Kirche. Eine Emanzipation von den tatsächlichen und praktischen Bedürfnissen der Kirche sei Konsequenz oder Symptom einer Theologie der Ehre. Von Oettingens Rede von den Bedürfnissen der Kirche kann auch inhaltlich eingegrenzt werden. Doch sollte man m. E. den Hinweis auf Bedürfnisse zunächst als Ausdruck dafür verstehen, dass der Vollzug der Theologie eng mit dem Vollzug der Kirche verbunden ist und sein sollte. Eine Theologie der Ehre tendiere dagegen 8 Vgl. hierzu den aus den 1980er Jahren stammenden Beitrag von Robert A. Kelly, der auch Luthers theologia crucis mit Fokus auf die leidende Kirche erörtert (Kelly, The Suffering Church).
Zusammenfassung
165
zum Ignorieren ihres Bezuges zur konkreten Lebenswirklichkeit der Kirche in der Vielfalt ihrer Aspekte.
11.8
Zusammenfassung
Die inhaltlichen Momente einer „Theologie des Kreuzes“, die von Oettingen im Zuge seiner Erinnerung an Luther im Jahr 1859 vor Augen hat und hervorhebt, fasse ich in sieben Punkten zusammen. (1) Ansatz der Gotteserkenntnis. Theologie des Kreuzes ist Erkenntnis Gottes am Ort des Kreuzes Christi. Wahre Theologie wird unter dem Kreuz studiert. Das Leiden und das Kreuz sind somit nicht gegensätzlich zu Gott, keine klaren Fälle von Abwesenheit und Ferne Gottes, sondern umgekehrt: Gerade hier ist Gott in seiner Gottheit zu finden. (2) Rede von der Wirklichkeit. Theologie des Kreuzes ist realistische Theologie. Sie ist Erkenntnis und Rede von Wirklichkeit. Wer Theologie unter dem Kreuz studiert, kann davon richtig sprechen. Wer dagegen Gott und seine Ehre außerhalb der Schule des Kreuzes erkennen will, der verkehrt den Sinn der Sachen zum Gegenteil. (3) Sünden- bzw. Selbsterkenntnis.Theologie des Kreuzes ist Theologie des Sünders. Sie ist Erkenntnis Gottes im Leiden und Kreuz Christi. Gott, seine Gottheit und Ehre, wird gerade in dem erkannt, was ihm oder seiner Ehre zu widersprechen scheint. Die eigene Weisheit und die eigenen Werke des Menschen, sofern sie ein Weg zu Gott sein wollen, werden erkennbar als Abwendung von Gott. Gott offenbart sich dort, wo der sündige Mensch es nicht erwartet. Theologie des Kreuzes ist somit auch rechte Selbsterkenntnis des Menschen, wenn er sich unter dem Kreuz als Sünder erkennt. (4) Bedingung für wahre Wissenschaft und Philosophie. Die rechte Erkenntnis der „Weltweisheit“ ist durch die „Kreuzesschule“ bedingt: Durch „die Selbstdemüthigung, das ,Sünderwerden‘ und ,Narrwerden‘ im geistlichen Sinn“ angesichts des im Leiden verborgenen Gottes (3). Theologie des Kreuzes schließt wahre Wissenschaft und Philosophie nicht aus, sondern bedingt sie, sofern sie an deren Grenzen erinnert. (5) Keine Spekulation, sondern Praxis. Theologie des Kreuzes ist keine Spekulation bzw. Philosophie, sondern Praxis, die ihren Grund in Christus und ihr Ziel im Ergreifen seines Werkes „mit dem Glauben“ hat (3). Sie ist eine Theologie des Glaubens von Christus her und auf Christus hin: Sie zielt auf den rechten, i. e. auf den glaubenden Gebrauch seines Werkes. (6) Berücksichtigung der kirchlichen Bedürfnisse. Im Unterschied zur Theologie des Kreuzes ist die Theologie der Ehre daran orientiert, wie die nach der Gottheit strebende und an dieser Gottheit gern teilhabende Menschheit über die
166
Theologie des Kreuzes als kirchliche Theologie
Sache, inkl. von Gott spekuliert, und befreit sich dadurch von der Sorge um die wirklichen und praktischen Bedürfnisse der Kirche. (7) Zusammengehörigkeit mit der Kirche des Kreuzes. Die wahre Theologie ist eine Theologie des Kreuzes, so wie die wahre Kirche eine Kirche des Kreuzes ist. Deshalb gehören beide ausgehend vom Kreuz, i. e. von ihrem Prinzip bzw. Ursprung her, innerlich zusammen. So ist wahre Theologie immer „kirchliche Theologie“.
12.
Theologie des Kreuzes als kirchliche Theologie – kirchliche Theologie in kreuzestheologischer Deutung Aller Angst vor dem Schreckbilde ,kirchlicher Theologie‘ gegenüber, welche man als das Intoleranteste, Unfreiste und Engherzigste zu bezeichnen pflegt, wage ich nun von vorneherein die Behauptung, die ich zu rechtfertigen suchen werde: Die kirchliche Theologie ist die allerfreiste, ja allein wahrhaft frei; – oder : In dem Maaße als eine Theologie wahrhaft kirchlich ist, ist sie frei.1 (Alexander von Oettingen)
12.1
Einleitung
Wenn von Oettingen vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen seiner Gegenwart Theologie als kirchliche Theologie charakterisiert, spricht er damit vor allem ihren wesentlichen Bezug auf die Gemeinschaft in Christus an: „kirchlich ist sie als aus der Gemeinschaft in Christo geborene und für diese Gemeinschaft lebende“ (14). Zwei bzw. drei Einsichten von Oettingens sind hier entscheidend, die ich im Folgenden etwas näher entfalte: für diesen Kirchenbezug ist der Christusbezug grundlegend; der Kontext der Kirche ist für die Theologie konstitutiv ; Theologie wird als ihre Lebensfunktion beschrieben.2 Es ist tendenziell missverständlich, kirchliche Theologie in erster Linie durch den Rückgriff etwa auf die Bekenntnisschriften zu definieren, genauso wie es irreführend ist kirchliche Theologie als ein Mittel zur Erneuerung nur der lutherischen Kirche zu verstehen.3 Dadurch wird sowohl die durch von Oettingen 1 1859a, 14. Im Rahmen dieses Kapitels verweise ich auf die Hauptquelle (1859a) nur mit einer Seitenzahl. 2 Vgl. zur Theologie als Funktion der Kirche: Rieger, Theologie. 3 So z. B. Holsten Fagerberg: „Als N. bezeichnet man die Strömung, die im 19. Jh. in
Einleitung
167
beanspruchte Tiefe als auch die Weite dieser Theologie von Beginn an aus den Augen verloren und nicht ernst genommen. Wenn er Theologie als kirchliche Theologie bestimmt, ist das als eine theologische Aussage zu verstehen und somit strikt von der Quelle theologischer Erkenntnis her, d. h. kreuzestheologisch zu interpretieren. Da liegt für ihn der Ausgangspunkt und nicht bei den Bekenntnisschriften. Auch das Ziel der kirchlichen Theologie sei nicht im Verhältnis zu einer partikularen Kirche zu bestimmen, sondern vielmehr übe sie ihre Funktion letztendlich im Zusammenhang der Einen Kirche Jesu Christi aus. Sowohl diese christologische Tiefe als auch diese katholische Weite einer kirchlichen Theologie sind nicht abstrakt, also abgesehen von der wirklichen Lebensgestalt der Kirche zu haben. Sie sind notwendig vermittelt durch ihren Bezug auf eine geschichtlich-territorial existierende Kirche, durch das Involviert-Sein in ihr Leben. In diesem Leben hat das Bekenntnis für von Oettingen sehr wohl eine wichtige Bedeutung bzw. sollte sie haben. Mir scheint, dass betreffend des Verständnisses von Kirche strukturell eine Parallele dazu gezogen werden kann, wie Friedrich Schleiermacher den Zugang zum Wesen der Religion und dessen Beschreibung durch die geschichtlich gegebenen Religionen vermittelt sieht: durch das konkrete Offenbarwerden des Universums in der Geschichte, das den religiösen Sinn, den Sinn für das Mögliche erweckt. Analog dazu wäre die Kirche geschichtlich nur als Kirchen, in einer Vielfalt der Konfessionen, zugänglich und gegeben. So wie nur durch die Pluralität der Religionen von der Religion gesprochen werden kann, so nur durch die Pluralität der Kirchen von der Kirche.4 Der Sinn für die Kirche bzw. „der kirchliche Sinn“ – eine Wendung, die von Oettingen gelegentlich verwendet – ist deshalb nicht zu verwechseln mit einer Absolutisierung oder einer engherzigen Verteidigung und Behauptung der eigenen bzw. lutherischen Konfession. „Der kirchliche Sinn“ weist vielmehr von Oettingen zufolge primär auf die Wahrnehmung der kirchlichen Wirklichkeit, inkl. der Wirklichkeit der Theologie als einer ihrer Dimensionen, von „dem lebendigen Worte Gottes“ (14) oder vom „Wort vom Kreuz“ (11) her.
Deutschland, Skandinavien und Nordamerika eine Erneuerung des Luthertums in Theologie und praktisch-kirchlichem Leben anstrebte. Das N. ging von der Bibel und den Bekenntnisschriften aus.“ (Fagerberg, Neuluthertum, 536). Der Begriff „Neuluthertum“, wie auch der im Artikel als Synonym gebrauchte Begriff „der lutherische Konfessionalismus“, ist eine Fremdbezeichnung, deren deskripitive Intention und polemische Konnotation schwer zu trennen sind. 4 Die bekenntnismäßig differierenden Kirchen drücken eine jeweils eigentümliche Auffassung vom Christlichen aus.
168 12.2
Theologie des Kreuzes als kirchliche Theologie
Wort – Glaube – Kirche
Das Leben der Kirche oder der Gemeinschaft in Christus ist „erzeugt und geboren […] aus dem lebendigen Worte Gottes im wahren Glauben“ (14). Das Wort, das den Glauben schafft und im Glauben empfangen wird, das Wort, das das Leben im Glauben konstituiert, ist der lebendig-gegenwärtige Ursprung der Kirche. Das lebendige Wort Gottes einerseits und der wahre Glaube andererseits oder „der allein aus dem Worte Gottes durch die höhere Geisteswirkung entstandene christliche Gemeinglaube“ (14) – in diesem gründe sich die Kirche. Auf dieses Wort und auf diesen Glauben sei die Theologie als kirchliche Theologie fundamental bezogen. Das Kreuzestheologische, so wie von Oettingen es zu Beginn des Aufsatzes „Theologie und Kirche“ im Anschluss an Luther vergegenwärtigt hat, drückt sich also zuerst darin aus, dass es das Wort, „Gottes Wort“ (12), das „Wort von Kreuz“ (11) oder „Christus“ als „Grund“ und „Eckstein“ (13) ist, worauf sich die rechte Theologie gründet und woran sie sich orientiert. Dies gilt für Theologie und Kirche gleichermaßen, so dass von Oettingen fragen kann: „Haben wir nun in diesem Sinn eine rechte Kreuztheologie und eine rechte Kreuzkirche?“ (12f) Da heute nicht selten dazu geneigt wird, die Wendung „kirchliche Theologie“ mit einer „Ausrichtung der Theologie auf die Institution“ der Kirche zu identifizieren und sie als „konfessionelle ,Amtstheologie‘“ zu verstehen,5 ist es für eine adäquate Wahrnehmung des hier besprochenen Falles von kirchlicher Theologie wichtig zu berücksichtigen, dass kirchliche Theologie bei von Oettingen von einer christo- und logozentrischen Ausrichtung her konzipiert ist. Darin und deshalb ist sie eine Theologie des Kreuzes. Der zweite Moment, der die kirchliche Theologie in der Interpretation von Oettingens zu einer Theologie des Kreuzes macht, hat mit dem Glauben als Korrelat des Wortes zu tun. Dieser Glaube ist dabei nicht nur oder primär individuell und persönlich, sondern immer zugleich gemeinsamer, geteilter, „kirchlicher Glaube“ (14). So wie die Kirche als die Gemeinschaft in Christus und von ihm her eine Gemeinschaft im Glauben und des Glaubens ist, so sei kirchliche Theologie auch eine Theologie des Glaubens. Später charakterisiert 5 Vgl. z. B. die Typologisierung der gegenwärtig vertretenen Ansätze der Theologie durch ihre unterschiedlichen Problemhorizonte bei I.U. Dalferth (Dalferth, Evangelische Theologie, 33). Wenn Dalferth in den heutigen Auffassungen der „evangelischen“ Theologie eine konfessionalistische, eine rechtliche und eine normative Sinnrichtung unterscheidet, wobei für die erste die Berücksichtigung und Integration der lutherischen und reformierten Lehrdifferenzen charakteristisch ist und für die letzte eine Orientierung auf das Evangelium im Vordergrund steht (vgl. ibid., 32), dann impliziert im Fall von Oettingens gerade der Begriff „kirchliche Theologie“ grundlegend den für die Theologie konstitutiven und deshalb auch für sie verpflichtenden Bezug auf das Evangelium.
Wort – Glaube – Kirche
169
von Oettingen sie auch explizit als Glaubenswissenschaft.6 Dieses Gegenüber von Wort und Glaube bleibt und ist nicht reduzierbar. Doch das Wort ist nur im Glauben und für den Glauben als sein Ursprung und seine Quelle gegeben. Nur für den „im Worte Gottes“ gegründeten Glauben gelte „die Torheit des Kreuzes als göttliche Weisheit“ (ibid.). Denselben Sachverhalt kann von Oettingen auch anders ausdrücken: Dieser Glaube ist ein innerliches Gebundensein an die Wahrheit „aus Gott“ und gerade so ein Freisein: Man ist „aus freier Gnade in Christo mit Gott versöhnt im Glauben“ und just in derartiger Relation ist man zugleich „berufen zur ,herrlichen Freiheit‘ der Kinder Gottes“ (15). „Diese Lebenswahrheit“, da sie ja konstitutiv für ein neues Leben als Leben im Glauben ist, „erweist sich als eine für die im Glauben Christo einverleibte Menschheit wesentliche, nur innerhalb der Gemeinde, in der Kirche des Herrn sich bewegende und bewährende“ (14). Einerseits gilt, dass die Kirche als Menschheit in Christus von dieser Lebenswahrheit her lebt, andererseits, dass diese Lebenswahrheit als eine gemeinschaftskonstituierende Wahrheit, mit Gott und unter den Menschen, nur im je gegenwärtigen Vollzug dieser Gemeinschaft zugänglich ist. Das bedeutet für von Oettingen nicht, dass die Kirche bzw. der Glaube die Stellung des Wortes usurpieren würde: Sie ist eine Gemeinschaft vom Wort her, versteht sich jedenfalls so und sieht sich deshalb auch diesem verpflichtet.7 Er kann dieses Differenzbewusstsein auch mit der Unterscheidung zwischen der „Glaubenswahrheit“ der Gemeinschaft, die bekannt wird, und der „ewigen, lebendigen Wahrheit“ (15), die offenbart wird, ausdrücken. Die „kirchliche Glaubenswahrheit“ und die „göttliche Offenbarungswahrheit“ verhalten sich zueinander dialogisch wie das Wort und die darauf gegründete und bezogene Antwort (vgl. 1855a, 1855b). Der gemeinschaftliche Charakter des Glaubens, d. h. der Glaube als christlicher Gemeinglaube oder als kirchlicher Glaube, ist von Oettingen sehr wichtig. Wenn kirchliche Theologie für ihn eine Theologie des Kreuzes ist, weil sie nicht von Wort und Glauben abstrahiert, dann ist die Gemeinschaft nicht ein dem individuellen und persönlichen Glauben Nachträgliches, sondern sie wird selbst vom Wort im Glauben gegründet. Ihr Glaube als ein gemeinsamer, durch den 6 Vgl. unten Kap. 21. 7 Diese Auffasung drückt sich später in von Oettingens Dogmatik in einer fortentwickelten Gestalt so aus, dass er im Unterschied zu der viel geläufigeren Behandlung der sog. „Gnadenmittel“ umgekehrt verfährt. Die Gnadenmittel, die Heilsgemeinde und die Heilsordnung bzw. Pisteologie werden in eben dieser Reihenfolge als die drei Unterabschnitte in der Darstellung der Pneumatologie behandelt (vgl. 1902a). In dieser Weise meint von Oettingen am besten der Stellung der Kirche gerecht zu werden. Die Gnadenmittel sind weder Eigentum noch Eigenschaften der Kirche, sondern sind ihr bleibendes Gegenüber als Mittel, deren sich der Heilige Geist bedient.
170
Theologie des Kreuzes als kirchliche Theologie
man in Christus miteinander verbunden ist, ist dem konkreten Einzelnen in der Geschichte in Form des Bekenntnisses des Glaubens und des Lebens im Glauben vorgegeben. Doch die emphatische Hervorhebung der Gemeinschaft oder der Kirche bei von Oettingen geht tiefer zurück und wird noch anders begründet. Dies werde ich im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit näher entfalten. An dieser Stelle sei mit Blick auf den Text „Theologie und Kirche“ nur darauf hingewiesen, dass es zunächst doch um die „im Glauben Christo einverleibte Menschheit“ (14) geht. Rückgreifend auf die venia legendi-Vorlesung von 1854 ist außerdem von Christus als Mitte und Wende in der Geschichte, also menschheitsbezogen, und nicht nur in der persönlichen Lebensgeschichte zu sprechen (vgl. 1855a, 1855b). In späteren Texten verfolgt von Oettingen den Grund dieser Gattungs- bzw. Gemeinschaftsbezogenheit des Glaubens bis auf den Charakter des Heilsratschlusses und somit letztendlich auf das Sein Gottes zurück. Kirchliche Theologie als Theologie des Kreuzes ist jedenfalls für von Oettingen eine Theologie des Glaubens, weil es der Glaube ist, für den die Torheit des Kreuzes die Weisheit Gottes ist. Dieser Glaube selbst ist aber ihm zufolge wesentlich und primär eine gemeinsame und keine einsame Angelegenheit. Der Glaube ist zwar auch immer wesentlich persönlich, doch entsteht der Glaube des Einzelnen immer schon im Kontext des gemeinsamen und geteilten Glaubens.
12.3
Erfahrung – Anfechtung – Kampf
Ein weiteres wichtiges Moment der kirchlichen Theologie als Theologie des Kreuzes betrifft die Weise, wie der Einzelne zu einem Theologen,8 zu einem rechten Theologen, wird. Das folgende Zitat fasst die Sicht von Oettingens gut zusammen: Die Einzelnen müssen „mit der Kirche des Kreuzes auch Theologen des Kreuzes aus Erfahrung geworden“ sein (27).9 Der Weg läuft über die eigene Erfahrung. Einen Umweg gibt es nicht. Woran denkt von Oettingen, wenn er vom Werden eines Theologen aus Erfahrung spricht? Vermutlich geht es um das, was er zu Beginn des Aufsatzes im Referat der Heidelberger Disputation auch „die Kreuzesschule“ genannt hat. Das Studium der Theologie unter dem Kreuz bedeutet, dass die eigene Existenz mit unüberbietbarer Radikalität davon betroffen ist. Ich als „der alte Adam“, wie 8 In einem berufsmässigen Sinn hat von Oettingen sich damals keine Theologinnen vorstellen können. In einem elementaren Sinn können jedoch alle Glaubende als Theologen und Theologinnen verstanden werden. Das würde von Oettingen m. E. auf jeden Fall zugeben. Deshalb könnte man bei dieser elementaren Besinnung eigentlich sehr wohl auch von einer Theologin sprechen. 9 Im Original z. T. kursiv.
Erfahrung – Anfechtung – Kampf
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Luther sich ausdrückt, werde ja durch das Kreuz Christi gekreuzigt und getötet, als derjenige, der selbst und von sich aus sein, also Gott sein, will. Der Sachbezug der Theologie ist derartig, dass ich selbst mitten drin bin – ganz und gar –, und zwar als ein Solcher, der gegen Gott ist. Die wahre Gotteserkenntnis, die im gekreuzigten Christus liegt, und die wahre Selbsterkenntnis, als die des Sünders, gehören zusammen. Deshalb sei ein wahrer Theologe „ein armer, verlorener und begnadigter Sünder“ (15). Die wahre Theologie, die Theologie des Kreuzes, mache zum Sünder. Dies ist die durch den ganzen Text klingende kreuzestheologische Spitzenaussage (vgl. 1, 15, 44): Es ist der Sünder, der aus freier Gnade gerettet wird – dadurch, dass ich zum Sünder gemacht werde, werde ich begnadigt und gerecht gemacht. Das „Zugleich“ von simul iustus et peccator ist also keinesfalls eine Neukonstruktion der lutherischen „Standardtheologie“ des 20. Jahrhunderts,10 eine späte Erfindung, die weder Luther noch die ihm nachfolgende lutherische Tradition so anerkennen würden, sondern eine Sacheinsicht, die z. B. bei von Oettingen explizit belegt ist. Er nimmt sie als impliziert in der theologia crucis Martin Luthers wahr und auch für seine eigene Variante einer Theologie des Kreuzes spielt diese Einsicht sein ganzes Werk hindurch eine bedeutsame Rolle. Dass der Mensch ein verlorener Sünder sei, das wolle und könne er von sich aus nicht so – jedenfalls nicht in der abgründigen Tiefenbedeutung des Sünderseins – zugeben. Vielmehr widerspricht es seinem Selbstverständnis total. Genauso wie es seinem Eigenverständnis total widerspricht, dass Gott im Gekreuzigten zu suchen sei. Die Kreuzesschule deutet da auf eine fundamentale Umorientierung hin. Ein Theologe des Kreuzes wird, wenn er „es gelernt“ hat, nicht seine „eigene Ehre […] suchen, sondern die Schmach Christi […] tragen“ (27). Gott und seine Ehre ohne Berücksichtigung von Leiden und Kreuz Christi zu suchen, wird vom Kreuz her als das Suchen nach eigener Ehre entpuppt. Gott in der Schmach Christi kennen zu lernen heißt dagegen zugleich sich selbst als Sünder kennen zu lernen. Dieser Lernprozess vollziehe sich nicht irgendwie rein intellektuell oder spekulativ, sondern das ganze Leben, die eigene Existenz in ihrer Konkretheit und all ihren Dimensionen, sei betroffen und involviert. Von Oettingen verweist auf Js 28, 19: die „Anfechtung lehret auf ’s Wort zu merken“. Er gibt ein weiteres Mal ausführlicher Luther das Wort. Es ist eine – heute gut bekannte und vielzitierte – Stelle, in der es darum geht, wie er Theologie gelernt habe. Von Oettingen leitet das Zitat mit den Worten ein: „was er gelernt [hat], [hat] er im geistigen und geistlichen Kampfe gelernt“ (19). Luther beschreibt, wie er seine Theologie nicht auf einmal gelernt hat, sondern immer tiefer daran hat forschen müssen, und welche Rolle die Anfechtungen dabei gespielt haben: Ohne die „Practik“ und die Anfechtungen – und das heißt 10 Vgl. oben Kap 1.
172
Theologie des Kreuzes als kirchliche Theologie
auch: ohne den rechten Widersprecher – sind wir nur Theologen der Spekulation (ibid.). Ohne diese persönliche Ergriffenheit, wozu notwendig auch Anfechtung und Kampf gehören, werde man kein rechter Theologe. Wenn man „den geistiglebendigen Kampf der persönlichen Aneignung scheut“ ende man in Dogmatismus und Gesetzlichkeit und vergesse, „wie alles Leben von Innen heraus angeeignet und gestaltet sein will“ (16). Von Oettingen hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass „Anfechtungen und wissenschaftliche Geistesarbeit […] sich für den rechten theologus crucis“ gerade nicht ausschließen (19). Sowohl die geistliche Anfechtung als auch die geistig-wissenschaftliche Forschung und kritische Vermittlung schützen „vor dem plötzlichen und unvermittelten Sprung in den sicheren und fertigen Besitz der Wahrheit“ (ibid., vgl. 6).11 So besteht das dritte Moment der kirchlichen Theologie als einer Theologie des Kreuzes darin, dass die eigene Erfahrung, die Anfechtung und der Kampf nicht aus ihr zu eliminieren sind, sondern vielmehr wesentlich dazugehören. Wahre Theologie gibt es nicht ohne sie.
12.4
Positive Wissenschaft
Soweit habe ich drei grundlegende Aspekte der kirchlichen Theologie als Kreuzestheologie etwas näher herausgearbeitet. Vor diesem Bedeutungshintergrund wollen die Rede von einer „kirchlichen Theologie“ und alle weiteren inhaltlichen Anreicherungen dieses Begriffs – jedenfalls bei dem jungen von Oettingen – verstanden werden. Ohne Berücksichtigung dieser kreuzestheologischen Tiefendimension mutiert kirchliche Theologie zur gesetzlichen Orthodoxie: Wir haben in unserer Zeit mannigfachen Grund über wissenschaftliche Feigheit oder Trägheit zu klagen, mit welcher so leicht der Götzendienst mit dem fertigen Bekenntniß der Kirche Hand in Hand geht. (16)
Diese drei Momente stellt von Oettingen, in der Diktion des vielfältigen wissenschaftlichen Diskurses des 19. Jh., in der Bestimmung des Gegenstandes und der Aufgabe der Theologie pointiert mit Hilfe der Charakterisierung von 11 Von Oettingen konstatiert eine nicht selten anzutreffende Gleichgültigkeit oder sogar Verachtung der Wissenschaft von Seiten vieler kirchlicher Amtsträger und kritisiert scharf August Vilmar (Vilmar, Theologie der Thatsachen), wenn der meint behaupten zu müssen, dass die Theologie mit der Wissenschaft nichts zu tun habe, dass das Wissenschaftliche und das Empirische in einem exklusiven Gegensatz stehen und das die „Wissenschaft“ für die Theologie ein Fluchwort sei (vgl. 1859a, 18, Anm. 1f; vgl. 16).
Positive Wissenschaft
173
Theologie als „positiver Wissenschaft“ zusammen.12 Er greift dabei erwartungsgemäß auf Friedrich Schleiermacher, den er als „in der That großen Mann“ (25) bezeichnet, und speziell dessen theologische Enzyklopädie zurück. Von Oettingen ist damit einverstanden, dass kirchliches Interesse und wissenschaftlicher Geist in jedem wahren Theologen vereint sein müssen und dass Theologie als eine Wissenschaft zum Zweck des – in einem breiten Sinn verstandenen – kirchenleitenden Handelns betrachtet werden kann. Diese Zweckbezogenheit der Theologie als Charakteristikum der Positivität der Theologie wird jedoch von ihm auch durch die Art ihrer Gegenstandsbezogenheit ergänzt. Sachlich tut dies wohl auch Schleiermacher, insofern die Bezogenheit der Theologie auf eine Glaubensweise wesentlich ist, doch wird die Positivität der Theologie expressis verbis teleologisch als Funktion der Kirche bestimmt. Die Positivität der Theologie liegt für von Oettingen jedenfalls auch darin, dass es sich bei ihr „um ein positives, gegebenes Object“ (22) handelt: das Object der theologischen Wissenschaft [ist] ein auch abgesehen von unserer kritischen Geistesarbeit real vorhandenes, organisch gegliedertes, geschichtlich verwirklichtes, nämlich das Christentum als Religion des Heils, wie es in Christo und seiner Versöhnungsthat wurzelnd von dem Worte Gottes urkundlich bezeugt ist, wie es in der Kirche, in ihrem Leben und ihrer Lehre, als neuschöpferisches Princip eine Gestalt gewonnen und wie es im Herzen des einzelnen Gläubigen als persönlich erfahrene Heilsgnade wirksam ist. (22f)
In dieser definitionsartigen Gegenstandsbestimmung der Theologie als Wissenschaft spiegeln sich die in meiner vorangegangenen Interpretation hervorgehobenen Aspekte wider. Der vorgegebene Gegenstand, das Christentum als Heilsreligion, ist als in sich komplex, und zwar in dreierlei Hinsicht nichtreduzierbar komplex, beschrieben. Diese Kurzdarstellung der christlichen Religion impliziert, dass sie aus der Beteiligungsperspektive an diesem Gegenstand unternommen ist. Diese Vorgegebenheit ihres Gegenstandes bedeutet, dass der Theologie für ihr Objekt keine Begründungsaufgabe im Sinn von Setzen, Stiften, „Erzeugen“ oder „Beweisen“ obliegen kann: Der Gegenstand ist nicht auszudenken, sondern „nachzudenken“, es gilt nicht ihn zu „konstruieren“, sondern zu rekonstruieren, nicht zu produzieren, sondern zu „reproduzieren“. Er ist zu „verstehen“ und gedanklich bzw. denkend „darzustellen“. Alle diese Wendungen deuten darauf hin, dass die theologische Erkenntnis für von Oettingen prinzipiell einen phänomenologisch-hermeneutischen Charakter hat (vgl. 22–25, 28). Von Oettingen ist der Ansicht, dass das, was für die Theologie gilt, eigentlich für jede Wissenschaft gilt: Dass nämlich „jede Wissenschaft ein Organ der 12 Zu seinem späteren Gebrauch dieser Wendung vgl. unten Kap. 17.
174
Theologie des Kreuzes als kirchliche Theologie
Hingabe und des Verständnisses für das gegebene Object der Untersuchung“ voraussetzt (22). Die Wissenschaft hat nicht a priori zu konstruieren, sondern nachzudenken. Diese wissenschaftstheoretischen Gedanken werden in den methodologischen bzw. erkenntnistheoretischen Teilen seiner systematischen Hauptwerke weiterentwickelt.13 Die Richtung der Auffassungs- und Argumentationsart ist jedoch schon hier deutlich angekündigt. Die Wissenschaft ist insofern sekundär, als sie „den Glauben und die Liebe zu der Realität der geistig zu erkennenden, aber empirisch schon vorliegenden Organismen“ voraussetzt (22).14 Diese heute fremd klingende Terminologie drückt eine vorwissenschaftliche Bezogenheit eines Forschers bzw. einer Forscherin auf das „reale Leben“ oder auf die „Wirklichkeit“ aus, die als in sich gegliedert, strukturiert, zusammenhängend angenommen bzw. behauptet wird. Ohne ein vorwissenschaftliches Vertrauen auf die Gegebenheit und Erkennbarkeit des jeweiligen Aspekts der Wirklichkeit – heute sprechen manche von Schichten der Wirklichkeit – und ohne eine liebende Hingabe an den jeweiligen Untersuchungsgegenstand ist „keine wahre Wissenschaft denkbar“ (ibid.). Die Organismus-Metapher weist auf das Ganze der Wirklichkeit bzw. des realen Lebens als eine der Forschung vorgegebene Weise, also eine intrinsische, zusammenhängende hin. Die Wissenschaft, die ja auch selbst ein Element im Leben ist, ist ein „Gedanken-Organismus“ (ibid.), der die zusammenhängende Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit darzustellen hat. Im Fall der Theologie als Wissenschaft wird ihr positives Objekt „als ein[] in sich geordnete[r] und einheitliche[r] Organismus von Erkenntnissen, also in seiner systematischen Gliederung“ reproduziert (23).15 Auch im Fall der Theologie setzt ihr Untersuchungsobjekt ein Organ der Hingabe und des Verständnisses voraus. Das eigentümliche Objekt in der inneren Differenziertheit und Aufeinanderbezogenheit seiner drei Dimensionen ist einem Theologen im Modus seines eigenen Glaubens zugänglich. Sein Glaube kann als „das geistliche Sensorium für die Aufnahme“ des theologischen Objekts beschrieben und in Anspruch genommen werden, wodurch dann auch die Liebe zum Objekt der Theologie bedingt ist (ibid.). Derartige Überlegungen zeigen, wie von Oettingen bestrebt ist, dem theologischen Objekt und seiner Eigenart gerecht zu werden, er dies jedoch weder durch eine Entgegensetzung von Theologie und Wissenschaft oder eine Stili-
13 Vgl. unten Kap. 17, 19, 21. 14 Im Original z. T. kursiv. 15 Von einer enzyklopädischen Gliederung der Theologie in Teildisziplinen mit ihren jeweiligen Beiträgen werde ich an dieser Stelle absehen. Eine Skizze enthält jedoch der Text von 1859a (vgl. 17) und sie wird sowohl in der Ethik (1873a) als auch in der dogmatischen Prinzipienlehre (1897a) thematisiert.
Konfessionalität – Katholizität – Ökumenizität
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sierung der Theologie zu einer Wissenschaft sui generis noch durch eine angebliche Voraussetzungslosigkeit aller Wissenschaft gewährleistet sieht. Wenngleich von Oettingen Schleiermacher in der neueren Theologie wegen seiner wirkmächtigen Orientierung am Glauben und der Konzipierung der Theologie als einer Wissenschaft im Zusammenhang (mit) der Kirche hoch würdigt, so formuliert er zugleich einen Vorwurf, der für die Wahrnehmung und Einschätzung von Schleiermachers Theologie innerhalb der sog. kirchlichen Theologie – jetzt verstanden als eine theologische Strömung des 19. Jh.16 – typisch sein dürfte. Schleiermacher habe „das fromme Subject einseitig in den Vordergrund“ gestellt und „die Kirche nur als das aus dem religiösen Congregationstriebe der frommen Subjecte entstandenen Gemeinwesen“ angesehen (25).17 Damit ist die Gemeinschaftsdimension, die im Objekt der Theologie liegt, für von Oettingen nicht hinreichend wahrgenommen und berücksichtigt. Die Kirche ist uns nicht nur aufgegeben, sondern gegeben: Die Kirche, als ein lebendiger, gottgewollter und gottgegründeter Organismus ist thatsächlich da, auf dem Felsen des Gotteswortes und der Sacramente fest gegründet, von Christo, dem verklärten Haupte durch seinen heiligen Geist geleitet, in den lebendigen und wahren Gliedern ihres gottgeborenen Leibes als Heilsgemeinschaft und zugleich gegenüber der Welt in ihr und außer ihr als Heilsanstalt sich gestaltend. (25f)
Wie zu Beginn des Kapitels gesagt, versteht von Oettingen die Theologie als kirchlich, sofern sie aus der Gemeinschaft in Christus geboren ist und für sie – und gerade so für die Menschheit – lebt. Die Kirche ist mit ihrem Glauben also nicht nur ein Anwendungszusammenhang der Theologie, sondern auch ihr Entstehungszusammenhang. Sowohl von ihrem Ursprung als auch Ziel her bildet Theologie selbst ein Element im Leben dieser Gemeinschaft (vgl. 14). Dieser Sachverhalt, diese doppelte Positivität der Theologie, spricht an sich ganz und gar nicht gegen die Theologie als Wissenschaft oder gegen die theologische Forschung und Lehre im universitären Zusammenhang.
12.5
Konfessionalität – Katholizität – Ökumenizität
Es verdient ausdrückliche Hervorhebung, dass von Oettingen „auf entschiedenste […] als falsch-exclusiv und mißverständlich“ die Auffassung zurückweist, die eine Konfession, etwa die lutherische, bzw. die Gemeinschaft der zu ihr gehörigen Christen mit der „Einen, apostolisch begründeten, allgemeinen, christlichen Kirche“ identifiziert (30). Der sog. kirchliche Sinn in der Kon16 Vgl. unten Kap. 9. 17 Vgl. von Oettingens späte Kritik gegen die berühmte Bestimmung des Unterschiedes zwischen Katholizismus und Protestantismus (1897a, 316–318; 1902a, 530f).
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Theologie des Kreuzes als kirchliche Theologie
kretheit einer Konfession und die ökumenische Offenheit schließen sich also keinesfalls aus. Vielmehr ist das zweite durch das erste vermittelt. Jedenfalls verleiht von Oettingen der Überzeugung Ausdruck, dass „überall, wo im Namen des dreieinigen Gottes Getaufte, durch Wort und Sacrament im Glauben Christo einverleibt sind, da ist die Kirche Christi, da finden sich auch wahre Glieder an seinem Leibe“ (ibid.). Wort und Sakrament sind aber „trotz der theilweisen Trübung“ in allen christlichen Gemeinschaften zu finden und ein ökumenisches Bekenntnis verbindet sie noch alle (31). So wie die eine katholische Kirche sich in einer Vielfalt der Konfessionen gestaltet, so wie die Kirche Christi in ihrer katholischen Einheit sich in der Pluralität der christlich-konfessionellen Gemeinschaften oder bekenntnismäßigen Sonderkirchen verwirklicht, so kann und will auch die rechte Theologie diesen Sachverhalt nicht ignorieren, sondern sie ist als kirchliche zugleich eine konfessionell bestimmte Theologie. Theologie des Kreuzes als kirchliche ist also eine kirchlich-konfessionelle Theologie und gerade so eine katholische und ökumenische, eine wahrhaft christliche, allgemeine und universelle Theologie.
12.6
Rechtfertigungslehre
Eine Erörterung darüber, wie das Verhältnis der Theologie und eines Theologen zu dem sich in einer Entwicklung sich befindenden Bekenntnis der Kirche und zu ihrer Ausgestaltung als Dogma oder Lehre der Kirche von Oettingen zufolge zu verstehen ist, d. h. wie es gerade der Freiheit einer Kirche, aber auch eines Theologen dient, und wie es kein Hindernis der theologischen Forschung, auch der Bibelforschung, ist bzw. sein sollte, braucht hier im Einzelnen nicht zu erfolgen.18 Theologie wird verstanden als ein gemeinschaftliches Unternehmen und als auf ein gemeinsames Glauben, Bekennen und Lehren der Kirche bezogen. In diesem Zusammenhang ist von Oettingen zufolge von entscheidender Bedeutung, dass das kirchliche Bekenntnis in seiner geschichtlich gewordenen Explikation „ein persönlich und wissenschaftlich errungenes Eigenthum“ des Theologen sei (37). In welchem Sinn meint er das? Von Oettingen weist auf „das innerste pulsirende Herz“ (ibid.), auf das „Centrum“ (40) des christlichen Glaubens. Es ist „die Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden, auf Grund des 18 Siehe dazu 28–41. Hier diskutiert er u. a. mit Blick auf die Bekenntnisgebundenheit die Leistungskraft und die Schwächen der damals aktuellen Unterscheidungsvorschläge zwischen dem Fundamentalen und Nichtfundamentalen im Bekenntnis, sowie zwischen der Bekenntnissubstanz und -form, und weist die Vorstellung von einer Bindung an den Buchstaben des Bekenntnisses zurück. Aus den Schriften der ersten Phase des Werkes von Oettingens vgl. 1855a, 1855b (vgl. oben Kap. 5).
Ehrentheologische Tendenzen der Gegenwart
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stellvertretenden Verdienstes Christi allein durch den Glauben“19 (37). Wer in dieser „Kern- und Grundwahrheit fest und tief gewurzelt ist, der wird […] auch den artikulierten Organismus der kirchlich-protestantischen Glaubenswahrheit zu erfassen und von innen heraus zu reproduzieren vermögen“ (37). Vier Momente möchte ich hier knapp hervorheben. Erstens, bei von Oettingen stehen die Theologie des Kreuzes in ihrer fundamental-theologischen Bedeutung20 und die Rechtfertigungslehre in ihrer Schlüsselstellung für die Theologie 1859 in einer sehr engen Beziehung.21 Hat die Rechtfertigungslehre für ihn den Sinn einer kirchlich-bekenntnismäßigen Chiffre für die Theologie des Kreuzes? Dieses Verhältnis wird weiter zu verfolgen sein. Zweitens, von Oettingen operiert mit einer Unterscheidung zwischen der Rechtfertigungslehre und ihrer Wahrheit bzw. ihrer Sache. Letztere ist die lebendige pulsierende Mitte des Bekenntnisses, die in der Rechtfertigungslehre ihren Ausdruck findet. Drittens, Theologie ist dadurch bedingt, dass dem Theologen die Wahrheit der Rechtfertigungslehre, die ja zugleich die Wahrheit „des kirchlichen Gemeinglaubens“ ist (40), evident geworden ist. Dass er also selbst im Modus der Gewissheit seines persönlichen Glaubens darin involviert ist (vgl. 15, 40f). Viertens, der lebendige Grund bzw. das Zentrum des Glaubens der Kirche, welches im Artikel von der Rechtfertigung ausgedrückt wird, ist der Schlüssel für das Verstehen und die Rekonstruktion, sowie für den evtl. Beitrag zur Fortbildung22 des lebendigen Ganzen der kirchlichen Lehre. Dabei gilt: „jede aus wahrer, lebendiger Aneignung hervorgehende Reproduction muß der Wahrheit eine andere individuelle Form“ geben (38). Kirchliche Theologie als Theologie des Kreuzes kann unmöglich eine Repetitionstheologie sein.
12.7
Ehrentheologische Tendenzen der Gegenwart
Wenn von Oettingen den kirchlichen Charakter der Theologie in den Vordergrund stellt und als Implikat einer wahren Theologie verstanden wissen will, spiegeln sich darin seine zeitdiagnostischen Entscheidungen und seine Wahr19 Im Original hervorgehoben. 20 Vgl. oben Kap. 1. 21 Die Zentralstellung der Rechtfertigungslehre als Grund- und Verstehens- bzw. Rekonstruktionsprinzip des kirchlichen Gemeinglaubens wird in der ersten Phase des Werkes von Oettingens (vgl. oben Kap. 5) explizit behauptet in der Antrittsvorlesung im Jahr 1854 (vgl. 1855a, 1855b) und beansprucht und angewandt z. B. in der großen Abhandlung über die Taufe und Wiedergeburt (vgl. 1862d, 1862e, 1863a, 1863d). 22 Zu den Kriterien dafür vgl. 39.
178
Theologie des Kreuzes als kirchliche Theologie
nehmung der Lage des theologischen Diskurses mit den darin liegenden Herausforderungen wider. Es ist schon die Rede gewesen vom Dogmatismus und der Gesetzlichkeit – auch dem „starre[n] Practicismus“ (20, vgl. 42), der die Wissenschaft verachtet oder fürchtet –, als negativen Symptomen einer, man könnte sagen, kreuzestheologisch defizitären kirchlichen Theologie. Diese Probleme, die leider durchaus anzutreffen seien, bildeten jedoch eher „den Splitter im Auge unserer Zeit“ im Vergleich zu „den eigentlichen Balken“: nicht Gesetzlichkeit, sondern „Zuchtlosigkeit und Laxheit“ sei die „eigentliche Signatur diese[r] unsere[r] ,moderne[n]‘ Zeit“ (20). Von Oettingens Zeitdeutung gipfelt in der Konstatierung der Verabsolutierung des Einzelnen und seiner Eigeninteressen.23 Mir scheint, er schreibt seiner Zeit einen ausgesprochen ehrentheologischen Grundzug zu. Seine theologische Deutung der „modernen“ Zeit greift in ihrer Pointe nämlich auf eine Denkfigur zurück, die er im ersten Teil seiner Abhandlung bei der Erinnerung an Luther als die Kulmination der theologia gloriae herausgestellt hatte.24 Jetzt lautet sein Urteil: [D]as kennzeichnet unsere Zeit als die ,letzte Zeit‘, […] daß sie die Individualität und das eigene Gelüste auf den Thron erhebt und […] sich selbst, durch die ,Theologie der Ehre‘ gestachelt, über Gott erhebt und giebt vor sie sei Gott (ibid.).
Jedenfalls kann konstatiert werden, dass die innerhalb seines Werkes erstmalige explizite Orientierung von Oettingens an Luthers theologia crucis nicht ohne eine Zeitbetrachtung in deren Lichte erfolgt. Das Appellieren an die „Theologie des Kreuzes“ und ihre erste namentliche Besprechung im Werk von Oettingens – und in der Postaufklärung – erfolgt in Verbindung mit einer Zeitbetrachtung und einer Kritik der „modernen“ Zeit. Daraus kann man folgern, dass seiner Ansicht nach die Theologie des Kreuzes zum einen ein gegenwartshermeneutisches Potential besitzt und zum anderen zu einer kritischen Position führt: In seiner Analyse wird die moderne Zeit durch eine falsche Theologie geprägt. Was nun speziell „die modern-theologische Wissenschaft“ betrifft, will er keinesfalls behaupten, dass diese mit der falschen Theologie zu identifizieren sei. Doch sei diese „zu sehr Theologie der Ehren und zu wenig Theologie des Kreuzes“ (21). Mit Blick auf das eigentliche Kennzeichen der „modernen“ Zeit muss gesagt werden: Eine Theologie, die „modern“ ist bzw. sein will, die sich um ihre Modernisierung bemüht, partizipiert an diesem ehrentheologischen Zug 23 Vgl. z. B. die klassische theologische Neuzeitdeutung mit ähnlicher Pointe aus der Zeit zwischen den Weltkriegen im 20. Jahrhundert (K. Barth, Die protestantsiche Theologie) oder aus der neueren Zeit (Gunton, The One, the Three and The Many ; dazu Wendte, Legitimität des Nominalismus?). 24 Vgl. oben Kap. 11.
Ehrentheologische Tendenzen der Gegenwart
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der Zeit. Wie drückt sich das aus? Ich fasse seine kritischen Wahrnehmungen mancher Tendenzen „moderner“ Theologie aus dem Jahr 1859 in vier eng in Beziehung stehenden Punkten zusammen, die im weiteren Verlauf der Untersuchung ergänzt, präzisiert und z. T. modifiziert werden. Moderne theologische Wissenschaft tendiere zu einer Theologie der Ehre und entspreche der eigentlichen Signatur der Zeit, indem sie etwa (1) überhaupt dem einzelnen frommen Subjekt eine einseitige Zentralstellung zuweist – und mit diesem Subjektivismus und Individualismus dem wesentlich gemeinschaftlichen Charakter des Glaubens und des Personseins nicht gerecht wird (vgl. 3, 21, 25); (2) irreführenderweise voraussetzungslos zu sein beansprucht, in allem zweifeln zu müssen meint – und damit die Gegebenheit und die Gegebenheitsweise ihres Gegenstandes verfehlt und zu einer Ideologie mutiert (vgl. 21, 27); (3) universell sein und universell Gültiges (den „Geist“, das „Wesen“) erforschen will – und dadurch „in eine abstracte Stellung gegenüber der Geschichte und der wirklichen Lebensform und dem wirklichen Bedürfniß“25 gerät (21, vgl. 3); (4) ihre Freiheit in einem abstrakten und formalen bzw. weltlichen Sinn als etwas tun oder lassen zu können versteht – und deren schlechthin entscheidende Bedeutung als Freiheit des Glaubens außer Acht lässt: Diese sei eins „mit der innern Notwendigkeit, vermöge deren auch die Apostel sprechen (Act. 4, 20) ,Wir können es ja nicht lassen‘ und in welcher Paulus bekennt (2. Cor. 5, 14) ,die Liebe Christi dringet uns also‘“ (40, vgl. 15, 27, 40–42). Später wird von Oettingen in der wissenschaftlichen Explikation und Rechtfertigung des christlichen Freiheitsverständnisses die Hauptaufgabe (s)einer Sozialethik (1873) sehen. Das Thema der Freiheit spielt überhaupt im gesamten Werk eine sehr prominente Rolle. Hier setzt er den Leitvorstellungen einer wissenschaftlichen Theologie von „Selbstständigkeit“ und „Unbefangenheit“ die vom „Gehorsam gegen die ewige Wahrheit in Christo Jesu“ entgegen – sie „allein macht wahrhaft frei“ (41). Die Freiheiten der Theologie und der Kirche fallen aus rechtfertigungs- bzw. kreuzestheologischer Perspektive zusammen.
25 Im Original z. T. kursiv.
180 12.8
Theologie des Kreuzes als kirchliche Theologie
Konkretheit – Kontextualität – Solidarität
Zu den in diesem Kapitel bisher besprochenen drei Momenten, in denen das Kreuzestheologische für von Oettingen in der kirchlichen Theologie in Erscheinung tritt, kann noch ein viertes hinzugefügt werden. Nämlich die Konkretheit der Theologie, die zugleich ihre Kontextualität impliziert. Wahre Theologie ist auf die wirkliche Lebensgestalt der Kirche bezogen und sensibel für ihre praktischen und wirklichen Bedürfnisse (vgl. 3, 21). Wahre Theologen emanzipieren sich nicht vom Leben der Kirche, sondern sind durch die „Herzenstheilnahme an dem Leben und Ergehen der Kirche“ gekennzeichnet: Sie nehmen „lebendig Theil […] an den Leiden, Bedürfnissen, Kämpfen und Fortschritten der ecclesia militans“ (26). Noch konkreter : „die wissenschaftlichen Theologen, wenn sie anders theologi crucis sind“, „beteiligen [sich lebendig] an allen Erfahrungen und Verhandlungen, die [ihre] Landeskirche in ihrer Kreuzesnachfolge Jesu zu durchleben haben wird“ (41). Eine solche Betonung der konkreten kirchlichen Bezogenheit ist keinesfalls als Aufforderung zur einseitigen und engen Konzentration auf die sog. innenkirchlichen Angelegenheiten und Themen zu verstehen. Schon von Oettingens Werk selbst liefert hier ein Gegenbeispiel, da ihm nicht zuletzt, eine vorher im Rahmen der Theologie nichtanzutreffenden Art und Weise, die Zuwendung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit charakteristisch ist.26 Die Grundstimmung allerdings, die aus der Sicht von Oettingens zwischen der theologischen Fakultät bzw. den Vertretern der wissenschaftlichen Theologie und den amtlichen Vertretern der Landeskirche bzw. der Geistlichkeit herrschen sollte, lässt sich kurz und bündig so zusammenfassen: Sie haben „sich in die Hände zu arbeiten und beiderseits als von Gott berufene Arbeiter in demselben Weinberge des Herrn vor allen Dingen in Keuschheit des Glaubensgehorsams sich zu beugen unter Gottes Wort“ (12, vgl. 41). Die Entscheidung von Oettingens, Theologie mit Nachdruck als kirchliche zu profilieren und zu vertreten, kann so zugleich als Antwort darauf interpretiert werden, wo in seiner Wahrnehmung eine besonders brennende Herausforderung für die Kirche in der Moderne liegt. Auch so – in ihrer Zeit- und Kontextbezogenheit – ist diese Theologie eine Theologie des Kreuzes, oder will es zumindest sein.
26 Vgl. unten Kap. 16–19.
Der Grundgedanke „Durch Kreuz zum Licht“
13.
Durch Kreuz zum Licht – zur Kreuzesgestalt der Offenbarung und des Christenlebens
13.1
Der Grundgedanke „Durch Kreuz zum Licht“ und die Grundstimmung „Als die Traurigen, allezeit fröhlich“ (1862)
181
Da sie chronologisch zum Ende der ersten Phase des Werkes von Oettingens gehört, verdient an dieser Stelle eine umfangreiche Sammlung von Predigten (ca. 525 S.)1 Aufmerksamkeit, die er sonntäglich vom Reformationsfest 1861 bis zum zweiten Sonntag nach Ostern 1862, dem Misericordias Domini, im Kurort Meran (Süd-Tirol) gehalten hat.2 Der Band ist 1862 erschienen und trägt den charakteristischen Titel Durch Kreuz zum Licht – so nämlich „der Grundgedanke“, der die Predigten durchzieht – und hat die Formel „als die Traurigen, allezeit fröhlich“ (2Kor 6,10) zum Motto, was „die Grundstimmung“, aus der sie geboren sind, ausdrücken soll (viii). Aufgrund der Gattung dieser Texte und um den Umfang der vorliegenden Studie in Grenzen zu halten, werde ich sie allerdings nur kurz und selektiv betrachten.3 Auf verschiedene Weise ist das Motiv des Kreuzes in den Predigten durchgehend und nicht etwa nur in der Passionszeit präsent und zentral. Viele Aspekte einer Theologie des Kreuzes, die im Traktat von 1859 artikuliert wurden, werden hier in einem anderen Sprachgestus und von den jeweiligen Predigtperikopen ausgehend ausführlicher entfaltet bzw. weitergeführt. Insofern stellen diese Predigten eine durchaus wichtige weitere Quelle für die Betrachtungs der Entwicklung der oettingenschen Auffassung von einer Theologie des Kreuzes dar und können als ein solches Dokument genauer untersucht werden. Dass von Oettingen den Gegensatz von theologia crucis und theologia gloriae
1 Im Rahmen von 13.1 verweise ich auf die Hauptquelle (1862c) nur mit einer Seitenzahl. 2 Zum Aufenthalt in Meran vgl. oben Kap. 2. Im Vorwort des Predigtbandes nennt er als einen Grund dieser Veröffentlichung, „daß diese Predigten Zeugniß und Denkmal sein sollten […] der Begründung eines beginnenden protestantischen Gemeindelebens auf dem bisher ausschließlich römischen Boden Tyrols.“ (vii) Diese Zeit in Meran und seine Tätigkeit dort hat ihm nachher sehr am Herzen gelegen (z. B. ist seine spätere Programmschrift [1895b] der Meraner Gemeinde gewidmet). Zur Geschichte dieser Gemeinde vgl. Reimer, Lutherisch in Südtirol. 3 Hinweise zu seinem Predigtverständnis finden sich in einer Rezension zum Predigtbuch von Thomasius (1863b), aber z. B. auch in 1859a und am Ende von 1895b. Er betont, dass die Predigten keine Dogmatikvorlesungen sein dürfen. Vgl. dazu in den Predigten selbst eine wichtige Stelle: 449 und desweiteren: 318. Hier wird die (man möchte sagen: fundamentaltheologische) Bedeutung des Gebets angedeutet. Vgl. auch seine Bemerkungen zu den Konsequenzen der Reformation für das Verständnis und die Ausgestaltung des Gottesdienstes in seiner Religionslehre (1886a, 379).
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Durch Kreuz zum Licht
radikal versteht und nicht etwa als eine spannungsreiche, jedoch durchaus legitime Koexistenz zweier theologischer Strömungen in einer gegebenen Zeit (neben möglichen oder wirklichen weiteren), wird indirekt bestätigt durch die Karfreitagspredigt „Die drei Kreuze auf Golgatha“ (Lk 23,32–48) aus dem Jahr 1862. Die Art, in der von Oettingen die Worte des Jesus lästernden Übeltäters – „Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns“ – deutet, erinnert deutlich an die frühere Charakterisierung der Ehrentheologen aus dem Jahr 1859a. Da steht u. a.: Sie wollen schauen und nicht glauben, sie wollen Herrlichkeit und nicht Kreuz, sie wollen sichtliche Fleischesmacht und nicht verborgene Geistesmacht, sie wollen Hülfe ohne ringendes Gebet, sie wollen Gnade ohne Buße, sie wollen leben ohne zu sterben. (446)
Aus dieser Beschreibung (die einen berühmten Text von Dietrich Bonhoeffer in Erinnerung ruft) entnehme ich, dass von Oettingen zum einen mit einer Entgegensetzung von Schauen und Glauben, von Herrlichkeit und Kreuz, von sichtlicher Fleischesmacht und verborgener Geistesmacht operiert, so wie er zum anderen mit einer spezifischen Zusammengehörigkeit von Hilfe und Gebet, von Gnade und Buße, von Leben und Sterben rechnet. Da „Durch Kreuz zum Licht“ als Grundgedanke angegeben ist, gilt es also die lichtvolle Herrlichkeit als nicht ohne, sondern als eine mit bzw. durch das Kreuz zu erlangende zu verstehen. Das falsche eigene Wollen des Menschen missversteht sowohl die Art der Gegenwart und des Handelns Gottes als auch sich selbst und die eigene Situation. Obwohl von Oettingen in seinen Predigten nicht von einem Theologen des Kreuzes und einem Theologen der Herrlichkeit spricht, so wie er es im Anschluss an die Heidelberger Disputation Luthers drei Jahre zuvor gemacht hat, ist von der Sache her deutlich, dass er diese antithetische Entgegensetzung nicht nur als etwas das Leben des Menschen betreffendes versteht (nämlich: wie sie zur Erkenntnis Gottes gestellt ist und wie sie eventuell als Wissenschaft auftreten kann). Es handelt sich auch nicht um zwei Wege der Gotteserkenntnis, die vielleicht um weitere Möglichkeiten ergänzt werden könnten, sodass die Reduktion als eine beliebige angesehen werden könnte. Er versteht sie demgegenüber als das Leben des Menschen ganzheitlich betreffend und qualifizierend. Die zwei Kreuze auf Golgatha an der Seite des Kreuzes Christi symbolisieren vielmehr die exklusiven zwei Grundweisen davon, wie der Mensch in seinem Menschsein ist bzw. sich zu Gott und zu sich selbst als Grundrelaten seines Seins bzw. in seinem Sein bezieht. Die faktische Situation der ganzen Menschheit sei dies: Sie hängt selbst am Kreuz. Die entscheidende Frage sei: In welchem Verhältnis steht sie zu dem Kreuz im Zentrum, zu dem Kreuz Christi? Und hier eröffne sich die Grundalternative: Auf der einen Seite das eigene Wollen, das
Der Grundgedanke „Durch Kreuz zum Licht“
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vom Glauben, vom Kreuz etc. meint absehen zu können – auf der anderen Seite das Wollen, das durch den Glauben, durch das Kreuz etc. bestimmt ist. Wie kann man das genauer beschreiben? Die Predigten von Oettingens beantworten m. E. die Frage so, dass sie von Offenbarung bzw. „Kreuzgeheimnis“, vom Glauben und von der Buße bzw. der Sündenerkenntnis, vom Wort von Kreuz, von der Auferstehung, von der Nachfolge Christi und von der Kirche als Kreuzgemeinde sprechen. Ich erläutere diese Stichworte anhand der Predigten der Reihe nach. 13.1.1 Kreuzgeheimnis als Offenbarung Die allererste Grundvoraussetzung christlicher Rede von Gott, auch in der Predigt, ist die Offenbarung Gottes. Das grundlegende Ereignis in diesem Zusammenhang nennt von Oettingen „Kreuzgeheimnis“ (z. B. 316, 318). Dies drückt aus, dass die entscheidende Offenbarung Gottes in der bzw. durch die „Knechtsgestalt“, „im Gekreuzigten“ (z. B. 446, 332) erfolgt, dass also „die Majestät, die wahre Hoheit der göttlichen Liebe“ in der „Niedrigkeit“ offenbar und erkennbar ist (449). Das ist das Entscheidende: Zum einen, dass Gott, seine Majestät und Hoheit, sich in der Niedrigkeit und in der Knechtsgestalt, im Gekreuzigten, offenbart, zum anderen, dass diese seine Offenbarung der Menschheit zugutekommt – „für uns“ geschieht. Dieses zentrale Ereignis, diese Wirklichkeit, fasst von Oettingen hier zum ersten Mal mit der Formel „Christus für uns“ zusammen, die später in seiner Dogmatik als deren „Realprinzip“ eine besondere Rolle spielen wird.4 Wenn es im Text von 1859a um die Offenbarung Gottes im Gekreuzigten geht, und ein Theologe des Kreuzes dadurch gekennzeichnet ist, dass er im Unterschied zu einem Theologen der Herrlichkeit von den Sachen richtig spricht – es wird also mit der Differenz von Wirklichkeit und Schein operiert, inkl. dem Gedanken, dass entgegen dem Schein Gott sich gerade im Ort des Kreuzes offenbart und man ihn sich also nicht nach den allzu menschlichen Schemata vorstellen soll –, dann ist m. E. hier derselbe Sachverhalt mit dem Verweis auf den Geheimnischarakter des Kreuzes angedeutet. Offenbarung und Geheimnis sind keine Gegensätze: Vielmehr liegt „im gekreuzigten Heiland“ verborgen bzw. geheimnisvoll offenbar „das neue Licht der Wahrheit“ (317), ja das „ewige Leben“ (449). Auf jeden Fall wird die göttliche Herrlichkeit auf dem Kreuzesweg offenbar (vgl. 327).5 4 Vgl. unten Kap. 20. 5 In einem anderen Zusammenhang sagt von Oettingen: Das Kreuz Christi „ist und bleibt ein Schandpfahl zur Schmach der Menschheit, die ihn verhöhnt und geißelt und tödtet bis auf den heutigen Tag“ (310). Doch „ist und bleibt Christi Kreuz das Ehren- und Siegeszeichen, durch welches die Welt überwunden und Gott versöhnt ist“ (ibid.). Sein Kreuzesweg, der auf Gol-
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Durch Kreuz zum Licht
13.1.2 Kreuz und Glaube Der überaus reiche Begriff „Glaube“ enthält in den Predigten von Oettingens mehrere miteinander verwobene Bedeutungsdimensionen. Es ist der Glaube bzw. der Mensch als Glaubender, der das Geheimnis des Kreuzes versteht (vgl. 316, 318). Das „Glaubensauge“ sieht in der Niedrigkeit die Majestät Gottes, nimmt im Leiden und Tod Christi die Offenbarung der göttlichen Liebe wahr (449). Der Glaube dringt hindurch „durch die Knechtsgestalt“ hindurch und ahnt „im Gekreuzigten den Herrn der Herrlichkeit“ (446). Der Glaubende ist so „ein Narr […] in Christo“ – wiederum ein Motiv, das schon in den Ausführungen von 1859 aufgenommen worden war –: Für ihn liegen „die wahren Schätze der Weisheit und Erkenntnis […] in Christo verborgen“ (14), er findet „das neue Licht der Wahrheit […] im gekreuzigten Heiland“ (317). Diese unter dem Gegensatz gefundene Herrlichkeit ist der sündigen Menschheit von sich aus unzugänglich. Sie schaut darin nur die Niedrigkeit, nur einen Zustand der Niederlage, einen Gegensatz von jenem herrlichen Zustand, nachdem sie sich sehnt, ein Ort der Gottesferne.6 Was hat das Kreuz mit Gott und seiner Majestät zu tun? Ich möchte betonen, dass es hier nicht um eine Glorifizierung des Kreuzes bzw. des Todes und des Leidens geht, wohl aber darum, das gerade im Leiden und Tod Christi die Herrlichkeit Gottes offenbar sei.7 Dieses „geistliche Verständnis“ des Kreuzes könnte man als den epistemischen Aspekt des Glaubens bezeichnen: Der Glaube, genauer der christliche Glaube, ist inhaltlich Kreuzesglaube.8 Von Oettingen beschreibt den Glauben aber auch als „dringende, ringende, ghata gipfelt (Tod des Verbrechers), wird „Durchgang sein zum Siege, zur Herrlichkeit“ (ibid.). „[S]ein Weg geht durch Tod zum Leben, durch Unterliegen zum Siege! Darin liegt die tiefe, verborgene Herrlichkeit des Kreuzgeheimnisses. Da nun einmal die Sünde da ist, so gibt’s keinen wahren Sieg ohne Schmach, kein wahres Leben ohne Sterben. So mußte und wollte auch der Herr, der unsre Sünde trug, unterliegen, um zu überwinden. Sein Tod ist wirklich seine Verklärungsstunde worden und sein Kreuzesweg der wahre, einige Heils- und Lebensweg.“ (311). 6 Auf Seiten des Menschen liegt eine Nichtbereitschaft das eigene Kreuz zu akzeptieren: „unser alter Mensch“ finde „die Wahrheit, die unter dem Kreuz verborgen liegt, nicht […], weil er sich selbst zu lieb hat und das Gekreuzigtwerden scheut“ (314). Gotteserkenntnis impliziert Selbsterkenntnis. 7 Die sündige Menschheit ortet sich selbst falsch: Sie wolle sich von sich selbst bzw. von ihrer Vernunft her verstehen, obwohl diese schon ihre Tätigkeit unter den Bedingungen einer vorangegangenen Bestimmtheit vollzieht (und insofern nicht „neutral“ oder „rein“ ist). Das oben hervorgehobene Zitat deutet an, dass die (sündige) Menschheit sich in einer Bewegung oder Dynamik befindet: Eine irgendwie geartete Unzufriedenheit mit der faktischen Lage, sowie Streben und Sehnsucht nach Veränderung und Verbesserung ihrer Lage sei vorhanden. Jedoch werde verkannt, dass man ein Problem nicht nur hat, sondern man selbst Teil dieses Problems ist und somit die Veränderung der Lage zugleich eine innere Transformation des Menschen von Grund auf impliziert. 8 Vgl. oben Kap. 1.
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bittende, kindliche Zuversicht“ durch die man „eins mit Christo“ wird (15). So ist der Glaube der Empfangsmodus der Gnade – „die Hand, die des Herren Gnade erfasst“ (ibid.). Der Glaube wird also zugleich als Zuwendung zu Gott und als Offenheit für Gott beschrieben. Dass der Glaube wesentlich eine soteriologische Pointe hat, i. e. in irgendeiner Weise mit der Rettung zu tun hat (so, dass das ganze Sein des Menschen, nicht nur etwas in seinem Leben, dadurch betroffen ist), wird dadurch ersichtlich, dass der Glaube in einem ganz elementaren Sinn nicht mit der Erkenntnis irgendwelcher Lehren gleichgestellt bzw. darauf reduziert wird, sondern vielmehr als ein Schrei nach Hilfe, als Bitte um Gnade charakterisiert wird (449). Der Mensch, der nach Hilfe ruft, erfährt eine Antwort: Dem Menschen, der um Vergebung bittet, wird Gnade zugesagt. Ich nenne das die existentielle oder auch doxologisch-relationelle Dimension des Glaubens, womit Glaube eine das ganze Person-Sein umfassende oder involvierende Bewegung des Fliehens zu Gott hin (ein Sich-Verlassen) und des Neu-Werdens von Gott her (ein Sich-Neu-Empfangen oder Sich-Schenken-Lassen) ist. So ist Glaube keine einstellige Relation (i. e. eine Eigenschaft) des Menschen, sondern eine zweistellige Relation: zwischen Mensch und Gott bzw. Gott und Mensch. Was ist es, was geschenkt wird? Was ist es, was Christus uns „erworben“ hat? Was ist Gnade? Die Antwort darauf liefert der dritte Aspekt im Glaubensbegriff, der seine ontologische Tiefenbedeutung hervorhebt. Es ist das Eins-Sein mit Christus, das einen – hier greift von Oettingen, ohne den Namen Luthers direkt zu nennen, eine seiner heute wohlbekannten Wendungen auf – das Wort vom „herrlichen Tausch“ impliziert (15): Seine Gerechtigkeit wird unsere und unsere Sünde wird seine. Dass Gerechtigkeit und Sünde jeweils ganzheitliche ontologische Bestimmungen sind, wird dadurch sichtbar, dass hier auch vom alten und neuen Menschen gesprochen werden kann: „aus dem Tode des alten [ist] ein neuer Mensch zum Leben geboren“. Oder gleichbedeutend damit: Die Selbstgerechtigkeit wird gerichtet – dieses richtende Urteil Gottes ist der Tod des alten Menschen – und die Glaubensgerechtigkeit wird aufgerichtet – dieses aufrichtende Urteil Gottes ist die Geburt des neuen Menschen (vgl. 15f). Der Glaube ist somit nicht weniger als eine Neukonstitution des Menschen, der seine Identität (im Glauben) von Christus her empfängt. Sofern der Glaube das Eins-Sein mit Christus ist, bedeutet es keinen Widerspruch, wenn einmal der Glaubende als ein „Narr in Christo“ angegeben wird und ein anderes Mal der Glaube als eine radikale Re-Positionierung des Menschen und als „Christus in uns“ (16) – das wird in der späteren dogmatischen Arbeit von Oettingens eine zentrale terminologische Formulierung sein – beschrieben wird. Das Sein des Menschen in Christus und das Sein von Christus im Menschen beschreiben denselben Sachverhalt, nämlich Glauben als die gegenseitige Mitteilung und Gemeinschaft von Mensch und Gott.
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Durch Kreuz zum Licht
So gehört zum Kreuzgeheiminis als Offenbarung Gottes der Glaube des Menschen mit seinen epistemischen, existentiellen und ontologischen Sinnelementen. Kurz: Kreuz und Glaube – diese zwei gehören in der Sprach- und Denkwelt der Predigten des jungen von Oettingen zusammen. 13.1.3 Kreuz und Buße Ich habe skizziert, wie den Predigten von Oettingens zufolge im Ereignis vom Leiden und Tod Christi der Grund und der Schlüssel für das wahre Gottesverständnis liegt: Gerade hier werden die Gottheit und das Für-Uns-Sein des Glaubens offenbar. Mit den Bemerkungen zum existentiellen Charakter des Glaubens wird jedoch auch eine etwas nähere Betrachtung der Genese des Glaubens vorbereitet, bei der die Relaten Gott und Mensch zu berücksichtigen sind.9 Hierher gehört das, was man in traditioneller Sprechweise die Buße nennt. Eine besondere Aufmerksamkeit von Oettingens gilt eben diesem Phänomen. Wie kommt es dazu, dass ein Mensch ein Narr in Christo, „ein Kind der Gnade“ (14) oder ein „Gefreiter des Herrn“ (16) wird? Wie wird „Christus für uns“ (Offenbarung) zum „Christus ins uns“ (Glaube) und in mir? Ohne einen „Bruch mit sich selbst“ (Diskontinuität), „ohne Brechen des Eigenwillens“ auf der Seite des Menschen sei das unmöglich, da die „Sündenliebe im eigenen Herzen“, die „Macht der bösen Lust“ ihn gefangen hält (14). Es handelt sich hier also um den Sachverhalt, dass der Mensch ein Sünder ist und dass zu dieser seiner negativen Bestimmtheit ihre Ganzheitlichkeit gehört; d. h. der Mensch nimmt u. a. die Abgründigkeit und Totalität dieser seiner anthropologischen Fehlqualifikation selbst nicht wahr, bzw. er will sie nicht wahrhaben. Von Oettingen signalisiert den vollzogenen Bruch, die (neue) Identität in Diskontinuität samt des darin eingeschlossenen Erkenntnisgewinnes sprachlich mit einer Unterscheidung zwischen „Sünder“ und „armen Sünder“ (448, 427). Den Zusammenhang der Sündenerkenntnis mit dem Kreuz stellt er als einen Doppelten dar : [N]ur im Angesicht des Kreuzes Jesu und im Bewusstsein des eigenen Kreuzes wird unsre Sünde und soll sie uns blutroth werden. […] Das Kreuz Jesu und die Erfahrung des eigenen, ja gerade die Leidensgemeinschaft mit dem Herrn, der aus freier Liebe unser Elend getheilt, die muss […] zur wahren armen Sünderschaft führen (448).
9 In gewissem Sinn bleibt der Glaube bzw. der Mensch als Glaubender im Werden, d. h. die spannungsreiche, dialektische Dynamik, von der der Mensch beim Zustandekommen des Glaubens ergriffen ist, wird sich, wenn er glaubt, fortsetzen und nicht in einem statischen blossen Für-Wahr-Halten erstarren. Wichtig ist, dass von Oettingen diese Bewegung als eine teleologische oder zielgeleitete konzipiert (vgl. unten Kap 13.2).
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Hier kann man gut sehen, wie von Oettingen zufolge gerade die wahre Sündenerkenntnis nicht ohne Bezug zum Kreuz Christi stattfindet. Sündenerkenntnis und Gnadenerkenntnis sind deshalb nicht im Modell eines einfachen zeitlichen Nacheinanders zu erfassen. Das Zitat spricht nicht nur vom Kreuz Jesu, sondern das Kreuz wird auch als Code für unser Elend und Leiden verwendet. Diese Redeweise ist intrinsisch – und in einer wohl klärungsbedürftigen Weise – verbunden mit der Einsicht, dass „das schwerste Kreuz“ die Sünde ist (428). So wird das Kreuz auch als conditio humana interpretiert. Wenn die Erfahrung des eigenen Kreuzes in die Perspektive des Kreuzes Christi (in die Perspektive seiner Teilnahme an unserem Elend, seines Tragens der Sünde aus freier Liebe) gerückt wird, erfolgt eine Transformation des Menschen und seiner Sünde. Im Licht des Gekreuzigten wird die Tiefe und die Schwere der Sünde erkennbar – die Sünde ist es, was wir tragen und worunter wir letztendlich leiden –, jedoch als solche, die er für uns auf sich genommen und gelitten hat. Durch die Leidensgemeinschaft mit Christus werden die Sünder „arme Sünder und Kreuzträger im wahren Sinn“ (ibid.). Wie ist in dieser Aussage das „und“ zu verstehen? Ist es erläuternd oder additiv gemeint? Mein Vorschlag ist, dass eben der arme Sünder ein wahrer Kreuzträger ist. Die beiden Formulierungen drücken das Christsein aus, d. h. sie gelten als Aussagen über „ein Kind der Gnade“. Das Kreuz Jesu (als Offenbarung Gottes) erschließt uns unser eigenes Kreuz, unsere eigene Wirklichkeit. Gotteserkenntnis im Kreuz Christi impliziert die Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder (i. e. auch die Erkenntnis, dass man selbst am Leiden in der Welt mitschuldig ist) und somit die Erkenntnis des eigenen Verhältnisses zum Kreuz Christi: Man erkennt einerseits, dass man selbst zu seinem Leiden und Tod beigetragen hat und gegen ihn gewesen ist (vgl. 356), sowie andererseits, dass er im Gegensatz dazu – aus freier Liebe – für uns leidet. Für den Glauben ist der Gekreuzigte der Herr der Herrlichkeit (vgl. 446). Sein Weg ist der Weg „durch Kreuz zum Licht“. Der Herr wird (in der Welt der Sünde) offenbar in „Knechtsgestalt“. Wie gesagt, es gilt in gewissem Sinn Analoges vom Menschen. Ohne das Kreuz Christi wird die Wirklichkeit verkannt. Es wird verkannt, dass Hilfe und ringendes Gebet, Gnade und Buße, Leben und Sterben keine kontradiktorischen Gegensätze sind, sondern spannungsreich zusammengehören. Es gibt kein Christsein ohne Gebet, ohne Buße, ohne Sterben. Das Kein-Kreuz-Wollen bezieht sich sowohl auf das Kreuz Christi als auch auf das Kreuz des Menschen. Wichtig ist, dass von Oettingen die Buße als „die Sinnesänderung aus Gnaden“ bestimmt, d. h. dass der Bruch mit sich selbst, die Selbstdistanzierung und das Nein zu sich selbst als dem Sünder keine selbstmächtige Eigenleistung des Menschen ist. Dieser Bruch ist vielmehr eine Unterbrechung, bedingt bzw.
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verursacht durch das Wirken des heiligen Geistes (vgl. 14). Wenn jedoch die Sinnesänderung so aus Gnaden ist, kann keine Rede davon sein, dass die Buße des Menschen als eine Voraussetzung oder Vorbedingung der Gnade verstanden und beschrieben werden kann (das Gleiche gilt für das Verhältnis von Hilfe und Bitte, sowie von Leben und Sterben). Trotzdem gilt: Buße und Glaube, die zwei gehören zusammen. Der „aus dem Kreuz“ bzw. „aus der Buße“ geborene Glaube macht uns „von uns selber los“ und lehrt uns „auf Jesum schauen“ (316f). Der heilige Geist „packt“ durch „das Evangelium unsere Herzen“ und „lehrt dem Ich Gewalt anthun, um dem Eignen abzusterben“ (15). Es ist die Abkehr von der Sünde. Doch damit sind wir noch nicht am Ziel. Es gilt auch mit Gott zu ringen in der Gewalt geistlichen Kampfes, sonst kommst du nicht zum Frieden des seligmachenden Glaubens […]. Denn daß das Eigene hin ist, das gibt noch keinen Frieden. Daß die eigene Kraft gebrochen erscheint, gibt nicht Stärke. – Und doch, Geliebte! Wenn wir durch die Predigt des Evangeliums so weit gekommen sind, nur uns selbst zunächst Gewalt anzuthun, o dann thun wir sie auch dem Himmelreich und Gotte selbst an. Wir nehmen die Festung mit Sturm. Wir machen’s dann wie Jakob. Wir ringen mit Gott und gehen zwar verwundet, aber doch siegreich aus dem Kampfe hervor mit einem: ,Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.‘ Dieser Schrei, Geliebte, der sich herausringt aus dem Inwendigsten eines gebrochenen Herzens, das ist das Wesen des Glaubens, das ist die Hand, die des Herren Gnade erfaßt, die ihn nicht läßt, bis er hilft. (15)10
Die Sprache dieser Schilderung ist bedingt durch die Bibelstelle, die als Grundlage der Predigt gedient hat. Es verdient hervorgehoben zu werden, dass für von Oettingen hier die Predigt bzw. das Wort des Evangeliums auch die Buße wirkt.11 Die Buße ist nicht das, worauf das Evangelium eigentlich zielt, doch gibt es die Seligkeit des Glaubens ohne jenen Bruch nicht. Das Kreuz als Offenbarung erschließt den Gegensatz als Gegensatz, als die Sünde, zielt jedoch auf Gnade. Die
10 Zitiert aus der Predigt „Thut Buße und glaubet an das Evangelium“ (Lk 16,15–16) am Reformationsfest (1–16); vgl. 316. 11 Vgl. zu dieser Sprachweise beim frühen Luther : U. Barth, Dialektik. Barth zeigt, dass damit kein Gegensatz zu der späteren Zuordnung von Buße und Gesetz vorliegt. Von Oettingen ist bereit zu sagen, die „evangelische Predigt“ kann man „nicht in gleichgültiger Sicherheit und fleischlicher Kampflosigkeit sich aneignen. Nein, meine Lieben, das ist ein großer, schwerer Kampf, ein heißes Ringen, eine Wiedergeburt aus den Wehen der Anfechtung. […] Zunächst ist es klar : sich schenken lassen, sich ganz unter die Gnade stellen und auf Gnad’ und Ungnade ergeben, bloß armer, jämmerlicher Bettler sein und im Staube liegen vor Gott, – wenn das aufrichtig und wahr sein soll, o! das ist nicht leicht. […] Das geht nicht, wenn man nicht Gewalt thut vor Allem sich selbst, seinem alten eigensinnicgen und eigenwilligen, eingebildeten und selbstgerechten alten Menschen. Es ist unsäglich viel leichter, mit großen Opfern und prangenden guten Werken sich in fromme Kleider zu hüplen, als sich also nackend ausziehen lassen und das Eigene verloren geben. Nichts demüthigt so tief, als die Gnade.“ (14).
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Herrlichkeit der Liebe Gottes wird im Leiden und Tod offenbar. Das Handeln Gottes und die Offenbarung vollziehen sich unter dem Gegensatz. 13.1.4 Kreuz und Wort – Wort vom Kreuz In seinen Predigten spricht von Oettingen davon, wie der heilige Geist durch die Verkündigung des Evangeliums wirkt. Deshalb ist auch die „reformatorische Predigt“ so wichtig (12). Was wird gepredigt? Das Kreuz Christi, „Christus für uns“ als der „lebendige und lebengebende Inhalt des Evangeliums“, „Gottes Gnade“ (ibid.). Im Vorwort hofft und bittet von Oettingen, dass in diesen Predigten – „in dieser ärmlichen und gebrechlichen Hülle“ – durch des Herrn Gnade „die seligmachende Kraft des Wortes vom Kreuz“ sich bewährt, d. h. die Menschen Trost finden und im Glauben gestärkt werden (viii). Also ist auch der Modus der Verkündigung eingebettet in das Gebet, in die Bitte um Gnade. Wenn die Predigt sich als eine seligmachende Kraft erweist, ist das allein Gott zu verdanken. Und durch diesen Kommunikationsvorgang des Evangeliums wird ein „Gefreiter des Herrn“, also derjenige der im Glauben mit Christus eins geworden ist, retrospektiv bzw. antwortend auf diese seine Umorientierung und Sinnesänderung, auf die radikale und umfassende Neukonstituierung seines Lebens, als ein Geschenk des Herren bekennen: Als eine Transformation und Wiedergeburt von Gott her. „Der Christus für uns ist ein lebendiger Christus in uns geworden.“ (16) So kann von Oettingen davon auch so reden, dass der Gegenstand der Predigt – ihr „persönlicher Inhalt“ (468) – als wirksamer Grund seiner Annahme beschrieben wird: „Einzig und allein das Wort des Herrn, welches ja selber ist ein Wort vom Kreuz, öffnet uns das geistliche Verständnis für das Kreuzgeheimnis.“ (316) So kann diesem Wort eine „wunderbare, neugebärende, erleuchtende Macht“ zugesprochen werden (ibid.). Das Kreuz Christi ist gegenwärtig und wirksam im Modus des Wortes – es ist „seine Zusage der Gnade“, „sein Wort des Evangeliums“ (15). Sofern dieses Wort das Leiden und den Tod Christi zum Inhalt hat, impliziert sein wahres Empfangen den Tod des alten Menschen, was dem einzelnen Menschen in vielfältiger und je individueller Weise widerfahren kann. Die Kontinuität zwischen altem und neuem Menschen liegt nicht im Menschen, sondern wird durch das Wort vom Kreuz aufrechterhalten. Es ist – um letztmalig auf das Zitat zu Beginn dieses Kapitels zu verweisen – „nicht sichtliche Fleischesmacht“, sondern „verborgene Geisteskraft“ im Wort, auf die der Glaubende sein Verständnis des Kreuzesgeheimnisses – des Wortes vom Kreuz als einem Wort vom Evangelium und vom Leben – zurückführt. Der Glaube erkennt in Leiden und Tod Christi den entscheidenden Liebesakt und die Gnadentat Gottes selbst. Wir sind in unserem Leiden und Tod nicht allein, sondern in Gemeinschaft mit Jesus (vgl. 321). Dieser Glaube ist vermittelt durch
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Durch Kreuz zum Licht
das Wort – durch das Wort vom Kreuz.12 Wieso macht dieser Glaube selig? Weil „das Wort vom Kreuz ein Wort des Lebens ist“ (469). In seinen Osterpredigten entfaltet von Oettingen, wie es „zum persönlichen Inhalt den Gekreuzigten und ewig Lebendigen“ hat (ibid.).13
13.1.5 Kreuz und Auferstehung Die Verkündigung und Ausbreitung des Wortes vom Kreuz und damit nicht zuletzt auch das Predigtwerk von Oettingens, setzen also die Auferstehung Christi voraus und sind deren Bezeugung (vgl. 466–469, 468). Es wird der Gekreuzigte verkündigt, der auferstanden und lebendig ist. Dass „die zerstreuten Jünger, die ungebildeten Juden […] alle Weisheit der Weisen zu Schaden machen konnten“, verdanken sie dem „geistlichen Lebenspunkt der ganzen Menschheitsgeschichte, […] der Auferstehung“ (468f).14 So ist die Verkündigung des Evangeliums vom Anfang an die „gewisse Bezeugung der Thatsache der Auferstehung Christi“ (468). Seine Auferstehung ist die „Offenbarung der Liebe, die den Tod überwand“ und bringt „Gewißheit und Fülle des Lebens“ (467).15 Die zwei Osterpredigten von Oettingens verdeutlichen in dieser Weise gut, wie das Kreuz als Höhepunkt des Leidens Christi und seine Auferstehung als Überwindung des Todes im Wort vom Kreuz – das als Evangelium verkündigt wird – mitenthalten und zusammengefasst sind. Also gilt: Wer mit Christus gestorben ist, der lebt auch mit ihm und in ihm. Die Leidensgemeinschaft mit ihm zielt auf die Lebensgemeinschaft mit ihm. 12 Das „Wort vom Kreuz“ ist „den Weltweisen zum Anstoß. Sie können sich in die göttliche Thorheit nicht hineindenken. […] Aber den armen, suchenden, kreuztragenden Seelen, die sich aus ihrer Blindheit hinaussehnen, macht es ihre Finsternis licht.“ Sie lernen „schauen […] auf das hellleuchtende Kreuz, das uns zum Heil auf Golgatha aufgerichtet war. Dieses aufgeschlagene Auge, welches sich heftet auf ’s Kreuz des Herrn, um aus demselben Heilung zu suchen und zu finden, das ist, Geliebte, der kindliche Glaube, der selber aus dem Kreuz geboren ist, und deshalb Verständnis hat für das Kreuzgeheimniß“ (316). „Durch den Glauben haben wir nicht den Verstand verloren, sondern allererst gewonnen. Denn der aus der Buße geborene Glaube hat uns erst von uns selber los gemacht und uns gelehrt auf Jesum schauen.“ (317). 13 Die Konfrontation mit dem Wort vom Kreuz ändert das Verständnis vom Kreuz Christi und das Verständnis vom eigenen Kreuz. 14 Die Auferstehung Christi ist „für uns geschehen“ und hat „für die ganze Menschheit den Anfang eines neuen Lebens in Gott gebracht“ (473). 15 Vgl. die Aussagen zum Leben auf 466f: „Erst in der Osterthatsache könne und sollen wir überhaupt ahnend verstehen lernen, was leben heißt. […] [D]as wahre Leben ist nichts anderes, als in Gottes Kraft über den Tod herrschen, d. h. geistig Eins sein mit Gott. […] Gott ist die Liebe. Und die Liebe Gottes ward offenbar in Christo und starb in Christo blutend für uns, und hat den Tod, – d. h. die Feindschaft wider Gott, die kalte Selbstsucht und Lieblosigkeit, den Fürsten dieser Welt überwunden und ist hindurchgegangen zum Leben.“
Der Grundgedanke „Durch Kreuz zum Licht“
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Offen bleibt hier die Frage, wie sich die Einsicht, dass das Kreuz der Ort der Gotteserkenntnis ist, und die Charakterisierung der Auferstehung als Offenbarung der Liebe (die den Tod überwindet) zueinander verhalten. Diese im Anschluss an verschiedene biblische Texte und im Kontext verschiedener Zeiten des Kirchenjahres gemachten Aussagen stehen etwas unvermittelt nebeneinander. Festzuhalten ist jedoch diese Beobachtung: die Gegenstandsbestimmung der Predigten von Oettingens als das Wort vom Kreuz (viii), das ja letztendlich als das Wort des Herrn selbst gedacht wird, impliziert seine Auferstehung.
13.1.6 Nachfolge Christi – Leiden als Kampf Nachfolge Christi bezieht sich für von Oettingen gerade auch auf die Nachfolge auf dem Kreuzesweg. Sowohl zur Offenbarung als auch zum christlichen Leben gehört deren Kreuzesgestalt. Es gibt keinen Christen ohne Kreuz (vgl. 307). Eben darin – durch Kreuz zum Licht – besteht seine Nachfolge. Nicht in einer oberflächigen Nachahmung seines Vorbildes. Wenn man durch das Wort des Herrn das Licht in ihm als dem Gekreuzigten gefunden hat und also seinen Kreuzesweg geistlich versteht, dann können und dürfen wir auch nicht mehr, wie bisher, unsere eignen Wege gehen und das Kreuz scheuen; sondern es gilt dann […] das Wort Jesu wahr zu machen: Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich. – Eine andre Nachfolge Jesu gibt es nicht […] als die ,durch Kreuz zum Licht!‘ (317f)
Ich verstehe von Oettingen so, dass hier das Scheuen des Kreuzes das den sündigen Menschen charakterisierende Herrlichkeitsstreben andeutet. Das Verstehen des Geheimnisses des Kreuzes Christi ändert auch unsere „natürliche“ Reaktion auf das eigene Kreuz: nicht fliehen, sondern es tragen. Durch das Kreuz Christi gewinnen wir eine neue Einstellung zu unserer Situation und zu unserem Leben. Es führt uns nicht von der Wirklichkeit weg, sondern gerade umgekehrt, erst richtig in sie hinein. Es lehrt uns das Leiden anders sehen und im Erleiden der Anfechtung zu bestehen. Es lehrt uns unser eigenes Leiden im Licht des Leidens Christi sehen. Man leidet „nicht mehr auf eigne Hand, sondern nunmehr mit Jesu“, um auch „mit ihm zur Herrlichkeit erhoben“ zu werden (318, vgl. 320, 469f). Von Oettingen setzt fort: Ja folge ihm nach, und lerne es, wenn du nur erst sehend geworden, […] ,Gott loben und preisen‘, daß er dich gelehrt hat, unter dem Kreuz fröhlich zu sein und das Kreuz lieb zu haben. Denke doch daran, daß wenn du Jesum gefunden, den Todesüberwinder, dann jeder Kreuzesweg um Jesu willen dir nur ein Heils- und Friedensweg wird! […] Sein Kreuzesweg wird unser Heilsweg […] Und das Kreuzgeheimniß wird uns so licht, so tief und klar! Er selbst hat durch sein Wort uns das Auge geöffnet, daß wir ihm nunmehr preisend auf dem Leidenswege nachfolgen (318).
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Durch Kreuz zum Licht
So wie Gott sich in der Kreuzesgestalt (unter dem Gegensatz) offenbart, so hat also auch das Leben der Christen nach Ansicht von Oettingens eine Kreuzesgestalt. Man könnte fragen, ob er damit nicht einem problematischen kritiklosen und passiven Erdulden aller möglichen Missstände den Weg ebnet. In diese Richtung zielt ein heute geläufiger Vorwurf an die Theologie des Kreuzes. Warum die Antwort darauf für von Oettingen negativ ausfällt, zeigen die Bemerkungen zu seinem Verständnis des Leidens. Von Oettingen hebt hervor, dass das wahre Leiden „Kampf, […] tiefes Ringes, […] schwere Arbeit“ ist. Er distanziert sich von der Vorstellung, dass das Leiden „eine Art Unthätigkeit [sei], da man eben hinnimmt die Last und das Elend dieser Zeit; ein[] Zustand, der uns grade hindert an ordentlicher, kräftiger Arbeit“ (321). Vom Menschen als sittlichem und geistigem Wesen gelte vielmehr : Im Leidenskampf soll sich kundgeben der Höhepunkt der Thatkraft, der siegreichen Ueberwindung des Bösen in uns und außer uns [sic! – T.-A.P.]. Unser ganzes Leben ist bis in den Tod hinein Leidensaufgabe, d. h. ein Ringen, ein Kampf. […] [W]enn wir zu leiden hätten auf eigene Hand, das wäre ein elend, jämmerlich Ding. […] Aber blick auf Jesum, der den Sieg für uns errungen und uns die Kraft gibt, [die Macht des Todes? – T.A.P] zu überwinden durch sein Blut. Sein ganzes Leiden war Ein Kampf, […], Eine Liebesarbeit für uns (321, vgl. 336).16
Von Oettingen macht also deutlich, dass das Leben als Ganzes den Charakter des Leidens als Kampf hat. Das Kreuz auf sich nehmen deutet er nicht als Aufforderung oder Mahnung zur Untätigkeit, sondern vielmehr als die (realistische) Wahrnehmung der Situation des Menschen (als in ihrer Konkretheit durch die Sünde bestimmt) und als die Aufnahme der darin enthaltenen Aufgabe (der Überwindung des Bösen). Es handelt sich nicht um eine einseitige Konzentration auf die Innerlichkeit, sondern vielmehr um einen Versuch die Negativität des Lebens in ihrer Mehrdimensionalität und Komplexität ernstzunehmen: Wenn von Oettingen in den Predigten das Leiden Jesu als einen Kampf, als eine Arbeit der Liebe beschreibt, dann ist es also ein Kampf „[a] nicht bloß mit Fleisch und Blut, die sich immer gegen das Leiden sträuben, [b] nicht bloß mit den Feinden in dieser Welt, die das ,Kreuzige‘ schreien bis auf den heutigen Tag, [c] sondern mit dem Fürsten dieser Welt, mit der dämonischen Macht Satans, die am Kreuze gebrochen ward“ (322).17 Das Verhältnis des Menschen zum Kreuz (zu der durch die Sünde bestimmten Wirklichkeit) erfährt durch Christus eine radikale Transformation. Dabei wird nichts von seinem Ernst und seiner Schwere weggenommen, sondern vielmehr erfährt die Wahrnehmung der Härte des Kreuzes eine Vertiefung. Doch der 16 „In Jesu Leiden wurzelt die Kraft alles Sieges über die Macht Satans.“ (322). 17 Vgl. bes. die Predigten „Jesu Sieg über Satan“ (Mt 4,1–1) (319–336) und „Leidenskampf im Angesichts des Todes“ (Mt 26,36–41, vgl. Lk 22,29–46) (337–352).
Der Grundgedanke „Durch Kreuz zum Licht“
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Christ stellt sich kämpfend dieser Wirklichkeit und sein Erleiden des Kreuzes erfolgt in der Gewissheit der Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten, der auferstanden ist.18 Jesu Weg geht durch den Tod zum Leben (vgl. bes. 311; oben zu „Kreuzgeheimnis“). Von Oettingen kann fragen: „Wollt ihr mitsterben, mitgekreuzigt werden, um mitzuleben, mit verherrlicht zu werden?“ (ibid.), „Sind wir mit Christo gestorben, so daß wir jetzt wirklich mit ihm und in ihm leben?“ (322)19 Wenn „Durch Kreuz zum Licht“ als der Grundgedanke der Predigten identifiziert wird, dann ist damit einerseits der Grund und Ursprung des christlichen Glaubens als Thema der Predigten ausgedrückt, andererseits aber auch, dass der Vollzug des Lebens im Glauben durch diesen Gegensatz bzw. durch diese Grunddialektik bestimmt ist. Der Grundgedanke gilt zunächst von Christus, aber dann auch von den Menschen der Gemeinschaft in Christus. Deshalb lautet „das Losungswort der echten Christen“: „Als die Sterbenden, und siehe wir leben.“ Der Grundgedanke der Predigten ruft bei denen, die davon betroffen sind, eine Grundstimmung hervor, die mit Worten wie „Als die Traurigen, allezeit fröhlich“ beschrieben werden kann. Die Grunddialektik liegt also in einer näher zu bestimmenden Weise sowohl auf der Seite Gottes, als auch auf der Seite des Menschen. Auf jeden Fall hat diese Grunddialektik etwas mit der Sünde zu tun. Das Zustandekommen des christlichen Glaubens impliziert die Genese der Einsicht, dass das Kreuzgeschehen ein Geschehen zugunsten unseres Lebens – ein Geschehen „für uns“, eine Bewegung, die auf die Auferstehung zielt – ist, sodass der Ort der Schmach als der Ort der Ehre (Gottes), das Zeichen des Todes als das Zeichen seiner Überwindung (als Zeichen der Versöhnung) verstanden werden. Die Predigten nehmen letztendlich in der Situation des Kreuzes – des Kreuzes Christi, aber auch unseres Kreuzes, d. h. in der Situation des Kreuzes, in der Christus und wir aufeinander bezogen sind – ihren Ausgang. Gerade so – durch die Bezogenheit auf das Kreuz Christi – wird unsere Gegenwart in ihrem Kreuzbzw. Kampfcharakter und als Übergang zur Herrlichkeit, als Einbruch der eschatologischen Wirklichkeit (deren Vollendung erhofft wird) im Glauben wahrgenommen und zur Sprache gebracht.
13.1.7 Kirche als Kreuzgemeinde – Kreuz und Gemeinschaft Obwohl die Gemeinschaftsdimension des Glaubens in den Predigten mehr implizit bleibt, ist sie auf jeden Fall präsent. In den Mittelpunkt rückt sie in der 18 „Mit Jesu und durch ihn aus dem Tod in’s Leben, – sterben uns selbst und leben in ihm.“ (470) Die Auferstehung Christi gilt als Grund unserer Lebensgewissheit (vgl. 55). 19 Im Indikativ : 318.
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Predigt am Gründonnerstag „Von dem heiligen Sacrament des Altars“ (417– 432). Dessen Bedeutung als Gemeinschaftsmahl wird hervorgehoben. Es wird als Höhepunkt (nicht als Zentrum) des Gemeindegottesdienstes aufgefasst (vgl. 430f):20 „die gliedliche Gemeinschaft der Christen unter einander und mit ihrem Haupt“ soll darin zur Darstellung kommen und geistlich wachsen (321). Hier trifft man auf die Vorstellung von einem leiblichen Zusammenhang der ganzen Menschheit: Die „natürliche Menschheit“ ist „Ein Leib, gliedlich zusammenhängend“ (439, vgl. 425). Es gilt: „Keiner ist auf eigene Hand ein Mensch, geschweige denn ein Sünder“ (430). Und: „Ich bin nicht allein in der Welt; ich bin auch als Christ nicht ein Einzelner für mich.“ (429) Fundamentalanthropologisch wird also das Menschsein als Zusammensein verstanden. Der Mensch ist ein relationales Wesen. Sowohl mit Blick auf die Qualifikation durch die Sünde, als auch der durch die Gnade gilt: Es sind Gattungsbestimmtheiten. Wenn das „kirchliche Gemeindebewußtsein“ schwach entwickelt ist, liegt es von Oettingen zufolge an der Schwäche des „natürliche[n] Gemeinschaftsbewußtsein[s] der Sünde“. Er behauptet also, die Sünde sei etwas, was der Gemeinschaft, nicht nur dem Einzelnen, zugesprochen werden kann und führt den Mangel an kirchlichem Sinn nicht zuletzt auf einen Mangel des Verständnisses für den gemeinschaftlichen Charakter der Sünde zurück. Wegen dieser leiblich-gliedlichen Zusammengehörigkeit der Menschheit gilt eine gegenseitige Teilnahme am Ergehen des Anderen: „Wenn ein Glied leidet, leiden alle mit; wenn eins wird herrlich gehalten, so freuen sich alle mit.“ Mehrfach, u. a. im Vorwort, verwendet von Oettingen die Formeln „Kreuzgemeinde“ (viii) und „Kreuzkirche“. Er hofft, dass seine Predigten – „so Gott will“ bzw. „durch des Herrn Gnade“ – „allen Mühseligen und Beladenen den einzigen Arzt und Helfer in der Noth nahe bringen“ werden bzw., dass sich in ihnen für die „kreuztragende[n] und angefochtene[n] Seelen“, die „sich nach Frieden sehnen“, „die seligmachende Kraft des Wortes vom Kreuz“ bewährt (ibid.). Hier ist gut zu sehen, wie Kirche vom Wort vom Kreuz her verstanden wird, aber auch, wie die Seligkeit eben denen zugesprochen wird, die selbst das Kreuz tragen und von Anfechtungen heimgesucht sind. Das Wort vom Kreuz Christi hat die Kraft sie zu einer solchen Gemeinschaft zu wandeln, die als Traurige allezeit fröhlich sind. Diese gemeinschaftsbezogenen Vorstellungen, die fünf Jahre vor dem ersten Teil des sozialethischen Versuchs von Oettingens (i. e. Die Moralstatistik), in den Predigten dokumentiert sind, zeigen überaus klar, dass von Oettingen die So-
20 „Dasselbe Mahl, das die tiefste persönliche Gemeinschaft des Einzelnen mit dem Herrn bewirkt, ist zugleich ein Gemeinschaftsmahl.“ (429) Wir sind „aus Gnaden durch das heilige Abendmahl Ein Leib […], ein jeglicher aber des andern Glied“ (ibid.).
Kreuzesgestalt der Offenbarung
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zialität nicht erst in Folge seiner moralstatistischen Untersuchungen zu einer Grundkategorie seiner theologischen Arbeit gerechnet hat.
13.2
Kreuzesgestalt der Offenbarung – die Unumgänglichkeit der Anfechtung und des steten geistlichen Kampfes (1873)
Der Predigtband von Oettingens gehört zu den abschließenden Texten der ersten Periode seiner theologischen Arbeit. Jetzt komme ich zur Kulmination der zweiten Phase, zu seinem ersten Hauptwerk.21 Ich will den zweiten systematischen Teilband seiner Sozialethik hier allerdings nur heranziehen um zu beobachten, welche Grundgedanken bzw. Argumentationsweisen die Wendung „Theologie des Kreuzes“ dort signalisiert. In drei Punkten lassen sich die Beobachtungen zusammenfassen: Thematisiert wird die Kreuzesgestalt der Offenbarung, des Christenlebens und der Kirche. Die christliche Sittenlehre enthält einen Hinweis darauf, warum Luther die „Theologie der Ehren“ abgelehnt, ja verabscheut habe und warum er stattdessen nur von einer „Theologie des Kreuzes“ gewusst habe (vgl. 205). Theologie könne nur Theologie des Kreuzes sein, weil zum einen die Offenbarung, genauer : alle Versöhnungs- und Erlösungsoffenbarung, notwendig eine Kreuzesgestalt habe. Ihr entsprechend seien zum Zweiten auf Seiten des Menschen Anfechtung und geistlicher Kampf unumgänglich. Ohne einen „aus der Anfechtung geborenen, steten geistlichen Kampf“ bzw. ohne die Buße22 kann es einen Christenmenschen nicht geben.23 Gott offenbart sich notwendig unter der Gestalt des Kreuzes. Das Werden der Christen und ihr Leben sind wesentlich durch die Anfechtung und den Kampf charakterisiert. Das sind die zwei Grundgedanken einer Theologie des Kreuzes. Diese Notwendigkeit und jene Unumgänglichkeit sind wohl durch die Sünde bedingt.24 Luther habe davon ein sehr tiefes Bewusstsein gehabt. Unter 21 Im Rahmen von 13.2 verweise ich auf die Hauptquelle (1873a) nur mit einer Seitenzahl. 22 Von Oettingen spricht auch vom „Kreuzestod der Buße“ (566). 23 Der Christ „in seiner concreten Erscheinung als begnadigtes Gotteskind ist aus der Anfechtung, d. h. aus täglicher Sündenerfahrung und Sündenerkenntnis, aus den Schrecken des Gesetzes und des Gewissens geboren“ (26). „Nur im Lichte christlich-sittlicher Heils- und Lebenserfahrung erscheint die Sünde ,bluthroth‘, wird sie wahrhaft erkannt als Sünde. Das Christentum, sagt Luther, macht nicht Heilige, sondern Sünder.“ (127) Der letzte Satz ähnelt (wiederum ohne eine Belegstelle) sehr dem Motto sowohl des Traktates von 1959 als auch des materiellen Teils der Dogmatik (1900–1902). 24 Vgl. 167, 205, 565. Vgl. hierzu Ulrich Barths Analyse der Kreuzestheologie Luthers. „Die Kreuzestheologie […] betont […] die Verborgenheit auch und gerade des göttlichen Handelns unter der Scheinwirklichkeit der Sünde.“ (U. Barth, Dialektik, 111). „Die Selbstentbergung im Durchgang durch die Selbstverbergung ist Ausdruck einer der Realität der Sünde
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den Bedingungen der Sünde, in einer Welt, die durch die Sünde bestimmt ist, erfolge Offenbarung unter der Gestalt des Kreuzes. Das Leben der Christen lasse sich aber als Kreuzesnachfolge bestimmen. 13.2.1 Kreuzesgestalt der Offenbarung Von Oettingen spricht davon, wie „Gott in Christo das Kreuz getragen“ hat (205). Er spricht von dem „Berufsgehorsam der Knechtsgestalt“25 des Sohnes Gottes „bis ans Ende, bis zum Tode am Kreuz“ (527) oder auch von der „nothwendigen[n] Kreuzesgestalt des Lebens Christi“ (565). Doch hat dieses Kreuz eine bestimmte Richtung, sofern „der Menschensohn […] durch Tod zum Leben sich hindurchrang“ (205). „Das Kreuztragen und die Auferstehung“ werden deshalb von ihm zusammenfassend als „die beiden […] Pole“ der „gottmenschlichen Liebesoffenbarung“ beschrieben (564). Diese Polarität der Offenbarung, die mehrere Bedeutungsnuancen hat, wird durchgehend in Anspruch genommen – ausdrücklich auch in der Form des „Grundgedankens“, der seinen Predigtband von 1862 betitelt, i. e. „durch Kreuz zum Licht“ (167). Was im Text von 1859 impliziert ist – dass nämlich Theologie des Kreuzes keinesfalls von der Auferstehung abstrahiert – und wenige Jahre später in den Predigten Erwähnung findet, wird 1873 in einer systematischen Ausarbeitung der theologischen Ethik explizit.26 Die Theologie des Kreuzes im Sinn von Oettingens wird deshalb von der Kritik z. B. Karl Barths, aber auch mancher orthodoxer Theologen nicht getroffen.27 Wahre Theologie als Theologie des Kreuzes ist immer auch eine Theologie der Auferstehung. Die Bedeutung Christi für die Ethik liegt zunächst grundlegend darin, dass in ihm, in seinem Geschick und Werk, der „Heils- und Lebenspunkt für die sündige Menschheit“ zu finden ist (167). Er, der Gekreuzigte und Auferstandene, ist „das Urbild aller Wiedergeburt und Erneuerung, der Quell wahren sittlichen Lebens“ (ibid., vgl. 527). Durch ihn wird, negativ, das wichtigste Hemmnis unserer Freiheit, nämlich das Bewusstsein von Schuld, beseitigt und, positiv, das stärkste und reinste Motiv erneuerten Lebens, „die dankbare Gegenliebe eines für Gott wiedergewonnenen Herzens“ generiert und „fort und fort bestärkt“ (167). Deshalb ist das Leben der Christen als durch das Heil in Christus konstituierte Rechnung tragenden Offenbarungsökomonie.“ (Ibid., 117). „Das Symbol des Kreuzes steht darin [i. e. in Luthers ,theologia crucis‘ – T.-A.P.] […] für die Grundform des göttlichen Offenbarungshandelns in einer durch die Macht der Sünde bestimmten Welt.“ (Ibid., 122). 25 Oder : „Schranken des Gehorsams“ (205). 26 Vgl. z. B. 167f, 175, 205, 527, 564, 724. 27 Vgl. den Exkurs von M. Korthaus (Korthaus, Kreuzestheologie, 153–161). Er betrachtet K. Barth nicht als einen Theologen des Kreuzes. Vor kurzem hat dagegen z. B. Rosalene Bradbury monographisch zu zeigen versucht, wie gerade Barth als Hauptvertreter der Kreuzestheologie in der Neuzeit zu verstehen sei (vgl. Bradbury, Cross Theology).
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Leben, kurz: als Heilsleben, zu verstehen. Eben dies bildet in seiner Genese, in seinem Vollzug und Ziel den Gegenstand der christlichen Ethik. 13.2.2 Kreuzesgestalt des Christenlebens Wie lässt sich das ethische Ideal für das christliche Leben beschreiben? Worin besteht die Nachfolge Jesu? Von Oettingen antwortet: Im Sterben mit Jesus und im Leben mit ihm (vgl. 565). Durch die Kreuzesgestalt des Lebens Christi erhält seine Nachfolge, i. e. das christliche Leben, den Charakter der Kreuzesnachfolge (vgl. 564f). Wichtig ist, dass diese Kreuzesnachfolge eines Christen nicht nur als Nachahmung des vorbildlichen Lebens Christi im eigenen Leben zu verstehen ist, sondern eine persönliche Lebensgemeinschaft mit ihm zur Voraussetzung hat (vgl. 566). Diese persönliche Gemeinschaft mit Christus wird in zwei Richtungen näher bestimmt. Zum einen gebe es sie als Lebensgemeinschaft mit Christus nicht ohne die Todesgemeinschaft mit Christus. Zum anderen bringe sie einen Gebetsverkehr mit ihm hervor (vgl. ibid.). Wie kommt die Nachfolge Jesu als persönliche Gemeinschaft mit ihm zustande? Für wen gilt „Mit Jesu sterben und mit ihm leben“ als das Ideal? Für den, der „bereits durch das Bad der Wiedergeburt in die Gemeinschaft des Todes Christi eingesenkt, im Glauben der Kräfte des Auferstandenen theilhaftig geworden ist“ (564). Wer durch die Taufe in die Verbindung mit den Gekreuzigten und Auferstandenen versetzt worden ist, der ist in eine „neue[] Lebens- und Liebesbewegung“ versetzt worden, in der Christus „als die gottmenschlich geoffenbarte […] versöhnende Liebe in dem Menschen […] Gestalt gewinnt“ (175). Vermittler ist dabei der Heilige Geist: Er macht „Christum in den Herzen der Gläubigen wohnen“ (566). Sofern aber der Heilige Geist der Geist Christi ist, kann Christus als Heiligungsquell verstanden werden. Das Leben des Christen sei vom Ursprung her, sofern es „aus Gott“ (205) bzw. „aus dem Glauben“ (175) geboren ist, „ein mit Christo in Gott verborgenes“ und sei als solches „unter dem Kreuz [zu] bewähren“. Anders formuliert: „die Jüngerschaft Jesu“ soll „mit Abthun aller weltförmigen Herrlichkeit den guten Kampf des Glaubens kämpfen“ (205). Das christliche Leben ist ein Leben mit Christus aus Gott und in Gott (und zu Gott hin). Als solches ist es ein Leben im Glauben und hat in der Geschichte keine Herrlichkeits-, sondern Kreuzesgestalt. In einer Welt, die durch Sünde und Schuld bestimmt ist, gehöre zum Leben der Christen der geistliche Kampf (die Buße), der aus der Anfechtung hervorgeht (vgl. ibid.). Die Freiheit eines Christenmenschen, seine Freiheit im Glauben – im Glauben an Christus bzw. in der persönlichen Gemeinschaft mit Christus –, dieses aus göttlicher Liebe erneuerte Leben, vollziehe sich in tätiger Liebe. So ist das menschliche Leben aus der Freiheit durch den Gehorsam gegen das Gottesgesetz
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charakterisiert. Dieser sei aber eben ein Gehorsam aus der Freiheit heraus, nicht aus dem Zwang (vgl. 208f). Wenn das Leben der Christen sich „innerlich im Kampf mit der Sünde des alten Menschen […] entwickelt“ und „nach aussen hin der miterlösten Menschheit gegenüber […] bewährt“ (175) – eben dies soll von Oettingen zufolge in der theologischen Ethik zur Darstellung kommen –, dann sind m. E. zwei Lesearten auszuschließen. Es ist nicht so zu verstehen, als finde der Kampf mit der Sünde nur innerlich statt und die sozialen und weltlichen Beziehungen seien von der Sünde unberührt. Das christliche Leben als ein Handeln in der Liebe vollzieht sich in der Welt. Obwohl von Oettingen zustimmend auf die „tief mystische Idee der innerlichen Durchdringung des Göttlichen und Creatürlichen“ hinweist (208), resultiert daraus keinesfalls eine unkritische Haltung gegenüber der Welt. Das Leben der Befreiten entwickelt sich nicht nur als ein innerlicher Kampf (Buße bzw. Selbstkritik), sondern vollzieht sich vielmehr immer zugleich als ein Ringen um die Befreiung der Welt, des Kreatürlichen, des Irdischen von den Restsymptomen der Sünde. Die Freiheit eines Christenmenschen, die Befreiung durch Christus bzw. durch Gott, impliziert also die im geistigen und sittlichen Läuterungskampf zu erringende Befreiung des Irdischen von den Schlacken des Sündlichen, auf dass die Welt unter dem Segen des Wortes vom Kreuz allmälig zur Verklärungsstätte göttlicher Macht und Liebe unter schweren Wehen herausgeboren werde (208).
Der Christ als ein Befreiter, als ein fröhliches und dankbares Gotteskind, versteht sich als ein Mitarbeiter Gottes auf das Ziel hin, das Gott vollenden wird (vgl. 588, 605f). Als ein Nachfolger Christi, der das Kreuz auch in eigenem Leben nicht verweigert, sondern bereitwillig auf sich nimmt und so auch in schwierigen Situationen ein Zeuge des Wortes vom Kreuz bleibt. Diese Gedanken erwecken den Eindruck, dass von Oettingens sowohl eine einseitige Konzentration auf die sog. Innerlichkeit, einen problematischen Passivismus, als auch die Behauptung, dass das Erreichen des eschatologischen Zieles einzig in der Verantwortung des Menschen liege, vermeiden will. Dass das Heilsleben sich gegenüber der miterlösten Menschheit zu bewähren hat, bedeutet nicht, dass das christliche Leben sich nur einer bestimmten Selektion von Menschen gegenüber als solches zu erweisen hat. Von Christus her, der „der Menschheits- und Welterlöser“ (527) ist, gilt die Erlösung der ganzen Gattung, der ganzen Menschheit. Deshalb bezeichnet der Begriff „miterlöste Menschheit“ keine Untermenge der Klasse „Menschheit“, sondern hat dieselbe Extension – der Umfang von beiden deckt sich. Zuletzt möchte ich noch hervorheben, dass so wie das christliche Leben sich keinesfalls auf die inneren Befindlichkeiten des Menschen reduzieren lässt, sondern als sich im Beziehungsgefüge zu den Mitmenschen vollziehend zu re-
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flektieren ist, auch die Natur nicht vergessen wurde, sondern sehr wohl – im obigen Zitat unter der Kategorie „die Welt“28, die keinesfalls als ein Synonym für „Menschheit“ zu verstehen ist – auch im Blick ist (wenn auch verständlicherweise nicht mit einer solchen Intensität wie heute). Wenn sich das christliche Leben von Oettingen zufolge in einer allmählich fortschreitenden Bewegung auf das erhoffte Ziel der Vollendung der Gottesgemeinschaft hin befindet, dann ist der Charakter dieses allmählichen Fortschrittes von Oettingen zufolge nur dann richtig erfasst, wenn er kreuzestheologisch interpretiert bzw. die Bedeutung des Kreuzes mitberücksichtigt wird. Es scheint deshalb zweifelhaft, ob davon die Rede sein kann, dass er hier einem naiven Fortschrittoptimismus zum Opfer gefallen ist – einem Optimismus, der sich im 20. Jh. im Zuge der Weltkriege, der totalitären Regimen, des globalen Terrorismus etc. als ein moderner Mythos entlarvt hat.29 Die Kreuzesgestalt des Lebens der Christen enthält also mehrere Bedeutungsnuancen. Von Oettingen spricht wiederholt von der „Schule des Kreuzes“.30 Man kann das als eine Art Umschreibung des christlichen Lebens verstehen. Auch „das Tragen des Kreuzes“ und die „Kreuzesnachfolge“ oder auch „der stete geistliche Kampf“ und „die Buße“ bzw. „der Kreuzestod der Buße“, sowie die „Schule der Anfechtung und des Gebets“ (175) beziehen sich alle in ihrer Weise auf dasselbe Phänomen. Sowohl hinsichtlich des Ursprungs, als auch des Vollzuges und der Vollendung des christlichen Lebens lässt sich von einem Kampf sprechen. Im ersten Teil der materialen Ausführung seiner Gesamtdarstellung der christlichen Sittenlehre behandelt von Oettingen diesen in drei Kapiteln als den Glaubenskampf oder den Kampf der Wiedergeburt, als den Heiligungskampf oder den Kampf in der Sphäre der christlichen Liebesbetätigung und als den Vollendungskampf oder den Kampf der Hoffnung im Tode. Er ist der Ansicht, dass der Bezug des christlichen Lebens auf die Sünde zwar ein anderer geworden ist, aber sich das christliche Leben dennoch im steten Kampf mit der Sünde vollzieht. Diese kann von Christen als „hemmende Last“, „als Prüfung, als ein Kreuz, als eine Züchtigung“ empfunden werden (613). Sie kann zur Versuchung werden oder sich zur Anfechtung steigern. In allem Leiden, in allen Prüfungen und Anfechtungen wird durch die Besinnung auf den Ursprung des Glaubens, auf das Wort Gottes, der Glaube gefestigt und vertieft: „Der lebendige Christus, der sich in dem Wort und den Gnadenmitteln der angefochtenen und
28 Und auch von Christus als Menschheits- und Welterlöser gilt, dass er „den ganzen tragischen Weltschmerz in seiner Seele“ getragen hat (527). Die Erlösung hat also durchaus auch eine kosmologische Dimension. Genauere Erörterungen findet man in der Dogmatik von Oettingens. 29 Gegen Krimmer, vgl. oben Kap. 2. 30 z. B. 170, 606, 619.
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heißhungrigen Seele immer wieder darbietet, wird seine stärkende und tröstende Macht bewähren.“ (619) Gerade unter dem Kreuz, in der Schule des Kreuzes, in einer Situation der Not, vermag das Wort vom Kreuz zu stärken und zu trösten, sofern der Gekreuzigte und Auferstandene sich darin dem Menschen mitteilt, der um Hilfe ruft und sich nach Rettung sehnt. Die Hinwendung zum Ursprung des Glaubens, der Gebrauch von sog. geistlichen Kampfesmitteln, die gemeinsame Erbauung und Absolution im Gottesdienst gehören wesentlich zum christlichen Leben dazu (und seien deshalb auch im Rahmen einer christlichen Ethik zu behandeln). So wie alle Versöhnungs- und Erlösungsoffenbarung die Kreuzesgestalt trägt, so sind der stete Kampf und die Buße, die tägliche Erneuerung des Menschen, die den Kampf um eine Erneuerung der Welt mitumfasst, von Nöten. Das Urbild und der Quell dieser Erneuerung ist der Gekreuzigte und Auferstandene. Sofern die Theologie des Kreuzes eine Theologie der Auferstehung und des Glaubens ist, d. h. wenn sie im Leiden und Tod Christi und deshalb auch im Leiden und Tod des Menschen die heilsame Nähe Gottes und die Verheißung der Vollendung der Gottesgemeinschaft erkennt, ist sie eine Theologie voller schmerzlicher Spannung, aber auch der Gewissheit einer inneren Teleologie innerhalb dieser Spannung, die auf das Leben, auf die Herrlichkeit, auf die Vollendung zielt. Sie ist somit eine neue Sicht auf das Leiden und den Tod in der Welt und schöpft aus dem Quell, der nicht allein Erkenntnis ist, sondern damit auch Kraft zur Kritik und zum Kampf für die Erneuerung, zum Kampf gegen das Negative verleiht. Das Leben der Christen hat Kreuzesgestalt – es ist eine gezielte, eschatologische Existenz, die im Kampf vollzogen wird. 13.2.3 Kreuzesgestalt der Kirche Auch die Kirche, „die Heilsgemeinde Jesu Christi auf Erden“ (743), die von Oettingen von ihrem Ursprung her auch als „die Eine, auf Gnadenmittelverwaltung gegründete Glaubensgemeinschaft“ beschreibt, trägt in der Geschichte notwendigerweise – wie die Offenbarung in Christus und das Leben des Christen – „eine Kampfes- und Kreuzesgestalt“ (733). Die Gemeinschaft Christi, die wesentlich im Glauben festgehalten wird, existiert in der Geschichte als eine Institution, eine Organisation, eine Heilsanstalt mit einer „weltgeschichtliche[n] Aufgabe“ (ibid.). Sie hat „in dieser Welt ihren Missionsberuf zu erfüllen und zugleich von der Welt, die ihr selbst wie jedem ihrer Glieder noch anhaftet, sich zu läutern“ (ibid.). Diese ihre Kampfes- und Kreuzesgestalt, in der die Kirche sich an ihrem „evangelischen Ursprung[]“ zu orientieren hat, kann von Oettingen auch als ihre „Knechtsgestalt“ charakterisieren (ibid.). Sie lebe in der Hoffnung auf die Verheißung, dass ihre „Knechtsgestalt und Kampfesaufgabe […] einer Herrlichkeitsgestalt und Friedensgemeinschaft weichen“ wird
Wahre Theologie des Reichs Gottes als Theologie des Kreuzes
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(743f).31 Von Oettingen beschreibt diese Hoffnung im letzten Kapitel seiner Sozialethik, das die schließliche Vollendung der Kirche als Basis der kirchlichen Reichshoffnung der Christen darstellt, u. a. mit folgenden Worten: Die kirchlich gefärbte […] Reichshoffnung […] erhält das gesunde Gleichgewicht in der kirchlichen Hoffnungsstimmung des Christen. Sie harret des Herrn, der seiner Kirche die Verheissung des Sieges gegeben. Sie bewahrt die ,Geduld und den Glauben der Heiligen‘ in der rechten nüchternen und freudigen Gebetsgemeinschaft. Sie weckt die Sehnsucht und vertieft die Friedensgewissheit im Hinblick auf den Herrn, der nicht blos Himmel und Erde gemacht, sondern auch auf Erden eine himmlische Stätte für das höchste Gut der Sündenvergebung durch die Kirche Christi gegründet hat. In den Gnadenmitteln hütet und ehrt die kirchliche Reichshoffnung des Christen jenen Schatz, in welchem trotz irdischer Hülle, trotz Sünde und Noth, trotz Kreuz und Tod ihr die Ideale der Endzeit verbürgt sind. Daher kennt sie auch kein seliges Leben anders, als auf Grund der Rechtfertigung aus Gnaden. (746f)
Unter der gegenwärtigen Gestalt des Kreuzes sei die Herrlichkeit der Kirche noch verborgen. Im verklärten Gottesreich werde sie offenbar. Hier wird der Begriff „Herrlichkeit“ also in einem positiven (eschatologischen) Sinn verwendet. Als Kirche des Kreuzes, die aus dem Wort vom Kreuz her existiert, ist sie schon jetzt eschatologische Wirklichkeit, deren Herrlichkeit im Glauben „gesehen“ wird. Auch von der Kirche gilt: durch Kreuz zum Licht.
14.
Weitere Explikationsformen der Theologie des Kreuzes
14.1
Wahre Theologie des Reichs Gottes als Theologie des Kreuzes (1880, 1883)
14.1.1 Vorbemerkungen Die Formel „Reich Gottes“ wird in den Darstellungen der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts üblicherweise besonders mit dem Namen Albrecht Ritschl 31 „Die sittliche Idee des vollendeten und allseitig organisirten Gotttesreiches auf Erden (§§.74. 80) ist nur dann als realisirt anzusehen, wenn Gottesreich und empirische Kirche sich vollkommen decken. Solche Aussicht kann für die Kirche Christi, im Hinblick auf ihren gegenwärtigen Mischzustand mit der Welt und ihren noch vorhanden Trennungszustand in der eigenen Mitte, nur nach schwerer Trübsal und Anfechtung sich verwirklichen, damit Sichtung und Einigung durch heilsame Gerichtswehen ermöglicht werde [in Anmerkung: Vgl. 1 Petr 4,17 […] mit Jer. 25, 29.]. Auch werden die zeitlichen Formen des Kirchenthums und der gegenwärtigen kirchlichen Lebensbewegung in Cultus und Zucht, in Mission nach aussen und innen einem Verklärungszustande Platz machen.“ (742).
202
Weitere Explikationsformen der Theologie des Kreuzes
in Verbindung gebracht.1 In seinem Denken spielt dieser Gedanke in der Tat eine zentrale Rolle. Die Veröffentlichung des ersten Bandes seiner Rechtfertigung und Versöhnung im Jahr 1870 dient oft zur Markierung des theologiegeschichtlichen Wendepunktes zum letzten Drittel des Jahrhunderts. In der kanonischen Auffassung des Verlaufs jener Geschichte findet sodann immer das Buch von Johannes Weiss Die Predigt Jesu vom Reich Gottes (1892), vor allem dessen zweite Auflage (1900), Erwähnung. Dieses habe gezeigt, dass die Quelle, auf die sich Ritschl stützte – die durch das Neue Testament zugängliche Verkündigung Jesu – keine ethisch orientierte, sondern vielmehr eine apokalyptisch-eschatologisch orientierte Auffassung des Reiches Gottes enthalte.2 Die Haltbarkeit dieses Schlüsselbegriffs der sog. liberalen bzw. kulturprotestantischen Theologie sei damit in Zweifel gezogen worden. Eine exegetische Studie über Vorstellungen vom Reich Gottes sei somit Vorbereitung für die epochale Neuorientierung der evangelischen Theologie nach dem Ersten Weltkrieg und für eine Totalkritik der vorangegangenen gerade durch Ritschl und seinen Schüler Adolf Harnack repräsentierten, grundlegend durch Schleiermacher initiierten, aber bereits durch Kant inspirierten Art von Theologie. Das Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte gibt genealogische Hinweise:3 Der Reich-Gottes-Gedanke gewann im Pietismus des 18. Jahrhunderts eine wichtige Stellung. Der Sprachgebrauch erhielt Modifikationen im Neupietismus des 19. Jahrhunderts. Des Weiteren konstatiert das Handbuch ziemlich unvermittelt und ohne diese nochmals aufzunehmen oder näher auszuwerten eine These des Dogmenhistorikers Alfred Adam (1899–1975). Nämlich, dass allein das Reich Gottes bzw. die Frage nach ihm als das alle Abschnitte der Neuzeit gleichmäßig durchdringende Thema zu betrachten sei.4 Hier scheint implizit die Einsicht ausgesprochen, dass die Verbindung des Reich-GottesGedankens vor allem mit dem sog. Kulturprotestantismus des 19. Jh. eine einseitige Reduktion darstellt. Das Handbuch selbst konzentriert sich auf diesen 1 In dem zweibändigen Standardwerk von Claude Welch über das protestantische Denken im 19. Jh. (Welch, Protestant Thought) taucht z. B. „the Kingdom of God“ in der detaillierten Gliederung der Darstellung nur während der Behandlung der Theologie Ritschls auf (vgl. den Unterabschnitt „Ethics and the Kingdom of God“). Auch im Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte (Andresen/Ritter [Hg.], Handbuch) kommt der Begriff „Reich Gottes“ als Aufbauelement in der Präsentation der Hauptströmungen des 19. Jh. nur im Kapitel über den Kulturprotestantismus und die liberale Theologie vor. Dessen erster Paragraph trägt den Titel „Der ethisierte Reich-Gottes-Gedanke und die antimetaphysisch-christozentrische Theologie Ritschls“ (ibid., 204–208). Damit steht von Oettingens eigene Wahrnehmung im Einklang: „Ritschl hat […] das unbestreitbare Verdienst, die Aufmerksamkeit der Theologen, der Ethiker und Dogmatiker auf den Reichsgedanken wieder wachgerufen zu haben.“ (1880a, 139). 2 Vgl. Welch, Protestant Thought, 161. 3 Vgl. Andresen/Ritter (Hg.), Handbuch, 204. 4 Vgl. Walther, Typen des Reich-Gottes-Verständnisses.
Wahre Theologie des Reichs Gottes als Theologie des Kreuzes
203
Gedanken im Kontext des Kulturprotestantismus, besonders am Beispiel von Ritschl, aber auch der nordamerikanischen Social-Gospel-Bewegung, in der Walter Rauschenbusch eine Pionierrolle zukommt.5 In einem „kritischen Rückblick“ meint der Autor, sich das berühmte Votum Reinhold Niebuhrs zu Eigen machen zu können und spricht mit Blick auf den (nordamerikanischen) Kulturprotestantismus das Urteil aus, dass „die Besinnung auf die Realität von Sünde und Schuld, Gericht und Kreuz fast völlig in den Hintergrund“ geraten sei.6 Wie Welch im Anschluss an Ritschl hervorhebt,7 sei es erst Immanuel Kant gewesen, der die entscheidende Bedeutung des „Reiches Gottes“ für die Ethik gesehen habe. Dass das Christentum mit Hilfe dieses Begriffs als eine ethische Religion konzipiert werden sollte, sei Ritschl zufolge sowohl im Katholizismus als auch von den Reformatoren noch missverstanden worden. Ersterer identifiziere die (sichtbare) Kirche mit dem Reich Gottes, die letzteren sehen es als eine innerliche Größe, als die Gemeinschaft mit Christus im Glauben. Schleiermachers Leistung liege in der Offenlegung des teleologischen Charakters des Reiches Gottes. Eine Vollentfaltung der ethischen Implikationen des Reiches Gottes habe Ritschl jedoch als eine noch – und zwar von ihm selbst – zu meisternde Aufgabe verstanden. Wenn das vorliegende Kapitel die aus den 1880er Jahren stammende explizite Beschreibung und Pointierung der „Theologie des Kreuzes“ als „Theologie des Reiches“ zum Gegenstand hat, dann ist Ritschls Theologie und sein Sprachgebrauch wohl als primärer Anlass dazu anzusehen. Allerdings spielt der Gedanke des „Reiches Gottes“ schon in von Oettingens früherem Werk eine nicht unwichtige Rolle und trägt in seinem Sinngehalt Momente, die in der zweiten Hälfte dieses Teiles näher thematisiert werden. Hier sei nur konstatiert, dass von Oettingen seine Sozialethik von 1873 auch eine „Reichsethik“ oder eine Ethik des Reiches Gottes nennen kann. Auch er hebt die besondere Bedeutung von Kant für eine theologische Neubesinnung auf den Begriff des Reiches Gottes hervor. Allerdings geht dies bei ihm einher mit einer Fundamentalkritik an der Art und Weise, in der der Begriff von Kant und den ihm folgenden Theologen verstanden wird. In diesem Kapitel beschränke ich mich aber darauf, dem nachzuspüren und das kurz darzulegen, was von Oettingen im Sinn hat, wenn er behauptet: Gerade die „Theologie des Kreuzes“ ist die wahre „Theologie des Reiches“. Als Quelle dient zunächst ein ausführlicher Bericht über die sog. Dorpater Januar-Konferenz8 im Jahr 1880, die „die Verkündigung des Reiches Gottes in 5 6 7 8
Vgl. unten Kap. 25. Andresen/Ritter (Hg.), 206. Vgl. Welch, Protestant Thought, 18. Vgl. oben Kap. 3.
204
Weitere Explikationsformen der Theologie des Kreuzes
ihrer Bedeutung für kirchliches Leben und Lehren“ zum Thema hatte und besonders das Verhältnis der Begriffe „Reich“ und „Kirche“ berücksichtigte (1880a, 131). Von Oettingen hatte die Aufgabe „die Wahl dieses Berathungsgegenstandes zu motivieren“ (ibid.). Seine Ausführungen dazu bilden das Hauptmaterial des Berichtes. Zu dessen Beginn konstatiert von Oettingen für die vorangegangenen vier Konferenzen seit dem Jahr 1876, dass sie alle „mehr oder weniger auf die Reichs-Idee ab[zielten]“ (ibid.). Des Weiteren ist in diesem Zusammenhang von Oettingens kleiner programmartiger Beitrag zum 400. Geburtstag Martin Luthers in der Spezialausgabe der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung relevant.
14.1.2 Reichstheologie in kreuzestheologischer Deutung Von Oettingen vertritt und entfaltet knapp die Ansicht, dass die Geschichte der Kirche gerade unter dem Gesichtspunkt dargestellt werden könne, wie sie sich „zur Reichsverkündigung und Reichshoffnung“ verhalten hat: „Die Art und Weise, die Grundstimmung gleichsam, in welcher das Gebet ,dein Reich komme‘ gebetet worden ist, giebt jeder Zeit der kirchlichen Entwickelung ihren Stempel“ (ibid., 133). Im Kontext einer Geschichtsskizze steht so der Satz, in dem „Reichstheologie“ und Kreuzestheologie explizit verbunden werden: Je mehr die römische Kirche mit ihren amtlichen Vertretern und ihrem menschlichen Haupte sich als ein regnum gloriae auf Erden, kurz als die basike_a ansah, je mehr die Hierarchie statt der Diakonie sich in den Vordergrund drängte, desto mehr näherte sie sich dem antichristlichen Zerrbild, gegen welches das evangelische Glaubensbewusstsein immer wieder reagierte, bis Gott der vornehmen Babel die Blöße aufdeckte, bis durch unsern Doctor Luther eine wahre Reichstheologie als eine theologia crucis sich der anmaßenden hierarchischen theologia gloriae entgegenstellte. (1880a, 134).
Die falsche Reichstheologie sei also diejenige, bei der nicht die Diakonie, sondern die Hierarchie in den Vordergrund rücke. Mit Verweis auf Mt 20, 26–28 und Lk 22, 27 konstatiert von Oettingen, dass das diajome?m als das Kennzeichen des Herrn „als des Reichshauptes und aller seiner Reichsgenossen“ mit der Verwandlung der Diaspora-Situation der Gemeinde Christi in „eine gesicherte Stätte auf Erden“ immer mehr „zu einer angeblichen Gottesherrschaft auf Erden“ wurde: „Heimweh und Sehnsucht nach der Reichsvollendung traten in dem Maße zurück, als die empirische katholische Kirche sich mit der civitas Dei decken sollte.“ (Ibid., 133). Gerade die Situation der Diaspora sei für die Reichsverkündigung – die die Mitte „unserer amtlichen Diakonie“ ist (ibid., 132) – und für die Reichshoffnung günstig gewesen. Die Merkmale, die hier für eine kreuzestheologisch verstandenen Reichstheologie hervorgehoben werden sind also: (1) Dienen (mit dem Kennzeichen
Wahre Theologie des Reichs Gottes als Theologie des Kreuzes
205
der Diakonie)9 statt Herrschen (mit dem Kennzeichen der Hierarchie); (2) Verkündigung des Reiches Gottes (und nicht der Kirche) als Inhalt der „amtlichen Diakonie“ bzw. der „Reichsarbeit auf dem Felde der Mission“ (ibid., 133) anstatt einer Identifizierung der Kirche mit dem Reich Gottes; (3) eine zentrale statt einer marginalen Stellung der Eschatologie (oder der Hoffnung des Reiches!). Dazu kommt der Hinweis auf eine wichtige Folgerung – nämlich, dass (4) die Reichshoffnung „von alle[m] engherzigen Gefühls-Christentum und aller weichlichen Personalbeseligung“ befreit (ibid.).
14.1.3 Differenzbewusstsein von Reich und Kirche als reformatorisches Prinzip Von Oettingen zufolge kann man „das reformatorische Princip“ geradezu durch das Ernstnehmen der Differenz des Reiches Gottes zu dieser Welt und als strikte Unterscheidung zwischen einer Orientierung auf das Reich Gottes und die Gerechtigkeit des Reiches einerseits und „allem äußerlichen Werk- und Kirchendienst“ andererseits erschließen (ibid., 134).10 Er referiert die Äußerungen Melanchthons und Luthers in den Bekenntnisschriften zum Thema des Reiches Gottes und dessen Verhältnisses zur Kirche (1880a, 134–136) und kommt zu dem Ergebnis, dass die bekannte Kritik Albrecht Ritschls gegen die angeblich ungenügende Berücksichtigung bzw. völlige Marginalisierung des Reichsbegriffs in der lutherischen Lehre „keineswegs berechtigt“ sei (ibid., 136). Völlig verfehlt sei der Vorwurf Luther gegenüber. Aber auch die späteren lutherischen Dogmatiker, deren Ansichten er skizziert (ibid. , 136f), kennen das Reich und haben ein Bewusstsein von der differenzierten Bezogenheit von Reich und Kirche. Ich verstehe von Oettingen so, dass er mit der „Übersetzung“ des reformatorischen Prinzips in die Terminologie des Reiches Gottes die reformatorische Theologie – im Unterschied zu geläufigen Deutungen – grundlegend als eine nicht aus irgendwelchen individuellen und subjektiven Anliegen erwachsende 9 Vgl. dazu die grundsätzlichen Überlegungen, die er zur Orientierung in seinen Schriften zur Diakonissenfrage (1893c, 1895a) darbietet. Nach seiner Emeritierung ist das im Zeitraum 1891–1894 eine Frage, mit der er sich auseinandersetzt. Exemplarisch wird daran die Tiefenlogik seines Denkens sichtbar (vgl. 1895a, 40). 10 „Während Rom in weltförmiger Tendenz mit Herrschaftsgelüsten oder klösterlicher Sonderheiligkeit die Kirche auf Kosten des evangelischen Reichsbegriffs betonte, während Genf mit Seinem gewaltigen, aber auch gewaltsamen Reformator dazu neigte, die Kirche als eine theokratisch verfaßte Gemeinde der Erwählten mit Hintansetzung des universellen Reichsbegriffs in den Vordergrund zu stellen, vertrat das lutherische Bekenntniß die gesunde Auffassung.“ (1880a, 134). Die römische Tendenz: Identifizierung der sichtbaren universellen Kirche mit dem Reich; die reformierte Tendenz: die kleine Gemeinde der Erwählten als Reich. Bei beiden büße der Reichsbegriff seine Bedeutung als (kritisches) Gegenüber ein.
206
Weitere Explikationsformen der Theologie des Kreuzes
zu präsentieren versucht. Die reformatorische Kritik bzw. Selbstkritik der Kirche schöpfe vielmehr aus dem Bewusstsein einer spannungsvollen Differenz zwischen Kirche und Reich, d. h. sie sei nur unter dieser Voraussetzung möglich und verständlich. 14.1.4 Das Reich Gottes – gegenwärtig unter dem Kreuz verborgen Im Referat von Oettingens taucht das Motiv des Kreuzes wiederholt auf : Das Reich Gottes deckt sich „nicht mit der sichtbaren Kirche, oder gar der umgrenzten Confessionskirche“ (ibid. , 134). Es ist gegenw ä rtig f ü r die Welt noch nicht offenbar, sondern „unterm Kreuz verborgen“ (ibid. , 135). 11 Anders gesagt : Die Kirche ist das Reich Christi, sofern sie eine Versammlung der an ihn Glaubenden ist. 12 Diese universale Herrschaft Christi ü ber die Welt ist „gegenw ä rtig noch verborgen unter dem Kreuz und nur fü r den Glauben an den allgegenw ä rtigen, verkl ä rten Herrn […] vorhanden“ (ibid. , 136). Das Reich befindet sich in einem „verborgenen Kreuzzustande“. Diese „Kreuzgestalt“ kann „gegenw ä rtig“ sowohl dem Reich als auch der Kirche zugesprochen werden (ibid. , 139). Sein Zustand, sowie sein „geistliche[s] Wachsthum“ (Mk 4, 26–32) sind deshalb nur „durch den Glauben zu erfassen“, und dieser Glaube wiederum ist „in der christlichen Liebesth ä tigkeit berufsm äß ig zu beweisen“ (1880a, 139). Das spezifische Amt der Christen bzw. der „Reichsgenossen“ und deren „Berufserfü llung“ k ö nne deshalb keinesfalls als Hierarchie, sondern nur als Diakonie verstanden werden. 13 14.1.5 Mangelhafte Behandlung der Reichsidee in der altlutherischen Dogmatik, Reaktion im Pietismus, Opposition im Rationalismus und die drei gegenwärtigen Tendenzen Von Oettingen gibt zu, dass die „Reichsidee in der altlutherischen Dogmatik“ in der Tat defizitär war. Das Reich Gottes und seine „heilsgeschichtlich fortschreitende allmähliche Verwirklichung“ standen nämlich nicht in hinreichender Weise im Zentrum des theologischen Denkens (ibid., 137). Diese zentrale Position nahm vielmehr das Interesse „für den rechtfertigenden Glauben als persönliche Heilsbedingung und für die Gemeinde der Gläubigen“ bzw. für die 11 Mit Verweis auf die Apologie der Confessio Augustana, Art. 4. 12 In den von der Konferenz angenommenen Thesen heißt es: 1jjkgs_a ist „durch Wort und Sacrament mit ihrem Haupte geeinte[] neutestamentliche Gemeinde der Gläubigen“ (ibid., 140). 13 Von Oettingen teilt in dieser Hinsicht die Auffassung von Theodosius Harnack und verweist auf diese (vgl. Th. Harnack, Luthers Theologie, Bd. 2, 362).
Wahre Theologie des Reichs Gottes als Theologie des Kreuzes
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Kirche „als Stätte der lauteren Gnadenmittelverwaltung“ ein (ibid.). Ein weiteres Problem sei gewesen, dass das Kommen des Reiches „einseitig dogmatisch“ – als „wunderbar von Oben“ kommend – bestimmt war, womit der Aufnahme und Entfaltung der ethischen Bedeutung dieses Gedankens nicht Genüge getan wurde. Zum Dritten trat, wegen der „Opposition gegen jeglichen Chiliasmus“, auch „die eschatologisch prophetische Seite der Reichsidee nicht ausreichend hervor“. Als dessen Konsequenz rückte „das Missionsinteresse“ und „die universelle Arbeit für die Reichsvollendung“ in den Hintergrund (ibid.). Kurz: Die zentrale Bedeutung des Reichsbegriffs, seine universelle Weite, sowie seine ethischen und missionarischen Implikationen werden in der nachreformatorischen lutherischen Lehrtradition aus Sicht von Oettingens nur mangelhaft berücksichtigt. So haben sowohl die Reaktion „des Pietismus bzw. Herrnhutismus“ als auch die Opposition „des Rationalismus und der modernen Theologie“ gegenüber der Weise, wie „die lutherisch-kirchliche Tradition“ das Reich Gottes aufgefasst hat, durchaus ihr Wahrheitsmoment. Sie neigen aber in ihrem Interesse für den Reichsbegriff in jeweils unterschiedlicher Weise – entweder „weltflüchtig“ oder „weltförmig“ (ibid., 140) – zu einer Nivellierung des wahren Kirchenbegriffs und somit zu einer defizitären Ekklesiologie. Die knappe Charakterisierung und Besprechung des Pietismus, sowie des Rationalismus und der an den Letzteren anknüpfenden modernen Vermittlungstheologie fällt differenziert aus und bemüht sich um die Benennung der Schwächen und der Stärken. Beim Pietismus ist hier die Unterschätzung der Kirche als Gnadenmittelgemeinschaft – in ihrer Nichtanerkennung als „Stätte des Reiches Gottes auf Erden“ – problematisch, weshalb Sonderversammlungen der wahrhaft Frommen oder der Kinder des Gottesreiches auf der Tagesordnung stehen. Außerdem kritisiert von Oettingeni die Unterschätzung der „natürlichen Ordnungen des Staates und des irdischen Berufes“, weshalb nur Sonderaktionen als „Heiligungsleben“ und Reich-Gottes-Arbeit gelten (1880a, 137). Beim Rationalismus und der modernen Vermittlungstheologie werden die Probleme in der Anschauung vom Reich Gottes symptomatisch daran sichtbar, dass der Versöhnungstod und die Auferstehung Christi, sowie die eschatologische Vollendung und Offenbarung des Reichs durch seine Wiederkunft darin keine Rolle spielen (vgl. ibid., 138). Auch von Oettingens eigene Gegenwart sei gefährdet sowohl (1) von der Marginalisierung des Reichsgedankens durch den (Gedanken) der Kirche, z. B. bei Fr.A. Philippi – i. e. von der altdogmatischen Tendenz, deren Folge u. a. der Atomismus und Eudaimonismus in der Eschatologie ist –, (2) von der Absonderung bestimmter Tätigkeiten als Dienst am Reich Gottes, als sog. Reichsarbeit oder als spezieller Reichsberuf im Dienst des Herrn (i. e. von der pietistischen Tendenz), sowie (3) von der „modern-rationalisierende[n] oder ethisierend-
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Weitere Explikationsformen der Theologie des Kreuzes
humanistische[n]“ Vernachlässigung des Kirchenbegriffs zugunsten des Reichsbegriffs, z. B. bei A. Ritschl.14 14.1.6 Luthers Lehre vom Reich Gottes Wenn von Oettingen im Jahr 1880 also expressis verbis „wahre Reichstheologie“ als Kreuzestheologie verstehen und damit die epochale Leistung Martin Luthers andeuten, aber auch die fundamentale Bedeutung des Gedankens vom Reich Gottes in seiner reformatorischen Theologie behaupten will, und wenn er typisierend in der evangelischen Theologie seiner Gegenwart drei problematische Neigungen in der Auffassung vom Reich Gottes und dessen Verhältnisses zur Kirche vorhanden sieht, dann ist implicite gesagt, dass auch hier die bleibende Aktualität Luthers und seiner Theologie des Kreuzes in Erscheinung tritt. Der drei Jahre später erscheinende Artikel zum Lutherjubiläum, der den anspruchsvollen Titel „Luther’s Lehre vom Reiche Gottes in ihrer prinzipiellen Bedeutung für seine gesammte Glaubens- und Sittenlehre“ trägt, dekliniert auf mehrere Quellen verweisend, in knappen und höchst konzentrierten Grundzügen, dass und in welchem Sinn das Reich Gottes geradezu für das Ganze der Theologie Luthers bestimmend gewesen sei. Insofern kann der Text als eine Fortsetzung des früheren gelesen werden. In zweierlei Hinsicht ist von Oettingens Vergegenwärtigung Luthers und die konstruktive Erschließung seines Denkens und Wirkens von „seiner Reichsidee“ her eine Interpretation, die Missverständnisse zurückweisen will (1883c, 14). Zum einen hat er die „grundfalsche[] Auffassung“ bzw. „den Vorwurf“ im Blick, wonach „ein Zug des Subjektivismus“ dem Anliegen und der Theologie der Reformation wesentlich sei (ibid.). Ungeachtet dessen, ob dieser Zug als eine Leistung Luthers oder als sein Grundfehler verstanden wird, sei dieses Urteil nicht zutreffend, sondern vielmehr als ein höchst folgenreicher Irrtum anzusehen. Die Reformation lasse sich nicht auf „kränkelndes Personalchristenthum independentistische[r] Freiheitsgelüste“ zurückführen, sondern erschaffe eine evangelischen Sicht vom Reich Gottes, die zum Widerspruch veranlasst – sowohl gegen die „weltherrliche[] Kirche des Papstthums mit ihrer hierachischen Stockmeisterei“, als auch gegen die „schwärmerische[] Idee einer ,Geistgemeinde von eitel Heiligen‘“ (ibid.). Zum anderen gilt, und damit wiederholt von Oettingen seine im Jahr 1880 ausgesprochene These von der Reichstheologie als Kreuzestheologie in anderer 14 Am Ende des Berichts bringt von Oettingen im Wortlaut fünf Thesen (und Antithesen) vor, die nach einer gründlichen Diskussion, die der Einleitung und den Hauptvorträgen der Professoren Mühlau und Volck folgte, von der Konferenz verabschiedet wurden: 1. Motivierung des Themas, 2. Jesu Reichsverkündigung. 3. Die apostolische Lehre von der Kirche im Verhältnis zum Reich Gottes. 4. Die zukünftige Reichsvollendung. 5. Chiliasmus.
Wahre Theologie des Reichs Gottes als Theologie des Kreuzes
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Gestalt, dass das Reich Gottes im Denken Luthers keineswegs eine marginale Rolle spiele, wie die Kritik Ritschls es behauptet. Es verhalte sich gerade umgekehrt: Luther’s ganze Glaubens- und Gnadenlehre wurzelt viel tiefer, als man es gewöhnlich denkt, in seiner Reichsidee. Und vollends seine gesammte Sittenlehre ist nur dann richtig zu verstehen, wenn wir sie als Reichsethik fassen, d. h. dem Gemeinschaftsfactor eine grundlegende Bedeutung in derselben zuschreiben (ibid.).
Die Art, in der Luther das Reich Gottes verstanden habe, stehe allerdings in Spannung dazu, wie die zeitgenössische Theologie, besonders Ritschl, es lehre: Es steht nicht etwa so, dass ihm [i. e. Luther – T.-A.P.] die christliche Gemeinschaft in Haus und Staat, in Kirche und Reich ein Produkt der in gläubiger Liebe Gott willig dienenden Menschheit sei. Nein, unser persönliches Christenthum, unsere Gerechtigkeit aus Gnaden, unser Kindschaftsstand, unsere Berufsarbeit in der Liebe, ja unser ganzes Predigtamt sind ihm lauter Früchte an dem Baume des in Christo verwirklichten ,Himmelreiches‘, das er als ein ,Reich der Gnaden‘ in der wahren christlichen Kirche auf Erden verkörpert sieht, als ein ,Reich der Glorie‘ mit der zukünftigen Herrlichkeitsoffenbarung des himmlisch verklärten Hauptes in Zusammenhang bringt. Das Himmelreich als ein Reich der Gnaden ist nach Luther nichts anderes denn ,die gemeine Christenheit, darinnen Christus regieret über alle Gläubigen durch sein Wort des Evangeliums, und darinnen eigentlich nicht gehandelt wird denn Vergebung der Sünde‘ (1883c, 14).
Von Oettingen beschreibt Luthers Ethik hier als Reichsethik. Das geschieht im selben Jahr, in dem Die Moralstatistik in einer 3. überarbeiteten Auflage unter dem Titel Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine Socialethik erscheint. Die christliche Sittenlehre aus dem Jahr 1873 hatte aber die theologische Ethik systematisch auch schon als Reichsethik beschrieben. Zuletzt sei in Erinnerung gerufen, dass von Oettingen zwei Jahre nach der Lutherfeier seine Christliche Religionslehre auf reichsgeschichtlicher Grundlage veröffentlicht hat.15 Somit gewinnt der Reichsbegriff bei ihm auch eine Leitfunktion, wird jedoch als genuine Ausdrucksgestalt für eine Theologie des Kreuzes verstanden und beansprucht.
15 Vgl. oben Kap. 7.
210 14.2
Weitere Explikationsformen der Theologie des Kreuzes
Der gekreuzigte Christus als Real- und Erkenntnisprinzip der Theologie (1883, 1886)
14.2.1 Rückblickende Eigencharakterisierung der Tartuer/Dorpater Theologie In einem Vortrag, den von Oettingen zum Gedenken an seinen engsten Freund und Kollegen, den Kirchen- und Dogmenhistoriker Moritz von Engelhardt, aus Anlass dessen plötzlichen und frühen Todes gehalten hat, befindet sich eine bemerkenswerte Behauptung über die Haltung und über das Aufgabenverständnis der Tartuer/Dorpater Fakultät (vgl. 1883a, 61f). Von Oettingen meint, in der ca. 30 Jahre währenden Periode, in der von Engelhardt und er selbst Fakultätsmitglieder waren – und in den Augen vieler Zeitzeugen dort zu den führenden und bestimmenden Gestalten gehörten –, d. h. seit etwa der Mitte des Jahrhunderts, ungeachtet aller Variationen und Entwicklungen in der gesamten Fakultät eine Kontinuität und einen Grundkonsens beobachten zu können. Im Zentrum seiner Kurzcharakteristik der Dorpater/Tartuer Theologie steht – mit Verweis auf 1Kor 1,23f – „der gekreuzigte Christus“. Er sei als „göttliche Kraft“ des Heils und der Versöhnung das „Realprinzip“ und als „göttliche Weisheit“ zugleich das „Erkenntnisprincip“ der Theologie. Obwohl er die Wendung „Theologie des Kreuzes“ nicht direkt gebraucht, spricht von Oettingen vom Real- und Erkenntnisprinzip der Theologie und bestimmt beide durch den gekreuzigten Christus. Mittels dieser zwei Prinzipien wird die Theologie von Engelhardts auf den Begriff gebracht. Jedoch sei dies repräsentativ für die gesamte Dorpater/Tartuer – inkl. von Oettingens – Auffassung einer ordentlichen Theologie. Diese beiden Prinzipien der Theologie, das Real- und das Erkenntnisprinzip, bilden den Gegenstand seiner Prinzipienlehre von 1897. Die Rede von zwei Prinzipien wird im 19. Jh. geläufig. Üblicherweise geht es jedoch um Real- und Formalprinzip, wobei unter dem Letzteren die Heilige Schrift verstanden wird. Auch von Oettingen kennt und verwendet (v. a. in den 1870er und 1880er Jahren) diese gängige Sprachweise16 – allerdings hebt er dabei stets die Priorität des Materialprinzips hervor. Das ist meiner Ansicht nach auch der Grund, warum er eine terminologische Modifikation vornimmt, die von ihm 1883 zum ersten Mal thetisch ausgesprochen und später in der Prinzipienlehre ausführlich begründet und entfaltet wird. „Christus für uns“ und „Christus in uns“ signalisieren definitorisch den Gehalt beider Prinzipien. In der gängigen Sprachweise gilt nur das Materialprinzip als „die Rechtfertigung aus Gnaden um Christi willen allein durch den Glauben“ (1877a, 443f; vgl. 1886a, 366). Von Oettingen entnimmt 16 Vgl. 1876a, 96f; 1877a, 441f, 443f; 1886a, §6; 1887c, 413.
Der gekreuzigte Christus als Real- und Erkenntnisprinzip der Theologie
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hieraus hingegen sowohl das Material- als auch das Erkenntnisprinzip. Oftmals wird jedoch nur die erste Hälfte – „Rechtfertigung allein aus Gnaden“ – angegeben (vgl. z. B. 1886a, 205). In Antiultramontana wird als „evangelisches Materialprincip“ der Heilsgehalt der Offenbarung genannt (1876a, 96f). Ausgehend von diesem ist auch die Geltung bzw. die lebendige Autorität des sog. Formalprinzips immer erneut herzuleiten und zu erweisen.
14.2.2 Der Grundgedanke der Reformation – Versöhnung und Rechtfertigung Es entspricht der eben aufgeführten Bezeichnung des gekreuzigten Christus als Real- und Erkenntnisprinzip der Theologie, dass von Oettingen in seiner Christlichen Religionslehre den Vollzug der Versöhnung durch den Kreuzestod Christi hervorhebt und schreibt:17 Die Lehre von der stellvertretenden Genugthuung und vollgültigen Versöhnungsthat Christi ist der eigentliche Schlüssel für das Verständnis des Grundartikels unseres evangelisch-lutherischen Glaubens […] von der Rechtfertigung allein aus Gnaden (1886a, 205).
Interessanterweise wird hier also die Rechtfertigungslehre selbst – diese Lehre, die in der neueren Theologie gerade als hermeneutische Kategorie charakterisiert worden ist18 – als noch eines Schlüssels bedürftig angesehen. Auf jeden Fall sei es durch die Auffassung des Versöhnungsgedankens bedingt, wenn alle „Verstandesmenschen und Werklehrer“ jener „Fundamentallehre“, i. e. dem Rechtfertigungsartikel, widersprechen und glauben, irgendwie aus eigener Vernunft und Kraft vor Gott gerecht werden zu können (ibid., 205f). Im dritten Teil werde ich diese Beobachtung19 wieder aufnehmen, hier ergänze ich sie noch durch einen Hinweis auf die explizite Auseinandersetzung von Oettingens mit Ritschls Umkehr der Reihenfolge der Begriffe „Versöhnung“ und „Rechtfertigung“. Wenn von Oettingen in seiner Christlichen Religionslehre den für die säch17 Obwohl von Oettingen den Begriff „Rechtfertigung“ in seinen Schriften üblicherweise auf das Wirksamwerden der Versöhnung im einzelnen Menschen bezieht, verwendet er den Begriff gelegentlich bezogen auf die Menschheit und das Christusereignis selbst. Er kann also von der Menschheitsrechtfertigung sprechen. Der Abschnitt über „Die evangelische Reichsgeschichte“ (1886a, 151–216), die das neutestamentliche Material systematisch organisiert darbietet und erschließt, ist viergeteilt: „Das Reich Gottes in der Person Jesu Christi, des gottmenschlichen Erlösers“; „Das Leben Jesu in seiner prophetischen Wirksamkeit (Stand der Erniedrigung)“; „Die Leidensgeschichte und das hohepriestliche Amt Jesu“; „Die Herrlichkeitsgeschichte und das königliche Amt Jesu“. 18 Vgl. Jüngel, Evangelium, 40–42. 19 Vgl. auch oben Kap. 9.
212
Weitere Explikationsformen der Theologie des Kreuzes
sische bzw. lutherische und schweizerische Reformation gemeinsamen Grundgedanken darstellt, ist dieser eben der Glaube „an die Versöhnung und Rechtfertigung in Christo, an die Vergebung der Sünde mit Auschluß alles menschlichen Verdienstes“, in dem „das zagende Herz Ruhe“ findet (ibid., 366). Auch hier werden also der Versöhnungsgedanke und seine Stellung vor dem Rechtfertigungsgedanken eigens benannt, wobei kurz danach derselbe Sachverhalt in einer kurzen Fassung derart wiederholt wird, dass der Versöhnungsbegriff in den Rechtfertigungsbegriff als dessen Voraussetzung impliziert ist: Beide Strömungen der Reformation hätten in gleicher Weise, obwohl sie ganz verschieden sind, den „Grundartikel[] von der Rechtfertigung allein durch den Glauben (sola gratia, sola fide)“ hervorgehoben (ibid.).
14.2.3 Die evangelisch-lutherische Kirche und ihre Theologie des Kreuzes Wenn von Oettingen zur Behandlung der Reformation Luthers gelangt, ist in mindestens zweierlei Hinsicht Überraschendes zu erfahren. Zum einen meint er – im Gegensatz zu der neueren Behauptung, die z. B. John Douglas Hall aufstellt, dass die Theologie des Kreuzes nämlich lediglich eine schmale Spur in der Geschichte der Kirche und Theologie darstelle20 –, die evangelisch-lutherische Kirche und die Theologie des Kreuzes ganz selbstverständlich miteinander verbinden zu können. Von der Reformation herkommend sei die evangelischlutherische Kirche, die ja keine neue, sondern eine genuin christliche, katholische und apostolische sein will,21 der Theologie des Kreuzes verpflichtet. Zum anderen scheint von Oettingen in der Tat – aller im 20. Jahrhundert geäußerten Kritik gegen die Identifikation von Rechtfertigungslehre und Theologie des Kreuzes zum Trotz22 –, beide als ganz nahe beieinander liegend zu betrachten: Aus der Tiefe der Gewissensnoth, aus ernster Buße und aus dem freudigen Glauben an die sündenvergebenden Gnade (als die väterliche Liebesgesinnung Gottes in Christo, dem gottmenschlichen Versöhner) ist die evangelisch-lutherische Kirche mit ihrer ,Theologie des Kreuzes‘ herausgeboren worden. – Die Rechtfertigung allein aus dem Glauben (articulus stantis et cadentis ecclesiae) stützte Luther auf den Felsengrund des göttlichen Wortes (Röm. 3, 28) (1886, 372).
Beachtenswert scheint mir, dass von Oettingen hier die Theologie des Kreuzes so selbstverständlich mit der lutherischen Kirche meint in Verbindung bringen zu können. Diese Behauptung ist tatsächlich bestrebt – wie es im Vorwort des Buches zum Ziel gesetzt wird – das Kirchenhistorische und das Systematische zu 20 Vgl. oben Kap. 1. 21 Vgl. oben Kap. 11f. 22 Vgl. z. B. Bayer, Luthers Theologie, 42.
Theologie des Kreuzes in Form dreier Grundlehren
213
integrieren. Für ihn ist die „lutherische“ Fassung des Grundartikels der Rechtfertigung diejenige, die sich als „Theologie des Kreuzes“ bezeichnen lässt.
14.3
Theologie des Kreuzes in Form dreier Grundlehren oder Prinzipien der evangelisch-lutherischen Theologie (1887)
Aus dem Zusammenhang einer intensiven und durch viele Beiträge sehr gut dokumentierten Debatte,23 die die „Evangelischen in den baltischen Landen und im weiten russischen Reiche“ (1887c, 414), Professoren und Pastoren, über die Bestimmung des Status der Heiligen Schrift und der Art ihrer Autorität geführt haben – an der jedoch auch der Rostocker Professor August Wilhelm Dieckhoff, sich gegen die Dorpater/Tartuer Professoren wendend, beteiligt war –, stammt ein Versuch von Oettingens zur erneuten Klärung des Fragekomplexes und zur Formulierung eines Grundkonsens, der in der Tat eine breite Zustimmung gefunden zu haben scheint.24 Dieses grundlegende Einverständnis, das von Oettingen in seinem „Wort zum Frieden“ (ibid., 409) bei den „Evangelischen in den baltischen Landen und im weiten russischen Reiche“ beobachten und feststellen zu können meint (1887c, 414, 413f), soll es ermöglichen, den die Glaubenseinheit nichttrennenden Charakter der strittigen Fragen, die er möglichst präzise zu benennen bemüht ist, einzusehen. Mit Blick auf sie sind die Differenzen in der Auffassung und Terminologie mit Geduld zu ertragen. Sie können freundlich und friedlich weitererörtert und diskutiert werden. Das Bemühen um gegenseitige Verständigung, um Vertiefung und Erweiterung des gemeinsamen Verständnisses, ist zwar nötig, muss dabei jedoch nicht die Unterschiede in diesen Fragen zu einer Verschiedenheit des Glaubens stilisieren. Den „Gegensatz in der theologischen Auffassungsweise“ sollte man hier nicht „zu einem Gesinnungsund Glaubensgegensatz aufbauschen“ (ibid., 411). Im Anschluss an die Thesen, die bei der Januarkonferenz von 1886 verabschiedet wurden, betrachtet von Oettingen die Schriftfrage von drei „Hauptlehrpunkten“ her (ibid., 413). Diese betreffen den persönlichen Glauben, das kirchliche Zeugnis und die göttliche Offenbarung. Auf ungefähr einer halben Seite fasst von Oettingen in einer Trias pointiert zusammen, worin seiner Ansicht nach „Glaubenseinigkeit […] besteht, oder aber gefordert und gefördert werden muss“ (ibid.). Diese „centralen Lehren unserer theuren evangelisch-luth[erischen] Kirche“ 23 Vgl. oben Kap. 7. 24 Vgl. den Bericht (1886b, 84), der u. a. Hinweise auf die Abstimmungen enthält; vgl. dazu auch die beiden sehr beachtenswerten Beiträge von Oettingens (1887a, bes. 197; 1887c, bes. 413f).
214
Weitere Explikationsformen der Theologie des Kreuzes
konzentrieren sich um ihr Materialprinzip, d. h. um die Rechtfertigungslehre oder sola fide, sola gratia, die die Basis für das richtige Verständnis ihres Formalprinzips bildet. Obwohl man in der Darstellung auch in umgekehrter Weise voranschreiten könnte (1887a, 198), geht von Oettingen vom persönlichen Glauben als einer gegenwärtigen Wirklichkeit aus. Zweitens hebt er das in und von der Kirche verkündigte Wort und die Sakramente hervor. Vom Glauben reden kann man also nur in Zusammenhang mit dem Vollzug der Bezeugung und Verkündigung des Wortes. Das Materialprinzip und das Formalprinzip werden so um die nota ecclesiae ergänzt. Das Zustandekommen des Glaubens ist ohne das fortlaufende Zeugnis der Kirche nicht zu denken. Drittens kommt das Formalprinzip der evangelisch-lutherischen Kirche hinzu: „das gottmenschliche Denkmal der auf Christum abzielenden […] Heilsoffenbarung“, das als „die […] Richtschnur kirchlichen Lehre und christlichen Lebens“, sowie als „die Hauptquelle kirchlicher Predigt“ beschrieben wird (1887c, 414). Die Aussagen über das Schriftverständnis werden mit Rücksicht auf die drei Momente formuliert, so dass von Oettingen auch sagen kann: Die versuchte Formulierung des Konsenses entspricht dem „Personalprincip, Kirchenprincip und Schriftprincip unserer evangelisch-lutherischen Theologie“ (ibid.). Für vorliegende Studie ist dies deshalb von direkter Relevanz, weil er der Auffassung ist, das so beschriebene Einverständnis drücke eine Bewährung der „rechte[n] theologia crucis im Sinne Luthers“ aus (ibid.). Im Zentrum dieses Denkens liegen die gegenwärtige Konstitution und die Existenz des Glaubens vom verkündigten Wort her, wozu notwendigerweise auch die Heilige Schrift gehört. M. E. kann man hier von einer Konzentration auf den Glauben und das (verkündigte) Wort sprechen (vgl. G. Ebeling), wobei in der Kategorie des Wortes auch die Gemeinde bzw. die Kirche mit ihrem Zeugendienst impliziert ist. Mit dieser Überzeugung von Oettingens hinsichtlich der drei Prinzipien der Theologie, die sowohl im zweiten Abschnitt als auch im dritten Teil der Untersuchung nähere Entfaltung finden werden, sind die Beobachtungen dieses Kapitels abschlossen. Insbesondere soll weiter verfolgt werden, in welcher Weise diese drei Prinzipien als eine „Bewährung“ der Theologie des Kreuzes gelten können. Doch habe hier die 12. These der Januarkonferenz von 1886 samt einer dazugehörigen Anmerkung das letzte Wort: Kirchliches Zeugnis […], persönlicher Glaube […] und Schriftautorität […] müssen in gesunder Weise zusammenstimmen, soll anders unserem Glauben an die rechtfertigende Gnade Gottes in Christo das evangelisch-lutherische Fundament gesichert sein. Anm. Es ist falsch und irreführend, irgend eines dieser drei zusammengehörenden Momente auf Kosten der anderen zu betonen, mag man nun mit der römischen Kirche die Tradition, mit der reformierten Kirche die heil. Schrift oder mit den Schwarmgeistern die persönliche Erfahrung (das innere Licht) zur entscheidenden Grundlage des Glaubens machen. (1886b, 87).
Einleitung
15.
Zum Verständnis der Theologie des Kreuzes – die göttliche Selbstbeschränkung
15.1
Einleitung
215
In Kap. 11 habe ich von Oettingens Vergegenwärtigung der theologia crucis im Jahr 1859 (vor allem) aus der Heidelberger Disputation Luthers in Erinnerung gerufen. Genau 35 Jahre später setzt sich von Oettingen erneut ausführlicher mit der theologia crucis Luthers auseinander. Er versucht 1894 auf der Januarkonferenz im Anschluss an 2Tim 1, 8 einen Beitrag „,zum Verständnis der Theologie des Kreuzes‘ im Sinne Luthers“ zu liefern (1895b, 5). Die Leitsätze, die er als Grundlage für seinen Vortrag und für die nachfolgende Diskussion formuliert hatte, waren von ihm auf der Basis ihrer gemeinsamen Besprechung verbessert und veröffentlicht worden.1 Der Vortrag selbst ist zwar nicht publiziert worden, aber er diente mit hoher Wahrscheinlichkeit als Vorlage für die Auseinandersetzung mit Luther in der Schrift Das göttliche „Noch nicht!“ unter der Überschrift „Das göttliche ,Noch nicht‘ im Zusammenhang mit Luthers ,Theologie des Kreuzes‘“ (19–28).2 Etwa aus der gleichen Zeit stammt eine Aufsatzreihe, die ab Frühjahr 1894 in der Neuen Kirchlichen Zeitschrift in vier Heften unter dem Titel „Das göttliche ,Noch nicht!‘“ erschienen ist. Beabsichtigt war damit „ein Beitrag zu der leider so sehr vernachlässigten Lehre vom Heil[igen] Geist“ (19). Von Oettingen bringt diese Arbeiten in etwas erweiterter und modifizierter Gestalt in dem schon erwähnten gleichbetitelten Buch Das göttliche „Noch nicht!“. Ein Beitrag zur Lehre vom Heiligen Geist zusammen. Diese Abhandlung kommt zu einer Zeit heraus, in der er „mit dem Abschluss einer ,Christlichen Dogmatik vom Standpunkte der Lutherschen Theologie des Kreuzes‘ beschäftigt“ ist und der Öffentlichkeit „ein vorläufiges Programm [s]einer – [er] möchte sagen staurozentrischen – Dogmatik“ vorzulegen bezweckt (3, vgl. 11, 26). In diesem Kapitel will ich zunächst etwas näher auf seinen Beitrag zum 1 Erschienen sind sie zunächst im Märzheft der Zeitschrift Mittheilungen und Nachrichten für die evangelische Kirche in Rußland. Mit Ausnahme der vier exegetisch begründenden Thesen sind die übrigen jeweils vier Thesen, die eine dogmatisch-ethische Darlegung und eine Behandlung praktischer Konsequenzen enthalten, ein Jahr später in von Oettingens dogmatischer Programmschrift Das göttliche „Noch nicht!“ bei der einführenden Beschreibung der Genese dieser Schrift und ihrer Grundgedanken wieder abgedruckt worden (1895b, 5–10). Diese letztere Schrift dient mir in diesem Kapitel als Hauptquelle; ich verweise darauf nur mit einer Seitenzahl. 2 Dafür spricht u. a. der Hinweis, dass in den Thesen der „Gedanke der mitleidenden Liebe Gottes“ im Vordegrund gestanden hat, in der dogmatischen Entfaltung aber „die erbarmende und zur Leidenswilligkeit erziehende Langmut des sich selbst beschränkenden Gottes […] den roten Faden“ gebildet hat (5).
216
Zum Verständnis der Theologie des Kreuzes
Verständnis der Kreuzestheologie während der Januarkonferenz eingehen, dann die Grundzüge seiner direkten Vergegenwärtigung von Luthers Theologie und deren Beziehung zum göttlichen „Noch nicht“ aufzeigen und zuletzt dieses kleine Buch über die Pneumatologie besprechen, ausgehend von der speziellen Frage, wie es als Programm einer kreuzestheologischen „Glaubenslehre“ (11) betrachtet werden kann.
15.2
„Leide dich mit dem Evangelio“ (2Tim 1, 8): zum Verständnis der theologia crucis (1894)
15.2.1 Zum Leiden der baltischen evangelischen Kirche – eine kleine Konkretisierung Der Gegenstand der Thesen ist nicht die Erörterung und Darstellung der theologia crucis Luthers z. B. in der Heidelberger Disputation. Es geht nicht um die Erforschung der Theologie Luthers nach ihrem eigenen Recht, sondern vielmehr um eine prinzipielle, aber auch sehr praktische Sachfrage, deren Behandlung als „im Sinn“ seiner Theologie des Kreuzes erfolgend behauptet und beansprucht wird. Es geht um das Leiden, und darum, wie man es als Christ und als Kirche versteht und wie man sich dazu verhalten kann bzw. soll. Die konkrete Erfahrung, auf die von Oettingen direkt Bezug nimmt und die die Themenstellung wohl auch veranlasst haben könnte, ist verbunden mit der Lage „unserer schwer geprüften baltischen Landeskirche“ (7).3 Hingewiesen wird damit auf das komplexe Phänomen der sog. Russifizierung in den Ostseegouvernements des Russischen Reiches im 19. Jahrhundert, wodurch die jahrhundertlange Herrschaft des lutherisch und deutsch geprägten baltischen Adels immer mehr ins Wanken kam.4 Dieser unter Historikern heute nicht unbestrittene Begriff wird hinsichtlich des Gebietes des heutigen Estlands besonders mit der Herrschaftsperiode von Kaiser Alexander III. (1881–1894) in Verbindung gebracht. Es ist nicht notwendig, dass ich hier auf die Frage der Nationalitäten und die Bestrebungen für (mehr) Rechte, v. a. der sog. nationalen Erweckung unter den Esten und Letten, die den bei weitem überwiegenden Anteil der lokalen Bevölkerung bildeten, eingehe. Es reicht aus zu konstatieren, dass sich die bisher gesicherte und stabile Position der lutherischen Kirche, zu der auch fast die ganze (alt-)einheimische Bevölkerung gehört hatte, im Laufe des 19. Jh. deutlich verschlechterte. Die Gesetzgebung und andere staatlicher3 Auf Seite 8 (Anm. 1) spricht von Oettingen von „uns Balten“, die „wir unter der Last einer ecclesia pressa seufzen“ und berschreibt die Situation als eine „Zeit der Heimsuchung und Anfechtung“ (vgl. 49). 4 Vgl. oben Kap. 3.
Zum Verständnis der theologia crucis
217
seits vollzogene Schritte zugunsten der orthodoxen Staatskirche brachten es z. B. mit sich, dass in den 80er Jahren fast zwei Drittel der evangelischen Geistlichkeit irgendwann und in irgendeiner Weise wegen der unerlaubten Art pastoraler Versorgung bestraft worden war – teilweise sehr hart: z. B. mit einer Zwangsversetzung in andere Gebiete des Reiches oder gar mit einer Gefängnisstrafe.5 Obwohl es selbstverständlich nicht richtig ist, die Wahrnehmung der lutherischen Kirche und ihrer damaligen Lage nur auf die Perspektive der kleinen Oberschicht deutscher Herkunft zu reduzieren, spielte die letztere auf jeden Fall im Leben der Kirche eine führende Rolle.6 Die Schritte, die in Richtung der Nivellierung der bisherigen vom lokalen Adel bestimmten Sonderstellung der baltischen Gouvernements gingen und in deren Zug etwa die Positionen der russischen Sprache und der orthodoxen, der sog. russischen Kirche, sich verstärkten, betrafen deshalb auch direkt die Position der evangelischen Kirche und wurden von Oettingen zufolge von „allen Balten“7 schmerzhaft gelitten. Im akademischen Zusammenhang wurde z. B. die deutschsprachige Universität Dorpat 1889 in Kaiserliche Universität Jurjew umbenannt. Ab 1895 wurde der gesamte Lehrbetrieb russischsprachig, so dass nur in ihrer Theologischen Fakultät die evangelische Theologie weiterhin auf Deutsch gelehrt werden durfte bzw. musste (nicht zuletzt um die Wirkung der Lehre im russisch-sprachigen und orthodoxen Kaiserreich Russlands in Grenzen zu halten). Für den geschichtlichen Hintergrund der Entstehungszeit der Thesen sind aber auch die spannungsreichen Auseinandersetzungen der Kirche mit der Herrnhuter-Bewegung, die besonders unter der Landbevölkerung populär war, aber eben auch die massenhaften z. T. politisch bedingten Konversionen zur Orthodoxie, dem Glauben des „Kaisers“, bes. in den 1840er Jahren, und die daraus resultierenden Komplikationen, wenn danach wieder der Anschluss an die lutherische Kirche gesucht wurde (vgl. 1859a, 12), zu berücksichtigen.
5 Vgl. die kleine Studie zu Konversion und Rekonversion in Livland von Maximilian Stephany (Stephany, Konversion). 6 In der populären Wahrnehmung der mehrheitlichen lutherischen Landbevölkerung estnischer Herkunft ist die lutherische Kirche eine Kirche der Deutschen, d. h. der Herrn gewesen (die beiden Worte haben auf Estnisch sogar den gleichen Stamm). 1899 hat der estnische Journalist und Pädagoge Ado Grenzstein (in der deutscher Sprache) eine sehr einflussreiche Schrift zu diesem Thema verfasst: Herrenkirche oder Volkskirche? Eine estnische Stimme im baltischen Chor. 7 Vgl. zu dieser Bezeichnung: Jansen, „Baltlus“.
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Zum Verständnis der Theologie des Kreuzes
15.2.2 Eine Vergegenwärtigung der „Theologie des Kreuzes“ angesichts der Erfahrung des Leidens und des Streites in der Welt Das Leiden sei theologisch zunächst – vom Gesetz Gottes her – als Folge der Sünde zu verstehen. Sein Sinngehalt enthalte somit sowohl die Dimension „satanischer Machtentfaltung“, womit auf den Ursprung der Sünde bzw. des Leides verwiesen ist, als auch einen Aspekt der Strafe. Sie sei „bußfertig“ zu erkennen „als vorläufiges Strafgericht […] über die sündige Menschheit“ (5). Die Erfahrung des Leidens wird auf diese Weise mit der Sündenerkenntnis in Verbindung gebracht. Doch lasse sich das Leiden zugleich – auf der Basis des ewigen Heilsratschlusses, der in der Heilsökonomie vollzogen und ersichtlich wird – als ein Erziehungsmittel Gottes betrachten. Insofern hat der Strafcharakter des Leidens einen vorläufigen bzw. untergeordneten Sinn. Dass der pädagogische Charakter eine positive Zielrichtung hat, kommt durch den Hinweis auf den Heilsratschluss zum Ausdruck. Ganz deutlich wird das mit Blick auf das Evangelium. In der Kraft des Evangeliums bzw. in der Schule des Heiligen Geistes wird das Leiden zum notwendigen Mittel, an dem der Glaube (das Gottvertrauen) sich als Glaube zu bewähren und womit er – um Glaube zu bleiben – zu kämpfen hat. Das Leiden gewinnt für den Christen den Sinn vom „Kreuz“: Es ist zum einen ein Mittel zur Glaubenserziehung („ein notwendiges Bewährungsund Kampfesmittel“), gleichzeitig aber „ein gnadenreich Zeugnis göttlicher Langmut und Geduld“ und somit „eine Vorbedingung allendlicher Herrlichkeit für den […] Streiter Christi“ (6). Ich fasse zusammen: Das Leiden ist aus der Perspektive des Gesetzes eine Folge der Sünde und eine Strafe, aus der Perspektive des Evangeliums jedoch zugleich ein pädagogisches Mittel zum Zweck des Heils, sowie ein Zeichen der gnädigen Geduld Gottes. Die Situation der Christen sei somit eine Situation des Konflikts, eine Situation des Streites, in der sie unter den Folgebedingungen der Sünde leidend und aus der Gewissheit ihrer Vergebung damit kämpfend – sich also zugleich unter den Bedingungen des erzieherischen Wirkens des Heiligen Geistes befindend – zur eschatologischen Herrlichkeit hin unterwegs sind. Wie kommt hier das Kreuzestheologische explizit zum Tragen? Ohne das Verständnis der Sünde und dies in ihrer Tiefendimension, ihrer satanischen Tiefe, kann „es keine wahre Theologie des Kreuzes geben“ (ibid.). Doch gelte, dass diese Tiefe der Sünde erst in der Schule des Heiligen Geistes erkannt wird. Diese Einsicht in die wahre Sündenerkenntnis vom Evangelium her ist für von Oettingens Denken typisch. Bemerkenswerterweise formuliert er das hier jedoch in umgekehrter Gestalt, allerdings speziell von der „Kreuzeserfahrung des Christen“ redend: Die Bedingung dafür, dass man im Leiden das persönliche Wirken des Heiligen Geistes wahrzunehmen vermag, ist das Verständnis für den „persönlichen Urheber alles Sündenelends“ (6). Unter dem Gegensatz des gegenwärtigen Leides,
Zum Verständnis der theologia crucis
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des Elends und des Todes, ist Gott (der Heilige Geist) auf sein Ziel hin (erzieherisch) wirksam. Im Licht des Evangeliums wird er in der Leidens- bzw. Kreuzeserfahrung der Christen erkennbar als in seiner Langmut und Geduld, in seiner Gnade, gegenwärtig. Nach dieser theologischen Deutung des gegenwärtigen Phänomens des Leidens (als Sündenfolge, als Erziehungsmittel, als Ausdruck göttlicher Geduld) und nach einer solchen Bestimmung seiner Sinnaspekte im Zusammenhang mit Gott, wird in ontologischer bzw. schöpfungstheologischer Hinsicht festgestellt, es sein ein Ausdruck der „gottesbildliche[n] Hoheit“ des Menschen, dass er überhaupt leidensfähig ist, d. h. leiden kann. Darin zeige sich des Menschen Unterschied von anderen Naturwesen. In seiner Willigkeit zu leiden, im Gegensatz zu der natürlichen Scheu davor, bezeuge sich wiederum „die gotteskindliche Demut“ des Menschen. Also: Die Leidensfähigkeit gilt hier als eine Grundbestimmung des Menschen und seine Leidenswilligkeit als eine Beschreibungsweise des auf Gott vertrauenden Menschen. Die Reichsgemeinde Jesu sei jedoch nicht nur durch die Fähigkeit und Willigkeit zu leiden, sondern auch durch die gemeinsame Freudigkeit dazu charakterisierbar : „In der gemeinsamen Leidensfreudigkeit […] bewährt sich die Herrlichkeit ihres Hauptes, des gekreuzigten und verklärten Christus.“ (Ibid.) Dass die Gemeinde des Gekreuzigten und Verklärten sich sogar des Leidens freut – diese ihre gemeinsame Freude inmitten des Leides bzw. unter dem Gegensatz, diese kontrafaktische Freude – das sei durch ihre Gemeinschaft mit Christus bedingt und von seiner Herrlichkeit her zu verstehen. Wiederum: Worin besteht hier explizit das Kreuzestheologische? Die Theologia crucis ist eine Theologia lucis. Durchs Wort vom Kreuz und durch die eigene Kreuzeserfahrung wird uns armen, verlorenen Sündern der Gott des Heils und der Gnade erst lichtvoll und faßbar in beseligender Glaubensgewißheit. (Ibid.)
Also: Durch das Wort vom Kreuz Christi in Verbindung mit der eigenen Erfahrung des Kreuzes wird Gott erkennbar als Gott des Heils und der Gnade. Anders formuliert: Durch das Kreuz – durch das Kreuz (Leiden) Christi und inmitten des eigenen Leidens – wird Gott (für die Augen des Glaubens) sichtbar. Im Leiden bzw. im Gegenüber zum armen Sünder wird er als rettender Gott des Heils sichtbar. Das Woher dieser Leidensfreudigkeit ist das Evangelium, das „lebendige[] Zeugnis von der durch den leidenden und verherrlichten Christus uns erworbenen und dem Glauben zugesagten Gerechtigkeit“ (6). Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Mitteilung einer Information: Es ist vielmehr eine Selbstzusammenfassung oder Selbstkonzentration jener Kraft Gottes für uns bzw. zu unserem Heil, die „aus der mitleidenden Liebe des Vaters quillt“ und die „sich […] fort und fort kund gibt in der herablassenden Leidenswilligkeit und er-
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Zum Verständnis der Theologie des Kreuzes
zieherischer Heiligungsarbeit Gottes, des Heil. Geistes, innerhalb der Kreuzgemeinde Christi“ (ibid.). Was ist hier das Kreuzestheologische? Für von Oettingen besteht ein grundlegender Zusammenhang zwischen dem Kreuz Christi und der Erkenntnis Gottes als des Dreieinigen. Kreuzestheologie ist im Kern Trinitätstheologie: Der dreieinige, im Kreuz Christi und im Wort von der Versöhnung offenbar werdende Gott des Erbarmens ist der Kernpunkt der Theologie des Kreuzes. (Ibid.)
Gott, der im Kreuz Christi und im Evangelium offenbar wird, ist also der dreieinige Gott. Dieser ist Gott des Erbarmens, Gott des Heils, Gott der Gnade. Von Oettingen greift zurück auf die Antithetik zwischen „Theologie des Kreuzes“ und „Theologie der Ehre“ und auf die Denkfiguren aus seinem Traktat von 1859. Er beschreibt die „Theologie des Kreuzes“ als eine Theologie, die auf der heilsgeschichtlich fortschreitenden Selbstbezeugung Gottes beruht (deshalb auch „Theologie der Thatsachen“) – „im Kreuz und Leiden“ offenbart sich der „lebendige Gott des Heils“ (6f). Ihr Gegensatz ist die „Theologie der Ehren“, die „auf menschlich vornehmer Speculation“ beruht (deshalb auch „Theologie der Rhetorik“), und „Gottes absolutes Wesen in seiner verborgenen Majestät und Glorie zu erfassen“ beansprucht (ibid.). Wenn das (Wort vom) Kreuz bzw. das Evangelium im Zentrum steht, dann geht es also um Gott als den Dreieinigen oder als Gott des Heils. Vom Kreuz abstrahierend bzw. von dem Absoluten spekulierend gelange man dagegen zu keiner wahren Gotteserkenntnis. Bewegte sich der zweite Gedankenkreis um den Menschen im Gegenüber zum Leiden und der dritte Gedankenkreis um das Evangelium bzw. um das Wort vom Kreuz und Gott, wie er sich im Leiden bezeugt, so präzisiert der letzte Gedankenkreis in höchst interessanter Weise, welchen Charakter das Leiden der Christen, das Leid von den „Gliedern der Kreuzgemeinde Christi“, hat (7). Einerseits sei ihre Passion niemals nur „Leidentlichkeit“ im Sinn von Passivität, von „Duldsamkeit um jeden Preis“. Ein solches Urteil sei vielmehr „falsche Toleranz oder resignierte Indifferenz“ (ibid.). Andererseits könne man sie auch nicht als Leidenschaftlichkeit, also als „gesuchtes oder selbstverschuldetes Martyrium“ verstehen. Das sei „falscher Eifer oder fanatischer Rigorismus“. Das Leiden der Christen lasse sich also weder im geläufigen Sinn als Dulden bzw. Toleranz noch als Eifer bzw. Fanatismus deuten, sondern fordere ein drittes Verständnis: Es sei aufzufassen als „lebendiges Zeugnis“ – als Zeugnis „der durch den heil. Geist wiedergeborenen, bis ans Ende leidenswillig ausharrenden Streiter Jesu Christi (2. Tim. 2.2ff)“ (7). Das Leiden der Christen hat Zeugnischarakter, so wie die Kreuzesgemeinde Christi eine Zeugnisgemeinschaft ist. Es ist das Zeugnis derer, die von der Gewissheit und der Hoffnung getragen werden: „Durch Tod zum Leben, durch Kreuz zur Krone, als die Sterbenden und siehe wir
Zum Verständnis der theologia crucis
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leben (2. Kor. 6.9!)“ (ibid.).8 Auch hier beansprucht von Oettingen ausdrücklich eine kreuzestheologische Einsicht hervorzuheben: Die ,Theologie des Kreuzes‘ als eine theologia viatorum – d. h. als Gotteserkenntnis der kreuztragenden Pilgrime, die da wissen, daß ihre Erkenntnis hier auf Erden Stückwerk bleibt – verbürgt uns Erdenpilgern die zuversichtliche Hoffnung einer schließlichen theologia beatorum, d. h. nicht der ruhmsüchtigen und eigenwilligen theologia gloriae, sondern jener wahren, vollendeten Gotteserkenntnis, wo das Glauben ins Schauen übergehen soll, und wir ihn, den Herrn, erkennen werden wie wir von ihm erkannt sind. Dann wird das bisherige göttliche ,Noch nicht‘ – die zuwartende Geduld und Selbstbeschränkung Gottes – im vollen Licht der Herrlichkeit uns verständlich werden und dem ewigen ,Heute‘, der lebendigen Gegenwart des vollendeten Gottesreiches, Raum geben. (Ibid.)
Das Leiden der Christen und der Kirche ist kein indifferentes Dulden, aber auch keine ungeduldige und rigorose Konfrontation, sondern ein Zeugnis derer, die leidenswillig von der eschatologischen Erfüllung her leben und auf sie hin unterwegs sind. Ihre Gotteserkenntnis bleibt fragmentarisch – ist keine vollkommene und absolute Erkenntnis –, aber insofern die gegenwärtige Situation von der Geduld und Selbstbeschränkung, vom Mitleiden Gottes her, d. h. als ein göttliches Noch-Nicht, verstanden wird, impliziert sie die Aussicht auf die Ankunft des vollendeten Gottesreiches. Das eschatologische Licht der Herrlichkeit wird dann auch den Weg der „kreuztragenden Pilgrime“ und ihr Leiden, als einen Weg mit Gott sichtbar und verständlich machen. Jetzt ist es noch ein Weg des Glaubens, der inmitten des Leides Gott (als verborgen) gegenwärtig und am Werke „sieht“– eine Bewegung auf das verheißene und gehoffte Ziel hin. Auf die Theologie des Kreuzes hin zuspitzend fasse ich das Gesagte folgendermaßen zusammen: (1) Theologie des Kreuzes ist, aus der Perspektive des Gesetzes, eine Theologie der Sünde bzw. des Sünders, d. h. eine Gotteserkenntnis, die mit der Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder – als einer Sinndimension in seiner Leidens- bzw. Kreuzeserfahrung – zusammenhängt. (2) Theologie des Kreuzes ist Theologie des Lichts, sofern das Wort vom Kreuz Christi die eigene Kreuzeserfahrung in einem neuen Licht erfahren lässt, so dass auf Grund des Evangeliums Gott „im Ort“ des eigenen Lebens und Leidens erkannt wird als Gott des Heils und der Gnade (i. e. die beseligende Glaubensgewissheit auch inmitten des Leidens). (3) Theologie des Kreuzes gründet sich auf der heilsgeschichtlich fortschreitende Selbstbezeugung Gottes und hat den dreieinigen Gott des Erbarmens und der Gnade, so wie er im Leiden und Kreuz Christi und im Wort vom Kreuz als im Wort von der Versöhnung offenbar wird, als inhaltlichen Kern (Gott wird in seiner Selbstkonzentration für 8 Vgl. oben Kap. 13.
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Zum Verständnis der Theologie des Kreuzes
uns im Leiden, im Kreuz und in den Gnadenmitteln erkannt). (4) Theologie des Kreuzes ist eine Theologie der „kreuztragenden Pilgrime“ und als solche das Rückgrat der zuversichtlichen Hoffnung auf eine künftige Theologie der Seligen, wenn die Signatur des gegenwärtigen Zeitalters, das göttliche „Noch nicht!“, durch die des ewigen „Heute“, durch die vollendete Präsenz des Reiches Gottes ersetzt worden ist. Kurz: Theologie des Kreuzes ist Theologie der Hoffnung. Die von der Januarkonferenz einstimmig verabschiedeten Leitgedanken beinhalten die Deutung der „Leidensaufgabe“ der „schwer geprüften baltischen Landeskirche“ im Zusammenhang mit dem göttlichen Noch-Nicht, das – wie von Oettingen offen eingesteht – „uns [Balten] mitunter schwer“ bedrückt, weil es „der Ungeduld des natürlichen Menschen“ unverständlich ist (7).9 Gemeinsames Leiden und Mitleiden mit dem Evangelium bzw. mit Christus (vgl. 2Tm 1, 8ff; Kl 1, 24) statt einsames und hoffnungsloses Leiden! Letzteres sei ein „Vorgefühl der Verdammnis“ und mache „die schuldbewußten Sünder verzagt“ (8). Das Erstere dagegen sei „Vorgeschmack der Seligkeit“ und mache „die begnadigten Gotteskinder stark für alle Leidenskämpfe der Gegenwart“ (ibid.). Durch die einsame und gemeinsame Leidenserfahrung vertiefe Gott das Schuldbewusstsein der Christen und befestige die Glaubensgemeinschaft am Evangelium (2Tm 1, 8). Eben, weil durch die Erfahrung des Leides, „in der Hitze des Trübsal“, die kirchlich-konfessionelle Gemeinschaft – via Vertiefung der Sündenerkenntnis und Hinführung zum Evangelium – von Gott zusammengefegt und -geschweißt werde, gebe es Grund, ihm dafür zu danken, statt zu murren und zu verzagen. Im persönlichen und amtlichen Gesamtzeugnis, das ein Zeugnis in der Kraft Christi ist, sollte sich zunehmend der göttliche Geist der Kraft, nicht der böse Geist „der Furcht […] oder des leidenschaftlichen Eifer[s]“, bewähren (9). Die Kreuzeserfahrung lehrt deshalb im spannungsreichen Gegenüber zu den anderen kirchlich-konfessionellen Gemeinschaften – z. B. der orthodoxen Kirche –, inmitten der Zusammenstöße, um den Geist der Liebe und Besonnenheit zu bitten. Im Zeugnis des Evangeliums bewähren sich die Kraft Christi und die Kraft des Heiligen Geistes. Die Kraft des Martyriums, die Zeugnisgabe: darauf setzt von Oettingen. In der Kreuzeserfahrung gibt es kein Schweigen aus Furcht, aber auch keinen fanatischen Aktionismus bzw. Rigorismus, sondern die Bitte um Liebe und Besonnenheit im Martyrium. Die „Duldsamkeit und Freudigkeit des Bekenntnisses zu Christo“, die sich so in der Leidenserfahrung bewährt, soll deshalb auch alle irenischen Unionsten9 Sie bringen auch zum Ausdruck, wie sie sich „gemeinsam trösten und der erlösenden Zukunft harren, ja der festen Zuversicht leben: Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl.“ (7f).
Zum Verständnis der theologia crucis
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denzen auf konfessionellem Gebiet tragen. Sie soll der Verteidigung (der konfessionsspezifischen Auffassung) der schriftgemäßen Lehre, sowie der Verkündigung, mit Fokus auf der Passion Christi und auf dem Wort von der Versöhnung, Basis bilden und Halt geben. Das Bekenntnis zu Christus ist duldsam und freudig. Die Verkündigung des Evangeliums ist duldsam und freudig, auch inmitten des Leidens. So, und nicht mit Fanatismus und Indifferentismus bzw. Passivismus, ist man treu gegenüber dem „uns anvertrauten Gnadengut des teuerwerten, evangelisch lutherischen Bekenntnisses“ (9). Und, indem wir als Kämpfer der ecclesia militans an der echt Lutherschen ,Theologie des Kreuzes‘ –gegen alle romanisierende und schwarmgeistig-reformierte ,Theologie der Ehren‘ – treu festhalten, schauen wir – im Bewußtsein des göttlichen ,Noch nicht!‘ – sehnend aus nach der theologia lucis beatorum in der ecclesia triumphans, und ,halten es dafür, daß dieser Zeit Leiden nicht wert sei der Herrlichkeit, die an uns soll offenbart werden‘ durch die allendliche sichtbare Erscheinung Jesu Christi, zur Aufrichtung seines Herrlichkeitsreiches auf Erden (vgl. Röm. 8, 17ff.; 2.Kor. 4,17; Phil. 3, 20; Tit. 2, 13; 1. Thess. 4, 15; 1. Kor. 13, 12; 1. Joh. 3, 2f.). (Ibid.)
Anhand des Zitates lässt sich nachvollziehen, dass von Oettingen und die anderen Teilnehmer der Januarkonferenz – ob zu Recht oder Unrecht, sei dahingestellt – der Ansicht waren, dass „Theologie des Kreuzes“ und „Theologie der Ehren“ auch auf etwas Unterscheidendes zwischen den Konfessionen hinweisen. (Ein erläuternder Hinweis dafür kann dem nächsten Unterabschnitt dieses Kapitels entnommen werden.) Es muss betont werden, dass die konfliktreiche alltägliche Begegnung der Konfessionen am Ende des 19. Jh. vor Ort das Zusammenleben der lutherischen und orthodoxen Christen betraf, obwohl die Staatskirche des Russischen Kaiserreiches, i. e. die orthodoxe Kirche, mit der man tatsächlich Kollisionen hatte, im Text nicht direkt benannt wird bzw. werden konnte. Von Oettingens Hervorhebung der „mitleidenden Liebe und [des]Langmut[s] Gottes des Vaters“, des „thatsächliche[n] und fortwährende[n] ,Mitleiden[s]‘ Christi mit seiner Kreuzgemeinde“ und der „Leidensfähigkeit und Leidenswilligkeit des Heiligen Geistes“ hat auf der Januarkonferenz zu gegensätzlichen Reaktionen zur Folge geführt (9f). Diesbezügliche Grundgedanken bestritten einige Teilnehmer ausgehend von der Tradition der lutherischen Dogmatik des 16.–17. Jh. Andere äußerten sich hingegen unterstützend. Von Oettingen behauptet ein Mitleiden Gottes – des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Ich hebe aus dem Zusammenhang der Gedanken von Oettingens hervor, dass das Leiden und Sterben Jesu „als ein Gottes-Leiden und Gottes-Sterben versöhnende und welterlösende Bedeutung gewinnt“ (11) und dass der Heilige Geist seine bezeugende und erzieherische Tätigkeit nicht wie eine erdrückende Naturmacht vollzieht, sondern den Menschen befreit und überzeugt. „Und ist es
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Zum Verständnis der Theologie des Kreuzes
nicht der Heil. Geist, der mit unserem Elend Mitgefühl und Mitleid hat, wenn er uns vertritt ,mit unaussprechlichem Seufzen‘ und aus unserem Herzen das: ,Abba, lieber Vater‘ schreit?“ (Ibid.) Diese Kontroverse während der Konferenz veranlasste von Oettingen dazu, eingehend Rechenschaft über die Gründe seiner staurozentrischen bzw. kreuzestheologischen Glaubenslehre abzulegen. Bevor ich seinen kleinen Beitrag zur Pneumatologie als eine Art Ansage seiner dogmatischen Gesamtdarstellung kurz interpretiere, möchte ich noch zeigen, in welcher Weise er in seinem Referat bei der Januarkonferenz von 1894 Luthers Theologie konkret verstanden hat, und wo seines Erachtens diesbezüglich einerseits mehr Konsequenz, andererseits eine modifizierende Weiterentwicklung erforderlich sind.
15.3
Luthers Theologie (des Kreuzes) und das göttliche „Noch nicht!“
Von Oettingen interpretiert die Theologie Luthers auch an dieser zweiten Stelle in seinem Gesamtwerk (1895b, 19–28), an der er sich etwas eingehender mit ihr auseinandersetzt, von Luthers „Kreuzestheologie“ her (20). Er vertritt zudem die These, dass jene zu der Vorstellung einer „Selbstbeschränkung“ Gottes verpflichtet sei.10 Auf eben jenen Gedanken der Selbstbeschränkung Gottes, darauf, „daß unser Herr ein Gott der Langmut und Geduld, der herablassenden Barmherzigkeit und mitleidigen Liebe ist“ (ibid.) als den Grundgedanken der Kreuzestheologie, will er die Leser aufmerksam machen und sie dafür sensibilisieren. 15.3.1 Kreuzestheologie als wahre Theologie – spekulative Theologie als Anti-Theologie Ich fasse die prinzipiellen Ausführungen von Oettingens, die sich aus mehreren Quellen speisen, d. h. sich auf verschiedene Äußerungen Luthers beziehen und 10 Zwei allgemeinere Erwägungen, die von Oettingens Umgang mit Luther betreffen, sind folgende: (1) Aus Luthers „Theologie des Kreuzes“ könne man viel lernen; sogar daraus, worüber er sich geirrt hat oder einseitig gewesen ist. (2) Das Ziel solle sein, „ihn [i. e. Luther – T.-A.P.] in seiner Ganzheit zu verstehen und zu würdigen“. Die Art, in der Luther „nach Herrmannscher [i. e. Wilhelm Herrmann (1846–1922) – T.-A.P.] Schablone heutzutage von den modernen Theologen jener [i. e. Ritschlscher – T.-A.P.] Schule zugestutzt und verstümmelt wird“ (19), ist deshalb zurückzuweisen. Von Oettingen verweist dankbar auf Arbeiten von J. Köstlin und Th. Harnack, sowie von Theodor Kolde (1850–1913; Martin Luther. Eine Biographie, 2 Bd., 1884/1893). In diesem Abschnitt bezieht von Oettingen sich ausdrücklich, auch zitierend, auf die Resolutionen zu den 95 Thesen, die Erläuterungen zu den Heidelberger Thesen (Walch, Bd. XVIII, 77ff, 495ff), desweiteren auf mehrere Stellen in den Tischreden (im Bd. XXII), sowie auf De servo arbitrio.
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nicht zuletzt deshalb auch gewisse Spannungen enthalten, in einigen Punkten zusammen. Erstens, die grundlegende Einsicht Luthers hinsichtlich der Erkenntnis Gottes lautet positiv : Gott ist im Gekreuzigten11 zu suchen und zu finden, weil eben „der für uns leidende Gott“ der wahre Gott, der Gott der Gnade, ist (20).12 Das Kreuz (Christi) ist der Ort der Erkenntnis bzw. der Offenbarung Gottes. Dort ist der gnädige Gott zu finden. Da liegt die Quelle der wahren Theologie. Die falsche Theologie versucht hingegen, Gott in seiner Majestät, in seiner Hoheit und Größe, zu begreifen. Sie ist eine Theologie der Ehren, eine vom Kreuz und Leiden Christi abstrahierende spekulative Theologie,13 eine Theologie der Vernunft. Eine solche Theologie geht von einem „absolutistischen Gottesbegriff“ aus (22). Luthers Gegner – „Schwarmgeister wie Römer“ (ibid.)14 – unterscheiden sich von ihm letztendlich durch ihre spekulative Theologie, i. e. dadurch, dass sie „nach der Theologie der Ehren, Gott in seiner Majestät begreifen und erkennen wollen“ (ibid.). Beide sind also einem irrtümlichen Gottesverständnis verpflichtet. Bevor ich dazu zurückkomme, wie von Oettingen zufolge diese Gefahr des Spekulierens auch bei Luther selbst durchaus zu beobachten und folglich zu kritisieren ist, müssen noch einige weitere von von Oettingen hervorgehobene Züge knapp beschrieben werden. Zweitens: Durch das fröhliche Finden der Gnade Gottes bzw. des gnädigen Gottes in Christus kommt die Gewissheit des Glaubens, „die beseligende Gewissheit“ der „Gotteskindschaft“ (21) oder „die freudige Glaubensgewissheit des begnadigten Sünders“ zustande (22). Die Gotteserkenntnis ist also innerlich mit der Selbsterkenntnis des Menschen verbunden. Insofern ist die Zielrichtung der theologia crucis eben dieser Glaube (mit dem der Mensch dem gnädigen Gott respondiert). Kreuzestheologie bezeichnet, ich hebe es um der Klarheit willen hervor, in jenen Ausführungen Luthers und von Oettingens sowohl den Vollzug der Gotteserkenntnis (i. e. die Praxis der Kreuzestheologie), als auch die Beschreibung ihrer Methode und somit die Anleitung dazu (i. e. die Lehre von der Kreuzestheologie), z. B. so: Gott ist „,im Kreuz und Leiden‘, in der ,Niedrigkeit‘, mit einem Worte: in dem gekreuzigten und auferstandenen Christus zu suchen und zu finden“ (22).15 11 Oder : „in dem gekreuzigten Christus“ (20), „in Christo“ (21), „in dem gekreuzigten und auferstandenen Christus“ (22). 12 Er ist „der ,gnädige Gott‘“ (22), „der wahre Gott“ (ibid.), der „Gott des Heils und der Gnade“ (24). 13 Vgl. 20, 22, 23. 14 Von Oettingen verweist auf einen Ausspruch Luthers, wonach die Universitätstheologen bzw. Scholastiker „lieber mit Aristoteles weise sein, als mit Christo Narren werden“ wollen (25). 15 „Überhaupt steht – nach Luther – ,die wahre rechtschaffene Theologie in der Praktik, Brauch
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Zum Verständnis der Theologie des Kreuzes
Wozu führt dagegen das Spekulieren? Da drohen – mit einer Wendung Luthers – die „Hölle der Ungewissheit“ und der „Abgrund der Verzweiflung“, weil der „gnädige Gott“ – der Gott des Heils – verloren geht (22f). Es verfehlt also diejenige Gotteserkenntnis, durch die die Gewissheit des positiven bzw. versöhnten Gottesverhältnisses konstitutiv bedingt ist. Zum Dritten betont von Oettingen ausdrücklich, dass das Verhältnis von theologia crucis und theologia gloriae nicht etwa nach dem Modell von niedrigerer und höherer bzw. vollkommenerer Glaubenserkenntnis aufzufassen ist. Die „Theologie der Ehren“ ist vielmehr vom Teufel, weil sie verführerisch ist und wegführt vom Kreuz und Leiden. Sie ist eine teuflische Theologie, die den sündigen Menschen gut einzuleuchten, ja denen sie sogar ganz natürlich zu erscheinen vermag. „Gott“ wird durch Ehren- und Magnifizenzbegriffe vorgestellt. Dem entsprechend gestaltet sich auch das Selbstverständnis und die Lebenshaltung des Menschen: Der Mensch wird aufgeblasen, wird eitel und groß, und indem er Gottes Größe durch die Werke seiner Erhabenheit zu erkennen versucht, treibt es ihn weiter zum eitlen Werkdienst. So folgt das Urteil der Menschen über Gott dem Maßstab und dem Weg der Theologie der Ehren. Auf diesen Weg führen letztendlich diejenigen, die, wie die Scholastiker, mit Aristoteles weise sein wollen. Schwarmgeister und Römer weisen jedoch ebenfalls diesen spekulativen Weg, wenn sie nicht vom Kreuz Christi und somit von der Alleinwirksamkeit der Gnade ausgehen (vgl. 22f, 25, 21). Wie findet dann, viertens, die radikale Umorientierung des Menschen statt? Wie wird er ein Kreuzestheologe, der Gott im Leiden und am Kreuz sucht und findet, und in diesem Licht alles in einer neuen Weise zu sehen vermag? Wie kann die theologia gloriae als Lüge, als vom Teufel herkommend, entlarvt und durchschaut werden? Wie kam Luther selbst zum rechten Lernen der Theologie, also zum Lernen der wahren Theologie (vgl. 23)? Die Antwort lautet: durch den Widerspruch, durch die Anfechtung, durch die Schule des Kreuzes und des Leidens. Es klingt wie eine Antizipation des heutzutage nicht seltenen Vorwurfs, dass durch die theologia crucis eine unzulässige Glorifizierung und Legitimierung des Leidens stattfinde, wenn von Oettingen in Erinnerung ruft, dass Luther zufolge „das Leid an und für sich“ keinesfalls „etwas Gutes, Süßes und Gottgemäßes“ ist (23).16 Sicher ist von Oettingens Hinweis auch eine Reaktion auf die lange Tradition verschiedenartiger Infragestellungen der Zentralstellung des Kreuzes Christi im christlichen Glauben. In erster Linie spricht er damit jedoch und Übung‘. Ihr einiger Grund ist Christus, daß man „sein Leiden, Sterben und Auferstehen mit dem Glauben ergreife und in der Anfechtung erprobe“ (22). 16 Vgl. in ähnlicher Richtung die Überlegungen von Timothy J. Wengert zum Verhältnis der Theologie des Kreuzes und des Leidens bei Luther (Wengert, Cross). Sehr kritisch und aus diesem Grund gegen „a theology of the cross“, ohne Luther besonders zu berücksichtigen, ist Roger Haigth in seiner The Future of Christology (Haigth, Christology, 75–102).
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wohl abermals ein Sach- und Lebensproblem an, von dem im ersten Abschnitt dieses Kapitels schon näher die Rede gewesen ist. Er sieht […] in allem Leid teils eine Folge der Sünde und Wirkung Satans, teils eine Strafe und heilsame Züchtigung des heilig zürnenden Gottes. Aber der Zorn gilt ihm gleichsam als ein ,fremdes Werk‘ in Gott, hervorgerufen durch die sündige Willkür der Kreatur. Die überragende ,brünstige Liebe‘ vermag jedoch auch Satans Werke zu zerstören und zu überwinden. Aber nicht ohne die Kreuzes- und Leidensschule! (Ibid.)
In der Welt der Sünde, i. e. unter den Bedingungen der Sünde gilt, dass Gott gerade im Leiden und am Kreuz sein eigenes und eigentliches Werk, nämlich die Überwindung der Sünde und die Heiligung und Verherrlichung der Welt, vollzieht. Die transformatorische Wende der theologia gloriae, die der Sünde verhaftet bleibt, zur theologia crucis, die Umkehr also zur Erfassung der erlösenden Offenbarung der Gnade „in ihrer wahren Tiefe“, hat zu ihrer Voraussetzung, dass man die „Tiefen Satans“ (Luther) „in Busse und Glauben kennen[lernt]“ (ibid.). In anderen Zusammenhängen und Texten – wie bereits gezeigt wurde – drückt von Oettingen, auch mit Blick auf Luther, wiederholt den Gedanken aus, dass auch die Tiefendimensionen der Sündenerkenntnis sich erst im Licht des Evangeliums erschließen. Das verstehe ich nicht als Selbstwiderspruch. Denn auch der Christ befindet sich für von Oettingen in einer spannungsvollen Bewegung und bleibt auf die tägliche Vergebung der Sünden angewiesen. Auf jeden Fall kam Luther von Oettingen zufolge aus eigener Erfahrung zum rechten Lernen der Theologie. Er zitiert Luther – „Meine Anfechtungen […] haben mich dazu gebracht, die Theologiam recht zu lernen“ – und führt die Bedeutung solchen rechten Lernens näher aus: [D].h. Gottes Gnadenwege im Kreuz, seine Größe in der Kleinheit, seine Weisheit in der Thorheit des Evangeliums, seinen Reichtum in der Armut, ja seine Heiligkeit in der Sünde zu studieren. (Ibid.)
So wird der wahre Gott unter dem Gegenteil offenbar. Für Luther habe das bedeutet, dass auch er selbst nur in der Kreuzes- und Leidensschule zum wahren Theologen gebildet werden konnte. Nämlich in einer Schule, in der er selbst vom Satan angefochten wurde. Der Teufel selbst war sein Lehrer – und trieb ihn doch zu Christus, d. h. der Satan erreichte das Gegenteil seines Zieles. Da die „spekulativen Theologen“ diesen Lehrmeister nicht kennen, sind sie auch keine rechten Theologen. So trieben die Selbst- und Welterfahrungen, die Luther erlitt und die Gott widersprachen – die Erfahrungen des (eigenen) Gegen-Gott-Seins bzw. der Gottlosigkeit, das Erschrecken davor und das Leiden darunter – ihn weg von jenem teuflischen deus gloriosus, der als Verführer bloßgestellt wurde, und machten den Theologen zu einem lebenslangen Schüler des Kreuzes Christi. Der Weg zur Kreuzestheologie war auf diese Weise ein eminenter Erfahrungs- und
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Zum Verständnis der Theologie des Kreuzes
Lernprozess, was auch von seinem Unterwegssein und seinem weiteren Werden als ein solcher antispekulativer Theologe des Kreuzes gilt. Die Anfechtung des Spekulierens war Luther auch später nicht fremd, wie von Oettingen an einem wichtigen Beispiel deutlich macht, auf das ich gleich zurückkomme. Mit Entschiedenheit weist von Oettingen die Meinung – „von Ritschlscher Seite“ (24) – zurück, dass Luthers Erfahrungen rein individuell wären und für das Verständnis von Luthers Theologie irrelevant seien. Ganz im Gegenteil.17 Durch sie werde uns erschlossen, wie „Luthers scheinbar düstere Theologia crucis eine wirklich freudige Theologia lucis wurde“ (ibid.). Ich erwähnte vorher, dass von Oettingen zufolge Kreuzestheologie in keiner Weise mit der Ehrentheologie als Antitheologie zu vermitteln ist.18 Sehr wichtig – und später fast wie ein Schlüssel für die eigene Dogmatik von Oettingens – ist allerdings die Sinnrichtung der Kreuzestheologie auf das Licht hin. Das Motto der dogmatischen Prinzipienlehre lautet ja „Theologia crucis, theologia lucis“. Sie ist eine Theologie des Lichtes, denn sie führt uns zu der ,lichten‘ Erkenntnis Gottes, da wir Gott suchen und finden lernen, nicht wie er bei den Heiden (den Philosophen, wie Aristoteles) ,herrlich‘ (gloriosus) ist, sondern wie er in der Gemeinde Christi ,klein und im Kreuz verborgen ist‘. Das sei unser einiger und wahrer Trost. (Ibid.)
Hier kommt das beanspruchte Evangelische dieser Theologie zum Ausdruck – die Einsicht, dass die wahre Erkenntnis Gottes zu einer erneuten und fröhlichen Selbsterkenntnis führt, die allerdings die Spannung von „als die Traurigen allezeit fröhlich“ weiterhin in sich trägt.19 Von Oettingen fasst die Erläuterung des prinzipiellen Unterschiedes zwischen den zwei Theologien mit Luthers Worten zusammen. Da er im Text kurz zuvor die Bedeutung der Anfechtungen hervorgehoben hat, d. h. die Bedeutung der konkreten Lebenserfahrungen Luthers, ist der Übergang zur Rede über den Theologen sehr passend: In Summa: ,ein Theologus, der nur das siehet und davon redet, wie Gottes unsichtbares Wesen allenthalben in den sichtbaren Dingen gegenwärtig ist und alles vermag, der gehet abseits von der Theologie des Kreuzes. Denn diese lehret die Menschheit, Schwachheit und Narrheit Gottes erkennen, wie sie im Wort vom Kreuz und in der Niedrigkeit sich offenbart.‘ (24) 17 Diese waren „für seine persönliche Entwickelung nicht nur, sondern für seinen ,Verstand am Evangelio‘ geradezu von grundlegender Bedeutung“ (24). 18 Anders urteilt im Anschluss an eine genauso tiefsinnige wie kreative Interpretation z. B. Günther Bader (Bader, Was heißt). Einige Sachaspekte der Argumentation Baders sind auch bei von Oettingen durch den Explikationsbegriff theologia lucis aufgegriffen, so dass theologia crucis als theologia lucis, auf keinen Fall aber als theologia gloriae zu verstehen ist. Letztere ist und bleibt für ihn der Inbegriff einer Antitheologie. 19 Vgl. oben Kap. 13.
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Die theologia crucis führt zur Erkenntnis der Menschheit – gemäß dem heutigen Sprachgebrauch kann man auch sagen: der Menschlichkeit – Gottes, zu der Erkenntnis seiner Schwachheit und Narrheit,20 und entpuppt damit die theologia gloriae als Pseudotheologie. Fünftens, das Kreuz und das Wort vom Kreuz werden als etwas innerlich Zusammengehörendes betrachtet. Dass Gott sich in den Gnadenmitteln – „in dem offenbaren Wort des Evangeliums und namentlich in dem Siegel der Taufe“ (21, vgl. 22f, 24f) – selbst zu eigen gibt, dass Gott sich im Wort vom Kreuz offenbart (24) und uns im Wort nahe ist (25) – diese Einsichten gehören zu den Grundeinsichten der theologia crucis. Ich denke, es kann sehr wohl gesagt werden, dass es sich nach dem Verständnis von Oettingens bei der theologia crucis deshalb und insofern um eine Theologie des Wortes handelt. Doch was wird damit ausgesagt? – Nicht weniger als die Gegenwart und Wirksamkeit des verherrlichten Christus in der Gemeinde. „Kreuzestheologie“ ist also zugleich „Theologie des Wortes vom Kreuz“. Damit wird auch der Bezug zur gegenwärtigen Wirklichkeit der Gemeinde bzw. der Kirche sichtbar. Luthers theologia crucis ist nach von Oettingen eine Theologie, die Gott im Wort vom Kreuz zu suchen und zu finden lehrt. Sechstens, es kommt hiermit das Motiv der Geduld Gottes ins Spiel. Auch dieses und die „Langsamkeit seiner Gerichtswege“, i. e. das göttliche Noch-nicht, werden „nur in der Anfechtung und im Glauben“ verständlich (ibid.). Im Gegensatz zu Luther selbst kann Gott auch „böse Buben lieb haben“. Erstaunlicherweise habe Luther sich doch selbst als „ein böser Bube“ verstanden. Gegenüber einer solchen Einstellung – „mit den ,zagenden und zappelnden Gewissen‘“ (24), nur mit dem, der „sich selbst demütigt und in sein Leid sich ergibt“ (25) – hat Gott Geduld. Warum? Weil ein solcher Mensch gelernt habe „zum Kreuz zu kriechen“ (24f). Die gegenwärtige Situation eines Christenmenschen gestaltet sich also so, dass Gott nicht fern von uns im Himmel zu suchen ist, sondern: [D]ie Rechte Gottes ist überall und Christus ist uns nahe durch seinen heiligen Geist im Wort. Es ist auch hier des Herrn herablassende Gnade, die sich zu uns neiget und durch das Zeugnis des Heil. Geistes die zagenden Gewissen fröhlich macht, durch Vergebung der Sünde; so wirket auch die Taufe, durch die wir mit Christo begraben werden in den Tod, nichts anderes, denn ,Vergebung der Sünden‘. Und ,zum Kreuze kriechen‘ heißt für Luther daher nichts anderes als ,täglich in seine Taufe kriechen‘. (25f)
Der Gott der Gnade ist also klein in der Gemeinde, d. h. in den Gnadenmitteln, die diese hervorbringen, und er ist deshalb konkret da zu suchen und zu finden. Ich erinnere an die heftige Auseinandersetzung darum, ob etwa auch die Heilige 20 Vgl. z. B. den Vortrag von Karl Barth über die Menschlichkeit Gottes (K. Barth, Menschlichkeit).
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Schrift als Gnadenmittel aufgefasst werden müsse bzw. könne.21 In erster Linie, jedenfalls von Oettingen zufolge, wohl nicht. Die lebendige Verkündigung des Evangeliums und die Sakramente sind der konkrete Ort, an dem Gott zu suchen zu finden ist. Dies ist m. E. sehr bedeutsam, weil dadurch zugleich die Kirchlichkeit einer derartigen theologia crucis ausgedrückt wird. Die Genese und Entwicklung von Luthers Theologie finde somit konkret im gottesdienstlichen Raum der Kirche statt – in Zusammenhang mit der Begegnung mit Verkündigung und Sakramenten – und zu diesem Raum als dem Ort, wo das Kreuz im Wort vom Kreuz zu suchen und zu finden ist, leitet diese Theologie des Kreuzes auch wieder zurück.
15.3.2 Zur Profilierung: über eine Inkonsequenz Luthers Der Gefahr des Spekulierens habe sich Luther selbst in seinem Kampf um das rechte Verständnis von Gnade und der Erneuerung des Menschen nicht ganz fernzuhalten vermocht. Vor allem ist hier die in der Deutungsgeschichte umstrittene und höchst unterschiedlich bewertete Kampfschrift gegen Erasmus bzw. gegen Rom De servo arbitrio (1525) im Blick. Von Oettingen zufolge kommt darin ein Determinismus zum Ausdruck, den Luther inkonsequenter Weise nie ganz losgelassen hat.22 Doch ist ihm sehr wichtig anzumerken, dass das Motiv dieser deterministischen Anschauung und ihr Ziel deutlich machen, dass es „nicht der calvinische Gedanke des alles bestimmenden ,geheimen‘ Gotteswillen, daß es überhaupt nicht der ,schreckliche, verborgene‘ Gott ist, der Luthers Lehrentwicklung und seinen Glauben kennzeichnet und bestimmt“ (20), sondern es v. a. um die Alleinwirksamkeit der Gnade Gottes in Christus, unter klarer Zurückweisung der Erforschung des geheimen Gotteswillens oder der Rede von der Unwiderstehlichkeit der Gnade, geht. Die Gnade gilt „allen armen Sündern“ und kommt in den Gnadenmitteln „den heilsbegierigen Sündern“ durch die Verbürgung der „Gewißheit ihrer Gotteskindschaft“ zugute (21). Meiner Meinung nach versucht von Oettingen damit zu verdeutlichen, wie der Gedanke der (Alleinwirksamkeit der) Gnade auf die Herstellung der Freiheit zielt, wobei sie durch die Verkündigung des Evangeliums und die Praxis der Sakramente vermittelt wird. Insofern ist die Pointe von Luthers Anschauung 21 Vgl. oben Kap. 7. 22 Er verweist auf die Dissertation Prädestinationslehre im Zusammenhange mit seiner Lehre vom freien Willen von J. Lütkens’ aus dem Jahr 1858 (vgl. Lütkens, Luthers Prädestinationslehre). Er selbst trat, wie schon früher erwähnt, bei diesem Promotionsverfahren als Opponent auf (vgl. oben Kap. 10). u. a. Jörg Dierken spricht „von einem theologisch-supranaturalen Determinismus“ (Dierken, Freiheit als religiöse Leitkategorie, 128) und Reinhold Bernhardt konstatiert, dass Luther „in gewisser Weise einen theologischen Determinismus“ vertreten habe (vgl. Bernardt, Willensfreiheit, 282).
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nicht, dass der menschliche Wille nichts ist, sondern, dass die Freiheit – oder genauer : „die Freiheit eines Christenmenschen“ – mit der alleinwirksamen Gnade zusammenhängt bzw. von dieser abhängig ist. Von Oettingen verdeutlicht den Unterschied zwischen Luthers Sicht und der calvinischen Prädestination anhand einer Vergegenwärtigung, die der letzteren im Jahr 1887, in der „neueste[n], streng reformierte[n] Dogmatik“, zuteil geworden war (ibid.).23 Er kommt zum Ergebnis, dass in der Dogmatik Eduard Böhls (1836–1903) dessen „echt reformierter Standpunkt darin zu Tage“ trete, daß er strenger Prädestinatianer ist und eben daher für das herablassende Mittleid Gottes, das allen Menschen gilt, ebensowenig ein Verständnis hat, als für jene Theologie des Kreuzes, die den ,verborgenen Gott‘ nicht in seiner Herrlichkeit, sondern in seiner Niederigkeit erfaßt, wie er sich – nach Luthers Ausdruck – für uns ,in Windeln wickelt‘ und in den Gnadenmitteln allen heilsdurftigen Seelen zu eigen gibt (22).
Obwohl im Zitat wegen der etwas ungeschickten Formulierung der irreführende Anschein entstehen kann, dass die Kreuzestheologie den verborgenen Gott in seiner Niedrigkeit suche, ist die Interpretationsrichtung von Oettingens klar. Die prädestinatianischen oder gar deterministischen Vorstellungen stellen eher eine Inkonsequenz Luthers dar und sind von seiner Kreuzestheologie her als solche zu durchschauen. (Es ist auch vorstellbar die Wendung, der verborgene Gott sei in seiner Niedrigkeit zu suchen, in dem Sinn zu verstehen, dass Gott [unter dem Gegensatz] in seiner Niedrigkeit verborgen ist.) 15.3.3 Die Leidensgeschichte Gottes des Heiligen Geistes Einen Gedanken, zu dem Luther zwar noch nicht mit voller Klarheit und Konsequenz durchgedrungen habe, der in seiner theologia crucis im Grunde aber schon impliziert sei, drückt von Oettingen symbolhaft mit der Wendung das göttliche „Noch nicht“ aus. Allgemeiner geht es um ein Verständnis „für den allmählichen Fortschritt der heilsgeschichtlichen Offenbarungsökonomie“, also um „eine entwickelungsgeschichtliche Auffassung der Offenbarung und der göttlichen Geistwirkung“. Dafür hätten in Luthers Theologie wichtige und verheißungsvolle Impulse vorgelegen, welche aber „in der altlutherischen orthodoxen Dogmatik“ keinen fruchtbaren Boden gefunden haben (26).24 In seiner Dogmatik zur Geltung zu bringen ist für von Oettingen nun v. a. jener 23 Die Dogmatik Eduard Böhls ist von Thomas Schirrmacher neu herausgegeben worden (Böhl, Dogmatik). Eine neue Monographie zu Böhl hat Thomas R.V. Forster verfasst (Forster, ReEmergence of Reformation Thought). 24 „Ist es doch – im Gegensatz zu Luthers lebensvoller Anschauung – ein Grundfehler unserer altorthodoxen Dogmatiker, daß sie für jenes göttliche O}py kein Verständnis hatten. Deshalb fanden sie auch in ihrer Christologie keinen Raum für die wirkliche Selbstentäußerung des Gottessohnes. Das Menschliche soll zwar – nach ihnen – fähig sein zum Göttlichen
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Zum Verständnis der Theologie des Kreuzes
Zentralgedanke, daß Gott in Christo nicht bloß einst für uns gelitten hat, während der Tage seines Fleischeswandels auf Erden, sondern fort und fort in der Stufe der Geistesoffenbarung, die wir noch gegenwärtig in der Entwickelungszeit der Kirche Christi erleben, sein Mitleid und seine Langmut uns zu erkennen und tröstlich zu erfahren gibt (ibid.).25
Hier will ich ohne nähere Erörterung die Überzeugung von Oettingens festhalten, dass diese Einsicht geradezu keimartig in Luthers theologia crucis vorliege. Jedoch sei ihre klare Erfassung und praktische Verwertung conditio sine qua non für eine kreuzestheologische Gesamtdarstellung der Dogmatik. Deshalb sollte sich die Aufmerksamkeit auf Gott den Heiligen Geist konzentrieren – insbesondere auf dessen „Leidensgeschichte“ und „Leidenswilligkeit“ (26). Die hier rekapitulierte Vergegenwärtigung von Luthers Theologia crucis schließt mit einer Erinnerung an Johann Georg Hamann (1730–1788) ab, weil dieser Magus des Nordens „jene tiefe Wahrheit“, nämlich die „Selbstbeschränkung und Selbsterniedrigung des Heil[igen] Geistes“, einmal „mit prophetischem Seherblick, mehr ahnungsvoll als klar“, ausgedrückt habe (27).26
15.4
Vorläufiges Programm einer Glaubenslehre vom Standpunkt der theologia crucis
Das göttliche „Noch nicht!“. Ein Beitrag zur Lehre vom Heiligen Geist bemüht sich um den Aufweis und die Explikation der These, dass es uns in Verbindung erhoben zu werden (finitum capax infiniti). […] Aber die Selbstbeschränkungsfähigkeit Gottes – das infinitum capax finiti – tritt nicht bloß zurück, sondern wird meist eifrig bestritten. Gott kann gar nicht leiden!“ (76) „Aus demselben Grunde mangelt auch jener altorthodoxen Dogmatik der Sinn für den organischen Fortschritt göttlicher Heilsökonomie. Zwar fehlten auch im 17. und 18. Jahrhundert die Stimmen nicht, die für eine stärkere Betonung der heilsgeschichtlich fortschreitenden Offenbarungsökonomie eintraten […] Aber das blieben vereinzelte Stimmen. Der orthodoxe Scholastizismus hatte eben keinen geschichtlichen Sinn.“ (76f). 25 „,Durch viel Trübsal ins Reich Gottes gehen‘ – das bleibt auch für den Heil. Geist und die von ihm erfüllte Kreuzgemeinde die Losung, bis die Zeit der Reife kommt und die Zeiten göttlicher Geduld zu ihrem Ziel, zu ihrer allendlichen ,Fülle‘ werden gelangt sein.“ (26f). 26 „,Es gehört zur Einheit der göttlichen Offenbarung, daß der Geist Gottes (durch den Menschengriffel der heiligen Männer, die von ihm getrieben werden) sich ebenso erniedrigt und seiner Majestät entäußert, als der Sohn Gottes durch die Knechtsgestalt; – wie auch die ganze Schöpfung ein höchstes Werk der Demut ist. Es gehören die Augen eines Liebhabers dazu, in solcher Verkleidung die Strahlen himmlischer Herrlichkeit zu erkennen.‘“ (27f; als Quelle dieses Zitats Hamanns ist angegeben: W.W. ed. Roth. II, 207). Christina Reuter hat neuerlich in der Einleitung zu ihrer Hamann-Studie die Begriffsgeschichte von „Kondesendenz“ skizziert, den Gedanken der Kondeszendenz in der Geschichte der Hamann-Forschung skizziert und eine eigene Einführung in die trinitarische Kondeszendenz Gottes bei Hamann gegeben (Reuter, Kondeszendenz, 9–29).
Vorläufiges Programm einer Glaubenslehre vom Standpunkt der theologia crucis
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mit dem Heiligen Geist und seinem Wirken gegeben ist, seine Selbstbeschränkung zu erleben und zu verstehen. Einer sehr gehaltvollen Einführung (Kap. 2) zur Pneumatologie – die deren kontroversen Status in der theologischen Wissenschaft, ihre neuere monographische Behandlung und ihre Relevanz für die Gegenwartsdeutung und für die Praxis thematisiert – folgt als materieller Hauptteil (Kap. 3–4) eine biblische und dogmatische Erfassung des Heiligen Geistes. Der Gedanke der Offenbarungsökonomie (Gottes) des Heiligen Geistes – das göttliche „Noch nicht“ – wird als ein genuin biblischer und dogmatisch berechtigter Gedanke vorgestellt. Abschließend (Kap. 5) wird nach einem „zusammenfassenden Rückblick auf die bisherige Lehrentwickelung“ angedeutet, wie die skizzenhaft aufgewiesene pneumatologische Selbstbeschränkung Gottes sich kirchen- und dogmengeschichtlich erhellen lässt bzw. zum Verständnis von Kirchen- und Dogmengeschichte beitragen kann und Orientierungspotenzial für die christliche und kirchliche Praxis der Gegenwart – zur „Klärung brennender Zeitfragen“ (19) – zu entfalten vermag. Der Beginn (Kap. 1) stellt den Beitrag zur Pneumatologie ausdrücklich in den Kontext eines umfassenderen (kreuzes-)theologischen Projektes. Von Oettingen schildert plastisch verschiedenartige Fragen und Gedanken, die ihn jahrelang nicht in Ruhe gelassen haben. Sie alle kreisen um die Frage: Wie ist das Verhältnis von Gott und Geschichte, von Gott und Mensch, zu verstehen? Sind Gott und Geschichte, wie viele geläufige Vorstellungen suggerieren, Gegensätze? Sind ein Gott widersprechender Wille und ein ihm gegensätzliches Handeln denkbar? Wenn ja – wie? Etc. Die Herausforderung, die von Oettingen aus seinen Schriftstudien, seinen dogmatischen Reflexionen und seiner Lebensund Glaubenserfahrung entnommen hat, ist ein vertieftes Verständnis von der Selbstbeschränkung Gottes (vgl. 2). Damit ist einerseits gesagt, dass mit einem solchen Verständnis zwar schon gerechnet werden kann, andererseits dieses jedoch noch vertiefungsbedürftig ist. Es kann davon nach meiner Interpretation insofern gesprochen werden, dass das Leiden und Kreuz Christi als Quelle und Zentrum der Gotteserkenntnis anerkannt werden. Die Vertiefung des Verständnisses bezieht sich auf das, was den Kontext bzw. den Horizont für die Gotteserkenntnis im Leiden und Kreuz Christi bildet, i. e. auf die Heilsgeschichte (als Heilspädagogik und -ökonomie) Gottes, aber so zugleich auch auf das Zustandekommen dieser Erkenntnis bzw. die Genese des (persönlichen) Glaubens. Auch mit Blick darauf ist die Selbstbeschränkung Gottes wahrzunehmen bzw. zur Geltung zu bringen. Allgemeiner ist für die Erkenntnis Gottes festzuhalten: Ihr Ausgangspunkt ist Gott, wie er in der Geschichte (selbstbeschränkend) gegenwärtig und wirksam ist – nicht Gott an sich.27 27 „[G]ottes Erziehungswegen mit seine Volk und seiner Heilsgemeinde nachgehen, seine unsägliche Geduld bewundern und in jene Offenbarungs- und Reichsgeschichte sich ver-
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Zum Verständnis der Theologie des Kreuzes
Im Rahmen einer Selbstpositionierung in der Landschaft der neueren Dogmatik (11–19)28 bezieht von Oettingen sich kritisch auf die zwei dominierenden theologischen Strömungen jener Zeit, konkret: Reinhold Frank und Albrecht Ritschl. Anschließend hebt er Martin Kähler und besonders Johann Tobias Beck als diejenigen Theologen hervor, die seiner Ansicht nach in der neueren Dogmatik dem Grundgedanken der göttlichen Selbstbeschränkung am nächsten kommen, und würdigt seine beiden theologischen Lehrer, J.Chr. Hofmann und Fr.A. Philippi. Er betont seine sachliche Nähe zu Frank, weist jedoch den methodischen Ausgangspunkt des Gedankens von der „Absolutheit“ Gottes zurück (vgl. 12). Mit der Kritik an der sog. kenotischen Theorie Franks zeigt er sich einverstanden, sofern diese mit der „Aufgebung göttlicher Eigenschaften“ operiert etc.29 Das Wahrheitsmoment der kenotischen Theorie liege jedoch in der Idee der göttlichen Selbstbeschränkung. Dafür gebe es aber „in der religiösen und theologischen Denkatmosphäre Ritschls und seiner Anhänger keinen Raum“ (15).30 Woran das liegt? Es scheint mir, dass der Grund aus der Perspektive von Oettingens in deren defizitärer Kreuzestheologie zu suchen ist. So wie im 20. Jahrhundert etwa W. Pannenberg bei Schleiermacher und Ritschl „a distinctively modern type of a theology of the cross“ beobachtet und skizziert,31 hält auch von Oettingen sein Urteil darüber nicht zurück: Für die eigentliche ,Theologie des Kreuzes‘, deren Mittelpunkt der Versöhnungs-gedanke auf Grund der gottmenschlichen Selbstaufopferung und Selbsterniedrigung Christi ist,32 hat die Ritschlsche Schule kein volles Verständnis. (15f)
Die zentrale These, auf deren Entfaltung der Schwerpunkt des Buches liegt, lautet: Gegenwärtig zeigt sich Gottes Selbstbeschränkung (bzw. seine herablassende Liebe und Geduld) im Wirken des Heiligen Geistes. Dessen Leidenswilligkeit kommt darin zum Ausdruck, dass er nicht wie eine Naturkraft, son-
28 29 30 31 32
senken, die in gewissem Sinne immer auch eine Leidensgeschichte des erbarmenden und heilig richtenden Gottes ist, das erschien mir nicht bloß für das Verständnis der Gegenwart, für die Deutung der ,Zeichen der Zeit‘ bedeutsam; nein, in diesem Grundgedanken göttlicherbarmenden Heilsökonomie lag mir auch der eigentliche Schlüssel für das Problem christlicher Weltansicht, sowie für die gesunde evangelische und echt lutherische Ausprägung und Gestaltung des ganzen dogmatischen Systems.“ (3). Vgl. oben Kap. 9. Vgl. zur kenotischen Christologie des 19. Jahrhunderts: Breidert, Die kenotische Christologie; Law, Kenotic Christology (er ordnet irrtümlicherweise auch von Oettingen zu den Kenotikern). Obwohl von Oettingen es selbst nicht direkt so sagt bzw. sagen will, scheint er gedacht zu haben, dass die sog. neuere Kenotik des 19. Jh. nicht als adäquate Gestalt der „Theologie des Kreuzes“ gelten kann. Pannenberg, A Theology of the Cross; vgl. oben Kap. 1. „[D]ie ,Passion‘, das Leiden Gottes in Christo, [ist] der springende Punkt in dem gesamten Kreuzgeheimnisse wie in der haushälterischen Sparsamkeit göttlicher Selbstbezeugung zur Erlösung und Erziehung der Menschheit.“ (18).
Vorläufiges Programm einer Glaubenslehre vom Standpunkt der theologia crucis
235
dern – durch das Wort (Gottes) und die Erfahrung (des Herzens) – befreiend und überzeugend wirkt. Die volle und klare Erfassung des Geheimnisses des Kreuzes und der Heilsgeschichte hat also ein Verständnis für die Geduld und Leidenswilligkeit des Heiligen Geistes, „der uns Sünder zu Gotteskindern“ erzieht, als Voraussetzung (18). Gerade die Lehre vom Heiligen Geist sei in der Theologie jedoch sehr vernachlässigt, oft reduziert auf den christlichen Kollektivgeist etc. Letztendlich sei mit einem ernsthaften pneumatologischen Defizit bei Ritschl et al. – einem Defizit, das eine Unklarheit in der Auffassung des Verhältnisses von göttlichem und menschlichem Handeln, von religiöser Abhängigkeit und sittlicher Freiheit, zur Folge hat33 –, auch die Zurückweisung der „zentralen Heilslehre“, i. e. der Lehre vom dreieinigen Gott, verbunden. Die Rehabilitierung und Vertiefung der Lehre vom Heiligen Geist wirkt erhellend und prägend auf verschiedene Themengebiete der Theologie ein – insbesondere auf die Lehre von der Kirche, aber auch auf die der Eschatologie – und kann als ein Erneuerungsversuch der trinitarischen Theologie bzw. des Gottesverständnisses überhaupt aufgefasst werden.34 Von Oettingen selbst ist der Auffassung, die Bedeutung dieser Schrift liegt nicht zuletzt darin, dass sie „zur Lösung jener vielbesprochenen Frage nach der Berechtigung und Tragweite dessen, was wahre Duldsamkeit in dogmatischer Hinsicht sei“, einen Beitrag liefert: Ohne uns für ,undogmatisches Christentum‘ zu begeistern, das oft nur ein neues, selbstgemachtes, unchristliches Dogmentum uns vorführt, sollen und können wir doch von dem göttlichen ,Noch nicht‘ verständnisvolle Milde auch Andersdenkenden gegenüber lernen. (19)35
Es kommt hier also ein Element des Haupttitels (Solidarische Toleranz) dieser Studie direkt zum Vorschein. Von Oettingen ist sich sehr wohl bewusst, dass seine Schrift kein vollendetes Meisterwerk ist. Er gibt „das Tastende, Unfertige und Versuchartige“ darin ohne weiteres zu. Nur teilweise ist „das Sprunghafte“ durch den langen Entstehungsprozess und den anfänglich rein praktischen Anlass der Arbeit bedingt (3, vgl. 19). Doch hofft von Oettingen, die Leser „mögen mitempfinden, was mich beunruhigt hat, und durch ihr teilnehmendes Nachdenken in den Stand gesetzt werden, etwas zu spüren von der Schwierig33 „Nur eine tiefer greifende Lehre vom Heiligen Geiste und seiner erzieherischern, die menschliche Eigenart schonenden, die wahre Freiheit erzeugenden und ermöglichenden, heilspädagogischen Wirksamkeit ist im stande, jenes größte und schönste Problem, jene ,Meisterfrage‘ nach dem geheimnisvollen Ineinander göttlichen Wirkens und menschlicher Selbstbethätigung, richtig zu stellen und sachgemäß zu lösen.“ (39). 34 Vgl. bes. 66–85 („Die Voraussetzungen in der christlichen Gottesidee und ihrer trinitarischen Ausprägung“) und 120–125 („Zusammenfassender Rückblick auf die bisherige Lehrentwickelung“). 35 Vgl. 47, 75, 124, 138–150.
236
Zum Verständnis der Theologie des Kreuzes
keit, aber auch von der Fruchtbarkeit und Tragweite jenes prinzipiell-wichtigen und entscheidenden Grundgedankens“ (3). Nicht nur Probleme gesundheitlicher Art, sondern wohl auch weitere klärungsbedürftige sachliche Schwierigkeiten bringen es mit sich, dass er die Veröffentlichung seiner Dogmatik, an der er seit fast vierzig Jahren, i. e. seit Beginn seiner akademischen Lehrtätigkeit gearbeitet zu haben angibt, zwar für das folgende Jahr, i. e. das Jahr 1896, ankündigt, sie aber doch erst in den Jahren 1897, 1900 und 1902 erscheint. Auf dieses Werk, das durchgehend und konsequent aus der Perspektive der „Theologie des Kreuzes“ ausgeführt ist, beziehe ich mich im Argumentationsgang des dritten Teiles dieser Studie. Davor steht der „sozialethische“ Abschnitt.
Zweiter Abschnitt: Die Einführung des Begriffes Sozialethik in die Theologie, oder: Ein Rekonstruktionsversuch der Ethik als Sozialethik unter Einbeziehung empirischer Sozialforschung in Gestalt der Moralstatistik
16.
Einführende Kontextualisierung Ethics in the tradition of Protestant theology has always understood itself as social ethics.1 (Hans G. Ulrich)
16.1
Einleitung
Nach Martin Honecker (*1934), einem der bekanntesten deutschsprachigen evangelischen Ethiker der Gegenwart, erscheint das Wort „Socialethik“ erstmals im Jahr 1867 bei Alexander von Oettingen in der Theologie.2 Schon im Jahr 1972 hatte Wolfgang Huber (*1942) in seiner vielbeachteten Antrittsvorlesung als Sozialethiker in Marburg begriffsgenealogisch explizit behauptet bzw. darauf aufmerksam gemacht, dass die Einführung des Terminus 1868 bei von Oettingen erfolgt sei.3 Dabei konstatiert Huber in seinem programmartigen Vortrag zu Recht, dass ursprünglich mit dem Begriff keine Teil- oder Unterdisziplin der Ethik, sondern „eine unverzichtbare Perspektive allen ethischen Nachdenkens“ anvisiert war.4 In der neuesten Auflage von Religion in Geschichte und Gegenwart wiederholt Huber, dass der Begriff „zum ersten Mal 1868 bei A. v. Oettingen“ auftaucht, der die theologische Ethik durchweg als Sozialethik begreifen will und zwar im 1 Ulrich, Christian Ethics, 50. Er setzt fort: „It has adduced the fact that the Christian lives in binding relationships and that his life and everything he does serves his neighbor.“ (Ibid.) Er bezieht sich mit seiner These auf Ernst Wolfs (1902–1971) posthum erschienene Sozialethik (s. unten Kap. 17, Anm. 4) und auf Wolfgang Hubers Antrittsvorlesung (vgl. Huber, Freedom and Institution). 2 Vgl. Honecker, Evangelische Sozialethik; Honecker, Die evangelische Sozialethik, 155f. 3 Vgl. Huber, Freedom and Institution, 42; vgl. auch Honecker, Wege evangelischer Ethik, 209, 219. 4 Huber, Freedom and Institution, 42.
238
Einführende Kontextualisierung
Gegensatz zu den Versuchen diese ganz als Individualethik aufzufassen.5 Im Unterschied zu seinem früheren Vortrag konstatiert Huber hier kritisch, dass man heute Sozialethik und Individualethik nicht als gegensätzliche Ansätze, sondern vielmehr als zwei aufeinander bezogene Dimensionen aller ethischen Reflexion verstehe. Ich fasse diese Beobachtungen so zusammen, dass um die Jahrtausendwende die „Auskunft“ bzw. das Wissen über die Einführung des Begriffes bei von Oettingen bis in die Nachschlagewerke vorgedrungen ist und somit mit gewissem Vorbehalt6 als Gemeingut bezeichnet werden kann. Zu der Frage, ob Ethik als Sozialethik (alle Ethik ist Sozialethik) oder ob Sozialethik als Ethik (Sozialethik ist ein Teil der Ethik) zu verstehen ist und zur der in der gegenwärtigen deutschsprachigen evangelisch-theologischen Diskussion zunehmenden Kritik am Verständnis der Ethik als Sozialethik, komme ich am Schluss dieser Einführung zurück. Es ist jedoch erhellend und hilfreich, vorher einen Blick auf zwei neue Behandlungen der Geschichte der Sozialethik zu werfen.
16.2
Die Wendung „social ethics“ bzw. „Social-Ethik“ vor dem Jahr 1867
Als Zwischenbemerkung sei eine relative Korrektur dem eben Gesagten eingefügt. Im englischen Sprachraum ist spätestens zu Beginn des zweiten Viertels des 19. Jahrhunderts die Wendung social ethics im Gebrauch.7 Vereinfachend formuliert bezeichnet diese die Rechte und Pflichten, die eine Person hat, sofern sie in Beziehung zu anderen Personen steht. Fasst man den Begriff im Sinne einer Disziplinbezeichnung auf, dann benennt er die Erforschung und Darstellung solcher sozialen Rechte und Pflichten. Im ersten Viertel des 19. Jh. stellen die social ethics auf jeden Fall einen Teilbereich der Ethik dar. Davon werden, etwa in der im Jahr 1840 ins Englische übersetzten Ethik des französischen Philosophen Th8odore Simon Jouffroy (1796–1842), personal ethics, also die Rechte und Pflichten gegen sich selbst, und actual ethics, die Rechte und Pflichten gegenüber den Dingen, unterschieden.8 (Zu seinem System 5 Huber, Evangelische Sozialethik, Sp. 1723. 6 Der Vorbehalt ist nötig, weil z. B. im Lehrbuch für evangelische Sozialethik von Ulrich H.J. Körtner aus dem Jahr 1999 mit Blick auf den Begriff „Sozialethik“ merkwürdigerweise ganz generell behauptet wird, er sei „erst in der Literatur des 20. Jahrhunderts gebräuchlich“ (Körtner, Evangelische Sozialethik, 43). 7 Vgl. z. B. Sampson, Discourse, 54, 126; The Edinburgh Review, 305; The British and Foreign Review, 338; Mason, Social Ethics; Etiquette, Social Ethics, and the Courtesies of Society ; Martin, The Age, 198. 8 Vgl. Jouffroy, Ethics, viii.
Die Wendung „social ethics“ bzw. „Social-Ethik“ vor dem Jahr 1867
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der Ethik gehört noch natural religion – die Rechte und Pflichten gegenüber der Gottheit.) Auch einige spätere Belege, die noch aus der Zeit vor 1867 stammen, variieren diesen teilbereichlichen Sinn entweder auf der phänomenalen oder auf der disziplinären Ebene. Im deutschsprachigen Raum lässt sich der Begriff ebenfalls schon vor der Verwendung durch von Oettingen finden. Allerdings habe ich dafür nur einen einzigen Beleg und zwar aus einem Werk aus dem Jahr 1860 über Theorie und Geschichte der Wirtschaftslehre. Die Wendung taucht darin wiederum nur ein einziges Mal, etwas rätselhaft und wohl ohne besondere Wirkung, auf.9 Wohl nicht ohne Relevanz ist die Tatsache, dass der Autor Gyula Kautz (1829–1909), von Oettingens Generationsgenosse, eigentlich kein deutscher, sondern ein ungarischer und in Ungarn wirkender Nationalökonom gewesen ist. Soweit – ich erhebe an dieser Stelle keine begriffsgeschichtlichen Ansprüche im strengen Sinn, möchte aber die bisherigen Aussagen über die Einführung des Begriffs zugleich relativieren und präzisieren –, scheint mir folgendes feststellbar : (a) die generelle Behauptung (von Huber und Honecker), von Oettingen habe die Wendung eingeführt, ist nicht korrekt; allerdings hat er sie in wirksamer Weise in die deutschsprachige Diskussion eingeführt; (b) wegen des ganz anderen (fundamentalethischen) Sinnes, den die Wendung bei ihm zum Teil bekommt, ist diese Einführung höchst wahrscheinlich unabhängig von ihrer Verwendung im englischen Sprachraum erfolgt (da frühere Verwendungen sich auch in den aus dem Französischen übersetzten Werke befinden, ist die Formel vermutlich auch schon in diesem Sprachraum vor dem Jahr 1867 zu finden); (c) dass mit „Sozialethik“ Ethik überhaupt anvisiert ist – in diesem Sinn wird von Oettingen den Begriff bilden bzw. prägen –, scheint vor 1867 niemand vorgeschlagen zu haben; (d) die mir bekannten Fälle, wo das Formel social ethics bzw. Social-Ethik vor dem Jahr 1867 erscheint, stammen nicht aus dem Zusammenhang des theolo9 Im Zusammenhang der Behandlung der Volkswirtschaftstheorie der alten Griechen schreibt er, wie in einem späteren Stadium deren „Staatswissenschaft nicht bloß die Politik und Staatslehre, sondern alle Wissenzweige umfaßte, welche gegenwärtig als selbstständige Disciplinen etwa als Gesellschaftslehre, Rechtsphilosophie, Politik, Social-Ethik und Oekonomik: das System der Wissenschaften vom Staats- und Volksleben bilden“ (Kautz, NationalOekonomik, 109). Diese Verwendung von „Social-Ethik“ erweckt den Eindruck, als ob sie um das Jahr 1860 als selbständige Disziplin zur Nomenklatur der Wissenschaften gehört. Das vermag ich so nicht zu belegen. Die Wendung scheint jedenfalls auch in diesem Werk als Bezeichnung für einen Teil- bzw. Spezialbereich der Ethik verstehen zu sein, welcher im weiteren Text aber keine auch nur annähernd tragende Rolle spielt. Evtl. erfolgte diese Verwendung im Anschluss an die englischsprachige Literatur, mit der der Autor, wie geläufige Nachschlagwerke verzeichnen, gut vertraut war.
240
Einführende Kontextualisierung
gischen Diskurses. Im Zusammenhang der theologischen Ethik oder theologischen Moral dürfte also die Aufnahme von Sozialethik/social ethics durch von Oettingen initiiert sein. Diese Aufnahme des Begriffes innerhalb der Theologie erfolgt in keinem teilbereichlichen, sondern in einem in den nächsten Kapiteln näherzubestimmenden fundamentalethischen Sinn.
16.3
Zur Geschichte der Sozialethik in Deutschland
Das Wissen über die Einführung des Begriffes „Sozialethik“ durch von Oettingen in die Theologie könnte mit Blick auf die Nachschlagwerke fast als Allgemeingut gelten. Umso auffälliger ist deshalb die Tatsache, dass das im Jahr 2000 erschienene umfangreiche und das Gesamtspektrum abzudecken beabsichtigende Handbuch Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland von Oettingens Sozialethik gar nicht erwähnt.10 Das Handbuch besteht aus drei Teilen bzw. Kurzmonographien: Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland, Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, sowie im deutschen Protestantismus. Dabei scheint der Grund nicht darin liegen zu können, dass von Oettingen zwar seine großen Werke in Deutschland publiziert, jedoch selbst in Tartu/Dorpat und also auf einem zum Russischen Kaiserreich gehörenden Territorium gewirkt und gelebt hat, weil beispielsweise „Impulse für die christliche Wohltätigkeit aus Großbritannien“ im Buch durchaus berücksichtigt werden.11 Traugott Jähnichen und Norbert Friedrich erklären zu Beginn ihrer instruktiven und übersichtlichen Darstellung, dass es sich dabei um den Rekonstruktionsversuch einer „Ideengeschichte des sozialen Protestantismus“ handelt:12 Dieser erfolgt unter Berücksichtigung der „,vermittelnden Strukturen und Institutionen‘ von sozialethischer Theorie und politischer Praxis“ und mit Konzentration auf „die besonderen Prägekräfte von Theologie und Kirche“.13 Es ist für diese Geschichtsbetrachtung charakteristisch, dass in der Einleitung die Wendungen „protestantische Sozialethik“14 bzw. „evangelische Sozialethik“15 10 Grebing (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Ebenfalls keinen Hinweis auf von Oettingens Sozialethik enthält die im Jahr 1998 erschienene umfangreiche Aufsatzsammlung von Albrecht Langer zur katholischen und evangelischen Sozialethik im 19. und 20. Jahrhundert (Langer, Sozialethik). 11 Vgl. Jähnichen/Friedrich, Geschichte der sozialen Ideen, 890–892. 12 Vgl. ibid., 867–1103. Vgl. die Überblicke über die christliche Sozialethik im Entwicklungsprozess der Moderne und über die evangelische Sozialethik im Transformationsprozess der Industrialisierung und Modernisierung: Habisch, Sozialethik; Honecker, Die evangelische Sozialethik. 13 Jähnichen/Friedrich, Geschichte der sozialen Ideen, 876. 14 Ibid., 867.
Zur Geschichte der Sozialethik in Deutschland
241
und „der soziale Protestantismus“16 parallel gebraucht werden. Ich verstehe das als Hinweis darauf, dass die Begriffe eher als heuristische Hilfen zu verstehen sind und deren Extension somit bewusst möglichst umfassend gehalten ist. Die Autoren verfolgen, welche Transformationen „[d]as traditionelle christliche Motiv der ,Barmherzigkeit‘“ im 19. Jh. „unter den Bedingungen einer tiefgreifenden Veränderung der Sozial- und Wirtschaftsstruktur“ erlebt hat und wie es in der Moderne – konkret im 19. und 20. Jh. – zur Etablierung einer „evangelische[n] Sozialethik“ gekommen ist.17 Die knappe Einleitung fungiert als Zusammenfassung des Folgenden und schildert, wie der Untertitel ausdrücklich hervorhebt, die Entwicklung der „Charakteristika protestantischer Sozialethik“.18 Dass es der Sache nach sozialethische Reflexion und Orientierung auch schon früher gegeben hat, ist für die Autoren selbstverständlich. Dass jedoch der Begriff „Sozialethik“ selbst erst später geprägt wurde, wird nicht eigens thematisiert. Es wird nur indirekt ersichtlich durch seine Verwendung im Darstellungsgang. Ich komme darauf gleich zurück. Die geschichtliche Entwicklung der protestantischen Sozialethik bis heute wird chronologisch in sieben Kapiteln vorgeführt. Für die vorliegende Studie sind vor allem die ersten drei von Bedeutung: (1) „Impulse für Herausbildung des neuzeitlichen sozialen Protestantismus im Horizont von Pauperismus und Frühindustrialisierung“, (2) „Die Innere Mission als Kristallisationspunkt des Sozialen Protestantismus“ und (3) „Der soziale Protestantismus im Kaiserreich – Anfänge einer Sozialstaatsentwicklung“.19 Im ersten Kapitel werden vier Gruppen von Faktoren skizziert, die zu Beginn und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. von Relevanz sind. Die kursiven Hervorhebungen im Folgenden stammen von mir. Sie deuten an, was unter dem sozialen Protestantismus oder der protestantischen Sozialethik verstanden werden könnte: (a) das „sozialethische[] Leitbild“, das seit der Reformation ganz dominiert habe, nämlich „der christliche Liebes-Patriarchalismus“, (b) die „Neuansätze christlicher Liebestätigkeit zwischen Aufklärung und Erweckung“, (c) „Impulse für die christliche Wohltätigkeit aus Großbritannien“ und (d) der religiös-sozialrevolutionäre Protest im Vormärz. Mit der Konstatierung, dass 15 16 17 18 19
Vgl. z. B. ibid., 876. Vgl. z. B. ibid., 874. Jähnichen/Friedrich, Geschichte der sozialen Ideen, 873. Ibid., 867. Es folgen „Der Prozess der Verkirchlichung und Ausdifferenzierung des Sozialen Protestantismus in der Weimarer Republik“ (als Kap. 4), „Theologische und sozialethische Neuorientierungen in Auseinandersetzung mit dem totalitären Staat des Nationalsozialismus“ (als Kap. 5), „Die soziale Marktwirtschaft als sozialethisches Leitbild des Protestantismus“ (als Kap. 6) und „Vom gesellschaftsverändernden Aufbruch der sechziger zur Verteidigung ,sozialer Gerechtigkeit‘ gegenüber neoliberalen Gesellschaftsmodellen seit den achtziger Jahren“ (als Kap. 7).
242
Einführende Kontextualisierung
seit der Reformation bis in die erste Hälfte des 19. Jh. eine patriarchalische, agrarisch-kleinbürgerliche Ethik eine eindeutige Vorherrschaft genossen habe, stimmen die Autoren Ernst Troeltsch zu.20 Der Patriarchalismus habe also als „Leitbild lutherischer Sozialethik“ gegolten.21 Weil „diese patriarchalische Herrschaftsgewalt stets durch das Liebesgebot und die Fürsorgepflichten der übergeordneten Stände relativiert“ wurde, sprechen die Autoren von einem „Liebespatriarchalismus“.22 Unter den Bedingungen der sozialen Umbrüche des 19. Jh. wurde dieses Leitbild zunehmend „unzureichend“23 und somit „eine sozialethische Neuorientierung des Protestantismus“,24 eine Besinnung auf die Gestaltung der Strukturen der Gesellschaft, zu einer immer dringlicheren Grundherausforderung. Für die Zwecke dieser einführenden Kontextualisierung reicht die Beobachtung aus, dass Jähnichen und Friedrich das Sozialethische als eine selbstverständliche Dimension christlicher Existenz betrachten und deshalb den Begriff „Sozialethik“ in ihrer Darstellung auch zur Benennung bestimmter Züge in der Lehre etwa der Reformatoren verwenden. Also beginnt die Geschichte der protestantischen Sozialethik, wie die Einleitung es zusammenfasst, von der Sache her schon im 16. Jahrhundert. Gleichzeitig fällt jedoch ins Auge, dass in der Darstellung erst in der Behandlung des sozialen Protestantismus im Kaiserreich der Begriff als Element der Gliederung auftaucht. In der Gliederung des Werkes werden also die relevanten Begriffe folgendermaßen verwandt: Die Wendung „sozialethisch“ taucht zuerst für die Charakterisierung des christlichen Liebes-Patriarchalismus als sozialethischen Leitbildes des Protestantismus bzw. des Lutherthums auf (Kap 1.I). Sodann findet sich der Begriff „Sozialethik“ bzw. „lutherische Sozialethik“ innerhalb der Entwicklungsskizze eines sozialkonservativen Reformprogramms des Zusammenlebens (Kap. 3.I.5). Aus dem Abschnitt wird nicht ersichtlich, ob Uhlhorn selbst den Begriff verwendet hat. Zum dritten Mal, zeitlich schon nach dem Tod von Oettingens, taucht der Begriff dort auf, wo es in der Periode der Weimarer Republik um von Oettingens Schüler „Reinhold Seeberg und das Institut für Sozialethik in Berlin“ geht (Kap 4.II.2). „Sozialethisch“ wird in demselben Kapitel in zwei Obertiteln der Abschnitte gebraucht. „Sozialethik“ taucht jedoch wiederum nur da auf, wo es um „Sozialethik des Lutherthums“ (Ihmels, Althaus, Elert) geht (Kap 4.III.2.c). „Sozialethisch“ figuriert gelegentlich in der Feingliederung von Kap. 5 und 6 und mehrmals im letzten Kapitel. Vereinfachend kann man m. E. diese Beobachtungen summierend so be20 21 22 23 24
Vgl. ibid., 881. Ibid., 880. Jähnichen/Friedrich, Geschichte der sozialen Ideen, 881. Ibid. Ibid., 883.
Zur Entdeckung der Sozialethik in den USA
243
schreiben: Rückblickend wird von einem in der Zeit der Reformation sich herausbildenden „sozialethischen Leitbild“ gesprochen. „Sozialethik“ taucht im letzten Drittel des 19. Jh. auf, aber auch dort schon als eine Konzeptualisierung von Jähnichen und Friedrich („Ansätze für eine lutherische Sozialethik“). In der Weimarer Zeit erscheint „Sozialethik“ begrifflich verbunden mit Reinhold Seeberg und seinem Institut für Sozialethik und mit dem „Luthertum“ (L. Ihmels, P. Althaus, W. Elert). Dann häuft sich die Wendung „sozialethisch“ immer mehr und die anfänglich ins Auge fallende konfessionelle Verbindung lockert sich. Als Hypothese stelle ich auf, dass nebenbei und unbeabsichtigt bzw. ohne explizite Hervorhebung in dieser Darstellung zum Ausdruck kommt, dass und wie der Begriff „Sozialethik“ in der evangelischen Theologie im 19. Jh. zunächst von lutherischen Theologen (oder, wenn etwa Huber und Honecker Recht haben, dann von einem konkreten lutherischen Theologen) aufgenommen wurde und wie er im Laufe des 20. Jh. zum Allgemeingut der (evangelischen) Theologie geworden ist, so dass er und seine Derivate (z. B. „sozialethisch“) ganz selbstverständlich im Zusammenhang mit bestimmten Sachverhalten gebraucht werden können. Wenn Traugott Jähnichen und Norbert Friedrich eine Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Protestantismus erzählen, verstehen sie diese als Geschichte der protestantischen Sozialethik. Diese gibt es seitdem es den Protestantismus gibt: zunächst jahrhundertelang als Liebes-Patriarchalismus. Im 19. Jh. wurde das Bemühen um eine sozialethische Umorientierung besonders akut. In der zweiten Hälfte des 20. Jh. setzte sich dann eine „soziale Marktwirtschaft“ mit Fokus auf „soziale Gerechtigkeit“ als neues „sozialethisches Leitbild des Protestantismus“ durch.
16.4
Zur Entdeckung der Sozialethik in den USA
Die große Gesamtdarstellung Social Ethics in the Making. Interpreting an American Tradition öffnet mit einer zugespitzten These: „In the early 1880s, proponents of what came to be called the ,social gospel‘ founded what came to be called ,social gospel‘.“25 Der Autor Gary Dorrien setzt sich „a history of the tradition of social ethics of the USA“ zum Ziel.26 Es geht darum, wie „the social meaning of Christianity“ verstanden worden ist, wobei Dorrien – ähnlich wie die oben vorgestellten deutschen Autoren – sich nicht auf die akademischen Diskussionen und Beiträge konzentriert, sondern „the founding and development of social ethics as a discourse in the realms of the academy, church, and general 25 Dorrien, Social Ethics in the Making, 1. 26 Ibid.; vgl. Hochgeschwender, Sozialer Protestantismus in den USA.
244
Einführende Kontextualisierung
public“ beschreibt.27 Also bezeichnet „Sozialethik“ von Anfang an sowohl eine akademische Disziplin als auch eine Denkart über die christliche Ethik, die die akademischen Grenzen weit überschritten hat und überschreitet. Für die vorliegende Studie ist aufschlussreich – weil sichtbar anders als in Deutschland, wo die wichtigsten Impulse üblicherweise zunächst als aus dem „konservativen Lager“ stammend angesehen werden28 –, dass hier vor allem „the role of the liberal-Progressive social gospel […] in giving birth to social ethics and establishing its disciplinary character“ hervorgehoben und gelobt wird.29 Der Titel des Buches kann den Eindruck erwecken, es gehe darum die Sozialethik als eine amerikanische Erfindung zu präsentieren. Mir scheint die Bedeutung in der Tat zwischen der Sozialethik in den USA und der Sozialethik als einem spezifischen Beitrag der USA zu oszillieren. Auf jeden Fall spricht Dorrien von den „Begründern“ der Sozialethik und will in seinem Buch „the unknown story of the founders of social ethics“ erzählen.30 Francis Greenwood Peabody, der an der Harvard University lehrte, wird geehrt als „the first social ethicist“.31 Die Tätigkeit dieser Pioniere vollzog sich in erster Linie auf der akademischen Bühne und mit begrenztem Erfolg, weshalb sie auch in Vergessenheit gerieten. Doch ihre Entdeckung, „that there is such a thing as social structure and that redemption always has a social dimension“ hat das Überleben der Sozialethik sichergestellt.32 27 Dorrien, Social Ethics in the Making, 1. 28 So auch Jahnichen/Friedrich, Geschichte der sozialen Ideen; Honecker, Die evangelische Sozialethik; F.-W. Graf, Gesellschaft des Kaiserreichs. Dorrien erwähnt eine Ausnahme: „Lutheran theologian J.H.W. Stuckenberg [1835–1903 – T.-A.P.] was another able advocate of social Christianity whose book, Christian Sociology (1880), foreshadowed social gospel themes and arguments. He was the first to use the term ,Christian Sociology‘ […]. American Lutheranism was not a player in progressive Christian circles, and Stuckenberg’s commitment to social Christianity cut against the grain of Lutheran two-kingdoms theology. He was too isolated to make a significant impact on his own group or to be noticed beyond it.“ (Dorrien, Social Ethics in the Making, 23). Von Oettingen bezeichnet den zweiten Hauptteil seiner materiellen Ethik (vgl. unten Kap. 19) als „christliche Sociologie“ (1873a, 645). 29 Dorrien, Social Ethics in the Making, 23. 30 Ibid., 3. Gemeint sind Francis Greenwood Peabody (1847–1936), William Jewett Tucker (1839–1926) und Graham Taylor (1851–1938). Als Vorbereiter wird auf Stephen Colwell (1800–1871) und Horace Bushnell (1802–1876) hingewiesen. 31 Ibid., 7, vgl. 16, 21f. 32 Ibid., 7. „The idea that Peabody shared with Tucker and Taylor, social ethics, was a new thing. It grew out of moral philosophy and was deeply wedded to the social gospel, but it was something different from moral philosophy and it belonged to the academy, where it outlasted the social gospel.“ (Ibid., 36). Peabody’s Herangehensweise an die Ethik ist induktiv gewesen: es gehe um die Erforschung der sozialen Bewegungen mit Blick auf die großen sozialen Probleme (vgl. ibid., 19). Der entscheidende Impuls für die Erweckung des sozialen Bewusstseins und für die Genese der social gospel Bewegung – die sich als „a turning point in Christian history“ (ibid., 21) verstanden hat – war nach Ansicht Tuckers „the emergence of a workers movement that demanded economic justice, not charity“ (ibid., 22). (Dorrien teilt
Zur Entdeckung der Sozialethik in den USA
245
Einige Hauptpunkte des Ertrages seiner Interpretation der Genese und Entwicklung der Sozialethik fasst Dorrien folgendermaßen zusammen: Social ethics was established to expound the ethical dimension of a rising, ostensibly unified field of social science. Beginning as a successor to required courses in moral philosophy, it approached ethics inductively as the study of social movements addressing social problems. Social ethicists used social scientific methods to observe, generalize, and correlate their way to an account of the whole, including its ethical character. By attaching themselves to social science, the social-ethical founders won a place for their enterprise in theological education, and aspired to one in social science. But the social sciences took the path of specialization and secularization, leaving social ethics to theology. Afterwards, the view that social ethics had to have a blood relationship to science became a minority one, while the field’s greatest figures paid little attention to disciplinary concerns. What mattered to the great advocates of social Christianity was to change the world, not the university. The three towering figures in American Christian social ethics are Walter Rauschenbusch [1861–1918], the prophet of the social gospel; Reinhold Niebuhr [1892–1971], the theorist of Christian realism; and Martin Luther King, Jr [1929–1968], the leader of modern America’s greatest liberation movement.33
Dorrien hebt besonders die Rolle von Peabody bei der „Erfindung“ der Sozialethik hervor (dessen erstes Buch Jesus Christ and the Social Question erschien allerdings erst 1900). Er bemerkt, wie für Peabody die neue Disziplin, die neue christliche Ethik, im Unterschied zu der auf das Individuum fokussierten Moralphilosophie die Aufmerksamkeit auf die sozialen Probleme richtet.34 Was m. E. als eine ganz klare Implikation Dorriens facettenreicher Darstellung der Genese der Sozialethik anzusehen ist – nämlich: dass Sozialethik (in den Staaten) nicht etwa als ein Teilbereich der Ethik konzipiert wurde –, ist der Vorschlag „to replace moral philosophy with social ethics“.35 Sozialethik sollte also die neue christliche Ethik werden – eine Ethik, die den Reichsglauben Jesu für die Gegenwart der Moderne rückzugewinnen hilft.36 Es sei also festgehalten: Laut der Interpretation Dorriens ist die Sozialethik in
33 34 35 36
diese Einschätzung, indem er die Bewegung für das soziale Evangelium vor allem als eine Antwort auf die Arbeiterbewegung versteht [vgl. ibid., 10].) Peabody lehrte in Harvard University ab 1881 Ethik in einer Weise, die dazu führte, dass die Veranstaltung im Jahr 1901 (auf einen Frage von William James hin) den Namen „Social Ethics“ bekommen hat. Im Jahr 1906 bekam Sozialethik in Harward sogar eine eigenständige Abteilung. Tucker las Sozialethik (unter dem Namen „social economics“) als Disziplin seit 1889 in Andover Seminary (Dorrien, Social Ethics in the Making, 6, vgl. 22). Taylor bot seit 1888 in Chicago Theological Seminary Veranstaltungen u. a. in „Christlicher Soziologie“ an, leitete dort die welterste Abteilung für christliche Soziologie (ibid., 6) und rief 1892 in University of Chicago die erste Abteilung der Welt für Soziologie ins Leben (vgl. ibid., 42). Ibid., 2. Ibid., 19. Ibid., 15. Ibid.
246
Einführende Kontextualisierung
den frühen 1880er Jahren (in Amerika) „erfunden“ worden. Sie beanspruchte eine Erneuerung der christlichen Ethik als solcher – und nicht etwa dadurch, dass sie lediglich ein neuer Teilbereich von ihr wird. Wenn ich Dorrien richtig verstanden habe, könnte man diese Geschichte auch so pointieren, dass zumindest am Ursprung dieser amerikanischen sozialethischen Tradition die (in einem theologisch progressiv-liberalen Sinn zu deutende) Einsicht liegt: (christliche) Ethik ist – bzw. sollte immer sein – Sozialethik. Ich bewerte dies als ein weites bzw. fundamentalethisches Verständnis von Sozialethik.
16.5
Ethik als Sozialethik oder Sozialethik als Bestandteil der Ethik?
Anknüpfend an das zuletzt Gesagte möchte ich die Vorbereitung für die folgende Behandlung der Sozialethik von Oettingens mit Bemerkungen zu einem eventuellen Verständnishindernis abschließen. Obwohl der Begriff Sozialethik erst im 20. Jahrhundert gängig geworden ist und man darunter heute eine Disziplin versteht, „deren Entstehen mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft verbunden ist“, hat Ulrich Körtner (*1957) zufolge die Sozialethik schon immer konstitutiv zur Ethik gehört.37 Das ist deswegen so, weil Sozialethik mit der sozialethischen Dimension des Handelns zu tun hat, d. h. zum einen damit, „dass der einzelne innerhalb einer Gesellschaft und einem politischen Gemeinwesen lebt und für seine individuelle Lebensführung die bestehenden überindividuellen Versorgungs- und Schutzsysteme in Anspruch nimmt“, zum Zweiten aber auch mit einem Handeln, „dessen unmittelbares Subjekt […] eine Gruppe von Menschen oder eine Institution ist“, also mit einem kollektiven Handeln.38 Obwohl der Schwerpunkt der ethischen Reflexion heute auf dem Gebiet der Sozialethik liege, weil die brennenden Fragen von heute „sozialer Natur“ seien, weist Körtner die Auffassung entschieden zurück, Ethik sei konkret immer Sozialethik.39 Kurz: 1. Handeln hat immer eine sozialethische Dimension, aber Ethik ist nicht immer Sozialethik; 2. Der Begriff seit dem 20. Jh. geläufig. Auch Martin Honecker will die Ethik als solche nicht für Sozialethik halten: 37 Vgl. Körtner, Evangelisch Sozialethik, 43. Im Anschluss an Artur Rich unterscheidet Körtner zwischen vier ethischen Dimensionen des Handelns: individualethische, personalethische, sozialethische und umweltethische (vgl. ibid., 40–42). 38 Ibid., 41. 39 Vgl. ibid., 13, 43. Man kann Körtner von seinen Voraussetzungen her wohl fragen: Wenn das Handeln „stets […] eine sozialethische Dimension hat“, wieso meint er nicht zustimmen zu können, dass eine nichtabstrakte, i. e. alle relevanten Bezüge berücksichtigende Ethik, „immer“ auch Sozialethik ist (ibid., 41)?
Ethik als Sozialethik oder Sozialethik als Bestandteil der Ethik?
247
„eine evangelische Sozialethik gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert“.40 Ein weites Verständnis, das mit dem Verweis auf den Menschen als soziales Wesen Sozialethik zu einem ethischen Dauerthema erklärt, ist zwar möglich, lässt jedoch Ratlosigkeit zurück im Blick auf die Frage, warum sie dann erst so spät doch „zu einem eigenen Thema“ und zu einem „eigenständige[n] Fach“ geworden ist: „in den Prozessen der Modernisierung, der Industrialisierung und Technisierung“ ist sichtbar geworden, dass es „nicht nur um […] Verhalten in den Strukturen geht, sondern dass die Gestaltung der Ordnung der Strukturen als solche zum Thema wird“.41 Insofern sei Sozialethik, verstanden im engeren Sinn eines Bereiches von Ethik, eine Entwicklung und Entdeckung der Moderne, in der die Gestaltung der Sozialstrukturen reflektiert wird. Kurz: 1. Sozialethik entsteht im 19. Jahrhundert; 2. von Oettingen führt den Begriff ein; 3. Grund für diese weitere Differenzierung im Rahmen der Ethik: Rapide gesellschaftliche Wandlungen zeigen, dass soziale Strukturen gestaltet werden können und müssen. Bei Honecker bleibt der Eindruck, dass die Anfänge der Sozialethik im 19. Jh. nur mit der Entdeckung des Sozialen (im engeren Sinn) verbunden waren. In neuerer Zeit hat besonders Johannes Fischer (*1947) das Verständnis der Ethik als Sozialethik kritisiert und die Unterscheidung zwischen Individual- und Sozialethik als grundlegend betrachtet: Erstere „hat es mit der Orientierung individuellen Lebens und Handelns zu tun“, die letztere reflektiert „die ethischen Aspekte von Institutionen bzw. sozialen Strukturen“ innerhalb derer gelebt und gehandelt wird, insb. auch deren Gestaltung.42 Eine solche Unterscheidung werde jedoch auch in Frage gestellt, weil „alles individuelle Handeln immer schon in einem sozialen Kontext steht und […] auch die handelnde Person sozial konstituiert und in ihren sittlichen Überzeugungen sozial geprägt ist“.43 Für Fischer ist jedoch entscheidend, ob eine solche Unterscheidung trotzdem einen guten Sinn hat oder nicht. Und hier vertritt er die These, dass sie sich „von der reformatorischen Rechtfertigungslehre her und der Differenzierung zwischen Person und Amt […] zwingend nahe[legt], wobei die Prävalenz eindeutig bei der Individualethik liegt“.44 Diese Unterscheidung sei also theologisch „zwingend“. Ebenso sei theologisch bzw. von der Rechtfertigungslehre her eine Vorherrschaft der Individualethik zu vertreten. Hier wird also Sozialethik wieder in einem engeren – Fischer selbst sagt „strengen“ – Sinn verstanden. Die These 40 Honecker, Die evangelische Sozialethik, 154. 41 Honecker, Die evangelische Sozialethik, 178. „Das klassische Luthertum lehrte nur, dass Christen in den Ordnungen Liebe zu üben haben“ (ibid.; mit Verweis auf CA XVI). 42 Fischer et al., Grundkurs Ethik, 329; vgl. Fischer, Theologische Ethik, 57f. 43 Fischer et al., Grundkurs Ethik, 330. 44 Fischer, Theologische Ethik, 59. „Denn sie reflektiert auf die Leitorientierung, die auch dem Engagement des Christen bezüglich der weltlichen Ordnungen zugrunde liegt und an der sich bemisst, wie diese zu erhalten und zu gestalten sind, nämlich im Sinn der Liebe.“ (Ibid.).
248
Einführende Kontextualisierung
wird stark gemacht mit Hilfe der Rechtfertigungslehre, deren Pointe diesbezüglich ein gehobener Status von Individualethik sei. Diese Argumentation ist besonders beachtenswert und erhellend für die weiteren Kapitel. Soviel zur Geltung der Sozialethik nach Fischer. Damit hängt direkt zusammen, was er zu ihrer Genese zu bemerken hat: „Die Erkenntnis, dass soziale Ordnungen und Strukturen Gegenstand menschlicher Gestaltung sind und dass solche Gestaltung eine Herausforderung an die ethische Reflexion darstellt, hat sich innerhalb der evangelischen Ethik lutherischer Provenienz erst nach und nach durchgesetzt. Und so kam es auch erst im Zuge dieser Entwicklung zur Unterscheidung zwischen Individual- und Sozialethik im Sinne sozialstruktureller Ethik.“45 Als theologischer Disziplin, als Teildisziplin theologischer Ethik im heutigen Sinn, sei die evangelische Sozialethik erst nach dem Zweiten Weltkrieg, d. h. um die Mitte des 20. Jh. entstanden.46 Für Fischer ist hinsichtlich des Infragestellens der Unterscheidung von Individual- und Sozialethik die entscheidende Frage gewesen, ob eine Unterscheidung Sinn macht. Mit Blick auf von Oettingen, der in den späten 1860er Jahren als erster Theologe mit einer „Sozialethik“ aufgetreten ist, ist dagegen zu fragen: Was bezweckte er damit? In welchem Sinn wollte er Ethik als Sozialethik verstehen und bearbeiten? Es wäre zu fragen, ob in seiner Auffassung etwas steckt, was heute weiterhin einen Sinn ergibt. Es ist ja möglich, dass anstelle der Kritik an entweder einer Unterscheidung oder einer Ineinssetzung in einer präzisierten Bedeutung die beiden Annäherungen, i. e. eine engere sowie eine breitere fundamentalethische Bedeutung, als legitim und einander unterstützend bzw. korrigierend anerkannt werden können. Wichtig ist also im Folgenden zu untersuchen, was die Pointe der oettingenschen Rede von Sozialethik ausmacht. Zu fragen ist z. B. (1) Ob die Motive für eine Sozialethik nur bzw. einseitig a) mit den sozialen Transformationen und der (b) damit verbundenen Entstehung der Sozialwissenschaften verbunden ist. (2) Oder ob Alexander von Oettingens Entwurf einer Sozialethik zugleich oder zunächst mit genuin theologischen Überlegungen und Einsichten, insb. mit 45 Fischer, Theologische Ethik, 59f. 46 Vgl. ibid., 60. Es vollzog sich „ein tief greifender Umbruch innerhalb der evangelischen Sozialethik“: Es wurde zunehmend anerkannt, „dass ,Gesellschaft‘ im modernen Sinne ein sozialwissenschaftliches Konstrukt ist und daher angemessen nur in sozialwissenschaftlichen Kategorien beschrieben werden kann. […] An die Stelle theologischer Gesellschaftsdeutungen trat eine sozialethische Neuorientierung, welche ,Gesellschaft‘ als einen profanen, gestaltungsoffenen Raum begreift, der hinsichtlich seiner institutionellen Ordnung menschlicher Verantwortung obliegt.“ („Das kann dann selbst noch einmal theologisch bzw. christologisch begründet werden.“) (Fischer et al., Grundkurs Ethik, 333). „Der Begriff der Institution tritt an die Stelle theologisch befrachteter Begriffe wie ,Ordnung‘ oder ,Schöpfungsordnung‘ und wird zunehmend in einem soziologischen, theologisch neutralen Sinne gebraucht.“ (Ibid., 334).
Motive für eine Transformation der Ethik in eine Sozialethik
249
seiner Kreuzestheologie, verbunden ist. Die entscheidende, im dritten Teil der vorliegenden Studie zu erörternde Frage lautet: (3) Sind mit der Behauptung der Ethik als Sozialethik möglicherweise Einsichten verbunden, die nicht preiszugeben bzw. zu vergessen sind? Oder ins Positive gewendet: Besteht ein Bezug zu Erkenntnissen, die wegen ihrer Relevanz für die Gegenwart wieder in Erinnerung zu rufen sind? Kann das Verständnis der Ethik als Sozialethik hilfreich sein zur Reorientierung – als Kritik an der angeblich protestantischen Fokussierung und Fixierung auf den Einzelnen? Ist der protestantische Individualismus eine neuzeitliche Erfindung? Besteht die Möglichkeit, dass in einer Gesellschaft – national, europäisch, global –, in der es an Solidarität mangelt, ein Aufweis bzw. ein Explikationsversuch des „sozialen Grundzugs“ des christlichen Glaubens (und Lebens) – und nicht (nur) des „individuellen Grundzugs“ – bzw. eine Hilfeleistung zu seiner Wahrnehmung, eine Sensibilisierung für die Solidarität, Not tut? Gibt es dafür Ansätze, Denkfiguren und Argumentationslinien bei von Oettingen, die hier inspirierend wirken können?
17.
Motive für eine Transformation der Ethik in eine Sozialethik auf empirischer Grundlage [D]ie […] Grundpfeiler meiner Argumentation sind: die Freiheitsidee und die Solidarität.1 (Alexander von Oettingen)
Wie ich im letzten Kapitel notiert habe, ist die Wendung social ethics im englischen Sprachraum zu Beginn des zweiten Viertels des 19. Jahrhunderts schon in Gebrauch. Sie bezeichnet die Rechte und Pflichten, die eine Person hat, sofern sie in Beziehung zu anderen Personen steht und, wenn man sie als Disziplinbezeichnung auffasst, die Erforschung und Darstellung solcher sozialen Rechte und Pflichten. Vor 1867 ist social ethics nach dem gegenwärtigen Stand des Wissens jedenfalls ein Spezialbereich der Ethik. Die Einführung des Begriffes innerhalb der Theologie und der theologischen Ethik erfolgt jedoch erst durch von Oettingen und zwar in einem fundamentalethischen Sinn. Diesen Sinn versuche ich nun genauer zu eruieren.
1 1873a, 7. Im Rahmen dieses Kapitels verweise ich auf die Hauptquelle (1868a) nur mit einer Seitenzahl.
250 17.1
Einführende Kontextualisierung
Vor dem Jahr 1867
Zunächst rufe ich noch selektiv einige Denkfiguren und Erkenntnisse aus den Kapiteln über die ersten zwei Phasen (bis zum Beginn der Veröffentlichung des sozialethischen Hauptwerkes) des Werkes von Oettingens in Erinnerung.2 Man konnte dort beobachten, wie in verschiedenen Modifikationen eine Kritik des Subjektivismus, der zeittypischen Priorisierung der Subjektivität, nämlich der Zentralstellung des Einzelnen, sein Werk vom Anfang an durchzieht. Von grundlegender ethischer Relevanz ist die schon früh formulierte Überzeugung, der Einzelne gelingt zur wahren Freiheit als Glied des Gesamtleibes der Kirche. Im fließenden Übergang zur zweiten Phase formuliert er eine seiner Grundeinsichten schon in der Art, wie es bei ihm später öfter begegnet: Der Mensch ist ein sittliches Wesen nur als Glied der Gattung, als Glied der Gemeinschaft, zu der er gehört. Als Einzelner kommt man als sittliches Wesen nicht in den Blick. Gleich zu Beginn der zweiten Phase erkennt er das bleibende Verdienst von Kant darin, dass dieser gegenüber dem Libertinismus als einem Grundzug der Gegenwart die Pflicht und gegenüber dem Determinismus die Freiheit hervorgehoben habe. Zwar sind sowohl der kantsche Pflichtbegriff als auch sein Freiheitsbegriff von Oettingen zufolge unzureichend – insbesondere sei die Auffassung von Freiheit als Autonomie zu absolut und abstrakt-formal –, aber dieser doppelte Gegensatz, durch den schon hier negativ seine eigene Stellung angedeutet wird, spielt in etwas veränderter Gestalt einige Jahre später bei der Begriffsbildung „Sozialethik“ eine konstitutive Rolle. Durch von Oettingens differenzierte Auseinandersetzungen mit der neueren wissenschaftlichen Literatur auf dem Gebiet der (theologischen) Ethik kommt er zu einem doppelten Ergebnis: Das Interesse für das Ethische sei „enorm groß“, Ethik als Wissenschaft liege jedoch „noch in den Geburtswehen“. Seine eigenen Bemühungen knüpfen also einerseits an dieses ethische Interesse, anderseits an die unbefriedigende Lage der Ethik als Wissenschaft an. Diese Lage werde besonders dadurch spürbar, dass im Gegensatz zur neueren, aber auch zur älteren Ethik, die es meistens in fataler Weise verkenne bzw. nicht hinreichend berücksichtige, dass der Mensch ein sittliches Wesen nur als soziales Wesen, als Glied der Gemeinschaft, sei, die neuen Ergebnisse der entstehenden statistisch-empirischen Gesellschaftsforschung in einer naturalistisch-deterministischen Weise das soziale Zusammenleben nach dem Modell der physikalischen, streng kausalen Gesetze erfassen und damit der Ethik – der Freiheit, Verantwortung und Schuld des Menschen, sowie der Differenz von Natur- und Sittengesetz – eigentlich kaum mehr Raum lassen. Eine solche induktiv-empirische „Sozialphysik“ mache Ethik unmöglich, so wie dies letzt2 Vgl. oben Kap. 5f.
Die Geburt des Begriffes aus einem Gegensatz
251
endlich auch bestimmte Rahmentheorien – pantheistische, materialistische oder naturalistische Metaphysiken, Ontologien oder Weltanschauungen – tun, weil Möglichkeit und Art einer Ethik, wie von Oettingen besonders in seiner Auseinandersetzungen mit Spinoza und Schopenhauer zu zeigen versucht, immer auch von solchen Grundanschauungen bedingt sind. Auf wissenschaftlichem Gebiet klaffen die Positionen also so auseinander, dass sie sich gegenseitig in Frage stellen. Es scheint eine aporetische Situation zu sein. Wie kann in einer solchen Lage Ethik als Wissenschaft bearbeitet und gestaltet werden? Charakteristisch ist, dass von Oettingens ethische Arbeit sich in einem interdisziplinären Gesprächszusammenhang vollzieht – in offener Auseinandersetzung sowohl mit paradigmatischen und einflussreichen philosophischen Positionen verschiedener Sprachräume als auch mit empirischen Wissenschaften.3
17.2
Die Geburt des Begriffes aus einem Gegensatz
Der Begriff „Sozialethik“ (bei von Oettingen eigentlich noch „Socialethik“) enthält einen doppelten Sinn (vgl. vi, 29–57, 66–68). In negativer Hinsicht beinhaltet er einerseits eine Kritik der Auffassung, dass das menschliche Zusammenleben (nur) dem Naturgesetz unterliege, um Kritik an den Versuchen einer Physik des Sozialen, einer (naturalistischen) Sozialphysik, zu etablieren, andererseits eine Kritik des Gedankens, dass der Einzelwille bzw. das Einzelsubjekt den Gegenstand der ethischen Untersuchung und Reflexion bilde, i. e. die Kritik einer (idealistischen oder spiritualistischen) Personalethik.4 Während im ersten Fall die Freiheit ignoriert bzw. verneint werde, sei im zweiten Fall die Freiheit als etwas Individuelles, als etwas dem Einzelnen Zukommendes (als seine Autonomie) zu verstehen. In positiver Hinsicht bezeichnet er eine Ethik, bei der das Soziale im Vordergrund steht: Das Ethische ist prinzipiell als eine soziale Angelegenheit zu verstehen. Der Begriff Sozialethik wurde von von Oettingen geschaffen, um sowohl diesen doppelten Gegensatz als auch den Weg zu dessen 3 Vgl. zu den heutigen Debatten um eine „empirische Ethik“ z. B. Borry/Schotsmans/Dierickx (Hg.), Empirical Ethics; Doris/Stich, As a Matter of Fact; Schicktanz/Schildman (Hg.), Medizinethik und Empirie; Frith, Empirical Ethics; Vollmann/Schildmann (Hg.), Empirische Medizinethik. 4 In einem klassischen Aufsatz von Ernst Wolf wird ca. 80 Jahre später (1947) eine ähnliche Kritik zum Ausdruck gebracht. Im Gegensatz zu Eino Sormungens These („Luthers Ethik ist im eigentlichen Sinne Individualethik“ bzw. in einer Paraphrase dieser These durch Wolf: „luthersche Ethik [habe] Conformitasethik der Nachfolge Christi als Persönlichkeitsethik zu sein“ [Wolf, Politia Christi, 215f, Anm. 2]) weist er darauf hin, dass Luthers Ethik „Sozialethik“ sei, wobei dies kein Teil der Ethik neben der „Individualethik“ sei, sondern „dem zu entsprechen [habe], dass der Christenmensch nur im Zusammenhang der Gemeinde existiert und gedacht werden kann“ (ibid., 215).
252
Einführende Kontextualisierung
Überwindung anzudeuten. Einen wichtigen Anknüpfungspunkt für diesen Weg, der die Lage der Ethik als Wissenschaft verbessern soll, sieht er dabei in der „Moralstatistik“, die mitunter eben als Ermöglichung einer Sozialphysik verstanden wurde.5 Er versucht – „mit Verwendung des moralstatistischen Materials nach inductiv-numerischen Methode“ – „die christliche Sittenlehre als Socialethik zu bearbeiten“ (v). Eine solche Umgestaltung oder Transformation der Ethik, so die Hoffnung von Oettingens, kann „dem wahren […] Realismus“, dem „christlich kirchlichen, wenn man will lutherischen Realismus eine tiefere wissenschaftliche Begründung geben“ (vi; vgl. 1869a, xi, 986f). Welcher Status und Anspruch dieser Begründung zukommt, werde ich weiter unten präzisieren. Als Erstes möchte ich festhalten: Sozialethik ist bei von Oettingen als wissenschaftlicher Versuch einer Kritik und Überwindung der naturalistischen Sozialphysik und der idealistischen bzw. spiritualistischen Personalethik zu interpretieren.
17.3
„Einleitung“ im Überblick
Von Oettingen positioniert seinen Vorschlag einer Sozialethik ausdrücklich im Kontext der inter- und transdisziplinären wissenschaftlichen Diskussion seiner Zeit und bildet, auch z. B. die französisch- und englischsprachigen Beiträge aus vielen verschiedener Disziplinen berücksichtigend, den Begriff seines Unternehmens im Anschluss an diese. Seine programmatische, sehr gehaltvolle und beachtenswerte Einleitung6 in das Gesamtwerk (1–86) ist viergeteilt. Sie ist übrigens auch mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat versehen, der leicht verfolgen lässt, in welchem weiten Gesprächshorizont – mit Bezugnahme 5 Er hat vor allem die Arbeiten von Adolphe Quetelet (1796–1874), insb. sein Hauptwerk Sur l’homme et le d8veloppement de ses facult8s, ou essai de physique sociale, 2 Bd., aus dem Jahr 1835 (vgl. Quetelet, Physik der Gesellschaft), und die von seinem „verehrte[n] Freund und College[n]“ Adolf Wagner, damals Professor in Dorpat/Tartu, insb. seine Die Gesetzmäßigkeit in den scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen aus dem Jahr 1864, im Blick (vgl. A. Wagner, Gesetzmäßigkeit). 6 „Theils in der Unklarheit der Begriffe, die man mit den Worten: Realität, Thatsachen, Erfahrung, Induction, exacte Methode u.s.w. verbindet, theils in der Fraglichkeit der Anwendung dieser Methode [i. e. statistischer Beobachtung – T.-A.P.] auf die Geisteswissenschaften, namentlich die Theologie und theologische Ethik, liegt der Grund, warum ich nicht umhin kann durch diese Einleitung eine Orientierung auf dem weitverzweigten Gebiete zu versuchen, auf welchem Realismus und Idealismus sich so vielfach unnütz befehden, ja zum Theil gegenseitig aufzehren, statt sich zu associiren, und dadurch gegenseitig zu corrigieren.“ (2) Ohne solche unnütze Befehdung wäre „der Materialismus […] gar nicht zu einem so furchtbar erbitterten Gegner herangewachsen“, aber so, wie nun die Dinge liegen, schulden die Geisteswissenschaftler dem Materialismus einen großen Dank – auf jeden Fall sieht von Oettingen es für sich selbst so –, sofern sie durch ihn veranlasst worden sind realistisch zu denken (ibid.).
„Einleitung“ im Überblick
253
auf welche Werke, Denker und Wissenschaftler – er agiert und wie er stets in expliziter Auseinandersetzung mit anderen Stimmen und nicht selten mit der Bereitschaft, auch von „Gegnern“ zu lernen, zu denken pflegt. Insofern lässt sich seine Monographie selbst nicht als einsames, sondern als ein gemeinsames Unternehmen interpretieren und als Verdeutlichung seiner sozialethischen Grundeinsicht und -haltung ansehen. Ausgehend von der Beobachtung einer im Gegensatz zur der vorangegangenen idealistischen nun zeittypisch gewordenen Dominanz einer realistischen Grundhaltung, die sich im Bedürfnis „des modern wissenschaftlichen Bewusstseins“ nach der Erforschung von Tatsachen und in einer Abneigung gegen „philosophische[] Abstraktionen und theologische[] Deduktionen“ zeige, und der in dieser geistigen Atmosphäre weitverbreiteten Hochachtung jener Wissenschaften, die experimentell und induktiv arbeiten, behandelt er erstens den Realismus in den Geisteswissenschaften, insbesondere in der Ethik (1–29) – es finden sich hier ganz grundsätzliche wissenschaftstheoretische Überlegungen, so wie dreißig Jahre später auch in der Grundlegung der Dogmatik: Im Bemühen um eine Gesamtdarstellung der beiden Hauptdisziplinen der Systematischen Theologie wird dabei nicht auf einen sui generis Status von Theologie appelliert, so wie es nach dem Ersten Weltkrieg bes. durch Karl Barth eine einflussreiche Option wurde. Es wird aber auch nicht mit einer kategorialen Differenz von Natur- und Geisteswissenschaften operiert, die der Theologie eine Stellung bei den letzteren zuweisen würde, wie es einige Jahre später sehr wirkmächtig vor allem von Albrecht Ritschl vertreten wurde.7 Kurz, es geht um Theologie und Ethik im Zusammenhang der Wissenschaften und um die Frage, ob und in welchem Sinn auf diesem wissenschaftlichen Gebiet der Forderung eines Realismus nachgegangen werden kann. Im Hintergrund steht die rapide Entwicklung der Naturwissenschaften, ihre Emanzipation von der Philosophie und ihr immer wirksamerer und eindringlicherer Anspruch anstatt letzterer selbst die Stellung der Leitwissenschaft, des wahren Paradigmas der Wissenschaftlichkeit zu übernehmen.8 Ausgehend von der generalisierenden Beobachtung, dass im Bereich der Ethik, sowohl der philosophischen als auch der theologischen, „der Atomismus“, i. e. „die Ansicht […], dass ,Sittlichkeit‘ mehr oder weniger was persönlich 7 Von Oettingens Ausführungen erinnern m. E. vor allem an den sog. kritischen Realismus, der in verschiedener Gestalt auch in heutiger Diskussion vertreteten wird (z. B. durch Roy Baskhar [*1944], dessen Auffassung innerhalb der Theologie z. B. Alister McGrath rezipiert hat, oder durch Bernhard Lonegran, Thomas Torrence, Ian Barbour u. a.). 8 Es liegt in diesem Werk ein eindrückliches Beispiel des Dialogs zwischen Theologie und anderen Wissenschaften, insbesondere mit den entstehenden Sozialwissenschaften bzw. mit der empirischen Sozialforschung, vor. Vgl. den großen Anti-Dialog: Milbank, Theology and Social Theory.
254
Einführende Kontextualisierung
Individuelles sei und die Gemeinschaft erst von den sittlichen Individuen erzeugt und geschaffen werde“ (30), eine allgemeine Gefahr darstelle, zeigt von Oettingen in einem zweiten Schritt das Bedürfnis nach einer Sozialethik auf empirischer Grundlage (29–57). Hier geht es um die Positionierung und Rechtfertigung einer Sozialethik im Kontext der neueren ethischen Diskussion unter einer systematisierenden Berücksichtigung aller wichtigeren philosophischen und theologischen Ansätze. Mit Blick auf die Arbeit auf dem Gebiet der Ethik und ihre atomistische Gefährdung wird also das Bedürfnis einer Sozialethik behauptet und hinsichtlich der Popularität des sogenannten Realismus ihre Durchführung auf empirischer Grundlage vorgeschlagen. Drittens liegt die Aufmerksamkeit konkret auf der Statistik in ihrem wissenschaftlichen Werthe für die christliche Sittenlehre (57–80). Ausgehend von einem durch das vorherige Kapitel vorbereiteten Bedürfnis nach einer realistischen Beobachtung sittlicher Kollektivbewegung wird die Statistik bzw. die Moralstatistik als Mittel dazu vorgestellt. Zudem werden sowohl das doppelte Interesse der theologischen Ethik daran als auch die Gefahren dieser Methode für die Ethik thematisiert. Zuletzt, in einem vierten Kapitel, erläutert von Oettingen knapp die Aufgabe und den Plan seines zweiteiligen Werkes Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre. Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage (80–86).9
17.4
Vorbereitung einer realistischen Wende in der Ethik
Die Funktion dieser Einleitung ist im Rahmen des Gesamtwerkes kaum zu überschätzen. Wenn man die darin enthaltenen Überlegungen, Grundeinsichten und -entscheidungen ernst nimmt, verfügt man über wichtige Verständnishilfen für von Oettingens Sozialethik. Es ist von Anfang an deutlich, dass die empirisch-statistische Gesellschaftsbetrachtung der „Moralstatistik“ keineswegs als Begründung der Ethik bzw. Sozialethik zu interpretieren ist. Dieses Missverständnis, das leider auf theologischer Seite schon früh zu beobachten ist,10 sollte
9 Es sei vorläufig an dieser Stelle festgehalten, dass sich im Unterschied zu den im vorigen Kapitel angeführten gängigen Erklärungen über den Beginn der Sozialethik im 19. Jh. und die Prägung des Begriffes „Sozialethik“ die entsprechende wissenschaftliche Neubearbeitung der Ethik bei von Oettingen nicht in erster Linie als eine Reaktion auf Industrialisierung, Soziale Frage, etc. verstehen lässt. Er begrüßt allerdings die Verwendung der statistischen Methode auf dem Gebiet der Diakonie (in der sog. Inneren Mission Wicherns) (vgl. 69, 76f). 10 In wohl wirksamer Weise wird es z. B. in der Zeitschrift für Protestantismus und Kirche ausgesprochen, dem Publikationsorgan der Erlanger Theologie. Die Moralstatistik wird dort durch Reinhold Frank ausführlich besprochen ([Frank], Ueber Socialethik; s. bes. 105).
Alle Wissenschaften sind positiv
255
man sich nicht voreilig zu eigen machen. Es ist vielmehr angemessen den einleitenden Teil als eine prinzipielle Rechtfertigung des Gesamtvorhabens ernstzunehmen, in der Die Moralstatistik, als erste Hälfte des Gesamtprojektes, einen bestimmten Sinn zugesprochen bekommt. Dieser wird im Laufe des Werkes, vor allem im geschichtlich-methodologisch umfangreichen ersten Teil der ersten Hälfte und in der Einleitung zur fünf Jahre später erschienen zweiten Hälfte, auch Rückmeldungen aufnehmend, weiter präzisiert und erläutert. Jedoch unterbleibt eine grundsätzliche Revision – im Gegensatz zur Behauptung einer prinzipiellen Selbstkorrektur im Sinn einer Abschwächung des ursprünglichen Begründungsanspruches.11 Im Folgenden greife ich einige Grundentscheidungen von Oettingens auf, die die angestrebte realistische Wende in der Ethik vorbereiten. Als Hintergrund der Sozialethik von Oettingens ist es wichtig zu beachten, dass er der seiner Meinung nach verbreiteten Ansicht, nach der die Natur- und Geisteswissenschaften radikal differieren, nicht zustimmen kann. Eine solche Auffassung sei simplifizierend und naiv – sie könne in einer Lage, in der die auf einseitige Weise verstandenen Naturwissenschaften als Paradigma der Wissenschaftlichkeit gelten, für die Geisteswissenschaften nur schlechte Folgen haben. Bei allen Differenzen zwischen ihren Methoden will von Oettingen an einem „gemeinsamen Zweck“ und deshalb „in gewissem Sinne“ auch an „gemeinsame[n] Mittel[n]“ aller Wissenschaften festhalten, weil sonst eine gegenseitige Verständigung unmöglich wäre. Anders formuliert: Es ginge „[d]ie innere Einheit der Wissenschaften [verloren], an die wir alle glauben“ (3). Es ist weder möglich noch nötig, hier ins Detail zu gehen. Aber für das Verständnis von von Oettingens Theologie und Sozialethik ist es wichtig zu berücksichtigen, dass er an einer Verständigungsmöglichkeit zwischen den Wissenschaften festhält. Ich hebe aus der diesbezüglichen Gedankenentwicklung von Oettingens drei zusammenhängende Punkte hervor.
17.5
Alle Wissenschaften sind positiv
Zum einen will von Oettingen aus dem erwähnten Grund alle Wissenschaften als „positive“ auffassen. Diese Charakterisierung erinnert aus theologischer Perspektive zunächst an Schleiermachers theologische Enzyklopädie und seine Bestimmung der Einheit einer Disziplin über einen gemeinsamen Zweck. Von Oettingen greift hier jedoch vielmehr eine im damaligen wissenschaftstheoreSeine bemerkenswerte Auseinandersetzung mit von Oettingen ist zwar anonym erschienen, stammt jedoch bekannter Weise von ihm. 11 Vgl. oben Kap. 2.
256
Einführende Kontextualisierung
tischen Diskurs aktuelle und einflussreiche Programmformel auf, die August Comte (1798–1857), der Begründer des Positivismus, in Cours de philosophie positive (1830–1842) geprägt hat. Von Oettingen ist der Überzeugung, dass alle Wissenschaften ein Gebiet der wirklichen Welt, sei es der materiellen, sei es der geistigen, sei es der vergangenen, aber bis in die Jetztzeit hinein ragenden, urkundlich oder traditionell aufbewahrten, sei es der gegenwärtigen, aber aus der Vergangenheit herausgestalteten und entwickelten zu erkennen d. h. in ihren Bewegungs- und Gestaltungs-Gesetzen zu verfolgen [wollen], geistig zu erfassen suchen (3).
Eben in diesem Sinn – er entfaltet diese Auffassung speziell im Hinblick auf die sog. reine Wissenschaft, wie etwa die Mathematik, und auf die Annahme einer „reinen Vernunft“ – gebe es „nur positive“ und „keine voraussetzungslose“ Wissenschaft (ibid.). Alle Wissenschaft sei aus nachdenkender […] Thätigkeit geboren. […] Mehr Ohr und Auge, mehr beobachtendes und empfängliches Sensorium für die Wirklichkeit und die gewaltige Predigt der Thatsachen würd die Wissenschaft auch mehr zu dem machen, was sie vor Allem sein soll: – positiv. (4)
Den Begriff der „positiven“ Wissenschaften fasst von Oettingen umfassender auf als „Comte, der mit den meisten Realisten der englischen und französischen Schule das ,Metaphysische‘ und ,Theologische‘ aus dem Gebiete des positiv Thatsächlichen ausschliessen will“ (4). Vielmehr sollte „jede Handlung, ja jedes Wort und jeder fruchtbare Gedanke als eine Thatsache anerkannt werden, welche auch Realitäten geistiger, resp. theologischer und metaphysischer Art involviert“ (5, vgl. 14–18).
17.6
Keine Trennung, sondern Kombination von Induktion und Deduktion
Zum zweiten: Mit der statistischen Methode, ihrem Können und ihren Grenzen in der Analyse von gesellschaftlichen Prozessen wird von Oettingen sich noch sehr gründlich auseinandersetzen (vgl. 87–312, insb. 235–312). Aber in der Einleitung, als einer ersten bzw. elementaren Näherbestimmung der Methode, mit der die wissenschaftliche Erforschung der realen Welt bzw. der Tatsachen erfolgt, erklärt er die Notwendigkeit, dass Induktion und Deduktion kombiniert werden müssen. Anderenfalls gerate man entweder in einen unwissenschaftlichen naiven Realismus (Empirismus) oder aber in einen spekulativen Idealismus (Dogmatismus). Es ist also unmöglich, sie gegeneinander auszuspielen, die eine oder die andere zu verabsolutieren oder, im Zuge einer Forderung der Positivität der Wissenschaft, der Erforschung der wirklichen Welt in ihren
Keine Trennung, sondern Kombination von Induktion und Deduktion
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verschiedenen Gebieten bzw. Dimensionen oder Schichten der Geisteswissenschaften grundsätzlich „Unwissenschaftlichkeit oder richtiger Wissenschaftslosigkeit“ vorzuwerfen (12f). Das induktive Verfahren sei am besten zu verstehen als „die Zurückdeutung des erfahrungsmässig gefundenen Thatbestandes auf allgemeine Gesetze oder Prinzipien“ (5). Zu ihm gehören also Beobachtung und Schluss. Dass man sich überhaupt für „das Gesetz der Bewegung“ interessiert und ein Verständnis dafür hat, setze jedoch voraus, dass der Mensch zur allgemeinen logischen Schlussfolgerung fähig ist, dass er „an ein Prinzip, an einen letzten Grund, an den idealen Zusammenhang der Welt, der Natur und Geschichte“ glaubt (ibid.), also irgendwie schon immer die Einheit der realen Welt annimmt. So sei die induktive Vorgehensweise, bewusst oder unbewusst, von einer deduktiven abhängig, sofern es bei der Deduktion um den Menschen als Verstehenden und Verstehen-Könnenden geht. „Ohne Verständniss und Gabe der Deduction erhielten wir lediglich empirische Einzelthatsachen in grupierter Sammlung […], nie aber, wonach wir doch suchen, ein Gesetz, ein motivierendes und erklärendes Prinzip“ (ibid.), ganz zu schweigen von einer ihrerseits prinzipiengemäßen Zusammenfassung verschiedener Einzelgesetze auf irgendeinem Wissensfeld.12 Jede Induktion vollzieht sich insofern auf einem Horizont des Verstehens, und bereits während der beobachtenden Faktensammlung greift man auf irgendein Selektionsprinzip zurück etc. Eine „reine“ Induktion, „voraussetzungslose“ Beobachtung gibt es nicht. Von Oettingen erscheint folgende Kombination der beiden Verfahrensweisen richtig: „[D]ie induktive Methode [dient] der Deduction theils zur Basis und zum Anhaltspunkt, theils zum Correctiv und zur Controle“ (6f). Diese Forderung deutet klar die Intention von Oettingens in seinem zweiteiligen Werk an, wobei, wie oben gesagt, eine simple Zuordnung der Induktion zur ersten Hälfte (Die Moralstatistik) und der Deduktion zum zweiten Teil (Die christliche Sittenlehre) für ihn unmöglich und völlig ausgeschlossen ist. Nochmals: [J]ede abstracte, theoretische Behauptung, jedes ,synthetische Urtheil‘ nach Kant’scher Ausdrucksweise, jedes Resultat allgemeiner Schlussfolgerung, alle ,Dection‘ aus allgemeinen Principien [wird sich] immer einer Controle und Verification durch ,In-
12 „[V]ollends zu einem System von erkannten Gesetzen, zu einer Wissenschaft, als einem die Wirklichkeit abspiegelnden Gedankenorganismus, könnten wir nie gelangen.“ (5) Wissenschaft in ihrer jeweiligen vorläufigen Durchführung sei also Theorie, der ein realitätsrepräsentierender Status zugesprochen wird. Sie sei eine überlegte Darstellung der Prinzipien, die eine Dimension der realen Welt in ihrem Werden zu verstehen erlaubt (und insofern durchaus auch orientierende Kraft besitzt). „[D]ie Wissenschaft abstrahirt aus der Gesammtheit concreter Einzelerscheinungen die allgemeine Wahrheit d. h. sucht dieselben auf einen bedingenden Causalzusammehang zurückführen und so zu verstehen.“ (8).
258
Einführende Kontextualisierung
duction‘, d. h. durch die analytischen Wege a posteriori festgestellten empirischen Gesetze unterziehen müssen (6).
Es ist hier weniger danach zu fragen, ob denn so eine Kontrolle bzw. ein solcher Nachweis überhaupt immer möglich ist bzw. sein kann. Wichtiger ist die Absicht alle theoretische Rede, auch alle aus allgemeinen Prinzipien entwickelte Rede, empirisch verantworten zu wollen. Hauptsächlich wird an dieser Stelle also die Kombination synthetischer und analytischer Erkenntnisweisen gefordert.
17.7
Exaktheit der Geisteswissenschaften
Zum dritten beleuchtet von Oettingen die mit der Vorhersage des Eintretenden verbundene Exaktheit der Wissenschaft. Seine Strategie an das (Selbst-)Verständnis der Naturwissenschaften anzuknüpfen, aber für eine erweiterte Auffassung der in seiner Zeit gängigen Bestimmungen „realistisch“ (nicht gleichzustellen mit „naturalistisch“) und „positivistisch“ (man untersucht und nimmt Bezug auf eine komplexe Wirklichkeit, in der insbesondere die Differenz von Natur und Geschichte bzw. Naturgesetz und Sittengesetz zu berücksichtigen ist) zu plädieren, verfolgt er somit auch hinsichtlich des Prädikates „exact“.13 Es handelt sich jedoch nicht um einen einseitigen Revisionsvorschlag, sondern als revisionsbedürftig – um „realistisch“ oder tatsachen- bzw. wirklichkeitsbezogen zu sein, wie es den Wissenschaften ziemt – gelten durchaus auch bestimmte (spekulative oder konstruktive) Auffassungen der Geisteswissenschaften, z. B. in der Ethik: Wir geben es zu, auf thatsächliche Beobachtung muss jede Wissenschaft gegründet sein. Das inductive Verfahren und die exacte Methode hat auch in den Geisteswissenschaften, ja in der ehrwürdigsten und ältesten derselben, der Theologie, ihre Berechtigung […]. Nur dürfen wir uns von den Naturwissenschaften nicht ,induciren‘ lassen, nur dort Thatsachen anzuerkennen und Induction für möglich zu halten, wo wir das zu untersuchende Object unters Mikroskop oder in die Retorte, unter das Secirmesser oder in den Schmelztiegel zu bringen vermögen. (14)
13 Er entfaltet, warum es sinnvoll und erforderlich ist, „den Begriff exacter Wissenschaft auf die methodische Untersuchung eines reale Objectes zu beschränken […], dessen Dasein und Zusammenhang wir in Folge solider, verbürgter Erfahrung und Beobachtung zu constatiren und auf allgemeine Gesetze und Principien zurückzuführen vermögen“ (10).
Der realistische Charakter der Theologie
17.8
259
Der realistische Charakter der Theologie bzw. Theologischer Realismus und das Grundvertrauen als Bedingung aller Wissenschaften
Wenn wir dem roten Faden von von Oettingens Gedankenentwicklung folgend noch kurz zur Theologie kommen, dann bezeichnet er es als „eine grundfalsche Voraussetzung“ (15), als ob Theologie vom Charakter her vor allem deduktiv oder rein konstruktiv sei. Als ihr Ausgangspunkt gelten nicht allgemeine Prinzipien, deren Anerkennung von vornherein vorausgesetzt wird. Sie stellt nicht bloß Axiome hypothetischen Charakters auf und hat ihren Gegenstand – das Christentum (vorläufig reicht diese einführende Bezeichnung aus) – nicht zu erzeugen. Es ist nicht ihre Aufgabe den Glauben an diesen Gegenstand hervorzubringen. Theologie bzw. christliche Theologie gibt es nur deshalb, weil es das Christentum gibt. Sie hat also zur Grundvoraussetzung „das geschichtliche Dasein des Christenthums im Zusammenhange mit vorhandenen Offenbarungsurkunden, die als solche selbst integrierende Bestandtheile seiner Geschichte sind“ (ibid.). Von Oettingen erläutert, in welcher Weise die Arbeit in verschiedenen Hauptdisziplinen der Theologie (zunächst in der exegetischen und historischen Theologie) auf dieses ihnen (vor-)gegebene Objekt, gerade auch historischkritisch, bezogen sind.14 Vor allem hebt er jedoch die Einsicht hervor, dass sie, obwohl das Prinzip des Zweifelns in der wissenschaftlichen Arbeit seine relative Berechtigung hat, grundlegend aus dem „Vertrauen in den wirklichen lebensvollen Zusammenhang des zu erforschenden […] Objectes“ erwächst (16). Nicht „Gleichgiltigkeit oder Misstrauen“ sind also als wissenschaftliche Grundhaltungen zu preisen, sondern als „der Mutterschoss der Wissenschaft“ gelten vielmehr die Liebe – durch sein ganzes Werk zieht sich der Spruch: „Nur Liebe hat Verständnis“ –, und das Interesse für das zu erforschende Gebiet, und das Vertrauen darauf, dass dieses erforschbar ist. Dieses Vertrauen wird nicht durch die Wissenschaft erzeugt, sondern muss „irgendwie schon vorhanden sein“ – „aus der inneren geheimnisvollen persönlichen Berührung, aus dem warmen Contact zwischen mir und meinem Object“ (ibid.). Die Kurzform dieses Vertrauens ist für von Oettingen der Glaube. Er führt den Begriff des Glaubens hier 14 Vgl. 15, 18ff. Dabei weist er erneut den Vorwurf zurück, dass das Christentum eine kritische Forschung in Form von Theologie ausschließe. „Der wissenschaftliche Charakter der kritischen Arbeit des Theologen hörte erst dann auf, wenn auf Grund eines hierarichischen Machtspruchs der ein für allemal fixirte Autoritätsglauben die freie Forschung lähmte oder in Fesseln schlüge. Davon ist jedenfalls bei der protestantischen Theologie keine Rede. Sie kennt keine andere Gebundenheit als die des untersuchenden Subjects an den eigenthümlichen Charakter des Objects, eine Gebundenheit, die auch bei jeder andern wissenschaftlichen Forschung die Bedingung des Verständnisses ist.“ Vgl. oben Kap. 5.4 und Kap. 7.2.1.1.
260
Einführende Kontextualisierung
also im Sinn eines grundlegenden Vertrauens in den Zusammenhang prinzipieller wissenschaftstheoretischer Überlegungen ein und konstatiert: Nie und nirgend kann ich Lebenswirklichkeit erfassen ohne das Medium des Glaubens, welcher das nothwendige Band zwischen Subject und Object bildet, ohne welches eine Realität für mich gar nicht vorhanden ist. Aller ,Realismus‘ ruht auf unmittelbar gewisser Ueberzeugung, ohne welche eine ewige Kluft befestigt bleibt zwischen dem Ich und Nicht-Ich, zwischen mir und der Welt, zwischen Mensch und Mensch, zwischen Gott und Mensch. (17)
Mit Hilfe jenes Glaubens- bzw. Vertrauensbegriffes im Sinn eines „Organs für Erfassung aller Realität“ deutet also von Oettingen die Möglichkeitsbedingung aller realistischen Wissenschaft, alles vermittelten Wissens vom Wirklichen, an und baut zugleich mit seinen Überlegungen, die sich direkt an Fichte und Jacobi anschließen, eine Brücke zur Profilierung der theologischen Wissenschaft. Wie die anderen Wissenschaften verlangt auch sie „den Glauben an ihr Object oder ein persönliches Vertrauensverhältniss zu dem Bewegungscentrum desselben“ (18).15 Dies gilt von Oettingen zufolge sowohl für die exegetische als auch für die historische Theologie, die sich, wie er zeigt, ohne größere Schwierigkeiten als realistische Disziplinen verstehen lassen.
17.9
Realismus innerhalb der Systematischen Theologie
Schwieriger scheint es zunächst auf dem Gebiet der systematischen Theologie zu sein. Von Oettingen begründet dies für die Dogmatik und Ethik damit, dass in ihrem Bereich keine schriftlichen Urkunden vorliegen, die man historisch-kritisch untersuchen kann. Das bedeutet, dass z. B. Dogmatik nicht ohne weiteres als „konseqeuente Exegese“ beschrieben werden kann, wie es in der neueren Theologie gewichtige Stimmen mit Tiefsinn getan haben (z. B. Eberhard Jün15 Was ist es, was „wir im Anschluss an die geschichtliche Person Christi das Christenthum nennen“ (18)? „Die christliche Religion“ ist „das im Glauben an Christum begründete Verhältniss der erlösten Menschheit zu Gott“. Als solches ist sie von Oettingen zufolge „eine schlechterdings unleugbare psychologische und historische Thatsache“, „eine thatsächliche Erscheinung“, „eine Thatsache, die mehr als irgend eine in die Weltbewegung eingegriffen hat“ (18). Von Oettingen fasst also das Christentum als eine Relation zu Gott auf, die auf dem Glauben an Christus basiert. Ausgehend vom Christusglauben erschließt sich das Entscheidende des Christentums: Es geht um das Verhältnis von Gott und Mensch. Theologische Forschung hat also den Glauben an Christus zur Voraussetzung. „[D]ie Geschichte des Christentums, das gesammte Bewegungsgesetz seiner Entwicklung [ist und bleibt] ein grossartiger Vorwurf für wissenschaftliche Forschung, mag auch der Charakter des Objects die Schwierigkeit derselben erhöhen“ (ibid.). Damit beschäftigt sich vor allem die historische Theologie.
Realismus innerhalb der Systematischen Theologie
261
gel).16 Wie dann konzipiert von Oettingen systematische Arbeit? Auf jeden Fall will er den Charakter systematischer Arbeit, speziell den der ethischen Untersuchung, auch nicht an „rein innerlicher Selbstbeobachtung“ festmachen. Es gehe nicht nur „um eine Ur-Kunde der christlichen Herzens- und Gemüthszustände“ bzw. um eine „apriorische Construction aus dem inneren Bewusstsein des sittlichen Subjectes“ (19). Er insistiert darauf, dass auch auf dem Gebiet der Glaubens- und Sittenlehre das Objekt tatsächlich und geschichtlich gegeben ist: Es ist „die in der göttlichen Offenbarung sich darstellende Wahrheit“ – in früheren Schriften begegnet auch die Kurzform „Offenbarungswahrheit“, aber auch inhaltlich pointiert eine „Heilswahrheit“ –, die der Theologe „in ihrem […] Zusammenhange zu erfassen und zu verstehen“ hat (ibid.). (Bei von Oettingen vollzieht sich immer wieder die Wende von der abstrakteren Rede über die Theologie als Disziplin zur konkreteren und subjektiveren Rede vom Theologen. Ich verstehe das als Erinnerung daran, dass das [menschliche] Subjekt innerhalb der theologischen Wissenschaft in deren Gegenstand einbezogen ist bzw. sein sollte. Später komme ich darauf zurück.) Das Erfassen und Verstehen ihrer Sache sind also – hermeneutische – Grundvorgänge systematischer Arbeit. Sie sind einbezogen in die Charakterisierung der systematischen Arbeit als „zusammenhängende Reproduction“. Diese ist bei von Oettingen auf keinem Fall im Sinn etwa von Repristination oder Rezitation zu interpretieren, sondern als Zurückweisung der Vorstellung, dass der Gegenstand geschaffen oder produziert wird. Glaubens- und Sittenlehre hat die Aufgabe, jedenfalls gemäß einer vorläufigen Bestimmung, die Offenbarungswahrheit oder, anders akzentuiert, „das urkundlich Christliche“, systematisch zu reproduzieren und zwar in der Form, welche die christliche Lehre und das christliche Leben in der kirchlichen Gemeinschaft und in dem einzelnen Gliede derselben, näher : dem dogmatisirenden und ethisirenden Subjecte erhalten hat. (19)
In dieser vorläufigen Bestimmung, die ich in Teil III der Studie näher entfalten und erörtern werde, ist ein Gegenwartsbezug enthalten, der es unmöglich macht, die Reproduktion bzw. Rekonstruktion als eine bloße Wiederholung des schon Gewesenen aufzufassen. Aber hier steht für von Oettingen die Beseitigung des anderen Verdachts im Vordergrund: [D]er Schein des rein subjektiven, constructiven Verfahrens schwindet, sobald die systematische Darstellung nicht erst Erzeugung oder Beweis der Glaubens- und Lebenswahrheit, des Heilsglaubens und Heilslebens anstrebt […]; sondern die christliche Religion, die eine urkundlich verbürgte und kirchlich ausgestaltete ist, als persönliches Besitzthum des Einzelnen im Glauben und Leben, nach dem ihr 16 Dogmatik darf von Oettingen zufolge nicht biblizistisch verstanden werden. Zum eigentlichen Sinn der Charakterisierung Jüngels zusammen mit einem Vorschlag, sie auch auf die Ethik anzuwenden: vgl. Hofheinz, „Dreinreden“, 181.
262
Einführende Kontextualisierung
eigenthümlichen inneren Zusammenhange, mit einem Wort als entsprechenden Gedankenorganismus zu reproduzieren bestrebt ist. (19f)
Zusammenfassend: Weder Dogmatik noch Ethik haben irgendwelche Begründungsleistungen zu bringen, sondern sie haben – in jeweils spezifischer Weise – die christliche Religion17 zu beschreiben. Sie sind beide, auch die Ethik, in erster Linie hermeneutisch-deskriptive Unternehmungen.
17.10 Realismus in der Ethik bzw. Ethischer Realismus: Sozialethik unter der Einbeziehung der Moralstatistik Für eine realistische Durchführung der Ethik sind von Oettingen zufolge bestimmte Anschauungen fatal: Insbesondere, wenn der Einzelne in seiner Freiheit der Gemeinschaft gegenüber isoliert und die Ethik als eine Privatangelegenheit angesehen wird. Damit verbunden sei eine naive, in der Praxis weit verbreitete Vorstellung, wonach das sittliche Leben „ein Gebiet der Willkür“ sei (20).18 Von Oettingen setzt sich mit verschiedenen Auffassungen von Freiheit auseinander, die diese ohne Bezugnahme auf Geschichte und Gemeinschaft konzipieren wollen, wodurch jedoch eine „empirische Beobachtung des sittlichen Lebens“ zur Unmöglichkeit wird (ibid.). Von „einem Realismus, von empirischer und exacter Wissenschaft innerhalb der Ethik“ kann dann keine Rede sein (21). Doch ist er zuversichtlich (und sieht sich bestätigt durch Vorländer und Drobisch u. a.), dass, obwohl in weiteren Kreisen der Gedanke „,auf dem sittlichen Gebiete [ist] die Lehre vom freien Willen identisch […] mit der Idee des Zufalls‘“ (Buckle) populär sei, eine Gleichsetzung von Freiheit mit Willkür, etwa in der neueren Philosophie, keine Möglichkeit ist. Der Gedanke von „einer gesetzmässigen Selbstbestimmung des Willens, sowie [von] einer Gesetzmässigkeit der menschlichen Handlungen“ gehöre vielmehr zu den Selbstverständlichkeiten auf dem Gebiet neuerer ethischer Wissenschaft (ibid.). Die Pointe von Oettingens und zugleich die Aufgabe für eine realistische Ethik lautet dabei im Originalton aber folgendermaßen: 17 Auch hier kommt die für von Oettingen charakteristische Dreierunterscheidung innerhalb des Begriffes der christlichen Religion zum Vorschein (vgl. oben Kap. 6.4): Ihr (biblisch bezeugtes) Zustandekommen, ihre geschichtliche Entwicklung bzw. ihre kirchliche Gestalt und ihr persönlicher „Besitz“ bzw. ihre persönliche Realisierung (als Glaube und Leben des Einzelnen). 18 Er referiert Anschauungen die seiner Ansicht nach problematisch sind und kommt zum Schluss: „die Ueberzeugung von der absoluten oder auch nur relativen Gesetzeslosigkeit der Willensbewegung, die eins ist mit dem sinnlosen Gedanken einer absoluten, d. h. motivlosen und unvernünftigen Selbstbestimmung des Willens, sie liegen mir hier vollkommen ausser meinem Gesichtskreise“ (20).
Ethischer Realismus: Sozialethik unter der Einbeziehung der Moralstatistik
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[d]iesen gesetzmässigen Zusammenhang19 in seiner Realität aufrecht erhalten und verstehen können wir doch nur, wenn wir den Menschen als sittliches Wesen seinem Fürsichsein entnehmen, ihn in lebendiger gliedlicher Beziehung zur Gesellschaft, zur Familie, zur Gemeinde, zum Volk, zur Kirche etc. betrachten. Ja wir müssen ihn als ein Element in der geschichtlichen Gesammtbewegung der Menschheit zu erkennen suchen, um ihn dem bloss naturgesetzlichen Realismus, den rein materiellen Entwickelungsgesetzen zu entnehmen und ihn […] als den Bürger einer höheren Welt zu verstehen. […] Deshalb ist auch die Ethik, wie namentlich Schleiermacher betont hat, ohne Geschichtsforschung gar nicht denkbar. Sie untersucht gerade die allgemeinen Gesetzte geschichtlicher Fortbewegung d. h. der Handlungen und Thaten im Organismus der Menschheit oder in den einzelnen Gruppen derselben. Man hat daher nicht mit Unrecht die Geschichte das Bilderbuch der Sittenlehre genannt. Die Ethik aber erscheint dann als die Erklärung für den Zusammenhang jener Bilder, gleichsam als die Wissenschaft von dem Gravitationsgesetze der Lebensbewegung in dem geistig-sittlichen Collektivkörper, wie in den einzelnen Gliedmassen (Persönlichkeiten, Charakteren) menschlicher Gemeinschaft. Denn an der Organisation und der organischen Entwickelung der Gemeinschaft betheiligen sich die Einzelnen je nach ihrer gliedlichen Beziehung zum Ganzen, indem die stete zwischen dem Ganzen und den Einzelnen bestehende Wechselwirkung die nothwendige Bedingung der Existenz, des Wachsthums und der Fortbewegung des Organismus ist. (22f)
Ich wiederhole die wichtigsten Aussagen: (1) Es gibt auch auf dem Gebiet der menschlichen Handlungen bzw. der Selbstbestimmung des Willens einen gesetzmäßigen Zusammenhang. Anders formuliert: Die Bewegung im sittlichen Bereich (i. e. die freie Bewegung) vollzieht sich gesetzmäßig. (2) Diese eigentümliche Gesetzmäßigkeit ist in ihrer Differenz zur naturgesetzlichen Bewegung jedoch nur dann sicht- und verstehbar, wenn man den Menschen von Anfang an in seinen gemeinschaftlichen Beziehungen – letztendlich als ein Element der Geschichte, d. h. im Horizont der Gesamtbewegung der Menschheit, betrachtet. (3) Diese Gesetzmäßigkeit der sittlichen Bewegung bzw. die Struktur der Freiheit wird verkannt, wenn der Einzelne für sich in seiner Eigengesetzlichkeit oder die Gemeinschaft bzw. die Gesamtheit nur als Produkt oder Summe der Interaktion von Einzelnen, die sich „nach einem aparten Gesetz der Selbstbestimmung“ bewegen, aufgefasst wird. Unter dieser Voraussetzung verliert man den Sinn für die zusammenhangsvolle Fortbewegung der Menschheit bzw. für das Ziel der Geschichte.20 19 Das ist für ihn auch die Bedingung dafür, einen zusammenhangsvollen Fortschritt der Geschichte bzw. ein Ziel der Geschichte festhalten zu können. 20 Ich bezweifle, dass man, etwa auf der Linie von Kant denkend, einen solchen Gegensatz von Einzelwillen und Menschheit wirklich behaupten kann. Hier geht es zunächst darum zu
264
Einführende Kontextualisierung
(4) Ethik hat nicht von der Geschichte ausgehend zu abstrahieren. Sie ist kein vom Einzelnen ausgehendes apriorisches und konstruktives Unternehmen, sondern konstitutiv auf die Geschichte bezogen. Sie untersucht „die allgemeinen Gesetze geschichtlicher Fortbewegung“, man kann sagen: sie ist eine Kategorienlehre der Geschichte. Ihr Gegenstand sind die allgemeinen Gesetze, denen menschliches Handeln – oder wie es von Oettingen mit einer technischen Formel ausdrückt: die Bewegung im Organismus der Menschheit und in den einzelnen Gruppen der Menschheit – unterliegt. (5) Die damals von vielen beliebte und auch bei von Oettingen vielleicht überhäufig anzutreffende Metapher „Organismus“ bedeutet, dass das menschliche bzw. personale Wesen konstitutiv als ein gemeinschaftliches Wesen – als being in communion (J. Zizioulas) – zu verstehen ist und signalisiert zugleich das Bestreben dieser Relationalität in der Ethik gerecht zu werden.21 Die Lage der Ethik als Wissenschaft lässt sich von Oettingen zufolge also verbessern: Man kann ihr eine realistische Wende geben, weil es – so die These (die in der ersten Hälfte des Werkes, in der Moralstatistik, einem empirischen Nachweis unterzogen wird) – eine Gesetzmäßigkeit der Handlungen gibt. Die Ethik untersucht diese sittliche bzw. geschichtliche Gesetzmäßigkeit.22 Diese Gesetzmäßigkeit kann man jedoch nur wahrnehmen und verstehen, wenn man den Menschen als soziales Wesen, d. h. in seinem sozialen Zusammenhang und in seiner sozialen Wechselwirkung, betrachtet. Ob eine solche Hervorhebung der Bedeutung der Sozialität und der Gesetzverstehen, in welchem Paradigma von Oettingen zu denken empfiehlt. Ob er wirklich allen zum damaligen Zeitpunkt vorhandenen Ansätzen gerecht wird, ist eher anzuzweifeln, aber an dieser Stelle nicht weiter zu verfolgen. 21 Das Prädikat „organisch“ steht „nicht bloss im Gegensatz zum Unbelebten, Mechanischen, sondern auch zum Regellosen oder nur von Willkür Geregelten“ (28). Von Oettingens eigener präziser und komplexer Vorschlag ist es, „den Organismus als ein mannifaltig gegliedertes und doch von innen heraus einheitlich und eigenthümlich sich bewegendes Ganzes zu bezeichnen, in welchem die Glieder in steter, Leben und Fortentwicklung (resp. Fortpflanzung) des Ganzen bedingender Wechselwirkung stehen. In diesem Sinn ist auch die Menschheit ein Organismus, und innerhalb derselben die verschiedenen Einzelgruppen (Familie, Volk, Staat, Kirche) organisch geartet.“ (Ibid.) Diese sozialethische Grundeinsicht, die von Oettingen auch als die organische Auffassung bezeichnet, kann m. E. auch als Pluralismus verstanden werden. Ein organisches Ganzes ist ein solches, wo die Glieder unterschiedlich – und eben nicht gleich – sind. Es ist ein Pluralismus des Ganzen, der den Charakter von Verschiedenheit in Einheit oder Einheit in Verschiedenheit trägt (vgl. 1886 g, 26, 81). In theoretischer Hinsicht steht für von Oettingen vor allem sein Lehrer F.A. Trendelenburg im Hintergrund: vgl. den Exkurs M. Moxters zum theoretischen Leitbegriff „Organismus“ (Moxter, Güterbegriff und Handlungstheorie, 137–176, bes. 169–173). Ein späteres Beispiel des Organismusdenkens ist Alfred North Whitehead’s Prozessphilosophie, seine „Philosophie des Organismus“: vgl. Whitehead, Process and Reality. 22 Man kann sehen, wie von Oettingen „sittlich“ zunächst in einem weiten Sinn gebraucht, nämlich Handlungen (von Menschen) im Unterschied zu Ereignissen (von der Natur) betreffend, und nicht gleichbedeutend mit etwa „sittlich gut“.
Ethischer Realismus: Sozialethik unter der Einbeziehung der Moralstatistik
265
mäßigkeit von Handlungen auf Kosten von Verantwortung, Schuld und Freiheit erfolgt? Für von Oettingen ist das Gegenteil der Fall. Die Verantwortlichkeit hänge vielmehr entscheidend gerade davon ab, dass der Mensch in seinem Handeln und Leben in das menschlich-sittliche Gesamtleben eingefügt ist und dieses (mit allen seinen Gedanken, Worten und Taten) seinerseits mitbedingt. Als soziales Wesen hat er Rechenschaft zu geben über seine Gedanken, Worte und Taten. Kurz, Verantwortlichkeit wird nicht vermindert, sondern überhaupt erst recht verständlich und insofern sogar erhöht. Und was geschieht dann mit der Schuld? Eine äußerst wichtige Implikation einer solchen sozialen Auffassung sittlicher „Lebensbewegung“ lautet: Es gibt „keine rein individuelle Verschuldung“ (23).23 Zu dieser These komme ich noch mehrmals zurück. Die Anerkennung der Realität eines eigentümlichen gesetzmäßigen Zusammenhangs oder Kausalnexus in der moralischen Welt – die Anerkennung also, dass die sittliche Welt sich genauso wie die natürliche Welt nach Gesetzen bewegt – ist keinesfalls gleichbedeutend mit der Aufhebung der Freiheit der Willensbewegung, sondern macht diese überhaupt erst möglich.24 Von Oettingen hofft dies in seinem Werk Die Moralstatistik zeigen zu können.25 Diese Einheit von Gesetzmäßigkeit bzw. Notwendigkeit und Freiheit lässt sich jedoch nur verstehen, wenn man den einzelnen Menschen als „in seiner Bestimmung, Glied des Ganzen, Glied einer weise geordneten höheren Welt zu sein, erfasst“ (26).26 Der 23 „In gewissem Sinne wird für jede Schuld des Einzelindividuums innerhalb des weiteren oder engeren Kreises, in welchem sich die moralische Collectivperson bewegt, ein Mutterboden zu suchen und zu finden sein. Das hebt aber die individuelle Zurechnung nicht auf, sondern stellt sie nur in das rechte Licht der steten Wechselwirkung zwischen Collektiv- und Einzelpersönlichkeit“ (24). 24 Plastisch und kurz formuliert er sein Verständnis Adolf Wagner gegenüber, der Gesetzmäßigkeit und Willensfreiheit als Widersprüche sieht: „Ich denke: ,wo kein Gesetz, da ist auch keine Zurechnung, wo keine Zurechnung, da keine Freiheit.‘ – Oder : ,wo kein Gesetz, da keine Ordnung; wo keine Ordnung, da Chaos; wo Chaos, da keine Freiheit!‘“ (26, Anm. 1; vgl. 24). 25 Von Oettingen ist sich durchaus bewusst, dass seine empirische Untersuchung in hohem Maß von dem in der Analyse verwendeten begrifflichen Instrumentarium und dessen Schärfe abhängig ist: von den Entscheidungen z. B. darüber, „was wir ein Gesetz nennen und wie etwa Natur- und Sittengesetz, empirische und absolute Gesetze zu unterscheiden sind“ (24f). Aber Vorsicht ist auch mit Begriffen wie „Ursache“, „Notwendigkeit“ usw. geboten. Er weiß, dass es ein schwieriges Unternehmen nicht zuletzt wegen der Gefahr eines voreiligen Induktionsschlusses, aber auch der verschiedenen Qualität verursachender Momente ist. Im heutigen Sprachgebrauch findet sich oft die unterschiedene Verwendung von „Ursache“ im Zusammenhang mit Naturereignissen und „Grund“ bezüglich Handlungen. Von Oettingen unterscheidet z. T. ähnlich innerhalb des Ursachebegriffes zwischen Wirken als Naturkraft, als Reiz und als Motiv. Nur bei Letzterem handelt es sich um eine „ethisch-geistige Causalität“ (25). Der theoretische Teil des Buches Die Moralstatistik ist nicht umsonst so umfangreich. 26 Der Mensch befindet sich, könnte man sagen, im Raum der Moralität, er ist, bezogen auf alle anderen, unikaler Teil der Menschheit, nicht nur physisch und biologisch, sondern auch auf
266
Einführende Kontextualisierung
Mensch ist „ein sittliches Wesen, kann sich als solches handelnd bewegen und wird als solches verstanden […] erst als Glied des organisch gegliederten Ganzen“ (27). Dem entsprechend ist das Untersuchungsobjekt der wissenschaftlichen Ethik nicht die Art und Weise, wie der Einzelne im Unterschiede von Anderen, denkt, will […], sondern [es sind] […] die Bewegungsgesetze auf dem Gebiete des Wollens und Sollens im Hinblick auf das Wesen der Menschheit überhaupt (ibid.).
Es sind „die allgemeinen humanen, d. h. für alle Menschen geltenden Gesetze der Willensbewegung“ (ibid.), die im Fokus der wissenschaftlichen Ethik stehen: das Sittengesetz, das in der Menschheit gilt, das in der sittlichen Welt waltet. „Darum sage ich: nur als Socialethik wird sie ihrer Aufgabe der Erforschung sittlicher Bewegungsgesetze genügen.“ (Ibid.)27 Von Oettingen stellt (um den weitverbreiteten Subjektivismus und Idealismus innerhalb der Ethik zu korrigieren) zwei Forderungen: Erstens, „de[r] organische[], collective[] Charakter des ethischen Untersuchungsobjects“ soll in den Vordergrund gestellt werden, und „das Verständnis für das Individuum [sei] eben dadurch zu vermitteln, dass man es in seiner gliedlichen Beziehung zur Gemeinschaft erfasst“.28 Zweitens, die realistische Beobachtung ist (von der Beobachtung des einzelnen Individuums) in Richtung einer statistischen Beobachtung der „sittlichen Organismen und ihrer Gruppenbewegung“ zu erweitern (27f). Um diese zweite Aufgabe geht es im nächsten Kapitel.
höherer Ebene: nämlich geschichtlich, sittlich, normativ, durch das Sollen, die „moralische Weltordnung“, i. e. das „Sittengesetz“, i. e. die wahrhaft menschliche Lebens- bzw. Bewegungsweise innerhalb der Menschheit bzw. der Geschichte. Zu den Überlegungen darüber, welche Bedeutung in der Ethik dem Individuellen zukommen kann vgl. 26–31. 27 Wie ist es genau zu verstehen, dass von Oettingen das Gesagte (Ethik soll Sozialethik sein) als auch für die christliche Sittenlehre geltend bezeichnet (vgl. 29)? Auf jeden Fall soll die christliche Ethik als Ethik des Reiches Gottesverstanden werden. 28 „Die gliedliche Beziehung zur Gesammtheit, der der Einzelne als Mensch und als Christ angehört, wird eine der wesentlichsten Voraussetzungen sein für die gesunde und erfolgreiche ethische Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis.“ (28f).
Die Aufgabe der Moralstatistik im sozialethischen Gesamtwerk
18.
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Funktion und Pointe der Moralstatistik oder des analytisch-induktiven Teils eines Versuchs empirisch ansetzender Sozialethik [E]ine Erscheinung, die außerordentlich seltsam und interessant, wirklich fremdartig und neu mitten drin steht in den nach einem Schema gearbeiteten Systemen christlicher Ethik.1 (Hans Joachim Iwand)
Die Moralstatistik war das zu seinen Lebzeiten meist verbreitete Buch von Oettingens. Es hat ihn damals weit über die Grenzen der Theologie in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit Europas, aber auch in der der Vereinigten Staaten von Amerika bekannt gemacht. In der sozial- und soziologiehistorischen Forschung der letzten Jahrzehnte findet diese Arbeit in verschiedenen Zusammenhängen gelegentlich Aufmerksamkeit.2 Doch die erste Begegnung mit diesem Buchtitel dürfte heute jedoch zunächst ein Lächeln auf die Lippen bringen (obwohl wir uns an den Begriff „Religionsstatistik“ gewöhnt haben). Wenn man dann noch Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage, z. B. im Anschluss an die ersten drei Auflagen der RGG, als Untertitel versteht, könnte aus diesem Lächeln wohl ein Lachen werden: Es scheint in der Geschichte also auch solche gegeben zu haben, die Ethik statistisch zu begründen versuchten. Was ist die Moralstatistik von Oettingens? Ihre Funktion und Pointe im Rahmen des oettingenschen sozialethischen Hauptwerkes verdienen im thematischen Horizont dieser Untersuchung eine erläuternde Darlegung und Neuinterpretation.
18.1
Die Aufgabe der Moralstatistik im sozialethischen Gesamtwerk
Bei der Moralstatistik handelt es sich um eine Datenerhebung, die (menschliche) Handlungen betrifft und um ihre disziplinierte Analyse und Deutung. Sie ist eine anerkannte Vorläuferin heutiger empirischer-quantitativer Sozialforschung und Soziologie. Mit den Worten von Oettingens: Sammlung, Gruppierung, Analyse und Synthese, sowie isolirte Behandlung einzelner Ursachen und bedingender Einflüsse, alles in möglichst genauer, wenn es geht, numerischer Fixierung – das wird die Aufgabe des Beobachters sein, wenn er menschliche Handlungen ,en masse‘ aus ihrem scheinbaren Gewirr herausbringen und eine innere 1 So Iwand über Die Moralstatistik in der Vorlesung (1948/1949) über die Geschichte der protestantischen Theologie im neunzehnten Jahrhundert (Iwand, Theologiegeschichte, 164). 2 Vgl. z. B. Lederer, Sociology’s „One Law“, 2013.
268
Funktion und Pointe der Moralstatistik
Ordnung der Bewegung finden will. Dass […] eben ist die Arbeit der Moralstatistik. (66)3
Wie ich im vorangegangenen Kapitel gezeigt habe, stellt sich im Urteil von Oettingens das Gebiet neuerer philosophischer und theologischer Ethik höchst unbefriedigend dar. Es herrscht eine schlechte – chaotische – Vielfalt. Ein Symptom, zugleich aber auch ein wichtiger Grund dafür, liegt in der dominierenden Tendenz, die Moral im Ausgang vom Einzelindividuum verschiedenartig aufzufassen. Dies behauptet er nicht nur, sondern meint, es in einer kritischen Bestandsaufnahme ethischen Denkens auch verdeutlicht und belegt zu haben. Zugleich ist die wissenschaftliche Ethik in ungenügender Weise vor die Herausforderungen gestellt, die sich aus den neueren Entwicklungen für die Maßstäbe wissenschaftlicher Arbeit ergeben (haben).4 Der Gefahr eines zusammenhangslosen und deshalb ungesunden Pluralismus der Positionen, der der Verständigung im Rahmen des ethischen Diskurses schadet, aber auch ihre Stellung innerhalb der Wissenschaften untergräbt und ihre öffentliche Relevanz in Frage stellt, kann aussichtsreich nur durch die „Hinausrettung“ der Ethik in die Gemeinschaftssphäre und durch eine sich „auf empirischem Wege“ vollziehende Entwicklung ihrer „Grundlagen“ und „Grundbegriffe“ begegnet werden (57). Nun, was das Letzte betrifft, ist wiederum Vorsicht geboten: Besonders der Status dieses Anspruches und sein Vollzugsort verlangen eine genauere Klärung. Diese und gelegentlich auch einige andere Ausdrücke von Oettingens erwecken bedauerlicherweise leicht den Eindruck, als ob die Moralstatistik eine Ethikbegründung in einem strengen Sinn zu leisten hat. Bei seinem Vorhaben, die Ethik primär auf die Sozialsphäre zu beziehen, will von Oettingen vielmehr zunächst untersuchen, „inwiefern das unter Anderem5 auch durch Nutzung der neueren, epochemachenden Leistungen auf dem Gebiete der sogenannten Moralstatistik möglich ist“ (ibid.). Der theoretischen Klärung dessen, was denn so genannt wird bzw. genannt zu werden verdient, ist in der ersten Auflage der Studie Die Moralstatistik eben ihre – im Jahr 1868 erschienene – erste Hälfte gewidmet. Wenn von Oettingen der quantitativ-empirischen Gesellschaftsbetrachtung eine Funktion in einer wissenschaftlichen Ethik zuweisen will, dann hat er vor allem diese dürftige Lage im Lager der ethischen Forschung vor Augen. Gerade 3 Im Rahmen dieses Kapitels verweise ich auf die Hauptquelle (1868a) nur mit einer Seitenzahl. 4 „Auf keinem Gebiete der Geisteswissenschaften, die Psychologie vielleicht ausgenommen […] herrscht eine solche Confusion, eine solche Willkürlichkeit der Methode, ein solches phrasenhaftes Deducieren und Construieren, solche systematische Zerfahrenheit und zerfahrene Systemlosigkeit, als in der Ethik, der philosophischen wie der theologischen. So lange das Moralische als ein Gebiet rein persönlichen, individuellen Lebens betrachtet wird, erscheint auch die Ethik individualistisch zerfetzt und zerissen.“ (57). 5 Hervorhebung von mir – T.-A.P.
Die Aufgabe der Moralstatistik im sozialethischen Gesamtwerk
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die für die Zukunft der Ethik so wichtige Anerkennung bzw. Begründung des Gedankens von der sittlichen Gattungsgemeinschaft (mit Blick auf diesen Gedanken werden die Impulse und Verdienste z. B. von Schleiermacher und seiner Schule, aber auch von I.H. Fichte [1796–1879], H. M. Chalybäus [1796–1862] und Schopenhauer [1788–1860] anerkennend hervorgehoben [vgl. 44–46]) sollte unter den gegenwärtigen Bedingungen der Wissenschaft, in der geistigen Atmosphäre eines empirisch-realistischen Grundtenors, nicht nur spekulativ deduziert und rein abstrakt motiviert sein, sondern auf empirischer Beobachtung „ruhen“ und „empirisch konkret“ durchgeführt werden. Darauf zu verzichten ist gleichbedeutend mit einem „wissenschaftliche[n] Mangel“ (46). Zu dessen Überwindung ist es auch im Rahmen der Ethik wissenschaftlich geboten „auf die concreten, messbaren Zustände und Thatsachen“ einzugehen (45, Anm. 2) und „die Gesetze der geistig-ethischen Bewegung in den moralischen Collectivpersonen […] durch eingehende historische und statistische, in die Wirklichkeit eingehende Beobachtung zu studieren“ (68). Gerade die Moralstatistik kann uns helfen – so jedenfalls die Vermutung und Hoffnung von Oettingens –, „unsere[m] Bedürfniss nach concreter Erfassung des menschlich sittlichen Gesammtlebens“ gerecht zu werden (55). Versuchsweise, um die Ethikwissenschaft auf eine solidere wissenschaftliche Grundlage zu stellen, will er also die Moralstatistik in das Gesamtprojekt einer Erneuerung der Ethik als Sozialethik integriert sehen. Dieses Einbeziehen der Moralstatistik erfolgt, wie gesagt, nicht naiv etwa in Form einer unkritischen Übernahme der Resultate statistisch-quantitativ arbeitender Gesellschaftsanalyse, sondern als außerordentlich gründliche theoretische und praktische Auseinandersetzung mit ihr. Nach dem Urteil von Oettingens ist in der Theologie seiner Gegenwart nur auf dem Feld diakonischer Arbeit unter Leitung von Johann Hinrich Wichern für die Statistik Verdienstvolles geleistet worden,6 jedoch „eine theologisch wissenschaftliche Beleuchtung und Verwerthung des gesammten moralstatistischen Materials fehlt […] noch gänzlich“ (70). Dieser mit solcher Intensität und wissenschaftlicher Gründlichkeit zum ersten Mal aufgenommene „Dialog“ zwischen Theologie und empirischer Sozialwissenschaft, von Oettingens Eintritt in das Gespräch mit vor allem französisch-, englisch-, deutsch- und italienischsprachigen Wissenschaftlern, blieb trotz seiner anfänglichen Befürchtungen keine einseitige An6 Nur im Zusammenhang mit der diakonischen Arbeit, der sog. Inneren Mission, sei ein großes Interesse für die Statistik und deren Anwendung anzutreffen – den diesbezüglichen Verdienst Wicherns hebt von Oettingen eigens hervor (vgl. 69). Er benennt zwar auch aus den 1860er Jahren einige „äusserst fleisige Arbeiten“ über Religions- und Kirchenstatistik (von G. Zeller, G. von Hirschfeld, E.H. Busch); da jedoch eine Moralstatistik von Oettingen zufolge „nicht bloss den Zustand (Statik) sondern auch die Bewegung (Dynamik) eines sittlich gearteten Organismus in Zahlen zu veranschaulichen hat“, ergeben diese „wenig oder gar nichts“ (70).
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Funktion und Pointe der Moralstatistik
gelegenheit, sondern rief vielfältige Reaktionen hervor. Man kann das gut anhand des akribischen Apparates des 1873 erschienenen zweiten Teils des Gesamtprojektes und den Neubearbeitungen (1874, 1882) des Buches Die Moralstatistik verfolgen. Von Oettingen weiß, dass er mit seiner Moralstatistik ein in der wissenschaftlichen Theologie wenig bekanntes Terrain betritt. Innerhalb der theologischen Wissenschaft seiner Gegenwart sei die mehrfache Relevanz einer Auseinandersetzung mit den moralstatischen Untersuchungen noch gar nicht oder nicht hinreichend erkannt worden. Er versucht, eine Brücke zu bauen (vgl. z. B. 66–71).7 Zwei Aspekte dieses Versucht hebe ich an dieser Stelle hervor, zwei andere im übernächsten Abschnitt bei der Behandlung der Pointe der Moralstatistik. Moderne Moralstatistik stellt, wie im letzten Kapiteln gezeigt, der Ethik und Theologie eine Herausforderung, falls und insofern sie mit dem Anspruch auftritt, empirisch beweisen zu können, wie das Gemeinschaftsleben allein dem Naturgesetz unterlegen ist.8 Von Oettingen will also gar nicht in Frage stellen, dass es eine Sozialphysik geben kann („die Völker, wie die einzelnen Menschen haben ja eine rein physische Seite“), wohl aber ist es für die Theologie eine kritische Herausforderung, wenn „alles in der socialen Bewegung materiell bedingt und motiviert gedacht wird, wenn es nur Socialphysik und Physiologie geben soll“ (68). Wenn ein solcher Anspruch erhoben wird, muss sich Theologie dafür interessieren. Denn er widerspricht dem Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens bzw. „der christlich-biblischen Weltanschauung“, und insofern ist die moderne Moralstatistik der Theologie von negativem Interesse. Von Oettingen meint von innen heraus, d. h. mit der Moralstatistik, zeigen zu können, dass sie eine solche naturalistische Deutung nicht unterstützt. Doch auch wenn man mit einem solchen „Ergebnis“ nicht einverstanden ist, sei die Moralstatistik eine kritische Herausforderung auch in dem Sinn, dass 7 „[E]s kann mir schlechterdings in den Sinn kommen, die Theologie in irgend welche Abhängigkeit von der Statistik zu setzen oder gar die Statistik von theologischen Principien aus zu meistern. Mir liegt lediglich daran, das in theologischer Weise der Argumentation vielleicht längst schon Bekannte, biblisch und kirchlich, historisch und innerlich Constatirte, von einer anderen Seite zu beleuchten und dadurch möglicher Weise beiden Theilen einen Dienst zu leisten. Den statistischen Fachmännern kann es nur förderlich sein, wenn sie an genauere Begriffsbestimmung und Begrenzung der ethischen Kategorien, mit welchen sie bei ihren Zahlengruppierungen und Inductionsschlüssen oft leichtfertig umgehen, gemahnt werden. Dem Theologen aber ist es eine gute Zucht und Schule, wenn er sich an exacte, präcise und messbare Bestimmungen gewöhnen und Thatsachen reden lassen muss.“ (75). 8 „Der Statistiker, der die menschlichen Handlungen und alles was in’s Gebiet der Sitte hineinschlägt und im Gemeinschaftsleben sich äussert, zum Gegenstande seiner numerischen Zusammenstellung macht, glaubt aus diesen ,Thatsachen‘ durch Induction Rückschlüsse machen zu dürfen auf gewisse in dem Gebiete des geistigen Lebens unbedingt geltende Gesetze“ und sie nach der Art des Naturgesetzes verstehen zu können bzw. zu müssen (66).
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Ethik dadurch zu einer selbstkritischen Reflexion veranlasst ist und von ihr zugunsten einer Verbesserung ihrer bedürftigen wissenschaftlichen Lage und ihres Status lernen und im Sinn empirischer Konkretisierung profitieren kann.
18.2
Der Inhalt der Moralstatistik im Überblick
Wie geht von Oettingen in seiner Untersuchung Die Moralstatistik, die den Untertitel Inductiver Nachweis der Gesetzmässigkeit sittlicher Lebensbewegung trägt, konkret vor? Wie bereits mehrfach erwähnt, geht der „Analyse der moralstatischen Daten“ (313–994), dem zweiten Teil, ein erster Teil voraus, in dem „Geschichtliches und Methodologisches“ (87–312) behandelt wird.9 Ein umfangreicher „Tabellarischer Anhang“ statistischen Materials „nebst Quellengabe“ (170 Seiten), sowie Namens- und Sachregister schließen das Buch ab. Der erste wissenschaftshistorische und -theoretische Teil, in dem es um die Klärung des Begriffes und der Methode der Moralstatistik geht, besteht aus drei Abschnitten: Einer kürzeren Behandlung der Entstehung der Statistik und besonders der Moralstatistik (89–117) folgt eine Darstellung und kritische Auseinandersetzung mit der neueren wissenschaftlichen Moralstatistik und ihren Hauptströmungen (118–234) und zuletzt die eigenständige methodologische Erörterung „Die Statistik als methodologische Hülfswissenschaft [sic!] oder die ,numerische Methode‘ in ihrer Anwendung auf die geistig-sittliche Sphäre“ (235–312).10 Ich weise hier nur auf den fünfteiligen Gedankengang des Kapitels hin, in dem die methodologischen Überlegungen kulminieren und Möglichkeitsbedingungen, Charakter, Grenzen und Leistungsfähigkeit eines induktiven Nachweises der Gesetzmäßigkeit sittlicher Lebensbewegung aus statistischen Daten näher bestimmt werden (285–312). Nach der vorangegangenen ausführlichen Beschäftigung mit den Zahlen stellt 9 Bereits nach drei Jahren, d. h. schon vor dem Erscheinen der zweiten Hälfte des Gesamtprojektes Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre. Versuch einer Socialethik auf emprischer Grundlage, war Die Moralstatistik vergriffen. In ihrer 2. und 3. Auflage ist der Umfang der geschichtlichen und methodologischen Erörterungen um das Siebenfache reduziert worden. Die ursprüngliche Einleitung in das Gesamtprojekt und der Teil „Geschichtliches und Methodologisches“ wurden in modifizierter und aktualisierter Gestalt in einer neuen Einleitung zusammengefasst. Diese ist gut lesbar und zum Einstieg empfehlenswert. 10 Die Überschriften lauten: 1. Die Zahl im Allgemeinen, als Characteristicum der numerischen Methode; 2. Die Feststellung der absoluten Zahlen; 3. Die relativen Zahlen und Mittelwerte; 4. Das sogenannte „Gesetz der großen Zahl“; 5. Von der Analyse und tabellarischen Gruppierung der moralstatistischen Daten; 6. Ueber den induktiven Nachweis der Gestezmässigkeit sittlicher Lebensbewegung aus statistischen Daten.
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von Oettingen nun erstens heraus, dass die Summen bzw. die Zahlen als solche stumm sind und nichts über ein System der Verursachung aussagen lassen. Also: Die Idee einer zusammenhängenden, geordneten Welt, in der jede Wirkung eine Ursache zum Grund hat, i. e. die Idee eines Kausalgesetzes, sei ein bei aller Beobachtung immer schon vorausgesetztes Postulat des Denkens, ein Axiom, ein Dogma. Zum Zweiten klärt von Oettingen, welchen Status der induktive Nachweis einer Gesetzmäßigkeit in der sozialethischen Sphäre hat. Es geht um eine Konstatierung nur der empirischen, hypothetischen Gesetze. Es folgt drittens eine nähere Erörterung des Gesetzesbegriffes in seiner Differenziertheit: das Gesetz im physikalischen und moralischen Sinn, i. e. Naturgesetz und Sittengesetz. Letzteres wird als Gesetzmäßigkeit der Geschichte aufgefasst. Der vierte Schritt führt in das zentrale Problem ein, das durch die empirische Beobachtung bzw. die Moralstatistik gestellt ist: das Problem des Verhältnisses von Freiheit und allgemeiner Gesetzmäßigkeit. Von Oettingen analysiert den Freiheitsbegriff. In einem generellen Sinn ist Freiheit die Bewegung eines Wesens gemäß seinem immanenten Gesetz. Innerhalb dieser allgemeinen Bedeutung sind eine äußere (physische) und eine innere (persönliche) Freiheit zu unterscheiden. Bei der Letzteren soll wiederum zwischen einer formalen (wirklichen) und einer materialen (wahren) Freiheit unterschieden werden. Auch werden die Grenzen und die Leistungsfähigkeit der Moralstatistik thematisiert: Sie vermag (a) weder die Freiheit des Willens zu beweisen, (b) noch lehrt sie zwischen guten und schlechten Taten zu unterscheiden, aber sie zeigt (a), dass es eine Gesetzmäßigkeit der sittlichen Lebensbewegung gibt; (b) kann die Wirkung des sozialen Faktors hervorheben; und (c) zur Identifizierung einzelner Gesetze beitragen. Als Höhepunkt der methodologischen Überlegungen werden fünftens die Einflüsse, die in der sittlichen Lebensbewegung wirksam sind, analysiert und gruppiert, und dadurch ein orientierendes Deutungsschema gewonnen (300– 312). Dieses geordnete „Causationssystem“ wird ausdrücklich im Sinn eines Versuchs und mit dem Bewusstsein seiner Verbesserungs-bedürftigkeit entworfen.11 Es ist nicht nötig, es in seinen Einzelheiten zu betrachten. Von Oettingen hat es in Auseinandersetzung mit seiner moralstatistischen Beobachtung 11 „Ein Jeder, der nur einigermassen die bisherigen Ergebnisse der Moralstatistik kennt, wird ohne weiters einsehen, dass es bei keiner der hineinschlagenden Specialuntersuchungen jetzt schon durchführbar erscheint, allseitig die möglichen, wahrscheinlichen und wirklichen Ursachen und Motive zu einer klar geordneten Causalreihe oder Kette zusammenzufügen. Wir wollten uns auch nur orientieren über die verschiedenen Gesichtspunkte, die hier möglicherweise in Betracht kommen können und müssen, wenn die Moralstatistik zur Reife einer exacten inductiven Beobachtungswissenschaft sich hinaufentwickeln soll.“ (311).
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herausgearbeitet. Ich verstehe es als Anzeige des Deutungsschlüssels seiner folgenden Analyse.12 Der Leserschaft wird die Möglichkeit geboten, die Analyse des moralstatistischen Materials mit Rückgriff auf dessen numerische Darstellung im Anhang und somit auch die Leistungsfähigkeit des Interpretationsschemas, das in der Analyse angewandt wurde, zu studieren und zu überprüfen. Von Oettingen will in der folgenden Analyse vor allem zeigen, dass in der sittlichen Lebensbewegung drei Faktoren – universeller, sozialer und individueller – in Erscheinung treten, d. h. dass in ihrer Struktur diese Grundaspekte zu unterscheiden und in ihrer Deutung zu berücksichtigen sind. Im Rahmen des sozialethischen Gesamtwerkes zielt die Moralstatistik somit auf das Aufspüren eben dieser „drei Hauptgesichtspunkte“ ab. Sie hat induktiv nachzuweisen (312): 1. Es gibt „auf dem geistigen Lebensgebiete“ eine universelle oder „allgemeine Gesetzmässigkeit“. Von Oettingen nennt diese (hier) „höhere Weltordnung“ bzw. „höhere Welt- und Geschichtsordnung“. 2. Diese realisiert sich „innerhalb der organischen Gebilde des Menschheitskörpers“ verschiedenartig – „vermittelst socialer Gliederung und innerhalb menschlicher Gruppenbewegung“ prägt sie sich stets „in eigenthümlicher Form“ aus. 3. Durch sie ist „die Freiheit resp. Zurechungsfähigkeit der Individuen nicht aufgehoben“. Nur ist „bei voller Betonung individueller Einflüsse und persönlicher Verantwortlichkeit […] eine höhere Solidarität der sittlichen Interessen motiviert“. Die drei Factoren sittlicher Lebensbewegung, der göttliche (universelle), collective (sociale) und persönliche (individuelle) werden dann – so hoffe ich–in ihrer unterschiedenen Bedeutung und ihrem gemeinsamen Recht als die bedingenden und integrierenden Elemente derjenigen gesetzlich geordneten Freiheit erscheinen, ohne welche eine Menschheitsgeschichte undenkbar ist. (Ibid.)
Der zweite Teil, die Analyse einer immensen Fülle moralstatistischer Daten (313–943), die von Oettingen mit großem Aufwand aus ganz Europa zusammengetragen und in minutiöser Detailarbeit in Tabellenform gebracht hat (vgl. den 170-Seitigen Anhang dieses numerischen Materials), hat drei große Abschnitte: (1) Die Lebenserzeugung im Organismus der Menschheit (315–592), 12 „Wir gewinnen also, wenn wir Alles bisher Berührte übersichtlich zusammenfassen, für die Unterscheidung der mannigfaltigen Einflüsse, deren mögliche oder wahrscheinliche Wirksamkeit bei der moralstatistischen Analyse in Betracht komme kann, folgendes Schema: […]“ (309). „Ich werde suchen in der nun folgenden Analyse der moralstatistischen Daten jene schematische Gruppirung stets im Auge zu behalten, um zu constatiren, wo und in wie weit der Nachweis eines empirischen Gesetzes möglich ist. Im Ganzen aber werde ich mich meinem ethischen Zwecke gemäss, darauf beschränken, den wesentlichen drei Hauptgesichtspunkten nachzugehen“ (311f).
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(2) Die Lebensbethätigung im Organismus der Menschheit (592–846) und (3) Der Tod im Organismus der Menschheit (847–942). Mit diesem Aufbau sind Horizont und Dynamik des Lebens und Handelns eines Individuums angedeutet bzw. hervorgehoben. Leben und Handeln des Einzelnen bewegen sich in strukturiert-gezielter Weise im Zusammenhang mit der Menschheit oder im Werden der Geschichte. Zunächst werden die Daten analysiert und interpretiert, die mit der Lebenserzeugung der Menschen verbunden sind: mit der Polarität und dem Gleichgewicht der Geschlechter, mit der Geschlechtsgemeinschaft, mit der Fruchtbarkeit etc. Es folgt eine Statistik bezüglich der menschlichen Betätigung in verschiedenen sozialen Sphären: in der bürgerlichen Rechtsphäre (inkl. der Rechts-, Wirtschafts-, Arbeits-, Eigentumsverhältnisse etc.), in der intellektuellästhetischen Bildungssphäre und in der religiös-sittlichen Sphäre. Zuletzt analysiert von Oettingen die Erhebungen, die mit Siechtum und Sterblichkeit (inkl. Krankheiten), mit Mord (auch mit der Todesstrafe, mit Krieg und dessen Opfern, mit dem Militär etc.) und zuletzt mit Selbstmord zu tun haben. Diese Analyse der menschlichen „Lebensbewegung“ anhand eines ungeheuer umfangreichen empirischen Materials, diese „Detailforschung“ (944), sammelt viel statistisches Material über Lebensverhältnisse und ihre Dynamik aus verschiedenen Ländern Europas, das schon für sich genommen – ohne eine genaue Berücksichtigung bzw. Anerkennung seiner Funktion für das sozialethische Gesamtwerk, sowie ohne Übereinstimmung mit den weltanschaulichen Überzeugungen von Oettingens – interessant ist.13 Die zwei „vollständig bearbeiteten“ Neuauflagen (auch die Daten sind stets auf den aktuellen Stand gebracht) rücken die eigentliche Analyse des „menschlichen Gesellschaftsleben“ (943) in den Vordergrund. Anstatt sie umfassend theoretisch abzuhandeln, wird sie nur „eingeleitet“. In der 3. Auflage wird zusätzlich noch der Titel verändert: Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine Socialethik. Sie gewinnt somit gänzlich die Gestalt eines eigenständigen Buches. In meiner Interpretation drücken diese späteren Schritte jedoch keine grundsätzliche Funktionsmodifikation der Moralstatistik im Gesamtprojekt aus. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass von Oettingen eingesehen hat, dass seine statistische Ethikbegründung gescheitert sei. Was nicht beansprucht wurde, kann nicht misslingen und somit auch nicht als Scheitern verstanden werden. Die Tatsache, dass die „Schlusserörterung“ (943–994) in allen drei 13 Von Oettingen hat versucht „dasjenige zusammenzustellen und für den inductiven Nachweis auf ethischem Gebiete wissenschaftlich verwerthen zu können, was von allgemeinen culturhistorischen Interesse ist und einen […] Einblick in die Sittengeschichte der letzten drei bis vier Jahrzehnde zu gewähren verspricht“ (82). Zusammen mit den Neubearbeitungen ermöglicht er so einen diesbezüglichen „Einblick“ in das soziale Leben Europas zwischen ca. 1830 und 1882.
Das Resultat der Moralstatistik
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Auflagen von 1869 bis 1882 identisch geblieben ist, spricht zusätzlich für meine These.
18.3
Das Resultat der Moralstatistik: formale Gesetze sittlicher Lebensbewegung bzw. allgemeine Struktur der Geschichte
Die Schlusserörterung, die deutlich getrennt ist vom analytischen Teil, hat einen stärker hermeneutisch-systematischen Charakter. Sie reflektiert zusammenfassend, was in der vorherigen Analyse gewonnen wurde. Durch die Kombination der statistisch-empirischen und systematisch-theologischen Perspektiven, durch die Korrelation der Resultate empirischer Betrachtung sozialen Lebens und der Grundüberzeugungen christlichen Glaubens, bildet sie eine Brücke zu der zweiten systematischen Hälfte des sozialethischen Großprojekts. Dieses wechselseitige „Gespräch“ der Resultate und Grundanschauungen lässt beide in einem neuen Licht erscheinen und tiefgründiger verstehen. In der folgenden, rekonstruierenden Interpretation lasse ich an entscheidenden charakteristischen Stellen von Oettingen vermehrt selbst zu Wort kommen. Was gewinnt man durch die moralstatische Analyse für die Erhellung des Grundproblems, des Verhältnisses von Gesetzmäßigkeit und Freiheit? Sie gibt keine „endgültige Lösung“ (944) – was von ihr auch nicht erwartet wurde. Worin liegt aber dann ihr Beitrag? „Die Thatsachen sind und bleiben als solche stumm, ja erhöhen nur und verschärfen das Problem.“ (Ibid.) Bei der Analyse der „in ihrer Verkettung beobachteten menschlichen Handlungen“ ging es darum, „eine solche Erklärung – […] durch hypothetische Gesetze – zu finden, mittelst deren“ diese Handlungen „uns verständlich werden“ (ibid.). Der Beitrag der Moralstatistik ist insofern ein doppelter, denn ihr Resultat hat eine negative und eine positive Seite. Das negative Resultat der Moralstatistik bestehe darin, dass die beobachteten Fakten weder durch eine personalethische Theorie der Freiheit, in der diese verabsolutiert und als Autonomie aufgefasst wird, noch durch eine sozialphysische Theorie des Determinismus, in der sie verneint wird, verständlich werden oder sich verstehen lassen (vgl. 945–952).14 In beiden Rahmentheorien bzw. 14 Man kann diesen Gegensatz durchaus im Sinn eines idealtypischen Gegensatzes verstehen. So geht von Oettingen – nach einer eingehenden Schilderung verschiedenartiger Implikationen beider Positionen – auch selbst vor: „Diese beiden, in ihrer schneidenden Gegensätzlichkeit von mir gezeichneten Einseitigkeiten, oder Extreme, die man häufig als Rationalismus und Naturalismus, Idealismus und Realismus, Spiritualismus und Materialismus, Subjectivismus und Objectivismus, – auf specifisch theologischem Gebiete als Deismus und Pantheismus einander gegenübergestellt hat, sind in der Wirklichkeit keineswegs so ge-
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sowohl für die personalethische als auch für die sozialphysische – heute würde man sagen: physikalistische – Weltanschauung bilden Freiheit und Notwendigkeit einen Widerspruch. Beide Theorien kennen und anerkennen für das menschliche Handeln nur die Alternative: Entweder rein persönliche Freiheit bzw. absolute Selbstbestimmung oder rein natürliche Notwendigkeit (strenge Kausalität). Vor beiden vermag schon eine gewissenhafte Deutung und Verwerthung der Thatsachen des sittlichen Gemeinschaftsleben uns zu bewahren. Indem wir aus denselben die allgemeinen Gesetze sittlicher Lebensbewegung zu abstrahieren und abschliessend zu formulieren suchen, wollen wir zur Controle für unser inductives Verfahren die geschilderten Gegensätze stets im Auge behalten; vielleicht gelingt es, die beiden zu Grunde liegende particula veri zu retten, ohne an der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Lösung des jedenfalls unerträglichen Widerspruchs zwischen Freiheit und Nothwendigkeit zu verzweifeln. (952)
Soviel zum negativen oder kritischen Ergebnis: Das beobachtete menschliche Handeln wird in seiner Gesetzmäßigkeit weder aus einer personalethischen noch aus einer sozialphysischen bzw. naturalistischen Sicht verständlich. Als positives Ergebnis der empirischen Analyse fasst von Oettingen die induktiv gewonnenen, i. e. empirischen Gesetze, zusammen (vgl. 953–966). Die Moralstatistik ermöglicht also den Nachweis der Gesetzmäßigkeit sittlicher Lebensbewegung, die dann näher beschrieben und interpretiert werden kann. Zugleich wird die Zurückweisung eben angesprochener Positionen konkretisiert. Es gibt drei Arten von Gesetzen: allgemeine, soziale und individuelle Gesetze. In der sittlichen Lebensbewegung – anders formuliert: in der Geschichte oder im Organismus der Menschheit oder innerhalb (des Werdens) der Humanität15 – sind drei Sorten von universellen Gesetzen anzunehmen. Das sind zunächst die sog. immanenten Gesetze, die Gesetze der Kontinuität (Kontinuität, Motivität, Tenazität, Sensibilität),16 die im Gegensatz zu einem willkürlichen Freiheitsverständnis bzw. zu einem Indifferentismus stehen; sodann die sog. normativen Gesetze, die Gesetze der Normativität (Normativität17 bzw. Verpflichtung, sondert, dass man etwa die einzelnen Philosophen, Theoretiker und Ethiker in reinlicher Sonderung auf die eine oder andere Seite stellen könnte. So consequent gestaltet sich selten das ganze Symptom.“ (951). 15 Vgl. z. B. 949, 953, 955, 958. 16 „Sie erklären uns die auffallende, allgemeine Regelmässigkeit in den scheinbar willkürlichen Handlungen und in den sittlichen Collectivzuständen der Menschheit. Es beruht auf denselben das immanente Gesetz der Nothwendigkeit menschlicher Lebensbewegung […], welches uns auf eine allgemeine moralische Weltordnung zurückschliessen lässt.“ (954). 17 „[E]in Gesetz der Normativität, ein eigentliches Sittengesetz“ besteht „im weitesten Sinne darin […], dass die Eigenart menschlicher Natur eingesenkten immanenten Gesetze der Bewegung sich innerhalb der Geschichte zu normativen Geboten […] ausgestalten, mittels
Das Resultat der Moralstatistik
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Spontanität, Verschuldung oder Culpabilität, Vergeltung oder Reactivität), die im Gegensatz zu einem Determinismus stehen; und das Gesetz der Teleologie (und der göttlichen Providenz)18 oder die moralische Weltordnung durch einen persönlichen Gott. Diese sind also anzunehmen um sittliche Notwendigkeit und Freiheit vereinigen zu können.19 Von den in Klammern angedeuteten Differenzierungen bzw. Präzisierungen abstrahierend unterliegt das geschichtliche Werden bzw. das Gebiet der Humanität den drei universellen Grundgesetzen: Darin herrschen Kontinuität, Normativität und Teleologie. Auch der sozialen Gesetze ethischer Lebensbewegung, die man aus der empirischen Tatsache schlussfolgern kann, d. h. die man aufgrund numerischer Massenbeobachtung veranlasst ist anzunehmen, gibt es dreierlei. Entsprechend den universellen Gesetzen sind auch hierbei das Immanente und das Normative durch das Teleologische vermittelt und vereinigt sind. Es sind zunächst die Gesetze der Organisation20 (Organisation, Generation, Polarität und Attraction, Vererbung oder Heredität) im Gegensatz zum sozialistischen Atomismus („Eine Gemeinschaft ist keine Summe aus autonomen Gleichartigen, sondern ein gederen dem menschlichen Willen kraft einer über ihm stehenden normirenden Autorität Aufgaben, oder Pflichten gesetzt sind“ (ibid.). 18 „Die unleugbare Allgemeinheit und durchgreifende Bedeutsamkeit des normativen Gesetzes innerhalb der Geschichte weist aber nicht bloss auf die Nothwendigkeit einer allgemeinen moralischen Weltordnung, sondern auch auf einen Weltordner […], welcher trotz seiner absoluten, allbestimmenden Machvollkommenheit doch als ein persönlicher, d. h. nach geistiger Selbstgesetzgebung (Autonomie) handelnder Wille die Freiheit der Creatur nicht zerstört, sondern vielmehr ermöglicht und in seinen Dienst zieht. Nur die freie, weltschöpferische und weltordnende Intelligenz giebt Raum zu der Freheit, die sich in der Sphäre eines normativen Gesetzes bewegt.“ (955) „Sollen also die […] immanenten und normativen Gesetze nicht absolute Widersprüche sein […], so müssen wir voraussetzen, dass beiden eine solche Weltordnung zu Grunde liegt, die mit der inneren Continuität alles Geschehens auch die äussere Normativität des Handelns, mit der gesetzmässigen Entwickelung auch sittliche Postulate vereinbar erscheinen lässt.“ (556). 19 „Dass die innere Gesetzmässigkeit menschlichen Lebens sich in gebietenden Gesetzen einen bewussten sittlichen Ausdruck schafft, ist nicht bloss ein Beweiss relativer Willensfreiheit der Menschen, sondern auch ein Hinweis auf einen geistigen Weltordner, dessen Absolutheit nicht blinde Naturnothwendigkeit zur Folge hat, sondern eine geschichtliche Freiheitsbewegung der Creatur ermöglicht und innerhalb der gottgewollten Schranken sich vollziehen lässt.“ (Ibid.). 20 „Es lässt sich […] die gemeinsame sittliche Lebensbewegung der Menschheit […] nur [denken] als ein Zusammenwirken verschiedener und doch mit einander zu höhere Gattungseinheit verbundener Elemente, welche, ihrem einheitlichen Ursprunge gemäss, nach einem inneren Gesetz der Entwickelung gliedlich zusammenhängen. Darin gibt sich uns das sociale Grundgesetz der Organisation zu erkennen. […] In Folge dieses Gesetzes der Organisation entwickelt und betheiligt sich die Menschheit innerhalb der Familien, Stämmen und Racen in unverkennbarer typischer Verschiedenheit, während doch durch alle Typen ein einheitlicher Gattungscharakter sich hindurchzieht, der uns die Gewähr bietet nicht bloss für die Gemeinsamkeit der Interessen, sondern auch für die zu Grunde liegende, durch alle Perioden der Geschichte sich hindurchziehende Identität der moralischen Collectivperson.“ (958).
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gliedertes Ganzes aus unikalen Individuen.“), und sodann die Gesetze der Solidarität21 (Solidarität, sociale Culpabilität oder Responsibilität, Autorität, Pietät) im Gegensatz zum sozialistischen Naturalismus, sowie dem anthropologischen Naturalismus resp. Darwinismus, anzunehmen. Die „Doppelgruppe socialer Gesetze: die immanenten Gesetze der Organisation und die normativen der Solidarität“ – anders formuliert: „die soziale Gebundenheit“ und die „sociale[] Freiheit“ „stehen […] in keinem Widerspruch, sondern stützen und fordern sich gegenseitig“ und sind vereinigt in dem Gesetz der geschichtlichen Tradition oder der Sprache und der Sitte22 auf rechtlichem, intellektuellem und religiösen Gebiet (961; vgl. 959). Die dritte Gruppe der allgemein-formalen Gesetze der Lebensbewegung innerhalb der Humanität bilden die individuellen Gesetze. Auch hier lässt sich zunächst eine doppelte Gruppe immanenter und normativer Gesetze zusammenfassen. Es sind die immanenten Gesetze der Individualität23 (Individualität, Evolution, Assimilation, Sollicitation), die einen Subjektivismus zurückweisen, sowie die normativen Gesetze der Personalität24 (Personalität oder bedingte 21 „Ich möchte dieses Gesetz, kraft dessen allen Gliedern des Gesellschaftskörpers eine gemeinsame Lebensaufgabe vorgeschrieben ist, die sich wiederum berufsmässig gliedert und theilt, das Gesetz der Solidarität oder der Stellvertretung nennen. Es besagt: dass im Hinblick auf diese Lebensaufgabe jeder für Alle und Alle für Einen zu stehen haben, sofern und soweit sie nämlich gliedlich zu einander gehören oder eine moralische Collectivperson bilden. Diese Solidarität beruht auf einem Gesetz der Zurechnung, das im Collectivgewissen als Collectivethos seinen ursprünglichen Sitz hat und sich, aus der noch unbewusst-gefühlsmässigen Sitte zu bewussten Lebensregeln rechtlicher und religiöser Art geschichtlich ausgestaltet.“ (959). 22 Die Sitte „erscheint […] als das gesschichtlich Gewordene, Feste, Gewohnheitsmässige, innerhalb dessen die sociale Gruppe sich trotz aller Bindung doch in ihrem Eigenen, ohne Zwang, also mit Freiheit bewegt. Die Sitte ist es, die auch vorzugsweise influirt auf die sociale Lebensbethätigung in den drei Hauptsphären, die wir betrachtet und empirisch beleuchtet haben. Die Rechtsnormen, die Bildungsnormen, und die Religionsnormen sind gesetzmässige Ausgestaltungen der Macht der Sitte und Tradition, durch welche eine geistige Atmosphäre in jedem organisierten Gemeinschaftsleben und schliesslich in der gesammten Menschheit entsteht. Diese Atmosphäre, mag sie durch natürliche oder offenbarungsmässige Tradition bedingt sein, wird sich als eine geistige stets in der Sprache, im Wort documentieren. Dahert spiegelt sich auch in der Sprache das geheimnissvolle Problem socialer Gebundenheit und Freiheit. […] [D]ie Tradition und Sprache ist ein sociales Gemeingut“ (961f). 23 „Nach solch’ einem Gesetz gestaltet sich, was wir sein Naturell oder sein Naturleben nennen. Darunter verstehe ich […] die geistleibliche, psychophysische Form seines Soseins, die eigenartige, von allen übrigen Menschen ihn unterscheidende Physiognomie, welche diesem besonderen Ich nothwendig eignet, sofern dasselbe auf keinem anderen Wege, als dem des Generationsprocesses in’s Dasein getreten ist.“ (963). 24 „Dieses Gesetz besagt, dass jeder normal entwickelte Mensch in seinem Personleben mit dem Ichbewusstsein auch die Fähigkeit besitzt, eine sittliche Ueberzeugung sich zu schaffen, die als seine eigene von innen heraus nach der Norm des Gewissens seine Lebensbethätigung frei zu bestimmen vermag. […] Obwohl dieses Gesetz der persönlichen Freiheit […] nur in den Schranken sich vollziehen kann, die dem Menschen seiner Idee nach, (als Creatur und Glied
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Autonomie, Reziprozität oder Wechselwirkung, individuelle Responsabilität, individuelle Culpabilität), die einem Objektivismus widersprechen. Sie können in dem Gesetz persönlicher Charakterentwicklung25 als vereinigt angesehen werden: Wie in der geschichtlichen Entwickelung eines Volksganzen die Ausgestaltung des volksthümlichen Charakters mittelst eines geistigen Kampfes, einer geistigen Collectivarbeit auf dem einmal gegebenen Boden der Naturanlage zu Wege gebracht wird, wie überhaupt in gesetzmässiger Weise, d. h. gemäss, [sic!] innerer Continuität in der Menschheitsgeschichte der Charakter des Gesamtorganismus durch die Einigung von Vernunft und Natur sich ausprägen soll, so ist es Ziel und Aufgabe jeder Lebensgeschichte des Einzelmenschen, die unmittelbar gesetzte Einheit seines Natur- und seines Personlebens zu innerlich normirter, consequenter Einigung und Durchdringung auf dem Wege geistig-sittlicher Arbeit fortschreitend gelangen zu lassen. Darin eben vollzieht sich das tief begründete, Nothwendigkeit und Freiheit in sich vereinende Gesetz der persönlichen Charakterentwickelung, welches die gesammte Ethik im Zusammenhange mit den allgemeinen [i. e. formalen – T.-A.P.] Normen sittlicher Lebensbewegung darzustellen hat. (966)
Abstrahiert man von den in Klammern angedeuteten Differenzierungen bzw. Präzisierungen, dann unterliegt das geschichtliche Werden bzw. das Gebiet der Humanität den drei Grundgesetzen universeller Art: der Kontinuität, Normativität und Teleologie; den drei Grundgesetzen sozialer Art: der Organisation, der Solidarität und der Tradition; und den drei Grundgesetzen individueller Art: der Individualität, der Personalität und der Charakterentwicklung. Dieses kann als die (formale) Grundstruktur der Geschichte aufgefasst werden. Am Ende der summierenden Reflexion des positiven Ergebnisses seiner „Moralstatistik“ kommt von Oettingen letztmalig zum „hypothetischen, d. h. empirisch wahrscheinlichen“ Status dieser Gesetze zurück. Mit Blick auf ihre Leistungsfähigkeit und ihre Grenzen hebe ich zwei Aspekte hervor: (a) sie sind „mittels einer die Thatsachen combinierenden und ihren Zusammenhang deutenden Denkoperation gefundene […] allgemeine Principien“, die „das verschlungene Gewebe der beobachteten Thatsachen […] erklären und verstehen helfen“ sollen (967);26 (b) als solche durch einen Induktionsschluss geeines Organismus) gesetzt sind, so involviert dasselbe doch die Fähigkeit ja die Nothwendigkeit einer Einwirkung der Einzelperson […] wie auf die eigene sittliche Fortentwickelung, so auf die geschichtliche Gesammtbewegung.“ (965). 25 „[D]er Charakter ist die Combination des Naturells mit der ethischen Personalität, das ethisirte Naturell, sofern es zum Organ einer constanten Willensrichtung und Handlungsweise geworden.“ (966). 26 Sie werden „in dem Maasse den wirklich absoluten Gesetzen, welche die Erscheinungsreiche sittlichen Lebens jedenfalls beherrschen, sich anzunähern im Stande sein […], als sie durch allseitige Erfahrung Bestätigung finden, sei es auf Grund der inneren […] Selbstbeobachtung, sei es auf Grund der […] christlichen Heilsoffenbarung“ (967).
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Funktion und Pointe der Moralstatistik
wonnene Gesetze sind sie „rein formaler Natur“ und besagen nicht, was sachlich gut oder böse ist, worin wahre Freiheit im Unterschied zur Scheinfreiheit besteht, „was und wie gewollt zu werden verdient“ (ibid.).27
18.4
Die Moralstatistik – Anknüpfungspunkt für eine materielle Ethik als Sozialethik
Der beanspruchte Beitrag der Moralstatistik ist jedoch noch nicht ausgeschöpft. Von Oettingen zeigt, wie man noch einen Schritt weiter gehen und eine hypothetisch-heuristische Brücke von den formalen Gesetzen zu den sog. materialen bilden könne. Obwohl nicht direkt, ergeben sich für ihn auf indirectem Wege […] doch auch aus der empirischen Beobachtung die muthmaßlichen Anknüpfungspunkte für solche materiale Gesetze, wenn wir die […] Factoren sittlicher Lebensbewegung in ihrem gegenseitigen Verhältniss d. h. in ihrer möglichen realen Zerklüftung und ihrer wahren, idealen Einheit uns vergegenwärtigen und auf diesem Wege die abnorme und normale Willensbethätigung zu unterscheiden und in beiden die innere Gesetzmäßigkeit darzulegen versuchen. (967)
Damit ist die Richtung angezeigt, in die er die Ergebnisse der Moralstatistik deutend auf das ethisch-materiale Gebiet28 anwendet, d. h. eine Korrelierung des Formellen und Materiellen durchführt. Seine dichten Gedankenentwicklungen brauchen an dieser Stelle nicht in ihren Einzelheiten verfolgt zu werden. In einem ersten Vermittlungsschritt werden (a) die allgemeinen ethisch-materiellen Grundbegriffe (gut/böse, wahre Freiheit/Scheinfreiheit, höchstes Gut/Übel) bestimmt. Hier orientiert von Oettingen sich an den Doppelreihen der Gesetze und ihrer Verbindungen. Aber auch für eine inhaltliche Näherbestimmung, (b) „welche normativen Gesetze die wahren, der immanenten wesenhaften Lebensbewegung entnommenen und entsprechenden sind“, könne man anhand der „Moralstatistik“ einen „Anknüpfungspunkt“ (969) finden. Die Orientierung an den drei Faktoren sittlicher Lebensbewegung in ihrem Verhältnis zueinander, erlaubt von Oettingen zufolge eine inhaltlich-ethische Konkretisierung der wahren Gesetze, die 27 „Hier [an dieses Problem – T.-A.P.] hat das deductive Verfahren anzuknüpfen und aus einem einheitlichen Princip des Guten die sachlichen Gesetze normaler Lebensbewegung […] in ihrem Zusammenhange […] darzulegen.“ (967) Es ist eben das, was von Oettingen im systematischen Teil des Werkes beabsichtigt und vier Jahre später der Öffentlichkeit vorgelegt hat. 28 „Wir werden […] im allgemeinsten Sinne dasjenige gut nennen können, worin sich die Einheit, und dasjenige böse, worin sich die Dissonanz beider Gesetzesformen [der immanenten Gesetze der Continuität und der fordenden Gesetze der Normativität – T.-A.P.] kund gibt.“ (968).
Die Moralstatistik – Anknüpfungspunkt für eine materielle Ethik
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zur Realisierung der „normalen Bestimmung oder d[em] höchsten Gut der Menschheit“ (968) dienen. Sie gibt den Ansatz für die Unterscheidung zwischen dem Handeln, das normal ist und dem, das es nicht ist. Es liegt […] im Wesen der menschlichen Creatur, sowie zeitlich-geschichtlichen Schöpfungsordnung,[29] dass diese drei Factoren […] zusammen wirken können, ohne dass der Mensch das Gefühl und das Bewusstsein der Freiheit seiner Willensbewegung verliert. […] [E]r wird in dem Maasse freier sein, als er sich in der normalen Ordnung […] dieser drei Factoren bewegt, ein Zeugniss seiner Gottesbildlichkeit und Geschichtsfähigkeit (969).
Dies bedeutet: Wenn man in der sittlichen Weltordnung den universellen Faktor exklusiv hervorheben würde, hätte man in der Ethik „ein einseitiges Autoritätsprincip mit der Forderung blinden Gehorsams“, also eine Heteronomie, zur Konsequenz. Wenn man wiederum isoliert den individuell-persönlichen Faktor betonen würde, wäre in der Ethikwissenschaft „ein einseitiges Subjectivitätsprincip mit der Forderung schlechthinniger Selbstbestimmung“, also (absolute) Autonomie, vorherrschend. So liegt für von Oettingen im sozialen Faktor „die wahre und gesunde Mitte für eine normale Lebensbewegung“; allerdings nur unter der Bedingung, dass ein Doppeltes berücksichtigt wird: (1) „die menschliche Collectivbewegung [beruht] auf Normen, auf Ordnungen […], die über dem Bewusstsein und der Absicht der Einzelvölker und Individuen hinausliegen“; und (2) „in der organisirten und normirten Gemeinschaft [ist] der Wille und die freie Bewegung des Individuums nicht aufgehoben, sondern bewahrt und geschützt“ (ibid.). Damit ist auch verdeutlicht, weshalb von Oettingen für die Vorstellung eintritt, dass „alle wahre Ethik“ den Charakter von „Socialethik“ trägt. Sie hat die Lebensbewegung innerhalb der Menschheit so darzulegen, so auf Principien und Gesetze zurückzuführen, dass uns mittels derselben das wahre Wohl: die gottgewollte Bestimmung der Gesammtheit und in ihr erst des Einzelnen gewährleistet werde (970).
Damit hängt von Oettingens Verständnis der Genese der ethischen Prinzipien und Normen zusammen: Sie alle „gehen […] zurück auf eine Form der Sitte“ und zeigen dadurch ihren „nothwendig socialen Charakter[]“ (970). Zu einer Unterscheidung von Gut und Böse, „überhaupt zu ethischem Urtheil […] gelangt der Einzelne nur im Zusammenhang mit einer Tradition, durch Vermittelung der Sitte, die ihn geistig grossgezogen und sein ethisches Urtheil (Gewissen) gebildet hat“ (ibid.).30 Diese Einsicht impliziert für von Oettingen 29 Vgl. in der neueren theologischen Ethik: Herms, die Lehre von der Schöpfungsordnung; Herms, Grundzüge eines theologischen Begriffs sozialer Ordnung; Herms, Schöpfungsordnung. 30 Sitte ist also „die gewohnheitsmässige Ausgestaltung der immanenten Gesetze der Ge-
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zugleich, dass „für die subjective […] Verschuldung des Einzelnen kein anderes Maass“ zu finden ist, „als das der herrschenden Sittlichkeitsidee, die eben aus der Sitte hervorwächst und auf die Sitte zurückwirft“ (ibid.). Diese Sittlichkeitsidee habe zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten andere Gestalten angenommen, das Differenzbewusstsein von gut und böse variiert also. Das ist eine Tatsache. Deshalb ist es notwendig, um nicht in einen schlechten Relativismus zu gelangen, „die empirische Sitte, welche meist mit Unsitte verwachsen ist, von der wahren, der Idee des Guten entsprechenden Sitte“ strikt zu unterscheiden (ibid.). Es gilt zwar einerseits, „[a]lles Gute soll die Gestalt der Sitte gewinnen“, andererseits ist jedoch „nicht jede Sitte […] gut“. Alles ethische Arbeiten und Bemühen in der Geschichte – ich füge hinzu: gerade auch dieser Versuch empirisch ansetzender Sozialethik von Oettingens auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Ethik – zielt also auf nichts anderes ab als auf die „Verbesserung der Sitten“, auf „die Sittigung der Gemeinschaft“ (ibid.). Wie bleibt aber die faktisch geltende Sittlichkeitsidee, der in Bewegung begriffene Zustand einer geistig-sittlichen Atmosphäre, in der ihrerseits die Einzelnen sich bewegen, kritisier- und korrigierbar? Was macht „die Sitte zur guten Sitte“ (ibid.)? Hier – mit Blick auf die kritische Frage, was denn wahrhaft sittlich genannt zu werden verdient – gilt es wiederum sich an den drei „Grund-Elemente[n] alles Sittlichen“ zu orientieren. In objektiver Hinsicht sind materiellsittlich alle diejenigen Normen oder gesetzmässigen Ordnungen innerhalb der Menschheit […], welche jene drei Factoren in das, ihrem objektiven Werthe und ihrer Bedeutung entsprechende Verhältniss setzen, so dass also innerhalb der socialen Lebensbewegung dasjenige als Sitte gilt, was dem in der Welt sich offenbarenden absoluten Gotteswillen (den immanenten ewigen Ordnungen) entspricht und zugleich das Einzelwesen in seiner gliedlichen Stellung zum Ganzen zur lebensvollen Entfaltung bringt. (971)
In subjektiver Hinsicht ist aber sittlich wahrhaft gut diejenige Willensbewegung […], in welcher jene Normen zum innerlich treibenden Motiv geworden sind, so dass Gott, Menschheit und Einzel-Ich je in ihrem Rechte, d. h. in ihrer nothwendigen Ordnung und Unterordnung gewahrt werden. Das geschieht aber durch das königliche Gesetz der Liebe, welche zu ihrer Wurzel den Glauben, zu ihrer Krone die Hoffnung hat. In der Liebe wird nicht bloss Nothwendigkeit und Freiheit eins […]; sondern […] stellt sich uns auch das Band der Vollkommenheit […] dar, […] diejenige Herzens- und Willensbewegung, welche in dem mannigfaltig ausgestalteten Reich des Guten die Glieder des Organismus unter einander verbindet und einem höheren Zwecke freiwillig dienstbar macht. (971) meinschaftsbewegung in normativer und imperativer Form, wodurch […] das sich ergiebt, was wir im weitesten Sinne Sittengesetz nennen“ (970).
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Es ist also die Liebe in ihrer Bezogenheit auf den Glauben und auf die Hoffnung, die die drei Grundfaktoren des Sittlichen in der Lebensbewegung der Menschheit und des Einzelnen in Einheit und Einklang bringt. Von Oettingen zeigt, wie und in welchem Sinn die Liebe eine Weisheit enthält, in der Wahrheit und Gerechtigkeit verbunden sind – wie sie identisch ist „mit dem Gesetz des Geistes oder dem vollkommenen Gesetz der Freiheit“. Alles in allem: in inhaltlicher Hinsicht – sowohl objektiv als auch subjektiv – kann eben die Liebe als „das Gesetz des wahren und ewigen Lebens“ verstanden werden (972). Einige Worte noch zur Kehrseite der normalen Lebensbewegung – wieder ausgehend von den drei Sittlichkeitsfaktoren. Sie ist bei der „empirischen Massenbeobachtung viel directer und unzweideutiger entgegengetreten“ (ibid.). In objektiver Hinsicht ist sittlich böse das, was die wahre Einheit und Harmonie der Faktoren behindert, beeinträchtigt, zerstört. In subjektiver Hinsicht kann sittlich böse als Egoismus verstanden werden. Dabei kann dieser Egoismus in drei Grundgestalten auftreten: (a) im Fall von isolierender Betonung des religiösen Faktors als Terrorismus – in anderen Zusammenhängen und Schriften spricht von Oettingen auch von „Intoleranz“ –; (b) bei einseitiger Betonung des sozialen Faktors als nivellierender Sozialismus; (c) im Fall einer exklusiven Betonung des persönlichen Faktors als Individualismus. In diesen Erscheinungsformen der Korruption realisiert sich „jenes wahrhaft dämonische Gesetz des lieblosen Egoismus, der zu seiner Wurzel den Unglauben, zu seinem Resultat die Hoffnungslosigkeit hat“ (973). Obwohl das Böse mit Blick auf das sittliche Ideal somit als abnorme Lebensbewegung erscheine, könne es die moralische Weltordnung nicht willkürlich sprengen, sondern unterliegt vielmehr selbst den allgemein-formalen Gesetzen sittlicher Lebensbewegung oder – wenn man will – einem „Gesetz der Gesetzmässigkeit“ (975). Das Böse folgt also, wie das Gute, einer Gesetzmäßigkeit. Von Oettingen beschreibt verschiedene Aspekte dieser Gesetzmäßigkeit durch das Gesetz der Sünde, des Fleisches und des Todes. Das Böse erscheint nie „auf den individuellen Willen beschränkt, sondern wo es in die Geschichte einmal eingetreten ist, muss es nach dem Gesetz der Continuität fortwirken und kraft der Gattungsnatur der Menschheit auch die Gesammtheit inficiren“ (974). Aus dem „Gattungscharakter der Sünde“ ergibt sich, dass es „nach dem Gesetz der Solidarität […] keine rein individuelle Verschuldung giebt, sondern dass eine Sündenbrüderschaft die ganze Menschheit umschlingt“, die jedoch „die persönliche Verschuldung nicht aus-, sondern einschliesst“ (974f). In der Herrschaft der Lüge und der Ungerechtigkeit, des Schmerzes, und des Elends und der Krankheit etc., also: in der Desorganisation, in der Auflösung des lebensvoll Organischen, i. e. im Tod, kommen die Folgen der Sünde zum Ausdruck. Es ist „nichts Anderes als das ,Zugefühlgeben‘ der göttlichen Gesetzesübermacht, die sich wenn nicht in Form der positiven Er-
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füllung, so in Form der Reaction: des heiligen Zornes und der Strafe geltend macht und durchsetzt“ (975). Die empirische Massenbeobachtung lasse sich also nicht zuletzt als eine „grauenhafte Thatpredigt“ (972) von einer solchen Bestimmtheit der Menschheits- und Menschenbewegung durch das Gesetz des Egoismus und dessen Folgen, durch die zerstörende Macht der Sünde und des Todes, verstehen. Damit hat von Oettingen in Anknüpfung an die formalen Gesetze sittlicher Lebensbewegung auch das sittlich Böse materiell interpretiert. Diese Überlegungen beanspruchten keinen direkten Bezug auf die empirische Beobachtung: Sie sind „nur die freilich naheliegende Anwendung der allgemeinen […] Gesetze […] auf das materiale Gebiet des sittlich Guten und Bösen“ (975f). Sie waren also schon Überlegungen zweiter Ordnung. Aus der Moralstatistik kann man weiter nichts entnehmen. Ihr Schlusswort bringt ein „empirisch naheliegendes“ Urteil über die Lebensentwicklung der Menschheit als negativ qualifiziert zum Ausdruck. Ob und wodurch eine Neuqualifikation erfolgen kann? Das ist eine Frage – ja „die entscheidende Hauptfrage“ (976) –, die sich somit aus der Perspektive der Moralstatistik für von Oettingen stellt, aber aus dieser Sicht „schlechterdings“ unbeantwortbar bleibt. Die Moralstatistik weist über sich hinaus. Eine allerletzte Brücke des Verstehens kann aber doch noch gebildet werden, obwohl dies schon zu einem Perspektivenwechsel führt. Auch wenn eine Neuqualifizierung der negativ bestimmten Menschheit – ein „neue[s] Leben der Liebe“ – nur von Gottes Initiative her denkbar ist, steht fest, dass sie unter den Bedingungen der Struktur der Geschichte bzw. der Humanität erfolgen müsste. Eine Neuschöpfung dürfte somit die allgemeinen Gesetze sittlicher Weltordnung nicht außer Kraft setzen, sondern diese bestätigen und verwirklichen helfen.31 Diese Behauptung vom Vorhandensein solcher (ontologischen) Rahmenbedingungen für den Vollzug einer Neubestimmung ist hier wiederum – das möchte ich eigens festhalten – nicht in dem Sinn zu verstehen, dass die Moralstatistik z. B. der „christlichen Heilsoffenbarung“ (975) etwas vorschreibt und etwa beansprucht einen empirischen Auslegungshorizont anzubieten, dem diese zu genügen hat. Die letzte Frage mit der von Oettingen seine Schlusserörterung der Untersuchung Die Moralstatistik, den induktiven Teil, abschließt, führt ihn auf das Gebiet der Theologie im engeren Sinn – zu einem expliziten Perspektiven31 D. h. der deduktive Teil des sozialethischen Gesamtwerkes, Die christliche Sittenlehre, ist eine systematische Darstellung der positiven Gesetze christlichen Heilslebens unter den Bedingungen der Geltung allgemein-formaler Gesetze der Menschheitsbewegung oder der Humanität.
Die Moralstatistik – Anknüpfungspunkt für eine materielle Ethik
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wechsel: „ob die allgemeinen Gesetze, die wir gefunden, im Lichte christlicher Offenbarung sich als haltbar erweisen“ (976). Sie unternimmt eine „biblisch theologische“ bzw. „biblische Beleuchtung“ (975) der Resultate der Massenbeobachtung. Ausgehend also von den Gesetzen, die auf empirischem Weg gefundenen wurden, skizziert er nun in konzentrierter Form das biblische Verständnis der sittlichen Lebensbewegung (975–987). Er geht konkret, i. e. anhand relevanter Textpassagen bzw. mit Verweisen auf sie, vor.32 So stellt er das biblische Verständnis vom Natur- und Sittengesetz,33 von Notwendigkeit und Freiheit,34 von Gesetz der Sünde und Gesetz der Gerechtigkeit, von Gattungsschuld und Gattungserlösung,35 von Geburt aus dem Fleisch und Wiedergeburt aus dem Geist dar. Von Oettingen ist somit folgender Überzeugung: Einerseits bestätigt „die christliche Weltanschauung“ nicht nur die Ergebnisse der Moralstatistik, sondern bietet auch „den Schlüssel“ für „die Räthsel, die die Statistik“ aufwirft (976). Andererseits „gewinnt aber die biblische Auffassung sittlicher Lebensbewegung an der empirischen Massenbeobachtung eine neue Stütze“ (ibid.). Nämlich eine „Stütze“, die einer Identifikation vom natürlichen und sittlichen Werden, einer Gleichschaltung der Ethik, widerspricht, zur Verbesserung der durch einen Subjektivismus dominierten wissenschaftlichen Lage der Ethik beitragen und ihr eine solidere Basis geben kann.36 Am Schluss des ersten Teils seines sozialethischen Werkes versucht von Oettingen in knappen Zügen anzudeuten, welche Konsequenzen die Berück32 Auf ein solches Vorgehen, auf „biblische Beleuchtung“, trifft man bei ihm auch in vielen anderen Schriften. 33 „Es ist ein […] weit verbreiteter Irrthum, dass die heilige Schrift durch die stete Betonung des persönlichen Gotteswillens, als der bedingenden Grundlage aller Wirklichkeit, die innere Ordnung und immanente Gesetzmässigkeit des creatürlichen Seins und Geschehens aufheben soll.“ (976). 34 „Jedenfalls steht nach der heil. Schrift fest, dass der immanente und der normative Gotteswillen, oder das Gesetz in den Creaturen und das Gesetz für die Creaturen nicht als Widersprüche angesehen werden dürfen. Dann aber könne auch Nothwendigkeit und Freiheit nicht als sich ausschliessende Begriffe erscheinen.“ (980). 35 „Wie wir in dem Bisherigen gesehen, dass die von uns gefundene Gesetzmässigkeit sittlicher Lebensbewegung im Allgemeinen und in der besonderen Sphäre abnormer Entwickelung von der Schrift allseitig bestätigt wird, so liesse sich auch in Betreff der Erneuerung und Erlösung der Menschheit nachweisen, dass eine auf tiefer, planmässiger Gesetzmässigkeit ruhende Oeconomie […] der rettenden Liebe in steter Analogie zum empirischen Gesetz der Sünde heilsordnungsmässig verwirklicht hat und im Reiche Gottes, in der christlichen Kirche noch fort und fort verwirklicht.“ (985) Dieses Thema gehört jedoch zum Gebiet des zweiten Teils. Auf jeden Fall konstatiert von Oettingen aber auch mit Blick auf das Heil „eine tiefgegründete Ordnung, die […] freimachend ist“ (986). 36 „Der zweite Theil wird an die empirisch gewonnene Gesetze vom Standpunkte biblischchristlicher Weltanschauung anzuknüpfen und nach den […] Grundsätzen theologischer Ethik ein ,System christlicher Sittenlehre‘ zu geben haben“ (84).
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sichtigung der moralstatistisch gefundenen und erarbeiteten Gesetzmäßigkeit sittlichen Lebens für das Verständnis und die Gestaltung des individuellen und sozialen Lebens haben kann. Welche praktisch-befruchtende Wirkung darf der Moralstatistik „auf dem Gebiet des täglichen Lebens“ zukommen (987)? Mit Blick zunächst auf die Lebenshaltung und -führung der Einzelperson lässt sich aus der Moralstatistik mehreres lernen. Ich hebe exemplarisch nur einen Aspekt, der die für das Verhalten relevante Grundhaltung betrifft, hervor: In ihrem Licht wird ein problematisches Verständnis der eigenen Freiheit im Sinn eines „beliebigen Machenkönnens“, aber auch ein lähmender Glaube „an blinde Naturnotwendigkeit“ in Frage gestellt (ibid.). Zweitens geht es um die praktische Konsequenzen mit Blick auf „die eigentliche Domäne des Socialethikers: die Frage nach der Gemeinschaft, aus welcher die Einzelpersönlichkeiten leiblich und geistig herausgeboren worden“ sind (989). In sozialer Hinsicht kann man aus der Moralstatistik besonders viel lernen. Die praktischen Konsequenzen bzw. die Orientierung für das Zusammenleben, die sich aus ihr gewinnen lassen, „wurzeln alle in dem einen großen Gesetz der Solidarität, von welchem uns die Moralstatistik ein so gewaltiges Zeugniss ablegte“ (ibid.). Ein mangelhaftes und bildungsbedürftiges Verständnis für die Solidarität betrachtet von Oettingen selbst als ein besonders dringendes Problem in der geistig-sittlichen Atmosphäre seiner Gegenwart.37 Jedenfalls stellt die Moralstatistik eine Herausforderung für problematische (atomistische und totalitaristische, utopisch-optimistische und pessimistische) Auffassungen von Gesellschaft dar. Ich überspringe, wie er die verschiedenen sozialen „Sphären“ (Kirche oder „die Sphäre des religiösen Lebens“, Staat, Erziehung etc.) aus der Perspektive der Moralstatistik „beleuchtet“ (992). Zuletzt, für manch einen wohl besonders heikel, lassen sich die praktischen Konsequenzen in religiöser Hinsicht thematisieren. Von Oettingen ist der Ansicht, dass „aus dem Gange und der periodischen Entwickelung der Ereignisse in der Massenbewegung“ der „Schluss auf eine moralische Welt- oder Geschichtsordnung“ naheliegt (992f). Diese gibt zwar keinesfalls einen Beweis, allerdings jedoch einen „Hinweis“ auf den persönlichen Urheber und Erhalter dieser Ordnung.38 Wenn man ihn und in ihm die Vermittlung von Freiheit und 37 Folgende Überzeugung von Oettingens hebe ich noch hervor: „Die Anerkennung […] von Collectivschuld […] ist die ethische Grundvoraussetzung für wahre Sympathie und Antipathie, für Milde und Schärfe sittlichen Urteils.“ (989; vgl. unten Kap. 30). 38 „Die schauerliche Sturmfluth der Willkür oder die fast noch schauerlichere Meeresstille monotoner Nothwendigkeit ist die gleich fruchtbare Alternative der Entgöttlichung der Welt. […] Finde ich in dem persönlichen Weltlenker die Vermittelung zwischen Nothwendigkeit und Freiheit, dann stellt sich nicht bloss das wahre Interesse für den Zusammenhang des Ganzen, sondern auch das Vertrauen zu dem Ziele aller gemeinsamen Arbeit und allen geschichtlichen Ringens ein.“ (993) Es ist nicht irrelevant, dass von Oettingen hier – aber eigentlich auch mit Blick auf die anderen Gesetze – vom „Finden“ spricht. Es ist nicht
Der synthetisch-deduktive Teil empirisch ansetzender Sozialethik
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Notwendigkeit „findet“, hat auch dies für die Welteinstellung und für die Lebensführung Konsequenzen: [S]o können wir unsere Beobachtung [i. e. das Buch Die Moralstatistik – T.-A.P.] nicht schliessen ohne den harmonischen Dreiklang zu betonen, der alle dissonirenden Probleme der Moralstatistik löst, den Dreiklang oder Einklang von Gottes ordnendem Liebeswillen, der Menschheit geschichtlicher Geistes-Arbeit und des Einzelnen sittlicher Lebensaufgabe. Daher ist die wahre Tugend nichts anderes als die maassvolle Ordnung der Liebe, die Gott, Menschheit und Einzel-Ich nicht ohne einander zu denken vermag Virtus ordo amoris! In diesem tiefen Augustinischen Gedanken liegt der Schlüssel für das Problem der Moralstatistik. (993)
19.
Der synthetisch-deduktive Teil eines Versuchs empirisch ansetzender Sozialethik: Die christliche Sittenlehre Seine ,Sittenlehre‘ […] hat man damals noch nicht verstanden; die beste ethische Leistung des 19. Jahrhunderts blieb verschollen bis heute.1 (Emil Brunner)
Bevor ich eine Charakterisierung der wiederum zweiteiligen – aus einer Grundlegung2 und einer materiellen Entfaltung bestehenden – theologischen Ethik von Oettingens vorstelle, lohnt sich ein Blick darauf, wie er sich ca. fünf Jahre nach dem Erscheinen des empirischen Teils, die verschiedenartigen Reaktionen Vertreter unterschiedlicher Disziplinen berücksichtigend und vor dem Hintergrund der eigenen weiteren Forschung, in einem eingehenden Vorwort (1873a, 1–46) erneut zu seinem sozialethischen Gesamtprogramm, i. e. zur Bedeutung der Statistik für die Ethik und zur Notwendigkeit einer Rekonstruktion von Ethik als Sozialethik, äußert.
zwingende Notwendigkeit, dass man aus der Beobachtung diese Gesetze entnimmt. Sie sind das, was für das Verstehen des beobachteten Materials als hilfreich erscheint, was man für die Erklärung der Tatsachen als hilfreich findet – ich füge hinzu: in Zusammenhang einer konkreten Tradition und „Lebens-Atmosphäre“ (82). 1 E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, 92. 2 Dass der systematische Teil, die Sittenlehre, mit einer „Grundlegung“ beginnt, ist ein weiteres deutliches Anzeichen dafür, dass die Moralstatistik nicht als eine Ethik-Begründung intendiert war. Sehr wohl will von Oettingen aber die eigentliche systematisch-theologische Ethik auf eine empirisch-induktive Betrachtung gesellschaftlichen Handelns stützen.
288 19.1
Funktion und Pointe der Moralstatistik
Weiteres zum sozialethischen Gesamtprogramm
19.1.1 Zur Bedeutung der (Moral-)Statistik für die Ethik Gegen seine Kritiker erneuert von Oettingen seinen im ersten Teil wiederholt auf verschiedene Weise angesprochenen Gedanken, dass die Moralstatistik nicht zur Findung normativer Sittengesetze dienen kann. Durch die Moralstatistik gelangt man nicht zu einem christlichen Verständnis des Guten. Gegen dieses Missverständnis hält er fest, dass der eigentliche Inhalt einer christlichen Ethik nicht induktiv aus der „äusseren Erfahrung“, sondern „fast ausschliesslich durch die Beobachtung“ des „inneren Erlebens“ zu gewinnen sei (17).3 Es gilt eine (auf äußerer Erfahrung beruhende) Induktion mit einer (auf „innerer Erfahrung“ beruhenden) Deduktion zu verbinden. Von der „inneren Erfahrung“ gelte zweierlei: Erstens, ihr Grund sei die „Offenbarung in Christus“; zweitens, dieses Erleben sei die Folge „einer [von Christus] ausgehenden sittlichen Wiedergeburt“ (ibid.). Diese zwei Momente gehören zusammen, und zwar für die Perspektive einer sittlichen Erneuerung, die sich selbst als von Christus her kommend erlebt und Christus als Offenbarung (Gottes) betrachtet. Da das Ziel eine systematische Darstellung der „christlichen Idee von Sittlichkeit“ oder des inhaltlichen Verständnisses von Sittlichkeit4 aus christlicher Sicht ist, ist die Grundlage der – innerlich erfahrene – „Thatbestand des christlichen Lebens“ (ibid.). Somit ist die Ethik keinesfalls nur – aber auch nicht vor allem – normativ. Es geht vielmehr um den „Einblick in den inneren Zusammenhang der Willensprozesse“, d. h. um das Verstehen der sittlichen Lebensbewegung in ihrer Kontinuität und Motivität (18). Festzuhalten ist: Nach von Oettingen ist Ethik vor allem deskriptiv. Sich kritisch abgrenzend bemerkt er, dass andernfalls, d. h. wenn der Ethik nur oder primär ein normativer Charakter zugesprochen wird, die Sittlichkeit im Sinn einer (pelagianisch-rationalistischen) Gesetzesmoral (miss-)verstanden sei. Die „sittlichen Ideale“ und die „positiven, gebietenden Forderungen“, die „die Freiheitsbewegung des Willens“ normieren und orientieren, bilden sich demnach „aus dem Verständnis der Willensprozesse“ (ibid.). Stellt die pointierte Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Erfahrung terminologisch eine Neuheit dar, so gilt gleiches auch für die terminologische Art, in der er das negative Ergebnis der Moralstatistik hinsichtlich des problematischen Ethikverständnisses systematisch profiliert. Auf dem „empirischen Wege“ sei nämlich einerseits ein „Antinomismus“, i. e. ein einseitiges Ver3 Im Rahmen dieses Kapitels verweise ich auf die Hauptquelle (1873a) nur mit einer Seitenzahl. 4 Die späteren evangelischen Ethiker sprechen in diesem Zusammenhang auch vom christlichen Ethos – z. B. Werner Elert, Elmar Salumaa (1908–1996) in Estland, Eilert Herms, Johannes Fischer.
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ständnis von Freiheit im Sinn von Beliebigkeit und Willkür (Freiheit und Notwendigkeit werden getrennt als Widersprüche betrachtet),5 andererseits ein „Naturdeterminismus“, i. e. ein einseitiges Notwendigkeitsverständnis (keine Unterscheidung zwischen Natur- und Sittengesetz), zurückgewiesen worden. Empirisch lassen sich eine Reihe wichtiger formeller Gesetze sittlicher Lebensbewegung herausstellen, die zum einen darauf hinweisen, dass es „auch in der ethischen Sphäre“ einen Zusammenhang innerer Notwendigkeit im Sinn von Motivation gibt (21).6 Zum anderen illustrieren diese formellen Gesetze sehr gut, dass das „Einzelsubjekt mit einer Gemeinschaft gliedlich zusammengehört und davon sittlich abhängig ist“ (21f). In der 2. Auflage des Werkes Die Moralstatistik (1874) erklärt von Oettingen das Interesse für die Moralstatistik in doppelter Weise: Sie sei für alle Menschen interessant; für einen Christen und für einen Theologen auch deshalb, weil sie einen Grundgedanken der christlichen Sittenlehre – den Gedanken der Humanität als an ein gliedlich, sittlich verbundenes Ganzes gebunden – zu bestätigen und zu bereichern (konkretisieren; veranschaulichen) hilft. So kann sie als eine Brücke dienen.
19.1.2 Sozialethische Grundeinsichten bzw. Motive für eine Auffassung der Ethik als Sozialethik Obwohl viele Theologen und Ethiker, die zur Moralstatistik von Oettingens Stellung genommen haben, nach dessen Einschätzung mit der moralstatistischen Kritik an der Sozialphysik, der Behandlung des gesellschaftlichen Lebens nach dem Modell einer naturgesetzlichen Kausalität, einverstanden waren, insistierten sie auf „d[ie] persönliche Gesinnung“ (25) als ursprünglichen Ort des Ethischen und sittlicher Modifikationen sowohl negativer als auch positiver Art. Da für sie das individuelle Person-Sein den Bereich des Ethischen bildet, lehnen sie – inkl. Reinhold Frank – die Sozialethik prinzipiell ab. Sobald von Oettingens Moralstatistik als Begründung einer Ethik verstanden wird, scheint sie schon in nuce auch die Sozialethik darstellen zu können. Dies ist meiner Meinung nach ein Grund dafür, warum sowohl in der damaligen als auch 5 Von Oettingens Strategie zur Verteidigung der „freie[n] Selbstbestimmung des Individuums“ im Gegensatz zum Naturdeterminismus, der die sittliche Freiheit überhaupt bestreitet, aber auch im Unterschied zum Antinomismus bzw. der sog. Willkürtheorie (Freiheit und Gesetzmäßigkeit stehen im Widerspruch, wodurch die Freiheit zu einer Beliebigkeit entartet) besteht darin, die „Willensbewegung“ des Einzelnen als unter „dem Gesetz der sittlichen Weltordnung des persönlichen Gottes“ und in „stetem Zusammenhange mit der Gemeinschaftsbewegung“ stehend zu betrachten (19). 6 Bei J. Fischer wird der Begriff „Motiv“ eher schwach verstanden (vgl. Fischer et al., Grundkurs Ethik, 23, 378–384); hier hingegen stark.
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in der späteren Rezeption die Moralstatistik als Sozialethik (miss-)verstanden wurde. Demgegenüber gilt es, wie im letzten Kapitel gezeigt, anzumerken, dass der Titel des Gesamtprojekts Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage schwächer zu interpretieren ist. Die Moralstatistik bildet für die eigentliche Ethik eine Anknüpfung. Wenn man anhand ihrer zu den (empirisch-hypothetischen) Gesetzen gelangt, denen die Dynamik (innerhalb) der Gesellschaft unterliegt, dann handelt es sich bei diesen um formelle Gesetze. Diese Gesetzmäßigkeit ist also für gewöhnlich gar nicht mit der Ethik verbunden, sofern es nicht nur um das Leben und Handeln als solches, sondern um ein Leben und Handeln, das es verdient gut genannt zu werden, geht. Ethik ist demnach auch bei von Oettingen in erster Linie eine systematische bzw. deduktiv-synthetische Betrachtung, Reflexion und Darstellung. Sie hat sich allerdings zu der induktivempirischen Gesellschaftsbetrachtung (die methodisch voranschreitend bis zur hypothetischen Beschreibung der Formalstruktur der Geschichte zu kommen vermag) in Beziehung zu setzen. Die beiden Annäherungsweisen – die der Moralstatistik und die der Ethik – spielen ihre spezifischen Rollen in dem Gesamtprojekt, haben aber eine relative Eigenständigkeit. Die Einsicht, dass alle Ethik Sozialethik sein sollte, schöpft nicht exklusiv aus der Moralstatistik, obwohl sie durch die empirische Betrachtung des Handelns in der Gesellschaft bestätigt und konkretisiert wird. Sie bietet Material mit eigener Bewandtnis, das die spekulativen Deduktionen berücksichtigen und dem sie gerecht werden müssen. Die Überlegungen, die für eine Sozialethik sprechen, lassen sich also auch aufgrund der Beobachtung des eigenen teilnehmenden Erlebens des Menschseins formulieren. So lässt sich von Oettingens These – Ethik ist Sozialethik – mit Blick auf das übliche (die Moralstatistik bzw. empirische Sozialforschung nicht berücksichtigende) Vorgehen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Ethik – als auf drei Grundeinsichten beruhend darstellen. Diese verdeutlichen, warum er trotz aller Kritik, die seiner Darstellung der Ethik als Sozialethik von verschiedenen Theologen und Ethikern nach dem Erscheinen zuteil wurde, weiterhin an dieser Transformation entschieden festhielt. Erstens, das Menschsein ist von Oettingen zufolge nur sozialethisch zu verstehen, i. e. der Einzelne ist von seiner sittlichen Umgebung abhängig. Es geht ihm hier um den formellen Begriff des „Sittlichen“, der dem menschlich-personalen Sein bzw. der Geschichte eigentümlich ist. Er gibt zu, dass „alles ethische Leben […] [sich] nur in der Sphäre des Persönlichen“ vollzieht, jedoch „die Entstehung, wie die Entwickelung und Vollendung menschlicher Persönlichkeit realisiert sich […] nur innerhalb der Gemeinschaft“, d. h. letztere ist eine „conditio sine qua non für alle Entwickelungsstadien sittlichen Lebens“ (25). Eine solche – sozialethische – Sichtweise gründet sich also nicht nur auf dem Sachverhalt, dass (a) der Einzelne in einer gliedlichen Bezogenheit auf den
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Gattungsorganismus existiert, sondern insbesondere auch auf (b) „das Wachsen und Werden des Menschen als eines sittlichen Wesens“, auf „die angeborene Anlage“ (ibid.): Der Mensch ist „auch in Bezug auf sein persönliches seelisches Leben“ nicht autonom, sondern sich seiner selbst bewusst werdend „findet er sich schon vor“ in irgendeiner „sittlichen Bestimmtheit“ und zwar als „Kind seiner Eltern, als Glied der Familie und des Volkes, des Staates und der Kirche“ (ibid.). Er begreift sich also als in einer durch den geschichtlich gewordenen Charakter verschiedener konkreter Grundgemeinschaften gebildeten Bestimmtheit stehend. Im Zuge seiner eigenen Bewusstwerdung wird er „ein neuer persönlicher Factor innerhalb der sittlichen Gemeinschaftsbewegung“, der „zur relativen, geistig-sittlichen Initiative und entsprechender Verantwortung“ fähig ist (25). Insofern ist die persönliche Freiheit eines Menschen in die Voraussetzungen der Gattungsgemeinschaft eingebettet und dadurch jedenfalls so begrenzt, dass ein sittliches Urteil über ihn in rechter und gerechter Weise allein im Kontext und unter Berücksichtigung des „geschichtlichen Bodens, auf dem er erwachsen“ ist erfolgen kann (26). Die höchst wichtige Implikation einer solchen sozialethischen Auffassung des Menschen bzw. der Geschichte ist also, dass das Einzelindividuum nicht an einem „absoluten oder abstracten“ Kriterium gemessen werden darf, sondern nur „nach dem relativen und concreten Maasstabe derjenigen Normen“, die „in der ihn umgebenden geschichtlichen Gesellschaftsgruppe vorhanden“ sind oder gemäß des Gesetzes „zeitlicher Entwickelung“ als darin möglich und denkbar erscheinen (ibid.). Von Oettingens Ethik beansprucht in diesem Sinn ein Gegenprogramm zu einem verbreiteten personalethischen Ansatz zu sein. Er pointiert diesen Sachverhalt theologisch: Ein „rein a priori entstandene[s] personale[s] Verhältnis zu Gott“, das als solches „die Voraussetzung für alle menschlichen Gemeinschaftsbeziehungen“ darstellen soll, ist „eine pure Illusion“ (28). Das Problem einer Personalethik bestehe gerade in einem mangelhaften bzw. fehlenden Verständnis für das Werden einer Person, das eben ein sozialethischer Prozess ist. In kritischer Auseinandersetzung mit dem „weitverbreiteten pelagianisch-rationalistischen, synergistischen und idealistisch-subjektivistischen Atomismus und Individualismus“ will von Oettingen „Ethik als Socialethik“ behandelt wissen: Als eine Ethik, in der der „collective Factor sittlicher Lebensbewegung“ in seiner wesentlichen Bedeutung stets hervorgehoben und berücksichtigt wird (30). Soviel zum personalen Sein als einem kommunalen Sein im Werden um das es in der Ethik als Sozialethik geht. Das ist die Ebene eines formalen Begriffs des Sittlichen, deren Bestimmung sozialethisch anzusetzen hat. Nachdem ein die Ontologie des Personseins betreffendes Grundverständnis als Antwort auf das Warum einer Sozialethik gegeben wurde, kommt von Oet-
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tingen zu den Phänomenen, die eine wesentliche Modifikation dieses Menschseins – somit letztendlich der Geschichte – ausmachen. Zweitens spricht für einen sozialethischen Ansatz, dass sich Sünde und Schuld – ihre Entstehung und auch ihre Zunahme – nach Ansicht von Oettingens nur sozialethisch verstehen lassen. Sie sind also nur vor dem Hintergrund einer Wechselwirkung zwischen den Individuen und der gliedlichen Gemeinschaft, deren umfassendste Form die Menschheit als Ganzes bildet, verständlich. Von Oettingen pointiert öfter : Niemand ist Sünder und schuldig sozusagen auf eigene Hand. Es handelt sich dabei um eminente soziale „Größen“. Daher lässt sich auch der Begriff vom sittlich „Bösen“ nur sozialethisch auffassen und herausarbeiten. Von Oettingen kritisiert eine seiner Meinung nach innerhalb der theologischen Ethik weitverbreitete Auffassung,7 nach der in der Ethik von einer Lehre der Sünde zu abstrahieren sei. Die problematische Folge einer solchen Position sei eine zu idealistische Beurteilung des „christlichen Heilslebens“. Dagegen gelte: Der „Heilsprocess[]“ sei nur „auf der Folie eines Krankheitsprozesses“ darstellbar und es sei gerade eine Aufgabe der christlichen Ethik (als Disziplin) [die Sünde] „durch das Gesetz als Sünde wahrhaft“ erkennen zu lehren (31f). Ich füge allerdings hinzu, dass dies für von Oettingen keinen Gegensatz zu der Überzeugung bildet, sondern vielmehr darin impliziert ist, dass die Sünde in ihrer Tiefe als Sünde eigentlich vom Evangelium her erkennbar wird. Darauf komme ich im dritten Teil der Studie zurück.8 Auf jeden Fall will von Oettingen die Sündenlehre in die Disziplin der Ethik integriert wissen, doch kann das sachgemäß nur aus der sozialethischen Perspektive geschehen. Es kann als „ein allgemeiner Fehler“ bei der ethischen Betrachtung des menschlichen Wesens gelten, dass „der fertig[e] und bewusst entwickelte[] Mensch“ als ihr Gegenstand angesehen wird. Dadurch wird von Anfang an der Weg zum Verstehen der „Eigenthümlichkeit des alten Menschen“ verbaut (32). Der sog. alte Mensch ist ja, wie gesagt, keinesfalls als „Einzelsünder“, sondern „nur im Naturzusammenhang mit der adamitischen Menschheit und mit der makrokosmischen Sünde“ verstehbar (ibid.). Allein eine sozialethische Annäherung und Behandlung kann dem Gattungszusammenhang und der fortschreitenden Genese des Bösen gerecht werden. Einzig vom „sozialethischen Standpunkt“ aus kann somit eine „Vertiefung des sittlichen Schulbegriffs“ stattfinden: „Moralisch […] muss sich die Gesamtheit mitschuldig wissen an den aus ihrer Mitte herausgeborenen Gesetzeswidrigkeiten, weil
7 Als Vertreter nennt er u. a. die Erlanger Theologen A. Harleß, J. von Hofmann und R. Frank, sowie H. Martensen, den Professor und Bischof aus Kopenhagen. 8 Vgl. unten Kap. 20.
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dieselben in ihrer Mitte grossgezogen werden“ (33).9 Kurz, Sünde und Schuld als Grundbegriffe einer theologischen Ethik verlangen nach einer sozialethischen Behandlung. Drittens spricht nach von Oettingen für eine Sozialethik der Sachverhalt, dass auch der Heilsprozess allein aus der Wechselwirkung zwischen Individuum und Gemeinschaft nachvollziehbar wird. Der Einzelne begegnet den sog. Gnadenmitteln – heute spricht man gern von der Kommunikation des Evangeliums – nur durch die gemeinschaftliche Vermittlung. Auch eine Auffassung vom sittlich „Gutem“ im christlich präzisierten Sinn hat also sozialethisch anzusetzen. In pointierter Weise spricht von Oettingen vom sozialen, genauer vom kirchlichen Standpunkt oder „vom Boden des Reiches Gottes“, von dem her eine „christliche Erneuerung des Subjects“ verstanden und sachgemäß ethisch eingeschätzt werden kann (34). Das bedeutet: Aus christlicher Sicht ist „Gut“ („das christlich Gute“) nie „specifische Domäne des Einzelsubjekts“ und es wird vom Menschen als Einzelperson weder ergriffen noch verwirklicht. Deutlich zeigt sich das schon mit einem flüchtigen Blick auf die Wiedergeburt, die von Oettingen als den zentralen Punkt und Begriff christlicher Ethik bezeichnet.10 Die drei Faktoren des Sittlichen treten beispielhaft hervor: „Kindsein und Kindwerden“ (i. e. „Gottes Kind“) setzt „die christliche Gemeinschaft als den Mutterschoss und den göttlichen Geist als die Zeugungskraft im Worte voraus“ (ibid.). Insofern die christliche Ethik das Verstehen und die Beschreibung des christlichen Lebens als Heilsleben zu ihrem eigentlichen Thema macht, kann von Oettingen die Pointe der Sozialethik auch mit der folgenden Formel ausdrücken: Sozialethik ist Kirchlichkeit (vgl. 35). Ich fasse zusammen: Das Motiv der Sozialethik wird zu Beginn des Buches auf das Sein als (menschliche) Person, sowie auf dessen negative und positive Bestimmtheit (Sünde, Heil) hin verdeutlicht. Zugleich werden zwei mögliche Vorwürfe aufgegriffen. 19.1.3 Zwei Versprechungen hinsichtlich der Sozialethik: weder ein Instrument polemischen Konfessionalismus noch eine Gleichschaltung des Individuums Dass von Oettingen die Sittlichkeit „sozialethisch“ – oder im eben angesprochenen pointierten Sinn „kirchlich“ – aufgefasst sehen will, bedeutet für ihn 9 „Darin liegt neben der relativen Berechtigung eben die relative Unvollkommenheit des juridischen Urtheils begründet, dass es die moralische Gesellschaftsschuld am Verbrechen nicht eruieren und äusserlich strafen kann.“ (33). 10 Dass dieser innerhalb der theologischen Ethik des 19. Jh. – gerade auch unter den Erlanger Theologen – gängige Zentralbegriff schon beim jungen von Oettingen nicht unwichtige Modifikationen und Korrekturen erfährt, habe ich erwähnt (vgl. oben Kap. 5.6).
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Funktion und Pointe der Moralstatistik
ausdrücklich nicht, dass die theologische Ethik (als Disziplin und als systematische Darstellung ihrer Sache) eine irgendwie „polemisch confessionelle“ Gestalt annehmen soll oder darf (ibid.). Gleichzeitig ist jedoch eine „confessionslos[e]“ oder „bekenntnislos[e]“ Moral genauso eine Unmöglichkeit wie etwa eine konfessionslose „Religion und Kirche“, aus der die christliche Moral hervorgeht. Von Oettingen umschreibt an dieser Stelle „confessionslos“ mit „charakterlos“ und meint, eine solche angeblich nichtkonfessionelle Ethik ist gleichbedeutend mit einer charakterlosen Ethik. Doch dass ein Mensch, sowie ein Ethos immer einen Charakter besitzt, ein Profil hat, spiegelt sich selbstredend auch in der Ethik wider. Eine formlose Verhaltensweise ist Unsinn. In dieser deklarierten Zurückweisung konfessioneller Polemik – ob ihm das wirklich immer gelingt, ist eine eigene und m. E. eher negativ zu beantwortende Frage – sehe ich zugleich eine Ablehnung der Vorstellung enthalten, die theologische Ethik könne der konfessionellen Ausprägung des Christentums gegenüber gleichgültig sein.11 Darauf komme ich im letzten Teil der Studie zurück.12 Das Insistieren auf einen solchen Zusammenhang (der, wenn man will, auch auf eine Variation der These no ethics without metaphysics hinausläuft) war schon Mitte der 1860er Jahre in den Rezensionen zu ethischen Werken zu beobachten.13 Auch eine andere wohl naheliegende und auch damals zur Sprache gebrachte Befürchtung und Kritik, eine Sozialethik münde in einer Gleichschaltung des Individuums, wird von ihm zu Beginn seines Buches thematisiert. Gerade eine Sozialethik bewahre einerseits „vor dem Nivellement der Unterschiede“ (individuelle Unterschiede seien eine sine qua non des gegliederten Ganzen), anderseits aber auch vor einer „falsche[n] Apotheose“ der (neugeborenen) Persönlichkeiten (36).14 Von Oettingen meint also, mit einem sozialethischen 11 Von Oettingen würde einem Dictum Ingolf U. Dalferths bestimmt zustimmen: „Gelebt wird Glaube stets geschichtlich konkret. Auch Theologie gibt es daher nur als bestimmte (jüdische, christliche, islamische) Theologie, und wo immer eine Glaubenspraxis neue geschichtliche Gestalten ausprägt, muß sich auch die Theologie entsprechend fortbestimmen, also (wie im christlichen Fall) zur katholischen, evangelischen, orthodoxen, anglikanischen, methodistischen usf. Theologie werden. Die konfessionelle Prägung der akademischen Theologie ist daher kein Relikt ihrer vormodernen Vergangenheit, sondern Kennzeichen ihres konkreten Bezugs auf eine gelebte und nicht nur erdachte und bloß konstruierte Weise christlichen Lebens und religiöser Praxis. Gott ist nicht nur der Gott der Christen oder Juden oder Moslems. Aber Thema der Theologie ist Gott nur im lebensweltlichen Horizont konkreter Praxis der Gottesverehrung und geschichtlich geprägter Gottesverständnisse.“ (Dalferth, Kritisch erkunden, 343). 12 Vgl. unten Kap. 27. 13 Vgl. oben Kap. 6. 14 Gemeint ist eine Unterschätzung der umfassenderen Gemeinschaft, zu der Individuen verschiedenen Charakters und in verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung gehören, seitens der sog. „wahrhaft Gläubigen“ oder „Wiedergeborenen“.
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Ansatz sowohl eine Unter- als auch eine Überschätzung der Subjektivität vermeiden zu können, weil es eben eine Grundthese der Sozialethik ist, dass „[d]er Mensch […] ein stets abhängiges […] Wesen“ und „nur in der gottgesetzten Heilsgemeinde gefreites Wesen“ bleibt (ibid.). 19.1.4 Reaktion auf die Kritik aus Erlangen Ich habe schon auf die Besprechung des ersten Teils des Werkes von Oettingens durch Reinhold Frank, den wichtigsten Systematiker der zweiten Generation der sog. Erlanger Theologie, hingewiesen. Weil zwischen Erlangen und Dorpat/ Tartu in vielerlei Hinsicht eine theologisch besonders enge Beziehung gepflegt wurde, ist es gewiss weder eine große Überraschung, dass Frank eine der eingehendsten zeitgenössischen theologischen Besprechungen des Buches verfasst hat, noch, dass von Oettingen auf die zwei von ihm als die wichtigsten wahrgenommene Kritikpunkte gleich zu Beginn des Buches antworten will. Damit werde ich die Betrachtung der erneuerten Stellungnahme von Oettingens zu seinem Gesamtprojekt abschließen. Es ist eine Zusammenfassung seines Anliegens in nuce. Die Unhaltbarkeit von Franks Verdacht oder Vorwurf, von Oettingens Ziel sei eine „Konstruktion der Ethik“ aus der Moralstatistik, dürfte vor dem Hintergrund der vorangegangenen Kapitel hinreichend deutlich werden. Das zweite Problem besteht Frank zufolge darin, dass durch die Betonung der „Ethik des Ganzen“ die „Ethik des Einzelnen“ in den Hintergrund gerate (37). Von Oettingen ist damit nicht einverstanden; insbesondere nicht mit der vorausgesetzten Unterscheidung zwischen einer Ethik des Ganzen und einer der Einzelnen. „Sozialethik und Personalethik fallen“ für ihn nämlich „in gewissem Sinn zusammen“, weil „in dem Ausdruck Ethik bereits das Persönliche, mit dem Willensmoment Zusammenhängende“ schon „enthalten ist“ (ibid.). Die Pointe des Terminus „Sozialethik“ besteht also nicht in einem Ausschluss der individuellen und persönlichen Dimension aus dem Sittlichen, sondern in der Hervorhebung ihrer Einbettung in den sozialen Zusammenhang. Die Sozialität gehört wesentlich zum Sittlichen. Es ist also berechtig Ethik als Sozialethik aufzufassen – „der Process des Ethischen“ findet immer „innerhalb der Gemeinschaft oder […] in der Geschichte statt“ (ibid.).15 15 Der im 20. Jh. gelegentlichen Charakterisierung seiner Sozialethik als „christlichem Sozialismus“, würde von Oettingen wahrscheinlich nicht zustimmen. In seiner Zeit verneint er auf jeden Fall ausdrücklich, dass seine soziale Orientierung und seine Hervorhebung des Sozialen einen Sozialismus bedeuten. Der Sozialismus – ich füge hinzu: den er kennt – sei individualistisch, sofern das Zusammenleben vom eigenen Willen bzw. vom Willen des Einzelnen her gesehen werde. „Die nivellierende Gleichheitstheorie“ – damit meint von Oettingen in diesem Zusammenhang den Sozialismus bzw. die Sozialdemokratie – verstehe
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19.2.1 Allgemeine Grundlegung der christlichen Sittenlehre als Rechtfertigung einer Sozialethik So wie Die Moralstatistik in ihrer ersten Ausgabe, so gliedert sich auch Die christliche Sittenlehre in zwei Bücher. Das erste Buch enthält die „allgemeine Grundlegung“. Wie ich schon angedeutet habe, tritt zu der „empirischen Grundlage“ (Moralstatistik), die eine Darstellung der christlichen Sittenlehre vorbereitet, damit auch eine „allgemeine Grundlegung“ systematisch-theologischer Art hinzu. Die Sozialethik wird also einerseits eingeleitet durch eine empirische Betrachtung der sozialen „Bewegung“, andererseits durch eine systematische Erörterung allgemeiner Grundkategorien des Sittlichen. Wobei letztere allerdings nicht den Status einer strengen Begründung oder eines Beweises der christlichen Ethik (als Sozialethik) beansprucht, sondern im Sinn einer „Rechtfertigung“ vorgetragen wird. Diese „Rechtfertigung“ behandelt vom „socialethischen Gesichtspunkte“ in sehr gründlicher Weise zwei Grundfragen. Ich verstehe den Rechtfertigungscharakter dieser grundlegenden Überlegungen deshalb so, dass sich darin die Relevanz, Produktivität und Erschließungskraft einer sozialethischen Perspektive hinsichtlich der Grundfragen der Ethik erweisen sollen. Erstens (47–298)16 geht es aus dem sozialethischen Blickwinkel um die Frage, was der Inhalt „der systematischen Disciplin der christlichen Ethik“ ist (40f). In einem tiefgehenden und spannenden Reflektionsgang wird also die „Was“-Frage der darauf folgenden Untersuchung behandelt. Anders formuliert: Die Aufgabe einer christlichen Ethik wird „sachlich begrenzt“ und umrissen. Die zweite Hälfe des ersten Buches (299–388)17 ist der „Wie“-Frage gewidmet: Wie gelangt man „zur wissenschaftlichen Erkenntniss“ jenes Inhaltes (41). Es wird also geklärt, „in welcher Form und weshalb gerade so“ theologische Ethik als Wissenschaft auftreten soll (ibid.). Auffällig ist, dass der methodologische Traktat mit Bedacht der Klärung der Sache der theologischen Ethik folgt. Vierundzwanzig Jahre später weist die Prinzipienlehre der Dogmatik eine parallele Zweiteilung der Fragestellung und „den Menschen nur als Einzelsubjekt“, „die Menscheit [nur] als Sammelbegriff“ und konkrete „sittliche Organismen“ [nur] als „Ergebnis eines Zusammenschlusses völlig gleichberechtigter Persönlichkeiten“ und zerstöre damit die „gegliederte und geschichtlich gewordene Gemeinschaft“ (39). 16 Die Überschrift: „Erster Abschnitt. Sachliche Begrenzung der Sittenlehre oder der Inhalt christlicher Moral vom socialethischen Gesichtspunkte“. 17 Die Überschrift: „Zweiter Abschnitt. Die wissenschaftliche Gestaltung christlicher Sittenlehre oder die methodische Darstellungsform theologischer Moral vom socialethischen Gesichtspunkte“.
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Reihenfolge ihrer Behandlung auf. Die so ausführliche prinzipientheoretische Auseinandersetzung ist motiviert von der gegenwärtigen Situation sowohl der philosophischen als auch der theologischen Ethik. Wie von Oettingen schon in den früheren Rezensionen zu jüngeren ethischen Werken geurteilt hat, herrscht in der Ethik ein ernsthaftes „Durcheinander“ in Bezug auf die Frage: wo liegen „die principiellen Grenzen der Ethik“ (41)? Erneut verweist er zustimmend auf ein Urteil R. Rothes, der zu Beginn der 1840er Jahre der Meinung gewesen ist, dass die Rückständigkeit der Ethik als Wissenschaft dadurch bestimmt ist, dass ihr Gegenstand unklar bestimmt ist. Ethik sei eine – von Oettingen verweist auf eine Formulierung Carl Daubs (1765–1836) – „problematische Wissenschaft“ (ibid.). Bei der sich in vier Schritten vollziehenden Eingrenzung des Inhalts der theologischen Ethik werden vier ihrer Grundprobleme der Ethik ins Auge gefasst. Zunächst wird ausführlich in die allgemeine Kategorie des „Sittlichen“ (das Sittliche im formalen Sinn) eingeführt (47–97). Zweitens wird die inhaltliche Leitkategorie des „wahrhaft Guten als sittlichem Ideal“ (der Sittlichkeit im materiellen Sinn) behandelt (98–124). Vor diesem Horizont wird drittens „das sittlich Böse als empirischer Zustand der natürlichen Menschheit“ (die Unsittlichkeit) beschrieben (125–156). In dem bei weitem längsten Gedankengang geht es zuletzt um die „Wiederherstellung wahrer Sittlichkeit“ oder darum, was man als das „christlich Gute“ bezeichnen kann (156–298). Eben dies bildet den eigentlichen Gegenstand, den sachlichen Fokuspunkt christlicher Sittenlehre. Die Erörterung dieser vier Grundbegriffe (Sittliches, Sittlichkeit, Unsittlichkeit, Wiederherstellung der Sittlichkeit) unterliegt jeweils demselben Muster, das bei der Behandlung der formalen Kategorie des Sittlichen herausgearbeitet wird. Sie alle werden (a) einer allgemeinen Bestimmung unterzogen.18 Bei jedem wird (b) das in ihm implizierte Verhältnis der drei Faktoren des Sittlichen – des individuell-persönlichen, gattungsmäßig-sozialen und universell-religiösen – aufgezeigt. Es wird (c) ihr Verhältnis zu den drei gängigen Grundbegriffen der Ethik (dem [höchsten] Gut, der Pflicht und der Tugend) geklärt. Und es wird (d) ihre Beziehung zur „Lebensbethätigung“ in verschiedenen Kultursphären, insbesondere zur Religion und zum Recht, thematisiert. Nach der sachlichen Grundlegung erfolgt eine methodische. Da die theologische Ethik ihren „wissenschaftlichen Charakter und [ihre] fundamentale Begründung“ durch ihre „Gestalt“ gewinnt, also die Art der wissenschaftlichen Erkenntnis jener Sache, auf die man vorwissenschaftlich schon bezogen ist, geklärt werden muss, folgt jetzt eine „allgemeine erkenntnistheoretische Darstellung“, die „den Plan und die Behandlungsweise des Ganzen“, einer syste18 Formaler Begriff: das Sittliche; das sittlich Gute: heilige Liebe; das sittliche Böse: Sünde bzw. Egoismus; das christlich (sittlich) Gute: Wiedergeburt, Heilsleben.
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matischen Gesamtdarstellung der christlichen Sittenlehre als theologische Ethik bzw. Sozialethik, motiviert (42). Weil von Oettingen sowohl eine einseitig spekulative oder deduktive, als auch eine einseitig empirische oder induktive Behandlung der Ethik zurückgewiesen hat,19 hat er jetzt zu „rechtfertigen“, wie „im Anschluss an die durch die Induction gefundenen formalen Gesetze der Willensbewegung“ eine „deductive Behandlung“ der Ethik durchgeführt werden kann (ibid.). Die erkenntnistheoretische bzw. methodologische Erörterung vollzieht sich in drei Schritten. Von Oettingen bespricht (1) Wesen und Aufgabe wissenschaftlich-theologischer Ethik (299–343), (2) ihre enzyklopädische Stellung im Zusammenhang der Wissenschaften, im Verhältnis zur philosophischen Ethik und besonders innerhalb der theologischen Wissenschaft (344–372) und erläutert (3) zuletzt konkret, wie die Behandlung des Materials, i. e. die „theologische Sittenlehre“, systematisch zu gliedern ist (373–388). Seine Antwort auf die Frage nach der wissenschaftlichen Gestaltung einer christlichen Sittenlehre schließt also mit der Angabe der „Eintheilung christlicher Socialethik“.20 Worin besteht die Aufgabe der theologischen Ethik? In konzentrierter Weise lässt sich dies von Oettingen zufolge so umschreiben: Theologische Ethik hat die Idee der christlichen Freiheit, also – mit der klassischen Formel gesagt – das Verständnis von der Freiheit eines Christenmenschen, wodurch sich das christliche Leben, „das christliche Heilsleben“, auszeichnet, darzustellen und zu rechtfertigen. Dieses Verständnis wird durch insgesamt vier Negationen theoretisch und praktisch profiliert: In theoretischer Hinsicht durch den Gegensatz zu einerseits einem naturalistisch-pantheistischen Determinismus (der Sozialphysiker), andererseits einem spiritualistisch-deistischen Indifferentismus (der Personalethiker). In praktischer Hinsicht bildet die christliche Idee der Freiheit den Gegensatz sowohl zu einem laxen Antinomismus, als auch zu einem rigorosen Nomismus. Von der Struktur her lässt sich „die gesammte Ethik“ von Oettingens als „systematisch geordnete christliche Tugendlehre“ (xii)21 verstehen: In beiden (sic!) Hauptteilen der materiellen Ethik, d. h. in seiner systematischen Entfaltung der Sozialethik, in der es in jeweils drei Abschnitten (provisorisch und 19 Vgl. oben Kap. 17. 20 Bei der sachlichen Begrenzung der Sittenlehre wird vom Inhalt „christlicher Moral“ gesprochen. Danach wird nach seiner wissenschaftlichen Darstellungsform im Sinn einer „theologischen Moral“ gefragt. Christliche Moral und eine Lehre über die christliche Sitte gibt es auch in einer vor- und nichtwissenschaftlichen Form. Theologische Ethik bezeichnet bei von Oettingen in der Regel (wovon es Ausnahmen gibt) die wissenschaftliche Beschäftigung mit der christlichen Moral. 21 Das heuristische „Princip für die Eintheilung der christlichen Tugenden“ wird durch den Bezug auf die genetische Entwicklung des Heilslebens gewonnen (xii).
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leicht missverständlich gesprochen) um die innere Entwicklung und praktische Betätigung des Heilslebens geht, greift er überall konsequent auf den Glauben,22 auf die Liebe und auf die Hoffnung zurück. Er tut es, um die Grundmomente des „Heilslebens“ – dessen Genese (Zustandekommen), Bewegung (Vollzug) und Vollendung23 – sowohl mit Blick auf seine innere Entwicklung, als auch seine praktischen Betätigung zu beschreiben. Bei der Erörterung und Beleuchtung jener Grundmomente des christlichen Lebens werden stets der göttlich-universelle, der persönlich-individuelle und der gemeinschaftlich-kollektive Faktor ins Auge gefasst. Das Kennzeichen einer christlichen Sozialethik liegt darin, dass der göttlich-universelle und individuell-persönliche Faktor als im kollektiven Gemeinschaftsfaktor kombiniert aufgefasst werden (vgl. xii):24 Da das sittliche Subject, der Mensch, nicht bloss seine Fähigkeit gut und böse zu unterscheiden, sittlich zu urteilen und zu handeln aus dem Boden der Gemeinschaft zieht, sondern auch den Gedanken einer höchsten Lebensnorm, eines höchsten Gutes lediglich unter dem geschichtlich erziehenden Einfluss der Sitte empfängt, so lässt sich der Inhalt der Sittenlehre im eminenten Sinne als ein social bedingter bezeichnen. Die Ethik muss ihrem eigentümlichen Objecte gemäss nothwendig in die allgemeine Sphäre der Socialwissenschaften hineingehören, ja den principiellen Boden für alle ,Societätsphilosophie‘ abgeben. 22 Ob und in welchem präzisen Sinn man vom Glauben als einer Tugend sprechen kann (schon in der Besprechung der Ethik von Harleß hatte er dazu kritisch Stellung genommen: vgl. 1865c), wird noch eigens erörtert: vgl. 257, 552–560. „[D]er Glaube als ein ,lebendig, geschäftig Ding‘ (Luther)“ wird „zum Mittelpunkt christlicher Tugendlehre erhoben“ (257). 23 In der gegenwärtigen theologischen Ethik betont z. B. Eilert Herms, dass alle ethische Reflexion sich stets auf dem Boden einer religiös-weltanschaulichen Sicht auf den Ursprung, die Struktur und die Bestimmung des Menschseins vollzieht. Evtl. expliziert und reflektiert sie auch diese vorausgesetzte Tiefendimension, durch die sie bedingt ist. 24 „[V]on keinem dieser drei Factoren lässt sich sagen, dass ihm ethisch […] eine absolute Priorität zukomme. Jede Sittenlehre wird bei allen Fragen moralischer Art allen dreien Momenten in gleicher Weise Rechnung zu tragen haben. Würde der religiöse Factor einseitig in den Vordegrund gestellt, so entstünde eine krankhaft theologische oder supernaturale Ethik, welche aus der Sphäre der Gesetzlichkeit (Heternomie) nicht herauskäme und in einseitigem Objectivismus ideale Satzungen aufstellte, ohne die Möglichkeit und die Bedingungen geschichtlicher Verwirklichung und persönlicher Aneignung jener angeblich absolut gültigen Offenbarungsnormen nachzuweisen. Würde der Gattungs- oder Gemeinschaftsfactor allein betont, so entstünde eine naturalistlisch oder pantheistisch, wir könnten auch sagen, socialistisch gefärbte Ethik, sofern der persönliche Geist der Herrschaft des Collectivwillens geopfert werden und das reiche Feld sittlichen Lebens jener nivellierenden Tendenz anheim fallen müsste, welche die schöne Gliederung des Daseins, sowie die individuelle Freiheit und Zurechnungsfähigkeit des Einzelnen zerstört und in den Process geschichtlicher Bewegung aufgehen lässt. Würde endlich der Persönlichkeitsfactor isoliert, so entstünde eine subjectivistisch autonomistische Ethik, die eine eingebildete Freiheit und Selbstthätigkeit des Einzelindividuums erträumte, ohne den organischen und geschichtlichen Bedingungen Rechnung zu tragen, unter welchen der Mensch zu einem sittlichen Wesen erwächst.“ (77f).
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Daher kann auch die Ethik nicht als Individual- oder Personalmoral, noch auch als theologische oder dictatorische Offenbarungsmoral, sondern nur als Socialethik richtig behandelt und wissenschaftlich erfasst werden. So mag sie denn, um allem Missverstande zu begegnen, auch demgemäss bezeichnet werden. Denn das ,Sociale‘ kennzeichnet die factische Genesis unseres sittlichen Bewusstseins innerhalb der geschichtlich gegliederten Gemeinschaft; das ,Ethos‘ erhebt uns als sittlich geartete Personen über die blosse Naturnothwendigkeit (Physik) und setzt uns in Beziehung zu einem höchsten Gut, zu einer höchsten und absolut gültigen Lebensnorm. Mit der Bezeichnung ,Social‘ begegnen wir dem subjectivistischen Atomismus und Idealismus, mit dem Ausdruck ,Ethik‘ dem objectivistischen Naturalismus und Materialismus. Socialethik ist also der passende und nicht misszudeutende Name für diese Disciplin und der einzig richtige wissenschaftliche Terminus für dasjenige, was wir deutsch ,Sittenlehre‘ nennen. (78f)
19.2.2 Abriss des Systems christlicher Sittenlehre als Entwurf einer Sozialethik Nach der Darstellung der als Rechtfertigung einer Sozialethik beabsichtigten allgemeinen Grundlegung zur christlichen Sittenlehre komme ich zu dem allerdings nur als Abriss25 dargebotenen System christlicher Sittenlehre. Es wird als „Entwurf einer Socialethik“ vorgestellt. Ist Die Moralstatistik ihrem Untertitel nach „Inductiver Nachweis der Gesetzmässigkeit sittlicher Lebensbewegung im Organismus der Menschheit“, so handelt es sich bei dem Buch Die christliche Sittenlehre um eine „Deductive Entwickelung der Gesetze christlichen Heilslebens im Organismus der Menschheit“. Die Moralstatistik hat ein berühmtes Wort Epiktets aus seinem Handbuch der Moral zum Motto – ins Deutsche übersetzt –: „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Meinungen und die Urteile über die Dinge“. Das Motto nun lautet (wiederum als Übersetzung): „Denn das Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Christus Jesus, hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes“ (Röm 8,2). Die systematische Beschreibung des Heilslebens (der Freiheit, der Tugend) hat das folgende Grundschema: 1. Seine innere Entwicklung (391–645)26 und 2. seine praktische Betätigung (646–747).27 Beide Hauptteile enthalten drei thematische Abschnitte: 1.1 die alte Menschheit; 1.2 die neue Menschheit; 1.3 der Kampf des alten und neuen Menschen; 2.1 Familie, 2.2 Staat, 2.3 Kirche als konkret geschichtliche Gemeinschaftsformen. Bei jedem Thema werden gene25 Vgl. dazu 43. 26 „Erster Haupttheil. Das Heilsleben des Christen nach seiner inneren Entwickelung im Organismus des Reiches Gottes“. 27 „Zweiter Haupttheil. Das Heilsleben des Christen nach seiner practischen Bethätigung innerhalb des concret geschichtlichen Gemeinschaftsformen“.
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tisch drei Momente (mit denen die sog. christlichen Tugenden heuristisch verbunden werden) erörtert: (1) Ursprung bzw. Anfang; (2) Bewegung bzw. Betätigung; (3) Ziel bzw. Vollendung. In jedem Abschnitt wird das jeweilige Moment auf die drei Faktoren – den (a) universellen; (b), individuellen; (c) sozialen Faktor – hin besprochen. Der erste, im Vergleich zum zweiten inhaltlich komplexer gestaltete, Teil, der die innere Entwicklung des Heilslebens (des Christen) im Organismus des Reiches Gottes beschreibt – wie es zustande kommt, welchen Charakter seine Bewegung hat und was sein Ziel ist – geht von der Wiedergeburt (in Christus) aus. Als Ausgangspunkt der christlichen Sittenlehre dient somit der Mensch in Gemeinschaft mit Christus – anders gesagt: die christliche Erfahrung. Aus dieser Perspektive wird zunächst (396–514) die dem Heilsleben vorangegangene Situation entfaltet.28 Es geht um den alten Menschen, um die Sünde, um die Art der Bezogenheit auf das Gesetz bzw. auf Gott. Beginn, Fortgang und Ziel einer „sündlichen Fehlentwickelung“ werden betrachtet und dargestellt. Etwas anders ausgedrückt geht es um die Genese des Sündenbewusstseins. Zum Zweiten wird das ideale Gegenbild entfaltet.29 Thematisiert werden der neue Mensch, der Glaube, der Wiedergeborene in Christus und seine Beziehung auf das Gesetz bzw. auf Gott. Beginn, Fortgang und Ziel einer „geheiligten Lebensentwickelung“ werden erörtert. Es geht also um das Gnaden- bzw. Heilsbewusstsein. Im dritten und letzten Schritt, der sich auf die ersten beiden Schritte stützt und deshalb viel kürzer ist, geht von Oettingen auf den Kampf des alten Menschen mit dem neuen als auf die faktische Situation des Christen ein.30 Mit dieser „Kampflehre“ richtet er sich besonders gegen das Missverstehen der Situation eines Christenmenschen als entweder „gesetzlich-pessimistisch“ oder „idealistisch-optimistisch“. Er will diese Kampfsituation als Höhepunkt und eine Eigenart des Heilslebens verstanden wissen. Auch das Fehlen einer Kampfeslehre kritisierte von Oettingen schon früher. Sowohl die Situation des alten als auch die des neuen Menschen, diese beiden Totalbestimmtheiten, werden als Konflikt erlebt und lassen sich konkret nur von dieser Situation des Konflikts als der Gegenwart des Heilslebens her darstellen.
28 „Der alte Mensch als Glied der natürlichen Menschheit und sein Verhältnis zum Sittengesetz“. Ich erinnere daran, dass von Oettingen das Fehlen einer ethischen Sündenlehre in vielen theologischen Ethiken schon früher bemängelte (vgl. oben Kap. 6). 29 „Der neue Mensch als Glied im Organismus des Reiches Christi und sein Verhältnis zum Gottesgesetz“ (515–608). Heute spricht man z. B. von den (fremden, dem Menschen von Gott zugespielten) Möglichkeiten o. ä. 30 „Der Kampf des neuen mit dem alten Menschen oder das Ringen nach dem höchsten Gute innerhalb der christlichen Reichsgenossenschaft“ (609–646).
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Angeregt durch die am Beginn dieser Studie in Erinnerung gerufene Kritik von Michael Root, der die heute häufig selbstverständlich zu den Grundeinsichten der reformatorischen Theologie gezählte simul-Vorstellung als Neukonstruktion der lutherischen Theologie des 20. Jahrhunderts entlarven will,31 nehme ich den simul-Gedanken als Charakterisierung der faktischen Lagen eines Christen hier als besonders klar hervorgehoben wahr. Für heutige Leser vielleicht befremdlich betont von Oettingen in seiner Ethik: Nur durch den, wiederum in drei Momenten geschilderten, „heißen Kampf“, in dem ein Christ sich real befindet, kann uns das „höchste Gut“ – die vollendete Gemeinschaft – zuteilwerden. Der zweite Teil des Systems beleuchtet das Heilsleben des Christen nach seiner praktischen Betätigung in den konkreten geschichtlichen Gemeinschaftsformen. Von Oettingen kann auch von „gott-geordneten konkreten Gemeinschaftsformen“ sprechen, wodurch deutlich wird, dass für ihn die Familie, der Staat und die Kirche als Gottesordnungen gelten, insofern sie als Bedingungen des Menschseins bzw. der Geschichte angesehen werden. In irgendeiner Gestalt kommen Familie, Staat und Kirche immer in der Geschichte vor. Zu hinterfragen ist nur, welchen Charakter sie jeweils haben. Im zweiten Teil geht es also darum, wie das christliche Leben bzw. das christliche Ethos sich in der Familie, im Staat – auch umfassend als (staatlich geordnete) Kulturgemeinschaft verstanden – und in der Kirche gestaltet. Dabei werden diese Sozialformen stets hinsichtlich ihres Anfangs, ihrer Entwicklung und ihres Ziels betrachtet. Von Oettingen beschreibt diesen zweiten Teil seiner Sittenlehre zu Beginn übrigens auch einmal als „christliche Sociologie“.32 Zunächst wird das christliche Heilsleben in der Familie behandelt.33 Beschrieben wird sie als Urgemeinschaft. Es sei eine durch die Ehe begründete geschlechtlich komplementäre Gemeinschaftsform, in der neues Leben und ein Zusammenleben der Generationen seinen Anfang nimmt. Dann wird das christliche Heilsleben innerhalb der Sphäre des Staates und der Kultur behandelt).34 Hier liegt der Fokus auf der geburtsmäßig-bürgerlichen Gemeinschaftsform. Nationalität und Abstammung stehen im Vordergrund.35 Zuletzt
31 Vgl. oben Kap. 1.1.3. 32 In dem Buch Die Moralstatistik bezeichnet er sich selbst u. a. wiederum als einen „beobachtende[n] Socialethiker“ (1868a, 766). Vgl. oben Kap. 16.4, Anm. XXX, vgl. unten Kap. 27) 33 „Die Bethätigung christlichen Heilsleben innerhalb der häuslichen Gemeinschaftsform, oder: das christliche Familienleben.“ (646–677). 34 „Die Bethätigung christlichen Heilslebens innerhalb der social-bürgerlichen, rechtlichen Gemeinschaftsform des Staates.“ (678–722). 35 Um Missverständnissen vorzubeugen merke ich an, dass von Oettingen eindeutig und scharf einen Nationalismus, der zu einer Absolutisierung der Abstammungsperspektive tendiert, ablehnt.
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wird das Heilsleben in der kirchlichen Gemeinschaft bzw. in der irdischen Erscheinungsgestalt des Reiches Gottes auf Erden in den Blick genommen.36 Da die vollendete Humanität im Reich Gottes als Ziel der theologischen Ethik gilt, müssen „alle drei Formen menschlichen Zusammenlebens“ mit dem „sich bethätigenden Heilsleben“ in Verbindung gesetzt werden (382). Durch die Beschreibung der Gestaltgewinnung des Heilslebens innerhalb der Familie, des Staates bzw. der Kultur, sowie der Kirche, werden die Art und Weise, wie das Heilsleben die Menschheit gestaltet, zum Ausdruck gebracht. Ein Christ ist in den Augen von Oettingens ein Mitarbeiter und Mitkämpfer am und für das Kommen des Reiches Gottes, in dem die Humanität zu ihrer Vollendung gelangt. Es geht um das christliche Ethos im Zusammenleben der Geschichte. Noch eines ist mir am Schluss dieser Übersicht der oettingenschen Sittenlehre wichtig hervorzuheben: Kirche wird hier keinesfalls mit dem Reich Gottes identifiziert.37 Wie ich schon zu Beginn dieses Kapitel festgestellt habe, ist „das Reich Gottes“ und nicht die Kirche der wichtigste Begriff. Das Heilsleben kommt zustande innerhalb des Reiches Christi bzw. der Kirche. Das Heilsleben sucht und ehrt seine Mutter bzw. die Kirche, d. h. das Heilsleben ist durch seinen Beitrag und seine Mithilfe zum kirchlichen Leben und zum Vollzug dessen Aufgabe charakterisiert. Das Heilsleben findet das realisierte höchste Gut im vollendeten Reich Gottes. Das Ziel einer theologischen Ethik ist also das vollkommene Menschsein bzw. die vollkommene Menschheit im Reich Gottes. So weist auch die Kirche als gegenwärtige Gestalt des Reiches Gottes von sich weg. Der Leitgedanke christlicher Sittenlehre ist nicht der der Kirche, sondern der der wahren Humanität im Gottesreich. Insofern ist die Sozialethik als kirchliche Sozialethik eine Reichsethik, eine Ethik des Reiches Gottes (vgl. 186f). Im letzten Teil meiner Untersuchung nehme ich das Verhältnis der Kreuzestheologie und der Sozialethik von Oettingens eigens in den Blick und versuche es durch verschiedenartige Annäherungen zu klären. Zuerst wird es im dritten Teil jedoch um die Kreuzestheologie im späten dogmatischen Hauptwerk von Oettingens, sowie um dessen zeitgenössische Wahrnehmung gehen.
36 „Die Bethätigung christlichen Heilslebens in der religiös-sittlichen Gemeinschaftsform der Kirche.“ (723–747). 37 Vgl. oben Kap. 14.
Dritter Teil: Die Kreuzestheologie in Gestalt einer Glaubenslehre und in ihrem Verhältnis zur Sozialethik
Erster Abschnitt: Lutherische Dogmatik als kreuzestheologische Glaubenslehre
Einführung Ich beginne den letzten Teil dieser Studie mit der Frage, in welcher Weise die späte Dogmatik von Oettingens kreuzestheologisch interpretiert werden will. Da sie als abschließendes Ergebnis seines im Laufe eines halbes Jahrhunderts vollzogenen Studiums der Theologe – eben als „Lebensarbeit“ (1897a, xiiif) – präsentiert wird, und es sich um ein Werk handelt, in dem zum ersten Mal ausdrücklich eine dogmatische Gesamtdarstellung unter dem Leitgedanken einer Kreuzestheologie durchgeführt wird, bildet die Lutherische Dogmatik1 den Gegenstand für zwei Annäherungsweisen in den ersten beiden Abschnitten. Im ersten Abschnitt skizziere ich das heute vergessene Werk und frage, in welchem allgemeineren Sinn von Oettingen es als Ganzes – so wie es aus einem prinzipientheoretischen und einem materiellen Teil besteht –, als theologia crucis versteht. Als Quelle und Grundlage dient zwar die Principienlehre, ihre Interpretation erfolgt jedoch unter Voraussetzung eines sorgfältigen und wiederholten Studiums der ganzen Dogmatik. Im Rahmen dieser Studie werde ich nicht speziell und konkretisierend fragen, in welcher Weise das Kreuzestheologische – kritisch und konstruktiv – in den Hauptabschnitten der materiellen Dogmatik selbst zum Tragen kommt. Eine Art exemplarische Konkretisierung versuche ich jedoch im dritten Abschnitt „Kreuzestheologie und Sozialethik“ zu liefern.2 Der zweite Abschnitt vergegenwärtigt und analysiert, wie im Spiegel exemplarischer Rezensionen das dogmatische Hauptwerk z. Z. seines Erscheinens wahrgenommen wurde, insb. auch wie bzw. ob seine kreuzestheologische Intention wahrgenommen wurde.
1 Vgl. oben Kap. 8 (Charakterisierung der vierten Phase im Werk von Oettingens) und Kap. 15.4 (zur dogmatischen Programmschrift). 2 Vgl. unten Kap. 29.
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Einführung
Lutherische Dogmatik besteht aus zwei Teilen oder Bänden – aus einer Principienlehre und aus einem System christlicher Heilswahrheit3 (das schließlich wegen seines Umfangs in zwei Teilbänden erschien). Der erste Band ist interessant, weil sich von Oettingen hier zunächst um eine Klärung bemüht, was überhaupt erfolgen soll (und was nicht) im Rahmen dessen, was man gewöhnlicher Weise die Prolegomena oder Einleitung in die Dogmatik genannt hat. Er will sie systematisch strenger als dogmatische Prinzipienlehre verstanden wissen. In einer der eigentlichen Prinzipienlehre vorangehenden Erörterung (1897a, 1–49), in der von Oettingen wiederholt beansprucht, sich auf Luthers Theologie des Kreuzes zu beziehen und diese zu vergegenwärtigen, umreißt er einleitend die drei Aufgaben bzw. Probleme, die eine Prinzipienlehre zu behandeln hat: eine Klärung der Sache der Dogmatik, sowie ihrer Erkenntnis, und – unter kritischer Berücksichtigung der Geschichte der Dogmatik – der genaueren Begrenzung und Gliederung des prinzipientheoretischen Stoffes. Mit Blick auf die Methode – auf das Was der Dogmatik – geht von Oettingen von der Einsicht aus, dass die Untersuchungsmethode jeder Wissenschaft durch eine „d[ie] lebenswarme[], erfahrungsmäßige[] Berührung“ des Forschers mit dem zu untersuchenden Objekt bedingt ist (1897a, 25, vgl. 3). Dies bedeutet, dass in einer entscheidenden Hinsicht Wissenschaften nicht voraussetzungslos sind, sondern unter den Bedingungen eines ihnen jeweils vorgegebenen Objektes bzw. Themas, worauf der Wissenschaftler in einer vorwissenschaftlichen Weise bezogen ist, operieren. Die Frage, wie die Sache der Dogmatik vorwissenschaftlich gegeben ist, stellt also zugleich die Frage nach dem sachlichen Ausgangspunkt für die Dogmatik bzw. für ihre Prinzipienlehre. Die methodologische bzw. erkenntnistheoretische Reflexion kann also nur der Sachreflexion folgen und nicht umgekehrt. Die Methode hat dem Gegenstand zu entsprechen und soll sachgemäß sein, sensibel den Differenzen der Gegenstände und Gegenstandsbereiche gegenüber, und nicht umgekehrt. Die zweite Grundeinsicht, die von Oettingen einleitend entfaltet, lautet: Die Sache der Dogmatik ist der wissenschaftlichen Reflexion durch „d[ie] erfahrungsmäßig gewonnne[] Heilsgewißheit“ vorgegeben (ibid., 35).4 Damit ist auch schon der entscheidende Hinweis für den Stoff und für den Aufbau der Prinzipienlehre formuliert: Die Prinzipienlehre soll zum einen den „wesentlichen Inhalt“ des christlichen Glaubens entfalten – im Sinn der Entwicklung eines Realprinzips der Dogmatik. Sie ist also erstens ein Reflexionsgang, der das Objekt der Dogmatik bestimmt. Zweitens hat sie „die methodisch[e] Begründungsform“, die diesem Inhalt entspricht, darzulegen (ibid., 49). 3 „System christlicher Glaubens- und Heilswahrheit“ (1897a, 4). 4 Die Dogmatik ist bezogen auf „d[ie] christliche[] Glaubenserfahrung“, auf die „christliche[] Glaubens- und Heilsgewißheit“; sie hat einen „erfahrungsmäßigen Boden“ (45).
Dogma und Dogmatik
309
Die Prinzipienlehre ist demnach eine Bestimmung dessen, was Dogmatik bzw. dogmatische Methode – als eine Erkenntnis- und Darstellungsweise dieser Sache – ist. Sie ist die Entwicklung des sog. Ideal- oder Erkenntnisprinzips der Dogmatik.
20.
Zur Gegenstandsbestimmung der Dogmatik
20.1
Dogma und Dogmatik
In der Prinzipienlehre wird, ausgehend von persönlicher Glaubenserfahrung, eine Klärung der „Wesensgrundlagen“ (56)1 des gemeinsamen christlichen Glaubens vorgenommen.2 Es werden aus der erfahrungsmäßigen Heilsgewissheit diejenigen Momente herausgearbeitet, die das Wesen der christlichen Religion „in jenem Keimpunkt“ sichtbar machen, dessen nähere „Entfaltung und Entwickelung“ (57) im zweiten Teil der Dogmatik, i. e. im System selbst, auch das Dogma bzw. das kirchliche Gemeindebekenntnis zu verstehen und zu beurteilen erlauben. Die Dogmatik ist also diejenige wissenschaftliche Disziplin, die das kirchliche Dogma zu verstehen hilft, d. h. zum Verstehen dessen beitragen soll, was heute den Status und die Bedeutung der gültigen Lehre in der Kirche hat. Sie tut es, indem die inneren Motive ihres Zustandekommens reflektiert und durchsichtig gemacht werden. Von Oettingen fasst das Dogma nicht als etwas „fertiges“ bzw. „abgeschlossenes“ auf (55), sondern als etwas Gewordenes und Werdendes, sich Fortentwickelndes, das zudem faktisch in einer spannungsreichen Mehrgestalt auftritt, die eine Verständigung darüber besonders dringlich macht. Obwohl von Oettingen sagen kann, dass der Gegenstand der christlichen Dogmatik im Dogma vorliegt, kommt in der ausführlichen Prinzipienlehre zum Ausdruck, dass das Dogma auf keinen Fall positivistisch als Grund und Ausgangspunkt der Dogmatik gelten kann. Sie ist nicht als Legitimationswissenschaft der heute offiziell vertretenen Lehre einer Konfession konzipiert. Vielmehr kann das Dogma als „Finalthema der Principienlehre“ (56) geradezu als Ergebnis des ersten Teils der Dogmatik bestimmt werden. 1 Im Rahmen dieses Kapitels verweise ich auf die Hauptquelle (1897a) nur mit einer Seitenzahl. 2 „Nie und nimmermehr läßt sich […] das Dogma im altkirchlichen oder reformatorischen Sinne als bloße ,theologische Begriffsformulierung‘ der christlichen Glaubenswahrheit (Dreyer, A. Harnack, A. Ritschl u.A.) bezeichnen, oder aber als scholatisch zugespitzte, sei es philosophisch, sei es auctoritativ begründete ,kirchliche Lehrsatzung‘ bestimmen (Al. Schweitzer, R. Rothe, J. Kaftan u.A.), geschweige denn als rein subjective ,Lehrmeinung‘ des Einzelnen oder der Schule kennzeichnen.“ (54) Es sei vielmehr „d[er] bekenntnißmäßig lehrfahfte Ausdruck christlich-kirchlichen Heilsglaubens“ (64).
310
Zur Gegenstandsbestimmung der Dogmatik
Wenn also die Dogmatik – als Prinzipienlehre – „ein wissenschaftlicher Beitrag“ zur prinzipiellen „Verständigung über das kirchliche Dogma“ (57) und seine Genese ist, stellt sie – als System – auch eine kritische Rechenschaft über seine Wahrheit in konkreter – in diesem Fall: der lutherischen – Konfessionsgestalt dar, insofern dort – in Auseinandersetzung mit anderen Konfessionsgestalten – erörtert wird, ob und wie die einzelnen Lehren (die verschiedenen inhaltlichen Aspekte des Dogmas) auf das Heil bzw. die Heilswahrheit bezogen sind. Doch gilt auch im System, dass die eigentliche systematische Rekonstruktion des christlichen Glaubens aus evangelischer Perspektive die im zweiten Teil bestimmte dogmatische Erkenntnisweise bedient und direkt weder auf die kirchliche Lehrtradition und ihre Formeln noch auf die Bibel zurückgreift. Ich fasse zusammen: In der Prinzipienlehre erfolgt eine Analyse der erfahrungsmäßig gewordenen Heilsgewissheit mit dem Ziel einer Herausarbeitung der Wesensmomente – der konstitutiven bzw. notwendigen Momente – christlicher Religion. Eine solche Bestimmung des Wesens der christlichen Religion ist erforderlich um das Sachkriterium für die Beurteilung des Dogmas zu gewinnen. Darin besteht die „sachliche Grundlegung“ der Dogmatik. Es ist die „Entwickelung des Realprincips“, von dem her das Dogma und alles, was darin im Einzelnen enthalten ist oder enthalten zu sein beansprucht, verstanden und kritisch gewürdigt werden kann.
20.2
Der Weg zur Wesensbestimmung der christlichen Religion aus dogmatischer Perspektive
Im Unterschied z. B. zum Vorgehen seines Lehrers Friedrich Philippi, der seine Kirchliche Glaubenslehre mit einer Definition der christlichen Religion begonnen hat, erachtet es von Oettingen als notwendig aufzuzeigen, dass und wie die christliche Religion „mit dem allgemein-menschlichen Religionsbedürfniß“ (58) verbunden ist. In einer Situation des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus, der von Oettingens Wahrnehmung zufolge sehr deutlich auch schon seine Gegenwart auszeichnet, ist es geboten, eine eingehendere Rechenschaft und eine durch vermittelnde Schritte vorbereitete Einführung des Begriffes der christlichen Religion vorzunehmen. Darin kommt exemplarisch das Apologetische (vgl. 57, 47)3 in der Prinzipienlehre von Oettingens zum Ausdruck. Diese Dimension seiner Dogmatik wird durch den Untertitel des ersten Bandes – Apologetische Grundlegung zur Dogmatik – hervorgehoben. 3 Zur Apologetik als einer theologischen Aufgabe vgl. Herms, Mit dem Rücken zur Wand?; Roth, Gott im Widerspruch?
Der Weg zur Wesensbestimmung der christlichen Religion
311
Im Unterschied zu den negativen Assoziationen, die oft in der Alttagsprache mit dem Begriff „apologetisch“ verbunden werden, und die z. T. durch eine eher oberflächliche Sammlung ganz verschiedenartiger „Beweise“ zur „Verteidigung“ einzelner „Wahrheiten“ des Glaubens bedingt sind, verstehe ich dies hier als eine Grunddimension der Dogmatik von Oettingens. Die Erkenntnis und Präsentation christlicher Glaubens- bzw. Heilslehre kann nicht auf eine Auseinandersetzung mit relevanten weltanschaulichen und religiösen Grundoptionen verzichten. Nur so könne die orientierende Kraft des christlichen Glaubens in der Welt erschlossen werden und erfülle die Dogmatik – obwohl immer vorläufig – ihre Aufgabe, zur Orientierung unter den Bedingungen der Vielgestaltigkeit sowohl innerhalb des Christentums als auch hinsichtlich anderer religiöser und weltanschaulicher Lebensoptionen beizutragen. So ist die Dogmatik alles andere als eine monophone und thetische Mitteilung des eigenen Verständnisses, sondern ein methodisch sorgfältig reflektierter und disziplinierter Versuch, die christliche „Weltanschauung“4 in ihren Grundaspekten von innen heraus und zugleich im Verhältnis zu den anderen Grundanschauungen – und zwar : in ihrer Wahrheit5 – zu bedenken (vgl. 330f). Die Verteidigung der christlichen Religion bzw. ihre Wahrheit – ihre denkende Rechtfertigung – muss also zeigen, dass sie „Berührungspunkte“ (58) mit dem menschlichen Religionsbedürfnis hat. Anders formuliert bedeutet das nichts anderes, als dass ein universeller (ideeller) Religionsbegriff herausgearbeitet werden soll, von dem her die christliche Religion in ihrer Eigenart erschlossen werden kann. Von entscheidender Wichtigkeit ist, wie von Oettingen zu einer solchen universellen Grundidee von Religion zu gelangen meint. Sachlich m. E. ganz ähnlich wie schon Schleiermacher in seinen Reden über die Religion, jedoch im Unterschied zu ihm ganz explizit,6 hat die Bestimmung des Wesens der Religion für von Oettingen im Rahmen christlicher Dogmatik aus der Perspektive der christliche Religion zu erfolgen. In „d[er] specifische[n] Eigenart der christlichen Religion“ ist „eine allgemeinmenschliche Grundidee der Religion“ enthalten (ibid.). Der allgemeine Begriff der Religion wird als Implikat der christlichen Religion aufgefasst bzw. konstruiert. 4 Vgl. 41, xiv. Zum Ausdruck „Weltanschauung“ mit Blick auf den christlichen Glauben vgl. die Bemerkungen von E. Herms (Herms, Gesellschaft gestalten, xxiii). Bei von Oettingen hat sie durchaus auch eine „konstruktive“ Seite. Dogmatik ist wissenschaftlicher Versuch, die „Weltanschauung“ von der Sache her zu entwickeln bzw. zu konstruieren. 5 Auch die Beweise oder auch „nur“ Demonstrationen der Absolutheit des Christentums weist von Oettingen explizit zurück. Die Weise, wie er die Absolutheit versteht, bewegt sich eher in Richtung der Überlegungen z. B. von Herms, Offenbarung, 217–219. 6 Das Wesen der Religion wird also nicht unter Absehung vom geschichtlich konkreten Religionsvollzug bestimmt.
312
Zur Gegenstandsbestimmung der Dogmatik
So wird in einem ersten Schritt (79–158) „Das Wesen der Religion vom Standpunkt christlicher Glaubenserfahrung“ behandelt. Es ist die systematische Entwicklung bzw. (Re-)Konstruktion eines idealen – ich sage: normativen Begriffes – von Religion. Jedoch ist entscheidend, dass sie ausgehend vom „Zentrum der christlichen Heilserfahrung“ und somit von einer elementaren Analyse der erfahrungsmäßigen Lebensgewissheit, die als „Gotteskindschaft aus Gnade“7 charakterisiert wird, erfolgt (vgl. 65–74, 228f). Im Anschluss daran fragt er weiterhin aus dieser phänomenologischen Perspektive „nach dem inneren Beweggrund“ der idealen Religion, sowie nach ihrer „sittlichen Frucht“ (vgl. 74– 79). Er identifiziert– ausdrücklich provisorisch – die Grundaspekte des Wesens der Religion. Solche konstitutiven, zusammenwirkenden Faktoren bilden die Bedingung für das Zustandekommen der Religion als „unbedingt vertrauende Gottesbeziehung“.8 Die Unbedingtheit des Vertrauens […] zeigt sich […] charakteristisch und eigenartig in der Anbetung. Einzig und allein im Gebetsverkehr mit Gott […] prägt sich die Eigenart der religiösen Kindschaft aus. (71)
Als die drei Aspekte im idealen Grundbegriff von Religion werden der göttliche, der soziale und der individuelle Faktor festgehalten. Es geht somit – „entsprechend unserem Gottes- Welt- und Selbstbewusstsein“ (81) – um einen dreistelligen Relationszusammenhang. Seine nähere Untersuchung erfolgt durch die eingehende Erörterung dieser drei Faktoren in ihrer idealen Organisation: der Offenbarung, der Religions- und Kultusgemeinde und der persönlichen Glaubensüberzeugung. Etwas verwirrend, weil wiederum das Wort „Princip“ verwendend, kann von Oettingen sie auch als Offenbarungs-, Gemeinschafts- und Persönlichkeitsprinzip9 der Religion bezeichnen. In einem zweiten Schritt (158–228) – „Die unwahre Gestaltung der Religion“ – stellt von Oettingen den so herausgearbeiteten Religionsbegriff auf die Probe. Er untersucht und zeigt, wie mangelndes Verständnis – egal für welches Wesensmoment- oder eine unzureichende Berücksichtigung eines der drei Faktoren
7 Ich gehe auf diese provisorische Analyse nicht näher ein, halte jedoch den Anspruch von Oettingens fest, dass seine „wesenhafte Begriffsbestimmung der idealen Religion […] nicht nur wissenschaftlich als principieller Ausgangspunkt unserer weitern Untersuchung berechtig ist, weil sie dem Thatbestant elementarer christlicher Glaubenserfahrung der Kinder Gottes entspricht; sie ist auch schlicht, einfach, jedem Kinde zugänglich und praktisch verwerthbar, z. B. in der katechetischen Unterweisung“ (72). 8 Unter „Anbetung“ ist an dieser Stelle „weder ein besonderer Cultusact, noch auch eine bloße Gefühlserregung, ,Stimmung‘ (A. Harnack) oder ,Andacht‘ (de Wette) gemeint, sondern jene auf Gegenseitigkeit beruhende innere Herzens- und Lebensgemeinschaft des Gotteskindes mit Gott dem Vater, wie sie im Gebetsverkehr sich kund giebt“ (71). 9 Dem heutigen Sprachgebrauch zufolge würde man hier von „Personalität“ sprechen.
Der Weg zur Wesensbestimmung der christlichen Religion
313
gleichbedeutend mit einer Deformation bzw. dem Verlust des religiösen Lebens, sowie der religiösen Gewissheit ist. Analog zu dem vorangegagenen Kapitel wird einführend die Gefährdung des Leitbegriffs von Religion beschrieben. Die Wurzel aller wirklichen und möglichen Pathologien auf dem religiösen Gebiet wird in der Gottentfremdung bzw. in der Sünde lokalisiert. Es werden die subjektiven Hauptformen der Irreligiosität (Aberglaube – „ängstliches Abhängigkeitsgefühl“ –, Unglaube – „trotziges Freiheitsgefühl“ – resp. Dogmatismus und Skeptizismus) und objektiv dahinterstehende Weltanschauungen als variationsreiche Grundirrtümer (Dualismus, Pantheismus) beschrieben, aber auch die innere Verwandtschaft dieser subjektiven und objektiven, scheinbar so gegensätzlichen, „Pathologien“ (als welche sie im Licht des idealen Grundbegriffs erscheinen) hervorgehoben. Sodann erschließt von Oettingen mit systematischer Kraft die Gefährdung der Religion mit Bezug auf die drei Prinzipien im Einzelnen. Die Gefährdung also, durch deren Realisation diese Prinzipien zu den pathologischen Prinzipien mutieren und eine Desorganisation religiösen Lebens zur Folge haben. u. a. erfährt der zunächst vielleicht zu harmlos klingende Hinweis auf den Ursprung der vielfältigen Pathologien auf dem religiösen Gebiet in Geschichte und Gegenwart, d. h. auch die verschiedenartigen weltanschaulichen Grundorientierungen seiner Zeit, eine differenzierte Konkretisierung. Diese systematische Religionskritik, die sich konsequent um eine Identifikation und Bestimmung der religiösen Pathologien, um ein Verständnis davon, wie sich Religion in ihrem Offenbarungscharakter (in ihrem Transzendenzbezug), ihrem sozialen Charakter und ihrem individuellen Charakter problematisch entwickeln kann, nimmt eine Reflexionsaufgabe ernst, die lange für eher obsolet gehalten wurde, aber heutzutage zunehmend als dringliche Herausforderung bewusst wird.10 Eine Orientierung auf dem Feld höchster religiöser und weltanschaulicher Pluralität verlangt notwendig auch nach einem hinreichend differenzierten Begriff nicht nur von religiösen Physiognomien, sondern auch von Pathologien, also einem nicht nur hermeneutischen, sondern zugleich kritischen Begriff von Religion. Am Schluss seiner „Pathologischen Principienlehre“ beabsichtigt von Oettingen zu zeigen, wie in den anderen geschichtlichen Religionen, aber auch „im empirischen Christenthum“ verschiedene pathologische Prinzipien hervortreten und wie sich diese diagnostizieren lassen. Insofern hat diese religionskritische Erörterung eine selbstkritische bzw. christentumskritische Pointe.11 Alles 10 Vgl. Dalferth/Großhans (Hg.), Kritik der Religion. 11 „Die in der pathologischen Principienlehre beleuchteten Irrthümer zeig[]en sich als drohende Gefahren in allen geschichtlich concreten Religionsformen, […] auch innerhalb des kirchlich sich ausprägenden Christenthums“ (329).
314
Zur Gegenstandsbestimmung der Dogmatik
in allem soll das zweite Kapitel nicht nur „die Berechtigung des aufgestellten Religionsideals“ bestätigen, sondern auch zum Verständnis der Notwendigkeit einer radikalen Heiligung beitragen (228). In einem dritten und letzten Schritt (229–332), der den Titel „Das Christenthum als die Heilsreligion“ trägt, wird dann eine Bestimmung des Status und der Eigenart der christlichen Religion als der Heilsreligion unternommen. Durch die vorangehende Behandlung der Religionsphysiologie und der Religionspathologie versucht von Oettingen sichtbar zu machen, wie die christliche Religion mit dem allgemeinen Religionsbedürfnis verbunden ist. Dies kann begrifflich als die Reorganisation religiösen Lebens von Gott her beschrieben werden und zwar als die Wiederherstellung der Lebensgemeinschaft mit Gott durch die Erlösungs- und Gnadenoffenbarung Gottes in Christus. Die christliche Religion lässt sich somit als die Heilsreligion charakterisieren. Eine Schlüsselfunktion für das dogmatische System von Oettingens hat der einleitende Paragraph (§15, 229–261). Er verweist auf die elementare Analyse der christlichen Glaubenserfahrung in ihrem inhaltlichen Kern zu Beginn der Prinzipienlehre (§6, 65–83). Diese beschäftigt sich mit der Explikation des Standpunktes für die Untersuchung des Religionsbegriffes, abstrahiert hierbei aber von der näheren Betrachtung des Zustandekommens dieses Standpunktes und seiner Voraussetzungen. In nuce wird nun eine vollständige Bestimmung des Begriffes der christlichen Religion herausgearbeitet. Das soll verdeutlichen, (1) welche Probleme bzw. Themen durch die christliche Religion zu verstehen gegeben sind und in einer dogmatischen Gesamtdarstellung derselben ihren Ort finden sollten und (2) was als Schlüssel zu ihrem allseitigen Verstehen bzw. als Anleitung dazu dienen kann. Der Vorschlag von Oettingens lautet, dass das Verständnis des Christentums als der Heilsreligion durch drei Voraussetzungen bedingt ist, und dass die Realität des Christentums sich durch drei gottgesetzte Wesensmomente als Hauptmomente der Heilsverwirklichung beschreiben lässt. Die Realität des Christentums wird also nur verstanden, wenn die Voraussetzungen des Heils und seine Verwirklichung verstanden werden. Im Paragraphen 15 findet sich in Kurzform ein Darlegungsversuch darüber, wie „[a] die nothwendige Forderung (Postulat) und [b] die thatsächliche Verwirklichung (Realität) des Christenthums“ Implikate der christlichen Glaubensgewissheit sind, und zwar in Entsprechung zu den „Brennpunkten in der Ellipse christlicher Glaubenserfahrung“, i. e. dem Bewusstsein von Sünde und Gnade (231).12 „Die in der Heilsverwirklichung liegenden Realitäten […] werden 12 Diese Voraussetzungen „wurzeln“ in dem Sündenbewusstsein. Die „Heilsthaten Gottes“ haben „ihr Zentrum“ im Gnadenbewusstsein. Diese „beide Brennpunkte“ decken sich mit dem, „was wir als die nothwendige Forderung (Postulat) und die thatsächliche Verwirkli-
Zum Status des Realprinzips und des Systems
315
uns […] unter dem dreifachen Gesichtspunkt der Heilsvermittelung, der Heilsaneignung und der Heilsvollendung entgegentreten.“ (Ibid.) „[J]ene, die Heilsbedingungen in sich schließenden Postulate“ lassen sich „unter dem dreifachen Gesichtspunkt der Heilsfähigkeit […], Heilsbedürftigkeit […] und Heilsbestimmung […] der Menschheit“ erfassen (ibid.). Demgemäß reflektiert der erste Hauptteil der Dogmatik in Ontologie, Hamartologie und Teleologie die Heilsbedingungen. Der zweite Hauptteil entfaltet in Christologie, Pneumatologie und Eschatologie die Heilsverwirklichung.13 Es wird sichtbar, wie von Oettingen zufolge die zentrale Sache, um die es in der Dogmatik geht, die Heilsgemeinschaft der Menschheit mit Gott ist, deren Grund in Christus liegt. Anders formuliert: Der zentrale Begriff bzw. der „Mittelbegriff“, der im Zentrum des dogmatischen Systems zu stehen hat und „der zugleich als Mass- und Normbegriff verwerthbar ist“ (254), ist das Heil in Christo oder der „Christus für uns“ (xviii). Dies nennt von Oettingen das Realprinzip der Dogmatik.
20.3
Zum Status des Realprinzips und des Systems
Die eben skizzierten sechs Gesichtspunkte, durch die der „überreiche[] Inhalt der Dogmatik“ umrissen und organisiert wurde, stellen „das Wesen des Christenthums […] in bunter Mannigfaltigkeit dar“ (253). In eingehender Auseinandersetzung mit Bedenken unterschiedlicher Art gegen ein von einem Prinzip her entwickeltes System der Dogmatik und mit einer kritischen Klarstellung, welches Verständnis eines dogmatischen Systems er für illegitim hält, erläutert von Oettingen, warum und in welchem Sinn ein solches doch als eine berechtigte, obwohl immer nur vorläufig bzw. ohne einen Vollständigkeits- oder auch Exklusivitätsanspruch zu lösende Aufgabe anzusehen ist (vgl. 253–261). Ganz elementar hat die Dogmatik eine Orientierungsleistung hinsichtlich der sich in lebendiger Dynamik14 befindenden lehrhaften Ausgestaltung des Christentums zu erbringen. Die Dogmatik kann sich also nicht mit einer bloßen chung (Realität) des Christenthums d. h. der wahrhaft göttlichen und echt menschlichen Heilsreligion bezeichnen können“ (231). 13 „Wir folgen in dieser Angabe und Anordnung des Inhalts der Dogmatik, soweit die Voraussetzungen oder Vorbedingungen für das Verständniss des Christentums als der geschichtlich verwirklichten Heilsreligion in Betracht kommen, nicht einem willkürlich erdachten (speculativen) Schema oder einer Systemsucht, sondern den biblisch bezeugten und in der Glaubenserfahrung des Christen nachweisbaren Momenten göttlicher Selbstkundgebung.“ (238). 14 „[W]o Leben ist, da ist auch ein Keimpunkt, und diesem nachzuforschen, das Organische auf eine lebensvolle, fruchtbare Einheit zu bringen, ist das unverwüstliche Bestreben des menschlichen forschenden Geistes.“ (254).
316
Zur Gegenstandsbestimmung der Dogmatik
Zusammenstellung (angeblicher) Fundamentalartikel und Loci begnügen. Sie beschäftigt sich vielmehr mit einer Vereinfachung bzw. Elementarisierung des Christentums, indem dieses „auf Einen erklärenden und durchschlagenden Grundgedanken“ zurückgeführt wird (254). Diesen Grund- oder Hauptgedanken bezeichnet von Oettingen als Realprinzip, insofern „aus ihm […] wirklich der Gesammtorganismus christlicher Heilswahrheit herauswachen und sich entwickeln soll“ (ibid.). Dabei handelt es sich nicht um „ein abstractes Princip, […] eine blosse Idee“, sondern um „die lebendige und lebenszeugende ,Person‘“ Christi, in dem „die (objective Heilsthatsache sowohl, als das (subjektive) Heilserlebniss, das sola gratia wie das sola fide“ begründet und gewährleistet ist (256).15 Nicht etwa die Idee der Gottmenschheit, sondern der lebendige, gekreuzigte und auferstandene Christus, wie er […] seiner Reichsgemeinde nahe ist und von ihr in religiöser Pietät des Glaubens angebetet wird – das ist der christocentrische (resp. staurocentrische) Vorwurf der Dogmatik, wenn diese sich als einen lebendigen Zweig, ja als die Krone jener ,Theologie des Kreuzes‘ bewähren will, die allein in das offenbare Geheimniß der liebevollen und erbarmenden Herablassung und Selbstbeschränkung des leidenden und mitleidenden Gottes einzudringen vermag (242).
Von Oettingen setzt seinen Vorschlag in knapper, aber instruktiver und aufschlussreicher Weise in Beziehung zu den neueren Versuchen „ein fruchtbares Realprincip (Mittelbegriff) für den reichen Inhalt christlicher Glaubenslehre zu gewinnen“ (257) und konstatiert: Es erscheint mir wie ein Beleg für die Einseitigkeit, resp. Unzulänglichkeit der meisten […] Formulierungen, dass entweder der göttliche, oder der sociale, oder der persönliche Factor der christlichen Heilsreligion in den Vordergrund gestellt wird. […] Am tiefsten scheinen diejenigen Systematiker zu greifen, die im evangelisch-protestantischen Interesse jenen articulus stantis et cadentis ecclesiae: die Rechtfertigung allein aus dem Glauben zum Ausgangspunkt machen (258).
Er zeigt, warum es jedoch zu bevorzugen ist „das alleinige Heil in Christo (resp. das sola gratia)“ als „den thatsächlichen Mittelpunkt“ zu betrachten, als „die Axe, um die sich das ganze Christenthum und also auch das christliche Lehrsystem bewegt und bewegen muss.“ (259): Vor allem, weil der Rechtfertigungsgedanke subjektiv gefärbt sei bzw. in der Nachfolge Melanchthons jedenfalls so verstanden werde. 15 Vgl. unten Kap. 29. „Daß die gesammte Dogmatik als lebensvoller Organismus christlicher Heilswahrheit thatsächlich aus jenem fruchtbaren Kernpunkt hervorwächst, daß sie als architektonisch gegliederter Bau auf jenem Eckstein ruht, ja daß in jenem christocentrischen heilsgedanken der Schlüssel für das Verständniß aller Einzellehren uns dargeboten wird, lehrt uns der Rückblick auf den oben gemachten Versuch einer Entwickelung ihres Gesammtinhalts.“ (257).
Zum Status des Realprinzips und des Systems
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So wird im Zuge einer einführenden Bestimmung des Christentums als der Heilsreligion, i. e. durch die Erörterung der Implikate der christlichen Glaubensgewissheit, die prinzipielle Bedeutung des Heils in Christus ersichtlich. Die Heilsgemeinschaft mit Gott durch und in Christus wird als Realprinzip des Systems vor Augen gestellt. Um diese Sache, um ihre wissenschaftlich-systematische Erkenntnis und Darstellung soll es in der Dogmatik als System der christlichen Heilswahrheit gehen. Nach dieser anfänglichen Bestimmung betrachtet und entfaltet von Oettingen die christliche Religion näher. Es wird eruiert, wie und in welchem Sinn das Christentum entsprechend den drei nichtreduzierbaren Ansichten vom göttlichen Faktor her als göttliche Heilsoffenbarung, vom sozialen Faktor her als kirchliche Heilsgemeinschaft und konfessionelles Dogma, sowie ausgehend vom individuellen Faktor als persönlicher Glaube zu verstehen und darzustellen ist. Somit wird auch erst am Ende der Entwicklung des Realprinzips, genauer : innerhalb der Behandlung des Christentums als kirchlicher Heilsgemeinschaft, die Frage beantwortet, a) ob und in welchem Sinn das Dogma für die christliche Religion notwendig ist und b) aus welchem Gedanken heraus es in der Dogmatik zu erschließen ist (vgl. 293–315). Dieser Gedanke ist zugleich das Sachkriterium für die Beurteilung der geschichtlich gewordenen Differenziertheit bzw. der faktischen konfessionellen Unterschiede (innerhalb) des Dogmas. Den Übergang zur zweiten Hälfte der Prinzipienlehre bildet die Betrachtung des Christentums als persönlichem Heilsglauben – in seiner Bedingtheit durch die kirchliche Gemeinschaft, aber auch bezüglich seiner Selbstständigkeit und Rückwirkung auf die Glaubensentwicklung der Gemeinschaft (vgl. 332). Zum Schluss dieser Betrachtung wird im Unterschied und Gegensatz zu den biblizistischen und traditionalistischen Gefahren „[d]as persönlich erlebte Christenthum oder der ,Christus in uns‘“ als „idealer Ausgangspunkt für methodische Entwickelung dogmatischer Lehrsätze“ charakterisiert (xviii). Es bildet den „Anknüpfungspunkt […] für jede lebensvolle, innerlich wahre Reproduction christlicher Weltansicht“, so wie die persönliche Glaubenserfahrung schon den Ausgangspunkt für die gesamte Prinzipienlehre, i. e. für die Bestimmung eines idealen Begriffs von Religion etc. gebildet hat.16 Die abschließende Kernpassage (328–329), die alles, was in den drei Kapiteln der Prinzipienlehre geleistet worden ist – also den ganzen Weg zur Bestimmung des Gegenstandes „der christlich-kirchlichen, speziell der lutherischen Dogmatik vom Standpunkte der ,Theologie des Kreuzes‘“ (329) – zusammenfasst, endet mit dem Verweis auf die Aufgabe der folgenden dogmatischen Erkenntnistheorie oder der Entwicklung des – wie er es nennt – Idealprinzips der 16 Das bedeutet, dass gerade „die kirchliche Dogmatik“ durchaus „eine eigenartige (individuelle) Physiognomie gewinnen“ kann und auch muss (332).
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Zur Methode der Dogmatik
Dogmatik: „ob und in welchem Sinne dem Realprincip (dem Christus für uns, als alleinigem Heilsgrunde) das […] Idealprincip (der Christus in uns, als alleiniger subjectiver Erkenntniß- und Wahrheitsgrund) entspricht“ (330). Ich halte jeden Streit um die wissenschaftliche Methodik für verwirrend und vergeblich, so lange man über die Eigenart des Untersuchungsobjectes (das reale Moment) und die entsprechende Erkenntnißfähigkeit des untersuchenden Subjects (das ideale Moment) sich nicht geeinigt hat. Deshalb begannen wir mit einer sachlichen Grundlegung […]. Aber das bisher […] betrachtete Object der Dogmatik kann erst durch die methodische Form der Begründung und Ausprägung zu einem wissenschaftlichen Lehrsystem werden. Die ,Form‘ ist dabei nicht etwas zufälliges oder äußerliches […] Denn in der Form, wenn sie nicht von außen herangebracht ist, sondern von innen heraus sich mit einer gewissen Nothwendigkeit gestaltet hat, wird überhaupt erst das Wesen, die Idee der Sache erkennbar und faßbar. (334)17
In der Erkenntnistheorie wird also das Erkenntnisprinzip der Dogmatik untersucht. Es ist nach von Oettingen zu zeigen, dass und warum die Erörterung der Frage nach dem Wie der Dogmatik an die persönliche Heilserfahrung anzuknüpfen hat. Zudem soll die der Sache der Dogmatik entsprechende dogmatische Methode genauer herausgearbeitet werden.
21.
Zur Methode der Dogmatik
21.1
Die dogmatische Erkenntnistheorie – ihr Problem und ihre Aufgaben
„Die Frage nach der wissenschaftlichen Erkenntnistheorie ist vielleicht noch nie eine so brennende gewesen, wie in unserem skeptischen Jahrhundert.“ (333)1 Von Oettingen beginnt seine methodische Grundlegung der Dogmatik mit orientierenden Überlegungen (333–353). Diese erschließen die Bedeutsamkeit der Erkenntnisfrage und der Erkenntnistheorie zunächst in Auseinandersetzung mit einflussreichen Grundoptionen unter Einbezug des philosophischen Verständnisses des menschlichen Nachdenkens und Forschens, sowie der kritischen Beleuchtung der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen neuerer 17 „Ein günstiges Vorurtheil für die allgemeine Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit einer wissenschaftlichen Erfassung des uns hier vorliegenden Gegenstandes ergiebt sich in gewissem Sinne schon aus unserer bisherigen sachlichen Grundlegung. […] Daher bezeichnen wir das zu erforschende und zu begründende (methodische) Erkenntnißprincip als Idealprincip, weil mit der in uns lebendigen, im Glauben erfahrenen Idee des Christentums [i. e. das, was uns erfahrungsmäßig zu verstehen gegeben ist – T.-A.P.] seine eigenartige Erkenntnißweise oder -form […] aufs engste zusammenhängt“ (346, vgl. 371). 1 Im Rahmen dieses Kapitels verweise ich auf die Hauptquelle (1897a) nur mit einer Seitenzahl.
Die dogmatische Erkenntnistheorie – ihr Problem und ihre Aufgaben
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Dogmatiker, von denen sich viele entweder auf den Bahnen der Spekulation (/ la Hegel)2 oder der kantschen bzw. neukantischen „praktischen Vernunft“3 bewegen (333–345). Insbesondere werden die Grundentscheidungen von Oettingens eigener Prinzipienlehre im Zusammenhang des in idealtypischer Einseitigkeit beschrieben Verhältnisses von objektivistischen Realismus und subjektivistischen Idealismus profiliert: Wie kommen wir aus dieser doppegeleisigen Sackgasse heraus? Wie vermeiden wir den vornehm ,sicheren‘ Monismus jener speculierenden Vernunft, die Geist und Natur ,objectiv‘ erfassen zu können meint und mit solchem dogmatistischen ,Aberglauben‘ sich in eingebildeten pantheistischen Idealismus oder eingebildeten materialistischpositivistischen Realismus hineinstürzt? Und andererseits: wie entgehen wir jenem qualvollen, in sich ungewissen Dualismus der kriticistischen Vernunft, die in Folge mangelnden Vertrauens sich als Kind des alle Gewißheit untergrabenden, zweifelnden subjectivistischen Unglaubens entpuppt, mag sie nun das geistig-ideale Gebiet als ,Postulat‘ der praktischen Vernunft noch aufrecht zu halten suchen oder die Erkennbarkeit der Dinge überhaupt beanstanden und dadurch jede ,Wissenschaft‘, sofern sich nach objektiver Wahrheit strebt, unmöglich machen. (343)4
Sodann werden die Grundprobleme bzw. die „allgemeinen Vorfragen“ (349) herausgearbeitet (vgl. 345–353, insb. 348f), die in jenem methodologischen Teil der Prinzipienlehre zu untersuchen sind. Erstens (§20) geht es um das Problem der dogmatischen Erkenntnistheorie, i. e. um die Frage nach der Möglichkeit einer theoretischen (Vernunft-)Erkenntnis der „wesentlich praktischen[]“ (353) Glaubenswahrheit überhaupt. D. h., um die Frage nach der Gegebenheitsweise dessen, was den Gegenstand und Inhalt der Dogmatik bilden sollte, und nach (dem Maß) ihrer Zugänglichkeit für die theoretische Erkenntnis.5 Die folgenden Fragen, die die Dogmatik als methodische Erkenntnisweise Schritt für Schritt näherbestimmen, lassen sich in einem weiten Sinn als enzyklopädische bezeichnen, insofern ihre Position und ihr spezifischer Beitrag im Kontext menschlichen Erkenntnisbetriebs eruiert werden. Von Oettingen er2 Von Oettingen nennt als Beispiele „besonders Biedermann, Lipsius, Pfleiderer, aber auch Dorner, Martensen, ja in gewissem Sinne selbst Frank, Kahnis, Luthardt u.A.“ (335) Kritik der Spekulation: 336–338 (Vorbegriff) und in §20 (sowohl Wahrheitsmoment als auch Problem). 3 Er nennt namentlich „Tieftrunk und Stäudlin in älterer, […] A. Ritschl, Herrmann, J. Kaftan u.A. in neuerer Zeit“ (338). Kritik eines Dualismus der praktischen und theoretischen Erkenntnis: 338–343 (Vorbegriff) und in §20 (sowohl Wahrheitsmoment als auch Problem). 4 Eine Antwort auf diese Frage soll von Oettingen zufolge in der Richung liegen, die im Folgenden angedeutet ist: „Das fides praecedit intellectum, das credo ut intelligam gilt meines Erachtens nicht bloß für den wissenschaftlichen Theologen und Dogmatiker“, sondern auch dem „philosophische[n] und ,exacte[n]‘ Natur- und Geschichtsforscher“ etc. (344; vgl. oben Kap. 11, Kap. 17). 5 Z.B ist nach J. Fischer die (praktische) Erkenntnis des Glaubens nicht in eine wissenschaftliche (theoretische) Erkenntnis transformierbar (vgl. Fischer 2006, 269–277).
320
Zur Methode der Dogmatik
weist sich wieder – wie insbesondere schon in seinem ersten Hauptwerk6 – als derjenige, für den die Theologie sich explizit auch im Kontext der Wissenschaften, der methodisch disziplinierten Erkenntnisbemühung verschiedener Art, zu verorten hat und für den deshalb der Brückenbau mit anderen Disziplinen, die Kontaktherstellung und -bestimmung, das Gespräch und die kritische Auseinandersetzung mit ihnen, ein wichtiges Anliegen ist. In Martin Kählers Abriss Die Wissenschaft der christlichen Lehre beispielsweise wird das Thema nur auf ein paar Seiten besprochen.7 So stehen zweitens (§21) die Stellung der Dogmatik innerhalb der Natur- und Geisteswissenschaften und ihr methodisches Verfahren zur Diskussion, drittens (§22) das Verhältnis der Dogmatik als theologischer Glaubenswissenschaft zur Philosophie, insb. zur Metaphysik und Religionsphilosophie und viertens (§23) ihre Beziehung zu anderen Disziplinen der Theologie, i. e. ihre Stellung und Aufgabe im Kontext der theologischen Wissenschaft. Erst vor dem Hintergrund dieser in vier Schritten erfolgenden prinzipiellen Klärung der Möglichkeitsbedingungen für eine Vernunfterkenntnis der Glaubenswahrheit – die in der Auffassung von Dogmatik als Glaubenswissenschaft münden – und einer näheren Profilierung (des methodischen Begriffes) der Dogmatik,8 wird in einem kürzeren zweiten Kapitel (427–464; Vorgriff: 349– 353) erörtert, „ob eine wissenschaftliche Dogmatik confessionell sein darf“ (349), wie sich die Dogmatik aus lutherischer Perspektive bzw. ob die lutherische Dogmatik sich durch eine eigentümliche Methode auszeichnet und ihre methodische Durchführung und Architektonik erläutert.
21.2
Dogmatik als Glaubenswissenschaft
Im ersten9 der beiden Kapitel, die das Erkenntnisprinzip der Dogmatik herausarbeiten, erörtert von Oettingen aufschlussreich das Verhältnis von Wissen und Glauben bzw. von Vernunft und Offenbarung. Er lässt dabei weder die Geschichte des Ringens um dieses Problem, noch den gängigen Sprachgebrauch 6 Vgl. oben Kap. 17. 7 Vgl. Kähler, Lehre, 37–38, 43–44; vgl. oben Kap. 9, Kap. 15. 8 Der Begriff „Dogmatik“ ist sowohl hinsichtlich des Gegenstandes als auch hinsichtlich der diesem Gegenstand gemäßen Erkennntisweise zu entfalten. Wenn geklärt ist, ob und wie die Heilswahrheit der Vernunfterkenntnis gegeben und zugänglich ist, kann auch bestimmt werden, welches Verfahren für ihre wissenschaftliche Untersuchung zu folgen hat. Die Grundvoraussetzung bzw. -einsicht von Oettingens ist also: Die Methode der Untersuchung (in diesem Fall der Dogmatik) hat dem zu entsprechen, als was und wie der Gegenstand gegeben ist. 9 „Die Methodik christlicher Glaubenswissenschaft vom Standpunkt der Heilserfahrung.“ (354–427).
Dogmatik als Glaubenswissenschaft
321
unberücksichtigt, und steht in Auseinandersetzung mit Positionen, die entweder zu einer Exklusion oder aber zu einer Identifikation beider tendieren. Dabei werden sowohl die Probleme als auch die Stärken der dualistischen und monistischen Optionen herausgearbeitet. Das Kapitel lässt sich auch als ein Einblick aus der Sicht von Oettingens in die methodologischen Grundtendenzen neuerer Theologie lesen. Seine eigene Strategie läuft auch hier darauf hinaus, den Glauben im Unterschied zu den dualistischen und monistischen Erkenntnisauffassungen in einem elementaren Sinn – als „die vertrauende Ueberzeugung“ (355)10 – als eine Möglichkeitsbedingung des Wissens überhaupt, sowie als „de[n] innerste[n], treibende[n] Kern alles Erkenntniß- und Wissensmuthes“ zu erschließen (355).11 „Das […] große, wichtige und schwere Erkenntnißproblem läßt sich, wie mir scheint, nur so lösen, daß man der Eigenart des jeweiligen realen Untersuchungsobjects durch ein entsprechendes methodisch begründetes Idealprincip gerecht wird.“ (368, vgl. 368–371). [E]s [ist] ohne Glauben unmöglich […] die geheimißvoll-offenbare Welt ,wissend‘, d. h. in ihrem inneren gesetzmäßig geordneten, causalen und teleologischen Zusammenhange bewußt (reflexionsmäßig) sich anzueignen. Das gilt ebenso für das Gebiet der uns gegenwärtig umgebenden Natur- und Menschenwelt, wie für die sich uns darbietende, der Vergangenheit angehörende, also nicht direct von uns erlebte und angeschaute Geschichtswelt. Mag es sich um die äußere, sinnlich wahrnehmbare Daseinsform (Natur), mag es sich um die nur durchs Wort uns überlieferte und bezeugte Geistesform des wirklich Seienden (Geschichte) handeln, unser inneres Eigenthum im Sinne des Wissens wird die Natur- und Geistes welt nur durch jene auf Erfahrung ruhende Glaubensgewißheit, die sich aber einem stetigen verificierenden Controlverfahren unterziehen, durch wiederholte Prüfung (Kritik) und Beobachtung (Experiment und ordnende Sammlung) als in sich übereinstimmend darthun muß. (369f) So kann und soll sich auch die im Glauben erlebte und […] zu […] Gewißheit gewordene göttliche Offenbarungswirklichkeit in Christo zu einer faßbaren, im Wissen sich reflectierenden, echt menschlichen Vernunftwahrheit ausgestalten. Auch das 10 Vgl. oben Kap. 17.8. 11 „Sofern all unser Aufnehmen der Wirklichkeit ins Innenleben, der Außenwelt ins innere Bewußtsein durch sinnliche Eindrücke (Wahrnehmen, Anschauen, Vorstellen, Erinnerungsbilder) bedingt erscheint, ist ja auch all unser Wissen – und keineswegs blos der religiöse Glaube – zunächst ein Gefühlswissen, eine unmittelbare Gewißheitsform. Aus diesem Stadium der bloßen ,Eindrucksnothwendigkeit‘, der kindlichen und volksthümlichen Vorstellung (Apperception) muß sich das Wissen, wie der Glaube herausarbeiten und auf soliden, sachgemäßen, mit wiederholter Beobachtung Hand in Hand gehenden Denkwegen zu einer vollbewußten und innerlich motivierten einheitlichen Weltanschauung zu gelangen suchen“ (366f). „Nicht in speculierender Theorie, […] nicht in mathematischer oder logischer Deduction aus abstracten Principien der Weltweisheit, aber auch nicht mit Berufung auf eine alles eigene Denken ausschließende göttliche und menschliche Auctorität, sondern nur ,in Beweisung des Geistes und der Kraft‘ (1Kor. 2, 4) wird theoretisch und praktisch alle Glaubens- und Offenbarungswahrheit menschlichem Wissen und menschlicher Erkenntniß zugänglich werden können.“ (367f).
322
Zur Methode der Dogmatik
Christenthum als […] geoffenbarte Heilsreligion kann uns nur auf dem der Sache entsprechenden Erfahrungs- und Denkwege, d. h. gemäß dem Idealprincipe des Glaubens zum Gegenstande methodisch begründeten Wissens werden. (370)12
Auf ein näheres Eingehen auf §§21–23 verzichte ich. Von Oettingens weitere wissenschaftstheoretischen und methodologischen Überlegungen, seine eingehenden Reflexionen über die Natur- und Geisteswissenschaften unter Zurückweisung problematischer Auffassungen ihrer jeweiligen Art und ihres Verhältnisses, sowie des Eintretens für „ein freundliches Wechselverhältniß“ und der Bestimmung der Bedingungen dafür, explizieren den Horizont für die nähere Erfassung des Charakters der Theologie als Glaubenswissenschaft in ihrem Verhältnis zur Philosophie als universeller Geisteswissenschaft. Im Zuge der Klärung dieses Verhältnisses und im Interesse der näheren Herausarbeitung des methodischen Profils der Theologie kritisiert er mit Blick auf Geschichte und Gegenwart der Theologie verschiedenartige Entgegensetzungen von Philosophie und Theologie, aber auch sowohl „die unwürdige Abhängigkeit der Theologen vom jeweiligen philosophischen Standpunkt“ als auch „die ebenso unwürdige Herabsetzung der Philosophie zur ,Magd‘ […] der theologischen Dogmatik“ (404). Er erörtert, in welchem Sinn die beiden vielmehr als in einem „Verwandtschaftsverhältniß“ (411) stehend verstanden werden können, worin sie sich unterscheiden und er weist zum einen auf die Bedingungen hin, unter denen dieser „Unterschied beider Forschungsgebiete“ sich „zu einem feindlichen Gegensatz“ entwickeln kann, sowie zum anderen, wann ein „gegenseitige[r] und fruchtbare[r] Austausch“ möglich ist (412). Erstaunlicherweise hebt er hervor, dass beide „der empirischen Forschung der kritischen Analyse des Thatsächlichen“ bedürfen (403). Eigenart und Funktion der Dogmatik innerhalb der Theologie werden sodann breiter entfaltet. Trotz ihrer Einheit im Sinn ihrer prinzipiellen Perspektive, als wissenschaftlicher Selbstexplikation des Christentums, die „auf thatsächlichen, geschichtlichen, resp. heilsgeschichtlichen Voraussetzungen“ ruht (412), gliedert sich die Theologie in verschiedene Teilaufgaben und Spezialgebiete. Die kleine enzyklopädische Skizze der Disziplinen der Theologie in ihrem Verhältnis zur Dogmatik hebt mit Blick auf die Bibelforschung bzw. exegetischen Theologie und Kirchengeschichte u. a. hervor, wie sich die christliche Dogmatik
12 „So fordert auch der Gegenstand christlichen Glaubens (die Offenbarungswahrheit) den empfänglichen Innensinn [den Glauben], um die zunächst unmittelbare Gewißheit zu verständigem, mittheilbarem und methodisch beweisbarem Wissen zu erheben. […] [W]ie das im Einzlenen zu geschehen hat, um das erfahrungsmäßig gewonnene, auf dem Glauben ruhende Wissen zu einer in sich geschlossenen Wissenschaft auszugestalten, haben wir nunmehr weiter zu beleuchten“ (371).
Dogmatik als Glaubenswissenschaft
323
ohne stete lebendige Fühlung mit der offenbarungsmäßigen Grundlage und kirchlichen Entwickelung christlicher Glaubens- und Heilswahrheit [gar nicht denken, geschweige denn ausführen läßt] (416).
Das ist von Oettingen zufolge eine Konsequenz sowohl des Real- als auch des Idealprinzips der Dogmatik, weil auch dem Dogmatiker [d]er ,Christus für uns‘ als realer Heilsgrund [..] immer nur aus dem biblisch verbürgten, urchristlichen und urapostolischen Evangelium lebensvoll entgegen [tritt]. Und wo er in der Schrift und durch sie das ,Zeugniß des heiligen Geistes‘ in seinem Innern derart erlebt, daß jener ,Christus für uns‘ zu einem Christus in ihm wird, da wird er erst fähig, in das ideale Verständniß der zusammenhängenden Schriftwahrheit einzudringen. (416)
Gleichzeitig erläutert er, warum die Vorschläge die Dogmatik als biblische Wissenschaft oder historische Theologie zu verstehen, nicht richtig sind. Er entwickelt unter kritischer Berücksichtigung verschiedener vertretener Optionen sein Verständnis vom (Wechsel-)Verhältnis der Dogmatik zu den anderen systematischen Fächern. Apologetik und Polemik sind am besten als Dimensionen oder Elemente der Dogmatik anzusehen. Etwas näher beschreibt er das Verhältnis der Dogmatik zur Ethik (vgl. 419–422) – darauf gehe ich später noch genauer ein13 –; etwas knapper das zur praktischen Theologie. Der Gedankengang des ersten erkenntnistheoretischen bzw. methodologischen Kapitels endet mit einer Konkretisierung der Aufgabe und des Zweckes, sowie der Grenzen der Dogmatik. Diese leitet über zur Behandlung der Notwendigkeit und Berechtigung einer konfessionellen Ausprägung der Dogmatik im zweiten, dem zugleich letzten Kapitel. Sowohl in sachlicher als auch methodischer Hinsicht wird somit die Konfessionalität der Theologie, genauer : der Dogmatik, gründlich reflektiert. Solche Reflexionen über die Konfessionalität der Dogmatik befinden sich also jeweils am Ende der beiden Teile der Prinzipienlehre. Sie konkretisieren argumentativ die Möglichkeitsbedingungen dogmatischen Denkens und explizieren damit, unter welchen Voraussetzungen und Bestimmungen die ganze Prinzipienlehre entwickelt wurde. Der Ansatzpunkt für die Entwicklung des Real- bzw. Idealprinzips ist nicht ohne weiteres die Positivität der eigenen Konfession. (Wäre es so, könnte man von einem Konfessionalismus im Sinn eines Konfessionspositivismus oder eines konfessionellen Fundamentalismus reden.) Sehr wohl aber ist es ein Ziel des Nachdenkens, über die Bedingungen theologischer Arbeit – zu der auch die Konfessionalität gehört – aufzuklären und somit zu ihrem richtigen Verstehen beizutragen. Die Aufgabe der Dogmatik umreißt von Oettingen mit Blick auf den Einzel13 Vgl. unten Kap. 28.
324
Zur Methode der Dogmatik
nen und auf die Kirche (vgl. 422–426).14 In der Dogmatik – in der „systematischen Glaubenswissenschaft“ (423) – geht es nicht um einen Beweis der Wahrheit des Evangeliums,15 der den Glauben zu erzeugen oder den Unglauben zu überwinden hätte. Subjectiv, persönlich betrachtet ist und bleibt der Zweck der Dogmatik nur die Befriedigung des theoretischen und praktischen, intellectuellen und religiösen Bedürfnisses nach bewußter und methodischer Erfassung der erfahrungsmäßig angeeigneten Heilswahrheit des Evangeliums in ihrem inneren Zusammenhange und zur Begründung einheitlicher Weltanschauung. (424)
Der Schwerpunkt der Dogmatik liegt auf dem Verstehen der Wahrheit des Evangeliums,16 auf dem Verstehen des Gegenstandes des Glaubens in seiner Wahrheit. Der Glaube ist nicht das Ziel der Dogmatik, sondern vielmehr ihre Voraussetzung. In methodisch überlegter Weise hat sie die Aufgabe, den „Heilsgehalt des […] Evangeliums“ – „jenes reiche Erfahrungsgebiet“ – (systematisch) zu beschreiben und zu beleuchten (424). In der Passage, die ich oben zitiert habe, wird angegeben, dass die Dogmatik seinem zusammenhängenden Verständnis dienen soll. Ich interpretiere von Oettingen so, dass die Dogmatik das Christentum bzw. die Heilswahrheit zu einem „Lehrsystem“ transformieren, sie zu einer „Weltanschauung“ (422) verwandeln soll. Sie hat so einen Beitrag zum Verständnis und zur Klärung des Glaubens zu leisten. Obwohl der Begriff „Weltanschauung“ vielleicht etwas befremdlich klingt, verstehe ich ihn insbesondere als Hinweis auf eine höchst relevante Unterscheidung, die für das Verständnis vom Status der Dogmatik sehr wichtig ist. Man kann – wie es heute üblicher ist – auch vom „Wirklichkeitsverständnis“ reden.17 Auf jeden Fall handelt es sich aber um etwas, das nicht mit der Dogmatik zu identifizieren ist. Vielmehr ist es etwas, das im Glauben impliziert ist bzw. dem Glauben erscheint und zwar mit Blick darauf, wofür die Dogmatik eine systematische Explikationsleistung bzw. eine Begründung zu erbringen hat. Diese „Begründung“ besteht jedoch in nichts anderem als in einer systematischen Gesamtdarstellung, in einer systematischen Beschreibung und einer Behandlung der Grundaspekte der christlichen Religion. 14 Wie Schleiermacher oder Karl Barth versteht er Theologie und Dogmatik als Funktionen der – richtig verstandenen – Kirche bzw. ihrer Leitung. (Sie ist also nicht als [Macht-]Instrument der Kirchenleitung o. ä. zu verstehen.) 15 Von Oettingen spricht von der „gottmenschliche[n] Heilswahrheit“ (422), von „christlicher Heilswahrheit“ (423) oder der „Heilswahrheit des Evangeliums“ (424). 16 Von Oettingens Lutherische Dogmatik trägt in ihrem materiellen Teil den Untertitel System der christlichen Heilswahrheit. Ich erinnere an den Titel der Dogmatik des späteren Erlanger Theologen Paul Althaus – Die christliche Wahrheit (1947/1948). 17 Vgl. Härle/Herms, Rechtfertigung; Herms, Mit dem Rücken zur Wand?; Härle, Dogmatik.
Dogmatik als Glaubenswissenschaft
325
Ich verstehe von Oettingen so, dass die Dogmatik durchaus ein Verständnis vom Christentum bzw. der christlichen Weltanschauung bzw. der christlichen Heilswahrheit auch denen vermitteln kann, die diesen Glauben nicht teilen. Doch das Evidentwerden ihrer Wahrheit hängt von der Beteiligung an diesem Erfahrungsgebiet ab. Gemeingiltig und überzeugungskräftig kann sie [die Dogmatik – T.-A.P.] nur werden für jene […], welche geneigt sind, in jenen Erfahrungskreis einzutreten, den die Theologie des Kreuzes beschreibt. (424)
Die Dogmatik ist auf jeden Fall eine Theoriegestalt – ihre Systembildung ist eine Produktion bzw. ein Werk des Glaubens, aber nicht dieser Glaube selbst. Deshalb bejaht von Oettingen ausdrücklich auch Friedrich Nietzsches (1844–1900) Kritik gegen Systematiker im Sinn der Mahnung gegen die Gefahren auf dem Gebiet der Dogmatik – besonders der „Tendenzarbeit“ und des Bekehrenwollens – und bringt als Beispiel die „altorthodoxe[] theologia sacra“, sofern diese „ihre dogmatischen Sätze zur Heilsbedingung“ erhoben hat und damit „menschliche Denkarbeit mit dem Heilsgehalt des allein seligmachenden Evangeliums“ verwechselt hat (424). Die Dogmatik ist Verständnis- und Klärungshilfe hinsichtlich des Heilsgehaltes, aber nicht dieser selbst. Sie ist eine Anleitung zum Verstehen des Glaubens, aber kann nicht eine Transformation von Unglauben zu Glauben zum Ziel haben. Sie ist eine wissenschaftliche Begründung der im christlichen Glauben implizierten Weltanschauung gerade in dem Sinn, dass sie ihre einzelnen Aspekte im Zusammenhang darstellt und dadurch deren Stellenwert und Bedeutung ersichtlich macht. Sie beschreibt und beleuchtet das Einzelne im Zusammenhang und in Auseinandersetzung mit differierenden und gegensätzlichen Auffassungsweisen und Weltanschauungen. Durch die systematische Beschreibung und Klärung des christlichen Glaubens kann die Dogmatik dann „ein“ Instrument zur „persönlichen Glaubensfestigung“ sein (423). Die Art der Bezogenheit der Dogmatik auf den Glauben steht – wie von Oettingen in den vorangegangenen Paragraphen zu zeigen versuchte – nicht im Widerspruch zu ihrem Anspruch eine Wissenschaft zu sein. Auch bedeutet das nicht, dass die Dogmatik nur für Christen relevant sein kann. Für diejenigen, die den christlichen Glauben nicht teilen, vermittelt sie vor allem eine Vorstellung von dem Eigenverständnis des christlichen Glaubens. Sie kann dadurch dann auch eine Einladung zu eigener Erfahrung werden, zum Eintreten in das beschriebene „Erfahrungsgebiet“.18 18 Diese Wendung bedarf einer Erläuterung. Es ist nicht räumlich „jenseits“ dessen, was die Nicht-Christen erfahren vermögen; es ist auch nicht „ein“ Gebiet auf dem Gesamtfeld der Erfahrung. Vielmehr ist es die Weise, wie die Wirklichkeit vom Heil in Christus her bzw. vom christlichen Glauben her erfahren wird.
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Die methodische Eigenart und das Idealprinzip lutherischer Dogmatik
Hinsichtlich der „Förderung kirchlicher Glaubens- und Lehreinheit oder -reinheit“ und der „kirchlichen Lebensfunctionen der Gegenwart“ (423, 425) werden analog die Gefahren19 und Grenzen der Dogmatik deutlich gemacht, aber auch ihre notwendige Aufgabe klargestellt. „Dogmatismus und Systemsucht [haben] der kirchlichen Glaubens- und Lehrheinheit mehr geschadet als genützt“ (424). Diese Gefahr gilt es durch ein angemessenes Verständnis der Dogmatik zu vermeiden. Insbesondere darf hier nicht vergessen werden, dass das Glaubensleben, wie die kirchliche Glaubenseinheit […] nicht aus dem Dogma oder durch die allzeit uneinigen Dogmatiker, sondern aus dem Evangelium von Christo und durch Wirksamkeit des heiligen Geistes in Kraft der Gnadenmittel [erwächst] (424f).
Doch vermag sie eine wichtige Orientierungsleistung für die kirchlichen Lebensfunktionen zu erbringen, indem sie durch die Verständigung über die Lehre, „über den wesentlichen Inhalt des […] Lehrbegriffs“, sowie über dessen Status – sie ist nicht selbst die kirchliche Lehre! – der sachlichen Orientierungsund Kritikfähigkeit auf dem mannigfaltigen Gebiet kirchlicher Praxis im Kontext der Zeit, zur selbständigen Urteilsfähigkeit „über die vorliegenden Probleme“ beiträgt (426).20 Das bedeutet allgemeiner formuliert, dass sie „die entscheidenden Gesichtspunkte für die fortschreitende Bekenntnißbildung und kirchliche Lehrwirksamkeit darzubieten“ hat (427).
22.
Die methodische Eigenart und das Idealprinzip lutherischer Dogmatik
Die kürzere zweite Hälfte der dogmatischen Erkenntnistheorie kommt einführend1 erneut auf die Notwendigkeit und Berechtigung des kirchlichen bzw. kirchlich-konfessionellen Charakters der Dogmatik zurück und konzentriert sich dann in methodischer Hinsicht auf die Herausarbeitung und Rechtfertigung der Eigenart der lutherischen Dogmatik. Wenn auch das Ignorieren einer persönlichen Bezogenheit auf die kirchliche Gemeinschaft höchst problematisch – und für einen Theologen des Kreuzes eigentlich undenkbar und undurchführbar2 – sei, gebe es sehr wohl auch die
19 Er greift die Kritik Nietzsches als eine zu beachtende Mahnung auf. 20 Sie dient der gegenwärtigen Urteilsfähigkeit, aber „[d]ie innere Kraft und den praktischen Erfolg kann die Dogmatik weder geben noch sichern“ (426). 1 428–432, vgl. 189–193, 292–315. Im Rahmen dieses Kapitels verweise ich auf die Hauptquelle (1897a) nur mit einer Seitenzahl. 2 Vgl. oben Kap. 12. Die Arbeit des Dogmatikers setzt also seinen Bezug auf den Gegenstand – die erfahrungsmäßig zustandegekommene Einsicht in die Wahrheit des Evangeliums – vor-
Die methodische Eigenart und das Idealprinzip lutherischer Dogmatik
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Gefahr „eine[r] äußerliche[n], unfrei machende[n] Kirchlichkeit“ (429), einer „starren Kirchlichkeit im Sinne [einer] hierarchischen Auctoritätstendenz“ (432). Von Oettingen wiederholt, unter welchen Bedingungen diese Gefahr zur Wirklichkeit wird und die berechtigte Konfessionalität zum Konfessionalismus, zu einem „intoleranten Parteieifer“. Die Dogmatik mutiert so zur „kirchlichen Tendenzarbeit“ und verliert ihren ökumenischen, aber auch wissenschaftlichen Sinn (ibid.). Die andere Gefahr liege jedoch eben in einem „kirchlichen Indifferentismus“, einer tendenziellen Entgegensetzung von „christlich“ und „kirchlich“. Dieser kann verschiedenartig motiviert sein, erweist sich jedoch bei näherem Hinsehen und bei der richtigen Auffassung des Wechselverhältnisses von Personalem und Sozialem im Christentum als weder praktisch noch wissenschaftlich haltbar. Eine die angedeuteten Gefahren vermeidende lutherische Dogmatik, wie sie sich von Oettingen methodisch vorstellt, geht davon aus, dass das Luthertum nur dann „gesund“ sei und zu keiner „Parteipolitik“ werde, wenn es „eins geworden [ist] mit gesund evangelischem Bewußtsein“ (ibid.). Es geht also nicht um die „Lehre Luthers, als dieses Mannes“, so wie auch Luther von der Berufung auf seinen Namen „für christlich-evangelische und kirchliche Glaubensüberzeugung“ nichts wissen wollte und „lutherisch“ vielmehr von seinen Gegnern und ihm „zum Schmach“ – als „Schimpfname[]“ – verwendet worden sei (432f). Wir aber wollen ihn [i. e. diesen Schimpfnamen – T.-A.P.] dadurch zu Ehren bringen, daß wir in Luthers Sinn, sofern in ihm Christi Sinn lebendig war und die ,Freiheit eines Christenmenschen‘ Fleisch und Blut gewann, einer wahrhaften ,Theologie des Kreuzes‘ die Bahn ebnen. (433)
Hier dürfte m. E. ein höchst wichtiger Hinweis darauf liegen, warum von Oettingen sich seit 1859 um eine Etablierung und Anerkennung der „Theologie des Kreuzes“ als des zentralen theologischen Leitbegriffes bemüht. Dies lässt sich nicht zuletzt als Anzeige einer Vermeidungs- bzw. Überwindungsstrategie (für die Gefahr und Wirklichkeit) des Konfessionalismus (auch innerhalb der Theologie und Kirche seiner Gegenwart) von Seiten eines kirchlichen bzw. kirchlich-konfessionellen Theologen auffassen. Ich unterstreiche: Dogmatik soll nicht „Luthers Theologie“, auch keine „Theologie der Bekenntnisschriften“, auch keine Repristination der „alten Dogmatik“ des 17. Jh. bieten, sondern zu einer „Theologie des Kreuzes“ werden. Wenn eine lutherische Dogmatik methodisch eine Theologie des Kreuzes sein soll – was ist dafür entscheidend? Durch welche methodische Perspektive sollen
aus. Wobei das Zustandekommen dieses Gegenstandsbezuges immer eine Bezogenheit auf die kirchliche Gemeinschaft impliziert.
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Die methodische Eigenart und das Idealprinzip lutherischer Dogmatik
sich eine Theologie des Kreuzes und eine kreuzestheologische Dogmatik auszeichnen? Auf welchem Weg soll man gehen?3 So wie eine fragwürdige Kirchlichkeit und ein Konfessionalismus, so sei hier auch ein Biblizismus zu vermeiden. Von Oettingen verweist kritisch auf „so manche“ „[i]m positiv kirchlichen Lager“, die „in dem Irrwahn, genuin lutherisch zu sein“ den „Gesichtspunkt ,reiner Biblicität‘ […] in den Vordergrund stellen wollen“, und auf die Meinung, entgegen der „römischen Menschensatzung und papistischen Infallibilitätsdoctrin“ sei „das ,alleinige, unfehlbare Gotteswort‘“ zur Fahne zu erheben, der auch in der Begründung und Ausführung der Dogmatik unbedingt zu folgen sei (433).4 Eben dadurch stehe man in Entsprechung zum „Formalprincip“ der sola scriptura. Von Oettingen erinnert daran, dass diese Bezeichnung erst im 19. Jh. aufgekommen ist und argumentiert, dass dieser Name und die dahinterstehende Auffassung mit Blick auf „das protestantische Erkenntnißprincip der Dogmatik“ nicht unbedenklich, sich einem Formalismus zuneigend, sind (434). Der wahre Charakter der Heiligen Schrift werde nur zu leicht verkannt und – durchaus unlutherisch, unevangelisch, ja „unchristlich, d. h. wider den Sinn und Geist Christ“ – mutiere die Bibel zu einem unfehlbaren „Gesetzescodex für dogmatische Systemreiter, die schließlich das alleinseligmachende Christentum selbst zu codificiren unternehmen und ihren Biblicismus nur als sicherndes Aushängeschild dazu benutzen“ (ibid.). Luther war es, der von dem Boden seiner persönlichen Heilserfahrung aus, nachdem er, in Christo der Sündenvergebung gewiß geworden, ,einen gnädigen Gott gekriegt‘ hatte, auch den wahren Schlüssel für Schriftverständniß und Schriftwerverthung gefunden […]. Gemäß seiner ,Theologie des Kreuzes‘ drang er ein in die Tiefen der Schrift. Denn eben dadurch, daß sie ,Christum treiben‘, wurden ihm die einzelnen biblischen Schriften kanonisch und als solche einführend in das Verständniß der Heilswahrheit. Oder – um der hergebrachten Ausdrucksweise mich anzupassen – durch das Materialprincip wurde ihm das Formalprincip lebendig und fruchtbar. Durch den articulus stantis et cadentis ecclesiae bahnte sich das Lutherthum den Weg zum Verständniß des urchristlichen, urapostolischen Evangeliums und seiner urkundlichen Bezeugung im Neuen Testament auf Grund alttestamentlicher Voraussetzungen. (435)
3 Die Überlegungen zur Methode sind m. E. auch so zu verstehen, dass die vorangegange Gedankenentwicklung eigentlich schon mit einer methodologischen Vorstellung von Theologie und Kirche im Sinn der theologia crucis operiert. Nun werden sie expliziert. 4 „Mit solchen Panier siegen wollen, die Bibel als ,infalliblen‘ Gesetzescodex vorauftragen, hieße mehr dem reformirten oder methodistischen Biblicismus huldigen als dem gesund evangelischen Lutherthum. Auch von dem ,papiernen Papste‘, wie man mit Hinweis auf orthodoxistische Infallibilitäts- und Sicherheitsdoctrin den Bibelcodex bezeichnet hat, sollen wir uns hüten.“ (433).
Die methodische Eigenart und das Idealprinzip lutherischer Dogmatik
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Ich habe den Wortlaut ausführlicher abgedruckt, weil darin in nuce deutlich wird, warum von Oettingen zufolge „die dogmatische Begründung lutherischer Glaubenslehre“ in methodischer Hinsicht weder auf „das ,Es steht geschrieben‘ oder : ,die infallible heilige Schrift sagt es‘“ noch auf „das auctoritativ hingestellte kirchliche Bekenntnißwort oder maßgebende oder gar infallible Schriftdeutung“ appellieren kann bzw. soll (ibid.). Entscheidend sei für die lutherische Dogmatik das sog. Materialprinzip (und hier liege auch der hermeneutische Schlüssel für das Schriftverständnis). Darin lassen sich jedoch zwei innerlich zusammenhängende Seiten unterscheiden: „[d]ie christocentrische Heilsthatsache […] wie er in persönlicher Heilserfahrung […] sich trostreich und lebenskräftig erwiesen hat […] ist, in lebendiger, inniger Verknüpfung des realen und idealen (objectiven und subjectiven) Moments der gesund lutherische Hebelpunkt für alle dogmatisch überzeugende Argumentation.“ (436) Also: In der Heilserfahrung des begnadigten Sünders sind […] beide, Christus und der Christ, eins geworden. Und die innere Verknüpfung jener beiden Principien, des christologischen und pneumatologischen, wenn wir so sagen dürfen, ist das schwierige aber auch reizvolle und fruchtbare Problem in der methodischen Durchführung lutherischer Dogmatik. (437)5
Verfahrensmäßig ist alles, was in der Dogmatik gesagt werden soll, „auf diese beiden, sich gegenseitig bedingenden Brennpunkte evangelischen Christenthums“ zu beziehen (437). Dogmatische Aussagen – genauer : „dogmatisch wahr und systematisch klar“ – sind solche, die als Voraussetzungen bzw. Implikate in einem durchsichtigen Zusammenhang mit „Christus für uns“ („dem genuin lutherischen Grundsatz: ,allein aus Gnaden‘“) und „Christus in uns“ („dem echt evangelischen Gedanken: ,allein durch den Glauben‘“) stehen (436, 441). Von Oettingen ist der Ansicht, dass gerade so die Dogmatik methodisch mit dem Grundartikel des Glaubens der lutherischen Kirche in Übereinstimmung steht. Noch mehr : Erst eine derartige doppelte Explikation der Rechtfertigungslehre macht diese „verständlich“ und hilft, sowohl ihre objektivistische als auch subjektivistische „Mißdeutung“ zu vermeiden (437). Er antwortet auf mögliche Bedenken gegen seinen Vorschlag, die dogmatische Darstellung und Argumentation solle im evangelisch-lutherischen Sinn im Ausgang von der Heilserfahrung („Christus in uns“) erfolgen, indem er das 5 „Beide stehen in engster Wechselwirkung, indem Christus, der gottmenschliche Versöhner, uns nur dadurch zu wirklichem und wirksamen persönlichen Eigenthum, zum Christum in uns wird, daß der heilige Geist, als Geist des verklärten Jesus, in uns durch das Evangelium persönlich bezeugt und im Glauben auf Grund der Gnadenmittel (Wort und Taufe) persönlich zu eigen macht.“ (426f) „Die lebendige, organische Verknüpfung beider ist der fruchtbringende Nährboden für die systematische Entwickelung und zusammenhängende Bergründung der christlichen Heilswahrheit als einer in Christo geoffenbarten, in der Christenheit kirchlich überlieferten und dem Christen persönlich durch den heiligen Geist bezeugten.“ (441).
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Die methodische Eigenart und das Idealprinzip lutherischer Dogmatik
Verhältnis vom Heil in Christus als (christozentrischem) Realprinzip und dem Glauben an Christus als (pneumatozentrischem) Idealprinzip näher ins Auge fasst (vgl. 437–441). Die Methode lasse sich einerseits als induktiv-empirisch bzw. induktiv-analytisch, andererseits als deduktiv-synthetisch bzw. systematisch-deduktiv charakterisieren. Ein lutherischer Dogmatiker bzw. eine lutherische Dogmatikerin soll also methodisch von der eigenen Glaubens- und Heilserfahrung ausgehend, durch deren Analyse den Glaubensinhalt bzw. den „tröstreiche[n] Heilsgehalt der Einzellehren“ so darlegen, dass „die christliche Heilswahrheit als eine das menschliche Heilsbedürfniß allseitig befriedigende und der menschlichen Heilsfähigkeit und Heilsbestimmung entsprechende“ sichtbar wird (441). Zugleich hat er bzw. sie aber „[a]us jenem Realprincip heraus, dem eben nur in gläubiger Heilserfahrung erfaßbaren Christus für uns […], eine systematische Deduction“ zu versuchen, „die der Theologie des Kreuzes im Sinne Luthers entspricht“, d. h. er bzw. sie hat „auf das verursachende christo- und theocentrische Princip des Heils“ zurückzugehen und von da aus „die gesammte Tragweite [der] seligmachenden Heilswahrheit“ im Zusammenhang „als christliches Lehrsystem und als […] christliche Weltanschauung“ herauszuarbeiten und darzustellen (442, vgl. 447).6 Die Analyse aus der Heilserfahrung heraus entspricht methodisch mehr jenem empirisch-inductiven Verfahren (s. o. 374ff.); die Synthese auf Grund der christocentrischen Heilswirklichkeit in gewissem Sinne dem speculativ-deductiven Denkwege, nur daß wir dann Speculation und Deduction nicht nach Art der hypothetischen Combination [z. B. gegen W. Pannenberg – T.-A.P.] oder metaphysischen (aprioristischen) Verstandesconstruction [z. B. gegen Kant, Hegel etc. – T.-A.P.] uns vorzustellen haben, sondern als nachdenkende Vertiefung in die Offenbarungsmetaphysik, d. h. in den gottmenschlichen Realgrund des Heils, wie er durch das fleischgewordene Wort und durch den wortgewordenen Geist unserer Glaubenserfahrung zugänglich geworden [ist] (442f).
In meiner Interpretation ist also die „Theologie des Kreuzes“ bei von Oettingen sowohl als ein Sach-, als auch ein Erkenntnisprinzip zu verstehen. Ich werde darauf zurückkommen,7 warum und wie gerade „den positiv oder kirchlich gesinnten lutherischen Dogmatiker“ – also: einen Theologen des Kreuzes – ein Bewusstsein von „der Bedingtheit und Beschränktheit seines Wissens und so auch des Stückwerkartigen seiner systematischen Argumentation“ stets begleiten sollte (443). Obwohl mit der „analytisch-synthetischen Darlegung der systematisch ge6 An dieser Stelle befindet sich auch eine skizzenhafte Übersicht über den Inhalt und die Struktur der Dogmatik (vgl. 441f). 7 Vgl. unten Kap. 26.
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gliederten Heilswahrheit aus der persönlichen Heilserfahrung heraus und auf dem Grunde der christocentrischen Heilsrealität […] zwar das eigentliche Geschäft des Dogmatikers erledigt“ sei – es gehört „wesentlich und nothwendig“ dazu nichts Weiteres –, ist schon deshalb, aber auch durch weitere Überlegungen die Anfügung eines „ergänzende[n] und erprobende[n] Controlverfahren[s]“ wohl begründet und sogar erforderlich (443f). Höchst wichtig dabei ist jedoch dessen Status. Eine Erprobung und Prüfung, sei es an der Schrift oder an der Kirchenlehre bzw. an dem kirchlichen Konsensus, darf nicht so verstanden werden, als ob „es sich hier erst um den entscheidenden Wahrheitsnachweis im Sinne auctoritativer Verbürgung der entwickelten Glaubenssätze“ handelt (vgl. 444). Damit stellt die Methode der lutherischen Dogmatik einen Gegensatz zum abstrakten und autoritativen Infallibilitätsdenken dar, dass sowohl einem kirchlichen bzw. papistischen Traditionalismus als auch einem unkirchlich-sektiererischen Biblizismus zu Grunde liegt. Gegenüber diesen Gefahren deutet von Oettingen an, wie Schrift und Kirchenlehre, aber auch der sog. unkirchliche oder außerkirchliche Dissens, einzubeziehen und zu berücksichtigen sind (vgl. 443–446, 455–460). Der letzte Paragraph verläuft mit dem Vorangegangenen strukturell parallel, das dort Dargelegte konkretisierend und erhellend. Während ersterer das Verständnis des Idealprinzips aus lutherischer bzw. kreuzestheologischer Sicht und somit die spezifische Eigenart dogmatischer Argumentation herausgearbeitet hat, geht es jetzt um die methodische Durchführung und Architektonik der Dogmatik im lutherischen bzw. kreuzestheologischen Sinn. Es geht um die spezifisch kreuzestheologische dogmatische Methode, um die spezifische Art ihrer Plausibilität bzw. Überzeugungskraft und um den kreuzestheologischen Aufbau der Dogmatik. Von Oettingen profiliert und verdeutlicht die Art und Berechtigung der lutherischen Dogmatik anhand einer konfessionstypologischen Skizze.8 Die lutherische bzw. kreuzestheologische Dogmatik zeichnet sich nicht nur durch die methodische Verknüpfung ihrer beiden Prinzipien aus, sondern, damit eng zusammenhängend, „auch durch den sachlichen Gesichtspunkt und persönlichen Hintergrund“ (448). Was den sachlichen Gesichtspunkt betrifft, wird die dogmatische Durchführung, sofern sie auf dem christozentrischen Realprinzip basiert, von der „confessionell verschieden ausgeprägte[n] Verhältnißbestimmung des Göttlichen und Menschlichen bedingt sein“ (ibid.). Deren jeweilige Verhältnisbestimmung wirkt aber ihrerseits zurück „auf die Art und das Maß der erfahrungsmäßigen Heilsgewißheit des dogmatisirenden Subjects“ (ibid.).9 8 Vgl. unten Kap. 27. 9 Von Oettingen operiert mit der Vorstellung eines „Grundgedankens“ bzw. einer „Grundan-
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Einfacher formuliert: Die Auffassung des Verhältnisses von Göttlichem und Menschlichem bedinge die Art und Weise, in der bzw. ob überhaupt von einer Gewissheit des Heils gesprochen werden kann. Von Oettingen denkt also, dass eine Dogmatik, sofern in ihr der wesentlichen Gemeinschaftsbezogenheit des Glaubens Rechnung getragen wird, durch „de[n] confessionelle[n] Typus“ der jeweiligen Kirche bedingt ist. Dieser Typus hängt – aus der lutherischen Sicht (von Oettingens) – grundlegend davon ab, wie das Verhältnis des Menschlichen und Göttlichen (in der Person Christi) wahrgenommen wird. Die „Theologie des Kreuzes“ funktioniert insofern als Kennzeichen für einen spezifischen Typus, wie jene Grundrelation und ihre Zugänglichkeit verstanden wird. Der lutherische Dogmatiker habe das christozentrisch-soteriologische Realprinzip in der Dogmatik so durchzuführen, wie es durch Gottes befreiende und geordnete Gnadenwirkung des heil. Geistes Gegenstand seiner trostreichen Heilserfahrung und persönlicher Heilsgewißheit im rechtfertigenden Glauben geworden ist (463f).
Der konfessionelle Typus der römischen (und byzantinischen)10 Kirche sei stets durch die Betonung des Göttlichen auf Kosten des Menschlichen bzw. durch deren monophysitische Vermischung gefährdet.11 Das zeige sich u. a. im eigentümlichen Verständnis der Messe, der Autorität, der Kirche, des geistlichen Amtes etc. Im Vergleich zu einer derartigen „Gottgleichheitstendenz“ und ihrer „Theologie der Ehren“ sei die im Sinn der „Theologie des Kreuzes“ auszuführende (lutherische) Dogmatik „wesentlich anders“ orientiert.12 Von Oettingen schauung“ sowohl in real-sachlicher, als auch ideal-erkenntnismäßiger Hinsicht, wodurch sich die Konfessionstypen christlicher Religion unterscheiden. Aus lutherischer Sicht soll die christliche Dogmatik christozentrisch-soteriologisch sein (vgl. 450). Sie soll sich also durch eine derartige sachliche Orientierung auszeichnen. Und dieser zentralen Sacheinsicht entspricht aus lutherischer Sicht auch die Einsicht darüber, worin der Grundgedanke des Idealprinzips besteht. 10 Von Oettingen verwendet den Begriff „orthodox“ nicht als Bezeichnung eines konfessionellen Typus. 11 Es herrsche die Tendenz „alles Irdische, alles Menschliche, alles Kirchliche, alles Sacramentale, wo es im Dienste des Göttlichen gedacht oder thatsächlich ihm unterstellt Worde, gleichsam mit der magisch wirkenden Aureole des wesentlich Göttlichen zu umkleiden“ (448). 12 Sowohl der Heilsvermittler als auch die Heilsvermittlung wird ganz anders verstanden: „Nicht Verwandlung des Creatürlichen in schlechthin Göttliches, nicht Apotheose des Menschlichen, nicht doxologische Verherrlichung des Irdischen ist ihr Grundgedanke und ihr Realprincip, sondern heilwirkende und heilskräftige Herablassung göttlicher Liebe zum Menschlichen, Versenkung ins Creatürliche, innergeschichtliche Bezeugung des Uebergeschichtlichen, zeiträumliche Selbstbeschränkung des Ewigen, ja Selbsterniedrigung bis zum Tode am Kreuz, um durchs Kreuz zur Krone zu dringen. Die menschgewordene Liebe […] gewährleistet [dem Sünder] […] innerhalb der durch den Gottmenschen erlösten Reichsgemeinde die Gewißheit der aus Gnaden ihm zugesprochenen und durch das Sacrament ihm
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profiliert das Real- und Idealprinzip der lutherischen Dogmatik mit Blick auf die diesbezüglichen Grundanschauungen anderer Konfessionstypen. Er zeigt wie der lutherischen Anschauung zufolge „die persönliche trostreiche Glaubenszuversicht durch den christologischen und soteriologischen Hintergrund […] gewährleistet [ist]“ (449).13 Der Grundgedanke14 des durch von Oettingen entwickelten Idealprinzips wird konfrontiert mit „der katholisierenden Grundanschauung“, die statt der persönlichen Heilsgewissheit eine falsche Sicherheit fördere (449f). Zugleich habe „die im christocentrisch-soteriologischen Sinne ausgeführte evangelisch-lutherische Dogmatik“ „bei der methodischen Ausführung des Gesammtsystems und der Einzellehren“ stets sowohl in sachlicher als auch persönlicher Hinsicht, i. e. sowohl mit Blick auf das Realprinzip als auch auf das Idealprinzip, die Differenz zur reformierten Grundanschauung zu berücksichtigen. Von Oettingen betont hier „mit Freudigkeit […] die confessionelle Verwandschaft im evangelischen Sinne“15, insistiert jedoch auf „de[n] für den methodischen Aufbau der Dogmatik höchst wichtige[n] und bedeutsame[n] Unterschied“: In der methodischen Durchführung unserer ,Theologie des Kreuzes‘ wird es zu Tage treten, wie und warum wir jener reformirten Scheu vor Herabziehung des Göttlichen ins Endliche um unseres Real- und Idealprincips willen entgegentreten müssen. (450)
Eine Dogmatik als „Theologie des Kreuzes“ habe also sich dieser Gefahr einer abstrakten Verhältnisbestimmung des Göttlichen und Menschlichen, der Neigung zu deren Trennung, sowie der entsprechenden Gefährdung der Heilserfahrung und der Heilsgewissheit bewusst zu sein.16 Von Oettingen skizziert exemplarisch (problematische) Konsequenzen, die eine solche Anschauung für die Durchführung einer Dogmatik hat (vgl. 451f).
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persönlich versiegelten Sündenvergebung. Sie versetzt ihn dadurch in beseligendes Kindschaftsverhältniß. Dieses Kindschaftsverhältniß kennzeichnet sich durch die selbstlose Empfänglichkeit des unbedingt vertrauenden Glaubens. Und aus der Glaubenserfahrung heraus wird die gottgeschenkte Geisteskraft eines kampf- und siegreichen Heiligungslebens stets vom Neuen herausgeboren.“ (449). Vgl. unten Kap. 30. „[D]ie Heilserfahrung durch Sündenvergebung aus Gnaden allein um Christi willen und die volle persönliche Heilsgewißheit im Glauben durch Zusage seines Wortes“ (449). In dieser Formulierung wird die Grundrelation von „Glaube und Wort“ bzw. „Wort und Glaube“ gut deutlich (vgl. oben Kap. 12, Kap. 14.3). „Wir wissen uns mit den mannigfach gefärbten Vertretern der calvinisch, zwinglisch, unionistisch, anglicanisch, methodistisch gefärbten ,evangelischen‘ Richtungen eins in dem articulus stantis et cadentis ecclesiae“ (450). „Das Menschliche kann im Grunde gar nicht vom Göttlichen durchdrungen werden; finitum non est capax infiniti. Und umgekehrt, auch für das Infinitum in seiner jenseitigen Herrlichkeit und Absolutheit erscheint die Schranke in Raum und Zeit nicht möglich.“ (451) Vgl. z. B. Karl Barths Kritik gegen „capax est“ und „est“ in: K. Barth, Das Wort Gottes.
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Die methodische Eigenart und das Idealprinzip lutherischer Dogmatik
Der lutherische Dogmatiker (bzw. die lutherische Dogmatikerin) hält stets den „beseligende[n] Trostreichthum der auf Heilserfahrung ruhenden persönliche[n] Heilsgewißheit des lutherisch-gesinnten Christen“ im Blick (insofern geht es in der Dogmatik um den Trost und die Seligkeit – um das, was innerlich aufbaut und Kraft gibt), wenn er seine ihre „Theologie des Kreuzes“ entfaltet. Er berücksichtigt es durch die methodische Weise, in welcher er das, was in der Dogmatik sachlich gesagt werden soll, begründet. Durch die dogmatische Darlegung bzw. Begründung, die somit einen sachlich-persönlichen Charakter trägt, nimmt die Überzeugungskraft des beseligenden Trostes des Glaubens zu. Die (innere) Überzeugungskraft der Darstellung einzelner Glaubenslehren „im organischen Zusammenhang [der] christlichen Heilswahrheit“ (464) hängt vor allem an dem „Nachweis ihres gliedlichen (organischen) Zusammenhangs mit dem Heilsprincip in Christo und mit der Heilserfahrung der Christen“ (453).17 Dagegen gehören der Nachweis biblischer Korrektheit, die Darlegung des kirchlichen Konsensus, die Widerlegung gegnerischer Anschauung etc. „zum historischen Beiwerk, zum gelehrten Controlapparat des lutherischen Dogmatikers“ (452). So hängt in der That – gemäß dem Idealprincip – das persönliche ,Werthurteil‘ über die einzelnen Lehrbestimmungen für den evangelisch-lutherischen Dogmatiker aufs engste zusammen mit jenem sachlichen Seinsurtheil, wie es im Realprincip begründet liegt. Alles Einzelne muß sich um die centrale Heilsfrage bewegen, die einerseits – persönlich, subjectiv und menschlich angesehen – eine Trostfrage, eine Seligkeitsfrage ist; andererseits – sachlich, objectiv und vom göttlichen Standpunkt betrachtet – als eine Wahrheitsfrage, als eine Lebensfrage erscheint, bei der es sich in der That um ,Sein oder Nichtsein‘ handelt. So wird alles das, was wir früher (§15ff) als charakteristisch und wesentlich für das Christenthum als die Heilsreligion erkannt und principiell entwickelt haben, nunmehr im Lichte unseres Idealprincips (der Heilserfahrung) von selbst architektonisch so sich gliedern, wie es der Sache entspricht. (453)
Der erste Teil der lutherischen Dogmatik ist mehr anthropologisch orientiert und die dogmatische Argumentation hat zu ihrem „Anküpfungspunkt […] das menschliche Heils- oder Trostbedürfniß“ (454). Sie stellt „die erlösungsbedürftige Menschheit gegenüber dem Gott“ dar, „der als schöpferischer Urquell ihres Heils sowohl ihre Heilsfähigkeit, als ihre Heilsbedürftigkeit und Heilsbestim17 „In d[e]r thatsächlichen (realen) Beziehung zum pulsirenden Herzen des Ganzen (dem Christus für uns), und in diesem erfahrungsmäßigen (idealen) Zusammenhange mit dem Blutumlauf in den Einzelgliedern (dem Christus in uns) liegt [die] Lebensfähigkeit und [der] fundamentale[] Werth“ einzelner Glaubensätze (453). Wenn der Zusammenhang eines (angeblichen) Glaubenssatzes mit dem Real- und Idealprinzip (sola grata, sola fide) nicht durchsichtig gemacht werden kann, handelt es sich aus dogmatischer Sicht um etwas, was – um „d[er] gesunde[n] Entwickelung des Gesammtorganismus“ willen – eigentlich nicht zur Heilswahrheit und damit in die Dogmatik gehört (ibid.).
Die methodische Eigenart und das Idealprinzip lutherischer Dogmatik
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mung bedingt“ (453). Der zweite Teil orientiert sich mehr christologisch und pneumatologisch auf „das erlösungskräftige Thun Gottes […], um die Heilsverwirklichung […] zur Darstellung zu bringen“ (454).18 Um „die Gefahr einer rein subjectivistischen Darstellung“ zu vermeiden, wird allerdings der lutherische Dogmatiker seine „freie[] Gedankenentwickelung aus dem gewonnenen Real- und Idealprincip“ (458), seine „positiv-lehrhafte Entwickelung und zusammenhängende systematische Begründung d[e]r reichgegliederten Heilswahrheit“ einem dreifachen Kontrollverfahren unterziehen, d. h. er knüpft auch „an die biblischen und historischen Discipline[n]“ an und „weiß […] sich in stetem Zusammenhange mit den kirchlichen Lehrinteressen, mit der ethischen und praktischen Lebenbewährung der christlichen Gemeinde und – last not least – mit der gesammten geistigen Bewegung der Gegenwart“ (454f). Was das genauer heißt, insbesondere wie die Schrift in ihrem Verhältnis auf die kirchliche Lehr- und Bekenntnistradition in der Dogmatik zu verwenden ist, und wie mit dem Dissens umzugehen ist, erklärt er in kritischer Auseinandersetzung mit neuerer Dogmatik (455–460). Schließlich behandelt von Oettingen noch die Frage nach dem architektonischen Aufbau der Dogmatik mit konkretem Blick auf die vorliegenden älteren und jüngeren Beispiele (460–463). Welche Architektonik entspricht der „Theologie des Kreuzes“? Welcher Aufbau ist folgerichtig unter Berücksichtigung des entwickelten Real- und Idealprinzips? Er zeigt, warum die Pole der Alternative bzw. des Gegensatzes zwischen einer Anordnung des Materials entweder „von Oben“ oder „von Unten“, einseitig theologisch oder einseitig anthropologisch, sowohl der Ausgang also von einem „absoluten“ oder auch trinitarischen Gottesbegriff, als auch von einer „Welt- und Menschheitsidee“, in vielerlei Hinsicht bedenklich sind. Von Oettingen ist der Ansicht, dass die Dogmatik, wenn sie dem herausgearbeiteten Real- und Idealprinzip treu ist, „soteriologisch oder christocentrisch“ zu gestalten und aufzubauen ist.19 Dies bedeutet nicht, dass „den Grund- und Eckstein“ der Dogmatik der aus den urkundlichen Quellen zu rekonstruierende und näher zu beschreibende sog. geschichtliche Christus bildet. Für die Dogmatik handelt es sich vielmehr um den ,Christus für uns‘, wie er im Glaubensbewußtsein der Reichsgemeinde und im gläubigen Selbstbewußtsein des einzelnen wiedergeborenen Christen als der ,Christus in uns‘ lebt und wirkt, uns unsere Gotteskindschaft und persönliche Heilsgewißheit durch erfahrene Sündenvergebung kraft des heiligen Geistes im Gnadenwort versiegelt hat und fort und fort im Gewissen bezeugt. Der Eck- und Grundstein des ganzen dogmatischen Gebäudes ist also nicht ein blos gedachter oder idealer Christus im Gegensatz zum historischen oder wirklichen der 18 Siehe die Übersicht 453f. 19 Vgl. unten Kap. 29.
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Die methodische Eigenart und das Idealprinzip lutherischer Dogmatik
Evangelien. Nein, der biblisch bezeugte, durch seinen Geist in der Kirche wirksame und durch die Gnadenmittel ihr geistleiblich innewohnende Christus ist es, den wir im Glauben als den einigen Grund unsrer Heilserfahrung und Heilszuversicht erfaßt haben und nun auch als den Eckstein unseres Lehrgebäudes (vgl. 1 Kor. 3, 11) zu vollem Verständniß auf dem Wege systematischen Ausbaues der Heilswahrheit zu bringen suchen wollen. (462)20
Den Prüfstein dafür, ob von Oettingens Versuch Dogmatik christozentrisch und deshalb auch antropozentrisch aufzubauen „wirklich dem evangelischen und biblischen Grundgedanken des allein Heil schaffenden Gottes gemäß“ ist, also das Beurteilungskriterium, wie gelungen der Aufbau ist, sieht er selbst darin, inwiefern die Dogmatik „den heilspädagogischen Offenbarungswegen Gottes entspricht“ (463). Von Oettingen hat einen höchst originellen Schritt gewagt und seinem System der christlichen Heilswahrheit auch eine graphische Darstellung gegeben – hat also seine „Lehrgebäude“ in die Gestalt eines „Lehrbildes“ gebracht.21 Dadurch soll sichtbar werden, dass er mit der Darlegung der Heilsbedingungen und der Heilsverwirklichung „nur den durch die biblisch bezeugte Heilspädagogie Gottes geebneten Spuren“ folgt, wie sie abzielen auf das ,Gott geoffenbart im Fleisch‘, auf die ,Hütte Gottes bei den Menschen‘, die für uns schlichte lutherische Christen durch das Kreuz gekennzeichnet ist. Die herablassende Selbstbeschränkung und mitleidende Liebe, die der väterliche Gott des Heils uns in seinem menschgewordenen Sohne bewiesen, um uns durch seinen heiligen Geist zu Gotteskindern in seinem Reich neu zu gestalten, bildet den rothen Faden in unserem ganzen dogmatischen Gewebe. (463)
Ich erinnere daran, dass von Oettingen in seinem Beitrag zur Pneumatologie22 die Selbstbeschränkung Gottes als den roten Faden in der Bibel charakterisiert 20 Nach eigenem Urteil von Oettingens hat diesen Standpunkt die christologisch orientierte Glaubenslehre (Christi Person und Werk. Darstellung der evangelisch-lutherischen Dogmatik vom Mittelpunkte der Christologie aus, 1852–1861, 3. Auflage 1886–1888) von Gottfried Thomasius (1802–1875) „am genuinsten […] durchzuführen“ versucht, obwohl diese nicht deutlich genug mache, dass zwar das Fundament der lutherischen Dogmatik in dem christozentrischen Realprinzip, jedoch „die aufbauende Kraft […] in dem Idealprincip des erfahrungsmäßigen Heilsglaubens“ liege, d. h. „daß der für uns gekreuzigte Christus durch eigenste Kreuzeserfahrung zum Christus in uns und so zum auschließlichen Garanten unserer Gotteskindschaft und zum Offenbarer göttlicher Heilsgnade geworden ist“ (462). Im Unterschied zum Gegensatz zwischen „von oben“ oder „von unten“ habe die (lutherische) Dogmatik „ihr festes christologisches Fundament in dem theozentrischen Realprinzip der göttlichen Heilsgnade, während die aufbauende Kraft in dem anthropozentrischen Idealprinzip des erfahrungsmäßigen Heilsglauben liegt“ (464). Konstruktives Potentzial für die dogmatische Konstruktion, für die „menschlich-wissenschaftliche Geistesarbeit“ der Dogmatik (463), kommt also aus dem Glauben. 21 Vgl. 1897a, die Beilage; hier unten im Anhang. Zur Erläuterung vgl. die „Selbstanzeige“ am Schluss der Dogmatik (1902a, 723–725). 22 Vgl. oben Kap. 15.
Die methodische Eigenart und das Idealprinzip lutherischer Dogmatik
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hat. Diesen Hinweis auf den Prüfstein verstehe ich als eigentlich schon zum Kontrollverfahren gehörend. Er meint, mit der Ausgestaltung des Systems gemäß dem Real- und Idealprinzip sachlich im Einklang mit der Schrift zu sein. (Deshalb hat er seine Dogmatik damals auch als eine staurozentrische Glaubenslehre beschrieben.) So sollen „die Denkwege des lutherischen Systematikers den thatsächlichen Heilswegen [der] göttlich-herablassenden Selbstoffenbarung entsprechen“ (464). Indem die lutherische Dogmatik in methodisch geklärter Weise so über die Offenbarungspuren nachdenkt, wird sie „zur wissenschaftlich-systematischen Rechtfertigung der wahren ,Theologie des Kreuzes‘ […]. Die theologia crucis wird uns so zur theologia lucis“ (463).
Zweiter Abschnitt: Die kreuzestheologische Dogmatik von Oettingens im Spiegel zeitgenössischer Wahrnehmung – die Perspektiven der Ritschl-Schule, der religionsgeschichtlichen Schule, der social-gospel-Bewegung und des baltischen Luthertums
Einführung Um die im vorherigen Kapitel gegebene Skizze der kreuzestheologischen Prinzipienlehre von Oettingens (samt einem Ausblick auf das System) weiter zu profilieren, möchte ich sie so in den Kontext der theologischen Bemühungen und Strömungen ihrer Entstehungszeit stellen, dass ich ihre paradigmatische Wahrnehmung unter zwei Gesichtspunkten betrachte. Zum einen frage ich nach der Grundtendenz der Wahrnehmung und der Beurteilung der jeweiligen Rezension der Dogmatik1 von Oettingens. Zum anderen untersuche ich, ob und wie das kreuzestheologische Anliegen von Oettingens gewürdigt wurde. Es ist mir bisher gelungen insgesamt sechs ausführlichere Besprechungen des Werkes zu entdecken. Durch diesen Textbestand gewinnt man einen exemplarischen und guten Eindruck darüber, wie die um die Jahrhundertwende (Bd. 1: Frühjahr 1897, Bd. 2/1: Frühjahr 1900, Bd. 2/2: Herbst 1902) erschienene Dogmatik in der damaligen theologischen Landschaft aufgenommen wurde.2 Unter den Rezensenten sind die damals einflussreiche und weitverbreitete RitschlSchule mit Otto Ritschl (1860–1944) und die aus jener hervorgehende, jedoch sich von ihr zunehmend distanzierende und selbstständige Züge herausbildende, religionsgeschichtliche Schule mit ihrem systematisch-theologischen Wortführer Ernst Troeltsch (1865–1923), in den wichtigsten deutschsprachigen Rezensionsorganen vertreten. Der Bonner Professor für Dogmatik, für seine dogmen- und theologiegeschichtlichen Arbeiten und vor allem als Biograph seines Vaters bekannt, schrieb zwei Mal (1898, 1903) für die Theologische Lite-
1 Es sei eigens hervorgehoben, dass von Oettingen willig ist, sein dogmatisches Hauptwerk auch als Glaubenslehre zu charakterisieren. Das bedeutet, dass er zwischen den Bezeichnungen „Dogmatik“ und „Glaubenslehre“ keinen programmatischen Gegensatz sieht, sondern vielmehr einen durchaus kompatiblen und komplementären Unterschied zweier Betrachtungsweisen. 2 Vgl. oben Kap. 9.
Einführung
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raturzeitung. Der Heidelberg Professor verfasste drei Mal eine Rezension (1898, 1903, 1905) für die Göttingischen gelehrten Anzeigen. Es fällt auf, dass – soweit ich sehen kann – die andere Strömungen und Stimmen, z. B. die sich selbst als positiv, kirchlich oder modern-positiv verstehenden Systematiker, nicht aufgetreten sind. Umso erfreulicher ist, dass die dritte und letzte aus der Hand eines Professors stammende Besprechung von keinem anderen als von Walter Rauschenbusch aus Rochester stammt. Dies zeigt, wie das dogmatische Hauptwerk eines in den Vereinigten Staaten – laut Rauschenbusch – wenig bekannten deutschen Theologen baltischer Herkunft aus der Perspektive der social gospel Bewegung bzw. ihres Hauptvertreters,3 gesehen wurde. Er verfasste 1901 eine Rezension für The American Journal of Theology. Zuletzt werden die Texte von drei baltischen Pastoren, der eine aus der ersten, die beiden anderen aus der zweiten Generation der Schüler von Oettingens, berücksichtigt, weil sie hervorragend die damalige Aufnahme und Beurteilung des Werkes im unmittelbaren Wirkungsraum von Oettingens zur Anschauung bringen.4 Ausführlicher werde ich auf die Rezensionen von O. Ritschl und von E. Troeltsch eingehen. Um zuvor einen theologiegeschichtlichen Referenzpunkt zu geben, erinnere ich daran, dass von Oettingens Dogmatik genau zu der Zeit erschien, als seine früheren Schüler Adolf (von) Harnack und Reinhold Seeberg (die sich selbst in erster Linie durch Ritschl bzw. durch Frank geprägt wissen) an der Berliner Universität ihre populären Vorlesungen über Das Wesen des Christentums (1900/ 1901) und Über die Grundwahrheiten der christlichen Religion (1901/1902) hielten. Die beiden gehörten zu den Leitfiguren in einem – um eine oft verwendete, aber zu stark simplifizierende und deshalb irreführende Beschreibung zu verwenden – (nicht nur) die theologische Landschaft des deutschen Kaiserreichs tief prägenden Richtungsstreit zwischen den Liberalen und Konservativen: Von Harnack als wichtigster und einflussreichster Ritschl-Schüler ; Seeberg als derjenige, der das Erbe der sog. kirchlichen bzw. positiven Theologie des 19. Jh. in moderner – in „modern-positiver“ Weise – fortzuführen beanspruchte.5 Während die Ritschl-Schule und die religionsgeschichtliche Schule 3 Vgl. oben Kap. 16.4. 4 Erst als diese Untersuchung abgeschlossen war, habe ich eine weitere, eingehende und generell zuverlässige Besprechung der oettingenschen Dogmatik entdeckt. Sie stammt aus der Hand Ferdinand Luthers, eines Pastors aus Tallinn/Reval, der auch zu der ersten Generation der Schüler von Oettingens gehört (vgl. F. Luther, Dogmatik, I–III). Sie ist im Theologischen Literaturblatt in Leipzig erschienen, enthält manche bemerkenswerte Beobachtungen (z. B. zu von Oettingens Erörterung der Namensoffenbarung Gottes) und ist im Generalton ähnlich zu den baltischen Beiträgen, die hier diskutiert werden. 5 Bei F.-W. Graf findet man genauere Angaben über die Größenordnungen jener Richtungen und ihre Dynamik in den Fakultäten der Kaiserzeit (vgl. Graf, Gesellschaft des Kaiserreichs,
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Einführung
ihrem wissenschaftlichen Standard gemäß die Veröffentlichung einer ausführlichen dogmatischen Gesamtdarstellung nicht ignorieren konnten, erscheint das Schweigen der sog. Positiven bzw. Modern-Positiven wie eine Distanzierungsstrategie, die unterschiedlich motiviert sein dürfte.6 Das Erscheinen einer voll ausgeführten Dogmatik ist immer ein Ereignis. Als Faustregel lässt sich für diese Periode formulieren, dass zwei Arten von Dogmatiken verfasst wurden – entweder mehrbändige Werke von ca. 1600–2000 Seiten oder einbändige Fassungen von ca. 600 Seiten. Im deutschsprachigen Raum in der Zeit zwischen der Gründung des deutschen Kaiserreiches und dem Ersten Weltkrieg bzw. dem Beginn der Weimarer Republik, sind es Ritschl, Frank, Dorner und von Oettingen, die mit einer umfangreichen Dogmatik o. ä. in die Öffentlichkeit traten. Franks System der christlichen Gewißheit und System der christlichen Wahrheit und Ritschls Rechtfertigung und Versöhnung erschienen erstmalig in den 1870er Jahren; Dorners System der christlichen Glaubenslehre 1879–1881. Von den einbändigen Darstellungen sind aus diesem knapp halben Jahrhundert vor allem drei hervorzuheben. Das Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik von Richard Adelbert Lipsius (1. Aufl. 1876) ist mit seinen ca. 900 Seiten umfangreicher als die beiden anderen. Martin Kählers Wissenschaft der christlichen Lehre wurde zuerst Anfang der 1880er Jahre veröffentlicht. Im Jahr 1897 erschien die Dogmatik Julius Kaftans (1848–1926), die in ihrer Grundrissgestalt zur am weitesten verbreiteten Darstellung aus der Ritschl-Schule in der Vorkriegszeit wurde. Um die Jahrhundertwende wurde die mehrbändige Dogmatik von Oettingens herausgegeben. Diese steht insofern allein da, als die vorangegangenen großangelegten Dogmatiken in ihrer Erstauflage ca. 20–30 Jahre zurückliegen und bis zur nächsten, von Georg Wobbermin (1869–1943), noch ca. 20 Jahren vergehen werden.7 Sie ist somit schon durch ihr Format eine außergewöhnliche Erscheinung inmitten eines diesbezüglich ungewöhnlich sparsamen Zeitraumes:8 Sowohl davor als auch danach gab es öfter Versuche einer eingehenderen Gesamtdarstellung (der Wahrheit) des christlichen Glaubens.
69–74). Sie sind um die Jahrhundertwende in den Fakultäten etwa gleich stark vertreten gewesen. In den Gemeinden bzw. unter den Pastoren identifizierte sich die große Mehrheit mit den Positiven. 6 Zu Seebergs Urteil vgl. oben Kap. 4.1f. 7 Zeitgleich mit Wobbermins Systematische Theologie nach religionspsychologischer Methode erscheint in den Vereinigten Staaten die Christliche Dogmatik von Franz Pieper (1852–1931). 8 In den sonst auf Vollständigkeit zielenden Listen der Dogmatiken in der Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche (3. Aufl., 1896–1913) ist die Dogmatik von Oettingens unerwähnt geblieben.
Eine Dogmatik in subjektiv-authentischer Kongenialität
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Eine Dogmatik in subjektiv-authentischer Kongenialität mit der gesamten altprotestantischen Lehrtradition einschließlich der Dogmatik der Reformatoren (O. Ritschl)
Otto Ritschl beginnt seine Besprechung der Prinzipienlehre mit der Konstatierung, dass die Veröffentlichung einer Dogmatik durch „ein[en] Altmeister in der systematischen Theologie“ als eine begrüßungswürdige „Gabe“ auch für solche Kollegen gilt, „welche sich mehr oder weniger großer Differenzen mit dem ehrwürdigen Verf[asser] bewußt sind“.1 Er hebt anerkennend hervor, dass von Oettingen im Unterschied zu den „großen Haufen seiner Gesinnungsgesonnen“ sowohl zu „eine[r] relative[n] Würdigung abweichender theologischer Richtungen“ als auch zur Kritik an „ihm in der Sache nahestehenden Theologen“ fähig und bereit ist.2 Die eher allgemein charakterisierende kürzere erste Hälfte besteht zum großen Teil aus einer Vielzahl ausgewählter Stellen, die besonders pointiert nur die Absage gegen eine – im Wortlaut von Oettingens – „krankhaft zugespitzte[] ,Orthodoxie‘ älterer und neuerer Zeit“3 zum Ausdruck bringen. Ritschl hofft, dass der Verfasser damit bei der „heutzutage in der Kirche vorherrschenden Richtung [sic!] […] einen nachhaltigeren Eindruck“ zu erzielen vermag, „als es unser einem bei gleichartiger Kritik derselben Erscheinung beschieden zu sein pflegt“.4 Er beschreibt den Gedankengang der Prinzipienlehre knapp, doch recht neutral und treffend – einige der wichtigsten und charakteristischen Aussagen sind als Zitat aufgeführt–, sodass die Leserschaft m. E. durchaus eine Vorstellung von der Intention von Oettingens und seinen wichtigsten Grundentscheidungen gewinnen kann. Aus dem Prozess, in dem von Oettingen den sachlichen Grundgedanken der Dogmatik ausfindig macht, d. h. aus der Entwicklung des Realprinzips, hebt Ritschl den ersten Schritt, die „physiologische Principienlehre“, als am besten gelungen hervor.5 „Treffliches“ beinhalte vor allem die Behandlung des Offenbarungsbegriffes (i. e. des göttlichen Faktors der Religion). Die starke Hervorhebung der göttlichen Initiative in der Religion bringe „eine in der Religions-
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O. Ritschl, Princpienlehre, Sp. 117. Ibid., Sp. 117f. Ibid., Sp. 118. Ibid. Vgl. O. Ritschl, Princpienlehre, Sp. 120.
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Eine Dogmatik in subjektiv-authentischer Kongenialität
philosophie dieses Jahrhunderts oft verkannte Wahrheit zur Geltung“.6 Bemerkenswert ist, dass Ritschl hier eine Parallele zum Bestreben von Ernst Troeltsch herstellt (das allerdings anders motiviert sei).7 „[F]ein[]“ findet er ferner die Charakterisierung der Offenbarung als Einhüllung und Enthüllung. Auch die Überlegungen zum sozialen und persönlichen Prinzip der Religion würden „viel lehrreiches und treffendes“ beinhalten.8 Dagegen seien das Sündenbewusstsein und dessen Rolle in der Dogmatik überbetont und zu sehr universalisiert. Was von Oettingen zum Thema Sünde zu sagen hat, habe „nur auf bestimmte, besonders bedingte Fälle christlicher Erfahrung“ bezogen Geltung und decke nicht „alle Formen und Nuancen der wirklichen christlichen Frömmigkeit“.9 Eher kritischen Klang haben auch Ritschls Hinweise auf die Tendenz zu einer typisierenden, summarischen und schematischen Auseinandersetzung mit Gegnern und andersartigen Positionen.10 Schließlich hebe ich hervor, dass Ritschl zufolge von Oettingen dort Brücken baut und sieht, wo andere unvereinbare Gegensätze wahrnehmen. Von Oettingen fordere eine kritische Erforschung der Bibel, betrachte aber trotzdem das kirchliche Dogma – mit den Worten Ritschls ausgedrückt – als eine „in allem Wesentlichen adäquate Ausprägung des Inhalts der heiligen Schrift“.11 Sogar die Substanz des überlieferten Dogmas werde so dargestellt, als sei sie mit dem Prinzip wissenschaftlicher Forschung im Einklang. Ritschl gibt zu erkennen, 6 Ibid. 7 Aufschlussreich ist hierfür die Behandlung der Verhältnisdynamik zwischen der RitschlSchule und Troeltsch am Beispiel von Wilhelm Herrmann durch Brent W. Sockness (Sockness, Against False Apologetics, insb. 19–27 [„First Impressions: Ernst Troeltsch as Orthodox Dogmatician“]). 8 O. Ritschl, Principienlehre, Sp. 120. 9 Ibid. 10 Ritschl meint, dass von Oettingen „[i]n der Auseinandersetzung mit anderen […] ganz in der Art der Vermittlungstheologie in der Mitte dieses Jahrhunderts einen Gegensatz zwischen den ihm fremden Ansichten und Richtungen feststellt oder construirt und sich zwischen diesen Extremen, indem er sich zugleich die beiderseits vorhandenen ,Wahrheitsmomente‘ aneignet, eine ,gesunde‘ Mittelstrasse bahnt.“ Ich ergänze, dass schon in Schleiermachers Glaubenslehre derartig verfahren wird. Von Oettingen selbst gibt einige Hinweise zum Verständnis dieses Verfahrens am Ende der Prinzipienlehre: vgl. 1897a, 459. Wenn eine eher typisierende und modellierende Auseinandersetzung zu Orientierungszwecken in der Dogmatik – in ihrer Verschiedenheit zu einer historischen Behandlung – berechtigt erscheint, bleibt diese natürlich immer kritisierbar und gegebenfalls verbesserungsbedürftig. Vgl. in der zweiten Besprechung den Hinweis von Ritschl darauf, dass so eine Tendenz keine Eigentümlichkeit von Oettingens sei, sondern „ein Mangel, den er […] mit allen überwiegend dogmatisch interessierten Denkern theilt. Die dem theologischen wie jedem anderen Historiker vor allem nothwendige Fähigkeit der Anempfindung an fremde Geistesart ist ihm [i. e. dem von Oettingen] eben nur in recht geringem Maße eigen.“ (O. Ritschl, Dogmatik, Sp. 152). 11 O. Ritschl, Principienlehre, Sp. 121.
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dass er selbst und „wohl noch manche andere ihm hierin nicht zu folgen vermögen“.12 Die von von Oettingen so genannten Zugeständnisse an die kritische Wissenschaft würden doch wieder außer Kraft gesetzt und zurückgenommen werden. In der Sache also steht er trotz seiner scharfen und treffenden Kritik des ,Orthodoxismus‘ doch ganz auf der Seite dieser Richtung, deren gegenwärtig maßgebende Vertreter in ihrer hierarchischen und wissenschaftsscheuen Tendenz nur viel weniger vornehm, weniger feinsinnig, weniger gebildet, weniger weitherzig sind, als Alexander v. Oettingen.13
Was nun die Berücksichtigung des kreuzestheologischen Anliegens von Oettingens betrifft, ist die Tatsache als solche samt der Nennung einiger Züge, die es charakterisieren, beobachtet und wird mitgeteilt. Zu Beginn wird auf theologia crucis theologia lucis als Motto verwiesen, dem diese Dogmatik folgen möchte. Im Anschluss an Luther wolle der Verfasser eine „Theologie des Kreuzes“ im Gegensatz zu einer „Theologie der Ehren“ geben. Ritschl erklärt dies als christozentrischen,14 antispekulativen Standpunkt, der das Ersetzen der Offenbarung durch theoretische Beweisbarkeit des Christentums oder Gottesbeweise zurückweise, aber auch gegen das Verschwinden des Absoluten in der Gotteslehre eintrete.15 Von Oettingen vertrete „eine auf lebendiger christlicher Erfahrung beruhende Theologie, in der noch gewisse religiöse Motive der Erweckungszeit durchklingen“.16 Fünf Jahre später – inzwischen liegen auch zwei Rezensionen von Troeltsch vor – ergreift Ritschl erneut das Wort, weil der „Senior der evangelischen Dogmatiker“ sein Werk, diese „Riesenleistung“, „frisch“ und „leidenschaftlich“ habe vollenden können.17 Das sei Anlass zu aufrichtigem Glückwunsch von Seiten der Fachgenossen – unabhängig davon, in welche „theologische Richtung“ sie gehören. In der längeren ersten Hälfte der Rezension geht es eher allgemein um den Charakter der Dogmatik bzw. des dogmatischen Denkens. Wie alle Denker, die „überwiegend dogmatisch interessiert[]“ sind, werde auch von Oettingen den
12 Ibid. 13 Ibid. 14 Ritschl ist sorgfältig genug, um zu erwähnen, dass der Standpunkt „einmal (242)“ auch als „staurozentrisch“ bezeichnet wird (ibid., Sp. 119). Die Wendung findet sich in der Prinzipienlehre in der Tat ein Mal. Wie bereits erwähnt, wird es zum ersten Mal in der Programmschrift verwendet (vgl. oben Kap. 15). Auch im System selbst kommt die Wendung vor (vgl. oben Kap. 22). 15 Vgl. O. Ritschl, Principienlehre, Sp. 119. 16 Ibid., Sp. 118. 17 O. Ritschl, Dogmatik, Sp. 151.
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gegenteiligen Anschauungen oft nicht gerecht.18 Seine „wissenschaftliche Aufnahmefähigkeit“ versage „weithin“, sowohl im Blick auf die Methode historischer Forschung als auch auf die Ergebnisse der historischen Theologie des 19. Jahrhunderts. Das sei „eben die Kehrseite [von Oettingens] lebendigen dogmatischen Interesses. Denn er ist Dogmatiker vom Scheitel bis zur Sohle.“19 Ritschl deutet eine (scheinbar selbstverständliche und universelle) Auffassung von Dogmatik an, mit der er auch die Dogmatik von Oettingens charakterisiert. Zudem wird ihrem sachlichen Ansatz eine ganz bestimmte historische Erklärung gegeben. Beides zusammen lässt eine nähere Auseinandersetzung mit der Dogmatik von Oettingens überflüssig erscheinen.20 Alle Dogmatik sei, erklärt Ritschl, „nichts anderes als ein Complex von Urtheilen, die jedem, der nicht in ihrem Bannkreis steht, nur als Vorurtheile erscheinen können“. „[D]ie Seele allen dogmatischen Denkens“ liege in petitio principii, weil dieses „auf persönlichem Glauben und nicht auf wissenschaftlichen Nachweisungen“ beruhe. Lediglich und allein „der persönliche Glaube“ entscheide über alles „in aller Dogmatik“, soweit sie nicht „in einem seelenlosen Traditionscultus besteht“. Für von Oettingen gelte, dass er zwar ein Traditionalist sei, aber „nicht aus Grundsatz, sondern aus eigener lebendiger Ueberzeugung“ – sein Glauben bestätige die Tradition. Von Oettingens gelegentliche21 Kritik gegen den Subjektivismus verändere nicht den Sachverhalt, dass er „im letzten Grunde nicht weniger Subjektivist [ist], als wir anderen“.22 Wenn von einem „Vertreter[] der orthodoxen Tradition“ sicher gesagt werden könne, dass „für ihn und seine ganze Dogmatik nur sein eigenes persönliches religiöses Denken und keine außere Glaubensinstanz als solche maßgebend ist“, dann sei es von Oettingen. Wegen seiner persönlichen „Congenialität mit der alten Orthodoxie“ erscheine „deren Reproduction“ erträglich und „geradezu liebenswürdig“. Aber jene bei ihm „wohltuend berührende Synthese“ von persönlichem Glauben und dem Inhalt der Tradition könne „wegen ihrer individuellen und zeitgeschichtlichen Bedingtheit nicht willkürlich nachgeahmt […] werden“.23 Die durch von Oettingen selbst offen kritisierte „landläufige Orthodoxie“ zeige nämlich, „was herauskommt, wenn man orthodox sein möchte und doch nicht auch eine innerlich begründete Orthodoxie auszugeben hat“. Jedenfalls seien „[s]olche Erscheinungen“ wie von Oettingen unter den Theologen schon fast „ausgestorben“. Bereits „die Epigonen der Erweckung, die nach 1848 die für ihre religiöse 18 19 20 21 22 23
O. Ritschl, Dogmatik, Sp. 152. Ibid. Vgl. zum Folgenden: ibid., Sp. 152–154. Eigentlich ist es eine durchgehende Kritik. Ibid., Sp. 153. Ibid.
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Richtung entscheidenden Einflüsse erfahren haben“, hätten zwar noch viel über die Sünde und das Sündenbewusstsein zu sagen gewusst, aber in Wahrheit habe es auch ihnen nicht mehr so gelegen „wie den Alten“. Für „uns“ – ich verstehe dies durchaus im Sinn der darauf folgenden Generation, der Generation Ritschls selbst – könne aber ein Sündenbewusstsein unmöglich als das „Motiv“ oder „die Basis […] religiöse[r] Gedankenbildung“ gelten, weil „wir es ohne künstliche und ungesunde Treiberei gar nicht aufbringen können“. Ritschl weist deshalb darauf hin, dass auch „[w]ir anderen […] ganz dasselbe Recht und dieselbe Pflicht zur religiösen und dogmatischen Ehrlichkeit wie Oettingen“ haben. Wie er müssen auch sie „für die Ueberzeugungen, die sich uns aus der uns zu Theil gewordenen religiösen Anregung aufgedrängt haben, mit aller Offenheit“ eintreten. An letztere appellierend meint Ritschl, in erster Linie klarstellen zu müssen, dass „die Verehrung Christi“ keinesfalls „eines solchen hypertrophischen Sündenbewusstseins zur Folie bedarf“. Dieser durch individuelle und zeitgeschichtliche Faktoren bedingte Unterschied bedeutet also nichts anderes, als dass „die subjectiv religiösen Voraussetzungen der Dogmatik von sehr verschiedener Art sein“ können. Jeder Zwang würde hier einen Übergang „zur äusseren Glaubenssatzung“, „zum lebenertödtenden Traditionalismus“, zum „kirchliche[n] Objectivismus“ und damit das Ende der „lebendinge[] Religion“ bedeuten. Obwohl von Oettingen all dies selbst nicht wolle, sei es die „directe Consequenz“ der Verallgemeinerungen, für die er in seiner Dogmatik eintritt.24 Sind also die religiösen Voraussetzungen auch in Oettingen’s Dogmatik einfach nur subjectiv, so auch die aus ihnen gezogenen Folgerungen und die wieder durch diese begründete Kritik gegen andere. […] Unter diesen Umständen aber hat dogmatische Polemik überhaupt nur noch herzlich wenig Sinn, heute noch viel weniger, als irgend jemals früher. Auch bei abweichender Dogmatik muss man vielmehr lernen sich gegenseitig zu ertragen und zu achten. Dazu aber bedarf es nur der Bedingung, dass man auch den dogmatischen Gegner für wahrhaft und aufrichtig zu halten Grund hat.25
Ritschls Rezension vermittelt einen exemplarischen Eindruck sowohl davon, was für seine Generation, genauer – um seine eigene Denkfigur in modifizierter Form aufzugreifen – die Epigonen von Albrecht Ritschl die Dogmatik ist, als auch davon, wie im Kontext solcher Auffassung von Dogmatik mit Differenzen umzugehen ist. Ritschl zweifelt nicht an von Oettingens persönlicher Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit. Deshalb kann er von Oettingen akzeptieren und achten – und sofern in von Oettingens Dogmatik er selbst in seiner persönlichen Andersheit zum Ausdruck kommt, kann er auch diese Dogmatik in ihrer Fremdheit akzeptieren und achten. Eine wirkliche Herausforderung stellt sie 24 O. Ritschl, Dogmatik, Sp. 154. 25 Ibid.
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nicht dar. Ihre Eigenintention wird nicht berücksichtigt, ihr eventueller Wahrheitsanspruch nicht beachtet. Eine nähere Auseinandersetzung scheint überflüssig, weil „[d]ie Ansichten der lutherischen Orthodoxie […] ja hinlänglich bekannt“ seien. Auch eine Übersicht über die Architektonik dieser Dogmatik findet deshalb in der Rezension keinen Platz. „[I]nteressant“ und von der traditionellen Themenfolge wesentlich abweichend sei „nur“, dass die Lehre von der Kirche vor der Behandlung der Heilsordnung (i. e. des Wirksamwerdens der Gnade am Ort des Individuums) steht. Das sei allerdings etwas, was auch Albrecht Ritschl stets gefordert habe. Ich merke dazu an, dass allein den fünften Abschnitt des Systems betrachtend, zwei weitere architektonisch äußerst wichtige und sachlich folgenreiche Entscheidungen durch Ritschl nicht identifiziert bzw. mitgeteilt werden. Erstens, vor der Behandlung der Kirche werden die Gnade und die Gnadenmittel bearbeitet, insb. das Wort Gottes. Zweitens, die von Ritschl und von mir genannten Themen werden als Teilaspekte der Pneumatologie, also im Rahmen der Lehre vom Heiligen Geist, diskutiert. Die knappe zweite Hälfte der Rezension Ritschls, die einige Einzelpunkte berührt, darunter die vom subjektiven Standpunkt von Oettingens durchaus berechtigte (aber sonst wohl prekäre) Stellung der Lehre vom Teufel, erinnert sowohl daran, dass der Verfasser „sich nachdrücklich zu einer christocentrischen und staurocentrischen Anschauung“ bekennt, als auch an das Real- und Idealprinzip. Auf eine Erwähnung des Leitmotivs theologia crucis, welche das System im Ganzen und auch jeden einzelnen Abschnitt qualifiziert (bzw. summiert, was von Oettingen in seiner Dogmatik versucht und beansprucht), wird jedoch auch in dieser zweiten Besprechung, also nach Abschluss des Gesamtwerkes, ganz verzichtet. Die für O. Ritschl einzig interessante Änderung in der Gestaltung der Dogmatik sei, wie angedeutet, schon durch Albrecht Ritschl zur Geltung gebracht worden. Außerdem wird die Gotteslehre als das Thema hervorgehoben, bei dem von Oettingen „[a]m meisten“ von der Tradition abweiche und unter dem „Einfluss ,moderner‘ Theologie“ stehe. Bevor O. Ritschl zum Schluss zwei Sätze zur „sehr ausführlichen Eschatologie“ niederschreibt, verdeutlicht er von Oettingens Einstellung zum „confessionellen Charakter der lutherischen Kirche und Lehre“: Es sei – in der Diktion von Oettingens – eine „monströse Anmassung […], dass nur die Lutheraner wahre Christen seien oder dass jeder wahre Christ sich zum Lutherthum bekennen müsse […]. Aber […] wie jede […] Confessionsgemeinschaft, so darf auch die lutherische Kirche der Zuversicht leben, dass sie durch Gottes Gnade […] die Sonderkirche des wahren […] Bekenntnisses ist“.26 Dieses exemplari26 O. Ritschl, Dogmatik, Sp. 155; vgl. 1902a, 503f.
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sche Votum, das Ritschl abdruckt, gewinnt besondere Prägnanz, wenn dazu die Charakterisierung des Eigenverständnisses von Oettingens als Lutheraners durch Ernst Troeltsch verglichen wird.27 Von Oettingen reagiert mit einer kurzen halbspaltigen Erklärung „Zur Verständigung“ (1903a). Weil er im Urteil von O. Ritschl als ganz und gar Dogmatiker gelte, das jedoch für die Ohren der „moderne[n] Theologie“ den Klang von Hic niger est, hunc tu, Romane, caveto habe, erinnert von Oettingen daran, dass er mit seinen empirisch-induktiven Untersuchungen als Moralstatistiker und Sozialethiker bewiesen habe, „nicht bloß Dogmatiker oder ,aus eigener Ueberzeugung Traditionalist‘“ zu sein. Ich verstehe diese Erklärung so, dass er indirekt sein fehlendes Einverständnis mit dem Dogmatikverständnis O. Ritschls signalisiert. Er verleiht jedoch dieser Mitteilung die Gestalt eines bloßen Hinweises auf die Fakten – darauf, dass O. Ritschls Totaldiagnose über die Denkweise von Oettingens deren wichtige Symptome nicht berücksichtigt. O. Ritschls Entschlüsselung bzw. Interpretation sei also offensichtlich reduktionistisch und schon deshalb unzureichend. In inhaltlicher Hinsicht, d. h. zur Behauptung der Kongenialität seiner Dogmatik mit der alten Orthodoxie, hat er nur Eines zu sagen. Allerdings impliziert dieses – m. E. durchaus treffend – nicht weniger, als dass O. Ritschl die Pointe des Werkes verfehlt hat (und somit die ganze Interpretation eher zufällig und äußerlich bleibt). Es erscheine nämlich die angebliche Kongenialität in einem anderen Licht, wenn sein Kritiker den charakteristischen Hauptgedanken meines ,Systems christlicher Heilswahrheit‘ ins Auge gefasst und hervorgehoben hätte. Ich meine die den alten Locisten fremde, für mich aber centrale Idee der ,Selbstbeschränkung‘ Gottes im Hinblick auf den allmählich fortschreitenden Vollzug der geschichtlichen Erlösungsoffenbarung. Diese kann m. E. nur vom Standpunkte einer Theologia crucis im Sinne Luther’s verstanden und gewürdigt werden. Und dazu bedarf es nicht eines ,hypertrophischen Sündenbewusstseins‘ [O. Ritschls polemische Wendung – T.-A.P.], sondern nur auf persönlicher Erfahrung beruhenden Verständnisses für jenes tief bedeutsame Lutherwort, das ich meiner Dogmatik als Motto gesetzt [habe]: ,Theologia macht Sünder‘. (1903a, 284).
O. Ritschl antwortet mit einer ähnlich kurzen „Erwiederung“.28 Er kommentiert nicht von Oettingens Verweis auf seine empirisch-soziologischen Forschung, sondern versichert nur, dass sein Urteil über von Oettingen als durch und durch Dogmatiker keine Nebenbedeutung im Sinn des lateinischen Sprichwortes beinhalte. Was er generell über Dogmatik sage, gelte für alle Dogmatik, inklusiv seiner eigenen, die auch er als Systematiker beruflich zu vertreten hat. Wichtig sei es ihm allerdings, die „wissenschaftlichen Fragen der historischen [und] 27 Vgl. unten Kap. 24. 28 O. Ritschl, Erwiderung.
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psychologischen Theologie“ einerseits und die „dogmatischen Urtheile[]“ andererseits möglichst separat zu halten. Die Dogmatik ist also für O. Ritschl etwas, was eigentlich im Gegensatz zur Wissenschaft und zur Wissenschaftlichkeit steht. Eine Dogmatik hat er selbst (deshalb?) nicht geschrieben. Auf den zweiten Punkt von Oettingens reagiert O. Ritschl merkwürdig und gibt damit faktisch – zumindest indirekt – dem Vorwurf von Oettingens Recht. Unter der „alten Orthodoxie“ habe er nämlich „nicht etwa nur die Theologie der ,alten Locisten‘, sondern die gesammte altprotestantische Lehrtradition einschließlich der Dogmatik der Reformatoren verstanden“.29 Die geläufige Verwendung der Formel „alte Orthodoxie“ bezieht sich bekannterweise nicht auf die Theologie der Reformatoren, sondern vielmehr auf die nachreformatorische Theologie, insb. auf die Theologie des 17. Jahrhunderts. Wenn sie jedoch im weiteren Sinn die beiden Perioden zusammenfasst, wie es Troeltsch tut,30 dann wird die Differenz, auf die von Oettingen hingewiesen hat, gar nicht sichtbar. Abgesehen davon werden zudem die Differenzen zwischen den Reformatoren im Interesse einer Verallgemeinerung – als „altprotestantische Lehrtradition“ – gleichgeschaltet. Deshalb teilt O. Ritschl m. E. hier indirekt mit, dass sich von Oettingens Dogmatik doch nicht als eine (bloße) Erneuerung der nachreformatorischen Dogmatik, insb. der evangelischen Dogmatik des 17. Jh., verstehen lässt.
29 O. Ritschl, Erwiderung, Sp. 284. 30 Zum Beispiel differenziert Emanuel Hirsch in seinem bis heute in Gebrauch stehenden Hilfsbuch zur Dogmatik (1. Aufl. 1937) zwischen der Dogmatik der Reformatoren und der Dogmatik der altevangelischen Lehrer. O. Ritschls eigene Dogmensgeschichte des Protestantismus verwendet den Begriff „Altprotestantismus“ allerdings auch im weiteren Sinn. Der zweite Band beinhaltet u. a. eine Behandlung der theologia crucis Luthers, wobei diese nicht im Sinn des Vorzeichens der gesamten reformatorischen Theologie Luthers interpretiert wird (wie bei von Oettingen), sondern als Ausdruck seiner vorreformatorischen Theologie (O. Ritschl 1912, 40–84). Vgl. dazu Löwenich 1986 [1929], 13f, Anm. 2; Korthaus 2007, 11f. Auch bei Troeltsch spielt die theologia crucis keine Rolle für das Verständnis der Theologie Luthers. Insofern verkennen – aus der Sicht von Oettingens –beide das Entscheidende sowohl in seinem Werk als auch bei Luther.
Einführung zu Troeltschs Auseinandersetzung mit von Oettingen
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24.
Ein Denkmal des Gegensatzes gegen die gesamte geistige Bewegung der Gegenwart, auch gegen die Religion des modernen Europa (E. Troeltsch)
24.1
Einführung zu Troeltschs Auseinandersetzung mit von Oettingen
Es ist für alle drei Rezensionen charakteristisch, dass Troeltsch mit höchster Souveränität mit dem Besprechungsgegenstand umgeht und seinen Scharfsinn und seine diagnostische Kraft unter Beweis stellt. Der eher als Nebenprodukt zu charakterisierende Text lässt durchaus erahnen, dass hier ein künftiger Klassiker moderner Theologie am Werk ist. In den Besprechungen „[der] große[n] lutherische[n] Dogmatik von Oettingens“ aus den Jahren 1898, 1902 und 1905 führt Troeltsch eine exemplarische Auseinandersetzung mit dem „lutherischen Konfessionalismus“ bzw. mit der „modernen Orthodoxie“1 durch. Sie nimmt die Gestalt einer Generalabrechnung mit dem Werk an. Die Entstehungszeit der Rezensionen fällt in die Zeit der Verfassung einiger Hauptschriften von Troeltsch. Etwa parallel bzw. kurz danach erscheinen berühmte Schriften wie „Über historische und dogmatische Methode der Theologie“ (1898) und Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902). Die letzte der Rezensionen lässt erkennen, dass Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus von Max Weber kürzlich (1904/1905) erschienen war. Troeltsch selbst beginnt ab dem Jahr 1908 mit der schrittweisen Publikation der durch Webers Studie inspirierten Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912).2 Die urwüchsige Souveränität ist allerdings an eine höchst robuste und unsensible Rekonstruktion gekoppelt,3 mit einer merkwürdig verstellenden und insinuierenden Präsentation dessen, was diese „Lutherische Dogmatik“ zu sagen hat. Sie wird als eine Art Paradebeispiel für eine Theologie vorgestellt, an deren Überwindung Troeltsch in seinem eigenen vielschichtigen und weiten Werk arbeitet. Es wird sogar auf eine genaue Übersicht z. B. über die Struktur des Werkes verzichtet und stattdessen nur manche ihrer Grundschritte paraphra1 Es wäre anachronistisch gesprochen, aber – wie das Folgende ersichtlich machen dürfte – wohl dem Sinn von Troeltsch entsprechend, wenn man für das Phänomen, so wie er es wahrnimmt, die heute gängige Bezeichnung „Fundamentalismus“ verwendet. Die Rede von „Konservatismus“ wäre zu mild. 2 Vgl. unten Kap. 27. 3 Es ist charakteristisch, dass die Rezensionen auffällig sparsam auf den Text Bezug nehmen. Die Editoren der Werkausgabe haben im Apparat eine Reihe mehr oder weniger treffender Stellen zu der einen oder anderen Aussage von Troeltsch ausgewählt und zitiert. Sinnverändernd ungenau ist aber die sekundäre Wiedergabe z. B. in den Anmerkungen 7 und 8 (vgl. Troeltsch, 2. Band, 1. Theil, 189).
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Ein Denkmal des Gegensatzes
sierend skizziert. Auch die wenigen eher beschreibenden Aussagen erfolgen unter der Verwendung eigener höchst beladener Begrifflichkeit. Insgesamt entpuppt sich das Werk von Oettingens als Musterbeispiel dessen, was aus der wissenschaftstheoretischen und historischen Perspektive von Troeltsch als überholt gilt. Troeltschs eigene Auffassungen kommen dabei so massiv und dominierend zum Vorschein, dass vom Werk von Oettingens nur eine Karikatur gezeichnet wird, die Selektion also stark verstellend ist. Man kann die Rezensionen trotzdem als gute Illustration dessen lesen, was Troeltsch für unsachgemäß und unzeitgemäß hielt und somit indirekt als Hinweis darauf, was er selbst als die eigentlichen Aufgaben betrachtet hat. Sachlich Zutreffendes über das Werk von Oettingens erfährt man allerdings wenig. Auf jeden Fall sind die scharfsinnigen Rezensionen von Troeltsch instruktive Beispiele dafür, wie aus seiner Perspektive ein solches Vorhaben wie von Oettingens Dogmatik wahrgenommen und (miss-)verstanden worden ist. Ich möchte hier keine Vermutungen darüber anstellen, wie ernst Troeltsch seine Rezensionsaufgabe genommen hat bzw. wie gründlich er das Buch gelesen hat.4 Seine pointierte Kritik ist hilf- und lehrreich, insofern sie Probleme formuliert, die allerdings anhand einer erneuten Lektüre und genaueren Betrachtung des oettingenschen Werkes in einem anderen Licht (oder z. T. überhaupt nicht) erscheinen.
24.2
Zur Prinzipienlehre
Im selben Jahr in dem Troeltsch seine bekannte Schrift „Über historische und dogmatische Methode der Theologie“ verfasst hat, nähert er sich5 der reifen Dogmatik vom „Veteran des baltischen Luthertums“6 mit der Erwartung, hier exemplarisch „den Stand der Dinge in den Kreisen des Lutherischen Konfessionalismus“ beobachten zu können. In der Interpretation von Troeltsch beschäftigt sich der erste Band, i. e. die Prinzipienlehre, mit den beiden Voraussetzungen einer solchen konfessionellen Dogmatik. Die erste Aufgabe sei zu beweisen, dass das konfessionelle bzw. symbolgemäße Luthertum „absolute[], 4 Anhand der editorialen Einführungen zu den Rezensionen von Troeltsch lässt sich konstatieren, dass die zweite und dritte Rezension erst nach Ermahnungen eintrafen. Die sehr generalisierende und zugleich von der eigenen Position unproportional bestimmte Art der Besprechung kann also als Ausdruck wissenschaftlicher Erhabenheit und Überlegenheit, aber auch als Zeugnis einer flüchtigen, selektiven Lektüre gedeutet werden. 5 Troeltsch verfasste Rezensionen zum Werk von Oettingens in den Jahren 1898, 1902 und 1905. 1904/1905 erschien Max Webers Schrift und 1910 erstmals der Abschnitt von Troeltsch über das Luthertum im Rahmen seiner Soziallehren. 6 Troeltsch, 1. Band, 501.
Zur Prinzipienlehre
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übernatürliche[] Wahrheit“ sei.7 Zweitens müsse „eine spezifisch dogmatische Erkenntnismethode“ konstruiert werden, die es erlaube „allgemeingiltige […] Wahrheiten zu deducieren“, die einerseits mit der Schrift und den Bekenntnissen übereinstimmen, anderseits kohärent zum übrigen Erkennen sind.8 Dass somit die absolute Geltung des konfessionellen Luthertums als übernatürliche Wahrheit, als Voraussetzung und Ausgangspunkt diene, stelle für von Oettingen kein Problem dar und bedürfe keiner umfassenderen Untersuchungen, weil die Voraussetzungslosigkeit nur ein moderner Wahn sei. Weil das Recht des Ausgangspunktes sich an der Durchführung bewahrheiten solle, bestehe „die eigentliche Kunst dieser Dogmatik“ in nichts anderem als daran, „alles in ihrem Lichte aufzufassen, von ihr aus zu gruppieren und zu erklären“ und dadurch Punkt für Punkt für die „Bewahrheitung der Voraussetzung […] zu sorgen“.9 Bei der Gewinnung dieses Ausgangspunktes würde von Oettingen „die natürliche wissenschaftliche Methode, die von einem möglichst allgemein anerkannten Satze auszugehen pflegt“ zwar nicht ganz vermeiden, aber ein universeller Satz diene bei ihm nur dazu, die Beschränkung auf einen ganz besonderen Ausgangspunkt zu rechtfertigen und zu sichern. Wie von Oettingen zufolge zur Erkenntnis einer Sache immer Liebe und empathisches Verständnis erforderlich seien, i. e. als Voraussetzung dienen – deshalb gelte der allgemeine Satz der Voraussetzungslosigkeit –, so könne auch das Christentum nur liebend erkannt werden. Das Christentum lieben und empathisch verstehen könne man jedoch nur aufgrund eigener Heilserfahrung. Somit gelte die „eigene[], in Sündenerkenntnis und Bekehrung vollzogene Heilserfahrung“ als Erkenntnisgrund des Christentums, insofern sie eben die Anerkennung des Christentums als „übernatürliche[r], […] absolut[er] göttliche[r] Offenbarung[]“ impliziere.10 Die Hauptsache sei mit dieser Argumentation gewonnen. Es bleibe nur übrig das Christentum so aufzufassen, dass ein Zentralbegriff für das System sichtbar wird, womit die Grundlegung für die Spezial-Dogmatik absolviert sei.11 7 8 9 10
Troeltsch, 1. Band, 502. Ibid. Ibid. Ibid., 503. Es wird „immer vorausgesetzt […], liebevolles Verständnis für das Christentum sei dem natürlichen, erbsündigen Menschen unmöglich, es könne nur durch eine übernatürliche Bekehrung zum Glauben an eine übernatürliche Gottesthat zu Stande kommen“ (ibid.). 11 Verallgemeinernd lasse sich sagen, dass von Oettingen „eine häufige theologische Methode“ verwendet, die den Satz von der Unmöglichkeit einer „unbedingte[n] Voraussetzungslosigkeit […] gerade für die Geltung einer ganz bestimmten Voraussetzung in Anspruch“ nimmt (Troeltsch, 1. Band, 503). Die Übernatürlichkeit und Absolutheit des Christentums bzw. des Luthertums sei die Voraussetzung. Die Bedingung für die Erkenntnis des Christentums sei deshalb „die übernatürliche Bekehrung zum Glauben an eine übernatürliche
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Ein Denkmal des Gegensatzes
Über einen solchen Ausgangspunkt und eine derartige Methode „zu streiten ist natürlich unmöglich“.12 Allerdings stelle sich die Frage, ob die so präsentierten Dogmen – dazu mehr im Bericht über die beiden folgenden Rezensionen zum System – im Licht der psychologischen, naturwissenschaftlichen und metaphysischen Erkenntnisse nicht als problematisch erscheinen und ob die religionsgeschichtlichen Analogien und die „Anwendbarkeit gewöhnlicher historisch-kritischer Methoden auf die Bibel“ an der Behauptung der Übernatürlichkeit der christlichen Offenbarungsgeschichte noch gehalten werden können. Kurz: Ob die wissenschaftliche Arbeit der letzten Jahrhunderte, die „ohne und gegen“ diese Voraussetzung, i. e. der Absolutheit und Übernatürlichkeit des Christentums, geleistet wurde, diesen Ausgangspunkt nicht unplausibel macht. Im Unterschied zur älteren Apologetik des Christentums und ihrem Versuch, die Einwände gegen die Übernatürlichkeit des Christentums Schritt für Schritt zu widerlegen, fordere die neuere Apologetik (in Anbetracht der Wirkungslosigkeit solcher Widerlegungen) prinzipiell „das Zugeständnis der Uebernatürlichkeit des Christentums als das wesentliche Moment der religiösen Gesinnung“13 und betrachte alle Kritik dagegen als Ausdruck „der Abwesenheit dieses Momentes oder […] der Sünde“.14 Eine derartige Apologetik bildet Troeltsch zufolge auch die Basis der Dogmatik von Oettingens. So genüge eigentlich eine Umschreibung „d[es] erfahrungsgemäß übernatürliche[n] Objekt[s] der Dogmatik, d[er] christliche[n] Heilsoffenbarung“ und die Bestimmung ihres Zentralpunktes. Von diesem aus könne „das dogmatische Geschäft“ sofort beginnen.15 Doch bekomme diese Feststellung „des Wesens des Christentums“ eine ausführliche apologetische Gestalt, die aber nur eine nähere Entfaltung der Voraussetzung bzw. des Ausgangspunktes der „dogmatischen Wissenschaft“ sei. Der gewöhnliche Sinn der Untersuchungen über das Wesen des Christentums – also der Versuch „Stellung und Bedeutung des Christentums innerhalb der religionsgeschichtlichen Entwicklung zu bestimmen“ – werde damit außer Kraft
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Gottesthat“. Vgl. die zwei Beispiele, die den Satz von der Unmöglichkeit der Voraussetzungslosigkeit problematisieren: „Zwar scheint dieser Satz eine bedenkliche Aehnlichkeit mit der Forderung zu haben, daß man etwa die Kunst des Cinquecento für die absolute Kunstoffenbarung ansehen müsse, weil jene Kunst sich so gefühlt habe und eine Gemeinde von Verehrern sie ebenso empfinde, ein Verständnis aber ohne Teilung dieser Empfindung überhaupt nicht möglich sei, oder mit der Lehre der Katholiken, daß gerade der moderne Staat die unbedingte Herrschaft der Kirche gestatten müsse, weil die allgemein anerkannte Gewissensfreiheit dem Katholiken das Recht gebe, Freiheit für die absoluten Herrschaftsansprüche der Kirche zu forden.“ (Ibid.). Ibid. Ibid. Ibid., 504. Ibid.
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gesetzt. Vielmehr solle das Christentum als „Normal- und Idealreligion“, als „normale Ur- und Zielgestalt aller […] Religion“, dagegen „die nichtchristlichen Religionen und Philosopheme“ als deren „Trübungen […] durch die Sünde“ erkannt werden. Troeltsch erläutert diese Argumentationsfigur, die er im ersten Teil der Prinzipienlehre – in ihrem physiologischen, pathologischen und therapeutischen Kapitel – verwirklicht sieht, näher. Er meint, dass die pathologische Prinzipienlehre eine „Entwickelungsgeschichte der Irreligion“ darzustellen beabsichtigt, eigentlich aber weder der Geschichte noch der Religion gerecht wird. Die Darstellung bzw. Argumentation stehe ganz im Dienst der These, das Christentum sei die Idealreligion: Weil alle nichtchristlichen Religionen „nur durch sündige Verderbung der […] christlichen Wahrheit entstanden“ (von dieser her ist nämlich die Vorstellung der Idealreligion konstruiert) seien, sei das Christentum die Idealreligion.16 Gegenüber diesem Verderben konnte sich die Idealreligion historisch nur als „sündentilgende und übernatürliche Erlösungsoffenbarung“ – um die Menschen nicht zu erschrecken – in allmählicher, „organischer“ Entwicklung verwirklichen.17 Die Antwort auf die Frage nach dem spezifisch dogmatischen Erkenntnisprinzip werde an zweiter Stelle behandelt, weil die Erkenntnis ihrem Objekt gemäß sein solle. Die Dogmatik als Glaubenswissenschaft verhalte sich allen anderen Wissenschaften insoweit analog, als dass auch diese einen Moment des Glaubens implizieren. Doch „der die dogmatische Erkenntnis konstituierende Glaube“ sei „etwas ganz eigenartiges: wie das Objekt, das Wesen des Christentums, ein übernatürliches ist, so ist auch die Glaubenserkenntnis der Dogmatik eine übernatürlich gewirkte, sie ist die Heilserfahrung von der Erlösungsoffenbarung in Christus.“18 Wie im Fall der Frage nach dem Wesen des Christentums im ersten Teil der gewöhnliche Sinn abgelehnt bzw. verändert wurde, so geschieht dies auch hier mit Blick auf die Frage nach dem Wesen der religiösen Erkenntnis (in ihrem Verhältnis zur Gesamterscheinung religiöser Erkenntnis, sowie der theoretischen Erkenntnis). Der Fokus liegt auf der „genauere[n] Konstruktion […] übernatürlich gewirkten Erkenntnis“.19 Troeltsch bringt die 16 17 18 19
Troeltsch, 1. Band, 504f. Ibid., 505. Ibid. „Diese entsteht nämlich vermittels der kirchlichen Verkündigung und Sakramente, ist wesentlich praktischen Charakters, führt aber von diesem praktischen Charakter aus zu theoretischen Sätzen, die adäquate, aber auf Erden noch nicht vollständige Erkenntnis gewähren. Sie entwickelt ihre Sätze frei deducierend aus dem Kerne der praktischen Heilserfahrung, kontrolliert aber diese Sätze an der Bibel und an den lutherischen Bekenntnissen, da sie von diesen ihren ursprünglichen Quellen sich nicht entfernen darf, wenn sie nicht dem Nonsens verfallen will, in der Wirkung etwas zu produzieren, das in der Ursache gar nicht enthalten war. Daß andere Confessionen und Religionen geradeso für sich argumentieren
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Ein Denkmal des Gegensatzes
angebliche Argumentationsstrategie des zweiten Teiles der Prinzipienlehre samt der Klärung des Verhältnisses der dogmatischen zu den außer-dogmatischen Erkenntnisweisen in dieser Weise pointiert ans Tageslicht. Zum Schluss ist Troeltsch erstaunt darüber, dass es von Oettingen am Ende seines Buches als eine Aufgabe des Dogmatikers sieht, in stetem Zusammenhang „mit der gesamten geistigen Bewegung der Gegenwart“ (so von Oettingen) zu stehen. In der Wahrnehmung von Troeltsch zeigt das Buch „überall nur einen grundsätzlichen Gegensatz gegen alle wesentlichen Grundgedanken der gegenwärtigen Wissenschaft“. Es sei „mehr ein Denkmal des Gegensatzes gegen die gesamte geistige Bewegung der Gegenwart als des Zusammenhanges mit ihr“.20
24.3
Über die Darlegung der christlich religiösen Ideen selbst
Die Rezension über die erste Hälfte der materiellen Dogmatik erscheint zeitnah mit der Publikation der zweiten Hälfte, die Besprechung der zweiten Hälfte erst nach dem Tod von Oettingens. Er konnte sie also nicht mehr berücksichtigen.21 Die beiden Rezensionen sind insofern in ihrer Struktur ähnlich, dass sie mit ausführlicheren Überlegungen zur Methode von Oettingens beginnen, dann das eigentliche Material behandeln und mit generellen Bemerkungen über das Verhältnis einer solchen Dogmatik zur Moderne schließen.22 können und von dieser Argumentation aus eine Veränderung der Religionen überhaupt unmöglich wäre, ficht den Verf. nicht an.“ (Troeltsch, 1. Band, 505f). 20 Ibid., 507. „Freilich läuft die Grenzlinie nicht reinlich zwischen dem Verfasser und der Gegenwart, sondern sie geht mitten durch die unter geteilten Einflüssen stehende Denkweise des Verfassers selbst hindurch. Das zeigt sich auch am Stil, der zwischen architektur-freudiger Scholastik und geschmücktem Predigtton einerseits und zwischen modernstem Essaistil andererseits quälend hin und her spielt.“ (Ibid., 507). 21 Ob von Oettingen Troeltschs Urteil zur Prinzipienlehre vor der Veröffentlichung des Systems gekannt hat, lässt sich nicht eindeutig beantworten, ist aber unwahrscheinlich. Zwei Mal nimmt er auf Troeltsch Bezug. In der Prinzipienlehre verweist er auf dessen Aufsatz „Atheistische Ethik“ (1895) und charakterisiert ihn als einen Theologen „aus der Ritschl‘schen Schule“ (1897a, 161). Im Vorwort zu Bd. 2/2 gesteht er der „Forderung […] die systematische Theologie durch die religionsgeschichtliche Methode zu beleben“, einen Wahrheitsmoment zu, verweist aber auch auf ihre Grenzen mit Blick auf die Aufgabe der Systematischen Theologie (1902a, ix). Konkret bezieht er sich dabei auf Troeltschs „Über historische und dogmatische Methode der Theologie“ (1900). Im Vorwort zu Bd. 2/1 behauptet er, dass das Urteil der Presse über seine Principienlehre generell anerkennend gewesen sei, er jedoch noch keine „[e]ingehende sachliche Beurtheilung oder Verwerthung meiner eigenartigen Grundgedanken“ gesehen habe (1900c, vi). 22 Rezension II (Troeltsch, 2. Band, 1. Theil): 1. Zur dogmatischen Methode in ihrem Verhältnis zur Moderne (187f); 2. Zu der von dieser Methode vorausgesetzten Auffassung und Behandlung der Bibel und der Dogmengeschichte (188–191); 3. Flüchtiger Blick auf den Inhalt des Systems (191f); 3. Abschließendes Urteil (192f). Rezension III (Troeltsch. 2. Band, 2.
Über die Darlegung der christlich religiösen Ideen selbst
355
24.3.1 Zur Methode: das volle lutherische Dogma als Implikation der Heilserfahrung „[D]as einzige Moderne an dem Buche“,23 abgesehen von der zitierten modernen Literatur und z. T. dem Stil, bestünde in seiner Methode, insofern die christlichreligiösen Ideen bzw. Begriffe als Teilmomente eines gegenwärtigen Denkzusammenhangs und als aus der lebendigen christlichen Denk- und Gefühlsweise hervorgehend entwickelt werden. Darin zeige sich der Einfluss von Schleiermacher und Ritschl. Doch würden „diese modernen Motive“ damit gleich gebrochen, dass „die innere Erfahrungswircklichkeit“ mit der „Zustimmung zu der Lehre von der Gottheit und stellvertretenden Sündenüberwindung Christi“ identifiziert werde und die Anerkennung Christi zugleich die Anerkennung der Bibel als inspirierter Erkenntnisquelle garantiere. Aus der angeblich christozentrischen Dogmatik – einer Dogmatik also, die (wie Troeltsch es bei von Oettingen versteht) „aus dem Ganzen christlichen Glaubens die durch Christus gegebenen und wirksam gemachten Hauptmomente herauslös[t]“ –, bliebe nur die Form übrig. Sachlich werden jedoch die biblischen Aussagen über Urstand, Sündenfall, Heilsratschluss etc. zu den „selbstständige[n] Erkenntnisquellen“.24 Anstelle einer Glaubenslehre, die den Inhalt des christlichen Bewusstseins darstellt, trete eine Dogmatik, die „die divina comedia“ erzählt. Die Beweismethode sei „sehr einfach“: ohne Anerkennung der biblischen und kirchlichen Lehrsätze sei die Heilserfahrung nur ein Schein. Die „kirchlichbiblischen Dogmen“ seien die „notwendige“ Konsequenz aus dem Heilsglauben und die Verneinung der Dogmen hebe „die praktische Anteilnahme am Heil“ auf. Die „Kunst“ der Dogmatik unterscheide sich zwischen der „modern orthodoxen Theologie“ und der „altorthodoxen“ Theologie deshalb nicht im Ergebnis, sondern nur darin, dass die moderne Orthodoxie alle Dogmen als Forderungen bzw. Postulate der Heilserfahrung „konstruiert“, die alte Orthodoxie sie hingegen „unmittelbar“ aus der Bibel ableitet. Beide Methoden könnten alles beweisen, was vom Dogma her als zu beweisen gilt. Die Pointe der orthodoxtheologischen bzw. dogmatischen Methode sei im Urteil von Oettingens also schlicht. Das Verfahren läuft hier wie sonst auf den einfachen Satz hinaus, daß man am Praktischen und Wesentlichen des Christentums nur Teil haben kann bei Anerkennung des kirchlichen, in diesem Falle des spezifisch lutherischen Dogmas, und daß, wer diese Theil): 1. Zur dogmatischen Methode in ihrem Verhältnis zur Moderne (418–420); 2. Blick auf den Inhalt (420–425); 3. Kurze Charakterisierung des Verständnisses von Bibel und Dogmengeschichte (425f); abschließendes Urteil (426f). 23 Troeltsch, 2. Band, 1. Theil, 187. 24 Ibid., 188.
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Ein Denkmal des Gegensatzes
ganz oder partiell nicht anerkennen will, damit das Recht auf alle Christlichkeit verliert.25
Durch diese „zum Ueberdruß oft gehandhabte Methode“ würden diejenigen, die mit dem christlichen Glauben nicht radikal brechen wollen, „zur Annahme des gesammten Dogmas genötigt“ (ibid.). Diejenigen, die am Christentum festhalten wollen, obwohl sie „der biblischen Ideenwelt und dem kirchlichen Dogma“ gegenüber kritisch sind, seien inkonsequent und oberflächlich. Am ausführlichsten und schärfsten präsentiert Troeltsch in allen drei Rezensionen die These, dass die Lutherische Dogmatik nur ein weiteres Exemplar typischer (in Wahrheit anti-moderner) Orthodoxie sei. Seine geistige Kraft geht dahin – zwar ohne besonderen Bezug auf den Text von Oettingens –, in allen wichtigen Voraussetzungen und Konsequenzen, mit drastischer Deutlichkeit und erhabener Ironie vor Augen zu führen, wessen Geistes Kind das Buch von Oettingens ist. Dass er von Oettingens Intention(en), soweit diese im Buch zum Ausdruck kommen, besser versteht als dieser selbst, und dass ihm eine Reduktion bzw. Verallgemeinerung der theologischen Landschaft auf letztendlich zwei Positionen gelingt, zeugt von der Souveränität Troeltschs. 24.3.2 Die vorausgesetzte Auffassung von Bibel und Dogmengeschichte: eine analogielose, absolute Wundergeschichte und die Betrachtung ihres Werdens Troeltsch zufolge geht mit der modernisierten orthodoxen Beweisführung eine Modernisierung der alten Bibel- und Dogmen- bzw. Traditionsauffassung Hand in Hand. Weil die primäre Quelle dogmatischer Aussagen die Heilserfahrung ist, dienen die Bibel und die Tradition nur zur Bestätigung und Kontrolle, obwohl die Heilserfahrung ihnen „eine besondere wunderbare Dignität“ verleiht.26 Einerseits können dadurch die Bibel und die Dogmengeschichte einer Auffassung „ausgeliefert werden“, die zeitgeschichtliche Bedingtheiten zugibt. Sie können also „einer entwickelungsgeschichtlichen Betrachtung überlassen werden“.27 Doch beschränkt diese sich auf die Schilderung „d[es] successive[n] Hervortreten[s] und Wachstum[s] der wunderbaren Heilsgeschichte und d[er] ebenso successive[n] Ausgestaltung der vollen Heilsoffenbarung in der Dogmengeschichte“.28 Die so anerkannte Entwicklung ist „eine göttliche und keine 25 26 27 28
Troeltsch, 2. Band, 1. Theil, 188. Troeltsch, 2. Band, 1. Theil, 189. Ibid. Ibid., 189f. „Das Wunder und die Wahrheit … steig[en] in göttlicher Leitung langsam auf den Gipfel, und der Wahrheitsbesitz […] ist […] nicht von Anfang an fertig durchschaut, sondern bedarf einer successiven Herausarbeitung zu einer seinen gesamten Zusammenhang durchschauenden und formulierenden Einsicht.“ (Ibid., 190).
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menschliche Entwickelung“ – „ein Werden des absolut einzigartigen Wunders, […] nicht ein Werden im Sinne der sonstigen Geschichte“.29 Während also die dogmatische Methode der Lutherischen Dogmatik auf den Impuls von Schleiermacher und Ritschl zurückzuführen ist, zeigt die darin zu findende Behandlung der Bibel und der Dogmengeschichte den Einfluss von J. von Hofmann und G. Thomasius, d. h. der „heilsgeschichtlichen“ Bibel- und der „entwickelungsgeschichtlichen“ Dogmenforschung. Weil der „absolute Wundercharakter dieser Geschichte und ihrer Urkunde jede Analogie mit dem profanen Geschehen und der profanen Ueberlieferungsweise“ ausschließt, kann die „zugelassene entwickelungsgeschichtliche, d. h. der profangeschichtlichen [Methode] analoge Betrachung“ nie zur wirklich konsequenten und durchgängigen profangeschichtlichen Betrachtung der Bibel und der Dogmengeschichte ausarten. Der „überzeugte[] Lutheraner“ hat keinen Sinn dafür, dass die Frage nach dem Kriterium für legitime und illegitime Analogien zwischen der Wunder- und der Profangeschichte „die eigentlich tödliche Schwierigkeit“ einer solchen Behandlung darstellt.30 „[L]ebhafte Deklamation über die Unmöglichkeit voller Voraussetzungslosigkeit“ soll alle Schwierigkeiten lösen können. Mit solcher „großartige[n] Überlegenheit“ über die sog. Voraussetzungslosen und der Ahnungslosigkeit hinsichtlich der Schwierigkeit und Klärungsbedürftigkeit des Begriffes von der „Unmöglichkeit der Voraussetzungslosigkeit“ ähnelt von Oettingen den katholischen Theologen, „die sich in letzter Zeit nicht minder triumphierend zu diesem Thema geäußert haben“.31 24.3.3 Der Blick auf den Inhalt des ersten Systemteils: Sündenerkenntnis als Schlüssel der Dogmatik Nachdem Troeltsch die Konstruktionsprinzipien der Dogmatik von Oettingens so transparent gemacht und erklärt hat, erkennt er den Mut an, mit dem sie sich „zu allen Konsequenzen und Voraussetzungen des Dogmas bekennt“.32 Deshalb braucht zum Inhalt der Dogmatik nicht viel gesagt zu werden. Troeltsch begnügt sich mit einer selektiven Paraphrase „ihrer zum Teil grotesken Vorstellungen“,33 die „mit vollem Ernst festgehalten“ werden.34 Das 29 Ibid. 30 An diesem Punkt scheitern „alle theologischen Compromisse zwischen Wundermethode und profaner Methode“ (ibid.). 31 Troeltsch, 2. Band, 1. Theil, 191. In allen drei Rezensionen weist Troeltsch auf die fatalen Ähnlichkeiten mit der katholischen Theologie hin. Die Hinweise auf solche Parallelitäten sollen zeigen, wie schlimm es um dieses Buch bzw. diese Theologie steht. 32 Ibid. 33 Ibid., 193.
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Ein Denkmal des Gegensatzes
Thema des ersten und umfangreichsten Kapitels im Rahmen der dogmatischen Ontologie35 – die auf mehr als 250 Seiten behandelte dogmatische Theologie – wird übersprungen. Keine Skizze der Logik der Architektonik, auch keine wohlwollende Interpretation der Darstellung einzelner Themen (keine Anwendung des principle of charity) ist beabsichtigt. Stattdessen gibt Troeltsch eine grobe, stark verstellende und insinuierende Beschreibung einiger Momente, wodurch die Spezialdogmatik als Musterbeispiel für allerlei Absurditäten und Inkonsequenzen in Erscheinung tritt: Sie ist ein grotesker Denkkomplex. Bemerkenswert ist aus diesem Abschnitt nur, dass für Troeltsch die Sündenerkenntnis – und das darin implizierte Postulat der Inkarnation und des stellvertretenden Sühnewerks – „der eigentliche Hebel dieser Dogmatik“ ist.36 Troeltsch betrachtet von Oettingens Dogmatik in dieser Hinsicht als exemplarisch für die „moderne protestantische Orthodoxie“, die insofern noch augustinischer als der Katholizismus sei, als dass sie auf alle rationalen Beweise der Dogmen, sowie auf den Nachweis der wunderbaren Autorität der Kirche verzichtet und mutig „alles aus dem Sündengefühl“ hervorzaubert.37 24.3.4 Gegensatz zur Moderne wegen eines mangelnden Verständnisses der modernen Welt Im Ganzen stelle die Dogmatik von Oettingens „trotz mancher Modernisierungen“ eine entschlossene Behauptung „de[s] Geist[es] des kirchlichen Dogmas“,38 „des Kirchenglaubens“39 dar. Von Oettingen sei sich bewusst, „daß er damit den Glauben einer Minderheit bekennt“ – er wisse, „daß dieses Dogma […] vielfach“ im direkten Gegensatz zu „der Religion des modernen Europa“ stehe. Analog zu den katholischen Dogmatiken befinde sich von Oettingens Dogmatik „mit der Gegenwart prinzipiell im Streit“,40 beruhige sich über den Gegensatz „durch die breite Entfaltung der historischen Kontinuität“ und nehme generell eine „defensive Stellung“ ein.41 Doch beruhe die Defensive bzw. Apologie nicht „auf wirklichem Studium und Verständnis der modernen Welt“.42 34 Ibid., 192. 35 Die jeweils ersten Abschnitte der beiden Teile des Systems – Ontologie und Christologie – sind die umfangreichsten. 36 Ibid. Wenn dem so wäre, sollte das Motto dieser Dogmatik dann nicht „Sündenerkenntnis macht Theologen“ statt „Theologia macht Sünder“ lauten? 37 Ibid. 38 Troeltsch, 2. Band, 1. Theil, 192. 39 Ibid., 193. 40 Ibid., 192. 41 Ibid., 193. 42 Ibid. Die Wahrnehmung der modernen Welt bei Troeltsch und bei von Oettingen sind verschieden. Darf diese Differenz in der Wahrnehmung jedoch so vereinfachend bewertet
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Von Oettingen übersehe schlichtweg die Differenz zwischen der modernen Dogmenkritik und den Motiven altkirchlicher Häresien und finde „in der modernen Welt nur ein Wiedererwachen der pelagianisch-deistischen und der manichäisch-mystischen Häresie“,43 die zudem als Extreme „beständig in einander übergehen, so daß das lutherische Dogma von selbst als die goldene Mitte erscheint!“44 Von Oettingen habe überhaupt nicht eingesehen, dass die moderne Welt „neue Denk- und Gefühlsmotive“ hervorbringt, dass „die Situation eine ganz andere als für Augustin und Athanasius“ ist, dass das in der Zeit des völlig kritiklosen Geschichts- und krass fantasierenden Naturverständnisses geformte Dogma „sich schwerlich von diesem Hintergrund einfach ablösen und in die Welt moderner Naturwissenschaft und Geschichtskritik schwerlich einfach versetzen läßt.“45 24.3.5 Allgemeine Einordnung In der letzten Rezension aus dem Jahr 1905, die erst nach dem Tod von Oettingens erschienen ist, wird zum dritten Mal eine allgemeine historische Charakterisierung und Einordnung vorgenommen. Troeltsch interpretiert „[d]ie große lutherische Dogmatik“ als Ausdruck „des entschlossenen und überzeugten lutherischen Konfessionalismus“, der „die allgemeine biblisch-mittelalterliche Weltanschauung und die religiös-dogmatische Idee des symbolgläubigen Luthertums“ erneuert,46 also die „Gesamtanschauung des 17. Jahrhunderts“47 und die Geltung „d[es] Luthertum[s als] d[er] absolute[n] Religion“48 voraussetzt und mutig vertritt.49 Damit ist die inhaltliche Position dieser Dogmatik bestimmt.
43
44 45 46 47 48 49
werden, dass von Oettingen keine Ahnung hatte? Wäre es nicht sachgemäßer, von einer differierenden Wahrnehmung zu sprechen? Auf jeden Fall ist von Oettingen derjenige Theologe, der wohl die empirisch genaueste Vorstellung der Gesellschaften Europas und ihrer Dynamiken in der zweiten Hälfte des 19. Jh. hat. Er hat sich insofern sehr wohl um das genaue Studium der Gegenwart in ihrem Werden bemüht. Troeltschs soziologisches bzw. sozialgeschichtliches Interesse ist um die Jahrhundertwende noch nicht geweckt. (Das geschieht erst durch M. Weber.) Das ist eine orientierende heuristische Typisierung. Troeltsch selbst findet später in ähnlicher Weise durch die ganze Kirchengeschichte Kirchen, Sekten und Mystik. Es handelt sich um kategoriale Vorstellungen, die insofern in der Tat nicht auf eine Epoche reduzierbar sind, sondern in einer modifizierten und modernisierten Gestalt durchaus auch später wahrnehmbar sind (vgl. unten Kap. 28). Man kann die unzureichende Differenziertheit beklagen, aber es ist auch klar, dass Orientierungswissenschaften mit solchen Modellierungen und Typisierungen arbeiten (müssen). Ibid. Troeltsch, 2. Band, 1. Theil, 193. Troeltsch, 2. Band, 2. Theil, 419. Ibid., 426. Ibid., 420. Von Oettingen sagt in seinem Werk weder, dass speziell das Luthertum, noch dass die
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Ein Denkmal des Gegensatzes
24.3.6 Spezifisch theologische Methode Als Instrument dafür dient die „moderne theologische Methode“ (bzw. die „modern-orthodoxe Methode“ bzw. „dogmatische Methode“), wie sie sich die durch drei Vermittlungsschritte hindurchgegangene moderne Orthodoxie geschaffen habe – die Orthodoxie also, die durch den Pietismus verinnerlicht und durch die Religionsphilosophie Schleiermachers formell angeregt wurde und die seit der Erlanger Schule den Entwicklungsgedanken heilsgeschichtlich bzw. supranaturalistisch umdeutet.50 „Das Wesen dieser Methode ist, von der jedem zuzumutenden Sündenerkenntnis als dem Allgemeinsten auszugehen.“51 In Bezug auf die Sündenerkenntnis wird die Erbsünde und „mit ihr das Postulat einer übernatürlichen Erlösung“ verständlich gemacht. Allerdings kann die Wirklichkeit der Erlösung nur innerlich erfahren werden. Diese Erfahrung ist ein durch die Sündenerkenntnis „nur vorbereitet[es]“ und „von Gott selbst erst gewirkt[es]“ Wunder.52 An dieser wunderlichen (Bekehrungs-)Erfahrung hängt die christliche Erkenntnis – „wer sie nicht gemacht hat, dem ist alles eine Thorheit“.53 Diese Methode ist „Erfahrungs- und Zeugnistheologie“, der die „Erfahrung des inneren Wunders“ als vorausgesetzter Ausgangspunkt dient und die dessen Gehalt analysiert und beschreibt. Die Voraussetzungslosigkeit ist undenkbar. Die Aufgabe besteht deshalb in der Analyse des Inhaltes der Voraussetzung. Der methodisch grundlegende Unterschied zwischen der alten und der neuen Orthodoxie besteht also darin, dass letzterer als Ausgangspunkt nicht die Inspiration der Bibel, sondern die innere Erfahrung hat,54 dass eine „menschliche[] Seite der Bibel“ zugegeben wird und dass sich apologetisch nicht auf die ari-
50 51 52 53 54
christliche Religion allgemein als „absolute“ Religion gelte. Es sei auch angemerkt, dass der Wunderbegriff und auch der Begriff der Übernatürlichkeit – und deren Derivate – nicht zu den Grundbegriffen der Dogmatik von Oettingens gehören. Sie tauchen sehr selten auf. Dem Wunderbegriff wird zwar eine eigene Interpretation zuteil, aber im Unterschied zu den Rezensionen von Troeltsch, die mit den Begriffen „Wunder“ und „wunderlich“, „übernatürlich“, „supranatural“, etc. massiv, fast in jedem fünften Satz, operieren, benutzt von Oettingen diese Termini nicht. Der Sprachgebrauch von Troeltsch spiegelt also nicht die Terminologie von Oettingens wider. Man kann daher von einem polemischen Stilmittel sprechen. Vgl. ibid., 419, 424. Ibid., 419. Troeltsch, 2. Band, 2. Theil, 419. Ibid. „[E]ine gewisse Conkurrenz der Erkenntnisquelle im inneren Wunder der Bekehrung und der Erkenntnisquelle im äußeren Wunder der Bibel“ werde dadurch entschärft, „daß die Bibel die erste Quelle erst zum Strömen bringt und daß die zweite Quelle sachlich dasselbe enthält, was das Wunder der inneren Erfahrung von sich aus postulieren muß. So verläuft die Darstellung derart, daß stets zuerst das Postulat der inneren Erfahrung kommt, dann die biblische Bestätigung und dann die Verteidigung der so doppelt befestigten Wahrheit gegen die verschiedenen alten und neuen Häresieen.“ (Ibid., 419f).
Zum Gehalt des zweiten Systemteils
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stotelisch-mittelalterliche, sondern auf die moderne Philosophie bezogen wird.55 24.3.7 Konfessionalismus und der Kampf gegen die Moderne Weil nun „das Luthertum die absolute Religion“ sei, mache sich von Oettingen auch keine Sorgen über die Tatsache, dass dieses „gegenüber der Weltmacht des Calvinismus immer mehr zu einer kleinen Nebenprovinz“ werde, sondern erneuere vielmehr alle verstaubten kontrovers-theologischen Argumente.56 Durch das Buch ziehe sich das Motiv eines Kampfes gegen zwei neue Häresien des Christentums – gegen den Deismus bzw. die Aufklärung und den Pantheismus bzw. den deutschen Idealismus –, die alles Gute „nur“ vom Christentum hätten, in ihren Irrtümern sich gegenseitig aufhöben und „lediglich Ergebnisse der Unterschätzung und Leugnung der Sünde“ seien.57 Eine Auseinandersetzung finde allerdings „wesentlich“ nur in ihrer „Ausformung durch liberale Theologen“ statt. „Das moderne Antichristentum“ – anders formuliert: der neu zeitliche Atheismus – bleibe dagegen „wesentlich“ unberücksichtigt. Mit „der modernen gläubig-theologischen Methode“ rette von Oettingen den Konfessionalismus, wobei „eine Wolke von Zeugen“, „eine Unzahl von Exemplaren moderngläubiger Literatur“, Gewähr gäben. „[I]n dieser Gemeinschaft fühlt er sich stark genug, die bösen Zeiten zu überdauern“.58
24.4
Zum Gehalt des zweiten Systemteils
Die Übersicht über die drei Abschnitte der zweiten Hälfte der Dogmatik ist zwar recht genau, aber als stark tendenzielle Rekonstruktion dient sie hauptsächlich nur zur Veranschaulichung des Generalurteils, dass „die altlutherische Lehre“ hier erneuert und gelegentlich „neulutherisch“ bzw. „wie bei vielen modernen Lutheranern“59 modifiziert sei. Ich führe dafür je ein Beispiel aus der Christologie und der Pneumatologie an. In der Erlösungslehre dominiere altlutherisch die stellvertretende Genugtuung, obwohl „die krasse Straflehre“ auch bei von Oettingen ethisch-religiös „verinnerlicht“ sei.60 Zudem mache von Oettingen die Stellvertretung „durch die mit der modernen Moralstatistik begründete ,so55 56 57 58 59 60
Ibid., 419. Ibid., 420. Ibid. Troeltsch, 2. Band, 2. Theil, 420. Ibid., 421. Ibid.
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Ein Denkmal des Gegensatzes
cialethische‘ Betrachtung“ erträglicher : Die Menschheit sei „ein gesetzliches61 Ganzes […], wo Gesamtschuld und Gesamtheiligung an einem Ort stellvertretend zentralisiert werden können“.62 Doch trotz solcher Modernisierungen und Verfeinerungen der krass physischen Vorstellungen bleibe von Oettingen bei der Zentralstellung des Opfers – Troeltsch zitiert ihn: „,das christocentrische Moment trägt wesentlich staurocentrischen Charakter‘ (217)“.63 Ich halte hier zum einen fest, dass dies die einzige Stelle in Troeltschs Auseinandersetzung mit von Oettingen ist, an der auf die Sozialethik hingewiesen wird. Der Verweis darauf liegt insofern nahe, als dass von Oettingen ihn im Buch selbst explizit anführt. Dass die Sozialethik jedoch durch die Moralstatistik „begründet“ sei, ist eine von Troeltsch (als Selbstverständlichkeit) gemachte Aussage. Auffällig ist, dass Troeltsch die Rolle von Oettingens bei dieser „Begründung“ mit nicht einem einzigen Wort andeutet. Es ist vorstellbar, dass Troeltsch das für irrelevant gehalten hat. Möglicherweise war es ihm auch nicht bewusst. Sein Interesse für Soziologie wird erst relativ spät, durch den Kontakt mit Max Weber64 – fast zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung des Buches Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine Socialethik (und ca. 35 Jahre nach dessen Erstauflage) –, ausgeprägt und da bleibt dieses Interesse eher ein geschichtswissenschaftliches, ideengeschichtliches und weniger empirisches oder moralstatistisches. Zweitens halte ich fest, dass erst hier, in der letzten Rezension, in einem Zitat zum ersten und einzigen Mal sichtbar wird, was von Oettingen selbst an seiner Dogmatik für entscheidend hielt – dass hier eine staurozentrische Dogmatik versucht wurde. Das wird jedoch nur in reduzierter Gestalt sichtbar, da Troeltsch diese Staurozentrik erst im speziellen Rahmen der Erlösungslehre – konkret im Hinblick auf die Zentralität des Opfers Christi – und ohne Klarstellung deren gesamtdogmatischer Relevanz erwähnt. In der zweiten Rezension, wie gesehen, wird der Dogmatik vielmehr die sachliche Christozentrik – in dem Sinn, in dem Troeltsch sie umschrieben hat – vollkommen abgesprochen. Auch die Übersicht über „die Lehren von der Heilszueignung“ scheint eher im Anschluss an eine typische bzw. typisierende Vorstellung von altlutherischen Lehrdarstellungen zu erfolgen. Sie ignoriert die nicht unwichtigen Struktur61 62 63 64
Warum fügt Troeltsch hier „gesetzlich“ ein? Ibid., 422. Ibid. Vgl. den Hinweis von Reiner Anselm: „Max Weber weckte Troeltschs Interesse für die Soziologie und ebnet ihm dadurch den Weg für eine über die bisherige Dogmengeschichtsschreibung hinausgehende Analyse der Christentumsgeschichte, die auch die sozialen Lebensformen des Christentums sowie ihre Wechselbeziehungen zur jeweiligen Lehrbildung und zu den zeitgenössischen außertheologischen Bedingungsfaktoren mit einbezieht.“ (Anselm, Troeltsch, 216).
Zusammenfassende Charakterisierung
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differenzen, sodass die Art und Bedeutung der Pneumatologie von Oettingens nicht sichtbar wird. Für Troeltsch wird „hier die lutherische Fortsetzung des katholischen Gnaden-, Kirchen- und Sakramentsbegriffes gegen täuferische Schwärmerei und reformierten Spiritualismus in alter Weise auseinandergesetzt.“65 Charakteristische Ungenauigkeit findet sich z. B. hinsichtlich des Wortes Gottes (das bei von Oettingen – im Gegensatz zu dem, wie es bei Troeltsch den Anschein hat – vor der Kirche behandelt wird). Zuerst identifiziert Troeltsch es mit der Bibel,66 um später zu präzisieren, dass von Oettingen hier in erster Linie das gepredigte und verkündigte Wort vor Augen habe. Diese Präzisierung ist korrekt, jedoch gibt Troeltsch dafür (mit Hilfe eines angeblichen Zitats) eine erstaunliche Erklärung, die völlig die dogmatischen Intentionen von Oettingens verfehlt: Diese Identifikation erfolge „teils aus Rücksicht ,auf die, die nicht lesen können‘, teils und noch mehr aus Rücksicht auf die moderne Bibelkritik, der wenigstens zugegeben wird, eine menschliche Seite neben der göttlichen in der Bibel erwiesen zu haben“.67 Dass die Einsicht (von Oettingens) in „eine menschliche Seite“ auf deren Erweis durch die moderne Bibelkritik zurückzuführen ist, sie also mindestens soweit anerkannt sei, ist – um das Wenigste zu sagen – fragwürdigerweise monokausal, da diese Auffassung auch vor der Entwickelung der modernen Bibelkritik durchaus zu finden ist. Eine genauere Lektüre der Dogmatik von Oettingens lässt vielmehr erkennen, wie von Oettingen an diesem Punkt z. B. Luther gegen gewisse Tendenzen späterer Dogmatiker stellt.68
24.5
Zusammenfassende Charakterisierung
Die Rekonstruktion der Dogmatik von Oettingens durch Troeltsch soll hinreichend deutlich gemacht haben – und er formuliert dies als sein abschließendes Urteil –, dass „der Standort“ dieser Dogmatik die „Gesamtanschauung des 17. Jahrhunderts“ sei.69 Die Auffassung der Bibel und der Dogmengeschichte, die im Apparat zu den einzelnen Kapiteln zum Ausdruck komme, charakterisiere in pointierter Form: Das Bibelverständnis sei das „mythologisch-gläubige“, wie es Hengstenbergs Schule restauriert und die Erlanger Schule geschichtsphilosophisch ausgeschmückt hat. „[A]lles, was eine historisch65 66 67 68
Troeltsch, 2. Band, 2. Theil, 423. Vgl. ibid. Troeltsch, 2. Band, 2. Theil, 423. Zur Besprechung der Eschatologie konstatiert Troeltsch: Von Oettingen glaube auch hier „die glorreiche neue Methode festhalten zu können“ (ibid., 424). 69 Ibid., 426.
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Ein Denkmal des Gegensatzes
kritische Arbeit von zwei Jahrhunderten geleistet hat, ist wieder ausgefegt.“70 Das reine Luthertum werde mit der Bibel und dem Urchristentum identifiziert und als absolute Wahrheit dargestellt. Auch mit Blick auf die Dogmengeschichte sei „alle historisch-evolutionistische Betrachtung moderner Forschung ausgetilgt“. Die Lutherische Dogmatik von Oettingens behaupte also „die Gesamtanschauung des 17. Jahrhunderts“ und beurteile die „moderne[] Welt als eine[n] aus Oberflächlichkeit und grandioser Sündhaftigkeit gemischten Abfall[]“.71
24.6
Schlussbetrachtung
Troeltschs Besprechung und Kritik der „Lutherischen Dogmatik“ von Oettingens – in drei Schritten vollzogen – erreicht damit ihre Kulmination. Der Leserschaft der Göttinger gelährten Anzeigen dürfte dadurch eines höchst plakativ vor Augen gestanden haben: Dieses Buch ist in der Tat nichts anderes als ein vollkommen anachronistisches und groteskes Unternehmen. Braucht dazu noch mehr gesagt zu werden? Troeltsch schließt mit grundsätzlichen und aufschlussreichen Überlegungen, die übrigens auch das Faktum dieser drei Rezensionen (die mehr über das Anliegen von Troeltsch als das von Oettingens verraten) verständlicher machen. Wie schon in der ersten Rezension, konstatiert Troeltsch: Zu diskutieren ist über eine solche Theorie nicht. Wo der Erwerb des modernen Denkens […] als ein Erzeugnis der Sünde betrachtet wird, wo der philologisch-historische Wahrheitssinn der Bibelforschung als Abneigung gegen die Beugung des fleischlichen Hochmuts unter Gottes Wahrheit behandelt wird, da ist jeder Versuch der Verständigung aussichtslos. Man muß sich da gegenseitig nach seiner FaÅon selig werden lassen, was bei einem so liebenswürdigen und toleranten Mann, wie der Verfasser ist, ja auch gar nicht schwer fällt.72
Er ist also der Ansicht, dass man über eine solche Dogmatik nicht zu diskutieren braucht, weil eine Verständigung unmöglich ist. Die Geister unterscheiden sich Troeltsch zufolge total. Der entscheidende Differenzpunkt liegt letztendlich in der Wahrnehmung und Einschätzung der Neuzeit, der Moderne (nicht etwa auf der Ebene der unterschiedlichen – der historischen einerseits und der spezifisch theologischen andererseits – Methoden: Diese Differenz ist ein Symptom des zugrundeliegenden Gegensatzes der Wahrnehmungen der Moderne). Troeltsch meint also von Oettingens Dogmatik als groß angelegtes Beispiel des Antimodernismus interpretieren zu können. 70 Ibid. 71 Ibid. 72 Troeltsch, 2. Band, 2. Theil, 426.
Schlussbetrachtung
365
Nicht ohne Ironie (so scheint es mir) konstatiert er in einer Situation, in der er eine Verständigung für unmöglich hält, die Notwendigkeit einander – d. h. die gegensätzliche Position des jeweils anderen – zu „tolerieren“. Man kann also nicht über von Oettingens Werk diskutieren. Es bleibt daher nur, einander zu tolerieren. Als Ermöglichungsgrund (oder Erleichterungsgrund?) verweist Troeltsch auf die liebenswürdige und tolerante Persönlichkeit von Oettingens. Wenn Troeltsch dann fortfährt mit „[a]ber eine ernste Seite haben solche Bücher doch“, dann scheint es auf den ersten Blick, als ob das Vorangegangene eine nicht so ernste Seite berührt hat. Er hätte auch einfach sagen können, dass derartige Bücher indiskutabel und zu ignorieren sind. (Nach diesem Motto verfuhr man wenig später für längere Zeit auch mit den Büchern von Troeltsch.) Man braucht solche Bücher, wie das dogmatische Hauptwerk von Oettingens, wegen ihres Inhalts nicht ernstzunehmen und muss sie also auch nicht ernsthaft diskutieren. Trotzdem haben auch sie eine ernste Seite. Diese macht es unmöglich, sie einfach zu tolerieren bzw. zu ignorieren. Vielmehr verlangt es diese ernste Seite – wie Troeltsch es in seinen drei Rezensionen exemplarisch getan hat –, dass die totale Überholtheit solcher Bücher allen vor Augen geführt wird, dass sie also rezensiert und kritisiert werden. Die ernste Seite sieht Troeltsch darin, dass sie – wie es auch in der Dogmatik von Oettingens mit einer ungeheuren Zitatenfülle geschieht – den Blick „auf ein ganzes Meer verwandter Litteratur öffnen“.73 Troeltsch entpuppt von Oettingens Werk als (nur) ein weiteres Beispiel der modernen Orthodoxie, – ohne jede negativ oder positiv besonders hervorzuhebende Eigenart oder „Originalität“. Er gibt aber dabei zu erkennen, dass eine derartige Neuorthodoxie (auch literarisch) sehr verbreitet sei. Dadurch wird eine Spannung, ja eine merkwürdige diagnostische Differenz in der Besprechungsserie von Troeltsch ersichtlich: Hatte er im Jahr 1898 vom Glauben der Minderheit als Gegenüber zur Religion des modernen Europas gesprochen, erscheint nun dieser Minderheitsglaube (literarisch) als fruchtbarlebendig und attraktiv für die Massen, die modern-europäische Religion dagegen als eine imaginäre Zukunftsgröße – eine Herausforderung und Aufgabe, der es an Trägerschaft mangelt. So wendet Troeltsch sich kritisch gegen „[den] grössten Teil unserer Bildung“, die Bildungselite Deutschlands, die in ihrer „religiösen Indifferenz oder auch Christentumsfeindschaft“ meint, solche Literatur ignorieren zu können. Die religiös indifferenten oder direkt christentumsfeindlichen Gebildeten, die in der Wahrnehmung von Troeltsch die Mehrheit bilden, seien also in religiösen Fragen und Themen mehrheitlich wenig oder ganz ungebildet – sie seien „diesen Dingen fremd bis zur völligen Unkenntnis“.74 Solche „überlegene Ablehnung 73 Troeltsch, 2. Band, 2. Theil, 426. 74 Ibid.
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Ein Denkmal des Gegensatzes
oder kalte Gleichgültigkeit“ treibt aber „einen großen Teil der religiös Interessierten und Suchenden in die Arme solcher Theologie, da sie bei jener kein Verständnis und keine Hilfe finden“.75 Die „Bildungsaristokratie“ selbst treibt insofern die „Massen“ der „Orthodoxie in die Arme“.76 Davon merkt man eine Zeitlang nicht, bis es unserer Bildung mit dieser Literatur und ihren Anhängerkreisen geht, wie es ihr mit dem Katholicismus gegangen ist. Mit Hilfe demokratischer Mittel werden diese […] Massen sich der Bildungsaristokratie fühlbar machen und gläubige Schulen fordern, erst in der Volks- und Mittelschule, dann auch auf den Hochschulen.77
An diese düstere Zukunftsvision anschließend setzt Troeltsch fort: Wären wir freigesinnten Theologen nicht die ersten, die die Zeche zu bezahlen haben,78 so könnte man sagen, es geschieht ihr recht; sie hat es selbst so gewollt und alles gethan um dieses Resultat herbeizuführen. Das Problem mag sehr schwierig sein und schwieriger als wir freien Theologen es oft gedacht haben, aber durch blosse Reden von der bevorstehenden Auflösung des Christentums und absolutes Ignorieren aller Religion wird es sicherlich nicht gelöst.79
Troeltsch wendet sich mit einer scharfen Kritik gegen die Bildungselite, wegen deren religiöser Ignoranz und Indifferenz die religiös interessierten und suchenden Massen der Orthodoxie zum Opfer fallen und eine Bildung unter deren Vorzeichen durchsetzen. Es herrscht also ein Kampfzustand. Und die Rezension ist eine Kampfschrift, keine kühle Analyse und ausgewogene Würdigung. Innerhalb der Theologie und Kirche nimmt Troeltsch eine Dominanz der Orthodoxie wahr, innerhalb der Bildungselite z. B. an den Universitäten eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Religion oder sogar Feindschaft ihr gegenüber. Doch das Interesse für die Religion und die religiöse Suche verschwinden nicht, und daher braucht sie Bildung. Freie Theologen wie Troeltsch wissen das und bemühen sich darum, aber sie fühlen sich dabei von den Gebildeten im Stich gelassen. Um die Massen für eine Religion eines modernen Europas – von der er in der ersten Rezension gesprochen hat – zu gewinnen, muss sich die Bildungsaristokratie mit dieser Zielsetzung solidarisieren. Troeltschs Diagnose stimmt überein mit der älteren Überzeugung von Oettingens: Die moderne Indifferenz, aber auch die Feindschaft gegen die Religion erzeugen – anachronistisch gesprochen – den religiösen Fundamentalismus. 75 76 77 78
Ibid. Ibid. Ibid. Drei Jahre später scheitert seine Berufung an die Theologische Fakultät in Berlin. Eine wichtige Gegenstimme ist die von R. Seeberg. Zu Seebergs Urteil über von Oettingen: vgl. oben Kap. 4, Kap. 8. 79 Troeltsch, 2. Band, 2. Theil, 426f.
Eine wohlwollende amerikanische Stimme
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Troeltsch weiss: Zu dessen Überwindung braucht man Bildung, verlangt es eine freie Theologie. Wie ist aber mit der Kritik der Moderne in Europa und außerhalb Europas umzugehen? Troeltschs Urteil: Verständigung ist aussichtslos und daher nicht besonders hilfreich. Wo soll die gegenseitige Toleranz herkommen? In der Diagnostik von Troeltsch scheint bereits das Bewusstsein eines totalen Gegensatzes zu wirken. Obwohl er anders motiviert ist als er sich im Verlauf bzw. nach dem Ersten Weltkrieg ausbildet, handelt es sich in der Wahrnehmung Troeltschs hier formal um einen Totalgegensatz – um einen Gegensatz zwischen zwei Welten, die miteinander nicht diskutieren können, weshalb keine Verständigung möglich ist. Wenn über die moderne Orthodoxie nicht diskutiert werden kann (sondern man sie nur als solche – in ihrer Lächerlichkeit – sichtbar machen kann), wie ist dann mit diesem Phänomen umzugehen? Ein Gespräch wird zur Unmöglichkeit, eine Verständigung für perspektivlos erklärt. Der Hinweis auf die Notwendigkeit der gegenseitigen Toleranz scheint nicht ernst gemeint zu sein. Wo liegt die Quelle dieser Toleranz? Und wie ist diese Toleranz überhaupt zu verstehen? So, dass man jeden nach seiner FaÅon selig werden lässt? (Und das unbeschwert zulässt, weil der andere liebenswürdig und tolerant ist? Ist das Ironie, oder wird Toleranz hier wirklich mit der Toleranzwürdigkeit der anderen Person begründet?) Also letztendlich doch ein Indifferenz- bzw. Ignoranzmodell? Ignorieren der Orthodoxie und Mobilisierungsversuche der Bildungsaristokratie? Wenn diese Hinweise überhaupt ernst gemeint sind, liegt hier ansatzweise bzw. in nuce ein Vorschlag für den evtl. Weg aus der Aporie des Gegensatzes vor. Auf diesem Weg erscheint das Bemühen um eine Diskussion und Verständigung unmöglich und ausgeschlossen.
25.
Eine wohlwollende amerikanische Stimme (W. Rauschenbusch)
Rauschenbusch stellt der amerikanischen Leserschaft im Sommer 1901 von Oettingen als jenen deutsch-baltischen Theologen vor, dessen wichtigstes frühes Werk Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre, Versuch einer Socialethik gewesen sei. Von Oettingen habe darin anhand des statistischen Materials das ethische Leben der Völker und Klassen untersucht und daraus „a theory […] of a corporate ethical life of humanity“ deduziert.1 Ich lasse hier die Frage beiseite, inwieweit diese Zusammenfassung zutreffend ist. Wichtiger und interessanter 1 Rauschenbusch, Lutherische Dogmatik, 611.
368
Eine wohlwollende amerikanische Stimme
ist an dieser Stelle, dass Rauschenbusch die beiden Werke kennt (um genau zu sein: seine Rezension behandelt die Prinzipienlehre und den ersten Teilband des Systems) und sie als einziger Rezensent in eine explizite Verbindung stellt. Das neue Buch sei anzusehen als „the mature fruit of his fifty years of theological teaching“. „Some oft the most interesting and useful sections […] are tracebale to that former book“.2 Im Vergleich zu O. Ritschl und besonders zu Troeltsch, bei denen die Lutherische Dogmatik von Oettingens mit überlegener Leichtigkeit als Dokument und Produkt bestimmter Einflüsse erklärt und die materielle Entfaltung der Dogmatik unpräzise und verfälschend bzw. gar nicht skizziert wird (weil dies nur eine allzu bekannte Orthodoxie darstelle), steht bei Rauschenbusch von Oettingens Text selbst im Vordergrund. Er beschreibt ihn – gerade auch den materiellen Teil und dessen Logik – knapp und authentisch. Seine Urteile sind vorsichtiger. Sie sind auch anspruchsloser. Besonders bei Troeltsch nahm die Rezension die Gestalt einer Generalabrechung mit der (modernen) Orthodoxie an. Von Oettingens Lutherische Dogmatik veranlasste Troeltsch – die Rezensionsaufgabe wurde ihm allerdings von der Redaktion der Zeitschrift gestellt – zur Konstruktion und Demonstration eines Totalgegensatzes. Bei Rauschenbusch geht es nicht darum, das Werk z. B. als eine unzeitgemäße Erscheinung der „alten Orthodoxie“ bzw. „der Gesamtanschauung des 17. Jahrhunderts“ ad acta zu legen.3 Es ist also zu bemerken, dass die Lektüre aus einer Perspektive erfolgt, deren Ort nicht unmittelbar in den erhitzten positionellen Kämpfen der deutschen Theologie liegt. Der Generalton der Besprechung ist vielmehr wohlwollend. Wie O. Ritschl konstatiert auch Rauschenbusch, dass zwar die Kritik von Oettingens an den Werken und Systemen anderer diesen oft nicht gerecht zu werden scheint: „But altogether one feels a growing respect for the book as he goes on; there is a largeness and sanity of view, a wide historical perspective, and frequently a really illuminating suggestiveness.“4 Dass diese Dogmatik insgesamt mit Nachdruck als eine Theologie des Kreuzes konzipiert worden ist, wird eher nebenbei festgehalten als umfassend verdeutlicht. Dies ist am Ende der Übersicht über „the theory of religious knowledge“ in der Prinzipienlehre zu sehen, wo die drei konfessionellen Typen5
2 Ibid. 3 Begriffe wie „supranatural“, „Wunder“, „übernatürlich“, „absolut“, „Konfessionalismus“ o. ä. kommen in seiner Rezension nicht vor. 4 Rauschenbusch, Lutherische Dogmatik, 612. 5 Ich füge hinzu: man könnte und sollte sogar diese Typen heuristisch als Idealtypen verstehen. D. h., dies ist nicht ohne Weiteres als eine empirische Feststellung über die Art der Theologie in drei Konfessionen zu verstehen. Faktisch könnte z. B. auch eine als lutherische auftretende
Eine wohlwollende amerikanische Stimme
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der Theologie, die methodisch entweder von der Autorität der Kirche bzw. der Tradition oder von der Autorität der Schrift oder von der Glaubenserfahrung ausgehen, unterschieden werden. „Lutheran theology“ hat, so referiert Rauschenbusch, ihre Eigenart „in its organic combination of the Christo-centric facts of salvation (Christ for us) and the pneumato-centric experience of salvation (Christ in us).“ Direkt im Anschluss folgt eine Umschreibung, in der die Wendung „[a] true theology of the cross6 combines the sol. grati. with the sol. fide“ verwendet wird.7 Rauschenbuschs Kommentar dazu lautet folgendermaßen: Mit solcher Betonung der Erfahrungsdimension der Religion stehe von Oettingen im Einklang „with the best tendencies of religion and theology“.8 „Kreuzestheologie“ erscheint also mit einer Selbstverständlichkeit als eine Bezeichnung für die in genannter Weise – durch die Kombination von „Gnade allein“ und „Glaube allein“ – näherbestimmte lutherische Theologie. Auch das System der christlichen Heilswahrheit charakterisiert Rauschenbusch in einem deutlich anderen Grundton als es O. Ritschl oder Troeltsch getan haben: These are not studies in theology, mere sketches for a painting, but a full system of Christian doctrine. Nor is it a dry collection of doctrines, duly prepared, assorted, labeled, and boxed like an anatomical exhibit. It is a living and interesting organism of thought, thoroughly individual and peculiar to the writer, but also deeply rooted in the common thought of the Christian church.9
Im Rahmen der Diskussion einiger seines Erachtens interessanter Einzelpunkte oder -züge aus dem ersten Band des Systems kommen Themen aus der großen Gottes- und Trinitätslehre, aus der Lehre vom Bösen und der des Heilsratschlusses zur Sprache. Der zu Beginn der Rezension gemachte Verweis auf das frühere Werk von Oettingens wird mit einem konkreten Beispiel unterstrichen: „His thorough study of social morality has enriched his treatment of the facts and problems of evil“.10 Eine unterstrichene Lektüreempfehlung von Rauschenbusch für die amerikanischen Theologen gilt eben diesem Abschnitt – der Thematik also, die sowohl O. Ritschl als auch Troeltsch als besonders obsolet bzw. problematisch empfunden haben.
6 7 8 9 10
Theologie zu einem Biblizismus oder zu einem Traditionalismus neigen. Auch sind Inkonsequenz und verschiedenartige Kombinationen möglich. Oettingens Umformulierung der „lutherischen Theologie“ zu „Theologia crucis“ kann durchaus als eine Versachlichung bzw. als ein dekonfessionalisierender Zug gedeutet werden. Sie soll eine Erneuerung der Theologie von innen heraus ermöglichen. Ibid., 613. Ibid. Rauschenbusch, Lutherische Dogmatik, 614. Ibid., 615.
370
26.
Stimmen aus dem baltischen Luthertum
Stimmen aus dem baltischen Luthertum
Nach diesen Meinungen aus Deutschland und Amerika sowie der Herausarbeitung ihrer Beurteilungstendenz komme ich zuletzt zu den ersten Reaktionen auf das oettingensche dogmatische Hauptwerk in seinem Heimatland. Weitere Reaktionen sind wegen mehrerer tiefgreifender sozialer Ab- und Umbrüchen bisher ausgeblieben. Das baltische Luthertum, das im 19. Jahrhundert durch die Theologische Fakultät der Universität Dorpat/Tartu die evangelische Christenheit in allen Gebieten des Kaiserreichs Russlands geprägt hat, war aus mehreren Gründen auch damals keine einheitliche Größe. Seine Pluralisierung hat sich dann im 20. Jahrhundert allerdings noch einmal stark beschleunigt. Durch die Gründungen der Republiken Estland, Lettland und Litauen und ihre ca. zwanzig Jahre andauernde selbständige Entwicklung, insbesondere durch den in zwei Wellen erfolgenden Verlust des deutsch-baltischen Bevölkerungsanteils (um 1918 und um 1939) und durch die sich nach fast fünfzigjähriger Okkupationszeit fortsetzenden eigenständigen Wege der baltischen Freistaaten, hat diese Differenziertheit zugenommen. Doch auch das Gemeinsame unter den baltischen Staaten wurde immer wieder (neu) entdeckt. Die vorliegenden baltischen Behandlungen der Dogmatik von Oettingens aus der Zeit ihres Erscheinens zeugen demnach von großer Gemeinsamkeit in der Wahrnehmung und im Urteil. Die Autoren sind ehemalige Schüler von Oettingens aus verschiedenen Jahrzehnten und waren als Pastoren tätig.
26.1
Ausdrückliche Empfehlung mit Überlegungen zur Rhetorik einer Kreuzestheologie (E. Külpe)
Ernst Külpe (1864–1905),1 ein Generationsgenosse von Ernst Troeltsch, der in den achtziger Jahren bei von Oettingen studiert hat, schreibt, um „das gründliche Studium dieses Buches“ „nicht nur den früheren Schülern, sondern auch den jüngeren Theologen, Pastoren, Candidaten, Studenten […] dringend“ zu empfehlen.2 Auf die „heutzutage“ an die jungen Theologen gerichtete Frage, wonach sie Dogmatik gelernt haben, erwidere man, dass zur Examensvorbereitung Luthardt3 verwendet und dazu noch Frank4 gelesen worden ist. Diese 1 Die Rezension ist erschienen in der Zeitschrift Mittheilungen und Nachrichten für die evangelische Geistlichkeit Rußlands. Zur Zeit der Abfassung der Rezension über den ersten Band ist er als Pastor in Kurland (Teil des heutigen Lettlands) tätig. 2 Külpe, Dogmatik, 2. 3 E. Luthardt, Kompendium der Dogmatik, 1. Aufl. 1865, zuletzt in 15. Auflage 1948 (in der Umarbeitung von Robert Jelke).
Überlegungen zur Rhetorik einer Kreuzestheologie (E. Külpe)
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Lage bzw. Praxis ist für Külpe höchst unbefriedigend, da Luthardt zwar informiere und zur Wiederholung hilfreich sein könne, aber nicht in dogmatisches Denken einführe. Als eine deshalb notwendige Ergänzung sei jedoch Frank untauglich, weil er viel zu viel an dogmatischer und philosophischer Schulung voraussetze und mit seiner Fragestellung, Begrifflichkeit und seinem Stil den jungen Theologen fremd bleibe. Külpe umreißt den Inhalt des ersten Bandes, von Oettingens Gewinnung des Real- und Idealprinzips „für seine ,Theologie des Kreuzes‘“,5 und schließt mit Bemerkungen zur bildhaften Darstellung der Struktur dieser Dogmatik im Anhang. So haben wir es denn vor uns, das wohlvertraute und doch in eine neue frische Form gegossene Werk; und was zu den verschiedenen Zeiten, da wir Schüler es hören durften, noch im Werden begriffen war, auch theilweise noch nach Gestaltung rang, das liegt jetzt langsam gereift und schön geklärt vor uns. Außerdem ist Vieles hinzugekommen, was durch erneute Fragestellung oder modernste Anfechtung veranlaßt wurde.6
Mit Blick auf den ersten Band und die darin behandelten Prinzipien sieht Külpe die Bezeichnung „lutherisch“ im Titel der Dogmatik berechtigt: „Welche Grundsätze könnten der Darstellung lutherischer Lehre mehr conform sein als die hier entwickelten: sola gratia und sola fide?“7 Die Vermutung Külpes, dass man „[d]raußen in Deutschland, wo man jetzt mehr als je dazu neigt, auch auf theologischem und kirchlichem Gebiet jede neue Erscheinung in eine Parteirubrik zu schachteln“ dem Werk von Oettingens gegenüber „in einige Verlegenheit“ gerät, ist (wie die Rezensionen O. Ritschls und Troeltschs zeigen) falsch. Külpe meint, dass „sein reichhaltiges Buch“ sich nicht „in einer der bekannten Rubriken unterbringen“ lässt und bei jeder „Parteien“Zuordnung „mehr als ein Stück des Buches draußen bleiben“ müsste.8 „Berührungspunkte“ wären z. B. sowohl mit Thomasius oder Philippi u. a. als auch mit Ritschl nachweisbar. „Ausgesprochene Gegnerschaft“ zeige von Oettingen „ebenso gegenüber engherzig confessionalistischem Dogmatismus, wie gegenüber aller verschwommenen Vermittelungs-Theologie“.9 Es liege zwar nahe, das Buch „mit dem letzten großen dogmatischen System, dem von Frank“ zu ver4 R. Frank, System der christlichen Gewißheit, 2 Bände (1. Aufl. 1870–1873; 2. Aufl. 1884); System der christlichen Wahrheit, 2 Bände (1. Aufl. 1878–1880; 3. Aufl. 1894). 5 Külpe, Dogmatik, 3. 6 Ibid., 6. 7 Ibid. 8 Ibid. 9 Külpe, Dogmatik, 6. „Die Unabhängigkeit von irgendeiner Partei ermöglicht auch den erquickenden freien Hauch, der durch das ganze Buch weht. Jedenfalls wird man ihm weder Repristination noch Neologie oder Haschen nach Originalität nachsagen können.“ (Ibid., 7).
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Stimmen aus dem baltischen Luthertum
gleichen. Külpe ist an dieser Stelle jedoch bereit, sich an Beiden zu freuen, obwohl „der staurocentrische […] Aufbau“ von Oettingens ihm „wie Vielen ungleich dankbarer erscheint, als das Ausgehen vom ,Absoluten‘“ bei Frank.10 Külpe staunt über die geradezu „polyhistorische Bildung“11 von Oettingens auf den Gebieten der Theologie, der Philosophie, der Literatur, aber auch in anderer Geistes- und Naturwissenschaften, die dem Buch in mehrerer Hinsicht zugutekomme. Külpe lobt von Oettingens Differenzierungsvermögen und sein Bestreben, zum Zweck der Verständigung auch die Wahrheitsmomente der gegensätzlichen Auffassungen festzuhalten und zu berücksichtigen. Doch zweifelt Külpe – wie auch O. Ritschl und Rauschenbusch – daran, dass von Oettingen durch die Schilderung gegensätzlicher Anschauungen den Ansichten anderer immer gerecht wird und dass die Wahrheit sich immer so genau in der Mitte finden lässt. Die Sprache der Dogmatik von Oettingens hat alle Rezensenten zu Kommentaren veranlasst. Bei O. Ritschl und Troeltsch, wie angedeutet, ist das Urteil ambivalent ausgefallen. Rauschenbusch hat mit positivem Unterton über den Stil des Buches bemerkt: es sei „surprisingly vivacious“ – „more the style of the essay than the usual literary method of dogmatics“.12 Külpe sieht darin ein besonders zu würdigendes Merkmal dieser Dogmatik und äußert sich ausführlich zu ihrer Sprache und ihrem Stil.13 Es sei „eine reiche, biegsame Sprache, […] ein schönes edles Deutsch“, das die Lektüre „zu einem Hochgenuß“ mache würde.14 Es hebe diese Dogmatik „weit hinaus über die schwerfällig trockenen Bücher ähnlichen Inhalts“ und mache sie „auch den Nicht-Theologen zugänglich“.15 Von Oettingens eigentümliche Sprache „mit ihren vielen Bildern und treffenden Vergleichen, mit ihren fein zugespitzten Pointen und charakteristischen Epitheten“, die man aus seinen Vorlesungen kenne, lasse sich auch in diesem Buch wiederfinden, obwohl die wissenschaftliche Präzision darunter, „an einzelnen Stellen“ leiden könne.16 Die Sprache sei einerseits „klar, edel populär, elegant“. Auf der anderen Seite finden wir die vollsten Töne für den tiefen Ernst, den der behandelte Stoff erfordert: wie weiß er uns tief zu versenken in die eigene Schuld, wie dann wieder hoch zu erheben in Gottes Huld! Da haben wir die wahre theologie crucis 10 Ibid., 7. 11 Ibid. „Ueberall genaue Bekanntschaft mit den Problemen, überall eingehendes Verständniß für die neuesten Errungenschaften, mit allen interessanten Erscheingungen steht er in engster Fühlung.“ (Ibid.). 12 Rauschenbusch, Lutherische Dogmatik, 612. 13 Vgl. Külpe, Dogmatik, 8f. 14 Ibid., 8. 15 Ibid. 16 Ibid.
Geschenk an unsere Kirche und an unser Land (H. Eisenschmidt)
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als theologia lucis! Gehörten doch auch diejenigen seiner Vorlesungen, die von der unheimlichen Macht und der satanischen Verführung der Sünde handelten, zu den ergreifendsten. Hier haben wir gesunde Erbauung im Sinne des biblischen oQjodole?m.17
In Külpes Rezension wird das Augenmerk besonders auf die Rhetorik der Dogmatik von Oettingens gelegt. Gerade in diesem Punkt ist sie untypisch im Vergleich mit anderen Dogmatiken. Bei allem Bemühen um den Begriff, inklusive einer Reihe terminologischer Neubildungen, verzichtet er mit Absicht nicht auf Metaphern und Analogien, sondern integriert diese Kreativität der Sprache in die Dogmatik. Külpes Beobachtung ist deshalb besonders interessant, weil er eine direkte Verbindung zwischen der Rhetorik von Oettingens und seiner „Theologie des Kreuzes“ sieht. Der Inhalt und die Sprache der Dogmatik von Oettingens stehen also in einem Entsprechungsverhältnis. Eine solche Sensibilität für die Rhetorik dieser staurozentrischen Dogmatik ist ein höchst bemerkenswerter Teil dieser Besprechung. Der Verfasser wiederholt zum Schluss den Rat „nehmt und lest gründlich!“ und hofft, dass das System und die ebenfalls angekündigte Geschichte der Dogmatik abgeschlossen werden können.
26.2
Rechtzeitiges Geschenk an unsere Kirche und an unser Land (H. Eisenschmidt)
Heinrich Eisenschmidt (1855–1918),18 der in den siebziger Jahren in Dorpat/ Tartu studierte, stellt die Dogmatik von Oettingens dem Leserkreis der allgemeinen Kulturzeitschrift Baltische Monatsschrift19 vor (Eisenschmidt 1898, 1900, 1902). Der Erscheinungsort ist also kein theologisches Medium, sondern eine Zeitschrift, die sich an alle Gebildeten richtet. Einige der vor dem Forum einer breiten Öffentlichkeit ausgesprochene Gedanken sind erwähnenswert. Im Unterschied zu Külpe und Rauschenbusch, aber insofern ähnlich wie O. Ritschl oder Troeltsch, geht Eisenschmidt von der Voraussetzung eines polarisierten Feldes der Theologie aus und ordnet diesem das Buch zu. Im Zuge einer „Abschweifung“ verdeutlicht der Rezensent seinen „entschiedenen Dissensus“ gegenüber der Zeitschrift Christliche Welt als Vertreterin der „Theologie des ,do ut des‘“ bzw. der modernen Theologie,20 die „nur ein Durchgangsstadium“ bilden könne, weil wegen ihrer prinzipiellen Schwäche, „der eine Theil derer, die 17 Külpe, Dogmatik, 9. 18 Er stammte aus dem heutigen Estland, Ordination 1880, und wirkte später als zweiter Pastor der Gemeinde St. Jakobi in Riga und als Mitglied des Livländischen Konsistoriums. 19 Erschienen mit Unterbrechungen 1859–1934. 20 Eisenschmidt, Dogmatik, 1898, 317.
374
Stimmen aus dem baltischen Luthertum
durch Ritschl angeregt worden sind, sich immer mehr der alten kirchlichen Theologie zu[wenden], während der andere Theil immer weiter im Negiren fortschreitet und so seine Kongenialität mit dem alten Rationalismus sich immer deutlicher herausstellt“.21 Eisenschmidt definiert also selbst den Rahmen und die Grundspannung der theologischen Gegenwartslage. Er empfiehlt das Buch von Oettingens, einerseits [j]edem […], der sich vergewissern will, daß unsere ,orthodoxe‘ Theologie noch lange nicht auf den Aussterbeetat gesetzt ist, daß sie noch in voller Lebensfähigkeit sich bethätigt und ihr Leben gerade auch darin beweist, daß sie sich durchaus nicht ängstlich gegen alle Bewegungen des modernen Lebens verschließt[,]
andererseits auch denen, „welche nach ihrer Ueberzeugung ablehnend zu jeder kirchlich-konfessionellen Religiosität stehen“, weil sie „dann wenigstens ein zutreffenderes und freundlicheres Bild von der alten Theologie gewinnen, als es die moderne Theologie zu zeichnen pflegt“.22 Neben dem schon erwähnten Namen „Ritschl“ wird in diesem Zusammenhang ein weiterer Name erwähnt. In einer inhaltlichen Übersicht hebt Eisenschmidt die Heilsgewissheit kraft des Evangeliums als des Wortes vom Kreuz als den Ausgangspunkt von Oettingens hervor. Hier liege eine Ähnlichkeit zum großen Erlanger Systematiker Frank vor, wobei von Oettingen seines Erachtens „doch noch tiefer in das innerste Herz des Christenthums“ greife.23 Vier Jahre später schreibt Eisenschmidt in der Eingangspassage seiner dritten und letzten Rezension über die als eine hervorragende Handreichung charakterisierte Dogmatik von Oettingens: [E]s ist uns eine Freude, daß unserer Kirche und unserem Lande dieses Buch nun als abgerundetes Ganze geschenkt ist, und wir hoffen zuversichtlich, daß Oettingens Dogmatik uns mit dazu helfen wird, in den immer bewegteren dogmatischen Kämpfen der Gegenwart die rechte, klare Stellung zu behaupten, treu dem, was uns aus der Urzeit der Kirche überliefert ist, was uns in den Tagen der Reformation neu erschlossen wurde, dieses Ererbte aber auch mit allen Kräften und mitteln der geistigen Strömungen unserer Zeit neu erfassend, darstellend und dem Bewußtsein der Kinder unserer Zeit nahe bringend.24
Hatte Eisenschmidt 1898 einige Bemerkungen zum Verhältnis zwischen der Dogmatik Franks und der von Oettingens gemacht, wiederholt er nun die 21 Ibid. Es ist jene „Theologie, die in Umbiegung und Umdeutung der biblischen und kirchlichen Glaubensbegriffe das Mögliche leistet, um ein allen genehmes und mit allen modernen wissenschaftlichen, künstlerischen und literärischen Anschauungen zusammenstimmendes Christenthum herauszubekommen“ (ibid.). 22 Ibid., 316. 23 Ibid., 319. 24 Eisenschmidt, Dogmatik, 1902, 382.
Geschenk an unsere Kirche und an unser Land (H. Eisenschmidt)
375
Meinung, dass ein Vergleich mit der Frankschen Dogmatik nahe liege und vermutet, dass „in Bezug auf straffe Geschlossenheit des Gedankenfortschrittes, scharfe Bestimmung und Abmessung der Begriffe“ Frank für längere Zeit den ersten Platz behaupten dürfte. Doch bei Frank lasse sich oft „die eisige Gletscherluft abstrakter Gedankenarbeit“ aus: Wie wohlthuend ist es dagegen im Oettingens Werk dem ,Heil in Christo‘ überall als dem Mittelpunkt wie der christlichen Erfahrung so auch der dogmatischen Lehrentwicklung zu begegnen. Ueberschriften wie die der sechs Hauptabschnitte des Buches […] versetzen den Leser sofort in das Zentrum alles christlichen Glaubens, Lebens und Denkens.25
Interessant ist, wie Eisenschmidt in seiner letzten Anzeige näher darauf eingeht, warum das Buch „nicht nur eine hervorragende wissenschaftliche Leistung, sondern ein Geschenk an unsere Kirche und unser Land“ sei.26 Er erinnert in dem Zusammenhang an seine Studienzeit in den 1870er Jahren in Dorpat/Tartu, als man zur Examensvorbereitung neben den Vorlesungsmitschriften und dem Kompendium von Luthardt auch ausgewählte Teile aus den Werken von H. Martensen, G. Thomasius und F. Philippi heranzog. Manche fanden auch Zeit zum Kennenlernen der Glaubenslehre Schleiermachers. Er fügt hinzu, dass Franks System der christlichen Wahrheit noch nicht erschienen war. Auf dem Hintergrund dieser Erinnerung an seine Studienzeit verweist er darauf, dass die dogmatischen Kenntnisse unter dem theologischen Nachwuchs in Dorpat/Tartu in den letzten Jahren zurückgegangen sind.27 Er bringt Beispiele dafür, wie wichtig dogmatische Bildung und Urteilskraft in einer Zeit sind, die von steigender Unbildung, Orientierungsunfähigkeit und Zweifeln im Blick auf religiöse Fragen gezeichnet ist. Die „von den Vertretern der modernen Theologie in unsern Landen“ behauptete Entgegensetzung vom Evangelium einerseits und den Dogmen, die „todt seien und nicht wieder lebendig gemacht werden
25 Ibid., 383. 26 Ibid., 385. 27 Ich habe schon darauf hingewiesen (vgl. oben Kap. 3), dass nach der Emeritierung von Oettingens im Zusammenhang der Russifizierungspolitik niemand zum Professor berufen werden durfte bzw. konnte, der kein Saatsbürger des Kaiserreichs Russland war. Nicht zuletzt wegen der Russifizierung verließen viele Professoren bzw. Nachwuchswissenschaftler seit etwa Mitte der 1880er Jahre Dorpat/Tartu. Man hat versucht Reinhold Seeberg als Nachfolger von Oettingens zu gewinnen, dieser reagierte jedoch mit einer Absage. Einen vom wissenschaftlichen Format her gesehen ähnlichen Nachfolger hat von Oettingen nicht bekommen. Ca. 15 Jahre lang wurde die Position von Johann Kersten (1942–1905) besetzt. Erst nach der Jahrhundertwende wächst mit Karl Girgensohn (1875–1925), der aus dem heutigen Estland stammt, ein neuer Systematiker heran, der auch den Lehrstuhl übernehmen wird (vgl. oben Kap. 8).
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Stimmen aus dem baltischen Luthertum
könnten“ andererseits,28 sind für ihn bloß Ausdrücke dogmatischer Unklarheit.29 Oettingens Dogmatik [sei] in hervorragender Weise geignet […], dem Lernenden und Lehrenden nicht nur das nötige dogmatische Wissensmaterial darzureichen, sondern ihnen auch die festen Richtlinien zu bieten, auf welchen sich die dogmatische Weiterarbeit, wenn sie aufbauend und nicht zerstörend wirken will, zu bewegen haben wird.30
Im Gegensatz zu der Meinung es sei eine verspätete Glaubenslehre, da die heutige Zeit diesen Standpunkt schon hinter sich gelassen habe und deshalb für sie keine Sympathie mehr dafür zu empfinden vermöge, ist Eisenschmidt anderer Ansicht. Die Zeit sei gerade recht – „auch für unsere Landeskirche“.31 Das Buch sei zwar sehr umfangreich und ließe sich auch wegen der Kosten nicht von allen anschaffen, doch sollte es auf jeden Fall dem theologischen Nachwuchs32 zugänglich gemacht werden: Sie werden darin ein überaus Wichtiges überall sich aussprechen sehen: Pietät gegen die Bibel, Pietät gegen die Geistesarbeit der Kirche, verbunden mit ernster Wissenschaftlichkeit und Wahrheitsliebe. Wo aber dieses zusammen sich findet, da ist rechtes evangelisches Wesen: da ist man frei und gebunden zugleich, da ist man ein Kind seiner Zeit und doch getragen und durchdrungen von den Gedanken der Ewigkeit.33
28 „Denn die Dogmen sind nicht nur nicht todt, sondern könne auch gar nicht sterben, weil sie einmal der bekenntnißmäßige Ausdruck für das sind, was eine Kirche und ihre Glieder als Heilswahrheit erfahren und erkannt zu haben glauben. […] Jede Glaubensüberzeugung, wenn sie irgend einen Ausdruck finden will, wird sich dogmatisch äußern […]. Warum also der irreführende Ausdruck: die Dogmen sind todt? Warum nicht lieber das allein zutreffende Urteil: neue Dogmen ringen danach, die alten Dogmen zu beseitigen und sich an ihre Stelle zu setzen oder wenigstens die herrschende Stellung einzunehmen“ (Eisenschmidt, Dogmatik, 1902, 387). 29 Ibid. 30 Ibid., 387f. 31 Ibid., 388. 32 Dass das Buch sich nicht nur an Fachtheologen, sondern auch an die sog. gebildeten Laien richtet, hebt Eisenschmidt wiederholt hervor. Heute grotesk, aber vom Verfasser wohlgemeint, ist auch die in allen drei Anzeigen vorkommende Aussage, dass ihm auch Frauen, „natürlich nicht immer ganz ohne Mühe“ (ibid., 383), „mit Theilnahme, Verständniß und Freude“ (Eisenschmidt, Dogmatik, 1898, 315) folgen können. 33 Eisenschmidt, Dogmatik, 1902, 388.
Beitrag zur Evangeliumsverkündigung und zur Glaubenseinheit (E. Kaehlbrandt)
26.3
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Beitrag zur Evangeliumsverkündigung und zur Glaubenseinheit (E. Kaehlbrandt)
Emil Kaehlbrandt (1836–1907),34 der zur ersten Generation der Schüler von Oettingens gehört, hat im August 1903 auf der Livländischen Synode, „an der Oettingen stets lebhaften Antheil genommen“ hat und „die auch in ihrer heutigen Zusammensetzung zum größeren Theil noch aus Oettingens Schülern besteht“, einen Vortrag über das Werk als Ganzes gehalten. Eine kritische Abwägung des wissenschaftlichen Wertes des Buches bleibe die Aufgabe der „Herrn Professoren und zünftigen Dogmatiker“ – er selbst wolle nur seinen Leseeindruck mitteilen, beanspruche „nichts weiter, als das aussprechen, was Oettingens ,Lutherische Dogmatik‘ mir als livländischem lutherischem Pastor geboten hat.“35 Allerdings weist diese Besprechung ein großes Feingefühl für das Anliegen von Oettingens aus. Kaehlbrandts Leseerfahrung wird mit gelungener Balance zwischen der Wiedergabe typischer Begriffsprägung von Oettingens und der alle Abschnitte betreffenden selektiven Fokussierung auf wichtige und charakteristische Grundgedanken oder Argumentationsfiguren geschildert. Der Vortrag verzichtet nicht auf das Aufzeigen einiger Probleme, aber er enthält auch weiterführende Überlegungen zur Zeitlage und zur Bedeutung des Werkes von Oettingens. Insgesamt kann der Text m. E. als aufschlussreiches Dokument über die vorherrschende geistige Atmosphäre und die mehrheitlich geteilte theologische Haltung unter den baltischen Pastoren um die Jahrhundertwende gewertet werden. Indem Kaehlbrandt von seinen Leseeindrücken als Pastor berichtet, erinnert er einführend daran, was die Hauptaufgabe eines Pastors ist, nämlich die Verkündigung des Evangeliums, in verschiedenartigen Formen und Situationen (auf der Kanzel und am Altar, durch die Katechese, Seelsorge etc.). Die Dogmatik von Oettingens ist ihm eben „darum so lieb und werth, weil sie […] trotz des überreichen Wissensstoffes, den sie ihren Lesern bietet, doch nichts anderes wissen will, ,ohne allein Jesum Christum, den Gekreuzigen‘“.36 Den Gesamteindruck, eine Dogmatik, für die der Gekreuzigte als (Erkenntnis-)Schlüssel dient,37 vor sich zu haben, eine Dogmatik, die im Ganzen und durchgehend eine 34 Er ist in der Zeit Oberpastor an St. Peter in Riga (einer lutherischen Stadtgemeinde, die ihre große Kirche im Zentrum der Stadt hat). Der Vortrag ist in der Zeitschrift Mittheilungen und Nachrichten für die evangelische Geistlichkeit Russlands erschienen. 35 Kaehlbrandt, Lutherische Dogmatik, 481. 36 Ibid., 482. 37 „Nichts wissen, ,ohne allein Jesum Christum den Gekreuzigten,‘ das ist der Schlüssel zu den ,Geheimnissen des Reiches Gottes‘, über die wir als ,Haushalter‘ bestellt sind (1 Kor. 4,1). Auch den gelehrten Theologen giebt es keinen anderen Schlüssel, um auf rechtem Wege in ihr Forschungsgebiet einzudringen.“ (Ibid.).
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Stimmen aus dem baltischen Luthertum
Erschließung des Evangelium sein will, teilt Kaehlbrandt schon zu Beginn mit, um eine nähere Beschreibung des Buches folgen zu lassen.38 Insgesamt würdigt er diese „Lutherische Dogmatik“ als „ein Vermächtniß […], an dem die alte und die junge Generation der Pastoren gleicher Weise Theil haben soll“.39 Er erinnert daran, das Vorwort des ersten Bandes zitierend, dass der Name nicht im Sinn einer Parteirichtung gemeint ist, sondern „das[s] ,Lutherisch‘ als die nun einmal historisch geprägte Bezeichnung für die eigenartige christliche und echt evangelische Grundanschauung, wie sie Luther in seiner ,Freiheit eines Christenmenschen‘ und namentlich in seiner Auffassung der ,Theologie des Kreuzes‘ zu Tage treten läßt“, verwendet worden ist. Die „lutherische“ Theologie sei also eine christozentrische Theologie sei, in der die göttliche Selbstbeschränkung im Mitleid mit der erlösungsbedürftigen Menschheit den Kern bildet.40 Kaehlbrandt hatte zuvor – im Zusammenhang mit der Schilderung der Christologie – die Kritik von Oettingens gegenüber den sog. Kenotikern befürwortet und seine zu begrüßende „Concentrationshypothese“ verallgemeinernd folgendermaßen umformuliert: „alle Offenbarung ist Selbstbeschränkung Gottes“.41 Die so aufgefasste kreuzestheologische Grundeinsicht sei also für die Lutherische Dogmatik von Oettingens von entscheidender Bedeutung. Wenn Kaehlbrandt von einem Vermächtnis spricht, dann meint er, dass von Oettingens Darstellung einer derartigen christozentrischen Theologie ein monumentales Denkmal [sei], das aller Welt Zeugniß giebt von dem Geist, den die theologische Fakultät unserer weiland Dorpater[42] Universität treu gepflegt hat, und der unsere Livländische Synode beseelt und bisher befähigt hat, in den uns verordneten Kämpfen fest und einmüthig zusammenzustehen.43
Kaehlbrandt, der nach Mitte des 19. Jh. in Dorpat/Tartu studiert hatte und ca. 40 Jahre als Pastor ein Zeuge dieser Zeit gewesen war, meint, dass von Oettingens Dogmatik den Geist, der für die Dorpater/Tartuer Theologische Fakultät, aber auch für die Livländische Synode – die größte und prägendste Zusammenkunft der evangelischen Pastoren im Russischen Kaiserreich – in gelungener Weise zum Ausdruck bringt.44 Eben dieser Geist habe also Einverständnis und Gemeinsamkeit sowohl in der Fakultät als auch in der Kirche gewirkt. So ist Kaehlbrandt überzeugt, dass dieses Buch „auch eine Quelle werden 38 39 40 41 42
Vgl. Kaehlbrandt, Lutherische Dogmatik, 482–493. Ibid., 493. Vgl. ibid. Ibid., 487. Im Zuge der sog. Russifizierung wurde die Universtität 1893 in Universität Jurjew umbenannt. 43 Ibid., 493. 44 Vgl. oben Kap. 14.2.
Beitrag zur Evangeliumsverkündigung und zur Glaubenseinheit (E. Kaehlbrandt)
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[könnte], aus der wir Muth und Freudigkeit schöpfen, den Gefahren zu begegnen, die die neue Zeit mit sich bringt.“45 Die Meinung vieler, dass ein solches Lutherisch-sein-Wollen, „ein[en] Anachronismus“, „ein Stück Mittelalter“ darstellt, „das in die moderne Zeit“ nicht hineinpasst – dass es ein Zurückbleiben hinter unserer Zeit ist, dass es ein Festhalten an veralteten Lehrformen etc. ist –, wird durch „[d]ie evangelische Grundanschauung unserer lutherischen Kirche“, der jeder „kirchliche[] Formalismus“ fern steht, nicht gerechtfertigt.46 „,Der Christ im Glauben ein Herr aller Dinge und in der Liebe jedermanns Knecht‘ – das ist das evangelische Freiheitsprincip unserer lutherischen Kirche.“47 Gerade im Hinblick auf die „[uns] Pastoren“ bedrohende Gefahr eines bequemen „Sicherheitsstandspunktes“, auf die Gefahr eines fertigen Wahrheitsbesitzes aufgrund feststehender Autoritäten, bei dem die Regel mediatio, tentation, oratio faciunt theologum vergessen wird, sei die Lutherische Dogmatik von Oettingens lehrreich. Kaehlbrandt verweist auf das Motto des zweiten Bandes, des Systems der christlichen Heilswahrheit – „Theologie macht Sünder“.48 Der Gedanke zieht sich wie ein rother Faden durch das ganze Buch hindurch. Beim Lesen desselben werden wir immer wieder daran erinnert, daß Gott ,fertige‘ Christen in seinem Dienst nicht brauchen kann. Er will durch arme Sünder, die nur von seiner Gnade leben, sein Evangelium in der Sünderwelt zu Ehren bringen.49
Kaehlbrandt weist also auf die Andersartigkeit des Werkes von Oettingens gegenüber einem konfessionellen Positivismus, der das Konfessionelle verabsolutiert, hin. Anders sei die Lutherische Dogmatik aber auch im Hinblick auf „die moderne Theologie mit ihrem ,undogmatischen‘ Christenthum“, die „laut genug“ auch „an unsere Thüren“ klopfe (ibid.) und gegen die allein „mit lauten Protestrufen“ nichts erreicht werde.50 Kaehlbrandt führt näher aus, dass die Beseitigung des Dogmas allerdings „eine radikale Auflösung und Atomisierung der Kirche“51 und letztendlich auch eine Verfälschung oder sogar den Verlust des Evangeliums zur Folge hätte.52 Es sei „ein schnöder Handel“: 45 46 47 48 49 50
Vgl. Kaehlbrandt, Lutherische Dogmatik, 493. Ibid., 493f. Ibid., 494. Vgl. oben Kap. 11. Kaehlbrandt, Lutherische Dogmatik, 494. Als Beispiel hat Kaehlbrandt hier einen (später publizierten) Vortrag von Pastor Feyerabend über „moderne Theologie“ auf der Kurländischen Synode im Jahr 1902 und die darauf folgende scharfe öffentliche Diskussion vor Augen. Feyerabend habe unter Berufung auf A. Harnack die Unvereinbarkeit des Dogmas mit dem Evangelium deklariert, das Dogma als das schlimmste Hemmnis des Evangeliums bezeichnet und auf die dringende Notwendigkeit einer Wahl zwischen Dogma oder Evangelium insistiert (vgl. ibid.). 51 „Der Einzelne wird ganz auf sich gestellt. Es bleibt ihm überlassen, je nach Belieben, allein
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Stimmen aus dem baltischen Luthertum
Unser Erstgeburtrecht, den reichen Schatz dogmatisch entwickelter evangelischer Heilswahrheit und Glaubenserkenntniß, sollen wir preisgeben! Wofür? Was wird uns als Ersatz geboten? Nicht einmal ein spießbürgerliches Linsengericht, wie der alte Rationalismus es zu bereiten verstand, sondern ein ,undogmatisches Christenthum‘, d. h. eine vielverheißende Menükarte, die allenfalls den Appetit reizen, aber nicht den Hunger stillen kann.53
Rückblickend auf die Herausforderungen seiner Heimatkirche, auf die sie bewegenden Fragen und auf seine Nöte und Kämpfe im Laufe seiner vierzigjährigen Amtstätigkeit erinnert Kaehlbrandt dankbar an jene, die „durch Wort und That den Uebrigen voranleuchteten, ihnen54 Weg und Ziel weisend, sie in der Einheit des Glaubens stärkend.“55 Gerade in dieser Hinsicht biete die Lutherische Dogmatik von Oettingens viel. Oberflächliche Parolen und Protestrufe helfen mit Blick auf die gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen nicht, sie fördern nur die Zersplitterung nach Parteischablone, und angebracht wäre vielmehr eine theologische Vertiefung. Kaehlbrandts Vortrag gipfelt in einer Hervorhebung der Bedeutung der Dogmatik von Oettingens als eines Beitrages zur Sammlung und Einheit der Kirche, als einer Quelle des Mutes und der Freudigkeit. Er schildert die schwierige Lage in seiner „baltischen Heimath“, wo wegen „der unlöslichen Verquickung weltlicher und kirchlicher Verhältnisse […] die gesteigerten, theils natürlich gegebenen, theils künstlich erzeugten Interessengegensätze der verschiedenen Bevölkerungsschichten und -gruppen in unheilvoller Weise auch in das kirchliche Leben tief und immer tiefer hinübergreifen, es vielfach verwirren und den kirchlichen Frieden stören.“56 Er nennt ver-
52
53 54 55 56
oder im Verein mit Gleichgesinnten, entweder rückwärts über die trennende Kluft von 1900 Jahren einen Brücken zu bauen, um mit dem sogenannten ,historischen Christus und Seinem Evangelium‘ Fühlung zu gewinnen, oder sich eine Himmelsleiter zu zimmern, um überwärts zu steigen und mit dem ,Geist-Christus‘ in Verkehr zu treten. Die Kirche als der ,Leib Christi‘, als reichgegliederter Organismus, als die Gemeinde der Gläubigen hat kein Existenzrecht.“ (Kaehlbrandt, Lutherische Dogmatik, 494). Ibid., 495. „Losgelöst von aller heils- und kirchengeschichtlichen Grundlage, will das moderne Bewußtsein in dem Menschen Jesus den Hebelpunkt gefunden haben, um in autonomen Selbstgefühl sich zu religiöser Gottesgemeinschaft und zu sittlicher Weltbeherrschung zu erheben und so die Idee des Reiches Gottes im Sinne Jesu zu verwirklichen. Das alte Evangelium ist mitsamt dem Dogma verschwunden. An seine Stelle ist ein neues Evangelium getreten, das Evangelium der Selbsterlösung.“ (Ibid.). Ibid. Gemeint sind die Teilnehmer an der livländischen Landessynode, aber darüber hinaus allgemein die evangelischen Christen und Christinnen in Russland. Ibid.; vgl. oben Kap. 14.4. Ibid., 497.
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schiedene Zeittendenzen,57 die eine lähmende und zerstörende Wirkung auf das kirchliche Leben hätten. In dieser zerrissenen und scheinbar ausweglosen Situation sei das Buch von Oettingens, das „die Fahne des guten Bekenntnisses unserer lutherischen Kirche hoch hebt“, „ein Ruf an Alle, die ihre lutherische Kirche von Herzen lieb haben, sich zu sammeln und, mit Hintansetzung aller Sonderinteressen, sich in dem einigenden Bewußtsein zu stärken, daß ,Alles, was von Gott geboren ist, die Welt überwindet‘; und ,unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat‘ (1 Joh. 5,4).“58 Dieses Buch sei also ein Ruf zur Sammlung und Stärkung der Gemeinschaft im Glauben: Oettingen hat die reichgegliederte Mannigfaltigkeit und streng geschlossene Einheit seines dogmatischen Lehrsystems uns in einer Zeichnung, in dem Bilde eines gothischen Altars,[59] zu veranschaulichen gesucht. Auf den in der Principienlehre gelegten Stufen steigen wir hinan zu anbetender Betrachtung der in dem Ewigen Liebeswillen Gottes begündeten, in Christo verwicklichten Heilswahrheit, um, geeint unter dem alle Gegensätze überwindenden, alle Unterschiede weit überragenden Siegeszeichen des Kreuzes Christi, fröhlich einzustimmen in das den ganzen Aufbau schließende, Alles in sich zusammenfassende: Soli Deo gloria!60
Diese abschließende Beobachtung Kaehlbrandts verdient m. E. besondere Aufmerksamkeit: Von Oettingens Dogmatik, gerade auch sein „Lehrsystem“, diese Mannigfaltigkeit in Einheit, ist nicht „geschlossen“ im Sinn von Selbstgenügsamkeit, sondern will letztendlich eine Anleitung zur Betrachtung der Heilswahrheit sein – der Wahrheit, die die lebendige Quelle der Gemeinschaft, des Mutes und der Freudigkeit ist, mit der sich auch den Herausforderungen der neuen Zeit gestellt werden kann. Das ist jedenfalls die Überzeugung Kaehlbrandts.
57 Religiöse Unwissenheit, kirchlicher Indifferentismus, praktischer Materialismus, Pietät- und Sittenlosigkeit, nationaler Fanatismus. 58 Kaehlbrandt, Lutherische Dogmatik, 497. 59 Vgl. das Bild unten im Anhang. Zur Erläuterung vgl. 1902a, 723–725. 60 Kaehlbrandt, Lutherische Dogmatik, 497f.
Dritter Abschnitt: Kreuzestheologie und Sozialethik
Einführung Im zweiten Teil dieser Studie habe ich zunächst die Stellen im Gesamtwerk von Oettingens näher ins Auge gefasst, die eine ausdrückliche Inanspruchnahme der „Kreuzestheologie“ bzw. „Theologie des Kreuzes“ enthalten. Der Begriff taucht stets im Zusammenhang einer Klärung bzw. Vergegenwärtigung der Eigenart und des Profils einer echten Theologie auf, obwohl die Möglichkeiten ihrer Deskription in unterschiedlichen Kontexten und hinsichtlich verschiedener Probleme oder Themen, die eine erneuerte Fundamentalorientierung bzw. eine grundsätzliche Vergewisserung über die Art und Weise von Theologie als erforderlich betrachten lassen, beträchtlich variieren können. Zum Zweiten spürte ich von Oettingens Einführung des Begriffes „Sozialethik“ in die Ethik nach, die im Zuge der grundsätzlichen Auseinandersetzungen mit der Möglichkeit und dem Sinn von Ethik erfolgte. Diese sozialethische „Seite“ des Werkes von Oettingens verfolgte ich bis in sein sozialethisches Hauptwerk hinein. In diesem dritten Teil meiner Arbeit haben bisher das späte, unter dem Vorzeichen der „Kreuzestheologie“ konzipierte und durchgeführte, dogmatische Hauptwerk, sowie dessen zeitgenössische Wahrnehmung im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden. Obwohl das Verhältnis zwischen Kreuzestheologie und Sozialethik bereits gelegentlich teils direkter, teils indirekter angesprochen wurde, möchte ich es in diesem Abschnitt in zweierlei Hinsicht noch eigens thematisieren. Um einer Verhältnisbestimmung von Kreuzestheologie und Sozialethik näherzukommen, erörtere ich im Anschluss an eine idealtypische Komparation der Konfessionen bzw. der Konfessionskulturen, wie sich dieses Verhältnis weiter konkretisieren lässt. Darauf folgend frage ich auf der disziplinären Ebene, in welcher Weise von Oettingen die Beziehung seiner eigenen beiden Hauptdisziplinen bzw. speziellen Verantwortungsgebiete zueinander auffasst. Nach einer Konzentration auf das christologisch-soteriologische Zentrum der oettingenschen Theologie des Kreuzes, erschließe ich die Relation von Kreuzestheologie und Sozialethik mit dem Fokus auf Solidarität und Toleranz. Durch sie
Zum Kontext und zum Status der vergleichenden Analyse
383
kann man das Anliegen von Oettingens – so lautet jedenfalls meine These – besonders profiliert zum Ausdruck bringen.
27.
Eine idealtypische Komparation der Konfessionen
27.1
Zum Kontext und zum Status der vergleichenden Analyse
Ich habe gezeigt, wie von Oettingen bei der Verwirklichung seines sozialethischen Gesamtprojektes (seit der zweiten Hälfte der 1860er Jahre) mit einer beispiellos umfassenden und sorgfältigen Sammlung des statistischen Materials und somit einer statistisch-empirischen Analyse der gesellschaftlichen Interaktion beginnt.1 Ein wichtiges Ergebnis ist, dass die Daten sich seines Erachtens nach nur dann verstehen lassen, wenn man mit Blick auf die datierten Handlungen drei zusammengehörige Dimensionen unterscheidet und berücksichtigt. Das empirische Material lässt sich nur verstehen, wenn man es weder in einem sozialphysischen noch einem personalethischen, sondern eben in einem sozialethischen Sinn interpretiert.2 In einem zweiten systematisch-ethischen Schritt,3 der phänomenologisch und hermeneutisch akzentuiert ist, setzt er beim geschichtlichen Phänomen der Sitte an und erörtert die ethischen Grundbegriffe bzw. -kategorien: die (formale) Kategorie des Sittlichen, die inhaltlichen Kategorien vom sittlich Guten (vom sittlichen Ideal) und Bösen (Unsittlichkeit) und zuletzt die Kategorie der Wiederherstellung wahrer Sittlichkeit bzw. vom christlich Guten, worauf der inhaltliche Fokus der christlichen Sittenlehre liegt.4 Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem jeweils implizierten Verständnis dreier Faktoren des Sittlichen und ihrem Verhältnis zueinander. Ausgehend vom Verständnis des christlich Guten bzw. des Heilslebens sind diese drei Faktoren das Evangelium (die Verbürgung der Gnade des dreieinigen Gottes als der einzigen Kausalität des Heilslebens), die christliche Kirche (der Organismus des Heils, in dem das Heilsleben zustande kommt, sich entwickelt und zum Ziel gelangt) und die 1 2 3 4
Vgl. oben Kap. 17. Vgl. oben Kap. 18. Vgl. oben Kap. 19. Vgl. zusammenfassend die Inhaltsangabe von §13, der die Behandlung des christlich Guten einführt: „Das ,christlich Gute‘ im Verhältniss zum allgemeinen sittlichen Ideal. Christus als persönliche Verkörperung der sittlichen Idee. Die wahre Gerechtigkeit aus dem Glauben oder das Heilsleben in der Gemeinschaft Jesu, des gekreuzigten und auferstandenen gottmenschlichen Versöhners. Das Heilsleben des Christen aus dem Centrum der Wiedergeburt als fortschreitende Heiligung mit dem Ziel der Vollendung. Die parallelen christlichen Grundtugenden des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung und ihre siegreiche Bewährung im Kampf des Lebens als Inhalt christlicher Ethik.“ (1873a, x).
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Eine idealtypische Komparation der Konfessionen
(Heils-) Erfahrung des christlichen Einzelsubjekts (als die persönliche Form der Realisierung des Heilslebens) (vgl. 1873a, 175–182). Für das Verständnis des Gedankenganges von Oettingens ist es wichtig festzuhalten, dass die Darstellung und Argumentation bisher weder auf irgendwelche konfessionsspezifischen Bekenntnis- oder Lehrdokumente, noch auf die Bibel oder irgendwelche ihrer Stellen zurückgegriffen hat. Sie bezieht sich sozusagen auf die Sache selbst und ihre Autorität bzw. Evidenz. Insofern hat die Grundlegung der christlichen Ethik weder einen konfessionalistischen noch einen biblizistischen Charakter. Die Einleitung bemüht sich ausdrücklich darum, den Eindruck zu vermeiden, dass die Einsicht in die Sache und ihre Geltung von einer notwendigerweise schon vorrausgehenden Anerkennung der Autorität einer geschichtlich gewordenen Bekenntnis- und Lehrgestalt einer bestimmten Kirche, oder auch der Bibel, abhängig ist. Von Oettingen unternimmt also in eigener Denkverantwortung eine Beschreibung und Erschließung der ethischen Grundbegriffe und zeigt u. a., wie sich die drei Faktoren des christlich Guten bzw. christlichen Heilslebens in der Idee des Reiches Gottes zusammenfassen lassen (vgl. ibid., 182–185). Letzteres bedeutet, dass bei der (ethischen) Betrachtung des Heilslebens der soziale Faktor im Vordergrund zu stehen hat, weil – wie im zweiten Teil besprochen – die göttliche Wirkung und die individuell-persönliche Erfahrung sich im Reich Gottes, wie es in der Kirche bzw. in der Heilsgemeinde Christi geschichtlich Gestalt gewinnt, vollziehen. Von Oettingen arbeitet mit einem differenzierten Begriff vom Reich Gottes. Der Begriff des Reiches Gottes erschöpft sich nicht im Begriff der Kirche; er ist nicht ethisch reduzierbar und hat eine eschatologische Ausrichtung. Die Kirche ist aber auf jeden Fall vom Reich Gottes her zu verstehen. Sie spielt eine notwendige Rolle im Realisierungszusammenhang des Reiches Gottes. Ein nicht unwichtiges Implikat dieses Sprachgebrauchs bei von Oettingen ist, dass die eigene Konfession5 bzw. Konfessionskirche gerade nicht mit der (wahren) Kirche identifiziert wird, also keinesfalls mit einer naiven und exklusiven Identifikation z. B. der lutherischen Kirche mit der Kirche Jesu Christi operiert wird. Das Kommen des Reiches Gottes steht bei von Oettingen nicht nur mit der lutherischen Kirche im Zusammenhang. Wenn die christliche Sittenlehre demgemäß präzise als eine kirchliche Sozialethik aufzufassen und auszugestalten ist – weil 5 Im Gegensatz zur Behauptung z. B. von H.J. Iwand, in seiner sonst sensiblen und tiefgehenden Vorlesung zu von Oettingen: „[D]ie[] Kirche gibt es nur im Luthertum“ (Iwand, Theologiegeschichte, 171). Diese Behauptung ist schlichtweg falsch. Obwohl Iwands Interpretation lesenswert ist, ist es bedauerlich, dass er als seine Quelle nur Die Moralstatistik verwendet und nur auf dieser Grundlage von der Ethik von Oettingens spricht. Sein theologischer Tiefsinn und seine Gelehrtheit hätten bei der Berücksichtigung des ethischen Gesamtwerkes höchstwahrscheinlich eine noch pointiertere und auf noch soliderer Quellenbasis basierende Charakterisierung und Kritik erlaubt.
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das Heilsleben sich nur allseitig verstehen und darstellen lässt, wenn der soziale Faktor stets in den Vordergrund gerückt wird –, ist also „kirchlich“ zunächst in einem theologisch tieferen und grundsätzlicheren Sinn zu verstehen als die eigene Konfession von Oettingens. Das eben Gesagte steht nicht im Gegensatz zur Auffassung, sondern schließt diese vielmehr ein, dass die christliche Sittenlehre heute den gegenwärtigen konfessionell vielgestaltigen Stand christlichen Lebens zu berücksichtigen hat. Eben weil Lehre und Leben nicht beziehungslos nebeneinander, sondern in einem Zusammenhang stehen, hat die christliche Ethik ihr Verhältnis zu den Konfessionen zu reflektieren und zu klären und sich selbst konfessionell auszuprägen bzw. zu profilieren. Unter den Bedingungen geschichtlich gewordener, konfessioneller Pluralität muss auch in der Ethik auf diesen Tatbestand Rücksicht genommen werden. Dass es dabei keineswegs bloß um eine bequeme Tradierung und Rechtfertigung z. B. der gegenwärtig in der eigenen (regionalen) Konfessionskirche einfach als gegeben vorausgesetzten Vorstellungen geht, ist für von Oettingen selbstverständlich (eben deshalb ist es auch so wichtig, die Dogmatik und ihre notwendige Aufgabe richtig zu würdigen). Auch die lutherische Lehre ist stets nur im Modus der (Re-) Produktion zugänglich, d. h. sie schließt die stetige Herausforderung ihres Verstehens ein und nicht aus. Christliche Ethik in konfessioneller Ausprägung zu betreiben, bedeutet also dies von innen heraus, von der konfessionell eigentümlichen grundlegenden Auffassung der Sache bzw. des Sachbezugs her, zu tun. In Kap. 20 ist diese Überzeugung von Oettingens noch deutlicher ausgesprochen worden. Das geschichtlich gewordene christliche Bekenntnis präsentiert sich gegenwärtig in einer Mannigfaltigkeit, die es unmöglich macht, eine partikulare Konfession in ihrer geschichtlich gewordenen Ausgestaltung ohne weiteres zum Ausgangspunkt der systematischen Reflexion zu erheben. Vielmehr ist es geboten, den Wahrheitsanspruch der gegenwärtig als offiziell gültig geltenden Lehre zunächst von der Sache her zu erschließen und zu beurteilen. Wie hier dargestellt, nehmen die ersten ca. 200 Seiten der grundlegenden Gegenstandsbestimmung der christlichen Ethik zwar durchgehend auf den sozialen bzw. kirchlichen Faktor Bezug bzw. heben dessen Bedeutung hervor, sie handeln jedoch noch nicht von den einzelnen Konfessionen oder behaupten gar, dass nur die lutherische Kirche im Zusammenhang des Heilslebens als jener soziale Faktor in Frage kommen kann. Im Folgenden jedoch unternimmt von Oettingen eine prinzipielle, von der Art her (reduzierend) idealtypische Komparation der Konfessionen und analysiert, wie in den konfessionellen Haupttypen jene Faktoren und ihr Verhältnis zum Ausdruck kommen. Erst im Zuge dieser Erörterung meint er behaupten zu können, dass das in der lutherischen Konfession implizierte und durch von Oettingen einer Explikation unterzogene Sachverständnis der sachlich gebote-
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Eine idealtypische Komparation der Konfessionen
nen Auffassung der christlichen Sittenlehre als Sozialethik am besten entspricht. Oder noch pointierter formuliert: Nur die lutherische Konfession enthält im strengen Sinn eine prinzipielle Auffassung von Ethik als Sozialethik. Dies heißt aber weder, dass die lutherische Konfession immer und überall faktisch so verstanden worden ist bzw. wird, noch, dass sie in der Praxis immer und überall so aufgetreten ist bzw. auftritt. Von Oettingen vertritt also die These, die er in einem fortgeschrittenen Stadium seiner Argumentation durch eine komparative Analyse der Konfessionen zu plausibilisieren versucht, dass eine evangelische, genauer : lutherische Sittenlehre sich sowohl von einer katholischen als auch von einer reformierten Ethik dadurch unterscheidet, dass sie – ich formuliere vereinfachend und vorausgreifend – auf einen (lutherischen) Realismus im Unterschied zu einem (katholischen) Objektivismus und einem (reformierten) Subjektivismus bezogen ist. In jenem Realismus sei eine organisch-sittliche Weltanschauung impliziert, in der die Freiheit eines Christenmenschen – das Zustandekommen, das Werden und das Ziel des Heilslebens – in ihrer steten Bezogenheit auf den Leib Christi wahrgenommen wird. Gerade durch diese Grundauffassung erweise die lutherische Position sich als genuin christlich bzw. evangelisch.6 Sie unterstützt die sozialethische Betrachtung bzw. verlangt nach einer Sozialethik – im Unterschied zu einer hierarchisch-klerikalen oder einer individualistisch-personalen Moralauffassung. Das, um es nochmals zu betonen, heißt nicht, dass das Luthertum seinem Prinzip in der Lehre und Praxis immer treu gewesen ist. Es bedeutet auch nicht, dass die Christlichkeit anderer Konfessionen einfach bestritten wird. Es schließt auch nicht aus, dass die lutherische Kirche von den anderen Konfessionen Wertvolles lernen kann. Im Gegensatz zu der Meinung, dass die konfessionell ausgestaltete Pluralität der Kirche für das Verständnis des christlichen Ethos irrelevant oder sekundär ist, analysiert von Oettingen also die konfessionellen Haupttypen. Wie ich in Kap. 22 schon erwähnt habe, ist er selbst der Meinung, dass sich die geschichtlichen Variationen und die späteren (Neu-)Entwicklungen auf diese (im Zuge der Reformation zu Tage tretenden) drei Typen mehr oder weniger reduzieren lassen. Es wäre m. E. aber auch eine differenziertere Typisierung vorstellbar. Ich bringe dafür ein klassisches Beispiel, das durch die Lektüre besonders von §14 seiner Sittenlehre (vgl. 1873a, 175–240), aber auch von vielen weiteren Textstellen aus der dritten Phase seines Gesamtwerkes,7 sehr wahrscheinlich in Erinnerung gerufen wird. Die Vergegenwärtigung des klassischen 6 Das Evangelische wird sachlich (nicht durch eine kirchliche Konfession) bestimmt: Christliche Sittenlehre ist evangelisch, weil bzw. insofern die Gnade (die freie Vergebung Gottes im Evangelium) als der Grund und Brennpunkt des Lebens oder der Freiheit verstanden wird (vgl. 1873a, 178). 7 Vgl. oben Kap. 7.
Eine Erinnerung an Troeltsch’ Soziallehren
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Werkes von Troeltsch dürfte sich als hilfreich für die Wahrnehmung des Profils der Konfessionenkomparation von Oettingens erweisen.
27.2
Eine Erinnerung an Troeltschs Soziallehren
Ernst Troeltsch, der einige Jahre nach seinen Besprechungen von von Oettingens Dogmatik und fast 40 Jahre nach von Oettingens Sozialethik in seiner berühmten Behandlung der Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen seine Typologie in Zusammenhang mit einer feinsinnigen Entwicklungs- bzw. Sozialgeschichte des Christentums entfaltet, operiert mit einer grundlegenden, typenspezifischen Auffassung der „christlichen Idee“, die „soziologische Konsequenzen“ hat. Die Typen lassen sich seines Erachtens nach – ich vereinfache – bestimmten Epochen zuordnen, obwohl ihre Entstehungsmotive sich alle auch schon im Neuen Testament finden lassen. Sie sind insofern in ihrem Entstehen selbst soziologisch bedingt, wobei die späteren Typen die früheren eigentlich als in der neuen Epoche überholt erscheinen lassen.8 So enthalte z. B. der Katholizismus die Idee einer christlichen Einheitskultur, und gehöre eigentlich zum Mittelalter. Er sei „[d]ie reine und konsequente Ausprägung des Kirchentypus“.9 Die früheren Typen können faktisch noch weiterhin geschichtlich lebendig und wirksam sein, obwohl ihre Stunde eigentlich schon geschlagen hat. Die sich erst später ausbildenden Motive lassen sich auch unter den Bedingungen eines dominierenden Haupttypus durchaus finden: Sie begleiten diesen als Komplementärbewegungen.10 Dem mittelalterlichen Katholizismus folgt Troeltsch zufolge der Protestantismus als „neuer Typus der soziologischen Selbstgestaltung der christlichen Idee“.11 Der Ausgangspunkt des Protestantismus liegt „in der Originalität Luthers“, in seiner Idee vom Christentum bzw. von der Religion und deren soziologischen Konsequenzen. Doch der Anschluss des im weiteren Verlauf der 8 Dass die religiösen Typen des Christentums auch durch ihre Zugehörigkeit zu gewissen sozialen Schichten bedingt sind, gilt auch in der Moderne. Für die Bildungsschicht sei zwar der Spiritualismus die einzig zugängliche Fassung des Christentums, aber er könne dies nie für alle sein. So meint Troeltsch hier, als positive Wendung der Aporie am Ende seiner Rezension zu der Aussage von Oettingens, dass eine Koexistenz der verschiedenen konkreten Lebensformationen des Christentums nie durch eine einzige Form ausgelöst wird (vgl. Troeltsch, Soziallehren, Bd. 2, 938f). 9 Ibid., 980. 10 Allerdings sei „der ungebrochene Kirchentypus“ nur den „Zeiten einer allgemeinen naiven Gläubigkeit […] innerlich angemessen“ (ibid., 981). „Die Tage des reinen Kirchentypus in unserer Kultur“ oder des römischen Katholizismus „sind gezählt“ (ibid.). Unter modernen Bedingungen ist „der Kirchentypus des Katholizismus zu einer immer gewaltsameren und äußerlicheren Gewissensherrschaft gezwungen“ (ibid., 982). 11 Vgl. Troeltsch, Soziallehren, Bd. 2, 427–430.
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Eine idealtypische Komparation der Konfessionen
Geschichte sich etablierenden Luthertums an die neue Epoche, an die entstehende neue allgemeine Kultur, sowie sein Beitrag zu deren Genese der Neuzeit – die Wechselbeeinflussung beider – ist höchst defizitär. Das Luthertum bleibt in vielerlei Hinsicht dem Mittelalter und dem Katholizismus verhaftet. Die Prägung durch dieses Luthertum bedinge deshalb auch z. B. die reaktionären und konservativen Entwicklungsschübe im deutschen politischen und sozialen Leben. Konsequenter protestantisch und viel bedeutsamer für die Entstehung der Moderne sei der vom Luthertum ausgegangene Calvinismus bzw. das Reformiertentum. Die beiden Konfessionen erschöpfen jedoch den Protestantismus nicht. Die mehr oder weniger verbundenen Motive für die Entstehung von Sekten und für die Mystik, die im Sinn der Komplementärbewegungen auch den Katholizismus begleitet haben, werden im Boden des Protestantismus als die „Nebenströme“ zu den kirchlichen „Hauptströmen“ besonders wirksam.12 Troeltsch macht also drittens die protestantische Sekte13 bzw. das Täufertum und die protestantische Mystik bzw. den Spiritualismus eigens geltend.14 Es ist dabei die protestantische Mystik, die in den Augen von Troeltsch „ein überaus wichtiges, heute geradezu vorherrschendes Prinzip in die Geschichte des Christentums einführt“.15 Innerhalb des Protestantismus seien es eben das Sektentum und die Mystik, die mit der modernen Welt „wahlverwandt[]“ sind.16 Darin, dass Troeltsch die christliche Idee im Katholizismus, im Luthertum und im Calvinismus und ihre jeweiligen sozialen Konsequenzen betrachtet,17 liegt – wie gleich zu sehen sein wird – eine deutliche Ähnlichkeit zur Betrachtungsweise von Oettingens. Allerdings arbeitet Troeltsch noch als Richtungen 12 Ibid., 848. Das ist so, weil der Protestantismus eben das Neue Testament dort geltend macht, wo jene Motive auch zu finden sind (vgl. ibid., 795). 13 Der Begriff „Sekte“ ist bei Troeltsch bekanntlicher Weise nicht pejorativ gemeint, sondern stellt soziologisch betrachtet neben dem christlichen Sozialtyp „Kirche“ einen weiteren Typus dar (für den im NT durchaus Ansätze zu finden sind): „Der Gebrochenheit und Relativierung der christlichen Maßstäbe in einer kirchlichen Einheitskultur tritt bei ihnen [i. e. bei den Sekten] der Radikalismus der christlichen Sozialethik und die Tendenz auf kleine Kreise gegenüber, in denen dieser Radikalismus möglich ist.“ (Troeltsch, Soziallehren, Bd. 1, 184f, vgl. 360). 14 Der (protestantische) Sektentypus des Christentums und die (protestantische) Mystik werden zwar unterschieden, aber sie bilden – im Unterschied zu den protestantischen Kirchentypus, i. e. dem Luthertum und Calvinismus – kein eigenständiges Kapitel. Es sei „sehr schwer, diese Mystik gegen die Sekte richtig abzugrenzen, umsomehr, als die alte häresologische Ueberlieferung die Unterschiede überall verwischt und unter ihrem Einflusse auch die moderne Forschung nur sehr langsam beides zu trennen gelernt hat. Der Unterschied wird am deutlichsten von der Betrachtung der soziologischen Konsequenzen aus“ (Troeltsch, Soziallehren, Bd. 2, 849). Zur Bestimmung der Mystik in einem weiteren Sinn vgl. ibid., 850; zur Mystik „als selbständiges religiöses Prinzip“ vgl. ibid., 853f. 15 Ibid., 797. 16 Troeltsch, Soziallehren, Bd. 2, 982. 17 Ibid., 940.
Eine Erinnerung an Troeltsch’ Soziallehren
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bzw. Nebenströme die Sekte und die Mystik heraus. Was Letztere betrifft: Dem Spiritualismus und der Mystik sei in soziologischer Hinsicht das völlige Fehlen eines Organisationstriebes charakteristisch.18 Bei der Sekte lassen sich wiederum ihre „aggressive welterneuernde“ und ihre „duldende und leidende, weltindifferente“ Form unterscheiden.19 In seiner Gegenwart gilt Troeltsch der Calvinismus als „die eigentliche Hauptmacht des Protestantismus“,20 wobei die Gründe dafür in der konfessionsspezifischen Auffassung der religiösen Idee und ihrer sozialen Folgen zu finden seien. Um das Anliegen von Oettingens zu pointieren, ist es nun folgerichtig und verdient Erwähnung, dass sich die moderne Theologie, i. e. jene Theologie, die „mit dem modernen Geiste inneren Zusammenhang“ steht und „zugleich religiöse Wärme und Lebendigkeit“ sucht, in der Analyse von Troeltsch eben in Richtung der Mystik bzw. des Spiritualismus bewegt.21 Sie könne „auf der ganzen Linie“ als „die Erneuerung des alten Spiritualismus“ verstanden werden; sie stehe dem Meister Eckart und Sebastian Frank näher als Luther. Die Gegenwartsrelevanz Luthers sähe die moderne Theologie hauptsächlich in Luthers „spiritualistischen Anfängen“.22 Insofern charakterisiert von Oettingen – auch aus der Perspektive von Troeltsch – die moderne Theologie durchaus zutreffend, wenn er ihren Subjektivismus hervorhebt. Innerhalb des Protestantismus unterscheidet Troeltsch also zwischen zwei kirchlich-konfessionellen Varianten. Neben diesen konfessionell-kirchlichen Gestalten, und in der Moderne zunehmend an Bedeutung gewinnend, stehen aber das Sektentum und die Mystik bzw. der Spiritualismus, die sich durch ihren Subjektivismus auszeichnen. Der Antwort auf die Frage, welche Organisationsform des Christentums als der Gegenwart bzw. der Zukunft angemessen zu bewerten ist, meint Troeltsch nur im Anschluss an das Verständnis der großen Kulturkomplexe näherzukommen – eben so, wie er es exemplarisch in seiner
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Ibid. Ibid., 942. Ibid., 605. Ibid., 934. Als jemand der in einer „Gruppierung“ der modernen Theologie seit Schleiermacher steht, wobei das Verhältnis zum Spiritualismus als Schlüssel dient, sagt Troeltsch von sich selbst: „Meine eigene Theologie ist sicherlich spiritualistisch, sucht aber eben deswegen dem historischen und dem damit verbundenen kultisch-soziologischen Moment Raum zu schaffen.“ (Ibid., 936). In der Geschichte des Protestantismus vollzieht sich „eine immer zunehmende Durchdringung der Lebensgehalte des Kirchentypus mit denen der Sekte und der Mystik“: „der Katholizismus“ macht „beide immer unwirksamer“; im Protestantismus werden „beide immer mächtiger“ (ibid., 982). „In der gegenseitigen Durchdringung der drei soziologischen Grundformen und ihrer Vereinigung zu einem all diese Motive versöhnenden Gebilde liegen seine Zukunftsaufgaben, Aufgaben soziologisch-organisatorischer Natur, die dringender sind als alle Aufgaben der Dogmatik.“ (Ibid.). 22 Ibid., 935.
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Eine idealtypische Komparation der Konfessionen
großen Untersuchung der Soziallehren versucht.23 In welcher Zeit und welcher sozialen Schicht gegenüber hat sich die christliche Idee wie gestaltet? Bei Troeltsch steht die kontextuelle Sensibilität im Vordergrund. Die Vorstellung z. B. einer invarianten (auch sozialen) Kernstruktur der christlichen Idee ist ihm fremd bzw. er weist sie zurück.24
27.3
Von Oettingens Analyse: die Verhältnisbestimmung zwischen Göttlichem und Kreatürlichem als die zugrundeliegende Differenz der Konfessionen bzw. der Konfessionskulturen
Von Oettingen betrachtet die Hauptgestalten der Konfessionen25 und bemüht sich nachzuweisen, dass ihre religiösen Prinzipien mit ihren differierenden Sozialgestalten und ihren jeweiligen ethischen Ansichten in einem Zusammenhang stehen. Dass die dogmatischen Differenzen ethische Relevanz haben, werde bei genauerer Analyse in den praktischen Konsequenzen sichtbar. Von Oettingen will jedoch keine generelle Einlinigkeit behaupten. Vielmehr haben die geschichtlich gewordenen kirchlichen Lehrdifferenzen auch eine Differenz in der gesamten geistlich-sittlichen Weltanschauung zum Teil als Voraussetzung, zum Teil zur Folge. Er will an dieser Stelle vor allem zeigen, wie die konfessionell differierenden geistigen Prinzipien im kirchlichen Leben, in christlicher Tra23 Vgl. Troeltsch, Soziallehren, Bd. 2, 704. 24 Zur Kritik vgl. z. B. Herms, „Neoprotestantismus“. 25 Es ist wichtig hervorzuheben, dass sich von Oettingen, obwohl er im Unterschied zum Buch Die Moralstatistik in seinem Werk Die christliche Sittenlehre auf einen ausführlichen wissenschaftlichen Apparat verzichtet und sich so die herangezogene Literatur leider nicht genau identifizieren lässt, bei seiner komparativen Analyse keineswegs nur auf die Perspektive der lutherischen Forscher stützt, sondern auch die in seiner Zeit wichtigsten vergleichenden Darlegungen anderer Perspektiven kennt. Beispielhaft genannt seien die bahnbrechende Analyse der innerprotestantischen Lehrdifferenzen durch den reformierten Kirchenhistoriker Matthias Schneckenburger (Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformierten Lehrbegriffs, in zwei Teilen, 1855) (vgl. 1873a, 199) und die berühmte Symbolik, oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnißschriften (1. Aufl., 1832) Joachim Adam Möhlers. Erwähnenswert ist zudem, dass von Oettingen eine umfangreiche Rezension zu Kirche und Kirchen, Papstthum und Kirchenstaat, historisch-politische Betrachtungen (1861) von Ignaz von Döllinger verfasste (vgl. 1862a). Als allgemeine Beobachtung mit Blick auf sein Gesamtwerk ist festzuhalten, dass sich immer wieder Hinweise auf seine Lektüre von Autoren anderer konfessioneller Traditionen finden lassen, gelegentlich auch der neueren bzw. entstehenden protestantischen Strömungen. Warum orthodoxe Autoren nur vereinzelt auftauchen, ist eine Frage für sich, die eventuell auf das komplizierte Verhältnis zwischen der lutherischen Kirche und der orthodoxen Staatskirche in seinem Heimatland im 19. Jh. hinweist (vgl. oben Kap. 3, Kap. 15).
Von Oettingens Analyse
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dition und Sitte, erscheinen und somit je verschiedene Kollektivgestalten des christlichen Lebens und Verhaltens hervorrufen (vgl. 1873a, 206). Also bemüht sich von Oettingen um eine komparative (sozial-)ethische Interpretation der Konfessionen. Zuvor hatte er jedoch versucht, das Wesen der wahrhaft evangelischen bzw. christlichen Moral zu bestimmen. Nun will er anhand einer komparativen Deutung und Analyse der gewordenen Konfessionen kritisch prüfen, ob etwa das Prinzip des evangelischen Luthertums diesem entspricht oder nicht. Ob bzw. inwiefern kommt darin insbesondere die sozialethische Grundansicht zur Geltung? Zugleich lassen sich seine Darlegungen – auch deshalb sind sie hier von Interesse – als gute Veranschaulichung dessen verstehen, was er unter einer sozialethischen Position versteht. Und – dies ist im Zusammenhang dieser Studie von besonderem Interesse –, sie geben wichtige Hinweise darauf, wie Kreuzestheologie und Sozialethik seiner Auffassung nach aufeinander bezogen sind. Der Fokus bei der Interpretation der Konfessionen wird durch die Frage eingegrenzt (vgl. ibid., 192), wie die Konfessionen das Verhältnis zwischen den drei Faktoren der christlichen Sittlichkeit jeweils bestimmen und welche dabei die Position dabei der soziale Faktor hat. Dadurch kommen zum einen die Differenzen der konfessionellen Typen pointiert zum Ausdruck, und zum anderen wird deutlich, dass eine sozialethische Betrachtung und Präzisierung der christlichen Sittlichkeitsidee berechtigt und notwendig ist. Bei der komparativen Interpretation knüpft er zunächst an die in seiner Zeit in bestimmten Kreisen geläufigen Auffassungen über den Gegensatz zwischen dem Katholizismus und dem Reformiertentum und die Mittelposition des Luthertums an. Jene Auffassungen kreisen um die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Individuellem und Sozialem. Sie sehen darin den Hauptunterschied. Für von Oettingen geht es dabei allerdings nur um die Symptome, d. h., der Lokalisierung der Differenz auf dieser Ebene weist er keine allgemeine und durchgehende Bedeutung zu. Seine – wie sich herausstellen wird – christologisch informierte These lautet, dass die grundsätzliche Differenz das Verhältnis zwischen dem göttlichen und dem individuellen Faktor betreffe und symptomatisch in der jeweiligen Auffassung des kirchlichen Zusammenlebens in Erscheinung trete (vgl. ibid., 194). Von Oettingens z. T. recht detaillierte und komplexe Darlegungen greife ich an dieser Stelle stark zusammenfassend und vereinfachend auf. Der Dynamik, aber auch der Dialektik seiner Analyse, die auf das historische Material, auf exemplarische Phänomene und charakteristische Entwicklungen zurückgreift, werde ich so nicht gerecht.26 Es geht mir aber nicht darum, diese konfessionelle Ty26 Nicht so sehr in seinem Werk Die christliche Sittenlehre, das hier als Quelle dient, sondern in
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pologie für sich zu diskutieren. Sie enthält in systematischer Hinsicht durchaus beachtenswerte Überlegungen mit z. T. erschließender Kraft, auch wenn man nicht unbegründet der Meinung sein sollte, diese Charakterisierungen der Konfessionen – man kann sie durchaus auch schwächer als Idealtypen bzw. Modelle interpretieren – werden den Konfessionen letztendlich doch nicht gerecht bzw. treffen nicht den heutigen Stand der Lehre und des Lebens der konfessionell verschiedenen Kirchen. Diese Typologien sind an dieser Stelle nur insoweit zu skizzieren, als dass dadurch die Auffassung von Oettingens von der Sozialethik in ihrem Verhältnis zur Kreuzestheologie deutlichere Konturen gewinnt. Um das Nachvollziehen der folgenden von mir rekapitulierten Analysen zu erleichtern, bringe ich provisorisch die Grunddifferenz in den konfessionellen Auffassungen der Relation von universellem und individuellem Faktor, einschließlich der Folgerungen für das Verständnis des sozialen Faktors, die von Oettingen identifiziert, auf den Begriff (vgl. 1873a, 209). Dem Luthertum in seiner gesunden Form sei ein „christologischer Theismus“27 eigentümlich. Warum, mit welchem Recht und wie genau das Göttliche und das Menschliche als eine Einheit bildend wahrgenommen werden, erläutere ich weiter unten. Das Reformiertentum sei dagegen durch einen – ich formuliere parallel und sinngemäß – abstrakt-transzendenten Theismus, der das Göttliche und das Kreatürliche trennt, gefährdet. Der Katholizismus wiederum neige zu einer Identifizierung beider. Ich bezeichne das als immanenten Theismus. Im Verständnis der Kirche neige die katholische Position deshalb zu einem einseitigen Objektivismus und mache mit Blick auf sie und gegenüber dem Einzelnen ein entsprechend einseitiges Autoritätsprinzip geltend. Die reformierte Position wiederum tendiere zu einem einseitigen Subjektivismus. Die kirchliche Sozialität als etwas Sekundäres begreifend setze sie das Prinzip der Individualität in den Vordergrund. Gegenüber jenen beiden Gefahren, die durch ein je eigentümliches Verständnis des Göttlichen (in seinem Verhältnis zum Kreatürlichen) bedingt sind, trete einzig die lutherische Position für das sozialethische Prinzip ein. Dies sei für das lutherische Ethos charakteristisch. Geschichtlich aufgetreten und wirksam geworden sei die lutherische Reforanderen Schriften aus der dritten Periode (z. B. 1876a und 1878a) berücksichtigt und verfolgt er bei den sozialethischen Interpretationen der Konfessionen bzw. der Konfessionskulturen stärker deren geschichtliche Dynamik und betrachtet eigens auch den ostkirchlichen bzw. byzantinischen Typus. Die formale Ähnlichkeit der Arbeitsweise mit der in den klassischen Werken von Marx Weber und Ernst Troeltsch kommt dort noch stärker zum Vorschein. (Zur neueren Kritik vgl. z. B. Boettcher, The Social Impact.) Bei der systematischen materiellen Entfaltung der Sozialethik hält er aber diese Grundoptionen stets im Blick und verweist hier und da auch auf geschichtliche Beispiele. 27 Diese Formulierung verwendet er so sonst nicht. Auch in Lutherische Dogmatik taucht sie nicht auf.
Der immanente Theismus
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mation also eben sowohl als eine Bewegung gegen den kirchlichen Autoritarismus für das Recht des gläubigen Subjekts, als auch als eine Bewegung gegen einen kirchlichen Subjektivismus und für objektiv-kirchliche Grundbedingungen für alle christliche Lebensentwicklung. Jener doppelte Kampf habe somit ganz wichtige sozialethische Konsequenzen, die gerade im lutherischen Kirchenverständnis zur Erscheinung kommen (vgl. 1873a, 209).
27.4
Der immanente Theismus, oder: Die Gefahr einer Vergöttlichung des Kreatürlichen
Eine prinzipielle Tendenz zur Verabsolutierung bzw. Vergöttlichung des Kreatürlichen sieht von Oettingen dem Katholizismus innewohnend (vgl. 1873a, 194–197). Die römische Moral, das Sittlichkeitsverständnis des Katholizismus, betone zwar die Gemeinschaft sehr, entpuppe sich beim näheren Hinsehen jedoch als eigentlich antisozial oder zumindest nicht sozialethisch. Denn das Kirchentum werde als abstrakte Autorität in einer mechanischen und zwingenden Weise zur Geltung gebracht, wodurch die „schöne und reiche Vielfältigkeit“ der kirchlichen Gemeinschaft aufgehoben wird. Die Gemeinschaft werde also nicht als organisch und daher nicht als eine vielfältige lebendige Einheit anerkannt. Sie werde vielmehr als eine hierarchische Organisation verstanden, an deren Spitze der unfehlbare Papst steht und das Dogma gewinne hier den Charakter einer unfehlbaren Lehrsatzung. Auch in Fragen der Moral habe der Einzelne sich der hierarchisch-unfehlbaren Macht der Kirche unterzuordnen. Es lasse sich also eine prinzipielle Tendenz zur Identifizierung des Kreatürlichen mit dem Göttlichen, zur irdisch-materiellen Objektivierung des Göttlichen im Modus der hierarchischen Kirchenanstalt, ihrer Ämter und der durch sie vollzogenen Handlungen wahrnehmen. Ich erinnere an dieser Stelle exemplarisch an den offiziellen Antimodernismus (Syllabus errorum von 1864)28 und an das Erste Vatikanische Konzil (1870) mit der Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit unter Pius IX., die eine Orientierung am Papst und an der Kurie, den sog. Ultramontanismus bzw. Romanismus, durch die unbedingte Geltendmachung der kirchlich-hierarchischen Autorität auf die Spitze getrieben haben. Es sind Ereignisse, deren Zeitzeuge auch von Oettingen war. Solche Entwicklungen (die sich ihrerseits natürlich auch als Reaktionsbewegungen interpretieren lassen) dürften innerhalb der protestantischen Theologie für eine skeptische oder ablehnende Haltung 28 Pius IX, Syllabus errorum. Der sog. Antimodernisteneid, d. h. die unterschriftliche Bestätigung der Enzyklika, die für alle Priester und Professoren der katholischen Theologie Pflicht war, ist bekanntlich erst durch das Zweite Vaticanum (1962–1965) abgeschafft worden.
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Eine idealtypische Komparation der Konfessionen
gegenüber einer sog. kirchlichen Theologie im Kontext des evangelischen Christentums einen zusätzlichen Schub geleistet haben.
27.5
Der abstrakt-transzendente Theismus, oder: Die Gefahr einer Trennung des Göttlichen und des Kreatürlichen
Das Protestantische im engeren Sinn eines Widerspruchs gegen den Katholizismus charakterisiere besonders die reformierte Position. Hier dominiere ein Widerwille gegen alles, was einer Vergöttlichung des Kreatürlichen nahe zu kommen scheint. Das Göttliche werde in einem absoluten Jenseits fixiert. Einzig das Wort Gottes entscheide über das Sittliche. Im Gegensatz zu einer Vergöttlichung der Menschensatzung und zu einer Vermenschlichung des göttlichen Gebotes gelte allein der Wille Gottes in seiner schroffen Absolutheit und Monotonie als sittliche Norm. Mit Formulierungen, die nur wenig anders klingen als einige Signalwendungen der sog. dialektischen Theologie aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, beschreibt von Oettingen die in seinen Augen typisch reformierte Tendenz29 zur Hervorhebung der absoluten Transzendenz Gottes. Im strikten Gegensatz zu der vorher genannten römischen Identifizierung bzw. Vermischung gehe sie von einem abstrakten, rationalisierenden Verhältnis zwischen dem Göttlichen und Kreatürlichen aus. Das Gebot Gottes als Ausdruck des absolut-souveränen Willens Gottes stehe also der geschichtlichen Situation des Menschen abstrakt gegenüber. Das Moralverständnis sei deshalb durch eine Ambivalenz gefährdet: Einerseits werde der göttliche Faktor im deterministischen Sinn stark gemacht, wodurch die menschliche Freiheit als eine Illusion erscheine. Andererseits werde neben der Wirkung Gottes die menschliche Mitwirkung hervorgehoben (vgl. 1873a, 199).30 Jenes, als Basisannahme den Hintergrund bildende, abstrakte Verhältnis von 29 z. B. sagt Karl Barth am Schluss seines Vortrages „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie“, dass sein Vortrag alttestamentlich und reformiert gewesen sei. „Ich habe ja als Reformierter – und nach meiner Meinung natürlich nicht nur als das – die Pflicht, gegenüber dem lutherischen est wie gegenüber der lutherischen Heilsgewißheit einen gewisse letzte Distanz zu wahren.“ (Barth, Das Wort Gottes, 218). Von Oettingen hätte sich höchst wahrscheinlich als Lutheraner – und seiner Meinung nach gewiss nicht nur als solcher – seinerseits von Barth distanziert. Die Grundstimmung und Argumentation z. B. in Barths späterem Vortrag „Die Menschlichkeit Gottes“ weist dagegen in Vielem eine erstaunlich starke Nähe zu von Oettingens Theologie auf; oder auch umgekehrt. 30 Das Dilemma entstünde, weil „göttliche Gnade und menschliche Freiheit nicht in ihrer tiefen Einheit erfasst werden, weil das herrlichste und reichste Problem sittlichen Lebens, eben jene Durchdringung der göttlichen Nothwendigkeit und menschlicher Willensbewegung nicht verstanden und bewahrt wird“ (198).
Der christologische Theismus
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Gott und Mensch sei auch für einen synergistisch-gesetzlichen Zug verantwortlich, der sich in einer eigentümlichen Lehre von den guten Werken31 zeige. Das Wachsen in der Heiligung bilde das Kriterium eigener Prädestination und erkläre wenigstens teilweise das bekannte Phänomen der reformierten Vielgeschäftigkeit. Von Oettingen interpretiert es also eine Konsequenz des religiösen Prinzips, das im praktischen Leben überhaupt, aber auch in der Gestaltung des kirchlichen Lebens, eine gesetzliche, rigoristische Einseitigkeit zur Folge habe. Eine Skepsis gegenüber den natürlich-geschichtlichen Lebenssphären werde spürbar (vgl. ibid., 200).
27.6
Der christologische Theismus, oder: Die Einheit des Göttlichen und des Menschlichen unter dem Gegensatz
Wo wurzelt das Problem sowohl der römischen als auch der reformierten Position? Beide verstehen das christliche, sowohl ontologische bzw. kosmologische als auch soteriologische Dimensionen enthaltende Grundmysterium – „Gott geoffenbart im Fleisch“ – nicht hinreichend tief und bringen es nicht konsequent genug zur Geltung (vgl. 1873a, 200, 227).32 Für die lutherische Auffassung bilden 31 Die Eigentümlichkeit der Lehre von den guten Werken in der Geschichte des reformierten Zweiges der evangelischen Tradition hält in einem verbreiteten ethischen Lehrbuch z. B. J. Fischer fest (vgl. Fischer et al., Grundkurs Ethik, 317f). 32 In vielerlei Hinsicht präsentiert die Studie von Erwin Metzke „Luther und Sakrament. Eine Lutherstudie über das Verhältnis christlichen Denkens zum Leiblich-Materiellen“ ein zu von Oettingen analoges Verständnis (vgl. Metzke, Luther und Sakrament). Aufschlussreich ist ein jüngst erschienener Beitrag „Grundzüge christlicher Gotteslehre in lutherischer und reformierter Perspektive“ des reformierten Theologen Martin Laube, eines Kenners auch der innerprotestantischen konfessionstypologischen Debatten des 19. Jahrhunderts. Er geht von der Feststellung aus, dass in der Gotteslehre „sich schwerlich konfessionelle Gegensätze konstruieren“ lassen – sie gehöre nicht „zu den klassischen innenprotestantischen Kontroversthemen“ (Laube, Gotteslehre, 9). Dann erörtert er ausführlich historisch und behauptet in eigener Verantwortung die „Einsicht in die prinzipielle Nichtgegenständlichkeit Gottes“ (ibid., 33, vgl. 30), um dann allerdings doch „unterschiedliche konfessionelle Profile des Gottesverständnisses“ anzudeuten. Vom Abendmahlsverständnis, bei dem das Interesse einerseits auf der sakramentalen Präsenz und andererseits auf der symbolischen Repräsentation liegt, ausgehend konstatiert er, dass „im Hintergrund eine jeweils charakteristisch verschiedene Vorstellung des Heils“ steht (ibid., 32). Laube meint, dass „die entscheidende Pointe […] darin“ besteht, „dass die christologische Differenz zugleich eine entsprechende Differenz im Gottesverständnis impliziert.“ (Ibid.) „Das lutherische genus maiestaticum auf der einen und das reformierte Extra Calvinisticum […] verweisen auf eine spezifische Differenz im Gottesverständnis.“ (Ibid.) Der prinzipiellen Nichtgegenständlichkeit Gottes läuft die sakramentale Präsenz des Göttlichen zuwider. Dies ist eine ungelöste Grundspannung, und so sei wieder zu fragen, „ob nicht letzten Endes doch das Reformiertentum als die konsequentere Gestalt des Protestantismus gelten muss.“ (Ibid., 33). Von Oettingen würde
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das Göttliche und Kreatürliche, das Göttliche und das Menschliche, das Unendliche und das Endliche, das Geistliche und das Leibliche, die Notwendigkeit und die Freiheit eben keine Gegensätze, obwohl sie unterschieden und nicht identifiziert werden können und müssen. Sie stehen vielmehr in einer relationalen Einheit. Sie sind innerlich verbunden und zutiefst voneinander durchdrungen (vgl. 1873a, 198). Eine solche Grundauffassung ist möglich und geboten, weil sie eben das Verhältnis von Göttlichem und Kreatürlichem radikal vom Glauben an Christus her – vom Heilswort (vom Evangelium) und vom Heilsglauben her – wahrnimmt. Es ist – dies wird meine folgende Interpretation zeigen – für von Oettingen letztendlich eine kreuzestheologisch erlaubte, aber stets auch mit einem kreuzestheologischen Vorbehalt zur Geltung zu bringende, mit einem Realismus verbundene Position, die den verschiedenartigen objektivistischen oder subjektivistischen ehrentheologischen Tendenzen kritisch gegenübersteht. Von Oettingen erinnert an die Grundeinsicht der lutherischen Reformation, die seiner Auffassung zufolge zunächst nicht gegenüber einer Vergöttlichung des Menschen entstanden ist, sondern einerseits gegenüber der Vorstellung, dass die menschliche gesetzliche Leistung als Heilsbedingung gelten könne, sowie andererseits gegenüber der Vorstellung, nach der eine hierarchische kirchliche Vermittlung der Gnade das alleinige Mittlertum Christi, die in Christus offenbare universelle Gnade Gottes, in Frage stellt. Die Sehnsucht nach der Befreiung der Kirche von ihrer „babylonischen Gefangenschaft“ geht also Hand in Hand mit dem Auftreten für die „Freiheit eines Christenmenschen“ – für jene Freiheit vom Gesetz, die in der göttlich verbürgten Gewissheit des Heils besteht (vgl. ibid., 203). In dieser Weise deutet von Oettingen schon an, dass bei der Erinnerung an die Bedeutung der Reformation keinesfalls einseitig der Einzelne und seine Freiheit in den Vordergrund gerückt werden sollen, sondern dass es in der Reformation ursprünglich und immer auch um die Freiheit der Kirche geht. Von Oettingen stellt damit nicht in Frage, dass das sog. Materialprinzip der Reformation die reformierte und die lutherische Kirche verbindet. Sie beide heben in ihrem jeweiligen Bekenntnis und in der damit verbundenen sittlichen Weltansicht „die Rechtfertigung allein aus Glauben“ hervor (ibid., 204).33 Dies schließe jedoch nicht aus, dass sowohl die theologischen Voraussetzungen als auch die praktischen Konsequenzen jeweils verschiedene sind.34 wahrscheinlich sagen, dass die Nichtobjektivierbarkeit Gottes gerade nicht derart zum Prinzip erhoben werden kann – eben darin drückt sich ja der extrem konsequente reformierte Protestantismus aus. 33 Vgl. oben Kap. 22 und die Darstellung des Ganges der Reformation in der Religionslehre von Oettingens (1886a, 361–380). 34 Eine anachronistische, aber signifikante Parallele kann hier zur katholisch-lutherischen und inzwischen auch methodistischen „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“
Der christologische Theismus
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Jenes Materialprinzip stütze sich im einen Fall auf einem abstrakten Gottesgedanken – auf einen souveränen und unbedingten göttlichen Willen –, der zu einer gesetzlich-rigoristischen Haltung gegenüber dem Natürlichen und Kreatürlichen führt. Im anderen Fall werde der rechtfertigende Glaube als Grundlage für eine lebendige Einheit zwischen der göttlichen Alleinwirksamkeit und der menschlichen Lebensbewegung betrachtet. Der Glaube schließe nämlich von seinem Prinzip her Gott und den Menschen so zusammen, dass der Rat Gottes und die Tat des Menschen eine Einheit bilden. Jenes Prinzip des Glaubens ist aber Christus selbst. Er ist sein Prinzip und sein zentraler Gehalt. Eben wegen dieses grundlegend christozentrischen Charakters des Glaubens (an Gott) ist der Glaube auch ethisch fruchtbar (vgl. 1873a, 203). Er könne als jener dankbare und fröhliche Kindessinn angesehen werden, in dem eine selbstlose Empfänglichkeit für das Gute (Christus) sich mit einer wahren inneren Lust und fröhlichen Tatkraft für ein Leben in der Liebe verbindet.35 Weil der Glaube also „christologisch gesättigt“36 ist, liegt in ihm auch die wahre sittliche Freiheit – er ist „das Palladium“ der Freiheit (ibid., 204). Hier werde also die nur in Christus wirklich verbürgte und auch in sittlicher Hinsicht bedeutsame und unendlich fruchtbare Wahrheit zur Geltung gebracht, dass Gott und sein ewiger Wille nicht über der menschlichen creatürlichen Schranke in vornehmer Transcendenz und Absolutheit schwebend gedacht werden darf, sondern dass er sich tief hineinsenkt ins irdisch zeitliche Dasein, dass er mit Menschen menschlich handelt und verkehrt, dass der unendlich persönliche Gott, der die Liebe ist, in menschliches Leiden und menschliches Mitgefühl hinabtaucht, um das Creatürliche und Menschliche zu sich zu erheben, zu heiligen, zu entschränken und zu verklären. ,Gott geoffenbart im Fleisch‘ (Deus capax finiti) – das ist nach lutherischer (1999) gezogen werden. Auch bei der Erklärung dieser Gemeinsamkeit (des Verständnisses) bewirken eventuell die jeweiligen Hintergrundannahmen (wodurch die jeweilige Bestimmung des Status der Rechtfertigungslehre bedingt ist), dass die möglichen bzw. gebotenen praktischen Konsequenzen durchaus unterschiedlich eingeschätzt werden. 35 „Im rechtfertigenden Glauben, als dem einzig denkbaren Empfangsorgan für die Gnade Gottes in Christo, ruht und wurzelt die demüthige Liebesgesinnung und aller kindliche Liebesgehorsam der Christen. Vor allem wird hier jeder Selbstruhm zu Schanden […]. Das ist Grundbedingung für alle gesunde, selbstlose Sittlichkeit. Der natürliche Pharisäismus findet dabei keinerlei Nahrung, weile die ,tägliche Busse‘ […]. nicht als einzelne Leistung, sondern als ein ,das ganze Leben‘ währendes Sterben erscheint, in welchem ,der alte Adam ersäuft werden‘ soll. Und doch ist dieses Sterben, diese unter den Schrecken des Gesetzes und der Anfechtung des Gewissens sich täglich erneuernde Demüthigung und Sinnesänderung keine Selbstvernichtung. Denn sie ist nicht denkbar ohne freudigen und fröhlichen Aufblick auf den, dessen Gnade uns in Christo durch die Zusage des Evangeliums verbürgt ist. Die Gewissheit der Sündenvergebung erzeugt und nährt in dem zerschlagenen Herzen jenen gottgeschenkten Glauben, jenen kindlich vertrauenden Sinn, der sei es auch in Senfkorngestalt Keimpunkt eines neuen Leben werden muss.“ (1873a, 203f). 36 Von Oettingen setzt die Wendung in Anführungszeichen (vgl. ibid., 204).
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Eine idealtypische Komparation der Konfessionen
Auffassung jenes Kleinod des Glaubens, in welchem uns zugleich die fröhliche Hoffnung verbürgt ist, dass alles Creatürliche und Irdische als solches die Fähigkeit und die Bestimmung hat, Ausdruck und Träger göttlicher Idee, göttlichen Lebens zu sein (finitum capax infinti) und schliesslich, mit Ueberwindung und Aufhebung der allein hemmenden Schranken der Sünde ganz und in adäquater Weise zu werden. (1873a, 204f, vgl. 198).
Von Oettingen sieht in Christus, im „lebendige[n] und wahrhaft gegenwärtige[n] Gottmensch[en], de[m] Versöhner“, eine eigentümliche Offenbarung und Erkenntnis des Verhältnisses des Göttlichen und des Irdischen und Menschlichen erschlossen,37 die einen abstrakten Theismus und eigentlich überhaupt sowohl den Jenseitsgedanken, als auch einen immanenten Theismus als mit dem christlichen Glauben unvereinbar erscheinen lässt. In seiner späten dogmatischen Ontologie, aber auch in anderen Hauptabschnitten seiner Dogmatik wird er diese Einsicht konsequent durchdenken und (auch mit Hilfe der Figur der Selbstbeschränkung) systematisch zur Geltung bringen.38 Von Oettingen macht explizit, wie und inwiefern es sich hierbei um eine Theologie des Kreuzes (ge)handelt (hat). Wegen der Sünde hat nämlich einerseits alle Versöhnungs- und Erlösungsoffenbarung eine „Kreuzesgestalt“ und trägt andererseits das christliche Leben stets den Charakter des aus der Anfechtung geborenen geistlichen Kampfes bzw. der Buße:39 „[w]ie Gott in Christo das Kreuz getragen [hat], […] so soll auch die Jüngerschaft Jesu ihr aus Gott geborenes Leben als ein mit Christo in Gott verborgenes unter dem Kreuz bewähren […], um mit Christo gekreuzigt im Geiste auch mit Christo zu erstehen“ (ibid., 205). So steht das Kreuzestheologische auch jedem direkt-identifizierenden, robust-materiell verfügenden Anspruch auf die göttliche Herrlichkeit und Autorität entgegen. Es verträgt sich nicht mit einer „monophysitischen Apotheose des Menschlichen“ oder mit einer „Weltherrlichkeit“ der Kirche (1873a, 205). Von Oettingen beschreibt dagegen die paradox-dialektische Zugleich-Situation folgendermaßen:
37 Es handelt sich um den „Glauben an die tiefe und innige Durchdringung des Göttlichen und Menschlichen, des Unendlichen und Endlichen, des Ewigen und Zeitlichen, des Geistigen und Leiblichen, der Nothwendigkeit und Freiheit“ – darin kann man „das wahrhaft Mystische“ erblicken (vgl. 1873a, 198). Vgl. auf dieser Linie liegend z. B. Erik Petersons Kritik an der dialektischen Theologie. 38 Wenn Hermann Fischer in seiner Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts in der Besprechung von Karl Barth konstatiert, dass dieser in seinem früheren Werk die zunächst im Anschluss an das Abendmahlsverständnis aufgestellten altreformierten Axiome nach ihren ontologischen und offenbarungstheologischen Implikationen und ihrer Relevanz interpretiert und zur Geltung bringt, gilt das mutatis mutandis auch für von Oettingens Überlegungen (vgl. Fischer, Theologische Ethik, 25). 39 Vgl. oben Kap. 11–13.
Der christologische Theismus
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Allein mitten im Kampf mit der Sünde, trotz aller Schmerzen des Kreuzes, trotz der unverkennbaren Schranken und der Unvollkommenheit irdischen Lebens, weiss sich doch der Christ als eine neue Creatur, gehoben durch die Gewissheit der realen Gnadengegenwart Gottes in Christo, getragen durch die wahrhaftige Einwohnung des heiligen Geistes, durchdrungen von den Kräften des ewigen Lebens. (Ibid.)
Er bezeichnet das auch als den „mystische[n] Grundzug der lutherischen Kirche“ (ibid.), der sich dogmatisch grundlegend und „vor Allem“ in der Christologie ausprägt, aber der seines Erachtens auch andere Bekenntnisdifferenzen im Vergleich zur reformierten Position erklärt. Überall bemühe sich der lutherische Glaube um die Wahrung der Einheit des Göttlichen und Menschlichen, der Notwendigkeit und der Freiheit etc. Diese dogmatischen Differenzen hätten „durchgehend“ auch eine ethische Bedeutung, und so sei es völlig verfehlt, die konfessionelle Auseinandersetzung nur nach „dem Maasstabe der dogmatischen Formel“ zu beurteilen. Vielmehr, wie vorher schon gesagt, drücke sich in der „geschichtlich entwickelte[n] kirchliche[n] Dogmendifferenz“ eine der näheren Untersuchung und Explikation bedürftige Differenz – wohlbemerkt: er spricht nicht von einem exklusiven Gegensatz – in „der gesammten geistig-sittlichen Weltanschauung“ aus (ibid., 206). Von Oettingen weist auf einige Richtungen hin, bei denen der spezifische Unterschied zur reformierten Position sichtbar werde. Sie betreffen das Verständnis des Berufs, die Haltung gegenüber Kultur und Natur, die Lehre vom Gottesdienst und seiner Ausgestaltung und insbesondere auch die „fröhliche Heiligungslehre“, die sich von der diesbezüglichen Ernsthaftigkeit sowohl bei den Reformierten als auch bei den Katholiken unterscheide (ibid., 207). Sehr wohl müsse man die in der Praxis und in der Geschichte auch immer zu beobachtenden spezifischen, insb. auch antinomistischen, Gefahren hier anerkennen – sowohl z. B. die Tendenzen zu einem Quietismus als auch die zu einer Anpassung –, doch sei entscheidend wichtig sie nicht als Konsequenzen des evangelischen Prinzips zu verstehen. Sie stellen vielmehr einen Selbstwiderspruch dar – sie sind Erscheinungen und Entwicklungen, die als eine Prinzipienwidrigkeit zu beurteilen sind, weil jenes Princip der ,Freiheit eines Christenmenschen‘ im wahren Glauben […] mit Nothwendigkeit (necessitate consequentiae) die Frucht der thätigen Liebe im Gehorsam gegen das Gottesgesetz [fordert]. Und die im Lutherthum waltende, tief mystische Idee der innerlichen Durchdringung des Göttlichen und Creatürlichen brechtigt […] keineswegs zu einer oberflächlichen Weltverherrlichung. Sie fordert mit Nothwendigkeit die im geistigen und sittlichen Läuterungskampf zu erringende Befreiung des Irdischen von den Schlacken des Sündlichen, auf dass die Welt unter dem Segen des Wortes vom Kreuz allmälig zur Verklärungsstätte göttlicher Macht und Liebe unter schweren Wehen herausgeboren werde. (1873a, 208).
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Eine idealtypische Komparation der Konfessionen
Das fröhliche und dankbare Gotteskind ist also stets ein Kreuzesträger. So bestreitet von Oettingen auch entschieden, dass z. B. der Quietismus ein typischer Zug oder eine Konsequenz des Luthertums sei. Vielmehr rückt er hier gerade auch den Kampf um die weltliche Befreiung als die wahre Konsequenz der Freiheit eines Christentmenschen ins Licht, wobei allerdings solche Bemühungen den Zusammenhang mit dem Wort vom Kreuz nicht aus den Augen verlieren dürfen. Der vorher angedeutete kreuzestheologische Vorbehalt bleibt für ihn geltend. In einem tieferen Sinn bleibt die neue Kreatur mit Christus also in Gott verborgen und ist im Modus der Hoffnung auf das verheißene Ziel aller Wege Gottes – auf das vollendete Herrlichkeitsreich Gottes auf Erden, in dem Gott alles in allem ist – bezogen.
27.7
Zum sozialethischen Charakter des lutherischen Konfessiontypus, oder: Zur Rekonstruktion der sozialethischen Bedeutung des Dogmas bzw. der Lehre der lutherischen Kirche
Ich habe gezeigt, wo für von Oettingen die Grunddifferenz des Luthertums im Vergleich zu den beiden anderen Konfessionstypen liegt. Der Name „Lutherthum“ ist dabei eine Fremdbezeichnung, die es wider Willen im Verlauf des konfessionellen Kampfes erhalten hat (vgl. 1873a, 203). Wenn von Oettingen meint, dass es als „die evangelisch kirchliche Auffassung des Christentums“ (ibid., 202) umschrieben werden könnte, ist darin angedeutet, dass er gerade auch hinsichtlich der jeweiligen Fassungen des sozialen Faktors im Luthertum eine Position sieht, die die angeblichen Einseitigkeiten der römisch-katholischen und der reformiert-protestantischen Position zu vermeiden und zu überwinden anstrebt. Die lutherische Reformation habe historisch gesehen zwar „zunächst gegen die römisch-kirchliche Bevormundung der christlichen Einzelpersönlichkeit das Recht des gläubigen Subjects geltend zu machen“ versucht, doch dann auch auf eine „in ungeschichtlicher Weise und heilsordnungswidrig“ erfolgende Hervorhebung jenes Rechtes und Bedürfnisses „des christlichen Einzelgewissens“ in „der reformierten und schwarmgeisterischen Bewegung“ reagiert und sich um die Aufrechterhaltung der „objektiv kirchlichen Grundbedingungen christlichen Glaubensentwicklung“ bemüht (1873a, 209). Die Entwicklung und Klärung der lutherischen Position erfolgt also nicht solitär, sondern in Auseinandersetzung mit anderen (und dieser Prozess ist nicht abgeschlossen, sondern weiterhin im Gang). In der gesamten Ausgestaltung des lutherischen Kirchenverständnisses, das „aufs Engste“ mit der lutherischen Christologie (ibid., 216–220), mit der lu-
Zum sozialethischen Charakter des lutherischen Konfessiontypus
401
therischen Lehre vom Wort und Sakrament bzw. von den Gnadenmitteln (ibid., 220–233),40 sowie von der Rechtfertigung (ibid., 233–238)41 verwachsen sei, drücken sich die „social-ethischen Consequenzen dieses Doppelkampfes“ aus (ibid., 210). So erschließt von Oettingen, stets typologisch-komparativ, deren Relevanz für das Kirchenverständnis, ihre sozialethische Bedeutung, und bietet damit eine höchst interessante sozialethische Interpretation des lutherischen Bekenntnisses. Ich gehe hier nicht ins Detail, sondern erörtere diese sozialethische bzw. evangelisch kirchliche Anschauungsweise im nächsten Kapitel exemplarisch für die Frage der Solidarität im Zusammenhang mit der Toleranz und dem Unterschied von Letzterer zu Indifferentismus und Intoleranz. Gegenüber den Gefahren eines einseitigen römischen Objektivismus und eines reformierten Subjektivismus gerade für die Kirche und ihr Dogma bzw. Bekenntnis (ein robust materialistischer oder krasser Realismus einerseits und ein abstrakt idealistischer Spiritualismus andererseits), die beide weitreichende sozialethische Implikationen für das Verständnis der ganzen Konfessionskultur, für das Verständnis des christlichen Lebens in der Geschichte, haben, betone die lutherische Lehre die tief organische Einheit von kirchlichem Gesammtleben und persönlichem Glaubensleben in der von Christo gestifteten Heilsgemeinde, welche auf Grund der stiftungsgemäss verwalteten Gnadenmittel zugleich geistliche Heilsgemeinschaft und sichtbare Heilsanstalt auf Erden sei. (Ibid.)
Von Oettingen meint zu zeigen, dass eine sozialethische Weltansicht zutiefst an der Christologie hänge und sich „schlagend“ an dem Zusammenhang, der zwischen Christologie und Ekklesiologie herrsche, sichtbar machen ließe. Der tiefe (christologische) Realismus der lutherischen Lehre widerstrebe sowohl der 40 „Die gesund-lutherische, kirchliche Grundansicht ruht zwar auf der Christologie, documentiert und bewährt sich aber weiter in der auch für die socialethische Auffassung höchst bedeutsamen Gnadenmittellehre“ (1873a, 221). 41 „Wie ernstlich die evangelisch lutherische Lehre es sich angelegen sein lässt, überall zwischen reformiert subjectivistischer Innerlichkeit und römisch hierarchischer Aeusserlichkeit den gesunden Ausweg zu finden, d. h. das christliche Personalinteresse mit dem kirchlichen Collektivinteresse lebendig zu vermitteln oder zu einen, das zeigt sich schliesslich noch in ihrem acrticulus stantis et cadentis ecclesiae, in der eigenthümlichen Gestaltung und Begründung der Rechtfertigungslehre. Dieselbe hängt enger als man gewöhnlich zugegeben geneigt ist, mit dem […] socialethischen Grundgedanken in der Lehre von der Kirche und den Gnadenmitteln zusammen.“ (Ibid., 233f). Ich sprach bereits (vgl. Kap 14.2) davon, wie von Oettingen mit einem differenzierten Rechtfertigungsbegriff operiert, obwohl er ihn meistens, wie im 19. Jahrhundert üblich, im Zusammenhang der sog. ordo salutis verwendet. Auf den wichtigen umfassenderen und grundlegenderen Sinn, den er sonst anders zum Ausdruck bringt, weist er jedoch auch hier hin: „[D]ie Rechtfertigung des Einzelnen ruht auf der Gesammtrechtfertigung der Menschheitsgattung in Christo“ (ibid., 235).
402
Eine idealtypische Komparation der Konfessionen
Wahrnehmung der Kirche, als einem hierarchischen-infalliblen Heilsinstitut, als auch ihrem Verständnis als einer Vereinigung der Einzelnen (der Gesamtmenge der Wiedergeborenen und Geretteten). Auf unterschiedliche Weise erläutert von Oettingen, inwiefern allein jener tiefe Realismus es erlaube, „die Einheit im Unterschiede und den Unterschied in der Einheit“ zu wahren (1873a, 219). Es geht also um eine Sicht der Kirche, die sie als eine Einheit in Verschiedenheit und eine Verschiedenheit in Einheit wahrnimmt und sie als solche auch zu gestalten und zu leben bestrebt ist. Jener christologische Realismus, „der weder das Menschliche in Christo idealistisch verflüchtigt, noch das Göttliche in ihm materialistisch versinnlicht“, sei „der eigentlich lebensvolle Centralpunkt […] für die Idee der Kirche als des Leibes Christi“, für die „lebensvoll ethische Auffassung des Heilsorganismus“: Wird die gottmenschliche Person des Herrn als das verklärte und wahrhaft gegenwärtige Haupt seines Leibes erfasst, wird demgemäss die Kirche, die Gemeinde des gekreuzigten und auferstandenen, zum Himmel erhobenen und eben dadurch der Beschränkung enthobenen Christus als die Stätte seiner lebendigen Geistwirksamkeit erkannt, so wird auch die Gesammtbewegung dieses Organismus als eine von ihm und einer sündentilgenden Gnade erfüllte, betrachtet, so dass das Glied vom Ganzen getragen und das Ganze in den Gliedern lebendig erscheint, in tiefster, unauflöslicher Wechselwirkung. Für Alles, was Wiedergeburt, Heiligung und Vollendung der Glieder genannt werden mag, ist Er das alleinwirksame, alldurchdringende und alleinbeseligende Princip. Alle menschliche Handreichung, alle geordnete Gnadenmittelverwaltung (Amt) geschieht im Dienst und Gehorsam des Christus, an welchem der ganze Leib heranwächst zu dem ihm bestimmten Mannesalter. (Ibid.)
Sowohl eine objektivierende Vergöttlichung der empirisch-sichtbaren Kirche, als auch eine spiritualistisch-subjektivierende Atomisierung der Kirche in Richtung eines Personalchristentums gefährden in vielerlei Hinsicht die „Freiheit eines Christenmenschen“. (Nicht zuletzt geben sie keinen Raum für wahre Toleranz, sondern neigen vielmehr zum Schwanken zwischen Intoleranz und Indifferenz, die beide mit dem christlichen Glauben schwer zu vereinen sind.) Ihr Zustandekommen, das Werden und Erreichen des Zieles, vollzieht sich – recht verstanden – in der Gemeinschaft, da der gekreuzigte, auferstandene und wahrhaft gegenwärtige Christus das Haupt ist. Darin besteht der sozialethische Grundgedanke, um dessen Neubelebung und tiefere Erfassung von Oettingen sich bemüht (vgl. ibid., 220).
27.8
Abschließende Betrachtung
In seinem Werk Die Moralstatistik hat von Oettingen anhand einer statistischempirischen Analyse das Recht einer realistisch sozialethischen Anschauung
Abschließende Betrachtung
403
gegenüber einer objektivistisch sozial-physischen und subjektivistisch personal-ethischen Position zur Geltung zu bringen und zu verteidigen versucht.42 Er hat dafür eine Art formale Kategorienlehre der Geschichte entworfen, i. e. formale Gesetze hypothetischen Status formuliert, die in allem menschlichen Zusammenleben wirksam sind, und die die Fülle und die Vielfalt des statistischen Materials durchsichtig machen sollen. Die Untersuchung beansprucht, nicht aus der Perspektive des christlichen Glaubens durchgeführt worden zu sein. In vielerlei Hinsicht vermittelt sie Anknüpfungspunkte für eine eigentliche Ethik, nicht zuletzt dadurch, dass sie die Wahrnehmung bestimmter Probleme fördert, die statistisch-empirisch nicht zu beantworten sind. Mit dem Werk Die Moralstatistik ist zugleich die These herausgestellt, dass die Ethik – nicht allein die spezifisch christliche Sittenlehre – eigentlich Sozialethik zu sein hat. In der allgemeinen Grundlegung zum Werk Die christliche Sittenlehre hat von Oettingen anschließend an Phänomene wie das der Sitte und Tradition zunächst systematisch die ethischen Grundkategorien bzw. -begriffe erörtert und entwickelt. Vor diesem Hintergrund analysiert er die Idee des christlich Guten und die darin implizierte Auffassung dreier Faktoren des Sittlichen und ihrer innigen Wechselbeziehung. Es hat sich herausgestellt, dass und wie der Gemeinschaftsfaktor für die ethische Betrachtung im Vordergrund der Aufmerksamkeit zu liegen hat. So ist die christliche Sittenlehre genauer als „kirchliche Socialethik“ (1873a, 240) zu verstehen und zu bearbeiten. Unter den Bedingungen „de[s] gegenwärtige[n] Bestand[es] des christlichen Gemeinlebens“, der sich durch eine konfessionelle Pluralität auszeichnet, muss sie sich um Orientierung und Urteilsbildung mit Blick auf die Konfessionen bemühen und selbst eine konfessionell profilierte Gestalt herausbilden (ibid.). Die komparative Durchleuchtung der sog. kirchlichen Lehrbegriffe zeigt, dass der lutherische Realismus ein sozialethisches Wirklichkeitsverständnis impliziert. In dessen Zentrum steht der grundlegende Gedanke von der evangelischen Freiheit in ihrer Bezogenheit auf den Leib Christi. Diesen Gedanken hat ein wissenschaftliches System der Sozialethik im Unterschied sowohl zu einem hierarchisch-klerikalen, als auch zu einem individualistisch-personalen Moralverständnis allseitig mitzuführen.43 Ich wiederhole, dass es sich hierbei um eine idealtypische Komparation handelt. Von Oettingen behauptet also nicht, dass jener sozialethische Charakter des Luthertums dessen einzelnen Vertreterinnen und Vertretern immer bewusst war, dass es ihnen immer gelungen ist die Gefahren eines objektivistischen oder subjektivistischen Missverständnisses des Christentums zu vermeiden, und dass dieser Charakter immer in Gestaltung des eigenen und gemeinsamen Le42 Vgl. oben Kap. 17f. 43 Vgl. oben Kap. 19.
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Dogmatik und Ethik
bens zur Geltung kam (vgl. 1873a, 238). Er skizziert lediglich sein Verständnis vom „Ideal [des] evangelischen Christentum[s]“, „wie es [s]einer Ansicht nach in den lutherischen Principien überall die Anknüpfungspunkte und wahren Grundlagen zu finden vermag“: In dem Maasse, als es [in dem System der Socialethik] gelingt, die innere sittliche Wahrheit, die ethische Consequenz und Geschlossenheit, sowie die wesentliche Freiheitstendenz der verschrieenen ,lutherischen‘ Anschauungsweise darzulegen,[44] wird sich dieselbe als die wahrhaft evangelische, ja eben deshalb als die christlich-öcumenische Weltansicht entpuppen und vielleicht auch in den Augen des erbitterten Gegners Gnade finden. (1873a, 238f).
Es ist deutlich geworden, dass nach von Oettingen die christlich sozialethische Anschauung im christologischen Realismus verankert ist. Vor dem Hintergrund der bisherigen Studie sollte hinreichend deutlich sein, dass in der Art und Weise, wie von Oettingen den christologischen Realismus charakterisiert, dieselbe Sache zum Ausdruck kommt, die er mit der „Theologie des Kreuzes“ im Sinn hat. Vorläufig lässt sich festhalten, dass für von Oettingen Kreuzestheologie und Sozialethik innerlich zusammengehören. Die Kreuzestheologie impliziert eine Sozialethik. (Das Umgekehrte gilt für von Oettingen nicht notwendigerweise.) Deshalb wiese von Oettingen auch entschieden zurück, dass sich das Christentum im evangelischen Verständnis konstitutiv oder ursprünglich durch einen individualistischen Grundzug und „die Orientierung am Einzelnen“45 (J. Fischer) oder durch einen „religiösen Subjektivismus“ und eine „reine Gesinnungsethik“ (E. Troeltsch) auszeichne.
28.
Dogmatik und Ethik
28.1
Einleitung
Das Verhältnis beider Disziplinen wird bei von Oettingen direkt und indirekt in verschieden Schriften thematisiert. Die wichtigsten Quellen bilden erwartungsgemäß aber seine beiden systematischen Hauptwerke, speziell die methodische Grundlegung zur theologischen Ethik aus dem Jahr 1873 und der fast ein Vierteljahrhundert später geschriebene erkenntnistheoretische Teil seiner dogmatischen Prinzipienlehre aus dem Jahr 1897. In der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts fällt von Oettingen also auch dadurch auf, dass er zuerst 44 So wie in der späteren Dogmatik (vgl. oben Kap. 22), so gilt auch für die Sozialethik, dass die unmittelbaren Appelle an die (Autorität der) Bibel oder an das Bekenntnis bzw. an die Tradition nicht zum Argument gehören (dürfen). 45 Vgl. Fischer et al., Grundkurs Ethik, 65, 122, 223.
Die Sicht des Verhältnisses von Dogmatik und Ethik im ethischen Hauptwerk
405
eine große Ethik und erst später eine Dogmatik herausgibt. Im 20. Jahrhundert ist Helmuth Thielicke ein ähnliches Sonderphänomen. Er meint im Jahr 1951, genau wie von Oettingen in seiner Zeit, diesen Sachverhalt zu Beginn seiner Theologischen Ethik formulieren zu können: „Wenn nicht alles trügt, rückt das Schwergewicht der theologischen Forschung gegenwärtig auf das Problem der Ethik hinüber.“1 Sowohl 1873 als auch 1897 erfolgt die Erörterung der speziellen Frage nach dem Verhältnis von Dogmatik und Ethik nicht nur im Horizont der Besprechung der Einheit und Vielfalt der theologischen Wissenschaft, sondern vor einem umfassenden wissenschafts-theoretischen Hintergrund. Dogmatik und Ethik werden nicht abstrakt, auch nicht allein im Rahmen der theologischen Wissenschaft, sondern im Gesamtzusammenhang der Wissenschaften verortet und besprochen.2 Die Rechenschaft über das Verhältnis beider Disziplinen – jedenfalls in diesen Werken, die sich um eine Gesamtdarstellung ihrer Sache bemühen – erfolgt somit nicht ohne einen Klärungsversuch, wie sie eine spezifische Aufgabe im Zusammenhang der Wissenschaften wahrnehmen, also nicht ohne darüber Rechenschaft abzulegen, welchen Beitrag sie zu den Erkenntnisbemühungen der Menschheit leisten.
28.2
Die Sicht des Verhältnisses von Dogmatik und Ethik im ethischen Hauptwerk
Die komplexe und intensive Diskussion innerhalb der neueren und gegenwärtigen Theologie über das Verhältnis von Dogmatik und Ethik eigens aufzugreifen, würde die Grenzen dieser Studie unnötig überschreiten.3 Es kann allerdings im Spiegel der Schriften von Oettingens festgehalten werden, dass die Frage auch vor ca. 150 Jahren zu den kontrovers diskutierten gehörte. Ein Be1 Thielicke, Ethik, v. Seine Gegenwart sieht (belegbar ab der Mitte der 1860er Jahre) der junge von Oettingen ähnlich, wie sie hundert Jahre später Wolfgang Trillhaas in seiner Ethik beschreibt: „Ja, ich möchte meinen, daß heute die Auseinandersetzung zwischen christlichem und profanem Denken ganz wesentlich auf das ethische Gebiet verlagert ist. Wenn dies stimmt, dann ist nur ein Grund mehr dafür gefunden, daß die Ethik auch wissenschaftlich eine ganz andere Breite und Tiefe gewonnen hat als in früheren Generationen.“ (Trillhaas, Ethik, 14). Diese Ähnlichkeiten in der Wahrnehmung der zeitspezifischen Herausforderung bedeutet nicht, dass die in Angriff genommenen Lösungswege ebenfalls Ähnlichkeit ausweisen. Von Oettingen und Thielicke stehen in ihren späteren Dogmatiken übrigens einander darin nahe, dass sie der Pneumatologie für die Durchführung der Dogmatik eine prinzipielle Bedeutung zuweisen. 2 Vgl. oben Kap. 17, Kap. 21. 3 Als neuere Orientierung vgl. Lange, Glaubenslehre und Ethik; Fischer et al., Grundkurs Ethik, 318–325. Sehr einflussreich war der ältere Beitrag von Hans-Joachim Birkner (Iwand, Dogmatik und Ethik). Vgl. aus derselben Zeit: T. Rendorff, Der ethische Sinn der Dogmatik.
406
Dogmatik und Ethik
wusstsein für die Fragestellung und gezieltes Bemühen um eine verantwortbare Sicht ist durchaus präsent. Die Lage unterscheidet sich jedenfalls insofern nicht von der heutigen, als dass von Oettingen konstatiert, dass dieses Verhältnis eine noch unentschiedene Streitfrage darstelle (vgl. 275).4 Selbst die Theologen, die einander sonst am nächsten stünden, würden mit Blick auf diese Frage differieren. Auch hinsichtlich der Methodik herrsche Klärungsbedarf. Von Oettingens eigene Überlegungen, unter Einschluss einer kritischen Sichtung verschiedener Vorschläge, weisen sowohl eine Trennung beider Gebiete, als auch eine völlige Identifizierung ihres Inhaltes zurück. Weil die christliche Ethik das christliche Verständnis von Sittlichkeit allseitig darzustellen habe, könne sie beispielsweise „keineswegs […] die blosse Beschreibung des practisch christlichen Verhaltens“ sein, die um der Bequemlichkeit willen mehr oder weniger als Appendix der Dogmatik angesehen werden kann. Er ist auch im Besonderen nicht einverstanden mit der Auffassung, die „bei kirchlichen Theologen fast zu einem Gemeinplatz geworden“ sei – nämlich, dass „der Inhalt christlicher Ethik lediglich auf den Voraussetzungen christlicher Dogmatik ruhe, auf ihrem Grunde sich auferbaue“ (277). Das Verhältnis von Dogmatik und Ethik sei also auch nicht anhand eines Modells von Grund und Folge bzw. Prinzip und Konsequenz zu verstehen. Vielmehr bestehe zwischen dem Objekt der christlichen Dogmatik und dem der christlichen Ethik „ein Verhältnis tiefster Wechselwirkung […], weshalb wir […] die eine Disciplin nicht ohne die andere denken, aber auch keineswegs beide amalgieren können“ (277). Somit erscheint es von Oettingen unmöglich, Dogmatik und Ethik als sachlich getrennte Disziplinen zu betrachten und zu pflegen. Doch ihre relative Eigenständigkeit müsse berücksichtigt und zur Geltung gebracht werden. Ihre disziplinäre Zusammengehörigkeit drücke sich darin aus, dass beide Hauptdisziplinen der systematischen Theologie sind.5 Beide haben das Christentum zum Gegenstand, aber dies in je spezifischer Hinsicht (vgl. 278). Die Art und Weise, wie das Christentum Aufgabe der systematischen Theologie ist, beschreibt von Oettingen so, dass darin nach der Wahrheit des Christentums gefragt wird. Anders und anachronistisch formuliert: Es geht in der systematischen Theologie bzw. in diesen beiden Disziplinen um den Wahrheitsanspruch oder den Wahrheitscharakter des Christentums. In der Behandlung und Darstellung des Christentums ist dies als eine „Lebens- und Heilswahrheit“ (ibid.) Thema der systematischen Theologie. Die beiden Wege des Christentums, den Gegenstand der systematischen 4 In diesem Teilkapitel verweise ich auf die Hauptquelle (1873a) nur mit einer Seitenzahl. 5 Von Oettingen setzt sich hier u. a. mit Schleiermacher, R. Rothe, R. Frank und Martensen auseinander.
Die Sicht des Verhältnisses von Dogmatik und Ethik im ethischen Hauptwerk
407
Theologie zu bilden, bezeichnet von Oettingen sehr unterschiedlich. Systematische Theologie thematisiert das Christentum „als religiösen Heilsglauben“ und „als sittliches Heilsleben“. Sie zielt so auf eine Darstellung des „Gesammtgebiet[es] christlicher Heilslehre“ (361) oder auch der „Glaubensgewissheit“ (364). Es kann der Eindruck entstehen, dass diese verschiedenartigen Formulierungen auf eine Unklarheit oder Unentschiedenheit hinweisen. Ein Oszillieren liegt hier zweifellos vor. Doch interpretiere ich dieses so, dass dadurch die in der Ansicht von Oettingens innerlich zusammengehörenden Aspekte jeweils unterschiedlich akzentuiert werden. Hier spiegeln sich m. E. die drei konstitutiven Momente im Gesamtphänomen „Christentum“ wider – sein Gottesbezug, sein Gemeinschaftsbezug, und sein Bezug auf den Einzelnen –, von denen in den vorangegangenen Kapiteln dieser Studie viel die Rede gewesen ist. Um die Klärung und Transparenz ihres Verhältnisses hat sich die systematische Theologie zu bemühen. Um die differenzierte Zusammengehörigkeit und Wechselwirkung zwischen Dogmatik und Ethik genauer zu verstehen, gehe ich etwas näher auf seine Beschreibungen des jeweiligen Gegenstandes und Verfahrens beider Disziplinen ein. Den Gegenstand der Dogmatik oder der christlichen Religionslehre bilde „[d]as specifisch religiöse Moment im Christentum“, nämlich die „Heilsgemeinschaft der Menschheit mit Gott“ (278). Jene Gemeinschaft also, die von Gott ausgeht, „durch die That der Versöhnung ein für allemal in Christo begründet[]“ ist und „schliesslich zur Verklärung gelang[t]“ (ibid.). Insofern dieser Gegenstand, diese Heilswahrheit – das, „was […] Gott für uns gethan hat und schliesslich vollenden wird“ –, den Grund und „de[n] Inhalt des christlichen Glaubens“ (278), sowie der kirchlichen Lehre bildet, kann von Oettingen die dafür verantwortliche Disziplin sowohl als Dogmatik, als auch als Glaubenslehre bezeichnen. Sachlich entscheidend ist jedoch, dass die Wirklichkeit, die res, um die es geht, sich weder auf das Dogma noch auf den persönlichen Glauben reduzieren lässt, obwohl sie beide enthält. Wenn von Oettingen später den materiellen Teil seiner eigenen Dogmatik als System der christlichen Heilswahrheit betitelt, wird damit eben das in den Vordergrund gerückt. Das ist es, worum es im Christentum, auch wenn es als religiöser Glaube und kirchliche Lehre erscheint, geht. Wenn die christliche Ethik das Christentum als sittliches Heilsleben zum Gegenstand hat, wird dieses von von Oettingen in einem umfassenden Sinn verstanden. Es wird als ein – „auf jener Gottesthat der Versöhnung“ ruhender und „in der erlösten Menschheit eigenartige Gestalt“ gewinnender „Heilsprocess“ aufgefasst (278f). Damit bringt von Oettingen das komplementäre Verhältnis von Dogmatik und Ethik in seinem ethischen Hauptwerk auf ein einfaches Modell. Sie
408
Dogmatik und Ethik
ergänzen sich also wie christliche Theologie und Anthropologie, und haben, zum Zeugniss ihrer innigen Wechselbeziehung, die Person Christi zu ihrem theanthropologischen Centrum. Nur das dieselbe dort (in der Dogmatik) als die persönliche gottmenschliche Verkörperung der ein für allemal geschehen und universell gültigen Versöhnung, hier (in der Ethik) als die urbildliche, fort und fort wirksame, persönlich gottmenschliche Realisierung des Guten, oder als die Heiligungsquelle für jedes menschliche Individuum im Reiche Gottes auf Erden betrachtet wird. (366f)
Ich komme zum Verfahren. Handelt es sich bei der systematischen Theologie und ihren beiden Hauptdisziplinen um eine Darstellung und wissenschaftliche Rechtfertigung des Christentums als Wahrheit, genauer : als „eine[r] in sich zusammenhängende[n] Lebens- und Heilswahrheit“ (278), setzt von Oettingen voraus, dass das Christentum einen kohärenten Gesamtzusammenhang bildet, der in seiner Wahrheit aus religiöser und ethischer Hinsicht betrachtet und beschrieben werden kann. In beiden Disziplinen wird das Christentum „als ein eigenartiger, zusammenhängender Gedankenorganismus reproduciert“ (ibid.). Die res, um die es in der systematischen Theologie geht, fasst von Oettingen also als innerlich zusammenhängend auf. Sie sei in einer Weise darzustellen, die jenem „organischen“ Charakter ihres Gegenstandes gerecht wird. Er formuliert die Aufgabe der beiden Disziplinen oft durch eine Doppelformel: Es geht um die Darstellung und wissenschaftliche Rechtfertigung – gelegentlich und seltener spricht er auch von einer Begründung – ihres Forschungsgebietes. Diese beiden Momente gehören eigentlich zusammen: Die Darstellung der Sache hat in einer Weise zu erfolgen, die als wissenschaftliche Rechtfertigung ihrer Wahrheit angesehen werden kann (vgl. z. B. 278, 365, 361).6 Jedenfalls dem Anspruch nach ist sie dies. Inwiefern jener Anspruch tatsächlich berechtigt ist, i. e. inwiefern eine solche Darstellung und Rechtfertigung eines Gesamtgebietes in seiner Wahrheit gelingt, bleibt eine Frage für sich. Das Systematische in der sog. systematischen Theologie bzw. in der Dogmatik und Ethik, ihr Bezug auf das, was man mit dem Wort „System“ im Blick hat, ist für von Oettingen nichts anderes als eine spezifische „wissenschaftliche Erkenntniss- und Begründungsform“, die „den Höhepunkt“ theoretischer Denkarbeit bildet und „aus Einem sachlichen Grundgedanken das gegliederte Ganze herausconstruiert und deduciert“ (370). In seinem ethischen Hauptwerk, in dem er Dogmatik und Ethik direkter als im dogmatischen Hauptwerk in eine Parallele zur Theologie und Anthropologie – die allerdings beide christozen6 Für von Oettingen zielt alle systematische Geistesarbeit in der Wissenschaft auf „die in sich zusammenstimmende Erfassung und Rechtfertigung der inneren Wahrheit und Consequenz eines ganzes Forschungsgebietes“ (364). Dies sei zwar immer nur annähernd erreichbar, bilde jedoch das eigentliche Hauptziel alles Wissens (ibid.). Er selbst sieht also in dieser Aufgabenstellung kein Spezifikum der systematischen Arbeit im Rahmen wissenschaftlicher Theologie.
Die Sicht des Verhältnisses von Dogmatik und Ethik im ethischen Hauptwerk
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trisch orientiert sind – bringt, erläutert er den spezifischen Unterschied im Verfahren so: Die theologische Dogmatik, darin der philosophischen Metaphysik parallel laufend, wird sich zur Begründung unserer Heilsgemeinschaft mit Gott, in das Absolute nach christlicher Grundanschauung zu vertiefen und dasselbe als die einzige Causalität unseres Heils, unserer Versöhnung mit Gott darzulegen haben. […] Die theologische Ethik, darin der philosophischen Psychologie und Phänomenologie parallel gehend, wird sich zur Begründung unseres Heilslebens im Reiche Gottes, in das innere Wesen des Menschen nach christlicher Grundanschauung zu versenken und die Wiedergeburt des alten Menschen als die nothwendige Prämisse aller sittlichen Lebensbethätigung zu erfassen haben. (366)
Wie es in den früheren Kapiteln deutlich zum Ausdruck gekommen ist,7 wird der Gegenstand sowohl in der Dogmatik als auch in der Ethik im Zugangsmodus der persönlichen Heilserfahrung zum Thema erhoben.8 In seiner Ethik betont von Oettingen genauso, wie er es später in seiner Dogmatik tun wird, dass die eigentliche wissenschaftliche Argumentation und deductive Beweiskraft stützt sich nicht auf die biblischen Aussagen, sondern beruht lediglich auf dem inneren Zusammenhange der sachlichen Gedankenentwickelung. (328)
Die systematische Denkarbeit bemüht sich also in der Dogmatik und Ethik um eine kohärente Darstellung des Christentums. Die wissenschaftliche Rechtfertigung ihrer Wahrheit besteht eben darin, i. e. hängt an der Sichtbarwerdung ihrer Kohärenz.9 Dass die systematische Theologie unmittelbar weder an die Bibel noch an das Dogma bzw. die Tradition zu appellieren hat, ist keinesfalls selbstverständlich.
7 Vgl. oben Kap. 19, Kap. 23. 8 Die „eigenartige Aufgabe“ der theologischen Ethik sieht von Oettingen darin, „das christliche Heilsleben vom Centrum der Wiedergeburt aus als ein in sich gegliedertes und durch solche Gliederung seine innere Consequenz und Wahrheit bekundendes Gedankensystem zu entwickeln“ (328) bzw. darin, „aus einem Materialprincip heraus als in sich gegliedertes Ganzes die christliche Sittlichkeitsidee zum Ausdruck bringen, um ihre innere Consequenz und Wahrheit wissenschaftlich zu rechfertigen“ (327). Dabei „kann sie nur von dem subjectiven Factor persönlicher Heilserfahrung ihren Ausgangspunkt nehmen, und nur nach dem gewonnenen Grundgedanken die Wahrheit der deducirten Folgerungen bemessen.“ (Ibid.) „Die persönliche Heilserfahrung ist und bleibt das einzige wirklich productive, oder besser : reproductive Princip christlicher Ethik als Wissenschaft.“ (326). 9 „Jene […] ,göttliche Thorheit‘ des Evangeliums […] hat dennoch Methode, hat vernünftigen gegliederten Zusammenhang! Und diesen in der Sprache der Zeitbildung darzulegen, durch vernunftgemässe Zergliederung auch vor dem Forum des wissenschaftlichen Bewusstseins der Gebildeten zu rechtfertigen, ist wenn man will die apologetische Seite, die eigentliche Aufgabe jener systematischen Arbeit, welche die theologische Sittenlehre namentlich als christliche Socialethik zu leisten hat.“ (336).
410
Dogmatik und Ethik
Von Oettingen will keine exklusive und apodiktische Behauptung aufstellen.10 Er empfindet allerdings eine besondere Affinität zwischen einerseits dem lutherischen Konfessionstypus und andererseits der Auffassung von Art und Aufgabe der systematischen Theologie, konkret der theologischen Ethik. Jene angedeutete „Pleropherie [i. e. freudige Gewissheit des Glaubens – T.-A.P.] in der selbstständigen christlichen Gedankenentwickelung“ erscheint ihm „ein unantastbares Recht, resp. ein Charisma des Ethikers gerade auf dem gesund lutherischen Standpunkte“ (328). Obwohl also Dogmatik und Ethik einander ergänzen und in Wechselwirkung stehen, ist von Oettingen dazu bereit, in seinem ethischen Hauptwerk die Dogmatik sachlich als „die Haupt- und Centraldisciplin systematischer Theologie“ zu beschreiben (363).11 10 Seine Aussage ist unter einem modalen Vorbehalt gemacht: Er „möchte fast behaupten“ (328). 11 Es entspricht dem allgemeinen Charakter der Theologie von Oettingens, dass er wissenschaftliche Theologie als ein eminent soziales Unternehmen auffasst und beschreibt: „[N]icht blos für die geistige Selbsterfassung und fortschreitende Selbstvergewisserung unseres eigenen christlichen Lebens brauchen wir die erkenntnismässige Vertiefung und wissenschaftliche Ausgestaltung, sondern auch für die gegenseitige Verständigung, für die Förderung der christlichen Wahrheit in der gegenwärtigen Zeit, in der Gemeinschaft der Gebildeten, in der christlichen Kirche.“ (334) Auch die apologetische Dimension als kritische Bezugnahme auf den religiösen und weltanschaulichen Pluralismus der Gegenwart und als Orientierungshilfe wird hier deutlich hervorgehoben. Sie ist Vermittlungsaufgabe mit pluralistischem Zeitbewusstsein. Ich verdeutliche dieses Vermittelnde am Beispiel der Ethik und gebe zur Veranschaulichung dem Originalton von Oettingens mehr Raum. Der Fokus liegt auf dem Thema der Freiheit. Die theologische Ethik sei nämlich als „wissenschaftliche Durchführung und Rechtfertigung der Idee christlicher Freiheit“ zu verstehen (ibid.). „[D]as ,Heilsleben‘ bewährt sich in dem Masse, als durch dasselbe die gottgewollte Lösung der in der sittlichen Welt sich aufthürmenden Probleme gefördert, als durch dasselbe namentlich der in der Menschenbrust unaus-löschliche Durst nach Freiheit gestillt wird. […] Alles was in epochemachenden Zeiten die Menschheitsgeschichte bewegt und die Gemüther zur Thatkraft begeistert hat, ist der wenn auch meist nebelhaft erfasste Gedanke der Befreiung. Erlösung ist der christliche Ausdruck für diesen weltbewegenden Gedanken, der auch in der Gegenwart, in der gesammten Culturentwickelung das wogende und drängende Element ist. Nur dass die von Gott sich losmachende Zeit ihn in den negativen Begriff der Emancipation umsetzt, während die christlich-sittliche Weltanschauung ihn durch die Idee der Versöhnung mit positivem Gehalte erfüllt und eben dadurch ethisirt.“ (336) Er typisiert bzw. schematisiert und existentialisiert letztendlich pointiert das verfehlende Ringen um die Freiheit in der Geschichte: „[D]ie pathologischen Moralprincipien gravitiren stets nach zwei Seiten, indem sie entweder ethnisirend die Physis auf Kosten der Ethik verherrlichen oder judaisirend die Ethik von aller Physis emancipiren. […] [D]ie geschilderten Extreme, die der christlichen Idee der Freiheit unserer Meinung nach den Tod drohen und das Grab bereiten, [ragen] als fermentative Elemente unserer modernen Geistesbewegung bis in die Gegenwart hinein[…]. Denn was man heut zu Tage Materialismus und Spiritualismus, Realismus und Idealismus, Naturalismus und Rationalismus zu nennen pflegt, ist jenen grundlegenden Gegensätzen entsprossen. Und wie in der Geschichte heidnischer und judaistischer, antinomistischer und nomistischer […] Verirrungen die Grenzen nicht immer scharf bezeichnet werden können
Die Verhältnisbestimmung der Disziplinen im dogmatischen Hauptwerk
28.3
411
Die Verhältnisbestimmung der Disziplinen im dogmatischen Hauptwerk
Vierundzwanzig Jahre später konstatiert er während der enzyklopädischen Erörterung des Verhältnisses von Dogmatik „als christlicher Glaubenslehre“ und Ethik „als christlicher Lebenslehre“ in der dogmatischen Prinzipienlehre, dass sowohl die mittelalterlichen als auch „die altprotestantischen Systeme“ beide Gebiete umfasst haben und auch noch bis in die Neuzeit das „System christlicher Lehre“ (C.I. Nitzsch, Sartorius, O. Pfleiderer etc.) einheitlich behandelt und die Einheit beider Gebiete gefordert worden ist (z. B. Hofmann; K. Barth, aber auch R. Rothes Theologische Ethik und A. Schweitzers Glaubenslehre). Von Oettingen gibt zu, dass eine separate Behandlung beider systematischer Disziplinen „ihre unverkennbaren Schwierigkeiten“ hat (419).12 Er scheint in dieser Hinsicht zurückhaltender zu sein als in seiner „Sittenlehre“, in der er das Verhältnis im Sinn von Theologie und Anthropologie behandelt hat, wobei beide christozentrisch aufzufassen sind. „Sachlich sie zu scheiden oder zu unterscheiden […] ist schlechterdings unmöglich“, doch sind „die Gesichtspunkte der Behandlung“ – gerade auch bei den Themen, die in beiden zur Sprache kommen – verschiedene (419): [U]m mit Luther im Sinne seiner Theologie des Kreuzes zu reden […]: der Dogmatiker beleuchtet die ,Freiheit eines Christenmenschen‘ vom Standpunkt der erlösenden und versöhnenden Gottesgnade, sofern ich durch Christum als Gotteskind den Frieden der Sündenvergebung geschmeckt und dadurch im Glauben ein Herr aller Dinge geworden bin; der Ethiker betrachtet diese ,Freiheit‘ vom Standpunkte der wiedergebärenden und heiligenden Gottesgnade, sofern ich als neuer Mensch im steten Kampf wider den alten ein Knecht aller Dinge geworden bin in der Liebe.[13] Daß auch hier der Unter-
[…], so geschieht es noch heut zu Tage mitten in der sogenannten christlichen Culturentwickelung. Auch die confessionellen Hauptgegensätze (römisch und reformirt) lassen sich, wie wir gesehen haben […] auf den ethnisirenden und judaisirenden Irrthum in gewissem Sinne zurückführen. Und die seit dem Jahrhundert der ,Aufklärung‘ überall zu Tage tretenden Extreme des Pantheismus und Deismus bewegen sich gleichfalls um jene beiden Brennpunkte heidnisch-naturalistischen und jüdisch-spiritualistischen Weltansicht. Ja wir können sagen, in dem einzelnen Geiste, in jedem nach Wahrheit und Freiheit ringenden Personleben streiten jene beiden fundamentalen Irrthümer um den Besitz des Menschen, und suchen ihn oft gleichzeitig hierhin und dorthin zu reissen, ihm das schwere Problem der Freiheit zu verleiden und in die Versuchung zu führen, den sich hier schürzenden Knoten zu zerhauen, so dass er nur Nothwendigkeit oder nur Willkür, nur Fatum oder nur Zufall, nur das Sein oder nur das Sollen anerkennt und den gesunden Glauben an eine sittliche Weltordnung, an ein Sollen auf Grund des Sein, an ein Gesetz höherer Teleologie zu verlieren droht.“ (338f). 12 In diesem Teilkapitel verweise ich auf die Hauptquelle (1897a) nur mit einer Seitenzahl. 13 „Das für die Ethik geltende Losungswort: ,Lasset uns ihn lieben‘ wurzelt in jenem, für die Dogmatik maßgebenden: ,denn er hat uns zuerst geliebt‘ (1 Joh. 4, 19).“ (420) Dieselben
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Das christologisch-soteriologische Zentrum der Theologie des Kreuzes
schied ein fließender ist, liegt auf der Hand. Eben weil wir als Christen Heilsglauben und Heilsleben, Religion und Sittlichkeit […] weder trennen können noch wollen, geschweige denn wie ,Abhängigkeit‘ und ,Freiheit‘ in einen Gegensatz zu einander stellen dürfen […] bleibt die innige Verknüpfung der Dogmatik und Ethik auch in der wissenschaftlichen Geistesarbeit des christlichen Theologen bestehen (420).
Trotz der innerlichen Zusammengehörigkeit von Dogmatik und Ethik habe also eine separate Behandlung der Dogmatik und Ethik eine relative Berechtigung. Sowohl allgemeine erkenntnispraktische Erwägungen, als auch das die Christen charakterisierende Differenzbewusstsein sprechen dafür : Die relative Berechtigung der gesonderten Behandlung liegt […] theils in der menschlichen Unfähigkeit, Alles auf einmal zu umfassen, theils in der thatsächlichen Eigenart des religiösen Bewußtseins gegenüber dem sittlichen, auch für den Christen, der Gottes erlösende Gnade erfahren hat. Er bleibt, auch im Verlauf seines Christenstandes, des Unterschiedes sich wohl bewußt zwischen dem, wodurch er ein Kind Gottes geworden, um das Reich Gottes empfangen zu können, und zwischen dem, wie er sich als Kind Gottes bewähren soll, um das Reich Gottes fördern zu können. Jenes specifisch religiöse Moment der aufgeschlossenen Empfänglichkeit waltet als Idealprincip in der Dogmatik vor; das der selbstthätigen Bewährung eines Christenmenschen in der Ethik. (420f)
29.
Das christologisch-soteriologische Zentrum der Theologie des Kreuzes
In diesem vorletzten Kapitel rücke ich das Kreuzgeheimnis selbst und von Oettingens Verständnis davon in den Mittelpunkt. In diesem Geheimnis liegt für ihn der Ursprung der Kreuzestheologie und Sozialethik. Ich behandele also das christologisch-soteriologische Zentrum der Theologie von Oettingens. Das versuche ich auf eine Weise, die sowohl den epochalen Ort dieser Theologie in der Postaufklärung, als auch ihre heutige Relevanz exemplarisch und wenigstens im Ansatz sichtbar werden lässt. Zu diesem Zweck eignen sich besonders zwei Begriffe, die in der Moderne geläufig wurden, und die für von Oettingen bei der Erschließung und Beschreibung „des tiefen Kreuzgeheimnisses“ (212),1 aber auch des menschlichen Zusammenlebens, eine wichtige Rolle spielen. Im folgenden Kapitel erfolgt als letzter Schritt eine diesbezügliche Konkretisierung.
„Losungsworte“ verwendet von Oettingen mit Verweis auf E. Sartorius auch in der Sittenlehre (vgl. 1873a, 120f). 1 In diesem Kapitel verweise ich auf die Hauptquelle (1902a) nur mit einer Seitenzahl.
Gegenstand, Methode und Architektonik der dogmatischen Christologie
29.1
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29.1.1 Vorbemerkung Von Oettingens kreuzestheologische Christologie, die die Heilsvermittlung zum Thema hat, gehört unter den sechs Abschnitten seines dogmatischen Systems mit der Ontologie (Heilsfähigkeit) und der Pneumatologie (Heilsaneignung) zu den sehr umfangreichen und kann in dieser Hinsicht fast als selbständige Monographie gelten. Zwei Paragraphen aus dem sich in insgesamt zweiundsechzig Paragraphen gliedernden System sind in ihrer Ausführlichkeit konkurrenzlos und haben fast genau dieselbe Länge: die Behandlung des hohepriesterlichen Sühnopfers Christi im Rahmen der Christologie (203–276) und die Behandlung Gottes als des Dreieinigen in dem der Gotteslehre gewidmeten Unterabschnitt der Ontologie (1900c, 171–243). Diese zunächst formal anmutenden Feststellungen enthalten einen Hinweis von inhaltlicher Relevanz. Die Themen „Trinität“ und „Sühnopfer Christi“ bilden nämlich auf jeden Fall Schwerpunkte der Dogmatik von Oettingens. Sie verlangen seines Erachtens jedoch eine sehr differenzierte und sorgfältige Behandlung, nicht zuletzt wegen der großen Schwierigkeiten und Herausforderungen, die sie für das Verstehen darstellen. Von Oettingen behandelt sie mit einem beachtenswerten und subtilen Problembewusstsein. Die Länge dieser Paragraphen entsteht dabei nicht durch von Oettingens eigene konstruktive, dogmatische Darlegung (zum Sühnopfer Christi vgl. 203–222), die jenes Problembewusstsein zum Hintergrund hat, sondern durch die Ausführlichkeit der daran anknüpfenden Ausführungen zum Zeugnis der Schrift (vgl. 221–240), der kritischen Rekapitulationen zur Geschichte der Lehre der Kirche (vgl. 240–256)2 und einer instruktiven Orientierung zu und Auseinandersetzung mit deren älteren und neueren Infragestellungen (vgl. 256–276). An dieser Stelle geht es mir nicht um eine Rekonstruktion der Christologie oder der Soteriologie von Oettingens, sondern mein Interpretationsfokus liegt darauf, dass und wie von Oettingen sein wesentliches, theologisches Anliegen hier durch die Begriffe „Solidarität“ und „Toleranz“ aussagen kann und will und insbesondere auch darauf, welche z. T. modifizierte bzw. vertiefte Bedeutung jene Begriffe in ihrem Gebrauch durch von Oettingen erhalten. Eine solche Hervorhebung und Profilierung ist nicht prima facie ersichtlich, kann jedoch 2 Neben eigener Quellenarbeit und Erträgen früherer Forschung (z. B. Baur, Thomasius, Ritschl) stehen ihm auch die neueren dogmengeschichtlichen Arbeiten Harnacks, Seebergs, Loofs etc. zur Verfügung. Gelegentlich weicht er auch von der neueren Forschung ab und macht deutlich, wo und warum er den Interpretationen z. B. von Seeberg oder Harnack nicht zu folgen bereit ist.
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Das christologisch-soteriologische Zentrum der Theologie des Kreuzes
m. E. mit guten Gründen als ein sachgemäßes und hilfreiches Mittel für die Erschließung sowohl der grundlegenden Tiefendimension, als auch der Zielrichtung oder der Pointe seines kreuzestheologisch-sozialethischen Werkes angesehen werden. 29.1.2 Gegenstand Im ersten Abschnitt dieses dritten Teils habe ich schon die Konstitutionsprinzipien und das Verfahren der Dogmatik von Oettingens im Allgemeinen behandelt. Zum Zweck einer exemplarischen Konkretisierung, vor allem aber um meine These für die kreuzestheologische Interpretation von Solidarität und Toleranz durch von Oettingen an ihrem christologischen Ursprungsort im dogmatischen Gesamtzusammenhang zu kontextualisieren, schiebe ich einige orientierende Bemerkungen zur dogmatischen Christologie vor. Es geht darin um den „Grund- und Eckstein, auf dem das ganze christliche Lehrgebäude ruht“, i. e. um den Heiland, um „die Person des Heilsmittler[s]“ (1). Dass jene Person eine solche konstitutive Bedeutung für „die gesammte christliche Weltanschauung“ (2) und ihre wissenschaftliche Darstellung hat – dass es also überhaupt eine „Christologie“ in der Glaubenslehre gibt, ja noch mehr : dass sie jene durchgehend bestimmt bzw. bestimmen sollte –, hängt für von Oettingen damit zusammen, dass es hier eben um den Heiland geht. In der Dogmatik erfährt die im christlichen Glauben implizierte Wirklichkeitsauffassung eine lehrhafte Erörterung und Entfaltung. „[D]er Heilsglaube der christlichen Gemeinde, sowie die persönliche Heilserfahrung des einzelnen Christen, umfaßt“ – so jedenfalls die Ansicht von Oettingens – „Jesum anbetend als den gekreuzigten und auferstanden, lebendig gegenwärtigen Herrn und Heiland“ (1, vgl. 7f).3 Dieser Gegenstand werde verfehlt, wenn Christus z. B. nur als ein religiöser Held, ein Religionsstifter, ein Vorbild aus der Vergangenheit aufgefasst und beschrieben wird. Auf jeden Fall werde gerade an der jeweiligen Auffassung und Lösung des
3 Für die christologische Lehrentwicklung der Kirche konstatiert er, dass sie getragen und motiviert sei von „jenem centralen Grundgedanken des urchristlichen Bekenntnisses: daß Jesus des ,Christus‘ sei, der uns von Sünde, Tod und Teufel erlöst und das ,Heil‘, d. h. die Sündenvergebung und Kindschaft im Reiche Gottes durch seinen Versöhnungstod gebracht und durchs Evangelium verbürgt hat“ (7). „Das christologische ,Dogma‘ ist ja als solches freilich nur ein dürftiges menschliches Gewand. Es ist aber gewoben aus den goldenen Fäden des evangelischen Selbstzeugnisses des Herrn und gleichsam dem Leibe seiner Kreuzgemeinde angepaßt auf Grund der apostolischen, biblischen Ueberlieferung. Die uralte ,Taufformel‘, sowie die ,apostolische‘ regula fidei, die urchristlichen Gebete und Liturgien, und nicht in letzter Linie unsere reformatorischen Jesuslieder und Passionsgesänge – sie enthalten sammt und sonders das Bekenntniß zur Gottheit Christi, d. h. – praktisch-religiös ausgedrückt – die Anbetung Jesu als des eingeborenen Sohnes Gottes, unseres Herrn.“ (19f).
Gegenstand, Methode und Architektonik der dogmatischen Christologie
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christologischen Problems die „Grundrichtung und Physiognomie der mannigfachen Lehrsysteme“ deutlich (3, vgl. 85–100).4 Für von Oettingen ist höchst wichtig, dass die Person Christi und sein Heilswerk sich stets nur in ihrem untrennbaren Zusammenhang auffassen lassen (vgl. 5, 175). In ihrer unauflösbaren, aber unterscheidbaren Zusammengehörigkeit werden sie in der Prinzipienlehre begrifflich als das Realprinzip der systematischen Darstellung christlicher Heilswahrheit („Christus für uns“) herausgearbeitet. Darauf ist alles, was in der Dogmatik zu sagen ist, gegründet und bezogen. Insofern kann von Oettingen die Christologie auch als den „Hauptlehrgegenstand“ der Dogmatik bezeichnen: „die Person Christi und sein Heilswerk [bilden] den Ausgangs- und Angelpunkt, wie das Endziel aller christlichen Glaubenswahrheit“ (4, vgl. 1897a, §34): „jedes Dogma wird zur leeren (antiquirten) Formel, wenn es die Fühlung mit dem christologischen Centrum (der ,Theologie des Kreuzes‘) oder – was dasselbe – mit der praktischen Heilsfrage verliert“ (5).5 So ist auch der ganze erste Hauptteil der Dogmatik, die „ganze […] Darlegung vom (ontologischen) Anfang bis zum (pleromatischen) Ziel […] durchdrungen und durchklungen von d[ies]em Einen Grundton“.6 In der dogmatischen Christologie wird jedoch jenes Realprinzip, jene zentrale Wirklichkeit Jesu Christi – seine Person und sein Werk – eigens ins Auge gefasst. 29.1.3 Methode Wie in Kap 21 gesehen, erfolgt die Betrachtung der Wirklichkeit Jesu Christi unter Berufung „auf das Selbsterlebte, d. h. auf die persönliche Heilserfahrung, auf den ,Christus in uns‘“ (5f).7 Dieses Idealprinzip, also die Weise, in der die res 4 Aber auch die konfessionellen Idealtypen oder die „Paradigmen“ (H. Küng) des Christentums differieren in charakteristischer Weise (vgl. z. B. 7–9), und innerhalb des Protestantismus markiert die Einstellung zur christologischen Kernfrage die konfessionellen Differenzen (vgl. Kap. 28 und in diesem Kapitel weiter unten). 5 Metaphorisch ausgedrückt: „jedes Glied (articulus) des dogmatischen Gesammt-Organismus erscheint lebensunfähig, muß gleichsam dem Greisenbrand verfallen, wenn jenes Herzblut nicht in ihm circulirt.“ (5). 6 Diese lautet: „Jesus Christus, gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit, das A und das O, der Ausgangs- und Endpunkt der Gnadenwege Gottes, der Mittelpunkt und Wendepunkt der Welt- und Heilsgeschichte, der Brennpunkt aller Herzenserfahrungen der Gläubigen, der einige Trost im Leben und Sterben, der Kern und Stern wie des Evangeliums vom Reich, so auch der lehrhaft zu entwickelnden christlichen Heilswahrheit!“ (4). 7 „Alle ,Theorien‘ christologischer Art, insonderheit das entwickelte ,Dogma‘ von der GottMenschheit des Erlösers […], namentlich auch die vielumstrittenen Lehren vom Wunder der ,Menschwerdung‘ und von den ,zwei Naturen in der Einheit der Person‘ […] – sie bleiben tote, logisch zugespitzte ,Formeln‘, oder unverstandene, mythologisch verhüllte ,Geheimnisse‘, so lange wir in ihnen nicht Christum selber als unseren einigen Herrn und Heiland im Geiste erfassen, lebensvoll anaschauen und anbeten lernen. Dann erst werden sie uns fruchtbare Glaubenswahrheiten und beseligende ,Heilsthatsachen‘.“ (6).
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dem Erkennen gegeben ist, das Zustandekommen des Glaubens, ist das Thema des darauf folgenden, vorletzten Teils der Dogmatik von Oettingens, der Pneumatologie bzw. Heilszueignung. Auch und gerade in der Christologie, bei der Betrachtung der Person und des Werkes Christi, müssen das Real- und das Idealprinzip sich bewähren und zur Geltung kommen. Anders formuliert: Die von Luther betonte theologia crucis wird und muß sich hier – im Hinblick auf die Leidensfähigkeit und Leidenswilligkeit Gottes unseres barmherzigen Heilandes, also gerade im Lichte der lutherischen Christologie– als theologia lucis bewähren (9).
In der dogmatischen Betrachtung der Christologie geht es also nicht um den sog. historischen Jesus, es geht nicht um eine historisch-wissenschaftliche Rekonstruktion des Lebens Jesu. Von Oettingen stellt das Recht zu dieser nicht prinzipiell in Frage, obwohl er konstatiert, dass sie mit großen Schwierigkeiten verbunden ist und es auch Überlegungen gibt, wonach sie gänzlich unrealisierbar sei. So wie die dogmatische Aufgabe überhaupt jedoch darin besteht, „das gegenwärtige Glaubensbewußtsein der Gemeinde zum wissenschaftlichen Ausdruck zu bringen“ (10), so geht es hier um die Aussage über den gottmenschlichen Heiland, wie er im Glauben der christlichen Gemeinde lebt, wie er im Geist ihr fort und fort gegenwärtig ist und als ihr Haupt die Glieder des Leibes durchdringt im Wort sich bezeugend und im Sacrament sich ihnen geistleiblich zu eigen gebend. Kurz: die Person des Heilsmittlers als des göttlich verklärten Menschensohnes wird und muß uns zunächst beschäftigen. (Ibid.)
29.1.4 Dogmatische Behandlung der Christologie in Theanthropologie, Soterologie und Soteriologie Die erste Passage der Christologie enthält eine Theanthropologie – Untersuchungen, die zum Verständnis der Person Jesu Christi, „wie er ,für uns‘ eingetreten ist und ,in uns‘ sich fort und fort bezeugt“ anleiten (10, vgl. 101). Es geht um den Gottmenschen Jesus Christus als Glaubenspostulat, um das Problem der Inkarnation und um die sog. „zwei Naturen“ in der Einheit der gottmenschlichen Person. Daran knüpft, „gleichsam als Probe für die Wahrheit jener dogmatischen Theanthropologie, die nähere Darlegung der Hauptstadien der geschichtlichen Lebensentwickelung Jesu in ihrer centralen Bedeutung für den Heilsglauben der Gemeinde“ (10f) an. Die Themen sind hier der „Stand der Erniedrigung“, der „Stand der Erhöhung“ und geheimnisvoll zwischen beiden als Übergang die sog. „Höllenfahrt“.8 8 Die Soterologie befasst sich mit der „Person des ,Erlöser‘ (syt^q), sofern er durch Kreuz zur Krone, durch die einzelnen Stadien des ,Standes der Erniederung‘ […] zum ,Stande der Erhöhung‘ […] sich hindurchrang“ (11).
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Die christologischen Erörterungen kulminieren in der Soteriologie, in der Darlegung seines Heilswerkes. In kritisch-konstruktiver Auseinandersetzung mit Vorschlägen zur Gliederung der Soteriologie zeigt von Oettingen, in welchem Sinn und unter welchen Bedingungen (mit welchen Präzisierungen und Korrekturen) sich für eine dogmatische Behandlung doch eine gängige Gliederung analog der drei „Ämter“ empfiehlt. Von drei zusammengehörigen, aber differenzierbaren Gesichtspunkten aus drehen sich alle „um die erlösende und versöhnende Wirksamkeit Jesu“ (11). Mit diesem Dreischritt leitet die dogmatische Christologie zu einem Verstehen der Wahrheit und Wirklichkeit Jesu Christi hin. Von Oettingen knüpft, wie die angedeutete nähere Gliederung der drei Schritte zeigt, eng an die christologische Lehrtradition an. Das ist jedoch nicht als eine bloße Repetition zu verstehen, die (als Wiederholung) nur langweilig und hoffnungslos naiv sein kann, weil die kontextuellen Bedingungen sich ja epochal verändert haben. Durch die angestrebte Geltendmachung ihres Real- und Idealprinzips bekommt diese Christologie vielmehr schon von ihrem Status her ein eigenes Gepräge. Aber auch die Durchführung ist im Einzelnen eine sorgfältig durchdachte Neuinterpretation, die ausdrücklich, wie es die beigelegten Ausführungen zur Schriftlehre, zur Lehrgeschichte und bes. zur neueren Diskussion ihrerseits verdeutlichen, in Verantwortung gegenüber dem modernen Problembewusstsein unternommen wurde und an die Leserschaft der Gegenwart gerichtet ist. Eine dogmatische Erschließung der Heilsvermittlung soll dann auch den Sinn jener Lehrformel aufweisen und so eine positive und solidarische Haltung gegenüber der kirchlichen Überlieferung erlauben,9 zugleich aber auch andeuten, wo die kirchliche Bekenntnisbildung sich weiterentwickeln könnte bzw. sollte.10 Stets bemüht von Oettingen sich jedenfalls darum, „die eminent praktische, religiös-sittliche Bedeutung“ jener überlieferten Lehrformulierungen zu erschließen, indem er ihre Beziehung zum „Christus für uns“ und „Christus in uns“ transparent macht.
9 R. Leonhardt hat in seinem dogmatischen Lehrbuch darauf hingewiesen, dass die Versöhnungslehre K. Barths z. T. an die spekulative Theologie des 19. Jh. erinnere, jedoch den Glauben als das theologische Erkenntnisprinzip hervorhebe. Es erfolge bei Barth eine „umfassende Integration der klassischen Christologie“ „mit reformiertem Akzent“ (finitum non capx infiniti fungiere als Grundsatz) (ders., Dogmatik, 298). Parallel könnte man bei von Oettingen auch von einer solchen Integration, jedoch mit einem lutherischem Akzent, sprechen. 10 „Als irdenes Gefäß für goldene, himmlische Wahrheit schätzen [wir] […] die alte Lehrüberlieferung hoch, auch wo es gilt, sie in neuer Weise zu begründen oder weiter zu entwickeln.“ (20).
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Das christologisch-soteriologische Zentrum der Theologie des Kreuzes
29.1.5 Status der Soteriologie innerhalb der Christologie und in ihrem Verhältnis zur Pneumatologie Die Theanthropologie bemüht sich um das Verständnis des „gegenwärtigen Christus“ als Grund des Glaubens, i. e. wie er „unserem christlichen Gemeindeglauben zu Grund liegt“ (101). Die Soterologie verfolgt die wichtigsten Aspekte der Lebensentwicklung Jesu, des gottmenschlichen Heilands (einschließlich des sog. Standes der Erhöhung) und die Soteriologie, die Erörterung der gottmenschlichen Heilsbeschaffung, schließt unmittelbar daran an. In der Person […] und dem Leben […] des gottmenschlichen Heilsmittlers wurzeln alle erneuernden und wiedergebärenden Wirkungen, die vom Evangelium Jesu Christi ausgehen. Aus den erlebten und erfahrenen Wirkungen schlossen wir auf die Eigenart der Person. Schon in jenem Doppelnamen ,Heiland-Gesalbter‘ prägte sich uns die Eigenart seiner Mission, seiner welterlösenden und weltversöhnenden Thätigkeit aus […] Jesus Christus ist uns also der erlösende Versöhner. So decken sich in ihm Person und Werk. (174f)
In diesem Zitat tritt deutlich hervor, wie die Implikate und Voraussetzungen des gegenwärtigen, vom Evangelium herkommenden Glaubens in den einzelnen Teilthemen der Christologie untersucht und expliziert werden. In der Soteriologie widmet sich zuletzt dem „der ganzen Menschheit geltenden (objectiven und universell vollzogenen) Heilswerk[] Christi“ (175). Von Oettingen bevorzugt es, den Begriff „Heil“ bzw. „Errettung“, der auch in einer weiteren, das Wirksamwerden dieses Werkes am Ort des Einzelnen einschließenden Bedeutung gebraucht werden kann, enger zu fassen. Der objektive und universelle Sinn des Heils, das durch und in Christus vermittelt oder geschehen ist, steht im Vordergrund. In der auf die Christologie folgenden Pneumatologie werden die Lehre von den Heilsmitteln, der Heilsgemeinde und dem Heilsglauben behandelt. Die Heilsvermittlung und Heilsaneignung bzw. -zueignung sind also deutlich unterschieden. Die Pneumatologie ist auch der Ort für eine genaue und allseitige Rechenschaft über das „Christus in uns“, über das dogmatische Idealprinzip. Von Oettingen erläutert, warum es trotz der innerlichen Zusammengehörigkeit von Person und Werk in der dogmatischen Lehrentwicklung nötig und berechtigt ist, das Heilswerk eigens zu behandeln: „unser Realprincip, der ,Christus für uns‘, muß sich gerade hier in lehrhaftem Zusammenhange klären und bewähren.“ (176) In der materiellen Dogmatik sei es insbesondere die Soteriologie, die als Rechenschaft über das Realprinzip anzusehen ist. Zum einen gelte also, dass das Heilswerk des Heilands „die wesentliche (objective) Grundlage für unser Idealprincip, den ,Christus in uns‘“ ist (ibid.). Zum anderen, dass ein volles (subjektives) Verständnis von dem „Heilswerth des für uns eintretenden Mittlers“ – heute spricht man z. B. von der Heilsbedeutung Jesu –
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nicht gelingen kann, ohne ihn „als den in uns fort und fort wirkenden erlebt und erfahren [zu] haben“ (ibid.). Von Oettingen sagt hier gerade nicht, dass die Bedeutung Christi ohne den Glauben an ihn überhaupt nicht verstanden werden kann. Ein volles Verständnis ist allerdings seinem Sprachgebrauch zufolge ein solches, das Christus und sein Werk als auch für mich geltend – als gültig und wahr – erfährt und bekennt. Man kann insofern sagen, dass der pragmatische Sinn des Evangeliums sich auf der semantischen Ebene nicht einholen lässt.11 29.1.6 Strukturierung des soteriologischen Materials Für den Aufbau der Soteriologie erwägt von Oettingen eine Zwei- und eine Dreiteilung und arbeitet heraus, in welcher Weise die letztere sowohl in praktischer als auch in wissenschaftlich-systematischer Hinsicht vorzuziehen ist.12 Eine zweiteilige Strukturierung betrachte das Heilswerk als „Erlösung“ (Errettung, Befreiung von den Fesseln der Sünde, des Todes, der satanischen Macht) und als „Versöhnung“ (Wiederherstellung des Gemeinschaftsverhältnisses mit Gott). Mit diesen zwei Grundbegriffen seien zwar durchaus „die beiden Brennpunkte in der Ellipse der heilsmittlerischen Liebesthat Christi richtig und sachgemäß bezeichnet“, aber „für die Klarheit der systematisch-wissenschaftlichen Darstellung“ seien diese nicht geeignet (176, vgl. 180f). Sie drückten nämlich „lediglich die negative oder positive Seite des Einen Heilswerkes Jesu“ aus und „lassen sich […] schlechterdings nicht sondern oder gegeneinander abgrenzen“ (177). Aus der heilsgeschichtlichen Perspektive ergebe sich jedoch ganz natürlich die gängige Dreiteilung. In seinem Werk „erfüllen sich und treffen zusammen die alttestamentlich-theokratischen Berufsformen des Prophetenthums, Priesterthums und Königthums“ (ibid.).13 Unter dem „Amt“ versteht von Oettingen „die gesammte hohe und heilige Arbeit erlösender und versöhnender Liebe Christi nach einem dreifach unterschiedenen Gesichtspunkte“, d. h. dessen ganze 11 Vgl. Dalferth, Evangelische Theologie, 99–113. 12 Von Oettingen weist darauf hin, dass z. B. Ritschl und Frank sich gegen eine Dreiteilung aussprechen, Schleiermacher, Nitzsch, Pfleiderer, Biedermann, Dorner, M. Kähler etc. die Dreiteilung befürworten und mit einer Zweiteilung zu kombinieren versuchen (182f, 178). Aus der neueren Zeit können als markante Befürworter z. B. K. Barth, W. Kasper und zuletzt M. Welker hervorgehoben werden. 13 Das hat nicht zuletzt Relevanz für eine hohe und positive Schätzung des Alten Testaments und der sog. Reichgottesgeschichte in Israel (vgl. 177f, 205). In der Rekapitulation der Schriftlehre konstatiert von Oettingen: „Wie mir scheint, kann weder der Ebräerbrief, noch die gesammte neutestamentliche Lehre von dem sühnenden Opfertode und dem sündentilgenden Blute Christi verstanden werden, ohne Rückblick auf die alttestamentlichen Voraussetzungen.“ (221) Er weist übrigens auch darauf hin, dass die sog. Festhälfte des Kirchenjahres im Laufe einer jahrhundertelangen Entwicklung dieselben drei Hinsichten ausgebildet habe.
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Das christologisch-soteriologische Zentrum der Theologie des Kreuzes
Wirksamkeit und keine rechtlich umgrenzte Arbeitssphäre o. ä. (178). Entscheidend wichtig bei der dreifachen Strukturierung des Materials14 und einer solchen Perspektivierung des Heilswerkes Christi sei allerdings zu beachten, dass es zu keiner Zerstückelung dieses Werkes kommt: „Jene drei Aemter schließen sich nicht nur nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig.“ In jeweils verschiedener Perspektive gehe es um „den einigen Heilsmittler […] in seiner erlösenden und versöhnenden Thätigkeit“, d. h. das „Christus für uns“ bilde stets „den Centralgedanken“ (ibid.). Von Oettingen versucht kontinuierlich das gegenseitige Verhältnis verschiedener Dimensionen im Heilswerk sichtbar zu machen. „[D]en eigentlichen Brennpunkt“ (183), „das Hauptstück des Heilswerkes“ (195), den „Höhepunkt seines Mittleramtes“ (220) erblickt er aber im hohepriesterlichen Amt, obwohl ausdrücklich das Werk im Ganzen und in allen seinen Dimensionen jene erlösende und versöhnende Bedeutung habe.
29.2
Christologie in Geschichte und Gegenwart
In seinem Versuch das Werk Christi aus der hohepriesterlichen Perspektive zu erhellen, betont von Oettingen die Wichtigkeit der Berücksichtigung des alttestamentlichen Hintergrundes und nimmt Bezug auf den christlichen Gottesdienst der Gegenwart und auf die Praxis der Abendmahlsfeier. Ich werde mich in diesem Kapitel auf seine Erschließung der sühnenden Kraft und Bedeutung des Opfers Christi konzentrieren. Die Heilsbedeutung des Todes Jesu lässt sich Gott gegenüber als Genugtuung oder Satisfaktion, der Menschheit gegenüber als Stellvertretung verstehen. Die Begrifflichkeit ist genauso geläufig wie umstritten. So wundert es nicht, dass er sich in seiner konstruktiven Darlegung von den wichtigsten Auffassungsweisen, die geläufig, aber seines Erachtens irreleitend (und für die Ablehnung der Heilsbedeutung des Todes Jesu mitverantwortlich) sind, ausdrücklich abgrenzt. Seine eigenen Erörterungen inkludieren interpretierend Symbole und wichtige begriffliche Formeln sowohl der Schrift, als auch der Tradition in einen konstruktiv-argumentativen Zusammenhang, in dessen Kontext deren Sinn bzw. Unsinn sichtbar werden soll. Eine hilfreiche Möglichkeit von Oettingens Behandlung der Problematik in ihrer Eigenart genauer in den Blick zu bekommen, besteht m. E. darin, die im Appendix enthaltenen Orientierungen und Urteile zur Lehrgeschichte und zur neueren Diskussion als Verständnishorizont für die Betrachtung seiner in ei14 Die verschiedenartigen biblischen Metaphern und Modelle können in dieser Weise als Teilmomente in die Betrachtung jenes Werkes aufgenommen werden.
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gener Verantwortung vorgenommenen Darstellung zu skizzieren. Auch hier ist jedoch eine hermeneutische Vorbemerkung nötig. 29.2.1 Hermeneutische Vorbemerkung zur Rede von „Kirchenlehre“ und „Gegensatz“ Im Glauben an Christus sei das Bekenntnis zu seiner Gottheit mitenthalten. Die im Laufe der Geschichte entwickelte Gottmenschheitslehre der Kirche versuche, eben diesem Sachverhalt gerecht zu werden. Nun, wie von Oettingens Ausführungen im Appendix zu den einzelnen Kapiteln der Christologie paradigmatisch verdeutlichen, ist die Kirchenlehre, oder hier konkret die kirchliche Gottmenschheitslehre, nicht wie ein fixes Ding einfach da, sondern sie ist nur im Modus des Verstehens gegeben. So wie auch im Fall der Schriftlehre kann man sich nicht mit einem bloßen Zitieren irgendwelcher Dokumente oder Stellen begnügen, sondern jede Aussage über die Lehre der Kirche oder der Schrift hat immer den Charakter eines Vorschlags, wie diese zu verstehen ist und ist deshalb auch stets hinterfragbar. Wenn z. B. von Oettingen behauptet, „unser ganzes lutherisches Bekenntniß“ stelle „Christum, den Gottes- und Menschensohn, als den einigen Herrn und Heiland […] in den Mittelpunkt des Glaubens“ (14), operiert er mit einer Unterscheidung zwischen dem Bekenntnis und den Bekenntnisschriften, die den Glauben lehrhaft darstellen. Diese hermeneutische Differenz ist ihm also stets präsent. Die Situation, in der man sich auf das Bekenntnis bezieht oder appelliert, ist deshalb immer eine Situation der Verständigung, eine Situation, in der es auch andere Auffassungen darüber, wie das Bekenntnis oder auch die Kirchenlehre inhaltlich zu beschreiben sind, gibt. Diese elementaren Bemerkungen sind insofern von Relevanz, weil sie klarmachen, dass es unter diesen Bedingungen nicht angemessen ist, die angestrebte Bindung an das Bekenntnis oder die Kirchenlehre oder das Dogma als sicheres Signal eines Dogmatismus, Konfessionalismus oder Fundamentalismus zu betrachten. Von Oettingens Rekonstruktionen davon, was die Kirche lehrt, von der „Kirchenlehre“, sind faktisch Über- und Einblicke in die Dogmen- und Theologiegeschichte der Kirche. Es wird somit im Appendix nicht zuletzt für die Geschichtlichkeit, Dynamik und Vielfältig der Lehre sensibilisiert. Sie wird in ihrer geschichtlichen Genese vor Augen geführt, wobei von Oettingen sich insbesondere darum bemüht, die tragenden theologischen Motive aufzuzeigen. Auch die Orientierungen zur reformatorischen, nachreformatorischen und neueren Theologie bei einzelnen Themen versuchen, der geschichtlichen Komplexität gerecht zu werden. Man kann nicht davon sprechen, dass z. B. die reformatorische Theologie einseitig von den Lehrentscheidungen in den Bekenntnisschriften (in den geschichtlichen Urkunden des gemeinsamen Beken-
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nens der lutherischen Kirche) oder von der weiteren dogmatischen Lehrbildung bei den sog. alten evangelischen Dogmatikern her dargestellt, auf sie reduziert oder mit ihnen einfach identifizierbar sei. Bei der Vergegenwärtigung der nachreformatorischen Entwicklungen der Kirchenlehre versucht von Oettingen, die relevanten konfessionellen Differenzen und Eigenarten der Kirchen aufzuzeigen. Somit wird auch die lutherische Kirchenlehre einerseits kontextualisiert, andererseits aber in ihrem Anspruch, in der Kontinuität der Lehrentwicklung der Kirche zu stehen, sie in genuiner Weise zu erneuern und von ihrem inneren lebendigen Grund und Gegenstand her zur Geltung zu bringen, ernst genommen. Die Kirchenlehre ist also weiterhin im Werden, obwohl sie sich jetzt in konfessioneller Vielfalt präsentiert, wodurch stets die Wahrheitsfrage besonders deutlich aufgeworfen wird. „Der Gegensatz“ wiederum ist nicht prinzipiell nur auf die neuere Theologie zu beziehen. Vielmehr hat er sich schon immer gezeigt und ist selbst eine ständige Dimension der Bekenntnisentwicklung. Man findet ihn also nicht nur außerhalb der „eigenen“ Kirche, sondern auch innerhalb. Er ist ebenso am Ort jedes Einzelnen und jedes einzelnen Christen – nicht nur außerhalb von „mir“ – zu entdecken. Der Begriff „der Gegensatz“ kann sich fundamental auf andersartige, nichtchristliche Wirklichkeitsverständnisse bzw. Weltanschauungen beziehen. Er kann aber auch auf die Differenzen innerhalb der großen Konfessionen oder die Differenzen innerhalb des Protestantismus verweisen. Von Oettingen operiert also mit einer Art Differenzhermeneutik. Der Streit um die Wahrheit und Wirklichkeit ist für die Orientierung im Leben und Glauben unumgänglich. Die Dogmatik hat dazu einen Beitrag zu leisten. Jener Streit, die argumentative Hervorhebung der Differenz, erfolgt allerdings mit gleichzeitigem Hervorheben der Toleranz und Solidarität.15 Wichtig ist, dass „Gegensatz“ nicht bedeutet, dass etwas z. B. von der Kirchenlehre her betrachtet als „ganz falsch“ zu qualifizieren ist. Vielmehr enthalten Gegensätze Wahrheitsmomente und relative Berechtigungen. Insofern sind sie lehrreich und bedingen die Entwicklung der Kirchenlehre. Die Berücksichtigung des Gegensatzes bedeutet jedenfalls die Integration der Kritik. Der Sachverhalt, dass bei den einzelnen christlichen Lehren bzw. Themen unter dem „Gegensatz“ viel neuzeitliche Theologie einen Platz bekommt, ist v. a. ein Hinweis darauf, dass gerade in der Neuzeit die Pluralität innerhalb der Theologie selbst enorm zugenommen hat und auch die Gleichgültigkeit oder die implizite bzw. explizite Zurückweisung der „Kirchenlehre“ gewachsen und innerhalb der Theologie weit verbreitet ist. Aus dieser Perspektive ist die Bezeichnung „positive“ oder „kirchliche“ Theologie für von Oettingen ein Hinweis auf das Vorhaben, sich in der Praxis der Theologie von einem „Ja“ her auf das Phänomen 15 Vgl. unten Kap. 30.
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des Bekenntnisses zu beziehen. Ausgehend vom Sachbezug, den man auch selbst teilt (durch den Glauben), erfolgt die Annäherung an das Phänomen des Dogmas, versucht man es zu verstehen, zu analysieren, zu beurteilen und zu kritisieren. Dieser komplexere Sinn von „Gegensatz“ ist z. B. in E. Troeltschs Rezensionen16 nicht berücksichtigt. Allein die Tatsache, dass von Oettingen in solch stark pluralisierter Verständigungssituation unter diesem Stichwort im Appendix auch die „positiven“ Theologen betrachtet, schließt aus, dass von Oettingen mit „Gegensatz“ programmatisch die Moderne bzw. alles Moderne zu einem gigantischen Nein der Schrift- und Kirchenlehre gegenüber stilisiert, um vielleicht sich selbst als einen oder sogar als den (antimodernen) Gralshüter der Orthodoxie zu präsentieren. Auch jene Gestalten der Theologie, die sich nicht in programmatischer Weise als „moderne“ behauptet haben, dürfen als Teil der neueren Theologie anerkannt sein. Die neuzeitliche, nachaufklärerische Theologie umfasst also mehr. Die selbstbetont moderne Theologie ist, genauso wie die selbstbetont kirchliche Theologie, als Strömung der neueren Theologie aufzufassen. Unter der Voraussetzung, dass der Begriff „moderne Theologie“ in einem nicht-positionellen Sinn verwendet wird, wäre auch von Oettingens Theologie zweifellos modern. Und sie wäre dies nicht irgendwie zufällig und anachronistisch, sondern, weil sie als solche in einer früheren Epoche gar nicht vorstellbar ist. Sie stellt einen genuinen Versuch dar, gerade in der Moderne Theologie zu treiben. 29.2.2 Eine christologiegeschichtliche Orientierung mit systematischer Absicht Mit Berücksichtigung dieser hermeneutischen Hinweise gilt für den Appendix, dass von Oettingen darin den implizierten Hintergrund seiner in eigener Verantwortung und Diktion durchgeführten dogmatischen Konstruktion explizit macht. Das erlaubt die Wahrnehmung seiner Eigenpositionierung im Gegenüber zur Schrift, im Gegenüber zur Lehrüberlieferung der Kirche und im Zusammenhang der neueren Theologie- und Philosophiegeschichte.17 Ich greife als erstes einige besonders aufschlussreiche Bemerkungen zur Lehrüberlieferung und Theologiegeschichte auf. Sie betreffen sowohl seine Identifizierung der wichtigsten Mängel und Aporien als auch der wegweisenden und weiterführenden Einsichten. Zweitens beschreibe ich in wenigen Zügen, wie er den Gegensatz – und den Gang und gegenwärtigen Stand der Diskussion – konzeptualisiert. Das Urdatum. Die Genese und die Entwicklung der kirchlichen Christologie, 16 Vgl. oben Kap. 24. 17 Dort finden sich, selektiv und annotiert, auch Literaturangaben.
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deren sog. Urdatum im Bekenntnis zu Jesus als Christus oder in der Anbetung Jesu liege, zeige „deutlicher als alle Ansätze christologischer Speculation, daß Christus der ,Menschensohn‘ den Gläubigen jener Zeit, ja der ganzen Urgemeinde ,in die Sphäre Gottes gehörte‘“ (übereinstimmend mit Loofs) (68). Die urchristliche Bekenntnisbildung und Lehrentwicklung, die christologischen Auseinandersetzungen und Entscheidungen in der alten Kirche, die mittelalterlichen Tendenzen, die neuen Impulse und Debatten der Reformation, die Kontroversen und Ausarbeitungen durch die alten dogmatischen Lehrer der evangelischen Kirchen beschreibt von Oettingen in den Beilagen zur Theanthropologie, zur Soterologie und Soteriologie ausführlich und nicht selten mit einer bemerkenswert erhellenden Kraft.18 Ich kontextualisiere die Hervorhebung seiner Bezugnahmen durch eine stichwortartige Andeutung der Grundzüge seiner Übersicht und Würdigung der Kirchenlehre im Anschluss an die Theantropologie. Die doppelte Gefahr : anthropomorphistische oder theomorphistische Christologien. Die christologische Bekenntnisbildung und Lehrentwicklung sei von ihren Anfängen an durch eine doppelte Gefahr mitbedingt gewesen, die in verschiedener Gestalt durch die ganze spätere Geschichte hindurch sichtbar werde. Es sind einerseits judaisierende oder ebjonistische und andererseits ethnisierende oder doketistische Einseitigkeiten (vgl. 67, 87–89). Im Grunde lasse dieser Unterschied (so der Vorschlag von Oettingens, womit er sich von Ad. Harnack kritisch distanziert) sich systematisch nach dem Modell einer anthropomorphistischen bzw. theomorphistischen Christologie deuten.19 Alte Kirche. Im Ganzen gesehen könne konstatiert werden, dass die kirchliche Dogmenbildung im Lauf der Geschichte der ersteren Gefahr gegenüber energischer reagierte, obwohl man sich zunächst um die Vermeidung beider bemüht hatte (vgl. 70). „[D]ie (antiebjonistische und antidoketistische) altkirchliche Christologie“ habe „[a]m correctesten“ Irenäus dargestellt. Von Oettingen hebt bei Irenäus besonders „die Idee der Herablassung (Selbstbeschränkung) Gottes in Christo“ und die innige Vereinigung von Gottheit und Menschheit in ihm, die 18 Vgl. 68–85, 14f, 125–128, 144–146, 166–168, 181f, 200f, 240–256, 290–293. 19 „Dort waltet (mit rationalistisch-deistischem und pelagianischem Hintergrunde) das religiös-ethische Interesse vor, Christum als den primus inter pares, als den für uns vorbildlichen ,Gottesmenschen jat’ 1now^m‘ zu fassen. Hier macht sich (mit mystisch-pantheistischem Hintergrunde und manichäisirender Gefahr) das metaphysisch-speculative Interesse geltend, demgemäß man in Christo eine Gotteserscheinung (Theophanie) erkannte auf Kosten der historischen, heilsgeschichtlich bezeugten Wirklichkeit […]. Daher entwickelt sich jene anthropomorphisch gefärbte Richtung allmählich zu dem feineren Irrthum des Nestorianismus (das Göttliche resp. der logos wohnte in Christo nur jat\ w\qim oder durch sum\veia), während diese theomorphische Auffassung den Monophysitismus aus sich erzeugt (das Göttliche droht, jat\ v}sim in Christo wohnend, das Menschliche zu verschlingen).“ (69f).
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bei Irenäus soteriologisch motiviert werde, hervor. Die Tendenz zu einer theomorphen Christologie, die einen spekulativ-hellenistischen Hintergrund habe, zeige sich besonders bei den griechischen Apologeten20 und gelange „bei den Alexandriern zu monophysitischer Wucherung im Gegensatz zu der arianischnestorianischen Tendenz auf anthropomorphe Ausgestaltung des Christusbildes in der antiochenischen Schule“ (71). Eine nähere Verfolgung ist hier unnötig. Man könne in der alten Kirche generell eine christologische „Doppelströmung“ wahrnehmen, die sich zu einem „Gegensatz“ entfaltet, wenn einseitig entweder das Göttliche oder das Menschliche hervorgehoben wird (72). „Zu einer Art Ausgleich“ sei durch vorbereitende Schritte (Konzil von Ephesos; Tertullian, Augustin) in Chalcedon „gegen beide Extreme“ in negativer Form festgehalten worden, „daß in dem Einen und selbigen Christus die zwei Naturen […] unvermischt und unverwandelt […], ungeschieden und ungetrennt […] zu einer Person […] verbunden seien.“ (74f) Mittelalter. In der mittelalterlichen Christologie des Westens und Ostens hätten deren maßgebenden Vertreter durch die Weiterbildung der Lehre von der communicatio idiomatum das Verhältnis der „beiden Naturen“ auch positiv zu bestimmen versucht. Insgesamt müsse man allerdings sagen, dass das „auf Kosten der vollen und wahren Menschheit geschah“, dass dabei „die Unveränderlichkeit und Leidensunfähigkeit der göttlichen Natur […] stets betont wurde“ und „die Lehre von der […] [Anhypostasie] der menschlichen Natur Christi trotz aller Cautelen […] das Verständniß für den geschichtlichen Christus und seine menschliche Lebensentwickelung erschwerte, ja unmöglich zu machen drohte“ (76). Mit Blick auf die Christologie sowohl des Osten als auch des Westens bedauert und kritisiert von Oettingen die Unfähigkeit, zum Begriff der Selbstbeschränkung Gottes und zur Annahme eines wirklichen Leidens des Gottessohnes zu gelangen (vgl. ibid.). Durch die Orientierung an einem abstrakten Gegensatz des Unendlichen und Endlichen bei der „jedes Werden, jede Veränderung, jede Leidensfähigkeit des Logos“ ausgeschlossen war, wurde zeitweilig „das Menschlich-Endliche zu nichte und vom Göttlich-Unendlichen verschlugen“ (ibid.). Reformation. Neu in Bewegung komme die christologische Frage mit der Reformation. Ich begrenze mich auf statische Feststellungen, die das Anliegen von Oettingens einzuordnen helfen, und sehe von der Dynamik der Auseinandersetzungen ab. In der römisch-katholischen Christologie dominiere „die 20 Durch die „in gewissem Sinne verhängnißvoll[e]“ Kombination der „hellenistisch-philonische[n], resp. platonisch-stoische[n] Logos-Idee (= schöpferische Weltvernunft) […] mit dem Sohnesbegriff oder dem fleischgewordenen ,Wort‘ der johanneischen Ueberlieferung“ habe man „die Person Christi gleichsam ,von Oben‘ construiert, die (ideale) Präexistenz des ,Schöpfungsmittlers‘ und den kosmologisch-ontologischen Gedanken in den Vordergrund gestellt und das ethisch-historische und soteriologische Moment vernachlässigt.“ (71).
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scholastische Lehre mit ihrer monophysitisch-doketischen Physiognomie“, die eine Entsprechung in der Gottesdienstpraxis und Frömmigkeit, aber auch im Verständnis der kirchlichen Hierarchie findet (überall sei eine Neigung zur „Kreaturvergötterung“ zu beobachten) (77). Demgegenüber sei die reformierte Christologie „entschieden nestorianisierend“. Ihren Hintergrund bilde ein abstrakter und schroffer Gottesbegriff (vgl. 78; vgl. 1900c, 123), wonach das Göttliche (Unendliche, Überirdische) und das Menschliche (Endliche, Irdische) in einem exklusiven Gegensatz zueinander stehen. Dadurch sei ihre lebendige Gemeinschaft auch in Christus in Frage gestellt bzw. aufgehoben. Durch die Sozinianer sei die reformierte Christologie später „bis zum Extrem eines halb rationalistisch, halb supranaturalistisch gefärbten Anthropomorphismus ausgeprägt“ (78) und von lutherischer Seite vehement kritisiert worden. Luther habe nicht „von Oben her“ spekulieren wollen.21 Ihm habe alles an der persönlichen Einigung gelegen, die er am tiefsten, gerade auch im Vergleich zur christologischen Lehrbildung der späteren lutherischen Theologen, erfasst habe. Leitend sei bei ihm das soteriologische Interesse, sofern sich auf dieser Einigung „d[ie] tröstliche Wahrheit“ gründe, daß wir – er zitiert Luther – „durch [Christus] und in [ihm] mit Gott eins werden, ob wir wohl Sünder seien und von ihm so ferne, wie die Hölle vom Himmel“ (ibid.). So vergegenwärtigt von Oettingen Luthers christologische Grundgedanken, wobei er stets deren inneren Zusammenhang mit den soteriologischen Anschauungen hervorhebt. Die Darlegung, die nebenbei Ritschls Kritik gegen Luthers Christologie als ein Missverständnis (es sei ein „Rest der scholastischen Tradition“) zurückweist, gipfelt in der folgenden Passage: In ihm ist in der That ,Gott gestorben‘ […]. ,Wenn ich das glaubete, daß allein die menschliche Natur für mich gelitten, so ist mir Christus ein schlechter Heiland, so bedarf er wohl selbst eines Heilandes‘ […]. Denn ,das ist unseres Herrgottes Ehre, daß er sich so tief herunterläßt ins Fleisch‘ – ja daß er als ,Kind in der Krippen und in denen Windeln gelegen ist‘, um am Kreuz sterben zu können. Hier wurzelt und gründet Luthers gesammte (antischolastische) ,Theologie des Kreuzes‘. Die thatsächliche lebensvolle Einheit (unitio und unio personalis) war im Hinblick auf den Trost der realen Versöhnung das treibende Motiv und das Hauptinteresse des lutherischen Glaubens, wie der lutherischen Christologie. Das ,Wie‘ blieb nicht blos räthselhaft und fraglich, sondern die Glaubensplerophorie wagte das in scholam aeternam referre. (79)
21 Von Oettingen weist öfter auf die Rede Luthers über das „an der Krippen stehen“ (ad praesepe constare) hin; da sei die Himmelsleiter anzulegen. Man soll also nicht „den Deus nudus et absolutus fassen wollen […], sondern den Deus involutus et incarnatus ,in den Windeln Jesu‘ erkennen und lieb gewinnen (vgl. Opp. Lat. 19, 22ff. ad. Ps. 51)“ (14; vgl. z. B. 1900c, 93 [im Anschluss an die Erörterung zur dogmatischen Behandlung der Gotteslehre]).
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Die Theologie des Kreuzes erkenne Gott in der Einheit von Gott und Mensch. Der Tod Christi als das Heilsereignis impliziere, dass in Christus Gott selber (gegenwärtig) ist. Das Geheimnis des Kreuzes Christi und das Geheimnis der Person Christi gehören also zusammen. Ich komme darauf in Kürze zurück. Dass von Oettingen aus namhaft gemachten Gründen Luther als am tiefsten greifend sieht – und im Horizont seines Überblickes über die christologische Lehrentwicklung scheint mir dies für ihn sowohl für die theologische Tradition vor, als auch für die nach Luther zu gelten –, verdeutliche ich noch durch die Art und Weise seiner Hervorhebung der Hauptdefizite, die er den ausführlich besprochenen „alten Dogmatiker[n]“ der lutherischen Kirche diagnostiziert. Der Generalvorwurf von Oettingens diesen gegenüber lautet,22 dass sie wegen „der Abwehr eines genus tapeimytij|m oder jemytij|m“ (85), „dem Grundgedanken Luthers von der theologia crucis nicht gerecht […] werden“ (80), und in ihrer Christologie tendenziell der doketisch-monophysitischen Gefahr unterliegen und insofern der Kritik einen berechtigten Anlass gegeben haben. Rekapitulation der Einseitigkeiten. Alle Auffassungsweisen der Person Christi, bei denen man systematisch eine ebjonistische bzw. anthropmorphe Tendenz diagnostizieren kann, hätten zwar ihre Berechtigung darin, dass sie das Menschsein Christi, seine volle geschichtliche Wirklichkeit, ernst nehmen wollen, seien zugleich jedoch problematisch, insofern sie auf Kosten der wahren Gottheit Christi erfolgen. In beiderlei Hinsicht, sowohl positiv als auch negativ, seien jene Behandlungen der Problematik aber lehrreich, ebenso auch die doketisch-theomorphe Einseitigkeit. Auf beiden Seiten werde „die Idee der Gottmenschheit oder Gottesmenschheit […] angestrebt“ (83), anderenfalls wären sie keine christlichen Missverständnisse und Irrwege. Allerdings würden sie dem Bekenntnis zum wahrem Menschsein und wahrem Gottsein Christi eben auch nicht gerecht. Implizierte Grundannahmen als Deutungsrahmen. Die christologischen Hauptirrtümer lassen sich auf ihre jeweils vorausgesetzten Grundannahmen oder Verständnishorizonte hin erschließen. In einer systematischen Orientierung analysiert von Oettingen idealtypisch anhand der Extrempositionen die weltanschaulichen Implikationen der anthropomorphistischen und theomorphistischen Richtung (85–89).23 Der Gebrauch des Terminus „Weltanschauung“ oder „Weltansicht“ ist hier umfassend gemeint, als mehr oder weniger explizierte Lösung der suchenden Menschen für „das Welträthsel“ (86). Er bezeichnet das implizierte Wirklichkeitsverständnis sowohl in seiner „speculativ-philosophisch[en] oder religiös-theologisch[en] (meta-physisch[en])“ als auch in sei22 Das gilt hier, im christologischen Abschnitt seiner Dogmatik, aber in der jeweiligen Konkretisierung auch in den anderen Kapiteln der Dogmatik. 23 Vgl. 35; vgl. auch 1897a, 158–228.
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ner „praktisch[en] und moralisch[en] (meta-ethisch[en])“ Dimension (ibid.). In den christologischen Einseitigkeiten spiegelt sich von Oettingen zufolge einerseits die deistische, andererseits die pantheistische Weltanschauung wider.24 Er expliziert die jeweils leitendenden Hintergrundannahmen mit Blick auf Gott und dessen Verhältnis zur Welt, auf den Menschen und seine Freiheit sowie auf die Sünde und versucht transparent zu machen, wie die jeweilige Antwort auf die Christusfrage weltanschauliche Verpflichtungen einschließt und die verschiedenen Christusbilder somit Auskunft über das Wirklichkeitsverständnis geben.25 Ich gehe darauf nicht näher ein, sondern markiere nur den jeweiligen Deutungsrahmen. Es handelt sich um eine Zurückführung verschiedenartiger Ansätze und Theorien auf ihre ähnliche Grundstruktur. Auf der einen Seite liege ein einseitiges Insistieren auf die Transzendenz Gottes, auf seine Weltjenseitigkeit, also ein abstrakter Monotheismus zugrunde. Auf der anderen Seite betone man in pantheistischer Tendenz Gottes Immanenz.26 Von solchen Grundpositionen her gelange man mit Blick auf Christus auf Irrwege. Obwohl die beiden Extreme scheinbar schroff gegensätzlich sind und einander exkludieren, will von Oettingen zeigen, wie sie sich doch in vielerlei
24 Vgl. 1897a, 169–175; 1900c, 125–140. Bei der Behandlung der Heilsvoraussetzungen in der (dogmatischen) Ontologie, Hamartologie und Teleologie wurde stets versucht, die Erörterung im Zusammenhang der andersartigen und gegensätzlichen Grundoptionen zu verantworten. Insofern ist von Oettingens Arbeitsweise keine monologisch-einlinige, sondern eine dialogisch-anknüpfende. Bei den einzelnen Themen und Topoi erfolgt eine Orientierung über die Denkmöglichkeiten, wodurch die christliche Stimme in den Rahmen des Streites um die Wirklichkeit, die Suche nach der Lösung des „Welträtsels“ gerückt und in ihrer Eigenart profiliert wird. Die Gesamtdarstellung des christlichen Glaubens bietet zugleich eine Orientierung in der weltanschaulichen und religiösen Vielfalt. Sie ist eine beispielhafte Bemühung, die orientierende Kraft des Glaubens zu denken und auszuarbeiten. Man kann also keinesfalls sagen, dass es ein bloßer Binnendiskurs ist. Vielmehr wird, jedenfalls dem Anspruch nach, die christliche Perspektive gerade zu den verschiedenartigen weltanschaulichen (inkl. praktischen) Grundproblemen des Lebens und zu deren wichtigsten Lösungsansätzen in Beziehung gesetzt. Im Modus der theologischen Reflexion wird der christliche Glaube ausdrücklich in die öffentliche Auseinandersetzung um das Verständnis der Wirklichkeit eingebracht. 25 Das kann m. E. durchaus als eine Konkretisierung des Sinns, in welchem die theologia crucis von Oettingen zufolge eine Erkenntnis der Wirklichkeit, erschlossen in Christus, ist, verstanden werden. Sie ist keineswegs „nur“ Erkenntnis-„theorie“ oder Offenbarungs-„theorie“, keineswegs „nur“ Erkenntnis-„Kritik“ o. ä., sondern auch eine spezifische Wirklichkeitsauffassung, Erkenntnis und Darstellung der Wirklichkeit und kann insofern in verschiedenen Richtungen reflektiert werden. 26 Ein solcher Monophysitismus kann nach der Analyse von Oettingens in feineren Formen (in mystischer oder logischer bzw. spekulativer Gestalt), aber auch in gröberen Gestalten als Naturalismus oder gar Materialismus auftreten. Vgl. hierzu schon seine Schriften aus den 1860er Jahren, die sich als Beiträge zur Gegenwartshermeneutik, zur Analyse und Deutung wichtiger weltanschaulicher Strömungen seiner Zeit, aber zugleich als öffentliche Rechenschaft des Glaubens lesen lassen (1865d, 1865e, 1867a; oben Kap. 6).
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Weise berühren und ineinander übergehen und verfolgt sie bis zu ihren Konsequenzen in der Auffassung der christologischen Frage.27 Neuere Christologie. Eine solche systematische Orientierung bildet die Vorlage für eine eingehende, viele Autoren einbeziehende Betrachtung und kritische Würdigung des Entwicklungsganges der neueren Christologie bis in die eigene Gegenwart hinein. Eine Zentralstellung bekommen die Christologien von Kant, Schleiermacher und Hegel,28 die in ihrer Aufnahme in verschiedene Richtungen hin skizziert werden. „Aus der mannigfaltigen Combination dieser dreifachen Anschauung des christologischen Problems würden sich die verschiedenen Formen des ,modernen‘ Gegensatzes gegen die biblisch-kirchliche Ueberlieferung, sowie die Eigenart der betreffenden positiven Auffassungen der Person Christi“ erklären (92). Eine hervorgehobene, aber weniger selbständige Position bekommt die Christologie Ritschls, die von Oettingen von Kant, Schleiermacher und Lotze her interpretiert. Den Uebergang zu diesen ,modernen‘ Gestaltungen des Problems bildet die socianische Christologie mit ihrer scharfen Kritik der biblisch-kirchlichen Lehrgestaltung. Alle bis zum Ueberdruß wiederholten Argumente der Gegenwart, wie sie gegenüber der mißverstandenen oder mißdeuteten ,Lehre von den zwei Naturen in Christo‘ vorgebracht zu werden pflegen (namentlich von den Anhängern der Ritschl’schen Schule) erscheinen hier vorausgenommen. (90)
Deshalb widmet von Oettingen auch dieser paradigmatischen Kritik und ihren Gründen – zum Ausgangspunkte diene „jener reformirte Grundgedanke: nulla natura recipit in se contradictoria“ (90, vgl. 77f) – besondere Aufmerksamkeit. In instruktiver Weise werden deren Hauptargumente rekonstruiert und überprüft.29 Sodann beleuchtet er die weitere Entwicklung, die keineswegs nur negativ als eine simple, einlinige Verfallsgeschichte zur Darstellung kommt. Insbesondere hebt er Schleiermachers „ungeheure[n] und unbestreitbar segensreiche[n] Einfluß bis in die Gegenwart hinein“ hervor (93), aber z. B. auch die „scharfsinnige Kritik“ von David Friedrich Strauß gegen Hegel. Konstruktiv bahne die sog. linke hegelsche Schule jedoch den Weg „zur naturalistischen Verherrlichung der ,Menschheit‘, die es so herrlich weit gebracht, mit dem persönlichen Gott und dem persönlichen Gottmenschen auch die ,Religion‘ zu 27 „Die Erklärung für diese Berührungspunkte der entgegengesetzten Extreme liegt in ihrer Stellung zur Sünde. Es fehlt ihnen beiden – sowohl der deistischen Transscendenz- wie der pantheistischen Immanenztheorie – an einer tieferen Werthung des Schuldbegriffs.“ (89; vgl. 1900c, 434, 455f; 1897a, 158–176). 28 „Die Verbindungslinie zwischen Kantischer, Schleiermacherscher und Hegelscher Christologie liegt in der Idee der ,Menschheit Gottes‘. Nur daß Kant sie moralisch faßt, Schleiermacher sie religiös kennzeichnet, Hegel sie logisch entwickelt.“ (94). 29 Vgl. auch die Behandlung der sozianischen Hauptargumente gegen die kirchliche Trinitätslehre (1900c, 228–230) und gegen die kirchliche Versöhnungslehre (1902a, 257–261).
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negieren und sich selbst auf den Thron Gottes zu setzen“ (96). Es sei merkwürdig, dass die rechte hegelsche Schule trotzdem „jene pantheistisch angehauchte christologische Speculation dem kirchlichen Dogma anzupassen, ja beide zu verschmelzen versucht“ (ibid.). Solche christologischen Deduktionen und spekulativen Argumente könne man bis in die Gegenwart, i. e. noch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert antreffen. Die Besprechung der Christologie Ritschls und seiner Schüler30 charakterisiert er zusammenfassend als verschwommen und schillernd, insofern sie die Gottheit Christi weder zu leugnen wage (weil in ihm Gott selbst offenbar sei), noch deutlich und klar auszusagen vermöge (vgl. 99). Hindernd wirke hier Ritschls Erkenntnistheorie, seine Ablehnung aller Metaphysik und seine Auffassung des Bekenntnisses zu Jesus als Christus als ethisch-religiöse Wertung seiner Person (wobei die ontologischen Implikationen der Wertung für Ritschl nicht als Thema gelten können). Vor allem hänge es jedoch an seinem mangelhaften-oberflächlichen Sündenverständnis (eine Vertiefung könne im Zusammenhang mit dem Kreuz Christi erfolgen, dessen Bedeutung Ritschl jedoch nicht gerecht werde) und seinem defizitären Verständnis von Gott und dem Menschen und ihrem Verhältnis. Jene Christologie bleibe also verwirrend und unklar : Einerseits, weil ihr der Hebelpunkt des Verständnisses: das tiefere Sündenbewußtsein und Versöhnungsbedürfniß fehlt; andererseits, weil sie eine wirkliche und wahre Selbstversenkung Gottes ins Fleisch, also eine Menschwerdung Gottes im vollen und wahren Sinne nicht lehren kann und will. Denn das wäre einerseits eine ,Herabsetzung Gottes‘, andererseits eine Zerstörung des ,allmählich werdenden Charakters Jesu‘. (99)
Dagegen weist von Oettingen darauf hin – dies bildet zugleich den Schluss der dogmen- und theologiegeschichtlichen Orientierung und somit der Kontextualisierung des Weges, auf dem er in eigener Verantwortung gehen will –, dass „gerade die menschliche Lebensentwicklung Jesu uns die tiefsten Blicke in die ,wesenhafte Gottheit‘ des Heilandes thun läßt, der durch seinen Kreuzesthod und seine Verherrlichung uns erlöst und versöhnt, ja die Welt aus den Angeln gehoben hat“ (100) Genau dies zu zeigen, sei die Aufgabe der Soterologie. In diesem Hinweis ist enthalten, dass für von Oettingen der Tod und die Auferstehung zentrale Momente der Geschichte Jesu sind, dass v. a. von hier aus seine (soteriologische) Bedeutung zu verstehen sei, und dass es der Glaube sei, der in
30 Im Vergleich zu den im Jahr 1897 und 1900 erschienen Bänden ist im zweiten Teilband seines Systems aus dem Jahr 1902 Adolf Harnack derjenige Schüler Ritschls, mit dem er sich am meisten auseinandersetzt. Vor allem Dank der als Bestseller veröffentlichten Vorlesungen über Das Wesen des Christentums aus dem Jahr 1899/1900 konnte Harnack als ein führender Repräsentant der Theologie jener Schule wahrgenommen werden.
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diesem Menschen und in seiner Geschichte die reale Gegenwart Gottes wahrnimmt. Im Vergleich zu „d[er] sogen. ,moderne[n]‘ Vermittlungstheologie“ oder der Ritschl-Schule hätten „gerade die Vertreter der ,positiven‘ Theologie und Theanthropologie für die Selbsterniedrigung und Selbstbeschränkung des wahren Heilsgottes in Christo ein tieferes Verständniß“ (100). Als konkrete Beispiele nennt er einige Namen, die jene Vielfalt erahnen lassen, die trotz aller Unterschiede in ihrer Grundhaltung für ihn als „positiv“ zu betrachten ist: G. Thomasius, J. Hofmann, R. Frank, C. Luthardt, M. Kähler, J.A. Dorner, Philippi und J.T. Beck. Als am weitesten führend und dem am nächsten kommend, was er selbst in der Christologie vor Augen hat, betrachtet von Oettingen trotz mancher Vorbehalte J.T. Beck und vor allem Martin Kähler.31
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29.3.1 Selbstbeschränkung und Tod Gottes In einem Meilenstein der neueren theologischen Diskussion, seinem großen „Studienbuch“32 Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus hat Eberhard Jüngel – vom Wort vom Kreuz her – darin die Grundaporie der abendländischen Theologie erblickt, dass die nach der metaphysischen Tradition gedachte Vollkommenheit Gottes die Vorstellung vom Leiden Gottes oder gar vom Tod Gottes ausgeschlossen habe. Er nennt das die Aporie der Absolutheit Gottes. Trotz einigen Theologen der Alten Kirche, trotz Luther, trotz Hegel und seinen theologischen Nachfolgern, die diese Aporie wahrnahmen und zu lösen versuchten, bleibe sie in der theologischen Tradition weitgehend unberücksichtigt und gelte vielmehr als Axiom. Die Konsequenzen des Todes Jesu für den Gottesbegriff bleiben also unbedacht.33 Erst Karl Barth habe in seinem Spätwerk „die durch Luther und Hegel immerhin eröffneten Denkwege entschieden zu gehen gewagt“.34 31 Vgl. 1900c, 1f, 4, 24f, 129, 134, 183; insb. 275 und 295. Er bezieht sich auf die folgenden Arbeiten Kählers: ders., Christologie; ders., Jesus; ders., Versöhnung; ders., Die Wissenschaft der christlichen Lehre. 32 Jüngel, Gott, xiii. 33 Vgl. ibid., 50f. 34 Ibid., 51. „Die Geschichte der Entfremdung zwischen der Theologie und der Rede vom Tode
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Wie die vorangegangene historisch-systematische Rahmenskizze angedeutet hat, teilt von Oettingen in wichtigen Hinsichten das Problembewusstsein Jüngels. Anstatt die Absolutheit Gottes vorzustellen35 sensibilisiert von Oettingen durch seine ganze Dogmatik hindurch für die Wahrnehmung der Selbstbeschränkung Gottes. Schon am Anfang, in der christlichen Ontologie, in der unter dem Gesichtspunkt der Heilsfähigkeit des Menschen bezogen auf Gott und die Welt zuerst das Gottesverständnis bzw. der Gottesbegriff erörtert wird, aber in jeweils passender Modifikation und Konkretisierung auch in allen anderen Abschnitten der Dogmatik, macht er darauf aufmerksam. Auch konstatiert er es als eine vorherrschende Tendenz, letztendlich mit einem abstrakten Gottesbegriff zu operieren, obwohl die Implikationen des Christusereignisses im Gottesverständnis selbst meist nicht hinreichend zum Zug kommen. Unter der Prämisse der Leidensunfähigkeit Gottes habe man dann versucht, auch die Frage nach der Person und der Bedeutung Christi zu beantworten. Die programmatische Bezugnahme von Oettingens auf Luthers theologia crucis drückt die Überzeugung aus, dass Luther eine christologisch-soteriologisch orientierte Vertiefung und Erneuerung des Gottesbegriffs angebahnt habe und dass dabei dem Kreuz Christi – dem Tod Gottes – die Schlüsselstellung zukomme. Einer der Hauptkritikpunkte von Oettingens gegenüber den späteren altevangelischen Theologen ist deshalb, dass sie nicht bereit seien, das Leiden und den Tod Gottes in Christus zu denken (i. e. genus taipenotikon oder kenotikon ablehnen) und deshalb dem Grundgedanken der theologia crucis nicht Gottes ist an ihrem Anfang vor allem markiert durch die Denkleistung Georg Wilhelm Friedrich Hegels“ (ibid., 72). Bei Bonhoeffer erfolge die Wende oder jedenfalls die Bodenbereitung für die gegenwärtig (Jüngels Buch erscheint 1977) sich vollziehende Heimkehr dieser Rede in die Theologie, und zwar durch die im Gefängnis gemachten Aufzeichnungen, auf die alle sich für eine Gott-ist-tot-Theologie Aussprechenden zurückgegriffen hätten, wobei Bonhoeffer seinerseits an Karl Barths Religionskritik angeknüpft habe (vgl. ibid., 73f). Jüngel sieht den Unterschied zwischen Bonhoeffer und jenen Gott-ist-tot-Theologen der Gegenwart v. a. darin, dass letztere wegen des neuzeitlichen Atheismus den Gottesbegriff verabschieden wollten, Bonhoeffer dagegen erneut nach einem christlichen Gottesbegriff frage. Aufgrund des Beispiels eines Hauptvertreters der damaligen Initiative, Thomas Altizer, konstatiere ich allerdings, dass dieser Unterschied von den Theologen des Todes Gottes, jedenfalls in seinem Fall, nicht so gesehen wurde. Altizer hat nämlich bis heute nicht aufgehört, intensiv (und auch literarisch höchst produktiv) theologisch zu denken und ist somit keiner theologischen Sprachlosigkeit anheimgefallen. Mark C. Taylor hat allerdings sachlich neuerlich Jüngel zugestimmt, indem er festhält: „What Altizer refuses to acknowledge is that the death of God is incomplete apart from the end of theology. To remain faithful to the course Altizer follows, it is necessary to betray him by ceasing to speak theologically.“ (Taylor, Betraying Altizer, 11). 35 In seiner pneumatologischen Programmschrift der Dogmatik heißt es (1895b, 66): „Stellt man die ,Absolutheit‘ oder gar ,das Absolute‘ in den Vordergrund der christlichen Gotteslehre, wie z. B. unter Vorgang älterer kirchlicher Dogmatiker Luthardt und Frank thun, so dürfte es schwer, ja unmöglich sein, die tiefgreifende Idee der Selbstbeschränkung Gottes zu wahren.“ (Vgl. 1895b, 66–85; oben Kap. 6).
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gerecht werden. Die sog. altdogmatische Christologie bedürfe „einer Erweiterung und Vertiefung durch die biblisch vollberechtigte Idee einer Selbstbeschränkung und Leidensfähig-keit Gottes“ (128, vgl. 85).36 In methodisch-hermeneutischer Hinsicht erörtern und entfalten die Theanthropologie und die Soterologie bei von Oettingen also das Persongeheimnis Jesu und sein Geschick. Es werden aus der Perspektive des im Glauben aufgenommenen Wortes vom Kreuz, i. e. der gegenwärtigen Wirksamkeit des Auferstandenen und Erhöhten, die in den Evangelien bezeugten Grundmomente interpretiert. Auch das irdische Geschick Jesu wird somit unter dem Gesichtspunkt beleuchtet, dass in diesem Menschen und seiner Geschichte Gott selbst wirklich gegenwärtig und „geheimnisvoll offenbar“ sei. Von Oettingen ist der Ansicht, es gelte das genaue Gegenteil der Meinung Kants und der (neu-)kantisch geprägten Theologie, die gegenwärtig, i. e. um die Jahrhundertwerde, in der theologischen Landschaft vorherrsche. Es sei nicht so, dass das sog. „Lebensbild Jesu“ kein Vorbild für uns sein könne und praktischethisch seine Bedeutung verliere, wenn, in der Weise des Dogmas, seine Präexistenz und Göttlichkeit betont werden. „Nur wenn […] dieser Mensch wirklich Gott ist, wird er uns nicht blos Mittler und Versöhner, sondern auch nachahmungswerthes Vorbild und Urbild der sich selbst entäußernden Liebe, die in freiwilligem Gehorsam den Weg des Leidens geht und uns durch das Kreuz zur Krone führt.“ (19)37 Insofern und weil gerade das Kreuz, das Leiden und der Tod 36 Im Appendix zur eigenen Interpretation des sog. Standes der Erniedrigung bezieht sich von Oettingen aus methodischen und sachlichen Gründen kritisch auf die sog. kenotische Theorie im 19. Jh. als einen Vorschlag das „soterologische Gehemniß“ zu entschlüsseln (vgl. 130–134; 1895b, 15–19) und v. a. zum Verständnis des sog. Standes der Erniedrigung anzuleiten. Im Unterschied zu Ritschl, der die kenotische Theorie strikt ablehnt – von Oettingen zufolge letztendlich deshalb, weil er die Selbstbeschränkung Gottes gar nicht denken könne und wolle –, sieht er diese insofern berechtigt, als dass sie sich „um die Idee und Wirklichkeit einer ,Selbstbeschränkung Gottes‘ bewegt“, obwohl auch er die Theoriegestalten der neueren Kenotiker in je verschiedenem Maß für problematisch hält (1902a, 130; vgl. kritisch auch 1867a). Besonders ist von Oettingen gegen die Überzeugung, wie sie in extremer Form bei Gaß, aber auch bei Hofmann und Frank nachweisbar sei, eine „Umwandlung der göttlichen ,Seinsweise‘ in die ,Seinsweise des Fleisches‘“ oder „eine ,Aufgebung göttlicher Eigenschaften‘ zum Zweck der Selbsterniedrigung und Heilsoffenbarung“ annehmen zu müssen (1895b, 15). Um das Menschsein und die menschliche Lebensentwicklung Jesu verstehen zu können, kommen für ihn weder ein Depotenzierungsmodell (Preisgabe der Gottheit) noch ein Evolutionsmodell (eine allmähliche Ineinsbildung des Göttlichen und des Menschlichen im Leben Jesu) in Frage. Im Gegenüber zu jenen Modellen bezeichnet er seinen eigenen Versuch „wissenschaftlich“ als eine „Konzentrationshypothese“ (vgl. 1902a, 132; 1895b, 75). Zum Verhältnis zu Kähler vgl. 1895b, 16, 75; zu Beck vgl. 1895b, 16f, 43, 109, 138, 145. 37 „[V]ordbildlich, urbildlich, nachahmenswert und auf die Gemeinde übertragbar, d. h. religiös und ethisch für Glauben und Leben verwerthbar erscheint uns der biblisch-geschichtliche Christus nur unter der Voraussetzung, daß wir sein echt menschliches Leben und Leiden, Reden und Thun, vor Allem sein erlösendes Wort und versöhnendes Werk mit
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Jesu, „im eminenten Sinne die Erscheinung des Göttlichen für uns“ sei (so zustimmend zu Otto Holtzheuer), liege hier der Konzentrationspunkt all unserer Theologie (ibid.). So lässt sich auch verstehen, warum von Oettingen seine Dogmatik nicht nur als eine christozentrische, sondern pointiert auch als eine staurozentrische charakterisieren kann.38 Nicht jede Christozentrik braucht dem Kreuz eine Zentralstellung für die theologische Erkenntnis oder für den Gottesbegriff einzuräumen – denkt man z. B. an die Christologie Schleiermachers oder auch Ritschls. Für von Oettingen handelt es sich gerade deshalb um das „Integral“ (E. Jüngel), weil das Kreuz das Wesen Gottes betrifft. Wie ich bei der Erläuterung der dogmatischen Behandlung und Gliederung der Christologie deutlich gemacht habe, erschöpft sich die Heilsbedeutung Christi für von Oettingen keineswegs in der Bedeutung seines Todes. Auch die Figur der Selbstbeschränkung bzw. der Selbstkonzentration Gottes, auf die er zurückgreift, um den Menschen Jesus in seiner ganzen Lebensgeschichte als das Offenbarwerden des Heilsgottes – als die Gottesherrlichkeit in der Knechtgestalt – zu erschließen, bezieht sich keinesfalls exklusiv auf seinen Tod. Aber „[i]n dem Kreuzgeheimniß gipfelt wie das Geheimniß seiner Person, so die unvergleichliche Herrlichkeit seines Liebesopfers“ (119, vgl. 127).39 Das Leiden und der Tod Jesu betreffen nicht nur das Menschliche, sondern erlauben den tiefsten Einblick in das Göttliche. Doch auch alles, was davor geschieht, die ganze menschliche Geschichte Jesu sei unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Es sei kein Aufgeben, keine Aufhebung oder Einschränkung, sondern vielmehr eine „Selbstconcentration und Selbstbeschränkung der göttlichen Machtfülle und Herrlichkeit“ (85), die sich zur Verwirklichung des göttlichen „Heilswillens“ ereignet.40 Diese Herrlichkeit in Knechtsgestalt stehe also keinesfalls im Widerspruch zum Göttlichen und sei auch keine Veränderung (im Wesen) Gottes. Gerade so entspreche und offenbare sich Gott. Der Kreuzestod sei „trotz aller Schmach zugleich der verklärende Höhepunkt41 seiner Erlöserliebe“ (148).
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steter Beziehung auf seine einzigartige und ewige Gottessohnschaft betrachten und ins Herz fassen.“ (16). „Der lebendige ,Christus in uns‘ weist als das Idealprincip, unserer innersten Glaubenserfahrung gemäß, auf das Realprincip hin: den leidenden und siegreich kämpfenden ,Christus für uns‘.“ (101) In der Soterologie, genauer in der Behandlung des sog. Standes der Erniedrigung, kommt also „der Cardinalpunkt der theologia crucis“ zur Sprache (ibid.). Es ist das Glaubensauge, das in dieser Verborgenheit der Knechtsgestalt und des Kreuzesgehorsams das Göttliche in ihm erblickt (vgl. 148). Vgl. 1900c, Abschnitt III. „[D]ie große Passion, das Todesleiden Jesu sammt den so ergreifenden Einzelheiten, die ihm voraufgehen“ erscheint „als die vollendete Bestätigung, als krönender Abschluß seiner Heilandsmission“ (119).
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29.3.2 Die Selbstbeschränkung Gottes in der Gegenwart: die Auferstehung und das Wort vom Kreuz Von Oettingen macht darauf aufmerksam, dass jene Selbstbeschränkung „in gewissem Sinne“ auch nach der Auferstehung, im sog. Stand der Erhöhung, noch vorhanden sei. Die Selbstoffenbarung des Göttlichen sei noch jetzt heilsökonomisch bedingt, sofern Jesus als unser Herr, als gottmenschlicher Erlöser und Versöhner, „nur durch den Glauben (im Wort vom Kreuz) […], noch nicht im Schauen“ erfassbar sei (110). Es gebe also keinen Zugang zu Christus abseits vom Kreuz. „Die Thatsache der leiblichen Auferweckung an und für sich“ sei nicht im Stande „den Heilsglauben zu begründen“ (155). In der Auferstehung allein könne man also keineswegs den Grund des Glaubens erblicken. Der nicht seltene Verweis auf die Auferstehung als eine Art Beweis für die Wahrheit des Christentums beruhe auf einem völligen Missverständnis. Zu einem Glaubenden werde man nicht ohne „die liebevolle Versenkung in die Person des für uns Gekreuzigten“, ohne die „Hingabe an sein Wort, als ein Wort vom Kreuz“ (ibid.). Von Oettingen insistiert damit darauf, dass Gott für uns – der lebendige Heilsgott, der Gott der Geschichte, der dreieinige Gott42 – in der geschichtlichen Person des Heilsmittlers und nicht als Abstraktion von ihm offenbar geworden ist. Diese Offenbarung in der Verhüllung sei die Art des Heilsgottes: „wie damals, so hüllt es sich für uns noch jetzt […] ,in Windeln‘, d. h. kommt nur durch das ,thörichte Wort vom Kreuz‘ […] und durch die unscheinbaren Sacramente […] an unsere heilshungrige Seele“ (111).43 Jene heilsökonomische „Concentration des Heilsgottes“ gelte der Kreuzgemeinde „gerade als der Erweis seiner barmherzigen Liebe“, worauf auch ihre „Freudigkeit und Heilsgewißheit mitten im Leid und Kreuz dieser Zeit“ beruhe (ibid.). Oder christologisch formuliert: „Christus ist und bleibt immer noch der Geschmähte, der sich in seiner Kreuzgemeinde fort und fort als Leidender und Mitleidender bezeugt (vgl. Kol, 1, 24).“ (120) Kreuz und Auferstehung Christi gehören also untrennbar zusammen. Sich kritisch von Adolf Harnack distanzierend,44 der in seiner Darstellung des Wesens des Christentums dem Kreuz und der Auferstehung keine zentrale Rolle zuweist, bezeichnet von Oettingen sie als „die beide[n] Brennpunkte des Evangeliums“ (163). Alles, was über das Kreuz Christi gesagt wird, erfolgt aus der Perspektive 42 All diese Wendungen bezeichnen auf verschiedene Weise dieselbe Sache (vgl. 1900c, Kap. 1 [Gotteslehre]). 43 Des erhöhten Christi „Weltherrschaft und Weltgegenwart, insonderheit seine Selbsthingabe in der Heilsgemeinde als eine durch den heil. Geist im Wort sich vollziehende“ will „auch geistlich im Glauben erfaßt sein. Sie bleibt dem sinnlichen Auge verborgen.“ (159) Diese Thematik wird im Rahmen der Pneumatologie ausführlich besprochen. 44 Er wirft ihm eine Vermischung von Gesetz und Evangelium und eine ethisierende Reduktion des Evangeliums vor.
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der Auferstehung Christi und seiner Gegenwart als Erhöhter in der Kreuz- bzw. Heilsgemeinde. Für einen Theologen des Kreuzes bestehe also kein Gegensatz, kein Entweder-Oder zwischen den beiden Brennpunkten. In pointierter Weise, die persönliche, gemeinschaftliche und göttliche Dimension in Einem zur Sprache bringend, schreibt von Oettingen: Auch uns wird jener Jubelruf: ,Der Herr ist wahrhaftig auferstanden‘ nicht blos der Unterpfand unserer persönlichen Heilshoffnung […], sondern geradezu die Krönung der gesammten Erlösungsthat Christi, sowie das Losungswort der erlösten Kreuzgemeinde. Denn in der Auferstehung kommt der Tod Jesu erst zu heilsgeschichtlicher Bedeutsamkeit, ja wird zum Hebelpunkt und Quellpunkt unseres wahren, geistlichen Lebens im Reiche Gottes. (156)
In der Auferstehung gelange der Tod Jesu „zu heilsgeschichtlicher Bedeutsamkeit“.45 Durch die Auferstehung werde dieser Tod zur Quelle des wahren Lebens. In Kürze zeige ich noch näher, inwiefern das Zustandekommen des Glaubens in dem Einzelnen als das zum Ziel Kommen des Leidens und des Todes Christi charakterisiert werden kann. Nicht die Auferstehung als solche sei von Relevanz, sondern „die Person des für uns Gekreuzigten“ (155), der als der Auferstandene sich selbst im Wort vom Kreuz (zu erkennen) gibt und im Glauben, im Herzensvertrauen, in der unbedingt vertrauenden Hingabe erfasst wird. Nur wer den lebendigen Heilsgott in seiner Leidensgestalt erlebt und erfaßt, wird aus der Passionsgeschichte Gottes die herzbewegende und überwältigende Herrlichkeit seiner schließlichen Liebes- und Machtoffenbarung schon jetzt zu verstehen und einst mit jubelndem Danke zu begrüßen im Stande sein. (110)
Die Erkenntnis Gottes aus der Geschichte des Leidens und des Todes Jesu, die Erkenntnis Gottes als des Heilsgottes, habe somit Konsequenzen für die Gegenwartsauffassung. Gegenwärtig sei der leidende und mitleidende Gott. Auch und gerade im gegenwärtigen Leiden, so die Wahrnehmung des Glaubens, sei Gott rettend und heilsam am Werk und zwar auf die endgültige Herrlichkeitsgestalt seines Reiches hin. Darin werde nicht die Indifferenz, nicht die Zulassung, nicht die Inaktivität, sondern die Toleranz Gottes erkennbar.46 29.3.3 Das Kreuz Christi: Genugtuung und Stellvertretung (Solidarität) Die Antwort auf die Frage, wie das Werk Christi zu verstehen und zu denken ist, erfolgt bei von Oettingen aus drei Perspektiven. Aus der hohepriesterlichen 45 „Als der Auferstandene haucht Er die Jünger mit seinem Geiste an […] und verleiht ihnen jene Begeisterungsmacht, mit der die früher so Verzagten nunmehr ohne Menschenfrucht vor aller Welt das Evangelium des Lebens in Christo zu verkünden und dafür zu sterben bereit wurden.“ (156). 46 Vgl. oben Kap. 15, unten Kap. 30.
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Perspektive liegt der Fokus der Aufmerksamkeit auf dem Leiden und Sterben Christi, obwohl, wie gesagt, sein ganzes Leben und auch die gegenwärtige Wirksamkeit des auferstandenen Gekreuzigten sich aus diesem Blickwinkel betrachten lassen. Bei der Erschließung der hohepriesterlichen Bedeutung seines Geschickes hebt von Oettingen zunächst die Unumgänglichkeit der Berücksichtigung des alttestamentlichen Hintergrundes hinsichtlich der Opferpraxis hervor.47 Sodann interpretiert er es als „Selbstaufopferung“, die einen genugtuenden und stellvertretenden Sinn habe und deshalb als „Sühnethat“, als „Sühnopfer“ aufgefasst werden könne. Schließlich zeigt er, wie Christus als der Erhöhte die Gabe dieses seines ein für alle Mal dargebrachten Opfers gegenwärtig zur Geltung bringe (vgl. xvi). Die zwei dogmatischen Grundbegriffe, mittels derer von Oettingen die Bedeutung des Kreuzestodes Christi für das Verhältnis von Gott und Menschheit zusammenfassend ausdrückt, sind „Satisfaktion“ bzw. „Genugtuung“ und „Stellvertretung“. Diese Termini der theologischen Fachsprache rekapitulieren ihm zufolge die beiden Hauptaspekte des Kreuzestodes Christi. Er nimmt somit die traditionelle Terminologie auf, ohne allerdings auf eine intensive Überprüfung der Kritik an ihr zu verzichten. Die bei der Neugewinnung bzw. Neubestimmung dieser Begriffe im Hintergrund stehende eingehende Auseinandersetzung mit der Schrift, mit der kirchlichen Lehrtradition und der neueren theologischen Diskussion erfolgt, wie gesagt, im Appendix zur eigenen konstruktiven Darlegung. Das, was in diesem Tod bezogen auf Gott erfolgt, drückt
47 In einer biblisch-theologischen Orientierung mit expliziten Verweisen auf kontroverse Fragen und Positionen der exegetischen Diskussion betont von Oettingen im Gegensatz zu denen, die dem Gedanken des Opfertodes keine zentrale Rolle bei der Erfassung der Heilsbedeutung des Todes Jesu zuteil werden lassen wollen und die „Stellvertretung“ und „Genugtuung“ als biblisch unbegründete Ideen ansehen, dass nur der heilsgeschichtliche und heilspädagogische Gesichtspunkt, der die alttestamentlichen Voraussetzungen berücksichtigt, die Heilsbedeutung des Todes Christi zu würdigen vermag (vgl. 221–226). Bei den alttestamentlichen Voraussetzungen sei vor allem wichtig festzuhalten, dass das Opferblut und das hohepriesterliche Tun eine sühnende Bedeutung haben. Ohne auf jene alttestamentlichen Voraussetzungen zu achten, lasse sich die Lehre vom hohepriesterlichen Sühnopfer Jesu nicht verstehen. Die Frage nach der biblischen Basis dieser Lehre sei ohne das Alte Testament nicht zu beantworten und alle diejenige Positionen, die meinen bei der Identifizierung des Christlichen vom Alten Testament samt der Vorstellungen von Opfer, Sühne und Stellvertretung abstrahieren zu können, irren sich. Es gelte auch hier „genetisch zu verfahren und der weisen Pädagogie inne zu werden“: „Konnten doch die Jünger sogar die Leidensverkündigungen des Herrn […] noch nicht verstehen […]. Die tiefere Bedeutung seiner Passion – seiner Lebenshingabe und seines für sie zu vergießenden Blutes […] – kam ihnen wohl erst nach dem Pfingsttage zu vollem Bewußtsein.“ (226) Seine Befragung der neutestamentlichen Schriften nach Vorstellungen des Sühnopfers Christi schließt von Oettingen mit dem Hebräerbrief ab, der für ihn „in paulinischem Geiste das hohepriesterliche Opfer Christi in den Mittelpunkt der ganzen Heilslehre stellt“ (238f).
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der Begriff „Satisfaktion“ aus. Das, was dabei mit Blick auf die Menschheit geschieht, bezeichnet der Terminus „Stellvertretung“.48 Die Hauptfunktion der dogmatischen Rede von Satisfaktion bestehe darin, pointiert zum Ausdruck zu bringen, dass das Opfer Christi völlig hinreichend und gültig sei, weshalb eine wie auch immer gedachte Wiederholung des Opfers ihren Sinn und ihre Berechtigung verloren habe. Im (Selbst)-Opfer Christi ereignet sich offenbar zweierlei: einerseits der Zorn Gottes gegen die Sünde, andererseits die Liebe und die Vergebung Gottes gegenüber der Menschheit. Hier ist also, so lese ich ihn, auch die Unterscheidung zwischen Person und Werken zu verorten. Die versöhnende Kraft des Opfers Christi hänge damit zusammen, dass es in vollkommener Freiwilligkeit geschehe. Dies führe zu dem zweiten Aspekt des Todes Christi. Von Oettingen kann jenen anderen Aspekt sowohl mit dem Begriff der Sühne als auch mit dem der Stellvertretung umschreiben, nämlich, dass sich darin für die Menschheit eine Stellvertretung ereigne. Hier würden im eminenten Sinn die Tiefe und Tragweite des Solidaritätsgedankens sichtbar. Wenn man nicht bereit sei, hier die Stellvertretung zuzugeben, operiere man mit einer höchst fragwürdigen, atomistischen Auffassung vom Menschsein. Der Solidaritätsgedanke als eine Gestalt des Stellvertretungsgedankens spielt, wie schon in Kap. 17 zu sehen war,49 eine wichtige Rolle im Denken von Oettingens. An dieser Stelle erinnert er die Leserschaft daran und versucht dafür zu sensibilisieren, dass eine Selbstaufopferung immer im Namen von etwas und von jemandem geschehe. Weil es das Menschsein nur im Modus der Solidarität, in Gestalt der Vermittlung zwischen den einzelnen Menschen und der Menschheit gebe, müsse man sagen, dass eigentlich niemand exklusiv nur „für sich“ stirbt. Irgendwie ist davon immer auch die ganze Menschheit betroffen. Wegen der Solidarität in Sünde und Schuld könne man jedoch nicht sagen, dass jemand in Unschuld und also freiwillig stirbt. Unser Sterben trage immer auch den Moment der Folge der Sünde in sich. Allein Christus sei ganz und gar freiwillig – ganz und gar um der Liebe und der Barmherzigkeit willen – und insofern ganz und gar „für uns“ gestorben. Mit Verweis auf Luther deklariert von Oettingen, dass in den Worten „für uns“, die den Solidaritätsgedanken implizieren, die einzige Erklärung für das Kreuzesgeheimnis liege. Die Pointe des Geheimnisses des Kreuzes Jesu Christi stecke also in dessen Bedeutung „für uns“. Die Idee der Stellvertretung oder der Solidarität ist daher höchst wichtig. Die Erschließung des Kreuzesgeheimnisses, des „hohepriesterlichen“ Werkes Christi von einem solchen „social-ethischen Gesichtspunkte“ aus, mache dessen „menschheitlichen (humanen) Charakter“ transparent (212f). Es ist jene Perspektive, für die von Oettingen auf andere 48 Vgl. zur Begriffsgeschichte bis Immanuel Kant: Schaede, Stellvertretung; Schaede, Aufgabe. 49 Vgl. unten Kap. 30.
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Weise mit seinen moralstatistischen Untersuchungen und seiner sozialethischen Arbeit insgesamt versucht hat zu sensibilisieren. Jene sozialethische Perspektive, für die die Einsicht in die Solidarität der Menschheit konstitutiv ist, kommt also auch im Verständnis des Kreuzestodes Jesu zum Tragen. Auch dieser lasse sich nur unter der Voraussetzung der Solidarität der Menschheit begreifen. Anders formuliert: Gerade hier werde die Wichtigkeit und die Berechtigung der sozialethischen Grundeinsicht sichtbar. Dass das Werk Christi eine menschheitliche Relevanz hat, lasse sich nur aus diesem Blickwinkel denken. In einer Neuinterpretation legt von Oettingen das Recht der oft missverstanden und missbrauchten Rede von den zwei zusammengehörigen, jedoch unterscheidbaren (aktiven und passiven) Gehorsamsaspekten in der liebenden Selbstgabe und Selbstopferung Christi frei. Sie hätten eine gewisse Entsprechung im aktiven und passiven Moment der menschlichen Sündhaftigkeit (vgl. 212f; 1900c, 488–530). Wichtig sei zu beachten, dass das ganze Werk Christi und nicht nur sein gewaltsamer Tod den Charakter des Leidens, der Selbstgabe und Selbstbeschränkung trage. Doch sei sein Leidensweg und Kreuzestod so zugleich die höchste Liebestat, die höchste Tat seines freiwilligen Liebesgehorsams. Er dürfe also keineswegs allein als Geschick und Widerfahrnis, ausgelöst von den „Fürsten“ dieser Welt, betrachtet werden, obwohl jener Sinnaspekt auch nicht unberücksichtigt bleiben dürfe. Mitleidend mit der Sündennot der Menschheit trage er diese und deren Konsequenz. Indem er sie erträgt, überwindet er sie. Deshalb sei der Tod Christi nicht nur als das (gewaltsame) Ende seines Lebens zu verstehen – obwohl, wie gesagt, dieser Tod durchaus auch jenen Sinn habe –, sondern seine „Dornenkrone“ sei zugleich seine „Siegeskrone“. Indem also sein ganzes Werk in jener Dimension des stellvertretenden Leidens ins Auge gefasst wird, bilden hier das passive und aktive Moment unter dem Vorzeichen des letzteren eine spannungsvolle Einheit. Es sei ein Leiden mit uns aus Liebe und Mitleid für uns. Der Tiefpunkt des Leidens sei zugleich der Höhepunkt seiner Liebestat. Auf diese Weise ereigne sich die – objektive – Rechtfertigung der Menschheit vor Gott. Von Oettingen integriert in seinen Versuch, den Kreuzestod Christi zu deuten, verschiedene Metaphern und Vorstellungen, die sich im Rahmen seiner Sinn(-re)konstruktion auch wechselseitig erhellen. Er spricht von einem „tieferen Verständnis“, von einem Verständnis – so interpretiere ich ihn –, das tiefer greift, nicht bei dem Augenscheinlichen und historisch Feststellbaren stehen bleibt, das Ergebnis einer „gläubige[n] und dankbare[n] Betrachtung“ ist (214, 216). Eben deshalb lässt sich von dem Geheimnis des Kreuzes sprechen. Damit werden auch solche Sinnbezüge angesprochen, die wohl einer rein historischen Betrachtung verborgen bleiben, sich aber auch nicht in eine erschöpfende, in eine vollkommene Transparenz versprechende und somit das Geheimnisvolle hinter sich lassende Begriffsgestalt transformieren lassen. Dieses wahre Ge-
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heimnis des Kreuzes sei allerdings, wie von Oettingen betont, nicht mit dem „geheimnißvoll-mystischen Dunkel einer Blut- und Wundentheologie“ zu verwechseln, in die er sich ausdrücklich nicht begeben will (215). Die Gefahren einer Sentimentalisierung und Verflachung seien akut. Doch das „darf uns nicht hindern, in das Verständniß des Kreuzgeheimnisses tiefer einzudringen“ (216). Jenes Eindringen erfolge aus der Perspektive des Glaubens (und somit auch der Freude und Dankbarkeit).50 Aus dieser Perspektive erscheine der Tod Christi als seine Selbstaufopferung „für uns“. Das Verstehen dieses Geheimnisses, als ein Verstehen, das auch die alttestamentlichen Voraussetzungen und Vorbildern zu berücksichtigen hat, bleibe stets ein versuchsartiges und ahnendes Verstehen. „Der hohepriesterliche Sühnopfercharakter seines Todes“51 trete v. a. im Zerreißen der Scheidewand zwischen Gott und seinem Volk hervor (dies sei der Sinn der diesbezüglichen neutestamentlichen Berichte), aber auch darin, dass das Blut Christi eine reinigende Macht habe. Das Blutvergießen zeige nicht nur, dass der Tod Christi gewaltsam erfolgt, sondern auch, dass dieser Tod – als Selbstaufopferung – sühnend und versöhnend sei (vgl. ibid.). Das Vergießen des Blutes verkörpere und versinnbildliche seine „Liebes- und Lebenshingabe“ und wolle deshalb „als der sinnbildlich-reale Ausdruck für die wirkliche Seelenhingabe des Herrn gefaßt und gewerthet sein“ (ibid.). Von Oettingen weist auch wieder auf die Zusammengehörigkeit dieser Erkenntnis mit dem gegenwärtigen Gottesdienst und der Abendmahlspraxis hin.52 Dies nämlich, daß es ,für uns‘, d. h. uns zu gut, weil an unserer Statt vergossen ward, wird in der christlichen Heilsgemeinde fort und fort erlebt und erfahren in dem h. Sacrament des Altars (§48). (Ibid., vgl. 220).
Nachdem von Oettingen den Weg Jesu bis zum Tod als Sühnopfer von genugtuendem und stellvertretendem Charakter und als Kulmination seines heilsmittlerischen Wirkens erschlossen hat, erinnert er nochmals an die hermeneutische Perspektive, aus welcher dieses Verständnis aufrechterhalten wird. „[D]as ganze hohepriesterliche Werk Christi ist […] als solches nur dem Glauben […] zugänglich und verständlich.“ (216) Damit ist aber zugleich ein 50 „Wir dürfen und sollen mit zitternder Freude und kindlicher Dankbarkeit den unendlichen Werth der Selbstaufopferung Christi zu erfassen suchen. Wir lernen es ahnend verstehen, warum und in welchem Sinne das ,Blut des neuen Testamentes‘, das der scheidende Herr den Seinen darreicht ,zur Vergebung der Sünden‘ solch’ eine reinigende und sühnende Macht besitzt.“ (216). 51 Obwohl das zunächst nicht ganz deutlich wird, gilt es für von Oettingen m. E. als eine (biblische) Ausdruckweise für das, was er als „Stellvertretende Genugtuung“ bezeichnet. 52 Insofern kann man sehr wohl sagen, dass Theologie im Gottesdienst ihren Ausgang hat (vgl. Bayer, Theologie). Dieser ist die Anbetung Jesu, die Teilhabe an dem für uns vergossenen Blut etc. Und die Theologie, jedenfalls in Gestalt der Dogmatik, zielt stets auf die (eschatologische) Doxologie.
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weiterer Aspekt der hohepriesterlichen Wirksamkeit Christi, seines Opfers und seiner Selbstgabe angedeutet. Jene hohepriesterliche Wirksamkeit ende nämlich nicht mit dem Kreuzestod, sondern „ragt […] in die Gegenwart hinein, ja […] trägt Ewigkeitscharakter vor dem Angesichts Gottes“ (217). So wie das prophetische Wirken, sein Selbstzeugnis, mit seinem Tod nicht zu Ende gehe, sondern „sich durch seinen h. Geist fortsetzt“, so erweise sich „die Frucht seines Todes durch den Auferstandenen […] als eine stetig fließende Quelles des Heils“ (ibid.). Er trete beim Vater für uns ein und bringe durch seine hohepriesterliche Fürbitte „sein ewig währendes Verdienst zur Geltung“ (ibid.). Mit Blick auf eine gängige Hauptkritik betont von Oettingen, dass es auch bei dieser Fürbitte Christi, so wie bei seinem Sühnopfer oder seiner stellvertretenden Genugtuung, keinesfalls um Ausgleich oder Beruhigung des göttlichen Zornes gehe, sondern um „die Liebesgesinnung“, um „die Gnade und Barmherzigkeit Gottes des Vaters, die uns offenbar und gewiß werden soll“ (ibid.).53 [I]n dem Maaße als der ,Christus für uns‘ der (objective) Realgrund für die Möglichkeit der Sündenvergebung und für die Wirklichkeit unserer Heilsgewißheit geworden ist, wird der himmlisch Verklärte, in lebendigem Glauben angeeignet, als der ,Christus in uns‘ der (subjective) Idealgrund unserer Heilshoffnung, unserer Rechtfertigung auf Erden und unserer ewigen Seligkeit in seinem himmlischen Reiche (§58). Dann erst wissen wir, daß wir ,einen versöhnten Gott‘, daß wir ,Frieden mit Gott‘ haben. Unsere theologia crucis wird durch die Geistwirkung des himmlisch Verklärten zur theologia lucis. Unser dogmatisches Realprincip steht dann erst in lebendiger Wechselwirkung mit unserem dogmatischen Idealprincip. Das christocentrische Moment in ihm trägt wesentlich staurocentrischen Charakter. Die Person Jesu als des einigen Heilandes und das Kreuz Jesu als des Todesüberwinders gehören nothwendig zusammen. (217f)
Die Entsprechung und Zusammengehörigkeit des „Christus für uns“, das im Kern die Vollgültigkeit der stellvertretenden Satisfaktion signalisiert (i. e. die reale Identifikation Gottes mit dem Tod in der Person Jesu, die reale Gegenwart Gottes im Tode Jesu), und des „Christus in uns“, das die je persönlich erlebte Gegenwart des auferstandenen Gekreuzigten festhält, beansprucht die Beseitigung allen Scheins, wonach das Festhalten am Tod und der Auferstehung Christi als des zentralen Heilsereignisses mit einer irgendwie äußerlich-juridischen oder mystisch-magischen Auffassung desselben Hand in Hand gehe. Das stellvertretende und genugtuende Opfer Christi ist also – christologisch betrachtet – von der Fürbitte des Erhöhten bzw. des „Christus in uns“, und somit vom Christusglauben, nicht trennbar. Anders formuliert: Durch die persönliche Todes- und Lebensgemeinschaft mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen (durch das Sterben mit ihm, um in ihm und mit ihm zu leben) werde sein „Verdienst“, sein Heilswerk, wahrhaft unser. Es werde uns aus Gnaden geschenkt 53 Joh 17 bringt für ihn diesen Sachverhalt herrlich zum Ausdruck.
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und in Dankbarkeit und vertrauendem Glauben von uns empfangen. Durch den Glauben an Christus, der gegenwärtig für uns eintritt, durch das Sich-Ergreifenund-Führen-Lassen durch seinen Geist, durch das Erleben der Kraft dieses Geistes, d. h. als begnadigter Sünder komme man zur Gewissheit, dass der Herr für mich gestorben und auferstanden ist, dass er auch meine Sünde getragen hat und für mich beim Vater eintritt. Die Heilsgabe Christi werde den einzelnen Individuen so ganz und gar nicht in einer äußerlichen Weise zuteil, sondern man bekomme Anteil an ihr durch die lebendige und reale Gemeinschaft mit Christus, dem königlichen Haupt des Reiches Gottes. Also dadurch, dass man im Glauben an seine Fürbitte mit ihm „ein Kuchen“ (Luther) wird. Deshalb kann von Oettingen auch bei der Behandlung der Lehre von der Königsherrschaft Christi diese als den Schlüssel für das stellvertretende Moment im Sühneopfer Christi bezeichnen. Das Verständnis für das Geheimnis der Stellvertretung entsteht durch die Wahrnehmung und Anerkennung der realen Gegenwart und Wirksamkeit Christi hier und jetzt. 29.3.4 Absage an einen falschen Objektivismus Die Bedeutung des Todes Christi als hohepriesterliches Sühnopfer wird somit in einem eng zusammengehörigen Dreischritt entfaltet. Erstens wird hervorgehoben, dass es notwendig sei, die alttestamentliche Opferpraxis als Hintergrund zu berücksichtigen. Zweitens wird der Sinn von „Genugtuung“ und „Stellvertretung“ freigelegt. Drittens wird die Fürbitte Christi bzw. die Königsherrschaft Christi als die Perspektive, die seinen Tod verstehen lässt, expliziert. Eine Abstrahierung von diesem dritten Schritt, die nach der Wahrnehmung von Oettingens zu oft in Predigt und Katechese vorkomme, sei faktisch gleichbedeutend mit einer Vernachlässigung des „ethisch-religiösen Gesichtspunktes“. Dadurch gerate man bei der Darstellung der Heilsvermittlung in einen schiefen Objektivismus. Die Gefahr ihres Missverstehens im Sinn eines äußerlich-juridischen oder mystisch-magischen Aktes werde akut. Die kirchliche Predigt und Katechese seiner Gegenwart erzeugen seiner Ansicht nach nämlich viel zu oft den falschen und irreführenden Eindruck, dass durch den Tod Christi der göttliche Zorn zur göttlichen Liebe transformiert sei, dass wir also mit einem blutdurstigen Gott zu tun hätten, dass der zornige Gott sich zu einem liebenden Gott verändere. Die Objektivität des Tragens der Sünden oder des Opfers Christi werde zu oft so einseitig in den Vordergrund gerückt, dass das Heil entweder als äußerlich-juridisch oder aber als mystisch-magisch erfasst erscheine. Dadurch werde das (objektive) Kreuzgeheimnis eigentlich unfassbar. Es werde eine leere Formel oder im noch schlimmeren Fall führe die Auffassung zum Aberglauben oder zur Selbstsicherheit seitens der Menschen.
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Von Oettingens eingehende Neuinterpretation der Pneumatologie, die der Christologie folgt und mit dieser eng zusammengehört, erörtert den epistemischen Ort der Christologie, d. h. die Gegebenheitsweise ihrer Sache für das Verstehen, näher. Dass die Behandlung der Pneumatologie in der Dogmatik von Oettingens neue Züge enthält, dass ihr besondere Aufmerksamkeit und ungewöhnliche Ausführlichkeit zuteilwerden, ist kein Zufall.
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Toleranz und Solidarität
In Anbetracht der großen Herausforderungen im globalisierten und pluralisierten Alltag des 21. Jahrhunderts und der Diskussionen über die geeigneten Wege zu deren Bewältigung ist am kreuzestheologisch-sozialethischen Werk von Oettingens auffällig, wie er immer wieder versucht, die Grundtendenzen oder Hauptanliegen seiner Theologie bei eingehender Thematisierung von Toleranz und Solidarität zur Geltung zu bringen. Dies tut er eben auch unter Anwendung jener Begrifflichkeit. Dass gerade die Idee von Toleranz, aber auch die von Solidarität (und Humanität), für von Oettingen zu den wichtigsten Implikaten des christlichen Glaubens gehören,1 ist auf dem Hintergrund der Studie hoffentlich nachvollziehbar. Ich werde dies knapp nochmals verdeutlichen und konkretisieren. Diese Hervorhebung steht allerdings im Gegensatz zu der Vorstellung, dass sich die kirchlich-konfessionelle Theologie des 19. Jahrhunderts durch eine Neigung zur Intoleranz charakterisieren lasse und sich somit als obsolete erweise. Von Oettingen darf als Vertreter der kirchlich-konfessionellen Theologie gelten, der diese traditionelle Sicht in einer auch für die heutige Gegenwart höchst relevanten Weise in Frage stellt.
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Toleranz
30.1.1 Aufgeklärte Toleranz Von Oettingen betrachtet als eine zentrale Leistung der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, der „großen Geistesbewegung“, die sich nur auf dem Hintergrund der vorangegangenen Geschichte, insbesondere auch der Geschichte des Verhältnisses zwischen Religion und Politik bzw. sozialer Ordnung, verstehen lässt, 1 Vgl. Ebeling, Die Toleranz Gottes; Herms, Pluralismus; Schwöbel, Toleranz im Gespräch; Schwöbel, Pluralismus und Toleranz; ders., Toleranz; ders., Toleranz im Streit; Körtner, Toleranz.
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daß die große, urchristliche Idee der Toleranz und der Gewissensfreiheit gegenwärtig wieder zu einem Gemeingut, ja zu einer selbstverständlichen Forderung aller denkenden Menschen nicht bloss, sondern auch aller gebildeten Christen und christlichen Culturstaaten gehört. (1886a, 51; vgl. 1876a, 19).
Er umschreibt hier die Toleranz mit der Anerkennung und Beachtung der Gewissensfreiheit, die eine genuin christliche Auffassung sei und dank der Aufklärung gegenwärtig von allen Gebildeten vertreten werde. Das „wieder“ im Zitat verweist darauf, dass dies im Christentum für lange Zeit weitgehend aus den Augen geraten war und die Zurückgewinnung dieser Idee nicht der eigenen inneren Erneuerung, sondern vielmehr den Impulsen der Aufklärung zu verdanken ist. Er erläutert dies mit Blick auf die großen sozialen, politischen und religionspolitischen Wandlungen (z. B. 1876a, 1886 g), aber auch auf die Entwicklungen auf dem Gebiet der Bildung (z. B. 1883b). Die Aufklärung sei auf jeden Fall auch eine umfassende Bildungsbewegung gewesen, die die allgemeine Zunahme und Verbreitung der Bildung in der Bevölkerung, entscheidend gefördert habe. „Das Licht der Bildung“, durch das sich die Epoche der modernen Zivilisation oder das moderne Kulturleben auszeichne, habe alle Intoleranz, alle Gewaltmaßnahmen Andersdenkenden gegenüber, obsolet gemacht und – scheinbar „ein für alle Mal“ – überwunden (1883b, 353). Die Bildung habe also die Idee der Humanität – die für von Oettingen auch als eine genuin christliche gilt, wie im Folgenden noch unter dem Stichwort „Solidarität“ deutlich wird2 – gefördert. Doch wo viel Licht sei, gebe es auch immer viel Schatten. So analysiert von Oettingen zugleich die Ambivalenzen der Moderne, deren historische Wurzeln, und insbesondere die Gefahren, wenn sich Begeisterung für Bildung und Kulturentwicklung mit Indifferenz-, Distanzierungs- oder gar Verachtungsstrategien gegenüber der Religion verbinden (vgl. 1886 g, 51–55, 68–71). Es tue vielmehr Not, sich auf die religiös-sittlichen Quellen der Kultur zu besinnen und somit auf die Wichtigkeit dessen, wovon die Bildung getragen und durchdrungen sei, also vom christlichen Geist, i. e. „von dem Geist der Liebe, die keinen Nationalitätengegensatz kennt“ (1883b, 354). Von Oettingen hat speziell die Verhältnisse in seiner Heimat vor Augen, wo verschiedene Nationalitäten seit Jahrhunderten zusammenleben und wo sich die Lage seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. zunehmend komplizierte, aber auch generell die Frage nach den Beziehungen verschiedener Nationen und Nationalstaaten zueinander.
2 Vgl. oben Kap. 22.
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30.1.2 Persönliche Toleranz Dass der Toleranzgedanke sich in einem solchen Maß durchgesetzt habe, würdigt von Oettingen als eine große Errungenschaft der Aufklärung.3 Das Problematische an dieser Entwicklung sieht von Oettingen allerdings darin, dass sich die Einsicht in die Notwendigkeit, die Gewissensfreiheit anzuerkennen, gerade auch in Fragen der Religion, mit einer Indifferenz gegenüber allen positiven Religionen und mit einer Feindschaft gegenüber der christlichen Offenbarung gekoppelt hat (vgl. z. B. 1886a, 389). Dass die Gründe dafür seiner Ansicht nach wesentlich damit zusammenhängen, wie sich die christliche Religion in ihrem Verhältnis zum Staat und der politischen Macht, aber auch in der Art der Auffassung ihres Wahrheitsanspruches, in der Geschichte in unterschiedlicher Weise problematisch entwickelt hat, zeigt von Oettingen deutlich. Doch bedeutet dies, dass die moderne Auffassung von Toleranz in religiösen Fragen einer Indifferenz gleichkommt. Es ist eine Toleranz aus der Haltung einer angeblichen „rationalen“ Überlegenheit über religiösen Differenzen und Gegensätze heraus (vgl. 1876a, 9). Der wichtigste religiöse Konflikt innerhalb Europas, der von Oettingens Gegenwart vor allem bedinge und kennzeichne, sei nicht so sehr der Konflikt zwischen den christlichen Konfessionen oder zwischen verschiedenen Religionen, als vielmehr der Konflikt zwischen einerseits säkularen Einstellungen rationalistischer, pantheistischer, naturalistischer oder materialistischer Art, die gegen jedes bestimmte religiöse Bekenntnis opponieren und es als eine strikt private Sache, als Frage individueller Freiheit, zu dulden bereit sind (vgl. ibid., 10), und anderseits jenen positiven Bekennern der christlichen Wahrheit, gerade auch unter den Lutheranern, die die evangelische Glaubensgewissheit mit einer religiösen Sicherheit verwechseln. Sie erheben lauten und feindlichen, dogmatisch-hierarchischen Infallibilitätsanspruch, „welche[r] eins ist mit jener Sicherheit, die jedem anders gearteten Gemüth die Eigenart geistiger und religiöser Entwickelung zu rauben droht, […] abschreckend [wirkt] und […] an ihrem Theil den lockenden Reiz evangelischen Freiheit [zerstört]“ (ibid., 11f). Man kann diesen Gegensatz auch als Gegensatz zwischen religiösem (oder auch antireligiösem) Fanatismus oder einer Intoleranz und religiösem Indifferentismus bzw. einer Gleichgültigkeit gegenüber der Religion bezeichnen.4 Bei aller Anerkennung des Verdienstes der Aufklärung mit Blick auf den 3 Vor allem ihr hätten wir z. B. zu verdanken, dass „jetzt kein Mensch mehr daran denkt, grosse Forscher, die Neues aufbringen, dem Kerker zu übergeben, Hexen zu ersäufen, Ketzer zu verbrennen, in Fesseln zu schlagen, Angeklagte zu foltern und den Sclavenhandeln zu fördern. […] Ja, es erscheint kaum denkbar, dass heutzutage irgend jemand noch ernstlich für solche Dinge einträte. Man würde ihn einfach verlachen oder verachten.“ (1883b, 353). 4 Vgl. oben Kap. 20 (zur pathologischen Prinzipienlehre).
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Toleranzgedanken hebt von Oettingen kritisch hervor, dass jener verbreitete Toleranzgedanke insofern unzureichend ist, als dass er zu einer Gleichgültigkeit gegenüber Religion, zu einer nivellierenden Indifferenz mit Blick auf die Unterschiede zwischen den Religionen und Konfessionen, zu einer Verdrängung des Religiösen aus dem sozialen und öffentlichen Leben, neigt. Intoleranter Fanatismus und indifferenter Toleranz bedingen einander und rufen einander hervor. Das Gegenmittel gegen die fanatische Intoleranz,5 aber auch gegen die den Wahrheitssinn hemmende und schwächende Gleichgültigkeit, für die sich die religiösen Wahrheitsansprüche als gleich gültig oder ungültig darstellen, biete die evangelische Glaubensgewissheit, in der eine tiefere und sensiblere Auffassung von Toleranz impliziert sei. In seinem Buch Antiultramontana (1876a) versucht er, die Relevanz der Idee der Glaubensgewissheit in ihrem kategorialen Unterschied von Sicherheit und Unfehlbarkeit für die Orientierung sowohl hinsichtlich der konfessionellen Gegensätzen und ihren Entwicklungen als auch in den verschiedenartigen Gestaltungen des Verhältnisses von Staat und Kirche, des Politischen und Religiösen, sichtbar zu machen. Er erörtert das Problematische an der konfessionalistisch-dogmatistischen, aber auch an der biblizistischen Sicherheit, und an der hierarchischen Infallibilität. Dies tut er nicht nur mit Blick auf den Einzelnen, sondern auch bezüglich der jeweiligen kirchenpolitischen und politischen Konsequenzen. Zugleich zeigt er, wie eine falsch verstandene Toleranz, die auch innerhalb der Kirche und Theologie u. a. in der Gestalt der Distanzierung oder Gleichgültigkeit der kirchlichen Lehrtradition gegenüber anzutreffen ist, sowohl ein eigenes intolerant-Werden als auch Missformen des religiösen Eifers zu befördern vermag. Auf jeden Fall betrachtet von Oettingen das gemeinsame Bekennen und die kirchliche Lehre, sofern ihr Grundcharakter als Glaubensgewissheit berücksichtig wird, als etwas, was sowohl für die Ausbildung der Glaubensgewissheit und somit der Toleranz am Ort des Einzelnen als Voraussetzung gilt, als auch als etwas, was für den Erhalt und Weg der Kirche in der Geschichte, für das gesunde Verhältnis von Kirche und Staat, und allgemein für das Verhältnis des Religiösen und Politischen etc., von eminenter Bedeutung ist. Aus der Perspektive der Glaubensgewissheit macht er somit eine (christliche) 5 „[D]ie Indifferenz de[]r Massen in religiösen Hinsicht [ist] die nothwendige Frucht des intolerant auftretenden Fanatismus.“ (1876a, 117). „Dem Fanatismus gegenüber giebt es nur Eine durchschlagende Waffe. Es ist die gesunde, wachsame Heils- und Glaubensgewißheit, die im Evangelium wurzelnd, mit rein geistlichen Mitteln nach Ausgestaltung der kirchlichen Glaubenswahrheit in Lehre und Leben ringt.“ (Ibid., 9f). „Gerade die evangelische Bekenntnißentschiedenheit gestattet und fordert die volle Freiheit der Glaubensentwickelung, wie des ersten Eintritts in das Glaubensleben. Keine Menschenauctorität und keine Polizeimacht kann und soll da helfend oder gebietend eintreten.“ (Ibid., 122).
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Auffassung von Toleranz sichtbar, die den Gegensatz von Intoleranz und indifferenter Toleranz zu transzendieren verspricht. Ich nenne dies die Toleranz aus evangelischer Glaubensgewissheit oder kurz die Toleranz aus Glaubensgewissheit.
30.1.3 Soziale Toleranz In Was heisst ,christlich-social‘? (1886 g) rückt das Verständnis der Toleranz in den Fokus der Aufmerksamkeit. Damit zusammenhängend betrachtet von Oettingen die historischen Hauptformen, in denen der soziale Charakter des Christentums aufgefasst wird, kurz: das Verhältnis zwischen Evangelium und Politischem, und legt eine kreuzestheologische Deutung desselben nahe. Von Oettingen fragt, wie die uralte Grundidee vom Reiche Gottes sich zur Weltmacht, zu der social-politischen Entwickelung der Völker verhält, welchen Einfluß sie auf dieselbe üben soll und darf, ohne ihren eigenartigen religiös-sittlichen Charackter zu verlieren, wie namentlich Moral und Politik, Religion und Staatsweisheit, christliche Sitte und Rechtsordnung, Kirche und volksthümlich-sociale Gemeinschaft von einander wohl zu scheiden und doch in eine gesunde Beziehung zu setzen sind. (1886 g, 13).
Ohne antisemitische und rassistische Konnotation, vielmehr mit expliziter und scharfer Zurückweisung solcher Tendenzen unter seinen Zeitgenossen,6 auch ohne die Bedeutung des Alten Testaments als Teil der christlichen Bibel in Frage zu stellen, behauptet er, dass die Idee der (religiösen) Toleranz sowohl im christlichen als auch im modernen Sinn dem jüdisch-alttestamentlichen Bewusstsein fremd ist, insofern „alle nationalen, social-bürgerlichen und politischen Interessen annoch […] von der Idee der Theokratie [beherrscht werden]“ (1886 g, 19; vgl. 1900, 600). Dies sei also die eine uralte Grundtendenz: das Bestreben, die Politik der Religion unterzuordnen, das Politische religiös zu instrumentalisieren, der Religion mit politischen Machtmitteln zur Geltung zu verhelfen. Die andere Tendenz, die sich bei anderen antiken Völker und Kulturen beobachten lasse, besteht darin, „das eigene natürliche Volksthum fanatisch zum Selbstzweck zu erheben und dem politischen Staatszweck auch die Religion unterthan zu machen“ (ibid.). Alle wichtigen heidnischen Kulturstaaten lassen sich dadurch charakterisiert, dass die „Volksreligion als Staatssache“ betrachtet und das Religiöse politisch instrumentalisiert wird (ibid., 20). Nach dem einen Modell neige man zur Usurpation und Degradierung des Politischen durch das Religiöse, nach dem anderen sei es umgekehrt. Das Christentum weise prinzipiell derartige Vermischungen von Religion und 6 Vgl. oben Kap. 7, Anm. 5; 1900c, 600f.
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Politik zurück7 – von Oettingen erinnert u. a. an die Unterscheidung Luthers zwischen dem weltlichen und dem geistigen Schwert (vgl. 1886 g, 20, 43–47). Obwohl es in der verfolgten Kreuzesgemeinde vom Anfang an auch Schwierigkeiten und Missstände in der Gestaltung des christlichen Gemeinwesens und seines Verhältnisses zur politischen Umwelt gegeben habe, markiere die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion eine fatale Zäsur (vgl. ibid., 40). Seither sei das Christentum durch die Versuchung gefährdet, den Grundgedanken des Reiches Gottes in doppelter Richtung zu verweltlichen und zu verstellen: einerseits in Richtung des Kirchenstaates (so das römische Modell), andererseits in Richtung der Staatskirche (so das byzantinische Modell). Dort […] im Papismus sehen wir die unselige Verquickung von Christenthum und Politik, um die letztere der hierarchischen Macht im theokratischen Sinne dienstbar zu machen. Hier […] im Cäsaropapismus, tritt uns dieselbe Vermischung entgegen, um das Heiligthum der Volksreligion in die Zwangsjacke politischer Tendenzen zu stecken. Dort Rückfall ins Judenthum, hier Rückfall ins Heidenthum. Denn ein Staat, der in Sachen der Religion, und sei es auch mit der Absicht die christliche Kirche zu fördern, Zwang ausübt, sinkt auf das Niveau des Heidenthums herab; und eine Kirche, die mit geistig-theokratischer Macht die Welt beherrschen und die Völker zum kirchlichen Glauben kraft hierarchischer Gewalt zwingen will, sinkt weit unter das Niveau der alttestamentlichen Vorstufe, wird nothwendig judaistisch-pharisäisch gefärbt. Beide krankhaften Erscheinungen sind nur Zerrbilder des christlichen Staates; beide sind das Grab der christlichen Toleranz; beide schädigen die Idee des christlichen Gottesreiches, als eines Kreuzreiches geistlicher Art auf Erden. (Ibid., 41).
Sowohl das Staatskirchenmodell als auch Kirchenstaatsmodell widerspreche also dem Christentum und könne es bis zur Unkenntlichkeit verstellen. Sie schaden dem Christentum in seiner historischen Mission. Beide seien tödlich für die christliche Toleranz. Als wahrhaft christlich könne nur ein solcher Staat anerkannt werden, der „vom Geist der christlichen Humanität“ inspiriert und durchdrungen sei, d. h. vor allem, der „in Sachen der Religion weder Zwang noch Pression übt“, sondern 7 „Der Eintritt des Christentums in die Welt“ bringe zwar auch „einen gewaltigen Umschwung […] in social-politischer und culturlicher Beziehung“ mit sich (1886 g, 15, vgl. 23–31), diese Transformation erfolge jedoch „[w]eder plötzlich, noch unmittelbar“, sondern allmählich, weil es „den Menschen und seine Gesinnung […], nicht die rechtlichen Zustände und die volksthümlichen staatlichen Ordnungen“ ändern wolle (ibid., 15, vgl. 30). Des Christentums Mission sei es „ein Reich Gottes allmählich, senfkornartig wachsend, zu allgemein menschlicher Verwirklichung [zu] bringen“, „durch das Wort des Evangeliums in Glaube, Liebe und Hoffnung alle Völker zu Einer Gottesmenschheit [zu] vereinigen“ (1886 g, 15). Durch die Veränderung der Gesinnung, der Wahrnehmung und des Urteils, i. e. von innen, würden sich allmählich auch die sozialen und politischen Strukturen ändern, die sozialen, ökonomischen und nationalen Gegensätze und Trennungen überwunden werden: „Der Geist des Christenthums kann und soll als ein wahrhaft humaner alle Sphären des natürlichen Lebens heiligend durchdringen und sie dem Reiche Gottes dienstbar machen.“ (Ibid., 65).
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sich darauf begrenzt, den rechtlichen Raum und Schutz für das religiöse Leben zu gewähren (1886 g, 41). Von Oettingen meint, dass die religiös-hierarchischen Machtansprüche sich im Vergleich zu den rein staatlich-nationalen stets – das 20. Jh. dürfte markante Gegenbeispiele gebracht haben – als mehr fanatisch und intolerant erweisen, und dass deshalb das theokratische bzw. das kirchenstaatliche Modell mit seiner religiösen Politik oder christlich-politischer Weltherrschaft von den beiden Gefahren die schlimmere sei. In von Oettingens historischer Skizze (vgl. ibid., 39–55) wird in diesem thematischen Zusammenhang und mit entsprechender Akzentuierung auch die tiefgreifende Bedeutung der evangelischen Predigt und Lehre Luthers – sein Eintreten für die Freiheit eines Christenmenschen – hervorgehoben (vgl. 43– 47)8 und die Entwicklungen der verschiedenen Konfessionen bis in seine Gegenwart verfolgt. Auch auf protestantischem Boden sieht er die jahrhundertelang eingeübten Irrtümer aus fleischlichem Willen zur Macht wieder hervortreten (vgl. ibid., 47). Bei den Reformierten zeige sich ein gesetzlichtheokratischer Zug, der in Gefahr stehe, das politische Leben bestimmen zu wollen und sich bei Bedarf unter Anwendung von Gewalt durchzusetzen. In den lutherischen Landeskirchen herrsche wiederum die Gefahr einer Verweltlichung durch das Staatskirchentum. Die wichtigsten Stationen in den Entwicklungen der Neuzeit, die großen sozialen und politischen Wandlungen, interpretiert von Oettingen durch die Betrachtung des Verhältnisses von Religion und Politik und hebt dabei die relevanten konfessionellen Differenzen hervor. Diese Differenzen sind aber nun ihrerseits nicht als Waffe gegeneinander zu gebrauchen. In diesem Zusammenhang beurteilt von Oettingen den dreißigjährigen Krieg folgendermaßen: Der dreißigjährige Krieg ist die unselige Folge dieser jammervollen Verquickung von christlichem Glaubenseifer mit dem politischen Parteitreiben. Und die Frucht dieser alles sociale Leben gefährdenden gegenseitigen Zerfleischung der Völker im grausigsten Religionskriege war jener berüchtigte Satz des Westfälischen Friedens: cujus regio, illius religio. (Ibid., 47f).
Der „Religionskrieg“ ist ein tragisches und schreckliches Zeugnis des Verfehlens, dem Charakter des Christentums gerecht zu werden. Auch das Ergebnis mache deutlich, wie unvermeidlich ein Zusammenbruch solcher Sozialordnung war. Cuius regio, illius religio bedeute Intoleranz in Nacktform, eine robuste Unterdrückung der religiösen Freiheit unter Staatsdruck. Die unter den nachkonstantinischen Bedingungen in verschiedenen Formen 8 Es ist typisch für von Oettingen, dass er Luther nicht als einen Einzelgenius vom Himmel betrachtet und darstellt, sondern seine Bedeutung stets in der Gesamtdynamik der Kirchenund Theologiegeschichte, aber auch der Sozialgeschichte und der politischen Geschichte, sichtbar zu machen versucht.
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herrschende Vermischung von Religion und Politik sei letztendlich nichts anderes als die Vorherrschaft des „Prinzips der Intoleranz“ (1886 g, 49). Die modernen sozialen Emanzipationsbestrebungen und Revolutionen, die moderne Religions- und Kirchenkritik etc., seien insofern als komplexe Gegenreaktionen und als Auftreten für die Toleranz zu verstehen, die nicht einfach als „Ausgeburt des radicalen und gottlosen Geistes verabscheu[t] und verdamm[t]“ werden können, sondern auch als „ein Denkmal providentieller Geschichtsleitung“ zu verstehen seien (ibid., 51). Sie fordern zur ernsthaften Selbstkritik und Erneuerung des Christentums und nicht zuletzt zur radikalen Revision des Verhältnisses zur Politik und zum Staat auf. Die wahre Toleranz könne sich sozial nur realisieren, wenn zwischen dem Religiösen und dem Politischen recht unterschieden werden. 30.1.4 Göttliche Toleranz Um den Gedankengang zu schließen, deute ich an, dass von Oettingen in Das göttliche „Noch nicht!“ (1895b), in seinem Beitrag zur Pneumatologie, die zugleich eine programmartige Ansage seiner kreuzestheologischen Dogmatik ist, die Toleranz Gottes in den Mittelpunkt stellt.9 Es lässt sich als die theologische Explikation der Frage nach dem Woher der christlichen Idee von Toleranz bzw. des im christlichen Glauben implizierten Verständnisses von Toleranz lesen. Es ist die Toleranz des dreieinigen Gottes, der (selbst-)beschränkend in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung wirkt. In der Figur der göttlichen Toleranz bündelt sich das Verständnis Gottes als des Dreieinigen, des Gottes in seiner ökonomischen Selbstbeschränkung und Selbstkonzentration zum Zweck des Heils. Gegenwärtig sei es in erster Linie die pneumatische Toleranz, die Toleranz des Heiligen Geistes, aus der die Christen lernen können, was Toleranz in Wahrheit bedeutet, was es heißt, Toleranz auszuüben und warum es geboten ist. Das göttlich-geduldige, leidenswillige Zeugnis ziele nämlich auf Überzeugung und Gewissheit, nicht auf gewaltsame Gleichschaltung und uniforme Nivellierung. Es ist die Schule des Heiligen Geistes, seine pädagogische Wirksamkeit in der Geschichte. Wir dürfen „jenes wundersame, liebevolle, geduldige, alle heilsgeschichtliche ,Erziehung des Menschengeschlechts‘ […] bedingende ,Noch nicht‘ – dieses Siegel göttlicher Toleranz und Sparsamkeit – mit aller Entschiedenheit festhalten“ und es versuchen zu begreifen (1895b, 75). Jene, bis Gott „Alles in allem“ sein wird (vgl. 1902a, 714–725), zu erweisende „Toleranz Gottes“ sei keine bloße Zulassung, Gleichgültigkeit oder Passivität, sondern „die höchste Weisheit väterlicher Erziehungs-Energie, die zielsetzlich (teleologisch) eine zur Freiheit 9 Vgl. oben Kap. 15.
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heranreifende Gottesmenschheit im Auge behält“ (1895b, 75f). Die Geschichte erschließe sich aus dieser Perspektive somit als ein Werden der Menschheit im Zusammenhang der pädagogischen Selbstbeschränkung Gottes, der sich als leidenswillig und langmütig erweist. Im Lichte dieser göttlichen Toleranz sei auch alle christliche und theologische Theorie und Praxis zu beurteilen. Von Oettingen beleuchtet aus diesem Blickwinkel kritisch die kirchen- und dogmengeschichtlichen Entwicklungen. Er analysiert das gegenwärtige Zeugnis und die Gestalt der Kirche in ihren verschiedenen Dimensionen und Kontexten, und formuliert Orientierungsprinzipen für eine solche Gestaltung10 der Kirche und der Theologie gegenüber Heranwachsenden, Suchenden und Zweifelnden, Gleichgültigen, aber auch feindlich Gesinnten, die der Toleranz Gottes nicht wider-, sondern entsprechen würde.
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30.2.1 Kontextualisierende Einführung Alexander von Oettingen gehört zu jener Minderheit unter den Theologen des 19. Jahrhunderts, die dem Solidaritätsbegriff eine wichtige Rolle zugewiesen haben. Die Anfänge der modernen Entwicklung des Solidaritätsbegriffs11 zu einem wichtigen oder zentralen soziologischen, sozialphilosophischen, sozialethischen und politischen Begriff sind in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts zu finden, als die Transformationen und Erweiterungen seiner klassischen legalen Bedeutung in Gang gesetzt worden waren. Steinar Stjernø (*1945), Professor für Sozialpolitik und soziale Fürsorge in Oslo, hat in seiner Studie zur Geschichte des europäischen Solidaritätsgedankens aus dem Jahr 2004 drei Traditionsströmungen, die bei dieser facettenreichen Entwicklung in erster Linie von Relevanz gewesen sind, unterschieden und analysierend verfolgt. Zunächst nennt er den gesellschaftstheoretischen und soziologischen Diskurs, worin der Solidaritätsgedanke in der ersten Hälfte des 19. Jh. geläufig wird.12 In der zweiten Hälfte des 19. Jh. wird der Begriff durch verschiedene 10 Hier wird u. a. die wissenschaftliche Gestaltung eines dogmatischen Systems thematisiert (vgl. 1895b, 143f). 11 Vgl. Stjernø, Solidarity in Europe; Stjernø, The Idea of Solidarity ; Wildt, Solidarity ; Liedman, Solidarity ; Bayertz, „Solidarity“. 12 Zu einem theoretisch entfalteten Grundbegriff wird „solidarit8“ erst durch Pierre Leroux (1797–1871) in seinem Werk De l’Humanit8 (1840). Der Akzent liegt darin allerdings weder auf der Gesellschaft, noch speziell auf der Politik, „but with a kind of religion of mankind, according to which all human beings form a fundamental unity with each other – and also with God“ (Wildt, Solidarity, 212). „,True love‘ and ,harmony and identity of mankind with
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sozialistische Theoretiker und im Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung politisch geprägt.13 Drittens wird „Religion“, i. e. der Katholizismus und der Protestantismus als die dritte Tradition untersucht.14 Ein Ergebnis der Untersuchung von Stjernø ist, neither Catholicism nor Lutheranism developed and integrated a concept of solidarity until the later part of the twentieth century. Whereas social theorists began to make the concept an object of reflection in the first part of the nineteenth century, as did socialist theory in the later part of the same century, the two dominant Christian religions in Western Europe did not do so until much later.15
Den Grund dafür sieht er zum Großteil darin liegend, dass das Verständnis der Solidaritätsidee in der frühen Arbeiterbewegung eng mit der Theorie vom Klassenkampf verbunden war. Erst im Zuge einer Auflockerung dieser Verbinman‘ […] are what Leroux calls ,solidarit8‘, or more precisely : ,solidarit8 mutuelle des homes‘.“ (Ibid.) Es geht Leroux darum, dass jene Solidarität als „das Gesetz des Lebens selbst“, als „das Gesetz der gegenseitig solidarischen Geschöpfe“, als „das Gesetz der Identität“ des Menschen mit seinem Mitmenschen verstanden und anerkannt wird. Insofern steht hier der deskriptive Sinn im Vordergrund. Ich hebe hervor, dass Leraux jene Solidarität explizit von der christlichen Liebe abgrenzt, insofern bei der letzteren die anderen nicht direkt und um ihrer selbst willen, sondern indirekt oder äußerlich und um Gottes Willen geliebt werden. Solidarität sei dagegen ein direktes, gegenseitiges altruistisches Gefühl (vgl. Wildt, Solidarity, 212). Insbesondere Auguste Comte (1798–1857) popularisiert „solidarit8“ als wissenschaftliche Bezeichnung für die wechselseitigen sozialen und ökonomischen Abhängigkeiten, ohne dabei die universell-ethischen und affektiven Konnotationen des Begriffes zu verdrängen (vgl. ibid., 212f). 13 Andreas Wildt zufolge beginnt die „Politisierung“ des Wortes und Begriffes „Solidarität“ nicht vor den 1840er Jahren und entscheidende Impulse dazu stammen von den Hauptfiguren der Revolution von 1848 (Wildt, Solidarity, 210, 213f; vgl. Große Kracht, Jenseits von Mitleid und Barmherzigkeit, 18f). Karl Marx selbst habe relativ spät, erst bei der Begründung der Ersten Internationale im Jahr 1864, das Wort aufgenommen, es aber nie in seiner Theoriebildung verwendet. Der Grund für diesen Vorbehalt sei klar : „Whereas the concept of solidarity that grew so popular in the 1840s had encompassed all of society, Marx was interested in the cohesion of the working class only.“ (Liedman, Solidarity, [5]). 14 Insbesondere wird nach der Entwicklung des Solidaritätsbegriffs „in key documents that present Catholic and Lutheran understandings of social ethics“ gefragt (Stjernø, Solidarity in Europe, 61). Als solche gelten im ersten Fall die päpstlichen Enzyklikas von Rerum Novarum (1891) bis Centesimus Annus (1991). Im zweiten Fall werden zunächst die Zwei-Reiche-Lehre Luthers und seine Auffassung des Verhältnisses von Religion und Politik umrissen – und zwar in der Gestalt, die als „the conventional interpretation“ bezeichnet wird. In einem zweiten Schritt wird anhand der Dokumente des Lutherischen Weltbundes (LWB) ab der Mitte des 20. Jh. bis zum Beginn des 21. Jh. untersucht, wie die Änderung jener konventionellen Interpretation „has provided the space necessary for the introduction of the idea of solidarity into Lutheran theology“ (ibid., 62). Durch dieses Verfahren bzw. wegen einer solchen Quellenauswahl entsteht insofern ein gravierendes Missverhältnis, als dass im Unterschied zu den anderen beiden Traditionen, wo nicht exklusiv Texte mit einem offiziellen Status herangezogen werden, die einzelnen Protagonisten und Pioniere des Solidaritätsgedanken in der protestantischen Tradition völlig aus dem Blick geraten. 15 Ibid., 83.
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dung und einer Entwicklung der Idee der Solidarität unter Rückgriff auf einige urchristliche Grundvorstellungen vermochte „the mainstream of Christian social ethics“ sich jenen Terminus zu eigen machen. Die christlichen Konzepte von Solidarität werden im 20. Jh. entwickelt.16 Obwohl im 19. Jh. der Begriff „Solidarität“ in der katholischen Soziallehre noch nicht auftaucht – der Terminus selbst taucht in einem päpstlichen Lehrschreiben erst im Jahr 1961 auf und wird zu einem zentralen Thema durch Johannes Paul II –, wird er im Zuge ihrer Fortentwicklung zu einem Grundbegriff. Neuerdings hat Stjernø die Rolle der katholischen Soziallehre bei der Entwicklung des Solidaritätsdiskurses noch stärker gewürdigt und sich dabei nicht nur auf die Enzykliken bezogen. Er konzentriert sich auf die Bildung zweier Schlüsselkonzepte der Solidarität in der heutigen europäischen Politik. Dies ist zum einen der Solidaritätsbegriff, der durch die Arbeiterbewegung und deren politische Parteien entwickelt wurde: die Solidarität der (Arbeiter-)Klasse wurde zum Prototyp für Solidarität. In der 1860er Jahren wurde der Terminus durch die Unterstützung von Karl Marx aufgenommen und parallel zu „brotherhood, fraternity and unity“ verwendet.17 Der andere sei eben im Zusammenhang mit dem sozialen Katholizismus entwickelt und durch die christlich-demokratischen Parteien aufgenommen worden. In Auseinandersetzung mit liberalem Kapitalismus und sozialem Kollektivismus „social Catholicism […] developed another ideology to meet the challenges of industrialisation, liberalism and individualism“.18 Stjernø weist auf katholische Akteure und Denker hin, die die Aufnahme des Solidaritätsbegriffs in der päpstlichen Lehre vorbereitet bzw. mitbegründet haben, auf den „Arbeiterbischof“ und Politiker Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811– 1877), auf den Theologen, Nationalökonomen und Sozialphilosophen Heinrich Pesch, SJ (1854–1926),19 auf seinen Schüler, den Theologen, Nationalökonomen und Sozialphilosophen Oswald von Nell-Breuning, SJ (1890–1991), der oft auch als Nestor der katholischen Soziallehre bezeichnet wird. Das Verhältnis des Protestantismus bzw. des Luthertums zur Solidarität erscheint im Lichte der Untersuchung von Stjernø als besonders gebrochen, ihr Beitrag zum Solidaritätsdiskurs viel geringer und viel weniger sichtbar als der
16 Ibid., 60f. 17 Stjernø, The Idea of Solidarity, 3f. „It is the solidarity between workers, and it is based upon the common internest that workers have in opposing their class adversaries.“ (Ibid., 4). 18 Ibid., 8. 19 In seinem Lehrbuch für Nationalökonomie (5 Bd., 1905–1923) hat jener „father of German Christlicher Solidarismus“ den Solidaritätsbegriff in seine Sozialethik und Wirtschaftsanalyse integriert (vgl. ibid., 10; Stjernø, Solidarity in Europe, 66). Vgl. zu Pesch: Mazurek, Solidarismus; Große Kracht, Zwischen Soziologie und Metaphysik.
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des Katholizismus.20 Die Einführung der Idee der Solidarität sei in zwei Phasen vor sich gegangen. In the first phase, Lutherans had to abandon the traditional interpretation of Luther’s teaching about the two kingdoms […] and engage themselves more actively in politics. The next phase was to include the concept of solidarity in a political interpretation of the relationship between the rich First World and the poor peoples of the Third World.21
Für die erste Phase habe das Verhalten vieler Protestanten nach 1933 als Katalysator für Kritik und Revidierung der geläufigen Gestalt der sog. zwei-ReicheLehre gewirkt.22 Die Barmer Theologische Erklärung und die Kritik Karl Barths, aber auch das Wirken, die Schriften und das Geschick Dietrich Bonhoeffers, der am gescheiterten Attentat gegen Hitler partizipierte, hätten nach dem Krieg zu einer Erneuerung des Verhältnisses zum Politischen inspiriert. In der zweiten Phase hätte die ökumenische Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle gespielt. Dadurch seien die Armut und die sozialen Probleme der Dritten Welt zunehmend ins Bewusstsein gerückt worden. „Protestant radical dissidents“ hätten also die Idee der Solidarität in die protestantische Sozialethik eingeführt, und vor allem durch die ökumenische Bewegung (bzw. durch den Lutherischen Weltbund und den Ökumenischen Rat der Kirchen), die „more radical than most of the individual Protestant churches“ sei, habe sich das Konzept auch in den protestantischen Kreisen stärker verbreitet. Doch es wurde nicht so fest und elaboriert „into mainstream Protestant social teachings“, wie es in der katholischen Soziallehre der Fall sei.23 When Christians finally adopted the concept, it was at a time when this concept had been transformed into a broader and more altruistic one in most of the large and influential parties within the labour movement in Western Europe. This may have facilitated the introduction of the idea of solidarity in Catholicism and Protestantism.24
Es fällt auf, dass in der Darstellung von Stjernø das Solidaritätsdenken im Protestantismus erst nach 1933 zum Thema wird.25 Außer Acht bleiben z. B. der 20 Aufgrund der Analyse der relevanten Texte des LWB urteilt er zusammenfassend: „The Protestant discourse of solidarity is not as rich and as well developed as the Catholic one, and the concept is not as well integrated into a language with well-defined relationships to other key concepts.“ (Stjernø, Solidarity in Europe, 83). 21 Stjernø, Solidarity in Europe, 76, vgl. 78, 83. 22 Eine neue Übersicht über die Interpretationen der letzten zwei Jahrhunderte bietet William J. Wright (Wright, God’s Two Kingdoms, 1–44). 23 Stjernø, Solidarity in Europe, 83. In der Tat wird auch in der jüngsten gemeinsamen sozialethischen Studie der europäischen Protestanten der Begriff „Solidarität“ nicht verwendet (vgl. Stand up for Justice. Ethical Discernment and Social Commitment of the Protestant Churches). 24 Stjernø, Solidarity in Europe, 84, vgl. 66. 25 Auch die Bemerkungen von Andreas Wildt zur Geschichte der „Solidarität“ behandeln nur
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religiöse Sozialismus, aber auch die andersartigen früheren, theoretischen und praktischen Bemühungen des Protestantismus, auf etwaige Modernisierungsschübe der Gesellschaft zu reagieren.26 Auch Alexander von Oettingen nimmt den Solidaritätsbegriff schon in den 1860er Jahren, also lange vor dem christlichen Solidarismus Heinrich Peschs,27 in einer profilierten Weise auf und verwendet ihn durch sein ganzes Werk hindurch, zentral in seinen in Europa weit rezipierten drei Auflagen der Moralstatistik (1868/1869–1882).28 Insofern dürfte er, schon vor Hitze und Pesch, zu den Pionieren der Einführung des Solidaritätsbegriffs in den Zusammenhang der christlichen Theologie gehören und zugleich als ein früher und klassischer Vertreter des Solidaritätsdenkens auf protestantischer Seite gelten. Auch wenn man aus der Perspektive evangelischer Theologie und Ethik die breit angelegte Rekonstruktion von Stjernø, speziell mit Blick auf den Protestantismus, in vielem kritisieren könnte, entspricht es mindestens in zweierlei Hinsicht einer verbreiteten Meinung unter den evangelischen Sozialethikern. Zum einen erfolgt auch Traugott Jähnichen zufolge die Aufnahme des Begriffes „Solidarität“ in die protestantische Ethik erst spät (nach 1945; geläufig werde er erst in den 1970er Jahren). Zum anderen sieht auch er darin einen deutlichen Unterschied zur katholischen Soziallehre.29
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katholische Autoren. Im Blick auf das Christentum, speziell auf die katholische Kirche, hebt Liedman hervor, dass vor der Jahrhundertwende unter der Leitung der deutschen katholischen Theologen und Sozialphilosophen eine Auseinandersetzung mit dem Solidaritätsbegriff stattfand: „Spurning both the worker’s movement and capitalism, they envisioned a society in which competition would make way for solidarity. Their ideal was the cohesion that characterizes a well-adjusted family. By extension, an entire society could function in a similar manner.“ (Liedman Solidarity, [7]). Als besonders einflussreich benennt er namentlich Franz Hitze (1851–1921), den Sozialpolitiker und -pädagogen, der 1893 zum ersten Professor für christliche Gesellschaftslehre im deutschsprachigen Raum wurde, und Heinrich Pesch. Vgl. oben Kap. 16. Es ist erwähnenswert, dass Pesch um die Jahrhundertwende 1900 mit einem Studium der Nationalökonomie bei Adolf Wagner, „dem führenden ,Staatssozialisten seiner Zeit‘“ begonnen hat (vgl. Große Kracht 2007, 30). Zwischen 1865–1868 sind von Oettingen und Wagner in Dorpat/Tartu Kollegen gewesen und haben eine gute persönliche Beziehung entwickelt (vgl. 267, Anm. 70). Von Oettingen erkannte Wagners Rolle für sein eigenes Werk ausdrücklich an. Zum ersten Mal lässt sich das Adjektiv „solidarisch“ bei von Oettingen im Jahr 1863 finden. Im Rahmen der Erörterung der Frage nach der Kindertaufe sagt er, dass eine Bedingung für die Verständigung über die Kindertaufe eine Bejahung „d[er] solidarische[n] Verhaftung jedes natürlich geborenen Einzelwesens unter die Gesammtschuld der Gattung“ sei (1863d, 327). „Das neugeborene Kind [kann] […] nur in Berücksichtigung dieses geheimnißvollen Zusammenhanges beim heranwachsenden Alter als Sünder bezeichnet werden. Denn niemand sündigt als Einzelner, sondern nur als Glied der Gattung, weil niemand ein sittliches Wesen ist als Einzelwesen, sondern nur inner der gliedlichen Gemeinschaft, der er angehört.“ (Ibid., 328). Auffällig ist, dass die Weise, wie der Solidaritätsbegriff zwischen 1945 und den 1970er in der
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Ich umreiße – unter Hinweis auf Kap. 18f – die wichtigsten Bedeutungsaspekte im Solidaritätsbegriff von Oettingens. Er untersucht den Begriff Solidarität sowohl in einer mehr empirisch-soziologischen als auch in einer mehr systematisch-theologisch (bzw. phänomenologisch) orientierten Annäherung und erschließt ihn letztendlich christologisch bzw. staurozentrisch. Einige anschließende Hinweise auf die Zeitdiagnostik und die sozialpolitische Haltung konkretisieren sein Solidaritätsverständnis. 30.2.2 Das große Gesetz der Solidarität und Stellvertretung Von Oettingens Die Moralstatistik ist im Grunde auch ein Werk über die Solidarität. Dies gilt auch für Die christliche Sittenlehre und somit für seinen Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage insgesamt. Die statistisch-empirische „Massenbeobachtung“ bestätigt, illustriert und konkretisiert für ihn durchgehend, so hält er in der Schlusserörterung fest, „de[n] Grundgedanken“ christlicher Sittenlehre bzw. Sozialethik: Ich meine jenen Humanitätsgedanken, nach welchem wir Alle Einem grossen Reiche angehören, in welchem Jeder seinen Platz und seine Eigenart hat, und, durch die Macht und Ordnung des Ganzen getragen, an der Geistes und Willensrichtung seiner Umgebung nothwendig Theil nimmt. Daher sind Irrthum und Wahrheit, Laster und Tugend, Schuld und Plichterfüllung nicht zu denken ohne ,Theilnehmung‘ und Gemeinschaft. Darin liegt das grosse Gesetz der Solidarität und Stellvertretung. Es beruht auf jener göttlichen Schöpfungsordnung, kraft welcher weder die Welt der Natur, noch die Welt der Geschichte ein Haufe zufällig durcheinanderwogender Atome oder selbständiger Einzelwesen ist. Die Idee der gliedlichen Zusammengehörigkeit mitten in der Mannigfaltigkeit beherrscht und durchdringt wie das All, so die Geschichte. Insbesondere erscheint die Menschheit als Ein werdendes Ganzes, als ein gegliederter Riesenleib, an welchem der Einzelne nur eine Theilgrösse ist, in seiner Freiheitsbewegung getragen, aber auch in Schranken gehalten durch die Lebenskräfte der Gesammtheit. (1882a, 19; vgl. 1869a, 957–962).
Ich hebe analysierend einige Stellen hervor. Das Menschsein als leibhaftes Personsein30 ist ein strukturiertes, organisiertes, geordnetes Zusammensein mit anderen Menschen. Das Sein und Werden jedes einzelnen Menschen ist in das werdende Sein der Menschheit als Gattung eingebettet. Insofern hat jeder Mensch eine eigentümliche Stellung, eine individuelle Eigenart in der Humanität. Jeder Mensch ist ein einzigartiger Teil im Ganzen der Menschheit und ist evangelischen Theologie und Sozialethik – Jähnichen hat den deutschen Protestantismus im Blick – gebraucht wird, deutliche Parallelen zu von Oettingen hat (vgl. Jähnichen, Solidarität, 87–91). Allerdings fehlen die empirisch-soziologischen Konnotationen, die für von Oettingen sehr wichtig sind. 30 Vgl. 1868a, 957f; 1882a, 799; vgl. zur „ontologischen“ Anthropologie bzw. zur Fundamentalanthropologie: 1900c und 1873a.
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Mensch kraft jenes Partizipationsverhältnisses. Sein Werden vollzieht sich und ist qualifiziert durch das Werden der Gattung. Kurz: der Mensch ist ein geschichtliches und soziales Wesen. Und eben in diesem Sachverhalt, in der Zusammengehörigkeit inmitten der Vielfalt oder in der Einheit in der Verschiedenheit sei impliziert, dass die Menschen in einem Verhältnis der Solidarität zueinander stehen. Diese Solidarität innerhalb der Menschheit umschreibt von Oettingen auch als Stellvertretung, insofern jeder Mensch an seiner eigentümlichen Stelle der Mensch ist bzw. die Menschheit mit repräsentiert und realisiert. Diese universelle fundamentalanthropologische Struktur, die eine Struktur des Werdens ist, deutet er als in der „Schöpfungsordnung“ (im Singular!) angelegt. Die „Geschichtsbewegung“, „die gemeinsame sittliche Lebensbewegung der Menschheit“, lässt sich nur als „ein Zusammenwirken verschiedener und doch mit einander zu höherer Gattungseinheit verbundener Elemente, welche […] gliedlich zusammenhängen“ betrachten (1869a, 958). Innerhalb der Menschheit lassen sich verschiedenartigen Gruppenbildungen beobachten, wobei es für das Christentum charakteristisch sei, dass es bei aller Rücksicht auf jene verschiedenartige Sozialformen innerhalb der Menschheit, die Humanität selbst, also die universelle Zusammengehörigkeit des Verschiedenartigen, hervorhebt. Die Menschheit entwickelt sich „innerhalb der Familien, Stämme und Racen in unverkennbarer typischer Verschiedenheit, während doch durch alle Typen ein einheitlicher Gattungscharakter sich hindurchzieht“ (ibid.). Davon, wie sich die immanente Entwicklungsstruktur, ihre sich verschiedentlich gestaltende Elementarform, beschreiben lässt, war in Kap. 9 die Rede. Das entscheidende Merkmal, welches das „Gemeinleben der Menschen“ auszeichnet, ist folgendes: Während überall im natürlichen Gruppenleben der Thiere die Organisation lediglich als eine immanente Nothwendigkeit erscheint, erzeugt sie im menschlichen Gruppenleben ein derartig organisatorisches Gesetz, welches sich zu zweckvollen Normen entwickelt […]. Ich möchte dieses Gesetz, kraft dessen allen Gliedern des Gesellschaftskörpers eine gemeinsame Lebensaufgabe vorgeschrieben ist, die sich wiederum berufsmässig gliedert und theilt, das Gesetz der Solidarität oder der Stellvertretung31 nennen. Es besagt: dass im Hinblick auf diese ihre gemeinsame Lebensaufgabe Jeder für Alle und Alle für Einen zu stehen haben, sofern und soweit sie nämlich gliedlich zu einander gehören oder eine moralische Collectivperson bilden. Diese Solidarität beruht auf einem Gesetz der Zurechnung, das im Collectivgewissen als Collectivethos seinen ursprünglichen Sitz hat. Aus der sich unbewusst-gefühlsmässigen Sitte gestaltet es sich zu bewussten Lebensregeln rechtlicher und religiöser Art im geschichtlichen Fortschritte aus. (1869a, 994).
31 In 3. Auflage der Studie Die Moralstatistik hat von Oettingen hier eine Ergänzung vorgenommen: „das Gesetz der Solidarität oder Gesammthaftbarkeit (bzw. Stellvertretung)“ (1882a, 800f).
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Auf der höchsten bzw. auf der elementarsten Ebene steht die eigene Zugehörigkeit zur Gattung, zur Menschheit als Kollektivperson, aber auch die unterschiedliche Partizipationsweise an der Organisation mehrerer kleinerer oder engerer Sozialgebilde, was für die Menschen als Solidarität erscheint (und worin sich einzelne Bedeutungsaspekte unterscheiden lassen).32 Jeder Einzelne in seiner Stellung und Partizipationsweise ist mitverantwortlich für das Ganze. Jeder einzelne Mensch trägt eine Verantwortung für die Menschheit, deren Teil er ist, aber auch für die engeren sozialen Gruppen, zu denen er gehört. Allerdings ist es für von Oettingen wichtig zu betonen, dass diese solidarische Teilhabe an der gemeinsamen bzw. sozialen Verantwortung (die die Verantwortung auch für die Natur bzw. für die Welt impliziert) dem Maß der Entwicklung und der Zurechnungsfähigkeit des Einzelnen entspricht. Sie sei also nicht mechanisch auf alle gleichmäßig verteilt, sondern die soziale Verantwortung trage der Mensch „nur in dem Maasse […], als er zu bewusster Selbstständigkeit sittlicher Bewegung als Glied an dem gemeinsamen Organismus herangewachsen ist und seinerseits an dem Gange der Entwickelung des Gemeinethos sich activ zu betheiligen vermag.“ (1869a, 960). Insofern von Oettingen die Solidarität als „de[n] aus dem Collectivgewissen sich ergebende[n] maassgebende[n] Ausdruck für die dem menschlichen Gesellschaftsleben einwohnende innerliche Organisation“ (ibid., 961) auffasst, beschreibe ich sie als Bewusstsein sozialer Zusammengehörigkeit, sozialer Verantwortung, sozialer Haftbarkeit. Die Extension solchen Bewusstseins auf die Gattung als Ganzes, auf die ganze Menschheit – wobei eine Verantwortung für die Natur für von Oettingen eingeschlossen ist – ist dabei etwas später Nachfolgendes. Aus der empirisch-statistischen Beobachtung des sozialen Lebens könne man zwar nicht direkt das Solidaritätsgesetz entnehmen,33 sie zeige aber indirekt, dass die beobachteten sozialen Probleme „überall auf eine tiefe Verkettung der Schuld hinwiesen und zwar einer Gemeinschuld, an welcher je nach seiner socialen Stellung der Einzelne mehr oder weniger Theil nahm“ (1869a, 961). Die statistischen Daten lassen sich also am besten vor dem Hintergrund (des Grundgesetzes) der Solidarität verstehen. Für von Oettingen sind somit das Soziologische und das Ethische eng verbunden, insofern die Solidarität mit menschlich-sozialer Organisation zu tun hat, die nicht nur einen natürlichen, sondern zugleich sittlichen bzw. freiheitlichen Charakter hat. Obwohl von Oettingen den Solidaritätsbegriff in seiner Schlusserörterung der Moralstatistik und zum Schluss des theoretischen Teils vor der Darstellung und Analyse der Daten in einem gediegenen theoretischen Zusammenhang entfaltet und präzisiert, kann man sehen, dass er gerade in den theoretisch weniger 32 Dazu sowie zur Bedeutung der Charakterisierung der Solidarität als Gesetz vgl. oben Kap. 9. 33 Vgl. oben Kap. 18.
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geladenen moralstatistischen Analysen das Adjektiv „solidarisch“ eher an die oben durch Stjernø hervorgehobene Tradition der Soziologie, nicht in erster Linie an seine politische Wendung, anknüpft. Er versucht jedoch, die ethische Bedeutung hervorzuheben, also die Solidarität nicht naturalistisch auf die soziale Organisation zu reduzieren, sondern sie davon kategorial zu unterscheiden. Die Solidarität als die Grundkategorie der Geschichte ist jedenfalls nicht in erster Linie materiell aufzufassen, sondern bezeichnet den Sachverhalt der Verbundenheit und Zusammengehörigkeit der Menschen, ihre wechselseitige Bezogenheit aufeinander und ihre wechselseitige Abhängigkeit voneinander, worin die Verantwortung füreinander eingeschlossen ist. Die Solidarität hängt also direkt mit der sozialethischen Grundeinsicht von Oettingens zusammen; damit, dass man ein sittliches Wesen – eine Person – nur als Glied der Gemeinschaft ist (vgl. 1862d, 328). Aus der gegliederten Gemeinschaft entwickelt sich ein „Gesammtgewissen“ (1866b, 190). Die Gemeinschaften haben einen unterschiedlichen Umfang, unterscheiden sich in ihrer Art, können sich teilweise auch überdecken etc. So wie es das Gesamtgewissen gibt, das aus der Gemeinschaft emergiert, so gibt es auch die „Gattungsschuld, Volksschuld, Gemeindeschuld, Familienschuld, kurz eine tiefe Solidarität sittlicher Interessen“ (ibid.).34 Solche früheren Überlegungen werden in der Untersuchung Die Moralstatistik anhand ausufernder statistisch-empirischer Materialfülle erprobt, konkretisiert und fortentwickelt. 30.2.3 Beispiele für die Bezugnahme auf die Solidarität in der Analyse moralstatistischen Materials Ich veranschauliche die Weise, wie von Oettingen im Zusammenhang mit einzelnen Themenfelden auf die Solidarität Bezug nimmt. Zum Beispiel weist „die periodische Regelmässigkeit der Ehescheidungstendenz“, obwohl sie sich in einzelnen sozialen Gruppen sehr verschieden gestalte, „auf eine sittliche Continuität und Solidarität des ganzen Gemeinwesens“ hin (1869a, 426; 1882a, 162). Oder aber er insistiert auf die Unumgänglichkeit, „bei einer socialethischen Untersuchung“35 auch das statistische Material auf dem Gebiet der Prostitution sorgfältig zu analysieren. Es zu ignorieren „hiesse nichts anderes, als die Mitschuld und Solidarität aller Gesellschaftskreise in Betreff dieses socialen 34 „[A]lle sittlichen Fragen [tragen] den Charakter solidarischer Verhaftung innerhalb menschlichen Gemeinschaftslebens an sich“ (1869a, 357; 1882a, 85; vgl. 1869a, 675; 1882a, 425). „Alle einzelnen Mitglieder der Gesellschaft stehen […] in einem Verhältnis gegenseitiger Solidarität.“ (1869a, 537; 1882a, 286). Dies ist „die gattungsmässige Solidarität in sittlicher Beziehung“ (1868a, 221, vgl. 46, 223). 35 Dies ist ein Verweis auf sein sozialethisches Projekt als Ganzes (vgl. oben Kap. 17).
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Grundübels [zu] verkennen“ (1869, 442; 1882a, 182).36 Aus der Beobachtung der „scheinbar zufällige[n] Masse der Einzelvergehungen auf dem Gebiete geschlechtlicher Gemeinschaft“ ergibt sich, dass sie „von der Sitte, dem moralischen Typus, der eigenthümlichen geistigen Atmosphäre des grösseren Ganzen, dem der Einzelne angehört, wesentlich abhängig ist“ und es deshalb eine „Solidarität auch in Betreff der Versuchung“ gibt (1869a, 570; 1882a, 325f). Das Maß der Wahrnehmung und Anerkennung jener Solidarität, jener Mitverantwortung und Mitschuld mit Blick auf einzelne soziale Dynamiken hängt von der „Schärfung des socialen Gesammtgewissens“ ab (1869a, 571). Zweifellos will die umfassende empirische Gesellschaftsanalyse von Oettingens in seiner Moralstatistik dazu beizutragen und dadurch die Solidarität fördern. Ein weiteres Beispiel findet sich bei den Überlegungen hinsichtlich der Berechtigung, die Sphäre des Politischen aus der sozialethischen Perspektive statistisch zu erfassen: die politisch leitenden oder repräsentierenden Personen seien „solidarisch verknüpft mit dem sittlichen Geiste des Ganzen und das Ganze nimmt an ihrem Ruhm, wie an ihrer Schmach einen wesentlichen Antheil“ (1869a, 600; 1882a, 354). Ein weiteres wichtiges Gebiet ist das Wirtschaftsleben. Von Oettingen konstatiert kritisch, dass die Philosophie und die theologische Ethik „sich mit der grundsätzlichen Erforschung und Beleuchtung der ökonomischen Verhältnisse in der modernen Socialwissenschaft noch viel zu wenig und meist nur oberflächlich“ abgegeben haben (1869a, 649; 1882a, 394). Er kritisiert, dass man von Seiten der Philosophie und Theologie aus „die Nationalökonomie wie ein in sich abgeschlossenes […] Gebiet“ betrachtet hat und den inneren Zusammenhang zwischen dem Ökonomischen, dem Politischen und dem Rechtlichen fast außer Acht gelassen und nicht untersucht hat (ibid.). Er selbst widmet der Wirtschaftsfrage, sich dabei mit den Ökonomen und Sozialwissenschaftlern seiner Zeit auseinandersetzend, besondere Aufmerksamkeit und meint, dass im Anschluss an eine statische Beleuchtung auch hier der „Gegensatz zwischen dem volkswirtschaftlichen Communismus“ und seiner sozialethischen Position deutlich wird (ibid.). Der nivellierende Kommunismus, anders als die Sozialethik, sei also im Grunde doch eine unsolidarische „Weltanschauung“ (ibid.).37 36 „Wie häufig geschieht es, dass man in den höher gebildeten Classen der fashionablen Welt zurückschaudert vor diesem Pfuhl des Verderbens und die einzelnen Opfer der Prostitution wie entartete Ungeheuer ansieht! Aber man vergisst, dass bis in die höchsten Schichten der Gesellschaft hinein die moralische Solidarität sich erstreckt; dass die entarteten Gesinnungen der Gesammtheit […] den Boden bereiten für diese wuchernde Unkrautsaat der Prostitution.“ (1869a, 470; 1882a, 213). „Deutlich tritt auch die Mitschuld des Gemeinwesens zu Tage in der fabelhaften Verwahrlosung, die man in Betreff der Schulbildung, sowie der intellectuellen und religiösen Entwickelung bei den Prostituierten findet.“ (1869a, 471; 1882a, 214). 37 „Das sittlich und rechtlich geregelte, mit dem Gemeinwohl und Familienglück solidarisch
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Gleichzeitig wendet er sich genauso scharf gegen eine Autonomisierung des Ökonomischen:38 Wenn Capital und Arbeit correlate Begriffe sind und Arbeit als eine sittliche Leistung anerkannt wird, so ist auch der Begriff des sittlichen Capitals unvermeidlich. Ohne sittliche Tendenz und Schranke wird das Capital ein Zerstörer, mit jener eine Basis der Volkswohlfahrt; materielles ohne moralisches Capital ist, wie die sociale Calamität der Gegenwart beweist, die wahre crux, ja der Fluch der politischen Oekonomie, der tyrannische Erzeuger der communistischen Revolution, welche ihrerseits nur die demokratische Kehrseite der finanziellen, entsittlichten Bourgeoisie ist. (1869a, 664f, Anm. 1; 1882a, 402).
Von Oettingen hebt die große sozialethische Relevanz des Ökonomischen hervor und weist darauf hin, „dass wir die politische Windrichtung und den Zug der geistigen Atmosphäre in einem grösseren Gemeinwesen geradezu an den Geldverhältnissen wie an einem entscheidenden Barometer messen könnten“ (1869a, 657; 1882a, 402). Auch die eingehendere Analyse des überreichen kriminalstatistischen Materials ließe „die sittliche Solidarität aller Gesellschaftsclassen unzweifelhaft erscheinen“ (1868a, 688f; 1882a, 438). Es liege nahe nicht nur zu bejahen, dass man innerhalb der Bevölkerung stets mit einem Bruchteil solcher Menschen rechnen muss, die sich durch „eine gewisse zuständliche Disposition zum Verbrechen“ auszeichnen. Vielmehr gelte, dass „jeder seinen Beitrag liefert“:39 verknüpfte, vor allen Dingen das ehrlich und im Schweiss des Angesichts arbeitende Interesse der Selbsterhaltung ist der empirische Haupfactor, das Hauptmotiv erfolgreicher ökonomischer Entwickelung. Weder der communistische Gleichheitsschwindel […]. Noch die idealistisch–christliche Exstirpirung, d. h. die grundsätzliche Ausrottung des Selbsterhaltungstriebes […] kann der productiven Lebensbethätigung eine gesunde Richtung verleihen.“ (1869a, 653; 1882a, 398). 38 Die Suche nach einem sog. dritten Weg jenseits dieser Alternative ist also auch in der Neuzeit eine alte. Von Oettingen steht damit nicht allein da, und gerade hier ist die werdende katholische Soziallehre wichtig. In der 3. Auflage des Werkes Die Moralstatistik befindet sich z. B. eine höchst charakteristische Ergänzung, wo er gegenüber dem Statistiker und Nationalökonomen Christian Lorenz Ernst Engel (1821–1896), der „im Angesichts des modernen Manchestertums jenes Paradoxon: der grösste Egoismus ist die grösste Humanität (und umgekehrt) – für einen streng nachweisbaren Satz aus der Mechanik des Selbstinteresses zu erklären wagt“, sich „lieber mit dem Eisenacher Kathedersocialismus“ hält, der nämlich in den Worten des Ökonomen und Sozialwissenschaftlers Gustav Friedrich Schmoller (1838– 1917) „einen so würdigen Ausdruck fand: ,das Uebersehen des psychologischen Zusammenhangs zwischen den Organisationsformen der Volkswirtschaft und dem ganzen sittlichen Zustand einer Nation ist der Kernpunkt des Uebels; – von der Erkenntniss dieses Zusammenhangs hat die ganze Reform auszugehen‘“ (1882a, 397, Anm. 1). Sehr pointiert operiert neuerlich aus theologischer Perspektive Hans Küng mit einer Dreier-Typologie in seinem Buch Anständig wirtschaften. Warum Ökonomie Moral braucht aus dem Jahr 2010 (Küng, Anständig wirtschaften). 39 In der 3. Auflage ergänzt er an dieser Stelle den Text durch die explizite Ablehnung des Vorwurfes, dass seine Analyse auf die Entlastung einzelner Verbrecher hinauslaufe. Sehr
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Nicht blos kleinlich und sentimental erscheint es, wenn wir schaudernd von diesen angeblichen Parias der Gesellschaft, uns abwenden in dem Bewusstsein, über die Fähigkeit, geschweige denn über den Hang zum Verbrechen weit erhaben zu sein; – nein es ist einfach pharisäische Selbsttäuschung und Selbstüberhebung, die beim Elende des Bruders kalt hinwegsieht über die Mitverantwortlichkeit und Mitschuld, welche jeder als Glied der Gemeinschaft an seinem Theile in sich trägt. (1869a, 688; 1882a, 437).
Und noch ein letztes Beispiel. Dass Solidarität nicht nur zwischen Menschen einer Zeit bestehen soll, sondern auch generationsübergreifend wirkt, meint von Oettingen gerade auch mit der Beleuchtung des statistischen Materials, welches „Siechthum“ und Sterblichkeit aufführt, zeigen zu können. Weder Krankheit noch Tod sei als „eine blos individuelle Angelegenheit des Einzelnen“ aufzufassen, denn auch hier zeige sich jene „solidarische[] Verkettung“ (1882a, 659). Alles in allem lege die Moralstatistik „ein so gewaltiges Zeugniss“ von „dem einen grossen Gesetz der Solidarität“ ab (1869a, 989).
30.2.4 Solidarität der Sünde, Solidarität des Heils und Solidarität Gottes Darauf, wie von Oettingen aus theologischer Perspektive an die so herausgestellte und konkretisierte Solidarität anknüpft, brauche ich nicht mehr näher einzugehen. Ich verweise vielmehr auf den zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung, auf Kap. 18.4 (Die Moralstatistik als Anknüpfungspunkt für eine materielle Ethik als Sozialethik) und auf Kap. 19.1.1–2 (Zur Bedeutung der [Moral-]Statistik für die Ethik; Sozialethische Grundeinsichten), aber auch auf Kap. 27.7 (Zum sozialethischen Charakter des lutherischen Konfessionstypus) und auf Kap. 29.3.3 (Das Kreuz Christi: Genugtuung und Stellvertretung [Solidarität]). Sowohl für das Verständnis von Schuld und Sünde, als auch für das des Heils ist für von Oettingen die Einsicht in die Solidarität und in den jeweiligen Gattungsaspekt grundlegend.40 In biblischer Diktion deutet er an, was er in der christlichen Sozialethik und in seiner kreuzestheologischen Glaubenslehre systematisch-theologisch erörtert: Nach dem Gesetz der Solidarität und der Stellvertretung vermag nur der zweite Adam (1. Cor. 15, 45) […] als das Lamm Gottes der Welt Sünde für uns zu tragen (Joh. 1, 29. 36), damit, wie sie in Adam Alle sterben, sie in Christo Alle können lebendig gemacht wohl aber stelle die Analyse „die Last seiner Schuld […] in das Licht der Solidarität“ (1882a, 440). 40 Vgl. 1869a, §131 (1882a, §68); 1900c, 493–495, 509 (!), 536 (!), 559f. Von Oettingen versteht den Heilsprozess durch das (in der Moralstatistik aufgefundene und biblisch bestätigte) „Gesetz der Solidarität und der Stellvertretung“. Es gilt allgemein (fundamentalanthropologisch), d. h. sowohl im Zuge einer abnormalen, als auch einer rettenden oder erlösenden Entwicklung (1869a, 985).
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werden (1. Cor. 15, 21). Und wie die Glieder der adamitischen Menschheit Einen Leib der Sünde bilden […], so sind auch die Erlösten als Glieder des Gottesvolkes zu einem Reiche Gottes […] verbunden, in welchem die zerstreuten Todtengebeine zu organisirter Schönheit wiedervereinigt erscheinen durch den belebenden Hauch des Geistes Gottes (Ez. 37). Sowohl die Einheit (Eph. 4, 4ff.; Röm. 12, 5), als auch die reiche Mannigfaltigkeit dieses Leibes der neuen Menschheit, da Christus das Haupt ist (1. Cor. 12, 6ff.; Eph. 4, 16f.), kann nicht tiefer gedacht und schöner verherrlicht werden, als der Apostel Paulus dies thut. (1869a, 985f; 1882a, 824f).
Im Geheimnis des Kreuzes Christi – in diesem Geheimnis der Stellvertretung – zeigt sich jene Solidarität, die das Solidaritätsdefizit der Menschheit überwindet. Das Werk Christi als Stellvertretung aufzufassen, bedeutet also, dessen umfassende Weite bzw. dessen humanen Sinn – eben, dass es die ganze Menschheit in heilsamer Weise trifft und qualifiziert – anzuerkennen und hervorzuheben. Dem Solidaritätsbegriff widerfährt bei von Oettingen eine sozialethischkreuzestheologische Aufnahme und Vertiefung. Gott selbst erweist sich als solidarisch mit der Menschheit inmitten ihrer negativen Bestimmtheit durch Sünde und Schuld, das Leiden und den Tod, das Übel und das Böse. Jene Solidarität Gottes mit der Menschheit in Jesus Christus ist zugleich eine heilsame Neuqualifikation der Menschheit, die im Einzelnen wirksam werden kann. Dabei ist eine soziale, geschichtlich-zwischenmenschliche Vermittlung unabdingbar – die christliche bzw. kirchliche Solidarität. Ihr Ursprung und Grund bleibt jedoch die Solidarität Gottes selbst.41 Letztere Wendung lässt sich bei von Oettingen, im Unterschied zur Rede von der Toleranz Gottes, so nicht finden. Sachlich scheint jedoch nichts dagegen zu sprechen. Sie bietet sich vielmehr an, i. e. wird kreuzestheologisch und sozialethisch unmittelbar nahegelegt. 30.2.5 Solidarität, Zeitdiagnostik und sozialpolitische Einstellung Die möglichst umfassend angelegte statistisch-empirische Gesellschaftsanalyse, die von Oettingen in seiner Moralstatistik unternimmt, vermag, so seine Hoffnung, für Solidarität zu sensibilisieren. Das sei nötig, weil trotz einer sich in vielerlei Weise zeigenden Tendenz „zur Gemeinsamkeit“, zum „collective[n] Denken und Schaffen“,42 die die Gegenwart charakterisiere, „das Verständniss 41 Jähnichen identifiziert einen theologisch geprägten Solidaritätsbegriff bei Martin Niemöller und beim späten Helmut Gollwitzer. Er „gründet auf der Tat Gottes in Jesus Christus, der sich mit den Menschen solidarisiert hat. Dieses Handeln Gottes ermöglicht den Menschen seinerseits, Solidarität zu üben, wobei in letzter Konsequenz ein umfassender, tendenziell grenzenloser Verantwortungsbereich vorausgesetzt wird.“ (Jähnichen, Solidarität, 89). 42 „Die öffentliche Meinung ist eine Grossmacht ersten Ranges geworden und hat sich ein mächtiges Organ in der Presse verschaffen. Die Associationen stehen in voller Blüthe. Der nationale Geist feiert seine Triumphe im Kriege und im Frieden. Die social-politische Frage ist an der Tagesordnung.“ (1869a, 989; 1882a, 828).
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für die Solidarität in ethischer Hinsicht“ fehle (1869a, 989; vgl. 1882a, 828). Die verschiedenartigen sozialen Probleme und Missstände würden dank der Moralstatistik deutlicher als solche sichtbar, die zur anteilnehmenden Selbstkritik Anlass geben. Sie fördere somit das Bewusstsein für die Mitverantwortung des Charakters der „socialen Verhältnisse“ (ibid.), unter denen die einzelnen Personen geboren werden und heranwachsen, leben und agieren. Aufgrund der Solidarität gebe es so etwas wie „Collectivschuld“ bzw. „Gesellschaftsschuld“, „Generations-Sünden“ und „Zeitsünden“ etc., und nur unter der Voraussetzung, dass diese anerkannt und konkret berücksichtigt werden, könne man „die Schuld des Mitbruders mit gerechterem Maassstabe messen lernen“ (ibid.). Wegen der Solidarität ist die (immer auch selbst-)kritische Betrachtung und Beurteilung der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen das leibliche und geistliche Werden der Einzelpersonen stattfindet, eine vordringliche Aufgabe. Die moralstatistischen und sozialethischen Studien können einen wichtigen Beitrag zu dem (nie abgeschlossenen) Prozess der Gestaltung der „sogenannten öffentlichen Meinung“ zu einem „Collektivgewissen“ leisten (ibid.). Das Werden bzw. die Entwicklung eines solchen sozialen und sittlichen Bewusstseins ist dabei natürlich ein Prozess, an dem sich jede Person irgendwie beteiligt. Dagegen stehe die Vorstellung, die Moral sei bloß eine Privatsache, im direkten Widerspruch zur Solidarität (vgl. 1869a, 990; 1882a, 829). Wie im Teil II gezeigt, ist von Oettingen der Überzeugung, dass das sozialstatistische Material sich weder unter der „sozialphysischen“ Voraussetzung, dass die soziale Gesetzmäßigkeit von der Art her mit der physikalischen identisch ist, verstehen lässt, noch unter der „personalethischen“ Voraussetzung, die von der Autonomie des Einzelnen ausgeht. Mit der statistisch-empirischen Beobachtung der gesellschaftlichen Wirklichkeit könne man die Relevanz der jeweils „gegebenen organisch-naturwüchsigen Formen“ in der „Organisation des Gesammtleibes“ entdecken (ibid.). Eine Gesellschaft sei nie nur ein „blosser Haufen gleichberechtigter Individuen“, sondern immer ein organisiertes dynamisches Gebilde, „ein geordneter Leib, der […] nach seinen eigenthümlichen Gesetzen sich bewegt“ und in dem „die gegenseitige Handreichung“, jenes komplexe Angewiesensein aufeinander, gerade „den Unterschied der Glieder“ zur Voraussetzung hat.43 Die Einsicht in die soziale Gesetzmäßigkeit, zu der die 43 Ich hebe ausdrücklich hervor, dass von Oettingen nicht, wie später in einflussreicher Weise Ferdinand Tönnies (vgl. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft), mit einer Entgegenstellung von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ operiert. Er verwendet beide Begriffe oft synonym. In einigen Kontexten hat „Gesellschaft“ auch einen Sinn, der eher dem heute gängigen Gebrauch entspricht. „Gemeinschaft“ kann sowohl auf engere als auch auf weitere Sozialgebilde angewandt werden (z. B. auf die Familie, aber auch auf die Menschheit als Ganzes). „Gesellschaft“ kann er v. a. gegenüber dem Begriff „Staat“ profilieren (vgl. 1873a, 683f; 702f). Wichtig ist, dass Gemeinschaften als organische Gebilde vorgestellt werden, i. e.
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Moralstatistik verhilft, fördere die Anerkennung der Tradition und Sitte – man kann auch sagen: der sozialen Institutionen und Organisations- bzw. Interaktionsformen – als der „erhaltenden und bauenden Mächte“ (1882a, 829). Jede förderliche Organisation und Gestaltung der Gesellschaft sei deshalb immer auch „durch den geschichtlichen Sinn“ bedingt (ibid.). Ich beschränke mich hier auf diese selektiven Hinweise aus der Schlussbetrachtung des Teilwerkes Die Moralstatistik. Von Oettingens Die christliche Sittenlehre, die einen „Abriss des Systems christlicher Sittenlehre als Entwurf einer Socialethik“ enthält, vollzieht dann eine nähere systematische Auseinandersetzung mit den Fragen der Gesellschaftsgestaltung, wobei dem Rückgriff auf den Gedanken der Solidarität eine zentrale Rolle zukommt (vgl. 1873a, 391–642). Mit Blick auf verschiedene Grundprobleme der Gesellschaftsgestaltung wird „die wahrhaft socialethische Auffassung, die mit dem Gesetz der Solidarität steht und fällt“ herausgearbeitet (1873a, 705). Es ist zweifellos so, dass schon das durch die Moralstatistik empirisch-hypothetisch herausgestellte Solidaritätsgesetz faktisch für eine sozialkonservative Grundhaltung bei von Oettingen spricht. Doch ist diese keinesfalls unkritisch, starr oder verabsolutierend. Zum Beispiel distanziert er sich in der Erörterung der politischen Verfassungsformen ausdrücklich und typisch von einem Konservatismus, „der mit Hintansetzung des nothwendigen Fortschritts und der persönlichen Freiheitsrechte der Einzelnen stets dem Bestehenden das Wort redet und die Auctorität im Staate als eine göttlich unantastbare verherrlicht.“ (1873a, 695).44 Dagegen sei aus christlicher oder sozial-ethischer Perspektive „die Unvollkommenheit aller menschlich-natürlichen Ordnungen und die Nothwendigkeit einer stetigen Fortentwickelung des politischen Lebens“ zu betonen (ibid.). Eine „falsche, supranaturalistische Deutung“, nach der die Vertretung der Staatssouveränität als „direct von Gott eingesetzt“ und „jure divino herrsche[nd]“ angesehen wird, berücksichtige nicht, dass „die Obrigkeit zu ihrer Würde“ eben nur „auf dem Wege geschichtlicher Vermittelung und volksthümlicher Rechtsordnung“ gelange und deshalb auch ihr Recht menschlich bedingt und durch die Rechtsidee beschränkt sei (1873a, 690, 685). Die sozialethische Anschauung von Oettingens geht Hand in Hand mit Skepsis und Kritik gegenüber den Anschauungsweisen, die als atomistisch und nivellierend erscheinen. Gemeint sind solche Positionen, die der solidarischen als in organisierter bzw. in solidarischer Weise verbundene Glieder (vgl. oben Kap. 17.10, Anm. 11). Selbstverständlich ist jeder Mensch für von Oettingen gleichzeitig ein Glied verschiedener sozialer Teil- bzw. Subsysteme. 44 „Je mehr von diesem Standpunkte aus […] die Betheiligung des Volks-Ganzen an der staatlichen Entwickelung in den Hintergrund gedrängt wird, muss ein politischer Indifferentismus sich erzeugen, der als die krankhafte Kehrseite fanatischer Agitation nur zu leicht in die letztere umschlägt.“ (1873a, 695).
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Zusammengehörigkeit zuwiderlaufen, und die für die Organisation eines Gemeinwesens relevante Differenzen der Individuen gleichschalten und gerade dadurch zugleich die Freiheit der Individuen gefährden.45 Wie schon gesagt, widersprechen in den Augen von Oettingens der Solidarität und der sozialethischen Auffassung nicht nur der individualistische Liberalismus, sondern auch die sozialistischen und kommunistischen Positionen samt ihrer klassenbezogenen Solidaritätskonzepte. Wenn von Oettingen dagegen die Solidarität fundamental mit Blick auf die ganze Humanität hervorhebt, bedeutet das keinen „nivellierenden Kosmopolitismus, sondern die Idee von der Einheit des Menschengeschlechts mitten in seiner reich gegliederten Mannigfaltigkeit der berechtigen Volks- und Einzelindividualitäten“ (1869a, 772). Zugleich widerspricht die christliche Humanitätsidee aber auch einem „Nationalitätsschwindel“ oder einer „Apotheose des Volksthums“ (1873a, 678–686, bes. 678, 684). Der im 19. Jahrhundert nicht selten anzutreffende Nationalismus (wie auch der Antisemitismus) ist also dem Denken von Oettingens ganz fern. Zum Abschluss der Akzentuierung des Solidaritätsgedankens bei von Oettingen greife ich zwei spätere Äußerungen von ihm auf, die in pointierter Weise seine eigene Einstellung im Kontext der Diskurse seiner Zeit konkretisieren und profilieren. Die erste ist eine sozialpolitische Stellungnahme aus der Mitte der 1880er Jahre. Die zweite ist eine kritische Bemerkung zur sog. modernen Theologe aus der Zeit nach der Jahrhundertwende. In seiner kleinen, jedoch charakteristischen und gehaltvollen Schrift Was heißt christlich-social? würdigt er an einer Stelle in den höchsten Tönen den „Staatssocialismus“ Bismarcks, da darin das Bestreben um „eine Organisation der Gesellschaft […] auf dem Boden der Solidarität“ stecke (1886 g, 56, 62). In kritischer Auseinandersetzung mit den wichtigsten Grundtypen der modernen politischen Theorie, i. e. vereinfacht: mit dem (englischen) Liberalismus einerseits und dem (französischen) Sozialismus und Kommunismus andererseits, erhofft er von eben jener Sozialpolitik die Anbahnung „eine[r] neue[n] socialpolitische[n] Aera“, die Verwirklichung einer rechtlich geordneten Solidarität, einer „gesetzlich geschützte[n] und geforderte[n] gegenseitige[n] Verantwort45 Sie legen zwar „gerade auf den collectiven Factor des sittlichen Lebens einen besonderen Nachdruck“, aber verstehen dieses unzureichend, „sofern jenes Collectivum nur wie eine das Individuum verschlingende Naturmacht oder wie eine den Werth des Persönlichen nivellierende Gattungs-Idee auftritt. Wie in der Zeit altclassischer Entwicklung […] die Staatsidee das Recht der Einzelpersönlichkeit zu absorbieren drohte, eben weil man weder den Begriff der Humanität, noch den der Familie (der Ehe, des Weibes), noch die gliedliche Bedeutung und Stellung jedes Einzelnen innerhalb des menschlichen Gesammtlebenes zu würdigen verstand, so tritt auch neuerdings dieselbe Einseitigkeit überall da zu Tage, wo der Werth des Individuums verkannt und die Gemeinschaft nur zum Schein, d. h. nicht in ihrer realen Beziehung zu den gliedlich mit ihr verwachsenen Einzelwesen betrachtet wird.“ (1868a, 31).
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lichkeit“, die den neuen Herausforderungen der Zeit gewachsen ist (1888a, 50f).46 Auf diesem Weg könne die Solidarität eine moderne Gesellschaft mitgestalten. Obwohl er selbst sich damit für eine – und zwar für eine ganz spezifische – Sozialpolitik ausspricht, distanziert er sich prinzipiell von der Auffassung, es gebe „eine specifisch christliche Socialpolitik“ (1886 g, 60–67, bes. 62). Über die Usurpierung des Prädikats „christlich“ für „gewisse social-politische Verfassungs- oder Parteianschauungen“ sagt er : jene längst verbrauchten Schlagwörter ,conservativ‘ und ,liberal‘ decken sich schlechterdings nicht mit ,christlich‘ und ,unchristlich‘. Denn das Schlechte und Ueberlebte zu conservieren ist unchristlich; den gesunden liberalen Fortschritt zu fördern, kann sehr wohl mit echt-christlicher Gesinnung Hand in Hand gehen. Und praktisch die Sache angesehen, sind denn die Herren Conservativen (zu denen ja auch die Centrumsmänner47 sich rechnen), sind die Herren Kreuzzeitungsritter48 […] wirklich Vertreter ,christlicher Politik‘ oder wird nicht Vielen von ihnen im Interesse ihrer Standespolitik das Christenthum zu einem nützlichen und brauchbaren Volkserziehungsmittel, zu einer den Gehorsam und die Dienstwilligkeit fördenden Sache der niederen Gesellschaftsschichten, ja zu einer – wie man’s genannt hat – ganz ,rentable‘ Heuchelei? Und tragen dagegen schlichte, gesinnungstüchtige Vertreter der freiconservativen49 oder nationalliberalen50 Partei das Brandmal der Gottlosigkeit an der Stirn? Wohin gerathen wir auf diesem Wege? Zur Schablonisirung und Degradirung des Evangeliums als eines Thermometers für politische Parteiinteressen. Gott bewahre uns davor! (1886 g, 62).
In seinem Solidaritätsbegriff verdichten sich so soziologische, ethische, politische und theologische Konnotationen und Sinnaspekte. Letztmalig kommt von Oettingen auf die Solidarität während eines seiner letzten öffentlich-literarischen Auftritte im Jahr 1904 zu sprechen.51 Dort ge46 Er schildert, was seines Erachtens die politischen Einzelmassnahmen sein sollten: „Stärkung des corporativen Geistes, Herstellung von Berufsinnungen unter staatlichem Schutz, Unfallund Invaliditätsversicherung, Regelung des Steuerwesens, Revision der Gesetze in Betreff der Gewerbefreiheit und Freizügigkeit, des Unterstützungswohnsitzes und der Heimathsberechtigung, Verbesserung des Gefängnißwesens und der Zwangsarbeitsinstitute, geordnetes Armenwesen und strengere Sittenpolizei, Anerkennung des Notharbeitsrechtes und Förderung der öffentlichen Industrieunternehmungen, allmähliche Verstaatlichung aller Communicationsmittel (Eisenbahnen) und der Latifundien – das wären etwa neben der Entwickelung der Volksschule und der kirchlichen Volkserziehung die Hauptideale, welche der Staatsleitung vorschweben müssen, wenn sie in ihrer Berufssphäre ,praktisches Christentum‘ fördern will.“ (1886 g, 56f). 47 Die Deutsche Zentrumspartei war die wichtigste politische Repräsentatin der deutschen Katholiken. 48 Das Hauptorgan der Konservativen bzw. der Deutschkonservativen Partei war die Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung). 49 Die Freikonservative Partei entstand durch Abspaltung von der Konservativen Partei. 50 Auch die Nationalliberale entand durch die Abspaltung von der Konservativen Partei. 51 Vgl. oben Kap. 8.
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schieht es allerdings mit einer kritischen Pointe. Er hat dabei die sich selbst programmatisch als „modern“ auffassende Theologie, in erster Linie die Schule Ritschls und speziell Adolf von Harnacks berühmte Vorlesungen über das Wesen des Christentums, vor Augen. Das spezifisch Moderne trete dort insbesondere darin in Erscheinung, dass „in einseitig moralische[r] Tendenz die ,Forderung der Solidarität und Bruderliebe‘ als ,das wesentliche Element des Evangeliums‘ bezeichnet wird“ (1904a, 351). Jene Forderung könne zwar als die Pointe des Gesetzes aufgefasst werden. Sie jedoch als das Evangelium darzustellen, so verstehe ich den Vorwurf, wende das Evangelium zum Gesetz. Darin erblickt er eine Grundgefahr des modern sein wollenden Christentums seiner Zeit.
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Zusammenfassung und Ausblick: Solidarische Toleranz Es ist heute eine transdisziplinär verbreitete Ansicht, dass es mit Blick auf die Geschichte oder den Werdeprozess unserer Gegenwart immer wieder aufschlussreich sein kann, dezentrierende Schritte zu wagen und die Aufmerksamkeit auf das Außerkanonische zu lenken. Es ist das Andere und Fremde unserer gängigen Genealogien, das in unserem historischen Bewusstsein, in unseren Geschichtsschreibungen am Rande vielleicht noch irgendwie rudimentär präsent sein mag, doch weitgehend in Vergessenheit geraten oder sogar verdrängt ist. Die Gründe dafür können jeweils sehr verschiedene sein. Eine monokausale Erklärung dürfte meistens verfehlt sein. Von einer natürlichen Selektion kann, wenn überhaupt, nur mit Vorbehalt gesprochen werden. Alexander von Oettingens umfangreiches Werk gehört im Großen und Ganzen sicherlich zu einer solchen Geschichte des Ungesagten. Es ist außerhalb der Grenzen unseres Interesses, d. h. des der nachfolgenden Generationen, liegen geblieben. In dieser Studie, die auf der Basis langjähriger Quellenarbeit zum ersten Mal eine Interpretation des Gesamtwerkes von Oettingens vorschlägt, hoffe ich gezeigt zu haben, dass dieses aus theologischer Perspektive in mehrfacher Hinsicht verdient erinnert und berücksichtigt, neu gelesen und weiter erforscht zu werden.1 Es ist zweifellos so, dass gerade der weitere Verlauf der (Theologie-)Geschichte entscheidend dazu beigetragen hat, dass das Faszinierende im Werk von Oettingens wahrgenommen werden kann. Wie es zu seiner Zeit – durchaus unterschiedlich – aufgenommen wurde, habe ich exemplarisch herausgearbeitet. Die theologiehistorische Bedeutung des Werkes von Oettingens kann – das ist die eine Entdeckung und These – zum einen darin gesehen werden, dass hier zum ersten Mal in der Zeit nach der Aufklärung der Wendung „Theologie des Kreuzes“ der Rang eines fundamentaltheologischen Leitbegriffes zugesprochen wird. Ein solcher Schritt erfolgte damit viel früher, in einer epochal anderen Konstellation, als bisher angenommen worden ist. Er geschieht nicht in der Atmosphäre der Bestrebungen nach einer theologischen Neuorientierung nach dem Ersten Weltkrieg, sondern inmitten des 19. Jahrhunderts. Seit dem Jahr 1859 taucht die Wendung bei von Oettingen immer wieder, in immer neuen Anläufen und im Zusammenhang verschiedener Situationen, 1 Ich konstatiere, dass, obwohl von Oettingen im Laufe eines halben Jahrhunderts vom heutigen Tartu (Dorpat) aus die Theologie und auch sonst das Gesicht der lutherischen Konfessionskultur in den damaligen baltischen Ostseeprovinzen des Kaiserreiches Russlands sehr einflussreich mitgeprägt hat, für sein Werk das Urteil „weitgehend vergessen“ auch in Estland gilt.
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Themen und Fragestellungen auf. Der Rückgriff auf sie erfolgt, wenn es um prinzipielle theologische Orientierung angesichts variierender Herausforderungen, aber auch um eine Vergewisserung über Identität und Grundcharakter der theologischen Arbeit geht. Die Explikationen des Sinnes der Wendung beanspruchen eine strukturelle Grundkontinuität, weisen aber auch beachtliche Variationen auf. Von Oettingen modifiziert also die Explikationsgestalten der Kreuzestheologie konstruktiv und kreativ. Es handelt sich eben nicht um einen statischen, sondern um einen dynamischen und produktiven Begriff. Ein Höhepunkt seines Werkes ist seine große um die Jahrhundertwende (1897–1902) erschienene kreuzestheologische Dogmatik. Insofern bedarf die Ansicht, dass theologia crucis erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch Hans Joachim Iwand zu einem eigentlichen dogmatischen Grundbegriff wurde und erstmalig Gerhard Ebeling Ende der 1970er Jahre unter diesem Vorzeichen eine dogmatische Gesamtdarstellung erprobte, einer Revision. Von Oettingen ist der erste systematische Theologe, der explizit Kreuzestheologie treiben will und der dieses Anliegen später auch in die Gestalt einer wissenschaftlich-dogmatischen Gesamtdarstellung, in eine dogmatische Prinzipienlehre und eine materielle systematische Entfaltung transformiert. „Theologie des Kreuzes“ ist ein gängiger, aber auch sehr unterschiedlich verwendeter und umstrittener Begriff geworden. Er kann einen in erster Linie erkenntnistheoretischen bzw. -kritischen Sinn besitzen und evtl. eine ontologiebzw. ideologiekritische Pointe oder auch eine machtkritische oder befreiungstheologische Zielrichtung haben. Rein formal kann er als Bezeichnung für die Deutung des Kreuzes Christi dienen, ohne jegliche spezifische inhaltliche Konnotation oder epistemische Verpflichtung. Er kann eine radikale apophatische Haltung signalisieren, bei der der Bezug auf das Kreuz Jesu Christi eine eher sekundäre oder sogar keine Rolle spielt. Er kann als eine Ansage sowohl der Sache der christlichen Theologie, als auch ihrer Erkenntnisweise beansprucht werden. Neben diesen verschiedenen positiven Verwendungsweisen kann er sehr wohl auch als eine Zusammenfassung dessen verwendet werden, was gerade abzulehnen oder zu überwinden ist. Bei von Oettingen hat „Kreuzestheologie“ einen fundamentaltheologischen Rang in benanntem Doppelsinn: Sie markiert die Verpflichtung sowohl zu ganz bestimmten zentralen Sacheinsichten, als auch zu den diesen Sacheinsichten entsprechenden oder in ihnen enthaltenen Einsichten in den Status und Modus der theologischen Erkenntnis. Jene Sacheinsichten werden bei von Oettingen in ihrer hermeneutischen Relevanz zur Geltung gebracht. Von Oettingens Werk ragt jedoch auch dadurch hervor, dass darin in den 1860er Jahren der Begriff „Sozialethik“ in den theologischen Diskurs eingeführt wird. Er bildet den Begriff in programmatischer Weise im Zusammenhang seiner großangelegten Transformation der Ethik in die Sozialethik. Sozialethik
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hat hier keinen teilbereichlichen, sondern einen fundamentalethischen Sinn, insofern Ethik überhaupt als Sozialethik verstanden wird.2 Dieser Erneuerungsversuch wissenschaftlicher Ethik zeichnet sich zudem dadurch aus, dass er in einer intensiven Auseinandersetzung mit den entstehenden Sozialwissenschaften und unter origineller Einbeziehung der empirischen Sozialforschung erfolgt. So wird von Oettingen zu einem Pionier des Gespräches zwischen Theologie und Soziologie. In diesem Zusammenhang lässt sich anhand seines Werkes auch der heutige Forschungsstand, wonach das Solidaritätskonzept als ein „programmatischer Leitbegriff europäischer Moderne“ innerhalb der Theologie erst spät aufgenommen worden sei,3 wesentlich revidieren. Wie ich zeigen konnte, erfolgte das eben nicht am Ende des 19. Jahrhunderts durch katholische Theologen. Aber auch in der evangelischen Theologie passierte dies nicht erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Schon bei von Oettingen spielte es eine wichtige Rolle. Er kann unter den Theologen als einer der ersten, vielleicht sogar als der erste profilierte Vertreter des Solidaritätsdenkens gelten. Die Genese einer ausdrücklich als Kreuzestheologie erfassten Theologie und die einer als Sozialethik begriffenen Ethik koinzidieren also in der Moderne und zwar im Werk Alexander von Oettingens. Diese Koinzidenz, die in dieser Studie erstmals ans Licht gebracht wird, entpuppt sich als kein bloßer Zufall. Im Werk von Oettingens gehören Kreuzestheologie und Sozialethik vielmehr sachlich eng, ja untrennbar zusammen. Obwohl sich die Impulse für eine Sozialethik keinesfalls exklusiv auf kreuzestheologische Grundeinsichten reduzieren lassen, das Recht einer Sozialethik sich vielmehr, z. B. auch empirisch-soziologisch, plausibilisieren lässt, können die bisher gelegentlich anzutreffenden Meinungen, von Oettingen wolle die Ethik statistisch begründen und seine „sozialethische Weltansicht“ sei eine Konsequenz seiner Moralstatistik, verabschiedet werden. Aus kreuzestheologischer und sozialethischer Perspektive weist von Oettingen nicht zuletzt grundsätzlich die, egal ob als Lob oder Vorwurf intendierte, Meinung zurück, wonach das evangelische Verständnis vom Christentum sich durch eine besondere Hervorhebung und Bevorzugung des Einzelnen gegenüber dem Sozialen und Kirchlichen auszeichne, sich also durch einen betont individuellen und subjektiven Zug charakterisieren lasse. Er tritt allerdings auch für keine kollektivistische, totalitäre Gleichschaltung des Individuums ein, sondern will mit seiner Sozialethik ausdrücklich der Einheit in Verschiedenheit gerecht werden. 2 Vgl. das Dictum von Eilert Herms: „[E]thik in concreto [ist] immer Sozialethik“ (Herms, Gesellschaft gestalten, xii). 3 Große Kracht, Jenseits von Mitleid und Barmherzigkeit, 13.
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Wenn man aus der Theologie des 20. Jahrhunderts ein Buch benennen möchte, in dem sich markante Parallelen zur Sozialethik von Oettingens aufweisen lassen, dann wäre trotz der Unterschiede in Umfang und Detailliertheit der Ausführung Dietrich Bonhoeffers Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche (1930) ein guter Kandidat.4 Aber auch über dieses Buch hinaus bestehen zwischen dem Denken von Oettingens und dem „kreuzesförmigen“ Denken Bonhoeffers wichtige Berührungspunkte.5 Unter den großen Theologen des 20. Jh. hat Emil Brunner6 das Denken von Oettingens, jedenfalls seine Hauptwerke, genauer gekannt. In verschiedenen Zusammenhängen, vor allem in seiner Ethik und Anthropologie, bezieht er sich, mit großer Hochachtung auf ihn. Hans Joachim Iwand ist unter diesen Theologen derjenige, der in seinen Vorlesungen zur neueren Theologiegeschichte im Anschluss an Die Moralstatistik „den völlig vergessenen, aber hochinteressanten und einzigartigen Alexander von Oettingen“ ausführlicher behandelt.7 Die gegenwärtige Situation des 21. Jahrhunderts ist charakterisiert durch einen gesteigerten religiösen und weltanschaulichen Pluralismus, ein Zeitalter der wirtschaftlich und medial, z. T. auch politisch globalisierten Welt, eine Zeit der Spät- oder vielleicht auch Postmoderne. Gerade in dieser Situation erscheint von Oettingens Theologie zwar in Vielem als eine in eine längst vergangene Zeit gehörende, gleichzeitig jedoch als eine Theologie, die in und wegen ihrer kreuzestheologischen und sozialethischen Grundorientierung anregende Potenziale enthält. Ich begrenze mich auf zwei Hinweise, die beide mit unserer radikal pluralistischen „Großwetterlage“ zu tun haben. Sie stellt m. E. eine Theologiepraxis dar, die eine ökumenische Relevanz haben und für die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen Impulse geben kann. Von Oettingens Kreuzestheologie will als evangelische Theologie zugleich eine kirchliche, eine wahrhaft katholische Theologie sein. Er weiß sich der kirchlichen Lehrtradition, speziell dem lutherischen Bekenntnis verbunden, aber ein exklusiv-selbstgenügsamer protestantischer bzw. lutherischer Konfessionalismus, so wie auch ein Biblizismus, sind ihm völlig fern. Er stellt viele gängige, gut 4 Es ist auffällig, dass der Doktorvater Bonhoeffers, Reinhold Seeberg (vgl. oben Kap. 4), einen nicht unwichtigen genealogischen Hinweis in der Dissertationsschrift nicht zu von Oettingens Gunsten revidieren lassen hat. Bonhoeffer schreibt: „So viel ich sehe, hat erst R. Seeberg in seiner Dogmatik […] den Gedanken der Sozialität, als zum ursprünglichen menschlichen Wesen gehörig, dargestellt und damit eine wichtige Lehre wieder in die Dogmatik hineingetragen, ohne die die Ideen der Erbsünde und besonders der Kirche nicht voll verstanden werden können.“ (Bonhoeffer, Sanctorum Communio, 38, Anm. 1). Vgl. Green, Theology Sociality ; von Soosten, Die Sozialität der Kirche; Gregor, „Christian Social Philosophy“. 5 Vgl. Gregor/Zimmermann, Cruciform Philsosophy. 6 Vgl. McGrath, Brunner; Jehle, Brunner. Zu Iwand vgl. zuletzt: Neddens, Politische Theologie und Theologie des Kreuzes. 7 So in der Vorlesung „Kirche und Gesellschaft“ (1951); zitiert nach: Hertog, Nachwort, 506.
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oder schlecht gemeinte Identifikationsweisen und Charakterisierungen des Protestantismus in Frage. Er arbeitet mit einer ideellen komparativen Konfessionstypologie, die als Modell durchaus lehr- und hilfreich zu sein vermag. Gleichzeitig kann man, sicherlich aus heutiger Sicht ganz besonders, feststellen, dass der gegenwärtige „Stand der Lehre“8 in diesen Typologien nicht unbedingt genau getroffen ist. Auf jeden Fall ist es ihm sein ganzes Werk hindurch ein wichtiges Anliegen, dass die Menschen ihre Solidarität mit der Kirche und dadurch in neuer Weise mit der ganzen Menschheit wahrzunehmen vermögen und leben wollen. Die wahrhaft evangelische, kreuzestheologische Kirchlichkeit erblickt er jenseits der Alternative eines konfessionellen Fundamentalismus einerseits und eines konfessionellen Indifferentismus, i. e. eines profillosen und ideologieanfälligen „Unionismus“, andererseits. Von Oettingen praktiziert Theologie in einer epochalen Konstellation, die er prinzipiell als durch einen weltanschaulichen und religiösen Pluralismus bestimmt wahrnimmt. Die typisch modernen Strategien für die Reduktion oder Überwindung dieses Pluralismus und seiner Konfliktpotentiale, z. B. durch Appelle auf die universalgültige Perspektive der Vernunft und damit einhergehende Verneinung oder Verschleierung der öffentlichen und sozialen Relevanz des Religiösen, hält er für naiv und kontraproduktiv.9 In dieser pluralistischen Situation kann die christliche Theologie die Orientierungs- und Gestaltungsfähigkeit des Glaubens, aber auch die öffentliche weltanschauliche, religiöse und ethische Debatte nur fördern, wenn sie bei der Explikation des christlichen Glaubens und Lebens stets darum bemüht ist, aus jener Perspektive der „christlichen Heilswahrheit“ bzw. des Evangeliums auch den Horizont weltanschaulicher und religiöser Grundoptionen mitzureflektieren. Dass die starke und kreuzestheologisch radikale Hervorhebung der Solidarität sowohl mit Blick auf das soziale, als auch auf das kirchliche Zusammenleben bei von Oettingen nicht auf eine totalitäre Solidarität hinausläuft – an deren eine Form ich mich aus meiner Kindheit im sowjetokkupierten Estland noch gut erinnere –, zeigt sich gut daran, dass er genauso stark und kreuzestheologisch radikal die Toleranz und somit die Freiheit des Gewissens und des Glaubens, den Respekt gegenüber der Gewissheit des Herzens hervorhebt. So wie er eine totalitäre Solidarität, sei es in Gestalt der Verabsolutierung parti8 Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie), §26. 9 Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass für von Oettingen Philosophie („universelle Geisteswissenschaft“) und Theologie („Glaubenswissenschaft“) in einem prinzipiellen Gegensatz stehen bzw. stehen müssen. Vielmehr bestehe speziell zwischen der Dogmatik einerseits und der Metaphysik und Religionsphilosophie andererseits „ein gewisses Verwandtschaftsverhältniss“. Eine Feindschaft entsteht, wenn das Recht zur jeweiligen Eigenart in Frage gestellt oder bestritten wird. „Saubere Grenzregulirung ist die Bedingung ihres gegenseitigen friedlichen und fruchtbaren Austauschs.“ (1897a, 411f; vgl. oben Kap. 21).
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kularer (z. B. nationaler) Kollektive oder der Menschheit als Gattung, kritisiert und für eine tolerante Solidarität auftritt, so kritisiert er auch eine indifferente Toleranz. Toleranz dürfe nicht missverstanden werden als religiöse Gleichgültigkeit, Oberflächlichkeit oder Profil- bzw. Charakterlosigkeit, die zur Sistierung der Wahrheitsfrage und zum solitären Schweigen anleitet, anstatt zum solidarischen öffentlichen Bezeugen des Wortes vom Kreuz – auch unter den Bedingungen des Gegensatzes, sogar der Unterdrückung oder Verfolgung – zu ermutigen und zu inspirieren. Wahre Toleranz ist solidarische Toleranz.
Literatur
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Literatur Hervorhebungen in den Zitaten entstammen dem Original, wenn nicht anders angegeben. Unterschiedliche Hervorhebungen (Sperrungen, Fettdruck, Kursivsetzungen, Unterstreichungen, besondere Schriftarten) wurden alle kursiviert.
Abkürzungen Die Abkürzungen folgen Redaktion der RGG4 (Hg.), Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaft nach RGG4 , Tübingen, 2007. Zusätzlich werden folgende Abkürzungen verwendet: Auf die Schriften von Oettingens wird mit Angabe der Jahreszahl verwiesen. DZ Dorpater Zeitschrift für Theologie und Kirche (1859–1874). MN Mittheilungen und Nachrichten für die evangelische Geistlichkeit Rußlands (hrsg. in Dorpat bis 1867) bzw. Mittheilungen und Nachrichten für die evangelische Kirche in Rußland (hrsg. in Riga ab 1868). BM Baltische Monatsschrift (hrsg. in Riga).
Bibliographie Alexander von Oettingens 1853 a) Die synagogale Elegik des Volkes Israel, insbesondere die Zion-Elegie Judah ha Levi’s in ihrer national-religiösen, historischen und ästhetischen Bedeutung, Dorpat 1853, vi u. 132 S. [im Anhang 6 Thesen]. b) Die synagogale Elegik des Volkes Israel, insbesondere die Zion-Elegie Juhah ha Levi’s als Ausdruck der Hoffnung Israels im Lichte der heiligen Schrift: Die Hoffnung Israels im Lichte der heiligen Schrift, Dorpat 1853, 133–211 [im Anhang 9 Thesen]. 1855 a) Gedanken über das Wesen und die Entwicklung der kirchlichen Glaubenswahrheit, MN 11, 1855, 327–356. b) Gedanken über das Wesen und die Entwicklung der kirchlichen Glaubenswahrheit [Schluß], MN 11, 1855, 393–407. 1856 a) De peccato in spiritum sanctum, qua cum eschatologia christiana contineatur ratione, disputatio, Dorpat 1856, 177 S. [im Anhang 12 Thesen].
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1858 a) Gefühl und Glaube, mit besonderer Berücksichtigung der Schrift von Dr. A. Carlblom: „Das Gefühl in seiner Bedeutung für den Glauben, im Gegensatz zu dem Intellectualismus innerhalb der kirchlichen Theologie unserer Zeit. Berlin (bei J. Springer) 1857. XII.S. u. 188S. in 8.“ [Erster Artikel], MN 14, 1858, 9–67. b) Gefühl und Glaube, mit besonderer Berücksichtigung der Schrift von Dr. A. Carlblom: „Das Gefühl in seiner Bedeutung für den Glauben, im Gegensatz zu dem Intellectualismus innerhalb der kirchlichen Theologie unserer Zeit. Berlin (bei J. Springer) 1857. XII.S. u. 188S. in 8.“ [Zweiter Artikel], MN 14, 1858, 330–366. 1859 a) Theologie und Kirche, DZ 1, 1859, 1–44. b) [Literärisches] Zur biblischen Rechtfertigungslehre: Dr. Joh.Ed. Huther : Kritisch exegetisches Handbuch über den Brief des Jakobus, Göttingen 1858. VIII und 208 S. [#] – Zugleich die XV. Abthl. des kritisch-exeg. Komment.’s über das N.T. von Dr. H.A.W. Meyer, DZ 1, 1859, 152–158. 1860 a) Zur Charakteristik Schleiermachers aus seinen Briefen [Erster Artikel], DZ 2, 1860, 35– 63. b) Zur Charakteristik Schleiermachers aus seinen Briefen [Zweiter Artikel (Schluß)], DZ 2, 1860, 183–213. c) [Mittheilungen] Eine lutherische Kirchweih im evangelischen Baden, DZ 2, 1860, 289– 296. d) [Literärisches] Fr.Jul. Stahl, Die lutherische Kirche und die Union, Zweite mit einem Anhange vermehrte Auflage, Berlin (W. Herta) 1860, DZ 2, 1860, 583–591. e) [Herausgeber] Dr. Martin Luther’s kleiner Katechismus mit erklärenden und beweisenden Bibelsprüchen, Riga/Dorpat 1860. f) Vorwort, in: 1860e. 1861 a) Shakespeare’s Bedeutung für den christlichen Theologen, DZ 3, 1861, 315–353. b) [Herausgeber] Sammlung kirchlicher Kernlieder mit Singweisen, Dorpat 1861, viii u. 136 S. 1862 a) [Literärisches] Joh.Jos.Ign. von Döllinger, „Kirche und Kirchen, Papstthum und Kirchenstaat“, historisch-politische Betrachtungen, München, Gotta. 1861. XLIII. S.684 in 8., DZ 4, 1862, 104–130. b) [Mittheilungen] Eine lutherische Kirchweih und die confessionelle Bewegung in Tyrol, DZ 4, 1862, 376–408. c) Durch Kreuz zum Licht. Predigten gehalten in Meran im Winter 1861/2, Erlangen 1862, viii u. 520 S. d) Die Wiedergeburt durch die Kindertaufe, ein articulus stantis et cadentis ecclesiae. Erster Artikel. Wiedergeburt und Taufe, DZ 3, 1862, 319–357. e) Die Wiedergeburt durch die Kindertaufe, ein articulus stantis et cadentis ecclesiae. Erster Artikel (Fortsetzung). Wiedergeburt und Taufe, DZ 4, 1862, 516–565.
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1863 a) Die Wiedergeburt durch die Kindertaufe, ein articulus stantis et cadentis ecclesiae. Erster Artikel. Wiedergeburt und Taufe, DZ 5, 1863, 3–29. b) [Litterärisches] G. Thomasius. Predigten, DZ 5, 1863, 303–306. c) Anfrage des Pastors K. Grüner zu Dünaburg und Erklärung des Prof. Dr. A. v. Oettingen in Dorpat, DZ 5, 1863, 314–320. d) Die Wiedergeburt durch die Kindertaufe, ein articulus stantis et cadentis ecclesiae. Zweiter Artikel. Kindertaufe und Kinderglauben, DZ 5, 1863, 321–352. e) [Zeitgeschichtliches] Die neuesten Kundgebungen der religiösen „Fortschrittspartei“ in Deutschland, DZ 5, 1863, 593–605. f) Über Kant’s Pflichtbegriff mit Beziehung auf unsere Zeit. Festrede gehalten am 12. Dezember als am urkundlichen Stiftungstage der Dorpater Universität, Dorpat 1863, 24 S. g) Zur Kirchenverfassungs-Frage. I., Dorpater Tagesblatt 1/171, 27. 07. 1863, Dorpat, 1–2. h) Zur Kirchenverfassungs-Frage. II., Dorpater Tagesblatt 1/173, 30. 07. 1863, Dorpat, 1–2. i) Zur Kirchenverfassungs-Frage. III., Dorpater Tagesblatt 1/174, 31. 07. 1863, Dorpat, 1. 1864 a) [Literärisches] Zur neueren ethischen Literatur: Vgl. Ad. Wuttke Handbuch der christlichen Sittenlehre 2 Bände. Berlin 1861/2. 583 und 655 S. Ch.Fr. Schmid Christliche Sittenlehre, herausgeg. von Dr. A. Haller. Stuttgart. Liesching 1861. 813 S. Chr. Palmer Die Moral des Christenthums. Stuttgart. Liesching 1864. 458 S. Ph.Th. Culmann Die christliche Ethik. I. Thl. Stuttg. Steinkopf. 1864. 429 S., DZ 6, 1864, 290–304. 1865 a) [Literärisches] A. Neander : Vorlesungen über Geschichte der christlichen Ethik. Herausgegeben von Dr. D. Erdmann. Berlin 1864., DZ 7, 1865, 120–125. b) [Literärisches] Bernhardt Wendt: Kirchliche Ethik vom Standpunkt der christlichen Freiheit. Theil I.: Einleitung in die Ethik: Entwickelungsgeschichte der christlichen Freiheit in der Kirche und Theologie. Leipzig bei G. Bredt. 1864., DZ 7, 1865, 125–131. c) [Literärisches] Dr. G.C.Ad. von Harleß; Christliche Ethik. Sechste verm. Aufl. Stuttgart bei S.G. Liesching. 1864. XVI. und 607 S., DZ 7, 1865, 249–271. d) Spinoza’s Ethik und der moderne Materialismus, DZ 7, 1865, 279–316. e) Schopenhauer’s Philosophie in ihrer Bedeutung für christliche Apologetik, DZ 7, 1865, 449–487. f) [Zeitgeschichtliches] Der erste deutsche Protestantentag, DZ 7, 1865, 532–564. 1866 a) [Literärisches] K.A.G. v. Zezschwitz: Zur Apologie des Christenthums nach Geschichte und Lehre. Leipzig 1865. X. u. 414 S., DZ 8, 1866, 306–313. b) [Literärisches] Dr. Rud. Hofmann (in Leipzig): Lehre von dem Gewissen. Leipzig, 1866. VIII. und 286 S. in 8., DZ 8, 1866, 582–595. c) [Mitverfasser] Gutachten der Dorpater theologischen Fakultät über die von der deutschen evang.-luther. Synode von Jowa in Nord-Amerika ihr vorgelegten Fragen, den kirchlichen Lehrconsensus betreffend, DZ 8, 1866, 539–571.
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Literatur
1867 a) Zur Wahrung der „Zweinaturenlehre“ gegenüber dem modernen Monophysitismus, DZ 9, 1867, 1–51. b) Die Moralstatistik in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung für eine Socialehtik, DZ 9, 1867, 461–538. 1868 a) Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre. Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage, Erster Theil: Die Moralstatistik. Inductiver Nachweis der Gesetzmässigkeit sittlicher Lebensbewegung im Organismus der Menschheit, Erste Hälfte: Geschichtliches und Methodologisches, Erlangen 1868, viii u. 312 S. 1869 a) Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre. Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage, Erster Theil: Die Moralstatistik, Zweite Hälfte: Analyse der moralstatistischen Daten, nebst einem tabellarischen Anhange von 176 Tabellen, Erlangen 1869, xxv u. 313–994 u. 194 S. b) Ueber Textform und Sangweise der alten kirchlichen Kernlieder. Votum für die livländische Prov.-Synode vom 15. Aug. 1869, DZ 11, 1869, 386–406. 1870 a) Der geschichtliche Charakter der biblischen Theologie neuen Testaments, mit besonderer Rücksicht auf die neuesten Arbeiten, DZ 12, 1870, 1–54. b) Die biblische Idee des Volkes Gottes, mit Rücksicht auf die eschatologischen Fragen der Gegenwart, DZ 12, 1870, 226–282. c) [Herausgeber] Sammlung kirchlicher Kernlieder für Schule und Haus, Zweite vermehrte Aufl.., Dorpat 1870. d) Über das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaft. Ein Wort zur Abwehr und Verständigung, BM 19, 1870, 355–383. 1871 a) Zur Rechtfertigung einer Socialethik, DZ 12, 1871, 533–557. 1872 a) [Herausgeber] Sammlung kirchlicher Kernlieder. Ein Gesangbuch für Kirche, Schule und Haus, Dorpat 1872. b) [Herausgeber] Sammlung kirchlicher Kernlieder. Schul-Ausgabe, 3. Aufl., Dorpat 1872. c) Zur Rechtfertigung einer Socialethik, DZ 13 (NF 1), 1871 [sic!], 1872, 285–358. d) [Herausgeber] Dr. Martin Luther’s kleiner Katechismus mit erklärenden und beweisenden Bibelsprüchen, 8. verbesserte und mit vier Beilagen vermehrte Aufl., Dorpat 1872, 106 S. e) Vorwort, in: 1872d. 1873 a) Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre. Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage, Zweiter Theil: Die christliche Sittenlehre, Erlangen 1873, XXVI u. 760 S. b) [Rezension] Die neuesten „Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft“, BM 22, 1873, 26–44.
Literatur
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1874 a) Die Wiedereinführung der alten Kernlieder nebst rhythmischen Singweisen in Kirche, Schule und Haus. Ein Wort zur Verständigung in der Gesangbuchsfrage, DZ 14 (2), Jhrg. 1872–3 [sic!], 1874, 1–36. b) Ein Wort zur Verständigung in Betreff der Auslegung von Matth. 13, 24ff., DZ 14 (2), Jhrg. 1872–73 [sic!], 1874, 58–63. c) Zur Rechtfertigung einer Socialethik, DZ 14 (NF 2), 1872–73 [sic!], 1874, 83–209. d) Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre. Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage, Erster Theil: Die Moralstatistik, 2. Aufl., Erlangen 1874, xvi u. 784 u. 84 S. e) Offener Brief an die geehrte Redaction der „Baltischen Monatschrift“ in Betreff der neuesten „Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft“, Separat-Abdruck aus der BM, 1874, 18 S. f) [Herausgeber] Dr. Martin Luther’s kleiner Katechismus mit erklärenden und beweisenden Bibelsprüchen, 9. verbesserte und mit vier Beilagen vermehrte Aufl., Dorpat 1874, 102 S. g) Vorwort, in: 1874f. 1875 a) Wesen und Recht der christlich-kirchlichen Glaubensgewißheit in ihrem spezifischen Unterschiede von der „Sicherheit“ und „Unfehlbarkeit“, MN 31 (8), 1875, 433–454. b) Inspiration und Infallibilismus, MN 31 (8), 1875, 481–509. 1876 a) Antiultramontana. Kritische Beleuchtung der Unfehlbarkeitsdoktrin vom Standpunkt evangelischer Glaubensgewißheit. Ein Beitrag zur Beurtheilung der konfessionellen und kirchenpolitischen Kämpfe der Gegenwart, Erlangen 1876, x u. 152 S. b) Ein Wort über die neuere Kirchenpolitik mit Beziehung auf F.H. Geffcken [Staat und Kirche in ihrem Verhältniß geschichtlich entwickelt. Berlin 1876. (S. 673 in 8)] und Heinr.W.J. Thiersch [über den christlichen Staat. Basel 1875. (S. VIII u. 264 in 8.)], MN 32 (9), Riga, 1876, 16–38. c) [Rezension] Rössler. Constant., Das deutsche Reich und die kirchliche Frage. Leipzig 1876, Grunow. (VII, 443 S. gr. 8.), ThLZ 1, 1876, Sp. 449–453. d) [Besprechung] Kahnis, Domh. Prof. Dr. Karl Fr.Aug., Die lutherische Dogmatik historisch-genetisch dargestellt. 2. umgearbeitete Auflage in 2 Bänden. Leipzig 1874–75. Dörffling & Franke, ThLZ 1, 1876, Sp. 516–521. e) [Rezension] Dr. Alb.E.Fr. Schäffle, Bau und Leben des socialen Körpers, Bd. I, Tübingen 1875. Paul v. Lilienfeld, Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft, Zweiter Theil: Die socialen Gesetze, Mitau 1875, ThLZ 1, 1876, Sp. 592–600. 1877 a) Zur Inspirationsfrage. Synodalvortrag und Bericht über die Verhandlungen der Dorpater „Januar-Conferenz“ am 20. Januar 1877, MN 33 (10), 1877, 433–480. b) [Rezension] Heuermann, Gymn.-Lehr. A., Die Bedeutung der Statistik für die Ethik. Osnabrück 1876. (Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.) (34 S. 4.), ThLZ 2, 1877, Sp. 594–596.
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Literatur
c) [Herausgeber] Dr. Martin Luther’s kleiner Katechismus mit erklärenden und beweisenden Bibelsprüchen, 10. Aufl., Dorpat 1877. 1878 a) Wahre und falsche Auctorität mit Beziehung auf die gegenwärtigen Zeitverhältnisse, Leipzig 1878, ii u. 67 S. b) Einleitung und Vorwort des Herausgebers, in: Hippel’s Lebensläufe. Eine baltische Geschichte aus dem vorigen Jahrhundert für die Gegenwart bearbeitet von Alexander von Oettingen. Jubelausgabe in drei Büchern. Erstes Buch. Im Elternhause, Leipzig 1878, 72 S. c) [Herausgeber] Hippel’s Lebensläufe. Eine baltische Geschichte aus dem vorigen Jahrhundert für die Gegenwart bearbeitet von Alexander von Oettingen. Jubelausgabe in drei Büchern. Erstes Buch. Im Elternhause, Leipzig 1878, 134 S. d) [Herausgeber] Hippel’s Lebensläufe. Eine baltische Geschichte aus dem vorigen Jahrhundert für die Gegenwart bearbeitet von Alexander von Oettingen. Jubelausgabe in drei Büchern. Zweites Buch. Auf der Wanderschaft, Leipzig 1878, 209 S. e) [Herausgeber] Hippel’s Lebensläufe. Eine baltische Geschichte aus dem vorigen Jahrhundert für die Gegenwart bearbeitet von Alexander von Oettingen. Jubelausgabe in drei Büchern. Drittes Buch. Zur Heimath, Leipzig 1878, 205 S. f) Vor hundert Jahren. Ein Gedenkblatt zur Säkularfeier des ältesten baltischen Romans: „Hippel’s Lebensläufe“, Besonderer Abdruck aus der „St. Peterburger Zeitung“, Dorpat 1878, 69 S. g) [Rezension] Schäffle, Min. a.D. Dr. Alb.E.Fr., Bau und Leben des socialen Körpers. Encyclopädischer Entwurf einer realen Anatomie, Physiologie und Psychologie der menschlichen Gesellschaft mit besonderer Rücksicht auf die Volkswirtschaft als socialen Stoffwechsel. 2. Thl. Das Gesetz der socialen Entwickelung. Tübingen 1878, Laupp. (VII, 498 S. gr. 8.), ThLZ 3, 1878, Sp. 444–447. h) [Herausgeber] Sammlung kirchlicher Kernlieder. Schul-Ausgabe, Vierte Aufl., Riga/ Dorpat 1878. 1879 a) [Bericht] Die Dorpater Januar-Conferenz 1878/1879, MN 35 (12), 1879, 101–114. b) Zur neueren ethischen Literatur, I, MN 35 (12), 1879, 114–127. c) Zur neueren ethischen Literatur, II, MN 35 (12), 1879, 185–197. 1880 a) [Bericht] Die Januar-Conferenz [inkl. das einleitende Referat von Oettingens zum Thema: Die Verkündigung des Reiches Gottes in ihrer Bedeutung für kirchliches Leben und Lehren], MN 36 (13), 1880, 131–142 [Vortrag: 131–140]. b) Hippel’s Lebensläufe. Für die Gegenwart bearbeitet von Alexander von Oettingen, Zweite, verbesserte Aufl., Leipzig 1880, vii u. 504 S. c) Einleitung, in: Hippel’s Lebensläufe. Für die Gegenwart bearbeitet von Alexander von Oettingen, Zweite, verbesserte Aufl., Leipzig 1880, 1–51. d) Vorwort zur zweiten Auflage, in: Hippel’s Lebensläufe. Für die Gegenwart bearbeitet von Alexander von Oettingen, Zweite, verbesserte Aufl., Leipzig 1880, v–vi. e) „Der Passion.“ Reiseerinnerungen eines Pilgers nach Oberammergau, Leipzig 1880, iv u. 59 S.
Literatur
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f) Goethe’s Faust. Erster und zweiter Theil. Text und Erläuterung in Vorlesungen, Erster Theil, Erlangen 1880, xvi u. 306 S. g) Goethe’s Faust. Erster und zweiter Theil. Text und Erläuterung in Vorlesungen, Zweiter Theil, Erlangen 1880, iv u. 364 S. h) [Rezension] Hollenberg, Lic. Dr. W., Die sociale Gesetzgebung und die christliche Ethik. (VIII. Bd. Neue Serie der ,Verhandelingen rakende den naturlijken en geopenbaarden Godsdienst, uitgegeven door Teyler’s godgeleerd genootschap‘.) Haarlem 1880, de Erven F. Bohn. (Leipzig, Harraffowitz.) (109 S. gr. 8), ThLZ 5, 1880, Sp. 464– 465. 1881 a) Obligatorische und fakultative Civilehe nach den Ergebnissen der Moralstatistik. Ein Wort zum Frieden, Leipzig 1881, iii u. 83 S. b) Über chronischen und akuten Selbstmord. Ein Zeitbild, Dorpat 1881, IV u. 66 S. c) [Herausgeber] Sammlung kirchlicher Kernlieder mit Singweisen, Vierte Aufl., Dorpat/ Riga 1881. d) Über die methodische Erhebung und Beurtheilung kriminalstatistischer Daten, Zeitschrift für die gesammte Strafrechtswissenschaft, 1881, 414–436. e) [Thesen: Ueber wahres und weltförmiges Christenthum], in: [Bericht] F. Hörschelmann, Die Januar-Conferenz, MN 37 (14), 1881, 181–193 [Thesen: 189–193]. 1882 a) Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine Socialethik, Dritte, vollständig umgearbeitete Aufl., Erlangen 1882, xvi u. 832 u. clii S. b) [Rezension] Lilienfeld, Paul v., Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft. 5. Thl.: Die Religion, betrachtet vom Standpunkte der real-genetischen Socialwissenschaft, oder Versuch einer natürlichen Theologie. Hamburg 1881, Gebr. Behre. (XLVII, 592 S. gr. 8), ThLZ 7, 1882, Sp. 58–62. c) Moritz von Engelhardt. Ein Charakter- und Lebensbild. Nekrolog, verlesen auf der Januar-Conferenz in Dorpat 1882, den 21. Januar, Separatabdruck aus den MN 38 (15), 1882, 31 S. 1883 a) Moritz von Engelhardt’s christlich-theologischer Entwicklungsgang, Separatabdruck aus den MN 39 (16), 1883, 63 S. b) Bildung und Sittlichkeit. Eine Zeitbetrachtung, BM 30, 1883, 333–355. c) Luther’s Lehre vom Reiche Gottes in ihrer prinzipiellen Bedeutung für seine gesammte Glaubens- und Sittenlehre, in: Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung, Festnummer zum 10. November 1883, 16. Jahrgang, 1883, Leipzig, 14. d) Luther: Oratorium für gemischten Chor, Soli, grosses Orchester und Orgel zur vierten Säcularfeier des Geburtstages des Reformators componirt von Heinrich Zöllner, Text aus Schrift- und Lutherworten zusammengestellt von Alex. v. Oettingen, Dorpat 1883, 15 S. 1885 a) Christliche Religionslehre auf reichsgeschichtlicher Grundlage. Ein Handbuch für den höheren Schulunterricht. Erste Hälfte. Einleitung und alttestamentliche Reichsgeschichte, Erlangen 1885, xvi u. 148 S.
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b) [Thesen: Seelsorge und Gnadenmittelverwaltung (mit besonderer Rücksicht auf die Gefahren des Intellectualismus, Methodismus und Unionismus)], in: [Anonymes Bericht] Die Dorpater Januarconferenz, MN 41 (18), 1885, 117–123 [Thesen: 119–123]. c) [Herausgeber] Sammlung kirchlicher Kernlieder mit Singweisen. Schul-Ausgabe, Fünfte Aufl., Dorpat/Riga/Leipzig 1885, viii u. 170 S. 1886 a) Christliche Religionslehre auf reichsgeschichtlicher Grundlage. Ein Handbuch für den höheren Schulunterricht. Zweite Hälfte. Neutestamentliche Reichsgeschichte, Erlangen 1886, viii u. 149–452. b) [Bericht] Die Dorpater Januar-Conferenz [inkl. Thesen über das Wort Gottes als kirchliches Gnadenmittel], MN 42 (19), 1886, 82–87 [Thesen: 84–87]. c) Zur Abwehr [Antwort auf die Besprechung des Ersten Teils seiner Religionslehre durch Heinrich Seeseman in MN 1885, 563–570], MN 42 (19), 1886, 87–94. d) [Literärisches] Al. v. Oettingen, Sammlung kirchlicher Kernlieder (mit Singweisen). Schulausgabe. Fünfte Auflage. Dorpat-Riga-Leipzig. (Schnakenburg’s Druck und Verlag.) 1885. [Erläuternde Selbstansage], MN 42 (19), 1886, 95–96. e) Was heißt christlich-social? [I], BM 33, 1886, 151–175. f) Was heißt christlich-social? [II], BM 33, 1886, 204–241. g) Was heißt christlich-social? Zeitbetrachtungen, Leipzig 1886, iv u. 82 S. 1887 a) Die Thesen zur Dorpater Januarconferenz vor dem Richterstuhl eines „schriftlichen Gastes“, MN 43 (20), 1887, 185–224. b) Die Lehre von den Gnadenmiteln mit Beziehung auf Gebet und Wort Gottes, Riga 1887, 40 S. [Separatabdruck von 1887a]. c) In verbis simus faciles, MN 43 (20), 1887, 407–417. d) [Herausgeber] Sammlung kirchlicher Kernlieder. Schul-Ausgabe, Sechste Aufl., Dorpat/Riga 1887. e) Erklärung [zu einer Rezension seiner „Religionslehre“ 2. Hälfte durch Heinrich Seesemann in MN 1886, 563–570], MN 43 (20), 1887, 266–268. f) Alexander von Oettingen, in: Das literarische Deutschland, Hg. v. Adolf Hinrichsen mit einer Einleitung von Prof. Dr. C. Beyer, Berlin/Rostock 1887, 447–448. 1888 a) J.H. Wicherns Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit, Abdruck aus dem LXI. Bande der Preußischen Jahrbücher, Berlin 1888, 27–54. b) Vorwort, in: Lisa von Engelhardt, Kinderandachten für alle Sonn- und Festtage des Jahres, Bielefeld/Leipzig 1888, v–viii. 1889 a) [Thesen zum Wesen, zur Erscheinungsform und zum Inhalt des Gewissens], [Anonymes Bericht] Von der Dorpater Januar-Conferenz, MN 45 (22), 1889, 50–53 [Thesen 52–53]. b) Zur Duellfrage, Dorpat 1889, 109 S. c) Zur Geschichte des Jenseits, MN 45 (22), 1889, 141–187. d) Nachwort über Weltuntergang und jüngstes Gericht, MN 45 (22), 1889, 188–200.
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e) Zur Geschichte des Jenseins mit einem Nachwort über Weltuntergang und jüngstes Gericht, Separatabdruck, Dorpat, ii u. 60 S. f) Vorwort, in: Zur Erinnerung an Dr.th. Theodosius Harnack weiland Professor der Theologie und Universitäts-Prediger in Dorpat (gedruckt als Manuscript für Freunde), Dorpat, 1889, 3–4. 1891 a) Zur Erinnerung an Frz. Delitzsch, MN 47 (24), 1891, 49–69. b) Alexander von Oettingen, in: Das literarische Deutschland, Hg. v. Adolf Hinrischen, Berlin, 2. vermehrte und verbesserte Aufl., 1891, 478–479. c) [Herausgeber] Sammlung kirchlicher Kernlieder für Schule und Haus. 8. Aufl. Mit einem Anhange geistlicher Kinderlieder, Dorpat/Riga 1891. 1892 a) Zur Theorie und Praxis des Heiratens, I, Das Problem und die Methode der Lösung, Socialpolitische Rundschau: Monatschrift für die Geschichte und Kritik der socialen Bewegung, Leipzig 1892 [s. 1892d]. b) Zur Theorie und Praxis des Heiratens, II, Beleuchtung der verschiedenen Heiratstheorien, Socialpolitische Rundschau: Monatschrift für die Geschichte und Kritik der socialen Bewegung, Leipzig 1892 [s. 1892d]. c) Zur Theorie und Praxis des Heiratens, III, Die Heiratspraxis im Lichte der Socialethik und Socialpolitik, Socialpolitische Rundschau: Monatschrift für die Geschichte und Kritik der socialen Bewegung, Leipzig 1892 [s. 1892d]. d) Zur Theorie und Praxis des Heiratens, Sep. Abdruck aus dem Sozial-pol. Rundschau, Leipzig 1892, 61 S. e) [Rezension] J. Kersten, Sündenstrafe und Züchtigung mit besonderer Berücksichtigung der Offenbarungsstufen. Dorpat, 1891. (VIII und 176 S. Magisterschrift.), MN 48 (25), 1892, 38–56. 1893 a) [Herausgeber] Hippel’s Lebensläufe. Für die Gegenwart bearbeitet von Alexander von Oettingen, Dritte, verbesserte Auflage. Mit 13 Abbildungen nach den Chodowiecki’schen Kupfern, Leipzig 1893, xviii u. 445 S. b) Vorwort zur dritten Auflage, Hippel’s Lebensläufe, v–xv [s. 1893a]. c) Die Diakonissenfrage. Ein Beitrag zur Beurtheilung der „christlichen Liebesthätigkeit“, MN 49 (26), 1893, 481–518. 1894 a) Die Diakonissenfrage. Ein Beitrag zur Beurtheilung der „christlichen Liebestätigkeit“, Separatabdruck aus den MN 49, 1893, Riga 1894, 38 S. b) [„Leide dich mit dem Evangelio“ (2 Tim. 1, 8). Ein Beitrag zum Verständnis der theologia crucis] [Thesen zur Dorpater Januar-Conferenz], [Anonymes Bericht] Theologische Januar-Conferenz, MN 50 (27), 1894, 137–141 [Thesen: 138–141]. c) Das göttliche „Noch nicht!“. Ein Beitrag zur Lehre vom Heiligen Geiste, NKZ 5, 1894, 248–259. d) Das göttliche „Noch nicht!“, NKZ 5, 1894, 261–285. e) Das göttliche „Noch nicht!“, NKZ 5, 1894, 414–432. f) Das götttliche „Noch nicht!“, NKZ 5, 1894, 466–509.
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g) Antwort auf den „Offenen Brief“ des Herrn Pastor Georg Fliedner von Prof. Al. von Oettingen, Dorpat, Der Armen- und Krankenfreund. Eine Zeitschrift für die Diakonie der evangelischen Kirche, 1894, 90–102. 1895 a) Noch einmal die Diakonissenfrage. Ein Wort zur Verständigung, Riga, 1895, 48 S. b) Das göttliche „Noch nicht!“. Ein Beitrag zur Lehre vom Heiligen Geist, Erlangen/ Leipzig 1895, vi u. 150 S. 1897 a) Lutherische Dogmatik. Erster Band: Principienlehre. Apologetische Grundlegung zur Dogmatik, München 1897, xx u. 478 S. 1898 a) Abhandlungen. Alexander von Oettingen zum siebzigsten Geburtstag gewidmet von Freunden und Schüler. [Mit Beiträgen von A. Berendts, G. Nathanel Bonwetsch, Adolf Harnack, Ferdinand Hörschelmann, Friedrich Lezius, Leo Meyer, Eugen Petersen, Alfred Seeberg, Reinhold Seeberg, Wilhelm Volck, Ferdinand Mühlau, Johannes Haussleiter], München 1898, 262 S. 1899 a) [Das Leiden Christi und die Leiden der Christen nach dem ersten Petrusbriefe. Thesen], in: [Anonymes Bericht] Januar-Conferenz, MN 55 (32), 1899, 220–222 [Thesen: 221–222]. b) „Am dritten Tage“, Der alte Glaube. Evangelisch-lutherisches Gemeindeblatt für die gebildeten Stände 1/1, Leipzig, 06. 10. 1899, 459–462. 1900 a) „Am dritten Tage“, Der alte Glaube. Evangelisch-lutherisches Gemeindeblatt für die gebildeten Stände 1/21, Leipzig, 23. 02. 1900, 484–487. b) [Thesen: Die Bedeutung der Worte „am dritten Tage auferstanden von den Todten“ im Glaubensbekenntniß der Urchristenheit], in: F. Hoerschelmann, Die Jurjewer (Dorpater) Januarconferenz [Bericht], NN 56 (33), 1900, 222–226 [Thesen: 225–226]. c) Lutherische Dogmatik. Zweiter Band: System der christlichen Heilswahrheit. Erster Theil: Die Heilsbedingungen, München 1900, xvi u. 688 S. 1902 a) Lutherische Dogmatik. Zweiter Band: System der christlichen Heilswahrheit. Zweiter Theil: Die Heilsverwirklichung, München 1902, xviii u. 752 S. b) Die Heilsvollendung (Eschatologie). Separatabdruck aus dem System der christlichen Heilswahrheit, München 1902, iv u. 109 S. c) Vorbemerkung des Verfassers, in: 1902b. d) Festgruß zum 12. December 1902 [Ein Gedicht zum 100. Jahrestag der alma mater Dorpatensis], MN 58 (35), 1902, 587–588. 1903 a) Zur Verständigung [betr. der Rezension von O. Ritschl über die Dogmatik Oettingens], ThLZ, 1903, Sp. 283–284.
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b) Das Lebensproblem und die „Moderne“. Literarische Streiflichter, BM 56, 1903, 307– 317. c) Das Lebensproblem und die „Moderne“. Literarische Streiflichter, Separat-Abdruck aus der BM [Heft 10], Riga 1903, 15 S. 1904 a) Zur Frage über modernes Christenthum und moderne Theologie, MN 60 (37), 1904, 337–360. b) Nachwort, MN 60 (37), 1904, 467–468. c) Theodosius Harnack (1817–1889), Sonderabdruck aus der Allgemeinen deutschen Biographie, Bd. 50, Leipzig 1904, 9 S. 1905 a) [Herausgeber] Sammlung kirchlicher Kernlieder für Schule und Haus, Vierzehnte Aufl., Jurjew 1905. b) Haus und Heimat, Sonderabdruck aus Heimatstimmen. Ein baltisches Jahrbuch, Reval 1905, 45 S.
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Anhang: „Lehrbild“ der Lutherischen Dogmatik von Oettingens (Beilage zu 1897a)
Personenregister
Alexander II 60 Alexander III 60, 216 Althaus, Paul 50, 242 f., 324 Altizer, Thomas 432 Altnurme, Riho 7 Andresen, Carl 202 f. Anselm, Reiner 362 Aristoteles 225 f., 228 Arndt, Ernst Moritz 7, 127 Assel, Heinrich 7, 28, 147 Augustin 62, 359, 425 Axt-Piscalar, Christine 8 Bader, Günther 160, 228 Barbour, Ian 253 Barth, Karl 130 f., 178, 196, 229, 253, 324, 333, 394, 398, 411, 417, 419, 430 Barth, Ulrich 160, 188, 195 f. Baskhar, Roy 253 Bauer, Bruno 126 Baumgartner, Michael 81 Baur, Ferdinand Christian 98, 130, 136, 413 Bayer, Oswald 212, 440 Bayertz, Kurt 451 Becker, Matthew 142, 149–151 Beck, Johan Tobias 130, 133, 234, 431, 433 Beintker, Michael 7 Benjamin, Walter 29 Berger, Peter L. 41 Bernhardt, Reinhold 230 Beyerle, Stefan 7 Beyschlag, Wilhelm 95, 127
Biedermann, Alois Emanuel 113, 128, 135, 319, 419 Biesenthal, Joachim Heinrich 55 Birkner, Hans-Joachim 405 Blaumeiser, Hubertus 160 Boeckh, August 55 Boettcher, Susan R. 392 Böhl, Eduard 231 Böhme, Monika 39–41, 51 Bonhoeffer, Dietrich 25, 182, 432, 472 Borry, Pascal 251 Bouman, Herbert J.A. 26 Braaten, Carl E. 25 Bradbury, John 7 Bradbury, Rosalene 160, 196 Breidert, Martin 234 Brunner, Emil 31 f., 41, 47, 287, 472 Büchner, Ludwig 126 Burghardt, Matthias 8 Busch, Eduard Heinrich 269 Bushnell, Horace 244 Caiphas 109 Carlblom, August 80, 91, 130 Carlblom, Johannes 82 Caspari, Carl Paul 129 Chalybäus, Heinrich Moritz 269 Chemnitz, Martin 62 Christiani, Arnold Friedrich 129 Colwell, Stephen 244 Comte, August 35, 126, 256, 452 Cremer, Hermann 141, 158 Crusius, Christian August 108
504 Daecke, Sigurd 28 Dalferth, Ingolf U. 9, 115, 168, 294, 313, 419 Darwin, Charles 126 Daub, Karl 126, 297 Delitzsch, Franz 55, 85, 96, 98, 112, 129, 134 Detlef, Georg Ludwig 129 Dieckhoff, August Wilhelm 110, 213 Dierickx, Kris 251 Dierken, Jörg 136 f., 142, 230 Döllinger, Ignaz von 390 Doris, John M. 251 Dorner, Isaak August 95, 126, 319, 340, 419, 431. Dorrien, Gary 243–246 Dreyer, Otto 309 Durkheim, Pmile 104 Ebeling, Gerhard 25, 30 f., 214, 433, 470 Ebrard, Johann Heinrich August 96 Eisenschmidt, Heinrich 373–376. Elert, Werner 242 f., 288 Engel, Christian Lorenz Ernst 461 Engelhardt, Alfred Moritz von 65 Engelhardt, Gustav Moritz von 57, 65, 67, 130–133, 210 Engelhardt, Rudolf von 65 Epiktet 300 Erasmus von Rotterdam 230 Erdmann Christian Friedrich David 127 Ewers, Bertha 65 Fagenberg, Holsten 167 Feuerbach, Ludwig 126 Fichte, Immanuel Hermann 269 Fichte, Johann Gottlieb 126, 260 Fischer, Hermann 50, 398 Fischer, Johannes 247 f., 288 f., 319, 395, 398, 404 f., Forde, Gerhard O. 25, 149, 160 Forster, Thomas R.V. 231 Forsyth, Peter T. 30 Frank, Franz Hermann Reinhold 56, 73, 96, 115, 117, 121 f., 129, 133 f., 138,
Personenregister
141 f., 148, 234, 254, 289, 292, 295, 319, 339 f., 370–372, 374 f., 389, 406, 419, 431– 433 Frey, Johannes 57, 60 Friedrich, Norbert 240–244 Frith, Lucy 251 Gaupp, Karl Friedrich 96 Geß, Wolfgang Friedrich 96 Girgensohn, Karl 76, 120, 122–124, 141, 375 Goethe, Johann Wolfgang von 64 Gollwitzer, Helmut 463 Graf, Friedrich Wilhelm 32, 70, 107, 119, 137–142, 244, 399 Grau, Rudolf Friedrich 127 Grebing, Helga 240 Green, Clifford J. 472 Gregor, Brian 472 Grenzstein, Ado 217 Große Kracht, Hermann-Josef 452 f., 455, 471 Großhans, Hans-Peter 7, 313 Gruden, Stefan 492 Grützmacher, Richard Heinrich 123 Gunton, Colin E. 178 Habisch, Andr8 240 Hahn, Georg Ludwig 96 Haigth, SJ, Roger 226 Hall, Douglas John 25, 27, 212 Hamann, Johann Georg 28, 64, 157, 160, 232 Harleß, Gottlob Christoph Adolf von 84, 89–91, 129, 147 f., 155 f., 292, 299 Härle, Wilfried 7, 23, 324 Harms, Claus 127 Harms, Theodor 129 Harnack, Adolf (von) 102, 121 f., 124, 127, 138, 202, 309, 312, 339, 379, 413, 424, 430, 435, 468 Harnack, Theodosius 47, 67, 77 f., 80, 110., 112, 130, 134, 148, 150 f., 153–157, 206, 224 Hausrath, Adolph 128
505
Personenregister
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 28–30, 95, 126-129, 135 f., 319, 330, 429, 431 f., Heim, Mark S. 27 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 98, 128, 363 Herbart, Johann Friedrich 126 Herms, Eilert 7, 281, 288, 299, 310f., 324, 390, 443, 471 Herodes 109 Herrmann, Johann Wilhelm 127, 224, 319, 342 Hertog, Gerard C. 472 Heuermann, Adolf 103 Hilgenfeld, Adolf 130 Hippel, Theodor Gottlieb von 64 Hirsch, Emanuel 139, 153, 348 Hirschfeld, Georg von 269 Hitze, Franz 455 Hochgeschwender, Michael 243 Hoerschelmann, Ferdinand 112 Hofheinz, Marco 261 Hofius, Otfried 7 Höfling, Johann Wilhelm Friedrich 147, 154 Hofmann, Johann Christian Konrad von 43, 49 f., 73, 85, 96, 98, 103, 108, 110, 129–134, 142, 147, 149–156, 234, 292, 357, 411, 431, 433 Hofmann, Hugo Rudolf Höhne, Luise 8 89, 93 f. Höhne, Luise 8 Holsten, Karl 130 Holtzmann, Julius Heinrich 128 Honecker, Martin 237, 239 f., 243 f., 246 f. Huber, Wolfgang 237–239, 243 Hurt, Jakob 59 Ihmels, Ludwig 242 f. Imhof, Esther 492 Irenäus 424 f. Iwand, Hans-Joachim 25, 30–32, 158, 160, 267, 384, 405, 470, 472 Jacobi, Friedrich Heinrich 260 Jähnichen, Traugott 240–244, 455 f., 463
James, William 245 Jansen, Ea 217 Janssen, Claudia 26 Jehle, Frank 472 Jelke, Robert 370 Joest, Wilfried 84 Johannes Paul II 453 Joswig, Benita 26 Jouffroy, Th8dore Simon 238 Jüngel, Eberhard 7, 25, 28, 211, 261, 431 f., 434 Kadai, Heino O. 160 Kaehlbrandt, Carl Ludwig 107 f. Kaehlbrandt, Emil 95, 377–381 Kaftan, Julius Wilhelm Martin 57, 127, 309, 319, 340, Kähler, Martin 23, 30, 36, 47, 133, 138, 141 f., 158, 234, 320, 340, 419, 431, 433 Kahnis, Karl Friedrich August 106, 112, 129, 319 Kallas, Rudolf Gottfried 60 Kant, Immanuel 35, 62, 80, 87 f., 127 f., 202 f., 250, 257, 263, 330, 429, 433, 438 Kasper, Walter 419 Kautz, Gyula 239 Keil, Johann Karl Friedrich 77, 130 Keim, Karl Theodor 128 Keller, Rudolf 55 Kelly, Robert A. 164 Kersten, Johannes 375 Ketteler, Wilhelm Emanuel Freiherr von 453 King, Martin Luther, Jr. 245 Kitamori, Kazoh 25 Kjølsvik, Idar 7 Kleffmann, Tom 160 Klein, Andreas 491 Kliefoth, Theodor 98, 129 Koch, Anton Friedrich 7 Kolb, Robert 160 Kolde, Theodor 224 König, Johann Ludwig 96 Köpf, Ulrich 7 Korthaus, Michael 24–31, 196, 348 Körtner, Ulrich H.J. 238, 246, 443
506 Köstlin, Julius 127, 147 f., 156 f., 224 Koyama, Kosuke 25 Krauter, Stefan 7 Krimmer, Heiko 41–44, 46, 51, 71, 199 Krümmer, Caspar Heinrich 54 Kübel, Robert Benjamin K. 112 Kull, Anne 8 Kull, Kalevi 67 Külpe, Ernst 370-373 Küng, Hans 461 Kurz, Johann Heinrich 130
Laats, Alar 8 Lagarde, Paul de 140 Landerer, Maximilian Albert 130 Lange, Dietz 405 Lange, Johann Peter 103, 107 Langer, Albrecht 240 Laube, Martin 395 Law, David R. 234 Lederer, David 267 Lessing, Eckhard 49–51, 140–142 Levi, Judah ha 77 Lewis, Alan E. 25 Liebner, Karl Theodor Albert 96, 129 Liedman, Sven-Eric 451 f., 455 Lilienfeld, Paul von 100–103 Linnenbrink, Günter 32, 35–38, 40–42, 44, 48 f., 51 Lipsius, Richard Adalbert 128, 135, 141, 319, 340 Leonhardt, Rochus 417 Loewenich, Walther von 26, 147 f., 156 f. Löhe, Wilhelm 129, 137 Lonegran, Bernhard 253 Loofs, Friedrich 413, 424 Luthardt, Christoph Ernst 112, 129, 141 f., 319, 370 f., 375, 431 f. Luther, Ferdinand 339 Luther, Martin 25–31, 47, 49, 63, 66, 80 f., 84-87, 93, 109, 111 f.,116, 118, 145–165, 168, 171, 178, 182, 185, 188, 195 f., 204– 206, 208 f., 212, 214–216, 224–232, 251, 299, 308, 327 f., 330, 339, 343, 348, 363,
Personenregister
378, 387, 389, 395, 411, 416, 426f., 431 f. 438, 442, 448 f., 452 Lütkens, Johannes Matthias 91, 156, 230 Madsen, Anna M. 24–26, 29–31 Maleschott, Jacob 126 Martensen, Hans Lassen 85, 103, 126, 129, 292, 319, 375 Martin, Henri 238 Marx, Karl 29, 452 f. Mason, Augustus 238 Maus, Heinz 39 Mazurek, Franciszek Janusz 453 McGrath, Alister E. 160, 253, 472 Melanchthon 62, 205, 316 Metz, Johan Baptist 29 Metzke, Erwin 295 Meyer, Leo 67 Michelet, Karl Ludwig 126 Milbank, John 253 Mildenberger, Friedrich 87 Moes, Johann-Friedrich 35 Möhler, Johann Adam 390 Moltmann, Jürgen 25, 43 Mortimer, Joseph 54 Moxter, Michael 264 Mühlau, Ferdinand 67, 110, 208 Müller, Julius 127 Murrmann-Kahl, Michael 137 Neander, Johann August Wilhelm 89, 95, 127 Neddens, Christian Johannes 472 Nell-Breuning, SJ, Oswald von 453 Nerling, Franz Johann von 108, 110 Ngien, Dennis 160 Niebuhr, Reinhold 203, 245 Nietzsche, Friedrich 28 f., 121, 325 f. Nikolaou, Theodor 24 Nitzsch, Carl Immanuel 127, 411, 419 Nolcken, Nikolai von 110 Oettingen, Alexander (senior) von 53 Oettingen, Arved von 53–55, 57–59, 63– 66, 68
507
Personenregister
Oettingen, Charlotte Ottilie von (geb. von Buxhöwden) 54 Oettingen, Johann 53 Oettingen, Nicolai Conrad von 65 Overbeck, Franz 135 Pädam, Tiit 8 Palmer, Christian 89, 130 Pannenberg, Wolfhart 27, 38, 234, 330 Papathomas, Grigorios 24 Paul, Jean 28, 64 Paulus 23, 25–27, 62, 109, 179, 463 Pawlas, Andreas 32, 45–51, 71, 101 Peabody, Francis Greenwood 244 f. Pesch, SJ, Heinrich 453, 455 Petersen, Eugen Adolf Herman 67 Peterson, Erik 398 Petrus 109 Petti, Urmas 154 Pfleiderer, Otto 128, 135, 319, 411, 419 Philippi, Friedrich Adolf 72–74, 77, 80, 86, 98, 129–131, 133 f., 142, 149 f., 153– 157, 207, 234, 310, 371, 375, 431 Pieper, Franz 340 Pingoud, Guido 110 f. Pius IX 393 Plathow, Michael 160 Plder, Anne-Maarja 5, 8 Plder, Thomas-Andreas 8, 131 Prenter, Regin 160 Quetelet, Adolphe
35, 39 f., 92, 252
Ratschow, Carl Heinz 47 Raumer, Karl von 55 f., 129 Raumer, Sophie von 56 Rauschenbusch, Walter 203, 339, 245, 367–369, 372 f. Reimann, Villem 59 Reimer, Hans H. 181 Reissing, Moritz 8 Rendorff, Trutz 405 Reuter, Christina 232 Rich, Artur 246 Richter, Cornelia 105, 160 Rieger, Hans-Martin 166
Riehm, Eduard Karl August 96 Ritschl, Albrecht 27, 62, 117, 122, 124, 127, 133, 137 f., 141, 148, 155, 201–203, 205, 208 f., 211, 234 f., 340, 253, 309, 319, 338-340, 342, 345 f., 354 f., 357, 371, 374, 413, 415, 426, 429–431, 433 f., 468 Ritschl, Otto 338 f., 341–348, 368 f., 372 f. Ritter, Adolf Martin 202 f. Root, Michael 26 f., 302 Rössler, Constantin 103, 107 Rothe, Richard 92, 95, 103, 108, 128, 297, 309, 406, 411 Roth, Friedrich von 232 Roth, Michael 310 Rudelbach, Andreas Gottlob 129 Saint-Simon, Henri 35 Salumaa, Elmar 288 Sampson, William 238 Sartorius, Ernst Wilhelm 80, 90, 96, 130, 157, 410, 412 Sasse, Hermann 160 Schaede, Stephan 438 Schäffle, Albert 103 Scheibel, Johann Gottfried 128 Schelling, Friedrich Wilhelm 126, 135 Schenkel, Daniel 95 Schildmann, Jan 251 Schiller, Johann Christoph Friedrich von 64 Schirrmacher, Thomas 231 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 27, 45, 50, 62, 79 f., 92, 95, 108, 127 f., 133 f., 136, 142, 167, 173, 175, 202 f., 234, 255, 263, 269, 311, 324, 342, 355, 357, 360, 375, 389, 406, 419, 429, 434 Schmid, Christian Friedrich 89, 130 Schmieder, Heinrich Eduard 96 Schmoller, Gustav Friedrich 461 Schneckenburger, Matthias 390 Schniewind, Julius 158 Schopenhauer, Arthur 91 f., 126, 251, 269 Schotsmans, Paul 251 Schöttler, Heinz-Günther 160 Schrenk, Leopold von 67
508 Schulze, Franz Ferdinand 112 Schürer, Emil 102 Schwegler, Albert 130 Schweitzer, Alexander 128, 309, 411 Schwöbel, Christoph 87, 132, 135, 443 Seeberg, Paul 107f. Seeberg, Reinhold 42, 46, 52, 60, 68, 70– 74, 76, 86, 94, 110, 114–116, 120–124, 141–143, 241–243, 339 f., 366, 375, 413, 472 Seeberg, Wilhelm Ferdinand Eduard 82 Shakespeare, William 64 Slenczka, Notger 122 Sobrino, John 25 Sockness, Brent W. 342 Sölle, Dorothee 25 Song, Choan-Seng 25 Soosten, Joachim von 472 Sormungen, Eino 251 Spencer, Herbert 126 Spiegel, Friedrich 55 Spill, Christoph 8 Spinoza, Baruch 62, 91 f., 251 Stahl, Friedrich Julius 109 Steffen, Bernhard 30 Steffens, Henrik 128 Stein, Edith 25 Steinmeyer, Franz Ludwig 96 Stephany, Maximilian 58, 217 Stich, Stephen P. 251 Stirner, Max 126 Stjernø, Steinar 451–455, 459 Stoecker, Adolf 104 f. Stolz, Fritz 113 Strauß, David Friedrich 113, 126 f., 429 Strub, Jean Daniel 492 Stuckenberg, John Henry Wilbrandt 244 Tammiksaar, Erki 67 Tanner, Klaus 493 Taylor, Graham 244 f. Taylor, Mark C. 432 Tertullian 425 Theißen, Henning 7, 50 Theunissen, Michael 30 Thielicke, Helmut 41, 405
Personenregister
Tholuck, August Gottreu 128 Thomasius, Gottfried 85, 96, 129, 134, 147, 150 f., 153 f., 181, 336, 357, 371, 375, 413, 431 Tietz, Christiane 8 Tillich, Paul 36 Timm, Hermann 135 Tönnies, Ferdinand 464 Torrence, Thomas 253 Tracy, David 25, 132 Trendelenburg, Friedrich Adolf 55, 264 Trillhaas, Wolfgang 405 Troeltsch, Ernst 48, 135, 137, 242, 338 f., 342f., 347–373, 387–390, 392, 404, 423 Tucker, William Jewett 244 f. Twesten, August Detlev Christian 127 Uhlhorn, Johann Gerhard Wilhelm 242 Ulmann, Karl Christian 130 Ulrich, Hans G. 237
129,
Viladesau, Richard 23 Vilmar, August Friedrich Christian 129, 159, 172 Vogt, Carl 7, 126 Vogt, Thomas 7 Volck, Wilhelm 67, 97 f., 110, 208 Volkmar, Gustav 130 Vollmann, Jochen 251 Wagner, Adolf 67, 72, 87 f., 92, 252, 265, 455 Wagner, Falk 134–136, 142, 153 Walch, Johann Georg 158, 162, 224 Walter, Paul Ferdinand 63, 129 Weber, Max 349 f., 359, 362, 392 Weiss, Johannes 202 Weiss, Karl Philipp Bernhard 97 f., 127 Welch, Claude 202 f. Welker, Michael 419 Wendland, Heinz-Dietrich 35, 50 Wendte, Martin 7, 178 Wengert, Timothy J. 226 Wenz, Gunther 149 Westhelle, V&tor 25, 28 f., 160
509
Personenregister
Wette, Wilhelm Martin Leberecht de 312 Whitehead, Alfred North 264 Wichern, Johann Hinrich 105, 254, 269 Wildt, Andreas 451 f., 454 Winter, Friedrich Wilhelm 147 f., 151, 153 f., 156 Wischmeyer, Johannes 132 Wittram, Heinrich 50, 52 Wittrock, Viktor 69 Wobbermin, Georg 340 Wolf, Ernst 237, 251 Wolff, Otto 156
Wrigth, William J. 454 Wurst, Hans 163 Zahn, Theodor 129 Zeller, Eduard 130 Zeller, Gerhard 269 Zezschwitz, Carl Adolf Gerhard von 112, 129 Zimmermann, Jens 472 Zizioulas, John/Jean 264 Zöckler, Otto 127 Zöllner, Heinrich 66
96,