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German Pages 479 [480] Year 2021
Matthias Kandziora Christa Wolf und Durs Grünbein
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte
Band 161
Matthias Kandziora
Christa Wolf und Durs Grünbein
Ostdeutsche Selbstbilder nach 1989
Zgl. Dissertationsschrift an der Ludwig-Maximilians-Universität München 2020
ISBN 978-3-11-074042-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-074176-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-074187-2 ISSN 0083-4564 Library of Congress Control Number: 2021938033 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Christa und Durs
Für Wiltrud und Michael, Charlotte und Oswald, die mir ihren Osten zeigten
Inhalt Danksagung
IX
I
Ouvertüre: Turmbau zu Dresden
II
Einleitung
III . . . . . .
Theoretische Zugänge 24 Selbstbilder zwischen Identität und Identifizierungen 25 25 Die Unmöglichkeit von Identität Theorie der Identifizierung 50 Prozesse der Identifizierung – Entwurf und Erinnerung 59 67 Ostdeutschland nach 1989 ‚Ostdeutschland‘ und ‚die Ostdeutschen‘ 67 Perspektiven durch Erinnerung – Gedächtnis und Literatur 71 85 Nach 1989 – Umbruch und Einbruch
IV
Christa Wolf: Der Blick in die neue Welt 92 94 Der tiefe Fall Erinnern und Vergessen – Christa Wolf liest Freud und Benjamin 101 Die Überwindung von Zeit und Raum 119 „Ich steig noch mal runter in diesen Schacht“ – 124 Zur Erinnerungsmetaphorik von Sog und Schacht Die Macht der Stasi-Akten 130 Verlust und Melancholie 140 Schreibweisen des Autobiographischen und der Beleg des Lebens 144 Das Andere des Ostens 171 Die neue Welt der Obdachlosen 172 „Was sind das für Zeiten“ − Bezüge zur Exilliteratur 195 „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“ – Die Anderen der Globalisierung 214 „Auferstanden aus Ruinen“ – Ein Engel bringt die Utopie 225 Zur Überwindung von Krisen – Reinigungen und 227 Genesungen Der Engel ihrer Geschichte 244 Walter Benjamin und das Niemandsland 256
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VIII
V . . .
Inhalt
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Durs Grünbein: Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst 264 266 Eine Ouvertüre im Übergang Grünbeins Essayismus und seine Nichtidentität 284 Dimensionen des Essays 287 Zu Grünbeins essayistischem Schreiben 300 315 Paradoxien maritimer Metaphorik in Die Jahre im Zoo Zwischen Moderne und X – Intertextualitäten in Grünbeins Selbstbeschreibungen 329 Dresdner Kindheit um 1970 – Grünbein und die Berliner Kindheit um 1900 332 363 Von Löffeln und Akademien – Bezüge zu Franz Kafka Denk-Bilder − Optische Identifizierungen 393 Funktionen der Photographie 397 413 Der zoologische Blick
VI
Schluss: Kinder der Zone
.
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Bibliographie 437 Siglen 437 Texte von Christa Wolf und Durs Grünbein 439 Weitere verwendete Literatur Abbildungen Personenregister
466 467
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Danksagung Eine Studie, die sich mit den Selbstbildern von Individuen auseinandersetzt, ist ebenso wenig die Arbeit eines Einzelnen, wie es die Identifizierungen eines Subjektes sind. Beide sind immer von den gemeinschaftlichen Prozessen der Erinnerung abhängig und so ist dies für mich der Ort, sich dankend zu erinnern. Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Juli 2020 an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Promotionsschrift angenommen wurde. Meine Dissertation entstand im Rahmen des DFGGraduiertenkollegs Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dem Kolleg und all seinen Beteiligten bin ich nicht zuletzt durch den institutionellen Rahmen zu Dank verpflichtet. Inka Mülder-Bach und Cornelia Ortlieb haben die Arbeit betreut und begutachtet. Für ihre Hilfestellungen, kritischen Anmerkungen und inhaltlichen Ratschläge danke ich Ihnen vielmals. Ich danke Inka Mülder-Bach, die mich stets zum genauen Arbeiten und zu einer kritischen Überprüfung angemahnt hat. Ohne ihre theoretische Expertise fehlten dieser Arbeit entscheidende Punkte. Ebenfalls möchte ich mich bei Cornelia Ortlieb ganz herzlich bedanken, die die Arbeit schon vor ihrer Entstehung förderte und deren unzählige Hinweise mein Wissen über die DDR-Literatur ungemein bereichert haben. Ich danke ihr ebenso für Förderung und zahlreiche Ratschläge in allen Lebenslagen. Robert Stockhammer danke ich dafür, dass er meine Arbeit immer mit großem Interesse begleitet und die Rolle des dritten Prüfers in meiner Disputation übernommen hat. Für Gespräche, Beratung und verschiedene Hinweise danke ich Burkhardt Wolf und Lars Bullmann. Ein besonderer Dank gebührt Sandra Fluhrer für ihre genauen Lektüren meiner Texte, ihre Ratschläge und ihr Engagement für meine Arbeit, das sie um vieles besser gemacht hat. Bei Fabienne Imlinger bedanke ich mich nicht nur für ihre Koordination im Graduiertenkolleg, sondern für ihre Hilfe in allen Situationen während des Schreibprozesses, an der LMU und in München. Ich möchte mich zudem bei allen Teilnehmenden des Münchner Oberseminars sowie des Erlanger und Berliner Colloquiums für Hinweise und Lektüren bedanken, ganz besonders bei meinen langjährigen Kolloquiumspartnern und -partnerinnen Timo Sestu, Tobias Fuchs, Gudrun Püschel, Jasmin Pfeiffer und Sandra Fluhrer. Meinen Bürokollegen und ‐kolleginnen danke ich für Gespräche, Austausch, Ideen, Auseinandersetzungen sowie gemeinsame Arbeitsstunden und Mittagessen. Timo Sestu, Patrick Geiger, Florian Kniffka, Philipp Stelzer und meiner Mutter habe ich für die Erstkorrekturen meiner Arbeit zu danken. Ein besonderer Dank https://doi.org/10.1515/9783110741766-001
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Danksagung
gilt Bernd Weiß für das umsichtige und feinfühlige Lektorat meines Manuskriptes. Dankbar bin ich außerdem dem De Gruyter Verlag für die Aufnahme in die Reihe Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte sowie insbesondere Marcus Böhm und Eva Locher für die großartige Betreuung während des Publikationsprozesses. Dem Suhrkamp Verlag, dem Walter Benjamin Archiv sowie dem Nachlass Günther Anders in der Österreichischen Nationalbibliothek danke ich für die Genehmigung der Bildrechte. Durs Grünbein danke ich ganz herzlich dafür, dass ich die Photographien aus den Jahren im Zoo abbilden darf. Die Baumgart-Stiftung, München hat meine Arbeit unbürokratisch mit einem Abschlussstipendium unterstützt, das mir in den letzten Monaten Luft zum Arbeiten verschafft hat. Meinem Graduiertenkolleg danke ich für den großzügigen Druckkostenzuschuss. Meinen Eltern und meiner Familie danke ich, dass sie nicht nur meine akademische Laufbahn, sondern mich stets in allen Lebenslagen unterstützt haben. Sie haben es mir durch meine biographische Erfahrung ermöglicht, eine solche Arbeit zu schreiben. Wenn Durs Grünbein schreibt, dass man es sich bei seiner Geburt nicht aussuchen könne, wo man von den Seinen abgeworfen wird, bin ich dankbar, dass meine Eltern, meine Großeltern und meine Geschwister es mich nie vergessen haben lassen, wie die Welt vor meiner Geburt aussah und mich Geschichte und Leben in der DDR und in Deutschland nach 1990 gelehrt haben. Meine Freunde haben mit unseren gemeinsamen Diskussionen meinen Fokus immer wieder auf das Kernthema meiner Arbeit gelenkt, meinen Blick um viele Perspektiven bereichert und mich auf andere Gedanken gebracht, wo Ablenkung nötig war. Ihnen danke ich dafür! Franca Walser habe ich für die wundervollen Zeichnungen, die am Anfang dieser Arbeit stehen, zu danken. Für ein stets verfügbares Obdach in Eichenau, Fürth und Berlin danke ich Judith, Stefan, Ida, Hanna, Franca, Eva, Julia, Stefan, Jakob, Lisa und Mattis. Der größte Dank gilt meiner Partnerin Laura Köditz, die mich in vielen Stunden ausgehalten hat, in denen mein Kopf an einem anderen Ort, in einem anderen Land und in einer anderen Zeit war, und die mich und diese Arbeit immer begleitet und umsorgt hat. Ich danke ihr für alles! München, im Winter 2020
DER GLÜCKLOSE ENGEL. Hinter ihm schwemmt Vergangenheit an, schüttet Geröll auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabnen Trommeln, während vor ihm sich die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel sprengt wie ein Stern, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinem Atem. Eine Zeit lang sieht man noch sein Flügelschlagen, hört in das Rauschen die Steinschläge vor über hinter ihm niedergehen, lauter je heftiger die vergebliche Bewegung vereinzelt, wenn sie langsamer wird. Dann schließt sich über ihm der Augenblick: auf dem schnell verschütteten Stehplatz kommt der glücklose Engel zur Ruhe, wartend auf die Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem. Bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt.¹ ()
GLÜCKLOSER ENGEL Zwischen Stadt und Stadt Nach der Mauer der Abgrund Wind an den Schultern die fremde Hand am einsamen Fleisch Der Engel ich höre ihn noch Aber er hat kein Gesicht mehr als Deines das ich nicht kenne.² ()
Müller, Heiner: Die Gedichte, in: Ders.: Werke. Bd. 1, hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, S. 53. Müller: Die Gedichte, S. 236.
I Ouvertüre: Turmbau zu Dresden MEINLAND LIEBEN, ABER HASSEN, wie sichs darin lebt als wärs Keinland doch verlassen will ichs nicht. Es klebt mir an meinen Schuhen und mein Weggehen schwer aber spricht aus meinem Mund und macht meine Hände leer.¹
Die untergegangene DDR – dies ist eine zur Redewendung geronnene Metapher. Der vielfach in journalistischen, literarischen, filmischen und wissenschaftlichen Kontexten verwendete Terminus verweist auf die historischen Ereignisse, die ich als einen entscheidenden Bruch der jüngsten Vergangenheit verstehe – es ist (lässt man Vor- und Nachgeschichte einmal beiseite) die Zeit zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 − und deren Fortleben gerade mit Blick auf die davon geprägten Subjektivitäten bis in die Gegenwart reichen. Doch die Metapher der untergegangenen DDR bedient mehrere Bedeutungsebenen: Sie beinhaltet das Verschwinden des Staates, der nicht einfach aufhörte zu existieren, sondern dessen Ende im Reich des Maritimen zu suchen ist. Die DDR ist untergegangen: Wohlwollend kann man verstehen, sie ist von den Wogen des Meeres im Sturm der Geschichte hinuntergerissen worden; nimmt man eine distanziertere Position zum real existierenden Sozialismus ein, so könnte man sagen, sie ist wie ein lahmer Kahn versunken. Wie man es dreht und wendet, ob es ein historisches Ereignis war, das wie einst ein Eisberg die Titanic in die Tiefe riss, oder das Schiff schon leck war, ehe es in See stach und der Untergang im Beginn zu suchen ist, die Metaphorik verweist auf die Reste: auf das, was sich am Grund des Meeres sedimentiert. Dies sind (ganz buchstäblich) die Artefakte, welche die DDR überdauert haben. Es sind aber auch die Erinnerungen, die Narrationen und die verdichteten Bilder, die sich als historisches – individuelles und kollektives − Gedächtnis absetzen. Dass die DDR ‚untergegangen‘ ist, hält sie in gewisser Weise am Leben und verfolgt jene, die von diesem Untergang zu berichten wissen und jene, die den Untergang nur vom Hörensagen kennen − als ein mythisches Narrativ.
Brasch, Thomas: Was ich mir wünsche. Gedichte aus Liebe, hrsg. von Thomas Wild, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 36. https://doi.org/10.1515/9783110741766-002
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I Ouvertüre: Turmbau zu Dresden
Mit dem Untertitel Geschichte aus einem versunkenen Land hat Uwe Tellkamp dieses Narrativ in Der Turm ² sehr prominent aufgegriffen. Denn Der Turm erzählt retrospektiv eine Familiengeschichte im Dresden der 1980er Jahre, die zielsicher auf das Ende zusteuert. Im Unterschied zu Thomas Manns Buddenbrooks als einem der literarischen Intertexte ist es nicht (nur) das Ende der Familie, sondern das Ende des Staates, also der DDR, das als Teleologie entworfen wird.³ Die heterodiegetische Erzählinstanz des Romans kennt (vornehmlich) drei Fokalisierungen: den Sohn Christian Hoffmann, den Vater Richard Hoffmann und den Onkel Meno Rohde.⁴ Mit seinem Untertitel greift Der Turm die metaphorischen Kontexte der ‚untergegangenen DDR‘ auf und verschiebt sie, denn Tellkamp ruft die ganze Tradition der versunkenen Städte auf, zuvorderst Vineta und Atlantis. Das, worüber Tellkamp berichtet, wird zur Geschichte über eine versunkene Insel, für deren Versinken Mächte verantwortlich sind, die wie Naturgewalten unkontrollierbar bleiben. In dem überaus dichten ersten Kapitel Ouvertüre verbindet der Text bereits einige zentrale Aspekte. Wie das Kapitel am Ende enthüllt, ist die Kursivierung ein Zeichen dafür, dass ein von Meno Rhode geschriebener Text vorliegt und man eigentlich Teil einer Schreibszene ist („schrieb Meno Rhode“, DT: 11). Dass in diesen Passagen Meno selbst Erzähler ist und nicht nur aus seiner Perspektive erzählt wird, stellt eine Besonderheit dar, die der Text noch mehrfach wiederholen wird. Das Kapitel Ouvertüre erhält einen weiteren Sonderstatus, da es vor dem eigentlichen Beginn der Narration steht: Der Turm ist in zwei Bücher, Die Pädagogische Provinz und Die Schwerkraft, sowie das überleitende Interludium: 1984 und das Finale: Mahlstrom geteilt.⁵ Die Ouvertüre befindet sich noch vor dem Tellkamp, Uwe: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, im Folgenden unter der Sigle DT zitiert. Vgl.: Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 1.1, hrsg. von Eckhard Heftrich, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2001. Zu einer Übersicht der intertextuellen Bezüge, vgl.: Bach, Susanne: Wende-Generationen/GenerationenWende. Literarische Lebenswelten vor dem Horizont der Wiedervereinigung mit Autoreninterviews, Heidelberg: Winter 2017, S. 219 – 231; Flaig, Anne: „Lesen im Rekord? Uwe Tellkamps »Der Turm« als Bildungsroman zwischen Realismus und Fantastik“, in: Horstkotte, Silke / Herrmann, Leonhard (Hrsg.): Poetiken der Gegenwart. Deutschsprachige Romane nach 2000, Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 83 – 98. Es finden sich auch Passagen, die dramatisch erzählt werden, vgl. z. B.: DT: 778−781. Tellkamp spielt mit dem Titel des Buches auf zahlreiche Intertexte an, die er in den Text einwebt. So lässt Der Turm an die Turmgesellschaft in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre denken (die Christian-Narration kann ebenfalls als ein Bildungsroman in der Tradition Goethes verstanden werden), die dort als Geheimgesellschaft einer intellektuellen Elite das Leben Wilhelms begleitet und manipuliert, vgl.: Goethe, Johann Wolfgang von: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, in: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. I.9. Wilhelm Meisters theatralische Sendung,Wilhelm Meisters Lehrjahre, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, hrsg. von
I Ouvertüre: Turmbau zu Dresden
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ersten Teil. Menos Text gibt zudem einige Hinweise, dass er aus einer anderen Perspektive als der Rest des Turmes spricht: Und ich erinnere mich an die Stadt, das Land, die Inseln, von Brücken zur Sozialistischen Union verbunden, ein Kontinent Laurasia, in dem die Zeit eingekapselt war in eine Druse, zur Anderzeit geschlossen, und die Musik erklang von den Plattenspielern, knisternd unter den Abtastarmen im dünenden Vinylschwarz, Lichtspindeln hin zum Gelbetikett der Deutschen Grammophon, zum Eterna- und Melodia-Schriftzug pulsend, während draußen der Winter das Land einfror, Schraubstöcke aus Eis an den Ufern auftürmte, die den Strom in ihren Zangen preßten und, wie den Lauf der Zeiger auf den Uhren, an den Stillstand bremsten. (DT: 7 f.; Hervorheb. i. Orig.)
Der Text legt mit dem Verb erinnern im Präsens nahe, dass aus einer historischen Distanz auf Dresden in der DDR zurückgeblickt wird. Die eingekapselte Zeit steht mit dem Stillstand der „achtziger Jahre“, den die „Türmer auf der Insel Dresden“ (DT: 8; Hervorheb. i. Original) wahrnehmen, in Korrespondenz. Zeit, deren fortwährende Thematisierung ein bestimmendes Element in der Prosa Tellkamps ist,⁶ wird im Turm einer kontinuierlichen Beschleunigung unterzogen. Das literarische Vorbild bildet Thomas Manns Der Zauberberg. Beide Texte nehmen einen Zeitraum von sieben Jahren in den Blick und beschleunigen die erzählte Zeit mit
Wilhelm Voßkamp / Herbert Jaumann, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 355 – 992, insbes. S. 870−876, 927 f., 944 f. Außerdem knüpft der Titel Der Turm an das gleichnamige Drama Hugo von Hofmannsthals an, in dem dieser Fragen von Macht und Herrschaft thematisiert, vgl.: Hofmannsthal, Hugo von: „Der Turm“, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. III. Dramen III. 1892 −1927, hrsg.von Bernd Schoeller, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1990, S. 177– 474. Dies greift Tellkamps Text als ein Sujet auf, wenn er implizit und explizit die Legitimität der DDR anzweifelt. So etwa Christian nach dem Tod eines anderen Wehrpflichtigen: „So was ist nur in diesem Scheißstaat möglich.“ (DT: 799, vgl. auch: DT: 329 f.). Überdies ist an den Turmbau zu Babel zu denken, obwohl der Roman zumindest perspektivisch keine große Mehrstimmigkeit oder Multiperspektivität beinhaltet, sondern sich perspektivisch (größtenteils) auf die drei zentralen Figuren beschränkt. Die Pädagogische Provinz schließt an Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre sowie an Hermann Hesses Das Glasperlenspiel an, vgl.: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. I.10, hrsg. von Gerhard Neumann / Hans-Georg Dewitz, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989, S. 414, 516, 539; Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel, in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 5, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 53; Clarke, David: „Space, Time and Power. The Chronotopes of Uwe Tellkamp’s ›Der Turm‹“, German Life and Letters 63/4 (2010), S. 490 – 503, hier S. 498. In allen Prosatexten Tellkamps werden Zeit, Erinnerungen und Uhren miteinander verwoben, vgl.: Tellkamp, Uwe: Der Hecht, die Träume und das portugiesische Café. Roman, München: Dtv 2009, S. 5, 8 f., 140; Tellkamp, Uwe: Der Eisvogel. Roman, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 38, 44, 110, 318; Tellkamp, Uwe: Die Schwebebahn. Dresdner Erkundungen, Berlin: Insel 2010, S. 22, 40 ff.
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I Ouvertüre: Turmbau zu Dresden
zunehmender Erzählzeit immer stärker.⁷ Während bei Mann das Ende des Romans auf die Katastrophe des Ersten Weltkrieges zusteuert, wählt Tellkamp eine andere Perspektivierung: Der Mahlstrom, welchen der letzte Teil als Titel führt, reißt nicht die Welt in den Abgrund, sondern die DDR und endet mit der Grenzöffnung am 9. November 1989: „… aber dann auf einmal … schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, »Deutschland einig Vaterland«, schlugen ans Brandenburger Tor:“ (DT: 973) Tellkamps Roman endet mit einem Doppelpunkt und deutet damit seine Fortsetzung schon an.⁸ Die vor aller Einordnung stehende Ouvertüre fällt aus dieser zeitlichen Logik heraus und schließt einzig durch das gleiche Anfangswort an die Schlusseintragung Meno Rhodes an („Suchend“, DT: 7, 972; Hervorheb. i. Original). Die meisten eingefügten Schriften Menos sind dagegen Kommentare zum direkten Geschehen und können in der gleichen Zeitebene eingeordnet werden. Angesichts des monumentalen Anspruches, den Der Turm hat und den er mit seinen verschiedenen intertextuellen Montagen und Einbettungen zahlreicher Details und Schreibformen einzuholen versucht, könnte an dieser Stelle viel gesagt werden. Die vorliegende Arbeit legt ihren Fokus aber vor allem auf ein nach 1989. Tellkamps Turm, ohne Frage Teil der Post-DDR-Literatur, nimmt in den meisten Teilen des Textes allerdings ein Perspektive vor 1989 ein. Im Unterschied zu Wolfs Stadt der Engel und Grünbeins verschiedenen Essays gibt es keine Erzählinstanz, die sich offen positioniert und Vergangenheit und Gegenwart miteinander in Verbindung setzt und so für ostdeutsche Selbstbilder und die Identifizierungen nach 1989 zu einer bestimmenden narrativen Instanz werden kann. Die einzige Ausnahme bildet Tellkamps Ouvertüre, in der bereits prominent das
Die ersten fünf Kapitel erzählen die Geschichte des Abends des 4. Dezember 1982 (vgl.: DT: 15 −83), während im 66. Kapitel Nach dieser Unterbrechung gingen die Tage … dahin, die Überschrift ist Stifters Nachsommer entliehen, ein Zeitraum vom Winter 1987 bis zum Herbst 1988 erzählt wird (vgl.: DT: 871−882) und innerhalb weiterer zehn Seiten das Jahr 1989 erreicht ist (vgl.: DT: 892), vgl.: Mann, Thomas: Der Zauberberg, in: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 5.1, hrsg. von Michael Neumann, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2002; Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Eine Erzählung. Erster Band, in: Ders.: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Bd. 4,1, hrsg. von Alfred Doppler / Wolfgang Frühwald, Stuttgart/Berlin/Köln: W. Kohlhammer 1997, S. 263. Auch Bach stellt die Verbindung zu Stifter her, vgl.: Bach: Wende-Generationen/ Generationen-Wende, S. 214. Adorno hat die Satzzeichen mit einer Ampel verglichen: „Ausrufungszeichen sind rot, Doppelpunkt grün, Gedankenstriche befehlen stop.“ Die grüne Ampel des Doppelpunktes beinhaltet also bereits, dass ein Folgetext wieder Fahrt aufnehmen wird, Adorno, Theodor W.: „Satzzeichen“, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 11. Noten zur Literatur, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 106 – 113, hier S. 106. Adornos Schriften werden im Folgenden mit dem jeweiligen Titel und der Sigle A-GS sowie der Bandnummer und Seitenzahl angegeben.
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Atlantis-Motiv im Mittelpunkt steht, das ich nun noch einmal in den Blick nehmen möchte. Meno Rhode schreibt in der Ouvertüre: [W]as war ATLANTIS, das wir nachts betraten, wenn das Mutabor gesprochen war, das unsichtbare Reich hinter dem sichtbaren, das erst nach langen Aufenthalten, den Touristen nicht und nicht den Traumlosen, aus den Konturen des Tages brach und Risse hinterließ, einen Schatten unter den Diagrammen dessen, was wir Die erste Wirklichkeit nannten, ATLANTIS: Die zweite Wirklichkeit, Insel Dresden / die Kohleninsel / die Kupferinsel der Regierung / Insel mit dem roten Stern / die Askanische Insel, wo Justitias Jünger arbeiteten, zu ATLANTIS verknüpft versponnen verkrustet (DT: 9; Hervorheb. u. Kursivierung i. Orig.)
Die ebenso spontan beginnende, wie abrupt endende Assoziation, die sogar auf das abschließende Satzzeichen verzichtet, stellt eine zentrale Frage des Textes in den Mittelpunkt: Was ist das Atlantis, das der Text in Gestalt der Eintragung Menos fortwährend beschwört und das mehrfach in Rekurs auf E. T. A. Hoffmanns Der goldene Topf aufgerufen wird (vgl.: DT: 880)? Die erste Wirklichkeit wird von einer zweiten Wirklichkeit durchdrungen − dem Atlantis: ein magisches Dresden, das sich in der Verwendung der „träumerischen und märchenhaft klingenden Erwähnungen“ (DT: 85) zeigt, die Meno Rohde den Orten in Dresden gibt (Karavelle, Tausendaugenhaus, Ostrom, Askanische Insel etc.) und die auch als „Kunigundenwörter“ (DT: 729) bezeichnet werden. Der zweite Aspekt, der zu diesem Atlantis gehört, ist der bildungsbürgerliche Kanon, für den Meno Rohde, der studierte Zoologe, Lektor und Teil der (kritischen) Intellektuellen-Szene in der DDR, paradigmatisch steht und den Christian durch sein selbstauferlegtes exzessives Lesen und Lernen einzuholen sucht.⁹ Angesichts dieser Aspekte könnte man annehmen, dass Tellkamps Text einer solchen Bürgerlichkeit melancholisch nachtrauert. Das Kapitel Kastalia, erneut eine Niederschrift Menos und eine der zahlreichen Anspielungen auf Hesses Das Glasperlenspiel,¹⁰ tendiert aber nur
Dies wird in dem Kapitel Rost geschildert (vgl.: DT: 140−157), wo es in dem Versuch kulminiert, möglichst viel an einem Tag zu lesen: „Er las von 4.30 Uhr bis 24.00 Uhr ununterbrochen, allerdings mit zwei überaus lästigen Pausen durch Mittagessen und Abendbrot, die die besorgte Anne ihm aufdrängte. Schlag Mitternacht hatte er 716 Seiten gelesen – und vergessen, aber was machte das, der Rekord war gebrochen.“ (DT: 155). Das Land, in dem Hesse das Glasperlenspiel ansiedelt, heißt Kastalien, vgl.: Hesse: Das Glasperlenspiel, S. 39. Im Turm wird es damit zu einer Anspielung auf Das Schreiben des Magister Ludi an die Erziehungsbehörde aus dem Glasperlenspiel, in der die Desavouierung des utopischen Bildungsentwurfes dieser Gesellschaft zusammengefasst wird. In diesem Ausschnitt heißt es unter anderem: „Kurz, diese kastalische Bildung, eine hohe und edle Bildung, gewiß, der ich tief dankbar bin, ist in den meisten ihrer Besitzer und Vertreter nicht Organ und Instrument, nicht aktiv und auf Ziele gerichtet, nicht bewußt einem Größeren oder Tieferen dienstbar, sondern neigt ein wenig zum Selbstgenuß und Selbstlob, zur Ausbildung und Hochzüchtung geistiger Spezia-
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vordergründig in eine ähnliche Richtung. Meno berichtet dort über seinen Arbeitsplatz im Hermes-Verlag: Viele Jahre waren seit der Errichtung der Mauer vergangen, die das Land umschloß und die Hauptstadt, die Kupferinsel der Regierung, teilte. Viele Jahre waren die Rosen gewachsen, hatten die Zeit verlangsamt, und wenn ich die Gelehrteninsel betrat, die Papierrepublik, […] erschien mir die Schnelligkeit, mit der Wassertropfen von den schadhaften Rohrleitungen fielen, die unvermindert wirkende Schwerkraft, die Aschbecherinhalte aus den verknasterten Büros des Lektorats II in den mit Schmierölpfützen bedeckten Innenhof sinken ließ, unwirklich, so unwirklich wie die Gestalten, die sich im eigentümlich trockenen Sepialicht gemessen bewegten, meine Kollegen, meine Vorgesetzten; (DT: 849 f.; Kursivierung. i. Orig.)
In der manieristischen Sprache, die insbesondere (aber bei weitem nicht nur) Menos Eintragungen auszeichnet, erläutert dieser die Wahrnehmung einer extremen Entschleunigung und gibt zugleich einen Blick auf die DDR als Ganzes. Der Verlag wird als Teil des staatlichen Systems beschrieben und ist doch eines der wenigen „atlantischen Häuse[r]“ (DT: 851): Wir gaben dem Volk das geistige Brot; wir waren ein Fenster zur Welt … Die Mauer schlang sich um die Gelehrteninsel, dies sozialistische Kastalien, dreifach gesichert: nach innen, nach außen und gegen das Lächeln; die Stacheldraht-Rosen trieben am Bau hoch, nur die Vögel blieben nicht hängen; Scheinwerfer suchten die Mauer ab, Hunde streiften an Laufketten durch das Niemandsland zwischen den Mauerringen. Überall die Reste vergangener Kulturen, Zeichen, die auf Entzifferung warteten, Kennpunkte in verrottenden Seekarten, aber die alten Kapitäne waren tot, die Astrolabien und Sextanten, mit denen man die Zeichen hätte lesen können, verkauft oder vergessen in den Museumsdepots unter der Stadt. (DT: 851; Kursivierung. i. Orig.)
Der Verlag scheint ein Mikrokosmos des Makrokosmos DDR zu sein, der noch einmal durch die gleichen Grenzinstitutionen abgesichert ist. Überdies deutet sich an dieser Stelle etwas an, was einen Hinweis auf die utopische Vision gibt, die Tellkamps Text erzeugt. Im Verlag verläuft (wie in der ganzen DDR des Turmes) die Zeit verlangsamt ab und harrt auf den Umsturz. Nicht einmal der Verlag, den Meno in seiner Eintragung sogar als „Literaturinstitut“ (DT: 851) bezeichnet, vertritt die bildungsbürgerliche Tradition. Dort ist sie auf dem Rückzug und in der Welt der Türmer führt sie sogar dazu, „unrettbar in der Vergangenheit“ (DT: 354) versunken zu sein. Dies greift der Text mehrfach in dem motivischen Vers auf: „Dresden … in den Musennestern / wohnt die süße Krankheit Gestern“¹¹ (DT: 361). litäten.“, S. 320. Über die Funktionalisierung dieser intertextuellen Referenz fordert Tellkamp von der Bildung selbst eine Funktion ein, welche die Türmer nicht mehr erkennen und die er, wie ich in der Folge zeige, in einer nationalistisch ausgerichteten Kulturnation sucht. Der Vers ist kein direktes intertextuelles Zitat, taucht aber im Text mehrfach auf (vgl.: DT: 11, 342, 345 f., 361, 362, 363, 369, 371). Wie Susanne Bach argumentiert, bezieht sich das Musennest
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Tellkamps Text wendet sich sowohl von der Zukunftsvision eines real existierenden Sozialismus ab, der seine eigene Utopie schon lange desavouiert hat, als auch von der Versenkung in die Vergangenheit, wie es das Dresdner Bildungsbürgertum vollzieht. In seiner Poetikvorlesung Die Sandwirtschaft. Anmerkungen zu Schrift und Zeit fasst Tellkamp sein Vorgehen programmatisch zusammen: Kunst ist und fordert Utopie; das Problem des heutigen Menschen ist die anscheinende Unmöglichkeit der Utopie, totale Gegenwart ist, nach den ideologischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die einzig übriggebliebene Verheißung. […] Daraus folgt der Verlust des Gedächtnisses (wer die Zukunft nur als fortgesetzte Gegenwart sieht, braucht ja keines), die schwere Betäubung und Melancholie, die wie ein Albdruck auf vielen Menschen lastet, die Gleichgültigkeit gegenüber der Vergangenheit und die Angst gegenüber dem Kommenden. Wie sollen wir leben? Auf diese Frage gibt es noch immer keine Antwort. Links und rechts, die alten Gegensätze, wollen für unser heutiges Lebensempfinden nicht mehr taugen. Wir sind ratlos. […] Die Zeit, in der wir leben, bedarf einer Korrektur, und ich versuche, indem ich Menschen beim Leben zusehe und die Waghalsigkeit begehe, sie darzustellen, meinen Teil zu leisten. Episches Schreiben ist ein Unterfangen zur Weltrettung durch Wahrheitsfindung, das ist ebenso donquichottesk wie notwendig.¹²
Was zunächst an Benjamins Poetik der Geschichtsbetrachtung erinnert, ist aber Tellkamps nicht sonderlich bescheidener Anspruch eine Lösung für ein Unbehagen, das er gegenüber der Moderne verspürt, zu finden und auf das er jüngst im rechtsextremen Magazin Sezession ein passende Antwort gegeben hat. In seinem dortigen Artikel Das späte Atlantis, der schon im Titel auf den Turm zurückverweist, schreibt er, mit einem (erneut nicht sonderlich bescheidenen) Anspruch alle Sachsen zu vertreten, angesichts der Erfolge von AFD und Pegida und der damit einhergehenden medialen und journalistischen Suche nach Antworten auf dieses Phänomen: In Sachsen, in Dresden regt sich […] Widerstand, mehr als andernorts, wie es scheint. Warum? Sogenannte Qualitätsjournalisten schieben ihre Stethoskope über die sächsische Seele und hören Sumpfgeräusche. Dabei sind uns nur Heimat und unsere Kultur nicht egal. Man muss einen Anker haben in der Zeit. Es hilft zu überleben.¹³
intertextuell auf Durs Grünbeins Charakterisierung Dresdens in Das erste Jahr, vgl.: Bach: WendeGenerationen/Generationen-Wende, S. 215 f.; Grünbein, Durs: Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 88. Tellkamp, Uwe: Die Sandwirtschaft. Anmerkungen zu Schrift und Zeit. Leipziger Poetikvorlesung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 45 f. Tellkamp, Uwe: „Das späte Atlantis. Dresdner Aufzeichnungen“, Sezession 90 (2019), S. 42– 47, hier S. 47.
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Tellkamps Antworten aus der Poetikvorlesung und dem Artikel geben einen Hinweis, wie das Atlantismotiv in Der Turm zu verstehen ist. Dort geht es nicht darum, ein Bildungsbürgertum als Enklave im real existierenden Sozialismus zu bestimmen. Im Text ist dieses von Anfang an nicht in der Lage, zu leisten, was es verspricht, sondern das Bürgertum ist fortwährend auf der Flucht vor der Gegenwart in die Vergangenheit (vgl.: DT: 354). Im zweiten Buch Die Schwerkraft wird Christian Hoffmann während seines Wehrdienstes wegen kritischer Äußerungen zum (Unfall‐)Tod eines Soldaten in den Strafdienst nach Bitterfeld-Leuna versetzt. Im U-Boot, einer fensterlosen Strafzelle, gesteht er sich ein, dass „jedes humanistische Bildungsideal“¹⁴ gescheitert ist (vgl.: DT: 827, 840). Mit dieser Einsicht nimmt Christian den von einem anderen Wehrdienstleistenden gegebenen (vgl.: DT: 651) Spitznamen Nemo an: „Jetzt, dachte Christian, bin ich wirklich Nemo. Niemand.“ (DT: 827). Christian wird damit nicht nur zu einem Niemand, der sich der staatlichen Gewalt vollkommen unterwirft, sondern zu einem anverwandelten Meno, dessen Name schließlich ein Anagramm von Nemo ist.¹⁵ Beide sind eigentlich ein Niemand. Das bildungsbürgerliche Ideal, das Meno (trotz seiner Kritik) verkörpert und das Christian zu erreichen sucht, ist endgültig kompromittiert und taugt nicht mehr zur Utopie − der narzisstischen Vater Richard reiht sich hier ein, wenn auch er bildungsbürgerliche Ansprüche vertritt, aber die eigenen bürgerlichen Moralvorstellungen angesichts einer Zweitfamilie und einer Affäre mit der Freundin seines Sohnes ohnehin nicht einhalten kann (vgl.: DT: 170 −177, 781). Das Atlantis, das Meno Rhode beschwört, ist gleichsam im Staat, in dem sich diese Insel – eine von vielen Inseln von denen Tellkamps Text spricht (Askanische Insel, Kohleninsel, Kupferinsel) − befand, versunken. Historisch ist sie mit dem Staat, in dem eine solche Nische möglich war, untergegangen; als utopisches Projekt einer humanistischen Bildung war sie schon lange vorher versunken. Wie Heribert Tommek ganz richtig bemerkt hat, ist sowohl dieser Bürgerlichkeit als auch dem real existierenden Sozialismus ein ähnliches Telos der Humanität eingeschrieben.¹⁶ Die Bewohner des Turmviertels glauben zwar, Flaig: „Lesen im Rekord?“, S. 96. Vgl. zu einer ähnlichen Lesart: Flaig: „Lesen im Rekord?“, S. 97; Clarke: „Space, Time and Power“, S. 502. Meno folgt dem Paradigma, in der DDR möglichst als ein Niemand verstanden zu werden, der nicht wahrgenommen wird, sondern „mit gesenktem Kopf, fast unsichtbar, wie Staub“ (DT: 504) durch die Welt geht. Vgl.: Tommek, Heribert: „Zur Entwicklung nobilitierter Autorpositionen (am Beispiel von Raoul Schrott, Durs Grünbein und Uwe Tellkamp)“, in: Ders. / Bogdal, Klaus-Michael (Hrsg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Sozialstruktur − Medien − Ökonomien − Autorpositionen, Heidelberg: Synchron 2012, S. 303 – 327, hier S. 321. Passenderweise stellt die Figur Philipp Londoner, der sowohl dem Bildungsbürgertum als auch der Nomenklatura angehört und als Grenzgänger zwischen den Milieus fungiert, die in den Text eingefügte tabel-
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dass sie nun in „Dresdengrad. Provinz in der UdSSR: Union der deutschsprachigen Sowjetrepubliken“ (DT: 368) leben, hängen aber − wie Meno bemerkt − einer privatistischen Scheinwelt an: Die Beschwörungen beginnen, die Dresdner Sehnsucht nach Utopie, einer Märchenstadt. Die Stadt der Nischen, der Goethe-Zitate, der Hausmusik blickt trauernd nach gestern; die leidige, ausgehöhlte Realität wird mit Träumen ergänzt: Schatten-Dresden, Schein hinter dem Sein, fließt durch dessen Poren, erzeugt Hoffmannsche Zwitter. (DT: 368; Kursivierung. i. Orig.)
Insbesondere die Hoffmannschen Zwitter, von denen Meno schreibt, verweisen autoreflexiv auf die Familie Hoffmann mit ihrer (moralischen) Zwitterfigur Richard, aber auch auf die Figuren E. T. A. Hoffmanns; vor allem jene aus Der Goldene Topf, die zwischen Mensch und (fantastischem) Tier changieren.¹⁷ Die Aufgabe einer bildungsbürgerlichen sowie die grundlegende Ablehnung einer sozialistischen Utopie strukturieren den Text und lassen die Frage offen, was der Turm als neue Utopie anbietet. Der Schluss des Romans gibt darauf eine Antwort, wenn im letzten Kapitel der Slogan des Umbruches 1989 wiederholt wird („Wir sind das Volk“, DT: 969), ehe er in „Wir sind ein Volk“ umschlägt (DT: 970) und der DDR die Zeit abgelaufen ist („… aber dann auf einmal … schlugen die Uhren“, DT: 970). Was als historische Beschreibung eines Wandels des zentralen Schlagwortes der ‚Wende‘ verstanden werden könnte, ist angesichts der Tatsache, dass der Roman am 9. November endet, allerdings eher unwahrscheinlich und zeigt eine Teleologie, die den Roman auszeichnet.¹⁸ Auffällig ist, dass die Bürgerrechtsbewegung im Text erstaunlich wenig Platz bekommt (vgl.: DT: 937 ff.) und dass, ganz im Unterschied zu den tatsächlichen weitgehend gewaltlosen Abläufen, der Roman die gewaltsame Auseinandersetzung am Dresdner Bahnhof vom 4. auf den 5. Oktober (im Zuge der aus der Prager Botschaft kommenden Transportzüge) in
larische Unterscheidung in Kleinbürger und (Bildungs‐)Bürger auf, vgl.: DT: 681. Die Figuration des Hermes-Verlages als Mikro-DDR legt eine solche Überschneidung ebenfalls nahe. Vgl.: Hoffmann, E. T. A.: „Der goldene Topf“, in: Ders.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 2/1. Fantasiestücke in Callot’s Manier / Werke 1814. Text und Kommentar, hrsg. von Hartmut Steinecke, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2006, S. 229 – 321, insbesondere die Erzählung der Serpentina: S. 288−291. Der bereits zitierte Schlusssatz („…aber dann auf einmal… schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, »Deutschland einig Vaterland«, schlugen ans Brandenburger Tor:“, DT: 973) reiht sich hier ein. Das der Hymne der DDR entliehene Zitat verweist auf die zunehmend aufkommenden Forderungen nach Vereinigung von DDR und BRD im sogenannten ‚Wende‘-Prozess. Gleichzeitig war dieser Vers der Grund, warum die Hymne ab den 1970er Jahren, nachdem offiziell das Ziel Vereinigung verabschiedet wurde, nur noch in Instrumentalversion zu hören war.
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den Mittelpunkt des Umbruches 1989 setzt (vgl.: DT: 942−962).¹⁹ Es ist nicht das Bildungsideal der ‚Türmer‘, sondern „[d]urchgreifendes Handeln […], was letztlich das Ende des Romans und der DDR herbeiführt.“²⁰ Tellkamps Text entwirft ein Paradigma der Handlung, das die DDR zum Einsturz bringt, ohne die Handelnden in den Mittelpunkt zu stellen. Vielmehr ist es das Ziel des Textes, eine Gemeinschaft zu beschwören, die eine Gemeinsamkeit der Deutschen in der DDR ist. So hat die Forschung mehrfach bemerkt, dass Tellkamps Turm ein äußerst konservatives Verständnis in sozialen und bildungspolitischen Positionen offenbart²¹ sowie sich in seinen intertextuellen Verweisen explizit auf einen deutschsprachigen Kanon bezieht, der als Teil einer deutschen Kulturnation verstanden wird.²² Bemerkenswert ist es daher, dass beispielsweise Prousts À la recherche du temps perdu, mit der Tellkamps Text aufgrund seiner Detailstudien der Gesellschaft und ihrer Gesellschaftsanlässe verglichen wurde,²³ im Text lediglich in einer absurden Nachtschicht in der Strafversetzung gelesen wird (vgl.: DT: 858). Die Handlung des Turmes strebt nicht auf einen politischen Umbruch im Sinne vieler Bürgerrechtsbewegungen, sondern sie verleiht den Protagonisten eine Stimme, die „keinen besseren Sozialismus“, sondern „gar keinen Sozialismus“ (DT: 968) wollen. Die Wiedervereinigung und das Wiedererrichten einer
Max argumentiert in ihrem Beitrag ähnlich und verweist auf die zahlreichen Fälle, in denen der Text Authentizität insinuiert und trotzdem historische und andere (z. B. medizinische) Details abändert, vgl.: Max, Katrin: Bürgerlichkeit und bürgerliche Kultur in der Literatur der DDR, Paderborn: W. Fink 2018, S. 445 – 448. Horstkotte, Silke: „Von Ostrom nach Atlantis. Utopisches in Uwe Tellkamps Der Turm“, in: Eke, Norbert Otto (Hrsg.): „Nach der Mauer der Abgrund“? (Wieder‐)Annäherungen an die DDRLiteratur, Amsterdam / New York: Rodopi 2013, S. 323 – 341, hier S. 325. Ein Beispiel hierfür wären die despektierlichen und ablehnenden Bemerkungen, die Richard Hoffmann für die „Achtundsechziger“ übrighat und welche die Erzählinstanz nicht kommentiert (vgl.: DT: 74). Im Eisvogel ist sogar vom „Morbus 68“ die Rede, Tellkamp: Der Eisvogel, S. 113. Vgl.: Tommek: „Zur Entwicklung nobilitierter Autorenpositionen“, S. 322 f.; Geisenhanslüke, Achim: „Nach Dresden. Trauma und Erinnerung im Diskurs der Gegenwart. Durs Grünbein − Marcel Beyer − Uwe Tellkamp“, in: Tommek, Heribert / Bogdal, Klaus-Michael (Hrsg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Sozialstruktur − Medien − Ökonomien − Autorpositionen, Heidelberg: Synchron 2012, S. 285 – 301, hier S. 298 f.; Kindt, Tom: „Die Vermessung der Deutschen. Zur Reflexion deutscher Identität in Romanen Georg Kleins, Daniel Kehlmanns und Uwe Tellkamps“, Zeitschrift für Germanistik 2/22 (2012), S. 362– 373, hier S. 370 ff.; Wagner, Sabrina: „Korrektur durch epische Beschreibung. ‚Konservatives Engagement‘ zwischen autorschaftlichem Selbstverständnis und literaturkritischer Rezeption am Beispiel Uwe Tellkamps“, in: Adler, Hans / Klocke, Sonja (Hrsg.): Protest und Verweigerung. Neue Tendenzen in der deutschen Literatur seit 1989 / Protest and refusal. New Trends in German Literature, Paderborn: W. Fink 2019, S. 93 – 109, hier S. 106. Vgl.: Geisenhanslüke: „Nach Dresden“, S. 297.
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deutschen Kulturnation ist das Ziel des Romans, der dies an seinem ostdeutschen Exempel erzählt. Die eigenartige Konstruktion des Textes imaginiert Dresden als das eigentliche Zentrum der DDR. Zwar wird die Hauptstadt Berlin erwähnt, das intellektuelle Zentrum mit seinen Literaten ist aber Dresden. Fast alle Orte der Handlung befinden sich in Sachsen und sogar im Hiddensee-Urlaub versammelt sich das ganze Dresdner Personal des Romans auf dieser Insel.²⁴ Jene Urlaubsfahrt aus Dresden nach Hiddensee dient als eine allgemeine Beschreibung alltäglicher Abläufe in der DDR („so fuhr man in den Urlaub durch die Deutsche Demokratische Republik“, DT: 656). Diese Beobachtung deckt sich mit einem Interview Tellkamps, in dem dieser die vorgenommenen topographischen Umgestaltungen der Stadt Dresden erklärt (paradigmatisch können sie auf der Umschlagzeichnung betrachtet werden, vgl.: Abb. 1). „Die Entscheidung für mich, die realen Gegebenheiten zu verlassen, hat der Roman getroffen, der über Dresden hinauswollte. Er wollte ein Modell liefern für das Gesellschaftssystem an sich. Und das war mit Dresden allein nicht möglich.“²⁵ Mit dem Anspruch, die DDR abzubilden, verbindet sich die politische Utopie einer Wiedervereinigung, deren Desillusionierung mit Blick auf das Œuvre Tellkamps in Der Eisvogel mündet.²⁶ Im Turm wird die Zeit stillgestellt, ja soll sogar mit aller Kraft stillgestellt werden: »Die Standuhr, Richard, kannst du sie nicht anhalten? Ich kann das Ticktack nicht ertragen, es tut mir weh. Soll ich dir was zu trinken holen?« […] Richard hörte sie in der Küche hantieren […]. [E]r hielt das Uhrenpendel an. Es wehrte sich gegen den Stillstand, begann sich aus Mikroschwingungen wieder einzutakten. (DT: 859)
Für das Scheitern dieses Prozesses ist der Text mit seiner Beschleunigung der performative Beweis, während das Bürgertum in der Vergangenheit (sinnlos) versunken ist. Diese Kontemplation findet aber nur um ihrer selbst willen statt und entzieht sich einer zweckgerichteten Betrachtung. Das obige Zitat aus Tellkamps Vorlesung deutet aufgrund der Figuration der „Literatur als Bewahrerin“
Historisch eine überaus unglaubwürdige Konstruktion, wurden Urlaubsquartiere doch zentral vergeben. Überdies wurden dort insgesamt wenig Quartiere angeboten und so wird Hiddensee zu einem zweiten Tellkamp-Dresden, in dem sich die Größen aus Literatur und Kunst ebenso wie das restliche Romanpersonal versammeln. Jachertz, Norbert / Klinkhammer, Gisela: „Interview mit Uwe Tellkamp, Arzt und Schriftsteller: »Das ganze Thema ist immer noch radioaktiv«“, Deutsches Ärzteblatt 106/10 (2009), S. 453 −455, hier S. 453. Auch diese Verbindung ist von der Forschung bereits mehrfach festgestellt worden, vgl.: Wagner: „Korrektur durch epische Beschreibung“; Clarke: „Space, Time and Power“, S. 503.
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Abb. 1: Umschlagzeichnung
ein dezidiert „konservatives Literaturverständnis“²⁷ an. In Der Eisvogel wird dieses politische Programm auf Zeit und Erinnerung angewandt, wenn (wie es der Schlusssatz formuliert) die Zeit (und hiermit ist ihre endlose Beschleunigung gemeint) zerstört werden soll.²⁸ Schon zu Beginn des Textes formuliert der Pro-
Wagner: „Korrektur durch epische Beschreibung“, S. 97. „– wir müssen die Zeit zerstören, sagte er, wir müssen sie zerstören, die Zeit“, Tellkamp: Der Eisvogel, S. 318 (Kursivierung i. Orig.). Tellkamp formuliert in seiner Poetikvorlesung ganz ähnlich, wenn er sich dort gegen eine Dekonstruktion und zugunsten eines Bewahrens ausspricht: „[D]a will jemand einmal nicht dekonstruieren, sondern etwas festhalten − und dafür empfinde ich Sympathie, denn sich gegen die Zeit zu stellen, die verrinnende, aus ihren unablässig mahlenden Strudeln etwas zu bewahren und dadurch einen kleinen, lächerlich donquichottesken, im eigentlichen Sinne anachronistischen Triumph − momentan − gegen jene zu erringen, der es offenbar niemals langweilig wird, immer nur zu siegen, letztlich: das ist doch eine der Aufgaben des Dichters“, Tellkamp: Die Sandwirtschaft, S. 94. Ironischerweise formuliert Tellkamp dies mit
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tagonist Wiggo nach einer Aufzählung zahlreicher Abscheulichkeiten der modernen Gesellschaft: [N]ein, Ohren zuhalten, weg mit dem ganzen Dreck, Tod Tod Tod, gellte es den Menschen unablässig entgegen, aus allen Rohren, aus allen Röhren, weg mit der Erinnerung, auslöschen die Vergangenheit, leben für den Augenblick, sie ließen los und wurden leicht, war es das, was sie immer gewollt hatten, werden wir alt werden, fragen die Zwanzigjährigen, die Welt ist jung, irgendwann nach der Wende wurde sie neu geboren, sie mag das Alter nicht, was alt wird, hat zu sterben begonnen, Zeit, Zeit, aus der Dunkelheit entstanden, in die Dunkelheit verschwindend, suddenly everything fell out of place, höre ich aus dem Discman, suddenly everything fell out of place, die Menschen wie Gefangene, die ihre Lebensboote durch die Straßen treideln, Einsamkeit und Angst, haltlos, bloßes nacktes Existieren, manche vielleicht in der Ahnung von etwas anderem, einem Leben, wo andere Gesetze herrschen, nicht die Zeit mit ihren Uhren, unablässiges Ticktack […].²⁹
Beide Texte Tellkamps inszenieren eine versunkene Vergangenheit und Tradition, die von einer fortschreitenden Beschleunigung und von einem Stillstand bedroht ist. Diese − und das ist Tellkamps poetisches wie sein politisches Programm − Tradition soll reaktiviert werden, allerdings nicht um sie im Sinne Benjamins mit neuer Bedeutung zu füllen,³⁰ sondern um sie zu restituieren. Tellkamps überaus konservatives Kulturverständnis inszeniert schon im Turm ein vollkommen versunkenes Bürgertum, das seine Kinder nicht auf die Gefahren des real existierenden Sozialismus vorbereitet, sondern diesen geradezu ausliefert.³¹ Wie Kai
Blick auf die Lyrik Grünbeins, der, wie in der Analyse zu seinen Texten zu zeigen sein wird, zu einem anderen Umgang mit Erinnerung kommt. Tellkamp: Der Eisvogel, S. 32 f. (Kursivierung i. Orig.). Dies ist das Programm von Benjamins Destruktiven Charakter: „Der destruktive Charakter steht in der Front der Traditionalisten. Einige überliefern die Dinge, indem sie sie unantastbar machen und konservieren, andere die Situationen, indem sie sie handlich machen und liquidieren. Diese nennt man die Destruktiven.“, Benjamin, Walter: „Der destruktive Charakter“, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. IV. Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen, hrsg. von Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 396 – 398, hier s. S. 398. Benjamins Werke werden im Folgenden mit dem jeweiligen Titel und der Sigle B-GS sowie der Bandnummer und Seitenzahl angegeben. Tellkamps Text erfüllt die erste Kategorie von Benjamins Text selbst (auch wenn er den gleichen Vorwurf an die Türmer richtet), indem er selbst die DDR-Zeit archiviert, aber nur zum Zwecke eine explizit deutsche Tradition zu konservieren. Die Texte Wolfs und Grünbeins, die im Zentrum dieser Arbeit stehen, verfahren (zumindest ihrem Selbstanspruch nach) nach jenem destruktiven Paradigma, das Benjamins Denkbild vorgibt. Vgl.: Sina, Kai: „Kriechende Seele, zerbrechlicher Geist − Zum Konzept von ›Bildung und Kultur‹ in Romanen Anna Katharina Hahns und Uwe Tellkamps“, in: Gansel, Carsten / Joch, Markus / Wolting, Monika (Hrsg.): Zwischen Erinnerung und Fremdheit. Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989, Göttingen: V&R Unipress 2015, S. 379 – 392, hier S. 389.
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Sina feststellt, ist es das autoreflexive Ziel, mit dem Turm selbst ein literarisches Schwergewicht zu schaffen – einen jener „Blauwale“, wie sie im Text in Rekurs auf die großen Romane „Tolstois, Dostojewskis, Thomas Manns, Musils und Doderers“ (DT: 155) genannt werden.³² Diesem Paradigma unterwirft sich der junge Christian in seinen vier Etappen, die im letzten Schritt darin enden, ein „[g]roße[s] Werk“ (DT: 157) zu erzeugen. Enttäuscht von der reinen Selbstversenkung soll Der Turm selbst ein großes Werk sein, das nicht nur die Klassiker einer explizit deutschen Tradition („eine deutsche Kunst“, DT: 148) wieder zum Fundament einer Identitätsbildung macht, sondern selbst in dieses Fundament eingeht. Die Geschichte, die Tellkamps Turm erzählt, ist zwar in dem versunkenen Land DDR angesiedelt und handelt von dem versunkenen Bürgertum im Dresdner Villenviertel, der Text will aber nicht zu einer ostdeutschen Identitätsfindung beitragen, obgleich er in dieser Nische des real existierenden Sozialismus eine Brutstätte ausmacht, sondern wendet sich einer deutschen Identität zu, auf die der Text mit seinem Ende zuläuft. Dem dicht gewebten intertextuellen Netz, das mit vielen Texten der literarischen Moderne aufwartet, ordnet Der Turm stets eine bestimmte − wie die Forschung mit Blick auf Thomas Mann bereits konstatiert hat³³ − restaurativ-konservative und antimoderne Lesart zu. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Katrin Max in ihrer Studie zur Bürgerlichkeit in der DDR Tellkamps Roman nicht in einer ostdeutschen bzw. DDR-Tradition verortet, sondern als Teil der „neuen Bürgerlichkeit der frühen 2000er Jahre“³⁴ versteht. Tellkamps Der Turm strebt danach, sich mit Deutschland als einer Kulturnation zu identifizieren, wobei an dieser Stelle daran zu erinnern ist, dass Theodor W. Adorno sowie Etienne Balibar auf die Transformation des Begriffes Rasse zu dem der Kultur im politischen Diskurs aufmerksam gemacht haben.³⁵ Tellkamps politische Äußerungen der letzten Jahre weisen in eine ähnliche Richtung und auch Der Turm zeigt dies − ohne ihm seine literarische Qualität damit absprechen zu wollen. Als
Vgl.: Sina: „Kriechende Seele, zerbrechlicher Geist“, S. 390. Vgl.: Geisenhanslüke: „Nach Dresden“, S. 298; Max: Bürgerlichkeit und bürgerliche Kultur in der Literatur der DDR, S. 453. Max: Bürgerlichkeit und bürgerliche Kultur in der Literatur der DDR, S. 455. In Adornos Schuld und Abwehr heißt es: „Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.“, Adorno: „Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum »Gruppenexperiment«“, A-GS 9, S. 277. Vgl. auch: Balibar, Étienne: „Gibt es einen »Neo-Rassismus«?“, in: Ders. / Wallerstein, Immanuel: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg: Argument 1992, S. 23 – 38, hier S. 27 f.
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poetisch-politische Zielsetzung bleibt bei Tellkamp aber die Formierung einer deutschen und nicht einer ostdeutschen ‚Identität‘ das Telos des Textes.³⁶
Ohne Frage lassen sich in der breiten Darstellung auch partielle ostdeutsche Selbstbilder identifizieren, die der Text aber entweder als Nebenprodukt erzeugt oder sie für seine Meta-Intention funktionalisiert.
II Einleitung Auch auf dem Bahnhof wollten sie nun Westgeld haben, und Münze um Münze hieß es aus dem Portemonnaie vorzuklauben, um jedes der plötzlich viel schwereren Stücke auf seinen Wert hin zu prüfen; ein Fremder im eigenen Land, das mir freilich auch nie gehörte.¹
Die vorliegende Arbeit nimmt mit Texten Christa Wolfs und Durs Grünbeins die Identifizierungen nach 1989 in den Blick. Sie fragt nach den spezifischen Auswirkungen der historischen Zäsur 1989 auf die Selbstbilder von Ostdeutschen. Dabei sind verschiedene Aspekte von besonderer Wichtigkeit: Wie schon in der kurzen Analyse zu Uwe Tellkamp deutlich wurde, gehe ich davon aus, dass Identität eine unmögliche Konstruktion ist, die ein Text zwar versuchen kann herzustellen, dabei aber stets scheitern wird. Statt einer zu erreichenden Identität (vgl. das Kapitel Die Unmöglichkeit der Identität) finden immer nur Prozesse der Identifizierungen statt, die sich in einem Changieren zwischen retrospektiven Erinnerungen und futurischen Projektionen ausbilden (vgl. die Kapitel: Theorie der Identifizierung und Prozesse der Identifizierung). Gerade im Fall der ostdeutschen Selbstbilder ist dies von besonderem Interesse, da der Raum, zu dem Zugehörigkeiten erzeugt werden, nach dem politischen Systemwechsel 1989 nicht mehr existiert. Er kann nur durch Erinnerungen reaktiviert werden. Damit ist für Retrospektionen, aber auch für projektive Entwürfe bereits der Unterschied benannt, der die ostdeutschen Selbstbilder von beispielsweisen deutschen Selbstbildern unterscheidet. Denn eine Identifizierung als Deutscher bzw. mit Deutschland kann, obgleich ebenfalls Transformationen unterworfen, doch auf stärkere Kontinuitäten verweisen. Sich als ostdeutsch zu identifizieren, ist hingegen von dem historischen Bruch von 1989/1990 gekennzeichnet, mit dem eine grundlegende Verschiebung der Sozialstruktur des Gebietes der ehemaligen DDR einherging. Aus diesem Grund unterscheide ich in dieser Arbeit zwischen DDRund ostdeutschen Selbstbildern. Beide stehen zwar miteinander in Verbindung, letzteren ist allerdings durch ihren starken Erinnerungscharakter ein neues Apriori eingeschrieben (vgl. die Kapitel ‚Ostdeutschland‘ und die ‚Ostdeutschen‘ und Perspektiven durch Erinnerung – Gedächtnis und Literatur). Dieser Systemwechsel wird durch die Phänomene einer intensivierten Globalisierung begleitet, die in den literarischen Texten unterschiedlich stark auftreten. Die Texte der Post Rosenlöcher, Thomas: Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 10. https://doi.org/10.1515/9783110741766-003
II Einleitung
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DDR-Literatur reagieren auf diese Krisenerfahrungen (wie es schon Tellkamps Der Turm zeigt) mit einem starken Rückbezug auf die Literatur der (klassischen) Moderne, die als intertextuelles Vorbild fungiert (vgl. das Kapitel Nach 1989 – Umbruch und Einbruch). Gerade die Verbindung von Intertextualität und Selbsttheoretisierung des eigenen Schreibens zeichnet die Post-DDR-Literatur aus, wobei ihr Spezifikum darin liegt, dies einerseits auf die erzählenden oder erzählten Figuren zu beziehen und andererseits in einen Kontext einzubetten, der in der DDR oder Ostdeutschland nach 1989 liegt. Alle diese Aspekte werden im ersten Kapitel Theoretische Zugänge besprochen. Im Kapitel zu Christa Wolf werde ich anhand des ersten Kapitels aus Stadt der Engel ² in zentrale Themen der folgenden Abschnitte einführen, ehe ich mich anschließend der Dialektik von Erinnern und Vergessen zuwende. In diesem Kapitel werden unter Rekurs auf die Theorien Sigmund Freuds und Walter Benjamins, die als Intertexte mehrfach prominent angeführt werden, verschiedene Aspekte erörtert: die Nichtidentität der Erzählebenen, die Thematik des blinden Flecks sowie die Erinnerungen an die Tätigkeit für die Staatssicherheit der DDR in Wolfs Stadt der Engel (vgl. das Kapitel Erinnern und Vergessen – Christa Wolf liest Freud und Benjamin). Im folgenden Kapitel Schreibweisen des Autobiographischen und der Beleg des Lebens wird unter Zuhilfenahme der Autobiographieforschung (von Lejeune über de Man bis zur Autofiktion) und Wolfs eigenen poetologischen Texten eine autobiographische Schreibweise Wolfs entwickelt. Diese wird im letzten Teil mit dem literarischen Bekenntnisschema in Verbindung gebracht, um eine zentrale Dimension des Textes zu erörtern. Anschließend wende ich mich in Das Andere des Ostens den Figurationen des Anderen zu, die Wolfs Stadt der Engel entwirft. Drei Aspekte erhalten eine besondere Aufmerksamkeit: die Obdachlosen, die Exilierten während des Nationalsozialismus und ihre Literatur sowie die Beschreibung der paradigmatischen Anderen, den Schwarzen und den Native Americans. Alle diese Gruppen werden auf eine jeweils eigene Weise funktionalisiert und fungieren als Abgrenzungs- und gleichermaßen als Bezugspunkte, in denen die Protagonistin ihre Identifizierungen auslotet. In dem abschließenden Kapitel „Auferstanden aus Ruinen“ – Ein Engel bringt die Utopie rücken noch einmal die futurischen Identifizierungen in den Fokus. Sie werden in einem utopischen Setting präsentiert, das sich stark auf Benjamins letzten Text Über den Begriff der Geschichte und den dortigen Abschnitt über den Engel der Geschichte bezieht. Angefangen von der Genesung nach persönlicher, existentiell bedrohender Krise über das Auftauchen des Engels Angelina bis hin
Wolf, Christa: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, Berlin: Suhrkamp 2010, im Folgenden unter der Sigle SdE zitiert.
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II Einleitung
zu den Weiterschreibungen von Benjamins Leben werden verschiedene utopische Dimensionen besprochen, welche entweder direkten Einfluss auf ostdeutsche Identifizierungen haben oder Strukturanalogien aufweisen. Im Abschnitt zu Durs Grünbein folgt im ersten Teil (vgl. das Kapitel Ouvertüre im Transit) eine Lektüre des ersten Kapitels der Jahre im Zoo ³, das erneut zentrale Aspekte des gesamten Textes thematisiert. Diese Lektüre wird um den Essay Transit Berlin ergänzt, der im Œuvre Grünbeins für Identifizierungen nach 1989 von besonderem Interesse ist, da er sich mit dem Künstlersein nach dem politischen Umbruch auseinandersetzt und gleichzeitig ein werkinterner intertextueller Verweis zu den Jahren im Zoo darstellt. Anschließend werde ich in Grünbeins Essayismus und seine Nichtidentität unter Rekurs auf die essayistische Tradition Grünbeins eigenen essayistischen Modus herausarbeiten und im letzten Unterkapitel werden die essayistischen Teile zur maritimen Metaphorik in Die Jahre im Zoo einer Lektüre unterzogen. Im Anschluss folgt im Kapitel Zwischen Moderne und X – Intertextualitäten in Grünbeins Selbstbeschreibungen eine Auseinandersetzung mit den dominanten Intertexten von Grünbeins Erinnerungsbuch. Benjamins Berliner Kindheit, das zahlreiche Anleihen liefert, sowie die Person Franz Kafkas (sowie Paul Adlers) und sein Hellerau-Aufenthalt kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges stehen im Mittelpunkt. In einem letzten Abschnitt zum Thema Intertextualität wird die Auseinandersetzung Grünbeins in seinem Text Kurzer Bericht an eine Akademie mit Kafkas Ein Bericht für eine Akademie behandelt. In dem abschließenden Kapitel Denk-Bilder – Optische Identifizierungen untersuche ich den Zusammenhang zwischen den Photographien, insbesondere der Titelphotographie, und den Prozessen der Identifizierungen. Zuletzt zeige ich anhand einer Lektüre des Kapitels Die Zoologische Internationale, dass Grünbeins Blick auf sich selbst als ein zoologischer Blick zu verstehen ist, der das eigene vergangene Bild formt und mit Bedeutungen aus der Erzählgegenwart auflädt. Im Schluss, wie schon in der Ouvertüre zu Tellkamps Turm, wage ich mit Jana Hensels Zonenkinder ⁴ noch einmal einen Ausblick auf einen weiteren Text der Post-DDR-Literatur, der ebenfalls ein ostdeutsches Selbstbild zeigt. Selbstbilder, wie sie die vorliegende Arbeit entwirft, orientieren sich immer an Imagined Communities. Letztere kündigt der Titel von Benedict Andersons Studie bereits an. Ein ostdeutsches Selbstbild darf dabei nicht als eine affirmative Bezugnahme auf den Staat DDR verstanden werden; ganz im Gegenteil, wie das Beispiel Grünbeins zeigt, können sie sich sogar in Opposition dazu ausbilden. Grünbein, Durs: Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop, Berlin: Suhrkamp 2015, im Folgenden unter der Sigle DJZ zitiert. Hensel, Jana: Zonenkinder, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, im Folgenden unter der Sigle ZK zitiert.
II Einleitung
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Gleichzeitig gibt die Nationen-Forschung aber Hinweise, die für die Entstehung von konstruierten Gemeinschaften an sich und der ostdeutschen im Besonderen produktiv sind. In Imagined Communities argumentiert Anderson, dass vier Eigenschaften existieren, welche die Vorstellung einer Nation konstituieren: It [die Nation; M.K.] is imagined because the members of even the smallest nation will never know most of their fellow-members […]. The nation is imagined as limited because even the largest of them […] has finite, if elastic boundaries, beyond which lie other nations. […] It is imagined as sovereign because the concept was born in an age in which Enlightenment and Revolution were destroying the legitimacy of the divinely-ordained, hierarchical dynastic realm. […] Finally, it is imagined as a community, because regardless of the actual inequality and exploitation that may prevail in each, the nation is always conceived as a deep, horizontal comradeship.⁵
Drei dieser Eigenschaften treffen auf die Vorstellung der ‚Ostdeutschen‘ zu, denn diese sind ebenfalls vorgestellt, begrenzt und eine Gemeinschaft. Der Aspekt der Souveränität, der die Nationenbildung vor allem historisch einbettet, ist zwar im Kontext Ostdeutschlands nicht als Spezifikum zu finden, verweist aber als historischer Index auf den Zeitraum, in dem die Vorstellung von Identität als Subjektivität aufkam (vgl. das Kapitel Die Unmöglichkeit der Identität). Ganz ähnlich hat Étienne Balibar die soziale Gemeinschaft definiert, wenn er schreibt: Jede soziale Gemeinschaft, die durch das Wirken von Institutionen reproduziert wird, ist imaginär; d. h. sie beruht auf der Projektion der individuellen Existenz in das Geflecht einer kollektiven Geschichte, auf Anerkennung eines gemeinsamen Namens und auf den Traditionen, die als Spuren einer unvordenklichen Vergangenheit erlebt werden.⁶
In der Verschränkung von Kollektiv und Individuum, die bei ostdeutschen Selbstbildern durch Erinnerungen geleistet wird, zeigt sich eine Besonderheit: Die Gemeinschaft der Ostdeutschen, wie imaginär oder vorgestellt sie auch sein mag und wie wenig eine Zugehörigkeit sich erfüllen kann, kann einerseits empirisch festgestellt werden⁷ und ist andererseits nicht institutionalisiert. Wie ich im Ka-
Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London / New York: Verso 2016, S. 6 f. Balibar, Étienne: „Die Nation-Form. Geschichte und Ideologie“, in: Ders. / Wallerstein, Immanuel: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg: Argument 1992, S. 107– 130, hier S. 115. Wie eine Umfrage des Allensbach-Instituts aus dem Juli 2019 zeigt, fühlen sich 47 % der Ostdeutschen mehr als Ostdeutsche und nur 44 % als Deutsche (bei 9 % Unentschiedenen), vgl.: Köcher, Renate / Institut für Demoskopie Allensbach: „Große Herausforderung im Osten“, 2019,
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pitel Perspektiven durch Erinnerung – Gedächtnis und Literatur zeigen werde, sind es Formen wie familiäre Kommunikation, die zur Errichtung von Vorstellungen der Ostdeutschen beitragen. Literatur kontribuiert in diesem Fall die Institutionalisierung solcher Vorstellungen und wird damit Teil einer Art Gegengedächtnis, in dem sich die Narrationen ansammeln können. Es ist in diesem Kontext noch auf vier Arbeiten hinzuweisen, die sich bereits mit sehr ähnlichen Fragestellungen beschäftigt haben: Hyacinthe Ondoas Arbeit Literatur und politische Imagination (2005) geht von einem ähnlichen Erkenntnisinteresse wie die vorliegende Argumentation aus. Ondoa begibt sich auf die Suche nach ostdeutschen Identitäten, die er am Übergang von personaler und kollektiver Identität verortet.⁸ Auch er spürt in Teilen seiner Studie den ostdeutschen Identitäten nach 1989 nach, die er infolge von Globalisierungsprozessen als intensiviert beobachtet, gleichzeitig geht seine Arbeit stärker von Traditionen aus, die er bereits in Texten der 1960er und 1970er untersucht (Wolfs Der geteilte Himmel, Dieter Nolls Die Abenteuer des Werner Holt, Hermann Kant Die Aula etc.). Seine thematisch breit angelegte Studie hält an einem Identitätsbegriff fest und arbeitet stärker diskursanalytisch, so dass einzelne philologische Auseinandersetzungen deutlich weniger Raum erhalten, als es meine Ausführungen anvisieren. Einem ähnlichen Vorgehen folgt Katrin Löfflers Buch Systemumbruch und Lebensgeschichte (2015), das allerdings nur Texte nach 1989 anvisiert.⁹ Auch dort werden einzelne philologische Analysen zugunsten der breiten Darstellung eher in den Hintergrund gerückt. Löffler legt einen starken Fokus auf Texte, die ihren autobiographischen Anspruch offen ausstellen und untersucht unter dieser Perspektive die individuellen Lebensgeschichten der Schreibenden in den Texten. Bereits 2006 hat Elke Brüns ihre Studie Nach dem Mauerfall. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung veröffentlicht. Wie es schon der Titel ihrer Studie ankündigt, wendet sich Brüns einer Literaturgeschichtsschreibung der Literatur der 1990er Jahre aus einer vornehmlich ostdeutschen Perspektive zu und will „das Wechselverhältnis von Umbruchserfahrung und Literatur erkunden“¹⁰. Auch hier geht es um eine eher breit angelegte Untersuchung, in der vor allem die ganz
in: IFD Allensbach, URL: https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/IfD/sonstige_pdfs/FAZ_Ju li2019_Ostdeutschland.pdf (letzter Zugriff am 4. März 2020). Vgl.: Ondoa, Hyacinthe: Literatur und politische Imagination. Zur Konstruktion der ostdeutschen Identität in der DDR-Erzählliteratur vor und nach der Wende, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2005, S. 14 ff. Vgl.: Löffler, Katrin: Systemumbruch und Lebensgeschichte. Identitätskonstruktion in autobiographischen Texten ostdeutscher Autoren, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2015. Brüns, Elke: Nach dem Mauerfall. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung, München: W. Fink 2006, S. 18.
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konkreten Wendeerfahrungen sowie deren Literarisierung und die damit einhergehende Geschichtsnarration im Fokus stehen. Stephan Pabst hat in seiner Studie Post-Ost-Moderne (2016) vor allem den Systemumbruch in den Fokus gerückt und anhand von Lektüren zu Jirgl, Hilbig, Müller und Grünbein untersucht, wie sich Schreibweisen durch den Gesellschaftswechsel verändern.¹¹ Pabsts überaus reiche und detaillierte Studie fragt weniger nach den Figurationen des Selbst, sondern fokussiert das Schreiben der Autoren angesichts der jeweils neuen bevorzugten Gattungen. Überdies findet sich eine unüberschaubare Anzahl an Aufsätzen und Sammelbänden, die sich mit einzelnen Detailfragen oder Einzellektüren auseinandersetzen. Soweit sie für die behandelten Texte oder für die theoretische Perspektive der vorliegenden Arbeit interessant sind, werden sie entweder in den zugehörigen Lektürekapiteln oder im theoretischen Kapitel (vgl. v. a. das Kapitel Perspektiven durch Erinnerung – Gedächtnis und Literatur) besprochen. Das Korpus setzt sich aus Werken Christa Wolfs und Durs Grünbeins zusammen, wobei eine Fokussierung auf Stadt der Engel und Die Jahre im Zoo vorliegt. In der detaillierten Auseinandersetzung mit den beiden Texten wird deutlich, dass beide um das Zentrum der Suche nach ostdeutschen Selbstbildern kreisen. Diese Lektüren werden in den Kapiteln mit zahlreichen weiteren Werken Wolfs und Grünbeins angereichert. Ein Korpus zu bilden, ist nie eine eindeutige Sache und ohne Frage wären für die in dieser Arbeit vorgelegte Perspektive verschiedene Autoren und Autorinnen in Frage gekommen (ein Teil wird im Kapitel Ostdeutschland nach 1989 erwähnt). Und doch sind Christa Wolf und Durs Grünbein gleichsam paradigmatisch für die vorgelegten Überlegungen, denn sie erfüllen beide viele Kriterien, welche die Arbeit in Auseinandersetzungen mit ihren, aber auch mit weiteren Texten gewonnen hat. So ist zunächst zu nennen, dass beide unterschiedlichen Generationen angehören und damit auch unterschiedlichen Erfahrungsräumen: Wolf, Jahrgang 1929, gehört zu denen, die den Nationalsozialismus noch erlebt haben und in der (teils) euphorischen Gründungsphase der DDR junge Erwachsene waren.¹² Grünbein dagegen, Jahrgang 1962, erlebte noch seine Sozialisation in der DDR (einschließlich abgebrochenen Studiums) und beginnt gegen Ende der DDR sein Schreiben. Die meisten Publikationen und der Erfolg kommen aber erst nach der Wende.¹³ Mit den kurz behandelten Texten Uwe Tellkamps und Jana Hensels in Einleitung und Schluss Vgl.: Pabst, Stephan: Post-Ost-Moderne. Poetik nach der DDR, Göttingen: Wallstein 2016. Andere Autoren dieser Generation wären beispielsweise: Günter de Bruyn, Hermann Kant, Heiner Müller etc. Auch hier finden sich Autoren mit ähnlichen Biographien: Reinhard Jirgl, Thomas Brussig, Ingo Schulze etc.
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wird noch ein Ausblick auf zwei spätere Jahrgänge gewagt, die entweder noch den Wehrdienst in der NVA ableisten mussten (Tellkamp, Jahrgang 1968) oder die DDR nur als Kind und Jugendliche erlebt haben (Hensel, Jahrgang 1976).¹⁴ Grünbein und Wolf sind aber auch zwei Schreibende, die sich unterschiedlich zum untergegangen Staat verhielten: Wolf, die von anfänglicher Begeisterung immer mehr in eine sanfte kritische Distanz zum Staat geriet und sich aktiv in der Umbruchszeit einbrachte, und Grünbein, welcher der DDR eher konfrontativ gegenüberstand, sich in der Umbruchszeit allerdings – abgesehen von einigen Teilnahmen an Demonstrationen − eher zurückhielt. Diese biographischen Positionierungen sind auch den Texten Wolfs und Grünbeins eingeschrieben, wenn bei ersterer Ideologie und staatliche Organe eine gewichtige Rolle spielen, während es bei letzterem die kleinen Erlebnisse des eigenen Aufwachsens sind, die vor dem gegenwärtigen Erfahrungshorizont erinnert werden. Wolfs und Grünbeins Texte haben gemeinsam, dass beide vom Individuum und den individuellen Selbstentwürfen ausgehen und deren Verwicklungen mit den sie umgebenden Gesellschaften zeigen. Indem beide die Erinnerungsprozesse zum zentralen Ausgangspunkt ihrer Auslotung des Selbst nehmen, zeigen sie in der Individualität auch, dass ihre Texte zugleich immer auf das Kollektive verweisen, was angesichts der intertextuellen Verweise noch deutlicher wird. Der Teilung in erzählendes bzw. erinnerndes und erzähltes bzw. erinnertes Ich kommt eine zentrale Bedeutung zu.¹⁵ Sowohl Wolf als auch Grünbein beziehen sich intensiv auf die Literatur der (klassischen) Moderne. Grünbein rückt mit Kafkas HellerauBesuch kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges sowie Benjamins Erinnerungsbuch aus der Anfangszeit des Exils den Anfang vom Ende der Moderne in den Mittelpunkt. Wolf zentriert ihren Text mit den Bezügen auf Benjamins Über den Begriff der Geschichte sowie den späten Thomas Mann und Bertolt Brecht um das Ende der Moderne. Überdies zeichnen sich beide Texte durch einen hohen Grad an Selbsttheoretisierung aus. Die zentrale Frage der Texte Wolfs und Grünbeins ist, wie sich modernes Schreiben nicht nur nach den Katastrophen des 20. Jahr-
Ich habe in der Auswahl Wolfs und Grünbeins zudem auf ein ausgewogenes Verhältnis der Geschlechter geachtet. Gerade anhand von Wolf und Grünbein wird dies besonders evident, wenn beide auch jeweils ihre Geschlechtlichkeit ausstellen. Diese These verfolgt die Arbeit aber nur am Rande und thematisiert sie in den relevanten Kontexten. Eine ausführliche Thematisierung der Werke Wolfs und Grünbeins aus einer Gender-Studies-Perspektive wäre überdies eine weitere lohnende Betrachtung. Vgl. zu dieser Differenz grundlegend: Joachimsthaler, Jürgen: „Die memoriale Differenz. Erinnertes und sich erinnerndes Ich“, in: Klinger, Judith / Wolf, Gerhard (Hrsg.): Gedächtnis und kultureller Wandel. Erinnerndes Schreiben, Perspektiven und Kontroversen, Tübingen: Niemeyer 2009, S. 33 – 52.
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hunderts, sondern auch nach seinem Ende und dem Ende der DDR darstellt. Wolf und Grünbein bieten mit ihren Biographien und mit ihren Texten ein Korpus, das sich durch ihre Differenzen und Gemeinsamkeiten wechselseitig ergänzt. Ein letztes Wort zu der theoretischen Methodik: Mein Vorgehen bezieht sich maßgeblich auf die Autoren der Kritischen Theorie, vor allem Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Ergänzt wird dies im theoretischen Teil vornehmlich durch Überlegungen Sigmund Freuds, Jacques Derridas und Stuart Halls. Der starke Bezug auf Adorno und Benjamin mag zunächst überraschen, er hängt aber direkt mit den in der Arbeit besprochenen literarischen Texten zusammen. Denn Wolf und Grünbein beziehen sich sowohl in Stadt der Engel und Die Jahre im Zoo als auch in ihren weiteren Werken oftmals auf Benjamin und teilweise auf Adorno. Gerade Benjamins Theorie zu Erinnerung, Vergessen und nachträglicher Konstruktion ist ein regelrechter Motor, der die literarischen Texte antreibt und den diese versuchen, produktiv weiterzudenken. Auch Adornos Theoreme treten in den Texten (Wolf) auf bzw. sind diesen zumindest strukturverwandt (Grünbein). Überdies ist Adorno ein Theoretiker der Identität, der explizit am Umschlag des Identitätsbegriffes zu den kulturwissenschaftlichen Perspektiven, die sich ab den 1970er Jahren entwickelt haben, anzusiedeln ist. Er verbindet in seiner Theorie der (Nicht‐)Identität die verschiedenen Aspekte eines ‚alten‘ mit einem ‚neuen‘ Identitätsbegriff und bringt somit eine besondere Sensibilität für die Probleme auf, die mit Begriff und Konzept von Identität einhergehen. Da sowohl Benjamin als auch Adorno ihre Erkenntnisse immer wieder an der Analyse literarischer Texte gewinnen − die nicht zuletzt auch teils die Intertexte von Wolf und Grünbein bilden (Stichwort: Proust und Kafka) −, scheinen mir ihre Überlegungen umso geeigneter, um damit einer philologischen Analyse von literarischen Selbstbildern nachzugehen.
III Theoretische Zugänge Soweit ist der Streit über die Identität nicht ein bloßer Streit über Worte. Wenn wir, unzutreffender Weise, veränderlichen oder unterbrochenen Gegenständen Identität zuschreiben, so betrifft unser Irrtum nicht bloß den Ausdruck, vielmehr verbinden wir damit gewöhnlich eine Fiktion von etwas Unveränderlichem und Ununterbrochenem, oder von etwas Geheimnisvollem und Unerklärbarem, oder es besteht wenigstens eine Neigung zu solchen Fiktionen.¹ Seiner Macht der Negation beraubt, verausgabt sich das Ich in seinem Bestreben, »Identität zu finden«, oft um den Preis von seelischen und Gemütskrankheiten, die zur psychologischen Behandlung kommen, oder es unterwirft sich bereitwillig den erforderten Denk- und Verhaltensweisen, indem es sein Selbst den anderen anähnelt.²
Das folgende Kapitel ist der Versuch einer Theoretisierung des Komplexes um die ostdeutschen Selbstbilder, die nach 1989 entstanden sind. Die hier vorgebrachten Erkenntnisse haben sich in Auseinandersetzung mit den folgenden philologischen Analysen ergeben und sind daher kein Konstrukt, das nach seiner Erörterung einfach angewendet wird, sondern theoretische Überlegungen und literaturwissenschaftliche Analyse durchdringen und ergänzen sich vielmehr. Das Kapitel berührt die allgemein-philosophische Frage nach der Unmöglichkeit von Identität. Es handelt sich hierbei um eine meiner Hauptthesen, die ich im Abgleich mit der Diskursgeschichte von Identitätskonzeptionen und ihrer Problematisierungen gewinnen werde. Da ich den Begriff und das Konzept Identität im Folgenden verwerfe, möchte ich stattdessen eine Theorie der Identifizierung anbieten. Trotz der Einsichten aus dem Kapitel Die Unmöglichkeit von Identität können einige Aspekte der Identitätsforschung für weitere Überlegungen produktiv gemacht werden und wie sich an der Argumentation zeigt, gibt es Überschneidungen zwischen einzelnen im Identitäts-Kapitel referierten Positionen und meiner Theorie der Identifizierung, die sich gerade in der Beschäftigung mit
Hume, David: Ein Traktat über die menschliche Natur. Bd. 1: Buch I. Über den Verstand, hrsg. von Reinhard Brandt, übers. von Theodor Lipps, Hamburg: Meiner 1989, S. 330. Marcuse, Herbert: „Das Veralten der Psychoanalyse“, in: Ders.: Schriften. Bd. 8: Aufsätze und Vorlesungen 1948 – 1968. Versuch über die Befreiung, übers. von Alfred Schmidt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 60 – 78, hier S. 68. https://doi.org/10.1515/9783110741766-004
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George Herbert Mead und Jan Assmann zeigen. Gleichzeitig gilt es zu betonen, dass trotz dieser durchaus produktiven Ansätze immer auch problematische Aspekte mit ihren Konzeptionen einhergehen. Deswegen steht mein Vorschlag, den Prozessen der Identifizierung nachzugehen, auf einer anderen Grundlage und bedingt ein anderes Verständnis von Subjektivität, das wiederum nicht einfach einen Ersatz darstellt, sondern dass die Prozessualität von Selbstbildern abbildet, die sich zwischen Erinnerung und Entwurf bestimmen. Im Anschluss daran wende ich mich einer historisch-soziologischen Bestimmung des Chronotopos Ostdeutschland zu. Ich möchte im Folgenden Ostdeutschland von der DDR unterscheiden und ich begreife ersteres als einen Raum, der sich erst nach 1989 konstituiert. Bei dieser Konstitution ‚Ostdeutschlands‘ nach 1989 wird zwei Aspekten ein herausgehobener Rang zugestanden: 1.) zum einen dem Sachverhalt, dass ‚Ostdeutschland‘ den geographischen Raum der ehemaligen DDR umfasst und dass dies somit ein Raum der Erinnerung und der (Re‐)Konstruktion ist. Durch die historische Gegebenheit der Wiedervereinigung oszilliert seit 1990 das Erinnern der DDR stets zwischen einer staatlich-institutionell gelenkten und einer sich in Aushandlung begriffenen Gedächtnispolitik; ein Gegensatz, der mit den Attributen kulturelles und kommunikatives Gedächtnis beschrieben werden kann, wobei beide Aspekte in einem ständigen Interdependenzverhältnis stehen. In diesem Paradigma ist Literatur verortbar und so wird die Post-DDR-Literatur anhand bestimmender Eigenschaften (autobiographisches Schreiben, starke Subjektivitäten, Erinnerungsthematik) charakterisiert. 2.) zum anderen ist dies der Rahmen, in dem sich die Welt seit 1989 befindet: eine intensivierte Globalisierung, die durch ihre ökonomischen Vorgaben der kapitalistischen Marktwirtschaft den Raum Ostdeutschland infolge des Systemwechsels stark geprägt hat. Damit hängen nicht nur soziologische Überlegungen, auf die in diesem Kapitel zurückgegriffen wird, sondern auch die literarischen Reaktionen darauf zusammen, in denen die Post-DDR-Literatur mit einem starken Rückbezug auf die Literatur der (klassischen) Moderne antwortet.
1 Selbstbilder zwischen Identität und Identifizierungen 1.1 Die Unmöglichkeit von Identität Seit seiner Etablierung steht das Konzept Identität stets auch auf dem Prüfstand. Durch unterschiedliche theoretische Perspektiven ist es kritisiert und wieder restituiert worden. Ich möchte zunächst zwei Aspekte von Identität unterscheiden: Zum einen die persönliche Identität des einzelnen Subjektes und zum anderen die kollektiven Identitäten von Gruppen und Gemeinschaften, die auf jeweils gänzlich
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III Theoretische Zugänge
unterschiedliche Art ihre Bestimmung erhalten (etwa bei Geschlechtlichkeit, Rassifizierung, Nationalisierung etc.). Bei alledem ist zwischen selbst gewählten und zugeschriebenen Identitäten zu differenzieren. Das folgende Unterkapitel reiht sich in die skeptischen Perspektiven, die sich auf das Konzept und den Begriff Identität richten, ein. Ich möchte damit daher Identität an sich infrage stellen und zugleich zeigen, dass Vorstellungen von Identität als ideologisches Konzept zu verstehen sind und ein jeder Begriff von Identität mit starken Interferenzen von persönlicher und kollektiver Identität einhergeht; diese beiden Aspekte also letztlich nicht so eindeutig zu unterscheiden sind, wie ihre Begriffe zunächst vorgeben. Schon seit geraumer Zeit ist die Literatur zum Themenfeld Identität nicht mehr zu überblicken, weshalb das vorliegende Kapitel keinen Anspruch auf eine vollständige Darstellung der existierenden Identitätstheorien erhebt.³ Vielmehr stellt es den Versuch dar, dominante und innovative Positionen aufzuzeigen, die den Diskurs Identität auszeichnen und die Problematik, die mit diesen Theoretisierungen einhergeht, zu verdeutlichen. Bereits im Jahr 1999 hielten Aleida Assmann und Heidrun Friese in der Einleitung des Bandes Identitäten fest, dass das Wort Identität sich „geradezu epidemisch ausgebreitet“⁴ hat. Diese Beobachtung ist nach wie vor aktuell und man kann angesichts der sogenannten Identity Politics durchaus feststellen, dass dieser Prozess sich seit Assmanns und Frieses Publikation noch weiter intensiviert hat, obschon Identitäten und die damit verbundenen Vorstellungen zunehmend zur Disposition stehen.⁵ Im Tractatus logico-philosophicus schreibt Ludwig Wittgenstein: „Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts.“⁶ Schon Wittgensteins apodiktische
Die Auswahl an theoretischen Texten, die ich in den folgenden drei Kapiteln treffe, ist jedoch nicht zufällig, sondern überschneidet sich mit zahlreichen Publikationen zum Themenkomplex Identität, vgl. hierzu z. B.: Bergem, Wolfgang: Identitätsformationen in Deutschland, Wiesbaden: VS 2005, S. 36 – 134; Assmann, Aleida / Friese, Heidrun (Hrsg.): Identitäten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999; Marquard, Odo / Stierle, Karlheinz (Hrsg.): Identität, Poetik und Hermeneutik 8, München: W. Fink 1979; Jörissen, Benjamin / Zirfas, Jörg (Hrsg.): Schlüsselwerke der Identitätsforschung, Wiesbaden 2010; Zima, Peter V.: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen: UTB 2017. Assmann, Aleida / Friese, Heidrun: „Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.): Identitäten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 11– 23, hier S. 11. Zum Aufstieg und zur zunehmenden Problematisierung von Identität, vgl. grundlegend die kompakte Einführung von Eickelpasch und Rademacher: Eickelpasch, Rolf / Rademacher, Claudia: Identität, Bielefeld: Transcript 2013. Wittgenstein, Ludwig: „Tractatus logico-philosophicus“, in: Ders.: Werkausgabe. Bd. 1. Tractatus logico-philosophicus / Tagebücher 1914−1916 / Philosophische Untersuchungen, hrsg. von Joachim Schulte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 7– 85, hier S. 62 (Hervorheb. i. Orig.).
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Bemerkung veranschaulicht das Dilemma, das mit dem Begriff Identität verbunden ist. Denn ‚Identität‘ ist – aus der philosophischen Tradition der Logik kommend − erst in der Moderne auf das Selbstbild eines Subjektes und der Feststellung der Einmaligkeit eines Individuums angewandt worden.⁷ In der Frühaufklärung lassen sich in Gestalt von John Lockes An Essay Concerning Human Understanding (1690) und David Humes A Treatise of Human Nature (1739/40) die Verwicklungen der logischen und der persönlichen Identität zeigen, die zugleich die beiden dominanten Positionen des Diskurses über die (Un‐)Möglichkeit von Identität förmlich begründen. Locke leitet Identität aus einem logischen Schluss her: „Wir betrachten ein Ding als zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort existierend und vergleichen es dann mit sich selbst, wie es zu anderer Zeit existiert; danach bilden wir die Ideen der Identität und Verschiedenheit.“⁸ Ein entscheidender Punkt in Lockes Argumentation ist der von ihm deklarierte Ursprung: Ein Ding bestimmt seine Identität durch die Einmaligkeit seines Ursprunges und dadurch, dass es diesen Ursprung mit keinem anderen Ding teilt. Über die Identität eines Dinges hinausreichend bedeutet dies für den Menschen: Dieser Ursprung ist der Bezugspunkt, durch welchen ein jedes geistige Wesen sich definiert und in dessen Relation es sich begründet.⁹ Während bei einem Ding die Unveränderbarkeit seiner Materie für Locke ein Indiz für dessen Identität ist, argumentiert er im Fall des Menschen mit einer anderen Prämisse: [Die Identität des Menschen; M.K.] besteht nämlich offenbar in nichts anderem als in der Teilnahme an demselben Leben, welches durch beständig in Fluß befindliche Partikel der Materie fortgesetzt wird, die in ihrer Aufeinanderfolge mit demselben organisierten Körper lebensfähig verbunden sind.¹⁰
Vgl. hierzu: Friese, Heidrun: „Identität. Begehren, Name und Differenz“, in: Assmann, Aleida / Friese, Heidrun (Hrsg.): Identitäten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 24– 43, hier S. 31; Ricœur, Paul: Das Selbst als ein Anderer, übers. von Jean Greisch, München: W. Fink 1996, S. 49. Zur Taxonomie und Genealogie von logischer und persönlicher Identität, vgl. außerdem: Henrich, Dieter: „‚Identität‘. Begriffe, Probleme, Grenzen“, in: Marquard, Odo / Stierle Karlheinz (Hrsg.): Identität, Poetik und Hermeneutik 8, München: W. Fink 1996, S. 133 – 186. Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand. Bd. 1: Buch I und II, übers. von Carl Winckler, Hamburg: Meiner 2006, S. 410 (Hervorheb. i. Orig.). Vgl.: Locke: Versuch über den menschlichen Verstand 1, S. 410 f. Vgl. hierzu auch Leibniz, der zum Prinzip der Individuation konstatiert: „Wenn zwei Individuen vollkommen ähnlich und gleich, mit einem Worte an sich selbst ununterscheidbar wären, so würde es kein Prinzip der Individuation geben.“, Leibniz, Gottfried Wilhelm: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, übers. von Ernst Cassirer, Hamburg: Meiner 1971, S. 240 f. Locke: Versuch über den menschlichen Verstand 1, S. 415.
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III Theoretische Zugänge
Die Teilnahme an demselben Leben bedeutet für Locke nichts anderes als Fähigkeit und Möglichkeit zur Erinnerung, die dafür sorgt, dass ein Individuum sein „Bewußtsein rückwärts auf vergangene Taten oder Gedanken“¹¹ ausdehnen kann, um sich daraus selbst in zeitlicher Kontinuität zu begründen. Die Verschränkung von Identität und Bewusstsein − letzteres knüpft Locke eng an die Erinnerung − ist der Konstitutions- und der Beschränkungsfaktor für die Identität des Individuums, das sich immer in den Grenzen des Bewusstseins aufhält.¹² Während Locke einen starken Identitätsbegriff vertritt, der sich im Fall des Individuums durch die Fähigkeit zu Erinnerung und zur Wiederholung herleitet, stellt David Hume gerade diesen Ansatz in Frage. Das Bewusstsein, das Identität ermöglicht, ist bei Hume nie ‚rein‘; es kann sich seiner selbst nicht bewusst werden, vielmehr ist der Versuch stets kontextabhängig. Hume legt dar, dass ein Bewusstsein jenseits des konkreten einzelnen Eindruckes stehen müsse und sich als stabil – unabhängig vom jeweils einzelnen Eindruck − erweist. Dies stellt für ihn eine logische Unmöglichkeit dar, da die Reflexion auf sich selbst stets von den jeweils aktuellen Perzeptionen abhängig ist; das Bewusstsein wird nicht zu einer metaphysischen Instanz, sondern lediglich zu einem Bündel von Perzeptionen.¹³ Wie schon Locke geht auch Hume der Frage nach der Veränderlichkeit von Materie und dem dazugehörigen Verhältnis zur Identität nach. Zur Veranschaulichung seiner These wählt er das Gleichnis vom Schiff des Theseus. Daran zeigt er, dass die Identität eines Gegenstandes abhängig von der Geschwindigkeit, in dem sich Veränderungen vollziehen, unterschiedlich bewertet wird.¹⁴ Die Identität des Menschen ist durch die Veränderungen der körperlichen Materie auf die Probe gestellt; eigentlich negiert sich in Verbindung mit den sich wandelnden Perzeptionen − die auf die Veränderbarkeit des Geisteszustandes verweisen − sogar Identität. Allerdings wird dies durch eine ideologische Operation kompensiert, die laut Hume die Basis jeder Identitätskonzeption bildet: „[W]ir [lassen] uns zu dem Begriff einer Seele, eines Ich, einer [geistigen] Substanz verführen, um die Veränderung [in uns; M.K.] zu verdecken.“¹⁵ Durch die Behauptung, es gäbe einen Kern, eine Substanz oder Essenz, wird der Gedanke von etwas unveränderlichem eingeführt, die hinter konkreter Welterfahrung und der sich verändernden Körperlichkeit des Menschen steht. Nimmt man Humes Operation ernst, so werden Erinnerungen innerhalb dieses Rahmens zu einem produktiven Akteur: „Die Erinnerung schafft für das Bewußtsein der Identität das Material, sofern sie gefaßt
Locke: Versuch über den menschlichen Verstand 1, S. 420. Vgl.: Locke: Versuch über den menschlichen Verstand 1, S. 430 f. Vgl.: Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur 1, S. 326 f. Vgl.: Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur 1, S. 333. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur 1, S. 329 (Hervorheb. i. Orig.).
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wird als das Vermögen, ehemalige Perzeptionen sich zu vergegenwärtigen, sie zu vergleichen oder aufeinander zu beziehen.“¹⁶ An dieser Stelle wird die Konvergenz zwischen der Hume’schen und der Locke’schen Konzeption beobachtbar, wobei erstere die Fähigkeit der Erinnerung zur Identitätskonstitution als Konsequenz einer vorherliegenden ‚falschen‘ logischen Operation versteht. Die Positionen Lockes und Humes illustrieren die beiden dominanten Diskurse der Identitätsforschung. Gerade der von Hume erhobene Vorwurf, durch die Etablierung eines Identitätsbegriffes eine Substanz bzw. Essenz einzuführen, wurde geradezu zum Motor poststrukturalistischer Theoriebildung.¹⁷ Dass Locke und Hume paradigmatisch am Anfang der Diskussion um ‚Identität‘ stehen, hat ein konkretes historisches Fundament: Während die Vormoderne zwar stabile Subjektivitäten (beeinflusst durch Religion und Tradition) kennt, kann erst mit der Verbindung von Aufklärung, Moderne und (bedingt durch frühkapitalistische Produktionsweisen) sozialem Wandel der Blick sich auf das Individuum richten, das sich durch diese drei Faktoren neu zu bestimmen hat.¹⁸ Die Beispiele Humes und Lockes zeigen nicht allein den Ursprung eines Diskurses, sondern das Zusammenfallen der verschiedenen Begrifflichkeiten von Identität. In der Negativen Dialektik hält Theodor W. Adorno in einer angefügten Ergänzung die ganze Problematik dieses Begriffes fest: Das Wort Identität war in der Geschichte der neueren Philosophie mehrsinnig. Einmal designierte es die Einheit persönlichen Bewußtseins: daß ein Ich in all seinen Erfahrungen als dasselbe sich erhalte. Das meinte das Kantische »Ich denke, das alle meine Vorstellungen soll begleiten können«. Dann wieder sollte Identität das in allen vernunftbegabten Wesen gesetzlich Gleiche sein, Denken als logische Allgemeinheit; weiter die Sichselbstgleichheit eines jeglichen Denkgegenstandes, das einfache A = A. Schließlich, erkenntnistheoretisch: daß Subjekt und Objekt, wie immer auch vermittelt, zusammenfallen. Die beiden ersten Bedeutungsschichten werden auch von Kant keineswegs strikt auseinander gehalten. Das ist nicht Schuld eines laxen Sprachgebrauchs. Vielmehr bezeichnet Identität den Indifferenz-
Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur 1, S. 337 (Fußnote 324; Hervorheb. i. Orig.). Als prominentes Beispiel kann Judith Butler gelten, die in Gender Trouble und Bodies that matter das Abarbeiten an anderen Theorien durch den Nachweis einer vorhandenen Metaphysik der Präsenz (bzw. Metaphysik der Substanz / des Subjektes) zum Paradigma erhoben hat, vgl.: Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, übers. von Kathrina Menke, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 42 ff., 183 f.; Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, übers. von Karin Wördemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 31 f. Vgl.: Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 356 f. Rosa spricht zwar im Kontext der Vormoderne von Identität, problematisiert dieses Sprechen aber im gleichen Atemzug, wenn er konstatiert, dass „es historisch gesehen höchst problematisch ist, von ›der‹ vormodernen Identität schlechthin zu reden.“, Rosa: Beschleunigung, S. 356.
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III Theoretische Zugänge
punkt des psychologischen und logischen Moments im Idealismus. Logische Allgemeinheit als die von Denken ist gebunden an die individuelle Identität, ohne welche sie nicht zustande käme, weil sonst kein Vergangenes in einem Gegenwärtigen, damit überhaupt nichts als Gleiches festgehalten würde.¹⁹
Adorno nennt die verschiedenen Ebenen der Identität, die spätestens seit Kant und Hegel diesen Begriff beherrschen.²⁰ Innerhalb von Adornos Denken darf dies nicht als reine Aufzählung verstanden werden, sondern dieser Querschnitt fungiert als eine Verschachtelung der verschiedenen Probleme, die mit dem Begriff von Identität einhergehen und denen er in der Negativen Dialektik nachspürt.²¹ Unbestritten ist der Identitätsbegriff seit dem Erscheinen der Negativen Dialektik Transformationen unterworfen, nichtsdestotrotz kann mit Adorno eine Kritik des Identitätsbegriffes und -konzeptes geübt werden, die darlegt, wieso der Konzeptualisierung von Selbstbildern als Identifizierungen der Vorzug gegeben werden soll, denn die Transformationen von ‚Identität‘ schließen fortwährend an mindestens eine der von Adorno genannten Dimensionen von Identität an. Ehe die Problematik von Identität im Anschluss an Adorno im Mittelpunkt steht, werde ich zunächst dominante Stränge des Identitätsdiskurses im 20. Jahrhundert zeigen. Eine einflussreiche Konzeptualisierung, die, anders als es die deutsche Übersetzung suggeriert, ohne den Identitätsbegriff auskommt,²² findet sich im Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 145 f. Vgl. zu Kant: Buck, Günther: „Über die Identifizierung von Beispielen. Bemerkungen zur ‚Theorie der Praxis‘“, in: Marquard, Odo / Stierle, Karlheinz (Hrsg.): Identität, Poetik und Hermeneutik 8, München: W. Fink 1996, S. 61– 82; sowie zu Hegel: Bergem, Wolfgang: „Nation, Nationalismus und kollektive Identität“, in: Salzborn, Samuel (Hrsg.): Staat und Nation. Die Theorien der Nationalismusforschung in der Diskussion, Stuttgart: Franz Steiner 2011, S. 165 – 185, insbes. S. 168 ff. Anders Bartonek fasst die problematischen Aspekte der jeweiligen Dimension treffend zusammen: „Subsumierend ist erstens die ‚Einheit persönlichen Bewußtseins‘, weil sie alle Vorstellungen in ihr Schema einordnet. Zweitens stellt die logische Allgemeinheit in der Vernunft in allen Denkenden ein festes gesetzliches Fundament her und setzt dadurch die Denkenden gleich. Drittens unterwirft die ‚Sichselbstgleichheit eines jeglichen Denkgegenstandes‘ den Gegenstand sich selbst und scheint dadurch dessen Veränderungsmöglichkeiten zu ignorieren.Viertens macht die Identität von Subjekt und Objekt Ungleiches gleich und subsumiert dabei die Sachen unter dem Denken.“, Bartonek, Anders: Philosophie im Konjunktiv. Nichtidentität als Ort der Möglichkeit des Utopischen in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 43. Aus dem englischen Originaltitel von Meads Mind, Self and Society. From the Standpoint of a Social Behaviorist wurde in der deutschen Übersetzung: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Überdies ist der Status des Textes als Werk Meads ohnehin problematisch: Meads Schüler Charles W. Morris gab den Band posthum als eine aufgrund von
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symbolischen Interaktionismus George Herbert Meads. Für Mead ist das Self (Selbst, in der Suhrkamp-Übersetzung: Die Identität) eine Größe, die sich stets in sozialen Strukturen bewegt und sich in diesen aushandelt: „The self, as that which can be an object to itself, is essentially a social structure, and it arises in social experience.“²³ Die Fähigkeit, Subjekt und Objekt zugleich zu sein, macht das Selbst qua Fähigkeit zur Reflexion überhaupt erst zu einem solchen.²⁴ Gerade der Objektstatus des Selbst entsteht vornehmlich über die „activity of memory and imagination in which the self is the principal object.“²⁵ Mead denkt das Selbst weder als starres noch als festes Konzept, sondern beweglich. Das Selbst kann sich erst im Austausch (Interaktion) mit anderen Individuen konstituieren.²⁶ Damit geht für Mead die Differenzierung in I und Me einher, mit der er eine Trennung zwischen einem Außenbewusstsein und den durch Gesellschaft induzierten sowie geformten Bildern, die jenes Außenbewusstsein verarbeiten muss, einführt. Diese beide Faktoren, ein gesellschaftliches Außenbild sowie dessen Aushandlung, bestimmen das Selbst des Individuums. Mead macht dies (unter anderem) am Beispiel von Erinnerungen deutlich, die gleichsam in dieser Dialektik ausgehandelt werden; das I entwickelt sich durch den stets gesellschaftlich präformierten Vorgang des Erinnerns zum Me. ²⁷ Damit bestimmt Mead das Selbst aber auch immer durch Begriffsbildungen geformt, denn die gesellschaftlichen Bestimmungen, wie das Individuum in die existierenden Kontexte einzupassen sei, bestimmen auch immer die Grenzen der interaktionistischen Radien. Ein großer Teil soziologischer Theorien – insbesondere kulturwissenschaftlicher und praxeologischer Provenienz − beruft sich (zumindest indirekt) auf Mead, der das Selbst sozial ausgehandelt versteht.²⁸ Ein prominentes Beispiel ist
Mitschriften erstellte Vorlesung seines Lehrers heraus. Aufgrund der starken Rezeption, die der Text seit seinem Erscheinen erfuhr, muss er im Kontext des Diskurses ‚Identität‘ erwähnt werden. Für relevante Einzelformulierungen zitiere ich das englische Original, für die Darstellung größerer Zusammenhänge die deutsche Übersetzung. Mead, George Herbert: Mind, Self & Society. From the Standpoint of a Social Behaviorist, hrsg. von Charles W. Morris, Chicago: Chicago University Press 1934, S. 140. Vgl.: Mead: Mind, Self & Society., S. 136 f. Mead: Mind, Self & Society, S. 137. Vgl.: Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, hrsg. von Charles W. Morris, übers. von Ulf Pacher, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, S. 206. Vgl.: Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, S. 217 f. Vgl. außerdem das Kapitel Prozesse der Identifizierung − Entwurf und Erinnerung. Vgl. grundlegend hierzu: Wagner, Peter: „Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität“, in: Assmann, Aleida / Friese, Heidrun (Hrsg.): Identitäten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 44– 72.
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III Theoretische Zugänge
die Autorengruppe um Heiner Keupp, die mit dem Begriff Identitätsarbeit die endlose Prozessualität dieser sozialen Aushandlungen betont. Sie legen einen aufgeweichten Identitätsbegriff vor, in dem sie Identität nicht als etwas verstehen, das „man von Geburt an hat, sondern was man entwickelt, ein Weg, der viele Verläufe nehmen kann und vielen Einflüssen ausgesetzt ist: Identität als ein Projekt, das den Menschen zu sich selbst führt, ein Entfaltungs- und Entwicklungsbegriff.“²⁹ Keupp und seine Mitautoren gehen von der These aus, dass eine Identität erstrebenswert ist und diese das Subjekt letztlich zu sich selbst führt. Die Identitätsarbeit wird nicht als repressiver Akt – wie in zahlreichen Theorien der Gender und Cultural Studies − wahrgenommen, sondern „als aktive Passungsleistung des Subjektes unter den Bedingungen einer individualisierten Gesellschaft“³⁰ verstanden. In dieser Konzeption bleibt offen, wie eine sich im Prozess ständig neu konstituierende Identität auf einen inneren Sinn − als dies muss man das Zu-Sich-Selbst-Kommen gleichwohl verstehen − referieren kann und auf welcher Grundlage dies überhaupt auszumachen ist. Keupp erklärt ohne ausreichende Begründung Identität sogar zur conditio humana, die „auf das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit“³¹ verweist und situiert das Bewusstsein über Identität als ein historisches Phänomen: „Die Suche nach Identität als krisenhafte Herausforderung an das Subjekt ist durch die Moderne zum Thema geworden.“³² Letzterem ist insofern zuzustimmen, als dass ‚Identität‘ erst in der Moderne zum Thema geworden ist. Für die Spätmoderne ist dies an den Transformationen des Identitätsbegriffes deutlich zu erkennen, die ihren Ursprung, wie die Literatur mehrfach bemerkt, bei Erik Erikson haben.³³ Während in der Psychoanalyse Sigmund Freuds der Begriff Identität in einem einzigen Kontext erwähnt wird,³⁴ macht Erikson ihn zum Mittelpunkt seines Erkenntnisinteresses. Mit der Einführung der Ich-Identität in den Diskurs bildet Erikson ein Scharnier zwischen der Theorie Meads und späteren soziologischen Paradigmen (z. B. Keupp). Erikson definiert die Ich-Identität bzw. persönliche Identität in einer Bewegung des Selbst- und Fremderkennens von Kontinuität:
Keupp, Heinrich u. a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 65. Keupp u. a.: Identitätskonstruktionen, S. 60. Keupp u. a.: Identitätskonstruktionen, S. 28. Keupp u. a.: Identitätskonstruktionen, S. 26. Vgl. hierzu: Assmann / Friese: „Einleitung“, S. 14; Straub, Jürgen: „Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs“, in: Assmann, Aleida / Friese, Heidrun (Hrsg.): Identitäten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 73 – 104, hier S. 74 f.; Keupp u. a.: Identitätskonstruktionen, S. 26; Henrich: „‚Identität‘. Begriffe, Probleme, Grenzen“, S. 134 f. Vgl. zu Freud das Kapitel Theorie der Identifizierung.
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Das bewußte Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen, beruht auf zwei gleichzeitigen Beobachtungen: der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, daß auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen. Was wir hier Ich-Identität nennen wollen, meint also mehr als die bloße Tatsachte des Existierens, vermittelt durch persönliche Identität; es ist die Ich-Qualität dieser Existenz.³⁵
Die Identität, die ein Individuum wählt, ist (ausgehend von der Freud’schen Konzeption) an die erwachsenen Vorbilder geknüpft. Erikson definiert diese Vorbilder (jenseits des familiären) durch den historischen und soziokulturellen Kontext, in dem ein Individuum aufwächst. Dieser Kontext präformiert die Formen von Subjektivität, mit denen ein Kind sich identifizieren kann, um zu einer eigenen Identität zu gelangen.³⁶ Nach Erikson wird Identität zwar erlangt, er versteht sie (trotz des Erwerbs) allerdings als ein Bewusstsein über eine innere Gleichheit, in Aushandlung mit den umgebenden sozialen Faktoren: „Der Begriff »Identität« drückt also insofern eine wechselseitige Beziehung aus, als er sowohl ein dauerndes inneres Sich-Selbst-Gleichsein wie ein dauerndes Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzügen umfaßt.“³⁷ Eriksons Definition erinnert nicht ohne Grund an Mead und ist als das sozialpsychologische Äquivalent zur praxeologischen Perspektive Meads zu verstehen. An der Bemerkung Eriksons sind aber mehrere Dinge problematisch: Angesichts der Tatsache, dass Identität erworben wird, also nicht an sich im Individuum angesiedelt ist, müsste das Sich-Selbst-Gleichsein kein Status, sondern ein Gefühl dieses Status sein. Mit dem Erwerb muss also ein Gefühl von Variabilität statt eines von Konstanz einhergehen,³⁸ denn Erikson begreift die Erlangung von Identität als eine ständige Bewegung, die sich − mit aufsteigendem Alter des Individuums − in immer größeren sozialen Bezugskreisen bewegt.³⁹ Identität folgt nicht einer konstanten
Erikson, Erik H.: „Ich-Entwicklung und geschichtlicher Wandel“, in: Ders.: Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze, übers. von Käthe Hügel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 11– 54, hier S. 18 (Hervorheb. i. Orig.). Vgl.: Erikson: „Ich-Entwicklung und geschichtlicher Wandel“, S. 22. Erikson, Erik H.: „Das Problem der Ich-Identität“, in: Ders.: Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze, übers. von Käthe Hügel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 123 – 212, hier S. 124. Erikson bemerkt hierzu lediglich: „So ist Ich-Identität unter diesem subjektiven Aspekt das Gewahrwerden der Tatsache, daß in den synthetisierenden Methoden des Ichs eine Gleichheit und Kontinuierlichkeit herrscht und daß diese Methoden wirksam dazu dienen, die eigene Gleichheit und Kontinuität auch in den Augen der anderen zu gewährleisten.“, Erikson: „IchEntwicklung und geschichtlicher Wandel“, S. 18. Vgl.: Erikson, Erik H.: „Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit“, in: Ders.: Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze, übers. von Käthe Hügel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 55 – 122, hier S. 107.
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Teleologie der Verfestigung ihrer selbst; vielmehr ist für sie die Identitätskrise in der Adoleszenz notwendig und konstitutiv. Sie ist integraler Bestandteil des Erlangens von Identität, das weder mit der Überwindung der Identitätskrise noch mit der Adoleszenz endet, sondern laut Erikson eine lebenslange unbewusste Entwicklung bleibt.⁴⁰ Er geht von einer zu erwerbenden Identität aus, die sich wiederum aus einer Kontinuität ergibt, wobei unklar bleibt, in welchem logischen Verhältnis Erwerb und Konstanz stehen. Wie die Gruppe um Keupp versteht Erikson Identität nicht nur als etwas Notwendiges, sondern gar als die Erfüllung eines Schicksals, das jeder Mensch individuell zu vollenden habe. Zusammenfassend kann man festhalten, dass Erikson von sich wandelnden Außenwirkungen von Identität ausgeht, die das Verhältnis des Selbst zur Außenwelt berühren, gleichzeitig aber einen kontinuierlichen Kern zum Axiom seines Denkens macht, dessen Ursprung unklar bleibt. Als letzte dominante Diskursposition ist Paul Ricœurs Konzeption von Idem bzw. Mêmeté und Ipse bzw. Ipséité zu nennen. Ricœur unterscheidet diese beiden Seiten des Selbstbildes. Erstere steht für „die Beständigkeit in der Zeit“, während letztere „Differenzen im Sinne des Veränderlichen und Wandelbaren“⁴¹ umfasst. Ricœur bezeichnet die beiden Dimensionen als Selbigkeit und Selbstheit: „[D]ie Selbigkeit [werde ich; M.K.] synonym mit der Idem-Identität setzen […] und ihr die Selbstheit, die sich auf die Identität im Sinne des ipse bezieht, entgegenstellen.“⁴² Die dyadische Bestimmung in Idem und Ipse leitet sich im Fall des ipse nicht aus der lateinischen Etymologie von ‚Identität‘ her, sondern ist eine Schöpfung Ricœurs. Die Ipse-Identität begreift er als Möglichkeit, das Selbstbild als einen Anderen zu verstehen, um die sich wandelnden Formen der Identität beschreiben und Phänomene wie das Unbewusste in die Identität integrieren zu können.⁴³ Obwohl Ricœur in seiner Theoretisierung der Ipse-Identität den Vorzug vor dem Idem zu geben scheint, sind Idem und Ipse zwei Pole, welche die jeweiligen Enden bestimmen, innerhalb derer sich das Selbst narrativiert.⁴⁴ Was Ricœur als narrative Identität beschreibt, ist die Vermittlungsinstanz zwischen den beiden Polen, anhand derer sich in der dialektischen Vermittlung eine kohärente Identität, die das Andere des Selbst als Teil von sich begreift, herstellen und entwickeln kann.⁴⁵ So hilfreich dieser Ansatz – insbesondere für die Literaturwissenschaft − zunächst wirkt, entbehrt auch er nicht einer Reihe von Problemen. Dies hängt mit
Vgl.: Erikson: „Das Problem der Ich-Identität“, S. 140 f. Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, S. 11. Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, S. 11 (Hervorheb. i. Orig.). Vgl.: Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, S. 12 ff. Vgl.: Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, S. 134 f. Vgl.: Ricœur: Das Selbst als ein Anderer., S. 182.
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der Vorstellung, was der Begriff Identität bedeutet und dem Verhältnis der Begriffe Subjekt, Individuum und Selbst zusammen. Es ist an dieser Stelle unmöglich, alle diese Begriffe in ihren Genealogien aufzuschlüsseln. Mit Blick auf Ricœurs narrative Identität und der ähnlichen Konstruktion von Keupps Identitätsarbeit konstatiert Zima aus diesem Grund: „In diesem Zusammenhang könnte man Subjektivität als Synthese von Individualität und Identität auffassen, weil erst derjenige, der eine psychische, soziale und sprachliche Identität erworben hat, als fühlendes, sprechendes und handelndes Subjekt erkannt wird.“⁴⁶ Dies gilt es aber zu problematisieren. Denn anhand der Etymologie werden die Schwierigkeiten, die mit den Aspekten einhergehen, deutlich: denn der Begriff Identität ist selbst höchst paradox. Seine Herkunft aus dem lateinischen identitas, abgeleitet von idem (übersetzt: dasselbe/derselbe/dieselbe) bedeutet übersetzt Selbigkeit oder Gleichheit. ⁴⁷ Wie die Verwendung der Suffixe ‐keit und ‐heit in der deutschen Variante nahelegen, referiert der Begriff Identität auf einen Zustand bzw. Beschaffenheit des angesprochenen Subjektes. Er insinuiert, dass etwas gleichbleibe, was für das Individuum schlicht nicht zu halten ist. Die körperliche Erneuerung der menschlichen Zellstruktur, die schon die Frühaufklärer kannten, negiert dies auf der materiellen Ebene; die Vorstellung einer sich gleichbleibenden psychischen Struktur kommt wiederum nicht ohne eine ontologisch-metaphysische Bestimmung einer Essenz des Menschen aus. Die in der Post- und Spätmoderne aus soziologisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive aufgekommene Ergänzung fluktuierende Identitäten, die Vorstellungen von verschiedenen Zugehörigkeiten begründet, wirkt angesichts der Bedeutung paradox: In dieser Konzeptualisierung bleibt offen, was eine sich ändernde Gleichheit oder eine schwankende Selbigkeit sein soll. Außerdem berühren die Vorstellungen von fluktuierenden Identitäten die Frage nach der Existenz von kollektiven Identitäten,⁴⁸ denn diese entstehen immer in Abstimmung mit, Abgrenzung zu, Repres-
Zima: Theorie des Subjekts, S. 25. Vgl. hierzu: „Identität“, in: Kluge, Friedrich / Seebold Elmar (Hrsg.): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin / New York: De Gruyter 1989, S. 324; Muck, Otto / Lorenz, Kuno: „Identität“, in: Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried / Gabriel, Gottfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie Online, Basel 2017, https://doi.org/10.24894/HWPh.5181 (letzter Zugriff am 29. November 2019). Adorno wendet sich in der Negativen Dialektik gegen die Vorstellung eines selbstidentischen Ichs sowie gegen die Vorstellungen, dass es im Ich mehrere Teile − Rollen − gäbe, die in einem jeweiligen Kontext fest sind. Adornos Beschreibung der Rolle können als Äquivalent zu fluktuierenden Identitäten verstanden werden: „Negative Dialektik hält ebensowenig inne vor der Geschlossenheit der Existenz, der festen Selbstheit des Ichs, wie vor ihrer nicht minder verhärteten Antithesis, der Rolle, die von der zeitgenössischen subjektiven Soziologie als universales Heil-
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sion der und Angleichung an normative Ideen, die vom Individuum negiert oder akzeptiert werden. Aus diesem Grund sind infolge poststrukturalistischer Einwände diese Bilder Ziel der Kritik geworden.⁴⁹ Jan Assmann führt in Das kulturelle Gedächtnis eine weitere begriffliche Differenzierung in den Identitätsdiskurs ein. Er definiert Identität als „eine Sache des Bewußtseins, d. h. des Reflexivwerdens eines unbewußten Selbstbildes.“⁵⁰ In diesem Vorgang macht er die Gemeinsamkeit von individueller wie kollektiver Identität aus, die er als konstitutiv miteinander verschränkt begreift. Diese Verschränkung bezieht sich auf eine weitere Differenzierung, die Assmann für das Individuum einführt: Individuelle Identität ist das im Bewußtsein des Einzelnen aufgebaute und durchgehaltene Bild der ihn von allen („signifikanten“) Anderen unterscheidenden Einzelzüge, das am Leitfaden des Leibes entwickelte Bewußtsein seines irreduziblen Eigenseins, seiner Unverwechselbarkeit und Unersetzbarkeit. Personale Identität ist demgegenüber der Inbegriff aller dem Einzelnen durch Eingliederung in spezifische Konstellationen des Sozialgefüges zukommende Rollen, Eigenschaften und Kompetenzen. Individuelle Identität bezieht sich auf die Kontingenz eines Lebens mit seinen „Eckdaten“ von Geburt und Tod, auf die Leibhaftigkeit des Daseins und seiner Grundbedürfnisse. Personale Identität bezieht sich dagegen auf die soziale Anerkennung und Zurechnungsfähigkeit des Individuums. Beide Aspekte der Ich-Identität, auch der der individuellen Identität, sind „soziogen“ und kulturell determiniert. Beide Prozesse, der der Individuation und der der Sozialisation, verlaufen in kulturell vorgezeichneten Bahnen. Beide Identitätsaspekte sind Sache des Bewußtseins, das durch Sprache und Vorstellungswelt, Werte und Normen einer Kultur und Epoche in spezifischer Weise geformt und bestimmt wird.⁵¹
Die Differenzierung von individueller und personaler Identität zeigt, dass in Assmanns Konzeption das Individuum bis zum kleinsten Teil sozial durchdrungen ist. Grundsätzlich ist dieser These zuzustimmen, wenn sie hinsichtlich der Bestimmung von ‚Identität‘ aber anders zu konzeptualisieren ist.Wie noch zu zeigen sein wird, sind auch Prozesse der Identifizierung grundsätzlich sozial determi-
mittel benützt wird, als letzte Bestimmung der Vergesellschaftung, analog zur Existenz der Selbstheit bei manchen Ontologen“, Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 274. Erneut ist Butler ein prominentes Beispiel, die durch dekonstruktive Diskurslektüre das Kollektivsubjekt Frau zugunsten einer nichtidentitären Vorstellung von Geschlechtlichkeit (Queerness) ausstreichen will, vgl. insbes.: Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 17 f.; Butler: Körper von Gewicht, S. 310 ff. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: C.H. Beck 1992, S. 130. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 131 f. (Hervorheb. i. Orig.).
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niert und lassen keinen Raum für „[n]aturwüchsige Identität“⁵². Dies bildet die Gemeinsamkeit mit der kollektiven Identität: Unter einer kollektiven oder Wir-Identität verstehen wir das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht „an sich“, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen. […] Eine kollektive Identität ist nach unserem Verständnis reflexiv gewordene gesellschaftliche Zugehörigkeit. Kulturelle Identität ist entsprechend die reflexiv gewordene Teilhabe an bzw. das Bekenntnis zu einer Kultur.⁵³
Assmann beschreibt die Entstehung kollektiver Identität strukturanalog zur personalen Identität, denn das Individuelle wird gleichsam durch Zurechnung erzeugt, also der Subsumtion unter einem Begriff, der „Eingliederung in spezifische Konstellationen des Sozialgefüges zukommende Rollen, Eigenschaften und Kompetenzen“⁵⁴. An dieser Gleichartigkeit wird das Problem seiner Konzeption deutlich: Denn obwohl personale und kollektive Identität auf die gleiche Weise erzeugt werden, führt dies beim Individuum zu einer Individuation, während auf kollektiver Ebene die Zurechnung, also Subsumtion unter eine Klassifikation, das Telos des Prozesses ist. Gerade angesichts der Strukturanalogie ist dies nicht plausibel: Die Erlangung von Identität wird durch ihren soziogenen Charakter fortwährend von den Bildern durchformt, die der soziokulturelle Kontext dem Individuum anbietet. Einzig dazu kann das Individuum sich zurechnen. Assmanns Konzeption bleibt hinsichtlich der Frage von Individuation und Klassifikation sowie hinsichtlich der Frage von Stabilität und Wandel unzureichend.⁵⁵ Das Problem von Individuation und Klassifikation wird innerhalb des Konzeptes ‚Identität‘ an Ricœurs Verwendungsweise deutlich: Dieser versteht (wie Assmann) Individualisierung als eine Individuation des Subjektes, die mit der Etablierung einer Identität einhergeht.⁵⁶ Daher stellt er die Individualisierung der Klassifikation kontradiktorisch gegenüber. Während letztere (z. B. in der Begriffsbildung) Allgemeinheiten hervorbringe, stärke letztere das Individuelle, das in seiner Identität unverwechselbar wird. Ricœur übergeht die Dialektik, in der
Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 132 (Hervorheb. i. Orig.). Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 132 ff. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 131 f. Zur Kritik an Assmann, vgl.: Neumann, Birgit: „Literatur als Medium (der Inszenierung) kollektiver Erinnerungen und Identitäten“, in: Erll, Astrid / Gymnich, Marion / Nünning, Ansgar (Hrsg.): Literatur, Erinnerung, Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2003, S. 49 – 78, insbes. S. 60 f. Vgl.: Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, S. 39.
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sich das Subjekt im Wechsel mit den sozialen – also kollektiven − Maßstäben, die an es herangetragen werden, hervorbringt. Ganz gleich, ob ein Subjekt ermächtigend oder unterworfen auftritt,⁵⁷ ist es mit den sozialen Institution seines Kontextes verwickelt. Ein Individuum entwirft seine Zugehörigkeiten zu kollektiven Identitäten im Spiegel der sozialen Umgebung und die Vorstellungen seiner Individualität erzeugen sich in der Beeinflussung durch das Kollektiv: Die Beschreibung eines Selbst, also die Vorstellung davon, was die eigene Identität ist, ist stets von den sozialen Faktoren abhängig.⁵⁸ Als Destillat der bisherigen Argumentation kann man also festhalten, dass die Bestimmung von – personeller wie kollektiver – Identität nicht als Individualisierung verstanden werden kann, sondern sie ist eine Klassifizierung. Sie verfährt nach Subsumtionen, die das jeweils Individuelle zum Abstrakten und Allgemeinen zurechnen. Ein Individuum kann sich erst als ein solches definieren, wenn es eine Vorstellung davon hat, was ein Individuum sein soll, was es ausmacht − etwas konkreter: Eine Vorstellung von Geschlechtlichkeit oder ethnischer Zugehörigkeit, ja sogar sprachlicher Zugehörigkeit kann allein durch eine Klassifikation stattfinden, wenn die Begriffe davon zunächst aufgestellt werden müssen, um sich darin zu verorten. Eine Erinnerung kann ebenso erst zu einer Bestimmung des sich erinnernden Subjektes werden, wenn dieses Subjekt sich einen Begriff von dieser Erinnerung macht − sie klassifiziert und einordnet. Ricœur verwechselt in seiner Beschreibung Individualisierung mit Identitätsfindung, denn während ersteres auf das Besondere zielt, ist letzteres eine Operation, die sich in Begriffsbildungen vollzieht.⁵⁹ Lutz Niethammer hat in seinem Buch Kollektive Identität treffend beschrieben, wie bei der Ausbildung von Identität das Besondere seine Stellung verliert: Das merkwürdige an diesem mehrfachen Abstraktionsprozeß ist, daß die Entfernung vom Besonderen im Falle der Behauptung einer Identität eben dieses Besondere, das es ver-
Vgl. hierzu: Foucault, Michel: „Subjekt und Macht“, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et écrits. Bd. IV. 1980 – 1988, hrsg. von Daniel Defert / Francois Ewald, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 269 – 264, insbesondere: S. 275. Vgl.: Bergem: „Nation, Nationalismus und kollektive Identität“, S. 172. Ricœur selbst kann als Beleg angeführt werden: „Die individualisierende Ausrichtung beginnt dort, wo Klassifikation und Prädikation enden, aber sie stützt sich auf diese Vorgänge und setzt sie neu in Bewegung […]. Man individualisiert nur, wenn man Begriffe gebildet hat, und man individualisiert, um besser beschreiben zu können. Nur weil wir in Begriffen denken und sprechen, muß die Sprache in einem gewissen Sinne den Verlust, den die Verbegrifflichung mit sich bringt, wieder wettmachen. Aber zu diesem Zwecke verwendet sie nicht dieselben Prozeduren wie jene, durch die sie Begriffe erzeugt, nämlich die Prädikation.“, Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, S. 40. Das Problem seiner Argumentation besteht darin, dass er Individualisierung mit Identitätsfindung gleichsetzt. Wie ich im Folgenden zeigen werde, ist dies unter den Bedingungen des Kapitalismus gerade nicht der Fall.
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schwinden läßt, thematisieren soll. […] Die Zusammenfassung des Unterschiedlichen unter dem Gesichtspunkt der Identität macht alle Unterschiede in der Sache, aber auch in der Berechtigung seines Geltungsanspruchs und in der Gattung seiner Anmeldung gleich gültig und damit seine Spezifität gleich.⁶⁰
Dass der Satz der Identität in der Logik eine Operation zur Bestimmung gemeinsamer Eigenschaften ist − also der Klassifikation, nicht der Individuation −, zeigt die verbindende Dimension der verschiedenen Identitätsbegriffe. Es wird deutlich, wie in der Transformation der ‚Identität‘ von der logischen Bestimmung zu persönlichen, kollektiven und erworbenen Identitäten (also der Verschiebung von abstrakten Operationen zum individuellen Menschen) die Klassifikation weiterhin das Zentrum des Denkens bildet. Wie ich im Folgenden zeigen werde, kann ‚Identität‘ in diesem (modernen) Sinn als Bestimmung des Subjektes allein in der kapitalistischen Moderne auftreten.⁶¹ Um es noch einmal deutlich zu machen, das Ziel meiner Argumentation ist nicht zu behaupten, es gäbe keinen Zusammenhang zwischen einem gelebten Leben, den gemachten Erfahrungen und dem Selbstbild, das ein Individuum daraus erlangt. Aber die Kritik poststrukturalistischen Denkens an der klassischen Subjektvorstellung muss anders formuliert werden. Denn auch wenn sicherlich epistemologische Probleme dabei zu erörtern sind, gilt es vielmehr die ontologische Seite des Seins, zu problematisieren, weil sie eine Festigkeit insinuiert, die nicht zu halten ist. Aus diesem Grund hat Hegel fraglos das Werden als die zentrale Triebfeder seines Denkens festgesetzt.⁶² Nimmt man dies ernst, müsste man den berühmten Satz von Descartes also eigentlich umformulieren: Ich denke, also werde ich. Das Selbst ist in ständiger Bewegung und ich möchte zeigen, dass die Vorstellung, eine Identität zu besitzen oder sie zu erlangen, vielmehr einer Ideologie zuzurechnen ist, die dies als spezifische Form der Subjektivität im Zeitalter des Kapitalismus annimmt.⁶³ Identität – auch die Vorstel-
Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000, S. 35. Vgl.: Zima: Theorie des Subjekts, S. 5. Vgl. hierzu bei Hegel schon zentrale Stellen in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes sowie den Anfang der Wissenschaft der Logik mit dem Übergang von Sein und Nichts durch das Werden: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, in: Ders. Werke. Bd. 3, hrsg. von Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 24 f.; sowie: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik I. Erster Teil. Die objektive Logik: Erstes Buch, in: Ders. Werke. Bd. 5, hrsg. von Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 82 f. Aleida Assmann beschreibt in Erinnerungsräume das Verständnis von Person und Identität, das mit den Konzeptionen von Locke und Hume einhergeht, als neuartig beschrieben und ar-
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lung der persönlichen Version von Identität − wird nur scheinbar durch Individuation, vielmehr aber durch Subsumtion geprägt, wodurch Menschen vergleichbar (und eventuell (aus‐)tauschbar) werden. Nichtsdestotrotz sind Versuche beobachtbar, Identität herzustellen; diese stehen aber im Missverhältnis zu ihrer eigenen Unmöglichkeit, was wiederum dazu führt − und dies ist im folgenden Kapitel das Thema −, dass das Subjekt vielmehr Identifizierungen erzeugt, statt Identität herzustellen, um so sein Selbstbild zu errichten. Wie sich an der obigen Erörterung des Identitätsbegriffes durch Adorno zeigt, ist dieser vielschichtig und umfasst verschiedene Dimensionen. In der Rezeption Adornos ist vor allem das epistemologische Verhältnis von Subjekt zu Objekt dominant thematisiert worden. Adornos Konzeption steht damit im Gegensatz zur traditionellen Philosophie, die davon ausgeht, dass eine Begriffsbildung den zu beschreibenden Gegenstand umfasst. Vielmehr hält er mit seinem Konzept einer negativen Dialektik dagegen, in der Begriff und Gegenstand nicht ineinander aufgehen. Zu Beginn der Negativen Dialektik heißte es: [Negative Dialektik] sagt zunächst nichts weiter, als daß die Gegenstände in ihrem Begriff nicht aufgehen, daß diese in Widerspruch geraten mit der hergebrachten Norm der adequatio. [… Dieser Widerspruch; M.K.] ist Index der Unwahrheit von Identität, des Aufgehens des Begriffenen im Begriff. Der Schein von Identität wohnt jedoch dem Denken selber in seiner puren Form nach inne. Denken heißt identifizieren. Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor das, was Denken begreifen will. Sein Schein und seine Wahrheit verschränken sich.⁶⁴
Adorno geht von einer ideologischen Operation aus, in der sich das Denken bei einer Begriffsbildung damit zufriedengibt, seinen Betrachtungsgegenstand in ein abstraktes Schema einzupassen, wobei die Aspekte des Gegenstandes, die ihn zu diesem Gegenstand machen (seine Individuation herbeiführen würden) von ihm abgetrennt werden, um den Gegenstand unter das Allgemeine des Begriffes zu subsumieren (oder klassifizieren) zu können. Damit wird ein „Auseinanderweisen
gumentiert, dass mit diesen neuartigen Begriffen eine grundsätzlich neue Konstruktion des Menschen einhergehe, vgl.: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C.H. Beck 2018, S. 95 ff. Andreas Reckwitz hat festgehalten, dass die „Produktion und Reproduktion von Subjektformen […] eine spezifische Form der ›Identität‹ des Subjekts heraus[bildet.]“, Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006, S. 45. Dies ist für ihn immer an eine Moderne gebunden, die er mit der Entstehung des Kapitalismus und der Aufklärung in Verbindung bringt, vgl. bei Reckwitz, S. 9, 97. Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 16 f.
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von Sein und Denken“⁶⁵ konzeptualisiert, das laut Adorno konstitutiv für das begriffliche Denken ist, welches das Denken schlechthin determiniert. Der Betrachtende ist nicht in der Lage, ein wirkliches Urteil über seinen Gegenstand zu fällen, da er seinen Gegenstand beschneidet, um ihn vergleichbar zu machen. Adorno setzt diesem Denken der Identität das Verfahren der negativen Dialektik entgegen, die versucht, das Nichtidentische – das was in den Abstraktionen der Subsumtionslogik ausgeschlossen wird − zu seinem Recht zu verhelfen. Michael Theunissen hält zusammenfassend fest: „Ist das identifizierende Denken schlechte Herrschaft über das Ohnmächtige, so das kritische die gute Macht des Widerstands gegen das übermächtige Unmittelbare.[…] Ist Identität das Nichtseinsollende, so Nichtidentität natürlich das Seinsollende.“⁶⁶ Damit versucht negative Dialektik dem Nichtidentischen einen Raum zu eröffnen, womit sie den dialektischen Prozess sprengt; ein Verfahren, das Adorno die Logik des Zerfalls nennt: Ihre Bewegung [der negativen Dialektik; M.K.] tendiert nicht auf die Identität in der Differenz jeglichen Gegenstandes von seinem Begriff; eher beargwöhnt sie Identisches. Ihre Logik ist eine des Zerfalls: der zugerüsteten und vergegenständlichten Gestalt der Begriffe, die zunächst das erkennende Subjekt unmittelbar sich gegenüber hat. Deren Identität mit dem Subjekt ist die Unwahrheit.⁶⁷
Die negative Dialektik versucht, sich mittels Begriffen dem Nichtbegrifflichen anzunähern, es zu verstehen und es als den Widerspruch gegen die Vereinfachungen der Ideologie zu wenden: Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identität; der Primat des Widerspruchsprinzips in der Dialektik mißt das Heterogene am Einheitsdenken. Indem es auf seine Grenze aufprallt, übersteigt es sich. Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität.⁶⁸
In diesen Paradigmen ist Adorno einem anderen Theoretiker der (Nicht‐)Identität nah: Jacques Derrida. Dieser hat in seiner Kritik der Metaphysik der Präsenz eine Philosophie vorgelegt, die auf ähnliche Weise epistemologische Aspekte mit Schäfer, Alfred / Thompsen, Christiane: „Theodor W. Adorno. Negative Dialektik“, in: Jörissen, Benjamin / Zirfas, Jörg (Hrsg.): Schlüsselwerke der Identitätsforschung, Wiesbaden: VS 2010, S. 141– 160, hier S. 141. Adorno selbst spricht unter anderem von „der Inadäquanz von Gedanke und Sache“, Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 156. Theunissen, Michael: „Negativität bei Adorno“, in: Friedeburg, Ludwig von / Habermas, Jürgen (Hrsg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 41– 65, hier S. 44 f. Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 148. Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 17.
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Identitätsfragen verschränkt und gleichzeitig darauf beharrt, dass ein Denken nur in der Sprache der Metaphysik möglich sei.⁶⁹ Was bei Derrida das gesamte abendländische Denken umfasst, wird bei Adorno historisch situiert: Letzterer bindet die Dominanz des Identitätsparadigmas an eine Grundbedingung des modernen Kapitalismus⁷⁰ − den Tausch: Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch.⁷¹
Adorno geht von der Marx’schen Bestimmung des Wertes als Tauschwert und Gebrauchswert aus. Zu Beginn des ersten Kapitels des Kapitals legt Marx die Bestimmung des Werts der Ware in dieser Dualität fest. Der Tauschwert setzt Waren unterschiedlicher Qualität gleich, indem er sie anhand einer Quantität misst: der für sie aufgewendeten Arbeit.⁷² Hierin liegt die ideologische Operation, die im Tausch ungleiche Dinge von ungleicher Qualität in eins setzt und den Wert der darin aufgewendeten Arbeit als natürliche Eigenschaft der Dinge erscheinen lässt: „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt […].“⁷³ Für Adorno ist dies grundlegend mit Identität verbunden, was in der Abstraktion dazu führt, dass Gegenstände nicht in
Vgl.: Derrida, Jacques: „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen“, in: Ders.: Die Schrift und die Differenz, übers. von Rodolphe Gasché, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 422– 442, hier S. 425; Derrida, Jacques: Grammatologie, übers. von HansJörg Rheinberger / Hanns Zischler, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 17, 257. Adorno verbindet Kapitalismus nicht ausschließlich mit den Entwicklungen der Moderne. So zeichnet er gemeinsam mit Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung eine Entwicklung, die das moderne kapitalistische Denken in der Entstehung der abendländischen Kultur – in Homers Odyssee − verortet. Nichtsdestotrotz sind die Intensivierungen und letztlich die vollkommene Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise ab dem 18. bzw. 19. Jahrhundert auch für Adorno ein bestimmender Fakt. Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 149. Vgl. hierzu: „Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedner Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedner Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert. Sieht man nun vom Gebrauchswert der Warenkörper ab, so bleibt ihnen nur noch eine Eigenschaft, die von Arbeitsprodukten.“, Marx, Karl: Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie. Bd. 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals, in: MEW. Bd. 23, hrsg. von Institut für MarxismusLeninismus, Berlin: Karl Dietz 1962, S. 52. Marx: Das Kapital. Bd. 1, S. 86.
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ihrer Vollständigkeit, sondern lediglich hinsichtlich einer bestimmten Funktion wahrgenommen werden.⁷⁴ Das Gleichmachen von Verschiedenem bildet das gemeinsame Paradigma der Marx’schen Wertanalyse und Adornos Analyse der Identität.⁷⁵ Für letzteres bemerkt Günter Figal treffend: Daß Begriffe identifizieren, heißt zweierlei: Sie machen das Verschiedene gleich und sagen damit, was es ist. Zwei Dinge werden im Hinblick auf ein ihnen Gemeinsames festgestellt. Das Festgestellte ist in beiden dasselbe. Es ist das Identische, auf das der identifizierende Begriff abzielt und in dem er sich erfüllt. Aber nichts ist ausschließlich das, was es ist; keine Bestimmung erschöpft es, und insofern weichte es, von einer Bestimmung aus gesehen, immer auch von sich ab.⁷⁶
Adorno nimmt die Bestimmung des Tauschwerts bei Marx ernst, wenn er sie nicht als eine reine Oberflächenstruktur versteht, sondern er bestimmt sie als der Gesellschaft und ihren Individuen immanent: Ideologie überlagert nicht das gesellschaftliche Sein als ablösbare Schicht, sondern wohnt ihm inne. Sie gründet in der Abstraktion, die zum Tauschvorgang wesentlich rechnet. Ohne Absehen von den lebendigen Menschen wäre nicht zu tauschen. Das impliziert im realen Lebensprozeß bis heute notwendig gesellschaftlichen Schein.⁷⁷
Tausch und Identität sind nicht einfach von außen aufgetragene Strukturen, sondern durchdringen die Individuen von innen und bringen so ihre zugehörigen Subjektivitäten hervor,⁷⁸ die von dieser Gesellschaftsform nicht zu abstrahieren sind. Darin folgt Adorno Marx, der schon in den Thesen über Feuerbach festgehalten hat: „[D]as menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesell Vgl.: Jameson, Fredric: Spätmarxismus. Adorno, oder die Beharrlichkeit der Dialektik, übers. von Michael Haupt, Hamburg: Argument 1992, S. 32. Vgl.: Schäfer/Thompson: „Theodor W. Adorno. Negative Dialektik“, S. 151. Figal, Günter: „Über das Nichtidentische. Zur Dialektik Theodor W. Adornos“, in: Ette, Wolfram u. a. (Hrsg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens, Freiburg: Karl Alber 2004, S. 13 – 23, hier S. 16. Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 348. „Das Subjekt ist die Lüge, weil es um der Unbedingtheit der eigenen Herrschaft willen die objektiven Bestimmungen seiner selbst verleugnet; Subjekt wäre erst, was solcher Lüge sich entschlagen, was aus der eigenen Kraft, die der Identität sich verdankt, deren Verschalung von sich abgeworfen hätte. Das ideologische Unwesen der Person ist immanent kritisierbar. Das Substantielle, das nach jener Ideologie der Person die Würde verleiht, existiert nicht. Die Menschen, keiner ausgenommen, sin überhaupt noch nicht sie selbst. Mit Fug dürfte unter dem Begriff des Selbst ihre Möglichkeit gedacht werden, und sie steht polemisch gegen die Wirklichkeit des Selbst.“, Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 274.
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schaftlichen Verhältnisse. [… D]as abstrakte Individuum [… gehört; M.K.] einer bestimmten Gesellschaftsform [an.]“⁷⁹ Adorno argumentiert grundlegend im Anschluss an Georg Lukács und seine Verdinglichungstheorie, die einen Hinweis auf den Zusammenhang von Tauschwert und Identität − mit Blick auf ihre Transformationen in der Spätmoderne − gibt. Zu Beginn des Verdinglichungsaufsatzes bemerkt Lukács: Das Wesen der Warenstruktur ist bereits oft hervorgehoben worden, es beruht darauf, daß ein Verhältnis, eine Beziehung zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit und auf diese Weise eine »gespenstige Gegenständlichkeit« erhält, die in ihrer strengen, scheinbar völlig geschlossenen und rationellen Eigengesetzlichkeit jede Spur ihres Grundwesens, der Beziehung zwischen Menschen verdeckt.⁸⁰
Lukács’ Aufsatz stellt mit dem Verdinglichungstheorem dar, wie sich die Beziehung zwischen Menschen im Kapitalismus immer stärker als ein Verhältnis von Waren geriert. Dabei steht der Tauschwert im Mittelpunkt. Die Menschen nehmen sich und ihre Qualitäten nicht mehr hinsichtlich ihres ‚Gebrauchswertes‘, sondern hinsichtlich ihrer Quantifizierbar- und Vergleichbarkeit wahr; allerdings ohne es zu Bewusstsein zu bringen. Es erscheint nicht als Eigenschaft der kapitalistischen Produktionsweise − also nicht als sozial und gesellschaftlich erzeugtes Phänomen −, sondern als natürliche Eigenschaft.⁸¹ Lukács beschreibt dieses Verfahren (vor allem) hinsichtlich der Produktionsbedingungen. Das verschleierte Verhältnis zur eigenen Arbeit innerhalb des Produktionsprozesses ist das Zentrum seiner Argumentation. Jedoch verweist seine Theorie als Diagnose der vorherrschenden Ideologie tief ins Innere des Menschen. Da er von Beginn seiner Arbeit an nicht müde wird, zu betonen, wie der Kapitalismus die ihm „entsprechenden Formen der Subjektivität“⁸² hervorbringt, durchwirkt diese Subjektivität das Individuum völlig. Daher ist es umso bemerkenswerter, dass Lukács feststellt: „Mit der modernen, »psychologischen« Zerlegung des Arbeitsprozesses […] ragt diese rationelle Mechanisierung bis in die »Seele« des Arbeiters hinein: selbst seine psychologischen Eigenschaften werden von seiner Gesamtpersönlichkeit
Marx, Karl: „Thesen über Feuerbach“, in: MEW. Bd. 3. 1845−1846, hrsg. von Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin: Karl Dietz 1958, S. 5 – 7, hier S. 6 f. Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1970, S. 170 f. „Hier zeigt sich […], daß damit alle menschlichen Beziehungen auf das Niveau der so gedachten Naturgesetzlichkeiten gebracht worden sind. Es wurde auf diesen Blättern mehrfach hervorgehoben, daß die Natur eine gesellschaftliche Kategorie ist.“, Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein., S. 238. Vgl. dazu bei Lukács auch: S. 184 f. Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 170.
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abgetrennt […].“⁸³ In dieser Passage deutet er an, dass die Verdinglichung die psychische Disposition des Individuums durchdringt und dementsprechend umgestaltet. Die Verdinglichung ist – um in der marxistischen Terminologie zu bleiben – ein Phänomen, das seinen Ursprung zwar in der materiellen Basis hat, seine Wirkung als Ideologie allerdings im kulturellen Überbau entfaltet. Lukács’ Bemerkungen, die zunächst die Produktionsstätten und die dortige Zurichtung des Individuums in den Blick nehmen, weist als Beschreibung der ideologischen Grundlegung des Kapitalismus darüber hinaus. Adornos Weiterentwicklung − bei aller Differenz⁸⁴ − zeigt, wie sich Identität im Sinne persönlicher, sozialer und kollektiver Identität durch das Tauschprinzip entwickelt. Die Forschung, die zum Diskurs über Identität beiträgt, betont mehrheitlich, dass Identität ein Phänomen sei, das in der Moderne deutlich, aber nicht dort entdeckt wurde, sondern vielmehr eine anthropologische Grundkonstante darstellt.⁸⁵ Die menschliche Fähigkeit zu sowie das Bedürfnis nach Selbstvorstellungen und Selbstbildern ist sicherlich ahistorisch, die Gestalt, die es in der Moderne in Begriff und Konzept Identität annimmt, ist allerdings an die gesellschaftliche Form gebunden, welche eine Subjektivität, die Identität herzustellen sucht, durchdringt und ermöglicht.⁸⁶ Auch nichtmarxistische Theoretiker argumentieren in diesem Fall ähnlich, wenn beispielsweise Hartmut Rosa feststellt, dass ‚Identität‘ sich stets in einer Zeitstruktur von vorher und nachher hervorbringt, die erst mit einer Vorstellung der Linearität von Zeit (im Unterschied zum Zyklus) einhergeht. Diese kann sich erst mit Aufklärung, Moderne und Kapitalismus ausbilden.⁸⁷ Andreas Reckwitz schlägt in eine ähnliche Kerbe, wenn er die „handlungsfähig[e], vernünftig[e], eigeninterssiert[e] oder sich selbst entfaltend[e] Instanz“ als das Ergebnis einer „sozial-kulturelle[n] Form der Subjekthaftigkeit, in die sich der Einzelne einschreibt“ in einer „Kultur der Moderne“⁸⁸ versteht.
Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 177. Vgl. hierzu zusammenfassend: Hall, Timothy: „Verdinglichung, Materialismus und Praxis. Adornos Kritik an Lukács“, in: Bitterolf, Markus / Maier, Denis (Hrsg.): Verdinglichung, Marxismus, Geschichte.Von der Niederlage der Novemberrevolution zur kritischen Theorie, Freiburg: Ça Ira 2012, S. 303 – 330. Vgl. z. B.: Keupp u. a.: Identitätskonstruktionen, S. 26 ff. Diese Annahme teilen Vertreter marxistischer und poststrukturalistischer Provenienz. So heißt es zum Beispiel bei Butler: „»Kohärenz« und »Kontinuität« der »Person« sind keine logischen oder analytischen Merkmale der Persönlichkeit, sondern eher gesellschaftlich instituierte und aufrechterhaltene Normen der Intelligibilität.“, Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 38. Vgl.: Rosa: Beschleunigung, S. 26 f., 237. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 10.
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Adorno warnt eindringlich davor, die gesellschaftlichen Formen der Subjektivität zu naturalisieren: Die Naturwüchsigkeit der kapitalistischen Gesellschaft ist real und zugleich jener Schein. Daß die Annahme von Naturgesetzen nicht à la lettre zu nehmen, am wenigsten im Sinn eines wie immer gearteten Entwurfs vom sogenannten Menschen zu ontologisieren sei, dafür spricht das stärkste Motiv der Marxschen Theorie überhaupt, das der Abschaffbarkeit jener Gesetze.⁸⁹
Er erkennt, dass von der Ideologie der Identität eine (indirekte) Gefahr ausgeht, und konstatiert gewissermaßen ein Endstadium in der nationalsozialistischen Ermordung der europäischen Juden. Dies legt er im letzten Teil der Negativen Dialektik dar, wobei er nicht zufällig das Individuelle zum Ausgangspunkt macht: Enteignet wird das Individuum des Letzten und Ärmsten, was ihm geblieben war. Daß in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar, muß das Sterben auch derer affizieren, die der Maßnahme entgingen. Der Völkermord ist die absolute Integration, die überall sich vorbereitet, wo Menschen gleichgemacht werden, geschliffen, wie man beim Militär es nannte, bis man sie, Abweichungen vom Begriff ihrer vollkommenen Nichtigkeit, buchstäblich austilgt. Auschwitz bestätigt das Philosophem von der reinen Identität als dem Tod.⁹⁰
Es wird deutlich, welche immense Gefahr von dem Philosophem der reinen Identität ausgeht, die in der Vernichtung von Millionen Menschen mündete. Diese Gefahr resultiert aus einer Ideologie, die sich der Herabsetzung des Individuums zum Exemplar − also der Subsumtion des Individuellen unter die Klassifikation − bedient. Das Vorgehen der Nationalsozialisten ist als Endpol der ideologischen Durchdringung des Denkens zu verstehen. Das Denken kann darin enden – wie es sich historisch bewahrheitet hat −, muss es allerdings nicht zwangsläufig, wie es die Umsetzungen in den bürgerlichen Gesellschaften nach 1945 zeigen. Trotz der großen Unterschiede, die zwischen den verschiedenen Ausprägungen der kapitalistischen Gesellschaften bestehen und trotz der bürgerlichen Freiheiten, die Adorno gegenüber den totalitären politischen Systemen in Schutz nimmt, wird das Individuum auch und erst recht im Kapitalismus stets zum Exempel.⁹¹
Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 348. Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 355. Das Kapitel Kulturindustrie der Dialektik der Aufklärung ist ein Beleg für eine solche Argumentation, wenn Adorno dort von einer „Pseudoindividualität“ spricht, die sich aus der Standardisierung einer „Besonderheit des Selbst“ ergibt, Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1969, S. 163.
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Die Subjektivität, die in der Moderne entsteht, hängt deshalb eng mit der Frage nach Subsumtion zusammen: „Zum Subjekt wird das Individuum, insofern es kraft seines individuellen Bewußtseins sich objektiviert, in der Einheit seiner selbst wie in der seiner Erfahrung.“⁹² Adorno zeigt, dass seine Theorie der Identität nicht nur abstrakte epistemologische Fragen von philosophischem Subjekt und Objekt berührt, sondern gleichsam auf die Subjektivitäten von Menschen abzielt, verfügt doch gerade der Mensch über die Fähigkeit, sich selbst als Objekt zu betrachten.⁹³ Der von Adorno gesetzte „Vorrang des Objekts“⁹⁴ führt im Prozess einer negativen Dialektik dazu, das Nichtidentische vor der Identität zu schützen. Er nimmt das Individuum vor der Macht einer Identität, die diesem angetan werden soll, in Schutz und verschränkt die verschiedenen Formen von Identität miteinander, wie Schnädelbach zusammenfasst: „Adorno beansprucht […] zeigen zu können, daß Nichtidentität überhaupt − die logische wie die psychisch-soziale − als Index eines Ganzen gelesen werden könne, dessen Unwahrheit im Tauschprinzip universell repräsentiert sei.“⁹⁵ Dass Adorno sich gegen Identität − auch im Sinne persönlicher Identität − wendet, wird an seinen Kommentaren zu literarischen Texten⁹⁶ und in seiner Vorlesung Philosophische Terminologie explizit. In letzterer heißt es: Ganz handfest und einfach ist die Identität das Prinzip, daß etwas dasselbe ist. So sprechen wir von der Identität des Menschen. Ich erinnere mich noch deutlich, daß ich als Kind bei diesem Gedanken der Identität eines Menschen immer etwas gestolpert bin […]. Von einem Menschen zu sagen, er sei identisch mit sich, ist mir, solange ich ein unverbildetes Bewußtsein gehabt habe, höchst sonderbar vorgekommen; denn die Aussage, daß etwas mit einem Anderen identisch sei, läßt eigentlich erwarten, daß zwei irgendwie verschiedene
Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 56. „Identität ist die Urform der Ideologie. Sie wird als Adäquanz an die daran unterdrückte Sache genossen; Adäquanz war stets auch Unterjochung unter Beherrschungsziele, insofern ihr eigener Widerspruch. Nach der unsäglichen Anstrengung, die es der Gattung Mensch bereitet haben muß, den Primat der Identität auch gegen sich selbst herzustellen, frohlockt sie und kostet ihren Sieg aus, indem sie ihn zur Bestimmung der besiegten Sache macht: was dieser widerfuhr, muß sie als ihr An sich präsentieren. Ideologie dankt ihre Resistenzkraft gegen Aufklärung der Komplizität mit identifizierendem Denken: mit Denken überhaupt.“, Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 151. Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 186. Schnädelbach, Herbert: „Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationalen bei Adorno“, in: Friedeburg, Ludwig von / Habermas, Jürgen (Hrsg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 66 – 93, hier S. 87. Vgl.: Adorno: „Kleine Proust-Kommentare“, A-GS 11, S. 206 f.; Adorno: „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, A-GS 11, S. 294.
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III Theoretische Zugänge
Momente miteinander identisch sind. So werde ich gerade durch die Behauptung, daß ich mit mir identisch sei, von vornherein gleichsam zu einem von mir Verschiedenen gemacht.⁹⁷
Adorno macht deutlich, dass eine Identität – schon in der logischen Bestimmung (A=A) − Dinge in eins setzt, die dies zunächst nicht sind, um eine Gemeinsamkeit zu finden. Daher wird, um eine Identität (in diesem Fall die einer Person) zu erreichen, dieses Individuum zu etwas von sich Verschiedenem gemacht. Das Verschiedene ist nicht das Fremde im Inneren eines Menschen, sondern ein äußerlich Verschiedenes. Der Begriff, der von einem Individuum entsteht, ebnet das psychologisch Verschiedene – die dissonanten Denkstrukturen − ein.⁹⁸ Adorno verbindet die verschiedenen Stränge von Identität, die er in diesem Begriff und seiner zugehörigen Konzeption zusammenzieht,⁹⁹ und zeigt, wie die ideologischen Operationen verlaufen. Die Dimensionen ergänzen sich, denn die Identität des Individuums ergibt sich durch die epistemologische Bestimmung, dass ein Subjekt sich selbst zum Objekt nimmt. Schnädelbach beschreibt dies folgendermaßen: Das Grundmotiv ist dabei der Gedanke, daß Denken, als Instrument von Naturbeherrschung betrachtet, zugleich die Natur und den Denkenden als Denkenden identifiziert; Identifikation natürlicher Gegenstände in theoretischer, technischer und praktischer Absicht und personale wie soziale Identitätsstiftung rücken so in einen phylogenetischen Gesamtzusammenhang, der in der theoretischen Retrospektive als repressive Durchsetzung des Identitätsprinzips sowohl in Natur wie im Ich interpretiert wird.¹⁰⁰
Das Nichtidentische, das laut Adorno das Individuum ausmacht, ist zwar von einer „Selbsteliminierung des Selbst“¹⁰¹ betroffen, durchstößt die Identität in
Adorno, Theodor W.: Philosophische Terminologie. 2 Bde. Bd. 2, hrsg. von Rudolf Zur Lippe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 134. Adorno hält in diesem Kontext fest, wenn man ‚Identität‘ produktiv auf den Menschen beziehen will, dann nur unter dem Paradigma, dass man die Nichtidentität des Individuums zum Ausgang der Argumentation macht. Dann wird der Begriff der Identität lediglich im Sinne einer kriminologischen Sphäre verwendet, vgl.: Adorno: Philosophische Terminologie. Bd. 2, S. 134 f. Zu den repressiven Seiten dieses institutionellen Feststellungsverfahrens, vgl.: Benjamin: „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“, B-GS I, S. 550. Herbert Schnädelbach kritisiert dieses Verfahren, da von Adorno Identität und Gleichheit fälschlicherweise gleichgesetzt werden würden, vgl.: Schnädelbach: „Dialektik als Vernunftkritik“, S. 70 f. Dem ist entgegenzuhalten, dass − wie in der obigen Argumentation dargelegt − diese beiden Begriffe sich durch das Verfahren der Subsumtion ergänzen und das Gleichbleiben schon etymologisch zur Bestimmung von Identität gehört. Schnädelbach: „Dialektik als Vernunftkritik“, S. 71. Schäfer/Thompson: „Theodor W. Adorno. Negative Dialektik“, S. 149.
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ihrem Totalitätsanspruch allerdings fortwährend. Es wird innerhalb des Begriffes, den das Individuum von sich zu bilden versucht, produktiv und führt dazu, dass sich eine Identität nur scheinbar vervollkommnet. Adorno wählt wiederum die persönliche Identität und die kontinuitätsstiftenden Erinnerungen, um dies zu illustrieren: Wie labil die Identität des Festen der traditionellen Philosophie ist, läßt an ihrem Garanten sich lernen, dem einzelmenschlichen Bewußtsein. Als allgemein vorgezeichnete Einheit soll es bei Kant jegliche Identität fundieren. Tatsächlich wird der Ältere zurückblickend, wofern er früh schon einigermaßen bewußt existierte, deutlich an seine entlegene Vergangenheit sich erinnern. Sie stiftet Einheit, wie irreal auch die Kindheit ihm entgleiten mag. In jener Irrealität wird aber das Ich, an das man sich erinnert, das man einmal war und potentiell wiederum zu einem selbst wird, zugleich ein Anderer, Fremder, detachiert zu Betrachtender. Solche Ambivalenz von Identität und Nichtidentität erhält sich bis in die logische Problematik von Identität hinein.¹⁰²
Diese Qualität schätzt Adorno an der Kunst, die er als markanteste Vertretung dieses Prinzips sieht¹⁰³ und erklärt, dass trotz ideologischer Durchdringung die „Nichtidentität das Telos der Identifikation [ist; M.K.], das an ihr zu Rettende“¹⁰⁴. Er verschränkt, wie an Schnädelbachs Deutung nachvollziehbar wurde, logische und persönliche sowie soziale und kollektive Identität miteinander,¹⁰⁵ die gleichfalls vom Nichtidentischen durchstoßen wird und die doch im Changieren von einem herzustellenden Selbstbild auf die Prozesse von Identifizierung angewiesen ist. Damit führt Adorno einen Rest von Kontinuität an, der sich jedoch stets an den gesellschaftlichen Bedingungen orientiert und der gleichermaßen ein Anderer, Fremder, detachiert zu Betrachtender ist, dem das Individuum als zugehörig und nichtzugehörig dialektisch gegenübersteht. Identität ist, folgt man Adorno, die Grundstruktur der Ideologie, die das Denken und die Subjektivität vollkommen durchdringt. Die Transformationen des Identitätsbegriffes vollziehen sich in der Moderne und der damit verbundenen stetigen Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise. Begriff und Konzept formen sich zu diesem Zeitpunkt aus, wie man an der Entstehung des Diskurses ablesen kann. Identität steht nicht für Individuationen, sondern durch sie werden Menschen vergleichbar, indem die inneren Dissonanzen zugunsten eines Identitätsbegriffes beschnitten werden müssen, der als Selbigkeit den behaup-
Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 157. „Ästhetische Identität soll dem Nichtidentischen beistehen, das der Identitätszwang in der Realität unterdrückt“, Adorno: Ästhetische Theorie, A-GS 7, S. 14. Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 152. Vgl. hierzu auch: Adorno: Philosophische Terminologie. Bd. 2, S. 116.
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teten Zustand zu ontologisieren sucht. Das zeigt die Verflechtung von individueller Identität und kollektiver Identität, denn persönliche Identität bildet sich einzig auf Grundlage kollektiver Identität aus und kollektive Identitäten ergeben sich aus den Individuen, die diese zu bestimmen suchen. Adornos Konzeption des Nichtidentischen wirkt wie ein Symptom in der Psychoanalyse, die das umgreifende Identitätsparadigma durchstößt und verdeutlicht, dass der Versuch Identität herzustellen, stets in Identifizierungen mündet. Was die zitierte Literatur andeutet, muss zum Schluss dieses Abschnittes noch einmal hervorgehoben werden: Die Interpretation Adornos, im Anschluss an marxistische Theoreme ist eine überaus ergiebige Betrachtungsweise des diskutierten Problems. Es ist aber nicht die einzige, denn insbesondere poststrukturalistische sowie kultursoziologische Theorien argumentieren in diesem Kontext ähnlich. Adornos Herangehensweise hat aber den Vorteil, dass sie (schon historisch) an der Schnittstelle zwischen marxistischen und poststrukturalistischen Theorien sitzt und eine Möglichkeit bietet, dem wieder Raum zu verleihen, was in der Spätmoderne immer weniger artikuliert werden kann.¹⁰⁶
1.2 Theorie der Identifizierung Der Kulturtheoretiker Stuart Hall hat in seinen Schriften wiederholt insistiert, dass ein Begriff der Identifizierung¹⁰⁷ demjenigen der Identität vorzuziehen sei. In seinem Aufsatz Die Frage der kulturellen Identität hält er dementsprechend fest: Statt von Identität als einem abgeschlossenen Ding zu sprechen, sollten wir von Identifikation sprechen und dies als einen andauernden Prozess sehen. Identität besteht nicht bereits in der tiefen Fülle unseres Inneren, sondern entsteht aus dem Mangel an Ganzheit,
Bauman legt in Moderne und Ambivalenz eine ähnliche Argumentation vor. Er beschreibt, wie die Moderne seit ihrem Beginn systematisch die Ambivalenz ausstreicht. Man muss seinem enthusiastischen Urteil über die Errungenschaften einer Postmoderne nicht zustimmen, um zu erkennen, dass seine Diagnose einer fortschreitenden „Gleichförmigkeit“ in der Moderne durchaus zutreffend ist, Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, übers. von Martin Suhr, Hamburg: Hamburger Edition 2005, S. 109. In diesem Kontext spricht Bauman von Identitäten, die diesem Paradigma unterliegen und es scheint für die hier vorliegende Arbeit umso treffender, dass seine Diagnosen sich zwischen Adorno und Derrida verorten, vgl. bei Bauman, S. 160 f., 299, 397. Identifikation ist die latinisierte Variante von Identifizierung. Verschiedenen Theorien – wie etwa bei Hall, Freud, Derrida − verwenden die Begriffe synonym. Dies hängt mit dem englischsprachigen Kontext, in dem es vornehmlich Identification gibt, zusammen. Im Folgenden bevorzuge ich Identifizierung, da es lautlich dem Verb identifizieren und damit dem Prozesscharakter nähersteht.
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der in den Formen, in denen wir uns vorstellen, wie wir von anderen gesehen werden, von Außen erfüllt wird. Psychoanalytisch gesehen, suchen wir andauernd nach Identität und konstruieren Biografien, die die verschiedenen Teile unseres gespaltenen Ichs zu einer Einheit verknüpfen, um die Freude an diesem fantasierten Reichtum, diese Fülle wieder einzufangen.¹⁰⁸
Hall schlägt nicht allein die Verwendung eines anderen Wortes, sondern eines anderen Konzeptes vor, das sich von der Vorstellung einer Ganzheit verabschiedet und versucht, den Mangel – mit Adorno könnte man sagen: das Nichtidentische − produktiv werden zu lassen. In Wer braucht ›Identität‹ findet sich ebenfalls der Verweis auf die Psychoanalyse und Hall hält dort fest: „Identifikation ist wohl einer der unklarsten Begriffe, fast so heikel wie der Begriff ›Identität‹ und diesem trotz aller begrifflicher Schwierigkeiten vorzuziehen.“¹⁰⁹ Ergänzt man laut Hall einen alltagssprachlichen Begriff der Identifizierung um den konstruktiven Charakter einer Prozessualität, gewinnt man einen Begriff, der für konkrete Vorgänge handhabbar wird: Identifikation ist nicht determiniert in dem Sinn, dass sie ›gewonnen‹ oder ›verloren‹, festgehalten oder erlassen werden kann. Wenn auch nicht ohne determinierende Existenzbedingungen, einschließlich der materiellen und symbolischen Ressourcen, die dafür notwendig sind, ist Identifikation letztlich kontextabhängig, verankert in Kontingenz. […] Identifikation ist zudem ein Prozess der Artikulation, eine Vernähung, eine Überdeterminierung, nicht eine Subsumtion.¹¹⁰
Im Anschluss an Freud unterscheidet Hall die Identifizierung von einer reinen Verschiebung ins Ich − der Introjektion − und mahnt an, dass Identifizierung bzw. Identifikation in Opposition zur Subsumtion stehen; dem was Adorno zum Verfahren der Identität schlechthin erklärt. Hall macht die Aspekte von Artikulation und Vernähung für den prozessualen Charakter der Identifizierung verantwortlich. Dies ist keine zufällige Assoziation, sondern lässt sich aus der Etymologie herleiten. Im Unterschied zur Identität beinhaltet der Begriff der Identifizierung die Bedeutungen des Erkennens. Identifizierungen sind ein Selbsterkennen, Selbstherstellen und Selbstschreiben, setzt man die beiden latei-
Hall, Stuart: „Die Frage der kulturellen Identität“, in: Ders.: Ausgewählte Schriften. Bd. 2. Rassismus und kulturelle Identität, hrsg. von Ulrich Mehlem / Britta Grell / Dominique John, Hamburg: Argument 1994, S. 180 – 222, hier S. 196 (Hervorheb. i. Orig.). Hall, Stuart: „Wer braucht ›Identität‹?“, in: Ders.: Ausgewählte Schriften. Bd. 4. Ideologie, Identität, Repräsentation, hrsg. von Juhani Koivisto / Andreas Merkens, Hamburg: Argument 2004, S. 167– 187, hier S. 168. Hall, Stuart: „Wer braucht ›Identität‹?“, S. 169.
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nischen Wortstämme idem und facere zusammen.¹¹¹ Denn das lateinische facere bringt mit seinen Bedeutungsebenen tun, hervorbringen, verfertigen, erzeugen, erwerben sowie verfassen und schreiben diese Qualität in den Begriff.¹¹² Facere ergänzt die prozessuale Ebene und weist mit der Bedeutung des Selbstschreibens auf seine spezifisch literarische Qualität hin. Mit Blick auf den autobiographischen Gehalt der zu besprechenden Texte wird deutlich, dass autobiographische Schreibweisen stets Er-Schreibungen eines Selbst sind − keine Identität bilden können, sondern die Identifizierungen beständig suchen, Selbstbilder zu konstruieren. Ohne Frage kann Sigmund Freud als Vater des Begriffes Identifizierung gelten. Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass Freud das Wort Identität zwar in verschiedenen Kontexten nutzt, das Konzept aber lediglich einmal in seinem Werk in einem systematischen Sinn für eine „inner[e] Identität“ steht, welche die „gleich[e] seelische[e] Konstruktion“¹¹³ bezeichnet. Insbesondere im Kapitel Die Identifizierung aus Massenpsychologie und Ich-Analyse legt Freud seinen Begriff der Identifizierung dar. Schon im ersten Satz definiert er die Identifizierung wie folgt: „Die Identifizierung ist der Psychoanalyse als früheste Äußerung einer Gefühlsbindung an eine andere Person bekannt.“¹¹⁴ Freud macht deutlich, dass eine Identifizierung in Abhängigkeit zur sozialen Umgebung des Individuums und nicht als autonomer Akt erfolgen kann. Dies bildet eine Grundbestimmung, die für die vorgebrachten Überlegungen gilt: Identifizierungen finden in einem bestimmten soziokulturellen Rahmen statt, der (unter anderem) die Phantasmen bestimmt, die antagonisiert werden, um Identifizierungen erzeugen zu können. So sind diesem Register die Vorstellungen vom Anderen zuzurechnen. Als Extreme wurden in der Moderne diskriminierende Praxen wie Misogynie, Homophobie, Rassismus und Antisemitismus ausgebildet. Freud bestimmt die Identifizierung als Vorläufer des ödipalen Komplexes, in welchem der Junge sich mit dem Vater identifiziert: „Der kleine Knabe legt ein
Vgl.: „Identität“, in: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 1989, S. 324. Vgl.: Menge, Hermann / Güthling, Otto / Langenscheidt-Redaktion (Hrsg.): Langenscheidts großes Schulwörterbuch Lateinisch − Deutsch, Berlin: Langenscheidt 2003, S. 486 f. Freud, Sigmund: „Ansprache an die Mitglieder des Vereins B’Nai B’Rith (1926)“, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 17. Schriften aus dem Nachlass [1892−1939], hrsg. von Anna Freud, Frankfurt a. M.: S. Fischer [u. a.] 1955, S. 49 – 53, hier S. 52. Vgl. hierzu auch: Niethammer: Kollektive Identität, S. 224– 267, inbes. S. 235−241. Freud, Sigmund: „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, in: Ders.: Studienausgabe. Bd. IX. Fragen der Gesellschaft / Ursprünge der Religion, hrsg. von Alexander Mitscherlich / Angela Richards / James Strachey, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1989, S. 61– 134, hier S. 98. Freuds Schriften aus der Studienausgabe werden im Folgenden mit dem jeweiligen Titel und der Sigle StA sowie der Bandnummer und Seitenzahl angegeben
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besonderes Interesse für seinen Vater an den Tag, er möchte so werden und so sein wie er, in allen Stücken an seine Stelle treten. Sagen wir ruhig: er nimmt den Vater zu seinem Ideal.“¹¹⁵ Mit der Vorbildfunktion zeigt Freud, dass Identifizierungen nicht als eine friedfertige Version von Identität verstanden werden dürfen, sondern ebenso gewaltvoll wirken. Im Begehren, sich dem Vater gleichzumachen, erkennt Freud einen Vernichtungswunsch, der sich darin äußert, den Vater zu beseitigen. Der Junge will ihm nicht nur gleich werden, sondern seine Stelle besetzen. Freud konstatiert in diesem Kontext: „Der Kleine merkt, daß ihm der Vater bei der Mutter im Wege steht; seine Identifizierung mit dem Vater nimmt jetzt eine feindselige Tönung an und wird mit dem Wunsch identisch, den Vater auch bei der Mutter zu ersetzen.“¹¹⁶ Freud erklärt die Identifizierung zu dem psychische Verfahren, welches zur Entstehung einer Masse beiträgt. Daran wird gleichsam der regressive Charakter deutlich: „Wir ahnen bereits, daß die gegenseitige Bindung der Massenindividuen von der Natur einer solchen Identifizierung durch eine wichtige affektive Gemeinsamkeit ist, und können vermuten, diese Gemeinsamkeit liege in der Art der Bindung an den Führer.“¹¹⁷ Identifizierung sowie (der daraus resultierende) Ödipuskomplex sind für die Entstehung des Über-Ichs verantwortlich. Dort wird das Ziel der Identifizierung als Instanz in die Persönlichkeit verschoben. Freud hält in seiner Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse fest: Die Grundlage dieses Vorgangs [der Entstehung eines Über-Ichs; M.K.] ist eine sogenannte Identifizierung, d. h. eine Angleichung eines Ichs an ein fremdes, in deren Folge dies erste Ich sich in bestimmten Hinsichten so benimmt wie das andere, es nachahmt, gewissermaßen in sich aufnimmt.¹¹⁸
Freud bestimmt die Identifizierung als eine Angleichung, die zur Übernahme bestimmter Eigenschaften führt. Diese Angleichung ist aber kein völliges Aufgehen im Anderen, dem man sich mimetisch anzuähneln sucht, sondern es gibt eine oszillierende Bewegung zwischen dem Subjekt und dem anzugleichenden Objekt, die Freud nicht zuletzt für kulturelle Entwicklungen verantwortlich macht. Es wird deutlich, dass eine Identifizierung nicht eine völlige Auflösung erzeugt, sondern ihren ambivalenten Charakter bewahrt.¹¹⁹ Dieser äußert sich darin, dass
Freud: „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, StA IX, S. 98. Freud: „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, StA IX, S. 98. Freud: „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, StA IX, S. 100 f. Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Neue Folge, StA I, S. 501. „Die Identifizierung ist eben von Anfang an ambivalent […].“, Freud: „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, StA IX, S. 98.
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sie sich nicht gänzlich erfüllt, sondern eine konstitutive Offenheit erhält, die in der Nachahmung liegt.¹²⁰ In Massenpsychologie und Ich-Analyse heißt es: „[D]ie Identifizierung strebt danach, das eigene Ich ähnlich zu gestalten wie das andere, zum »Vorbild« genommene.“¹²¹ Die Identifizierung verweist damit auf ein Telos, dass sie nicht erfüllen mag, denn wie Freud bemerkt, strebt es zwar nach der Ähnlichkeit, es bleibt aber ein unmögliches Streben. In Adornos Konzeption führt die Identifikation bzw. das identifizierende Denken zu Identität und zielt auf sie ab.¹²² Trotzdem argumentiert er, dass es ein Denken der Identifizierung benötigt, um dem Nichtidentischen in diesem Prozess die Möglichkeit zur Artikulation zu geben: „[N]icht aber kann ohne Identifikation gedacht werden, jede Bestimmung ist Identifikation. Aber eben sie nähert sich auch dem, was der Gegenstand selber ist als Nichtidentisches: indem sie prägt, will sie von ihm sich prägen lassen.“¹²³ Eine Identifizierung führt laut Adorno zu einer Beschneidung des zu bestimmenden Gegenstandes; im vorliegenden Fall zu der Abtrennung bestimmter Teile, die das Individuum als Einzelnes ausmachen.¹²⁴ Nichtsdestotrotz geht eine Identifizierung nicht zwangsläufig in Identität auf, sondern eröffnet durch ihren Prozesscharakter den Raum des Nichtidentischen. Von der Forschung ist verschiedentlich festgestellt worden, dass Adorno nicht zwischen den Praxen der Identifizierung mit etwas und der Identifizierung
Bei Butler heißt es hierzu passend: „Das Subjekt ist vielmehr die inkohärente und mobilisierende Verzahnung von Identifizierungen. Es wird in der und durch die ständige Wiederholbarkeit seiner Darstellung konstituiert, eine Wiederholung, die zugleich dahingehend wirkt, die Normen der Echtheit zu legitimieren und zu entlegitimieren, von denen es produziert wird.“, Butler: Körper von Gewicht, S. 185. Im Kontext von Lacans Spiegelstadium macht sie deutlich, dass das Ich erst in der Identifizierung entsteht und immer im sozialen Kontext eingebettet ist: „Der Lacansche Standpunkt macht nicht nur deutlich, daß Identifizierungen dem Ich vorhergehen, sondern auch, daß die identifikatorische Beziehung mit dem Bild das Ich errichtet. Zudem ist das durch die Identifikationsbeziehung errichtete Ich selbst eine Beziehung, im Grunde genommen die kumulative Geschichte solcher Beziehungen. Infolgedessen ist das Ich keine mit sich selbst identische Substanz, sondern eine abgelagerte Geschichte imaginärer Beziehungen […].“, Butler: Körper von Gewicht, S. 112. Freud: „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, StA IX, S. 99. Günther Buck verfährt in seinem Aufsatz Über die Identifizierung von Beispielen − allerdings ohne Verweis auf Adorno − nach einem ähnlichen Verfahren, in dem er die Identifizierung als Prozess, der zu Subsumtion und Klassifizierung führt, versteht, vgl.: Buck: „Über die Identifizierung von Beispielen“. Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 152. Vgl.: Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 340.
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als etwas unterscheide.¹²⁵ Insbesondere Anke Thyen hat in Negative Dialektik und Erfahrung auf diesen Zusammenhang hingewiesen und argumentiert, dass, wo eine „Identifikation von etwas mit etwas vorgenommen“ wird, man es „mit identitätslogischen Operationen gegen Nichtidentisches zu tun [habe; M.K.]. Gegenstände oder Sachverhalte würden unter diesen Umständen mit einem Begriff von ihnen identifiziert.“¹²⁶ Das Identifizieren von etwas mit etwas macht die Dinge gleich und unveränderlich, während eine Identifizierung als etwas ein ungleich produktiveres Potential entwickle: Daß man die Möglichkeit, die Begriffe bereitstellen, wahrnimmt und ein singuläres Objekt als Fall eines allgemeineren Begriffs identifiziert, besagt prinzipiell nicht, daß die Singularität und Besonderheit jenes Einzelnen nicht gewahrt bleiben könnte. […] Wenn ich etwas als etwas identifiziere, schließt das nicht aus, daß es auch noch etwas anderes ist oder sein könnte als das, als was ich es identifiziere.¹²⁷
Angesichts von Thyens Argumentation wird deutlich, dass die Identifizierung als etwas der Raum ist, der sich dem Nichtidentischen öffnet. Identifiziert sich ein Individuum als etwas, kann es ebenfalls etwas anderes sein und geht nicht in Identität auf. Es eröffnet die Felder der Nichtidentität. Identifiziert sich ein Individuum dagegen mit etwas, eröffnet es den Weg zu „einer verdinglichten Praxis von Erkenntnis“¹²⁸. Die beiden Aspekte sind nicht immer gesichert zu unterscheiden.¹²⁹ Ricœur beschreibt daher, dass eine Identifizierung stets der „Dialektik von Innovation und Sedimentierung“¹³⁰ unterworfen ist. Identifizierungen können sich nicht erfüllen und verschieben im Moment des scheinbaren Erreichens eines Zustandes das Telos. Judith Butler hat den Prozesscharakter der Identifizierung in Körper von Gewicht prägnant zusammengefasst: [D]ie Identifizierung gehört nicht zur Welt der Ereignisse. Sie wird konstant als ein gewünschtes Ereignis oder eine Vollendung figuriert, die aber letztlich niemals zustande ge-
Vgl. hierzu etwa: Schnädelbach: „Dialektik als Vernunftkritik“, S. 71 f.; Thyen, Anke: Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des Nichtidentischen bei Adorno, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 116. Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung, S. 118. Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung, S. 118 (Hervorheb. i. Orig.). Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung, S. 119 (Hervorheb. i. Orig.). Es ist zu betonen, dass bei Freuds Begriff der Identifizierung diese beiden Aspekte zusammenfallen. Denn das Subjekt will sich mit etwas identifizieren. Durch die Offenheit und Ambivalenz, die mit der freudschen Identifizierung einher geht, kann es sich aber nur als etwas identifizieren und eröffnet somit die Möglichkeit einer kulturellen (und auch einer familiären) Entwicklung. Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, S. 152.
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bracht wird; die Identifizierung ist das phantasmatische Inszenesetzen des Ereignisses. […] Identifizierungen werden nie vollständig und abschließend gemacht; sie werden unaufhörlich wiederhergestellt und sind als solche der brisanten Logik der Identifizierung unterworfen.¹³¹
Für die Texte Grünbeins und Wolfs zeigt sich das produktive Potential der Identifizierung als ostdeutsch: Denn im Prozess, den die Texte ausstellen, wird der Raum für weitere Identifizierungen entworfen, welche die Formen des Nichtidentischen einbeziehen: Für Grünbein sind das die kosmopolitischen, für Wolf die utopischen Selbstbilder. Beide pfropfen sich auf die ostdeutschen Selbstbilder auf und sind damit ebenfalls Prozesse der Identifizierung.¹³² In seinen Publikationen Das andere Kap sowie Die Einsprachigkeit des Anderen erarbeitet Derrida eine Theorie der Identifizierung, die an Adornos Überlegungen anschlussfähig ist. In Das andere Kap wendet sich Derrida der Frage nach der (Un‐)Möglichkeit von kulturellen Identitäten bzw. kulturellen Identifizierungen zu. Ähnlich wie in der Konzeptualisierung Adornos wird Identifizierung als ein Prozess verstanden, der auf Identität hinstrebt: Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich selber identisch ist. Nicht, daß sie keine Identität haben kann, sondern daß sie sich nur insoweit identifizieren, »ich«, »wir« oder »uns« sagen und die Gestalt des Subjekts annehmen kann, als sie mit sich selber nicht identisch ist, als sie wenn Sie so wollen, mit sich differiert [différence avec soi]. Es gibt keine Kultur und keine kulturelle Identität ohne diese Differenz mit sich selbst. ¹³³
Derrida verlegt die Differenz in die Identität, um zu zeigen, dass Identität sich nicht erfüllen kann.¹³⁴ Wie im vorhergehenden Kapitel dargelegt wurde, ist unter diesen Bedingungen ‚Identität‘ keine adäquate Bezeichnung für das vorliegende
Butler: Körper von Gewicht, S. 152. Der Begriff Pfropfung impliziert laut Derrida und Wirth eine Veredelung (also Weiterentwicklung) bei einer gleichzeitigen Neukontextualisierung in der Signifikantenkette. Dies ist besonders treffend, um das Verhältnis von Kontinuität und Bruch (sowie Kontinuität durch Bruch) bei Prozessen der Identifizierung zu fassen, vgl.: Derrida, Jacques: „Signatur Ereignis Kontext“, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, hrsg. von Peter Engelmann, übers. von Donald Watts Tuckwiller, Wien: Passagen 1988, S. 291– 314, hier S. 300; Wirth, Uwe: „Kultur als Propfung − Propfung als Kulturmodell. Prolegomena zu einer Allgemeinen Greffologie (2.0)“, in: Wirth, Uwe (Hrsg.): Impfen, Pfropfen, Transplantieren, Berlin: Kadmos 2011, S. 9 – 27. Derrida, Jacques: Das andere Kap / Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, übers. von Alexander García Düttmann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 13 (Hervorheb. i. Orig.). Ähnlich argumentieren Assmann und Friese in der Einleitung zu ihrem Band Identitäten, vgl.: Assmann/Friese: „Einleitung“, insbes. S. 23.
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Problem.¹³⁵ Identifizierungen können sich nur im Rahmen ihrer soziokulturellen Kontexte – bei Derrida: ihrer Kultur − vollziehen. Die Phantasmen des Anderen verbinden sich mit der Nichtidentität des Selbst und erzeugen eine, wie er es nennt, Logik des doppelten Genitivs: Es gibt keinen Selbstbezug, keine Identifikation mit sich selber ohne Kultur – ohne eine Kultur des Selbst als Kultur des anderen, ohne eine Kultur des doppelten Genitivs und des Von-sich-selber-sich-Unterscheidendes, des Unterscheidens, das mit einem Selbst einhergeht [différence à soi]. Die Grammatik des doppelten Genitivs zeigt auch an, daß eine Kultur niemals nur einen einzigen Ursprung hat.¹³⁶
Die Identifizierung zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Nichtidentität des Subjektes hervorbringt, da sich die Prozesse der Identifizierung im Paradigma eines Differierens mit sich selbst bewegen, das dem Versuch zur Erzeugung von Selbstbildern innewohnt.¹³⁷ Derrida bestimmt die Frage, was das Ziel einer Identifizierung (also eine Identität) darstellt, anhand seines eigenen Beispiels als Franko-Maghrebiner und verweist auf die logischen Probleme, die sich damit ergeben: Um zu erfahren, wer franko-maghrebinisch ist, muß man wissen, was franko-maghrebinisch ist, was »franko-maghrebinisch« bedeutet. Im anderen Sinne aber, indem man die Richtung des Kreises umkehrt und damit man vice versa bestimmen kann, was es heißt franko-maghrebinisch zu sein, müßte man wissen, wer es ist und vor allem […], wer am meisten frankomaghrebinisch ist.¹³⁸
In der Bestimmung, dass jemand (scheinbar) eine Identität am meisten verkörpern kann, steckt ihr gradueller Charakter: Derrida verdeutlicht, dass es nicht um die Erfüllung von Identität geht, vielmehr steht, wie er bemerkt, doch „Identität gerade in Frage.“¹³⁹ Stattdessen setzt er auf Identifizierungen, die dem Konzept Identität nicht allein entgegengesetzt, sondern bevorzugt werden. Sie zeigen an,
In Die Einsprachigkeit des Anderen verweist Derrida anhand der Sprache darauf, dass Identität eine Konstruktion eines nicht einholbaren Ursprungs sei, der sich aus diesem Grund nicht erfüllen kann und damit den Identitätsbegriff selbst in Frage stellt, vgl.: Derrida, Jacques: Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese, übers. von Michael Wetzel, München: W. Fink 2003, S. 34, 44, 120. Vgl. auch: Derrida: Das andere Kap, S. 24 f. Derrida: Das andere Kap, S. 13 (Hervorheb. i. Orig.). Vgl. hierzu auch: S. 16 f. „Unter diesen Umständen ist das Von-sich-selber-sich-Unterscheiden [différence à soi], das von Von-sich-selber-sich-Trennen und -Entfernen ebenfalls ein Bei- oder Mit-sich-(Von-sich‐) Differieren [différence (d’) avec soi], dem »Bei-Sich« innewohnend und zugleich nicht auf es zurückführbar.“, Derrida: Das andere Kap, S. 13. Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen, S. 24 f. Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen, S. 30.
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dass sie sich nicht erfüllen können, sondern stets „partielle Identifizierungen“¹⁴⁰ sind, wie es schon bei Freud heißt. Derrida argumentiert: Dem gängigen Verständnis nach setzt die autobiographische Anamnese die Identifizierung voraus. Genau genommen nicht die Identität. Eine Identität ist nie gegeben, empfangen oder erlangt, nein, allein der unbeendbare, unbestimmt phantasmatische Prozeß der Identifizierung wird erduldet.¹⁴¹
Damit fasst Derrida die Charakteristika der Identifizierung zusammen: Diese können sich weder erfüllen noch sonst zu einem Ende gelangen. Sie sind Prozesse, die das Individuum begleiten, wenn es versucht, Identität herzustellen. Sie sorgen gleichsam dafür, dass diese Identität nicht zu erreichen ist.¹⁴² Auch die Formulierung Duldung zielt darauf, dass sie nicht als ein positiv gewendeter Identitätsbegriff zu verstehen sind, sondern dem Paradigma eines ideologischen Zwangs unterliegen. Legt man den Fokus auf die Prozesshaftigkeit der Herstellung von Identifizierungen wird deren ideologischer Charakter deutlich: Es sind die Prozesse, die im ideologischen Paradigma einer Identität ablaufen und Identität erzeugen wollen. In ihrer Unerfüllbarkeit lassen sie das Nichtidentische am Individuum aufscheinen. Das Dissonante des jeweils individuellen Menschen erhält so einen Raum, der versucht, die identitären Vorstellungen aufzusprengen. Identität müsste, wie schon Hume argumentiert, damit einhergehen, sich selbst in einem Moment der Kontemplation in allen Dimensionen, die dieses Selbst ausmachen (will), bewusst zu werden. Da sich in einem Moment das Subjekt einzig bestimmter Teile bewusst werden kann, zielen Identifizierungen dagegen auf das Partielle. Die Feststellung von Momenthaftigkeit ist in der empirischen Realität ein nicht umzusetzendes Verfahren und so bilden narrative literarische Formen besonders starke Anknüpfungspunkte: sei es durch die zeitlichen Ebenen, die Erzählgeschwindigkeiten oder die Stellung von Erzählinstanz und Protagonist im literarischen Text.
Freud: „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, StA IX, S. 100. Bei Freud bezieht sich das Partielle der Identifizierungen darauf, dass das Individuum sich lediglich bestimmten Eigenschaft anzuähneln sucht. Freud zeigt das anhand der Symptombildung: Da (beispielweise) die Symptome in Freuds Konzeption einer Hysterie für das Individuum subjektiv zu dominierenden Faktoren werden, kann man in Rekurs auf ihn festhalten, dass Identifizierungen nicht allein hinsichtlich einer partiellen Erfüllung fragmentarisch sind, sondern ebenso hinsichtlich der Auswahl des Aspektes mit bzw. als das sich das Individuum identifiziert. Der ausgewählte Teilaspekt, der das Ziel der Identifizierung ist, wird hierbei ungebührlich dominant. Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen, S. 51 (Hervorheb. i. Orig.). Vgl. hierzu auch: Butler: Körper von Gewicht, S. 310.
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Kein Teil des Individuums bleibt über die Prozesse der Identifizierungen erhaben und kein Teil wird zu etwa Festem, denn wie Adorno und Derrida betonen, gibt es nichts, was nicht von den „kulturellen, symbolischen und soziokulturellen Figuren gebildet wird.“¹⁴³ Jede individuelle Identifizierung ist durchwirkt von den allgemeinen Bestimmungen, die mit ihr einhergehen, denn wie Michel Foucault festgehalten hat, bestimmt der Diskurs, der über einen jeweiligen Gegenstand herrscht, die Möglichkeiten, die sich in ihm überhaupt ergeben.¹⁴⁴
1.3 Prozesse der Identifizierung – Entwurf und Erinnerung Wie deutlich wurde, bewegen sich die Prozesse der Identifizierung in bestimmten soziokulturellen Rahmen, innerhalb derer sich überhaupt erst die Möglichkeiten zu den jeweiligen Identifizierungen ergeben. Wenn von Prozessen die Rede ist, stellt sich die Frage, wie diese zu fassen sind: Im Folgenden verstehe ich darunter zwei miteinander verschränkte Abläufe, die in der zeitlichen Achse zu verorten sind. Fragen nach einer Bestimmung durch Figurationen des Anderen werden vornehmlich im soziokulturellen Rahmen determiniert, wobei dieser in die jeweiligen Zeitachsen hineinwirkt und diese prädisponiert. Ein Prozess der Identifizierung kann sich in zwei Richtungen auswirken: Entweder retrospektiv in Form von Erinnerungen oder projektiv im Sinne eines Entwurfes. Keupp und seine Mitautoren haben für die Identitätsarbeit ähnliche Überlegungen vorgelegt: Unter einer zeitanalytischen Perspektive läßt sich die Identitätsarbeit in zwei Prozesse zerlegen. Der retrospektiv-reflexive Prozeß geht von den jeweiligen Selbsterfahrungen aus und bildet den eher reaktiven, Erfahrungen verarbeitenden Teil der Identitätsarbeit ab. Der prospektiv-reflexive Prozeß stellt die jeweiligen Selbstentwürfe in den Mittelpunkt und bildet den eher aktiven und zukunftsorientierten, d. h. Erfahrung herstellenden, gestaltenden Teil der Identitätsarbeit ab.¹⁴⁵
Die projektive Identifizierung geht von der Gegenwart aus und richtet sich in die Zukunft. Ihre Ziele können offen sein und ein Potential im Sinne einer Identifizierung-als-etwas besitzen und damit den inneren Dissonanzen, die sich aus den retrospektiven Erinnerungen ergeben, einen Raum eröffnen. Gleichsam besteht
Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen, S. 52. Vgl. auch: Derrida: Das andere Kap, S. 54. Bei Adorno, vgl. in direktem Bezug zum Individuum: Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 272– 275. Vgl. hierzu: Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, insbes. S. 58 f. Keupp u. a.: Identitätskonstruktionen, S. 192.
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die Möglichkeit zur Verengung (der Identifizierung-mit-etwas), wenn das Ziel der Identifizierung als fest bestimmt gefasst wird. Die futurischen Identifizierungen vollziehen sich nicht in einem Vakuum, das alle Möglichkeiten offenlässt, sondern werden – abseits des diskursiven Rahmens − vor allem durch die retrospektiven Identifizierungen präformiert.¹⁴⁶ Im Fall von ostdeutschen Selbstbildern sind Formen der Retrospektion für Identifizierungen umso bedeutsamer. Die Theoretisierung von Erinnerung gibt hierauf Antworten. Ähnlich wie der Diskurs um Identität ist der Diskurs Erinnerung nicht in Gänze darstellbar.¹⁴⁷ Vielmehr werden bestimmte für die Frage von Identifizierungen relevante Überlegungen vorgebracht, die in den Lektüren zu Christa Wolf und Durs Grünbein ergänzt werden. Für die vorliegenden Überlegungen ist die Differenzierung von Gedächtnis und Erinnerung unerlässlich: Erstere bildet gewissermaßen das Medium,¹⁴⁸ das den Fundus bietet, aus dem sich Erinnerungen als rekonstruktive Tätigkeiten bilden: Das Erinnern verfährt grundsätzlich rekonstruktiv; es geht stets von der Gegenwart aus, und damit kommt es unweigerlich zu einer Verschiebung, Verformung, Entstellung, Umwertung, Erneuerung des Erinnerten zum Zeitpunkt seiner Rückrufung. Im Intervall der Latenz ruht
Ein Beispiel hierfür findet sich in Habermas Vortrag Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden? Dort beschreibt er eine zu entwerfende Weltgesellschaft als eine projektive Identifizierung, die ihre Grundlage in der Gemeinsamkeit von Retrospektion und Projektion findet, vgl.: Habermas, Jürgen: „Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?“, in: Habermas, Jürgen / Henrich, Dieter: Zwei Reden. Aus Anlaß des HegelPreises, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 23 – 84, hier S. 71. Ohne Frage operiert Habermas mit einer problematischen Identitätskonzeption, wenn er auf die von Adorno kritisierte RollenIdentität zur Erläuterung einer vernünftigen Identität zurückgreift, vgl. bei Habermas, S. 28 ff. Zu verschiedenen Aspekten (auch kognitionswissenschaftlicher und neuroanatomischer Dimensionen) von Erinnerung und Gedächtnis, vgl. die Beiträge aus dem Handbuch Gedächtnis und Erinnerung: Piefke, Martina / Markowitsch, Hans J.: „Neuroanatomische und neurofunktionelle Grundlagen von Gedächtnis“, in: Gudehus, Christian / Eichenberg, Ariane / Welzer, Harald (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2010, S. 11– 21; Köbel, Carlos / Straub, Hans J.: „Zur Psychologie des Erinnerns“, in: Gudehus, Christian / Eichenberg, Ariane / Welzer, Harald (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2010, S. 22– 44; Fivush, Robyn: „Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses“, in: Gudehus, Christian / Eichenberg, Ariane / Welzer, Harald (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2010, S. 45 – 53. Benjamin bezeichnet das Gedächtnis in seinem Denkbild Ausgraben und Erinnern als Medium, vgl.: Benjamin: „Ausgraben und Erinnern“, B-GS IV, S. 400. Benjamins kurzer Text wird später ausführlich Thema sein, vgl. das Kapitel Erinnern und Vergessen – Christa Wolf liest Freud und Benjamin.
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die Erinnerung also nicht wie in einem sicheren Depot, sondern ist einem Transformationsprozeß ausgesetzt.¹⁴⁹
Für Prozesse der Erinnerung werden die Wirkweisen des Unbewussten zu einem bestimmenden Faktor. Das Gedächtnis wird beständig nach ihnen umgebildet und die konkreten Vorgänge des Erinnerns davon affiziert, wie es die Beschreibung Aleida Assmanns nahelegt. Nicht zu Unrecht bezeichnet sie daher das Vergessen als „Komplize des Erinnerns“¹⁵⁰. Das Gedächtnis kann neben dem kulturellen, kommunikativen und kollektiven Gedächtnis¹⁵¹ in zwei weitere Formen bestimmt werden: Aleida Assmann definiert Gedächtnis als Speicher- und Funktionsgedächtnis, die an die zwei Diskurslinien von ars und vis anschließen. Das erste fasst Gedächtnis als eine Kunst (lat. ars) auf, die als eine erlernbare Technik zu verstehen ist.¹⁵² Darunter ist die römische Tradition der Mnemotechnik zu subsumieren, in der − wie Cicero in De oratore anhand des Simonides von Keos beschreibt − Orte mit Bildern von den zu erinnernden Dingen verknüpft werden, um diese aufgrund einer optischen Verbindung besser abrufen zu können.¹⁵³ Unter dem zweiten Paradigma ist eine Kraft (lat. vis) zu verstehen, die den Prozess der Reaktivierung − also des Erinnerns − begleitet: Im Falle des Erinnerns wird die Zeitdimension, die beim Speichern stillgestellt und überwunden ist, akut. Indem die Zeit aktiv in den Gedächtnisprozeß eingreift, kommt es zu einer grundsätzlichen Verschiebung zwischen Einlagerung und Rückholung. Während bei der Mnemotechnik die exakte Übereinstimmung von input und output entscheidend war, kommt es bei der Erinnerung zu ihrer Differenz. Dem Verfahren des Speicherns möchte ich deshalb den Prozeß der Erinnerung gegenüberstellen. Anders als das Auswendiglernen ist das Erinnern kein vorsätzlicher Akt; man erinnert sich, oder man erinnert sich eben nicht. Korrekter wäre es wohl zu sagen, daß etwas einen erinnert, dessen man sich erst nachträglich bewußt wird.¹⁵⁴
Die erlernbare Mnemotechnik der ars setzt die Speicherung, die anthropologische Grundkonstante der vis die Erinnerung ins Zentrum. Gerade diese beiden Aspekte haben hinsichtlich der daraus folgenden Akte unterschiedliche Bedeutungen und
Assmann: Erinnerungsräume, S. 29. Vgl. auch: Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 31 ff. Assmann: Erinnerungsräume, S. 30. Vgl. hierzu das Kapitel Perspektiven durch Erinnerung – Gedächtnis und Literatur. Vgl.: Assmann: Erinnerungsräume, S. 27 f. Vgl.: Cicero, Marcus Tullius: De oratore / Über den Redner, hrsg. und übers. von Harald Merklin, Stuttgart: Reclam 1976, S. 432 f. Assmann: Erinnerungsräume, S. 29 (Hervorheb. i. Orig.).
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wirken als Diskursbegründungen, die in Speicher- oder Funktionsgedächtnis münden: Das bewohnte Gedächtnis wollen wir das Funktionsgedächtnis nennen. Seine wichtigsten Merkmale sind Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung. Die historischen Wissenschaften sind demgegenüber ein Gedächtnis zweiter Ordnung, ein Gedächtnis der Gedächtnisse, das in sich aufnimmt, was seinen vitalen Bezug zur Gegenwart verloren hat. Dieses Gedächtnis der Gedächtnisse schlage ich vor, Speichergedächtnis zu nennen.¹⁵⁵
Das Speichergedächtnis hat eine Nähe zu Formen kulturellen Gedächtnisses und ist mit der antiken Tradition der Mnemotechnik verwandt. Zwar soll nicht alles im Gedächtnis eines Individuums gespeichert, aber doch in den Archivierungsinstitutionen der Gesellschaft bewahrt werden. Das Funktionsgedächtnis ist dagegen dynamischer und individueller, wenn es durch die jeweils spontan darauf zugreifenden Individuen bedient wird. Grundsätzlich sind diese beiden Formen miteinander verbunden und bedingen beide kulturelle und kommunikative Formen des Gedächtnisses.¹⁵⁶ In der Notiz über den Wunderblock porträtiert Sigmund Freud sein Schema der Speicherung von Erinnerungen. Anhand der verschiedenen Elemente des titelgebenden Kinderspielzeuges entwirft Freud seine Theorie, wie Eindrücke, die das Individuum empfängt, von der Wahrnehmung in die Tiefen des Unbewussten gelangen: Mit einem Stilus bzw. Griffel wird auf einem von einer Zelluloidplatte geschützten Wachspapier geschrieben. Unter dem Wachspapier liegt eine Wachsplatte, auf welche der Griffel das Geschriebene (quasi) einkerbt, das so auf der Oberfläche erscheint. Löst man Wachspapier und dazugehöriges Zelluloid von der Platte, verschwindet auf der Oberfläche die Schrift, die im Wachs der Tafel bestehen bleibt, ohne dass sie bei erneuter Verbindung von Deckblatt und Tafel wiedererscheint.¹⁵⁷ Mit dem Bild dieses Schreibwerkzeuges erläutert Freud, wie sich Eindrücke über die Wahrnehmung im Unbewussten sedimentieren und dort gespeichert werden. Sie sind nicht ohne erhebliche Widerstände reaktivierbar. Dies ist der Moment, an dem für Freud die Analogie mit dem Wunderblock endet: „Der Wunderblock kann ja auch nicht die einmal verlöschte Schrift von innen her wieder »reproduzieren«; er wäre wirklich ein Wunderblock, wenn er das wie unser Gedächtnis vollbringen könnte.“¹⁵⁸ Die gelegten Erinnerungsspuren werden nicht Assmann: Erinnerungsräume, S. 134 (Hervorheb. i. Orig.). Vgl.: Assmann: Erinnerungsräume, S. 142. Vgl. hierzu die Beschreibung Freuds: Freud: „Notiz über den »Wunderblock«“, StA III, S. 366 f. Freud: „Notiz über den »Wunderblock«“, StA III, S. 368.
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in ihrer ursprünglichen Form erinnert, sondern unterliegen dem Paradigma der Nachträglichkeit. Laplanche und Pontalis fassen dieses prägnant zusammen: „Erfahrungen, Eindrücke, Erinnerungsspuren werden später aufgrund neuer Erfahrungen und mit dem Erreichen einer anderen Entwicklungsstufe umgearbeitet. Sie erhalten somit gleichzeitig einen neuen Sinn und eine neue psychische Wirksamkeit.“¹⁵⁹ Freud verwendet den Begriff Nachträglichkeit nicht systematisch, jedoch lassen sich in seinem Werk zahlreiche Verwendungen der adjektivischen Form nachträglich sowie zahlreiche sinnverwandte Äußerungen finden.¹⁶⁰ Die Nachträglichkeit führt dazu, dass die Erinnerungen, die dem Individuum zukommen, immer schon transformiert sind; verändert durch weitere Erinnerungen, die sich in jedem Moment jeweils unterschiedlich figurieren. Derrida hat darauf hingewiesen, dass dadurch eine Vorstellung von Ursprünglichkeit verunmöglicht wird und angesichts von Nachträglichkeit Verschiebung und Umschrift zu den bestimmenden Faktoren des Unbewussten werden. So erteilt Freud (laut Derrida) Logiken der Identität und Präsenz eine Absage.¹⁶¹ Freuds dynamisches Modell der Erinnerungen, die von Individuen immer situativ neu kontextualisiert und semiotisiert werden, zeigt für die Konzeption von Identifizierungen einen wichtigen Aspekt auf: Identifizierungen beziehen sich nicht auf Erinnerungen, die einfach ein Abbild des Gewesenen sind, sondern konstellieren diese neu. Sie kommen zu neuen Bedeutungen und neuen Potentialen. Besonders anschaulich ist dies in der Metapher der Archäologie, die Freud mehrfach wählt, um das Fragmentarische sowie die (Re‐)Konstruktionsleistungen im Erinnerungsprozess zu beschreiben. Diese Metaphorik verbindet ihn mit Walter Benjamin, dessen Erinnerungstheorie insbesondere nach der Potentialität von Erinnerungen fragt.¹⁶²
Laplanche, Jean / Pontalis, Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse, übers. von Emma Moersch, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, S. 313. Ein Beispiel hierfür ist ein früher Brief an Fließ: „[I]ch arbeite mit der Annahme, daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichten entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt.“, Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ 1887−1904. Ungekürzte Ausgabe, hrsg. von J. Moussaieff Masson / Michael Schröter, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1986, S. 217. Vgl. hierzu: Derrida, Jacques: „Freud und der Schauplatz der Schrift“, in: Ders.: Die Schrift und die Differenz, übers. von Rodolphe Gasché, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 302– 350, hier S. 312, 323 f. Sarah Kofman argumentiert, dass gerade Derridas Insistieren auf den Schrift- und Schreibszenencharakter bei Freud einen Weg von der reinen Psychologie hin zu kollektiven Praktiken wie der Geschichte weist, vgl.: Kofman, Sarah: Derrida lesen, hrsg. von Peter Engelmann, übers. von Monika Buchgeister / Hans-Walter Schmidt, Wien: Passagen 2012, S. 62. Vgl. hierzu exemplarisch: Freud: „Konstruktionen in der Analyse“, StA Ergänzungsband, S. 397; Benjamin: „Ausgraben und Erinnern“, B-GS IV. Zu den Metaphoriken bei Freud und
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Benjamin hat sich in verschiedenen Phasen seines Schaffens mit dem Komplex Erinnerung beschäftigt und seine Theorie von individuellen Erinnerungen hin zu kollektiven Prozessen entwickelt.¹⁶³ Er geht davon aus, dass Erinnerung nicht etwas faktisch Geschehenes reaktiviert, sondern Erinnerungen Bilder evozieren, die das Vergangene im Gedächtnis verändern, da sie es neu konstituieren.¹⁶⁴ Aus diesem Faktum, das Benjamin in seinen Modifikationen der Proust’schen mémoire involontaire verortet, welche das Vergessen als konstitutiven Einsatz für die Fähigkeit zur Erinnerung bestimmt,¹⁶⁵ leitet sich die Bedeutung der Gegenwart in seiner Theorie ab. Denn das Erinnern richtet seinen Blick nicht allein von der Gegenwart auf die Vergangenheit, sondern – und dies stellt die epistemologische Verankerung von Benjamins Theorie der Erinnerung dar − macht es zur Bedingung der Möglichkeit, in der erinnert werden kann.¹⁶⁶ In den Aufzeichnungen zum Passagen-Werk formuliert Benjamin dies deutlich: Die kopernikanische Wendung in der geschichtlichen Anschauung ist diese: man hielt für den fixen Punkt das »Gewesene« und sah die Gegenwart bemüht, an diese Feste der Erkenntnis tastend heranzuführen. Nun soll sich dieses Verhältnis umkehren und das Gewesene zum dialektischen Umschlag, zum Einfall des erwachten Bewußtseins werden. Die Politik erhält den Primat über die Geschichte. Die Fakten werden etwas, was uns soeben erst zustieß, sie festzustellen ist die Sache der Erinnerung. Und in der Tat ist Erwachen der exemplarische Fall des Erinnerns […].¹⁶⁷
Benjamin stellt an dieser Stelle auch die Verbindung zwischen Erinnerung und Geschichtsschreibung heraus. Er konstruiert eine Beziehung zwischen Erinnerung und Erwachen, wobei der Begriff des Erwachens dafür einsteht, das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart bewusst wahrzunehmen und die Plötzlichkeit dieser Verbindung zu verstehen.¹⁶⁸ Benjamin selbst hält fest: Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige seine Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit
Benjamin sowie ihrer Verbindung, vgl. folgende Studie: Werner, Nadine: Archäologie des Erinnerns. Sigmund Freud in Walter Benjamins »Berliner Kindheit«, Göttingen: Wallstein 2015. Diese Entwicklungen verlaufen nicht ohne Modifikationen, jedoch lassen sich deutlich Kontinuitäten feststellen, vgl.: Schöttker, Detlev: „Erinnern“, in: Opitz, Michael / Wizisla, Erdmut (Hrsg.): Benjamins Begriffe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 260 – 298, hier S. 260 f. Vgl.: Benjamin: „Zum Bilde Prousts“, B-GS II, S. 1064. Vgl.: Benjamin: „Zum Bilde Prousts“, B-GS II, S. 311 f. Vgl.: Schöttker: „Erinnern“, S. 279. Benjamin: Das Passagen-Werk, B-GS V, S. 490 f. Vgl.: Wohlfarth, Irving: „Die Passagenarbeit“, in: Lindner, Burkhardt (Hrsg.): BenjaminHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2006, S. 251– 274, hier S. 253 f.
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dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf sondern Bild, sprunghaft.− Nur dialektische Bilder sind echte (d. h.: nicht archaische) Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache.¹⁶⁹
Das Jetzt ersetzt das Gegenwärtige, weil sich in der neuen erinnerungstheoretischen Fundierung die Bedingung der Möglichkeit verschiebt. Das augenblickliche Zusammentreten des Gewesenen mit dem Jetzt findet in einem Moment dialektischer Kontemplation statt, indem der Moment stillgestellt wird und das Bild trotz seiner Plötzlichkeit die Möglichkeit zur Betrachtung offenbart.¹⁷⁰ Benjamins nicht-teleologische und nicht-lineare Geschichtsbetrachtung richtet sich gegen das Paradigma verstreichender und fortschreitender Zeit, wie sie für verschiedene Tradition (von Historismus bis hin zum Marxismus) paradigmatisch ist.¹⁷¹ Dass er die Sprache als das Medium der dialektischen Bilder benennt, stellt die Bedeutung der Literatur aus, die aufgrund ihrer Narrativität die Möglichkeit besitzt, Erinnerungsprozesse performativ zu gestalten und so paradigmatisch diese Bilder zu erzeugen. Schöttker hat in einem Kommentar zum 17. Abschnitt aus Über den Begriff der Geschichte argumentiert, dass Benjamin durch die Nennung der zentralen Begriffe dort ein Kompendium seiner Erinnerungstheorie vorstellt: [D]ie Erinnerung verfährt konstruktiv, weil sie die Vergangenheit nicht abbildet, sondern neu erschafft; sie bringt die Geschichte zum Stillstand, weil sie die Zeit zu Bildern verdichtet; sie zitiert die Geschichte, weil sie nur bestimmte Elemente der Vergangenheit vergegenwärtigt; sie ist destruktiv, weil sie aus dem Kontinuum der Vergangenheit nur Bruchstücke vergegenwärtigt; sie verfährt monadisch, weil sie die Vergangenheit in geschlossenen Einheiten präsentiert; und sie verfährt rettend, weil sie alle Elemente der Vergangenheit gegen ihre offizielle Überlieferung bewahren kann.¹⁷²
Die Stärke von Benjamins Erinnerungsbegriff liegt neben den Möglichkeiten, Erinnerungsprozesse als etwas zu begreifen, in dem Vergangenheit und Gegenwart sich dynamisch in ein neues Verhältnis setzen und trotzdem durch die Un-
Benjamin: Das Passagen-Werk, B-GS V, S. 576 f. Auch Zygmunt Bauman vermerkt, dass ‚Identitäten‘ lediglich blitzhaft fassbar sind: „Identitäten sind stabil und fix nur im Schein des Blitzlichts, das sie für einen kurzen Moment von außen erhellt. Jede Stabilität, die sich dem biographischen Blick von innen heraus erschließt ist verletzlich, zerbrechlich und immer in Gefahr, von den Strömen und Gegenströmen erfaßt zu werden, deren Kräfte jede sich bildende Form wieder auflöst.“, Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne, übers. von Reinhard Kreissl, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 101. Vgl.: Wohlfarth: „Die Passagenarbeit“, S. 271. Schöttker: „Erinnern“, S. 296 (Hervorheb. i. Orig.).
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terbrechung des dialektischen Prozesses die Beobachtung zuzulassen, vor allem darin, dass sie die individuellen und kollektiven Prozesse strukturanalog und miteinander verschränkt porträtiert.¹⁷³ Versteht man Benjamins Entwürfe als eine Methode, liegt ihre Verbindung zu Identifizierungen nahe: Denn die entworfenen Selbstbilder des Individuums wie des Kollektivs liegen in der ständigen Neubewertung der Vergangenheit qua gegenwärtigem Kontext. Vor allem Literatur zeigt ihre Qualität, Erinnerungen in verschiedenen Weisen auftreten zu lassen: assoziativ, intentional, unbewusst etc. Narrativ kann in Literatur das Geschehen der Handlung durch die Verlangsamung der Erzählzeit stillgestellt werden. Das erlaubt die Möglichkeit zu Erzählung, Untersuchung und Bewertung der Erinnerung aus dem jeweiligen (gegenwärtigen) Kontext. Das erzählende Individuum erzeugt durch die jeweils sich verändernden Konstellationen fortwährend neue Bewertungen und Verschiebungen des Selbstbildes. Die Erinnerung wird nie gleich wiederholt, sondern jede Wiederholung stellt gleichzeitig eine Verschiebung dar.¹⁷⁴ Mit dem Hinweis auf das Nichtidentische, also demjenigen, das in einem Prozess von Adornos negativer Dialektik sein Recht erhalten soll, überschneidet sich Benjamins Dialektik im Stillstand insofern, als sich letztere auf das richtet, was ohne den Stillstand übergangen wird. Identifizierungen stellen, trotz des Versuches, Ganzheit und Abgeschlossenheit herzustellen, die nicht zu füllende konstitutive Fragmentarität aus, in der das Nichtidentische einen Raum zur Äußerung zu finden vermag. Noch einmal zusammengefasst: Prozesse der Identifizierung finden innerhalb eines soziokulturellen Rahmens statt, der über die Phantasmagorien des Anderen bestimmt und damit eine Offenheit zulässt, da diese sich als Gegenüberstellungen nicht als dauerhaft erweisen. Sie ersetzen Identität nicht einfach, sondern zeigen an, dass sie innerhalb einer ideologischen Setzung, die dem Individuum einen identisch bleibenden Kern verspricht, das sind, was die Identität herzustellen sucht: Das Individuum kann keine Gleichheit der Selbigkeit generieren, sondern bleibt in Prozessen gefangen, die auf diese Ganzheit verweisen, ohne sie zu erfüllen. In dieser Unerfüllbarkeit liegt das Potential, das zur Sprache kommen zu lassen, was sonst ausgeschlossen wird: die dissonanten Seiten, die nicht ins Selbstbild einzuebnen sind. Dies ergibt sich aus den beiden miteinander verschränkten Prozessen der Identifikation einer futurischen Projektion und einer retrospektiven Erinnerung. Letztere bedingt die Erstere, wobei die Möglichkeit entsteht, dem Nichtidentischen Raum zu geben. Die Erinnerungsprozesse lassen
Vgl.: Benjamin: „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“, B-GS I, S. 611. Vgl.: Derrida: „Signatur Ereignis Kontext“, S. 304.
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Vergangenes und Gegenwärtiges neu zusammentreten, bleiben fragmentarisch und verschieben die Identifizierungen – intentional und unbewusst. Im Folgenden steht die Beantwortung der Frage im Mittelpunkt, wie die Erinnerungsprozesse an einen ganz konkreten Raum – die ehemalige DDR − die ostdeutschen Selbstbilder figurieren.
2 Ostdeutschland nach 1989 Angesichts der vorgelegten Überlegungen muss an dieser Stelle geklärt werden, wie der Begriff ‚Ostdeutschland‘ zu fassen ist. Zunächst steht das Verhältnis von Ostdeutschland zu DDR und die Frage, welche Differenzen angesichts der Zäsur 1989 festzustellen sind, im Mittelpunkt. Im Anschluss daran werden die gegenwärtigen Perspektiven auf diese beiden Begriffe aus einer erinnerungstheoretischen Perspektive thematisiert und die Frage diskutiert, ob bzw. wie ein Begriff von Post-DDR-Literatur gebildet werden muss und wie ostdeutsche Selbstbilder nach 1989 darin zu verorten sind. In einem letzten Schritt wird die Zäsur 1989 im Hinblick auf ihren globalen Einschnitt charakterisiert und der Zusammenhang zwischen der Umbruchserfahrung nach Ende des real existierenden Sozialismus und dem intertextuellen Bezug auf die Literatur der (klassischen) Moderne bestimmt.
2.1 ‚Ostdeutschland‘ und ‚die Ostdeutschen‘ In ihrem Gesprächsbuch Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein formulieren die Journalistin bzw. Schriftstellerin Jana Hensel und der Soziologe Wolfgang Engler ein Paradigma, dem sich die vorliegende Arbeit anschließt. Hensel hält dort fest: Das ist etwas, was in der Öffentlichkeit noch nicht angekommen ist, eine genaue Unterscheidung zwischen der DDR-Erfahrung und der ostdeutschen Erfahrung. Die ostdeutschen Erfahrungen beginnen eben im Jahr 1989. Davor müssen wir von der DDR-Erfahrung sprechen. Das eine lässt sich nicht blind aus dem anderen ableiten, dafür sind die beiden Räume grundsätzlich verschieden. Im Gegenteil, es gilt, sehr genau auf Kontinuitäten und Brüche zu achten.¹⁷⁵
Engler, Wolfgang / Hensel, Jana: Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein, Berlin: Aufbau 2018, S. 54 (Hervorheb. i. Orig.).
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Eine Trennung zwischen Ostdeutschland und der DDR, die gleichfalls die Bewohner dieser Chronotopoi betrifft, ist laut Hensel entlang der Umbruchssituation 1989/90 zu ziehen. Mit der Verschiebung der politischen Koordinaten geht ein neuer Erfahrungsraum einher. Diese Argumentation überzeugt, da sich allein durch den politischen Systemwechsel die Möglichkeiten grundsätzlich verschieben. Der Übergang von Diktatur zu parlamentarischer Demokratie hatte nicht nur durch die Einführung der öffentlichen Meinungsfreiheit eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Das veränderte Wirtschaftssystem zog gleichsam große Veränderungen nach sich, die in der Abschaffung der sozialen Sicherheiten des real existierenden Sozialismus und in der (damit einhergehenden) neuen Erfahrung von Arbeitslosigkeit und Armut bestanden. Es etablierte sich ein neuer Erfahrungsraum, der sich unter gänzlich neuen Bedingungen an den alten Erfahrungsraum DDR heftete.¹⁷⁶ Diese neuen Bedingungen sind es, die entscheidende Veränderungen beinhalten und es getrost zulassen, begriffliche Verschiebungen vorzunehmen. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk beantwortet die Frage, wie der Raum Ostdeutschland zu bestimmen ist, möglichst einfach: «Ostdeutschland» ist einfach zu bestimmen. Es ist erstens ein historischer Raum, den es seit 1945 nicht mehr gibt. Zweitens bilden die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen das «neue» Ostdeutschland; so ist zuweilen auch bereits die DDR genannt worden (oder «Zone»).¹⁷⁷
Mit seiner Beschreibung eröffnet Kowalczuk mehrere Dimensionen des Diskurses um Ostdeutschland: zunächst eine historische Dimension, welche die Bezeichnung Ostdeutschland eigentlich als inkorrekt anzeigt. Mit Ostdeutschland bezeichnete man (und in einige politisch konservativen bis rechtsradikalen Kreisen blieb Diskurs erhalten) vor der Gründung der beiden deutschen Staaten die Gebiete Ostpreußens, Pommerns und Schlesiens, die infolge des Zweiten Weltkrieges zu Teilen der Volksrepublik Polen bzw. der ČSSR wurden. Das Gebiet, auf dem die DDR gegründet wurde, wurde in diesem Diskurs als Mitteldeutschland bezeichnet. Die historische Dimension verdeutlicht überdies, warum die Rede von einer ‚Wiedervereinigung‘ problematisch ist. Denn dadurch wird insinuiert, dass mit dem politischen Umbruch etwas zusammengefügt wird, was so schon einmal eine Einheit darstellte.¹⁷⁸ Zum anderen bildet Ostdeutschland − vor allem im
Vgl.: Engler, Wolfgang: Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin: Aufbau 2004, S. 32. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München: C.H. Beck 2019, S. 84. Besonders augenfällig wird dies an dem Willy Brandt zugeschriebenen Satz »Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.« Brandt ließ diesen Satz nach seiner Rede vor dem Schöne-
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sprachlichen Diskurs nach 1989 − das, was unter dem Signum Neue Bundesländer fungiert. Ist der Raum noch relativ einfach beschreibbar, ist dies für ‚die Ostdeutschen‘ ungleich schwieriger. Sind es diejenigen, die im Gebiet der ehemaligen DDR leben? Was ist dann mit den Menschen, die vor oder nach 1989 in die BRD übersiedelten bzw. nach Westdeutschland zogen? Sind es diejenigen, die aus der DDR stammen? Und was ist dann mit jenen, die nach 1989 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR geboren wurden? Wie schon diese Fragen deutlich machen, muss man Kowalczuk zustimmen, wenn dieser festhält, dass jede Bestimmung der Ostdeutschen (wie die einer jeden Gruppe) eine Konstruktion sei, „die oft weniger über die angebliche Gruppenmitglieder, aber viel über die Konstrukteure sagt.“¹⁷⁹ Der Journalist Christoph Dieckmann hat 1999 in seinem Buch Das wahre Leben im falschen. Geschichten von ostdeutscher Identität eine pragmatische Lösung gewählt, wenn er ostdeutsche Identität als ein Chamäleon beschreibt: Wir wollen versuchen ein Chamäleon zu fangen: die sogenannte Ost-Identität. Mit der großgeschichtlichen Betrachtung ist da wenig zu machen. Die Ost-Identität hat ihre Großgeschichte glücklich hinter sich und darin gelernt, sich nach Echsenart zu verhalten. Sie entschlüpft. Sie verwahrt sich gegen westliche Dominanz. Sie wechselt die Farbe. Sie kann sich heimatkundlich geben, kerndeutsch, sozialistisch oder einfach stur. Sie liest in der Gauck-Behörde Stasi-Akten und wählt die PDS. Sie läßt Manfred Stolpe meine Brandenburger sagen und sich wundern, daß sich diese Seinen trotz seines Befehls nicht mit Berlin verehelichen mögen, vor allem nicht mit Westberlin.¹⁸⁰
Dieckmann macht deutlich, dass jeder Versuch einer vereinheitlichenden Konzeption aufgrund differierender politischer Meinungen zum Scheitern verurteilt ist. Ost-Identität, wie Dieckmann es nennt, also die Bestimmung, wer Ostdeutsche sind, tritt als ein Chamäleon auf, das flexibel anpassbar in unterschiedlichen Momenten ist. Der einzige gemeinsame Nenner, den Dieckmann benennt, ist der „Mauerfall“, der „das Chamäleon Ost-Identität“¹⁸¹ geschaffen hat. Diese journalistische Beschreibung überschneidet sich mit den Diagnosen von Historikern und Soziologen unterschiedlichster methodischer, theoretischer und politischer Provenienz insofern, als dass vielfach festgestellt wird, dass für die Zuschreibungen ‚Ostdeutschland‘ und ‚Ostdeutsch‘ der historische Bruch
berger Rathaus im Nachhinein ins Redemanuskript aufnehmen, ohne ihn tatsächlich gesagt zu haben. Kowalczuk: Die Übernahme, S. 85. Dieckmann, Christoph: Das wahre Leben im falschen. Geschichten von ostdeutscher Identität, Berlin: Ch. Links 1999, S. 48 (Hervorheb. i. Orig.). Dieckmann: Das wahre Leben im falschen, S. 56.
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1989/90 als Ursprung zu verstehen ist.¹⁸² Der eingangs erwähnte Wolfgang Engler spricht in diesem Kontext von einem „ostdeutschen Idiom“¹⁸³, das sich als eine Kontinuität von der DDR in die Berliner Republik zieht, aber durch den Umbruch des politischen Systemwechsels geprägt wurde. Paradigmatisch hält er fest: „Schon für die DDR-Zeit keine realitätsfremde Konstruktion, formierten sich die Ostdeutschen nach dem Systemwechsel zu einer wohlunterscheidbaren Überlebenseinheit. Aus den Ostdeutschen an sich wurden die Ostdeutschen für sich.“¹⁸⁴ Das Ostdeutsch-Sein wird bei Engler zu einer Tatsache, die qua der sich verändernden politischen und gesellschaftlichen Kontexte zu Bewusstsein kommen kann. Dieses Bewusstsein knüpft laut Engler an eine existierende Tradition an, die grundlegend transformiert wurde: „[D]ie ostdeutsche Identität [wurde; M.K.] nicht erst mit und nach der Wende erfunden, schon gar nicht aus freien Stücken; sie wurde vielmehr zugleich erfunden und entdeckt; d. h. geschöpft.“¹⁸⁵ Engler verbindet in seiner Konzeption Bruch und Kontinuität und zeigt in dieser Verbindung die ostdeutsche Sondersituation im Verhältnis zu den weiteren Staaten des Ostblocks.¹⁸⁶ Gerade mit Blick auf die Literatur – sowie auf gesellschaftliche Transformationsprozesse − muss betont werden, dass 1989/90 als eine Chiffre zu verstehen ist.¹⁸⁷ Der historische Einschnitt wird vornehmlich in der Rekonstruktion deutlich. Sicher wurde der politische Systemwechsel von den Zeitgenossen als drastisch empfunden, die konkreten Auswirkungen zeigten sich allerdings erst in seiner
Vgl. hierzu aus soziologischer Perspektive: Ahbe, Thomas: „Die Konstruktion der Ostdeutschen. Diskursive Spannungen, Stereotype und Identitäten seit 1989“, Aus Politik und Zeitgeschichte 41/42 (2004), S. 12– 22; Kollmorgen, Raj: Ostdeutschland. Beobachtungen einer Übergangs- und Teilgesellschaft, Wiesbaden: VS 2005, S. 176; Bergem: Identitätsformationen in Deutschland, S. 180; Kubiak, Daniel: „Socialization, Downgrading and Othering: The Formation of Identity of Young ‚East Germans‘“, in: Ehrig, Stephan / Thomas, Marcel / Zell David (Hrsg.): The GDR Today. New Interdisciplinary Approaches to East German History, Memory and Culture, Oxford / New York: Peter Lang 2018, S. 195 – 213. Aus historischer Perspektive, vgl.: Kowalczuk: Die Übernahme, S. 88; Schroeder, Klaus: Das neue Deutschland. Warum nicht zusammenwächst, was zusammengehört, Berlin: WJS 2010, S. 63. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, vgl.: Schwarz, Peter Paul: „‚Nimm und Lies‘ − Das ‚Ostdeutsche‘ als Rezeptionsphänomen“, in: Chilese, Viviana / Galli, Matteo (Hrsg.): Im Osten geht die Sonne auf? Tendenzen neuerer ostdeutscher Literatur, Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 29 – 45, hier S. 30. Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, S. 19. Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, S. 22 (Hervorheb. i. Orig.). Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, S. 22. Vgl.: Engler, Wolfgang: Die zivilisatorische Lücke. Versuche über den Staatssozialismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 75, 147 ff. Vgl.: Sabrow, Martin: „‚1989‘ als Erzählung“, Aus Politik und Zeitgeschichte 35 – 37 (2019), S. 25 – 33, hier S. 25.
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Folge. So beschreibt Sabrow die Entwicklung der Bewertung von 1989, von „einem glückliche[n] Abschluss eines ‚kurzen‘ 20. Jahrhunderts“ hin zu einem „problembehaftete[n] Anfang eines ‚langen‘ 21. Jahrhunderts.“¹⁸⁸ Aus diesem Grund ist Stephan Pabst zuzustimmen, der in seiner Studie Post-Ost-Moderne den Begriff des Systemwechsels vorschlägt, um politisch aufgeladenen Beschreibungen wie ‚Wende‘ u. ä. zu entgehen: Hier wird […] dem Begriff ›Systemwechsel‹ der Vorzug gegeben. Er ist offener gegenüber der zeitlichen Ausdehnung der für die Literatur relevanten Veränderungsprozesse, geht davon aus, dass sich diese Prozesse in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen, auf unterschiedlichen symbolischen und diskursiven Ebenen unterschiedlich und vor allem in unterschiedlichen Geschwindigkeiten abspielen und nimmt an, dass systemische Veränderungen von literarischen Texten nicht zum Thema gemacht werden müssen, um Einfluss auf ihre Form zu haben.¹⁸⁹
Pabst konzipiert den Systemwechsel als einen Prozess, der seinen Ausgang 1989 mit dem politischen Umbruch nimmt, dessen Verlauf nicht als abgeschlossen verstanden werden kann und der deshalb eine Bewegung markiert, von der sich ostdeutsche Subjektivitäten affiziert zeigen.
2.2 Perspektiven durch Erinnerung – Gedächtnis und Literatur DDR und Ostdeutschland zwischen kulturellem und kommunikativen Gedächtnis Als Begründer des Konzeptes eines kollektiven Gedächtnisses darf der französische Philosoph und Soziologe Maurice Halbwachs gelten. Der Bergson-Schüler entwickelte in seinem 1939 publizierten Werk Das kollektive Gedächtnis ein Konzept sozialer Aushandlung von Erinnerungen. Der Terminus kollektives Gedächtnis fungiert vor allem als Metapher: Erinnerungen finden in einem Raum kollektiver Praktiken der Kommunikation statt. Die Erinnerungen sind durch den performativen Zugriff der Kommunikation abhängig von den Kontexten, in denen Erinnerung stattfindet. Durch die Milieu- und Klassenzugehörigkeiten ist ein Rahmen vorhanden, der die Möglichkeiten von Narrativen grundlegend vorstrukturiert. In Halbwachs Konzeption bleibt das Individuum Träger eines Gedächtnisses, das durch Erinnerungen reaktiviert wird, aber stets kollektiv und
Sabrow: „‚1989‘ als Erzählung“, S. 33. Pabst: Post-Ost-Moderne, S. 20.
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sozial strukturiert ist.¹⁹⁰ Dieser sozialkonstruktivistische Ansatz führt dazu, dass Erinnerungen, die durch Kommunikation wieder ins kollektive Gedächtnis zurückwirken und dieses modifizieren, kein Abbild von Realität sind, sondern das Erinnerte beständig transformieren: Es ist wahr, daß oft jene Bilder, die uns durch unsere Umwelt aufgedrängt werden, den Eindruck modifizieren, den wir von einem früheren Ereignis, von einem ehemals gekannten Menschen zurückbehalten können. Es kann sein, daß diese Bilder die Vergangenheit ungenau wiedergeben und daß die Spur von Erinnerung, die wir selber daran hatten, der Wirklichkeit weit mehr entsprach: einigen wirklichen Erinnerungen wird auf diese Weise eine kompakte Masse fiktiver Erinnerungen beigefügt.¹⁹¹
Diese inzwischen zu Binsenweisheiten der Kulturwissenschaft geronnenen Erkenntnisse wurden im deutschen Sprachraum durch die Weiterentwicklungen von Jan und Aleida Assmann seit den frühen 1990er Jahren bekannt. Jan Assmann beschreibt im Anschluss an Halbwachs das Gedächtnis als ein sozial determiniertes Konzept.¹⁹² Er führt die Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis ein, die in einem zeitlichen Bezug zueinander stehen, sich allerdings in unterschiedlichen Funktionsweisen ausdrücken. Das kommunikative Gedächtnis ist stärker an die erinnernden Individuen gebunden, die sich in kommunikativen Praxen zueinander verhalten und erstreckt sich auf eine Dauer von drei bis vier Generationen (ca. 80 Jahre).¹⁹³ Harald Welzer hat in Das kommunikative Gedächtnis diese Praxen und die zugehörigen Ausprägungen des kommunikativen Gedächtnisses für das Individuum untersucht, die er wie Halbwachs und Assmann als stets sozial determiniert beschreibt¹⁹⁴ und als ein „Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft“¹⁹⁵ charakterisiert. Über Aushandlungsprozesse sedimentieren sich aus dem kommunikativen Gedächtnis hervorgehend dominante Narrationen, die kanonisch werden und das kulturelle Gedächtnis bilden: Das kulturelle Gedächtnis, im Unterschied zum kommunikativen, ist eine Sache institutionalisierter Mnemotechnik. Das kulturelle Gedächtnis richtet sich auf Fixpunkte in der Ver-
Vgl.: Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, übers. von Holde Lhoest-Offermann, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1985, S. 31. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, S. 4. Vgl.: Assmann, Jan: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“, in: Ders. / Hölscher, Tonio (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 9 – 19, hier S. 9 f. Vgl.: Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 50 f. Vgl.: Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München: C.H. Beck 2005, S. 30. Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 14.
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gangenheit. Auch in ihm vermag sich Vergangenheit nicht als solche zu erhalten. Vergangenheit gerinnt hier vielmehr zu symbolischen Figuren, an die sich die Erinnerung heftet.¹⁹⁶
Dieses geronnene Reservoir kultureller Erinnerung ist deutlich statischer als das widerstreitende kommunikative Gedächtnis, unterliegt aber trotzdem einem kulturellen Wandel. Es wird am Leben erhalten, durch die Erinnerungsfiguren, die sich aus „kulturelle[r] Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und institutionalisierte[r] Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung)“¹⁹⁷ zusammensetzen. Die Frage, was eine Gesellschaft durch Ausagieren virulent hält, ist historisch variabel und (beispielweise) von politischen Diskursen abhängig. Was Assmann als „kulturelle Identität“¹⁹⁸ bezeichnet, wird durch diese Tatsache fluidisiert. Die in dieser Arbeit vorgeschlagenen Prozesse von Identifizierungen zeigen Übereinstimmungen mit den Überlegungen Assmanns. Das Verwerfen oder Wiederbeleben bestimmter Wissensbestände präformiert maßgeblich die Möglichkeit für rekonstruktive Identifizierungen, deren Gehalt abhängig von gesellschaftlich dominanten Diskursen fortwährend in Bewegung gerät. Für die Erinnerungen an die DDR, die einen wesentlichen Bezugspunkt für ostdeutsche Selbstbilder bieten, verhalten sich die rekonstruktiven Verfahren noch komplexer. Denn die Praxen der kommunikativen und der kulturellen Erinnerung überschneiden sich schon deutlich vor Ablauf der von Assmann festgelegten 80 Jahre. Aus diesem Grund hat Martin Sabrow die Differenzierung der Erinnerung an die DDR vorgelegt. Der ehemalige Vorsitzende der Expertenkommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur teilt das kollektive Gedächtnis in drei Erinnerungsräume ein. Er geht von einer Traditionslinie zu drei Gedächtnisformen, die vor 1989 Perspektiven auf die DDR eingenommen haben, aus. Die erste dieser vor 1989 dominanten Formen ist das Traditionsgedächtnis. Sie ist vor allem in der DDR selbst zu verorten und nahm dort die Funktion eines „herrschaftslegitimatorische[n] Traditionsgedächtnis[ses]“¹⁹⁹ ein. Im Kontrast zu diesem von der SED-Führung verankerten und propagierten Konzept bildeten sich zwei Formen der Erinnerung aus, die im historischen Prozess unterschiedliche Dominanz erreichten und trotzdem nebeneinander existierten und infolge unterschiedlicher historischer Ereignisse ihre Intensität erhöhten: das Empörungsgedächtnis, das vor allem „[…] das Bewusstsein vom Unrechtscharakter der DDR wachhalten
Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 52 (Hervorheb. i. Orig.). Assmann: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“, S. 12. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 134. Vgl. auch: Assmann: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“, S. 11 f. Sabrow, Martin: „Die DDR erinnern“, in: Ders. (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR, München: C.H. Beck 2009, S. 11– 27, hier S. 16.
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wollte.“²⁰⁰ Die vor allem in den frühen Jahren der BRD (maßgeblich durch den 17. Juni 1953 initiierte) vorherrschende Konzeption wurde durch die veränderte Politik der Brandt-Regierung sowie durch „[d]as vager werdende Wissen um die ostdeutsche Entwicklungsgeschichte, dem zudem seine biographischen Bezüge mehr und mehr abhanden kamen […]“²⁰¹, zusehends verändert. Sabrow bezeichnet dieses dritte Erinnerungsnarrativ als Akzeptanzgedächtnis, da es seinen Fokus auf die Parallelität der Existenz von DDR und BRD legte. Die drei neuen Formen des Gedächtnisses sind im Verhältnis zu den älteren von Brüchen und Verschiebungen geprägt. Es lassen sich aber Kontinuitäten erkennen, die durch die Perspektiven, von denen aus diese erzählt werden, besondere Bedeutung erlangen. Die wohl bekannteste (weil offensichtlichste) Form nach 1989 ist das öffentliche Diktaturgedächtnis. Dort herrscht eine starke Fokussierung auf den „Täter-Opfer-Gegensatz“ vor, die Sabrow wie folgt zusammenfasst: „Die diktaturzentrierte Erinnerung widmet ihre Aufmerksamkeit vorrangig dem Macht- und Repressionsapparat des kommunistischen Regimes, und sie pocht darauf, dass zum Verständnis der DDR die Stasi wichtiger sei als die Kinderkrippe.“²⁰² Dieser Erinnerungsraum wird durch die institutionalisierte und staatlich geförderte Bildung unterstützt. Es sind die schulische Ausbildung sowie die musealen Darstellungsräume zu nennen; man denke an die bekanntesten staatlichen musealen Einrichtungen zum Thema DDR: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße und Gedenkstätte Berliner Mauer (Bernauer Straße). Die staatlichen Gedenktage, deren Intensität durch das 20-, 25- und 30-jährige Jubiläum der ‚Wende‘/‚Wiedervereinigung‘ (2009/2010, 2014/2015 sowie 2019/2020) neue mediale Dimensionen erreicht hat, sind zu erwähnen. Am bemerkenswertesten an dieser Form der Gedächtnisausprägung ist, dass sich zwei Perspektiven vereinigen: Die der DDRDissidenten und Dissidentinnen²⁰³ und ein ‚westdeutscher Blick‘ auf die DDR.²⁰⁴ Thomas Ahbe hat beispielsweise nachgewiesen, wie in der medialen Aufbereitung immer noch die negative Darstellung der DDR, die oftmals im Versuch mündet,
Sabrow: „Die DDR erinnern“, S. 17. Sabrow: „Die DDR erinnern“, S. 17. Sabrow: „Die DDR erinnern“, S. 18. Vgl.: Ahbe, Thomas: „Die ostdeutsche Erinnerung als Eisberg. Soziologische und diskursanalytische Befunde nach 20 Jahren staatlicher Einheit“, in: Goudin-Steinmann, Elisa / HähnelMesnard, Carola (Hrsg.): Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989. Narrative kultureller Identität, Berlin: Frank & Timme 2013, S. 27– 58, hier S. 50. Vgl.: Meyen, Michael: „Wir haben freier gelebt“. Die DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, Bielefeld: Transcript 2013, S. 25 f.
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Äquivalenzbeziehungen zum Nationalsozialismus herzustellen, dominiert.²⁰⁵ Solche Vorgänge werden durch die Tatsache intensiviert, dass die mediale Landschaft durch personelle Umstrukturierungen seit den frühen 1990er Jahren wesentlich westdeutsch dominiert war und dementsprechend westdeutsche Perspektiven auf die DDR sogar im Gebiet der sogenannten neuen Bundesländer eine mediale Hegemonie erhielten.²⁰⁶ Der zweite Erinnerungsraum ist das Arrangementgedächtnis. Dieses ist im Unterschied zum Diktaturgedächtnis ungleich schwerer konzeptionell zu fassen: Dies ist ein in Ostdeutschland bis heute vielfach dominantes Arrangementgedächtnis, das vom richtigen Leben im falschen weiß und die Mühe des Auskommens mit einer mehrheitlich vielleicht nicht gewollten, aber doch als unabänderlich anerkannten oder für selbstverständliche Normalität gehaltene Parteiherrschaft in der Erinnerung hält.²⁰⁷
Obwohl es kollektiv ähnliche Strukturen gibt, ist dieses Gedächtnis vornehmlich in individuellen Narrationen zu finden. Es ist nicht institutionalisiert und erzählt von den Aushandlungsprozessen zwischen alltäglichem Widerstand und ‚Überleben‘ im real existierenden Sozialismus. Die Verknüpfung des Alltags mit der staatlich kontrollierten Sphäre versucht die ständigen Aushandlungen darzustellen, derer sich die ehemaligen DDR-Bürger angesichts eines täglichen Lebens erinnern. Die Erinnerungen sind fortwährenden individuellen und changierenden Bewertungen unterworfen, sodass das Anstehen vor dem Konsum-Markt zugleich Mangelwirtschaft und Zusammenhalt über den gemeinsamen kommunikativen Austausch mit den Nachbarn symbolisieren kann. Diese Form der Erinnerung hat ihren Niederschlag zudem in einem weitreichenden Feld: Der Familienerzählung. So ist aus soziologischer Perspektive darauf hingewiesen worden, dass insbesondere für die ‚Nachwendegeneration‘ (um 1990 geborene Jahrgänge) die Positionierung als ost- oder westdeutsch weiterhin eine starke Bedeutung hat. Die Identifizierung als ‚ostdeutsch‘ verläuft über familiäre Erinnerungsnarrationen, die diese Gruppe ohne das faktische Erleben trotzdem an die DDR bindet.²⁰⁸
Vgl.: Ahbe: „Die ostdeutsche Erinnerung als Eisberg“, S. 40 f. Vgl.: Ahbe, Thomas: „Die diskursive Konstruktion Ostdeutschlands und der Ostdeutschen seit dem Beitritt der DDR. Medienbilder, Ostalgie und Geschichtspolitik − ein Überblick“, in: Dettmar, Ute / Oetken, Mareile (Hrsg.): Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend‐) Literatur und Medien, Heidelberg: Winter 2010, S. 97– 124, hier S. 101. Sabrow: „Die DDR erinnern“, S. 19. Vgl.: Haag, Hanna: „Nachwendekinder zwischen Familiengedächtnis und öffentlichem DDR-Diskurs“, in: Goudin-Steinmann, Elisa / Hähnel-Mesnard, Carola (Hrsg.): Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989. Narrative kultureller Identität, Berlin: Frank & Timme 2013, S. 59 – 78, hier S. 59 ff. Vgl. auch die Publikation von Johannes Nichelmann, der in seinem jour-
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Die dritte Form betitelt Sabrow als Fortschrittgedächtnis. Sie beschreibt einen Raum, der von einer besonderen Gruppe in Anspruch genommen wird: Es [das Fortschrittgedächtnis; M.K.] baut seine Erinnerungen auf der vermeintlichen moralischen und politischen Gleichrangigkeit der beiden deutschen Staaten auf, die zu friedlicher Koexistenz und gegenseitiger Anerkennung geführt hätten, wenn die Fehler der DDR-Führung, die Ungunst der Umstände oder die Machinationen des Westens nicht zur endgültigen oder nur vorläufigen Niederlage des sozialistischen Zukunftsentwurfs geführt hätten.²⁰⁹
Ähnlich wie bei der Kontinuität vom Empörungs- zum Diktaturgedächtnis, ist die Herkunft aus dem Traditionsgedächtnis deutlich. Daher wird es von einer bestimmten Form der intellektuellen Elite und einiger Anhänger links-politischer Gruppen genutzt. Ahbe schlägt im Anschluss an die Typologie Sabrows vor, diese mit dem oft verwendeten Begriff Ostalgie zu verbinden. Er klassifiziert vier Gruppen der Ostalgie, die sich unterschiedlich an die Erinnerungsräume anpassen: Ostalgie manifestiert sich an vier Ebenen. Erstens zeigt sie sich als unkritische DDR-Nostalgie. Zweitens ist sie ein ostdeutscher Laien-Diskurs […] zur Selbstvergewisserung im vereinigten Deutschland. Drittens wird bisweilen auch der professionelle, aber marginalisierte Gegen-Diskurs, der eine andere Art der Aufarbeitung der DDR und ostdeutscher Erfahrung anstrebt, als Ostalgie bezeichnet. Viertens schließlich hat sich Ostalgie als ein Geschäftsfeld der ‚Ampelmännchen-Industrie‘ etabliert.²¹⁰
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass der Diskurs über ‚Ostdeutschland‘ „noch keine eindeutig markierte Position im kulturellen Gedächtnis gefunden“²¹¹ hat. Die Diskursstränge existieren derzeit nebeneinander und überlappen sich. Die zunehmende Historisierung der DDR, die mediale Aufbereitung, die museale Bearbeitung bei gleichzeitig weiterhin starker Dominanz individueller Narration (beispielsweise im familiären Rahmen) positionieren die Erinnerung am Bruch zwischen dem kommunikativen und kulturellen Gedächtnis Assmann’scher Prägung: Es sind freilich keineswegs nur die materiellen Überreste, die das Bild von der untergegangenen DDR in der Gegenwart prägen. Noch viel einflussreicher sind die Vorstellungen,
nalistisch geprägten Buch dieser Frage und der kommunikativen Aushandlung des Rückbezuges anhand einzelner Biographien nachspürt: Nichelmann, Johannes: Nachwendekinder. Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen, Berlin: Ullstein 2019. Sabrow: „Die DDR erinnern“, S. 19. Ahbe: „Die ostdeutsche Erinnerung als Eisberg“, S. 44. Sabrow: „Die DDR erinnern“, S. 15.
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die im Rückblick erzeugt werden. Der zweite deutsche Staat präsentiert sich Jahrzehnte nach seinem Untergang in einer Flut von Bildern und Begriffen, Daten und Symbolen, die als Platzanweiser des historischen Gedächtnisses fungieren.²¹²
Die mediale Verarbeitung in Form von Literatur wird im Anschluss Thema sein, zunächst muss aber auf einen anderen Aspekt verwiesen werden: Der prominent verhandelte Aufsatz Sabrows stellt die Einleitung zum Band Erinnerungsorte der DDR dar. Das Konzept der Erinnerungsorte, mit dem explizit an die französische Tradition der lieux de mémoire angeknüpft wird,²¹³ zeigt die Aushandlungsräume der unterschiedlichen Perspektiven auf die DDR: Sie [die Beschäftigung mit Erinnerungsorten; M.K.] setzt sich nicht zum Ziel, die gängigen Vorstellungen von historischer Wirklichkeit in der DDR zu überprüfen, sondern will vielmehr die Wirklichkeit dieser Vorstellung untersuchen. Sie richtet sich weniger auf die wissenschaftliche Erkenntniswahrheit als auf die (teil)gesellschaftliche Geltungswahrheit historischer Überlieferungen und interessiert sich für die Vielschichtigkeit und Wandelbarkeit der Denkmuster, in denen die DDR-Vergangenheit in unserer Gegenwart aufscheint.²¹⁴
Die Punkte des kollektiven Gedächtnisses bewegen sich zwischen dem institutionalisierten Diktaturgedächtnis, das tendenziell dem kulturellen Gedächtnis zugerechnet werden kann, und Formen von Ostalgie, vornehmlich des Arrangementgedächtnisses. Die Orte sind nicht als tatsächliche topographische Konkretisierungen zu verstehen – obwohl diese vorkommen (Mauer, Westberlin, die Universitätskirche Leipzig etc.) –, sondern stellen einen Raum dar, in dem sich diskursive Formationen langsam ausbilden. Es werden bestimmte Erzählungen über die DDR dominant und fungieren schließlich als Kristallisationspunkte für jene Narrative und Bilder, die sich von der DDR sedimentieren. Von historiographischer und institutioneller Seite ist namentlich durch das Votum der Expertenkommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur unter der Leitung Sabrows Kritik an den Formen des kulturellen Gedächtnisses zur DDR aufgekommen. So betonte die Kommission noch 2007 die blinden Flecken des Diskurses, die sich trotz dieser Intervention teilweise ungebrochen bis heute fortsetzen: Die fehlende westdeutsche Wahrnehmung der ostdeutschen als gesamtdeutscher Geschichte, Trivialisierung der Diktaturerfahrung, fehlende Finanzierung und Professionalisierung bei der DDR-Darstellung, fehlende Schulausbildung, fehlende Pla-
Sabrow: „Die DDR erinnern“, S. 12. Vgl.: Sabrow: „Die DDR erinnern“, S. 22 f. Sabrow: „Die DDR erinnern“., S. 25.
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III Theoretische Zugänge
nungsstrategie und die Dominanz der Darstellung von staatlicher Repression gegenüber anderen Erscheinungsformen des Lebens in der DDR.²¹⁵
Post-DDR-Literatur Bereits vor 1989 ist in der Literaturwissenschaft die Debatte darum entbrannt, ob es eine DDR-Literatur gäbe und wie diese zu konzeptualisieren sei.²¹⁶ Insbesondere infolge der Jubiläumsjahre 2009/10 und 2014/15 hat die Diskussion eine neue Intensität erlebt. Die dominanten Fragen, die sich die Autoren und Autorinnen verschiedener (vornehmlich aus Konferenzen hervorgegangener) Sammelbände stellen, sind folgende: Gab es eine DDR-Literatur? Wer ist dieser zuzurechnen? Ist nach 1989 weiterhin von einer DDR-Literatur zu sprechen? Gibt es eine Literatur oder gar Sprache der ‚Wende‘? Gibt es eine Post-DDR-Literatur und was sind Bedingungen, unter denen Schreibende dieser zugerechnet werden? Die ersten vier Fragen werden unterschiedlich beantwortet, wobei eine Dominanz eines generationellen Schemas festzustellen ist, das mit der unterschiedlichen Sozialisation von Schreibenden (abhängig von ihrem Geburtsjahr) operiert.²¹⁷ Wolfgang Emmerich hat sich um diese Forschung mit seiner Kleinen Literaturgeschichte der DDR und mit verschiedenen Aufsätzen verdient gemacht, in welchen er unter anderem die Veränderungen der Forschung zur DDR-Literatur nach 1989 skizziert.²¹⁸ Insgesamt kann festgestellt werden, dass die meist biographisch argu-
Vgl.: Sabrow, Martin u. a. (Hrsg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 20 f. Zu der Debatte vor 1989 vgl. z. B. die Zusammenfassung im Beitrag von Ludwig und Meuser: Ludwig, Janine / Meuser, Mirjam: „‚In diesem besseren Land‘. Die Geschichte der DDR-Literatur in vier Generationen engagierter Literatur“, in: Dies, (Hrsg.): Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland. Bd. 1, Freiburg: Fördergemeinschaft Wissenschaftlicher Publikationen von Frauen 2009, S. 11– 71, hier S. 16 – 20. Vgl. hierzu insbesondere die Einleitungen der beiden Sammelbände von Ludwig und Meuser, die dieses generationelle Schema an die Frage eines doppelten Engagements (von engagieren und engagiert werden) der Schreibenden koppeln,vgl.: Ludwig/Meuser: „Die Geschichte der DDRLiteratur in vier Generationen engagierter Literatur“; Ludwig, Janine / Meuser, Mirjam: „In den Kämpfen dieser Zeit. Die DDR-Literatur als Epoche literarischen Engagements und die Folgen des Umbruchs 1989/90 im literaturhistorischen Überblick“, in: Dies (Hrsg.): Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland. Bd. 2, Eschborn: Fördergemeinschaft Wiss. Publikationen von Frauen 2014, S. 15 – 85. So beispielsweise im Beitrag Zwischen Chrontopos und Drittem Raum, in dem Emmerich konstatiert, dass die Forschung sich vornehmlich auf einzelne Schreibende, die Überwachungsthematik und die Wendethematik kapriziert, während umfassende Darstellungen oder avancierte theoretische Konzeptualisierungen ein Desiderat der Forschung bleiben, vgl.: Emmerich, Wolfgang: „Zwischen Chronotopos und Drittem Raum. Wie schreibt man die Geschichte des
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mentierende Forschung einem Interesse folgt, ihrem Gegenstand in literaturwissenschaftlichen Debatten Gehör zu verschaffen. Im Anschluss an die Debatten zur DDR-Literatur wurden für die Post-DDRLiteratur die gleichen Fragen gestellt: Gibt es eine ostdeutsche Literatur nach 1989 und wie ist diese zu konzeptualisieren? Die Beantwortungen dieser Fragen sind für eine Konzeptualisierung ostdeutscher Selbstbilder in literarischen Texten nach 1989 durchaus von Erkenntnisinteresse, da so die Thematisierung der Zäsur 1989/90 für die Literatur in den Blick genommen wird. Es werden nun einige Überlegungen vorgestellt, ehe als Ergänzung zu der vorliegenden Forschung textinterne Merkmale einer ostdeutschen Literatur nach 1989 benannt werden. Ein Teil literaturwissenschaftlicher Forschung hat sich den Themen Bruch und Tradition bei DDR-Literaten zugewandt. Der Fokus dieser Arbeiten liegt vornehmlich auf der Frage, ob und inwiefern sich Schreiben nach und vor allem durch 1989 verändert hat.²¹⁹ Eher thematisch orientierte Versuche argumentieren, dass sich eine Literatur nach 1989 durch einen ‚Kampf‘ um eine richtige Erinnerung auszeichnet.²²⁰ Lüdeker und Orth haben in ihrem gleichnamigen Sammelband den Begriff der Nach-Wende-Narration vorgeschlagen: Im Gegensatz zu Wende-Narrationen sind Nach-Wende-Narrationen davon geprägt, dass die konkreten historischen Ereignisse des Mauerfalls oder der Wiedervereinigung zwar als Bezugspunkte fungieren, aber nicht zwangsläufig Teil des Handlungszeitraums sein müssen. […] Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass das wiedervereinigte Deutschland thematisiert wird: Nach-Wende-Narrationen sind nicht nur nach der Wende erschienen, sondern handeln in der Regel auch explizit von der Zeit nach der Wende.“²²¹
Dass Unterscheidungen zwischen Wende- und Nach-Wende-Narrationen problematisch sind, zeigt sich in der obsessiven Suche der Literaturlandschaft nach dem sogenannten ‚Wenderoman‘; ein Phänomen, das (neben dem Feuilleton) auch die
literarischen Feldes der DDR?“, in: Eke, Norbert Otto (Hrsg.): „Nach der Mauer der Abgrund“? (Wieder‐)Annäherungen an die DDR-Literatur, Amsterdam / New York: Rodopi 2013, S. 43 – 64, hier S. 45 ff. Vgl. hierzu exemplarisch: Brüns: Nach dem Mauerfall; Helbig, Holger (Hrsg.): Weiterschreiben. Zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR, Berlin: Akademie Verlag 2007; Pabst: PostOst-Moderne. Vgl.: Eke, Norbert Otto: „‚Nach der Mauer der Abgrund?‘ (Wieder‐)Annährungen an die DDRLiteratur“, in: Ders. (Hrsg.): „Nach der Mauer der Abgrund“? (Wieder‐)Annäherungen an die DDRLiteratur, Amsterdam / New York: Rodopi 2013, S. 7– 25, hier S. 14 f. Lüdeker, Gerhard Jens / Orth, Dominik: „Zwischen Archiv, Erinnerung und Identitätsstiftung. Zum Begriff und zur Bedeutung von Nach-Wende-Narrationen“, in: Dies. (Hrsg.): Nach-WendeNarrationen. Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film, Göttingen: V&R Unipress 2010, S. 7– 17, hier S. 8.
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Literaturwissenschaft umgetrieben hat.²²² Pragmatisch definieren Chilese und Galli in der Einleitung ihres Sammelbandes Im Osten geht die Sonne auf die PostDDR-Literatur über vier Aspekte: Post-DDR-Literatur bzw. neuere ostdeutsche Literatur ist also ein Begriff der vielerlei bzw. viererlei mit sich trägt. Es ist a) ein geographischer Begriff: Die Autoren stammen aus dem östlichen Teil der Republik; b) ein politischer Begriff: Der östliche Teil hieß in den Jahren, als diese Autoren geboren worden sind, Deutsche Demokratische Republik; c) ein zeitlicher Begriff: Die Texte sind nach dem Ende der DDR entstanden […]; d) ein thematischer Begriff: Post-DDR-Literatur handelt in irgendeiner Weise von der DDR, als Erinnerung, als Folie, als Projektion usw.²²³
Alle Versuche der Bestimmung zeichnen sich durch ihre problematischen Seiten aus.Wenn Autoren vor dem politischen Systemwechsel geschrieben haben sollen, sind dann Ingo Schulze und Thomas Brussig keine ostdeutschen Autoren? Wenn eine Veränderung des Schreibens hinsichtlich formaler oder inhaltlicher Gestaltung entscheidend ist, sind Christa Wolf und Christoph Hein dann nicht unter diesen Terminus zu subsumieren? Ist die vollständige Sozialisation in der DDR entscheidend, wie klassifiziert man Autorinnen wie Jana Hensel und Manja Präkels, welche die DDR nur als Kinder erlebt haben? Und ist die Geburt in der DDR überhaupt entscheidend, wenn soziologische Untersuchungen zeigen, dass die Zurechnung zu Ostdeutschland in der Generation der nach 1990 geborenen weiterhin virulent ist? Michael Ostheimer hat in seiner umfangreichen Monographie Leseland. Chronotopographie der DDR- und Post-DDR-Literatur vorgeschlagen, die beiden Literaturen als durch zentrale Chronotopoi präformiert zu verstehen: Die Leithypothese dieser Studie lautet, dass sich die DDR-Literatur durch drei zentrale Chronotopoi, durch einen utopischen, einen idyllischen und einen liminalen Chronotopos,
Vgl.: Grub, Frank Thomas: ›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Ein Handbuch. Bd. 1: Untersuchungen. Bd. 2: Bibliographie, Berlin / New York: De Gruyter 2008, S. 84– 90; Zachau, Reinhard K.: „Thomas Brussigs Suche nach dem Wenderoman. Von »Helden wie wir« zu »Wie es leuchtet«“, in: Bergem, Wolfgang und Reinhard Wesel (Hrsg.): Deutschland fiktiv. Die deutsche Einheit, Teilung und Vereinigung im Spiegel von Literatur und Film, Berlin: Lit 2009, S. 131– 149. Zur Kritik an dem Begriff Wendeliteratur, vgl.: Brüns: Nach dem Mauerfall, S. 22. Zur Problematisierung der Suche nach „dem Wenderoman“ im Kontext der 90er Jahre, vgl. bei Brüns, S. 31– 35. Chilese, Viviana / Galli, Matteo: „Post-DDR-Literatur. Eine Einführung“, in: Dies. (Hrsg.): Im Osten geht die Sonne auf? Tendenzen neuerer ostdeutscher Literatur, Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 7– 12, hier S. 12.
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die Post-DDR-Literatur durch zwei maßgebliche Chronotopoi, durch einen memorialen und einen transformatorischen Chronotopos, auszeichnet²²⁴
Ostheimer argumentiert anhand des Bachtin’schen Konzeptes des Chronotopos, dass in den Texten bestimmte raum-zeitliche Verschränkungen auftreten, die sich in dieser Weise klassifizieren lassen. Die Post-DDR-Literatur versteht er von „Vergangenheitsorientierung“ und von „symbolisch-kulturellen Umcodierungsprozessen“²²⁵ geprägt. Damit nimmt Ostheimer textimmanente Merkmale als Ausgang seiner Argumentation. Dies ist für eine sinnvolle Bestimmung einer PostDDR-Literatur die produktivste Herangehensweise. Nach-Wende-Narrationen bzw. Post-DDR-Literatur müssen aus einer Positionierung der Texte definiert werden: Die Texte stehen in einem Bezug zum Gebiet Ostdeutschland oder der DDR, wobei die Handlung (nur) in der DDR, (nur) nach 1989 oder im Übergang verortet werden kann. Es kann beobachtet werden, dass viele Texte das Verhältnis von Hauptfiguren und Erzählinstanz in den Mittelpunkt setzen. Für die Texte, die nach 1989 erschienen sind und sich mit der DDR auseinandersetzen, ist eine starke Fokussierung auf die zentralen Träger der Handlung zu konstatieren.²²⁶ Es finden sich erstaunlich viele autodiegetische Erzählinstanzen, was die Fokussierung auf das Verhältnis von erinnerndem und erinnertem Ich noch einmal verstärkt; so auch in Stadt der Engel und Die Jahre im Zoo. Das Zurück-Erinnern an die Prägung in der DDR ist für viele Texte konstitutiv, selbst wenn die DDR bloß in analeptischen Rückblenden als eine Orchestrierung der Sozialisation auftaucht.²²⁷ Erinnerung als ein bestimmender Bestandteil vieler Texte verbindet sich oftmals mit einem autobiographischen Anspruch der Texte.²²⁸ Eine ähnliche Beobachtung findet sich in Emmerichs Kleine Literaturgeschichte der DDR. Emmerich beschreibt das Erscheinen von Memoiren und Au-
Ostheimer, Michael: Leseland. Chronotopographie der DDR- und Post-DDR-Literatur, Göttingen: Wallstein 2018, S. 55. Ostheimer: Leseland, S. 57. Ein prägnantes Beispiel wäre Seilers Kruso, vgl.: Seiler, Lutz: Kruso. Roman, Berlin: Suhrkamp 2014. Es können aber auch Beispiele mit einer multiperspektivischen Schreibweise gefunden werden, vgl.: Schulze, Ingo: Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz, München: Dtv 1999; Schoch, Julia: Schöne Seelen und Komplizen. Roman, München: Piper 2018. Ein besonderes Beispiel ist Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts, das ähnlich wie Tellkamps Der Turm, zwar multiperspektivisch erzählt, aber eine ganze Familie zum zentralen Träger der Handlung macht und über die Ereignisse 1989/90 hinaus reicht, vgl.: Ruge, Eugen: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Roman einer Familie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2012. Vgl.: Funk, Mirna: Winternähe. Roman, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2015; Erpenbeck, Jenny: Gehen, ging, gegangen. Roman, München: Knaus 2015. Vgl. hierzu: Löffler: Systemumbruch und Lebensgeschichte.
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tobiographien als eine zentrale Entwicklung für die Prosa des literarischen Diskurses nach 1989.²²⁹ Cambi hat treffend festgehalten, dass „die deutsche Vereinigung eine Erinnerungsarbeit begünstigt und beschleunigt hat, die [sich; M.K.] durch das Autobiographische, die fiktionale Authentizität, die Familiengeschichten und -romane“²³⁰ auszeichnet. Damit reiht sich die Post-DDR-Literatur in eine Schreibweise ein, die nicht allein die ostdeutsche Literatur betrifft, sondern den globalen literarischen Diskurs erfasst hat. Nichtsdestotrotz hat Elke Brüns darauf hingewiesen, dass gerade solche, wie die gerade aufgezählten Aspekte, dazu beitragen, literarisch überhaupt erst eine Gemeinschaft entstehen zu lassen − im ostdeutschen Schreiben ein vom Bruch gezeichnetes und im westdeutschen Schreiben eine stabile Fortsetzung des bisherigen kollektiven Selbstbildes.²³¹ Emmerich hat überdies die Aufsplitterung des Diskurses angemahnt, in dem nun verschiedene Schreibweisen kombiniert werden. Mit Blick auf die sogenannte Popliteratur hat er eine Verbindung von west- und ostdeutscher Literatur konstatiert.²³² Nagelschmidt argumentiert, dass das „Schreiben nach 1989 in Ostdeutschland […] vor allem Schreiben wider die Entortung gelebtem Lebens“²³³ ist. Mit dieser Perspektive ist es nicht verwunderlich, dass zahlreiche Beiträge der Forschungsliteratur Fragen von Selbstverortung, Selbstbildern, veränderter Subjektivität und ‚ostdeutscher Identität‘ in den Mittelpunkt der Untersuchung stel-
Vgl. hierzu: Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR, Berlin: Aufbau 2000. Emmerich sieht das autobiographische Schreiben vor allem aus der Perspektive eines Aufdeckens der (eigenen) Verwicklungen in den Stalinismus von vornehmlich in den 1920er Jahren geborenen Kommunisten. Das andere Merkmal, das Schreiben mit Blick auf die Provinz (vgl.: S. 497−498), tritt abgesehen von Schulzes Simple Storys und einigen Texten Reinhard Jirgls erst wieder im Zuge der jüngsten Diskussionen um ‚den abgehängten Osten‘ und AFD-Wahlerfolgen auch in den literarischen Diskurs ein, vgl.: Schulze: Simple Storys; Jirgl, Reinhard: Abschied von den Feinden. Roman, München: Dtv 1998. Zum letzten Aspekt, vgl.: Präkels, Manja: Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß. Roman, Berlin: Verbrecher Verlag 2017; Rietzschel, Lukas: Mit der Faust in die Welt schlagen. Roman, Berlin: Ullstein 2018. Cambi, Fabrizio: „Einleitung“, in: Ders. (Hrsg.): Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 9 – 13, hier S. 10 f. Vgl.: Brüns: Nach dem Mauerfall, S. 18 ff. Vgl.: Emmerich, Wolfgang: „Generationen − Archive − Diskurse. Wege zum Verständnis der deutschen Gegenwartsliteratur“, in: Cambi, Fabrizio (Hrsg.): Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 15 – 29. Nagelschmidt, Ilse: „Vom Stiften und Hinterfragen einer Gedächtnisgemeinschaft in Ostdeutschland nach 1989“, in: Bergem, Wolfgang / Wesel, Reinhard (Hrsg.): Deutschland fiktiv. Die deutsche Einheit, Teilung und Vereinigung im Spiegel von Literatur und Film, Berlin: Lit 2009, S. 171– 187, hier S. 177.
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len.²³⁴ In diesem Diskurs bündeln sich die aufgezählten Aspekte einer Post-DDRLiteratur. Diese ist weniger als eine Frage von einzigartigen Schreibweisen zu verstehen, deren formaler Charakter allein auf diese Literatur zutreffen würde, sondern unter Post-DDR-Literatur muss ein Geflecht von Schreibweisen und Sujets verstanden werden, die sich inhaltlich auf die DDR-Zeit oder Ostdeutschland nach 1989 beziehen. Mehrheitlich geht damit eine Auseinandersetzung zwischen dem Individuum (oder seinem direkten Bezugssystem, der Familie) unter den sich verändernden politischen Umständen einher. Die Integration verschiedener stilistischer und formaler Varianten des Schreibens, die sich völlig unterschiedlich gestalten können,²³⁵ kann ebenso beobachtet werden. Ebenfalls ist eine starke Affinität zur Verarbeitung theoretischer Texte sowie weiterer Intertexte auffindbar.²³⁶ Die intertextuellen Praxen, welche die Post-DDR-Literatur nutzt, müssen daher als eine Erinnerungsleistung verstanden werden. Renate Lachmann hat in Gedächtnis und Literatur prononcierte Vorschläge hierzu geliefert: Wenn die Literatur im folgenden unter dem Blickwinkel des Gedächtnisses betrachtet wird, erscheint sie als mnemonische Kunst par excellence, indem sie das Gedächtnis für eine Kultur stiftet; das Gedächtnis einer Kultur aufzeichnet; Gedächtnishandlung ist; sich in einem Gedächtnisraum einschreibt, der aus Texten besteht; einen Gedächtnisraum entwirft, in den die vorgängigen Texte über Stufen der Transformation aufgenommen werden. Die Texte repräsentieren das ausgelagerte materialisierte Gedächtnis, d. h. das Gedächtnis, das sich in manifesten Zeichen, im ‚äußeren‘ Schreiben materialisiert.²³⁷
Vgl. hierzu exemplarisch: Skare, Roswitha: „‚Das wahre Leben im Falschen‘. Erscheinungsformen ostdeutscher Identität in Nach-Wende-Texten“, Nordlit 5 (1999), S. 107– 130; Norkowska, Katarzyna: „Von den DDR-Bürgern zu den Ostdeutschen. Zur Konstruktion des ostdeutschen Identitätsdiskurses nach 1989“, in: Dies. / Grotek, Edyta (Hrsg.): Sprache und Identität − Philologische Einblicke, Berlin: Frank & Timme 2016, S. 67– 77; Nagelschmidt, Ilse: „Die wilden Jahre sind vorbei. Paradigmen der Identitätskonstruktion in der ostdeutschen Literatur nach 1989“, in: Geier, Andrea / Süselbeck, Jan (Hrsg.): Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generationenfragen in der Literatur seit 1990, Göttingen: Wallstein 2009, S. 102– 116; Löffler: Systemumbruch und Lebensgeschichte; Ondoa: Literatur und politische Imagination; Grub: ›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur, S. 579 – 592. Extreme Beispiele wären hier die poststrukturalistisch inspirierten Sprachspiele Reinhard Jirgls, die popliterarische Verarbeitungen Thomas Brussigs, die Avantgardelyrik Bert PapenfußGoreks und der sich an Tradition des bürgerlichen Realismus anlehnende Uwe Tellkamp, vgl.: Jirgl, Reinhard: Abtrünnig. Roman aus der nervösen Zeit, München: Dtv 2008; Brussig, Thomas: Helden wie wir. Roman, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1998; Papenfuß-Gorek, Bert: Vorwärts im Zorn u.s.w. Gedichte, Berlin: Aufbau 1990; sowie: DT. Neben Wolf und Grünbein können Jirgl und Hilbig genannt werden, vgl.: Jirgl: Abtrünnig; Hilbig, Wolfgang: Das Provisorium. Roman, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2001. Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 36 (Hervorheb. i. Orig.).
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Das Aushandeln des Gedächtnisraumes in einem intertextuellen Netz ist keine Neuerung literarischer Verfahren, sondern Lachmann argumentiert mit Blick auf Literatur in grosso modo, „daß das Gedächtnis des Textes die Intertextualität seiner Bezüge ist, die im Schreiben als einem Abschreiten des Raumes zwischen Texten entsteht.“²³⁸ Dem Verhältnis von Text zu Prätext in den drei Modellen Partizipation, Tropik und Transformation folgt nicht allein die Literatur einer Epoche, sondern Literatur ganz allgemein.²³⁹ Es ist aber auffällig, dass in der PostDDR-Literatur diese Bezüge im Wechselspiel von Erinnerung und Identifizierung der Erzählinstanz oder der Hauptfiguren geradezu ausgestellt wird. Dabei sind die intertextuellen Bezüge durchaus heterogen. Neben der erwähnten Affinität zu theoretischen bzw. philosophischen Texten gestaltet sich das intertextuelle Netz dicht: Von der Referenz auf die amerikanische Short-Story, den Briefroman und den Pikaro-Roman (alles Ingo Schulze)²⁴⁰ über die Integration popkultureller Schreibweisen (Brussig, Hensel)²⁴¹ bis hin zur Anverwandlung antiker Prätexte (Wolf, Müller, Grünbein)²⁴² finden sich viele Tradition versammelt. Besonders bemerkenswert ist, dass sich eine Häufung von Bezügen auf die Literatur der (klassischen) Moderne findet, welche gleichsam die behandelten Texte Christa Wolfs und Durs Grünbeins auszeichnet. Der Rückbezug auf literarische Texte hat unterschiedliche Funktionen (vgl. hierzu die jeweiligen Kapitel zu Wolf und Grünbein), verweist jedoch auf einen entscheidenden Faktor, der die Post-DDRLiteratur auszeichnet und der mit der Frage von ostdeutschen Selbstbildern inhärent verbunden ist: Das Schreiben nach 1989. Ein weiteres Merkmal der PostDDR-Literatur rückt damit in den Fokus der Betrachtung, wenn in den Texten vermehrt die neue (globalisierte) Welt auftaucht; sei es in Form von kosmopolitischen Ansätzen (Grünbein), von Reisen in andere Länder (Wolf) oder von Globalisierungsphänomenen in Ostdeutschland (Schulze)²⁴³. Der Systemwechsel wird als Epochenumbruch (hinsichtlich eines neuen politischen und gesellschaftlichen) Systems erlebt und zeichnet sich durch einen Einbruch einer in-
Lachmann: Gedächtnis und Literatur, S. 36. Vgl.: Lachmann: Gedächtnis und Literatur, S. 38 ff. Vgl.: Schulze: Simple Storys; Schulze, Ingo: Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze, München: Dtv 2008; Schulze, Ingo: Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst. Roman, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2017. Vgl.: Brussig, Thomas: Am kürzeren Ende der Sonnenallee, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2001; sowie: ZK. Vgl.: Grünbein, Durs: Nach den Satiren, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999; Wolf, Christa: Medea. Stimmen. Roman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008; sowie (beispielsweise) die Gedichte Herakles 13, Senecas Tod, Mommsens Block, vgl.: Müller: Die Gedichte, S. 237– 240, 250 f., 257– 263. Vgl. hierzu erneut: Schulze: Simple Storys.
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tensivierten Globalisierung nach 1989 aus, der durch den Rückbezug auf die Literatur der klassischen Moderne auf eine literarisch bearbeitete Krisenerfahrung rekurriert.
2.3 Nach 1989 – Umbruch und Einbruch Die Jahre 1989/90 stehen im Kontext von DDR und Ostdeutschland für Umbruch schlechthin: In sie fallen die Öffnung der Grenzen und das Ende der DDR. Das zeitlich daran anschließende ‚Ableben‘ der Sowjetunion (1991) markiert eine weitere Zäsur. Die Versuche einer politischen und ideologischen Neubestimmung, wie die inzwischen ikonisch gewordenen Vorschläge von Francis Fukuyama (Das Ende der Geschichte) oder Samuel Huntington (Clash of Civilations), legen von einem Umbruchsbewusstsein der Zeitgenossen Zeugnis ab. In seinem Buch Die Übernahme entwickelt Kowalczuk die These, dass die Entwicklungen, die sich in Ostdeutschland nach dem Epocheneinschnitt von 1989 vollzogen, maßgeblich mit globalen Trends zusammenhingen.²⁴⁴ Kowalczuk konzipiert in seinen Analysen – auf gänzlich andere Weise als Engler in Die Ostdeutschen als Avantgarde − eine Vorreiterrolle für Ostdeutschland, wenn sich die dortigen Entwicklungen der Transformation später global wiederholen sollen: In Ostdeutschland hat sich der [soziale und ökonomische; M.K.] Wandel in einer radikalen Beschleunigung gezeigt, wie es bislang in der westlichen Welt untypisch war. Erst Jahre später sollte sich erweisen, dass das Tempo der Veränderung in Ostdeutschland gar nicht etwas Spezifisches war, sondern im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung allgemein typisch werden sollte. Die nachholende Modernisierung war so auch zu einem vorausgehenden Entwicklungstrend geworden, zumindest, was die Geschwindigkeit anbelangte.²⁴⁵
Kowalczuk spricht verschiedene Themen an, die in diesem Kapitel erörtert werden sollen. So steht zur Disposition, wie sich eine Modernisierung der DDR (wenn dieser Begriff überhaupt zulässig ist) zu einer intensivierten Globalisierung verhält.Welche Konsequenzen ergeben sich aus einer derartigen Konstellation für die ostdeutschen Identifizierungen und wie wirkt sich dies auf die oben konzipierte Post-DDR-Literatur aus? Wie Sabrow jüngst in seinem Aufsatz ‚1989‘ als Erzählung festhält, hat sich in den letzten Jahren die Perspektive auf dieses Epochenjahr von einer synchronen
Vgl.: Kowalczuk: Die Übernahme, S. 20. Kowalczuk: Die Übernahme, S. 61.
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Betrachtung der Überwindung des real existierenden Sozialismus zu einer diachronen Betrachtung verschoben, „die sich stärker für das Davor und Danach interessiert und das ‚Wunder von 1989‘ stärker in die alle Systemgrenzen übersteigende Geschichte der Globalisierung und der Postindustrialisierung einordnet.“²⁴⁶ Ein solcher Blick auf den Umbruch von 1989 und den damit für Ostdeutschland einhergehenden Bruch ist lohnenswert, um auch die Krisenerfahrungen der ostdeutschen Schreibenden nachzuvollziehen. Der wiederholte Rückbezug auf die Literatur der Moderne ist als eine Antwort der (literarischen) Krisenbewältigung zu verstehen, die sich auf die literarische Tradition der Krisenerfahrung in der klassischen Moderne bezieht. Dass infolge des Endes des real existierenden Sozialismus die Globalisierung eine intensivierte Dynamik entfaltet hat, ist überall erkennbar. Bestimmte Umbrüche, wie technische Entwicklungen und kulturelle Konzepte,²⁴⁷ sind in den Jahren vor 1989 zu datieren, kulminieren allerdings, wie Hartmut Rosa argumentiert, in der Zäsur von 1989: Der postulierte Beschleunigungsschub entwickelt seine ökonomischen, informationstechnologischen und kulturellen Triebkräfte spätestens seit den 1970er Jahren, doch gewinnt er seine raumgreifende Durchschlagskraft vor allem aus dem Zusammentreffen dreier historischer Entwicklungen um 1989: Sowohl die politische Revolution jenes Jahres – der Zusammenbruch der DDR und des Sowjetregimes und die politische und ökonomische Öffnung der osteuropäischen Staaten − als auch die insbesondere durch die Etablierung des Internets (und den Ausbau des Satellitenfernsehens) forcierte digitale Revolution, die sich kurz danach auch zu einer mobilen Revolution erweiterte, indem sie mikroelektronische, ortsungebundene kommunikative Erreichbarkeit ermöglichte, und schließlich die ökonomische Revolution der flexiblen Akkumulation bzw. postfordistischen »Just-in-time«-Produktion des »Turbo-Kapitalismus« lassen sich im Kern als Beschleunigungsbewegung verstehen.²⁴⁸
Die Verbindung dieser drei Merkmale führt Rosa zu seiner Diagnose einer beschleunigten Moderne und Globalisierung nach 1989. Es ist festzuhalten, dass Beschleunigung und Globalisierung für Rosa Entwicklungen sind, die nicht erst nach 1989 auftreten. Sie erhalten durch die neuen historischen Gegebenheiten eine intensivierte Quantität, die in eine neue Qualität umschlägt, ohne auf etwas grundlegend Neues zu verweisen.²⁴⁹ Beschleunigung und die sich im Zuge der
Sabrow: „‚1989‘ als Erzählung“, S. 29. Das bekannteste Beispiel hierfür ist Jean-François Lyotards Konzeption des postmodernen Wissens, das den Bestand von Metanarrationen anzweifelt und stattdessen auf eine Pluralität von Erzählungen setzt, vgl.: Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, hrsg. von Peter Engelmann, übers. von Otto Pfersmann, Wien: Passagen 1999. Rosa: Beschleunigung, S. 335 f. (Hervorheb. i. Orig.). Vgl.: Rosa: Beschleunigung, S. 24, 353. Stimmt man Rosa zu, entgeht man auf diese Weise den Begriffsdebatten um die Verhältnisse von Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne etc.
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aufkommenden Globalisierung neujustierenden Raum-Zeit-Verhältnisse werden zu zentralen Merkmalen einer Moderne, die sich infolge von Aufklärung und kapitalistischer Produktionsweise entwickelt.²⁵⁰ Zygmunt Bauman, der von einer ähnlichen Entwicklung wie Rosa ausgeht, hat in seiner Differenzierung von solid und liquid modernity eine Differenzierung der Raum-Zeit-Verortung vorgelegt. So konstatiert er für die solid modernity (bei Rosa klassische Moderne): Dank der neu erworbenen Flexibilität und dem Drang zur Expansion erscheint die Moderne in erster Linie als ein Unternehmen der Eroberung des Raums. Im modernen Kampf zwischen Raum und Zeit war der Raum das stabile, träge Element, verwickelt in Rückzugsgefechte mit der Zeit, in Scharmützel gegen ihr fortdauerndes Vordringen. Zeit, das war das aktive und dynamische Element in dieser Schlacht, immer in der Offensive: die kolonisierende, erobernde, vordringende Kraft. Bewegungsgeschwindigkeit und die Verfügbarkeit ständig verbesserter Transportmittel wurden in der Moderne zu den Macht- und Herrschaftsmitteln schlechthin.²⁵¹
Während die solid modernity den Raum aufgrund immer größerer technischer Fortschritte erschließt – da die zeitliche Dauer zur Überbrückung schrumpft −, verliert Bauman zufolge (im Unterschied zu Rosa) die Zeit in der liquid modernity schließlich ihre Bedeutung,²⁵² da durch Digitalisierung Verfahren erreicht werden, die Rosa als Möglichkeit eines Echtzeitniveaus ²⁵³ von Kommunikation bezeichnet. Durch diese Entwicklungen, die immer schnelleren Möglichkeiten von Bewegung und Kommunikation, werden Subjektivitäten aufgewertet, die Bauman unter dem Schlagwort nomadisch zusammenfasst²⁵⁴ und die sich in den kosmopolitischen Ansätzen Christa Wolfs und Durs Grünbeins wiederfinden. Wie soziologische Studien nahelegen, erfuhren viele Ostdeutsche das neue Raum-Zeit-Verhältnis infolge der Jahre 1989/90 durch Beschleunigungen geprägt.²⁵⁵ Insbesondere Filme veranschaulichen dies: Rosa nennt in seiner Studie
Rosa lässt in Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne die Moderne um 1750 beginnen, vgl.: Rosa: Beschleunigung, S. 39, 86. Ähnlich argumentiert Reckwitz, der die Moderne mit der Entstehung einer bürgerlichen Kultur infolge frühkapitalistischer Entwicklungen im England des späten 17. Jahrhunderts assoziiert, vgl.: Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 97. Dies schließt noch einmal an den Identitätsdiskurs an, der mit Locke in dieser Zeit entsteht. Bauman: Flüchtige Moderne, S. 16 f. Vgl.: Bauman: Flüchtige Moderne, S. 18 f., 140. Vgl.: Rosa: Beschleunigung, S. 336 f. Für Rosa bleibt dies im Paradigma der Beschleunigung, da Zeit immer noch an Bedeutung verliert und damit weiterhin das maßgebliche Element der Bestimmung bleibt. Vgl.: Bauman: Flüchtige Moderne, S. 20. Vgl.: Hofmann, Wilhelm: „Zusammenprall der Zeitkulturen. Lebenstempo und Zeitempfinden in Ostdeutschland vor und nach der Wiedervereinigung“, in: Rosa, Hartmut (Hrsg.): Fast
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Beschleunigung den Film Good Bye, Lenin!, in dem die Erfahrungen des Umbruches als Teilchenbeschleuniger beschrieben werden.²⁵⁶ Sonnenallee, der in den 1970er Jahren spielt, markiert den Unterschied der Raum-Zeit-Erfahrung, wenn Mario, der Freund des Protagonisten Michael Ehrenreich, mit seiner Freundin einen ganzen Sommer braucht, um auf dem Roller die DDR zu durchqueren.²⁵⁷ Das Verhältnis zu Raum und Zeit wird durch das langsame Fortbewegungsmittel und durch die Raumbeschränkung der unüberwindbaren Grenze prädisponiert. Mit der Maueröffnung verschwinden diese beiden Beschränkungen; paradigmatisch wird dies an dem Film Friendship! deutlich, in dem sich zwei Ostdeutsche in die USA aufmachen, um zur Golden-Gate-Bridge als westlichstem Ort der Welt zu reisen.²⁵⁸ Ähnlich figuriert dies Wolf mit dem Los-Angeles-Aufenthalt in Stadt der Engel. In Abgrenzung zum bisherigen Zeitverhältnis in der DDR beschreibt Kowalczuk Beschleunigungserfahrung, die mit den Ereignissen im Herbst 1989 einhergehen: Mitte September [1989; M.K.] begann «Zeit» in der DDR einen neuen Wert anzunehmen, was sich ab Mitte Oktober geradezu dramatisch verstärken sollte. «Zeit» war eine Sache, die es in der DDR zuhauf gab; die Zeit schien bis zum Sommer 1989 irgendwie stillgestanden zu haben. Nun auf einmal raste alles. Die Zeit überholte sich dauernd selbst, so schien es jedenfalls.²⁵⁹
Passend hierzu hat Heiner Müller in seinen Gesprächen in den frühen 1990er Jahren darauf hingewiesen, dass die „Langsamkeit […] ein Grundproblem der DDR“²⁶⁰ war und das erhöhte Tempo des Einigungsprozesses bemerkt.²⁶¹ Das
forward − Essays zu Zeit und Beschleunigung. Standpunkte junger Forschung, Hamburg: Ed. Körber-Stiftung 2004, S. 57– 72, hier S. 67 f. Vgl.: Rosa: Beschleunigung, S. 326 (Fußnote 36); Good Bye, Lenin!, Reg. Wolfgang Becker, XVerleih 2003. Sonnenallee, Reg. Leander Haußmann, Boje Buck Production 1999. Auch in der Serie Weissensee wird die Zeit massiv beschleunigt. Der erzählte Zeitraum umfasst die Jahre 1980 bis Juli 1990. Die erste und die zweite Staffel erzählen, wenngleich auch mit großen Lücken (die erste Staffel spielt nur 1980 und die zweite Staffel nur 1987), die Jahre 1980 – 1987. Die dritte und die vierte Staffel wiederum erzählen die ‚Wendegeschichte‘ vom November 1989 bis in den Juli 1990, vgl.: Weissensee, Reg. Friedmann Fromm, Ziegler Film 2010 – 2018. Friendship!, Reg. Markus Goller, Barefoot Films 2010. Kowalczuk: Die Übernahme, S. 31. Müller, Heiner: Gespräche 2. 1987−1991, in: Ders.: Werke. Bd. 11, hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 497. Vgl.: z. B.: Müller: Gespräche 2, S. 489, 725. Thomas Rosenlöcher hat in seinem Dresdner Tagebuch unter dem 8.11.1989 passend notiert: „Die einstmals stillstehende Zeit ist in einen Galopp übergegangen, als wollte sie die verlorenen 40 Jahre wieder einholen.“, Rosenlöcher,
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Gefühl von Beschleunigung steht für den Einbruch der Globalisierung in dem Gebiet der ehemaligen DDR und es wird zum Zentrum einer Krisenerfahrung nach 1989, unter die verschiedene soziale Phänomene subsumiert werden können (wie Arbeitslosigkeit, Abwertung etc.). Mit der intensivierten Beschleunigung und Globalisierung geht ein intensiviertes neues Bedürfnis nach Selbstbestimmung – allzumal unter den Bedingungen einer neuen Staatlichkeit − einher,²⁶² d. h. einer Entwicklung, die bis heute anhält und die Pabst zwar für überraschend hält, aber auf „das mediale Interesse an der Literatur aus und über den Osten“ zurückführt, „weil bei medialer Unterrepräsentanz Ostdeutscher in den bundesdeutschen Medien Literatur zur Informationsquelle wird.“²⁶³ Das durch den Diskurs geförderte und durch die veränderte soziale Strukturen geformte intensivierte Bedürfnis nach ‚ostdeutscher Identität‘, welche die literarischen Texte fortwährend unterlaufen, äußert sich im intertextuellen Bezug auf die literarische Moderne. Der unscharfe Begriff einer literarischen Moderne²⁶⁴ wird von Peter Bürger als eine Bewegung definiert: „Diese Bewegung ist eine doppelte: eine des Subjekts, das der eigenen Verwirklichung nachjagt, diese stets verfehlend, und eine der Hinwendung zur Realität, die sich stets von neuem bricht am Verfahren.“²⁶⁵ In der Verfehlung der Selbstverwirklichung des Subjektes kann sich die Post-DDR-Literatur mit ihren Identifizierungen, die sich nicht erfüllen, auf die Literatur der Moderne beziehen. Ähnlich argumentiert Peter Gay, der die Moderne durch die zwei Faktoren der „Auflehnung gegen die herrschende Autorität“ und „eine rückhaltlose Selbsterforschung“²⁶⁶ geprägt sieht. Insbesondere Letzteres korrespondiert mit den Versuchen, das Selbst in der Post-DDR-Literatur zu beschreiben. Gay hebt zwei Entwicklungen für die Entstehung einer solchen Moderne Thomas: Die verkauften Pflastersteine. Dresdener Tagebuch, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 42. Vgl.: Rosa: Beschleunigung, S. 362 f. Pabst: Post-Ost-Moderne, S. 396. Vgl. hierzu: „Weder über die Frage, wann die Moderne beginnt, noch darüber, wie sie zu charakterisieren ist, noch schließlich darüber, welche Autoren ihr zuzurechnen sind, herrscht Übereinstimmung. Wird in der Kunstgeschichte und in der englischen Literaturgeschichtsschreibung der Beginn der Moderne meist im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts angesetzt, so gilt in der deutschen Theorietradition (sowohl bei Benjamin und Adorno als auch bei Hugo Friedrich) 1848 als der entscheidende Einschnitt und Baudelaire als der erste herausragende Autor der literarischen Moderne. Französische Theoretiker wie Sartre und Barthes betonen ebenfalls den Epocheneinschnitt um 1848, rücken aber Flaubert als ersten modernen Prosaschriftsteller neben Baudelaire.“, Bürger, Peter: Prosa der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 439 f. Bürger: Prosa der Moderne, S. 450. Gay, Peter: Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2008, S. 24 f.
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III Theoretische Zugänge
hervor, die maßgeblich die Herauslösung aus den traditionellen Ordnung befördern und so die Krisenerfahrung der Moderne entstehen lassen: Die Entstehung einer kapitalistischen Produktionsweise und der damit verbundene Urbanität sowie die Etablierung eines Zeitalters nach dem Christentum.²⁶⁷ Zima hat den literarischen Modernismus, wie er diese im Anschluss an das im englischen Kontext gebräuchliche Modernism nennt, als ein „Reflexivwerden und als Selbstkritik der Moderne“²⁶⁸ definiert. Dies ist an Zygmunt Baumans und Hartmut Rosas Theorien anschlussfähig. Die Literatur der Moderne verarbeitet die Krisenerfahrung dessen, was Bauman als solid modernity beschreibt. So wird in der Zeit der Literatur der (klassischen) Moderne (fasst man sie von Baudelaire und Flaubert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges) die Radikalität der Modernisierungsprozesse für die Zeitgenossen fassbar. Rosa beschreibt zwei Beschleunigungswellen: Zum einen die (bereits thematisierte) Welle von 1989 und zum anderen „die Jahrzehnte vor und nach 1900 infolge der industriellen Revolution […]“²⁶⁹. Letzteres stellt die Kernzeit der literarischen Moderne dar, an die Rosa mit Autoren wie Baudelaire, Joyce, Thomas Mann und Musil anknüpft.²⁷⁰ Rolf Grimminger hat festgehalten, dass die Literatur der Moderne „durch die beschleunigte Ankunft des Neuen geprägt“²⁷¹ ist und argumentiert darüber hinaus, dass diese sich nicht nur durch die Konfrontation unterschiedlicher Stiltypen, sondern überdies durch eine „dezentrierte Kunstszene, die sich von der Zentrale der Institutionen abgespalten hat“²⁷², auszeichnet. Dies stellt eine weitere Anschlussmöglichkeit der Post-DDR-Literatur dar, wenn – unter anderen Vorzeichen − infolge des politischen Systemwechsels sich das literarische Feld vom institutionalisierten Literaturbetrieb der DDR abgrenzt. Die Literatur der Moderne, die das Neue im Namen führt, zeichnet sich durch diese Grundbestimmung aus, wenn, wie Inka Mülder-Bach und Eckhard Schumacher bemerkt haben, in und mit den Anfangsszenen das Projekt der Moderne selbst zum Thema wird.²⁷³ Die Post-DDR-Literatur stellt gewissermaßen diesen Anfang des Neuen in den
Vgl.: Gay: Die Moderne, S. 39, 47. Zima, Peter V.: Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen: UTB 2016, S. 237. Rosa: Beschleunigung, S. 82. Vgl.: Rosa: Beschleunigung, S. 79 f. Grimminger, Rolf: „Aufstand der Dinge und der Schreibweisen. Über Literatur und Kultur der Moderne“, in: Ders. / Murašov, Jurij / Stückrath, Jörn (Hrsg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995, S. 12– 40, hier S. 19. Grimminger, Rolf: „Aufstand der Dinge und der Schreibweisen“, S. 21. Vgl.: Mülder-Bach, Inka / Schumacher, Eckhard: „Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.): Am Anfang war…Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne, München: W. Fink 2008, S. 7– 10, hier S. 8.
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Mittelpunkt des Schreibens, wenn die ostdeutschen Selbstbilder unter den Bedingungen eines neuen Staates, einer neuen Gesellschaft und eines neuen Weltsystems neu ausgemessen werden müssen. Die vorliegende Arbeit schließt in ihrer Theoretisierung mit den Schwerpunkten auf Autoren wie Adorno und Benjamin an das an, was die literarischen Texte in ihrer eigenen intertextuellen Verflechtung vorgeben. Dies ist keineswegs zufällig, denn Adorno und Benjamin haben die literarische und die soziologische Moderne intensiv bearbeitet. Ihre Werke sind Diagnosen der Moderne und ihrer Krisenphänomene, die sich, wie Burkhardt Lindner und Martin Lüdke mit Blick auf Adornos Ästhetische Theorie festhalten, mit dem „Ineinander von Statik und Dynamik, von Regression und Progreß“ sowie der dazugehörigen „Selbstanforderung der Kunst, auf diese Situation reagieren zu müssen“²⁷⁴, beschäftigen. Pabst schreibt in seiner Studie zu Post-Ost-Moderne, dass die Post-DDR-Literatur nicht in einer Diskussion zwischen einer ästhetischen Moderne und Postmoderne zu verorten ist und dass gleichzeitig die „Moderne als Maßstab der Kritik“²⁷⁵ für diese Literatur obsolet wird. Ihm ist insoweit zuzustimmen, dass Diskussionen „um eine ›nachgeholte‹ Moderne nach dem Ende einer modernisierungsresistenten DDR-Literatur“²⁷⁶ unsinnig sind. Die Literatur und die Theorien der Moderne gewinnen aber gerade angesichts ihres Berichtens und Bewältigens von Krisenerfahrungen für die Post-DDR-Literatur an Bedeutung.Wenn sich dies nicht immer in konkreten literarischen Schreibweisen – für die sich Pabst besonders interessiert − niederschlägt (ein Gegenbeispiel hierfür ist wiederum Grünbein), so werden diese über Intertextualität und Sujet in die Texte eingewoben. Benjamin hält im Passagen-Werk fest, dass in der „Moderne […] die Antike wie ein Alb [wirkt; M.K.], der im Schlaf über sie gekommen ist.“²⁷⁷ Er diagnostiziert für die Moderne ein unbewusstes Weiterwirken antiker Paradigmen. Es ist eine Bestimmung, mit der das Verhältnis von Post-DDR-Literatur und ihrem Rückbezug zu einer Literatur der Moderne am besten zu fassen ist, als eine Schicht, die als kulturelles Unbewusstes die Literatur präformiert und deren Bezug sich am deutlichsten an der zu bewältigenden Ankunft in einem neuen Erfahrungsraum auszeichnet.
Lindner, Burkhardt / Lüdke,W. Martin (Hrsg.): Materialien zur ästhetischen Theorie. Theodor W. Adornos Konstruktion der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 9. Pabst: Post-Ost-Moderne, S. 33. Pabst: Post-Ost-Moderne, S. 34. Zur Modernität der DDR und ihrer Ästhetik bis zum sogenannten Kahlschlagplenum 1965, vgl.: Engler, Wolfgang: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin: Aufbau 1999, S. 60 ff. Benjamin: Das Passagen-Werk, B-GS V, S. 470.
IV Christa Wolf: Der Blick in die neue Welt Wünsche für C.W. Der Ort zwischen hier und Wiederort dich immer gehen aber nie vergehen lässt Bleib, ruft er dich, bleib endlich fort. Ich will dein Land sein. Sei mein Rest Das Wort, das jeder buchstabieren kann, der es nicht schreibt, weil jeder es versteht. Nie heißt es Ich, oft Du und manchmal Wann Hast du mich endlich mir ganz zugedreht. Die Zeit, die zwischen Jetzt und Dunkelheit sehr plötzlich unaufhörlich dauert, ja als öffne sie dir deine Türen einmal weit und steht. Jetzt bin ich wieder da.¹
In ihrem letzten zu Lebzeiten publizierten Text setzt sich Christa Wolf intensiv mit den Möglichkeiten eines ostdeutschen Schreibens nach dem Bruch des Systemwechsels der Jahre 1989/90 auseinander. In den darauffolgenden Jahren hat sich infolge von Wolfs Tod eine reiche Forschungslandschaft entwickelt, die vermehrt den Blick auf Stadt der Engel richtet. In der zehnjährigen Rezeptionsgeschichte kristallisiert sich immer deutlicher heraus, dass dieser Text zu einem der zentralen Werke in Wolfs Œuvre gezählt wird.² Verschiedene Aspekte des Textes wurden in-
Brasch, Thomas: Was ich mir wünsche, S. 35. Vgl. hierzu die Beiträge in den Sammelbänden und Monographien: Hörnigk, Therese / Gansel, Carsten (Hrsg.): Zwischen Moskauer Novelle und Stadt der Engel. Neue Perspektiven auf das Lebenswerk von Christa Wolf, Berlin: VBB 2015; Gansel, Carsten (Hrsg.): Christa Wolf − Im Strom der Erinnerung, Göttingen: V&R Unipress 2014; Löffler,: Systemumbruch und Lebensgeschichte, S. 380 – 393; Sandhöfer-Klesen, Kathrin: Christa Wolf im Kontext der Moderne. Eine Neuverortung ihres Œuvres zwischen Ost und West, Würzburg: Königshausen & Neumann 2019. Aus amerikanischer Perspektive, vgl. sowohl den Sammelband von Klocke und Hosek als auch die Ausgabe der German Studies Review: Klocke, Sonja E. / Hosek, Jennifer R. (Hrsg.): Christa Wolf. A Companion, Berlin/Boston: De Gruyter 2018; Brockmann, Stephen: „Remembering What Remained. German Studies Association 2012 Presidential Address“, German Studies Review 36/2 (2013), S. 347– 361. https://doi.org/10.1515/9783110741766-005
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tensiv diskutiert, allerdings ist eine Untersuchung des dichten Textes Wolfs unter Berücksichtigung einer philologisch detaillierten Betrachtung ein Desiderat, welches das vorliegende Kapitel füllt. Die Blickrichtung des Kapitels orientiert sich im Anschluss an die Grundüberlegungen der Arbeit vor allem auf die Darstellung von ostdeutschen Selbstbildern infolge des Bruches von 1989. Die Forschung hat schon verschiedentlich die Frage von Identität und Identitätskonstitution des im Text sprechenden Subjektes thematisiert. Fast paradigmatisch könnte man die Beschreibung Löfflers verstehen, die im Christa Wolf-Handbuch festhält: „[Stadt der Engel; M.K.] ist die Fortführung der Selbstreflexion und damit der fortgesetzte Versuch, nach dem Mauerfall die eigene (politische) Identität im Erzählen rückblickend neu zu konstituieren.“³ Im Anschluss an die bereits vorgebrachten theoretischen Überlegungen zu Identifizierungen steht im Folgenden Stadt der Engel im Fokus einer philologischen Analyse unter diesem Paradigma. Die These ist − wie auch im anschließenden Teil zu Grünbein −, dass der gesamte Text sich um ein Zentrum formiert, das die Frage von (individuellen und kollektiven) ostdeutschen Selbstbildern verhandelt. Die Aspekte des Textes, die diesen Mittelpunkt umkreisen, referieren wiederum alle auf die zentrale Fragestellung des Textes, wie sich ostdeutsche Selbstbilder nach 1989 denken lassen. Ausgehend von einem Close-Reading des ‚ersten Kapitels‘⁴, das zentrale Aspekte des Buches vorwegnimmt, nehme ich im Anschluss grundsätzliche Fragen von Erinnern und Vergessen in Stadt der Engel in den Blick. Hierbei sind die Überlegungen Sigmund Freuds und Walter Benjamins leitend, auf die der Text selbst fortlaufend verweist. Im dritten Unterkapitel wird unter Rückgriff auf verschiedene literaturwissenschaftliche Theorien und Christa Wolfs eigene poetologische Texte eine Lektüre der autobiographischen Schreibweise vorgeschlagen. Im Anschluss werden die Figurationen des Anderen versammelt, wobei drei Vorschläge zur Systematisierung gemacht werden: 1.) Figurationen der Obdachlosigkeit als Spiegelfunktionen, 2.) Intertextuelle Funktionalisierungen der Exilliteratur und 3.) Darstellungen von Schwarzen und Native Americans als ‚das Andere‘ und ‚das Eigene‘ der Globalisierung. Im abschließende Kapitel werden die utopischen Dimensionen des Textes verhandelt. Leitend ist – wie bereits erwähnt −, dass alle in den Kapiteln verhandelten Aspekte Teile der Darstellung von Identifizierungen in Stadt der Engel sind, die sich explizit durch den historischen Bruch 1989/90 als ostdeutsch verorten. Dabei werden gerade in den utopischen Löffler, Katrin: „»Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud« (2010)“, in: Hilmes, Carola / Nagelschmidt, Ilse (Hrsg.): Christa Wolf-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2016, S. 236 – 244, hier S. 236. Die Absätze, die Stadt der Engel gliedern und die durch die Großschreibung von Satzfragmenten jeweils einführt werden, bezeichne ich im Folgenden als Kapitel.
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Dimensionen des Textes die Grenzen dieser ostdeutschen Selbstbilder ausgelotet und die intrikate Frage aufgeworfen, wie sich Subjektivitäten denken lassen, die aufs Offene drängen und ihr Nichtidentisches ausstellen, wenn sie sich in einem ostdeutschen Kontext verorten wollen.
1 Der tiefe Fall Das Gefühl, das die Protagonistin von Stadt der Engel laut der retrospektiven Präsentation der Erzählerin erlebt, als sie in L.A. landet, wird als „AUS ALLEN HIMMELN STÜRZEN“ (SdE: 9; Hervorheb. i. Orig.) bezeichnet. Dass mit dem erweiterten Infinitiv die Verwendung eines Subjektes vermieden wird, deutet nicht nur eine Eignung als Kapitelüberschrift an, sondern verweist auf die Zitathaftigkeit − es wäre nach den zwei vorangestellten Zitaten von Benjamin und Doctorow das dritte Zitat − und entpersonalisiert damit das Satzfragment. Das Fehlen eines Personalpronomens wird durch die Verwendung des reflexiven mir im Relativsatz kompensiert und erst mit dem Ich im Temporalsatz aufgefüllt: AUS ALLEN HIMMELN STÜRZEN das war der Satz, der mir einfiel, als ich in L.A. landete und die Passagiere des Jet dem Piloten mit Beifall dankten, der die Maschine über den Ozean geflogen, von See her die Neue Welt angesteuert, lange über den Lichtern der Riesenstadt gekreist hatte und nun sanft aufgesetzt war. (SdE: 9; Kursiverung M.K.)
Der Text stellt damit eine (gewisse) unverschuldete Handlungsunfähigkeit des Subjektes aus, denn das Aus-den-Himmeln-stürzen ist etwas, das ihm widerfährt. Die Zitathaftigkeit des ersten Satzfragments referiert auf den Titel Stadt der Engel und evoziert so qua typographischer Großschreibung und Absetzung die biblische Vorstellung der gefallenen Engel.⁵ Allerdings landet die Protagonistin im Unterschied zur biblischen Erzählung nicht in der Hölle.⁶ Vielmehr könnte man es als eine Landung bei den Engeln bzw. in der Heimat der Engel verstehen, in Los Angeles, derjenigen Stadt, welche die Engel sogar in ihrem Namen führt.⁷ Dies ist
Reinhard, Miriam N.: „Christa Wolf: »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«“, in: Bannasch, Bettina / Rochus, Gerhild (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller, Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 606 – 612, hier S. 608. Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.): Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel mit Apokryphen, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2017, Lk 10,18. Wolfs Konzeption greift hierbei auf bekannte Vorstellungen zurück. So ist der Ort, an dem die (gefallenen) biblischen Engel in John Miltons Paradise Lost landen, ebenfalls eine Stadt, die anschließend zur Heimat jener gefallenen Engel wird, vgl.: Milton, John: Paradise Lost, hrsg. von
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zugleich eine Vorausschau auf das Ende des Textes mit dem neuerlichen Anflug auf die Stadt sowie auf den Auftritt eines Engels, der der Protagonistin erscheint und den sprechenden Namen Angelina trägt. Neben dem Bezug auf die Engel ist Los Angeles aber keineswegs zufällig als Ort der Handlung gewählt. Stadt der Engel spart im Weiteren nicht mit Verweisen auf das New Weimar unter Palmen und zitiert von Brecht über Adorno bis Thomas Mann ein ‚Who is Who‘ des deutschen Exils während des Nationalsozialismus. Diese Autoren dienen nicht nur als ein Hinweis für eine stilistische Kontinuität des Schreibens, sondern sind als ideologische Identifikationspunkte zu verstehen, wie noch zu zeigen sein wird.⁸ Der Ort wird zur „Neuen Welt“ (SdE: 9) deklariert, womit zum einen auf die historisch-geographische Kategorie von Amerika als neuer Welt angespielt wird. Zum anderen wird eine temporalgeopolitische Dimension eröffnet, wenn die Neue Welt ebenso mit einer intensivierten Globalisierung infolge der Ereignisse von 1989/90 assoziiert werden kann.⁹ In diesem Nebeneinander der beiden Deutungen wird vor allem eines deutlich: Die Protagonistin ist nun nicht mehr zu Hause, sondern sowohl räumlich als auch zeitlich davon getrennt und abgeschnitten. Die Erzählerin weist über ein Jetzt die zeitliche Distanz zu ihrem Gegenstand, den sie im Präteritum behandelt, aus und wendet sich dem Versuch einer authentischen Erinnerung zu: Ich weiß noch, daß ich mir vornahm, diesen Satz später zu benützen, wenn ich über die Landung und über den Aufenthalt an der fremden Küste, der vor mir lag, schreiben würde: Jetzt. Daß so viele Jahre über beharrlichen Versuchen vergehen würden, mich auf rechte Weise den Sätzen zu nähern, die diesem ersten Satz folgen müßten, konnte ich nicht ahnen. (SdE: 9; Hervorheb. M.K.)
Hieran wird die narrative Grundkonstitution des Textes deutlich. In der autodiegetischen Erzählung erinnert sich die Erzählerin von einer Zeitebene, die aufgrund einiger Hinweise rund um die Jahre 2007/2008 datiert werden kann (vgl. Alastair Fowler, Harlow / New York: Routledge 2007, Buch 1,V. 752−757. Für diesen Hinweis danke ich Philipp Stelzer. Vgl. hierzu das Kapitel „Was sind das für Zeiten“ – Bezüge zur Exilliteratur. Versteht man mit Robert Stockhammer Welt immer abhängig vom Erfahrungshorizont − und nicht deckungsgleich mit der nicht symbolisierbaren Erde oder dem symbolischen Abbild (Globus) −, zeigt sich deutlich, dass Welt in Stadt der Engel tatsächlich als eine neue Welt erfahren wird. Diese ist nämlich infolge der Ereignisse von 1989/90 um einen großen Teil des Planeten erweitert, der nur so wirklich Teil einer Welterfahrung werden kann. Zur Differenzierung Stockhammers, vgl.: Stockhammer, Robert: „Welt oder Erde? Zwei Figuren des Globalen“, in: Moser, Christian / Simonis, Linda (Hrsg.): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien, Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 47– 72, hier insbes. S. 49 – 52.
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z. B.: SdE: 127), an ihren Aufenthalt in Los Angeles zurück. Diese zweite Ebene ist diejenige der histoire, die mit weiteren Rückblicken an die DDR- und die ‚Wende‘Zeit durchbrochen wird. Im Folgenden wird im Anschluss an Genette die Differenzierung in Erzählerin (für das erinnernde Ich von 2007/2008) und Protagonistin (für das erinnerte Ich von 1992/1993) verwendet.¹⁰ In den Analepsen, welche die eigentliche Handlung immer wieder unterbrechen und in der die zweite Person Singular angesprochen wird, bleibt konstitutiv unklar, ob Protagonistin oder Erzählerin sich erinnern und ob dies erzähltheoretisch überhaupt zu unterscheiden ist. Bemerkenswert ist, dass die Erinnerung an DDR- und ‚Wende‘-Zeit oft von einer gewissen Unsicherheit hinsichtlich ihrer Belastbarkeit geprägt ist, während dies auf die Ebene von 1992 nicht zutrifft. Es scheint fast so, als ob dort eine auktoriale Erzählinstanz spricht, wobei die Fokalisierung immer intern auf die Protagonistin gerichtet bleibt. Diese Ambivalenz strukturiert den Text narrativ und wenn sich die Protagonistin vornimmt, „mir alles einzuprägen, jede Einzelheit, für später“ (SdE: 9) ist dies eine selbsterfüllende Prophezeiung, welche die Erzählerin ungefähr 15 Jahre später performativ zu realisieren weiß. Nach der Landung in Los Angeles rückt als erstes Erlebnis die Passkontrolle in den Fokus. Hier kulminiert die Identifizierung der Protagonistin nicht nur durch Abgrenzung zur Neuen Welt, sondern durch eine erstmalige Selbstbestimmung: Wie mein blauer Paß ein gewisses Aufsehen erregte bei dem rotblonden drahtigen officer, der die Papiere der Einreisenden genau und streng kontrollierte, er blätterte lange darin, studierte jedes einzelne Visum, nahm sich dann das mehrfach beglaubigte Einladungsschreiben des CENTER vor, unter dessen Obhut ich die nächsten Monate verbringen würde, schließlich richtete er den Blick seiner eisblauen Augen auf mich: Germany? – Yes. East Germany. – Weitergehende Auskünfte zu geben wäre mir schwergefallen, auch sprachlich, aber der Beamte holte sich Rat am Telefon. Diese Szene kam mir vertraut vor, das Gefühl der Spannung kannte ich gut, auch das der Erleichterung, als er, da die Antwort auf seine Frage wohl befriedigend gewesen war, endlich das Visum stempelte und mir meinen Paß mit seiner von Sommersprossen übersäten Hand über die Theke zurückreichte: Are you sure this country does exist? – Yes, I am, antwortete ich knapp, das weiß ich noch, obwohl die korrekte Antwort »no« gewesen wäre und ich, während ich lange auf das Gepäck wartete, mich fragen mußte, ob es sich wirklich gelohnt hatte, mit dem noch gültigen Paß eines nicht mehr existierenden Staates in die USA zu reisen, nur um einen jungen rothaarigen Einreisebeamten zu irritieren. (SdE: 9 f.; Hervorheb. i. Orig.)
Nicht nur bezeichnet sich die Protagonistin − wenn auch auf Englisch − als ostdeutsch, sie wird in dieser Selbstbestimmung sogar angesichts kritischer Nachfrage
Diese verwende ich im Anschluss an die von Gerard Genette vorgeschlagene Differenzierung in Held und Erzähler, vgl.: Genette, Gérard: Die Erzählung, übers. von Andreas Knop / Isabel Kranz, Paderborn: W. Fink 2010, S. 164 ff.
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seitens des Kontrolleurs und trotz besseren Wissens nicht unsicher. Dies hängt mit der plötzlich auftauchenden Erinnerung an frühere Passkontrollen zusammen. Die Bezugnahme auf diese unangenehme Erfahrung, die sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart ähnliche Affekte auslöst, deutet eine neuralgische Ambivalenz des Textes an, wenn immer wieder die unterschiedlichen politischen Systeme nicht nur miteinander verglichen, sondern (teilweise) gleichgesetzt werden. Die Erzählerin kommentiert angesichts der Passkontrollen-Szene: Das war eine der Trotzreaktionen, derer ich damals noch fähig war und die, das fällt mir jetzt auf, im Alter seltener werden. Da steht das Wort schon auf dem Papier, angemessen beiläufig, das Wort, dessen Schatten mich damals, vor mehr als anderthalb Jahrzehnten, erst streifte, der sich inzwischen so stark verdichtet hat, daß ich fürchten muß, er könnte undurchdringlich werden, ehe ich meiner Berufspflicht nachkommen kann. Ehe ich also beschrieben habe, wie ich mein Gepäck vom Transportband herunterhievte, es auf einen der übergroßen Gepäckwagen lud und inmitten der verwirrenden Menschenmenge dem EXIT zustrebte. (SdE: 10; Hervorheb. i. Orig.)
Es wird deutlich, dass die Erzählerin nicht nur ein sprechendes Ich in einem Text ist, sondern sich selbst als eine Erzählerin und Schreibende versteht, die ihre Geschichte den Lesenden erzählt. Ohne dass die Erzählerin sich durch eine direkte Apostrophe an die Lesenden wendet, wird die Gemachtheit des literarischen Textes auf der Textoberfläche verhandelt.¹¹ Die Lesenden werden als solche adressiert und werden damit als implizite Leser Teil des narrativen Projektes, dem ein BekenntnisCharakter nicht abzusprechen ist.¹² Inhaltlich verweist die Erzählerin in dieser Passage wiederum auf eine schwierige Zeit, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht kontextualisiert wird, den Text aber in der Folge stetig begleitet. Im Anschluss an diese vorausblickende Selbstauskunft widmet sich die Protagonistin wieder dem Neuen und bei ihrem Weg in ihre Unterkunft tauchen allerhand Exotismen auf: Schwarze, die ihr Gepäck tragen und die Autotüren öffnen (vgl.: SdE: 10), Puerto-Ricaner, die Taxi fahren (vgl.: SdE: 11), der Anhauch des Südens, der sie an den Ort − das Schwarze Meer (vgl.: SdE: 11) − erinnert, der unter den aus der DDR erreichbaren Orten am intensivsten mit der Konzeption eines exotischen Orients verbunden ist (vgl.: SdE: 11). Die Gleichsetzung der klimatischen Begebenheiten von Ost und West – Schwarzem Meer und Pazifischem Ozean – verweisen überdies auf Globalisierungserfahrungen, die sich durch den Zusammenbruch des Ostblocks ergeben haben. Auch der westliche Kapitalismus erhält seinen Raum, wenn „weltbekannte Markennamen“ (SdE: 11) als Reklame
Ein weiteres Beispiel hierfür ist, dass die Erzählerin gedenkt, „einige der wichtigsten Personen einzuführen, die meinem Aufenthalt Spannung geben sollten.“ (SdE: 29). Vgl. hierzu das Kapitel Schreibweisen des Autobiographischen und der Beleg des Lebens.
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aufscheinen und das Hotelzimmer wegen seiner Größe zur „Verschwendung“ (SdE: 12) deklariert wird. Das Ergebnis dieser Konfrontationen mit der Welt von Los Angeles ist das Gefühl einer Ent-Ortung: „Ein Wort wie »geordnet« war hier wohl fehl am Platze, auf dieser Küstenstraße, womöglich auf diesem Kontinent.“ (SdE: 11) Der angedeuteten Klimax Küstenstraße – Kontinent fehlt eigentlich noch ihr Drittes, das sie komplettieren würde: auf dieser Welt. Die Protagonistin kann dies aber in diesem Kontext (noch) nicht formulieren. Die langsame Reduktion des Beherrschbaren entrückt nicht den letzten Bezugspunkt „East Germany“ (SdE: 9) und gemahnt damit das bereits zitierte Diktum Ilse Nagelschmidts, dass das „Schreiben nach 1989 in Ostdeutschland […] vor allem Schreiben wider die Entortung gelebtem Lebens“¹³ ist. So ruft sie an ihrem „Herkunftsort“ (SdE: 15), „dort wo sie herkommt[,] an“ (SdE: 12). Dass trotz der positiven Bezugnahme dieser Bestimmungsort fragil ist, wird mit dem Kommentar zu den Kollegen und Kolleginnen im CENTER deutlich: „Keiner war so taktlos, mich direkt darauf anzusprechen, aber sie [die Kollegen; M.K.] hätten schon ganz gerne gewußt, wie eine sich fühlte, die geradewegs aus einem untergegangenen Staat kam.“ (SdE: 15) Es hat sich ein Bewusstsein über die politischen Veränderungen ausgebildet, allerdings fehlt eine positive Bezugnahme auf das Neue dieser Welt. Dies äußert sich sogar in der kulinarischen Erfahrung: Denn „auf der anderen Seite der Erdkugel gelandet“ (SdE: 12 f.), „schmeckte [es nur] merkwürdig“ (SdE: 12). Die Erzählerin muss sich fragen, „wozu das gut sein soll“ (SdE: 13). So erscheinen die ständigen Träume (vgl.: SdE: 12, 13, 15) − ein Verweis auf die titelgebende Traumdeutung Freuds − sowie die Assoziation als Teil des Unbewussten, das aus dem „unerfahrenen Reflexwesen“ (SdE: 10) spricht. In den assoziativen Gedankengängen taucht mehrfach die DDR auf, die in Kontrast zum Neuen gesetzt wird: Der DDR-Kaffee (vgl.: SdE: 15), zweimal der 4. November 1989 (vgl.: SdE: 22 f., 25), die „Kolonisierungserfahrungen“ (SdE: 16), der 9. November 1989 (vgl.: SdE: 24). Auf der anderen Seite dagegen konstatiert sie: „Hätte man mir ein Bild der Welt von heute gezeigt, ich hätte diesem Bild nicht geglaubt, obwohl meine Zukunftsvisionen düster genug waren.“ (SdE: 14) Für diese Sichtweise steht die Elevatorsyndrom-Szene, in der belangloser Smalltalk und vor allem die standardisierte Antwort Fine auf die Frage nach dem Befinden als Kontrast zu nur implizit angedeuteten tiefen Gesprächen einer Vorzeit kontrastiert werden (vgl.: SdE: 18). Von einem Kollegen wird diese Ambivalenz − die Reflexionsprozesse der Erzählerin zusammenfassend − auf den Punkt gebracht: „Das verflixte ist, hatte er gesagt, du kannst über die Geschichte von good
Nagelschmidt: „Vom Stiften und Hinterfragen einer Gedächtnisgemeinschaft in Ostdeutschland nach 1989“, S. 177.
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old Europe nirgendwo besser arbeiten als hier in der Neuen Welt.“ (SdE: 16) Dieses Gespräch mit dem Vorbewohner des Hotelzimmers, dem Historiker Bill, nimmt schließlich noch eine weitere Wendung: Bei jeder Kolonisierung, sagte er [Bill; M.K.], sei es das erste, die Religion, den Glauben der Unterworfenen auszurotten, um ihnen ihre Identität zu nehmen. Außerdem, das höre sich vielleicht unglaubhaft an, hätten die Eroberer aus einem tiefsitzenden Minderwertigkeitskomplex heraus das dringende Bedürfnis, nicht nur ihre Waffen, nicht nur ihre Waren, auch ihre Glaubens- und Gedankenwelt als die überlegene zu behaupten. Das weiß ich doch, hatte ich gesagt, und Bill, der Engländer, hatte mich prüfend angesehen: Ihr erfahrt das gerade, wie? Er hatte nicht auf einer Antwort bestanden. Manchmal, wenn ich abends ein Glas Wein aus seinem Vorrat trank, stieß ich in Gedanken mit ihm an. (SdE: 16; Hervorheb. M.K.)
Durch das nicht näher bestimmte ihr werden Kolonisation und die Erfahrungen nach dem Ende der DDR analogisiert. Weder spezifiziert Bill, wer das erfahrende ihr konkret sein soll, noch kommentiert die Protagonistin Bills Aussage. Lediglich das gedankliche Anstoßen mit Wein ist als stumme Zustimmung zu verstehen. Die Protagonistin erfährt den Verlust von Identität durch das Gefühl des Verlustes einer Weltanschauung. Dies wird zumindest von ihr verlangt, denn die Protagonistin distanziert sich nicht von dem ihr und damit wiederum nicht von der dazugehörigen Zuschreibung einer Kollektivität.Vielmehr muss Bills Satz, Ihr erfahrt das gerade, wie?, so verstanden werden: Mit der Niederlage des Realsozialismus geht die Forderung nach dem Verlust von Weltanschauung und bisheriger Selbstbestimmung einher. Implizit bleibt, wer diese Forderung ausspricht und an wen sie eigentlich adressiert ist. Die Protagonistin fühlt sich von dem Gefühl herausgefordert, was zu einer reflektierenden Hinterfragung der eigenen Zugehörigkeit führt und gleichermaßen eine Abwehrhaltung provoziert. Diese Ambivalenz fühlt die Protagonistin in ihrem Verhältnis zu allen politischen Systemen, in denen sie gelebt hat, und überträgt es auf das Verhältnis des politischen Systems zu ihr: „[W]ie unterschiedlich die Gründe für das Misstrauen gegen mich in den verschiedenen Gesellschaftsformationen waren, in denen ich gelebt hatte und lebte.“ (SdE: 18) Ein spezieller Ort ist das Hotel Ms.Victoria, da es „ein magischer Ort“ (SdE: 26) ist, an dem später die philosophischen Gespräche mit dem Benjamin-Forscher Peter Gutman, als dessen reales Pendant die Forschungsliteratur Irving Wohlfarth nennt,¹⁴ stattfinden und wo die Frage von Erinnern und Vergessen besonders gut verhandelt werden kann. Darüber hinaus kontrastiert das Hotel die Neue Welt, die
Vgl.: Haase, Michael: „Christa Wolfs letzter ‚Selbstversuch‘. Zum Konzept der subjektiven Authentizität in ‚Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud‘“, in: Gansel, Carsten (Hrsg.): Christa Wolf − Im Strom der Erinnerung, Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 215 – 230, hier S. 224.
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die Protagonistin überfordert. Es wird ein Rückzugsort, an dem sie versucht, Altbekanntes zu evozieren, das − zumindest kurzfristig – zur Heimat werden kann. Bereits der volle Name weist darauf hin: „Zum ersten Mal das Blechschild, am Eisenzaun befestigt, angestrahlt: Hotel Ms. Victoria Old World Charme.“ (SdE: 11; Hervorheb. i. Orig.) Der Charme der alten Welt bezeichnet nur vordergründig Europa und bietet vielmehr eine Heimat, welche die Protagonistin an ihre alte Welt, das Leben in der DDR, anschließen lässt. Gleichzeitig verweist gerade der Begriff Charme auf die alte Welt eines Europas, das spätestens mit dem Nationalsozialismus untergegangen ist und das der Text fortwährend durch seine intertextuellen Verweise einzuholen versucht. Zuletzt ist in diesem Kontext noch auf eine Szene hinzuweisen, die auf die Ausweiskontrolle am Flughafen referiert. Beim Betreten des Centers, an dem die Protagonistin als Stipendiatin während ihres Aufenthaltes in L.A. tätig ist, kommt es zu einer Bemerkung über eine Identity Card: Wie immer stieg ich im vierten Stock aus, wo der schwarze Security-Mann mich schon mit meinem Namen anzureden wußte und mir einen Umschlag überreichte, der für mich abgegeben worden war; wo ich automatisch zum richtigen Haken im Schränkchen mit dem Schlüssel griff, Identity Card, mit meinem Foto versehen, am Jackettaufschlag zu befestigen, ein weiteres wichtiges Zeichen für Zugehörigkeit, und darauf kam es ja schließlich an. (SdE: 18 f.)
Der Halbsatz, und darauf kam es ja schließlich an, soll eine ironische Brechung des vorher Gesagten darstellen. Gerade in Kontrast zu der Passkontrolle am Anfang des Kapitels, in welcher der Ausweis einer Selbstverortung als ‚Ostdeutsche‘ dient, wirkt die Ironisierung nun paradox. Es ist unklar, ob der ostdeutsche Ausweis als Bestätigung einer Identität dienen, während die Identitiy Card des Centers keine Zugehörigkeit bezeichnen soll. Die Verortung, also welche Zugehörigkeit nun ein wichtiges Zeichen sei, verharrt in dieser Ambiguität. Robert Stockhammer hat darauf hingewiesen, dass der Ausweis (frz. Carte d’identité; engl. Identity card; Schweiz: Identitätskarte) ein nicht dekonstruierbares Phänomen ist, da keine Möglichkeit der Subversion vorliegt.¹⁵ Man kann einen Ausweis ungültig machen, ihn fälschen, ihn nicht verstehen, es besteht aber keine Möglichkeit der Umdeutung und Unterwanderung. Als tatsächliche Ausweisung einer Identität besteht er. Im Fall von Stadt der Engel stehen nun zwei Formen dieser Ausweisung nebeneinander, ohne miteinander im engeren Sinn produktiv zu interagieren. Sie stehen für zwei Formen der Identifizierung, die der Text in seiner Folge unaufhörlich bearbeitet: Zum einen einer alten ostdeutschen Identifizierung, die sich durch den Verlust des Staates und
Vgl.: Stockhammer, Robert: ‚Literatur‘, nach einem Genozid. Äußerungsakte, Äußerungsformen, Äußerungsdelikte, Aachen: Shaker 2010, S. 58.
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mit ihm eines dazugehörigen Wertekompasses auszeichnet, zum anderen aber der offenen Frage, wie sich ostdeutsche Selbstbilder nun angesichts der globalisierten Welt neu zu verorten haben.¹⁶
2 Erinnern und Vergessen – Christa Wolf liest Freud und Benjamin Ausgraben und Erinnern – Zur narrativen Struktur Wie ich im Folgenden zeige, spielt das Vergessen bei den Konstruktionen von Identifizierungen eine entscheidende Rolle, die sich im dialektischen Verhältnis von Vergessen und Erinnern äußert. Dabei spielt Walter Benjamins Denkbild Ausgraben und Erinnern, das Stadt der Engel ausschnittsweise vorangestellt ist, eine nicht unwesentliche Rolle, bezeichnet es doch genau die Dialektik von Erinnerung und Vergessen, die für eine Identifizierung konstitutiv ist. Wie Wolf selbst im Gespräch formuliert, geht die landläufige Meinung davon aus, dass es für die Herstellung einer kohärenten Identität lediglich einer Erinnerungsfähigkeit bedarf, die die Lücken des Vergessens passend füllt: „[U]nsere Identität [ist; M.K.] an die Masse unserer Erinnerungen geknüpft […]; manche meinen, die Erinnerung eines Menschen und seine Identität seien identisch.“¹⁷ Wolfs Kommentierung weist eine gewisse Skepsis gegenüber dem Referierten aus, die Stadt der Engel in der Dialektik von Erinnerung und Vergessen fortwährend bestätigt. So wird schon auf der ersten Seite deutlich, dass Identität in der Narration fehlschlägt, wie es der Text in Rekurs auf das zweite vorangestellte Zitat begründet. Die Erzählerin zitiert dort den amerikanischen Schriftsteller Edgar Lawrence Doctorow: „Die wirkliche Konsistenz von gelebtem Leben kann kein Schriftsteller wiedergeben.“ (SdE: 9). Apodiktisch wird damit vorab erklärt, dass jeder Versuch, eine kohärente Identität zu erschreiben, für die Erzählerin zum Scheitern verurteilt ist. Stattdessen stehen sich die Ichs (von 1992/93 und 2007/ 2008) sowie die verschiedenen Formen des Du (aus den Erinnerungssequenzen an das Leben vor dem Aufenthalt in Los Angeles) in der Unterschiedlichkeit ihrer
Quernheim hat schon für die frühe Prosa festgehalten, dass die Arbeit an Subjektivitäten in Wolfs Texten immer mit der jeweiligen Gesellschaftsordnung verknüpft ist, welche die Erzählungen behandeln. Dieses Feststellung reflektiert Stadt der Engel genau am Übergang der Gesellschaftsordnungen. Vgl.: Quernheim, Mechthild: Das moralische Ich. Kritische Studien zur Subjektwerdung in der Erzählprosa Christa Wolfs, Würzburg: Königshausen & Neumann 1990, S. 107. Wolf, Christa: „Nachdenken über den blinden Fleck“, in: Dies.: Rede, daß ich dich sehe. Essays, Reden, Gespräche, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 72– 95, hier S. 78.
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Personalpronomen gegenüber. Im Rückgriff auf Walter Benjamins Ausgraben und Erinnern, klärt sich dementsprechend auch, warum der Text nicht eine kohärente Narration vom Beginn der DDR bis kurz nach ihrem Untergang bildet, stellt dies doch den eigentlichen zeitlichen Rahmen dar, welchen Stadt der Engel behandelt. Schließlich ist das zentrale Element des ersten Teiles der Handlung das Verhältnis zu den eigenen Stasi-Akten. Die ohne jegliche Begründung in Versform geordneten Zeilen aus Ausgraben und Erinnern sollen dies beantworten: So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. (SdE: 7)¹⁸
Soll der Ort historischer Erkenntnis bezeichnet werden, kann das nur in Form einer nicht-linearen Darstellung der Geschichte erfolgen, in der durch diese narrative Form die Brüchigkeit einer Vorstellung von Identität in den Mittelpunkt rückt. Nimmt man Benjamin beim Wort, muss von einer Ebene ausgegangen werden, die Rückblicke ermöglicht, wobei diese als narrative Zentrale fungiert. Mit der Brüchigkeit zwischen den verschiedenen narrativen Zeitebenen rückt die Nichtidentität zwischen erinnerndem und erinnertem Ich in den Fokus. Wolf hat bereits in früheren Werken die Subjektkonstitution und die Möglichkeit zur Selbsterfahrung problematisiert.¹⁹ Stadt der Engel stellt dieses Problem in der temporalen Anlage der Narration aus: So bleibt konstitutiv unklar, ob es das schreibende Ich ist, das sich von den Jahren 2007/08 an die Ereignisse von 1992/93 und darüber hinaus zurückerinnert. Ein Hinweis für eine Deutung gibt das Verhältnis zu DDR und Ostdeutschland: Es gibt gute Gründe von einer radikalen Diskontinuität zwischen den erzählenden Ebenen auszugehen und die Protagonistin selbst als eine Erzählerin ihrer Erinnerungen zu verstehen, die nicht durch die Erzählerin perspektiviert wird, welche wiederum aufgrund ihrer historischen Situierung schon um Informationen über den historischen Verlauf verfügt. In diesem Fall wäre im Anschluss an Genette die Ebene der Erzählerin von 2007/2008 als extradiegetisch, diejenige der Protagonistin als intradiegetisch und die Erinnerungen an die DDR-Zeit als metadiegetisch zu bezeichnen.²⁰ Als zeitliche Ab-
Vgl. auch: Benjamin: „Ausgraben und Erinnern“, B-GS IV, S. 400. Vgl. hierzu z. B.: „Die große Hoffnung oder über die Schwierigkeit »ich« zu sagen“, Wolf, Christa: Nachdenken über Christa T., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 199; sowie: „»Selbst«, welch ein schwankender, unscharfer Begriff.“, Wolf, Christa: Leibhaftig, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 126. Vgl. zur Terminologie: Genette: Die Erzählung, S. 225 – 232, insbes. S. 229.
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grenzungen, die die Brüche markieren, dienen die Ankunft in und die Abreise von Los Angeles. Während der zweite Bruch in dieser Lesart sich zwar durch einen Wissensunterschied auszeichnet, ist es trotzdem noch möglich, mit dem Ich das gleiche Personalpronomen zu verwenden. Der erste Umbruch markiert demgegenüber einen Unterschied ums Ganze aus. Dort wird die Diskontinuität dadurch ausgestellt, dass die eigene Vergangenheit nicht mehr als Ich, sondern nur noch als Du angesprochen werden kann. Dieses Auseinandertreten stellt die beiden Ebenen nicht nur in einen Dialog miteinander und ist Zeugnis einer Entfremdung, in der die eine Instanz die andere zu ihrem Objekt macht und gewissermaßen über sie richtet. Allerdings brechen sich diese Ebenen ständig gegenseitig auf und sind nicht von Kontinuitäten gezeichnet. Eine klare Bestimmung, von welcher Ebene welche Erinnerung erzählt wird, ist letztlich durch die Verschränkung und Überschreitung nicht möglich. Die Erzählsituation bewegt sich zwischen einem analeptischen und einem metadiegetischen Erzählen, das an einigen Stellen ineinander fällt und an anderen auseinandertritt. Die Uneindeutigkeit der Erzählsituation, die Unklarheit, wer eigentlich spricht, wer das Ich ist, das die Rezipierenden als jeweilige Erzählinstanz hören, und wie es sein früheres Ich zum Objekt seiner Betrachtung macht, zeichnet die narrative Gestaltung von Stadt der Engel aus. Narrativ wird die (Un‐)Möglichkeit von Identität und Kontinuität problematisiert. Christa Wolf hat ähnlich, wenngleich etwas zurückhaltender, im Gespräch formuliert: „Man ist immer Ich gewesen, aber man kann sich später manchmal nicht mehr in dieses alte Ich hineinversetzen.“²¹ Der politische Systemwechsel bildet den Ausgangspunkt, der zu einem Bewusstsein von Diskontinuität führt, wie es sich an der Verschiebung von Ich zum Du zeigt.²² Noch einmal zurück zu Benjamins Denkbild Ausgraben und Erinnern: Das in Stadt der Engel verwendete Zitat ist nur ein Ausschnitt des Textes. Benjamin beginnt dort mit der Feststellung, dass das Gedächtnis ein Medium ist: „Die Sprache hat es umißverständlich bedeutet, daß das Gedächtnis nicht ein Instrument für die Erkundung des Vergangnen ist, vielmehr das Medium. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die alten Städte verschüttet liegen.“²³ Das Mediale des Gedächtnisses sowie die Analogie zur Archäologie lassen Assoziationen zu Sigmund Freud zu, der im Untertitel The Overcoat of Dr.
Wolf, Christa: „»Wir haben dieses Land geliebt«. Gespräch mit Susanne Beyer und Volker Haage“, in: Dies.: Rede, daß ich dich sehe. Essays, Reden, Gespräche, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 188 – 204, hier S. 192. Auch diejenigen Teile, die in der Du-Form erzählt werden und von Ereignissen nach der ‚Wende‘ sprechen, verweisen durch Hinweise (wie Täterakte) immer auf die Zeit vor 1989. Benjamin: „Ausgraben und Erinnern“, B-GS IV, S. 400.
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Freud namentlich erwähnt wird.²⁴ Es ist daher anzumerken, dass die Forschung seit geraumer Zeit intensiv auf die Zusammenhänge zwischen Freud und Benjamin hingewiesen hat.²⁵ In Benjamins Denkbild heißt es: „Vor allem darf er [der Erinnernde; M.K.] sich nicht scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen – ihn auszustreuen wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen, wie man Erdreich umwühlt.“²⁶ Das ständige Insistieren und Zurückkommen findet sich ebenso in Freuds psychoanalytischer Theorie. Insbesondere im ersten Teil ist Stadt der Engel darum bemüht, eine Erklärung zu liefern, wie die Protagonistin mit der Staatssicherheit zusammenarbeiten und wie dies in Vergessenheit geraten konnte. Während die konkrete Beantwortung dieses Aspekts erst zur Hälfte des Textes (vgl.: SdE: 185) in den Blick rückt, bearbeiten große Teile der vorherigen Erinnerungen andere Teile des Lebens. So finden sich Erinnerungen an die enthusiastische und antifaschistische Gründungsgeneration der DDR (vgl. z. B.: SdE: 82−87), aber auch an die einschneidenden Ereignisse, die zur Distanzierung führen, wie das 11. Plenum des ZK der SED 1965 (vgl.: SdE: 188) oder die Biermann-Ausbürgerung 1976 (vgl.: SdE: 156). Von gleicher Bedeutung sind die Reminiszenzen an die großen Hoffnungen, die sich vor allem in den Ereignissen des 4. November 1989 manifestieren (vgl.: SdE: 25, 411). Die Handlungsebene von 1992 lässt sich in drei Teile einteilen, die durchaus mit der psychoanalytischen Trias Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten beschrieben werden können. Auf die theoretischen Implikationen der freudschen Theorie gehe ich im folgenden Kapitel ein. In einer solchen Lesart muss man das Ringen um Erinnerung als die Suche nach einer Begründung für die eigene StasiVergangenheit verstehen, die weit mehr als die Hälfte des Textes begleitet. Die Reinigungsszenen, in denen die Protagonistin ihre Krise zu überwinden beginnt, wären mit dem Wiederholen zu assoziieren, die im Kapitel Zur Überwindung von Krisen – Reinigungen und Genesungen behandelt werden und in denen die traumatischen Erinnerungen noch einmal durchgespielt werden, ehe mit dem Durcharbeiten, das den Schlussteil des Textes bildet, der Abgleich mit den Hopi, der Auftritt des Engels Angelina und im Anschluss an einen Aufenthalt in Las
Vgl. hierzu: Freud: „Konstruktionen in der Analyse“, in: StA Ergänzungsband, S. 397. Vgl. hierzu exemplarisch: Weigel, Sigrid: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1997; Lindner, Burkhardt: „Benjamins Transformationen der Psychoanalyse“, in: Ders.: Studien zu Benjamin, hrsg. von Jessica Nitsche / Nadine Werner, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2016, S. 358 – 470; Werner: Archäologie des Erinnerns; Lemke, Anja: Gedächtnisräume des Selbst. Walter Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008. Benjamin: „Ausgraben und Erinnern“, B-GS IV, S. 400.
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Vegas der neuerliche Anflug auf Los Angeles erfolgt.²⁷ Hier bilden sich in der Konfrontation mit diesen Phänomenen neue Möglichkeiten für die Protagonistin und die Erzählerin aus, sich zur eigenen Vergangenheit ins Verhältnis zu setzen.
Verdrängt oder Vergessen? Der blinde Fleck Eine Reflexion über zwanghaftes Erinnern, von dem bereits die Rede war, ruft unweigerlich Sigmund Freud auf den Plan. So heißt es bei ihm: Wir haben nun gehört, der Analysierte wiederholt, anstatt zu erinnern, er wiederholt unter den Bedingungen des Widerstandes; wir dürfen jetzt fragen, was wiederholt oder agiert er eigentlich? Die Antwort lautet, er wiederholt alles, was sich aus den Quellen seines Verdrängten bereits in seinem offenkundigen Wesen durchgesetzt hat, seine Hemmungen und unbrauchbaren Einstellungen, seine pathologischen Charakterzüge.²⁸
Bei Freud wendet sich der Wiederholungszwang gegen das Erinnern. Statt sich zu erinnern, kann nur agiert werden.²⁹ Allerdings geschieht dies unter den Bedingungen des Widerstandes, also dem, was sich aus den Quellen seines Verdrängten im Charakter sedimentiert hat. Das Verdrängte bzw. vorsichtiger formuliert das Vergessene ist in Stadt der Engel kein frühkindlicher Komplex, sondern der Konflikt mit dem eigenen „starke[n] Über-Ich“ (SdE: 286), das als „protestantische[s] Gewissen“ (SdE: 353) wirkt. Es drückt sich durch eine fortwährende Suche nach der eigenen Schuld aus, die durch ein zwanghaftes Erinnern geprägt ist. Irving Wohlfarth argumentiert, dass ein regelrechter Teufelspakt zwischen der Überwachung durch das protestantische Über-Ich und den Überwachungspraktiken der DDR vorliegt, in dem die Letztgenannten den Untergang des Staates so überdauern würden.³⁰ Wohlfarth ist durchaus zuzustimmen, wenn er davon spricht, dass so ein Überwachen und Strafen (der DDR) durch ein anderes (des Gewissens) ersetzt würde,³¹ womit er indirekt auf den zwanghaften Charakter dieses Erinnerns hinweist. Stadt der Engel rekapituliert in der ersten Hälfte des Textes nicht ein konkretes Ereignis, sondern die Gedanken der Protagonistin kreisen um verschiedene Erinnerungen aus der DDR-Zeit. Der Text vermeidet es, durch sein fortwährendes Erinnern den eigentlichen neuralgischen Punkt (die
Vgl. hierzu die Kapitel „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“ – Die Anderen der Globalisierung sowie Der Engel ihrer Geschichte. Freud: „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“, StA Ergänzungsband, S. 211. Vgl.: Freud: „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten.“, StA Ergänzungsband, S. 209 f. Vgl.: Wohlfarth, Irving: „Was bleibt. Christa Wolfs vergangene Zukunft“, Zeitschrift für kritische Theorie 38/39 (2014), S. 173 – 202, hier S. 189. Vgl.: Wohlfarth: „Was bleibt“, S. 198.
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eigene Stasi-Vergangenheit) zu erzählen. Er kontextualisiert durch diese Erinnerungsprozesse aber das gesamte vergangene Leben der Erzählerin in dem untergegangen Staat. Ab dem Moment, in dem die Protagonistin Erinnerungen an die Treffen mit der Staatssicherheit ausspricht, folgt der Text dem psychoanalytischen Schema einer „Verschlimmerung während der Kur“³². Die später erfolgende Einordnung der ‚Tat‘ (vgl.: SdE: 272) versöhnt die Protagonistin wieder mit ihrer Erinnerung, sodass man durchaus von einer kathartischen Erfahrung der Protagonistin sprechen kann.³³ Der Konflikt, der Text, Protagonistin und Erzählerin bestimmt, ist an die Frage gebunden, die Stadt der Engel paradigmatisch aufwirft: „Wie hatte ich das vergessen können?“ (SdE: 205). Die Suche nach dem „altbekannte[n] Problem des blinden Flecks“ (SdE: 108), den die erzählende Instanz beleuchten will, muss als Abwehr gegenüber dem „Horror vor dem Vergessen“³⁴, den Wolf schon früher formulierte, verstanden werden.³⁵ Wie Wolf auf einem psychoanalytischen Kongress im Vortrag deutlich machte, hängen bei ihr Erinnern und Vergessen konstitutiv zusammen: Über Erinnern möchte ich sprechen – das erste Glied in der Triade jener Begriffe, die den psychoanalytischen Prozeß kennzeichnen und denen Ihr Kongreß gewidmet ist: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Es ist seit langem mein Thema, es hat mich gereizt im Doppelsinn des Wortes, es hat mich beschäftigt, herausgefordert, erregt, ist mir − als Vergessen – nahegegangen, hat mich in Konflikten und Krisen gestürzt und mich manchmal, in Trauer und Selbstzweifel getrieben.³⁶
Freud: „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“, StA Ergänzungsband, S. 212. Vgl. das Kapitel Zur Überwindung von Krisen – Reinigungen und Genesungen. Wolf, Christa: Ein Tag im Jahr. 1960−2000, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 10. In dem Gesprächsbuch zwischen der Enkelin Jana Simon und den Großeltern Christa und Gerhard Wolf findet sich eine überaus passende Passage, welche Wolfs Erzählung der eigenen Stasi-Vergangenheit aufgreift: „JS [Jana Simon; M.K.]: ‚Das wollte ich dich schon lange einmal fragen, wie war das mit deiner Stasigeschichte?‘ CW [Christa Wolf; M.K.]: ‚Ich wusste es überhaupt nicht mehr. Es war ja auch eigentlich nichts gewesen. Ich hatte nichts unterschrieben. Die Staatssicherheit hat mich als IM geführt, was ich nicht wusste. Später entsann ich mich, dass ich […] mich zweimal mit solchen Typen getroffen hatte, aber ich hatte diese Treffen überhaupt nicht als IM-Treffen eingeordnet. Die Bezeichnung IM kannte man früher noch nicht.‘“, Simon, Jana: Sei dennoch unverzagt. Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf, Berlin: Ullstein 2015, S. 151 f. Wolf: „Nachdenken über den blinden Fleck“, S. 72.
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Wolfs Konzeption, Vergessen als Teil der Erinnerung zu verstehen, dreht nicht nur Benjamins Diktum um, dass Vergessen Erinnerung sei³⁷, sondern mahnt Freud an, bei dem sich Vergessen nur an den Erinnerungsspuren vollziehen kann: „Über den Mechanismus des eigentlichen Vergessens kann ich etwas folgende Andeutungen geben: Das Erinnerungsmaterial unterliegt im allgemeinen zwei Einflüssen, der Verdichtung und Entstellung.“³⁸ Etwas muss im Gedächtnis sein, um Vergessen werden zu können. Es wird jedoch nicht einfach vergessen, sondern laut Freud verdichtet (verschiedene Erinnerungen ziehen sich zu einer zusammen) oder entstellt (verdrängt und vom Widerstand überformt). In dieser Dialektik bewegt sich Wolfs Text. Ständig sind die Lesenden mit der Arbeit der Erinnerung, dem Herumwühlen im Gedächtnis, konfrontiert. Der Versuch besteht darin, den blinden Fleck³⁹ kleinzuhalten. Doch dies gestaltet sich schwierig. So weist Wolf selbst auf die Herkunft dieses Begriffes hin: [D]er »blinde Fleck«. Ursprünglich physiologisch gesprochen, handelt es sich um den »lichtunempfindlichen Fleck der Netzhaut des Wirbeltierauges im Bereich des Sehnerveneintritts«. Im übertragenen Sinn signalisiert er die Wahrnehmungsschwäche, oft Abwehr, einer Person – oder einer Gruppe von Personen – gegenüber bestimmten Realitätssegmenten, gern gegenüber moralischen Reizen. Keiner von uns ist ohne blinden Fleck oder ohne blinde Flecken, Schutzmechanismen gegenüber Wahrheiten und Einsichten, die, zumindest zu einem bestimmten Zeitpunkt, unerträglich wären.⁴⁰
So wie der blinde Fleck der Netzhaut konstitutiv ist, ist er es für die menschliche Psyche. Das Vergessen ist als der blinde Fleck zu verstehen, den es trotz seines axiomatischen Charakters aufzuarbeiten gilt: DER BLINDE FLECK schrieb ich zu Hause auf meinem Maschinchen, VIELLEICHT IST ES UNS AUFGEGEBEN, DEN BLINDEN FLECK, DER ANSCHEINEND IM ZENTRUM UNSERES BEWUSSTSEINS SITZT UND DESHALB VON UNS NICHT BEMERKT WERDEN KANN, ALLMÄHLICH VON DEN RÄNDERN HER ZU VERKLEINERN. SO DASS WIR ETWAS MEHR RAUM
Vgl.: Benjamin: „Zum Bilde Prousts“, B-GS II, S. 311. Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum), in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4., hrsg. von Anna Freud, Frankfurt a. M.: S. Fischer [u. a.] 1941, S. 304. Der blinde Fleck taucht werkgeschichtlich auch bereits in den 1980er Jahren in Störfall auf. Hier wird er in Bezug auf Joseph Conrad eingeführt, vgl.: Wolf, Christa: Störfall. Nachrichten eines Tages, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 108 f.; Ludorowska, Halina: „‚Denkmalsturz‘. Kontexte der Stasi-Debatte und ihre literarische Thematisierung in Christa Wolfs ‚Stadt der Engel‘ (2010)“, in: Kunicki, Wojciech / Bartoszewicz, Iwona (Hrsg.): Literaturwissenschaft. Raum und Medialität, Wrocław: ATUT 2013, S. 165 – 178, hier S. 173. Wolf: „Nachdenken über den blinden Fleck“, S. 81.
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GEWINNEN, DER UNS SICHTBAR WIRD. BENENNBAR WIRD. ABER, schrieb ich WOLLEN WIR DAS ÜBERHAUPT. KÖNNEN WIR DAS ÜBERHAUPT WOLLEN. IST ES NICHT ZU GEFÄHRLICH. ZU SCHMERZHAFT. (SdE: 48; Hervorheb. i. Orig.)
Die Angst vor Aufklärung, die trotzdem unerbittlich betrieben wird, bezeichnet Wohlfarth aus diesem Grund als „ein Zusammen- und Versteckspiel zwischen dem realen und dem inneren Geheimdienst.“⁴¹ Wenn also das Vergessen die Tätigkeit für den realen Geheimdienst darstellt, ist das Erinnern die Aufgabe des inneren Geheimdienstes, des Gewissens: „Denn ihre [Wolfs; M.K.] Arbeit am blinden Fleck ist immer zugleich die des blinden Flecks gewesen.“⁴² So weist Lennart Koch darauf hin, dass die Frage einer unveränderlichen Identität durch das Wissen um den blinden Fleck aufgebrochen wird: „Dieses Bewusstsein reflektiert die unvermeidliche Ignoranz in einem Begriff der Selbsterkenntnis, der immer prozessual gedacht ist, der sich im Fortlaufen der Erzählung selbst webt, schon in der Reflexion des Schreibprozesses wieder gebrochen wird.“⁴³ Der konstitutive blinde Fleck markiert, was niemals erfasst werden kann, aber zur Person gehört. Diese niemals völlig erfahrbare Konstellation führt immer mehr zur „Auflösung“ eines „erzählende[n] Ich[s, das sich] nicht im Modell des Cartesianischen Cogito präsentiert, sondern sich […] als kolonisiertes und kolonisierendes Ich im Schreibprozess selbst infrage stellt […].“⁴⁴ Wohlfarth charakterisiert daher die Konfrontation Wolfs – ebenso wie diejenige der Protagonistin in Stadt der Engel – mit der eigenen „Täterakte“ (SdE: 185) als eine Begegnung des Unheimlichen in der Freud’schen Terminologie.⁴⁵ Es gibt in diesem Kontext eine werkgeschichtliche Kontinuität, die bereits zu Beginn von Kindheitsmuster festgehalten wurde: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen uns von uns ab und stellen uns fremd. [… S]prachlos bleiben oder in der dritten Person leben, das scheint zur Wahl zu stehen. Das eine unmöglich, unheimlich das andere.“⁴⁶ Im Anschluss an das nicht
Wohlfarth: „Was bleibt“, S. 200. Wohlfarth, Irving: „Christa Wolf oder Die Arbeit des blinden Flecks“, Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaft 63/4 (2017), S. 562– 593, hier S. 563. Koch, Lennart: „»Ein unendlicher Strickstumpf«. Vergleich autobiografischer Merkmale in »Ein Tag im Jahr« und »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«“, in: Schmidt, Nadine J. / Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Christa Wolf, Text + Kritik 46, München: Ed. Text + Kritik 2012, S. 154– 170, hier S. 166. Koch: „»Ein unendlicher Strickstumpf«“, S. 167. Vgl.: Wohlfarth: „Blinder Fleck“, S. 563. Wolf, Christa: Kindheitsmuster, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 11.
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markierte Zitat William Faulkners,⁴⁷ das die Bedeutung der Geschichte − im persönlichen Fall des Gedächtnisses − betont, wird die (sich daraus ergebende) konstitutive innere Fremdheit hervorgehoben und die Frage, wie darüber gesprochen wird bzw. erzählt werden kann, in den Mittelpunkt gerückt. In ähnlicher Weise hat Julia Kristeva das Verhältnis zur eigenen Fremdheit charakterisiert: In der faszinierenden Ablehnung, die der Fremde in uns hervorruft, steckt ein Moment jenes Unheimlichen, im Sinne der Entpersonalisierung, die Freud entdeckt hat […]. Das Fremde ist in uns selbst. Und wenn wir den Fremden fliehen oder bekämpfen, dann kämpfen wir gegen unser Unbewußtes – dieses »Uneigene« unseres nicht möglichen »Eigenen«.⁴⁸
Das Unbewusste, das als Sediment des Vergessens dem Bewusstsein mit seinen Trieben gegenübersteht, ist das Fremde. Es ist das, was laut Wolf abgetrennt und gegenübergestellt wird. Damit gibt es aber keine Möglichkeit zur Aufhebung und Verschmelzung, sondern es bleibt vielmehr unheimlich. So wird in Sigmund Freuds Aufsatz Das Unheimliche „[d]as Moment der Wiederholung des Gleichartigen […] Quelle des unheimlichen Gefühls“⁴⁹. Der Wiederholungszwang, wie oben beschrieben, ist aber vor allem ein Widerstand, der das eigentliche Erinnern durch die Ersetzung des Agierens verhindert.⁵⁰ Freud setzt den Widerstand maßgeblich im Ich an: „Nach dieser Ersetzung einer bloß deskriptiven Ausdrucksweise durch eine systematische oder dynamische können wir sagen, der Widerstand der Analysierten gehe von ihrem Ich aus […].“⁵¹ Ganz egal, ob der Widerstand im Ich oder Es sitzt,⁵² er hält die Erkenntnis über das Verdrängte – im Sinne Benjamins und Wolfs wahrhafte Erinnerung – auf, denn „jede Verdrängung beim Arzte entspricht […] einem blinden Fleck in seiner analytischen Wahrnehmung.“⁵³ Da die Protagonistin sich trotz des Ratschlages eines befreundeten Psychologen nicht in Therapie begibt (vgl.: SdE: 205), ist es vielmehr ihre eigene In Faulkners Requiem for a Nun heißt es: „The past is never dead. It’s not even past.“, Faulkner, William: Requiem for a Nun, New York: Random House 1950/1951, S. 92. Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst, übers. von Xenia Rajewsky, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 208 f. Freud: „Das Unheimliche“, StA IV, S. 259. Vgl. hierzu auch: Freud: „Jenseits des Lustprinzips“, StA III, S. 228 f. Freud: „Jenseits des Lustprinzips“, StA III, S. 229. Wie die Studienausgabe ausweist, gibt Freud in Hemmung, Symptom und Angst eine etwas andere Deutung, indem er den Wiederholungszwang als „Widerstand des Unbewußten“ bezeichnet und ins Es verschiebt. Ich sehe hier allerdings keine Veranlassung diesen Schritt mitzugehen, sind doch auch Teile des Ichs unbewusst, vgl. hierzu: Freud: „Hemmung, Symptom und Angst“, StA VI, S. 297 f.; Freud: Vorlesungen, StA I, S. 507. Freud: „Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung“, StA Ergänzungsband, S. 176.
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Aufgabe, den blinden Fleck zu minimieren. Laut Wolf liegt hierin das Potential von Literatur: Wenn ich nach Hause komme, habe ich auch einen ›neuen Blick‹. Dann sehe ich unsere eignen ›blinden Flecke‹ wieder schärfer, die Mechanismen, in die wir schwer eindringen, fallen mir stärker auf. […] Ich glaube, Literatur ist auch dazu da, die ›blinden Flecke‹ zu verkleinern, sie aufzuhellen. Dies zu tun ist nirgends leicht.⁵⁴
Der blinde Fleck findet in Stadt der Engel in der ambivalenten Gestalt des Overcoats seinen verdinglichten Gegenpart. Bereits Wohlfarth weist darauf hin, dass der blinde Fleck in Wolfs Schaffen eine ähnliche semantische Vielfältigkeit aufweise, wie Freuds Unheimliches.⁵⁵ Ebenso vielfältig erscheint jener Overcoat des Dr. Freud. Dieser hat auf den ersten Blick eine schützende Wirkung, wobei unklar bleibt, wovor genau er schützt. Deutlich wird jedoch, dass man ihn umdrehen muss, um sein Innenfutter zu sehen: „Diesen [den Overcoat; M.K.] müsste man umdrehen, heißt es, um an seine Innenseite heranzukommen; aber man trägt ihn, um eben diese Umkehr zu vermeiden.“⁵⁶ Der Text macht es schwer, die Ambiguität von Schutz und Erkenntnismöglichkeit aufzulösen. Trotz dieser Problemstellung erklärt die Protagonistin es mehrfach für unverzichtbar, das Innenfutter zu untersuchen (vgl. SdE: 177; 335 f.; 357). David Bathrick konstatiert, dass aufgrund dieses (erneut obsessiven) Verhaltens der Overcoat kein Mittel der Aufarbeitung sei. Vielmehr argumentiert er im Anschluss an Eric Santners Konzeption des narrative fetishism sei der Umhang ein Fetisch.⁵⁷ Für Santner ist ein narrativer Fetischismus eine Erscheinung, die Spuren eines traumatischen Verlustes verschleiert: „By narrative fetishism I mean the construction and deployment of a narrative consciously or unconsciously designed to expunge the traces of the trauma or loss that called that narrative into being in the first place.“⁵⁸ Passend hierzu ist die Tatsache, dass die Protagonistin den Hinweis einer Freundin
Wolf, Christa: „Zum Erscheinen des Buches ‚Kassandra‘. Gespräch mit Brigitte Zimmermann und Ursula Fröhlich“, in: Dies.: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959−1985, Darmstadt: Luchterhand 1987, S. 929 – 940, hier S. 937. Vgl.: Wohlfarth: „Blinder Fleck“, S. 566. Wohlfarth: „Blinder Fleck“, S. 574. Vgl.: Bathrick, David: „Fetisch oder Aufarbeitung? Zur Rolle des Dr. Freud in »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«“, in: Hörnigk, Therese / Gansel, Carsten (Hrsg.): Zwischen Moskauer Novelle und Stadt der Engel. Neue Perspektiven auf das Lebenswerk von Christa Wolf, Berlin: VBB 2015, S. 107– 116, hier S. 110 f. Santner, Eric L.: „History beyond the Pleasure Principle. Some Thoughts on the Representation of Trauma“, in: Friedländer, Saul (Hrsg.): Probing the Limits of Representation: Nazism and the „Final Solution“, Cambridge: Harvard University Press 1992, S. 143 – 154, hier S. 144.
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ignoriert, dass der Overcoat nicht schützen, sondern vielmehr „dir deinen Selbstschutz“ (SdE: 203) wegziehen wird. Damit ergibt sich auch eine Verbindung zur DDR. Der traumatische Verlust⁵⁹ ist doppelt zu verstehen: Zum einen in dem Vergessen der Ereignisse rund um den Inhalt der Täterakte und zum anderen als Verlust der bekannten staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung der DDR. Denn statt im ersten Moment den Schutz, den die Erinnerungen an die DDR der Protagonistin bieten, wegzuziehen, wird dieser wiederholt. Aber in dieser Wiederholung der Erinnerung wird Identität problematisiert. Laut Chiarloni findet sich in Stadt der Engel eine „Masse von Erzähltem, das sich auflöst und wieder zusammenfügt im Bewusstsein“⁶⁰. In Rekurs auf Chiarloni konstatiert Bathrick, dass diese Erinnerungen eine unendliche Wiederholung darstellen: „Ich würde dem nur hinzufügen: um sich immer wieder aufzulösen und auf neue Weise zusammenzufügen. […] Wiederholungen, die sich weigern, genaue Wiederholungen zu sein […]“⁶¹. Im Anschluss an Derridas différance muss eine solche Wiederholung als Verschiebung verstanden werden, die durch diesen Charakter nicht dazu führt, das Bild einer kohärenten Identität zu erzeugen, sondern differierende Bilder der Identifizierung.⁶²
Die zweite Person – Vergangenes sprechen lassen Das Vergangene soll, wie es der Blick auf Kindheitsmuster verdeutlicht, zur Sprache gebracht werden. Aber sowohl Kindheitsmuster als auch Stadt der Engel löst dies nicht durch die Verwendung der dritten Person. In den Erinnerungssequenzen tritt durchgängig die zweite Person auf: Ich ist die Gegenwartsebene, Du ist die Erinnerungsebene, und ich bin besonders stolz auf die Stellen, wo sich das manchmal im selben Satz bricht. […] Mein Wunschbild für einen Text
Kanz hält in diesem Kontext fest, dass man die Vorgänge auch als „Schmerzlich-Peinliches“ charakterisieren könnte. Trotzdem seien die Mechanismen der Freud’schen Theorie von Verdrängung und Vergessen die angemessenen Analysekategorien, vgl.: Kanz, Christine: „Gefühlsgedächtnis. Der Literaturstreit um Christa Wolf aus der Perspektive ihrer letzten Texte“, in: Schuster, Jörg / Schwarz, André / Süselbeck, Jan (Hrsg.): Transformationen literarischer Kommunikation. Kritik, Emotionalisierung und Medien vom 18. Jahrhundert bis heute, Berlin/Boston: De Gruyter 2017, S. 233 – 244, hier S. 240 f. Chiarloni, Anna: „Für eine Anamnese der Gegenwart. Zu Christa Wolfs »Stadt der Engel«“, in: Schmidt, Nadine J. / Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Christa Wolf, Text + Kritik 46, München: Ed. Text + Kritik 2012, S. 191– 199, hier S. 197. Bathrick: „Fetisch oder Aufarbeitung?“, S. 114. Zur Konzeption der différance, vgl.: Derrida, Jacques: „Die différance“, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, hrsg. von Peter Engelmann, übers. von Gerhard Ahrens, Wien: Passagen 1988, S. 29 – 52, insbes. S. 33 ff.
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ist ein Gewebe. Ich möchte ein Gewebe herstellen, wo die Fäden ineinanderwirken und übereinanderliegen, und dann entsteht ein Muster, das nicht auf einen Faden gefädelt ist. […] Man ist immer Ich gewesen, aber man kann sich später manchmal nicht mehr in dieses alte Ich hineinversetzen.⁶³
Das Gewebe als poetologische Metapher findet bereits in den Frankfurter PoetikVorlesungen Verwendung: „[D]as Gewebe – das übrigens, falls ich eine Poetik hätte, als ästhetisches Gebilde in ihrem Zentrum stünde – das Gewebe, das ich Ihnen nun vorlegen will, ist nicht ganz ordentlich geworden, nicht mit einem Blick überschaubar, manche seiner Motive sind nicht ausgeführt, mache seiner Fäden verschlungen.“⁶⁴ Wolf schließt an bekannte Verwendungen von Gewebe als TextMetapher an.⁶⁵ Wolfs Verschränkung der Gewebe-Metaphorik mit der Problematisierung von Erinnerung und Vergessen referiert erneut auf Benjamin, der in seinem Proust-Aufsatz das Weben in dieser Dialektik situiert: Denn hier spielt für den erinnernden Autor die Hauptrolle gar nicht, was er erlebt hat, sondern das Weben seiner Erinnerung, die Penelopearbeit des Eingedenkens. Oder sollte man nicht besser von einem Penelopewerk des Vergessens reden? Steht nicht das ungewollte Eingedenken, Prousts mémoire involontaire dem Vergessen viel näher als dem, was meist Erinnerung genannt wird? Und ist dies Werk spontanen Eingedenkens, in dem Erinnerung der Einschlag und Vergessen der Zettel ist, nicht vielmehr ein Gegenstück zum Werk der Penelope als sein Ebenbild?⁶⁶
Zwar sind mit Einschlag und Zettel die beiden Fäden des Webens, Kett- und Schussfaden, gemeint,⁶⁷ doch verweist ihre Bedeutung auf eine weitere poetologische Dimension. Der Zettel ist als dasjenige, auf das geschrieben wird, zu verstehen. Benjamin bezeichnet es als Vergessen. Versteht man den Einschlag wortwörtlich als das, was auf den Zettel einschlägt, wird der Stift, der den Zettel ‚einkerbt‘ zur Erinnerung. Benjamin metaphorisiert in einem weiteren Zusammenhang die Grundlage, auf die eingewirkt wird: „Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es
Wolf: „»Wir haben dieses Land geliebt«“, S. 192. Wolf, Christa: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter Poetik-Vorlesungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 10 (Hervorheb. i. Orig.). Vgl. grundlegend hierzu: Greber, Erika: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie: Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln: Böhlau 2002, insbes. S. 13−28. Benjamin: „Zum Bilde Prousts“, B-GS II, S. 311. Es besteht zwar keine etymologische Gemeinsamkeit zwischen den Bezeichnungen für die Fäden des Webens und dem Werkzeug des Schreibens, doch scheint es sinnvoll, dass Benjamin diese Doppeldeutigkeit ausgespielt hat.
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aber nach dem Löschblatt, so würde nichts, was geschrieben ist, übrig bleiben.“⁶⁸ Analog zu Benjamins Diktum aus Über den Begriff der Geschichte gilt also: Das Vergessen ist die Grundlage, die aber nur durch Erinnerung als solche erkennbar wird. Erinnerung ist nötig, damit vergessen werden kann, um im spontanen Eingedenken wieder hervortreten zu können. Wie beim Weben die Kett- und Schussfäden sich gegenseitig halten, sind Erinnerung und Vergessen nicht voneinander zu trennen. Das Vergessen als Grundlage der Erinnerung ist das Fundament von Benjamins Überlegungen zum Eingedenken. Das Vergessen ist nur möglich, wenn die Grundlage mit den Erinnerungen beschrieben wird: In Benjamins Metaphorik wäre dies die Tinte des Stiftes, die den Zettel füllt. Wolf selbst nimmt diese Überlegungen auf und macht sie zum poetologischen Motor ihrer Erzählung. Nur in der Dialektik von Erinnern und Vergessen kann eine Erzählung entstehen, wobei Erinnern und Erzählen sich gegenseitig bedingen: „Erzählen ist Sich-Erinnern.“⁶⁹ Ergänzend bemerkt Wolf schon 1968 in ihrem Essay Lesen und Schreiben: „Sich-Erinnern ist gegen den Strom schwimmen, wie schreiben – gegen den scheinbar natürlichen Strom des Vergessens, anstrengende Bewegung.“⁷⁰ Was Wolf schon dort formuliert, hat ebenso für Stadt der Engel Bestand. Das Schreiben ist der Stift, der sich auf dem Zettel bewegt und der versucht, das Vergessene mit Erinnerung angesichts des Momentes des Subjektiven zu füllen, der sich in jedes Schreiben einmischt: Wie kommt es, daß, je näher man an »die Wahrheit«, das heißt, an sich selber, die multiplen Wesen in sich und besonders jenes Wesen herangeht, mit dem man sich am wenigsten identifizieren möchte: Wie kommt es, frage ich, daß sich in den Text, der sich auf die Spur dieses Wesens und seiner Wahrheit begibt, auf dem Weg vom Kopf über die Hand bis aufs Papier immer ein Hauch von Unaufrichtigkeit einschleicht?⁷¹
Die Anstrengung, die sich in der Auseinandersetzung mit den multiplen Wesen ausdrückt, markiert eine Dissoziation, die ihre Nichtidentität in der Distanzierung von Teilen des eigenen Selbst ausdrückt.⁷² Zwar bleibt Wolf eine Klärung des
Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, in: B-GS I, S. 1235. Wolf: „Nachdenken über den blinden Fleck“, S. 85. Wolf, Christa: „Lesen und Schreiben“, in: Dies.: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959−1985, Darmstadt: Luchterhand 1987, S. 463 – 503, hier S. 480. Wolf, Christa: Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990−1994, München: Dtv 1996, S. 197 (Hervorheb. M.K.). Die Verwendung des Terminus multiple Wesen findet sich auch in Wolfs Was bleibt. Dort sinniert die Erzählerin angesichts der verschiedenen multiplen Wesen, die sie ausmachen, ob
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Begriffes Wesen schuldig, es ist jedoch plausibel, diesen nicht als Essenz, sondern als plural-disparate Teile des Ichs zu verstehen. Die Verwendung des Reflexivpronomens sich, das auf eine Instanz verweist, welche die multiplen Wesen vereinen könnte, bleibt ein Phantasma. Aus diesem Grund ist es durchaus lohnend, das von Wolf vorgelegte Konzept »Subjektiver Authentizität« zu Rate zu ziehen, da dort die Frage der (Un‐)Möglichkeit von Identität poetologisch verhandelt wird.⁷³ So heißt es in Wolfs gleichnamigem Gespräch: Die Suche nach einer Methode, [der] Realität schreibend gerecht zu werden, möchte ich vorläufig ‚subjektive Authentizität‘ nennen – und ich kann nur hoffen, deutlich gemacht zu haben, daß sie die Existenz der objektiven Realität nicht nur nicht bestreitet, sondern gerade eine Bemühung darstellt, sich mit ihr produktiv auseinanderzusetzen.⁷⁴
Der Bezug auf die objektive Realität verweist auf den Aspekt der autobiographischen Referenz, der an anderer Stelle besprochen wird.⁷⁵ Sonja Hilzinger konzeptualisiert Subjektive Authentizität wie folgt: „Literatur soll wahrhaftig sein, und ihre Wahrhaftigkeit bezieht sie aus der Gebundenheit an das Individuum und dessen konkrete Erfahrung.“⁷⁶ Die konkreten Erfahrungen eines Individuums schlagen sich in den Erinnerung nieder und bilden damit die Narration aus. Carsten Gansel legt in seinem Beitrag Identität als das Ziel von Erinnerung fest und konstatiert: Wenn es dem erinnernden Ich nicht gelingt, seine Erinnerungen sinnstiftend an gegenwärtige persönliche und gesellschaftliche Bedingungen und Bedürfnisse,Werte und Normen anzukoppeln, kann die eigene Identität in Frage stehen, ihre Stabilität und Kohärenz werden untergraben.⁷⁷
überhaupt ein Ich selbst bestimmbar sei, vgl.: Wolf, Christa: Was bleibt. Erzählung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 49. Die Sekundärliteratur hat mehrfach die Frage aufgeworfen, ob das Konzept Subjektive Authentizität für Stadt der Engel noch gültig sei. Ohne diese Frage hier entscheiden zu wollen, sei exemplarisch auf folgende Beiträge hingewiesen, vgl.: Schmidt, Nadine Jessica: Konstruktionen literarischer Authentizität in autobiographischen Erzähltexten. Exemplarische Studien zu Christa Wolf, Ruth Klüger, Binjamin Wilkomirski und Günter Grass, Göttingen:V&R Unipress 2014, insbes. S. 116−123; Haase: „Christa Wolfs letzter Selbstversuch“, S. 216. Wolf, Christa: „Subjektive Authentizität. Gespräch mit Hans Kaufmann“, in: Dies.: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959−1985, Darmstadt: Luchterhand 1987, S. 773 – 805, hier S. 780 f. Vgl. hierzu das Kapitel Schreibweisen des Autobiographischen und der Beleg des Lebens. Hilzinger, Sonja: Christa Wolf, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 59. Gansel, Carsten: „Erinnerung, Aufstörung und ‚blinde Flecken‘ im Werk von Christa Wolf“, in: Ders. (Hrsg.): Christa Wolf − Im Strom der Erinnerung, Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 15 – 41, hier S. 19.
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Stadt der Engel negiert aber gerade dieses Telos und stellt mit der Konzeption einer Aneignung von Vergangenheit durch Gegenwart gerade Diskontinuitäten von Erzählerin und Protagonistin aus. In dieser Aneignung zeigt sich zwar ein Bild, „von dem[,] der sich erinnert“, das aber von den „Schichten […], aus denen seine Fundobjekte stammen“⁷⁸ beeinflusst wird. In einer stillgestellten Dialektik des Prozesses von Erinnern und Vergessen sind die Bilder, denen die Erzählinstanz und die Lesenden habhaft werden können, immer nur Momentaufnahmen eines sich ständig verschiebenden Subjektes. Der Text versagt den Zugang zur Identität und ermöglicht Bilder der Identifizierung, die im stetigen Übergang sind. Strukturanalog zur Nichtidentität des Subjektes muss die Absage an eine Gattungszuschreibung von Stadt der Engel verstanden werden. Hilzinger hat in diesem Kontext auf den Montagen- und Collagencharakter der späten Prosa Wolfs verwiesen: „Integriert werden zunehmend verschiedene Textsorten, die, miteinander gemischt und montiert, fließende Übergänge zeigen.“⁷⁹ Inhalt und literarische Gestaltung der Form hängen offensichtlich zusammen, wenn beide keine Identität erhalten, sondern sich nur als ständiger Übergang figurieren.
Nichtidentität statt Übereinstimmung Wie der Text die Identität einer Gattung verweigert, findet sich auch sonst keine feste Identität in der Bewegung von Erinnerung in ihren ständigen Auflösungsprozessen. Macenka hat in ihrem Beitrag argumentiert, dass Erinnerung und Subjekt als eine wechselseitige Durchdringung zu verstehen sind, die so eine feste Subjektivität erzeugen: „Der Prozess des Begreifens bildet die Grundlage für die Konstituierung des Subjekts. Gerade das ist das Ziel des Aufstiegs: die Verhinderung der Verwandlung des Subjekts in ein Objekt.“⁸⁰ Angesichts der bisher vorgeschlagenen Lektüre scheint es jedoch sinnvoll, von einem Auseinandertreten von Subjekt und Objekt zu sprechen. Im Erinnerungsprozess nimmt sich das Subjekt selbst zum Objekt und gibt sich der Selbstbeobachtung frei, wie es die Protagonistin selbst im Gespräch mit Peter Gutman formuliert: „Der kalte Blick des Schreibenden auf seine Objekte.“ (SdE: 286) Hiermit wird der Prozess einer distanzierten Reflexion benannt, die sich in dem Zusammentreten von Vergangenheit und Gegenwart in der Erinnerung äußert. Gegenwart und Vergangenheit stehen sich gegenüber und bedingen sich gegenseitig. In Adornos Negativer Benjamin: „Ausgraben und Erinnern“, B-GS IV, S. 401. Hilzinger: Christa Wolf, S. 60 f. Macenka, Svitlana: „Die Spirale als Denkfigur und Metapher am Beispiel des Schaffens von Christa Wolf“, in: Gansel, Carsten (Hrsg.): Christa Wolf − Im Strom der Erinnerung, Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 73 – 87, hier S. 80.
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Dialektik findet sich eine ganz ähnliche Beschreibung dieses Verhältnisses: „Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich diesem gegenüber immer als Anderes. Subjekt jedoch ist der eignen Beschaffenheit nach vorweg auch Objekt.“⁸¹ Laut Adorno kann ein Subjekt sich zum Objekt nehmen und hat damit seine Grundkonstitution als Objekt bereits immanent in sich. Eine Vorstellung eines Subjektes, das kein Objekt wäre, wird damit verunmöglicht. Begreift man nun das Ich als Subjekt und das Du als Objekt eines dialektischen Verhältnisses, wird deutlich, dass das Ich immer auf seine eigene Vergangenheit als Du verweist. Das Ich kann sich nur durch das Du – also durch die eigene Vergangenheit − bilden. Es erzeugt nicht einfach die Erinnerungen, sondern konstituiert sich durch den Rückbezug, der selbst eine Konstruktion ist. Ich und Du können angesichts der deutlichen Brüche, für welche die Verwendung unterschiedlicher Personalpronomen nur das offensichtlichste Phänomen ist, als Instanzen begriffen werden, die sich nicht einfach zusammenführen lassen und die doch konstitutiv aufeinander bezogen sind. Benjamin hat die Aneignung von Geschichte und Erinnerung als eine ähnliche Verschränkung bezeichnet, wobei, in seiner Konzeption, dieser Aneignung eine befreiende Kraft zukommt: Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige seine Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf sondern Bild, sprunghaft.− Nur dialektische Bilder sind echte (d. h.: nicht archaische) Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache.⁸²
Die Ebene des Ichs, in der sich die Erinnerungen des Du zu eigen gemacht werden, müsste mit dem Jetzt identifiziert werden, während die Du-Zeit als das Gewesene fungiert. Dass Protagonistin und Erzählerin versuchen, wieder Herr über die eigene Geschichte zu werden, ist ein Prozess, der sich gleichzeitig vollzieht und scheitern muss. Gerade hierin liegt die befreiende Kraft, die Wolf in den Text
Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 184. Benjamin: Das Passagen-Werk, B-GS V, S. 576 f. Benjamin verschlagwortet dieses Zitat aus dem Passagen-Werk, das dem Konvolut N [Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts] entstammt, mit dem Begriff Erwachen. Gerade mit jenem Begriff weist Benjamin wiederum an anderer Stelle auf die Verbindung zur Erinnerung hin: „Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt.“, S. 491. Benjamin geht diesen Weg, um die Verwandtschaft von Erinnerung und Geschichtsschreibung in seinem Sinne herauszustellen und referiert dabei auf Proust, um so die Verbindungen von Individuellem und Kollektivem aufzuzeigen, vgl. zu diesem Aspekt ebenfalls bei Benjamin: S. 491.
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einwebt, denn es ist die Möglichkeit, Identität auf der narrativen Ebene aufzusprengen, indem sie sowohl selbst sprunghaft vorgeht als auch die beiden Ebenen in eine Beziehung zueinander setzt. Es ist der Versuch eine Kohärenz herzustellen, welche die Erinnerungen ohnehin verweigern, da in der Darstellung der Lebensgeschichte Brüche und Diskontinuitäten gerade im Verhältnis zum untergegangenen Staat DDR feststellbar werden. Stadt der Engel eröffnet damit eine weitere Dimension, in der deutlich wird, dass die Bilder nicht übereinstimmen. Mit der Referenz auf die biographischen Details der Autorin arbeitet der Text mit dem öffentlichen Bild Wolfs, das sich anhand der Protagonistin verfolgen lässt. Die psychischen Innenansichten und Erinnerungen unterlaufen dieses Narrativ allerdings beständig, wenn sie das Bild Wolfs durch die persönlichen Einblicke modifizieren, wie auch Sandhöfer-Klesen feststellt.⁸³ Das Ich, das sich erinnert, wird zum Agens, der das Du in eine Konstellation bringt. Der befreiende und umschlagende Moment, den diese Konstruktion bei Benjamin hat,⁸⁴ liegt für Stadt der Engel in dem Wiederverfügbarmachen der Erinnerungen, um so die gegenwärtige Situation des Ichs angemessen und neu konstituieren zu können, insbesondere angesichts des schwierigen Verhältnisses zur Tätigkeit für die Staatssicherheit. Die Aneignung der Erinnerung ist eine Konstruktion, die aber nicht völlig kontingent ist. Mit Blick auf Adornos Forderung nach dem „Vorrang des Objekts“⁸⁵ ergibt sich so eine adäquate Beschreibung, die einer logischen Operation unterliegt: Das Ich konstituiert sich durch die Erzeugung der Erinnerungen. Gleichzeitig kann es, wenn es sich durch diese konstituiert, ihnen nicht vorgängig sein. So hängen Ich und Du miteinander zusammen und die Erinnerungen werden von einer willkürlichen Veränderung dessen, was erinnert wird, geschützt. In dem Prozess der Aneignung der Erinnerung liegt die Möglichkeit, Sinnstrukturen aus dem gegenwärtigen Kontext neu zu ordnen. Ähnlich hat es Wolf in dem Gespräch Subjektive Authentizität selbst formuliert: Man sieht eine andere Realität als zuvor. Plötzlich hängt alles mit allem zusammen und ist in Bewegung; für ‚gegeben‘ angenommene Objekte werden auflösbar und offenbaren die in ihnen vergegenständlichten Beziehungen (nicht mehr jenen hierarchisch geordneten gesellschaftlichen Kosmos, in dem Menschenpartikel auf soziologisch oder ideologisch vor-
Vgl.: Sandhöfer-Klesen: Christa Wolf im Kontext der Moderne, S. 189. Vgl. hierzu die von Teschke beschriebene Aneignung von Hegels Dialektik durch Benjamin. Teschke macht in seinen Ausführungen deutlich, dass Benjamin mit der Jetztzeit einen revolutionären Moment beschreibt, der ebenso den Eigenschaften eines jeden dialektischen Umschlages inhärent ist, vgl.: Teschke, Henning: Proust und Benjamin. Unwillkürliche Erinnerung und dialektisches Bild, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 146 f. Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 187.
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gegebenen Bahnen sich bewegen oder von dieser erwarteten Bewegung abweichen); es wird viel schwerer ‚ich‘ zu sagen, und doch zugleich oft unerläßlich.⁸⁶
Die veränderte Realität ergibt sich durch das Zusammenspiel von Erinnerung und Gegenwart, die jeweils ihre Bedeutung erst aus dem anderen gewinnen können. Die ideologischen Dimensionen werden in der Erinnerung deutlich. Das sprechende Ich muss die Spannung aushalten, die sich aus seiner eigenen Konstruktion ergibt. Ich und Du (Gegenwart und Erinnerung) lösen ihre Dialektik nicht in Identität auf, sondern es ergibt sich ein dialektisches Verhältnis, in dem beide miteinander vermittelt auftreten. Wolfs Konzept einer Subjektiven Authentizität verweigert selbst den Anspruch auf Identität, da die Subjektivität als eine ständige Konstruktion gedacht wird, die mit dem Konzept der Identifizierung deutlich passender umrissen ist. Damit sind Interpretationen von Stadt der Engel fragwürdig, die, wie Macenka, das Telos des Textes in der Aufhebung der jeweiligen Instanzen ineinander sehen und die auf die Genese einer Identität infolge erfolgreicher Suche verweisen.⁸⁷ Bei Macenka heißt es: „Die subjektive Authentizität wird dadurch erreicht, dass der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt, realer Welt und der Erfahrung, dem Geschehen und der Wahrnehmung, der Realität und der Phantasie aufgehoben wird.“⁸⁸ Die hegelianische Aufhebung – auf die wohl angespielt wird − impliziert eine Identität, die weder Wolfs Konzeption der Subjektiven Authentizität noch Stadt der Engel leistet, denn vielmehr lässt sich das Ich nicht mit seinen Erinnerungen in Übereinstimmung bringen. In der Verwendung des Du als dialogischem Partner wird deutlich, dass die Erinnerungen nicht vollkommen vom Subjekt abgeschnitten sind und durch (Re‐)Konstruktionen einen Sinn für das Ich entfalten können. Sie sind Zeugnis disparater Einstellungen zum Staat DDR in unterschiedlichen Lebensphasen, wie es paradigmatisch an der Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit entfaltet wird. Diese Dissonanzen der Persönlichkeit können sowohl in der jeweiligen Zeitebene als auch über die Zeitebenen hinweg nicht produktiv aufgelöst werden und Stadt der Engel entfaltet seine poetologische Kraft gerade aus diesem Verhältnis. In den folgenden exemplarischen Lektüren aus dem ersten Textteil wird die Dialektik von Erinnern und Vergessen samt ihrer nichtidentischen Struktur anhand des konkreten Textmaterials gezeigt. Daran wird deutlich, wie der Text Identität nicht nur veruneindeutigt, sondern sich stattdessen in prozessualen
Wolf: „Subjektive Authentizität“, S. 780. So auch Klesen-Sandhöfer, vgl.: Sandhöfer-Klesen: Christa Wolf im Kontext der Moderne, S. 87. Macenka: „Die Spirale als Denkfigur“, S. 82.
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Identifizierungen Annäherungen und Distanzierungen an das eigene Selbstbild vollziehen.
2.1 Die Überwindung von Zeit und Raum Das erste Telefonat mit der in Berlin verbliebenen Familie, die in der Handlung regelrecht ausgespart wird, versammelt schon einmal zentrale Aspekte der Grenzüberschreitung von der alten in die neue Welt: Ich machte mir klar, daß dort, wo ich herkam, schon Morgen war, daß ich telefonieren konnte, ohne jemanden im Schlaf zu stören. Nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen, bei denen mehrere overseas operators sich um mich bemüht hatten, gelang es mir, das Telefon in dem winzigen Kabinett neben der Eingangstür mit den richtigen Nummern zu bedienen, hörte ich hinter dem Rauschen des Ozeans die vertraute Stimme. Das war das erste der hundert Telefongespräche nach Berlin in den nächsten neun Monaten, ich sagte, ich sei nun also auf der anderen Seite der Erdkugel gelandet. Ich sagte nicht, was ich mich fragte, wozu das gut sein sollte. Ich sagte noch, daß ich sehr müde sei, und das war ich ja wirklich, eine fremde Müdigkeit. Ich suchte Nachtzeug aus einem der Koffer, wusch mir Gesicht und Hände, legte mich in das zu breite zu weiche Bett und schlief lange nicht. Früh erwachte ich aus einem Morgentraum und hörte eine Stimme sprechen: Die Zeit tut, was sie kann. Sie vergeht. (SdE: 12 f.)
Mit der Formulierung, dass die Protagonistin auf der anderen Seite der Erdkugel sei, wird der Eintritt in die globalisierte Welt bezeichnet. Die Welt ist weiter geworden und doch enger zusammengerückt. Diese Ambiguität wird besonders durch die mehrfach fehlschlagende Kommunikation des Telefonnetzes ausgestellt. Trotz der Möglichkeit zur Kommunikation rund um den Planeten, bleibt Kommunikation brüchig. Was Anfang der 1990er Jahre noch mit schlecht ausgebauter globaler Telekommunikationsmöglichkeit zu begründen ist, birgt einen allegorischen Gehalt: Auch eine zwar praktisch mögliche Kommunikation führt nicht zu einem faktisch funktionierenden Austausch. Das verbindende Element, das die Welt gleichsam zusammenhält und trennt, ist, wie Wohlfarth argumentiert, der Kapitalismus: „Was die Welt heute zusammenhält und entzweit ist die profanste aller bisherigen Mächte – ein ökonomisches System, das sich als der allein übriggebliebene Sieger überall ausbreitet […].“⁸⁹ Gerade in der Perspektive des Jahres 1992 gilt der Kapitalismus als Sieger über den real existierenden Sozialismus und bleibt nach dem Ende der Blockbildung als bestimmender ökonomischer Maßstab übrig. Wie ich zu einem späteren Zeitpunkt noch zeige, hat
Wohlfarth: „Blinder Fleck“, S. 587.
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genau dieser Fakt gerade durch die Veränderung infolge des Systemumbruches von 1989 intensive Folgen für die Identifizierungen der Protagonistin.⁹⁰ Im obigen Zitat treten Raum und Zeit in ein spezielles Verhältnis. Die Stimme, welche die Protagonistin nach dem Morgentraum hört, muss als die Stimme der Erzählerin verstanden werden, die durch die Zeitebenen hindurch die Vergänglichkeit des Seins anmahnt. Dabei wird Zeit zum verbindenden Element zwischen dem Aufwachen und dem vorhergehenden Telefonat, denn in beiden Fällen werden Zeitgrenzen überwunden: zum einen die Zeitzonen zwischen Los Angeles und Berlin und zum anderen die narrativen Zeitebenen, indem die Protagonistin die chronologisch später angesiedelte Erzählerin hört. Das Verhalten der narrativen Instanzen zielt in beiden Fällen auf die Konzeption des Raumes. Im ersten Fall können durch die Möglichkeiten der Telekommunikation die Distanz zwischen unterschiedlichen Orten und Zeitzonen überbrückt werden, sodass beide an ihrem jeweiligen Ort verharren können. Im zweiten Fall ist der Text der Raum, der eine Kommunikation zwischen späterem und früherem Ich ermöglicht: Daß der Gedankenstrahl die Zeitschichten rückblickend und vorausblickend durchdringen kann, erscheint mir als ein Wunder, und das Erzählen hat an diesem Wunder teil, weil wir anders, ohne die wohltätige Gabe des Erzählens, nicht überlebt hätten und nicht überleben könnten. (SdE: 13)
Im narrativen Akt wird es möglich die Zeitebenen zu durchkreuzen; das Überleben durch Erzählen ist daran gebunden, proleptisch und analeptisch zu verfahren. Damit bringt es geschichtliche Situationen in neue Konstellationen, die einen neuen Zugriff auf das Vergehen von Zeit ermöglichen. Benjamin distanziert sich in seiner Konzeption von zwei Vorstellungen des zeitlichen Verlaufes: dem Fortschrittsgedanken und der Vorstellung einer Abgeschlossenheit von Geschichte.⁹¹ Vielmehr muss laut Benjamin das Gewesene ins Jetzt einfallen, um so neue Konstellationen zuzulassen: Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. […] Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.⁹²
Vgl. das Kapitel Das Andere des Ostens. Vgl. hierzu: Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 696, 701. Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 695.
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Angesichts der mehrfachen Benjamin-Referenzen in Stadt der Engel, ist es durchaus plausibel, das Aufblitzen von Erinnerungen und die Stillstellung derselben als das Vorgehen des Textes anzunehmen.⁹³ Jeanne-Marie Gagnebin hält im Benjamin-Handbuch fest: „Man kann also durchaus annehmen, daß die Thesen Über den Begriff der Geschichte versuchen, die Erkenntnisse Prousts und Freuds über die individuelle und unbewußte Geschichte des Subjektes in kollektive und politische Begriffe zu übersetzen.“⁹⁴ Mitunter wirkt das Wolf’sche Verfahren als eine Verkehrung von Benjamins Wirken. Denn im Text werden stattdessen die von Benjamin vorgeschlagenen Thesen individualisiert und auf das erzählende Subjekt (statt auf ein Kollektivsubjekt) angewandt.⁹⁵ Gleichzeitig ist dies das Moment, das Stadt der Engel nutzt, um die individuelle Lebensgeschichte mit der großen Narration der Geschichte zu verweben. Hierfür spricht, dass ein Großteil der geschilderten Erinnerungen eben nicht nur persönliche Erinnerungen an die DDR-Zeit sind. Schon die erste größere Erinnerungsszene ist in diesem Kontext verortbar. Dort wird das Erinnern zunächst durch eine externe Motivation begründet: [Ich l]as also, daß ein Kollege, der unser Land wenige Jahre vor dessen Zusammenbruch hatte verlassen müssen, aber doch etwas wie ein Gesinnungsgenosse gewesen war, sich nun als radikaler Kritiker zeigte all derer, die in der DDR geblieben waren, anstatt dieses Land ebenfalls mit Abscheu zu verlassen. Ich las, er warf der »Revolution« vom Herbst 1989 vor, daß sie unblutig verlaufen war. Köpfe hätten rollen müssen, las ich, und daß wir zu zaghaft und zu feige gewesen seien. Das schrieb einer, dessen Kopf jedenfalls nicht in Gefahr gewesen wäre, dachte ich, und ich merkte, wie ich in meinem Innern eine Diskussion mit diesem Kollegen anfing. (SdE: 22)
Die Verbindung, die durch den Kommentar des ehemaligen Kollegen in einer Zeitung – unschwer als Wolf Biermann zu erkennen – evoziert wird, führt aber Zu den Benjamin-Referenzen in Stadt der Engel, vgl. die Kapitel Erinnern und Vergessen – Christa Wolf liest Freud und Benjamin, Der Engel ihrer Geschichte sowie Walter Benjamin und das Niemandsland. Überdies finden sich auch werkgeschichtlich zahlreiche Beschäftigungen mit Benjamins Leben und Geschichtsphilosophie, vgl. hierzu exemplarisch: Wolf: Ein Tag im Jahr, S. 213 f., 663 f. Gagnebin, Jeanne-Marie: „Über den Begriff der Geschichte“, in: Lindner, Burkhardt (Hrsg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2006, S. 284– 300, hier S. 291. Schöttker hat auf diese Bedeutung des Erinnerns für Benjamins Über den Begriff der Geschichte hingewiesen und diese Transformation benannt: „Benjamin schreitet hier von der individuellen Erinnerung über die historische Erinnerung zur Politisierung des Erinnerns fort […].“, Schöttker, Detlev: „Erinnern“, S. 290. Wolf versucht gerade dieses Paradigma umzukehren, wenn sie im Rückgriff auf Benjamins späte Texte sich zur individuellen Erinnerung zurück wendet und trotzdem eine Politisierung der Erinnerung, die vom Individuum ausgeht, an den großen historischen Einschnitten der DDR-Geschichte zeigt.
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nicht, wie es der Text insinuiert, zu einer Auseinandersetzung mit dem Kollegen, sondern versetzt die Protagonistin und Erzählerin vielmehr in die Zeit eben jener Revolution vom Herbst 1989 – und bezieht sich auf einen konkreten Zeitpunkt: Ich erinnerte mich – und erinnere mich noch heute – an deine Erleichterung, als dir am Morgen des 4. November 1989 rund um den Alexanderplatz in bester Stimmung die Ordner mit den orangefarbenen Schärpen entgegenkamen, auf denen stand: KEINE GEWALT! (SdE: 22; Hervorheb. i. Orig.)
Die ikonisch gewordene Forderung Keine Gewalt deutet an, dass die Erinnerung an den 4. November als pars pro toto für den ganzen Herbst der ‚Friedlichen Revolution‘ steht. Überdies distanziert sich die Erzählinstanz von dem Akt des Erinnerns. So gleiten die Erzählebenen ineinander, wenn vom Präteritum ins Präsens und wieder zurück ins Präteritum gewechselt wird, wobei die erste Verwendung der Vergangenheit die Erinnerung des Ichs von 1992 beschreibt, während die zweite Verwendung auf das Du von 1989 zielt. Damit wird das Wie-desErinnerns durch das Wie-des-Erzählens modifiziert. Es tritt eine Dissoziation ein: Erzählerin und Protagonistin distanzieren sich von dem Erinnerten. Das Gespräch, das eigentlich mit dem ehemaligen Kollegen geführt werden soll, wird stattdessen mit sich selbst geführt und sprengt jede Identität zwischen früherem Du und jetzigem Ich auf. Die Anrede Du ermöglicht zwar noch eine detailgetreue Erinnerung, lässt aber auf eine Veränderung innerhalb der Figur schließen. Vor dem inneren Auge des Du der Erinnerung wiederholt sich der 4. November und die Angst vor Gewalt, die an diesem Tag herrschte, wird präsent. Eine weitere Erinnerung drängt sich, hervorgerufen durch die erste Erinnerung, in das Bewusstsein der erzählenden Instanz: Ein Treffen mit drei Soldaten, die die Westgrenze der DDR vor dem Mauerfall bewachten. Im Laufe dieser Erinnerung spricht das Du mit den Soldaten darüber, warum der 9. November nicht in einer gewalttätigen Auseinandersetzung mündete: „Sie sagten: Eine Volksarmee schießt doch nicht auf das Volk. – Hut ab, sagtest du. – Und das sei nun alles, was sie dafür kriegen würden? – Ich fürchte ja, sagtest du. – Dann seien sie, sagten die drei, die Verlierer der Einheit.“ (SdE: 24) Mit diesem Satz endet die Erinnerung und die Protagonistin befindet sich wieder in der Lounge des CENTERS. Damit geht wieder ein Wechsel in den Zeitebenen des Textes und vom Du zum Ich einher: Die Lounge. Bruchteile von Sekunden war ich abwesend, die Erinnerung übertrifft das Licht an Geschwindigkeit. Ich würde den Zeitungsartikel meines Kollegen kopieren und ihn zu den anderen Ausschnitten und Kopien in das Regal in meinem Apartment legen, ein Stapel, der schnell wuchs, den ich über den Ozean mit zurücknehmen würde, per Luftfracht, um ihn zu Hause auf ähnliche, allerdings ungleich größere Stapel zu legen, unnütze Staubfänger, die aber irgendwann einmal gebraucht werden könnten, um eine Erinnerung zu stützen, der ich
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sonst nicht trauen würde. Nicht mehr trauen könnte. Für den Notfall. Obwohl mir bewußt war, daß das Gedächtnis, welches die Zeitungen mir lieferten, für meine Arbeit höchstens den Wert einer Prothese hatte. (SdE: 24)
Der Zeitabstand, der in der erzählten Zeit auf einige Sekunden zusammengeschmolzen ist, erinnert einmal mehr an Benjamins Diktum vom Aufblitzen der Erinnerung. Das Zusammentreten von Erinnerung und Gegenwart deutet eine neue Konstellation an: Die Vorstellung von Gewalt und Gewaltlosigkeit wird durch den Kollegen evoziert und durch die Frage nach den Verlierern der Einheit neu thematisiert. Die Soldaten, die sich trotz ihres heldenhaften Einsatzes der Befehlsverweigerung in höchster Not nicht ausreichend geschätzt fühlen, sehen sich deshalb als Verlierer der Einheit. Die Protagonistin fühlt sich in einer ähnlichen Situation, da auch sie lange Zeit gegen die Missstände des politischen Systems angegangen ist, nun aber diskreditiert wird. Flankiert wird diese Situation von dem Zeitungsartikel, der als Auslöser der Erinnerung aufbewahrt wird. Dieser soll das Gedächtnis zu einem späteren Zeitpunkt − dem Moment der Niederschrift − auffrischen bzw. die Erinnerung stützen – eine Funktion, die offensichtlich doppelt erfüllt wird: Denn performativ ist der Text als Leistung der Erzählerin, durch den Zeitungsartikel, der ihr vorliegt, motiviert und er führt zur Beschreibung der Erinnerung. Er löst also die Erinnerung zweimal aus, einmal bei der erstmaligen Lektüre 1992 und einmal bei der Relektüre im Moment des Erzählens. Diese Doppelung veranschaulicht, wie durch die Gedächtnisprothese Zeitungsartikel Erinnerungsleistungen angespornt werden, die ihre Bedeutung durch eine Konstellation von Vergangenheit und Gegenwart gewinnen. Dabei nehmen Veränderung und Konstanz des erinnernden Ichs eine besondere Rolle ein. Diese treten dialektisch zusammen, in der Form des vergangenen Du und dem doppelten Ich der jeweiligen Gegenwart (1992 und 2007). Durch diese Mehrfachcodierung der Erinnerung wirkt die Erinnerung der Zeit enthoben, als ob sie stillsteht. Benjamin hat dieses Verfahren beschrieben und bemerkt, dass sich Gegenwart so überhaupt erst konstituieren kann: „Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten. Denn dieser Begriff definiert eben die Gegenwart, in der er für seine Person die Geschichte schreibt.⁹⁶ Erst in jenem Stillstand ergibt sich in der Kristallisation ein neuer Prozess identifizierenden Denkens, der die Dissonanz des Nichtidentischen hervorhebt.⁹⁷ Laut Benjamin bleiben mit Kommentar und Montage nur zwei Formen,
Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 702. Gagnebin weist darauf hin, dass in der Aneignung der Geschichte durch Stillstellung immer auch die Differenz von Vergangenheit und Gegenwart bestehen bleibt, die durchaus als Nicht-
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wie die Geschichte bzw. die Erinnerung von Geschichte angeeignet werden können: Die erste Etappe dieses Weges wird sein, das Prinzip der Montage in die Geschichte zu übernehmen. Also die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten. Ja in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken. […] Die Konstruktion der Geschichte [ist; M.K.] als solche zu erfassen. In Kommentarstruktur.⁹⁸
Stadt der Engel vollzieht eine fortlaufende Kommentierung der Erinnerungen, die im Text montiert werden und versucht damit Benjamins Voraussetzungen zu erfüllen, wenn auf eines der entscheiden Ereignisse des Umbruches von 1989 verwiesen wird. Dass der beschriebenen Szene eine besondere Bedeutung zukommt, wird im Text kurz darauf deutlich, da die Protagonistin erneut der 4. November erinnert: An jenem 4. November zum Beispiel, sagte ich, ein Tag für Hochgefühl, überfiel mich mitten in meiner Rede vor den Hunderttausenden, die auf dem Platz standen, meine mir wohlbekannte Herzrhythmusstörung, welche die Ärzte partout nicht mit psychischen Erlebnissen in Zusammenhang bringen wollten, und ich mußte mit einer der am Rand der Demonstration bereitgestellten Ambulanzen in die nächste Klinik gebracht werden, in der alles vorbereitet war für die Aufnahme vieler Patienten. (SdE: 25)
Doch dieses Mal gewinnen Gegenwart und Erinnerung offensichtlich keine neue Bedeutung, da die Protagonistin ihre vergangenen Erlebnisse weiter in der ersten Person Plural referiert, ohne ihre Nichtidentität auszustellen.
2.2 „Ich steig noch mal runter in diesen Schacht“ – Zur Erinnerungsmetaphorik von Sog und Schacht Die Begriffe Sog und Schacht werden in Stadt der Engel immer wieder im Kontext von Erinnerung und Gedächtnis verwendet. Während der Sog eine Kraft entfaltet, die von den nicht verfügbaren Erinnerungen ausgeht, wird der Schacht als dasjenige figuriert, das erkundet werden muss, um schließlich dem Sog zu entgehen. Gemeinsam mit einer Gruppe, zu der auch die Figur Francesco gehört, der später der Gesprächspartner im Dialog über die Täterakte ist, macht die Prota-
identisches benannt werden kann, vgl.: Gagnebin, Jeanne-Marie: Geschichte und Erzählung bei Walter Benjamin, übers. von Judith Klein, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 108 f. Benjamin: Das Passagen-Werk, B-GS V, S. 575.
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gonistin einen Ausflug, „um die Installation eines Künstlers zu besichtigen“ (SdE: 31). Bei dieser Exkursion kommt es zu einer speziellen Erfahrung. Die Installation lädt die Teilnehmenden ein, daran zu partizipieren: Ein quadratischer Raum, durch schnell aufgestellte Wände aus leichtestem Material erschaffen, an zwei gegenüberliegenden Seiten waren Sitz- und Liegeflächen entstanden, indem man verschieden hohe graue Blöcke übereinandergestapelt hatte, auf denen der Besucher sich niederlassen sollte, um dann den Blick an den stumpfroten, indirekt beleuchteten Wänden hinaufzuschicken, zur Decke hin, in der ein zwei Quadratmeter großes viereckiges Loch ausgespart war, ein Himmelsloch, das eigentliche Ereignis dieser Installation: Tiefschwarzer Nachthimmel, in den man mit in den Nacken gelegtem Kopf so lange blicken sollte, bis man etwas sah. Der Künstler wolle mit dieser Aufstellung sein Publikum sehen lehren, erklärte Francesco. (SdE: 34)
Die Protagonistin begibt sich auf die Blöcke und nimmt an dem Experiment teil. Bereits kurz nachdem sie ihren Blick auf das Himmelsloch gerichtet hat, „begann [die Schwärze …] zu wabern.“ (SdE: 34) Der Begriff Himmelsloch ist doppeldeutig gewählt. Einerseits ist es das tatsächliche Loch des Kunstwerkes, das ermöglicht in den Sternenhimmel zu schauen. Mit dem Blick in den Himmel bedient der Text andererseits eine spirituelle Metaphorik. So kommt es zu einer Erkenntnis, die einer Epiphanie ähnelt: Allmählich lösten die Bedeutungen sich auf. Das dunkle Himmelsviereck übte einen Sog auf mich aus, […] doch nahm es mich mit, die Sinne schwanden, die Sinne schwinden, dachte ich noch, in mich gehen, warum denn nicht, tiefer, noch tiefer, die endgültige Dunkelheit, erwünscht, ja, manchmal erwünscht, die befreien würde von dem Zwang, alles sagen zu müssen. In diesen Schacht nicht wieder, das kann niemand verlangen, aber wer sagte mir denn, daß ich mich nach dem richten müßte, was andere verlangten, richten, ein schönes Wort, ich liebe diese doppeldeutigen Wörter, sich richten, gerichtet werden, das ist richtig. Gerechtigkeit, du Donnerwort. Tiefer. Noch tiefer. In den Wirbel gerissen, ausgespien werden. Stille. Im Auge des Orkans ist es am stillsten. Jetzt fallen lassen. Haltlosigkeit, ein Fallen ins Bodenlose. He, aufwachen! Aber ich habe doch gar nicht geschlafen! (SdE: 35)
Der Sog verschlingt die Protagonistin, die nicht mehr in der Lage ist, sinnhaft zu denken. In einem tranceartigen Zustand, der erst später als Traum klassifiziert wird, ist es das dunkle Himmelsviereck, das einen Sog auf die Protagonistin ausübt. Sie ist in dieser Stelle schon syntaktisch nicht mehr das Subjekt des Satzes, sondern nur noch Objekt, das dem Himmelsloch ausgeliefert ist. Schon kurz vorher wird die Protagonistin von der Erzählerin objektiviert. In dem Nebensatz wird die Stadt zum Akteur: „Ich fuhr einfach mit, wie ich immer mitfuhr, wenn sich eine Gelegenheit dazu bot, weil die Stadt, das Monster, anfing, einen Sog auf mich auszuüben, den ich noch nicht wahrhaben wollte.“ (SdE: 31) Der Sog, den sie verspürt, umgibt die Protagonistin einen großen Teil der Handlung. So wird es
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später der „Sog vom Ende her“ (SdE: 309) sein, der sie in einem Metakommentar an das Ende des Buches und an das Ende ihres Lebens mahnt. Bemerkenswert ist, dass dies nicht ein vergangenes Gefühl der Protagonistin ist. Es ist die Erzählerin, die dies aus ihrer Schreibgegenwart formuliert, wie an der präsentischen Verwendung von „spüren“ (SdE: 309) deutlich wird. Im Kontext der Exilliteratur wird erneut von einem Sog gesprochen, der die Ebenen der Erzählerin und der Protagonistin umfasst: „EIN SOG GING VON DIESEN BÜCHERN AUS/ Noch einmal gerate ich in diesen Sog, indem ich mich in die Bücher vertiefe, welche die Emigranten später, sich erinnernd, nach ihrer Rückkehr ins Nachkriegsdeutschland oder eben nach ihrer Nicht-Rückkehr geschrieben haben.“ (SdE: 345; Hervorheb. i. Orig.) Im letzteren Fall wird der Sog an die fremde Erinnerung gekoppelt. Er steht aber in allen Fällen in Beziehung zur Erinnerung. Es ist nämlich der Sog des Vergessens, der die Protagonistin belastet, denn schließlich kennt auch ihre Freundin Ruth „tiefe Denker […], die sich aus dem Sog des Wortes »Vergeblichkeit« nicht mehr befreien konnten.“ (SdE: 296). Dem Sog wird eine ambivalente Rolle zugewiesen, in der das Vergessen als befreiender Akt und zugleich als bedrohliches Element für das Leben wirkt. In dieser Ambivalenz scheint die Protagonistin in der oben zitierten Stelle ins Bodenlose zu fallen. Erst ein späterer Traum korrigiert dies und gibt ihr wieder festen Boden unter den Füßen: Ich erinnerte mich deutlich an einen Traum: Ein rasender Fall durch Schichten von immer dichterer Konsistenz, zuerst Luft, dann Wasser, Morast, Schutt, Geröll, ich drohte steckenzubleiben, drohte zu ersticken. Plötzlich unter mir Gestein, auf dem ich Halt fand, und die Stimme: Du stehst auf festem Grund. Der Satz ging mir lange nach. Ich verstand ihn. (SdE: 320)
Im Traum der Himmelsloch-Passage fällt die Protagonistin unendlich, während in diesem Traum von einer immer dichteren Konsistenz beim Fallen die Rede ist.⁹⁹ Die Angst vor dem Erstickungstod endet in der Ebene des Gesteins, das ihr wieder Boden unter den Füßen gibt. Die Träume der Protagonistin stehen in einem Verhältnis zu den eigenen Nachforschungen in den Erinnerungen. Der Beginn dieser Tätigkeit ist von einer Angst vor einer unendlichen (Selbst‐)Analyse gekennzeichnet.¹⁰⁰ Der Traum wird zu einer Allegorie für die Erinnerungsarbeit:
Die Konsistenz verweist auf das vorangestellte Zitat Doctorows, in dem von der Unmöglichkeit der Darstellung der „Konsistenz von gelebtem Leben“ (SdE: 9) die Rede ist. Der Traum soll nicht das Gegenteil nachweisen, sondern bezeugt vielmehr, dass die Protagonistin zu diesem Moment der Handlung Vergangenheit und Gegenwart stärker aufeinander beziehen kann. Vgl. hierzu: Freud: „Die endliche und die unendliche Analyse“, StA Ergänzungsband, S. 351– 392.
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Während die Auseinandersetzung mit den eigenen Erinnerungen zunächst wie das Ersticken schmerzhaft wirkt, wird die Protagonistin durch das fortwährende Aufdecken von dem lebensbedrohlichen Gefühl befreit. Die Nachforschung deklariert sie schließlich zur einzigen Möglichkeit, die sich für sie bietet: „Den Selbstversuch abbrechen, den es bedeutet, zu schreiben: sich selbst kennenlernen wollen, bis auf den Grund, dachte ich, hätte ähnliche Folgen wie der Abbruch einer lebenserhaltenden Therapie bei einer schweren Krankheit.“ (SdE: 233) Wenn die Protagonistin angesichts des Blickes in das Himmelsloch formuliert, dass sie in diesen Schacht nicht wieder möchte, ist dies lediglich als ein erster Widerstand zu verstehen. Der Text nimmt die Aussage sukzessiv zurück. Im Gespräch mit einem befreundeten Psychologen formuliert sie sogar ihren selbstgesetzten Auftrag: Ich rief den Freund in Zürich an: Sie als Psychologe müssen es wissen: Kann man das vergessen? Daß sie mir einen Decknamen gegeben haben? Daß ich einen Bericht geschrieben habe? Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Na und? sagte er.Was weiter? Im übrigen: Man kann alles vergessen. Man muß sogar. Kennen Sie nicht den Satz von Freud: Ohne Vergessen könnten wir nicht leben? – Verdrängen! sagte ich. Und er: Nicht unbedingt. Man vergißt auch, was man nicht so wichtig findet. – Aber das kann es doch bei mir in diesem Fall nicht gewesen sein. – Wer weiß.Wie lange ist das denn her. – Dreiunddreißig Jahre. – Ach du lieber Himmel. Und woher wollen Sie heute wissen, was Ihnen damals wichtig war? – Das will ich rauskriegen. – Und wie? – Ich steig noch mal runter in diesen Schacht. – Viel Glück. (SdE: 205)
Der Text formuliert damit selbst seine zentrale Frage: Wie konnte die Protagonistin ihre Tätigkeit für die Staatssicherheit vergessen? Doch trotz der Zusicherungen des Psychologen, dass die Psychoanalyse neben der Verdrängung weitere Gründe für das Vergessen liefert, ist die Protagonistin nicht beruhigt. Ihr Ziel steht fest: Sie will den Schacht hinuntersteigen. Stadt der Engel transformiert die Metaphorik von Erinnerung als einer archäologischen Praxis und zitiert derweil Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Hegel bezeichnet im Kapitel Die Erinnerung das Gedächtnis als Schacht, in dem Erinnerungen abgelegt werden, dem Bewusstsein aber nicht immer zur Verfügung stehen: Daher habe ich zunächst noch die volle Macht über die im Schacht meiner Innerlichkeit schlafenden Bilder, vermag noch nicht, dieseleben willkürlich wiederhervorzurufen. Niemand weiß, welche unendliche Menge von Bildern der Vergangenheit in ihm schlummern; zufälligerweise erwachsen sie wohl dann und wann, aber man kann sich, wie man sagt, nicht auf sie besinnen. So sind die Bilder nur auf formelle Weise das unsrige.¹⁰¹
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse: 1830. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen, in:
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Die Protagonistin greift diese Metaphorik auf und verbindet sie mit der Aneignung von Erinnerungen, die im Gedächtnis abgelegt wurden. Sie versteht sich gerade nicht als Archäologin, sondern eher als Bergarbeiterin.¹⁰² Der proletarische Charakter dieses Berufs verweist vor allem auf die Schwierigkeit der Aufgabe, zu deren Lösung ein körperlicher Aufwand notwendig ist. Das Pendant zu der körperlichen Anstrengung ist das dauerhafte Krankheitsgefühl der Protagonistin und die damit einhergehenden psychosomatischen Auswirkungen, aufgrund derer sie wiederholt einen Arzt aufsucht (vgl. z. B.: SdE: 67 ff.). Die modifizierte Metaphorik schließt an das Gefühl der Protagonistin an. Nachdem ein befreundeter Journalist ihr die Täterakte zur erneuten und gründlichen Lektüre nach Los Angeles gebracht hat, erlebt sie einen Traum, der besonders bedrohlich wirkt: Ich träumte also, ich läge auf einer Art Brett, und mir würden im Schlaf mit einer Scheibensäge alle Gliedmaßen scheibchenweise abgesägt, abgetrennt, zuerst die Beine, dann die Arme, zum Schluß der Kopf, bis das Gehirn freilag und auch dieses zersägt wurde, und dazu rief eine männliche Stimme: So muß es sein. Dann ist da noch in Leuchtschrift mein Name, am Schluß verlischt auch der. Beim Erwachen dieses intensive Gefühl: Mir drohte Gefahr von mir. (SdE: 269)
In Lacans Aufsatz zum Spiegelstadium findet sich eine Deutung von Träumen zerstückelter Körper. Dort weisen diese auf einen Zustand hin, den das Kind vor dem erstmaligen Erkennen im Spiegel wahrnimmt. Das Herabblicken des Kindes lässt es den eigenen Körper nie in seiner Vollständigkeit wahrnehmen, sondern immer nur stückhaft. Erst der Blick in den Spiegel ändert dies, denn „das Spiegelstadium [ist] als eine Identifikation […] im vollen Sinne, den die Psychoanalyse diesem Terminus gibt [, zu verstehen; M.K.]: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung.“¹⁰³ Diese Verwandlung hängt aber aufs engste mit der Identifizierung zusammen: Das Spiegelstadium ist ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt, und für das an der lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation festgehaltene Subjekt die Phantasmen ausheckt, die ausgehend von einem zerstückelten Bild des Körpers, in einer Form enden, die wir in ihrer Ganzheit eine orthopädische nennen könnten, und in einem Panzer, der aufgenommen wird von einer wahnhaften
Ders.: Werke. Bd. 10, hrsg. von Eva Moldenhauer / Karl Markus Michels, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 260 f. (Hervorheb. i. Orig.). Laut Grimm’schem Wörterbuch ist der Schacht semantisch vornehmlich im Bereich des Bergbaus zu verorten, vgl.: „Schacht“, in: Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm (Hrsg.): Deutsches Wörterbuch. Bd. 14, Leipzig 1854−1961, Sp. 1963 – 1964, hier Sp. 1963. Lacan, Jacques: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“, in: Ders.: Schriften I, hrsg. von Norbert Haas, übers. von Peter Stehlin, Weinheim: Quadriga 1996, S. 61– 70, hier S. 64.
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Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden.¹⁰⁴
Die Träume referieren auf das zerstückelte Bild des Körpers, von dem Lacan spricht, eines Körpers, der noch keine wahnhafte Identität hat. Der Traum der Protagonistin, der von der Angst spricht, sich selbst zu zerfleischen und gleichermaßen – symbolisiert durch die männliche Stimme – zerfleischt zu werden, gewinnt eine weitere Dimension: Der Traum äußert die Angst vor einem Verlust des Selbst, der bei einem Hinabsteigen in den Schacht noch bevorstehen könnte. Das Telefonat mit dem Ehemann am nächsten Morgen dient der Auflösung der Situation. Dieser weist die Vermutung der Protagonistin, „daß die Libido des Schreibens sich zum Alter hin abschwächt“ (SdE: 269), zurück, wobei autoreferentiell der zweite Titel des Buches erwähnt wird: The overcoat of Dr. Freud, sagte ich. – Wie bitte? – Ach nichts. – Kommst du darauf wegen der Libido? – Nein, aber: wäre das ein guter Titel? – Das käme darauf an. Worauf denn? Darauf, daß der Weg in die Unterwelt gelingt: Der Eingang in die Unterwelt ist eine Wunde, erfuhr ich. Die Bewegungsart: Langsames Zurücktasten ins Dunkle. Ein Tunnelgefühl. ich muss hinuntersteigen in diesen schacht. Aber mußte ich das wirklich? Oder war es wieder nur eine Pflichtübung. ein fremder mensch blickt mir da entgegen. Aber stimmte das überhaupt? (SdE: 270; Hervorheb. i. Orig.)
Bemerkenswert an dieser Stelle ist ihre Komposition. Die in Majuskeln geschriebenen Sätze stehen in Stadt der Engel für 1992/1993 geschriebene Texte, die die Erzählerin in den Text montiert. Dass sich diese Textbausteine nun in einem Gespräch finden, anstatt wie sonst in einzelnen Absätzen, macht ihre Besonderheit aus. Die Unterwelt der Psyche, das Unbewusste, ist nur durch das Trauma, das die griechische Übersetzung von Wunde ist, zugänglich. Dass die deutsche Übersetzung gewählt wird, soll noch einmal den Schmerz verdeutlichen, der mit der Selbsterkundung einhergeht. Bereits die Protagonistin ist, glaubt man den ‚authentischen‘ Dokumenten aus dieser Zeitebene, sich sicher, ihr Gedächtnis zu erkunden. Die Zwischensätze – von denen der zweite (›Oder war es wieder nur eine Pflichtübung‹) nicht mit einem Fragezeichen endet – rekonstruieren das Zögern. Die Konfrontation mit der eigenen Fremdheit markiert eine nicht auflösbare Dissonanz zwischen dem früheren und dem aktuellen Selbst. Das Gespräch wendet die von Lacan diagnostizierte Angst vor einem Identitätsverlust positiv und affirmiert sie regelrecht, indem sie die Nichtidentität zwischen erinnertem Du und erinnerndem Ich ausstellt. Die Protagonistin erkennt die konstitutive
Lacan, Jacques: „Das Spiegelstadium“, S. 67.
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Fremdheit sich selbst gegenüber und sieht es als Aufgabe an, diese festzuhalten, denn „Schreiben [ist] ein Sich-Heranarbeiten an jene Grenzlinie […]“ (SdE: 271). Eine Erkenntnis, die sie kurz danach in einem erneuten Gespräch mit dem befreundeten Züricher Psychologen thematisiert und annimmt. (vgl.: SdE: 272)
2.3 Die Macht der Stasi-Akten Die zentrale Erinnerung in Stadt der Engel ist der erinnernde Bericht an die Entdeckung der eigenen Täterakte.Wie eine Klimax steuert der erste Teil von Stadt der Engel auf diesen Höhepunkt hin, der in der Mitte des Buches zu finden ist. Die Erinnerung findet sich hauptsächlich in dem Kapitel Wem konnte ich die Geschichte erzählen, wobei schon das vorige Kapitel darauf vorausweist. In einem Gespräch zwischen der Protagonistin und dem Architekten Bob Rice heißt es dort: Wem sagen Sie das, Mister, sagte ich, denn über Erinnern und Vergessen lernte ich gerade einiges, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Alles in mir sträubte sich dagegen, aber es ließ sich nicht mehr aufschieben, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, ich fing an eine Art Bericht zu schreiben, so wahrhaftig wie möglich, den ich an eine Zeitung nach Berlin faxte. (SdE: 177)
Nach der direkten Rede findet sich die zeitlich geraffte Beschreibung, die einige Tage oder Wochen innerhalb eines Satzes zusammenfasst. Was genau der Inhalt des Berichtes ist, bleibt unklar. Der Hinweis, dass der Bericht das Vergessen von Erinnerung thematisiert und schließlich die Öffentlichkeit eingeweiht werden soll, kann autobiographisch mit Wolfs Artikel Eine Auskunft in der Berliner Zeitung assoziiert werden.¹⁰⁵ In der Konfrontation mit dem Bekanntwerden der Täterakte ist die Protagonistin zunächst unschlüssig, wer ihr Gesprächspartner für eine erste Reflexion werden soll, ehe ihre Wahl auf den Kollegen Francesco fällt, mit dem sie zu Beginn des Textes die Installation besuchte. Das Gespräch hat zwei Ebenen, wenn textintern der Adressat des Gespräches die Figur Francesco ist. Überdies werden die Lesenden angesprochen, die ebenso Teil des Bekenntnisses werden.¹⁰⁶ Dabei wechseln die erzählenden Ichs in bekannter Manier immer wieder in die zweite Person Singular, wobei sich die zeitlichen Ebenen gegenseitig durchbrechen: Vgl.: Wolf, Christa: Umbrüche und Wendezeiten, hrsg. von Thomas Grimm / Gerhard Wolf, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 118 – 122; Vinke, Hermann (Hrsg.): Akteneinsicht Christa Wolf. Zerrspiegel und Dialog: Eine Dokumentation, Hamburg: Luchterhand 1993. Zur Bekenntnisstruktur, vgl. das Kapitel Schreibweisen des Autobiographischen und der Beleg des Lebens.
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Francesco, den manche für unsensibel hielten, der zu cholerischen Anfällen neigte, hörte auf die rechte Weise zu, und ich erzählte ihm von jener Woche vor einem Dreivierteljahr, die mir aus der Zeit gefallen war. Von deiner Fahrt, zehn Tage lang, jeden Morgen in jenen Teil von Ostberlin, den du nur wenig kanntest. (SdE: 178; Hervorheb. M.K.)
Das Aus-der-Zeit-fallen markiert den Umschlag vom Ich zum Du. Das Ich erscheint noch kurz, ehe es eine Geschichte erzählt, die, von ihm abgetrennt, nicht mehr seiner Hoheit unterliegt. Der Wechsel der Pronomina symbolisiert zeitliche Distanz und Nichtidentität des Subjektes, das seine Vergangenheit nur noch entfremdet wahrnimmt. Die Protagonistin beschreibt, wie sie die Stasizentrale in der Berliner Normannenstraße betritt, wie ihre Ausweisnummer − wie „in der ungewendeten Zeit“ (SdE: 179) − notiert und ihr erklärt wird, wie die Abläufe bei der Einsicht sind. Die Perspektive wechselt zwischen dem reflektierenden Ich im Gespräch mit Francesco und dem Du der Erinnerung: Hör mal, sagte Francesco, du mußt jetzt nicht weiterreden. Doch, ich muß, sagte ich. Es waren viel mehr Akten, als du erwartest hattest […] Und? Fragte Francesco. Hättet ihr anders gelebt, wenn ihr das gewußt hättet? Darüber habe ich seitdem nachgedacht, sagte ich. […] An jenem Nachmittag in der Lounge konnte ich nicht wissen, wie viele Abende, wie viele Stunden in den kommenden Jahren mit dem uferlosen Gerede vergehen sollten, das wir »Stasi-Debatte« nennen würden. […] Und in der Öffentlichkeit beherrschten zwei Buchstaben das Feld: IM. »Informeller Mitarbeiter«. Auf wen die zutrafen oder zuzutreffen schienen, der war verurteilt […]. Meine Betreuerin, sagte ich zu Francesco, die ja meine Akten kannte, hat mich übrigens zweimal morgens gewarnt: Ich würde an diesem Tag wohl eine böse Überraschung erleben. Und? fragte Francesco. Kam die böse Überraschung? Sie kam: Ausführliche Berichte eines Freundes über euer Leben und Treiben. Da du diesen Freund gut kanntest, hattest du zum ersten Mal die Gelegenheit, eine Erklärung dafür zu suchen […]. (SdE: 180 f.; Hervorheb. M.K.)
Die Ebenen springen regelrecht hin und her: In konkreten Erinnerungsszenen wird ein Du angesprochen. Während das Gespräch mit Francesco, das in direkter Rede formuliert wird, durch die Inquit-Formel sagte ich markiert ist und die Betreuerin noch als meine Betreuerin bezeichnet werden kann, wird dies im nächsten Satz abgeschwächt. Die Rede der Betreuerin wird nur indirekt wiedergegeben (›Ich würde an diesem Tag wohl eine böse Überraschung erleben‹). Zwar kann sich dadurch das Ich erhalten, aber die Wiedergabe in indirekter Rede distanziert sich vom Subjekt der Erzählung. Das entpersonalisierte Nachfragen Francescos (›Und‹) lässt offen, an welche Instanz es sich wendet. Beantwortet wird sie zunächst von der zweiten Person Plural (euer) und anschließend von dem Du. Die Erzählerin macht den Prozess beobachtbar, wie die zeitlichen Ebenen in der Narration langsam auseinanderfallen und der Text mehrere Distanzierungsbe-
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wegungen von dem sprechenden Subjekt vornimmt: Erste Person Singular, indirekte Rede, Entpersonalisierung, zweite Person Plural, zweite Person Singular. Auch alle zeitlichen Ebenen sprechen in dieser Situation. Die Protagonistin erzählt Francesco (›Doch ich muß, sagte ich‹) die Erlebnisse, die vor einem knappen Jahr (›Es waren viel mehr Akten, als du erwartest hattest‹) stattfanden. Überdies schaltet sich die Erzählerin ein, wenn sie den Text durch ihr Wissen um noch kommende Entwicklungen rahmt (›An jenem Nachmittag in der Lounge konnte ich nicht wissen‹) und die Bedeutung dieser Ereignisse für den Zeitraum bis zur Niederschrift einräumt (›das wir »Stasi-Debatte« nennen würden‹). Damit gewinnen die jeweiligen Erinnerungen in unterschiedlichen Konstellationen andere Bedeutung, je nachdem, aus welchem Kontext erinnert wird. Ein weiterer Aspekt ergibt sich aus dem Studium dieser unendlich erscheinenden Akten, die die Protagonistin liest, und dem parallel verlaufenden Entgegenfiebern auf den „Feierabend“ (SdE: 182). In dieser Spannung reflektiert sie die Erinnerungsleistungen von Akten. Die Frage, ob diese die Geschichte darstellen, ‚wie sie war‘, wird negiert, wie sie im Dialog mit Francesco festhält: Der Blick in diese Akten, weißt du, hat die Vergangenheit zersetzt und die Gegenwart gleich mit vergiftet. Das verstehe er nicht ganz, sagte Francesco. Ein plötzlicher Einbruch von Fakten könne eben auch zerstörerisch wirken sagte ich, da wurde Francesco wütend und herrschte mich an: Ob ich etwa dächte, was ich da in diesen Akten gefunden hätte, sei die Wahrheit über Fakten gewesen? (SdE: 182 f.)
Die Akten beinhalten also nicht das, was die Erinnerungsleistung des Subjektes liefert. Werden dort Gegenwart und Vergangenheit miteinander verschränkt, aufeinander bezogen und verbinden sich in ihrer Gegensätzlichkeit miteinander, ohne einfach nur ineinander aufzugehen, ist die Leistung der Stasi-Akten eine andere: Das bürokratische Potential liegt darin, Vergangenheit zu zersetzen und die Gegenwart zu vergiften. Die Akten geben in ihrem rein zweckrationalen Charakter¹⁰⁷ nicht die Wahrheit über Fakten wieder. In Ein Tag im Jahr hat Christa Wolf hierzu passend bemerkt: „Die [Akten; M.K.] befördern das Vergessen, indem sie scheinbar die Erinnerung befestigen.“¹⁰⁸ Es wird deutlich, dass dies mit der Sprache, die Akten verwenden, zusammenhängt:
Zum zweckrationalen Charakter bürokratischer Herrschaft vgl. grundlegend: Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr-Siebeck 1980, S. 127. Zur Kritik einer damit einhergehenden Logik der Selbstverständigung, vgl.: Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, übers. von Alfred Schmidt, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2007, insbes. S. 16 f. Wolf: Ein Tag im Jahr, S. 624.
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Wenn ich irgend etwas gelernt habe bei der Lektüre dieser Berichte, dann, was Sprache mit Wirklichkeit anstellen kann. Es war die Sprache der Geheimdienste, der sich das wirkliche Leben entzog. […] Der Tunnelblick des Spitzels manipuliert sein Objekt unvermeidlicherweise, und mit seiner erbärmlichen Sprache besudelt er es. […] Ich fühle mich besudelt. (SdE: 184)
Die Sprache der Informanten, die sich in den Akten niederschlägt, ist keine Sprache, deren Ziel eine literarische Wahrheit ist, sondern sie dient einer Ordnung der Denunziation der „feindlich-negativ[en]“ (SdE: 183) Subjekte. Das gesamte Kapitel ist ein ständiger Wechsel zwischen den zeitlichen Ebenen, der auf einen Höhepunkt − „dem Eigentlichen, was ich ihm erzählen müßte“ (SdE: 185) − zuläuft: Da druckste deine Betreuerin […] herum: Es sei da noch etwas. Sofort überkam dich ein Gefühl von drohendem Unheil, ohne daß du ahntest, was da noch sein könnte, aber du wolltest es wissen, gleich. Sie zögerte. Sie dürfe dir deine »Täterakte« − zum ersten Mal dieses Wort! − nicht zeigen, dazu habe sie sich verpflichtet. Du hast insistiert. Schließlich hat sie dir das Versprechen abgenommen, niemandem zu sagen, daß sie gegen diese Anweisung verstoßen habe. (SdE: 185)
Nach all dem persönlichen Leid, das sich zu „Depression“ (SdE: 184) ausgewachsen hat, berichtet die Protagonistin nun von der Konfrontation mit der eigenen Schuld: Du hattest keine Zeit, du konntest nichts gründlich lesen, konntest die paar Seiten nur überfliegen: Deine Schrift in einem offenbar harmlosen Bericht über einen Kollegen, Berichte zweier Kontaktleute über drei oder vier »Treffs« mit dir und die Tatsache, daß sie dich unter einem Decknamen geführt hatten, machten diesen Faszikel zur »Täterakte« und schleuderten dich unvorbereitet in eine andere Kategorie von Menschen. (SdE: 186)
Mit der Distanzierung, die erneut mit der Verwendung des Du einhergeht, bildet die Protagonistin eine Schutzfunktion gegenüber der unbequemen Erinnerung aus, die sie so abspaltet. Sie distanziert sich in der Erinnerung, wenn sie das Konzept der Täterakte verwirft und die eigene Berichterstattung als harmlos klassifiziert. Eine Beobachtung, die angesichts der schmalen Informationen richtig sein mag. Die Narration hat kurz zuvor Schutzfunktionen gegenüber dieser Erinnerung eingebaut, wenn die Protagonistin einen Kollegen verteidigt, der zur IM-Tätigkeit erpresst wurde (vgl.: SdE: 181). Dies trifft zwar nicht auf sie zu, wird aber in Relation gesetzt, um die Praktiken der Staatssicherheit zu veranschaulichen. Die Erzählerin, die sich in dem dreifachen Dialog (Ich−Du, Protagonistin −Francesco, Erzählerin−Lesende) zurückhält, ist trotzdem diejenige, die die
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Narration präsentiert. Sie ist es, die den Dialog zwischen Ich und Du gestaltet, da dieser keine Wiedergabe eines Gespräches mit Francesco darstellt. Damit zieht sie gleichermaßen die Distanzierung der Ebenen ein und versucht, die Erinnerung an das Auffinden der Akte sowie an das erste Gespräch für ihre eigene Konstitution produktiv zu machen. Die Überlegung, ob ihre „[…] Schreibarbeit an ein Ende gekommen ist“ (SdE: 192), welche die Erzählerin nach dem ersten Gespräch über ihre Täterakte anstellt, beantwortet sie performativ mit der Fortsetzung der Erzählung. Diese beschäftigt sich in der Folge mit den Reaktionen der Öffentlichkeit, die von moralisierender Anklage bestimmt sind, wie die Erzählerin nur vorgeblich wertneutral aus der Gegenwart kommentiert: „Die Öffentlichkeit reagiert blitzschnell und freudig auf das Wort »Moral«, reißt dem der Unmoral Bezichtigten zum guten Zweck die Haut vom Leben.“ (SdE: 192 f.) Dieser Themenkomplex definiert das folgende Kapitel in der Auseinandersetzung mit den Fragen nach Erinnerung,Vergessen und Schuld, die die Erzählerin regelrecht antreiben und wieder vom Präsens in die Ebene des Präteritums von 1992/93 wechseln lässt: „Wie weiter? Es muß ja immer alles weitergehen. Im MS. VICTORIA mußte ja alles weitergehen. Ich mußte ja auf den schon bekannten Wegen weitergehen.“ (SdE: 193; Hervorheb. i. Orig.) Wie in der Wiederholung von müssen in unterschiedlichen Tempi deutlich wird, ist die Handlung von einem fatalistischen Zwang angetrieben, der sowohl die Erzählerin als auch Protagonistin antreibt. Während letztere eine scheinbar ausweglose Lebenssituation überwinden will, ist die Erinnerung der Motor der Erzählung, der diese Krisis überschreiten will. Daher wendet sie sich der fortschreitenden Erlebnisse ihrer Zeit in Kalifornien zu. Iterativ erzählt sie von der „Tagesration von Anwürfen“ (SdE: 195), die ihr täglich aus deutschen Zeitungen zugefaxt werden und die sie liest. Nach einem dieser Tage begibt sie sich gemeinsam mit Peter Gutman zu ihrer Bekannten Malinka. Ein zunächst unverdächtiger Kontext, in dem über das Haus der Bekannten und die Umgebung gesprochen wird, wandelt sich in einen Auslöser für Erinnerungen, wenn das Gespräch sich der Definitionsmacht über die Begriffe Riots (im Kontext der sogenannten Riots Anfang der 1990er Jahre in Los Angeles), Wende und Revolution zuwendet (vgl.: SdE: 196). Auf der Rückfahrt assoziiert die Protagonistin ihre Erinnerungen an den Aufstand vom 17. Juni 1953 mit dem vorher Besprochenen: Aber ich erinnere mich, sagte ich zu Peter Gutman […] − ich erinnere mich, wie schon einmal, viele Jahre früher, am 17. Juni 1953, das erste Mal, als ich Massen protestierend auf den Straßen gesehen hatte, die Benennung dieses Ereignisses den Politikern und Zeitungen Kopfzerbrechen machte: Wie in den ersten Tagen nach dem 17. Juni noch von »Arbeiterprotesten«, von »berechtigten Kritiken« die Rede war, und wie wir dann informiert wurden, daß wir Zeugen einer »Konterrevolution« gewesen seien, was natürlich die öffentliche
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Auseinandersetzung mit den Ereignissen sehr erleichterte. Und wenn Malinka von der Spaltung in sich selbst gesprochen habe – an die Spaltung in mir damals könne ich mich gut erinnern. (SdE: 197; Hervorheb. M.K.)
Die Protagonistin setzt sich selbst zu ihrer Bekannten in ein Verhältnis, wenn deren Position zu den Riots ähnlich ambivalent ist, wie diejenige der Protagonistin 1953. Dass die Protagonistin für ihre eigene Unentschlossenheit und Disparatheit den Konjunktiv nutzt, macht ihre Aussage prekär. Die Erinnerung wird im Indikativ formuliert und stellt eine direkte Rede der Protagonistin mit dem Adressaten Peter Gutman dar. Der letzte Halbsatz mit seinem Konjunktiv fällt heraus. Auch der erste Teil des letzten Satzes, eine Wiedergabe von Malinkas Worten in indirekter Rede, gibt keinen Aufschluss über die Verwendung des Konjunktivs, der einzig als Selbstdistanzierung verstehbar ist. Damit wird die innere Dissonanz zu den Ereignissen während des 17. Junis sowie die innere Dissonanz zwischen den verschiedenen Formen des Selbst markiert. Deutlich wird dies, wenn der darauffolgende Absatz die Erinnerung in die Ansprache an das Du verschiebt: „Wie du erschrakst, als du, in Leipzig mit der Straßenbahn aus der Deutschen Bücherei kommend, wo ein Flüstern hinter dir dich alarmiert hatte, im Vorbeifahren Arbeiter sahst, die auf einer Baustelle ein Transparent aufspannten: Wir streiken!“ (SdE: 197) Im Anschluss berichtet die Protagonistin über die Erlebnisse während der Demonstrationen, wie sie wegen ihres Parteiabzeichens von einem Mann angegriffen wurde, der ihr „das Ende deines ScheißStaates“ (SdE: 198) verkünden wollte, und wie ihre Identifizierung mit dem Staat sich an eben jenem Parteiabzeichen manifestierte: „Wie sich ganz schnell ein Ring von Leuten um euch bildete, die dasselbe [Abnehmen des Parteiabzeichens; M.K.] von dir verlangten, und wie du ganz kalt, zu dem Mann sagtest: Nur über meine Leiche!“ (SdE: 198) Die Bereitschaft wird zwar mit dem gegenwärtigen Blick als „lächerlich“ (SdE: 198) erkannt, aber historisch als die einzig mögliche Antwort klassifiziert. Dass diese Antwort zumindest werkgeschichtlich nicht nur an das Jahr 1953 geknüpft ist, wird an der Wiedergabe eines Gespräch mit Gerhard Wolf in dem Eintrag 1979 aus Ein Jahr im Tag deutlich, wo von der „unauflösbaren Identifizierung mit diesem Land“¹⁰⁹ die Rede ist. Zwar diagnostiziert Gerhard Wolf diese Identifizierung, sie wird aber von Christa Wolf in diesem Kontext affirmativ aufgegriffen.¹¹⁰
Wolf: Ein Tag im Jahr, S. 270. Die Ausreise − gegen die sich die Wolfs entscheiden − ist die einzige Möglichkeit sich der ‚Identifizierung‘ zu entziehen, wobei diese als Grund für die Ausreise von Günther Kunert und Sarah Kirsch im Sinne einer Desillusionierung gegenüber der Utopie benannt wird, vgl.: Wolf: Ein Tag im Jahr, S. 270 f.
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Während in der Erinnerung an die Konfrontationen am 17. Juni Ich und Du syntaktisch auf unterschiedliche Sätze aufgeteilt sind, lässt sich diese Trennung angesichts des Themas nicht länger aufrechterhalten. Das folgende Gespräch mit der Freundin Sally handelt von dem Auftauchen der Verpflichtungserklärung als IM. Bei dem Versuch, der Freundin die Dimensionen klarzumachen, stellt sich eine Unkenntnis der Freundin angesichts der Bezeichnungen heraus: IM – weißt du überhaupt, was das heißt? No, sagte Sally unbefangen, I have no idea. Glückliches Amerika! Stasi, ja das habe sie gehört. Das kenne jeder. Informeller Mitarbeiter, wie sollte ich das auf Englisch sagen? O I see. Some kind of agent? Or spy? O Sally, treib mich nicht zur Verzweiflung, warum kannte sie auch kein Wort Deutsch, natürlich wurde alles noch direkter und roher und abscheulicher in der fremden Sprache, in der die Differenzierungen wegfielen, weil sie mir einfach nicht zur Verfügung standen. Aber was wären die Differenzierungen. (SdE: 201)
Die sprachliche Ausarbeitung zeigt erneut eine deutliche Überformung durch die Erzählinstanz. Während die direkte Rede der Protagonistin auf Deutsch wiedergegeben wird, antwortet Sally auf Englisch. Dies ist gerade angesichts der Erinnerungsleistung, die die Erzählerin sonst vollbringt, indem 15 Jahre alte Gespräche mit Peter Gutman wortwörtlich wiedergegeben werden, als stilistisches Mittel ungewöhnlich. Der Text betont, dass die Freundin kein Wort Deutsch könne, was auf das dissoziative Verhältnis von Protagonistin und Erzählerin verweist. Angesichts der fehlenden DDR-Kenntnisse der amerikanischen Freundin will die Protagonistin sie nun in den Kontext der konkreten Ereignisse einweihen. Hier verstärkt sich die Spaltung der Instanzen durch das Du der Erinnerung noch einmal: Also: In meiner Erinnerung, die ich mühsam heraufgeholt hatte, kamen eines Tages zwei junge Männer in dein Büro in der Redaktion der Zeitschrift, bei der du arbeitetest, und wollten eine belanglose Auskunft von dir, die diese Arbeit betraf. In den Akten steht, sie hätten dich auf der Straße abgefangen. Daran erinnere ich mich nicht. Sie gaben sich als das aus, was sie waren: Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. (SdE: 201 f.; Hervorheb. M.K.)
Innerhalb eines Satzes vollziehen sich die Verschiebungen der Personalpronomen vom Ich zum Du. Die Parallelisierung der syntaktischen Einheiten wirkt durch die Wiederholung – erst Possessivpronomen, dann Personalpronomen – noch deutlicher. Das Ereignis selbst verbleibt in dieser Konstellation nicht erinnerungsfähig und wird durch das Wissen aus Akten gefüllt, deren ‚Wahrheitsgehalt‘ kurz zuvor diskutiert wurde. Trotzdem wird die Handlung, wie bei den eigenen ‚authentischen‘ Erinnerungen, mit der zweiten Person Singular wiedergegeben. Hinzu kommt, dass die Protagonistin sich an ein Ereignis nicht erinnern kann. Dieses wird aus den Akten rekonstruiert und trotzdem in der zweiten Person
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Singular erzählt. Die Inkorporierung eines fremden Wissens legt das Augenmerk auf die Fremdheit, die zwischen dem Du der Erinnerung und dem erinnernden Ich herrscht. Das Zusammentreten der zeitlichen Ebenen wird durch die Aufregung intensiviert. Die Konstellation, in die sich Erinnerung und Gegenwart begeben, wirkt noch ausgestellter, da sie nicht assoziativ, sondern durch wiederholte äußere Einflüsse hergestellt wird. Die Erinnerung, die sich nicht durch einen spontanen Einfall ergeben hat, war das Werk einer mühsamen Arbeit – sie musste heraufgeholt werden. Nicht nur werden mit dieser topographischen Metapher Archäologie (Benjamin) und Unbewusstes (Freud) anzitiert, es sind auch Verweise auf den Schacht der Erinnerung und die damit verbundenen Anstrengungen.¹¹¹ Damit wirft der Text erneut die Frage auf, in welchem Verhältnis Erinnerungen und Akten miteinander stehen, ohne diese Gegenüberstellung produktiv aufzulösen. Als die Freundin über das Jahr des Geschehens (1959) informiert wird, kann sie nur antworten: „O my goodness. But then you were another person! Laß mal Sally. Darum geht es jetzt nicht. Es geht um Gedächtnis, es geht um Erinnerung: Mein Thema seit langem.“ (SdE: 202) Der Aussage hinsichtlich der Diskontinuität ihrer Person wird von der Protagonistin ignoriert, wenn sie den Fokus auf die Erinnerungsleistungen legt und damit andeutet, Kohärenz herstellen zu wollen. Der Text operiert damit auf zwei Ebenen: Denn während sich die Protagonistin auf inhaltlicher Ebene auf die Suche nach Identität begibt, unterläuft die Form, welche die Erzählerin dem Geschehen gibt, gerade diesen Versuch durch das Ausstellen der unterschiedlichen Zeitebenen. Damit zeigt sie als Erzählinstanz nicht nur die Konstruktionsleistung einer Narration, sondern insbesondere einer Narration durch Erinnerung, in der die Erinnerungen für die Gegenwart in neue Bedeutungskontexte eingebettet werden. Die Erzählinstanz generiert so die Brüche, die zwischen den unterschiedlichen zeitlichen Ebenen liegen, und wendet diese auf die Brüchigkeit des eigenen Selbst an, das sich nicht über die Zeit kohärent entwickelt. Vielmehr sind es eben Prozesse der Identifizierung, die sich aus den Aneignungen jener unterschiedlichen Erinnerungen ergeben. Gegen Ende des gleichen Kapitels wird die Dissoziation des Selbst noch einmal explizit betont. Dort wird ein Brief jener L. zitiert, der die Protagonistin in Los Angeles auf der Spur ist und deren Briefkonvolut der Grund für den Aufenthalt in Kalifornien ist. Der Brief ist nicht eindeutig zu datieren, „aber wohl gegen Ende der siebziger Jahre“ (SdE: 212) geschrieben. Er ist eine Antwort auf einen der nicht mehr existenten Briefe der verstorben Emma, aus deren Nachlass die Briefe
Vgl. das Kapitel „Ich steig noch mal runter in diesen Schacht“ – Zur Erinnerungsmetaphorik von Sog und Schacht.
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stammen. Sowohl L./Lily¹¹² als auch Emma fungieren als Spiegelfiguren für die Protagonistin,¹¹³ wobei die Suche nach Ersterer mit der Suche nach ihren vergessenen Erinnerungen parallelisiert wird.¹¹⁴ Die Protagonistin fühlt sich von dem, was ihre ‚Heimat‘ darstellt, entfremdet: Warum hatte ich kein Heimweh, das war doch unnatürlich, ein fremdes Land, dachte es in mir. Ich hatte nicht noch einmal in einem großen Deutschland leben wollen […]. Ob ich denn dieses kleinere Deutschland auf Dauer wirklich vorgezogen hätte, mit all seinen Mängeln, ach was, mit seinen Gebrechen und Fehlern, mit dem Keim des Untergangs, den ich doch seit langem schon gespürt hatte. (SdE: 204)
Laut der Antwort Lilys kennt Emma die „Spur von dem verlorenen Heimatgefühl“ (SdE: 212). Der Brief wendet sich dem „lieben Herren“ (SdE: 213), der Paraphrase Walter Benjamins, zu, dessen Interesse zu dieser Zeit in der Sammlung von Alltagsbeobachtungen besteht. Als kurz darauf Peter Gutman, der den Philosophen (wie es im Text heißt) beforscht, in einen Dialog mit der Protagonistin tritt, gewinnt dies noch einmal eine weitere Bedeutung: Ja ja, sagte Peter Gutman, der sich immer häufiger anhören mußte, was mir durch den Kopf ging. Ich weiß. Aber allmählich könntest du eigentlich anfangen, diese ganze Geschichte mal von einer anderen Seite zu sehen. – Nämlich von welcher? – Zum Beispiel als Chance. (SdE: 213)
Gerade in der engen Konstellation von Philosophen und dem ‚Philosophen-Forscher‘ Gutman gewinnt die letzte Aussage Gutmans eine zusätzliche Bedeutung: Geschichte − mit ihrer Doppeldeutigkeit von einer Geschichte und der Geschichte − darf nicht nur im alltäglichen Sinn als etwas, das passiert ist, verstanden werden, sondern in ihrer historisch-politischen Dimension. Diese andere Seite der Geschichtsinterpretation ist laut Benjamin wiederum nicht nur eine Möglichkeit, sondern die zentrale Aufgabe des historischen Materialisten: „Er [der historische Materialist; M.K.] betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.“¹¹⁵ Benjamin wendet sich in der siebten These aus Über den Begriff der
Vgl. das Kapitel Walter Benjamin und das Niemandsland. Vgl. zu dem Verhältnis Protagonistin – Emma – Lily auch: Haase: „Christa Wolfs letzter Selbstversuch“, S. 225. Vgl.: Pormeister, Eva: „Vom Nachdenken über das Vergessen zur ‚schonungslose(n) Selbsterkenntnis‘. »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud« von Christa Wolf“, in: Hörnigk, Therese / Gansel, Carsten (Hrsg.): Zwischen Moskauer Novelle und Stadt der Engel. Neue Perspektiven auf das Lebenswerk von Christa Wolf, Berlin: VBB 2015, S. 94– 106, hier S. 97. Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 697.
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Geschichte gegen ein „Verfahren der Einfühlung“¹¹⁶. Dieses diene eben nur „den jeweils Herrschenden“¹¹⁷. Was Benjamin für das Kollektiv definiert, wird durch Gutman auf die persönliche Ebene übertragen. Die Geschichte der Protagonistin muss gegen den Strich gebürstet werden. Hierin liegt das, was er als Chance bezeichnet. Die Passage gewinnt einen autoreferentiellen Charakter, wenn die Figur Gutman die Protagonistin indirekt auf das Verfahren der Konstellierung von Erinnerung und Gegenwart hinweist, welches die Erzählerin in der Konstruktion der Narration schließlich anwenden wird. Dieses Verfahren zeigt – ganz im Sinne Kritischer Theorie – die herrschafts- und ideologiekritische Dimension, die Stadt der Engel aufbieten will. Während bei Benjamin die Einfühlung im kollektiven Sinn die herrschende Klasse unterstützt, da sie deren fortwährendes Narrativ einer unveränderlichen Geschichte als ein So-und-nicht-anders bestätigt, ist die narrative Konstruktion in Stadt der Engel auf die Absage an eine unveränderliche Identität gerichtet. Letztere bedient sich eines strukturanalogen Narrativs, welches das Verhältnis von Erinnertem und Gegenwart, Subjekt und Objekt, aufheben soll. Dagegen erhebt die Erzählinstanz Einspruch, wenn sie anhand ihrer eignen Geschichte die problematischen Entwicklungen ihres Selbst historisiert und in die jeweiligen Kontexte einordnet. Sie trennt die eigene Geschichte im selben Moment von sich ab und folgt einem Paradigma der Nichtidentität, das sich in den Prozessen der Identifizierung ausstellt. Erst mit der Absicht, die Erinnerungen neu zu beleuchten, setzt sich die Erzählerin zu ihnen in ein Verhältnis und in diesem Verhältnis spricht sich eine Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Bruch des Selbst aus. Die Protagonistin reflektiert dies, wenn sie erklärt: Wer soll dieses Ich sein, das da berichtet. Es ist ja nicht nur, daß ich vieles vergessen habe. Vielleicht ist noch bedenklicher, daß ich nicht sicher bin, wer sich da erinnert. Eines von den vielen Ichs, die sich, in schneller oder langsamer Folge, in mir abgelöst haben, die mich zu ihrem Wohnsitz gewählt haben. Wen also zapft das Instrument Erinnerung an? (SdE: 214)
Die Protagonistin gesteht ein, dass ihr Ich nicht kohärent bleibt. Stattdessen wird völlig unklar, wer überhaupt noch jene Instanz ist, die spricht. Die Pluralität von Ichs, welche die Protagonistin beherrscht, verweigert durch ihre Uneinheitlichkeit eine Identität, die der Text direkt wieder formal ausstellt, wenn an diese Aussage wiederum eine Erinnerung anschließt. Diese führt an das Ende des Zweiten Weltkrieges zurück und markiert so einen weiteren Bruch, der sich in der Bio-
Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 696. Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 696.
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graphie der Protagonistin findet.¹¹⁸ Auch in dieser Erinnerung werden die unterschiedlichen Personalpronomen benutzt, die auf eine weitere Nichtidentität im Selbst der erzählenden Instanz verweisen.
2.4 Verlust und Melancholie Die medial immer stärker diskutierten Vorwürfe hinsichtlich der Tätigkeit für die Staatssicherheit führen die Protagonistin in eine existentielle Krise. Kurz nach Weihnachten liest die Protagonistin nach einiger Zeit wieder die – inzwischen sogar internationalen – Artikel über ihre Person. Nach dem gescheiterten Versuch mit dem Ehepartner zu telefonieren, spitzt sich die Lage zu: Ich legte mich ins Bett und suchte angestrengt nach Beweisen, die ich für eine Verteidigung hätte brauchen können. Ich fand keine. Keinen Zipfel des overcoat des Dr. Freud konnte ich ergreifen. Ich spürte, daß ich in einen Strudel geriet, und begriff, daß ich in Gefahr war. Der Grund des Strudels, an dem ich nicht mehr da wäre, kam mir sehr verlockend vor, als das einzig Mögliche. Ich überlegte, wie ich es machen könnte, das lenkte mich etwas ab. Die Stimme in mir, die mich gemahnte, daß ich den anderen diesen Kummer nicht antun dürfe; die mir riet, wenigstens den nächsten Tag noch abzuwarten, war sehr leise. Ich nahm einige Schlaftabletten, achtete aber darauf, daß es nicht zu viele wären. (SdE: 236 f.)
Der fehlende Schutz, den der eigene psychische Apparat nicht mehr in der Lage ist aufzubauen, wird am Overcoat verdinglicht. Etwas anders gesagt: Der Reizschutz, der die Hauptaufgabe des Bewusstseins in der Freud’schen Konzeption ist,¹¹⁹ erfüllt nicht mehr seine Funktion. Anstatt die Protagonistin vor der auf sie einstürmenden Flut von Informationen und Verurteilungen zu bewahren, bricht alles durch. Es bleibt nur der Ausblick auf den Grund des Strudels. ¹²⁰ Freud charakterisiert in Trauer und Melancholie das Melancholische als eine Funktion, die einmal mehr die Frage nach Identität aufwirft und problematisiert: „Der Melancholiker zeigt uns […] eine außerordentliche Herabsetzung seines Ichgefühls, eine großartige Ichverarmung.“¹²¹ Durch die Vorgänge innerhalb der Protagonistin vollzieht
„Nimm bloß die Nachkriegszeit, sagte ich. Der Führer war tot. Eine Leere breitete sich in dir aus.“ (SdE: 214). Vgl.: Freud: „Jenseits des Lustprinzips“, StA III, S. 237. Der Strudel hängt mit dem Sog zusammen (vgl. das Kapitel „Ich steig noch mal runter in diesen Schach.“ Erinnerungsmetaphorik von Sog und Schacht). Zur Analogisierung der beiden Phänomene, vgl.: Sakova-Merivee, Aija: „Die Ausgrabung der Vergangenheit in ‚Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud‘“, in: Gansel, Carsten (Hrsg.): Christa Wolf − Im Strom der Erinnerung, Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 245 – 256, hier S. 254. Freud: „Trauer und Melancholie“, StA III, S. 200.
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sich eine Veränderung der Person. Die Melancholie führt eine ähnliche Dissoziation herbei, wie es sich an der Aufspaltung der Erinnerungsebenen gezeigt hat. Statt der Stabilisierung eines Ichs durch eine Krisensituation destabilisiert sich dieses. Die weitere Passage ist in diesem Kontext zu lesen. Die Protagonistin wehrt den Gedanken an einen Suizid zwar ab, letztlich verhindert dies aber nicht eine Nahtoderfahrung: Ich schlief ein, oder wurde bewußtlos, und erlebte, wie ich starb. Es war kein Traum, es war eine andere Art von Erleben. Es war ein Erkalten der Glieder von den Füßen her aufwärts, bei vollem Bewußtsein, ich wußte, was geschah, ohne mich zu ängstigen, ich wußte, die Kältewelle würde das Herz erreichen, ich erstarrte nach und nach, mit offenen Augen, ich war tot, aber ich konnte noch sehen, ich sah meine Umgebung, Wände, Fenster, ich sah auch mich daliegen auf einem breiten Lager. Es war nicht schlimm. Als ich erwachte, es war noch dunkel, brauchte ich lange, mir klarzumachen, daß ich nicht tot war, mich aus der Starre herauszuarbeiten. Ich dachte, jetzt weiß ich, wie es ist, wenn man stirbt, und habe keine Angst mehr davor. Ich empfand etwas wie einen kleinen Trost. (SdE: 237)
Das eigene Sterben wird physisch nachempfunden und das Erlebnis nimmt damit sowohl die Angst vor dem Tod als auch die Angst vor allem, was das Leben zu bieten hat. Der Tod tritt ein, ohne dass viel passiert. So ist die Formulierung trotz immer weiter steigender Anzahl von Artikeln doch sehr lakonisch: „Ich war ja tot, das war gut, es betraf mich nicht.“ (SdE: 237) Die Nahtoderfahrung wird als andere Art des Erlebens charakterisiert. Eine sehr ähnlich klingende Formulierung findet sich kurz darauf im Dialog mit Peter Gutman: „[I]ch hätte ein völlig anderes Leben gelebt.“ (SdE: 242). In diesem Gespräch denkt die Protagonistin darüber nach, was passiert wäre, wenn ihr Flüchtlingstreck 1945 die Elbe überquert hätte: „Vielleicht habe ich durch ein Versäumnis die große Chance meines Lebens verpasst.“ (SdE: 242) Still bejaht sie die Frage, ob ihr Leben anders verlaufen wäre, womit sie betont, dass die Entscheidung für die DDR nicht bewusst getroffen wurde.¹²² Dieser Staat hatte aber ein produktives Potential, wenn sie konstatiert, dass sie ohne „die Konflikte […] in dieser Gesellschaft“ (SdE: 243) nie Schriftstellerin geworden wäre. Doch die ‚Hypostasierung‘ geht noch einen entscheidenden Schritt weiter: „Und ich wäre ohne Schuld gewesen.“ (SdE: 243) Sowohl durch die semantische als auch durch die textliche Nähe gehören die Nahtoderfahrung und die Erinnerung an die Flucht aus dem, was vor 1945 als Ostdeutschland bezeichnet wurde, zusammen. Die Krise, die von Außenstehenden sogar als „Psychose“ (SdE: 238) bezeichnet wird, stärkt das Ich der Protagonistin nicht. Vielmehr kommt sie zu zwei radikalen Schlüssen: Entweder dem Wunsch nach dem Ende des Lebens oder dem Vgl.: Brockmann: „Rembering What Remained“, S. 356.
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Wunsch nach dem anderen Leben. Der Versuch, über eine Aufarbeitung der eigenen Schuld eine Einheit des Selbst herzustellen, muss scheitern, da zwar die Verantwortung fortbesteht, das Subjekt sich selbst aber zahlreichen Transformationen unterzogen sieht. Das Über-Ich der Protagonistin ist – um im Freud’schen Duktus zu bleiben − nicht im Stande, die Situation aufzulösen. Freud beschreibt das Schuldgefühl als das Ergebnis „zwischen den Ansprüchen des Gewissens und den Leistungen des Ichs […].“¹²³ In der Melancholie wird das Schuldgefühl auf eine bestimmte Weise produziert. Denn es ergibt sich aus der ins Ich gewendeten Aggression gegen das Objekt. Freud geht in Trauer und Melancholie von der „Identifizierung des Ichs mit dem aufgegebenen Objekt“¹²⁴ aus. Die Grundidee der Psychoanalyse ist in diesem Fall eine dyadische: Depression entsteht, wenn eine Person durch eine andere gekränkt oder enttäuscht wurde. Die entstehenden Selbstzweifel sind eigentlich immer Vorwürfe gegen das Objekt. Damit aber die Beziehung zum ursprünglichen Objekt keinen Schaden nimmt, regredieren die Vorwürfe: „Die narzißtische Identifizierung mit dem Objekt wird dann zum Ersatz der Liebesbesetzung, was den Erfolg hat, daß die Liebesbeziehung trotz des Konflikts mit der geliebten Person nicht aufgegeben werden muß.“¹²⁵ Das Subjekt will seine stabile Beziehung zum Objekt behalten. Der Vorwurf wird deshalb nicht dem Objekt gemacht, sondern führt vielmehr zu einer Selbstanklage des Subjektes. In Stadt der Engel findet sich die Spaltung in der Differenz der zeitlichen Ebenen, die nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Die Protagonistin wirft dem Du nicht vor, sich früher falsch verhalten zu haben, sondern wendet die Vorwürfe gegen sich selbst, wenn sie sich anklagt. Dabei verschiebt sie die Kränkung, die eigentlich das Du hervorruft, in sich selbst, was die introjizierte Kränkung durch das Objekt darstellt. Überdies wird diese Instanz in ein metonymisches Verhältnis zum untergegangenen Staat DDR und der ursprünglich damit verbundenen Utopie gesetzt.¹²⁶ Es ist der Verlust einer Utopie, die sich trotz der Fehler an den Staat DDR als historisch notwendiges Gebilde (vgl.: SdE: 188)
Freud: „Das Ich und das Es“, StA III, S. 304. Freud: „Trauer und Melancholie“, StA III, S. 203 (Hervorheb. i. Orig.). Freud: „Trauer und Melancholie“, StA III, S. 203. Martina Wagner-Egelhaaf hat in ihrer Studie Die Melancholie der Literatur darauf hingewiesen, dass Abstrakta (wie auch der Verlust staatlicher Gebilde) ebenfalls Auslöser von Melancholie sein können: „Trauer und Melancholie teilen sich in einen Symptomkatalog und können auf gemeinsame Erfahrungen zurückgeführt werden, die Erfahrung eines ›Objektverlustes‹, d. h. des Verlusts einer geliebten Person oder eines abstrakten Wertes, der an ihre Stelle getreten sein kann, wie etwa Vaterland o. ä.“, Wagner-Egelhaaf, Martina: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration, Stuttgart: Metzler 1997, S. 159 f.
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bindet.¹²⁷ Die frühere Version des Selbst muss deswegen als Personifikation dieses Verlustes verstanden werden; es ist das Gefühl einer verloren gegangenen Utopie, die sich für die Protagonistin am Ende der DDR manifestierte. Die innige Beziehung, die trotz Desavouierung der Utopie durch den real existierenden Sozialismus besteht, wird deutlich, da die Protagonistin die DDR mehrfach als „unser Land“ (z. B. SdE: 22) bezeichnet und es sogar mit der Emotion Liebe in Verbindung bringt: „Irgendwann bildete sich der Satz: Wir haben dieses Land geliebt. Ein unmöglicher Satz, der nichts als Hohn und Spott verdient hätte, wenn du ihn ausgesprochen hättest. Aber das tatest du nicht. Du behieltest ihn für dich, wie du nun vieles für dich behältst.“ (SdE: 73) Dieses Eingeständnis kann und will die Protagonistin niemandem mitteilen, einerseits aufgrund der Scham gegenüber dem Inhalt, andererseits aufgrund des Verlustes, den sie verspürt. Mit der Melancholie wird eine weitere Ebene der Dissoziation eingeführt, die noch einmal die konkrete Psyche der Protagonistin in den Blick nimmt. In diesem Kontext erstreckt sich die Brüchigkeit nicht nur auf eine ‚Identität‘, sondern dringt tief in das Individuum ein und wirkt dort mit einer pathologischen Kraft.¹²⁸ ‚Identität‘ wird nicht nur zwischen den Zeitebenen, sondern auch in jeder jeweiligen Zeitebene vom Text dekonstruiert. In den gegenseitigen Bezügen verorten sich die Identifizierungen, die angesichts der veränderten historischen Situation nun Transformationen unterzogen sind. Während sich insbesondere der erste Teil von Stadt der Engel mit den Identifizierungen durch Erinnerungen auseinandersetzt und dort die Möglichkeiten testet, die angesichts der veränderten Situation bestehen, werden in den weiteren Teilen die Erinnerungen noch deutlicher mit den Figurationen der neuen Welt,¹²⁹ von der ganz zu Beginn von Stadt der Engel die Rede ist, in ein Verhältnis gesetzt, ehe Erzählerin und Protagonistin neue Möglichkeiten einer Utopie für das Subjekt ausloten.¹³⁰ Bevor die
Krauss hält in Rekurs auf die Biographie Wolfs treffend fest: „Mehr als 20 Jahre nach dem politischen und juristischen Ende der DDR sucht sie [Christa Wolf; M.K.] nach Erklärungen: für das Scheitern des Sozialismus und für ihr jahrzehntelanges Festhalten an dieser Idee.“, Krauss, Hannes: „Auf der Suche nach der richtigen Sprache. Von »Kindheitsmuster« zu »Stadt der Engel«“, in: Schmidt, Nadine J. / Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Christa Wolf, Text + Kritik 46, München: Ed. Text + Kritik 2012, S. 183 – 190, hier S. 187. Piehler spricht in ihrem Beitrag sogar davon, dass die „Selbsterkenntnis bis an den Rand der Selbstzerstörung“ führen würde, Piehler, Hannelore: „»Ein fremder Mensch blickt mir da entgegen«. Das Unsagbare sagbar machen: Christa Wolfs literarische Selbstanalyse in »Kindheitsmuster«, »Was bleibt« und »Stadt der Engel«“, in: Schmidt, Nadine J. / Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Christa Wolf, Text + Kritik 46, München: Ed. Text + Kritik 2012, S. 171– 182, hier S. 171. Vgl. das Kapitel Das Andere des Ostens. Vgl. das Kapitel „Auferstanden aus Ruinen“ – Ein Engel bringt die Utopie.
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IV Christa Wolf: Der Blick in die neue Welt
vorliegende Arbeit sich diesen Fragen zuwendet, steht das Potential autobiographischer Schreibweisen für das ostdeutsche Selbstbild im Fokus.
3 Schreibweisen des Autobiographischen und der Beleg des Lebens Beschäftigt man sich mit Stadt der Engel, gerät man zwangsläufig an die Frage, welche Stellung das Autobiographische in diesem Text hat.¹³¹ Zu offensichtlich und zahlreich sind die Korrespondenzen, die es zwischen dem Geschilderten und dem Leben der Autorin gibt, als dass diese ignoriert werden könnten. Das folgende Kapitel gibt sich die Aufgabe, diesen Aspekt zu diskutieren. Gerade angesichts der Tatsache, dass Wolfs Leben für mehrere im Text erinnerte Ereignisse geradezu als Beleg für eine Tatsächlichkeit des Erzählten fungiert, berührt eine Diskussion autobiographischer Perspektiven das Kernthema der vorliegenden Arbeit, die ostdeutschen Selbstbilder nach 1989, noch intensiver, als in den theoretischen Aufarbeitungen autobiographischer Phänomene ohnehin schon Identitätsfragen besprochen werden. Im Folgenden werden verschiedene Traditionen der Autobiographie-Forschung diskutiert, ehe ich im Rückgriff auf zwei frühe poetologische Texte Wolfs (Lesen und Schreiben und Subjektive Authentizität) Wolfs Poetik der autobiographischen Schreibweise erörtere und in einem letzten Schritt der Bekenntnischarakter von Stadt der Engel diskutiert wird. Die Forschung zu autobiographischen Schreibweisen, die das Autobiographische unterschiedlich definiert (Gattung, Stil, rhetorische Figur) wird im Folgenden ausführlich besprochen, da sich aus den aufgeworfenen Problemstellungen sowohl für eine Lesart von Stadt der Engel als auch von Grünbeins Jahren im Zoo Konsequenzen ergeben.¹³² Bereits in den Epi- und Paratexten zu Stadt der Engel kommt man schnell mit Aussagen oder Anmerkungen in Berührung, die sich direkt auf das autobiogra-
Ich benutze in diesem Kapitel meist die männliche Form Autor, wenn nicht explizit von weiblichen Schreibenden die Rede ist. Damit folge ich dem Diskurs zu Autorschaft, der meist die männliche Form ‚Autor‘ mit Autorschaft gleichsetzt. Auch wenn ich nicht allen Argumenten aus Foucaults Was ist ein Autor? folgen möchte, schließe ich mich doch insoweit seinem Diskurs um sogenannte Autorfunktionen an, als diese Teil eines Konstruktionsprozesses sind, der sich aus verschiedenen weiteren Diskursen speist. Vgl. hierzu grundlegend: Foucault, Michel: „Was ist ein Autor?“, in: Jannidis, Fotis / Lauer, Gerhard / Martinez, Matias / Winko, Simone (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, übers. von Karin von Hofer, Stuttgart: Reclam 2012, S. 198 – 229. Für letzteren Aspekt, vgl. das Kapitel Dresdner Kindheit um 1970 – Grünbein und die Berliner Kindheit um 1900.
3 Schreibweisen des Autobiographischen und der Beleg des Lebens
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phische Schreiben beziehen.Wolf wurde nach dem Erscheinen von Stadt der Engel immer wieder damit konfrontiert, wie die Stellung des Autobiographischen zu verorten ist. In einem Gespräch mit dem Magazin Der Spiegel äußert sie sich dazu wie folgt: Spiegel: Es leuchtet nicht ein, warum Sie das Buch, das Sie doch sehr nahe an Ihrem authentischen Erleben entlang erzählen, in Teilen auch fiktionalisiert haben.Wollten Sie durch die Fiktionalisierung den eigentlichen Konflikt, den Sie schildern − die Auseinandersetzung mit der eigenen Person und die öffentlichen Reaktionen darauf −, von sich wegrücken? Wolf: Nein, Sie haben ja selbst gesehen, daß ich gerade bei den Teilen, die diese Konflikte schildern, nahe an den tatsächlichen Ereignissen entlang erzähle. Anderes habe ich erfunden, viel mehr, als Sie wohl glauben würden. Das gehört zur Vielschichtigkeit, die ich anstrebe. Ebenso wie es sich natürlich versteht, daß die Ich-Erzählerin nicht identisch mit der Autorin ist.¹³³
In Übereinstimmung mit dem Interview spricht Wolf (kurz vor dem Erscheinen von Stadt der Engel) in einem Brief an Irving Wohlfarth davon, dass der Text von „unserer Zeit“ handelt, jedoch „die Ich-Erzählerin […] nicht mehr identisch mit meinem bescheidenen »Ich«“¹³⁴ sei. Wolf verweist auf den gemeinsam mit Wohlfarth verlebten Aufenthalt am Getty Center in Los Angeles 1992/93, der mit der Ebene der Protagonistin in Stadt der Engel korrespondiert. Die Differenz, die Wolf in Interview und Brief zwischen Autorin und Erzählerin/Protagonistin einzieht, ist eine der Leerstellen, die Stadt der Engel bestimmen. Geradezu neurotisch vermeidet der Text die Nennung des Namens des erzählten oder erinnerten Ichs, wenn sogar enge Bekannte der Protagonistin jede namentliche Ansprache vermeiden und wie Peter Gutman in ein „Madame“ (vgl. z. B.: SdE: 82) ausweichen. Teile der Forschung sind dazu übergegangen, die Namens-Leerstelle als eine Übereinstimmung zwischen Autorin und Erzählerin zu verstehen: Die Differenzierung zwischen einem schreibenden, einem erzählenden und einem erzählten Ich stellt weniger das Biographische als das Spezifische des autobiographischen Schreibens ins Zentrum. Kein gereiftes Ich wird beschrieben, sondern dieses entsteht als Suchbild sozusagen erst im Schaffensprozess […]. Ein […] als maskierte Selbstsuche gestaltetes Ineinandergreifen zwischen Roman- und Lebensgeschichte […] ließe sich […] im 2010 herausge-
Wolf: „»Wir haben dieses Land geliebt«“, S. 192 f. Wolf, Christa: Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Briefe 1952−2011, hrsg. von Sabine Wolf, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 921 (Brief vom 5. Januar 2010 an Irving Wohlfarth).
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kommenen autobiographischen Roman Christa Wolfs Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud [finden; M.K.].¹³⁵
Gassers Zuschreibung, dass es sich bei Stadt der Engel um einen autobiographischen Roman handle, konterkariert der literarische Text, der keine Gattung anführt. Die Ambivalenz, die zwischen textinternen Merkmalen und verschiedenen paratextuellen Informationen besteht, zeigt, dass Wolf als Autorin mit den verschiedenen Zugängen zum Autobiographischen kokettiert. Michel Foucault hat in Was ist ein Autor? beschrieben, wie die Konstruktion eines Autors aufgrund verschiedener Operationen stattfindet, die er Autorfunktionen nennt. Dabei sind Fragen des Urheberrechts (1. Autorfunktion), des Feldes (2. Autorfunktion), der Zuschreibung (3. Autorfunktion) und der Selbstreferenz (4. Autorfunktion) entscheidende Stationen bei der Bestimmung eines Autors.¹³⁶ Gerade die dritte Funktion nimmt dabei für das autobiographische Schreiben eine besondere Stellung ein: [T]atsächlich aber ist das, was man an einem Individuum als Autor bezeichnet (oder das, was aus einem Individuum einen Autor macht) nur die mehr bis minder psychologisierende Projektion der Behandlung, die man Texten angedeihen läßt, der Annäherungen, die man vornimmt, der Merkmale, die man für erheblich hält, die Kontinuitäten, die man zuläßt, oder der Ausschlüsse, die man macht.¹³⁷
Gerade diese Klaviatur bespielt Wolf mit ihrem Text und beteiligt sich selbst damit aktiv an der Konstruktion ihrer Persona, die sich aus einem Wechselspiel von biographischen Daten und Detailinformationen ergibt und deren fiktionales und faktuales Sprechen fortwährend auf die Probe gestellt wird.
Der autobiographische Pakt und die Fallstricke der Autobiographie Einer der einflussreichsten Versuche, Autobiographie zu definieren, findet sich in Philipp Lejeunes Studie Der autobiographische Pakt: Leicht modifiziert würde die Definition [der Autobiographie; M.K.] lauten: […] Rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nach-
Gasser, Peter: „Autobiographie und Autofiktion. Einige begriffskritische Bemerkungen“, in: Pellin, Elio / Weber, Ulrich (Hrsg.): „… all diese fingierten, notierten, in meinem Kopf ungefähr wieder zusammengesetzten Ichs“. Autobiographie und Autofiktion, Göttingen: Wallstein 2012, S. 13 – 27, hier S. 15. Vgl.: Foucault: „Was ist ein Autor?“, S. 211– 216. Foucault: „Was ist ein Autor?“, S. 214.
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druck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.¹³⁸
Für Lejeune ist das zentrale Merkmal der Autobiographie die Identität zwischen Autor, Erzähler und Protagonist.¹³⁹ Besteht diese Identität nicht, ist es unmöglich, dass es sich bei einem Text um eine Autobiographie handelt. Aufgrund der Identität schließen die Rezipierenden einen Pakt mit dem Text, den Lejeune als autobiographischen Pakt bezeichnet. Hierbei berücksichtigt er zwei Aspekte: Zum einen kann das Subjekt der Erzählung sich in der Erzählung durchaus in der zweiten Person Singular selbst ansprechen, um sich Trost zuzusprechen oder sich zu maßregeln, und zum anderen kann die Identität bestehen, wenn die Namensidentität nicht explizit ausgewiesen wird (beide Fälle würden auf Stadt der Engel zutreffen).¹⁴⁰ Entscheidend ist für Lejeune aber, welcher Pakt (fiktional oder autobiographisch) im Rezeptionsmodus geschlossen wird und ob die Rezipierenden bereit sind, eine nichtmarkierte Identität als solche zu akzeptieren oder nicht. Die Fälle, in denen die Identität nicht zugestanden wird oder sich nur als Ähnlichkeit äußert, bezeichnet Lejeune wiederum als autobiographische Romane: [Als autobiographische Romane; M.K.] bezeichne ich alle fiktionalen Texte, in denen der Leser aufgrund von Ähnlichkeiten, die er zu erraten glaubt, Grund zur Annahme hat, daß eine Identität zwischen Autor und Protagonist besteht, während der Autor jedoch beschlossen hat, diese Identität zu leugnen oder zumindest nicht zu behaupten.¹⁴¹
Lejeunes rezeptionstheoretische Perspektive führt allerdings zu epistemologischen und ontologischen Probleme, die Autobiographien und ihre Beforschung gleichermaßen begleiten. Das erkenntnistheoretische Problem, nicht entscheiden zu können, ob etwas sich, wie beschrieben, ereignet hat, paart sich mit dem ontologischen Problem (das seinerseits ein erkenntnistheoretisches ist), dass die Verfasstheit eines Textes als Sprache einen ontologischen Unterschied zwischen
Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt, übers. von Wolfram Bayer / Dieter Hornig, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 14. Vgl.: „Zwei Bedingungen sind allerdings unabdinglich, und zwar natürlich jene Bedingungen, die den Gegensatz zwischen der Autobiographie (und gleichzeitig den anderen Formen der intimen Literatur) und der Biographie und dem Ich-Du-Roman begründen: nämlich die Bedingungen (3) [Identität zwischen Autor und dem Erzähler] und (4a) [Identität zwischen dem Erzähler und der Hauptfigur; M.K.]. Hier gibt es weder Übergänge noch Ermessensspielraum. Identität besteht oder besteht nicht. Eine Abstufung ist hier nicht möglich, und jeder Zweifel führt zu einer negativen Schlußfolgerung.“, Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 15. Vgl.: Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 16, 30. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 26 (Hervorheb. i. Orig.).
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dem Bericht von Vergangenem und dem Vergangenen einzieht. Ein Ich, das in einer Diegese auftritt, kann nicht mit einem Ich der außertextlichen Welt ‚selbig‘ sein. Schon auf sprachlogischer Ebene kommt man zu zentralen Problemen, die Martina Wagner-Egelhaaf daher als ein Begehren des Textes beschreibt: Das wesentliche Moment der Autobiographie, ihr prominentestes Strukturmerkmal ist gewiss das der behaupteten Identität von Erzähler und Hauptfigur […]. An diese strukturelle Identifizierung knüpft sich das genrespezifische ›Wirklichkeitsbegehren‹ der Autobiographie. Dieses Begehren nach Wirklichkeit ist in den Köpfen derer lokalisiert, die Autobiographien lesen, wie derer, die sie schreiben […]. Der autobiographische Text weist bestenfalls eine beschreibbare Rhetorik dieses Begehrens nach Wirklichkeit auf.¹⁴²
Auch wenn das Begehren, das sich gleichermaßen auf den Ebenen von Schreibenden und Lesenden entwickeln muss, keine Eigenschaft des Textes ist, macht Wagner-Egelhaaf ein textimmanentes Strukturmerkmal zur Bedingung der Möglichkeit für ein autobiographisches Textverstehen. Die behauptete Identität − sowohl die Identität der Instanzen Autor, Erzähler und Protagonist als auch die textinterne Entwicklung der Identität der Figur − wird zum bestimmenden Thema der Gattung Autobiographie: Die Vorstellung einer erreichbaren ›Wahrheit‹ des autobiographischen Subjekts erweist sich als Effekt der Darstellungsabsicht der Autobiographie. […] Der Akt der Identifizierung, der ein einheitliches Selbst ermöglichen können soll, setzt zunächst eine Selbst-Distanzierung voraus, deren Überführung in eine Identität schließlich zum Problem wird.¹⁴³
Heide Volkening reformuliert das von Wagner-Egelhaaf ausgemachte Begehren als eine Darstellungsabsicht des Textes und verschiebt damit das Register von einem tendenziell unbewussten Prozess textexterner Akteure zu einer bewussten Konstruktion seitens einer textinternen Subjektivität. Dieses Subjekt ist laut Volkening von einer konstitutiven (Selbst‐)Distanzierung betroffen, die durch den Modus der textlichen Darstellung hervorgerufen wird. Günter Niggl negiert dagegen einen ontologischen Unterschied und präsentiert daher als entscheidendes Kriterium für die Autobiographie eine ontologisch orientierte Definition:
Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 8 (Hervorheb. i. Orig.). Volkening, Heide: Am Rand der Autobiographie. Ghostwriting, Signatur, Geschlecht, Bielefeld: Transcript 2006, S. 11.
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Eine eindeutige Definition der Autobiographie gegenüber dem autobiographischen Roman ist daher höchstens in ontologischer Hinsicht möglich. Denn die Autobiographie bleibt auf Grund der doppelten Identität ihres Autors mit dem Helden und dem Erzähler der Lebensgeschichte an die textexterne Realität gebunden, verharrt also prinzipiell auf der Ebene der nichtfiktionalen Literatur; der autobiographische Roman dagegen übernimmt von der Autobiographie nur die Identität des Helden mit dem Erzähler, dehnt sie aber nicht auf den Autor aus, weshalb er die fiktionale Ebene auch dann nicht verläßt, wenn er Elemente aus dem realen Leben des Autors, ja dessen Charakterzüge und persönliche Erfahrungen verwertet, da er all diese Stoffe in den poetischen Raum seiner Geschichte aufhebt.¹⁴⁴
Niggls Bestimmung der Autobiographie als nichtfiktionale Literatur zeigt ein Kernproblem der Forschung auf. Während die Anhänger eines traditionellen Autobiographie-Begriffes eine ontologische Kontinuität zwischen Text-Ich und Autor-Ich¹⁴⁵ behaupten, tendiert die neuere Forschung infolge dekonstruktiver Lektürepraxen dazu, das autobiographische Schreiben auf eine ontologische Differenz zu fixieren. Letzteres führt dazu, dass auf textexterne Referenz völlig verzichtet werden kann.¹⁴⁶ Es ist durchaus bemerkenswert, dass die deutschsprachige Forschungslandschaft die unterschiedlichen theoretischen Positionen unter anderem am Beispiel Christa Wolfs diskutiert hat. So analysieren die Studien Niggls und diejenige Almut Fincks den Wolf’schen Text Kindheitsmuster. Aufgrund der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Schuld und den Möglichkeiten von Erinnerung sowie der formalen Aufspaltung der Erzählebenen ist Kindheitsmuster als eine Art Vorgängertext von Stadt der Engel verstehbar. Niggl liest den Text infolge (unspezifisch bleibender) textexterner Informationen als Autobiographie.¹⁴⁷ Dabei setzt er sich über die Aussage Wolfs hinweg, die sich mit Hinblick auf Kindheitsmuster eindeutig von einer autobiographischen Lesart distanziert: [I]ch meine, ich kaschiere an keiner Stelle, daß es sich sozusagen um Autobiographisches handelt; das wird nicht verschwiegen. Wobei dieses ‚sozusagen‘ wichtig ist, es ist nämlich keine Identität da. Aber es gibt doch – das ist eine Eigentümlichkeit meiner Biographie, aber
Niggl, Günter: Studien zur Autobiographie, Berlin: Duncker & Humblot 2012, S. 45 f. (Hervorheb. i. Orig.). Vgl. hierzu etwa: Niggl, Günter: „Nachwort zur Neuausgabe“, in: Ders. (Hrsg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 593 – 602, hier S. 593. Vgl. als Vertreterinnen dieser Provenienz z. B.: Holdenried, Michaela: Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen autobiographischen Roman, Heidelberg: Winter 1991; Finck, Almut: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie, Berlin: Erich Schmidt 1999. Niggl: Studien zur Autobiographie, S. 225 f.
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vielleicht geht es anderen in meinem Alter auch so − ein Fremdheitsgefühl gegenüber dieser Zeit.¹⁴⁸
In dem Gespräch über Kindheitsmuster macht Wolf das eigene Gefühl von Fremdheit mit Blick auf die vergangene Zeit zum Ausgangspunkt, der ihr einen autobiographischen Zugang verunmöglicht. Sie lässt in diesem Kontext aber unbeantwortet, welche Identität nicht vorhanden ist − Identität der Autorin mit der Erzählerin, der Protagonistin mit der Erzählerin oder Christa Wolfs mit ihren zeitlich unterschiedlichen verfassten Ichs. Kindheitsmuster selbst reflektiert dieses Problem anhand der Diskussion der Erzählebenen: (»Wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.«) Im Idealfall sollten die Strukturen des Erlebens sich mit den Strukturen des Erzählens decken. Dies wäre, was angestrebt wird: phantastische Genauigkeit. Aber es gibt die Technik nicht, die es gestatten würde, ein unglaublich verfilztes Geflecht, dessen Fäden nach den strengsten Gesetzen ineinandergeschlungen sind, in die lineare Sprache zu übertragen, ohne es ernstlich zu verletzen. »Erzählebenen« −, heißt auf ungenaue Benennungen ausweichen und den wirklichen Vorgang verfälschen. Der wirkliche Vorgang, »das Leben«, ist immer schon weitergegangen; es auf seinem letzten Stand zu ertappen bleibt ein unstillbares, vielleicht unerlaubtes Verhalten.¹⁴⁹
Die Erzählerin formuliert aus einer (problematisierten) narratologischen Perspektive epistemologische und ontologische Probleme, die sich nicht nur bei der Rezeption, sondern beim Schreiben eines solchen Textes auftun. Mit dem Geflecht verwendet Wolf eine Metaphorik, anhand derer die Problemstellung offensichtlich wird, die sich in der Literarisierung eines gelebten Lebens zeigt. Das Leben wird zum Geflecht, das sich in der Linearität von Sprache nicht ausdrücken kann. Überdies erinnert es an Wolfs Poetik des Gewebes, das versucht die (Un‐)Gleichzeitigkeiten eines gelebten Lebens in Sprache zu übertragen. Es ist umso bemerkenswerter, dass Wolf mit dem „unendliche[n] Strickstrumpf“¹⁵⁰ erneut eine textile Metapher bedient, um den Produktionsprozess von Stadt der Engel zu bezeichnen. Geflecht und Linearität sind nur eine der Oppositionen, an denen sich Wolf abarbeitet; als Weitere sind Erleben und Erzählen, Komplexität und Darstellung, zeitliches Vergehen und Schreiben, Wahrheit und Lüge zu nennen. Aufgrund der Verarbeitung und Auflösung der aufgeführten Dichotomien, die
Wolf, Christa: „Erfahrungsmuster. Diskussion zu Kindheitsmuster“, in: Wolf, Christa: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959−1985, Darmstadt: Luchterhand 1987, S. 806 – 843, hier S. 814. Wolf: Kindheitsmuster, S. 424. Wolf: Ein Tag im Jahr, S. 673.
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Finck an poststrukturalistisches Denken erinnern, geht sie dazu über, Kindheitsmuster als Paradebeispiel eines postmodernen autobiographischen Schreibens zu lesen: Wolfs Text spielt mit Gegensätzen, er stößt an Grenzen, verschiebt, löst sie gar auf: die Grenze zwischen Zeit und Raum, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Wachen und Träumen, zwischen der sogenannten Realität und der Fiktion, zwischen Welt und Text, Leben und Schreiben.¹⁵¹
Trotz großer inhaltlicher und theoretischer Differenzen ist sich die Forschungsliteratur darin einig, Kindheitsmuster als ein (irgendwie geartetes) autobiographisches Projekt zu verstehen, ohne auf ein einheitliches Verständnis von Autobiographie zu rekurrieren.¹⁵² Lejeune versucht, Grenzfälle zu beschreiben, wenn er in Der autobiographische Pakt formuliert, dass der Text, je nachdem, ob er einen fiktionalen oder einen autobiographischen Pakt präferiert und anbietet, zwischen Ähnlichkeit und Identität schwankt: Identität hat nichts mit Ähnlichkeit zu tun. Die Identität ist eine unmittelbar erfaßte Tatsache, die auf der Ebene der Äußerung akzeptiert oder abgelehnt wird; die Ähnlichkeit [von Autor und Protagonist; M.K.] ist ein aufgrund der Aussage hergestellter Bezug, der sich endlos diskutieren und nuancieren läßt.¹⁵³
Lejeune referiert auf die Identität zwischen Erzähler und Autor. Diese scheinbar eindeutig stabile Beziehung kennt nur ein klares Schema: Besteht eine Identität (etwa durch Namensgleichheit induziert), ist sie da; gibt es sie nicht, ist es den Lesenden überlassen, über die eigenen Mutmaßungen zu reflektieren. Nimmt man diese Identität als unverrückbar an, ist es möglich, auf dieser Basis weitere Interpretationsschleifen zu ziehen und mit verschiedenen Theorien die Wahrhaftigkeit der Aussagen des Textes zu charakterisieren.¹⁵⁴ Was Lejeune in diesem Finck: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie, S. 58. Vgl. hierzu z. B.: Schmidt: Konstruktionen literarischer Authentizität in autobiographischen Erzähltexten, S. 116. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 39. Vgl. hierzu: „Betrachten wir die Überlegungen, welche die Routenplanung mehrheitlich bestimmen, so scheinen zwei Positionen vorherrschend: die eine, dass die Lebensdarstellung mit dem wirklichen Leben übereinstimmt, die andere, dass die Lebensdarstellung mit der Absicht verfasst worden ist, das eigene Leben darzustellen [Korrespondenz- und Intentionalitätstheorie; M.K.]. Kombinieren wir die beiden, so erhalten wir eine Repräsentationstheorie […]: Jemand glaubt ein bestimmtes Wissen über seine eigenen Lebensumstände zu haben und er will dieses äußern. Er oder sie kann dabei Dinge zur Darstellung bringen, die sich nicht zugetragen haben,
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Kontext unbeantwortet lässt, ist die Frage, was unter Identität zu verstehen sei und wie sich eine solche ausdrückt. Jean Starobinski argumentiert in seinem Aufsatz Der Stil der Autobiographie, dass sich autobiographisches Schreiben nicht durch eine Identität, sondern vielmehr durch die Nichtidentität zwischen erzähltem und erzählenden Ich ausdrückt: Wir haben hierbei eine interessante Tatsache vor uns: Eben weil das vergangene Ich verschieden ist vom gegenwärtigen Ich, kann das letztere sich mit all seinen Vorrechten behaupten. Es wird nicht nur erzählen, was ihm zu einer anderen Zeit widerfahren ist, sondern vor allem, wie es aus dem anderen, das es gewesen ist, es selbst geworden ist. […] Die Abweichung, die die autobiographische Reflexion bewirkt, ist also doppelter Art: Es ist zugleich eine zeitliche Abweichung und eine Identitätsabweichung.¹⁵⁵
Starobinskis Argumentation einer textinternen Nichtidentität zwischen erinnertem und erinnerndem Ich greift nicht nur bereits diskutierte Aspekte auf, sondern zeigt, welchen argumentativen Mehrwert diese Perspektive für die Autobiographie-Forschung haben kann. Mit der Nichtidentität zwischen den verschiedenen narrativen Ebenen löst Starobinski textintern die Vorstellung von Identität auf, die sich durch dieses Paradigma der Differenz letztlich gar nicht mehr an der Grenze von textinternem Erzähler und textexternem Autor bewähren muss. Die Absage an eine Vorstellung von Identität ermöglicht in diesem Kontext eine neue Perspektive auf die Konzeption von autobiographischem Schreiben.
Die Autobiographie als Trope – Paul de Man und die Dekonstruktion Paul de Man legt seinem (ebenfalls stark rezipierten) Aufsatz Autobiography as De-facement ein ähnlich kritisches Verhältnis zu ‚Identität‘ zugrunde. De Man kritisiert dort die bisherigen Versuche, Autobiographie zu konzeptualisieren, als defizitär: „Empirically as well as theoretically, autobiography lends itself poorly to generic definition; each specific instance seems to be an exception to the
und dies aufrichtig äußern – wir nennen es Irrtum; oder aber Dinge zum Ausdruck bringen und dabei unaufrichtig sein, das nennen wir eine Lüge […].“, Achermann, Eric: „Von Fakten und Pakten. Referieren in fiktionalen und autobiographischen Texten“, Wagner-Egelhaaf, Martina (Hrsg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion, Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 23 – 53, hier S. 28. Starobinski, Jean: „Der Stil der Autobiographie“, in: Niggl, Günter (Hrsg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 200 – 213, hier S. 207.
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norm […].“¹⁵⁶ De Mans Vorschlag ist nicht nur eine explizite Kritik an Lejeune, sondern die Forderung nach einem prinzipiellen Umdenken hinsichtlich der Bestimmung von Autobiographie: „Autobiography, then, is not a genre or a mode, but a figure of reading or understanding that occurs to some degree, in all texts.“¹⁵⁷ Der Bezug auf rhetorische Figuren ermöglicht es de Man schließlich die Prosopopoiia zur „trope of the autobiography“¹⁵⁸ zu deklarieren: „[I]t is the figure of prosopopeia, the fiction of an apostrophe to an absent, deceased or voiceless entity, which posits the possibility of the latter’s reply and confers upon it the power of speech.“¹⁵⁹ Die Prosopopoiia verleiht Stimme und Maske, wobei die Stimme durch die Apostrophe überhaupt erst entstehen kann. Das bildliche Sprechen de Mans verweist auf generelle Konzeptionen der Dekonstruktion. Für Derrida ist „das Spiel von Präsenz und Absenz“¹⁶⁰ ein zentrales Merkmal seiner Konzeption von différance, in welcher der „Tod die Bewegung der [différance; M.K.]“¹⁶¹ darstellt. In dem, was Derrida als Spiel entwirft, ist die Referentialität − gerade durch den unendlichen Verweischarakter − ausgeklammert. Der oft zitierte Satz, „[e]in Text-Äußeres gibt es nicht“¹⁶², fällt nicht zufällig im Kontext von Rousseaus autobiographischem Text Confessiones. Das Verhalten zum Tod, zur absenten Stimme, die wieder präsent wird, ist die Gemeinsamkeit von de Man und Derrida in ihren Konzeptionen und Beschreibungen von Sprache als immer schon autobiographischem Material. Dieses Changieren von Präsenz und Absenz greift die Prosopopoiia als Trope auf. Mit der Konzeption der Prosopopoiia als der rhetorischen Figur des Autobiographischen schlechthin verwendet de Man Derrida’sche Konzeptionen und entwickelt diese weiter. Denn er verlegt den autobiographischen Zugang in eine Metastruktur des Textes, um sie für alle Texte zu universalisieren. In ihrer gleichnamigen Studie definiert Bettine Menke die Prosopopoiia wie folgt: Prosopopoiia heißt rhetorisch die Figur für das Stimme-Verleihen, die für die Rede, die sie fingiert, Mund und Gesicht der Rede instituiert. Als prosopon-poiein, so die Etymologie von
De Man, Paul: „Autobiography as De-facement“, Modern Language Notes 94/5 (1979), S. 919 – 930, hier S. 920. De Man: „Autobiography as De-facement“, S. 921. De Man: „Autobiography as De-facement“, S. 926. De Man: „Autobiography as De-facement“, S. 926. Derrida: Grammatologie, S. 420. Derrida: Grammatologie, S. 247. Derrida: Grammatologie, S. 274.
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Prosopopoiia, meint sie, ‚to give a face‘, ‚mit einer Maske oder einem Gesicht (prosopon) versehen‘.¹⁶³
Prosopopoiia ist die Trope, die Stimme und Gesicht gleichermaßen verleiht. Die Stimme schiebt sich gewissermaßen zwischen Gesicht und die Rezipierenden und konstruiert ersteres aus dem Gesagten, das dieses schließlich als das Autobiographische identifiziert. Unter dieser Bedingung ist nicht nur der Zugang zu einem Ursprung nicht möglich, sondern der Ursprung wird als ein solcher regelrecht dekonstruiert: We assume that life produces the autobiography as an act produces it consequences, but can we not suggest, with equal justice, that the autobiographical project itself produce and determine the life and that whatever the writer does is in fact governed by the technical demands of self-portraiture and thus determined, in all its aspects, by the resources of his medium?¹⁶⁴
Auch der Begriff Maske verweist auf die Unmöglichkeit eines Ursprunges: Masken imaginieren, dass etwas hinter ihnen liege, ohne dass eine tatsächliche Existenz notwendig ist.¹⁶⁵ Dieser nicht auflösbare Konflikt zwischen Ursprung und Ergebnis, zwischen Stimme und Text, muss in der Rezeption nicht zwangsläufig erkannt werden. Menke hat im Anschluss an de Man die Prosopopoiia mit der Katachrese in Verbindung gebracht. Die Konventionalisierung einer Bezeichnung für ein vorher nicht Benanntes lassen die Beziehung von Signifikat und Signifikant ‚natürlich‘ wirken. Erst im Zuge einer dekonstruktiven Lektüre können die Einsetzung sowie die damit verbundene Zufälligkeit und Willkür der Bezeichnung aufgedeckt werden. Dies wendet Menke auf die Vorstellung des erzeugten Gesichtes an: Die Prosopopoiia, die Gesichts-Verleihung, die das Lesen vornimmt, ‚sagt‘, indem sie mit einer Maske oder einem Gesicht ‚versieht‘ […], auch, daß dort zuvor keines war. Ebenso wie (und gerade insofern) sie für diesen Mangel eintritt (und ihn verstellt). Die Prosopopoiia ist eine Katachrese des Gesichts. Denn Katachrese wird die Trope genannt, nach der ein Wort für ein (zuvor) nicht Benanntes, für das also kein Wort literal verwendet wird, eintritt. Katachrese heißt auch und ist so die rhetorische Tradition, abusio. In ihr ist die Arbitrarität der Gesichtszuweisung und der Bedeutungsbildung markiert.¹⁶⁶
Menke, Bettine: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München: W. Fink 2000, S. 137 (Hervorheb. i. Orig.). De Man: „Autobiography as De-facement“, S. 920 (Hervorheb. i. Orig.). Vgl.: Weihe, Richard: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München: W. Fink 2004, S. 17. Menke: Prosopopoiia, S. 143.
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Die Arbitrarität der Zuordnung einer Maske bzw. eines Gesichts hängt aufs engste mit der Frage nach ‚Identität‘ der erzählenden Instanz zusammen. So erzeugt, laut Menke, die Prosopopoiia „nicht ‚nur‘ Illusion von, sondern Illusion mit referentieller Produktivität.“¹⁶⁷ Genau jene Produktivität zielt aus Rezeptionsperspektive auf die Identifizierung zwischen Erzählinstanz und Autor: „Die Autobiographie operiert […] zwischen Ich im Text und Ich des Textes – oder ‚vor‘ dem Text, auf dem Titelblatt.“¹⁶⁸. In dem Verhältnis der beiden Ichs liegt eine „epistemologische Spannung“¹⁶⁹, die zwangsläufig ein Fehllesen impliziert: Kann der autobiographische Text (nur) durch sein Performativ gekennzeichnet werden, durch den Vertrag, daß der Text als Stimme des Subjekts der Äußerung zu lesen sei, so kann/ muß er unter eben dieser Metapher der Stimme auch stets kognitiv gelesen werden. Das Subjekt der Äußerung, der Autor von und als solcher vor dem Text, wird als Figur oder Gesicht des Textes gelesen und diese Figur wird als Narration oder Deskription, die das Verleihen von Gesicht und Figur verdrängt und realisiert, fehl-gelesen; das nachträglich in der Prosopopoiia des Textes ‚gegebene‘ Ich ‚im‘ Text tritt für das Ich des Textes, das ‚vor‘ dem Text unterstellt wird, ein.¹⁷⁰
Die Verschränkung der Instanzen Erzählfigur und Autor, die sich jeweils wechselseitig bedingen, führt dennoch nicht zur Auflösung einer Identität, sondern vielmehr, wie es Derrida in seiner Abhandlung über de Mans Entwurf der Prosopopoiia als autobiographischer Trope formuliert, zu einem Prozess, den man mit dem Begriff der Identifizierung fassen kann: „Aber wir sind niemals wir selbst und unter uns, mit uns identisch; ein ‚Ich‘ ist niemals in sich selbst, identisch mit sich selbst, diese spiegelbildliche Reflexion kommt niemals über sich selbst zum Schließen.“¹⁷¹ Das Ich des Textes erzeugt damit nicht einfach nur ein Bild von sich, sondern es figuriert sich als das Bildnis – die Maske −, das sich die Lesenden vom Autor machen.¹⁷²
Menke: Prosopopoiia, S. 193 (Hervorheb. i. Orig.). Menke: Prosopopoiia, S. 193 (Hervorheb. i. Orig.). Menke: Prosopopoiia, S. 160. Menke: Prosopopoiia, S. 194 f. Derrida, Jacques: Mémoires. Für Paul de Man, hrsg. von Peter Engelmann, übers. von HansDieter Gondek, Wien: Passagen 2005, S. 50. Menke weist darauf hin, dass der Name des Autors das verbindende Element ist und zeigt wie de Man sich in einer doppelten Bewegung von Affirmation und Kritik zu Lejeunes Konzeption aufgrund der Namensidentität verhält, vgl.: Menke: Prosopopoiia, S. 194 ff.
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IV Christa Wolf: Der Blick in die neue Welt
Zum Konzept der Autofiktion Dekonstruktive Lektürepraxen fragen wiederum nicht nach den Einflüssen, die sich aus der Referenz eines Wissens bildet, welches die Rezipierenden intersubjektiv über das Leben eines Autors teilen. In diese Leerstelle stößt der Begriff Autofiktion, mit dem die Forschung versucht, das literarische Spiel zwischen Fiktion und Referenz in den Blick zu nehmen: Ich denke vielmehr, dass das vom autofiktionalen Text inszenierte Spiel darin besteht, dass der Leser von einem Pakt zum andern wechselt und dies mehrmals im Laufe der Lektüre. Die dabei möglicherweise entstehende Verwirrung ist nicht eine Vermischung zwischen referentiellem Pakt und Fiktionspakt, sondern nur die Verwirrung, dass der Text weder nach den Leseinstruktionen des Referenzpakts noch nach denen des Fiktionspaktes eindeutig aufzulösen ist. Damit bleibt die Unterschiedlichkeit der beiden Pakte gewahrt, man könnte sogar sagen, dass der Leser gerade durch das Hin und Her zwischen dem einen und dem anderen auf die Spezifik beider Pakte aufmerksam gemacht wird.¹⁷³
Frank Zipfel versteht Autofiktion – ähnlich wie Lejeune Autobiographie − als eine Lesestrategie, in der kein Pakt endgültig geschlossen werden kann. Ansgar Nünning, der dieser Definition zustimmt, hat Autofiktion aus diesem Grund als Meta-Autobiographie bezeichnet.¹⁷⁴ Der durchaus geläufigere Begriff Autofiktion ist wiederholt zur Beschreibung von Stadt der Engel gebraucht worden.¹⁷⁵ Dabei
Zipfel, Frank: „Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität“, in: Winko, Simone / Jannidis, Fotis / Lauer, Gerhard (Hrsg.): Grenzen der Literatur zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin / New York: De Gruyter 2009, S. 285 – 314, hier S. 306. „In Analogie dazu erscheint es sinnvoll, wie oben bereits beiläufig geschehen, innovative Ausprägungen von selbstreflexiven fiktionalen Autobiographien als ›autobiographische Metafiktion‹ bzw. ›fiktionale Meta-Autobiographien‹ zu bezeichnen. Diese Begriffe signalisieren, dass sich die Aufmerksamkeit in solchen fiktionalen Autobiographien von der Darstellung von Ereignissen aus dem Leben einer historischen Persönlichkeit auf die Metaebene der Reflexion über deren Aneignung, Rekonstruktion und Repräsentation im Medium der (fiktionalen) Autobiographie verlagert. Nicht die Darstellung des Lebens selbst steht somit im Zentrum, sondern die nachträgliche Beschäftigung des Autobiographen mit seiner Lebensgeschichte und den Problemen der retrospektiven Sinnbildung und des autobiographischen Schreibens.“, Nünning, Ansgar: „Meta-Autobiographie: Gattungstypologische, narratologische und funktionsgeschichtliche Überlegungen zur Poetik und zum Wissen innovativer Autobiographien“, in: Baumann, Uwe / Neuhausen, Karl August (Hrsg.): Autobiographie. Eine interdisziplinäre Gattung zwischen klassischer Tradition und (post‐)moderner Variation, Göttingen: V&R Unipress / Bonn Univ. Press 2013, S. 27– 81, hier S. 35. Vgl.: Pormeister: „Vom Nachdenken über das Vergessen zur ‚schonungslose(n) Selbsterkenntnis‘“, S. 95; Marfutova, Yulia: „‚Ich spüre einen Sog vom Ende her.‘ Biographische Bilanz als endlose Reflexionsschleife in Christa Wolfs »Stadt der Engel«“, in: Jachimowicz, Aneta /
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wird − ähnlich wie bei Zipfel − die wechselnde Lektürepraxis betont, in der fiktionaler und autobiographischer Pakt mitgedacht werden muss: Während in einem strikt autobiographischen-referentiellen Rezeptionsmodus fiktionale Passagen wie etwa der Flug der Ich-Erzählerin an Hand eines Engels ratlos machen würden, müsste eine strikt textimmanent-fiktionale Lektüre schon an wissenökonomischen Informationen scheitern. Da in der Stadt der Engel teilweise entscheidende Informationen ausgespart werden, ist der Leser, will er denn eine sinnvolle Lektüre erzielen, auf Interferenzen auf Basis von biographischem Kontextwissen unausweichlich angewiesen.¹⁷⁶
Stadt der Engel referiert– durchaus voraussetzungsreich − massiv auf textexternes Wissen, wenn Kenntnisse über die DDR-Geschichte für eine sinnvolle Lektüre unerlässlich sind. Auch der Bezug auf biographisches Wissen über Wolf als Autorin wird nicht nur einfach in den Text eingewoben, sondern vielmehr an einigen Stellen zu einer Notwendigkeit, um bestimmte Handlungselemente nachvollziehen zu können. Sandhöfer-Klesen hat Wolfs Schreibweise daher als ein Oszillieren zwischen „Fakten und Fiktionen“¹⁷⁷ bezeichnet. In Stadt der Engel wird die Gattungsfrage durch den peritextuellen Vorschub, der nach dem Titelblatt eingereiht ist, problematisiert: Alle Figuren in diesem Buch, mit Ausnahme der namentlich angeführten historischen Persönlichkeiten, sind Erfindungen der Erzählerin. Keine ist identisch mit einer lebenden oder toten Person. Ebensowenig decken sich beschriebene Episoden mit tatsächlichen Vorgängen. (SdE: 6; Hervorheb. M.K.)
Die Erzählerin − und nicht die Autorin des Textes − proklamiert die Erfindung aller Figuren, womit Stadt der Engel geschickt die Frage auslässt, ob die Erzählerin selbst eine der Erfindungen ist.¹⁷⁸ Überdies hat die Forschung die Trennung in historische Persönlichkeit und Erfindung problematisiert. Während erwähnte Personen wie Thomas Mann und Bertolt Brecht eindeutig auf ihre realen Vorbilder referieren, gestaltet sich eine Klassifikation bei historischen Persönlichkeiten, die wie Willi Bredel in der Erinnerung als eine Figur mit direkter Rede auftritt (vgl.:
Kuzborska, Alina / Steinhoff, Dirk (Hrsg.): Imaginationen des Endes, Frankfurt a. M. / New York: Peter Lang 2015, S. 325 – 344, hier S. 329. Marfutova: „Biographische Bilanz als endlose Reflexionsschleife“, S. 330. Sandhöfer-Klesen: Christa Wolf im Kontext der Moderne, S. 171. Aufgrund der Möglichkeit, dass die Erzählerin keine Erfindung sei und den textinternen Informationen nimmt Löffler an, dass Autorin und Ich des Textes identisch sind. Diese auf den ersten Blick plausible Lesart reflektiert aber nicht über den Status, den Identität in diesem Kontext erhalten würde und welche literaturtheoretischen Probleme damit einhergehen, vgl.: Löffler: Systemumbruch und Lebensgeschichte, S. 382.
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IV Christa Wolf: Der Blick in die neue Welt
SdE: 87), schon deutlich schwieriger. Verschiedene Beiträge haben darauf hingewiesen, dass Stadt der Engel den Charakter eines Schlüsselromans habe und die vorgeblich fiktiven Figuren mit realen Vorbildern zu identifizieren sind. In einer solchen Lesart ist der Psychoanalytiker, mit dem die Protagonistin telefoniert (vgl.: SdE: 205, 207), Paul Parin,¹⁷⁹ die verstorbene Freundin Emma referiert auf Anna Seghers.¹⁸⁰ Ein anderer Vorschlag bringt Emma mit Berta Waterstradt und Anna Schlotterbeck (beides Bekannte Wolfs) in Verbindung und assoziiert Lily mit der Psychoanalytikerin Charlotte Wolff und Peter Gutman mit dem BenjaminForscher Irving Wohlfarth.¹⁸¹ Aufgrund verschiedener Aspekte ist Stadt der Engel trotzdem als ein fiktionaler Text zu verstehen: Der Vorschub verweist auf die Textintention einer fiktionalen Lektüreanweisung. Die Aussagen Wolfs, die komplexe literarische Struktur der verschiedenen Zeitebenen sowie die Montage diverser markierter und nicht-markierter intertextueller Verweise plausibilisieren dies ebenso. Der Text ist wiederum mit verschiedenen historischen Elementen durchsetzt, die als Referenz das Leben Christa Wolfs voraussetzen. Entscheidend ist, dass die Passagen, die der Text hierfür heranzieht, meist nicht von intimen und privaten Dingen handeln, sondern auf bekannte Episoden aus dem Leben der Autorin (gerade im Kontext der ‚großen‘ historischen Ereignisse) referieren. Sandhöfer-Klesen hat darauf hingewiesen, dass in diesen Passagen durchaus neue und eigene Erfahrungen eingewoben werden, um ein negatives öffentliche Bild „zu überschreiben.“¹⁸² Besonders deutlich wird dies an den Enthüllungen um die eigene Tätigkeit für die Staatssicherheit.¹⁸³ Aber auch andere Ereignisse, wie die Rede auf dem sogenannte Kahlschlagplenum von 1965 (z. B. SdE: 188) und die Rede auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 (insbes.: SdE: 22 f., 25) können genannt werden und finden sich in biographischen Darstellungen von Wolfs Leben.¹⁸⁴ Ein
Vgl.: Simon: Sei dennoch unverzagt, S. 154. Vgl.: Bircken, Magrid: „Lesen und Schreiben als körperliche Erfahrung. Christa Wolfs ‚Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud‘“, in: Gansel, Carsten (Hrsg.): Christa Wolf − Im Strom der Erinnerung, Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 199 – 213, hier S. 207. Vgl.: Haase: „Christa Wolfs letzter Selbstversuch“, S. 223 f. Sandhöfer-Klesen: Christa Wolf im Kontext der Moderne, S. 189. Vgl. das Kapitel Die Macht der Stasi-Akten. Dem Kahlschlag-Plenum widmet Jörg Magenau gar ein ganzes Kapitel seiner Wolf-Biographie, vgl.: Magenau, Jörg: Christa Wolf. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2013, S. 175 – 194. In Ein Tag im Jahr vermerkt Wolf 1965, wie drastisch sie die Situation unter den Bedingungen der neuen Kulturpolitik infolge des Kahlschlag-Plenums empfindet, vgl.: Wolf: Ein Tag im Jahr, S. 88. Auch die Beschreibung der Rede am 4. November 1989 findet sich bei Magenau, wobei dieser − in Übereinstimmung mit Stadt der Engel − sogar von der Herzrhythmusstörung zu berichten weiß, die Wolf nach ihrer Rede nötigte, sich ins Krankenhaus zu begeben, vgl.:
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besonders instruktives Beispiel ist die „Erinnerung an meine letzte Moskau-Reise im Oktober 1989“ (SdE: 72). Die Erinnerung an den Aufenthalt am Moskauer Flughafen Scheremetjewo, das Gespräch mit einer jungen Sächsin über die Demonstrationen in Leipzig am 9. Oktober 1989 und das Erklingen des Liedes „O TÄLER WEIT, O HÖHN“ (SdE: 73; Hervorheb. i. Orig.) findet sich mit Quellenangaben in der von Jörg Magenau verfassten Biographie Christa Wolfs.¹⁸⁵
Wolfs Poetologie des Selbstbezuges Die Integration historischer Bezüge sowie des Wissens der Rezipierenden über die Autorin stehen in Beziehung zu Christa Wolfs poetologischen Entwürfen aus Lesen und Schreiben sowie aus Subjektive Authentizität. Damit werden Fragen nach Prosa und ihrer Form, nach Autorschaft und nach den Prozessen von Identifizierung aufgeworfen. Darüber hinaus modifiziert Stadt der Engel (wie schon Kindheitsmuster) das poetologische Verständnis, vor allem hinsichtlich der (Un‐)Möglichkeit von Identität. In Lesen und Schreiben, erstmals 1972 erschienen, beschäftigt sich Wolf mit dem Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit: „Literatur und Wirklichkeit stehen sich nicht gegenüber wie Spiegel und das, was gespiegelt wird. Sie sind ineinander verschmolzen im Bewußtsein des Autors. Der Autor nämlich ist ein wichtiger Mensch.“¹⁸⁶ Die Überblendung der beiden zunächst getrennten Sphären wird von Wolf in das Bewusstsein des Autors verlegt. Dass eine Wolf’sche Konzeption des Autors begrifflich schwer zu fassen ist, findet seinen Grund darin, dass Wolf in Lesen und Schreiben − im Unterschied zum eingangs zitierten Spiegel-Interview − keine starke Demarkationslinie zwischen Erzähler und Autor zieht. Bedingt ist dies dadurch, dass Lesen und Schreiben eine Auseinandersetzung mit Benjamins Erzähler-Aufsatz darstellt.¹⁸⁷ Benjamin trifft dort keine Unterscheidung zwischen den in seinem Aufsatz behandelten Autoren und den Erzählern ihrer Prosa. Wolf geht in Lesen und Schreiben noch einen Schritt weiter, wenn sie den von Benjamin konstatierten Unterschied von Romancier und Erzähler¹⁸⁸ ignoriert und in Rekurs
Magenau: Christa Wolf, S. 385 ff. Das Verhältnis zur Stasi findet sich in Magenaus Biographie an zwei Stellen: Zum einen die Beschreibung der Zusammenarbeit und zum anderen der Bericht über die Enthüllungen nach 1989, vgl. bei Magenau, S. 98 – 110 und 426 – 437. Vgl.: Magenau: Christa Wolf, S. 380. Wolf: „Lesen und Schreiben“, S. 496. Beide beschäftigen sich mit der Geschichtsschreibung und dem Chronisten, der Genese des bürgerlichen Subjektes und der Information als scheidendes Element, vgl.: Benjamin: „Der Erzähler.“, B-GS II, S. 444 f., 452; Wolf: „Lesen und Schreiben“, S. 468 f. Vgl.: Benjamin: „Der Erzähler“, B-GS II, S. 454.
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auf Manns Der Zauberberg den Prosaautor als „raunenden Beschwörer des Imperfekts“¹⁸⁹ charakterisiert: Wer also „die Wahrheit“ lesen will, das heißt, wie es wirklich gewesen ist, der greift zu Tatsachenberichten, Biographien, Dokumentsammlungen, Tagebüchern, Memoiren. Der Kuchen „Wirklichkeit“ von dem der Prosaschreiber sich früher in aller Seelenruhe Stück für Stück abschnitt, ist aufgeteilt. […] Die Prosa dagegen…Was soll sie denn diesen nüchternen, stracks vorwärtsschreitenden Leuten erzählen? Der Prosaautor, der „raunende Beschwörer des Imperfekts“, daran gewöhnt, Kampf, Sieg oder Niederlage der unantastbaren Persönlichkeit für den wichtigsten Gegenstand der Welt zu halten, was sagt er seinen Zeitgenossen, die dabei sind, den stromlinienförmigen Menschen zu konstruieren, fähig, sich allen Anforderungen anzupassen? Denen der Gedanke nicht fremd ist, daß nicht einmal die Identität des Individuums in der Zukunft gesichert sein wird […].¹⁹⁰
In Wolfs Verständnis von Prosa muss der Autor im Werk aufscheinen, um die Begriffe von Wirklichkeit und Wahrheit miteinander zu verbinden. Für den konkreten literarischen Text bedeutet dies, faktuale Textsorten in den Text zu integrieren. Wie Wolf in Ein Tag im Jahr bemerkt, sind es ihre Tagebücher, die den Grundstein für Kindheitsmuster und Stadt der Engel legen und gewissermaßen die Basis bilden, von der aus eine fiktionale Literatur überhaupt entstehen kann.¹⁹¹ Diese literarische Technik erzeugt eine Position des Prosaautors, in der dieser durch die darauf aufbauenden narrativen Fähigkeiten und Techniken Vorstellungen aufsprengt, die mit der Fragmentarisierung der Gesellschaft einhergehen. Wolf konstruiert den Prosaautor als etwas, in dem sich eine „Wahrheit der Kunstwerke“¹⁹² im Sinne Adornos kristallisiert. Die Durchbrechung der Vorstellungswelt des stromlinienförmigen Menschen wird zum Ziel von Wolfs Prosaautor. Dabei spielt das Individuum für Wolf eine zentrale Rolle. Zwar ist in Lesen und Schreiben noch die Rede von der Identität des Individuums, mit Kindheitsmuster und spätestens mit Stadt der Engel wird diese Forderung aber stetig aufgelöst. Gerade in diesen beiden Texten ist die Veränderbarkeit des Selbst, die Nichtidentität von früherem und jetzigen Ich sowie die Unmöglichkeit von Kontinuität durch Gedächtnis das zentrale Thema der Erinnerungsszenen. Dass Prosa für Wolf eine unmittelbar sprengende Kraft hat, deren utopisches Potential sich in der narrativen Verschiebung und Verschachtelung von Zeitebenen artikuliert,¹⁹³ wird nicht zuletzt in den Schlussworten von Lesen und Schreiben deutlich:
Vgl.: Mann: Der Zauberberg, S. 9. Wolf: „Lesen und Schreiben“, S. 471 f. Wolf: Ein Tag im Jahr, S. 650. Adorno: Ästhetische Theorie, A-GS 7 S. 155. Vgl. hierzu das Kapitel „Auferstanden aus Ruinen“ – Ein Engel bringt die Utopie.
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Prosa kann die Grenzen unseres Wissens über uns selbst weiter hinausschieben. Sie hält die Erinnerung an eine Zukunft in uns wach, von der wir uns bei Strafe unseres Untergangs nicht lossagen dürfen. Sie unterstützt das Subjektwerden des Menschen. Sie ist revolutionär und realistisch: sie verführt und ermutigt zum Unmöglichen.¹⁹⁴
Wolf lässt Benjamins Vorstellung des Eingedenkens anklingen, das umso radikaler in Stadt der Engel umgesetzt wird. Die Prosa Wolfs zielt nicht ohne Grund auf das Individuum, denn wie die Subjektivität des Autors im Text aufscheinen muss, kann Prosa nur als Rezeptionsphänomen eine Reflexion über die eigenen Fragen von Identität und Identifizierung erreichen: Der Vorschlag, sich um eine „epische Prosa“ zu bemühen, scheint dagegen ein Unsinn zu sein. Und doch hat man eine Ahnung, daß es sie geben müßte eine Gattung, die den Mut hat, sich selbst als Instrument zu verstehen […] und die sich als Mittel nimmt, nicht als Selbstzweck. Als ein Mittel, Zukunft in die Gegenwart hinein vorzuschieben, und zwar im einzelnen; denn Prosa wird vom einzelnen Leser gelesen […]. Die epische Prosa sollte eine Gattung sein, die es unternimmt, auf noch ungebahnten Wegen in das Innere dieses Menschen da, des Prosalesers einzudringen. In das innerste Innere, dorthin, wo der Kern der Persönlichkeit sich bildet und festigt.¹⁹⁵
Wolf nennt nicht nur den Kern einer Persönlichkeit, ihre Argumentation verweist auch vordergründig auf die Konzeption einer Substanz des Individuums. Die Formulierung eines Kerns der Persönlichkeit wird aber durch den Akt des Eindringens der Prosa konterkariert. Wolf deutet mit dem Eindringen an, dass Prosa gerade der Ort ist, an dem sich eine Persönlichkeit bildet. Damit wird der Vorstellung von der Substantialität des Individuums eine Absage erteilt und die Persönlichkeit zu einem Textphänomen. Wolfs Changieren von Formulierungen, die sich auszuschließen scheinen, ist nicht einfach eine argumentative Inkonsistenz, sondern referiert auf ihr poetologisches Programm: Es geht weder um die Frage, ob es eine Essenz des Individuums gibt, noch, wie sich diese gestaltet oder ob das Individuum nur Ergebnis diskursiver Prozesse ist. Der Status der Literatur für das Individuum ist der Gegenstand ihrer Reflexionen. Prosa wird bei Wolf zum Bindeglied, das durch die subjektive Authentizität des Autors die Subjektivität der Lesenden affiziert und damit zwei Individuen ins Verhältnis setzt. Wolf blendet Autor und Erzähler übereinander. In ihrem Gespräch Subjektive Authentizität von 1974 formuliert sie dies und bezieht es auf das Verhältnis von Schreiben und Leben:
Wolf: „Lesen und Schreiben“, S. 503. Wolf: „Lesen und Schreiben“, S. 490.
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IV Christa Wolf: Der Blick in die neue Welt
Ich hatte nämlich erfahren […], was es bedeutet, erzählen zu müssen, um zu überwinden; hatte erlebt, daß der Erzähler (oder ist das Wort noch am Platze? der Prosaautor also) gezwungen sein kann, das strenge Nacheinander von Leben, ‚Überwinden‘ und Schreiben aufzugeben und um der inneren Authentizität willen, die er anstrebt, den Denk- und Lebensprozeß ungemildert […] im Arbeitsprozeß zur Sprache zu bringen […].¹⁹⁶
Wolf charakterisiert ihr Vorgehen als Überwindung ihrer bisherigen Vorstellungen. Ein Leben muss nicht mehr gelebt und bewältigt werden, um anschließend aufgeschrieben zu werden, sondern in der Gleichzeitigkeit von Leben und Bewältigung äußert sich eine innere Authentizität, die Lesen und Schreiben verbindet. Das Sich-selbst-Überwinden reflektiert Konzeptionen von ‚Identität‘. Denn die ständige Überwindung von Leben im simultanen Denk- und Arbeitsprozess des Schreibenden führt zu einer Überwindung von fester Identität, die sich trotzdem auf gelebtes Leben beziehen muss: [Der Erzähler; M.K.] entschließt sich, zu erzählen, das heißt: wahrheitsgetreu zu erfinden auf Grund eigener Erfahrung.¹⁹⁷ Das Reservoir, aus dem er [der Autor; M.K.] schreibt, ist seine Erfahrung, sie vermittelt zwischen der objektiven Realität und dem Subjekt Autor, und es ist hoch wünschenswert, daß es sich um gesellschaftlich bedeutsame Erfahrung handle, deren Determinanten nicht ‚im Unsichtbaren‘ liegen.¹⁹⁸
Die eigenen Erfahrungen des Autors verweisen auf autobiographische Dimensionen des literarischen Textes. Dabei wird die Erfahrung zum subjektiven Zugang des Autors zu dem Erzählten bzw. dem zu Erzählenden. Dieser Zugang vermittelt zwischen Welt und Subjekt und befähigt den Autor überhaupt zum Schreiben. Die Vermittlung selbst drückt sich wiederum nur im Geschriebenen aus.Wolf verweist daher auf die gesellschaftliche Bedeutung jener Erfahrung und verknüpft Autor und Geschriebenes mit der konkreten Gesellschaft. Literatur, die in diesem Paradigma verfasst wird, ist ein Bedeutungsüberschuss inhärent, der die gesellschaftlichen Vorstellungen überschreitet, aber an seine konkreten Produktionsbedingungen geknüpft bleibt: „Niemand, am wenigsten der Schriftsteller, kann Freiheit suchen jenseits der Koordinaten von Raum und Zeit, jenseits der Geschichte und ohne sie. Der geographische Ort, an dem ein Autor lebt und der zugleich ein geschichtlicher Ort ist, bindet ihn.“¹⁹⁹ Raum und Zeit – in Kants Epistemologie die a priori menschlicher Wahrnehmungsmöglichkeiten − sind die
Wolf: „Subjektive Authentizität“, S. 778. Wolf: „Lesen und Schreiben“, S. 481. Wolf: „Subjektive Authentizität“, S. 783. Wolf: „Lesen und Schreiben“, S. 498.
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kontextuellen Kategorien, auf die sich der Autor bezieht und die er in den Text einbettet. Wolfs poetologisches Paradigma entwirft eine Verbindung zwischen Leben und gesellschaftlichen Kontexten des Autors und den geschriebenen Texten. Nur in der Verbindung kann sich der literarische Text entwickeln, der zwar autobiographisch geprägt ist, aber keine Autobiographie darstellt: Insofern unterscheiden sich bei mir die einander ablösenden (oder einander durchdringenden) prosaistischen und essayistischen Äußerungen nicht grundsätzlich voneinander. Ihre gemeinsame Wurzel ist Erfahrung, die zu bewältigen ist: Erfahrung mit dem ‚Leben‘ – also der unvermittelten Realität einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Gesellschaft −, mit mir selbst, mit dem Schreiben – das ein wichtiger Teil meines Lebens ist −, mit anderer Literatur und Kunst.²⁰⁰
Die zunächst unvermittelte Erfahrung wird im und durch das Schreiben verhandelt. Der Zugriff auf die Erfahrung − also der Zugriff auf das eigene Leben − verändert sich durch den sprachlichen Zugang. Literatur spezifiziert diesen durch besondere sprachliche Codierung. Die Erfahrung bezeichnet Wolf explizit als Wurzel, also als den Grund, aus dem das literarische Produkt, das sich durch Vermittlung auszeichnet, erwächst. Die Verwendung von Sprache als Medium der Literatur führt nicht nur dazu, eine ontologischen Differenz von Erlebtem und Erzähltem einzuführen, sondern bricht in der Gleichzeitigkeit von Erleben und Schreiben die Chronologie auf. Erlebtes erfährt durch die Aneignung der Erinnerungen und die Verschriftlichung eine gänzlich neue Bedeutung. Wolfs Poetologie der Prosa schafft es, die Identität zwischen Autor und Erzähler durch die neue Vermittlung der Erfahrung aufzubrechen und eine Kontinuität zwischen den beiden Instanzen zu bewahren, wenn sich beide auf die gleiche Referenz, das gelebte Leben, beziehen. Für Stadt der Engel bedeutet dies, dass das oszillierende Selbst im Text in den autobiographischen Elementen auf eine außertextliche Referenz – die Autorin Christa Wolf − zu beziehen ist, ohne dass es zu einer einfachen Äquivalenzbeziehung kommt. Wolf konzipiert einen anhaltenden Einfluss der Referenz des gelebten Lebens und reformuliert damit Paradigmen des autobiographischen Schreibens. Durch ihre poetologische Anlage entwirft Wolf ein autobiographisches Schreiben, das keine Autobiographie hervorbringt, sondern eine Prosa, in der autobiographische Elemente auftreten können. Das autobiographische Schreiben wird nicht einfach als ein Beleg für das gelebte Leben entworfen, sondern vielmehr fungieren die autobiographischen Elemente als Beleg der Identifizierungen der Erzählerin, die sich wiederum produktiv aus dem Leben der
Wolf: „Subjektive Authentizität“, S. 774.
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Autorin bedient. Der Text bringt narrativ ein Subjekt hervor, das sich in seiner Referentialität nicht nur auf die Diegese bezieht. Die narrative Anlage von Stadt der Engel, die immer wieder die in Majuskeln gesetzten ‚authentischen‘ Dokumente aus Los Angeles zitiert, inszeniert so eine Parallele zwischen Wolf und der Protagonistin. Diese äußert sich in den erinnerten Episoden noch deutlicher, in denen der Text verlangt, dass die Lesenden bestimmte Fakten aus dem Leben Wolfs in ihn einsortieren. Ziel dieses Verfahrens ist es einerseits, dem Erzählten, Glaubwürdigkeit und Authentizität zu verleihen, und dieses andererseits, neu kontextualisieren zu können. Mit beiden Aspekten bringt der Text nicht nur eine Bewegung in die Subjektivität, sondern lotet so neue Identifizierungen aus, die sich so selbst authentisieren. Einige der in Stadt der Engel erwähnten textexternen Referenzen lassen sich eindeutig identifizieren: Sie verorten den Text und die erzählte Subjektivität in einem ostdeutschen Kontext, wenn entweder auf historische Daten der DDR-Geschichte verwiesen wird oder autoreferentiell andere literarische Texte Wolfs integriert werden (z. B. Was bleibt, SdE: 203; Kassandra, SdE: 230; Nagelprobe, SdE: 301). Damit werden Zeit und Ort der Autorin markiert, wie es Wolf selbst in Subjektive Authentizität eingefordert hat. In der Verbindung von fiktionalem Text und autobiographischen Einsprengseln verhandelt Stadt der Engel noch einmal explizit das Hauptproblem autobiographischen Schreibens: Die (Un‐)Möglichkeit von Erinnern.²⁰¹ So erzählt Stadt der Engel kein kohärentes Leben als Totalität, sondern die autobiographischen Elemente strukturieren sich als sich bewegende Bilder von Erinnerungen, die eher kaleidoskopische Perspektiven eröffnen als eine Ganzheit darstellen.²⁰²
Bekenntnisstruktur in Stadt der Engel Mit dem Bekenntnis der Stasi-Episode rückt Stadt der Engel einen Aspekt autobiographischen Schreibens in den Fokus, der Ostdeutschland, die DDR-Zeit und das ‚wiedervereinigte‘ Deutschland miteinander verbindet. Im Folgenden steht daher die Struktur dieses Bekenntnisses im Mittelpunkt und unter Rückgriff auf die Arbeiten von Johanna Schumm und Manfred Schneider werden die Implikationen, die sich für Prozesse der Identifizierungen hieraus ergeben, erörtert.
Vgl.: Zipfel: „Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität“, S. 306. Vgl.: Zipfel: „Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität“, S. 306. Vgl. zu einer ähnlichen Konzeption Grünbeins die Kapitel Eine Ouvertüre im Übergang sowie Denk-Bilder − Optische Identifizierungen.
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Schumm bestimmt das literarische Bekenntnis durch drei Aspekte: „Adressierung, Selbstentblößung und Heilung.“²⁰³ Das Subjekt des Textes wendet sich in der Adressierung der triadischen Bekenntnisstruktur, die Schumm aus ihren Analysen von Augustinus und Derrida gewinnt, an die Lesenden: Ich verstehe unter einem literarischen Bekenntnis Texte, die sich die Confessio strukturell zugrunde legen. Das heißt, sie übertragen die Kommunikationssituation des Bekenntnisses auf die literarische Kommunikationssituation zwischen Sprecher und impliziten Leser. Konkret bedeutet das, es handelt sich um Ich-Erzählungen, in denen sich der Sprecher explizit an jemanden wendet und etwas gesteht […]. Unter autobiographischen Bekenntnissen verstehe ich solche, die auf einer Namensidentität von Sprecher, Protagonist und auf dem Titelblatt angegebenen Autor beruhen […]. Unter fiktionalen Bekenntnissen verstehe ich solche, in denen zwar Namensidentität zwischen Sprecher und Protagonist, aber nicht mit dem Autor besteht […].²⁰⁴
In der Konzeption Schumms wendet sich das Subjekt des Textes an den impliziten Leser und konstituiert sich in dieser Bewegung. Dadurch, dass das Sprechen das Subjekt überhaupt erst entstehen lässt – eine Strukturanalogie zur Prosopopoiia −, wird die Adressierung zum ersten Schritt der literarischen Bekenntnisstruktur. Das Bekenntnis kann ein autobiographisches und ein fiktionales Register bedienen, indem diese Ambiguität eine Triebfeder autobiographischen Schreibens ist.²⁰⁵ Da in Stadt der Engel die Namensidentität zwischen Autorin und Erzählerin/ Protagonistin vermieden wird, kann – folgt man Schumm − nicht entschieden werden, ob es sich um einen fiktionalen oder autobiographischen Text handelt. Diese Leerstelle erzeugt ein fortwährendes Changieren der Lesehaltung, indem der Text immer wieder die Unsicherheit ausspielt, ob das sich aussprechende Subjekt nicht doch die Autorin Christa Wolf ist. Die Passagen, in denen die autobiographische Referenz (vermeintlich) leicht zu identifizieren ist, verstärken immer wieder einen autobiographischen Rezeptionsmodus. Neben der Pragmatik der Adressierung weist Schumm auf die zwei weiteren Dimensionen des Bekenntnisbegriffes hin:
Schumm, Johanna: Confessio, ›Confessiones‹, ‚Circonfession‘. Zum literarischen Bekenntnis bei Augustinus und Derrida, München: W. Fink 2013, S. 9. Schumm: Confessio, ›Confessiones‹, ‚Circonfession‘, S. 33. Schneider argumentiert: „Zwei Begriffe, zwei institutionelle Termini, fachen dieses ungeheure Schwelen der diaristischen und autobiographischen Aktivität an: Beichte und Selbsterkenntnis/Selbstbeobachtung. Es sind die Monitore und Register, durch die sich die abendländische Herzensschrift selbst reproduziert“, Schneider, Manfred: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München: C. Hanser 1986, S. 19.
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Die drei Momente der Adressierung, Selbstentblößung und Heilung entsprechen der Pragmatik, der Semantik und der intendierten Wirkung des Bekenntnisses als Sprechakt. Das heißt erstens: Ein Bekenntnis ist nur ein Bekenntnis, wenn es gehört bzw. rezipiert wird. Es nimmt daher seinen Rezipienten vorweg, d. h. es ist adressiert. Zweitens: Bekenntnisse basieren auf der Annahme, dass der Sprecher etwas Neues noch Unbekanntes über sich preisgibt, in dieser Preisgabe konstituiert sich sein Selbst. Drittens: Durch ein Bekenntnis wird mehr als eine bloße Mitteilung erreicht, ihm wird eine heilende Wirksamkeit zugestanden. Bekenntnisse stellen etwa ein in Unordnung geratenes Verhältnis zu einer göttlichen Macht wieder her oder erleichtern von einer Gewissenslast. Dieser dritte Aspekt umfasst die performative Dimension von Bekenntnissen.²⁰⁶
Während die dritte Dimension der Heilung²⁰⁷ an späterer Stelle diskutiert wird, wurde die Frage nach der Selbstentblößung im vorhergehenden Kapitel aufgeworfen.²⁰⁸ Mit der Thematisierung der (Un‐)Möglichkeiten von Erinnerung versuchen Erzählerin und Protagonistin genau jenen Bereich, die Preisgabe von etwas bisher Unbekanntem, einzukreisen. Gerade diese Preisgabe referiert auf die nichtdiegetische Realität: Der Text spielt mit einer Rezeptionshaltung, die darauf hofft, dass nach Jahren des Wartens endlich persönliche Gründe für Wolfs Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit enthüllt werden. Diese Diskussion verschiebt Stadt der Engel auf eine Metaebene²⁰⁹ und bricht so mit einer autobiographische Lesart, die aber gleichermaßen evoziert wird. Deswegen führt die Selbstentblößung zu einem sich wandelnden Verhältnis zum Selbst: „Ich [Schumm; M.K.] verstehe unter Selbstentblößung ein zur Schaustellen des Selbst, das mit einer Distanzierung von ihm einhergeht.“²¹⁰ Das Selbst wird im Text
Schumm: Confessio, ›Confessiones‹, ‚Circonfession‘, S. 17. Bekenntnisse figurieren sich durch die „Bezugnahme und Unterwerfung unter den göttlichen Anderen“. Diese Unterwerfung, die schließlich auch Heilung herbeiführen kann, ist dabei nicht notwendig sakral. Schumm ordnet die Unterwerfung Derridas unter das literarische Vorbild Augustinus sowie unter die textliche Autorität Geoffrey Benningtons in Circonfession in diese Kategorie ein. Im Fall von Stadt der Engel muss diese Unterordnung jedoch als eine Abarbeitung an der DDR-Vergangenheit gedacht werden, wobei das entscheidende Urteil den Rezipierenden des Textes überlassen wird. Vgl.: Schumm: Confessio, ›Confessiones‹, ‚Circonfession‘, S. 10. Vgl. zu Ersterem das Kapitel Zur Überwindung von Krisen – Reinigungen und Genesungen und zu Letzterem die Kapitel Erinnern und Vergessen – Christa Wolf liest Freud und Benjamin und Die Macht der Stasi-Akten. Es gibt einzelne Aussagen, die direkt den Umgang mit der Staatssicherheit kontextualisieren, z. B.: „Damals also, sagte ich, als diese jungen Herren mich ansprachen und ich sie nicht sofort wegschickte, habe ich wohl noch geglaubt: Vielleicht sind die notwendig. Vielleicht brauchen wir die. Nur zwei, drei Jahre später hätte ich »die« nicht mehr zur Tür hereingelassen.“, SdE: 258. Schumm: Confessio, ›Confessiones‹, ‚Circonfession‘, S. 154.
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hervorgebracht,²¹¹ indem es sich von sich selbst distanziert. Wie die verschachtelten Erinnerungsebenen zeigen, problematisiert Stadt der Engel die Hervorbringung eines kohärenten Selbst. Der Prozess der individuellen Erinnerung sowie der Versuch der Verarbeitung jener Erinnerungen führen zu einem konstitutiven Bruch. Indem Stadt der Engel immer wieder autobiographische Referenzen aufruft, um sie durch die fiktionale Form des literarischen Textes stets wieder einzuholen, werden individuelle Zugänge einer autobiographischen Lesart verallgemeinert. Die Protagonistin distanziert sich durch ihr Sich-Aussprechen über die Vergangenheit von den vergangenen Vorstellungen des Selbst, die textuell erst durch dieses Sich-Aussprechen hervorgebracht werden. Das narrative Verfahren identifiziert in Abgrenzung zur Vergangenheit einen neuen Status quo, wobei die Vergangenheit erst in der Aussage etabliert wird. Am Beispiel einer Erinnerung an einen Aufenthalt in einem Waldkrankenhaus für psychosomatische Beschwerden wird dies besonders deutlich. Die DDR wird in der Wiedergabe eines Gesprächs mit einem unbenannten Freund von diesem unter Zustimmung der Protagonistin als „Herrschaftsinstrument“, „Ideologie“ und „[f]alsches Bewußtsein“ (SdE: 121) bezeichnet. Die Protagonistin und der Freund kommen darin überein, dass die einzige Lösung für diesen unerträglichen Zustand, in dem sie leben müssen, „[a]nständig [zu] bleiben“ (SdE: 121) ist. Nach einem narrativen Wechsel von der Erinnerung in die Ebene der Protagonistin reflektiert diese in einem der ‚authentischen‘ Dokumente über den schon bekannten blinden Fleck. Nach der Niederschrift des Schreibmaschinentextes verlässt die Protagonistin das Haus und begibt sich an das Ufer des Pazifischen Ozeans. Nachdem die Protagonistin dort einen freudigen Jungen beobachtet hat, formuliert sie: „Selbstbeherrschung ist auch eine Herrschaft, eben über das Selbst.“ (SdE: 121). Obwohl der Wechsel der narrativen Ebenen und der neue Kontext auf den ersten Blick einen Zusammenhang zwischen den beiden ausschließt, steht die Aussage über die Selbstbeherrschung mit den vorherigen Urteilen aus der DDR-Zeit in Verbindung. Denn das eigene Verhalten in dieser Zeit wird – trotz des Anspruches anständig zu bleiben − nachträglich nur noch zu einer Selbstbeherrschung, die bestenfalls noch den eigenen blinden Fleck markiert.Von der Selbstgenügsamkeit des früheren Selbst wird sich so im Nachhinein distanziert. Der fraglose Zusammenhang zwischen der Aussage über Selbstbeherrschung und dem Urteil über die DDR ergibt sich nicht nur aus einer textlichen Vgl.: „Die durch die Rhetorik der Selbstentblößung suggeriert Enthüllung bezieht sich in Bekenntnissen auf Taten oder Gedanken des Bekenners, die von diesem oder dem implizierten Kontext als schuldhafte bewertet werden. Dabei konstituiert sich das ‚Selbst‘ des Sprechenden erst in der Enthüllung, es kann also nicht vorausgesetzt werden.“, Schumm: Confessio, ›Confessiones‹, ‚Circonfession‘, S. 155.
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Nähe, sondern verweist auf einen theoretischen Zusammenhang: Als Bindeglied fungiert die semantische Nähe durch den Begriff Herrschaft. In beiden Fällen wird marxistische Terminologie gebraucht, die wiederum in der intertextuellen Referenz auf Adorno eine Gemeinsamkeit hat. Nicht nur bezeichnet Adorno im Anschluss an Marx²¹² Ideologien als „falsches Bewußtsein“²¹³, sondern in der Odysseus-Episode der Dialektik der Aufklärung verknüpft sich diese mit der „Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet […].“²¹⁴ Der Rückbezug auf Adorno und Horkheimer verbindet nicht nur auf einer inhaltlichen Ebene Identität und Ideologie miteinander, sondern der literarische Text demontiert durch die Verschachtelung zeitlicher Ebenen die Vorstellung von kohärenter Identität. Der blinde Fleck verweist in diesem Kontext nicht nur auf die eigene ideologische Verklärung, sondern seine Existenz verunmöglicht ein Zusich-selbst-kommen als Grundbedingung für ‚Identität‘. Seine unbewusste Triebkraft markiert ihn selbst als einen nicht vollständig beherrschbaren und kontrollierbaren Teil, dessen Bestandteile in letzter Konsequenz nicht zu semantisieren sind. In dem beständigen Changieren von Identifizierungen und Distanzierun²¹⁵ gen verbindet sich der Aspekt der Selbstentblößung mit der Heilung. Gerade Heilung, die sich, wie ich an späterer Stelle ausführe,²¹⁶ in Stadt der Engel als ein kathartisches Schema artikuliert, geht mit den im Text evozierten Utopieentwürfen einher. Stadt der Engel verhandelt aber nicht nur die Frage, ob die Protagonistin aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit der Stasi schuldig ist; Selbstentblößungen stehen immer mit einer kritischen Hinterfragung der Konzeptionen von Identität und Identifizierung in Zusammenhang. Der Versuch, die eigene Subjektivität als ostdeutsch zu identifizieren, ist als Selbstentblößung gegenüber den Lesenden zu verstehen. Der Reformulierung ihres Selbstbildes hängt mit dem Geständnis über das bisherige Irren zusammen: Protagonistin und Erzählerin konstruieren ihre Selbstbilder in Abgrenzung zum DDR-System und den eigenen Identifizierungen in der DDR-Zeit. Zwar werden Erinnerungen an diese Zeit und die Selbstbilder zur Grundlage einer neuen ostdeutschen Subjektivität, dieser fehlt aber das Telos früherer Identifizierungen. Vielmehr geht mit diesen ost-
Vgl. hierzu v. a.: Marx, Karl / Engels, Friedrich: „Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiednen Propheten“, in: MEW. Bd. 3. 1845 – 1846, hrsg. von Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin: Karl Dietz 1958, S. 9 – 530, hier S. 26 f. Adorno: „Beitrag zur Ideologienlehre“, A-GS 8, hier S. 465. Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 62. Vor allem in der Beichtszene mit Francesco, vgl. das Kapitel Die Macht der Stasi-Akten. Vgl. das Kapitel Zur Überwindung von Krisen – Reinigungen und Genesungen.
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deutschen Selbstbildern eine neue Aneignung der Retrospektion einher, ohne dass der futurische Entwurf in Stadt der Engel im engeren Sinn inhaltlich gefüllt wird.²¹⁷ Der Bezug und die Aneignung vergangenen Lebens ist nicht nur, wie im vorherigen Kapitel, als Prozess einer Dialektik von Erinnern und Vergessen zu fassen, sondern verweist auf einen autobiographischen Modus des literarischen Schreibens, der stark auf ein textexternes Wissen der Lesenden bezüglich der Biographie der Autorin setzt. Textintern wird die Erfahrung rund um die Aufdeckung der Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit zu einer Art neuem a priori, das die Bedingung der Möglichkeit darstellt, sich neu zu identifizieren, ohne in die Logik der Identität zu verfallen. Schneider hat ein ähnliches Verfahren als ein zentrales Merkmal des autobiographischen Schreibens im 20. Jahrhundert beschrieben: Die Frage nach der Herzensschrift, modern: die Frage nach der Identität ist die Frage nach der Erkennbarkeit der Abweichung. Denn die Sünde ist immer schon die Sünde der Individuation.[…] Nachdem die Institutionen der Moderne die Subjekte mit dem Imperativ traktiert haben, daß sie eine Identität haben müssen, um die Kontrolle aller Normierungen zu passieren, sind exakt mit dem Beginn der Universalisierung dieses Imperativs jene Abweichungen entstanden, die die moderne Psychiatrie als Spaltung, Identitätsstörung, Schizophrenie klassifiziert hat. Man darf sagen, daß die Produktion von Identitäten die Nosologie der Nichtidentität zu verantworten hat.²¹⁸
Was Schneider anhand der Pathologien der Moderne als einen Zwang charakterisiert, der konstitutiv immer sein Ausgeschlossenes, die Nichtidentität, erzeugt, verbindet in Stadt der Engel das Fehlverhalten mit der Pathologie. Die unter Depressionen leidende Protagonistin kann nur in der Depression, die durch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Fehlverhalten hervorgerufen wird, ihre eigene Nichtidentität reflektieren. Wenn Schneider davon spricht, dass Subjekte und deren Identität immer als Relation zwischen gelebtem Leben und dem Beziehungsgeflecht zu verstehen sind,²¹⁹ sind in (rein) fiktionalen literarischen Texten hierfür textinterne Argumente zu suchen. Autobiographische Schreibweisen, wie sie Stadt der Engel entwirft, weichen eine solche Fokussierung auf das Textinterne auf, wenn die Konstitution des Subjektes des Textes mit Wissen um das Leben der Autorin vermittelt ist. Es ist irrelevant, ob sich die beschriebenen Episoden tatsächlich so ereignet haben, sondern über Signale wird das Wissen der Lesenden aktiviert, das Erzählerin/Protagonistin in ein Verhältnis zum Leben Wolfs setzt. Erzählinstanz bzw. Protagonistin sind bei der Konstitution ihrer
Vgl. das Kapitel Der Engel ihrer Geschichte. Schneider: Die erkaltete Herzensschrift, S. 24. Vgl.: Schneider: Die erkaltete Herzensschrift, S. 22.
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Subjektivität einer doppelten Bewegung unterworfen: einerseits einer textinternen narrativen Erschreibung und andererseits der Konstruktion seitens der Rezipierenden, die das biographische Material der Autorin um das Subjekt anordnen. Wie Almut Finck konstatiert hat, beinhaltet ein solcher Text aufgrund einer solchen Bewegung immer mehr und doch zugleich weniger als das Leben der Schreibenden.²²⁰ Stadt der Engel lässt die eigene autobiographische Schreibweise in diesem Sinne zu einem Spiel mit der Gattung Autobiographie, der Praxis des Schreibens und der autobiographischen Rezeption werden. In dem immer wieder Spuren gelegt und verwischt werden, konstituiert das Subjekt des Textes sich ständig zwischen textinterner Diegese und textexterner Referentialität. Gerade der Bezug auf Praxen autobiographischen Schreibens, wie etwa der literarischen Bekenntnisstruktur, liefert neue Perspektiven für die Beschreibung ostdeutscher Selbstbilder. In Stadt der Engel äußert sich dies darin, dass die Selbstentblößung des Bekenntnisses den eigentlichen Inhalt meist nur umkreist. Dies stellt den Versuch dar, von einer individuellen Ebene zu abstrahieren. Problematisch ist nicht, dass der Text die moralisierende Frage unbeantwortet lässt, wieso Wolf für die Staatssicherheit gearbeitet hat, sondern dass verschiedene Aspekte unterschiedlich explizit werden: Während die Auflösung kohärenter Vorstellungen des Selbst durchaus überzeugend in der Verbindung von Inhalt und Form dargestellt werden, wirkt das Leiden am Vergessen zuweilen larmoyant. Die textinternen Motivationen für die Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit werden vor allem in den Funktionalisierungen der Exilierten angeboten, die als Rechtfertigung für die Entstehung der DDR zitiert werden.²²¹ Wolfs Konzeption vermeidet ein autobiographisches Schreiben, das eine einfach Entschlüsselung anbietet. Vielmehr wird die Form der Autobiographie in Stadt der Engel immer wieder dekonstruiert. Gleichzeitig nutzt der Text das Leben der Autorin als einen Beleg, der auf das Referenzwissen der Lesenden rekurriert. Der Beleg des Lebens – das Leben von Christa Wolf sowie die Erzählung des Lebens der Protagonistin durch Erinnerungen – steht deshalb mit dem autobiographischen Schreiben im Wechselspiel und nimmt damit Einfluss auf die im Text präsentierten Identifizierungen.
Vgl. Finck: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie, S. 57. Vgl. das Kapitel „Was sind das für Zeiten“ – Bezüge zur Exilliteratur.
4 Das Andere des Ostens
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4 Das Andere des Ostens Erfahrungen von Globalität und Vorstellungen von regionalen Identitäten stehen oftmals in einer engen Beziehung. Das durch Roland Robertson als Glokalisierung bezeichnete Phänomen²²² einer Verschränkung von globalen Effekten mit ihrem Auftreten an lokalen Schnittstellen ist eine Erscheinung, die seit jeher mit Globalisierungsprozessen einher geht. Stuart Hall beschrieb bereits in den 1980er Jahren eine Entwicklung, die im Lichte gegenwärtiger Entwicklungen allzu bekannt wirkt: Als Reaktion auf Globalisierungsprozesse traten im damaligen England regressive identitätspolitische Konsequenzen auf, die auf „eine aggressive Fixiertheit auf das kleine England und eine Rückkehr zum ethnischen Absolutismus“²²³ zielten. Innerhalb mehrerer Aspekte sind strukturanaloge Phänomene in Stadt der Engel Thema, wenn das Auftreten ethnischer Reinheitsphantasien im Deutschland der frühen 1990er Jahre und die eigenen Identifizierungen mit einem anderen Ostdeutschland zur Disposition stehen. Mehrfach ermisst der Text in einer großen Spannbreite die dialektische Beziehung vom Globalen und Lokalen, die sich immer wieder auf die Identifizierungen von Erzählerin und Protagonistin zurückbeziehen.²²⁴ Zwei Aspekte an diesem Verhältnis sind besonders prägnant: zum einen wird eine beschleunigte Welt des Kapitalismus infolge des Unterganges des Ostblocks dargestellt. Dabei werden die persönlichen Identifizierungen der Protagonistin verhandelt. Explizit wird dies u. a. in den Bezügen, die zur Exilliteratur während des Nationalsozialismus – dem „New Weimar unter Palmen“ (SdE: 338) − hergestellt werden. Das Erbe des antifaschistischen Widerstandes dieser Exilierten ist unter den neuen Verhältnissen prekär geworden, droht ersetzt zu werden und fordert sein Fortleben ein. Zwischen dem Auftreten von Homeless People als Spiegelfiguren der Protagonisten sowie der Distanz zur neuen Welt des beschleunigten Kapitalismus und der Tradition der DDR aus einem mystifizierten Antifaschismus ihrer Gründung bilden sich die ostdeutschen Selbstbilder aus. Zum anderen generiert sich im Anschluss an marxistische und antiimperialistische Vorstellungen eine Parteinahme für die Unterdrückten dieser neuen Welt. So rekonfiguriert die Konfrontation mit Schwarzen und Hopi- sowie Navajo-India-
Vgl. zur Begriffsbestimmung: Robertson, Roland: „Glocalization. Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity“, in: Featherstone, Mike / Lash, Scott Lash / Robertson, Roland (Hrsg.): Global Modernities, London: Sage Publications 1995, S. 25 – 44. Hall: „Die Frage der kulturellen Identität“, S. 217. Umso frappierender ist es, dass die Forschungsliteratur diese Aspekte bisher (bis auf wenige Bemerkungen) fast völlig ausgespart hat. Diesem Fakt ist es auch geschuldet, dass in diesem Kapitel ausführliche philologische Grundlagenarbeit betrieben wird.
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nern, die wie die Homeless People als Spiegelfiguren funktionalisiert werden, das Gefühl von Globalität und konstruiert die Möglichkeiten einer anderen Welt, die sich in einem Utopie-Gefühl schließlich neu entwirft.
4.1 Die neue Welt der Obdachlosen Die Welt nach dem Mauerfall – Kapitalismus und Barbarei Mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus erweiterte sich buchstäblich der Raum, der von den Bewohnern der sogenannten Ostblockstaaten betreten werden konnte. Erst durch den Fall der Berliner Mauer wurde ein großer Teil des Planeten überhaupt zugänglich. Für Protagonistin wie für Autorin trifft dies lediglich beschränkt zu. Als privilegierte Personen bestand für Schreibende wie Wolf schon vor 1989 die Möglichkeit, nach Westdeutschland und in andere Regionen der Welt zu reisen.²²⁵ Der umfassende Umbruch, der dem Mauerfall folgt, verändert die vorigen Erfahrungen aber grundlegend. Stadt der Engel beschreibt eine Konfrontation mit einer globalisierten Welt, in der die Protagonistin nicht einfach heimkehren kann, da die heimatliche Welt vom Neuen absorbiert wurde. An dieser Stelle verschränken sich transzendentale und staatliche Obdachlosigkeit, wie es Miriam Reinhard formuliert.²²⁶ Die Welt, die der Roman konfiguriert und die mit der historischen Realität korreliert, steht der Protagonistin – zumindest gefühlt − antagonistisch gegenüber. Durch die ‚Niederlage‘ des real existierenden Sozialismus verliert die Protagonistin das Land, aus dem sie kommt. Gleichzeitig geht mit dem Verlust des Landes der (zugegebenermaßen entstellte) Gegenentwurf zu einer kapitalistischen Ordnung verloren. Zuletzt ist der „Kein Ort. Nirgends“²²⁷, der sich unentschieden zwischen den beiden Blöcken befindet, verschwunden. Stattdessen hat sich der Kapitalismus als Sieger erhoben, dessen Alternativlosigkeit die Utopie zu inkriminieren und desavouieren scheint: Wie oft ich in den letzten Jahren, den Niedergang meines Landes beobachtend, die Zeilen des alten Goethe memoriert hatte, die beginnen: Wir wollen die Umwälzung nicht wünschen, die in Deutschland klassische Werke vorbereiten können. »Literarischer Sansculottismus«.
Vgl.: Magenau: Christa Wolf, S. 334. Überdies verweist Haase auf den Fakt, dass nicht jeder DDR-Bürger den für die Ausreise notwendigen Pass besaß, vgl.: Haase: „Christa Wolfs letzter Selbstversuch“, S. 222. Vgl.: Reinhard: „Christa Wolf: »Stadt der Engel«“, S. 608. Die Begrifflichkeiten werden im Folgenden noch genauer erläutert. Wolf, Christa: Kein Ort. Nirgends, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007.
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Wünschen müssen, was Zerstörung bedeutet, in der Klemme sitzen. Ohne Alternativen leben lernen. Deutsche Zustände. (SdE: 78)
Die Protagonistin, die innerhalb dieser Passage von einer Erinnerungsperspektive an die DDR-Zeit in die Post-Wende-Zeit wechselt, zitiert nur einen kleinen Ausschnitt aus Goethes Literarischem Sanscülottismus.Versteht man dieses Anzitieren in Stadt der Engel als einen Lektüreauftrag, eröffnet Goethes Text sogar noch weitere Dimensionen, die für eine Deutung hilfreich sind: Aber auch der deutschen Nation darf es nicht zum Vorwurfe gereichen, daß ihre geographische Lage sie eng zusammenhält, indem ihre politische sie zerstückelt. Wir wollen die Umwälzungen nicht wünschen, die in Deutschland klassische Werke vorbereiten könnten. Und so ist der ungerechteste Tadel derjenige, der den Gesichtspunkt verrückt. Man sehe unsere Lage, wie sie war und ist; man betrachte die individuellen Verhältnisse, in denen sich deutsche Schriftsteller bildeten, so wird man auch den Standpunkt, aus dem sie zu beurteilen sind, leicht finden. Nirgends in Deutschland ist ein Mittelpunkt gesellschaftlicher Lebensbildung, wo sich Schriftsteller zusammenfänden und nach einer Art, in einem Sinne, jeder in seinem Fache sich ausbilden könnten.²²⁸
Der Kontext der Goethezeit wird mit dem der späten DDR-Zeit und der frühen Berliner Republik parallelisiert.²²⁹ Durch die Einbettung des Goethe-Zitates in den literarischen Text wird die Zeit nach der französischen Revolution geradezu als eine Vorwegnahme des Schicksals von BRD und DDR präsentiert: Trotz der politischen Divergenz von Ost und West war die Grenze der beiden deutschen Staaten der Ort, an dem die politisch getrennten Blöcke aufeinanderprallten und der zum Siedepunkt des Kalten Krieges wurde. Nach 1989 besteht dieses Problem modifiziert fort: Die nun in einem geographischen Raum, dem wiedervereinigten Deutschland, zusammengedrängten unterschiedlichen (politischen) Mentalitäten streben trotz topographischer Einigung auseinander. Besonders deutlich wird dies an dem Umgang mit Intellektuellen: Das fehlende System intellektueller Bündelung (›Nirgends in Deutschland ist ein Mittelpunkt gesellschaftlicher Lebensbildung‹) symbolisiert für die Protagonistin die unterschiedlichen Erfahrungen Intellektueller in Ost und West. Diese getrennten Erfahrungen führen statt zu intellektueller Solidarität sogar zu gegenseitigen Anklagen – im autobiogra-
Goethe, Johann Wolfgang von: „Literarischer Sanscülottismus“, in: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche I.18. Ästhetische Schriften. 1771−1805, hrsg. von Friedmar Apel, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1998, S. 319 – 324, hier S. 321. Sandhöfer-Klesen hat darauf hingewiesen, dass Goethe und Brecht in Kindheitsmuster sowie in Stadt der Engel als Vertreter des früheren Ichs inszeniert werden, vgl.: Sandhöfer-Klesen: Christa Wolf im Kontext der Moderne, S. 154.
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phischen Kontext nicht zuletzt im Literaturstreit. Die von der Protagonistin empfundene Obdachlosigkeit umfasst neben der ideologischen Komponente das Gefühl intellektueller Obdachlosigkeit und damit einer defizitären utopischen Perspektive. So skizziert die Protagonistin in Rekurs auf den klassischen deutschen Bildungskanon ihr Bild Deutschlands nach dem Mauerfall in einem Satz: Ohne Alternativen leben lernen. Die Gedanken der Protagonistin werden von ihrem Gesprächspartner − wobei es unklar bleibt, warum dieser die Gedanken kennt − weitergeführt und das spezielle (ost‐)deutsche Problem wird globalisiert: Ich hätte vielleicht schon gemerkt. Wie stark der Anpassungsdruck in den Staaten sei und wie wenig er von den Betroffenen überhaupt wahrgenommen werde. Daß der Alltag Amerikas als Norm für die ganze Welt gelte. Daß es als normal gelte, für Profit und Erfolg zu leben. Daß der Präsident nur von einem Drittel der Bürger gewählt werde und man sich für die vorbildlichste aller Demokratien halte. Das alles gelte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus bis in alle Ewigkeit. (SdE: 78)
Verschiedene kapitalismuskritische Aspekte treten zusammen: Die sprechende Figur, der Bekannte John – amerikanischer Jude der ‚second generation‘, der mit der Protagonistin über Deutschland diskutieren will − kritisiert die dominante Stellung der USA in kultureller, politischer wie ökonomischer Perspektive. Die Verbindung zu der Goethe-Passage ist wiederum nicht nur durch die textliche Nähe gegeben, sondern der Text stellt sie inhaltlich her, da John zwei Cousins in Ostberlin hat, die sich „durch die Vereinigung »kolonisiert« fühlten.“ (SdE: 77) Dies verweist zudem auf die eigene Kolonisationserfahrung der Protagonistin.²³⁰ In dem Referat Johns deuten sich Entwicklungen an, deren Krisenhaftigkeit die Erzählerin mit ihrem Wissen von 2007/2008 nun anders kontextualisiert: „[Wir] müssen zugeben, daß unsere Phantasie damals nicht ausreichte, um uns vorzustellen, daß einmal über zweitausend Särge mit toten amerikanischen Soldaten aus dem Irak in die USA transportiert werden würden, ohne daß die Amerikaner dagegen aufbegehrten.“ (SdE: 79) Die Welt, die der Roman an verschiedenen (historischen) Stellen entwirft, ist krisenhaft, hoffnungslos und brutal. Georg Lukács hat in seiner Theorie des Romans nicht nur den oben erwähnten Terminus der „transzendentalen Obdachlosigkeit“²³¹ geprägt, ebenso beschreibt er das Verhältnis von Totalität zur Welt des Romans:
Vgl. hierzu das Kapitel Der tiefe Fall. Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1971, S. 32.
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Der Roman ist die Form der gereiften Männlichkeit; das bedeutet, daß das Abschließen seiner Welt objektiv gesehen etwas Unvollkommenes, subjektiv erlebt eine Resignation ist. Die Gefahr, von der diese Gestaltung bedingt ist, ist deshalb eine doppelte: es ist die Gefahr da, daß entweder die Brüchigkeit der Welt kraß […] zutage tritt und die Resignation in quälende Trostlosigkeit umschlägt, oder daß die allzu starke Sehnsucht, die Dissonanz aufgelöst, bejaht und in der Form geborgen zu wissen, zu einem voreiligen Schließen verführt, das die Form in disparater Heterogenität zergehen läßt […].²³²
Die Welt, die Stadt der Engel entwirft, setzt sich nicht nur auf inhaltlicher Ebene mit der Totalität der Welt auseinander, sondern stellt aus, welche quälende Trostlosigkeit für die Protagonistin damit verbunden ist: Ja, der Kapitalismus – aber sie würde die westliche Welt nicht »Kapitalismus« nennen, sondern »Freie Marktwirtschaft« –, da sei natürlich jeder Mensch dem anderen ein Wolf, das bringe der Wettbewerb so mit sich, aber sie habe fast die ganze Welt bereist und habe nirgends eine bessere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gefunden. (SdE: 231; Hervorheb. M.K.)
Die Paraphrase eines Gespräches der Protagonistin mit einer Journalistin zeigt, dass die Totalität ›der ganzen Welt‹ eine erdumspannende ökonomische Dynamik des Kapitalismus ist.²³³ Ohne es erwähnen zu müssen, markiert Stadt der Engel deutlich einen historischen Unterschied zu vor 1989, indem die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung von der westlichen in die ganze Welt übertragen wird. Vor dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus konnte dieser zumindest noch als Gegenmodell fungieren. In Georg Lukács Theorie des Romans ist die transzendentale Obdachlosigkeit das Ergebnis der sich auflösenden traditionellen Deutungsmuster, die mit der Existenz traditioneller Gemeinschaften verbunden waren. Während laut Lukács im Epos die Welt noch eine Totalität darstellen konnte, fokussiert der Roman als ästhetische Reaktion nicht mehr die „Totalität des Seins“²³⁴, sondern setzt das Individuum in den Mittelpunkt. Mit Stadt der Engel kann eine etwas anders gelagerte Antwort²³⁵ auf Lukács’ Typologie gegeben werden. Das zerrissene Individuum (die Protagonistin) ist das Zentrum des Textes
Lukács: Die Theorie des Romans, S. 61. Chiarloni hat dies als Konfrontation mit einer „Ideologie des Take it easy“ bezeichnet, Chiarloni: „Anamnese der Gegenwart“, S. 192. Lukács: Die Theorie des Romans, S. 26. Dass der Bezug zwischen Wolf und Lukács nicht grundlos ist, zeigt der biographische Kontext der Autorin. So setzt sich Wolf bereits seit ihrem Studium mit den Texten von Lukács immer wieder intensiv auseinander, vgl.: Magenau: Christa Wolf, S. 49.
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und es wird deutlich, dass keine monadisch „abgerundete Welt“²³⁶, aber vielmehr eine gerundete Welt präsentiert wird, deren globale Vernetzung sich anhand einer kapitalistischen Ordnung zeigt. Daher muss Lukács’ transzendentale Obdachlosigkeit, die das Ergebnis eines Überganges von geschlossener zur offener Gesellschaft ist,²³⁷ modifiziert werden. Stadt der Engel präsentiert das Ankommen in einer offenen Gesellschaft kurz nach dem Austritt aus einer geschlossenen. Dieser Übertritt wird fortwährend an die Größe der zu erfahrenden Welt gebunden. „Unsere Welt ist unendlich groß geworden […]“²³⁸, heißt es in der Theorie des Romans; die Protagonistin könnte ähnliches formulieren, äußert sie doch beständig ein Bewusstsein für die Veränderung: „Das Telefon mußte ein Eigenleben beginnen, es mußte mir Stimmen zutragen, aus einer Welt, die mir abhanden gekommen war und in der man anscheinend weiter ein normales Leben führte.“ (SdE: 239) Zwar schlägt sich die ideologische Heimatlosigkeit nicht in einer neuen literarischen Form, aber in einer Neubestimmung der (für das Subjekt) zu erfahrenden Welt nieder.²³⁹ Dieses neue Verhältnis zu einer totalen Welt bindet der Text fast ausschließlich an den Kapitalismus.²⁴⁰ So stellt der Text die Brüchigkeit der Welt und die quälende Trostlosigkeit der Protagonistin miteinander verschränkt aus. Die Fremdheit der entworfenen Welt weitet sich in ihrer biographischen Erfahrung immer deutlicher. Angesichts einer Erinnerungssequenz an eine Wahlhelfertätigkeit in Westberlin in den 1950er Jahren deklariert die Protagonistin: „Westberlin war für dich eine fremde Welt.“ (SdE: 220) Diese Erfahrung intensiviert sich mit dem Fall der Mauer. So häufen sich die fatalistisch anmutenden Kommentare Lukács: Die Theorie des Romans, S. 25. Vgl. hierzu: Jung, Werner: Wandlungen einer ästhetischen Theorie. Georg Lukács’ Werke 1907 bis 1923: Beiträge zur deutschen Ideologiegeschichte, Köln: Pahl-Rugenstein 1981, S. 73. Vgl.: Jung, Werner: Georg Lukács, Stuttgart: Metzler 1989, S. 73. Lukács: Die Theorie des Romans, S. 26. Die Neubestimmung dieses Verhältnisses scheint umso gerechtfertigter als Georg Lukács den sozialistischen Realismus selbst als eine Annäherung an das Epos und damit verbunden an eine transzendentale Heimat verstanden hat. Vgl. hierzu: Lukács, Georg: Moskauer Schriften. Zur Literaturtheorie und Literaturpolitik, 1934−1940, hrsg. von Frank Benseler, Frankfurt a. M.: Sendler 1981, S. 53. Vgl. auch: Jung: Georg Lukács, S. 71. Der Kapitalismus wird in Die Theorie des Romans zwar nicht explizit erwähnt, Lukács lässt seine Beschreibung des Romans jedoch mit Cervantes Don Quixote beginnen. Diese Setzung scheint seine spätere marxistische Wende bereits zu antizipieren, denn dieser erste große Roman wird nicht zufällig zu der Zeit geschrieben, in der Marx seine Ursprüngliche Akkumulation verortet: „Obgleich die ersten Anfänge kapitalistischer Produktion uns schon im 14. und 15. Jahrhundert in einigen Städte am Mittelmeer sporadisch entgegentreten, datiert die kapitalistische Ära erst vom 16. Jahrhundert.“, Marx: Das Kapital. Bd. 1, S. 743.Vgl.: Lukács: Die Theorie des Romans, S. 87– 91; Jung: Wandlungen einer ästhetischen Theorie, S. 73.
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zu Ereignissen, die sich zeitlich vor allem zwischen der Ebene der Protagonistin und derjenigen der Erzählerin abspielen und von letzterer retrospektiv memoriert werden. Die Erzählerin wird von diesen Erkenntnissen sogar gezwungen, ihr eigenes Schreiben zu unterbrechen: „Heute hindert mich ein Fernseherlebnis daran, sofort und ohne zu zögern niederzuschreiben, wofür dieser Arbeitstag vorgesehen war […].“ (SdE: 176) Mit diesem Satz fügt die Erzählerin einen Exkurs ein, der zwischen einem Traum („[W]agte mich an die Deutung dieses Traumes nicht heran“; SdE: 175) und dem erneuten Einschlafen (vgl.: SdE: 177) – beides im Jahr 1992 − genau eine Druckseite einnimmt. Der Bericht, der aufgrund des Präsens in der zeitlichen Ebene von 2007/2008 zu verorten ist, berichtet über die Tätigkeiten der CIA vor dem Mauerfall: Warum sie [ehemalige Mitarbeiter der CIA; M.K.] aber jetzt anfangen, ihre Heldentaten aus den sechziger, siebziger und achtziger Jahren aufzublättern, will mir nicht einleuchten. Zwingt sie jemand dazu, sie, die doch die Sieger der Geschichte sind? Welcher Teufel reitet sie, jetzt zu erzählen, daß zwanzigtausend Vietnamesen – egal, ob Angehörige des Vietkong oder nicht – auf Befehl der CIA ermordet wurden? Daß es gegen Patrice Lumumba, Martin Luther King, Fidel Castro Mordbefehle gab? […] Weil sie die Weltherrschaft und damit automatisch recht haben. Weil alles, was nötig war, diese Weltherrschaft zu erringen, von Natur aus gut war. (SdE: 176)
Der Inhalt der Dokumentation über die Tätigkeiten der CIA führt bei der Erzählerin zu antiamerikanischen Aussagen, die sich aufgrund des historischen Verlaufes, also dem Fall der Berliner Mauer, noch intensiviert: Denn es ist erst die veränderte Weltlage, die zu dieser ‚Weltherrschaft‘ führen kann. Die ehemaligen Mitarbeiter der CIA haben (nun) die ‚Weltherrschaft‘. Das Präsens verweist darauf, dass die amerikanische Vormachtstellung erst in der Gegenwart der Erzählerin realisiert worden ist, was wiederum auf historische Gewordenheit der Situation und auf eine Zeit verweist, in der dies (noch) nicht der Fall war: Vor dem Untergang der Sowjetunion und damit gleichermaßen zu DDR-Zeiten. Die einzige Bedrohung, die diese neue, allumfassende kapitalistische Welt noch hat, ist der unbändige inhärente Krisenmoment. Dieser äußert sich vor allem in zwei Manifestationen: Die Erzählerin schätzt die Bedeutung des 11. September 2001 ein und kontrastiert sie zu ihren Erfahrungen in den Jahren 1992/93: „Nine eleven war noch kein Schreckensdatum.“ (SdE: 107) Dieses Datum wird als Ausgangspunkt genommen, von dem aus sich eine außenpolitische Destabilisierung ergeben hat, die in der Verwendung von Wolf deutliche Anklänge an die Dialektik der Aufklärung Horkheimers und Adornos²⁴¹ hat: Bereits im dritten Satz der Vorrede der Dialektik der Aufklärung ist von Barbarei die Rede, vgl.: Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 1.
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Damals war ich noch sparsamer im Umgang mit dem Wort BARBAREI, heute liegt es mir auf der Zunge. Die Nähte sind geplatzt, die unsere Zivilisation zusammenhielten, aus den Abgründen, die sich aufgetan haben, quillt das Unheil, bringt Türme zum Einsturz, läßt Bomben fallen, Menschen als Sprengkörper explodieren. (SdE: 38 f.; Hervorheb. i. Orig.)
In dem Verständnis der Erzählerin markiert der 11. September einen Umschlag, in dem die Zivilisation der eigenen Barbarei zwar nicht bewusst wird, dies aber deutlich zum Ausdruck bringt. Die Erzählerin hört beim Erwachen aus einem Traum eine Stimme (höchstwahrscheinlich ihre eigene), die den 11. September sogar direkt als „Epochenscheide“ (SdE: 80) bezeichnet. Die Abgründe, die sich angesichts der Ereignisse auftun, sind − ganz im Stile Horkheimers und Adornos − als die Rationalität einer Vernunft zu verstehen, die ihre Reflexionsfähigkeit verloren hat und nun in absoluter Irrationalität zurückschlägt. Das zweite kategoriale Ereignis, das in eine ähnliche Kerbe schlägt, ist die Finanz- und Bankenkrise von 2007/2008: Jetzt, mehr als anderthalb Jahrzehnte später, lese ich ähnliche Fragen in manchen Zeitungen, hervorgetrieben von einer KRISE, die eigentlich ein Zusammenbruch ist, auf den ich in einer ferneren Zukunft gefaßt war. Die Ursache für den Kollaps des Bankwesens, der Lebensader eines Wirtschaftssystems, das auf einmal sogar wieder »Kapitalismus« heißen darf, wird allerdings möglichst auf die psychologische Ebene geschoben […]. (SdE: 127; Hervorheb. i. Orig.)
Dass die Bezeichnung Kapitalismus überhaupt erst wieder eingeführt werden muss, ist, wie der Unterton vermuten lässt, der Verbannung jeglichen sozialistisch anmutenden Vokabulars infolge des Endes des real existierenden Sozialismus geschuldet. Überhaupt können die fehlende Reflexion des Wirtschaftssystems und die Radikalität, mit der jene ökonomische Ordnung agiert, als Grundlagen für das Aufkommen jener Barbarei angesehen werden, die in gleichem Maße diese Gesellschaft bedroht. Doch bewirkt die Krisenerfahrung nicht etwa das Instituieren eines Klassenbewusstseins. Vielmehr werden die Erklärungen für den Zusammenbruch des Finanzkapitalismus von den Zeitgenossen der Erzählerin nicht in der strukturellen Verteilung von Ressourcen und deren Ausbeutung gesucht, sondern in der individuellen Psyche bestimmter Personen. Die Erzählerin integriert auf diese Weise Diskurse aus ihrer Gegenwart in die Erzählung. Diese zeigen Entwicklungen auf, deren Grundlage bereits mit dem Ende von DDR und Sowjetunion gelegt wurde. Damit wird der 11. September zu einer Epochenscheide des Bewusstseins, während die historische Ursache für die Entwicklungen in der Zäsur von 1989/90 zu suchen bleibt. Die Intensivierung der veränderten Welterfahrung wirkt auf der Ebene der Erzählerin fatalistisch, da der Eindruck entsteht, dass ihr ein Gegenüber fehlt, an
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dem sie sich abarbeiten könnte. In der zeitlichen Ebene der Protagonistin – also 1992 – kann sie sich (noch) über Gefühle von Zugehörigkeiten selbst bestimmen. Zwar verspürt die Protagonistin dies noch, kann aber nicht mehr richtig zuordnen, wer die Gemeinschaft ausmacht, wie nach dem Gespräch mit der Journalistin, die als Apologetin des Kapitalismus auftritt, deutlich wird: „Ich hatte wieder dieses Gefühl von Vergeblichkeit: Es hatte alles keinen Sinn, wir hatten keine Chance. Wer aber waren wir?“ (SdE: 231) Das wir, das nicht mehr definiert werden kann, ist zwar brüchig geworden, aber es hat noch Bestand. Es äußert sich in der Sehnsucht nach einer sinnstiftenden Kollektivität, die man mit Lukács Konzeption des Obdaches beschreiben kann.²⁴² Der Text erzählt die Substitution einer Suche nach diesem Obdach.²⁴³ Während durch den politischen Systemwechsel der staatliche und ideologische Überbau diese Funktion nicht länger erfüllt, begibt sich die Protagonistin auf die Suche nach einer neuen Kollektivität, die den Verlust einer ‚Heimat‘²⁴⁴ ersetzt und die sich in den Prozessen der Identifizierung als ostdeutsch niederschlägt. Wie ich noch zeigen werde, gehen mit dem Versuch neuer Sinnstiftung durch die Reflexionen über das Selbst und seine Zugehörigkeit zur Kollektivität transformierte Vorstellungen des Utopischen einher.²⁴⁵ Stadt der Engel stellt damit nicht nur die von Lukács diagnostizierte Brüchigkeit der Welt zur Schau, die den Roman als solchen auszeichnet, sondern expliziert, was diese Brüchigkeit nach dem Ende des real existierenden Sozialismus bedeutet und wie dies das Gefühl einer transzendentalen bzw. einer ideologischen Obdachlosigkeit befördert. Die Protagonistin formuliert gar ein Bewusstsein über diesen inneren Zustand, wenn sie darüber nachdenkt, ob sich ihre verstorbene Freundin Emma wohl jemals „an einem Ort zu Hause“ gefühlt hat und diese Frage sich in ihr Selbst wendet: „Meiner eigenen Fremdheit nachzugehen hatte ich lange vermieden, bis jetzt.“ (SdE: 120) Da jene Emma als eine Spiegelfigur für die Protagonistin fungiert, richtet sich ihre Frage auch an sich selbst. Ihre eigene Fremdheit, die – wie
Vgl.: Lukács: Die Theorie des Romans, S. 132. Mit Blick auf das Gesamtwerk Wolfs ist eine solche Perspektive umso stimmiger. Wie Felsner argumentiert, wird in Kindheitsmuster der Übertritt von Nationalsozialismus zu (real existierendem) Sozialismus als die Suche nach einer neuen Heimat figuriert, welche die Erzählinstanz in der „utopisch-sozialistischen Heimat“ findet, vgl.: Felsner, Kristin: Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung. Christa Wolf und Uwe Johnson, Göttingen:V&R Unipress 2010, S. 445 – 454, insbes. S. 445 f. Mit einer solchen Perspektive kann man durchaus davon ausgehen, dass Wolf diese Entwicklung an einer weiteren biographischen sowie gesellschaftlichen Bruchstelle fortschreibt. Bereits Lukács verwendet die Termini Obdachlosigkeit und Heimatlosigkeit synonym, vgl.: Lukács: Die Theorie des Romans, S. 32, 52. Vgl. hierzu das Kapitel „Auferstanden aus Ruinen“ – Ein Engel bringt die Utopie.
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erwähnt − auf eine konstitutive innere Fremdheit referiert, ist um eine kollektive Dimension zu ergänzen. Es ist die Fremdheit, die sie in einer sich zunehmend entfremdeten Gesellschaft erlebt. Unklar bleibt aus der Perspektive der Protagonistin, ob der real existierende Sozialismus jemals eine erfüllende ideologische Heimat darstellte, sicher ist jedoch, dass die Welt nach 1989 ihr fremd bleiben muss. Zwar gibt es in dieser Welt eine faktische Totalität eines erdumspannenden Kapitalismus, dieser steht aber (zunächst) keine ideologische Komponente gegenüber. Daher ist die Verschiebung der Romanhandlung an das westlichste Ende der „neuen Welt“ (SdE: 9) mehrfach codiert: An diesem Ort treten die Exilerfahrungen Intellektueller während des Nationalsozialismus mit Amerika als historischer neuer Welt zusammen. So kann Los Angeles in einer metonymischen Beziehung zur neuen Welt stehen, die sich der Protagonistin nach dem Ende des Ostblocks auftut. Das wiederholte Insistieren auf verschiedene Aspekte des Kapitalismus hängt mit diesem Verhältnis zusammen, wenn sich das vorherrschende ökonomische Paradigma alternativlos präsentiert: „Vom Sozialismus vorwärts zum Kapitalismus.“ (SdE: 47) Das Gefühl einer brüchig gewordenen Welt, die zwar auf eine Totalität verweist, ohne dass dieses Gefühl diese Totalität intellektuell einholen könnte, reflektiert Stadt der Engel in seiner Form: Die plötzlich auftauchenden Erinnerungen, das Stillstellen der erzählten Zeit, die Montage der unterschiedlichen Gattungen (Tagebuch, Lied, Zeitungsartikel etc.) sowie die zahlreichen markierten und nicht-markierten intertextuellen Verweise korrespondieren mit der konstitutiven Heterogenität des Romans, der sich durch die Integration dieser disparaten Textsorten auszeichnet. Indem Stadt der Engel die Grundbestimmung des Romans als ein disparates Ganzes erfüllt, verweist es auf die Disparität, die das Individuum in dieser Konstellation erfährt und die es nicht mehr befähigen, jenes transzendentale Obdach zu finden, das laut Lukács das Zeitalter des Epos ausgezeichnet hat.²⁴⁶ Dieser Gestus, der anmaßend, larmoyant und unhistorisch wirkt, verweist wiederum auf den zeitgenössischen Diskurs Anfang der 1990er Jahre, der sich durch eine solches Gefühl auszeichnet, in dem Thesen wie diejenige Fukuyamas vom Ende der Geschichte Konjunktur hatten. Die Protagonistin ergibt sich aber wiederum nicht in dieses Gefühl, sondern versucht neue sinnstiftende Erfüllungen zu finden, deren Ziel unter anderem die eigene Subjektivität ist, die sich in dem unklaren wir verortet und der Konstruktion eines ostdeutschen Selbstbildes unterworfen ist. Dabei gewinnen zwei miteinander verbundene Aspekte vermehrt Bedeutung für die Rahmung dieser Identifizierungen: die Ablehnung der ökonomischen Grundlagen der neuen Welt
Vgl.: Lukács: Die Theorie des Romans, S. 31 f., 40 f.
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– ein Restbestand der ideologischen Heimat des Marxismus – und die Bezugnahme auf die Gemeinschaft der Exilierten während des Nationalsozialismus – ein Restbestand der mit der Gründergeneration der DDR verbundenen Hoffnung auf eine bessere Welt. Die Bezugnahme auf die kapitalistische Ordnung, die nun die Welt dominiert, wird in Stadt der Engel mehrfach personifiziert: [Ich; M.K.] lief hinaus, in das Spätnachmittagslicht, hinein in die Second Street, in das vielfarbige Menschengewimmel, das dort gegen Abend auf- und abtrieb, um sich zu zeigen, um vor den kleinen Restaurants zu sitzen und Hamburger, italienische Pastagerichte, mexikanische Tortillas oder japanische Sushi zu verzehren und sich um die zahlreichen Schausteller mit ihren Vorführungen zu scharen. Und inmitten dieser lebhaften Menge, von niemandem bemerkt, als seien sie unsichtbar, die kleinen fehlfarbenen Flecken der homeless people, die es in dieses günstige Klima zog. (SdE: 48 f.)
Die Obdachlosen werden für die Protagonistin die Verkörperung der Ausgestoßenen einer ökonomischen Ordnung. Durch ihre farbliche Besonderheit stechen sie sogar aus dem vielfarbigen Menschengewimmel heraus. Die Umgebung stellt eine Diversität aus, welche die Menschen in ihrer Vielseitigkeit in den Blick nimmt, wie sie mitunter in den verschiedenen kulinarische Eigenheiten kulminiert. Das Zusammentreten verschiedener regionaler Küchen sowie die unterschiedlichen Menschen – vielfarbig verweist auf die Unterschiedlichkeiten der Hautfarben im Sinne des englischen coloured − zeugen von einer Globalisierung, die sich in Los Angeles sowohl im Menschen als auch in deren Habitus verdinglicht. Stadt der Engel präsentiert eine scheinbar friedfertige Welt, in der alles − vom Essen bis zur Performance − einer kapitalistischen Konsumlogik anheimfällt. Nur die Homeless People fallen heraus. Ihre farbliche Unangemessenheit sorgt allerdings nicht für eine Repräsentation, da sie von niemandem – außer natürlich der Protagonistin – bemerkt werden. Insbesondere die Markierung der Farbe zeigt dies, da die Obdachlosen nicht mal mehr ins Farbspektrum fallen. Während ‚die Schwarzen‘ oder ‚die Native Americans‘ dagegen als solche in einer rassifizierten und rassifizierenden Praxis des Kapitalismus deutlich merklicher als die Anderen innerhalb eines Systems klassifiziert werden, stehen die Homeless People sogar abseits dieses Diskurses; ihnen fehlt Repräsentation und Partizipation. Der Text legt nahe, dass diese Gruppe etwas Neues wäre, das sich erst durch die gesellschaftlichen Veränderungen konstituieren konnte. Diese Aussage ergibt nur ob der Tatsache Sinn, dass die Fokalisierung immer die Perspektive der Protagonistin einnimmt, für welche dies tatsächlich eine neue und unbekannte Erscheinung ist.²⁴⁷ Die Protagonistin wird angesichts der Wahrnehmung der
Wie ich weiter unten zeige, war Obdachlosigkeit in der DDR ein Straftatbestand.
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Homeless People von einer pathetischen Ergriffenheit überwältigt, die sie (teilweise) kurz darauf zurückweist: „[M]ein Mitgefühl war billig […].“ (SdE: 49). Trotz der extremen Armut, die die Homeless People verkörpern, birgt ihre Existenz jenseits der Grenzen des gesellschaftlich Wahrnehmbaren eine besondere Potentialität der Erkenntnis, wie es die Protagonistin mit Blick auf eine obdachlose Frau formuliert: Diese Frau, sagte ich mir, hatte alle Rücksichten hinter sich, jede Art von Anpassung und Verstellung, wenn das Freiheit bedeutete, war sie frei, auch frei von Besitz, sie besaß nur das Allermindeste, was ein Mensch braucht, sie mußte nicht ängstlich ihren Reichtum hüten und verteidigen, sie nahm niemandem etwas weg, sie beteiligte sich nicht an der Ausbeutung der Schätze dieser Erde, sie ist unschuldig, dachte ich, während wir alle schuldig sind, weil wir den Preis nicht zahlen wollen, der uns abverlangt wird. (SdE: 49 f.)
Der Freiheitsbegriff, den der Text bemüht, verweist auf Karl Marx’ Bestimmung der Freiheit des Proletariers in Das Kapital, der zu einer Freiheit des Obdachlosen transformiert wird. Bei Marx ist der Lohnarbeiter doppelt frei, nämlich frei seine Arbeitskraft zu verkaufen und frei an Produktionsmitteln.²⁴⁸ Der Kapitalismus teilt laut Marx die Menschen in zwei Klassen auf, in denen die jeweiligen Individuen nur in den „ökonomischen Charaktermasken“ auftreten. Die jeweiligen Charaktermasken sind die „Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse“²⁴⁹, die dem Menschen seine Stellung im System zuweisen. Damit werden die jeweiligen Menschen ent-subjektiviert und zum Objekt des einzigen Subjektes, das die kapitalistische Produktionsweise nach Marx zulässt: dem automatischen Subjekt eines sich selbstverwertenden Werts.²⁵⁰ Die Obdachlosen in Stadt der Engel entziehen sich dieser Logik, wenn ihre Freiheit nicht innerhalb eines kapitalistischen Systems angesiedelt ist, sondern als eine Freiheit der Unschuld präsentiert wird. Während bei Marx die Individuen zwar keine Verantwortung gegenüber der Existenz des Kapitalismus haben, ist ein jeder dort Kollaborateur des Systems.²⁵¹ Die Obdachlosen verweigern nicht einfach, diese Verweigerung ist für sie alter-
Vgl.: Marx: Das Kapital. Bd. 1, S. 183. Marx: Das Kapital. Bd. 1, S. 100. „[Der Wert; M.K.] geht beständig aus der einen Form in die andre über, ohne sich in dieser Bewegung zu verlieren, und verwandelt sich so in ein automatisches Subjekt. […] In der Tat wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglicher Wert abstößt, sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, worin er Mehrwert zusetzt, ist seine eigene Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung.“, Marx: Das Kapital. Bd. 1, S. 168 f. Vgl.: Marx: Das Kapital. Bd. 1, S. 168.
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nativlos, wenn ihre gesellschaftliche Verworfenheit zum schlechthin Anderen einer kapitalistischen Logik wird. Der Text ist nicht darin problematisch, dass er die Homeless People idealisiert – davor zeigt er sich schon angesichts der Schilderung ihrer unerträglichen Lebensumstände gefeit −, sondern weil er sie für den Zweck der Selbstbeschreibung der Protagonistin funktionalisiert. In Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert hat Wolf die Bedingungen des Schreibens unter dem Kapitalismus charakterisiert: „In dieser Warenwelt, die alles unter sich begräbt, hat Schreiben nur noch Sinn als Selbstversuch, einschneidend, sezierend, die feinsten Verästelungen der Person herauspräparierend und bloßlegend.“²⁵² Diesem Paradigma geht Stadt der Engel mit all seinen Konstruktionen nach, was aber dazu führt, dass alle Aspekte diesem Selbstversuch und der Reflexion der eigenen Identifizierungen untergeordnet werden. Bemerkenswert ist zudem die Position der fokalisierten Erzählinstanz, die aus einer äußerst privilegierten Position als Stipendiaten einer durchaus bemerkenswerten Bildungsinstitution – des CENTERS − spricht und Teil einer elitären und wohlhabenden Gemeinschaft ist. Dieser radikale Subjektivismus erfasst die Darstellung der Obdachlosen, wenn diese gleichermaßen als Spiegel und als Abgrenzung präsentiert werden. Das Mitleid, das die Protagonistin gegenüber den Homeless People ausdrückt, hängt damit zusammen, dass diese für sie eine unbekannte Gruppe darstellen, deren Leiden ihr aus DDR-Zeit unbekannt ist. So durfte es in der Doktrin des real existierenden Sozialismus keine Obdachlosen geben, da mit der Pflicht auf Arbeit Obdachlosigkeit als Asozialität unter Strafe gestellt wurde.²⁵³ Andere Figuren, die das Phänomen (in der Drastik der US-amerikanischen Realität) schon länger kennen, grenzen sich wie eine Gesprächspartnerin von dem Mitleid der Protagonistin (und dem Peter Gutmans) ab: Wir alle hatten beobachtet, daß gutbetuchte Zeitgenossen sich wie blind und taub an Obdachlosen vorbeidrückten, ihr Gesicht zu einer Ekelgrimasse verzogen, ihnen den Dollar
Wolf, Christa: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. 2001−2011, hrsg. von Gerhard Wolf, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 25. Vgl.: Ministerium der Justiz der DDR (Hrsg.): Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik (StGB). Textausgabe mit Sachregister, Berlin: Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik 1968, § 249. Lenski nimmt in ihrem Beitrag die Repressionsmaßnahmen gegen als asozial klassifizierte Personen infolge des § 249 in den Blick. Der Beitrag diskutiert dies zwar vornehmlich anhand von Jugendlichen, gibt aber einen guten Einblick in den rigiden Umgang mit diesen Personen, vgl. hierzu: Lenski, Katharina: „‚Asozialität‘ in der DDR. Re-Konstruktion und Nachwirkung eines Ausgrenzungsbegriffs“, in: Heitzer, Enrico u. a. (Hrsg.): Nach Auschwitz. Schwieriges Erbe DDR: Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der DDR-Zeitgeschichtsforschung, Frankfurt a. M.: Wochenschau 2018, S. 162– 175.
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vorenthielten, den sie leicht hätten entbehren können. Da wurde Malinka heftig. Sie verstehe das vollkommen. Sie gebe auch keine Almosen. […] Ihr Mantra sei: I don’t care, I don’t care. Und sie bemitleide nicht die homeless people, wie wir es täten. Sie gebe ihnen auch kein Geld. Sie behalte jeden einzelnen verdammten Cent für sich. Sie habe sogar eine Wut auf die, würde sie am liebsten durchschütteln und anschreien: Laßt euch nicht so gehen! Verliert doch eure Würde nicht! Sollten sie sich selber aus dem Sumpf ziehen. (SdE: 191; Hervorheb. M.K.)
Insbesondere die letzten Sätze könnten ebenso auf die Situation der Protagonistin gemünzt sein, die sich nach den kurz zuvor erschienen Enthüllungen ihrer Tätigkeit für die Staatssicherheit in depressiver Agonie befindet. Ihr Mitleid hinsichtlich der Situation der Homeless People ist (auch) ein übertragenes Mitleid, das sich an sich selbst richtet. Dieser Übertragung kommt im Verlauf des Textes durchaus ein produktives Potential zu, wenn dieses ins Verhältnissetzen die erste Übertragung darstellt, die schließlich zu einer Genesung führt.²⁵⁴
Der neue Osten zwischen Lokalem und Globalem Die Homeless People sind, um noch einmal den deutschen Terminus zu gebrauchen, obdachlos. Dies stellt die Äquivalenzbeziehung zur Protagonistin her, die im übertragenen Sinne ihr Obdach verloren hat – staatlich und ideologisch. Trotz der eigenen Obdachlosigkeit, die sich am Untergang der DDR manifestiert, wird die neue staatliche Ordnung nicht als legitim akzeptiert. Gerade die Ablehnung der neuen Struktur, in der Kapitalismus und neuer Staat miteinander verschränkt werden, führt dazu, dass die Protagonistin sich immer wieder mit einem Entwurf von Ostdeutschland identifiziert, der sich sowohl in Opposition zu dieser ‚westlichen‘ Ordnung als auch zur DDR konstituiert. Überdies steht die eigene Bezugnahme immer in einem Verweisungszusammenhang, sowohl auf ein historisches als auch auf ein neues Deutschland, wenn die Protagonistin Juden und Jüdinnen der Second Generation Auskünfte über die Pogrome in (Ost‐)Deutschland Anfang der 1990er Jahre gibt. Beispielhaft ist das Treffen mit dem Direktor des HolocaustMuseums in Los Angeles:
In Freuds Konzeption der psychoanalytischen Therapie ist die Übertragung auf den Therapeuten und die Bewusstmachung der Übertragung der entscheidende Schritt für die Genesung des Analysanden. Die Obdachlosen fungieren zwar nicht als ‚Therapeuten‘, die fortwährende Bewusstmachung, die mit der Gleichsetzung einhergeht, mündet schließlich in der Zuspitzung der Ereignisse in der Nahtodszene sowie der anschließenden Genesung. Zum Begriff Übertragung, vgl. grundlegend: Freud: „Zur Dynamik der Übertragung“, StA Ergänzungsband 1989, S. 157– 168, insbes. S. 164 ff.
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Ich wußte, ehe er es aussprach, was er mich fragen würde, auch er hatte natürlich die Bilder aus Deutschland in den Zeitungen gesehen. Ich kam ihm zuvor, sagte, ich hätte selbst auch keine Erklärung für die Ausschreitungen gegen Asylanten in Deutschland. Ich sagte, die Jugendlichen, besonders die in Ostdeutschland, hätten in den letzten Jahren erfahren, wie schwer es ist, schwach zu sein. Er sagte: Aber sie s i n d schwach, und sie müssen lernen, trotzdem nicht zuzuschlagen. (SdE: 80; Hervorheb. M.K.)
Ausgelöst wird dieser Bericht, der an den erwähnten Nine-Eleven-Traum der Erzählerin anschließt,²⁵⁵ durch die Tatsache, dass die Protagonistin angesichts ihres Besuches im Holocaust-Museum ebenso schreiend aus dem Schlaf erwachte. Diese Gemeinsamkeit regt die Erzählerin an, mit ihrer eigentlich zeitlich linearen Erzählung der Ereignisse von 1992 fortzufahren, wobei gerade in der Verschränkung der beiden Träume die globale Gefahr der Erzählgegenwart mit einer globalen Gefahr der Handlungsebene in eine Kontinuität gesetzt wird. Die Frage, welche die oftmals jüdischen Amerikaner in Stadt der Engel umtreibt, ist, wie das Aufkommen der rechtsradikalen und national(sozial)istischen Gewalt im Ostdeutschland der Post-DDR-Zeit zu Stande kommt. Die Protagonistin wird von ihren Gegenübern aufgrund ihrer Herkunft in die Pflicht genommen, jene Phänomene zu erklären.²⁵⁶ Dabei muss die Protagonistin scheitern, weil sie der Hoffnung nach einem ‚anderen Ostdeutschland‘ erlegen ist: Ich glaubte ihm anzumerken, daß auch für ihn die Deutschen mit einer unheilbaren Krankheit infiziert waren, mit einem Virus […]. Der Virus hieß Menschenverachtung. Ich hatte ihn in dem Teil des Landes, in dem ich lebte, lange Zeit für besiegt gehalten, besiegt durch Aufklärung. Als ich dieses Wort aussprach, glaubte ich in den Augen meines jüdischen Gesprächspartners etwas wie eine traurige Belustigung zu sehen. Aufklärung! sagte er gedehnt. Ja, ja. Dieser Hang zur Selbsttäuschung. War ja auch uns nicht fremd. (SdE: 80 f.)
Mit der sich selbsttäuschenden Aufklärung verweist Stadt der Engel erneut auf Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung und thematisiert darüber hinaus die Schwierigkeiten der jüdischen Assimilation in Europa vor 1933. Zur DDR-Zeit hielt die Protagonistin bzw. ihr früheres Selbst diese Entwicklungen für überwunden. Die Verwendung des Plusquamperfekts legt nahe, dass diese Meinung sich angesichts der neuen Entwicklungen geändert hat, einer konkreten
Vgl. das Kapitel Die neue Welt der Obdachlosen. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Protagonistin nicht nur aktiver Teil des Gespräches ist, sondern, wie Schubert treffend konstatiert hat, sich als Zuhörerin in der Position einer „Art sekundärer Ohrenzeugenschaft“ befindet, Schubert, Katja: „‚Are you sure this country does exist?‘ ›Blickwechsel‹ als narrative Strategie im Werk von Christa Wolf“, in: Goudin-Steinmann, Elisa / Hähnel-Mesnard, Carola (Hrsg.): Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989. Narrative kultureller Identität, Berlin: Frank & Timme 2013, S. 285 – 302, hier S. 293.
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Äußerung enthalten sich aber Protagonistin und Erzählerin. Jegliche Meinungsverschiebung gilt aber, wie der Hinweis auf die perspektivlosen Jugendlichen im Gespräch mit dem Direktor des Holocaust-Museums zeigt, nur für die Zeit nach 1989. Ein Restaurantbesuch im Anschluss an die bereits diskutierte Exkursion zu einer Kunstinstallation ruft ähnliche Aussagen hervor.²⁵⁷ Das Restaurant wird zu einem über sich selbst hinausweisenden Ausgangspunkt, denn es steht in einer metonymischen Beziehung zum „melting pot der Vereinigten Staaten“²⁵⁸. Das Erlebnis kulinarischer Vielfältigkeit markiert einen Unterschied zur DDR-Zeit. Erst eine Welt globaler Menschenströme erzeugt eine Diversität, die sich an der Restaurantwahl manifestieren kann. Die Protagonistin empfindet für die neuen Phänomene eine starke Faszination: „Lust, gegen Mitternacht zum Chinesen zu fahren? Ich hatte immer Lust, erinnere ich mich.“ (SdE: 36) Dass die Erfahrung des Neuen nicht nur das Essen betrifft, wird am Besitzer des Restaurants deutlich, der eine „Geschicklichkeit, die uns Europäern unerreichbar ist“ (SdE: 36), besitzt. Die Protagonistin – hin und her gerissen zwischen Faszination und Differenz − grenzt Europa von einer Figuration des Anderen (in diesem Fall China) ab, was sich jedoch als ein Zwischenschritt entpuppt, ehe das Gespräch die Post-DDR als lokales mit globalen Phänomenen verschränkt: Da kam Pintus auf die unselige Idee, mich zu fragen, merkwürdigerweise, wahrscheinlich aus Verlegenheit, auf Englisch: What about Germany? Die Frage hatte ich fürchten gelernt, sie bedeutete immer dasselbe: Wie erklärst du dir und uns die Fotos aus deutschen Städten, von denen die Zeitungen hier voll sind: Brennende Asylantenheime, antisemitische Inschriften an Häuserwänden, ein mit Eiern beworfener Präsident während einer Demonstration gegen Rassismus. (SdE: 36)
Pintus Frage richtet sich (wie schon beim Direktor des Holocaust-Museums) auf die Eskalation der Gewalt gegen Flüchtlingsunterkünfte im Gebiet der ehemaligen DDR Anfang der 90er Jahre. Obwohl die Gewalt (während des L.A.-Aufenthaltes der Protagonistin) sich ebenso in Westdeutschland niederschlug,²⁵⁹ prägten sich die Manifestationen der Gewalt in Ostdeutschland (vor allem verbunden mit Namen wie Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen) im kollektiven Gedächtnis ein. Hoyerswerda wird als eine der ersten großen Ausschreitungen 1991 zu einem Synonym für einen ‚braunen Osten‘, da mit diesem Ereignis überhaupt erst die Verbindung zu Ostdeutschland hergestellt wurde. Jörg Magenau, Wolfs Biograph, Vgl. das Kapitel „Ich steig noch mal runter in diesen Schacht“ – Zur Erinnerungsmetaphorik von Sog und Schacht. Chiarloni: „Anamnese der Gegenwart“, S. 199 (Hervorheb. i. Orig.). Die prominentesten Fälle sind die Brand- und Mordanschläge auf Mölln (November 1992) und Solingen (Mai 1993), die in den Zeitraum des Amerika-Aufenthaltes fallen.
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hält in diesem Kontext fest: „In Hoyerswerda, einst Symbol des sozialistischen Städtebaus und Ort von Brigitte Reimanns Ankunft im Alltag, wurde ein Heim vietnamesischer Asylbewerber wochenlang vom Mob belagert und mit Brandsätzen beworfen.“²⁶⁰ Beim Restaurantbesuch ist die Protagonistin weder willens noch in der Lage, eine Antwort zu geben. Jener Pintus fragt zwar nach Germany, es ist aber offensichtlich, dass die Protagonistin nicht als Sprecherin Gesamtdeutschlands gefragt ist, sondern als Vertreterin des Ostens. Diese Intention nimmt sie affirmativ auf, wenn sie direkt im Anschluss in eine Erinnerung abdriftet: Denn hättest du nicht seit dem Tag, an dem du vor den mit »Judensau« beschmierten Grabsteinen von Brecht und Helene Weigel gestanden hattest, auf alles gefaßt sein müssen? Worauf denn aber? Darauf, daß die Leute aus der mecklenburgischen Kleinstadt, die immer so friedlich und geduckt und ein bißchen öde dagelegen hatte, eines schönen Tages nach der WENDE hinausziehen würden vor das Kasernengelände […] und das Kasernengelände tageund nächtelang besetzen würden, weil es in ein Übergangslager für Asylbewerber umgewandelt werden sollte und nicht, wie sie alle, die inzwischen arbeitslos waren, gehofft hatten, in ein Tourismuszentrum für diese landschaftlich paradiesische Gegend. (SdE: 36 f.; Hervorheb. i. Orig.)
Die Erwähnung von Brecht und Weigel deutet eine Identifizierung mit jenen Emigranten an, die sich einst am selben Ort aufhielten, wie es die Protagonistin jetzt tut.²⁶¹ Der Dorotheenstädtische Friedhof in Berlin Mitte, auf dem die Gräber der beiden sich befinden, liegt überdies im ehemaligen Ostberlin. Die mecklenburgische Kleinstadt wird nicht nur durch die geographische Angabe, sondern ebenso durch den zeitlichen Zäsur-Moment WENDE verortet. Dass dieser Begriff großgeschrieben wird, stellt eine Eigenheit dieser Passage dar.²⁶² Diese verstärkte Hervorhebung betont den liminalen Charakter des Ereignisses, das sich räumlich (durch die Erweiterung des Betretbaren) und zeitlich (als epochemachendes Ereignis) ausdrückt. Die stärkere Vernetzung von lokalem – dem Raum der ehemaligen DDR − mit globalen Entwicklungen − dem Auftreten von Flüchtenden − führt zu einer verstärkten identitären Gemeinschaft der Bewohner.²⁶³ Dass die
Magenau: Christa Wolf, S. 422. Vgl. das Kapitel „Was sind für Zeiten“ – Bezüge zur Exilliteratur. Der Text setzt den Begriff als historisches Ereignis der Jahre 1989/1990 sonst in französische Anführungszeichen. Der Soziologe Anthony Giddens hat diesen Moment theoretisch beschrieben: „Globalisierung sollte als ein dialektisches Phänomen angesehen werden, das an zwei ‚Polen‘ des Prozesses der Zeit-Raum-Distanzierung operiert. Das Globale und das Lokale werden zunehmend verbunden, jedoch auf eine oft gebrochene und asymmetrische Weise, die an beiden Polen widersprüchliche Resultate hervorbringen kann. Zum Beispiel ist das Wiederaufflammen des lokalen
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Bewohner der mecklenburgischen Kleinstadt, die „nicht fremdenfeindlich“ (SdE: 37) sein wollen, trotzdem eine eigene Identität herbeisehnen, die die Anderen ausschließt, steht für die Protagonistin außer Frage: „[S]ie [sollen] kleine grüne Birken vor ihre Haustüren gestellt haben. Als Zeichen dafür, daß Zigeuner hier unerwünscht waren.“ (SdE: 37) Sie verfolgt diese Entwicklung mit einer kritischen Distanz und sucht nach Erklärungen, in denen ihre eigene Verortung, umso deutlicher hervortritt: Ich frage mich, wie man verhindern kann, daß immer ein falsches Signal auf ein anderes falsches Signal gesetzt wird, warum zum Beispiel, sagte ich, während die runde Platte mit den chinesischen Gerichten sich drehte, warum hat niemand mit den Leuten in der kleinen Stadt gesprochen, warum hat niemand sie gefragt, was sie eigentlich wollen, warum hat man es dazu kommen lassen, daß sie als fremdenfeindlich angeprangert wurden? Nein, hörte ich mich sagen, nein, ich glaube es nicht. Die Berichterstattung in euren Medien ist einseitig, als gebe es in Ostdeutschland nichts anderes mehr als brennende Asylbewerberheime. Das ist es doch, was man hier von den Deutschen erwartet. Aber es wird die Wiederholung nicht geben, vor der ihr euch fürchtet. Das werden wir nicht zulassen. Wer: Wir? fragte Francesco, das laute Echo der Frage, die ich mir im stillen selber stellte. (SdE: 38)
Die Gegenüberstellung der sich drehenden Platte des chinesischen Restaurants mit dem Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit gegenüber den Dorfbewohnern spitzt das problematisierte Verhältnis von Lokalem und Globalem zu. Im Satz wechselt der Bezugsrahmen, auf den sich die Protagonistin beruft, mit dem Ort, den sie perspektivisch einnimmt. Zwar bleibt unklar, was die Protagonistin nicht genau glaubt – den Aussagen der Dorfbewohner, ob die Dorfbewohner fremdenfeindlich sind, ob alle Ostdeutschen fremdenfeindlich sind etc. −, aber zu dieser Erkenntnis kann sie nur gelangen, da durch den Sprung von Ostdeutschland in ein chinesisches Restaurant in Los Angeles und wieder zurück nach Ostdeutschland deutlich wird, dass Lokales und Globales nur vermittelt auftreten können. So nimmt sie gegenüber den amerikanischen Medien eine Position für jenes Ostdeutschland ein, das die eigentliche Mehrheit sei, und rechnet sich selbst zum Teil jener Mehrheit, die zugleich ein widerständiges Potential hat. Zwar wird mit Blick auf die Menschen von den Deutschen gesprochen, als Raum der Ereignisse wird Ostdeutschland benannt. Dass die Protagonistin die Frage nach dem wir nicht beantworten kann, bleibt konstitutiver Bestandteil des Phantasmas ihres ost-
Nationalismus kausal mit Globalisierungsprozessen […] verknüpft. Die Ausdehnung globaler Interdependenzen führt zu einem ihr entgegengesetzten Effekt – der Akzentuierung lokaler Identitäten“, Giddens, Anthony: Kritische Theorie der Spätmoderne, übers. von Karl Duffek,Wien: Passagen 1992, S. 30.
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deutschen Selbstbildes, das sich auf unkonkrete Gemeinschaften und Stichworte beziehen: Und ihr? fragte jemand. Die Ostdeutschen? Ich sagte, denen sei es abgewöhnt worden, privaten Besitz für so heilig zu halten, und auch wenn sie den früheren Staat abgelehnt hätten, neigten viele Ostdeutsche der Meinung zu: Gemeinwohl komme vor Profit. Leiser sagte ich zu John, in diesem unterschiedlichen Verhältnis zum Besitz liege wohl der Kern der vielbeschworenen Spaltung in den Köpfen. (SdE: 130)
Auch dieses Gespräch richtet sich an Mitglieder der jüdischen Community, die entweder selbst Überlebende oder Nachfahren der Shoah-Überlebenden sind. In einem Gespräch über Besitzansprüche²⁶⁴ reflektiert die Protagonistin über ostdeutsche Mentalität. Damit konstituiert sie textuell einen Unterschied zwischen den Westdeutschen und einer Gruppe, die sie als ehemalige Ostdeutsche, die Westdeutsche geworden sind, versteht, weil diese „mit bestem Gewissen der Welt […] Eigentum und Besitz […] zu den höchsten anzustrebenden Werten“ (SdE: 130) rechnen. Da sie das Gewissen auf die Welt schlechthin bezieht, stellt sie aus, dass nicht nur die Westdeutschen diese Perspektive einnehmen, sondern dass diese Wertschätzung für materiellen Besitz ein allgemeines Symptom einer westlichkapitalistischen Welt ist. Unter dem Vorzeichen der Gewalt gegen die Asylsuchenden bleibt die Frage offen, für wen das postulierte Gemeinwohl, das die Ostdeutschen so hochschätzen, zugangsberechtigt ist. Aus Perspektive der Protagonistin spielt dies keine Rolle, da sie nicht auf die negativen Seiten Ostdeutschlands verweist, sondern auf die Schattenseiten des politischen Umbruches: „Die Euphorie der Übergangszeit. Ich wollte die Menschen hier nicht enttäuschen, die erwarteten, daß im vereinten Deutschland jedermann glücklich sein müsse. Nein, von Enttäuschungen stand nichts in ihren Zeitungen. Nichts von Verlusten.“ (SdE: 129) Dass die Ostdeutschen keine Gruppe sind, die die Protagonistin von außen definiert und der sie sich nicht zugehörig fühlt, wird mehrfach deutlich. So während eines Gespräches, in dem ein Ehepaar die Protagonistin zu Rate zieht, ob sie trotz der rechten Gewalt mit einem Kind nach Deutschland übersiedeln sollten: „Ich erschrak. Kam ich denn aus einem barbarischen Land, in das man keine Kinder bringen durfte? Ich sagte, ihre Informationen seien gewiß einseitig, und ich wäre froh, wenn sie kämen.“ (SdE: 130 f.) Sie selbst beschreibt sich, als aus diesem Land kommend. Zwar ist erneut von Deutschland die Rede, die Indikatoren machen jedoch klar, dass es sich um den „Osten Deutschlands“ (SdE: 130) – das Gebiet der ehemaligen DDR − handeln muss.
Hier bleibt unklar, wovon der Rechtsanwalt konkret spricht. Es gibt zwei Möglichkeiten: Ansprüche von Geflüchteten aus der DDR oder/und von Ansprüchen, die noch vor 1945 datieren.
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Gibt es ein Asyl für Obdachlose? Die Protagonistin verdeutlicht an mehreren Stellen, dass sie sich mit diesem neuen Deutschland nicht recht identifizieren kann: Warum hatte ich kein Heimweh, das war doch unnatürlich, ein fremdes Land, dachte es in mir. Ich hatte nicht noch einmal in einem großen Deutschland leben wollen, dachte es weiter, unvernünftig, aber Nachtgedanken haben eine andere Färbung als Taggedanken, vor allem kennen sie alle Schleichwege und undichten Stellen, durch die sie ins Bewußtsein eindringen können, das wehrt sich, aber schwach, mit Gegenfragen, die ich kannte, bis zum Überdruß kannte. Ob ich denn dieses kleinere Deutschland auf Dauer wirklich vorgezogen hätte, mit all seinen Mängeln, ach was, mit seinen Gebrechen und Fehlern, mit dem Keim des Untergangs, den ich doch seit langem schon gespürt hatte. (SdE: 204; Hervorheb. M.K.)
Die Nachtgedanken, die kurz darauf in das Gespräch mit dem befreundeten Psychoanalytiker münden²⁶⁵, referieren auf die Freud’sche Traumdeutung als „Via regia zur Kenntnis des Unbewußten im Seelenleben.“²⁶⁶ Das unpersönliche Es als Subjekt des Satzes verweist noch deutlicher darauf, dass diese Gedanken Teil des unbewussten Es der Freud’schen Topologie sind. Daher kennen diese Gedanken nicht nur die Schleichwege, sondern sind vielmehr auf sie angewiesen, um ins Bewußtsein eindringen zu können. Die Protagonistin lässt die Gegenfragen des Bewusstseins unbeantwortet. Was sich ihr eröffnet, ist der Weg zu ihrem Unbewussten. Ihre Distanzierung zum kleineren Deutschland schließt − trotz der unbeantworteten Fragen − die Identifizierung mit dem Staat aus, sie inkorporiert aber keine Identifizierung mit dem neuen Deutschland. Der Text, der das (individuell) Unbewusste auf seine Oberfläche kehrt, präsentiert direkt im Anschluss hierzu auf struktureller Ebene das Unbewusste der Globalisierung: [E]s hatte keinen Sinn, hoffnungsvoll die Augen zu schließen. Bis ich, im Halbschlaf, das leise Klirren von Flaschen hörte, das war der homeless-Mann, der seinen Sitz an der Ecke der kleinen Straße hinter dem Haus hatte und nachts die Container nach Flaschen absuchte, für die er Pfand kassieren konnte. (SdE: 205)
Es ist bemerkenswert, dass ein Obdachloser in dem Moment auftritt, als die Protagonistin ihre staatliche Obdachlosigkeit ausstellt. Der Versuch einer individuellen Bewusstmachung der eigenen Selbstverortung verschränkt sich mit dem Versuch, den Verdrängungen einer kapitalistische Globalisierung textuell Raum zu geben. Protagonistin und Homeless People nähern sich in den Versuchen an,
Vgl. das Kapitel „Ich steig noch mal runter in diesen Schacht“ – Zur Erinnerungsmetaphorik von Sog und Schacht. Freud: Die Traumdeutung, StA II, S. 577.
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sich im Text Raum zu verschaffen. Die Obdachlosen werden zunehmend zu einem Spiegel der Protagonistin. In den Minima Moralia trägt der 18. Abschnitt, dem Adornos bekanntes Diktum, „[e]s gibt kein richtiges Leben im Falschen“²⁶⁷, entstammt den Titel „Asyl für Obdachlose“²⁶⁸. Dieses Verhältnis reflektiert die Protagonistin, wenn ein Westberliner Autorenkollege sie unter Rückgriff auf Adornos Diktum anklagt: Aber ich mußte mich doch fragen, ob er nicht – gerade er, der zu den Linkesten gehört hatte! – wenigstens seinen Adorno kennen sollte; ob er nicht wissen könnte, daß dieser Satz aus den MINIMA MORALIA, der von allen Medien als Waffe gegen die Intellektuellen in der DDR benutzt wurde, am Ende des 18. Kapitels unter der Überschrift »Asyl für Obdachlose« steht […]. (SdE: 70; Hervorheb. i. Orig.)
Adornos Paragraph handelt vordergründig von der Unmöglichkeit des Wohnens. Während die „traditionellen Wohnungen, in denen wir groß geworden sind, etwas […] Unerträgliches angenommen [haben]“, lassen die neuen Wohnungen nicht einmal mehr die Ruhe des Schlafes, das letzte Refugium des Menschseins, bestehen, sondern haben „mit dem Bett die Schwelle von Wachen und Traum abgeschafft.“²⁶⁹ Dass aber genau jene Schwelle, das Erwachen, zentraler Bestandteil für das wahre Erinnern ist, hat Benjamin im Passagenwerk konstatiert: „Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt. Erwachen ist nämlich die dialektische, kopernikanische Wendung des Eingedenkens.“²⁷⁰ Der Zusammenhang von Erwachen und Erinnerung ist das Aufeinanderbezogensein von Traum- und Wachzustand, das verschiedene Möglichkeiten der Realisierung von Geschichte und Gelebtem verschränkt.²⁷¹ Adorno erwähnt in Asyl für Obdachlose darüber hinaus explizit den real existierenden Sozialismus, in dem sogar generell die „Möglichkeit des Wohnens
Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, A-GS 4, S. 43. Adorno: Minima Moralia, A-GS 4, S. 42. Adorno: Minima Moralia, A-GS 4, S. 42. Benjamin: Das Passagen-Werk, B-GS V, S. 491. Vgl.: „Damit Erwachen als ein dialektischer Umschlag gedacht werden kann, müssen Schlafen und Wachsein ganz genau und eng aufeinander bezogen sein: Erwachen bedeutet in diesem Begriff nicht das Ende irgendeines dumpfen Schlafzustandes und den Anfang irgendeiner anderweitigen Beschäftigung, Erwachen soll hier nichts anderes sein als augenblickliches ZumBewußtsein-Kommen des bisher geträumten Traums. Er wird strikt als Erinnerung aufgefaßt. Inhalt dieser Erinnerung ist der Traum, nichts darüber hinaus, und ihre Form – die allein den abrupten, irreversiblen Charakter des Vorgangs ausmacht – kann keine unversehens von außen aufgeprägte, sondern muß die Form des Gewesenen sein, ganz und gar und doch nur um ein weniges anders.“, Weidmann, Heiner: „Erwachen/Traum“, in: Opitz, Michael / Wizisla, Erdmut (Hrsg.): Benjamins Begriffe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 341– 362, hier S. 342 f.
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[…] vernichtet [wird]“²⁷² − ein Aspekt, den die Protagonistin geflissentlich ignoriert. Der Aphorismus Adornos trägt in einer metaphorischen Lesart zu einem Verständnis bei, wie Stadt der Engel die eigene Welt figuriert. So können sich weder die ehemalige DDR noch die globalisierte Welt als ein Heim erhalten. Vielmehr fordert das kapitalistische System, wie es Adorno beschreibt, Menschen ein, die „allzeit verfügbar und widerstandslos zu allem bereit, alert und bewußtlos zugleich“²⁷³ sind. Adorno pflanzt seinem Text eine Moral ein: „[E]s gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein.“²⁷⁴ Die Konsequenzen, die sich aus einer solchen Moral ergeben, versucht die Protagonistin, produktiv zu lösen. Zu einem gewissen Grad akzeptiert sie diese Selbstentfremdung, was sich besonders deutlich in der Persönlichkeitsspaltung der Erinnerungsszenen ausdrückt. Gleichzeitig versucht sie, ein neues Zuhause zu finden, etwas, das zumindest ein Asyl für ihre Obdachlosigkeit darstellt. Adorno deklariert in Übereinstimmung mit der Protagonistin, dass es denen, die keine Wohnung haben, „[a]m ärgsten ergeht“²⁷⁵. Er entlehnt den Titel seines Aphorismus Asyl für Obdachlose einer Überschrift aus Siegfried Kracauers Studie Die Angestellten. In diesem Kapitel beschäftigt sich Kracauer damit, dass die Angestellten „geistig obdachlos“²⁷⁶ sind. Die geistige Obdachlosigkeit ist, folgt man Kracauer, der Unterschied zwischen den Angestellten und dem ‚klassischen Proletariat‘ und äußert sich in dem Verlust einer ideologischen „Lehre, zu der sie aufblicken, […] ein[es] Ziel[s], das sie erfragen könnten.“²⁷⁷ Kracauer transformiert Lukács transzendentale zu einer geistig-ideologischen Obdachlosigkeit,²⁷⁸ die Adorno adaptiert. Anhand der Frage des Wohnens und der Obdachlosigkeit entfaltet Adorno das Problem der geistigen und ideologischen Situation unter seinen Bedingungen. Stadt der Engel nimmt Adorno vielleicht nicht beim Wort, aber der Text
Adorno: Minima Moralia, A-GS 4, S. 42. Adorno: Minima Moralia, A-GS 4, S. 42. Adorno: Minima Moralia, A-GS 4, S. 43. Adorno: Minima Moralia, A-GS 4, S. 42. Kracauer, Siegfried: „Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland“, in: Ders.: Werke. Bd. 1. Soziologie als Wissenschaft / Der Detektiv-Roman / Die Angestellten, hrsg. von Inka MülderBach, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 211– 310, hier S. 288. Kracauer: „Die Angestellten“, S. 288. In der Theorie des Films verwendet Kracauer zweimal die Formulierung „ideologische Obdachlosigkeit“ bzw. „ideologisch obdachlos“, Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Mit einem Anhang »Marseiller Entwurf« zu einer Theorie des Films, in: Ders.: Werke. Bd. 3, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 90, 444. In Rekurs auf einen Artikel Hofmannsthals legt er an anderer Stelle der Theorie des Films dar, dass darunter etwas ganz Ähnliches, wie in Die Angestellten zu verstehen ist, vgl.: S. 269 ff.
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diskutiert anhand von Obdachlosen in Los Angeles die Frage von realer Obdachlosigkeit und ideologischer Heimatlosigkeit. Da die Protagonistin sich mit jenen Obdachlosen in einem metaphorischen Sinne identifiziert, ihre eigene (scheinbar) staatliche und ideologische Obdachlosigkeit zur Setzung macht, identifiziert sie sich ebenso mit den Intellektuellen der Emigration, die Adorno an anderer Stelle der Minima Moralia als „beschädigt“²⁷⁹ klassifiziert: Der Intellektuelle in der Emigration „lebt in einer Umwelt, die ihm unverständlich bleiben muß […]. Enteignet ist seine Sprache und abgegraben die geschichtliche Dimension, aus der seine Erkenntnis die Kräfte zog […]. All das hinterläßt Male in jedem Einzelnen.“²⁸⁰ Was Adorno als Male bezeichnet, sind die psychosomatischen Erkrankungen der Protagonistin, die deswegen wiederholt den Arzt aufsucht (z. B. SdE: 67, 112, 171). Wie bei Adorno sind auch in Stadt der Engel der Auslöser der Beschädigung und das Bewusstwerden darüber getrennt: „Oft, wenn ich von jenem Ort kam, der Beschädigung dokumentierte und Beschädigung verbreitete und vertiefte, fragte ich mich, ob diese Art Wissen zur Heilung von Wunden führte.“ (SdE: 183; Hervorheb. M.K.) Der Ort, von dem Protagonistin spricht, ist die (ehemalige) Zentrale der Staatssicherheit in der Normannenstraße. Dort nimmt sie nach der Wende Einsicht in ihre Akten.²⁸¹ Die Beschädigung, die sich aus diesen Akten der Stasi ergibt, stammt aus der DDR; der Ort selbst wird durch die Öffnung in der Post-DDR-Zeit betretbar und die Erkenntnis über das Abgraben der geschichtlichen Dimension kann erst in Konfrontation mit dem Neuen virulent werden. In Abgrenzung zu Altem und Neuem versucht die Protagonistin daher, ihrem beschädigten Leben eine neue inhaltliche Füllung zu geben. Dass diese Bestimmung nicht an die DDR selbst gebunden sein kann, wird durch die zahlreichen Distanzierungen deutlich. Es gibt einen Restbestand, der sich aus einer kritischen Bezugnahme auf die DDR speist, wie die Kommentierung der Bezeichnung der historischen Ereignisse deutlich macht: Jüngstes Beispiel [für die Umbenennung historischer Ereignisse; M.K.] dafür sei der Volksaufstand im Herbst 1989, gegen Ende der DDR. Da verfestigte sich die Bezeichnung »Wende«. Und der Staat, dessen Benennung interessanterweise so bald wie möglich, mit ihm zusammen, verschwinden mußte, kam unter den Namen »SED-Diktatur« in die Gazetten, »Unrechtsstaat«. Und im persönlichen Gespräch sagt man heute: »zu DDR-Zeiten«. (SdE: 197)
Adorno: Minima Moralia, A-GS 4, S. 35. Adorno: Minima Moralia, A-GS 4, S. 35. Vgl. das Kapitel Die Macht der Stasi-Akten.
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Die ‚Wende‘ wird deutlich vom Volksaufstand abgegrenzt und an ihre zeitgenössische Herkunft vom „Wendehals [, als] das Verhalten der übereifrigen Anpasser an die revolutionären Zustände“ (SdE: 262), gebunden. Laut Einschätzung der Protagonistin werden so die realen Vorgänge verdeckt: Ob das Wort Revolution 1989 unter euch je gefallen ist, weiß ich nicht mehr, bezweifle es aber. Es wäre euch zu pathetisch vorgekommen. Das Wort, das die Leerstelle besetzte, das eingebürgert wurde, war unangemessen und hatte die Aufgabe, den Charakter der »Ereignisse« zu verschleiern: »Wende«. Was »wendete« sich denn? Und wohin? Was ihr erlebtet, war ein Volksaufstand, der sich die Form friedlicher Demonstrationen gab und das Unterste nach oben schleuderte. (SdE: 90)
Die Verschleierung der Staatsbezeichnung zugunsten einer temporalen Beschreibung sowie die Entpolitisierung und De-Revolutionierung von 1989 wird von der Protagonistin ironisch mit einem interessanterweise quittiert. Dieser Restbestand, der sich aus dem Verhältnis zur DDR ergibt, leitet die Selbstverortung der Protagonistin ein: „wir Ostdeutschen“ (SdE: 111). Dabei ist der Bezug zur DDR vor allem an die Gründergeneration und die antifaschistische Staatsdoktrin gebunden. Hiermit identifiziert sich die Protagonistin und versucht, diesen letzten Restbestand zu retten und in das neue Selbstbild zu transformieren: In diesem neuen Deutschland werden sie [die Verfolgten des Nationalsozialismus; M.K.] dem Vergessen überantwortet. Aber das war es doch, warum ich an dem kleineren Deutschland hing, ich hielt es für die legitime Nachfolge jenes Anderen Deutschland, das in den Zuchthäusern und Konzentrationslagern, in Spanien, in den verschiedenen Emigrationsländern, verfolgt und gequält, schrecklich dezimiert, doch widerstand. (SdE: 347)
Mit dem Blick auf die Literaten des Exils, die als Vorgeschichte der DDR beschrieben werden, soll der Blick des Textes „sich zum Jahrhundertpanorama weiten – und darin die eigene Verletzung, […] kompensieren.“²⁸² Die Kompensation muss als eine Funktionalisierung der Tradition verstanden werden, die für die Identifizierungen weiterhin Bestand hat.
Preußer, Heinz-Peter: „Kritik als Loyalität. Ein Rückblick auf den Legitimationsdiskurs späterer DDR-Literatur ausgehend von Christa Wolfs Stadt der Engel“, in: Eke, Norbert Otto (Hrsg.): „Nach der Mauer der Abgrund“? (Wieder‐)Annäherungen an die DDR-Literatur, Amsterdam / New York: Rodopi 2013, S. 285 – 304, hier S. 294.
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4.2 „Was sind das für Zeiten“ − Bezüge zur Exilliteratur Mit Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Sigmund Freud wurden schon drei Vertreter des ‚anderen Deutschlands‘, die Stadt der Engel intertextuell einflicht, angesprochen. Insbesondere Adorno und Benjamin haben für die Erzählerin den Vorteil als marxistische Philosophen nicht unter dem Verdacht der Kollaboration mit dem DDR-Regime zu stehen, während Sigmund Freud in dieser Hinsicht ohnehin über jeden Verdacht erhaben ist. Die Exilerfahrung, die Stadt der Engel aufruft, unterliegt nicht, wie man zunächst annehmen könnte, einem Paradigma des Vergleiches, sondern einem der Bezugnahme. Die Parallelen, die (wie im Falle des beschädigten Lebens) hergestellt werden, dienen nicht dazu, die eigenen Erfahrungen mit jenen während des Nationalsozialismus gleichzusetzen. Vielmehr soll die Gemeinschaft, die sich im New Weimar unter Palmen konstituiert, als geistesgeschichtliche Vorgeschichte zur Gründung der DDR präsentiert werden. Wie schon im Fall der Obdachlosen liegt die problematische Seite dieses Verfahrens nicht in einer Gleichsetzung, sondern in der Funktionalisierung. Die Wertschätzung der frühen DDR und ihrer dazugehörigen kulturellen Vertreter ist das Erbe alter Identifizierungen, die in den Versuch einer neuen Identifizierung hinübergerettet werden. Wie das Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur in diesem Kontext festhält, ist die Konfrontation mit der Exilerfahrung des Nationalsozialismus eine der Bedingungen der Möglichkeit, über das eigene Selbst nachzudenken: „Sie [die Protagonistin; M.K.] sucht den Ort des biografischen Exils der Anderen auf, um sich dort der Geschichte der eigenen Person zu stellen.“²⁸³ Der Ort, den die Protagonistin durch ihr Stipendium beim Getty-Center betritt, ist Los Angeles. Diese Stadt wird durch ihre Bedeutung für die Emigration während des Nationalsozialismus fast schon mythisch aufgeladen: „Hat es das je gegeben, in der europäischen Neuzeit, daß die geistige Elite eines Landes fast ausnahmslos dieses Land verlassen mußte? Weimar unter Palmen. Wo habe ich das gehört?“ (SdE: 206 f.) Die Protagonistin ignoriert in solchen Aussagen das Wissen darum, dass es ebenso andere Orte des Exils gab (z. B. Sowjetunion, Mexiko) oder dass der Weg nach Los Angeles für viele Emigranten über andere Station (Frankreich, Dänemark etc.) führte. Die Fokussierung auf Los Angeles, das unbestritten eine hohe Konzentration der literarischen und philosophischen Emigranten aufwies,²⁸⁴ ist aber notwendig, da so ein Ort konstruiert wird, der „eine für das eigene Sprechen konstituierende Bedeutung [hat; M.K.], insofern,
Reinhard: „Christa Wolf: »Stadt der Engel«“, S. 607. Vgl. als Überblick: Gumprecht, Holger: „New Weimar“ unter Palmen. Deutsche Schriftsteller im Exil in Los Angeles, Berlin: Aufbau 1998.
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als es das eigene Sprechen ermöglicht“²⁸⁵. Die Protagonistin nimmt vornehmlich bekannte Schriftsteller in den Blick, von denen die Bezugnahme auf Thomas Mann und Bertolt Brecht besonders intensiv ist. Der Bezug auf das Exil wird als Tradition und als Konstitution einer Position des Sprechens verstanden. In partieller Übereinstimmung mit Reinhard bleibt die Frage zu klären, „inwiefern das Exil zu einem Topos der Selbstverortung wird, zu einer Figuration, der sich das Selbst aus einem gefühlten displacement heraus zuwendet, um eine zuvor angefochtene Identität zurückzugewinnen.“²⁸⁶ Wobei anzumerken ist, dass die Identifizierung, die sich aus dem Bezug auf die Exilierten und ihre Texte ergibt, wiederum eine Transformation des alten Selbstbildes ist. Durch die Lektüren der Protagonistin wird deutlich, dass der eigene Aufenthalt in Los Angeles kein Exil ist, sondern vielmehr der Versuch, ein Erbe jener Biographien zu bewahren, das an den Konstitutionen eines neuen ostdeutschen Selbstbildes teilhat.
Einschreibung des Selbst (Fleming) Eine der markantesten Brecht-Konfrontationen tritt gemeinsam mit dem erstmaligen Erscheinen des titelgebenden Overcoat of Dr. Freud und einer ausführlichen Lektüre des Barockgedichtes An sich von Paul Fleming auf: Der Architekt Bob Rice erzählt der Protagonistin die Geschichte, wie der Mantel Sigmund Freuds in seinen Besitz kam und aus seinem Büro einfach wieder verschwand. Der Overcoat, der im Text als eine verdinglichte Allegorie mit oszillierender Bedeutung zwischen Schutz, Analyse und Verschleierung fungiert, soll – so hofft Bob Rice zumindest − nach seinem unerklärlichen Verschwinden „an einen der homeless people geraten sei[n]“ (SdE: 155). Erneut fungieren Obdach- und Heim(at)losigkeit als Reflektoren für die Protagonistin, die jenem Bob Rice nach seinem Bericht erzählt, dass es ihre Absicht sei, ein Buch mit dem Titel „DIE STADT DER ENGEL ODER THE OVERCOAT OF DR. FREUD“ (SdE: 155; Hervorheb. i. Orig.) zu schreiben. Die autoreflexive Erwähnung des Buchtitels, der durch seine Majuskeln als Kapitelüberschrift typographisch deutlich hervorgehoben ist, zeigt, dass die Protagonistin als ‚Obdachlose‘ nun den Overcoat erhalten hat, dessen mehrfache Codierung sie auflösen muss. Auch das unklare Gespräch zwischen der Protagonistin und Rice, in der er ihr „großmütig“ (SdE: 155) gestattet, sich alles zu nehmen, was sie brauche und ihr Eingeständnis, „[d]as wird ein Buch werden, sagte ich, das ich nicht veröffentlichen kann“ (SdE: 155), werden nur als Auto- und Metareflexion verstehbar: Die moralische Absolution, welche die Protagonistin
Reinhard: „Christa Wolf: »Stadt der Engel«“, S. 609. Reinhard: „Christa Wolf: »Stadt der Engel«“, S. 607.
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erfährt, ist die Erlaubnis, verschiedenste Bausteine in diesen Text zu integrieren, die ihr angemessen erscheinen, um die eigene Situation zu charakterisieren. Dies ist die poetologische Annahme, die es dem Text gestattet, über Emigration und Exil während des Nationalsozialismus zu sprechen und im gleichen Atemzug die früheren Sympathien zur DDR mit ihrem antifaschistischen Gründungsmythos zu begründen. Stadt der Engel vollzieht diese impliziten Reflexionen performativ. Denn direkt infolge dieses Gespräches verschränken sich die intertextuellen Verweise zwischen Paul Fleming und Brecht sowie die Topoi von Melancholie und Exil. Das Gedicht An sich des Barockdichters Paul Fleming ist einer der zentralen literarischen Intertexte von Stadt der Engel, der jenseits dieser Passage noch weitere Male im Text erwähnt wird (vgl. z. B.: SdE: 187, 249). Die ausführlichste Kommentierung des Sonetts findet statt, als die Protagonistin auf Wunsch von Bob Rice ein deutsches Gedicht aus einer Anthologie vortragen soll und ihre Wahl auf Fleming fällt. Während nun aber nicht einfach in einem Vortrag das ganze Gedicht wiedergeben wird, werden zunächst jeweils einzeln die beiden Quartette und anschließend (gemeinsam) die beiden Terzette zitiert. Die Strophen werden jeweils nach ihre Einfügung in den Text kommentiert. Dabei sind Kommentare keine Interpretationen der Strophen, sondern eigene Assoziationen, die sich im Kontext der DDR verorten: So beschreibt die Protagonistin nach dem ersten Quartett, wie einst „gleich neben dem Gedicht […] in deiner Schreibtischschublade die kleinen grünen Beruhigungspillen gelegen“ (SdE: 156) hatten, deren Funktion es war, die Differenzen über die Gestaltung der DDR aushaltbar zu machen, denn schließlich hielt sie zu jener (undefinierten) Zeit die Vertreter der DDR „noch für deine Leute“ (SdE: 156).²⁸⁷ Die Assoziation mit dem zweiten Quartett bricht mit der Hoffnung und Naivität, mit denen die Protagonistin sich identifizierte, und mündet in der Erkenntnis: „[D]a wusstest du plötzlich: Nein. Ich will nicht dasselbe wie die. Und das war eine bittere und befreiende Einsicht.“ (SdE: 157). Dass die Assoziationen sich auf die Vergangenheit beziehen, wird nur dadurch deutlich, dass die Protagonistin (wie in allen Erinnerungssequenzen) in die zweite Person Singular wechselt. Da alle anderen Verweise auf den historischen Kontext im Dunkeln bleiben, gewinnen die Erinnerungen zwei Deutungsebenen. Sie sind zum einem im Kontext einer Dissidenz gegenüber der SED und anderen staatlichen Organisationen zu verorten, zum anderen können diese As Dass Gedicht und Beruhigungspillen in einer Schreibtischschublade lagen, ist sicher kein Zufall, sondern zugleich ein Verweis auf ‚das Schreiben für die Schublade‘, das Texten von DDRSchriftsteller immer wieder zufiel, die nicht der offiziellen ideologischen Richtung entsprachen. Gerade im Handlungskontext 1992/93 verweist dies auf den wenige Jahre zuvor veröffentlichten Text, der in einer autobiographischen Lesart als Was bleibt zu identifizieren ist.
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soziationen sich auf die frühen 1990er Jahre und die mehrfach erwähnte Kampagne gegen die Protagonistin beziehen. Die beiden Situationen scheinen zunächst ähnlich, haben für die Entwicklung der Protagonistin jedoch unterschiedliche Konsequenzen. Denn die Erfahrung der Hoffnungslosigkeit, die bis zur Erkenntnis wächst, „daß ihr Gegner wart, unversöhnlich, und daß es keine gemeinsame Sprache und keine gemeinsame Zukunft mehr gab“ (SdE: 161), kulminiert in der Erinnerung an den November 1976. Die Biermann-Ausbürgerung, die als „Ursprung dieses Unheils“ (SdE: 159) bezeichnet wird, bildet das historische Fundament, das die vorige Reflexion im Kontext der DDR verortet. Dass diese sich aber trotz diverser Gemeinsamkeiten von der Situation nach 1989 unterscheidet, zeigt sich an der Bedrohlichkeit der Situation, die sich im Subjekt bemerkbar macht: „Das ist ja Schmerz. Ein beinahe unerträglicher Schmerz um den Verlust. […] Oder war es nicht doch einfach Angst […]? Angst kanntest du ja auch.“ (SdE: 159 f.) Der Unterschied zwischen den Situationen von 1976 und nach 1989 wird daran deutlich, dass sich aus Positionierung zum jeweils vorherrschenden System gänzlich unterschiedliche Konsequenzen ergeben: Während die dissidente Position zur DDR zu einer Isolation führt, die die Protagonistin jede Hoffnung aufgeben lässt, ist Stadt der Engel selbst der performative Versuch für die Post-Wende-Zeit eine neue Hoffnungsperspektive zu erschreiben.²⁸⁸ Deutlich wird dies daran, dass die Protagonistin in ihrer Verzweiflung (historisch unangemessen) die DDR mit dem Nationalsozialismus vergleicht, wenn sie festhält, dass die Ausbürgerung sie an „die finsteren Zeiten in Deutschland erinnere“ (SdE: 160). Der angesprochene Verlust einer gemeinsamen Sprache zwischen den Vertretern der DDR und der Protagonistin zeigt, dass die Protagonistin sich nicht in eine Exilsituation einschreiben will. In Bezug auf das Exil heißt es, wie bereits erwähnt, bei Adorno: „Enteignet ist seine [des Exilierten; M.K.] Sprache“²⁸⁹ Adorno bezeichnet den Sprachverlust als einen gewaltsamen Akt, in dem der Exilierte ein passives Objekt wird, während die Protagonistin konstatiert, dass die gemeinsame Sprache verschwunden ist und damit keine aktive oder passive Seite bestimmt. Schon hieran zeigt sich der Zugang zum Exil in Stadt der Engel. Der Text kommt fortwährend auf dieses Thema zurück, da die Ähnlichkeiten offensichtlich sind. Durch den Gestus der Funktionalisierung will sich die Erzählerin gegen den Vorwurf der Einreihung in eine Tradition des Exils immunisieren. Die Ereignisse von 1976 werden von der Protagonistin als „einer der Wendepunkte in meinem Leben“ (SdE: 163) charakterisiert, deren Wirkung noch über die Ereignisse von 1989 hinausweist. Damit verschränkt die Erzählerin Exilzeit, die DDR-Zeit und die
Vgl. das Kapitel „Auferstanden aus Ruinen“ – Eine Engel bringt die Utopie. Adorno: Minima Moralia, A-GS 4, S. 35.
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Nachwende-Zeit, ohne diese gleichsetzen zu wollen, sondern immer im Bewusstsein ihrer historischen Einmaligkeit. Nachdem die Protagonistin die beiden Quartette mit ihren assoziativen Erinnerungen kommentiert, werden die beiden Terzette zusammen zitiert. Die Lektüre der Protagonistin richtet sich auf das letzte Wort des Gedichtes: „untertan“²⁹⁰. Dieses erregt ihre Aufmerksamkeit, da sie schon die Verwendung dieses Wortes ablehnt. Auch die Diskussionsrunde, der sie das Gedicht vorträgt, wendet sich lediglich den letzten beiden Versen zu: „Wer sein selbst Meister ist und sich beherrschen kann,/ Dem ist die weite Welt und alles untertan.“²⁹¹ Das erhitzte Gespräch diskutiert, inwieweit jene Perspektive spezifisch deutsch sei: „Typisch deutsch, sagte Francesco. Erst wollt ihr euch selbst, dann gleich die ganze Welt beherrschen, und Karl, der Fotograf, sagte »untertan«, sei dasjenige deutsche Wort, das er am meisten hasse, vielleicht sei er dieses Wortes wegen aus Deutschland weggegangen.“ (SdE: 157) Obwohl Karl und die Protagonistin eigentlich in der Kritik am Wort untertan übereinstimmen, verteidigt die Protagonistin zumindest den ersten Halbsatz: „Ja, aber, sagte ich, sich selbst beherrschen sei doch nicht tadelnswert! Eben doch! schrie Francesco. Eure Selbstunterdrückung bringt ja das ganze Unglück hervor!“ (SdE:157) Der Text reichert sich erneut mit unmarkierten Zitaten aus Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung an. Dort wird die Selbstdisziplinierung, die sich prototypisch an der Festkettung des Odysseus am Mast seines Schiffes manifestiert, der Beginn einer Entwicklung von Selbstunterwerfung und Selbstermächtigung, deren dialektisches Verhältnis fast zwangsläufig zum Totalitarismus des Nationalsozialismus führt und überdies das selbstidentische Ich begründet.²⁹² In der vordergründigen Diskussion über ein barockes Gedicht wird sowohl die Gefahr von unreflektierter Identität besprochen als auch die Zeit des Nationalsozialismus thematisch eingeholt, wobei letzteres kurz darauf explizit thematisiert wird.²⁹³ Stadt der Engel schreibt sich nicht einfach in eine literarische Tradition ein, sondern schreibt das Leben der Protagonistin in das Gedicht, wenn die Interpretation zugunsten der Assoziation mit dem Leben in der DDR verweigert wird.
Meid, Volker (Hrsg.): Gedichte des Barock, Stuttgart: Reclam 2014, S. 64. Meid: Gedichte des Barock, S. 64. Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 40 f. „Ich behauptete, das eine sei ohne das andere nicht zu haben: Unglück, Trauer seien das Unterfutter von Dr. Freuds overcoat, Francesco aber wollte Lebensfreude und Lebensmut und Selbstbehauptung pur, ohne den Schatten der Melancholie, des Scheiterns und des Versagens. Also ohne den Hintergrund der deutschen Geschichte, sagte ich.“ (SdE: 157 f.).
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Thomas Manns Tagebücher und der antifaschistische Gründungsmythos Es ist wenig verwunderlich, wenn Stadt der Engel die Emigration mit einer doppelten Perspektive in den Blick nimmt: Nach einem Traum der Protagonistin, sie berichtet von einer erzwungenen Emigration infolge der Währungsunion 1990, ergänzt sie die realen Fluchtgedanken, die ihr nach dem Erwachen wieder präsent werden: Und ich erinnerte mich beim Erwachen unserer Fahrten über Land, wenn du, den Atlas auf den Knien, das Land suchtest, in dem ihr Zuflucht finden könntet, und dieses Land nicht fandest und ihr euch beide spöttisch an Brechts Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus erinnertet (Wirklich, Freunde, / Wem der Boden noch nicht so heiß ist, daß er ihn lieber / Mit jedem andern vertauschte, als daß er da bliebe, dem / Habe ich nichts zu sagen), und du eines Tages, nach einigem Blättern im Atlas, schließlich: Straßburg! riefst: Nicht Deutschland, doch deutsche Sprache. Aber insgeheim wußtest du, das war ein Spiel. (SdE: 159)²⁹⁴
Die Erinnerung an Szenen, in der die Protagonistin über mögliche Fluchtorte nachdenkt, wird durch einen Ausschnitt aus dem Gedicht Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus illustriert. Dieses Gedicht Brechts, das erstmals in den Svendborger Gedichten erschien, die ursprünglich den Titel Gedichte im Exil trugen,²⁹⁵ wird an dieser Stelle funktionalisiert, um die eigenen Gedanken über die Flucht in einen Gegensatz zum Exil während des Nationalsozialismus zu setzen. Dies geschieht auf verschiedenen Ebenen: zum einen, da das Gedicht an dieser Stelle explizit die Emigration bzw. die Nicht-Emigration thematisiert, zum anderen, weil es selbst Teil der historischen Exilliteratur während des Nationalsozialismus ist; in dritter Instanz, weil der Text die Notwendigkeit der eigenen Flucht fast ins lächerliche zieht, bezeichnet die Protagonistin die Gedanken an Brechts Gedicht als spöttisch und spricht vom Spiel. Der Bezug auf die Exilliteratur liegt in der Identifizierung mit dem, was an anderer Stelle als das „Andere Deutschland“ (SdE: 347) bezeichnet wird. Durch die Staatdoktrin war der Antifaschismus ein mythisierter Bezugspunkt, der als Legitimation für die Gründung der DDR herangezogen wurde: „In der DDR bildete der Bezug auf den Widerstand der Arbeiterbewegung, insbesondere der Kommunisten, gegen Hitler und den ‚Hitlerfaschismus‘, wie es hieß, um das Wort Natio-
Dieser Traum ist eine der autoreflexiven Bezugnahmen. Er findet sich fast wortwörtlich in Ein Tag im Jahr, vgl.: Wolf: Ein Tag im Jahr, S. 528. Vgl.: Brecht, Bertolt: Gedichte 1, in: Ders.: Ausgewählte Werke. Bd. 3, ausgewählt und kommentiert von Jan Knopf Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 465.
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nalsozialismus zu vermeiden, den Kernbestand des Gründungsmythos […].“²⁹⁶ Der Gründungsmythos der DDR, der Bezug auf den Widerstand während des Nationalsozialismus, wurde aber aktualisiert und in eine Kontinuität zur Konfrontation zur BRD gebracht, in der als „Rechtsnachfolgeschaft des Deutschen Reiches“ die „faschistische Gefahr“²⁹⁷ fortbestand: „Dabei wurde das Bild eines kontinuierlichen Kampfes gegen den Faschismus entworfen, in dessen Tradition die DDR sich stellte.“²⁹⁸ Die Protagonistin sieht sich zumindest in der Tradition, die das Erbe dieses Antifaschismus bewahren will. In der eigenen Narration kommt den Schriftstellern und Schriftstellerinnen ein starkes Identifizierungspotential zu. Viele gehören zur antifaschistischen Gründergeneration der DDR und werden von der Protagonistin als Spiegel- und Bezugspunkte gebraucht. Zum einen sollen sie verständlich machen, warum die Protagonistin, wie ein großer Teil der thematisierten Exilliteraten – eine Ausnahme bildet Thomas Mann −, an das Projekt DDR glaubten, und zum anderen stehen sie für das ein, was im wiedervereinigten Deutschland bewahrt werden soll. Der antifaschistische Gründungsmythos erfüllt wie jeder politische Mythos drei Funktionen: Die Reduktion vielfältiger sozialer Bezüge und Bindungen, die Reduktion von Komplexitäten und die Reduktion von Kontingenz.²⁹⁹ Dabei ist die erste Funktion für die Ausbildung einer „Identitätsund Loyalitätskonstitution“³⁰⁰ verantwortlich. Dies transformiert die Protagonistin durch die Funktionalisierung des Exils, um so neue Identifizierung nach 1989 beschreiten zu können, die frühere Identifizierungen inkorporieren. Das Verhältnis, das zum historischen Exil aufgebaut wird, bleibt zweischneidig. So unterliegt Stadt der Engel einem Paradigma der Bezugnahme, das versucht, sich dem Vergleich und der Gleichsetzung zu entziehen: Wie lebt man in einer Diktatur? Das Wort, auf unsere Verhältnisse bezogen, kam mit der »Wende«. Was eine Diktatur ist, glaubte ich ja zu wissen, bis ich sechzehn wurde, hatte ich sie erlebt, sie war unvergleichlich, dachte ich, mit den späteren vier Jahrzehnten, die ich auch erlebt hatte, und wehrte mich gegen die Gleichsetzung. Aber die Frage begleitete mich: Wie lebt man in einer Diktatur? (SdE: 233)
Nichtsdestotrotz wird das Exil der während des Nationalsozialismus emigrierten Schriftsteller funktionalisiert. Das Exil wird so figuriert, damit sich die Protago-
Münkler, Herfried: „Der Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR“, in: Brandt, Reinhard / Schmidt, Steffen (Hrsg.): Mythos und Mythologie, Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 221– 236, hier S. 225. Münkler: „Der Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR“, S. 228. Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin: Rowohlt 2009, S. 423. Münkler: „Der Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR“, S. 223. Münkler: „Der Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR“, S. 223.
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nistin daran abarbeiten kann, wie sich in Bezug auf den Schriftsteller Leonhard Frank zeigt. Während eines Gespräches mit dem deutschen Maler Manfred (vgl.: SdE: 302) verliert sich die Protagonistin in einer Erinnerung an ein Treffen mit Frank in den 1950er Jahren und präsentiert einige Anekdoten über seine Exilerfahrung (vgl.: SdE: 303). In den Gedächtnisrecherchen springt die Ebene von der Erinnerung der Protagonistin zur Erzählerin, wenn diese – während des Aktes des Schreibens – einen passenden Ausschnitt Leonhard Franks findet: Und soeben, mehr als fünfzehn Jahre danach, finde ich in Leonhard Franks Lebensbericht »Links wo das Herz ist« die Schilderung jenes Zustands, in den das Exil den Emigranten versetzt: Jetzt gab es kein Zurück mehr. Dieses lähmende Bewußtsein begleitete ihn siebzehn lange Jahre Tag für Tag, … daß es kein Zurück mehr gab nach Deutschland, in seine Werkstatt, sein Leben, in seine Landschaft, mit der er sich eins fühlte, als wäre er ein Teil von ihr. … Sein Leben war nicht mehr sein Leben. Es war mitten entzweigebrochen. (SdE: 304)
Der vergangene Zeitraum zwischen den erstmaligen Gedanken an Frank in L.A. und dem Berichten darüber (›mehr als fünfzehn Jahre‹) sowie die Dauer des Frank’schen Exils (›siebzehn Jahre‹) korrespondieren durch die nahezu ähnliche Jahreszahl miteinander.³⁰¹ Wie für Frank gibt es für Protagonistin und Erzählerin kein Zurück mehr; zumindest nicht in das Deutschland, aus dem man einst kam. Ohne dass der Text eine explizite Parallelisierung vollzieht, werden die Erfahrungen in ein Verhältnis gesetzt, um sie im nächsten Moment einzuholen, wie das folgende Gespräch mit Manfred und dessen Freundin Jane zeigt: „Ich müsse wissen, ihre [Janes; M.K.] beiden Eltern seien deutsche Juden, die verschiedene KZs überlebt hatten und sich nach dem Krieg in einem der Lager für displaced persons getroffen hätten.“ (SdE: 304 f.) Gerade der Bezug auf die Verbrechen während des Nationalsozialismus, der kompositorisch so eng angeschlossen ist, modifiziert die scheinbaren Parallelen durch die Erinnerung an die Brutalität des Nationalsozialismus. Der Text braucht nicht die Protagonistin oder Erzählerin als (aktiv) reflektierende Instanzen einzusetzen, um die Distanz zu veranschaulichen, die aufgrund der unvergleichlichen Leiden zwischen der Protagonistin und der jüdischen Community in L.A. bestehen. Jane formuliert ihre Familiengeschichte als ein pars pro toto für die Dramatik, die in allen Geschichten überlebender Juden und Jüdinnen liegt: „Ihr [Janes; M.K.] Vater habe vorher schon Familie, Frau und Tochter, gehabt, die umgebracht worden seien. Ich glaube, sagte Jane, er hat niemals wirklich mich lieben können, er hat immer hinter mir seine tote erste Tochter gesehen. Kannst du dir vorstellen, was das für ein Kind bedeutet?“ (SdE:
Nimmt man die zwei Jahre, die 1992 seit der ‚Wiedervereinigung‘ vergangen sind, hinzu, kommt man genau auf die 17 Jahre des Frank’schen Exils.
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305) Die Drastik dieses Berichts wird als direkte Rede einer Figur und nicht als Reflexion der Erzählerin eingefügt, um den Betroffenen selbst Stimme zu verleihen und den Exilierten sowie den Opfern des Nationalsozialismus posthum Raum zu geben. Es werden nicht nur die Exilbiographien der vielen Exilierten, „Brecht. Feuchtwanger. Thomas Mann. Heinrich Mann. Hanns Eisler. Arnold Schönberg. Bruno Frank. Leonhard Frank. Franz Werfel. Adorno. Berthold Viertel“ (SdE: 208), bemüht, sondern die Protagonistin bezieht sich produktiv auf Texte, die in dieser Zeit entstanden sind: EIN SOG GING VON DIESEN BÜCHERN AUS Noch einmal gerate ich in diesen Sog, indem ich mich in die Bücher vertiefe, welche die Emigranten später, sich erinnernd, nach ihrer Rückkehr ins Nachkriegsdeutschland oder eben nach ihrer Nicht-Rückkehr geschrieben haben. […] Ludwig Marcuse und Leonhard Frank und Curt Goetz und Carl Zuckmayer, Marta Feuchtwanger und Erich Maria Remarque […]. (SdE: 345; Hervorheb. i. Orig.)
Neben Bertolt Brecht ist Thomas Mann für die Protagonistin die zweite große Referenz. Sie zitiert wiederholt aus den Tagebüchern Manns und spricht über den Doktor Faustus. In den eher allgemein gehaltenen Besprechungen des Doktor Faustus wird dieser weniger als literarisches Einzelwerk, denn als paradigmatischer Vertreter der Exilliteratur eingeführt. Deutlich wird dies an der Diskussion zwischen der Protagonistin und einem Literaturwissenschaftler: Unvermutet mußte ich mich an diesem Abend noch streiten mit einem Germanistikprofessor, der den »Doktor Faustus« als »Allegorie auf den NS-Staat« bezeichnete. Ich mußte darauf bestehen, daß es sich um eine viel tiefergehende Deutung deutschen Wesens aus der Geschichte und der Verstrickung deutscher Intellektueller und Künstler in das Unheil handelte, in das diese Geschichte mündete. (SdE: 209)³⁰²
Die Diskussion über Manns Text führt die Protagonistin erneut in das Themenfeld Nationalsozialismus und Exil, das sie in einem reflektierenden Selbstgespräch − wiederum angeregt durch die Lektüre des Tagebuches Manns³⁰³ − vertieft. In dem
Im Doktor Faustus ist zweimal vom „deutschen Wesen“ die Rede,vgl.: Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, in: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd. 10.1, hrsg. von Ruprecht Wimmer, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2007, S. 174, 447. Schon an dieser Stelle wird der Tagebucheintrag um den im Kommentar (des von Inge Jens herausgegebenen Bandes) aufgeführten Brief Herbert Marcuses ergänzt, in dem dieser Mann verteidigte und trotzdem aufforderte, seine (politische) Vergangenheit einzuordnen, vgl. zum Eintrag: Mann, Thomas: Tagebücher 1944−1.4.1946, hrsg.von Inge Jens, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1986, S. 131. Zum Brief Marcuses, vgl.: S. 532.
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Selbstgespräch setzt sich die Protagonistin mit einem Artikel auseinander, in dem Thomas Mann aufgrund seiner Vergangenheit angegriffen wird: Gemeint ist jene »Vergangenheit«, die Thomas Mann in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« dokumentiert hat. Die holte ihn nun also, immer noch als Mahnung, nach seiner Emigration, nach all seinen Rundfunkreden an das deutsche Volk, mitten in der Arbeit an der vielleicht schonungslosesten Auseinandersetzung mit der »Schuld der deutschen Intellektuellen« im »Doktor Faustus« ein. (SdE: 210)
Es ist offensichtlich, dass die Protagonistin sich zu Mann ins Verhältnis setzt. Die ‚Verfehlungen‘ des jüngeren Thomas Mann werden dem alten trotz aller seiner Verdienste als Gegner des Nationalsozialismus − einschließlich des Doktor Faustus − vorgehalten.³⁰⁴ Ähnlich ist das Gefühl, welches die Protagonistin hat und das sie in dem Verhältnis von Opfer- und Täterakten ausstellt: „[Z]weiundvierzig Aktenbände [… zu; M.K.] einem dünnen grünen Aktendeckel“ (SdE: 185). Im Kontext eines erneuten Rückgriffs auf den Doktor Faustus (vgl.: SdE: 272) spricht die Protagonistin nicht ausschließlich über den politischen Thomas Mann, sondern ebenso über dessen Homosexualität, indem sie den Tagebucheintrag vom 4.12.1949 zitiert: In diesen Tagen viel leidende Begierde und Nachsinnen über ihr Wesen und ihre Ziele, über erotische Begeisterung im Streit mit der Einsicht in ihr Illusorisches. Das höchste Schöne, behauptet als solches gegen eine Welt, ich würde es nicht anrühren wollen. … Über das alles bekennend zu schreiben, würde mich zerstören. (SdE: 271; Hervorheb. i. Orig.)³⁰⁵
Thomas Manns Reflexionen zu seinem Verhältnis zur Begierde, in denen er eine Selbstzerstörung bei Enthüllung andeutet, ist im Moment ihrer Formulierung – also dem Selbstbekenntnis, das zur Zerstörung führen würde, − ein performativer Widerspruch. Die Protagonistin reflektiert über diese Gedanken auf zwei Ebenen, wenn sie einen Teil als Schreibmaschinentext tippt und in den Text einfügt und zum anderen als anschließende Gedankenrede:
Schöning versteht die Bezugnahme auf Thomas Mann als eine biographische Parallelisierung zwischen diesem und Christa Wolf während des sogenannten Literaturstreites, vgl. hierzu: Schöning, Matthias: „Untergründige Koinzidenz. Christa Wolf, der ‚Deutsch-deutsche Literaturstreit‘ und die Bezugnahme auf die ‚Große Kontroverse‘“, in: Eke, Norbert Otto (Hrsg.): „Nach der Mauer der Abgrund“? (Wieder‐)Annäherungen an die DDR-Literatur, Amsterdam / New York: Rodopi 2013, S. 265 – 284, hier S. 281. Vgl.: Mann, Thomas: Tagebücher 1949−1950, hrsg. von Inge Jens, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2003, S. 134.
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NUN IST JA SCHREIBEN EIN SICH-HERANARBEITEN AN JENE GRENZLINIE, DIE DAS INNERSTE GEHEIMNIS UM SICH ZIEHT UND DIE ZU VERLETZEN SELBSTZERSTÖRUNG BEDEUTEN WÜRDE, ABER ES IST AUCH DER VERSUCH, DIE GRENZLINIE NUR FÜR DAS WIRKLICH INNERSTE GEHEIMNIS ZU RESPEKTIEREN UND DIE DIESEN KERN UMGEBENDEN, SCHWER EINZUGESTEHENDEN TABUS NACH UND NACH VON DEM VERDIKT DES UNAUSSPRECHLICHEN ZU BEFREIEN. NICHT SELBSTZERSTÖRUNG, SONDERN SELBSTERLÖSUNG. DEN UNVERMEIDLICHEN SCHMERZ NICHT FÜRCHTEN. Oder die Furcht überwinden. Ein heute junger Thomas Mann, dachte ich, müßte nicht davor zurückschrecken, seine homoerotischen Neigungen zu bekennen, nur scheinen sie auch nicht sein eigentlich »innerstes Geheimnis« gewesen zu sein. Nicht lieben können, nicht lieben dürfen ist der Fluch über dem Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, dessen Nähe zu sich selbst Thomas Mann nie geleugnet hat. (SdE: 271 f.; Hervorheb. i. Orig.)
Der Text erzeugt eine Parallele, da nicht Manns Homosexualität, sondern seine Unfähigkeit zur Emotionalität das innerste Geheimnis darstellt, während für die Protagonistin die innere Problemstellung sich nicht auf die Tätigkeit für die Staatssicherheit erstreckt, sondern auf das Vergessen derselben. Ihr Versuch, sich an dieses Geheimnis heranzuarbeiten, wird mit dem Dilemma Manns verknüpft. Der Bezug auf dessen Roman präsentiert eine Lösung, die bei Mann zur Selbsterlösung wird. Dabei formuliert die Protagonistin die poetologisch-performative Aufgabe, die Stadt der Engel leistet, wenn ihr Ziel ist, das eigene Geheimnis zu lüften und (auch für sich selbst) zu enttabuisieren. Die Protagonistin braucht die Konfrontation mit dem großen Schriftsteller, der Vorbild und Kollege gleichermaßen ist. In der Reflexion über dessen Probleme findet sie Antworten auf die eigenen Fragen, die auf der Ebene der histoire Erkenntnisse nachliefern, um welche die Lesenden bereits wissen. Dass die Lesenden trotzdem an dem Erkenntnisprozess der Protagonistin anteilhaben, entindividualisiert die Lektüreerfahrung, wenn das textintern vollzogene Schema als Leseanleitung für die Rezipierenden präsentiert wird. Es ist weder Zufall noch das persönliche Schicksal Thomas Manns, dass die Wahl auf ihn fällt. Vielmehr hängt dies mit der spezifischen Verortung Manns durch die Protagonistin zusammen. Denn wie ihre Aussagen oben angedeutet haben, liest sie Mann nicht als den bürgerlich-konservativen Schriftsteller aus den Betrachtungen eines Unpolitischen. Sie bezieht sich stattdessen auf die späteren Tagebücher des kalifornischen Exils, um seine antifaschistischen und dezidiert nicht antikommunistischen Positionen hervorzuheben. Die Tagebucheinträge von 1949, dem Jahr der Gründung der beiden deutschen Staaten und der doppelten Goethe-Preis-Verleihung an Mann, bilden das Zentrum der Bezugnahme.Verschiedene Bewertungen Thomas Manns porträtieren ihn, wie er mit Sympathie für die DDR und den gesamten Ostblock spricht. So zitiert die Protagonistin eine Notiz Manns zu dessen Auseinandersetzung mit Goethe im
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Kontext der Preisverleihung „Ich bin nicht absolut sicher − es ist nur Argwohn, aber ich will ihn aussprechen −, ob nicht heute Goethe’s Blick eher auf Rußland gerichtet wäre, als auf Amerika.“ (SdE: 126; Hervorheb. i. Original) Dieser Satz ist nicht in dem eigentlichen Tagebucheintrag enthalten, sondern wurde von Mann gestrichen und ist dementsprechend in der kommentierten Fassung der Tagebücher nur in den Anmerkungen zu finden.³⁰⁶ An dieser Komposition zeigt sich das Bemühen von Stadt der Engel, ein bestimmtes Bild Thomas Manns zu präsentieren.³⁰⁷ Weitere Zitate, die in Stadt der Engel eingefügt werden, schließen an diese Art der Präsentation an: „Nachmittags einstündige Rede Churchills in Boston […] Verherrlichung des Cold War, banale Russenhetze“. (SdE: 134)³⁰⁸ Das Porträt der undogmatischer Position Manns zwischen den ideologischen Blöcken nutzt die Protagonistin, um ihn als Teil einer nicht von den politischen Verwicklungen des real existierenden Sozialismus inkriminierten Exilliteratur zu funktionalisieren, wie Bomski feststellt: „Christa Wolf wirbt gewissermaßen mit Thomas Mann um einen historisch gerechten Blick auf die frühe Phase der DDR-Geschichte, die prospektiv offen war und dezidierten Nicht-Kommunisten eine alternative Gesellschaftsordnung zu bieten schien.“³⁰⁹ Die Thematisierung der Observation Thomas Manns durch die amerikanischen Geheimdienste wegen „verfrühtem Antifaschismus“ (SdE: 217) ist ebenso dieser Logik zuzurechnen. Die Funktionalisierung wird in der Diskrepanz zwischen dem Zeitraum der zitierten Tagebucheinträge und der Motivation, warum die Protagonistin sich mit Mann auseinandersetzt, offensichtlich: „Ich fing an, die Tagebücher von Thomas Mann zu lesen, die er an diesem Ort, wenige Kilometer vom MS. Victoria entfernt, als Emigrant geschrieben hatte. (SdE: 74) Die Protagonistin stellt eine Verbindung zwischen ihrem Aufenthaltsort und dem Exil Manns her. Die räumliche Nähe fungiert zwar als motivationales Bindeglied, selbst wenn hauptsächlich nicht die Tagebucheinträge der Exilzeit während des Nationalsozialismus bemüht werden, sondern vornehmlich aus dem Tagebuch von 1949 zitiert wird. Nur vordergründig verweist Stadt der Engel auf die Exilzeit und funktionalisiert dagegen vermehrt Manns durchaus positive Einschätzungen,
Vgl. hierzu auch: Mann: Tagebücher 1949 – 1950, S. 356. Ähnliches wiederholt sich, als die Protagonistin einen Eintrag zitiert, der sich auf einen Brief Manns bezieht, wobei der Inhalt des Briefes wiederum ebenfalls in den Anmerkungen zu finden ist, vgl.: Mann: Tagebücher 1949 – 1950, S. 114, 471 f. sowie: SdE: 168 f. Vgl.: Mann: Tagebücher 1949 – 1950, S. 43. Bomski, Franziska: „‚Moskauer Adreßbuch‘. Erinnerung und Engagement in Christa Wolfs ‚Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud‘“, in: Gansel, Carsten (Hrsg.): Christa Wolf − Im Strom der Erinnerung, Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 257– 279, hier S. 263.
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um die Aufbruchstimmung, die mit der Gründung der DDR verbunden war, aus einer ideologisch unverdächtigen Position zu illustrieren.
Zwischen antifaschistischen Helden und Brechts Exil Bertolt Brecht spielt für die Idealisierung der Frühphase der DDR eine noch wichtigere Rolle als Thomas Mann. Anhand der Auseinandersetzung mit Brecht werden zwei weitere DDR-Dichter besprochen: Kurt Barthel (KuBa) und Louis Fürnberg. Beide werden sowohl gegeneinander als auch gegen Brecht ausgespielt. Die Protagonistin erklärt in Rekurs auf den antifaschistischen Gründungsmythos explizit die Sympathie, die sie für die Gründung der DDR hatte: Und wie lange haben wir, habe ich mich an Angebote geklammert, die versprachen, das ganz Andere zu sein, der reine Gegensatz zu diesen Verbrechen, eine menschengemäße Gesellschaft, Kommunismus. Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen / Aber wir wissen: Er ist das Ende der Verbrechen. (SdE: 82)
DDR und Kommunismus werden in Opposition zum Nationalsozialismus gebracht, wobei die Verse aus Brechts Lob des Kommunismus als literarischer Beleg gelten, der die damalige Identifizierung mit der DDR glaubwürdig absichern soll.³¹⁰ Nach einem kurzen Intermezzo (ein Telefonat mit Peter Gutman) kommt der Protagonistin das Gedicht Sagen wird man über unsere Tage des DDR-Lyrikers Kurt Barthel (KuBa) in den Sinn (vgl.: SdE: 82)³¹¹. Sowohl dieses als auch KuBas Loblied auf Stalin Gori (SdE: 83)³¹² spielen weniger eine Rolle als die Person des DDR-Dichters. So erklärt die Protagonistin: „Der Dichter KuBa, der sie [die Verse; M.K.] einst schrieb, hatte an sie geglaubt und uns an sie glauben gemacht […]“ (SdE: 83) Die Auseinandersetzung mit der Person KuBas gewinnt durch die Ereignisse rund um den 17. Juni 1953 weitere Bedeutung: Denn während KuBa den
In Stadt der Engel wird das Lob des Kommunismus anders als im Original angeordnet: Der Text gibt zwei Verse an, während es in der Brecht-Version drei Verse sind („Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen / Aber wir wissen: / Er ist das Ende ihrer Verbrechen“), Brecht: Gedichte 1, S. 234. Vgl.: KuBa [Barthel, Kurt]: Nun fügt euch, Worte. Gedichte aus dreißig Jahren, in: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Hans Joachim Bernhard, Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1987, S. 84. Die Protagonistin spielt auf den Band von Herbert Otto an und zitiert das Gedicht KuBas, vgl.: Otto, Herbert: Mutter von Gori, wie groß ist dein Sohn, Berlin: Kultur und Fortschritt 1952; KuBa [Barthel, Kurt]: Gedichte, Berlin: Volk und Welt 1952, S. 129.
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Aufstand in der DDR verurteilte, wandte sich Brecht in seinem Gedicht Die Lösung aus der Sammlung Buckower Elegien ³¹³ gegen die Regierung: Heute kennt man ihn [KuBa; M.K.] nur noch als denjenigen, der nach dem 17. Juni 1953 das aufmüpfige Volk strafend zurechtwies: Nun müsse es aber viel arbeiten, um diesen seinen Fehler gegenüber der Regierung wieder gutzumachen. Und man kennt ihn wegen der Antwort, die Brecht ihm versetzte: Dann solle die Regierung sich doch ein anderes Volk wählen. (SdE: 84)
Die Bevorzugung des undogmatischen Brecht gegenüber dem dogmatischeren KuBa wird in einer anderen Konstellation ähnlich wiederholt: Denn die Protagonistin spielt die unterschiedlichen Bewertungen der Entstalinisierung durch Louis Fürnberg und KuBa gegeneinander aus (vgl.: SdE: 86), wobei sie erneut dem – in ihrer Deutung − undogmatischeren Fürnberg zuneigt. Für die Protagonistin haben die Deutungen der Texte Brechts und der Personen KuBa und Fürnberg eine zweifache Funktion. Denn zum einen rechtfertigt sie die eigene frühere Perspektive. Dies zeigt sich im Text an mehreren Stellen, so etwa in der (von der Protagonistin selbst so bezeichneten) „Gefängnisanekdote“ (SdE: 219), in der die Protagonistin von einer Verhaftung bei der Unterstützung des Wahlkampfes des Westberliner SED-Ablegers Anfang der 1950er Jahre berichtet. Nach dem Abschluss dieser Geschichte beurteilt sie ihr eigenes Handeln retrospektiv: „Wäre »dogmatisch« das richtige Wort, frage ich mich, um die Person zu kennzeichnen, die du damals warst? Kompromißlos. Konsequent. Radikal. Das wären auch so Worte, die mir einfallen. Und vor allem: Im Besitz der Wahrheit, was ja unduldsam macht.“ (SdE: 228) Neben der eigenen Verortung wird zum anderen der Bezug zu undogmatischen Emigranten deutlich, die als Konstante zwischen dem früheren Selbst und der neuen Identifizierung fungieren: Andere Trauerzüge tauchen vor meinen Augen auf, zu viele Dichter, die aus der Emigration zu uns zurückgekommen waren, starben in einem Jahrzehnt, fast alle an »gebrochenem Herzen«, altmodisch ausgedrückt: […] F. C.Weiskopf, Bertolt Brecht, Johannes R. Becher […], Wieland Herzfelde, Helene Weigel, Anna Seghers, Hans Mayer, um bei dieser Generation zu bleiben. So viele Namen. So viele Geschichten. Wer wird sie erzählen? Wer würde sie noch hören wollen? Lustig würden sie nicht sein, diese Geschichten, und gewiß nicht ohne Fehl und Tadel. Irrtümer? O ja. Fehlgriffe? Auch die. Heldentaten? Auch das. Aber keine Heldengeschichten, sie selbst hätten sie nicht gewollt. Und als die »große Sache« vor ihren Augen zusammenbrach, reagierten sie jeder und jede auf seine oder ihre Weise: mit Verzweiflung, mit Abwehr, mit Depression, Wut und Schweigen, mit Leugnung der Tatsachen, mit Selbsttäuschung. (SdE: 86 f.)
Bei Brecht heißt es: „[…] Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf, und / Wählte ein anderes?“, Brecht: Gedichte 1, S. 404.
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Dass sich Protagonistin und Erzählerin mit einer diffusen Gemeinschaft identifizieren bzw. zumindest identifiziert haben, für welche die Namen der Intellektuellen paradigmatisch stehen, wird an ihrem Selbstkommentar deutlich. Die Protagonistin, welche die Notwendigkeit eines Scheiterns anerkennt, lässt die Beziehung, die sie zu den Exilliteraten aufbaut, noch stärker wirken: WIE SOLL ICH IHNEN ERKLÄREN, DASS MICH KEIN ANDERES FLECKCHEN ERDE AUF DIESER WELT SO INTERESSIERTE WIE DIESES LÄNDCHEN, DEM ICH EIN EXPERIMENT ZUTRAUTE. DAS WAR MIT NOTWENDIGKEIT GESCHEITERT, MIT DER EINSICHT KAM DER SCHMERZ. (SdE: 289; Hervorheb. i. Orig.)
Es ist nicht das Gefühl einer Exilerfahrung, welches die Protagonistin antreibt, sondern die Reflexion über das Gefühl des Verlustes eines Landes, das jenen Emigranten einst als Hoffnung auf ein besseres Leben erschien. Die Identifizierung mit diesen Intellektuellen ist für die Protagonistin entscheidend und wert, bewahrt zu werden. Daher sind die Begriffe der Emigration oder des Exils dem historischen Zeitraum des Nationalsozialismus oder der Exilerfahrung sowjetischer Schriftsteller, die wie Lew Kopelew in den Westen gingen (vgl. z. B.: SdE: 101),³¹⁴ vorbehalten. Auch die Fragen, ob sie in Los Angeles bleiben würde, verneint sie stets (vgl.: SdE: 31, 223). Doch bildet die lokale Nähe zum „New Weimar unter Palmen“ (SdE: 338) die Motivation, „den Spuren der Emigranten“ (SdE: 339) nachzugehen, deren Erfahrungen immer in Korrespondenz dazu stehen, dass sie nun selbst an diesem Ort ist. Brecht ist wiederholt Bezugspunkt und in ihren mühsamen intertextuellen Verknüpfungen ist die Protagonistin mit zwei Gedichten Brechts über Los Angeles konfrontiert: Landschaft des Exils (SdE: 105)³¹⁵ und Nachdenkend, wie ich höre, über die Hölle (SdE: 206). Beide Gedichte Brechts zeichnen ein unfreundliches Bild von Los Angeles und setzen es im zweiten Fall sogar mit der Hölle gleich.³¹⁶ Brechts Beschreibungen erfüllen das selbst gesetzte Ziel der Protagonistin ihrer Beschäftigung: „Ich suche die Stellen, an denen ihre Autoren beschreiben, was das Exil ihnen angetan hat.“ (SdE: 345) Doch die oberflächliche Lektüre seiner beiden Gedichte führt zur Verknüpfung mit Brechts Leben des Galilei. Das Exil-
Zur Beziehung zu russischen bzw. sowjetischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen, vgl.: Sandhöfer-Klesen: Christa Wolf im Kontext der Moderne, S. 371– 390. Vgl.: Brecht, Bertolt: Gedichte 2, in: Ders.: Ausgewählte Werke. Bd. 4, ausgewählt und kommentiert von Jan Knopf Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 354. Vgl.: Brecht, Bertolt: Gedichte 5. Gedichte und Gedichtfragmente 1940−1956, in: Ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 15, hrsg. von Jan Knopf u. a., Berlin / Weimar / Frankfurt a. M.: Aufbau/Suhrkamp 1993, S. 46.
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stück Brechts, das die (Un)möglichkeiten, die Wahrheit zu sagen und auf ihr zu beharren, sowie die Vernunft(un)fähigkeit des Menschen verhandelt, wurde von Brecht 1939 in Dänemark in einer ersten Version fertiggestellt. Diese Version überarbeitet Brecht in ständiger Auseinandersetzung mit dem Schauspieler Charles Laughton in Los Angeles noch einmal.³¹⁷ Dabei rücken „die unlösbaren ethischen Probleme des »Galilei«“ (SdE: 206) wieder in den Blick. Die Protagonistin versteht den darüber nachdenkenden Brecht als eine Spiegelfigur, wenn ihr eigenes Nachdenken von Gedanken über die eigenen ethischen Verfehlungen im Kontext der Stasi affiziert ist. Der Text setzt eine mehrfache Codierung seines Intertextes ein: War es nicht hier gewesen, vor einem halben Jahrhundert, in dieser Stadt, wenige Kilometer von diesem Zimmer entfernt, in dem ich schlaflos lag, daß der Emigrant Brecht seinem Galilei, der uns, den damals Jungen, dann in der Gestalt des Ernst Busch begegnen sollte, daß er diesem Galilei den unbezähmbaren Wahrheitsdrang auferlegte. Kein Mensch könne auf Dauer einen Stein zu Boden fallen sehen und dazu sagen hören: Er fällt nicht. O doch, Brecht, wir können das fast alle. Und als wir Ihren Galilei verachten wollten, weil er schließlich abschwor, da fiel der Stein schon, vor unseren Augen, er fiel und fiel unaufhaltsam, und wir sahen ihn nicht einmal. Und wenn uns einer darauf hingewiesen hätte, hätten wir nur gefragt: Welcher Stein. (SdE: 41)
Die Protagonistin verschränkt Brechts Exil (›der Emigrant Brecht‹) sowie die eigenen Erinnerungen an die frühe DDR (›der uns, den damals Jungen, dann in Gestalt des Ernst Busch begegnen sollte‹) miteinander. Die Premiere des Leben des Galilei am Berliner Ensemble mit Ernst Busch in der Hauptrolle fand 1957 statt³¹⁸ und fällt damit kurz vor die Tätigkeit der Protagonistin für die Staatssicherheit 1959. Mit Blick auf dieses historische Detail wird durch die Deutung des fallenden Steines die Beschäftigung mit Brecht um die Reflexionsebene von 1992/1993 ergänzt. Der Bezug auf Brechts Text konstelliert die Identifizierung mit der Vergangenheit neu: Immer noch gewinnt die Protagonistin durch die Beschäftigung mit dem Galilei und mit sich selbst Bedeutungen für ihr eigenes Selbstbild. Der Wahrheitsdrang der Figur Galileis fungiert angesichts dieser Tatsache nach wie vor als gewinnbringender Faktor für aktualisierte Erkenntnisse. Gleichzeitig identifiziert sie ihr früheres Selbst mit dem abschwörenden Galilei. Da sie Brechts fallenden Stein ganz konkret auf die DDR-Zustände bezieht, geht sie sogar noch
Zur Produktionsgeschichte des Leben des Galilei, vgl.: Brecht, Bertolt: Stücke 2, in: Ders.: Ausgewählte Werke Bd. 2, ausgewählt von Wolfgang Jeske, kommentiert von Stefan Hauck Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 682 ff. Vgl. hierzu: Brecht: Stücke 2, S. 686.
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einen Schritt weiter und präsentiert, wie ihr früheres Selbst von den damaligen Zuständen verblendet war (›wir sahen ihn nicht einmal‹). Auf der Zukunftsparty, die weiter unten ausführlich besprochen wird,³¹⁹ thematisiert die Protagonistin die Situation der DDR und rahmt diese mit zwei anderen Brecht-Gedichten: In einem Gespräch mit dem einzigen „schwarzen Stipendiaten im Center“ (SdE: 256), Stewart, macht dieser der Protagonistin den Vorwurf, sie solle mit ihrem „Herumschleichen“ aufhören, denn sie hätte keinen „Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben“ (SdE: 257). Ihre Antworten befriedigen ihr Gegenüber nicht: Schlechtes Gewissen? Das traf es nicht. – Was denn sonst. – Nun. Ich fand, ich hätte Grund nachzudenken. – Nichts gegen Nachdenken. Aber worüber. – Ich will herausfinden, wie ich damals war. Warum ich mit denen überhaupt geredet habe. Warum ich sie nicht sofort weggeschickt habe. Was ich wenig später getan hätte. Also gut. Warum denn also. Weil ich sie noch nicht als »die« gesehen habe, glaube ich. (SdE: 257)
Das erneute Kreisen um die eigene Vergangenheit und die belastenden Taten führt zum Eingeständnis, dass die Protagonistin sich in den 1950er Jahren noch nicht deutlich von der Staatssicherheit abgegrenzt hat, sondern vielmehr die Distinktion von wir und die erst wenig später eingesetzt hat. In Rekurs auf Brechts An die Nachgeborenen und das Lob der Dialektik liefert die Protagonistin nun ihre damalige Sicht der Dinge: Revolutionäre Maßnahmen können für die von ihnen Betroffenen hart sein, die Jakobiner waren nicht zimperlich, die Bolschewiki auch nicht. Wir hätten ja gar nicht bestritten, daß wir in einer Diktatur lebten, der Diktatur des Proletariats. Eine Übergangszeit, eine Inkubationszeit für den neuen Menschen, versteht ihr? Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein, daran habe ich mich festgehalten. Wir platzten vor Utopie, da dieses Wort nun mal gefallen ist. Wir mochten unser Land nicht, wie es war, sondern wie es sein würde. WIE ES IST, BLEIBT ES NICHT, das war uns gewiß. (SdE: 258; Hervorheb. i. Orig.)
Anhand der marxistischen Terminologie der Diktatur des Proletariats beschreibt sie, warum sie revolutionäre Maßnahmen für notwendig hielt, um den neuen Menschen hervorzubringen. Die Protagonistin verknüpft das Selbstbild aus der Zeit des Realsozialismus mit Brechts Gedichten aus der Exilzeit. Die zwei Verse aus An die Nachgeborenen (erneut aus der Sammlung Svendborger Gedichte) sind in Stadt der Engel durch Kursivierung hervorgehoben. Brechts Gedicht verhandelt selbst in der ersten Strophe des dritten Abschnittes explizit die Entstehung des Vgl. das Kapitel Zur Überwindung von Krisen – Reinigungen und Genesungen.
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neuen Menschen und spricht die futurisch-unbestimmten Nachgeborenen an: „Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut / In der wir untergegangen sind / Gedenkt / Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht / Auch der finsteren Zeit / Der ihr entronnen seid.“³²⁰ Dass sowohl mit der Flut als auch mit den finsteren Zeiten ein Bezug zum Nationalsozialismus hergestellt wird, machen der Erscheinungskontext³²¹ sowie die zweite Strophe des ersten Abschnittes deutlich: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“³²² Die Protagonistin setzt Brechts Text in Beziehung zu ihrer früheren Sicht auf Utopie und versucht mithilfe des Gedichtes das imaginierte utopische Potential der DDR in der Zukunft zu situieren (›Sondern wie es sein würde‹). Sie bemüht erneut Brecht, wobei im Unterschied zum Zitat aus An die Nachgeborenen der Vers aus Lob der Dialektik nicht kursiviert, sondern in Großschreibung wiedergegeben ist (›WIE ES IST; BLEIBT ES NICHT‹). Der Bezug auf Brecht wird von den anderen Gesprächsteilnehmenden nicht problematisiert. Vielmehr wird die Protagonistin verteidigt, sie sei damals für einen „neue[n] Gesellschaftsentwurf “ und eine „Alternative“ (SdE: 258) eingetreten. Der Bezug auf die Exilgedichte Brechts wird von der Protagonistin im Folgenden nicht weiter bearbeitet, sie distanziert sich aber von ihren eigenen Aussagen: „Ich wurde das Gefühl nicht los, daß ich sie mit den Teilen abgespeist hatte, die im Erinnerungsspeicher obenauf lagen, aber bis zur wirklichen Wirklichkeit gar nicht vorgedrungen war.“ (SdE: 259) In einem durchaus problematischen Bezug auf die Exillyrik Brechts äußert sich die Protagonistin über ihre eigenen Identifizierungen, die sie nach der ‚Wende‘ vornimmt. So erkennt sie „das Fremde in mir“ (SdE: 259) und das erkenntnistheoretische Problem, das damit einher geht: „Tatsachen aneinandergereiht, ergeben noch nicht die Wirklichkeit, versteht ihr. Die Wirklichkeit hat viele Schichten und viele Facetten […].“ (SdE: 257) Diese ‚Tatsachen‘ über die DDR stehen aber in Widerspruch zu ihrem subjektiven Gefühl, dass sich ganz anders verortet: Ich merkte, wie schwierig es war, normale Alltagswörter mit dem Land in Verbindung zu bringen, aus dem ich nun mal herkam und das in den Zeitungen, die meine Freunde lasen, umstandslos dem Reich des Bösen zugeordnet wurde. Ich bestritt ja vieles nicht, was da zu lesen war, nur hatte ich doch in einem anderen Land gelebt.Wie sollte man das beschreiben. (SdE: 257)
Brecht: Gedichte 1, S. 351. Brechts Gedicht entstand zwischen 1934 und 1938. Es wurde erstmals 1939 in Die neue Weltbühne publiziert, vgl.: Brecht: Gedichte 1, S. 493. Brecht: Gedichte 1, S. 349.
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Die Differenz zwischen der Berichterstattung und der eigenen Einschätzung äußert sich auf sprachlicher Ebene. So sind es nicht mehr Alltagswörter, die das Leben in der DDR charakterisieren können, vielmehr entsteht eine generelle Unfähigkeit zur Kommunikation. Die Protagonistin will für ihr Gefühl, das sie damit verbindet, in diesem anderen Land gelebt zu haben, eine andere Sprache finden. Mit Blick auf andere Werke Wolfs ergibt dies durchaus Sinn, wenn in Was bleibt das Ringen um eine „neue Sprache“³²³ zu einem Leitmotiv wird. Im Gegensatz zu der Hoffnung, die Was bleibt mit damit verbindet, erlebt die Protagonistin in Stadt der Engel nun, dass die ‚alte Sprache‘ ihr abhandengekommen ist. So ist es keineswegs zufällig, dass in diesem Kontext Begriffe verwendet werden, die auf etwas ganz anderes verweisen: DER ARGE WEG DER ERKENNTNIS, sagte ich. Davor der lange Weg der Kenntnis, des ZurKenntnis-Nehmens. Was wir nicht für möglich gehalten hätten. Was wir nicht glauben wollten. Die Hoffnung verkam, die Utopie zerbröckelte, ging in Verwesung über. Wir mußten lernen, ohne Alternative zu leben. (SdE: 258; Hervorheb. i. Orig.)
Nicht nur wird mit dem Titel von Lion Feuchtwangers Roman Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis ³²⁴ ein weiterer Intertext eingewoben, um ein überdeterminiertes Sprechen über die DDR zu ermöglichen; die Begriffe Hoffnung und Utopie können zudem nicht als Alltagswörter gelten. Trotz der Schwierigkeiten, Ausdrucksmöglichkeiten zu finden, wird jedoch deutlich, dass in dem Dialog mit Biographien und Texten der Exilautoren die Protagonistin nach Möglichkeiten der Selbstverortung sucht. Das Land, aus dem sie nun mal kam, ist zwar in der Imagination zum Reich des Bösen geworden, nichtsdestotrotz gibt es für Protagonistin und Erzählerin immer noch Identifizierungskorrespondenzen, die ihr eigenes ostdeutsches Selbstbild bestimmen. Diese sind einzig in der doppelten Distanz zu gewinnen: einer zeitlichen Distanz, die viele Reflexionen erst ermöglicht, und einer örtlichen Distanz, die − unter anderem − ein neues Gespräch mit der bewunderten Exilgeneration hervorbringt und damit die Frage einer potentiellen Exilerfahrung auslotet. Stadt der Engel spielt immer wieder damit, eine „exilähnliche Situation“³²⁵ aufzurufen, in welcher der Text eine historische Gleich-
Wolf: Was bleibt, S. 10. Vgl.: Feuchtwanger, Lion: Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis. Roman, Berlin: Aufbau 1994. Feuchtwangers Roman setzt sich mit der Verwicklung von Künstler und (institutionalisierter) Macht auseinander und holt als Intertext so das Engagement der Protagonistin während der DDR-Zeit ein. Holzapfel, Kathrin: „Zwischen Einheit und Landlosigkeit. Zu Christa Wolfs Nachwenderoman »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«“, in: Díaz Pérez, Olivia C. u. a. (Hrsg.):
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setzung regelmäßig unterläuft und eine Differenz zwischen den eigenen Gefühlen der Protagonistin und der Exilerfahrung während des Nationalsozialismus erarbeitet. Der Text versucht in der Funktionalisierung der Exilierten und ihrer Literatur, sich gegen den Vorwurf zu immunisieren, das Leben nach 1989 würde sich in der Anmaßung eines Exilgefühls verorten.
4.3 „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“ – Die Anderen der Globalisierung Nach dem Besuch der Villa Aurora, dem Wohnsitz Lion und Martha Feuchtwangers in Los Angeles, fährt die Protagonistin mit einem namenlosen Freund den Sunset Boulevard entlang. Unvermittelt beginnen die beiden alte Arbeiterlieder zu singen, unter welchen Die Internationale ist. Wie alle Lieder wird Die Internationale nicht mit ihrem Titel benannt, sondern ihr erster Vers zitiert: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“ (SdE: 271).³²⁶ Dieser erste Vers enthält in nuce die Botschaft der Hymne der Arbeiterbewegung: Durch die Bewusstwerdung ihres gesellschaftlichen Zustandes als Verdammte dieser Erde sollen sich die Proletarier selbst als politisches Subjekt der Revolution hervorbringen. Der Text steht in der Tradition der sozialistischen und sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und in der DDR nahm er fast eine gleichrangige Stellung zur offiziellen Nationalhymne ein. Darüber hinaus hat insbesondere der erste Vers eine weitere Bedeutung erlangt: Im Jahr 1961 − gleichzeitig das Jahr des Mauerbaus − erschien Frantz Fanons antikoloniales Manifest Les damnés de la terre, in der deutschen Übersetzung Die Verdammten dieser Erde. Mit dem Titel seines letzten Werkes, das auf den ersten Vers der Internationale referiert, erweitert er den Begriff Verdammte um eine antikoloniale Perspektive: „In den kapitalistischen Ländern hat das Proletariat nichts zu verlieren, aber eventuell alles zu gewinnen. In den kolonisierten Ländern hat das Proletariat alles zu verlieren.“³²⁷ Fanon reformuliert den Schluss des Manifests der kommunistischen Partei, in dem es heißt: „Die Proletarier haben nichts in ihr [der kommunistischen Revolution; M.K.] zu verlieren als ihre Ketten.
Deutsche Gegenwarten in Literatur und Film. Tendenzen nach 1989 in exemplarischen Analysen, Tübingen: Stauffenburg 2017, S. 65 – 78, hier S. 67. Außerdem singt die Protagonistin die Internationale, ebenfalls unter Angabe ihres ersten Verses, in der großen Singszene, vgl.: SdE: 251. Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, übers. von Traugott König, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2017, S. 93.
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Sie haben eine Welt zu gewinnen.“³²⁸ Stadt der Engel nimmt eine ähnliche Perspektive ein, wie es Fanon in Die Verdammten dieser Erde gegenüber dem Gründungstext der kommunistischen Bewegung stark macht: Die kommunistische Revolution verliert bei Fanon an Bedeutung. Haben die Proletarier bei Marx und Engels eine Welt zu gewinnen, steht bei Fanon alles auf dem Spiel. In Stadt der Engel wird nach den Enttäuschungen des Scheiterns der Bürgerrechtsbewegungen und der Vorstellung, wie es noch in dem Aufruf Für unser Land hieß, einer „sozialistischen Alternative zur Bundesrepublik“³²⁹, nicht mehr ein Umbruch durch eine sozialistische Revolution angestrebt, sondern das Fanon’sche alles ist in Gefahr: durch die globalen Katastrophen der Umweltzerstörung und die globale Gefahr eines atomaren Krieges. Dabei perspektiviert die Protagonistin zwei weitere Gruppen, die als Spiegelbilder und Abgrenzungsfiguren funktionalisiert werden: die Schwarzen und die Hopi. Diese beiden werden die neuen Verdammten dieser Erde. Sie sind subalterne Gruppen und Gemeinschaften und anhand der Konfrontation mit diesen vollziehen Protagonistin und Erzählerin ihre ständigen Selbstbefragungen. Die Protagonistin ergreift immer wieder Partei für diese von der Gesellschaft unterdrückten Gruppen, die, wenn auch nicht als revolutionäre Subjekte, so doch zumindest als Figurationen einer Vorstellung einer anderen Welt funktionalisiert werden.
Vom blinden Fleck zum Black Spot Bemerkenswert ist, um auf die Zukunftsparty zurückzukommen und an die BrechtRezeption anzuschließen, dass es die Konfrontation mit dem einzigen schwarzen Kollegen ist, welche die Passage einleitet: Zum ersten Mal setzte sich Stewart zu uns, der einzige schwarze Stipendiat im CENTER, der später als wir alle gekommen war und sich bis jetzt immer abgesondert hatte. Ich begriff auf einmal, daß wir uns ihm gegenüber genau so gehemmt verhalten hatten wie die andern in letzter Zeit mir gegenüber: aus Unsicherheit. (SdE: 256)
Erneut operiert der Text mit einer Abgrenzung und einem Bezug, der auf der Verhaltensebene festgemacht wird. Der Soziologe Stewart wird sogar zweimal als der einzige schwarze Stipendiat bezeichnet: So ist er der Ankläger des larmoyanten Verhaltens der Protagonistin und ermöglicht ihr damit die Erkenntnis über ihr
Marx, Karl / Engels, Friedrich: „Manifest der kommunistischen Partei“, in: MEW. Bd. 4. Mai 1846–März 1848, hrsg. von Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin: Karl Dietz 1959, S. 459 – 493, hier S. 493. Wolf: Umbrüche und Wendezeiten, S. 87.
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Verhältnis zur frühen DDR und er ist es, der ihr das Antiquariat empfiehlt, in dem sie die Bücher der Emigranten entdeckt (vgl.: SdE: 341). Im Rahmen dieser Empfehlung erklärt Stewart erneut seine Arbeit, in der er über rassistischen Alltag im Arbeitsleben forscht. Stewart, der ausdrücklich als „am meisten links“ (SdE: 341) beschrieben wird, ist für die Protagonistin fast ein Einzelphänomen: Da war einer, der noch die Welt verändern wollte. Lohnte es sich denn? Stewart sagte zu mir: Ich hoffe, ihr gebt nicht auf. Ich dachte, ich will mir merken, daß ein junger Amerikaner diesen Satz zu mir gesagt hat, und ich merkte es mir tatsächlich, und wenn ich heute diesen Satz in mir aufrufe, kann ich das Licht sehen, das vom wolkenlosen Nachmittagshimmel in die Third Street fiel. (SdE: 342)
Stewart apostrophiert ein unklares ihr, wobei dieses scheinbar das Subjekt des Antwortsatzes auf die Frage ist, ob es sich lohne, die Welt zu verändern. Unklar ist ebenso, ob die Frage explizit formuliert wird oder die Lesenden die Gedanken der Protagonistin präsentiert bekommen. Stewarts Aussage ist aber als eine Antwort auf diese Frage zu verstehen. Angesichts der Tatsache, dass das Geschehen ohnehin von der Erzählerin präsentiert wird, welche die Dialoge bereits größtenteils aus dem Englischen ins Deutsche überträgt, eröffnet die Szene in einer Rückübersetzung eine weitere Lesart: I hope you don’t give up beinhaltet mit der Identität der zweiten Person Singular und Plural im Englischen you eine doppelte Adressierung: Denn einerseits wird die Protagonistin als Individuum angesprochen, angesichts des Druckes infolge der Stasi-Vorwürfe nicht aufzugeben, andererseits richtet sich die Aussage auf ein Kollektiv, das unschwer als ‚die Ostdeutschen‘ zu identifizieren ist, die ihrerseits eine kollektive Subjektivität bewahren sollen. Die Protagonistin ist Kind einer Epoche, die laut Wohlfarth „nicht müde wird, Phantasmagorien des ›Anderen‹ am Fließband zu produzieren.“³³⁰ Der schwarze Engel Angelina, die Reinigungsszene in der First African Methodist Episcopal Church (beide werden im folgenden Kapitel thematisiert) wären ebenso wie die ständige Konfrontation und Markierung der (‚schwarzen‘) Hautfarbe anderer Figuren zu nennen. Angesichts dieser ständigen Beschäftigung mit Hautfarbe hat Weber argumentiert, dass Stadt der Engel nicht nur Rassifizierung problematisiert, sondern selbst von Rassifizierung betroffen ist.³³¹
Wohlfarth: „Was bleibt“, S. 202. „The novel is troubled by and troubles race, in part because of Wolf’s insistence on describing most characters in the text according to racialized categories − as white, Jewish, Black, Puerto Rican, Native American, for example − even as she fails to explicitly engage race […].“, Weber, Beverly M.: „Christa Wolf’s Trouble with Race“, in: Klocke, Sonja E. / Hosek, Jennifer R. (Hrsg.): Christa Wolf. A companion, Berlin/Boston: De Gruyter 2018, S. 163 – 180, hier S. 165.
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Die Konfrontation mit den ‚schwarzen Vierteln‘ von Los Angeles beschreibt die Erzählerin als traumatisch: „Sie fuhr mit uns Richtung Downtown, durch immer verwahrlostere Viertel. Hier würde sie auch niemals aussteigen, sagte Ann. Gruppen von homeless people hockten an Häuserwänden, am Straßenrand, nur wenige bewegten sich. Alles Schwarze. Verwüstete Straßen.“ (SdE: 246) Die apokalyptische Szenerie, die durch die vorangegangene Beschreibung einer Mülldeponie, die als „Mondlandschaft“ (SdE: 246) charakterisiert wird, noch an Prägnanz gewinnt, wird durch die Verfolgung durch einen Schwarzen intensiviert. Zwar endet die Episode unproblematisch, jedoch wird das besuchte Haus im ‚schwarzen Viertel‘ zur „Oase“ (SdE: 247) deklariert. Nach dem Verlassen dieses Viertels fällt die positive Beschreibung des eigenen Hotels noch drastischer aus: „Maßlos erschöpft kam ich nach Hause, ins ms. victoria, das sein Gesicht verändert hatte. Das mir nicht nur wie eine Oase, auch wie eine Trutzburg vorkam, eine Verteidigungsbastion gegen das Elend dieser Stadt, gegen das wir ohnmächtig waren.“ (SdE: 248) In einem Gespräch mit Peter Gutman wird deutlich, dass die Markierungen der Hautfarbe nicht grundlos sind, sondern auf ein zentrales Problem jener gesellschaftlichen Ordnung hinweisen, welche die Protagonistin durch ihre Beobachtungen zu kritisieren sucht. Nachdem sie einem schwarzen Obdachlosen Geld gegeben hat, beginnt ihr Nachdenken: God bless you, sagte der halbblinde schwarze Mann vor der Tür des Restaurants, in das wir hineingingen, nachdem wir unseren Zoll an ihn entrichtet hatten. Ich kann nur hoffen, sagte ich, daß es keinen Gott gibt und kein Jüngstes Gericht, denn segnen würde er keinen von uns satten gefühllosen Weißen, es sei denn, er wäre wirklich nur u n s e r Gott. (SdE: 108)
Die kollektivierende Selbstbeschreibung der satten gefühllosen Weißen setzt sie dem halbblinden schwarzen Bettler gegenüber. Die Diskrepanz der ökonomischen Situationen wird mit dem Bestehen eines rassifizierenden Kapitalismus begründet, während der ironische Kommentar zu Gott das Christentum in einer historischen Perspektive als Triebfeder eines kolonialisierenden Eurozentrismus ausmacht. Die ständige Markierung von Figuren als schwarz wird als koloniales Erbe präsentiert, wobei die Darstellung die Logik des Kapitalismus ernst nimmt und die Figuren nicht nur schwarz, sondern arm werden lässt.³³² Während des Gespräches in einem Restaurant – der Konsum von Austern und Wein wirkt regelrecht zynisch – kommt Gutman auf den blinden Fleck zu sprechen: Schwarze Figuren, die nicht arm sind, müssen sich wie der Soziologe Stewart zumindest mit Armut beschäftigen.
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Peter Gutman hielt mir vor, ich würde mich immer wieder über das altbekannte Problem des »blinden Flecks« ereifern. Jede unserer modernen Gesellschaften, die auf Kolonisierung, Unterdrückung und Ausbeutung begründet seien, müsse, um sich ihr lebenswichtiges Selbstbewußtsein zu erhalten, bestimmte Teile ihrer Geschichte ausblenden und sich möglichst viele Teile ihrer Gegenwart schön lügen. Aber eines Tages bricht alles zusammen, wenn man sich der Realität nicht stellt, sagte ich. Nun ja, sagte Peter Gutman. Früher oder später. (SdE: 108)
Die Reflexion hängt mit der DDR zusammen, wenn der Zusammenbruch der DDR als eine Vorwegnahme des jetzt bestehenden Systems präsentiert wird. Früher oder später muss in den Augen Gutmans jedes System zusammenbrechen, das sich nicht um die Bewusstmachung des eigenen blinden Flecks bemüht.³³³ Die blinden Flecken, die in der neuen Ordnung produziert werden – die jene rassistische Armut erzeugt hat –, sind nicht durch den real existierenden Sozialismus hervorgebracht worden.³³⁴ So ist die implizite Selbstpositionierung der Protagonistin jenseits des Blockdenkens zwischen Ost und West anzusetzen und kann in Rückgriff auf die Erfahrung der beiden Systeme nun den Weg für veränderte Selbstbilder eröffnen. Wolf hat in einer Rede selbst die blinden Flecken der Globalisierung benannt und sowohl die Vergangenheit von Ost- und Westblock als auch aktuelle Beispiele eingebunden: Der »blinde Fleck« − wozu brauchen wir ihn heute, was verbirgt er vor uns, vor dieser Gesellschaft, im Zeitalter der Globalisierung? [… D]aß wir, das Tempo immer weiter beschleunigend, dem Wahn hingegeben, in der grenzenlosen Ausweitung der Produktion materieller Güter liege unser Glück, auf ein Verhängnis zurasen, das wir uns konkret nicht vorstellen mögen. Ich habe den Verdacht, daß unter, hinter der »normalen« Verdrängung
Irving Wohlfarth hat als ‚reales‘ Vorbild für Gutman in seinem Aufsatz zum blinden Fleck im Werk Wolfs darauf hingewiesen, dass der Kapitalismus als „die profanste aller bisherigen Mächte – ein ökonomisches System [ist; M.K.], das sich als allein übriggebliebener Sieger überall ausbreitet.“ Durch diesen Alleinvertretungsanspruch ist es umso wahrscheinlicher, wie Wohlfarth unter Rückgriff auf Freud zeigt, dass eine kapitalistisch organisierte Gesellschaft ihre blinden Flecken angesichts fehlender Reflexion noch stärker ignoriert, Wohlfarth: „Blinder Fleck“, S. 587. Sie sind sogar deutlich älter, wie es sich mit Blick auf Wolfs Störfall zeigt. Auch dort ist bereits die Rede vom blinden Fleck, der unter anderem in Bezug auf Joseph Conrads Heart of Darkness thematisiert wird: „Der blinde Fleck. Das Herz der Finsternis“, Wolf: Störfall, S. 108. In der Folge erklärt die Erzählerin von Störfall, dass gerade Sprache, die gleichzeitig Kultur begründet, im Gehirn physiologisch benachbart zum Sitz des blinden Flecks anzusiedeln ist. Da Sprache Kultur schafft, zeigt diese Nachbarschaft gleichermaßen an, dass Sprache zum blinden Fleck in der Kultur beiträgt, aber in Form von Literatur diesen blinden Fleck zugleich aufsucht, wie es mit Blick auf Conrad heißt: „Er [Conrad; M.K.] hat sich, nicht nur in Gedanken, mitten hineinbegeben in den blinden Fleck jener Kultur, der auch er angehörte. Unerschrocken ins Herz der Finsternis.“, Wolf: Störfall, S. 129.
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und Verleugnung, für die wir unsern blinden Fleck benutzen und die wir uns, wenn wir uns Mühe geben, bewußt machen können, eine undurchdringliche Dunkelheit liegt, eine Botschaft, gegenüber der wir wirklich mit Blindheit geschlagen sind und die wir durch keine Anstrengung entschlüsseln können. Unsere blinden Flecke, davon bin ich überzeugt, sind direkt verantwortlich für die wüsten Flecken auf unserem Planeten. Auschwitz. Der Archipel Gulag. Coventry/Dresden. Tschernobyl. Der Mauerstreifen zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Die entlaubten Wälder Vietnams. Die zerstörten Türme des World Trade Centers in New York.³³⁵
Ihre Beschreibung des blinden Flecks deutet die globale Gefahr an, deren Explizieren in der Konfrontation mit den Native Americans in Form von Atombombe und Klimakatastrophe thematisiert wird.
Spiegelungen der Globalisierung „ICH MÖCHTE SEIN, WO ES NOCH GEHEIMNISSE GIBT. WO NICHT EINEM JEDEN JEDES GEHEIMNIS MIT GEWALT ENTRISSEN WIRD, WEIL NUR SO DIE WELT SAUBER SEIN KANN.“ (SdE: 381; Hervorheb. i. Orig.) Dieser Satz, den die Protagonistin in ihre Reisechronik schreibt, bildet den Auftakt für ihre Konfrontation mit der „andere[n] Kultur“ (SdE: 375) auf dem Gebiet der Navajo und Hopi. Der Ort und die in diesem Gebiet lebenden Native Americans werden für sie zu Figurationen des schlechthin Anderen. Die Ambivalenz dieses Anderen konstruiert sich immer in einem Doppelschritt: zum einen zur Bestimmung eigener Verortung und zum anderen in der exotistisch anmutenden Faszination und Rätselhaftigkeit der Beschreibung einer schriftlosen Kultur (vgl.: SdE: 383) der Anasazi und ihrer Malereien: Wir sahen ihre Piktogramme an der gegenüberliegenden steil aufragenden Felswand, weiße Zeichnungen, Antilopen, tanzende Männer, auch zweimal eine Swastika, Sonne und Mond als Kreise, größer und kleiner, schön und rührend. Timothy meinte, die Anasazi hätten jeden Morgen zu »Sunny Moon« gebetet. Er sagte nicht, woher er das wissen konnte, aber ich wollte es glauben. Ich spürte, wie das Geheimnis dieser frühen Menschen mich infizierte, es sollte mich nicht mehr loslassen. (SdE: 382)
Die Anspielung auf spirituelle Vorstellungen eines aufgehobenen Widerspruchs zwischen der Nacht und dem Tag, dem angebeteten Sunny Moon, steht in Widerspruch zu der „Geschichte der unlösbaren Konflikte“, die als „Kennzeichen der Moderne“ (SdE: 380) die Geschichte der Protagonistin reflektiert. Überdies findet sich in der metaphysischen Konstruktion die von der Protagonistin eingeforderte
Wolf: „Nachdenken über den blinden Fleck“, S. 94.
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Welt, die nicht sauber ist, sondern sich in den enigmatischen Geheimnissen äußert, die als Virus in ihr wirken. Während ihr eigenes Selbstbild mit positiven Eigenschaften wie modern und sauber aufwartet und das Gegenüber als spirituellrückständig charakterisiert wird, zeigt sich anhand der Faszination der Protagonistin, wie problematisch diese Zuschreibungen sind. Im Zuge der Reise in die Gebiete der Native Americans hält sich die Protagonistin mit ihren Gefährten Lowis und Sanna in Los Alamos auf: Die Atombombe war mitten in einem der großen Indianerreservate der Vereinigten Staaten geplant und gebaut worden. Das bescheidene kärgliche Museum, das erste, das den Pionieren von Los Alamos gewidmet war, behauptete, die Indianer hätten gerne einen Teil ihres Gebiets den Bombenbauern zur Verfügung gestellt, weil sie loyale Bürger der Vereinigten Staaten gewesen seien, die das Ihre zum glücklichen Ausgang des Krieges hätten beitragen wollen, stolz auf ihre Söhne, die zusammen mit den weißen Amerikanern in der Armee dienten und an der Front kämpften. (SdE: 376)
Die historische Signatur des Ortes ist an die Entwicklung der Atombombe in den 1940er Jahren gebunden. Dabei wird zunächst eine inner-amerikanische Differenz zwischen den Bombenbauern und den Indianern eröffnet. Letztere hätten ihr Land als Patrioten zur Verfügung gestellt. Dass die Protagonistin diese Beschreibung für mindestens fragwürdig hält, macht die skeptische Wortwahl hinsichtlich der Charakterisierung des Museums deutlich. Der Protagonistin zufolge wird die ironisch kommentierte Loyalität vor allem von weißen Amerikanern erwünscht und eingefordert. Die Identifizierung der Protagonistin verläuft angesichts dieser Konfrontation ambivalent: Zum einen sympathisiert sie mit den Indigenen, deren Gefühlswelt ihr näher ist, und zum anderen geht diese Identifizierung aber selbst nicht auf, da sie immer noch Teil einer anderen Kultur bleibt: THE BOMB, die in voller Größe inmitten des zentralen Raums präsentiert wurde. Wie könnte ich das Gefühl benennen, das mich überfiel, während ich die Bombe umkreiste, vor ihr stehenblieb, zu ihr hinaufschaute? Ein Gemisch von Schauder und Trauer. Während die Amerikaner, die in kleinen und größeren Gruppen nach Los Alamos kamen, Bewunderung und Stolz zeigten. (SdE: 377)
Ihre eigenen Gefühle Schauder und Trauer ³³⁶ stehen emotional in radikaler Opposition zu Bewunderung und Stolz der Amerikaner. Diejenigen, die als Amerika Gerade im Hinblick auf die karthartischen Szenen der Protagonistin erinnert diese Paarung Schauder und Trauer an die Affekte eleos und phobos (Jammer und Schauder), welche die Tragödie in der aristotelischen Bestimmung auslösen soll, um die Kartharsis herbeizuführen, vgl.: Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, hrsg. und übers. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1994, S. 19.
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ner bezeichnet werden, sind aber, selbst wenn es der Text nicht expliziert, nicht alle US-amerikanischen Staatsbürger, sondern lediglich die Nachfahren der weißen Amerikaner. Es handelt sich um eine elliptische Verschweigung des Attributes weiß: Weil die Native Americans ihr Gebiet eben nicht gerne zur Verfügung stellten und nun mit der Zerstörung der „Naturschönheit des Geländes“ (SdE: 378) konfrontiert sind, kann von ihnen kein Stolz ausgehen. Die ethnische Differenzierung äußert sich dahingehend, dass die Protagonistin und ihre Mitreisenden von den Native Americans als Teil einer weißen Gesamtkultur charakterisiert werden, der die Indigenen aber eher ablehnend gegenüberstehen: „Wir gingen in das von Navajo betriebene Restaurant, wurden unfreundlich bedient […].“ (SdE: 384) Dass die Protagonistin sich trotz ihrer Abgrenzung zu den Amerikanern als Teil einer weißen Kultur einschätzt, äußert sie nicht selbst, sondern vielmehr lässt die Erzählerin Sanna die entscheidende Frage stellen: „Sanna fragte mehr sich selbst als uns, warum unsere Zivilisation den Weg der Selbstzerstörung eingeschlagen hatte, den Lowis für unumkehrbar hielt.“ (SdE: 378) Die nicht zu lösende Frage, in der auf die Atombombe als globale Gefahr referiert wird, wird bald darauf mit dem globalen Klimawandel verschaltet.³³⁷ Der Hinweis auf die Gefahr eines ökologischen Gesamtkollaps, thematisiert durch die akademische Debatte um das Anthropozän, wird zwar als Assoziation der Erzählerin eingespeist, steht aber durch wiederholte Erwähnungen von Hiroshima (vgl. auch: SdE: 377, 380) in einer eindeutigen Korrespondenz zur Gefahr durch atomare Angriffe. Die globale Gefahr ist das Produkt einer westlichen Welt und steht damit antithetisch dem Erfahrungs- und Wirkungsraum der Native Americans gegenüber: „Die Anasazi haben keine Zerstörung hinter sich gelassen, als sie stillschweigend ihre alten Siedlungsgebiete räumten und in dürftigere Gegenden zogen, die wir auf unserer Reise noch kennenlernen sollten.“ (SdE: 386) Während die Anasazi also keine Zerstörung hinterließen, wird die Zerstörung als eine unausweichliche Konsequenz einer westlichen Logik beschrieben, wie es die Protagonistin im Traumgespräch mit ihrem Engel³³⁸ formuliert:
„Geologen haben vor, das Zeitalter des Holozän, in dem wir leben und das, verglichen mit früheren erdgeschichtlichen Zeitaltern, noch gar nicht so alt ist, schon jetzt für beendet zu erklären und statt dessen das Anthropozoikum auszurufen. Es sei erwiesen, daß der Mensch heutzutage die stärkste Kraft sei, die Veränderungen auf der Erde bewirke – auch solche, die Geologen in späteren Jahrhunderten wahrnehmen würden –, auf der Erdkruste, durch das massenhafte Aussterben von Arten, durch Entstehen neuer Baustoffe (Ziegel, Beton). Manche wollen Hiroshima als Epochengrenze nehmen, andere den Beginn des industriellen Zeitalters: 1800.“ (SdE: 386). Vgl. zum Engel das Kapitel Der Engel ihrer Geschichte.
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IV Christa Wolf: Der Blick in die neue Welt
Ich verirrte mich in einem Labyrinth, dessen Wände den Häuserwänden der Anasazi glichen, der Faden, der mich hinausführen sollte, war mir nicht von Ariadne, sondern selbstverständlich von Angelina, meinem Engel, in die Hand gegeben worden, ich konnte ganz natürlich mit ihr sprechen, konnte sie fragen, ob nicht diese Anasazi »mehr Mensch« gewesen seien als wir heutigen reichen Weißen […]. (SdE: 387)
Die dichotomische Konfrontation von Anasazi und reichen Weißen ist durch eindeutige Zugehörigkeiten bestimmt. Die Protagonistin ist zwar Teil jener zweiten (ethnischen) Gruppe, sie hinterfragt diese Bestimmung aber dadurch, dass sie nicht in ihr aufgeht. Der Faden, der sie aus ihrem Labyrinth führen soll, ist nicht länger in Hand der griechischen Mythologie, sondern in derjenigen des schwarzen Engels Angelina. Diese ist nicht bereit zu beantworten, wer nun mehr Mensch sei, denn „sie hielt auch nichts von Schuldgefühlen“ (SdE: 387). Sie qualifiziert die Aussagen ihres eigenen Engels ab, da dieser die Komplexität der „Psyche des modernen Menschen“ (SdE: 388) nicht kenne, eine Bewegung, die sich mit Blick auf die Steinzeitmenschen wiederholt, denen Schuldgefühl und Gewissen fehlen: DAS UNGLÜCK DER STEINZEITMENSCHEN, DER ACKERBAUERN WAR VON ANDERER ART ALS DAS DER MODERNEN MENSCHEN. SIE KÖNNEN DAS POCHEN DES GEWISSENS NICHT GEKANNT HABEN, DAS UNS BEGLEITET, WENN WIR SEHEN, DASS KEINE UNSERER UNAUSWEICHLICHEN ENTSCHEIDUNGEN RICHTIG IST. DASS WIR KEINE WAHL ZWISCHEN FALSCH UND RICHTIG HABEN. (SdE: 380; Hervorheb. i. Orig.)
Da der Engel die Figur ist, welche die Protagonistin aus dem Labyrinth hinausführt, wird der moderne Menschen transformiert: Wenn die Entscheidungen des modernen Menschen nicht richtig sein können, die des Engels (wie des Steinzeitmenschen) aber zumindest die Wahl zwischen den Optionen richtig und falsch offenlassen, kann die Protagonistin selbst nicht mehr als modern gelten. Angesichts der Tatsache, dass ihre Reflexionen über richtige oder falsche Entscheidungen offensichtlich auf das eigene Verhalten in der DDR abzielen, geht damit eine neue Selbstbestimmung einher. So subalternisiert die Protagonistin sich, um sich neu zu identifizieren: Das Selbstbild positioniert sich zwischen den Native Americans als wirklichen Subalternen und dem westlichen Menschen − womit sie einen dritten Weg einschlägt. Im Kontext der Reflexionen über den Bau der Atombombe fällt der Protagonistin der Physiker Klaus Fuchs ein. Die kurze Wiedergabe seiner Lebensgeschichte und der Gründe, warum er sein Wissen über die Atombombe an die Sowjetunion weitergab und in die DDR floh (vgl.: SdE: 378 f.), münden in der persönlichen Erinnerung an ein Treffen in Dresden. Diese Erinnerung stellt einen zögerlichen Bezug zur DDR-Zeit dar, ohne sich allzu affirmativ auf sie zu beziehen. Sie bildet wiederum einen Hintergrund für eine neue Identifizierung, in der die Protagonistin ihr ostdeutsches Selbstbild zwischen den
4 Das Andere des Ostens
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Polen der Native Americans, der westlichen Menschen und dem Selbstbezug der eigenen Vergangenheit verorten muss. Auch wenn der Selbstentwurf wenig Konturen zeigt, wird deutlich, dass die Erzählerin versucht, die disparaten Teile zu synthetisieren: Die angesprochene Zurückgewinnung der Kategorien richtig und falsch, die „Überreste des Matriarchats in der patriarchalen Kultur“ (SdE: 383) und der Zugang zur „andere[n] Seite der Wirklichkeit“ (SdE: 385) setzen das Unbewusste − die Träume, die die Protagonistin nicht länger als Alpträume verfolgen, sondern als „Traum-Reise“ (SdE: 385) freudig erwartet werden − wieder in sein Recht. Dieses neue ostdeutsche Selbstbild, das auf den ersten Blick wenig mit dem ehemaligen Gebiet der DDR zu tun hat, speist sich aus zwei Restbeständen der DDR und transformiert diese mit den neuen Erfahrungen der globalisierten Welt: zum einen die Erinnerungen an das System DDR und zum anderen die Parteinahme für die subalternen Native Americans.
Die Hopi und der Osten Dass die Subalternen als Abgrenzung und Bezugspunkt eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen, wird an dem Fortgang der Reise deutlich. Die Protagonistin und ihre Mitreisenden besuchen das Gebiet der Hopi. Diese werden innerhalb der Native Americans als subalterne zweiten Grades beschrieben, denn ihr Gebiet ist von dem der Navajo umgeben: „Eine kleine Insel Hopi-Land im großen Navajo-Meer.“ (SdE: 400) Das Hopi-Reservat ist doppelt umschlungen, denn wie ihr Gebiet von den Navajos umgeben ist, ist deren Gebiet Teil der USA und damit ebenso umzingelt. Eine weitere implizite Verdoppelung ergibt sich aus dem Porträt des Konfliktes zwischen Hopi und Navajo: „Der Streit zwischen den seßhaften friedliebenden Hopi und den eindringenden nomadischen Navajo zog sich über Jahrhunderte hin und ging um Land und Eigentum.“ (SdE: 393) Der Text referiert auf die amerikanische Kolonisierung. Dass die Hopi äußerst positiv konnotiert werden, ergibt sich nicht nur aus der vorliegenden Klassifikation als friedlich, sondern spiegelt sich in der Beschreibung eines Kindes als „reizend“ (SdE: 396). Überdies werden sie als mehrfach diskriminiert präsentiert: „Bedrückende Armut, so könnte man die Lebensumstände der Hopi-Indianer beschreiben.“ (SdE: 395) Die Unterprivilegierten üben die Faszination des Anderen aus. So wird der Protagonistin erklärt, dass „es in der Hopi-Sprache keinen Verweis auf die Zeit und auch keine Beziehung zum Raum gibt […].“ (SdE: 398) Das Fehlen dieser Grundkategorien der westlichen Gedankenwelt – von den Kant’schen Apriori bis zur bereits zitierten Beschreibung der Globalisierung von Giddens³³⁹ −
Vgl. zu Kant: Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: Ders.: Werkausgabe. Bde. III/IV,
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IV Christa Wolf: Der Blick in die neue Welt
ist der Hinweis auf die Identifizierung der Protagonistin, die kurz darauf expliziter wird. Denn zwar kennt die globalisierte ostdeutsche Erfahrung die Kategorien von Raum und Zeit, diese sind aber durch die Prozesse der Globalisierung der Revision unterzogen. Um noch einmal an die These der Beschleunigung der Gesellschaft zu erinnern,³⁴⁰ verliert laut Zygmunt Bauman in der (klassisch-festen) Moderne der Raum durch die infrastrukturellen Möglichkeiten seine Bedeutung, während in der globalisiert-flüssigen Moderne Zeit an Bedeutung einbüßt.³⁴¹ Diese Bewegungen treten in Ostdeutschland gemeinsam auf, da die territoriale Beschränkung der DDR die Errungenschaften der Moderne in Bezug auf Raum teilweise außer Kraft setzte. Zwar erkennt die Protagonistin, dass aufgrund fehlender Raum-ZeitVerhältnisse die Hopi „in einer anderen Welt leben“ und dass sie „ihr Denken nicht begreifen“ (SdE: 399) kann, nichtsdestotrotz setzt sie sich und Ostdeutschland zu ihnen in Beziehung: Waren die Hopi ein untergehendes Volk? […] Lowis sagte, man rieche den Untergang. Habe ich den Untergang meines Landes »gerochen«? Merkwürdigerweise fiel mir eine Begebenheit ein, die ich bis jetzt nicht in die Kategorie Untergang eingeordnet hatte, ein Treffen mit dem sowjetischen Botschafter am 20. März 1990 in seiner großen Botschaft Unter den Linden, die ihr oft als die eigentliche Regierung eures Landes betrachtet hattet […]. (SdE: 401)
Der Bezug auf die Hopi ermöglicht eine Erinnerung an die Endzeit der DDR im März 1990. In dem Gespräch mit dem Botschafter und anschließend mit dessen Dolmetscher kommt die Protagonistin − durch die Verklärung der Umstände des politischen Umbruches (seitens des Botschafters) bzw. die fatalistische Position (seitens des Dolmetschers) (vgl.: SdE: 402 ff.) − zu ihrer lakonischen Zusammenfassung: „Du hattest den Untergang gerochen.“ (SdE: 404) Die Konfrontation mit den Hopi führt zu einem Modus der Selbstbefragung, in dem antiimperialistische Beschreibungen mehrfach kodiert sind: Der Text legt nahe, dass, so wie Hopi von Navajo und Native Americans von den Vereinigten Staaten kolonisiert und marginalisiert werden, nun die Ostdeutschen zu Subalternen werden. Als ein Restbestand des politischen Systems der DDR ist zu verstehen, dass die Hopi − das unterdrückte und „untergehend[e] Volk“ (SdE: 401) − als Spiegelbild für die eigene Lage funktionalisiert und mit pathetischer Sympathie³⁴² aufgeladen wer-
hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 84 f.; Giddens: Kritische Theorie der Spätmoderne, S. 30. Vgl. hierzu ausführlich das Kapitel Nach 1989 – Umbruch und Einbruch. Bauman: Flüchtige Moderne, S. 16 ff. Hier kann an das Gefühl gedacht werden, das die Protagonistin gegenüber der westlichen Erkenntnisunfähigkeit in Bezug auf Trockenanbau empfindet: „Ich spürte etwas wie Schaden-
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den: Indianer haben gerade im Kontext der DDR eine doppelte Bedeutung. Einerseits gelten sie als vom Imperialismus und Kolonialismus unterdrückt und in ihrer Klassenposition dem Proletarier verwandt,³⁴³ andererseits sind deren frenetische Anhänger, in der DDR Indianisten genannt, immer potentielle Unruhestifter: „Die Wildwestfans wurden von der Stasi überwacht und unterwandert, sie waren staatlichen Repressionen ausgesetzt, wurden jedoch auch gefördert und politisch instrumentalisiert.“³⁴⁴ Genau diese Ambivalenz zeichnet den Bezug auf die Native Americans für das ostdeutsche Selbstbild aus. Denn die Protagonistin will ein bestimmtes politisches Erbe der DDR (und ihrer intellektuellen Gründergeneration) in die veränderte Situation nach 1989 retten und sich nicht mit dem untergegangenen Staat gemein machen, um in der dissidenten Rolle neue Perspektiven aufzeigen zu können. Anhand der wechselnden Positionen versucht die Protagonistin ihre eigene Verortung zu bestimmen. Das ostdeutsche Selbstbild, das sich hieraus ergibt, ist in einer Ambivalenz zwischen dem eigenen Kolonisierungsgefühl und der Suche nach neuen (und alten) Sympathieträgern gekennzeichnet. In Stadt der Engel werden die exilierten Schriftsteller, die Obdachlosen, die Schwarzen und die Native Americans abgewogen und in ähnlicher Systematik funktionalisiert. Während erstere in der kapitalistischen Globalisierung dem Vergessen überantwortet werden, wird die zweite Gruppe als vollständig ausgeschlossene präsentiert und die beiden letzteren symbolisieren die Unterdrückung des Systems. In der Präsentation der Gruppen ist jedoch immer ein affirmativer Bezug enthalten, der sich oftmals auf die mit diesen Gruppen verbundenen Hoffnungen kapriziert.
5 „Auferstanden aus Ruinen“ – Ein Engel bringt die Utopie Schon die ersten beiden Verse des von Johannes R. Becher geschriebenen Textes der Hymne der DDR formulieren einen utopischen Gehalt: „Auferstanden aus Ruinen / und der Zukunft zugewandt“³⁴⁵. Die Hoffnung, welche die in die sow-
freude gegenüber den westlichen Wissenschaftlern, die in das innere Geheimnis dieser in ihren Augen primitiven Kultur nicht eindringen konnten, und ich merkte, daß ich den Hopi wünschte, sie könnten ihre Geheimnisse bewahren.“ (SdE: 396). Vgl. hierzu: Borries, Friedrich von / Fischer, Jens-Uwe: Sozialistische Cowboys. Der Wilde Westen Ostdeutschlands, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 42. Dies wird auch noch einmal im Kontext von Durs Grünbein Thema sein. Borries/Fischer: Sozialistische Cowboys, S. 9. Zum Text der Hymne der DDR mit ihren unterschiedlichen Fassungen, vgl.: Amos, Heike: Auferstanden aus Ruinen. Die Nationalhymne der DDR 1949 bis 1990, Berlin: Dietz 1997, S. 36 f.
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jetische Besatzungszone gezogene Intelligenzija nach dem Ende des zweiten Weltkrieges mit diesem Staat verband, ist ein Anknüpfungspunkt für Wolfs Protagonistin, der bereits im vorhergehenden Kapitel thematisiert wurde. Nichts anderes als das Ziel, aus dem in Trümmern liegenden Land eine neue Gesellschaft zu formen, ist der damit verbundene Anspruch. An der Schnittstelle zwischen den Hoffnungen und Utopien der Gründungsgeneration und den Versuchen der Protagonistin, eine neue utopische Vorstellung in das neue ostdeutsche Selbstbild einzuführen, siedeln sich die folgenden Ausführungen an. Das utopische Potential, das Stadt der Engel verhandelt, wird in mehreren Dimensionen des Textes figuriert. So ist zunächst die kathartische Reinigung³⁴⁶ der Protagonistin zu nennen, die in ihrem Fortgang einer Genesung gleicht. Dies befreit die Protagonistin von der psychologischen (und physiologischen) Last, die sich durch die kreisende Beschäftigung mit ihrer Vergangenheit angehäuft hat. Durch diese Vorgänge gewinnt eine weitere Dimension an Bedeutung: das Auftreten des schwarzen Engels Angelina. Dieser Engel findet sein indirektes Vorbild (vermittelt durch einige Verschiebungen) in Walter Benjamins Engel der Geschichte. Außerdem rückt in der erfolgreichen Suche nach der Identität der Briefschreiberin L. der Versuch, Identifizierungen möglich zu machen, in den Blick. Eine weitere Dimension des utopischen Potentials gewinnt an Bedeutung, da in diesem Zusammenhang das Leben jenes Philosophen, der fraglos seine Anleihen an Benjamin nimmt, beschrieben wird. Im Unterschied zum referentiellen Vorbild überlebt der Philosoph den Nationalsozialismus und stirbt erst in den 70er Jahren in Los Angeles. Noch ein letztes Mal steht die Zukunftsparty im Mittelpunkt. Diese sowie die Sing-Szene stehen mit dem Besuch der First African Methodist Episcopal Church und der Fieberkrankheit in engem Bezug. Denn in allen Fällen handelt es sich um Reinigungsszenen, die als „Teil meiner Genesung“ (SdE: 326) zu verstehen sind, welche die Protagonistin unterschiedlich affizieren und die neue Dimensionen in den Text bringen: Sei es auf der konkreten Textebene die Erscheinung des Engels Angelina oder abstrakter die Vorstellung eines utopischen Potentials, das mit dem Auftreten des Engels einhergeht.
In den gemeinsam mit Joseph Breuer veröffentlichten Studien über Hysterie nennt Freud die Methode, die „der Heilung hysterischer Symptome durch Ausforschung und Abreagieren“ folgt, die „kathartische Methode“. Ohne allzu tief in die Probleme dieser frühen psychoanalytischen Arbeit Freuds einsteigen zu wollen (etwa den Vorgang der Hypnose oder des Handauflegens), führt das Ab- und Ausagieren infolge von Erinnerungen auch in Stadt der Engel zur Genesung der Protagonistin. Aus diesem Grund scheint der Begriff Katharsis durchaus passend, das Geschehen im literarischen Text zu charakterisieren, vgl.: Freud, Sigmund / Breuer, Josef: Studien über Hysterie, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1991, S. 272.
5 „Auferstanden aus Ruinen“ – Ein Engel bringt die Utopie
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In der Lektüre wird deutlich, dass die kathartischen Momente der Protagonistin gepalten sind: So sind das Singen und die Zukunftsparty als eine intellektuelle Reinigung und Genesung zu verstehen. Diese wird in einem zweiten Schritt durch die körperliche Erfahrung des Kirchenbesuches ergänzt, in dessen Folge der Engel als eine körperliche Erscheinung auftritt. Die paradoxe Verschiebung, einen Kirchenbesuch der spirituell-geistigen Sphäre zu entziehen, hat mehrere Funktionen: Die Erzählerin kann den Kirchenbesuch sowie das Auftreten des Engels funktionalisieren, ohne eine starke theologische Konnotation hervorzurufen. In der starken Emphase auf die Unterschiedlichkeit der Hautfarben der Kirchenbesucher konstituiert sie ein körperliches Gemeinschaftsgefühl. So motiviert die Erzählerin über diese körperliche Erfahrung narrativ die Existenz des Engels, der in der Fiktion körperlich ebenso faktisch wie die Kirchenbesucher anwesend ist.
5.1 Zur Überwindung von Krisen – Reinigungen und Genesungen Intellektuelle Bewältigung – Das Singen und die Zukunft Wenige Seiten nach der Beschreibung ihrer Nahtoderfahrung,³⁴⁷ die bereits eine erste Verschiebung in dem Verhältnis zu ihrer Vergangenheit andeutet, geht die Protagonistin, Flemings Gedicht An sich memorierend, zu Bett: Es war aber erst Mitternacht. Was jetzt. DA FING ICH AN ZU SINGEN Ich habe diese Nacht durch gesungen, alle Lieder, die ich kannte, und ich kenne viele Lieder mit vielen Strophen. […] Ich weiß noch, daß ich das Gefühl hatte, the overcoat of Dr. Freud schwebe über mir, er habe mir angekündigt, daß ich in dieser Nacht viel über mich erfahren würde, und er werde mich, da das gefährlich sei, beschützen. Da würde sich zeigen, ob ich das, wie ich es immer behauptete, wirklich wissen wolle. Es wunderte mich nicht, daß ein Mantel zu mir sprach. (SdE: 249; Hervorheb. i. Orig.)
Das, durch Schlaflosigkeit initiierte, umfassende Projekt der Nacht wird im Folgenden berichtet. Es reihen sich die unterschiedlichen Titel der Lieder − vornehmlich Arbeiter- und Volkslieder − aneinander, die die Protagonistin in dieser Nacht singt. Bereits in den einleitenden Sätzen wird deutlich, dass dieses musikalische Selbstgespräch Teil einer selbsttherapeutischen Praxis ist. Denn der mehrdeutige Mantel Freuds ist der dinghafte Initiator des Gespräches, bei dem er die Protagonistin schützend begleitet. Ziel soll es sein, ein nicht weiter konturiertes das zu ergründen. Da die Protagonistin viel über sich herausfindet erscheint
Vgl. das Kapitel Verlust und Melancholie.
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IV Christa Wolf: Der Blick in die neue Welt
es mir durchaus plausibel, dass diese Selbstaufklärung mehr als den Grund für ihr Vergessen erkennt. Doch statt einer reflexiven Selbstbefragung oder eines direkten therapeutischen Gespräches mit dem Mantel folgt nur die Aufzählung der Liedtitel. Diese Leerstelle ergibt sich, da sich, laut der Protagonistin, die Vorgänge im Reich des Nichtsprachlichen verorten. Nach ihrem Erwachen sieht sie am Fenster einen Vogel: „Ich begriff, daß er ein Gesandter war, und verstand seine Botschaft, die in Worten nicht auszurücken war. Ich schrieb pflichtgemäß alles auf, was mir einfallen wollte.“ (SdE: 251) Im Gegensatz zu den sonst detaillierten Beschreibungen von Selbstgesprächen, Aufzeichnungen und Material aus den Jahren 1992/1993 verweigert die Erzählerin die entscheidenden Informationen. Dass die Erkenntnis(se) jenseits der Möglichkeit eines konkreten Sprechens zu lokalisieren sind, laden sie mit einer mystischen Faszination auf. An dieser Stelle kann man an die (im Autobiographie-Kapitel beschriebene) Bekenntnisstruktur anschließen, wie in Rekurs auf ein anderes Schema deutlich wird. Wohlfarth beschreibt den Messianismus als eine triadische Struktur, die mit ähnlichen Begriffen wie das Bekenntnis aufwartet: „Messianism in general − and Benjamin’s is no exception – is governed by a triadic scheme: Origin, Fall, and Redemption.“³⁴⁸ Die Triade der Bekenntnisstruktur Adressierung, Selbstentblößung und Heilung ist zwar kein Analogon zu Wohlfarths messianischer Triade, jedoch stehen sich die Begriffe Heilung und Erlösung semantisch nah. Die Heilung des Individuums im Bekenntnis der Beichte kann als individuelle Erlösung verstanden werden. In Stadt der Engel kann man eine Engführung dieser beiden Konzeptionen beobachten, womit immer wieder Konzeptionen des Utopischen angesprochen werden. Schon Herbert Marcuse hat dies erkannt, wenn er in Triebstruktur und Gesellschaft über den die Funktion von Erinnerung und Gedächtnis in der psychoanalytischen Therapie schreibt: „Die Befreiung der Vergangenheit endet nicht in der Versöhnung mit der Gegenwart. Entgegen der selbstauferlegten Gehemmtheit des Entdeckers strebt die Orientierung an der Vergangenheit nach einer Orientierung an der Zukunft.“³⁴⁹ Die Überwindung der Vergangenheit und die damit einhergehende Genesung hat, wie ich im Folgenden zeige, ebenfalls ein utopisches Potential. Agnes Bidmon spricht im Kontext von Utopie und Hoffnung in Wolfs Werken nach 1989 von einer Transformation einer konkreten Utopie in ein „ergebnis-
Wohlfarth, Irving: „The Politics of Prose and the Art of Awakening. Walter Benjamin’s Version of a German Romantic Motif“, Glyphe 7 (1980), S. 131– 148, hier S. 131. Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, übers. von Marianne von Eckardt-Jaffe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968, S. 25.
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offenes Ringen“³⁵⁰. Betrachtet man die intertextuellen Stichwortgeber von Stadt der Engel formuliert Adorno in der Ästhetischen Theorie ähnliche Gedanken. Er verweist dort darauf, dass das utopische Potential von Kunst nicht in der konkreten Darstellung von Utopie liegt, sondern vielmehr in seinem Aufscheinen: Was als Utopie sich fühlt, bleibt ein Negatives gegen das Bestehende, und diesem hörig. Zentral unter den gegenwärtigen Antinomien ist, daß Kunst Utopie sein muß und will und zwar desto entschiedener, je mehr der reale Funktionszusammenhang Utopie verbaut; daß sie aber, um nicht Utopie an Schein und Trost zu verraten, nicht Utopie sein darf. […] So wenig wie Theorie vermag Kunst Utopie zu konkretisieren; nicht einmal negativ. Das Neue als Kryptogramm ist das Bild des Untergangs; nur durch dessen absolute Negativität spricht Kunst das Unaussprechliche aus, die Utopie. Zu jenem Bild versammeln sich all die Stigmata des Abstoßenden und Abscheulichen in der neuen Kunst. Durch unversöhnliche Absage an den Schein von Versöhnung hält sie diese fest inmitten des Unversöhnten, richtiges Bewußtsein einer Epoche, darin die reale Möglichkeit von Utopie – daß die Erde, nach dem Stand der Produktivkräfte, jetzt, hier, unmittelbar das Paradies sein könnte – auf einer äußersten Spitze mit der Möglichkeit der totalen Katastrophe sich vereint.³⁵¹
Adornos Standpunkt, die Ausformulierung von Utopie (oder Dystopie) mit einem Bilderverbot zu belegen, ist eine Theorie der Kunst, die zwischen der „Konstruktion der Moderne“³⁵² und dem Anspruch einer „imaginäre[n] Wiedergutmachung der Katastrophe Weltgeschichte“³⁵³ changiert. Die Ästhetische Theorie ist eine Theorie der Kunst nach Auschwitz und − was für Adorno immanent zusammenhängt − damit eine Theorie der Kunst im Spätkapitalismus und der Spätmoderne. Die reale Möglichkeit, aufgrund von technischen Errungenschaften ein Paradies zu errichten, ist laut ihm immer schon von der Verdinglichung der kapitalistischen Produktionsweise desavouiert. Es kann kein Bild einer „befreite [n] Gesellschaft“³⁵⁴ formuliert werden. Kunst kann nur in dem, was Adorno absolute Negativität nennt, Utopie sein − als Ausdruck der Abscheulichkeit, als welche sie als „unbewußte Geschichtsschreibung ihrer Epoche“³⁵⁵ fungiert. Was Adorno als die gegenwärtigen Antinomien bezeichnet, denen Kunst unterliegt, ist ein Verhältnis, das Stadt der Engel produktiv ausagiert, um in einem
Bidmon, Agnes: Denkmodelle der Hoffnung in Philosophie und Literatur. Eine typologische Annäherung, Berlin/Boston: De Gruyter 2016, S. 359. Adorno: Ästhetische Theorie, A-GS 7, S. 55. So der Untertitel Konstruktion der Moderne des von Burkhardt Lindner und Martin Lüdke herausgegebenen Sammelbandes, vgl.: Lindner/Lüdke (Hrsg.): Materialien zur ästhetischen Theorie. Adorno: Ästhetische Theorie, A-GS 7, S. 204. Adorno: Ästhetische Theorie, A-GS 7, S. 338. Adorno: Ästhetische Theorie, A-GS 7, S. 272.
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Zwischenbereich zwischen Absage an die Utopie und ihrer konstitutiven Offenheit Inhalt und Form miteinander zu vermitteln. Darin trifft sich das Wolf’sche Projekt mit Adornos Annahmen. Die Ästhetische Theorie zeichnet sich, wie es Lüdke formuliert, durch einen utopischen Grundanspruch aus: „Nicht die Abwendung vom Paradies − das ja Adornos Meinung nach auch keins war − ist mithin das Übel, sondern seine Herstellung ist das Ziel.“³⁵⁶ Erinnerung (vornehmlich an die Kindheit) ist der produktive Moment für utopische Bilder, wie Scheible überzeugend argumentiert.³⁵⁷ Während Adorno die Erinnerungen an die Kindheit als Möglichkeit eines Aufscheinens der Utopie benennt, ist es in Stadt der Engel Erinnerung im Allgemeinen, die diese Funktion erfüllt. So bezieht sich dieser Text immer wieder auf die literarischen Vorbilder und verhandelt durch das Auftreten verschiedener Figuren mit jüdischem Hintergrund (teilweise Überlebende der Shoah oder des Exils oder zumindest deren Nachfahren) die Frage einer (deutschsprachigen) Erzählung nach Auschwitz. Selbst wenn dies nicht das zentrale Thema von Stadt der Engel ist, versucht der Text diese Bestandteile in seine Narration zu inkorporieren und reflektiert überdies die Bedingungen des Spätkapitalismus für Utopien. Dabei steht das Verschwinden der Utopie zur Disposition, wenn Stadt der Engel keine konkrete Utopie präsentiert, sondern die Möglichkeiten von Utopie ohne ein konkretes Telos ausleuchtet. So stellt sich das, was Stadt der Engel als „PARADIESISCHE WUNDERWELT“ (SdE: 407; Hervorheb. i. Orig.) einführt, schließlich als die „profanisierte dystopische Warenwelt“³⁵⁸ der Casinostadt Las Vegas dar, die explizit nicht als Utopie, sondern als Paradies bezeichnet wird. An diesem Ort wird die Protagonistin sogar von ihrem Engel allein gelassen und nicht mal die Gedanken an den 4. November 1989 sind vor dem Eindringen des Kapitalismus gefeit. Was sich als ein kleiner utopischer Moment darstellen könnte, ist, „daß die Losung KEINE GEWALT im ganzen Land, von jedermann befolgt wird.“ (SdE: 411; Hervorheb i. Orig.) In ihrer traumartigen Erinnerung an die Alexanderplatzdemonstration vom 4. November 1989 beschreibt die Protagonistin das vergangene Gefühl, Teil einer Utopie zu werden:
Lüdke, W. Martin: „Zur ›Logik des Zerfalls‹. Ein Versuch, mit Hilfe der ›gezähmten Wildsau von Ernsttal‹ die Lektüre der Ästhetischen Theorie zu erleichtern“, in: Lindner, Burkhardt / Lüdke, W. Martin (Hrsg.): Materialien zur ästhetischen Theorie. Theodor W. Adornos Konstruktion der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 415 – 446, hier S. 432. Vgl.: Scheible, Hartmut: „Geschichte im Stillstand. Zur Ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos“, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Theodor W. Adorno, Text + Kritik Sonderband, München: Ed. Text + Kritik 1977, S. 92– 118, hier S. 116. Bidmon: Denkmodelle der Hoffnung, S. 364.
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Eine provisorische, aus einem Leiterwagen errichtete Tribüne, auf der die Redner sich abwechseln. Es war das Unvorstellbare, das sich in Wirklichkeit verwandeln wollte Und das, ihr ahnt es, nur eine historische Sekunde andauern konnte. Aber es hat es gegeben. Die Blumenhändlerin, die vor ihrem Geschäft steht und Flugblätter verteilt: Jetzt muß man dabeisein. Das darf man nicht versäumen. Später Häme, Hohn und Spott, natürlich. Utopieverbot. Aber diese offenen, aufgerissenen Gesichter habe ich doch gesehen. Diese glänzenden Augen. Diese freien Bewegungen. Sie wurden gestoppt, ja. Die Augen richteten sich bald auf die Auslagen der Schaufenster und nicht mehr auf ein fernes Versprechen. Die Roulettetische gewannen an Zulauf. (SdE: 411)
Dass sie³⁵⁹ offensichtlich selbst auf ihre Hoffnungen nur mit Häme, Hohn und Spott antworten kann und schließlich ein Utopieverbot erlässt, ist ein Fingerzeig auf ihre Situation in den folgenden frühen 1990er Jahren. Durch die Überblendung der ‚Wendezeit‘ mit dem Besuch von Las Vegas − durch die allegorischen (freier Markt) bzw. tatsächlichen (Las Vegas) Roulettetische − kann man Stadt der Engel erneut mit Adorno lesen. Stadt der Engel setzt die – von Adorno wörtlich genommene − Wortherkunft von Utopie um: Die Sequenz wird durch die Satzfragmente, „Eine ferne Stimme. Ein ferner Ort.“ (SdE: 411), eingeleitet. Der Begriff Utopie, abstammend von altgriechisch οὐ (ou, übersetzt: nicht) und τόπος (topos, übersetzt: Ort), bedeutet schließlich Nicht-Ort; also ein Ort, der nicht existiert. An was die Protagonistin sich erinnert, wird als ferner Ort bezeichnet. Dieser befindet sich örtlich und zeitlich von jenem Ort entfernt, an dem sie ist. Der Text verschränkt Verräumlichung und Verzeitlichung der Utopie, wenn sie auf den 4. November 1989 rekurriert und damit den Ort der Alexanderplatzdemonstration bestimmt.³⁶⁰ Die Beschreibung dieser Erinnerung schwankt immer wieder zwischen der Desavouierung einer Utopie und dem Utopischen der Erinnerung. Der Kippmoment befindet sich in dem Zwischenraum zwischen individueller Erinnerung und dem historischen Verlauf der Entwicklungen. Während die erinnerten Ereignisse noch mit der Hoffnung auf die Einrichtung einer besseren Gesellschaft im Osten verbunden sind, enthalten die Erinnerungen den Hinweis auf das Es ist an dieser Stelle unbestimmbar, ob die Protagonistin ihre eigenen Gedanken oder die von anderen wiedergibt. Reinhart Koselleck hat in seinem Aufsatz Die Verzeitlichung der Utopie dargelegt, dass infolge der letzten europäischen Entdeckungsreisen (Cooks Umschiffung der Ostküste Australiens) die utopische Literatur ihren Gegenstand von einer räumlichen Darstellung (der Verlagerung an einen fernen Ort) auf zeitliche Achse (der Verlagerung in eine andere Zeit) verschiebt. Zwar wird der Ort der Utopie (oder Dystopie) immer auch in einer anderen Zeit beschrieben, dass angesichts der intensivierten Globalisierungserfahrungen beide Aspekte bei Wolf wieder miteinander verschränkt werden, ist umso bemerkenswerter, vgl.: Koselleck, Reinhart: „Die Verzeitlichung der Utopie“, in: Voßkamp, Wilhelm (Hrsg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Dritter Band, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 1– 14, insbes. S. 2 f.
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Scheitern dieser erhofften Prozesse im weiteren historischen Verlauf. Der Ort, an den die Erzählerin sich in ihren Erinnerungen zurückbegibt, ist von jener Dialektik geprägt, die nicht nur von einem utopischen Gefühl, sondern von dessen Scheitern erzählt. Der Text stellt zwar die Möglichkeit eines utopischen Gefühls aus, zeigt aber anhand der historischen Entwicklung, dass eine Utopie sich nur im Moment ihrer Verwirklichung offenbart; eine Darstellung derselben muss an der epistemologischen Problemstellung scheitern, dass sich mit der Einrichtung der Utopie die Perspektive ums Ganze verschiebt. Der Gewährsmann einer solchen Vorstellung ist Adorno, wenn er in der Negativen Dialektik schreibt: „Im richtigen Zustand wäre alles […] nur um ein Geringes anders als es ist, aber nicht das Geringste läßt sich vorstellen, wie es dann wäre.“³⁶¹ Stadt der Engel verfährt auf einem schmalen Grat, den der Text zwischen negativer Utopie, utopischer Hoffnung und der Absage an eine Versöhnung unter den gegebenen Bedingungen narrativ auslotet. Adorno hat in dem oben zitierten Ausschnitt der Ästhetischen Theorie die gleichzeitige Möglichkeit von Katastrophe und Paradies beschrieben. Der Besuch der Protagonistin in Las Vegas legt Zeugnis ab, wozu das Paradies, von dem Stadt der Engel wortwörtlich spricht, unter den Bedingungen der Katastrophe verkommt. Der Text begnügt sich aber nicht mit dem Adorno’schen Diktum, dass das Utopische in der Kunst nur noch mit den Mitteln der Abscheu darstellbar sei. Vielmehr suchen Protagonistin und Erzählerin in der Darstellung der Abscheulichkeiten einer kapitalistischen Welt, die Stadt der Engel vor allem im letzten Drittel fortwährend zeigt, nach der Möglichkeit eines utopischen Potentials, das sie in ihrer eigenen Subjektivität finden. Diese ist keine Utopie, aber sie verbindet mit der neuen Selbstverortung eine Hoffnung. Schwarz und Wilde haben argumentiert, dass durch den Umbruch 1989 für Wolfs Utopie-Konzeption „das Objektive als konkreter Referenzraum wegfällt“, stattdessen bleibt nur die Reflexion „von Subjektivem […] im Rahmen der subjektiven Authentizität“³⁶² Sie weisen überdies darauf hin, dass den „Utopie-Fragmenten ein relativierendes utopiekritisches Bewusstsein gegenübergestellt wird.“³⁶³ Für die Subjektivität der Protagonistin verortet diese Gleichzeitigkeit sich zwischen der Gefahr, anhand der eigenen Disparatheit zu zerbrechen, und der Annahme sowie Integration der inneren Zerrissenheit in das neue Selbstbild. Die oben zitierte Stelle aus Stadt der
Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 294. Schwarz, Peter Paul / Wilde, Sebastian: „‚Und doch, und doch…‘. Transformationen des Utopischen in Christa Wolfs ”Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“, in: Gansel, Carsten (Hrsg.): Christa Wolf − Im Strom der Erinnerung, Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 231– 244, hier S. 237 f. Schwarz/Wilde: „Transformationen des Utopischen“, S. 238.
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Engel macht dies deutlich: Die utopischen Vorstellungen werden erkennbar, wenn die Protagonistin von sich spricht – entweder in der ersten Person Singular oder in der zweiten Person Plural: Sie hat die aufgerissenen Gesichter gesehen, und sie hat eine historische Sekunde das Unvorstellbare erlebt und geglaubt. Wechselt die Erinnerung ins Überpersönliche und spricht über einen undefinierten Plural (›Die Augen richteten sich bald auf die Auslagen der Schaufenster‹), entlarvt sich der historische Moment als eine Täuschung. Damit wird nicht nur die Selbsttäuschung ausgedrückt, sondern die Kraft, die in dieser individualisierten Aktualisierung durch das Erinnern liegt. In seinen Reflexionen auf die theoretisch-philosophischen Intertexte arbeitet Stadt der Engel diese nicht nur produktiv durch, sondern denkt sie weiter.³⁶⁴ Das Individuum ist der Garant für die utopischen Momente, die immer auf den Zusammenhang von Individuum und einem Kollektiv, das sich angesichts der Verortung der Erinnerung als ein ostdeutsches Kollektiv präsentiert, verweisen. Wobei es jene Genesung von der existentiellen Krise ist, die der Protagonistin diesen Weg überhaupt erst ermöglicht. Nach dem Singen der verschiedenen Lieder als der ersten kathartischen Szene befindet sich die Protagonistin direkt im Anschluss auf der schon mehrfach thematisierten Zukunftsparty: Gegen Abend begann im CENTER die »Zukunftsparty«, zu der alle Mitarbeiter eingeladen waren, gehalten, sich als Zukunftsmenschen zu verkleiden. […] Die meisten hatten sich mit ihrer Verkleidung als Zukunftsmenschen große Mühe gegeben, erschienen in metallisch glänzenden Kostümen, andere waren behängt mit elektronischen Geräten, wieder andere hatten sich Kopfbedeckungen mit Antennen aufgesetzt, und einige traten als Rakete auf. Sie tanzten nach elektronischer Zukunftsmusik, und wir aßen abenteuerliche Gerichte und tranken Phantasiegetränke. (SdE: 253)
Bereits der Beginn der folgenden Passage wirft verschiedene Aspekte auf, die sich in ihrem futurischen Charakter in dem semantischen Feld der Utopie verorten lassen: Der technische Fortschrittsglaube, die Anspielung auf die Raumfahrt, die neuartige Musik und, nicht zuletzt, die kulinarischen Besonderheiten. Angeregt durch diesen scheinbar utopischen Moment einer Zukunftsimagination wendet sich der Text konkret dem Thema der Utopie zu. Denn durch die Imagination einer Zukunft ohne Geld bzw. der Feststellung, dass es keine Zukunft geben kann, „wenn der Dollar immer weiter die Welt überflutet“ (SdE: 254), wird die zögerlichkritische Protagonistin von den anderen Partygästen direkt als Ostdeutsche apostrophiert:
Vgl.: Bidmon: Denkmodelle der Hoffnung, S. 368.
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Ob ich schon mal das Wörtchen Utopie gehört hätte. O Mann, das hatte mir noch gefehlt. Da kam auch noch Francesco in seinem üppigen venezianischen Gewand mit der Teufelsmaske – der Teufel würde niemals aussterben, hatte er behauptet – und schlug auffallend milde vor, sie sollten die Last der Utopie doch mal von meinen östlichen Schultern nehmen und sie sich auf ihre westlichen Schultern laden. (SdE: 254)
Da die Protagonistin bisher die Last der Utopie auf ihren östlichen Schultern getragen hat − ein offensichtlicher Verweis auf Kommunismus und das utopische Versprechen einer klassenlosen Gesellschaft − soll Utopie nun (vom Realsozialismus befreit) zu einem globalen Thema werden. Es wird ein neuer Mensch mit „andere[n] Bedürfnisse[n]“ (SdE: 255) beschworen und „die alternativen Energien“, die „die Klimakatastrophe“ (SdE: 255) aufhalten, herbeigesehnt. Das Gedankenspiel erinnert die Protagonistin wiederum an das Heilsversprechen, mit dem die DDR einst gegründet wurde: Mehr über sich wissen, das kann einen ja auch zur Verzweiflung treiben, sagte Peter Gutman, der Mensch von heute. Spielverderber. Emily rettete die Situation. Sie erhob ihren Weisheitsstab, murmelte ihre pythischen Sprüche, blickte aus unseren Fenstern des elften Stockwerks weit hinaus auf das im blassen Mondschein glitzernde Meer und verkündete: Die Menschen werden es lernen, alles über sich zu wissen und das dazu zu verwenden, einander behilflich zu sein. Wie langweilig! rief Ria. Man versprach ihr, die Konflikte würden nicht aufhören. Erst dann würde es die lohnenden Konflikte geben: Nämlich die zwischen den einzelnen Menschen in ihrer Verschiedenheit. Nicht nur die zwischen Reich und Arm, Hoch und Niedrig, Gläubig und Ungläubig. Das kannte ich doch. Fing noch mal alles von vorne an? (SdE: 256; Hervorheb. M.K.)
Die Forderung nach Beendigung des Gegensatzes zwischen Reich und Arm verweist auf den marxistischen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat, während die Auflösung des Gegensatzes zwischen Gläubigen und Ungläubigen eher als Kommentar der Erzählerin aus der Zukunft zu lesen ist, der auf die islamistischen Anschläge vom 11. September 2001 sowie die Geschichte der Religionskriege verweist.³⁶⁵ Gerade die Kritik an Kapitalismus und Religion bezieht der Text auf die DDR. In der offenbleibenden Frage (›fing noch mal alles von vorne an‹) verbindet die Protagonistin Hoffnung und Pessimismus, wenn ein sorgenvoller Ton mitschwingt, der die Wiederholung der Fehler der DDR reflektiert: Die Zurichtung des Menschen unter dem Ziel, eine Gesellschaft zu erreichen, in der
Schwarz und Wilde konstatieren, dass das Utopische der Party in Kontrast zu den Katastrophen der Ebene der Erzählerin steht, vgl.: Schwarz/Wilde: „Transformationen des Utopischen“, S. 238.
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jene Zurichtung überflüssig wird. Damit wird gerade der Charakter der Zurichtung angesprochen, der im real existierenden Sozialismus staatsreligiöse Züge angenommen hatte. Der hoffnungsvolle Schimmer jener Frage ist in dem Begriff der Utopie aufgehoben, der von der Figur Emily formuliert wird. Die Sorge Peter Gutmans, dass das Wissen der Selbstreflexion der Auslöser für Depression sein könnte, wird bei ihr durch Magie aufgelöst. Das Wissen über sich selbst wird zu einem Wissen für sich und für den Gemeinschaftsnutzen. Was eine andere Figur als Utopie formuliert, ist also gleichsam der utopische Charakter, den die Protagonistin anstrebt. So ist das Alles-über-sich-wissen das Mantra, dem die Selbstbefragung der Protagonistin unterliegt, wie es der Schlusssatz dieser Passage explizit formuliert: „Worum es gehe? Immer noch um die Frage, wie ich das vergessen konnte.“ (SdE: 259) Für die Protagonistin wird das Streben nach einem vollständigen Wissen über sich selbst zur epistemologischen Bedingung der Möglichkeit für die Einrichtung der Utopie, die mit der autobiographischen Bekenntnisstruktur zusammenhängt. Heilung als letzter Schritt der Bekenntnisstruktur gewinnt so in der Genesung der Protagonistin ein utopisches Potential. Ein Rückgriff auf Walter Benjamin als einem theoretischen Stichwortgeber von Stadt der Engel ermöglicht es, dies zu verdeutlichen. Wolf bezieht sich in ihrem frühen poetologischen Text, der eine wichtige Reflexion für ihr autobiographisches Schreiben ist, auf Benjamins Erzähler-Aufsatz. Wie Wohlfarth nachweist, gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen diesem für Wolfs Autobiographie-Reflexion so wichtigem Text und Benjamins letztem Text Über den Begriff der Geschichte, den Stadt der Engel fortlaufend zitiert: „Des ‚ganzen Lebens‘ habhaft zu werden, ist die gemeinsame Utopie sowohl des Erzähler-Aufsatzes als auch der Geschichtsphilosophischen Thesen.“³⁶⁶ Wohlfarth begründet seine Argumentation unter Rückbezug auf eine Stelle aus Über den Begriff der Geschichte ³⁶⁷ und dem Erzähler-Aufsatz: „Denn es ist ihm [dem Erzähler; M.K.] gegeben, auf ein ganzes Leben zurückzugreifen. [… S]ein ganzes Leben zu erzählen.“³⁶⁸ Die beiden Texte Benjamins verbinden nicht nur das Früh- und Spätwerk Wolfs, sondern die poetologischen Reflexionen mit dem autobiographisch inspirierten literarischen Text. Alle vier Texte machen das Nachspüren nach dem eigenen Selbst zu einer zentralen Prämisse. Der Anspruch Alles-über-sich-zu-Wissen ist nicht nur das Telos der Heilung der Bekenntnisstruktur, sondern zeigt die Verbindungen an, die sich von der Genesung zum Wohlfarth, Irving: „Märchen für Dialektiker. Walter Benjamin und sein ‚bucklicht Männlein‘“, in: Doderer, Klaus (Hrsg.): Walter Benjamin und die Kinderliteratur. Aspekte der Kinderkultur in den zwanziger Jahren, Weinheim/München: Juventa 1988, S. 121– 176, hier S. 140. Vgl.: Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 694. Benjamin: „Der Erzähler“, B-GS II, S. 464 (Hervorheb. i. Orig.).
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Utopischen ziehen. Dies bedeutet, dass die Konzeption des Utopischen, wie sie Stadt der Engel vorlegt, mit dem Anspruch der Selbstbefragung, Selbstreflexion und Selbstkonstitution zusammenhängt. Wie sind die eigenen Identifizierungen zu denken und welche Konsequenzen zieht dies für eine Gemeinschaft nach sich, die wie die Ostdeutschen keine empirische Basis mehr hat? Dies sind die Fragen, die der literarische Text an das Utopische adressiert und mit deren Konzeptualisierung er ein Hoffen verbindet, das das Utopische auszeichnet. „In der Epoche, wo es mit der Kunst des Erzählens zu Ende geht, erfüllt sich die Utopie, des ganzen Lebens habhaft zu werden, im Augenblick, wo das eigene Leben zu Ende zu gehen droht.“³⁶⁹ Was Wohlfarth im Hinblick auf Benjamin formuliert, findet sich als literarische Praktik bei Wolf. In Stadt der Engel werden die Schreibweisen neuer utopischer Entwürfe an die Überwindung der existentiellen Krise der Protagonistin gebunden, die sich so − im Verhältnis zu Ostdeutschland und den Ostdeutschen − konstituieren will. Die Notwendigkeit dieser Neubestimmung des Utopischen wird umso deutlicher, wenn die Protagonistin das Scheitern ihrer ehemaligen Utopievorstellung beschreibt: „Die Hoffnung verkam, die Utopie zerbröckelte, ging in Verwesung über. Wir mußten lernen, ohne Alternative zu leben.“ (SdE: 258) Zwar kann retrospektiv formulier werden, dass sie damals „platzten vor Utopie“ (SdE: 258), jedoch rufen die vergangenen Vorstellungen lediglich Unbehagen hervor. Weder Protagonistin noch Erzählerin sprechen mit Bezug auf ihre Gegenwart oder Zukunft direkt von Utopie, die Verwendung dieses Begriffes ist vielmehr der Vergangenheit (und damit der DDR-Zeit) vorbehalten. In der Unmöglichkeit, die konkrete Utopie zu imaginieren, scheint es erneut Ähnlichkeiten zum Bilderverbot Adornos zu geben. Jedoch gibt es einen noch existierenden Hoffnungskern, der in den Leistungen der Selbstreflexion liegt. In der Dialektik dieser „schwache[n] messianische[n] Kraft“³⁷⁰ und der gleichzeitigen Abwehr einer unreflektierten Utopie (wie ihre Inkriminierung und Desavouierung in der DDR und der Wendezeit) liegt für die Protagonistin die weitere Erkenntnis ihrer Genesung. Denn obwohl sie bereits bei ihrem Singen „viel über mich“ (SdE: 249) erfahren hat, kann sie die Möglichkeit dieses Erkenntnisgewinns über das Gespräch und die Selbstreflexionen (eben auch zur Verfälschung der Utopie) nutzen und intellektuell erfahren. Das utopische Potential hat für die Protagonistin − also durch intellektuelle Reflexion und Selbsterfahrung, einander behilflich zu sein − seine kollektive Zielrichtung immer schon eingeschrieben. Denn die Erfahrung des Lernens über
Wohlfarth: „Märchen für Dialektiker“, S. 141. Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 694.
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sich, des Bewältigens vergangener Erfahrungen und der Neu-Konstellation von Wissen ist das, was Stadt der Engel als utopisches Potential ostdeutscher Erfahrung entwirft. Der Text impliziert, dass ostdeutsche Selbstbilder gewonnen werden können. Deren spezielle Erfahrungen im Umgang mit Vergangenheit und ‚falscher‘ Utopie erzeugen, folgt man dieser Lesart, epistemologische Voraussetzungen, die die Welt bzw. zumindest den eigenen Zugang zur Welt anders einzurichten. Dieser sehr positive Entwurf einer ostdeutschen Subjektivität deckt sich weder mit seiner empirisch-faktischen Ausprägung, noch will er die Ostdeutschen als ein quasi-revolutionäres Subjekt darstellen, das qua historischer Teleologie nur seine Rolle einnehmen müsste. Vielmehr spürt Stadt der Engel den Möglichkeiten nach, die sich ostdeutschen Selbstbildern aufgrund der historischen Besonderheiten auftun könnten. In diesem kollektiven Anspruch ist der Text nicht nur pathetisch, sondern naiv, denn er extrapoliert von einem konkreten Individuum auf ein Kollektiv, das er nicht näher bestimmt und schon auf der Textebene nur mit nicht weiter spezifizierten Pronomina (ihr, wir, euch) benennt. Damit unterläuft Stadt der Engel seine anspruchsvollen theoretischen Intertexte, die − trotz aller Reflexionen − ebenso einer Funktionalisierung anheimfallen. Der Text rettet sich dadurch, dass er die Möglichkeit anhand der ungemeinen Anstrengungen zeigt, welche die Protagonistin in ihrer Reflexionsarbeit auf sich nehmen muss, sowie dadurch, dass er die Gefahr für das eigene physische wie psychische Wohlergehen betont, an dessen Rand die Protagonistin sich bewegt. Ein Exempel, das wohl kaum zu verallgemeinern ist. Der utopische Entwurf eines neuen ostdeutschen Selbstbildes wird in Stadt der Engel als ein offenes Projekt dargestellt, das sich nicht auf eine ostdeutsche Identität festlegt. Damit garantiert es eine Diversität und versucht einer Subsumtionslogik zu entgehen. Der Theoretiker eines solches Anspruches ist erneut Adorno.Wie Adorno warnt, verschwindet das einzelne Subjekt im Kollektiven, was deutliche Anklänge an eine Kritik von Vorstellungen ‚kollektiver Identität‘ aufweist: „Je reicher ein Allgemeines mit den Insignien des Kollektivsubjekts ausstaffiert ist, desto spurloser verschwinden darin die Subjekte.“³⁷¹ In den Minima Moralia verwahrt sich Adorno zudem gegen die Ersetzung des individuellen durch ein kollektives Subjekt.³⁷² Stadt der Engel arbeitet sich an ähnlichen Vorstellungen ab und imaginiert eine Konzeptualisierung von Identifizierungen, in der die Subjekte, die aus einem bestimmten (nämlich ostdeutschen) Kontext kommen, sich in dieser Herkunft frei entwerfen. In der Negativen Dialektik bringt Adorno
Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 332. Vgl. hierzu: „Kein Kollektiv heute, dem der Ausdruck des Subjekts sich überließe, ist schon Subjekt.“, Adorno: Minima Moralia, A-GS 4, S. 251.
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eine solche Position auf den Punkt: „Das befreite Ich, nicht länger eingesperrt in seine Identität, wäre auch nicht länger zu Rollen verdammt.“³⁷³ Stadt der Engel will eine Ausrichtung der Subjektivität auf das Nichtidentische als Paradigma entwerfen, wenn durch die Ausstellung von Identifizierungen deren eigene Logik aufgesprengt wird. Der Text entwirft kein befreites Ich, sondern versucht in der Narration die historische Disposition dafür auszuloten. Ein Projekt, das im schlechten Sinn utopisch bleiben muss und das sich als utopisches Paradigma das Alles-über-sich-wissen auferlegt, dessen Ziel die Klärung des blinden Flecks ist, der die Protagonistin auf Schritt und Tritt begleitet. Diesen blinden Fleck hat Ernst Bloch in Geist der Utopie als das epistemologische Problem von Identität³⁷⁴ benannt und es bleibt nur zu spekulieren, ob Wolf diesen Begriff von Bloch, bei dem sie in Leipzig studierte, entlehnt: Wir haben kein Organ für das Ich oder Wir, sondern liegen uns selbst im blinden Fleck, im Dunkel des gelebten Augenblicks, dessen Dunkel letzthin unser eigenes Dunkel, uns Unbekanntsein,Vermummt- und Verschollensein ist.Wie denn alles Zerfließende darin aus dem derzeitigen Zustand des Subjekts herstammt als der noch zerstreuten, ungesammelten, dezentralisierenden, wenngleich nie abreißenden Funktion des Bewußtseins überhaupt.³⁷⁵
Dass in Stadt der Engel dieser blinde Fleck ausgeleuchtet werden soll, ist Teil des utopischen Projektes, das ähnlich wie in Blochs Konzeption „in die Zukunft“³⁷⁶ gerichtet ist, seine Potentialität aber ebenso aus dem „unermattete[n] Eingedenken“³⁷⁷, also aus der Erinnerungsarbeit bezieht: Zuweilen nur zeigen sich in diesem Erinnern Züge des gleichsam höheren, menschlichen Wollens, zuweilen nur gewinnt das Dunkel des Traums einhüllende Affinität zu dem Geheimnis der Ahnung, die aus ihm spricht, vor allzu frechem Licht geschützt; gewiß auch zeigen sich zuweilen im Erinnern die tiefsinnigen Vergoldungen des Gewesenen, die ein
Adorno scheint an dieser Stelle den Begriff der Rolle in seiner zeitgenössischen Verwendung als Vervielfachung von Identitäten zu verstehen, die in bestimmten Kontexten aktiviert werden. Adorno: „Negative Dialektik“, A-GS 6, S. 275. Ein Beispiel für genau diese symbiotische Verwendung von Rollen und Identität wäre Erikson, vgl. hierzu z. B.: Erikson: „Das Problem der IchIdentität“, S. 138. Prägnant formuliert Bloch: „[W]ir leben uns, aber wir »erleben« uns nicht, was indes niemals bewußt wurde, kann auch nicht unbewußt werden. Sofern wir an uns selber nirgends noch, weder im gerade gelebten Augenblick noch unmittelbar danach jemals vergegenwärtigen, können wir als »solche« auch in keiner Gegend irgend eines Erinnerns vorkommen.“, Bloch, Ernst: Geist der Utopie. Zweite Fassung, in: Ders. Werkausgabe. Bd. 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 241. Bloch: Geist der Utopie. Zweite Fassung, S. 253. Bloch: Geist der Utopie. Zweite Fassung, S. 253. Bloch: Geist der Utopie. Zweite Fassung, S. 258.
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Weiteres, Utopisches, Wesentliches als eingesprengt in dem Vergangenen anzeigen und daraus retten.³⁷⁸
In der Dialektik von Nicht-Mehr-Bewusstem und Noch-Nicht-Bewusstem liegt sowohl bei Bloch³⁷⁹ als auch in Stadt der Engel das utopische Potential einer (offenen) Konzeptualisierung ostdeutscher Selbstbilder. Diese sind einerseits als konstitutiv Offenes und Noch-nicht-existierendes und andererseits mit einem retrospektiven Einholen des vergangenen Selbst (als vergangenes Dunkel des gelebten Augenblicks) zu fassen und bedienen so die Rahmenbedingungen des utopischen Registers. Dass der futurische Charakter offen ist, liegt bereits daran, dass die Vergangenheit nicht als gesichert gelten kann. Hier treffen sich Bloch, Wolf und Benjamin. Denn bei Letzterem ist mémoire involontaire nicht das tatsächliche Bild von etwas Vergangenem, sondern eine Imagination, wie Benjamin in der kleinen Rede über Proust erläutert: Zur Kenntnis der mémoire involontaire: ihre Bilder kommen nicht allein ungerufen, es handelt sich vielmehr in ihr um Bilder, die wir nie sahen, ehe wir uns ihrer erinnerten. Am deutlichsten ist das bei jenen Bildern, auf welchen wir – genau wie in machen Träumen – selber zu sehen sind. Wir stehen vor uns, wie wir wohl in Urvergangenheit einst irgendwo, doch nie vor unserem Blick, gestanden haben. Und gerade die wichtigsten – in der Dunkelkammer des gelebten Augenblicks entwickelten – Bilder sind es, welche wir zu sehen bekommen.³⁸⁰
Benjamins Umformulierung der Bloch’schen Formel bestärkt den Bildcharakter der unwillkürlichen Erinnerung und betont ihren Konstellations- und Konstruktionscharakter. Stadt der Engel versucht in dem Verhältnis von Erinnerungsidentifizierung (Retrospektion) und futurischer Identifizierung (Entwurf) zu zeigen, dass der offene utopische Charakter sich nur in bildhaften Ausschnitten der Identifizierung einholen lässt.
Bloch: Geist der Utopie. Zweite Fassung, S. 238. Vgl. hierzu auch: „Man hat nicht entdeckt: es gibt im Gegenwärtigen, ja im Erinnerten selber einen Auftrieb und eine Abgebrochenheit, ein Brüten und eine Vorwegnahme von Noch-NichtGewordenem; und dieses Abgebrochen-Angebrochene geschieht nicht im Keller des Bewußtseins [dem Nicht-Mehr-Bewußten; M.K.], sondern an seiner Front.“, Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, in: Ders.: Werkausgabe. Bd. 5, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 10. Benjamin: „Zum Bilde Prousts“, B-GS II, S. 1064.
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Kreatürliches im Gottesdienst Die letzte kathartische Szene, mit der sich die Heilung der Protagonistin vervollständigt, ist das „Erweckungserlebnis“³⁸¹ im Besuch der First African Methodist Episcopal Church. Während in den beiden bisherigen Reinigungs- und Genesungsszenen das utopische Potential als intelligibel präsentiert wurde, erfährt es im spirituellen Raum des Kirchenbesuches eine Wendung aufs Körperliche. Diese körperliche Erfahrung hängt mit der deutlichen Markierung der Differenz der Hautfarben zusammen: „[W]ir schienen in dieser mindestens vierhundertköpfigen Menge, die inzwischen die Kirche erfüllte, die einzigen Weißen zu sein, es war mir nicht unbehaglich, nur daß ich mir dessen in jeder Sekunde bewußt war […].“ (SdE: 321 f.) Die Protagonistin fühlt die „Blicke“ (SdE: 322) und beschreibt mit ihrem Kirchenbesuch, wie eine ursprünglich spirituelle Erfahrung (die GospelMesse) körperlich erlebt wird: Dort wird im Takt geklatscht (die Protagonistin kann erst nach einer Weile ohne Scham einstimmen), gesungen, jubiliert (vgl.: SdE: 322), die Arme werden „im Rhythmus des wieder einsetzenden Chores“ (SdE: 323) in den Himmel geworfen usw.³⁸² Diese Semantiken von Körperlichkeit und Bewegung (Klang, Tanz etc.) vermitteln, dass sich die Protagonistin überhaupt auf die Geschehnisse in der Kirche einlassen kann: „[I]ch spürte viele schwarze Wangen an meiner Wange, hörte viele Stimmen welcome sagen, ich begann zu lächeln, zu lachen, mich wohl zu fühlen.“ (SdE: 323). Der fremde körperliche Kontakt ist der Auslöser für die eigenen körperlichen Reaktionen eines Prozesses, deren innere Bewegungen schon als abgeschlossen verstanden werden müssen. Analog zur erlebten Liturgie wird für die Protagonistin die Eucharistie zum Höhepunkt des Gottesdienstes: Und nun, was ich nicht erwartet hatte, rückte die ganze Kirche zum Abendmahl vor […]. Jetzt waren wir dran. Ausschließen konnte ich mich nicht, Therese schob mich, ich kniete auf dem Bänkchen vor dem Tisch, winzige Oblaten lagen in Tellerchen, und in einer sinnreich angeordneten Lochreihe steckten Plastikfingerhütchen mit Wein. Ich aß das Brot, ich trank den Wein. God bless you, sagte der minister, der vor mir stand. Das war seit fünfzig Jahren das erste Mal, sagte ich zu Therese, nämlich seit meiner Konfirmation, und übrigens bin ich gar nicht mehr Mitglied einer Kirche, Therese sagte, sie […] habe mit fünfzehn fluchtartig die Kirche verlassen, aber hier sei das etwas anderes. Das sagten alle unsere Freunde, die sich vor der Kirche in einem kleinen weißen Grüppchen versammelten, ein wenig verlegen, kaum imstande, die Bewegung zu verbergen, die uns
Schwarz/Wilde: „Transformationen des Utopischen“, S. 241. Eine Sammlung der Worte, die semantisch um den Begriff der Körperlichkeit und der Bewegung anzuordnen sind, wäre noch um einiges zu ergänzen: Der Einzug des Chores (322), der Rhythmus, das Springen, die Sidesteps im Rockrhythmus, das In-die-Rippen-buffen, das Lachenaus-vollem-Hals (alles 324) etc.
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eben ergriffen hatte, nach allen Seiten winkend, wo man sich mit Kopfnicken und Lächeln von uns verabschiedete. (SdE: 324 f.)
Das sakrale Element dieser Stelle gewinnt seine Bedeutung, da wenige Zeilen später das erste Mal der Engel ihrer eigenen Geschichte erscheint. Aber der sakrale Charakter wird gleichermaßen gebrochen und teilsäkularisiert, denn der Besuch der Kirche sei etwas anderes. ³⁸³ Zwar empfängt die Protagonistin das Sakrament des Abendmahles und damit den Segen Gottes durch den Priester, jedoch distanzieren sie sowie die anderen teilnehmenden Freunde sich von der Kirche als Institution. Die recht sachliche Beschreibung der Oblaten auf Tellerchen und des Weines in Plastikfingerhütchen sowie der lakonisch anmutende Satz, ich aß das Brot, ich trank den Wein, beugen einer Transzendierung des Beschriebenen vor. Nichtsdestotrotz führt der Akt dazu, von einer Bewegung ergriffen zu werden und ordnet das Geschehen als etwas Besonderes ein. In Verbindung mit den zahlreichen Körpersemantiken aus der Messe stellt sich diese Bewegung weniger als ein intellektuelles oder spirituelles Begreifen dar, sondern fungiert als körperliche Katharsis. Dabei ist der Kirchenbesuch durch einen weiteren Bezug gerahmt, der ebenfalls eine säkulare Lesart nahelegt. Die Kirche – insbesondere die protestantische – war in der DDR eine „Ersatzöffentlichkeit“³⁸⁴. Als solche bot sie vor allem die Möglichkeit, sich in bestimmten Bereichen staatlicher Kontrolle zu entziehen. Infolge der Anerkennung der KSZE-Schlussakte durch die DDR im Jahr 1975 erweiterte sich der Spielraum der Kirchen im Verhältnis zur staatlichen Kontrolle noch einmal. So wurden die Kirchen zu Triebfeder der Bürgerrechtsbewegung. Patrik von zur Mühlen konstatiert daher: „Insgesamt ist die Schutzdach-Funktion der Kirchen für die Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit in der DDR nicht zu unterschätzen.“³⁸⁵ Angesichts der Tatsache, dass die Heilung der Protagonistin im Schutzraum einer
Bidmon formuliert im Zusammenhang mit dem Auftreten des Engels treffend: „Es geht ihr [Wolf; M.K.] um eine Erweiterung des Denkraumes in Form einer Synthese von Vernunft und Irrationalität, jenseits des reglementierten westlichen vernunftgläubigen Diskurses, dem sich die Erzählerin unumwunden zugehörig fühlt […]. Wolf versucht demzufolge im Medium der Literatur ein an der Aufklärung geschultes reflektiert utopisches Denken zu entwickeln, dessen integraler Bestandteil eine Aussöhnung mit dem mythologischen Denken bildet.“, Bidmon: Denkmodelle der Hoffnung, S. 368. In einer zugehörigen Fußnote verweist Bidmon überdies auf den Zusammenhang dieser Konzeption zu Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung, vgl. bei Bidmon, S. 368 (Fußnote 626). Zur Mühlen, Patrik von: Aufbruch und Umbruch in der DDR. Bürgerbewegungen, kritische Öffentlichkeit und Niedergang der SED-Herrschaft, Bonn: Dietz 2000, S. 23. Zur Mühlen: Aufbruch und Umbruch in der DDR, S. 32. Vgl. zu dem Aspekt Kirche und Öffentlichkeit auch bei Zur Mühlen, S. 26−32.
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Kirche zu ihrem Abschluss kommt, ist diese Dimension zu berücksichtigen und verweist noch einmal auf das utopische Potential der Umbruchssituation von 1989 zurück. Die Kirche in Los Angeles referiert damit als pars pro toto funktional auf die Gründungsorte der ‚friedlichen Revolution‘ von 1989. In diesem Kontext tritt erstmals der Engel Angelina auf, der sich durch den Namen und in seiner Erscheinung sowie dem Verhalten („oft sei sie zu müde dazu, von der vielen Arbeit“, SdE: 326) an die schwarze Reinigungskraft des Ms. Victoria anlehnt.³⁸⁶ Das Auftreten des Engels hängt mit der körperlichen Dimension des Gottesdienstes zusammen, wenn eine körperliche Aktion des Engels („ein leises beständiges Fächeln“, SdE: 325) die Zeitebenen überbrückt und sie noch die Erzählerin verspüren lässt. Zwar sieht nur die Protagonistin sie („Nur ich sah sie“, SdE: 327), nichtsdestotrotz wirkt ihr Auftreten als eine materialisierte Erscheinung („[Sie; M.K.] saß ganz selbstverständlich neben mir“, SdE: 326). Die Protagonistin, die sich als Anhängerin der Aufklärung versteht, will das Auftreten des Engels nicht erklären, selbst wenn sie solche Vorstellungen für unsinnig erklärt (vgl.: SdE: 333). Besonders prägnant tritt der transgressive Charakter des Engels während einer Krankheit in Erscheinung, welche die kathartischen Episoden abschließt. Denn in diesem Moment tritt Angelina als Engel in Erscheinung, welcher der Protagonistin Klarheit über ihre Krankheit verschafft: „Angelina ließ mich wissen, daß man nicht alles erklären müsse und daß ich im übrigen krank sei.“ (SdE: 334) Während der Verschlimmerung des Fiebers – die psychoanalytisch als Überwindung des letzten Widerstandes des Verdrängten und damit als letzte Verschlimmerung in der Kur verstanden werden muss − ist es ebenfalls der Engel, der sie auf diese Überwindung aufmerksam macht und die körperliche Krankheit mit der psychischen Situation verschränkt: „Ob ich nicht bemerkte, daß ich immer noch auf der Flucht sei.“ (SdE: 334 f.) In ihrem Fieberwahn tritt überdies die ‚reale‘ Angelina auf, die von der Protagonistin nicht als Reinigungskraft erkannt wird:
Bereits an zwei Stellen zuvor tritt Angelina in ihrer Funktion als Reinigungskraft auf. Bei der ersten Erwähnung wird Angelina auch äußerlich beschrieben: „Angelina war nicht nur dunkelbraun, wie die meisten, die von uns Weißen »schwarz« genannt werden, Angelina war wirklich schwarz. Sie hatte Rundungen, wo immer eine Frau Rundungen haben kann, ohne dick zu sein, auch ihre Stirn, ihre Wangen, ihre Lippen waren gewölbt, selbst ihr Kinn war rund, auch die Flügel der Nase, deren Sattel tief zwischen die halbkugeligen Wölbungen der weiß blitzenden Augen eingelassen war, waren abgerundet, die Ellenbogen, die Knie, die unter dem weiten bunten Rock hervorkamen, wenn sie sich reckte, und ihr Haar lag in kleinen runden Locken auf ihrem kugelrunden Kopf. Wie lange sie hier sei, fragte ich sie. Sechs Jahre. Sie komme aus Uganda.“ (SdE: 165) Darüber hinaus ist natürlich ihr sprechender Name Angelina bereits ein Verweis auf ihr Auftreten als Engel.
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Dann war es Morgen, und an meinem Bett stand Angelina, ihr Staubtuch in der Hand, das verwunderte mich nicht. Ich sagte: Mein Engel, aber darauf ließ sie sich nicht ein. Sie sagte, ich sei krank, sie werde nicht den Staubsauger anstellen. Ob sie nicht einen Arzt holen sollte. Ich sagte: No doctor, und sie sagte: Yes, it is very expensive. Zu teuer. Angelina, sagte ich, auf englisch: Wir alle müssen sterben. Das war ihr nichts Neues, sie lächelte wissend und sagte: Yes. That’s true. Ich dachte, warum muß ich diese Wahrheit in einer fremden Sprache erfahren. […] Das Fieber stieg, Ria kam, nach mir sehen, Therese, Peter Gutman steckte seinen langen Schädel herein und gebrauchte das Wort »Krise«. Es dauerte zwei, drei Tage. Dann war es vorbei, ich stand auf, ein wenig wacklig noch, ich erholte mich schnell, ging zu den anderen, nahm teil an ihrem Leben, an ihren Gesprächen. (SdE: 335)
Die Unfähigkeit der Protagonistin, die Reinigungskraft vom Engel zu unterscheiden, ist darin begründet, dass die Register von Materialität und Imagination durch das Auftreten des Engels angesichts dessen Körperlichkeit in Bewegung gekommen sind. Mit der körperlichen Erfahrung der Krankheit (als Abschluss der körperlichen Reinigung) gehen die letzten Erkenntnisse einher, die für die Überwindung des Vergangenen und damit für die Öffnung hin zu neuen Selbstbildern notwendig sind. Dass Peter Gutman den Begriff Krise zur Beschreibung gebraucht, enthält eine bemerkenswerte Pointe. Dieser Begriff versammelt zahlreiche Dimensionen, die Stadt der Engel bespricht: Unweit findet sich eine weitere Beschreibung des 11. Septembers 2001. Dort benennt die Erzählerin dieses Datum als Scharnier der Zeit und referiert explizit auf den Tod, was bereits eine existentielle Krise andeutet.³⁸⁷ Der Begriff Krise ist überdies wiederholt ein Verweis auf die Finanzkrise, die in der Gegenwart der Erzählerin stattfindet (vgl.: SdE: 127). Mit den Bedeutungen von Krise ist noch ein weiter Aspekt verbunden. Krise kann entweder einen Zustand oder den Umschlagspunkt einer Krankheit bezeichnen. Im Grimm’schen Wörterbuch heißt es: „krise, f. die entscheidung in einem zustande, in dem altes und neues, krankheit und gesundheit u. ä. mit einander streiten“³⁸⁸. Vordergründig spielt Peter Gutman also mit seiner Bemerkung zur Krise auf den Diskurs der Krankheit an. Überdies ist der Umschlag von alt in neu damit verbunden. Wie schon das Fieber allegorisiert ist, muss ebenso die Krankheit allegorisch verstanden werden: Die Protagonistin befindet sich am Umschlagpunkt ihre Entwicklung in Stadt der Engel. Dass diese allegorische Lesart den Text durchzieht und die Krankheit zur Krise – zum Umschlag des
„Die Zeit, denke ich, hat ein Scharnier, um das herum sie sich bewegt, das Datum kann man benennen, es ist der 11. September 2001, danach war die Zeit anders als davor. Wie anders. Aus anderem Stoff, ein Material, durchsetzt mit dunklen Einschlüssen, die, wenn sie freigesetzt werden, Tod bedeuten.“ (SdE: 331). „Krise“, in: Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm (Hrsg.): Deutsches Wörterbuch. Bd. 11, Leipzig 1854−1961, Sp. 2332.
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kathartischen Elementes in Stadt der Engel – wird, zeigt sich deutlich an der griechischen Etymologie von Krise. So geht der Wortkern des griechischen Krisis auf das gleiche Verb zurück wie der Begriff Kritik: Denn κρίνειν (krínein) bedeutet trennen, (unter‐)scheiden. Diese semantischen Ebenen treten in der Krise der Protagonistin zusammen. Denn während sich die Krankheit noch zwei, drei Tage fortsetzt, ist die Krise der Protagonistin mit dem Höhepunkt beendet. Durch die Trennung und das Unterscheiden von alt und neu – gerade im Modus der (Selbst‐) Kritik − besteht überhaupt die Möglichkeit, sich dem Neuen zuzuwenden. Die Krise der Krankheit als Wendepunkt und Abschluss beendet somit die Krise als Zustand, in dem sich die Protagonistin bis zu diesem Zeitpunkt befunden hat.
5.2 Der Engel ihrer Geschichte Das Innenfutter des Overcoats Dass die Konstruktion neuer Identifizierungen nur in der weiteren Beschäftigung mit dem Vergangenen stehen kann, wird daran deutlich, dass die Protagonistin sich vornimmt, ihren imaginierten Schutzschild noch einmal genauer in den Blick zu nehmen: „The overcoat of Dr. Freud hatte Risse bekommen, ich wollte herausfinden, wie das Innenfutter des Mantels beschaffen war. Das konnte ich überall tun, an jedem Ort der Erde, warum nicht hier?“ (SdE: 335 f.) Das genaue Betrachten des Innenfutters ist in das utopische Register des Alles-über-sichwissen einzuordnen. Die Untersuchung der Wirkungsweisen des eigenen Unbewussten ist die letzte zu klärende Instanz, die vor dem Tod noch in Angriff zu nehmen ist: „Ich wußte nun, daß ich sterben mußte. Ich wußte, wie gebrechlich wir sind. Das Alter begann.“ (SdE: 335)³⁸⁹ Bereits kurz zuvor hat die Protagonistin in Konfrontation mit der Freundin Emily die Erscheinung ihres Engels in Verbindung zu eben jenem Overcoat gesetzt, den sie nun untersuchen will: Emily nannte sich »intellektuelle Marxistin«, auf jeden Fall Materialistin, doch hielt sie übersinnliche Erscheinungen für möglich, da wir ja nicht wissen könnten, was für Energien sich tief in unserem Unbewußten und im Kosmos herumtrieben. Und was war eigentlich, fiel mir ein, mit dem overcoat of Dr. Freud? Meinem Fetisch? – Nicht doch, sagte die andere Stimme in mir. Das war ja gegen die Psychic von Emily die reinste, glasklare Wissenschaft. (SdE: 333)
Zu diesem Aspekt, vgl.: Smale, Catherine: „Towards a Late Style? Christa Wolf on Old Age, Death and Creativity in »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«“, in: Klocke, Sonja E. / Hosek, Jennifer R. (Hrsg.): Christa Wolf. A companion, Berlin/Boston: De Gruyter 2018, S. 181– 199.
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Auslöser für diese Reflexion ist die Unwilligkeit der Protagonistin, das Auftreten des Engels zu rechtfertigen. Der Begriff des Unbewussten reizt die Protagonistin zu der Assoziation mit dem Mantel und dieser erscheint als tätiges Wesen, wenn er – wie in der Singszene – mit der Protagonistin spricht. Der Fetisch transformiert sich. Die Untersuchung des eigenen Unbewussten kann durchaus als Wissenschaft bezeichnet werden – die Psychoanalyse gibt sich schließlich genau das als eigenen Anspruch −, aber ob die verdinglichte Symbolisierung wirklich Teil einer glasklaren Wissenschaft ist, bleibt zu bezweifeln. Vielmehr muss man den Engel als einen transformierten Mantel verstehen. Dieser wird nach dem Auftreten des Engels nur an wenigen weiteren Stellen des Textes erwähnt – und an einer zentraler Stelle in Verbindung zum Engel gesetzt: Das Innenfutter vom overcoat des Dr. Freud in seine Bestandteile zerlegen, verstehst du? So wie es Forscher gibt, die keine Ruhe finden, wenn sie nicht dahinterkommen, aus was für immer noch kleineren Teilchen unser Universum besteht. Kann ich mir vorstellen, sagte Peter Gutman. Und vielleicht hat mir das, was mich in letzter Zeit umgetrieben hat, widerfahren müssen, um näher an dieses Wissen heranzukommen. Auf dem direkten Weg, über die eigene Haut. Wir sahen durch die riesigen Fenster hinaus in die einfallende Dämmerung, die schnell in Dunkelheit überging. Mir kam es so vor, als witsche eine Gestalt vorbei, in der ich Angelina, meinen Engel, erkennen wollte, es hätte mich nicht verwundert, ich war mir nicht sicher. (SdE: 357)
Wieder spricht die Protagonistin – nun im Gespräch mit Peter Gutman − über den Versuch, an dieses Wissen heranzukommen, und verbindet diesen Akt mit dem Zerlegen und Analysieren des Mantels. Auch wenn bei der Protagonistin eine Unsicherheit besteht, assoziiert sie den Engel in dem Moment, als sie das Geschehen als ein notwendiges Schicksal annimmt.
Exkurs: Benjamins Engel der Geschichte Der Engel Angelina referiert auf Walter Benjamins Engel der Geschichte aus Über den Begriff der Geschichte. Nicht nur wird dieser Text und insbesondere die IX. These von Peter Gutman in Stadt der Engel wiederholt zitiert, überdies wird in diesem Kontext der Begriff des Eingedenkens verwendet: „Immer eingedenk des Satzes sein: Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, und sich dem Sturm aussetzen.“ (SdE: 367)³⁹⁰ Gerade angesichts dieses überdeterminierten Verweischarakters lohnt ein genauer Blick auf dieses Bild³⁹¹:
Bereits früher zitiert Peter Gutman diese Stelle und bezieht sich noch eindeutiger auf Ben-
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Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.³⁹²
Der Engel der Geschichte ist die Figur schlechthin, die in Benjamins Text eine messianische Konzeption erfüllt. Wenn ihr Wirken zur Geltung kommen kann, erschafft sie in der Dialektik des Stillstandes den Moment einer Jetztzeit, in der die Gegenwart nicht länger als reines Durchgangsstadium fungiert, sondern als der Moment, in dem sich eine Vertiefung in die Vergangenheit überhaupt erst vollziehen kann. Dies wäre nicht länger Geschichtsschreibung als (teleologische) Linearität. Khatib argumentiert daher im Rückgriff auf Hamacher, dass mit dem Jetzt der Erkennbarkeit weniger eine konkrete Zeit,³⁹³ als die „strukturelle Bedingung der Möglichkeit“ eines „geschichtspolitische[n] Transzendental[s]“³⁹⁴ im Mittelpunkt steht. Der Engel ist als die Bedingung der Möglichkeit für das Utopische zu verstehen.³⁹⁵ Sein Handeln realisiert die Utopie (noch) nicht, sondern jamin: „Ein Sturm weht vom Paradiese her, sagte Peter Gutman. Der treibt den rückwärts fliegenden Engel der Geschichte vor sich her.“ (SdE: 141). Sigrid Weigel kommt zu dem Schluss, dass aufgrund der Verschränkung der drei Engel aus der IX. These (Der Engel des Motto-Gedichtes von Gershom Scholem, des Klee-Bildes sowie des Engels der Geschichte) die Konstella-tion als dialektisches Bild zu bezeichnen ist, vgl.: Weigel: Entstellte Ähnlichkeit, S. 64. Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 697 f. Vgl.: Khatib, Sami R.: „Teleologie ohne Endzweck“. Walter Benjamins Ent-stellung des Messianischen, Marburg: Tectum 2013, S. 503. Bei Hamacher heißt es: „Benjamin insistiert mit dem für seine Geschichtsphilosophie kardinalen Begriff des Jetzt der Erkennbarkeit auf dem transzendentalen Status des damit Benannten. Es geht ihm nicht um das Jetzt der Erkenntnis, sondern um dasjenige Jetzt, das jeder aktuellen Erkenntnis voraus die strukturelle Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis fixiert.“, Hamacher, Werner: „‚Jetzt‘. Benjamin zur historischen Zeit“, in: Geyer-Ryan, Helga / Koopman, Paul / Yntema, Klaas (Hrsg.): Perception and Experience in Modernity. Benjamin Studien/Studies 1, Amsterdam: Rodopi 2002, S. 145 – 183, hier S. 173. Khatib: Teleologie ohne Endzweck, S. 502 f. Benjamin selbst weist in diesem Kontext darauf hin, dass der Messias „nicht nur der Erlöser“ ist, sondern „er kommt auch als Überwinder des Antichrist“. Mit dieser Überwindung schafft er selbst die Bedingung der Möglichkeit für das Utopische, Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 695.
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verweist auf eine Potentialität, die sich dem Betrachtenden versperrt, da er lediglich eine zeitliche Abfolge, statt der topographischen Anhäufung sieht.³⁹⁶ Der Engel erfüllt zwar die Bedingung der Möglichkeit durch das, was Benjamin Eingedenken nennt, wird aber selbst von diesem Fortschritt weggeweht. Peter Gutman formuliert es in der oben zitierten Stelle als ein Sich-dem-Sturm-aussetzen und beschreibt damit die Position des Engels im Benjamin’schen Bild. Peter Gutman will sich dem Sturm aussetzen, in diesem Kontexte heißt das, sich ihm entgegenstellen, wobei Benjamin für dieses Entgegensetzen das Bild des „Tigersprungs“³⁹⁷ wählt: Der Vorstellung vom Fortschrittssturm, der den paralysierten Engel rückwärts in die Zukunft treibt, stellt er [Benjamin] ein Modell [Tigersprung ins Vergangene; M.K.] an die Seite, nach dem ein Kollektiv eine Gegenbewegung initiiert, den Zwang zum Fortschritt bricht und sich einer Vergangenheit wie einer Beute entschlossen bemächtigt, sie sich radikal aneignet.³⁹⁸
Die Methode ist das Eingedenken, das seine Traditionslinien aus der jüdischen Theologie, aber auch der Verwendung Ernst Blochs im oben bereits zitierten Geist der Utopie bezieht.³⁹⁹ So heißt es im Passagen-Werk: „Die dialektische, die kopernikanische Wendung des Eingedenkens (Bloch).“⁴⁰⁰ Hermann Schweppenhäuser hat in seinem Beitrag das Eingedenken wie folgt charakterisiert: „Die Kraft, die dem Eingedenken erwächst, ist von der Gegenwärtigkeit gespeist, die unerfüllt im Gewesenen liegt.“⁴⁰¹ Benjamins Denken ist in der Verbindung dieser Analyse mit der futurischen Konnotation des Eingedenkens durch Bloch⁴⁰² einzukreisen. Das Eingedenken ist die Methode, mit welcher der Stillstand erzeugt werden kann. Es ist die Tätigkeit, die dem Engel der Geschichte aufgrund des forttreibenden Sturmes nicht vergönnt ist − die Toten zu wecken und das Zerschlagene zusammenzufügen − und die (zumindest) intellektuell vollzogen werden soll. Um dies zu erreichen, verwendet Benjamin ein weiteres Bild, das eine
Vgl.: Kramer, Sven: Walter Benjamin zur Einführung, Hamburg: Junius 2013, S. 131 f. Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 701. Kramer: Walter Benjamin zur Einführung, S. 132 f. Vgl.: Marchesoni, Stefano: Walter Benjamins Konzept des Eingedenkens. Über Genese und Semantik einer Denkfigur, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2016, S. 61. Zur jüdischen Tradition in Benjamins Text, vgl. bei Benjamin selbst, Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 704. Benjamin: Das Passagen-Werk, B-GS V, S. 1006. Schweppenhäuser, Hermann: „Praesentia praeteritorum. Zu Benjamins Geschichtsbegriff“, in: Bulthaup, Peter (Hrsg.): Materialien zu Benjamins »Thesen Über den Begriff der Geschichte«. Beiträge und Interpretationen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, S. 7– 22, hier S. 8. Vgl.: Marchesoni: Walter Benjamins Konzept des Eingedenkens, S. 46 – 50.
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semantische Dimension des Bild-Begriffes umfasst: das Bild als Photographie.⁴⁰³ Dieses ist das Paradigma der Stillstellung eines Zustandes, der nun betrachtet werden kann, so dass „alle Details zum Vorschein kommen“⁴⁰⁴ können. Solche Formulierungen zeigen die semantische Nähe, die zum Selbstauftrag der Protagonistin in Stadt der Engel (alles über sich wissen zu wollen) bestehen. Diese Aufgabe sucht sie zu erfüllen, indem sie mit Hilfe ihres Engels den Overcoat des Dr. Freud genau untersucht. Mittels ihres Engels, der in Stadt der Engel als personifiziertes Eingedenken fungiert,⁴⁰⁵ soll die Protagonistin in der Rekonstruktion der Vergangenheit neue Bedeutungsmöglichkeiten für Gegenwart und Zukunft erarbeiten. Denn dies ist die Aufgabe des Eingedenkens bei Benjamin. Er beschreibt diese Aufgabe mittels des nicht markierten Schlegel-Zitates⁴⁰⁶, „der Historiker sei ein rückwärts gekehrter Prophet“⁴⁰⁷, und impliziert damit die Aufhebung eines traditionellen linearen Zeitverlaufes zugunsten einer Verschränkung von Vergangenheit (›rückwärts‹), Gegenwart (›Historiker‹) und Zukunft (›Prophet‹). In dieser Verschränkung zeigt sich ein utopisches Potential des Eingedenkens, das Stadt der Engel wiederum für das Individuum und nicht für die Geschichtsschreibung erproben will. Trotz der Fokussierung des Individuums in den unterschiedlichen Ebenen versucht der literarische Text einen überindividuell-kollektiven Charakter zu gewinnen, der sich in der Anverwandlung von Benjamins Über den Begriff der Geschichte Raum verschafft. Für Benjamins Text beschreibt Gagnebin das Verhältnis von Individuum und Kollektiv prägnant: „Man kann also durchaus annehmen, daß die Thesen Über den Begriff der Geschichte versuchen die Erkenntnisse Prousts und Freuds über die individuelle und
Die Hinweise auf diese Beziehung sind zahlreich und finden sich etwa in der Kleinen Geschichte der Photographie oder der Berliner Chronik, aber auch in Über den Begriff der Geschichte: „Will man die Geschichte als Text betrachten, dann gilt von ihr, was ein neuerer Autor von literarischen sagt: die Vergangenheit habe in ihnen Bilder niedergelegt, die man denen vergleichen könne, die von einer lichtempfindlichen Platte festgehalten werden.“, Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 1238. Vgl. auch: Benjamin: „Berliner Chronik“, B-GS VI, S. 516; Benjamin: „Kleine Geschichte der Photographie“, B-GS II, S. 371 f.Vgl. zum Komplex Photographie auch das Kapitel Funktionen der Photographie. Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 1238. Wohlfarth legt eine solche Lesart für Benjamins Engel nah, wenn er den „Angel of history, the allegorical em-bodiment of Eingedenken“ nennt, Wohlfarth, Irving: „On the Messianic Structure of Walter Benjamin’s Last Reflections“, Glyphe 3 (1978), S. 148 – 212, hier S. 154. „Der Historiker ist ein rückwärts gekehrter Prophet.“, Schlegel, Friedrich: „AthenäumFragment 80“, in: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 2. Charakteristiken und Kritiken I: 1796−1801, hrsg. von Hans Eichner, Paderborn: Schöningh [u. a.] 1967, S. 176. Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 1237.
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unbewußte Geschichte des Subjekts in kollektive und politische Begriffe zu übersetzen.“⁴⁰⁸ Stadt der Engel entwirft einen komplementären Weg, wenn über die individuelle Betrachtung auf kollektive Prozesse verwiesen wird. In beiden Fällen geht der Text den Fragen nach dem Entwurf von Selbstbildern nach, wobei in Prozessen der Identifizierung das Individuelle und das Kollektive immer miteinander verschränkt werden. Wie bereits gezeigt, verwendet Adorno in seiner Konzeption des utopischen Potentials die Begriffe Untergang und Katastrophe. ⁴⁰⁹ In Benjamins elfter These taucht die Katastrophe auf, die der Engel statt der fortschreitenden Kette von Begebenheiten erkennt. Khatib hat dies in Verbindung zur Krise⁴¹⁰ gesetzt: „Die Eröffnung des Bildraums ist nicht nur an die Aktion des politischen Subjekts, sondern an eine historische Situation gebunden, in der sich dieses Subjekt in seiner exponiertesten Situation am Scheidepunkt, Krisis, befindet und sich dessen bewusst wird.“⁴¹¹ Wieder zeigen sich Interferenzen, die sich zwischen Benjamins Text und Wolfs Stadt der Engel ergeben, der bestimmte Aspekte seines philosophischen Intertextes regelrecht durcharbeitet. Denn der Scheidepunkt, den Khatib in seiner Deutung für ein historisches (kollektives) Subjekt benennt, ist derjenige, der für die Protagonistin individualisiert wird, wenn ihre individuelle Krise zum Umschlagspunkt wird. Es ist ein Umschlag, der sich aber vor allem durch ein Widerstreiten auszeichnet – wenn an die Definition des Grimm’schen Wörterbuches erinnert werden kann. Dieser Widerstreit in der Krise ist im individuellen Kontext der Protagonistin immer die Gleichzeitigkeit zwischen retrospektiven Identifizierungen und futurischen Selbstentwürfen, die nur begrenzt auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind.
Gagnebin: „Über den Begriff der Geschichte“, S. 291. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass die Verbindung von Katastrophe, Messianismus und Utopie ihre Wurzel aus der jüdischen Theologie beziehen. So heißt es bei Scholem: „Der jüdische Messianismus ist in seinem Ursprung und Wesen […] eine Katastrophentheorie.“, Scholem, Gershom: „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“, in: Ders.: Judaica, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963, S. 7– 74, hier S. 20. Und weiter heißt es bei Scholem: „Ich sprach von der Katastrophalität der Erlösung als einem entscheidenden Moment jeder solcher Apokalyptik, an dessen Seite dann die Utopie vom Inhalt der realisierten Erlösung tritt.“, S. 24. Benjamin selbst spricht in diesem Kontext ebenfalls von Krise: „Die Befugnis des Historikers hängt an seinem geschärften Bewußtsein für die Krise, in die das Subjekt der Geschichte jeweils getreten ist.“, Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 1243. Khatib: Teleologie ohne Endzweck, S. 512 (Hervorheb. i. Orig.).
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Vom Ende zum Anfang – Anflug auf L.A. Stadt der Engel tastet diese Bedeutungen ab, wenn die Protagonistin zwischen absoluter Selbstaufgabe, Selbstzweifel sowie Selbstentfremdung und dem Hoffen auf Bewältigung und Etablierung eines undefinierten Neuen changiert. Die Krise der Krankheit referiert darauf und markiert den Umschlag, in dem trotz der Etablierung des Hoffnungsschimmers eines utopischen Potentials nicht die Gefahr einer Katastrophe verschwindet. Diese Gefahr äußert sich nicht nur in der wiederholten Thematisierung der globalen Gefahr, sondern ebenso im Kontext der unmittelbaren Auseinandersetzung um Utopie, wenn es auf der Zukunftsparty heißt: „Hoffentlich werden wir nicht erst durch Katastrophen klug.“ (SdE: 255). Peter Gutman⁴¹² entwirft in Rekurs auf Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater ⁴¹³ ein apokalyptische Szenario, in dem die Reise um die Welt mit Raketen und notfalls mit Atombomben vollzogen wird, wobei die Referenz des Paradieses nicht die utopische Gestalt bei Kleist oder Benjamin – so unterschiedlich die Konzeptionen sein mögen − beinhaltet, sondern vielmehr eine
„Ein Satz von Kleist war ihm mitteilenswert erschienen: Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist. Es war noch vor Mitternacht, ich rief ihn an: Und wenn wir auf das Paradies verzichten würden? Das glaubst du selber nicht, sagte er. Wir sind doch schon heftig bei dieser Reise um die Welt. Nur anders, als Kleist sie sich vorstellen konnte: Nicht mit der Kutsche. Mit Raketen. Wir suchen den Hintereingang, und wenn der auch geschlossen sein sollte, werden wir ihn aufsprengen. Notfalls mit Atombomben.“ (SdE: 353 f.). Kleist Text stellt für eine Lektüre Benjamins, aber umso mehr für Stadt der Engel eine Bereicherung dar. Der Engel, den Herr C. aus Kleists Marionettentheater entwirft, befindet sich hinter uns. Benjamins Engel hat seinen Blick wiederum auf die Katastrophe gerichtet. Das bei Kleist entworfene Kollektiv Menschheit, welches mit der ersten Person Plural angesprochen wird, hat den Cherub hinter sich und richtet dabei seinen Blick zurück, wobei es mit der Reise um die Welt wieder in die Position von Benjamins Engel gerät. Es ist die Bewegung der Protagonistin von Stadt der Engel, die selbst einmal um die Erde fliegt, um festzustellen, dass dort ihr Engel wartet, der sie zwar nicht ins Paradies begleitet, aber sie zumindest aus ihrer (persönlichen) Katastrophe fortführt.Wenn all dies bei Kleist durch das Essen vom Baum der Erkenntnis ausgelöst ist, referiert es auf das epistemologische Problem des Utopischen, an dem Benjamins Über den Begriff der Geschichte und Wolfs Stadt der Engel sich abarbeiten, vgl.: Kleist, Heinrich von: „Über das Marionettentheater“, in: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 3. Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, hrsg. von Klaus Müller-Salget, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1990, S. 555 – 563, hier S. 559. Überdies stellt sich durch die Verbindung der Puppen bei Kleist und der Puppe Historischer Materialismus eine weitere Verbindung der beiden Intertexte her. Sind bei Kleist die Puppen durch ihre Bewusstlosigkeit in der Lage, die „Geschichte der Welt“ zu ihrem „letzten Kapitel“ zu führen, ist es im Fall Benjamins der historische Materialismus in seiner reformulierten und mit theologischen Bedeutungen aufgeladenen Version, siehe bei Kleist: S. 563. Vgl.: Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 693.
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dystopische Phantasie ist, die in Stadt der Engel am ehesten mit der oben bereits thematisierten paradiesischen Wunderwelt einer vollends kapitalisierten Welt zu identifizieren ist. Protagonistin und ihr Engel füllen diese Gefahren maßgeblich im letzten Drittel von Stadt der Engel, so dass die heftige Reise um die Welt an Benjamins Sturm vom Paradies erinnert, der den Engel in stetem Fortschritt wegträgt. Wie bei Benjamin präferieren Protagonistin und ihr Engel dagegen eine Kontemplation, die jenen Fortschritt sprengen und neue Bedeutungen ermöglichen soll. Besonders deutlich wird dies in der Schlussszene des Textes, die durch die Anwesenheit des Schutzengels Angelina noch einmal die Engelsmetaphorik des ersten Satzes („Aus allen Himmeln stürzen“, SdE: 7; vgl. das Kapitel Der tiefe Fall) aufnimmt⁴¹⁴ und damit selbst eine performative Schleife dreht, die im wiederholten Anflug auf Los Angeles kulminiert. Der Text verhandelt erneut die zentralen Kategorien des dialektischen Verhältnisses eines utopischen Potentials: Wir flogen vom nördlichen Rand her direkt hinein in den dichten Smog über L. A. Downtown blieb rechts liegen. Das kleine Land, aus dem ich kam, war es zu unbedeutend, um Anteilnahme zu verdienen? Stand über ihm von Anfang an nicht das Menetekel des Untergangs: Ins Nichts mit ihm? Wäre es möglich, daß ich um einen banalen Irrtum so sollte gelitten haben? Angelina erklärte kategorisch, das spiele keine Rolle. Gemessen würden nur Gefühle, keine Tatsachen. (SdE: 413)
Im Dialog mit Angelina rekurriert die Protagonistin noch ein letztes Mal auf die DDR. Als banaler Irrtum können verschiedene Dinge verstanden werden: Die (historische) Unwichtigkeit der DDR, die fehlgeleitete Hoffnung auf eine Erfüllung von Utopie, das Leiden durch die am eigenen Leib erfahrene Überwachung oder das Leiden infolge der Aufklärung der eigenen überwachenden Tätigkeit. Der Antwort des Engels steht solch konkretes Anliegen indifferent gegenüber, wenn in einer historischen Perspektive Emotionen eine bevorzugte Stellung gegenüber (scheinbaren) Tatsachen erhalten. Peter Gutman hat dies bereits am Anfang des Textes als eine der Grundthesen seines Philosophen formuliert:
Auch Angelina wird als ein Engel bezeichnet, der zwar nicht aus allen, aber zumindest aus den höheren Himmeln gefallen ist: „Sie, der Engel, ließ mich sagen, denn woher außer von ihr hätte ich das wissen können, daß es ein dunkles Geheimnis nicht nur unter den Menschen, auch unter den Engeln gebe, nämlich daß die dunklen Engel gegen Gott aufbegehrt hätten und dafür in den unteren Himmeln bleiben müßten, in den Kategorien von Zeit, Raum und Illusion, darin den Menschen näher, anders als die hellen Engel, die in den oberen Dimensionen in ewigem Licht und Gesang Gottes Thron umkreisten.“ (SdE: 327 f.).
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Übrigens – so fingen die meisten seiner Reden an – übrigens hat mein Philosoph sich auch zu der Inkongruenz von objektivem Ereignis und subjektivem Fühlen geäußert. Ich sagte: Davon bin ich überzeugt. Was sagt er denn? Er sagt, nicht immer sind die Tatsachen gegenüber den Gefühlen im Recht. (SdE: 76)
Folgt man diesem Paradigma, soll nicht etwa die DDR ins Nichts verbannt werden, sondern durch eine kontemplative Perspektive die Zeit zum Stillstand gerinnen, um eine neue Betrachtung der vergangenen Zustände zu ermöglichen. Mit dem Engel Angelina modifiziert der Text die Vorstellung Benjamins dennoch, denn in Stadt der Engel ist nicht nur die historische Perspektive − das Zusammenfügen des Zerschlagenen und das Wecken der Toten − enthalten. Während Benjamins Engel der Geschichte von einem Sturm weggetrieben wird, obwohl er eigentlich an einem Ort verweilen will, gilt für den Engel Angelina etwas anderes: Sie wird nicht durch die Luft getrieben, sondern durchfliegt sie (und die Zeit), wobei es ihr Auftrag ist, die Zeitebenen miteinander zu verbinden. In Benjamins PassagenWerk findet sich ein Absatz, der angesichts der Tatsache, dass Protagonistin und Engel in ihrem Anflug keinem Sturm ausgesetzt sind, ein passendes Bild gibt: „Für den Dialektiker kommt es darauf an, den Wind der Weltgeschichte in den Segeln zu haben. Denken heißt bei ihm: Segel setzen. Wie sie gesetzt werden das ist wichtig. Worte sind seine Segel.“⁴¹⁵ Zwar sitzen Protagonistin und ihr Engel nicht in einem Luftschiff, sie haben trotzdem die Segel gesetzt: Sie durchkreuzen die narrativen Ebenen, in denen die Ereignisse einer Weltgeschichte eingelagert sind und verbinden die verschiedenen Zeiten miteinander. Stadt der Engel versucht daher auf kürzestem textlichen Raum Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verschränken und ein anderes (Nach‐)Denken und Sprechen über die Zeit zu ermöglichen: Daß jetzt erst in Träumen – in Träumen, Angelina! – eine Ahnung mich anflog, worum es wirklich gehen müßte. Hätte gehen müssen. Die Erde ist in Gefahr, Angelina, und unsereins macht sich Sorgen, daß er an seiner Seele Schaden nimmt. Das seien die einzigen Sorgen, um die es sich lohne, fand Angelina, weil alles andere Unheil sich aus diesen ergebe. […] Müßte ich jetzt nicht eine große Schleife fliegen? sagte ich. Zurück auf Anfang? Mach doch, sagte sie ungerührt. Und Jahre Arbeit? Einfach wegwerfen?
Benjamin: Das Passagen-Werk, B-GS V, S. 591. In einer doppelt gestrichenen Stelle der Entwürfe zu Über den Begriff der Geschichte hat Benjamin auch den Zusammenhang zum Engel der Geschichte hergestellt. Dort heißt es: „Interpretation des Angelus Novus: die Flügel sind Segel. Der Wind, der vom Paradiese herweht, steht in ihnen. − Die klassenlose Gesellschaft als Puffer.“, Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders. Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 19, hrsg. von Gérard Raulet, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 134.
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Warum nicht? Das Alter, Angelina, das Alter verbietet es. Angelina hatte zum Alter kein Verhältnis. Sie hatte alle Zeit der Welt. (SdE: 414)
Die Protagonistin nimmt mit der Gefahr für die Erde den Faden wieder auf, der sich während des Aufenthaltes bei den Hopi entsponnen hat, und verweist mit den Träumen auf die Idee einer anderen (besseren) Welt. So sind die Träume Anspielung auf das Unbewusste, das sich seine Bahn bricht und das als kollektives Unbewusste⁴¹⁶ einer globalisierten Welt verstanden werden muss, welches trotzdem im Individuum zu Bewusstsein gelangen kann. Die konjunktivische Vergangenheitsform weist in diese Richtung, wenn die Protagonistin von ihren Träumen spricht, die auf das Kollektiv Menschheit abzielen. In einer Freud’schen Logik (in seiner Ablehnung von Jungs Konzeption eines kollektiven Unbewussten) ist dagegen der Widerspruch Angelinas zu verstehen, wenn diese vom Individuum mit seinen konkreten Umständen auf das Allgemeine abstrahiert. Das Aushandeln der eigenen Unzulänglichkeiten spielt eine entscheidende Rolle für die Entwicklung eines ‚richtigen Bewusstseins‘, indem das Unheil sowohl für individuelle als auch für kollektive Fragen reflektiert werden kann. Die Träume, welche die Protagonistin nicht weiter spezifiziert, können als Tagträume verstanden werden, deren utopisches Potential Ernst Bloch betont: „Der Tagtraum […] erstreckt sich aber wie in die breite, so in die tiefe Weite, in die nicht sublimierte, sondern konzentrierte, in die der utopischen Dimension. […] Der Tagtraum als Vorstufe der Kunst intendiert so besonders sinnfällig die Welt-
Benjamin formuliert im Passagen-Werk, wie die Bilderwelt eines kollektiven Unbewussten gleichzeitig eine ideologische Operation, welche die gesellschaftlichen Zustände überdeckt, und ein revolutionäres Moment, das den Funken der Utopie in sich trägt, beinhaltet: „Der Form des neuen Produktionsmittels, die im Anfang noch von der des alten beherrscht wird (Marx), entsprechen im Kollektivum Bilder, in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt. Diese Bilder sind Wunschbilder und in ihnen sucht das Kollektivum die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären. Daneben tritt in diesen Wunschbildern das nachdrü ckliche Bestreben hervor, sich gegen das Veraltete − das heißt aber: gegen das Jü ngstvergangne − abzusetzen. Diese Tendenzen weisen die Bildphantasie, die von dem Neuen ihren Anstoß erhielt, an das Urvergangne zurü ck. In dem Traum, in dem jeder Epoche die ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint die letztere vermählt mit Elementen der Urgeschichte, das heißt einer klassenlosen Gesellschaft. Deren Erfahrungen, welche im Unbewußten des Kollektivs ihr Depot haben, […] erzeugen, in Durchdringung mit dem Neuen, die Utopie, die in tausend Konfigurationen des Lebens, von den dauernden Bauten bis zu den flü chtigen Moden, ihre Spur hinterlassen hat.“, Benjamin: Das Passagen-Werk, B-GS V, S. 1226.
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verbesserung.“⁴¹⁷ So ist mit der Betrachtung des Vergangenen die Ahnung eines Wissens über die „richtige Einrichtung der Welt“⁴¹⁸ verbunden. Der Engel Angelina referiert auf die verschiedenen Zusammenhänge von Traum, Erinnerung und Utopie und durchkreuzt mit seinen Antworten mühelos die lineare Zeit. Die Frage nach dem Anfang ist für den Engel unproblematisch, hat Angelina doch kein Verhältnis zur Zeit. Sie kann zum Anfang zurückkehren, womit der Ablauf der Ereignisse in der Zeit kontingent wird und potentiell immer den Veränderungen des Engels unterliegt – deswegen rät sie der Protagonistin zum gleichen Vorgehen. Diese verkennt wiederum, dass sie in dieser Situation selbst schon Züge des ‚engelhaften‘ – zumindest für den Moment − angenommen hat. So haben ihre Fragen nach der großen Schleife und einem Zurück-auf-Anfang eine zweifache Bedeutung: Zum einen werden Fragen nach dem Leben, den Lebensvorstellungen und Lebenszielen aufgeworfen. Die Protagonistin muss reflektieren, ob ihre Vorstellung von Utopie, ihr Scheitern im Realsozialismus und das Bemühen um das richtige Leben im Falschen noch einmal vom Anfang neu gedacht werden müssen. Zum anderen ist damit eine Textbewegung gemeint, die mit dem Anflug auf Los Angeles – die Stadt der Engel – Textanfang (›Aus allen Himmeln stürzen‹) und Textende (›eine große Schleife fliegen‹) miteinander verschränkt und den Engel Angelina mit der Protagonistin verbindet, die zu Beginn als gefallener Engel imaginiert wird. Zwar erklärt die Protagonistin aufgrund ihres Alters, keine Zeit mehr zu haben, bemerkt aber nicht, dass sie sich in einer anderen Dimension aufhält, in der die Engel zwar alle Zeit der Welt haben, sich aber immer noch in den „Kategorien von Zeit“ (SdE: 328) bewegen. Damit verweist der Text erneut auf Benjamins Engel der Geschichte, der ebenso eine dialektische Position einnimmt, wenn er den geschichtlichen Verlauf zwar stillstellen will, so dass nicht mehr der lineare zeitliche Verlauf Sinn stiftet, wobei die Kategorien der Zeit weiterhin eine verschobene Bedeutung bewahren. Die letzten zwei Sätzen des Buches perspektiveren die Verschränkung der Ebenen noch einmal futurisch: Wohin sind wir unterwegs? Das weiß ich nicht. (SdE: 415)
Die Unklarheit, wer das sprechende Subjekt ist, wird durch einen Blick auf den Kontext nicht verdeutlicht. Während noch angenommen werden könnte, dass die Protagonistin die Frage formuliert, werden spätestens mit der Antwort Angelina und Protagonistin übereinander geblendet. Der Flug auf Los Angeles, der kein Ziel Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 105 f. Adorno: „Zum Verhältnis von Soziologie und Psychoanalyse“, A-GS 8, S. 65.
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erreicht, sondern offenbleibt, ist als Verweis auf das Zukünftige zu lesen, das nicht mehr zu konkretisieren ist. Die Ahnung davon, worum es wirklich gehen müßte, bleibt nur als ein Schimmer bestehen. Durch die Textkomposition, die auf den Anfang des Textes referiert – schon dort ist der Protagonistin nicht klar, „wozu das [der Aufenthalt in Los Angeles; M.K.] gut sein sollte“ (SdE: 13) −, wird deutlich, dass sich der utopische Moment durch Offenheit und darüber hinaus durch die Potentialität von Gefahr − in Stadt der Engel die existentielle Gefahr für das Leben der Protagonistin durch die Ereignisse im Zuge der Enthüllungen und Selbstnachforschungen − konstituiert. Nicht nur gibt es die Anspielung auf die DDR, das kleine Land, auch die ständigen intertextuellen Verknüpfungen mit Benjamins Engel der Geschichte sowie die Verweise auf Blochs Utopie-Vorstellung zeigen, dass Stadt der Engel über seine theoretischen Intertexte versucht, eine Ebene des Kollektiven in den Text zu inkorporieren. Zusammenfassend und mit Blick auf die Utopie formuliert Wohlfarth: „Sowohl Wolfs als auch Benjamins Ort war ein schwindendes Niemandsland, ein verlorener Posten und ein Vorposten zwischen Ost und West. Kein Nicht-Ort also − es sei denn im Sinne einer Utopie, sondern ein umso realerer, als er sich ›im Herzen der Unmöglichkeiten‹ befand.“⁴¹⁹ Gerade in der Verschachtelung von Intertext und wörtlicher Rede der Protagonistin zeigt sich, dass nicht ausschließlich individuelle Selbstentwürfe reflektiert werden, sondern der Text immer über kollektive Identifizierungen spricht. Stadt der Engel lädt die ostdeutsche Subjektivität extrem positiv auf, wenn er dieser aufgrund der historischen Erfahrungen Möglichkeiten einräumt, ein neues Bewusstsein zu entwickeln. Im Anschluss an das Scheitern einer ‚friedlichen Revolution 1989‘ hoffen Protagonistin und Erzählerin auf einen Lerneffekt, der sich als ein utopischer im besten Sinne entpuppt. Denn es ist eine Möglichkeit, die mit einem Hoffen verbunden wird, und keine historische Notwendigkeit, die Wolfs Text entwirft. Die Hoffnung, eine Subjektivität zu entwerfen, die froh einem unbestimmt bleibenden Neuen und Offenen entgegenstrebt, erinnert an Adornos Beschreibung der Utopie als einer epistemologischen Kategorie, wie er sie am Ende der Minima Moralia ausführt: Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse
Wohlfarth: „Was bleibt“, S. 174. Wohlfarth zitiert hier Benjamins Proust-Aufsatz, vgl. auch: Benjamin: „Zum Bilde Prousts“, B-GS II, S. 311.
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und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird.⁴²⁰
Stadt der Engel präsentiert eine ähnliche Perspektive, wenn der Text vor allem im letzten Drittel dieses Licht einer (Selbst‐)Erkenntnis als Motor der Finalisierung der Narration darstellt, in der die globalen Gefahren und die verbleibenden Hoffnungen auserzählt werden. Der Engel der Geschichte (Benjamins, aber auch Wolfs Angelina) soll jene Unmöglichkeit aushebeln, wenn Adorno davon spricht, dass es keinen „Standort [gibt; M.K.], der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist […].“⁴²¹ Der Engel ihrer Geschichte ermöglicht eine Dimension, die versucht, das Utopische einzuholen und erzählbar zu machen. Trotzdem bleibt eine Problematik bestehen, deren Verhältnis zur Konzeption eines utopischen Potentials an dem (Über‐)leben des Philosophen virulent wird.
5.3 Walter Benjamin und das Niemandsland Das Aufspüren von Identitäten In einem letzten Schritt diskutiere ich in den folgenden beiden Kapitel einen Aspekt, der zum einen die Prozesse von Identifizierungen verhandelt und zum anderen die Vorstellung eines alternativen Geschichtsverlaufes entwirft. Mit der Suche nach der Identität jener L./Lily, deren Briefe die Protagonistin nach dem Tod ihrer Freundin Emma erhält, ist der Anlass für den Aufenthalt in Los Angeles gegeben. Diese Episoden von Stadt der Engel erinnern an Kriminalgeschichten, in denen das Ziel die Aufklärung des Verbrechens und die Identität des Täters ist.⁴²²
Adorno: Minima Moralia, A-GS 4, S. 283. Adorno: Minima Moralia, A-GS 4, S. 283. Vgl.: Wörtche, Thomas: „Kriminalroman“, in: Weimar, Klaus / Fricke, Harald Fricke / Müller, Jan-Dirk (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. II: H−O, Berlin / New York: De Gruyter 2007, S. 342– 345, hier S. 343. Die Suche nach der unbekannten L./Lily ist eine weitere Spieglung zu der ständigen Selbsterforschung der Protagonistin. Die ‚Selbstanalyse‘ der Protagonistin, die an Verweisen auf Freuds Psychoanalyse nicht spart, ist als eine Fortsetzung der Suche nach Lily zu verstehen. Ulla Haselstein hat auf den Zusammenhang von Psychoanalytiker und Detektiv aufmerksam gemacht. Laut Haselstein hängt Freuds Technik zum einen mit dem induktiven Schließen infolge der Sherlock-Holmes-Figur zusammen, andererseits aber mit dem Kunsthistoriker Morelli, der „aufgrund von Detailstudien an Gemälden Rückschlüsse auf die Identität des Malers“ vornahm. Freud verbindet mit seinen beiden Vorbildern, dass „[d]as Indizienparadigma […] am Ende des 19. Jahrhunderts Grundlage einer Wissenschaft vom Individuellen“ wird,
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Bei der Suche nach Lily klärt sich überdies eine weitere Identität: So sind der Philosoph Peter Gutmans und der „liebe Herr“ (SdE: 93) der Briefe Lilys ein und dieselbe Person. Hinter beiden versteckt sich Walter Benjamin, wie sich an den zahlreichen direkten und indirekten Zitaten aus den Schriften Benjamins zeigt.⁴²³ Dabei bleibt der Name trotzdem immer ungenannt: „Dies sei eine der Kernfragen, an denen sein Philosoph sich abgearbeitet habe. Da wußte ich schon, daß Peter Gutman sich seit Jahren mit diesem Philosophen abmühte, dessen Namen er kaum je nannte, als würde er, wenn er ihn auf seinen Namen festlegte, einen Zauber brechen.“ (SdE: 52) Zwar ist diese Aussage als poetologische Lektüreanweisung zu verstehen und rekurriert auf die Voranstellung („Alle Figuren in diesem Buch, mit Ausnahme der namentlich angeführten historischen Persönlichkeiten, sind Erfindungen der Erzählerin. Keine ist identisch mit einer lebenden oder toten Person“, SdE: 6), doch sind die intertextuellen Verweise so zahlreich, dass an einer starken Bezugnahme kein Zweifel besteht. Besondere Signifikanz gewinnt der Philosoph durch die Tatsache, dass er nicht (wie Benjamin) 1940 an der französisch-spanischen Grenze, sondern in den späten 70er Jahren den Freitod wählte,⁴²⁴ allerdings aus völlig anderen Gründen: Mein lieber Herr ist tot. […] Er war verzweifelt. All seine Forschungen der letzten Jahre waren der Frage gewidmet: Wohin geht die Menschheit. Ich kann bezeugen, daß er nie lustvoll den Untergang unserer Spezies prophezeite. Die politischen Ereignisse der letzten Jahre, die McCarthy-Ära, der von den Amerikanern herbeigeführte Sturz Allendes in Chile und was danach in und mit diesem Land geschah, hat ihm den Rest gegeben. Es war ihm zur Gewißheit geworden, daß die Barbarei, der wir gerade noch hatten entfliehen können, sich unaufhaltsam über die Erde ausbreiten würde. Er ist freiwillig gegangen. (SdE: 243 f.)
Die Suche nach Lily, die bis zum Moment der Anagnorisis im Text mit der Initiale L. benannt wird, entwickelt sich ausgehend von den Briefen, die diese an ihre Freundin Emma schickte. Die meisten Passagen der Suche beschränken sich auf
Haselstein, Ulla: Entziffernde Hermeneutik. Zum Begriff der Lektüre in der psychoanalytischen Theorie des Unbewussten, München: W. Fink 1991, S. 26, 28. So liest Peter Gutman wortwörtlich aus dem Erzähler-Aufsatz Benjamins vor: „Der Erzähler − das ist der Mann, Pardon, Madame!, der den Docht seines Lebens an der sanften Flamme seiner Erzählung sich vollkommen könnte verzehren lassen.“ (SdE: 82; Hervorheb. i. Orig.).Vgl.: Benjamin: „Der Erzähler“, B-GS II, S. 464 f. Auch die Aussage Wolfs in Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert, dass es sich beim Philosophen „nicht (mehr)“ um Benjamin handele, wirkt angesichts der dichten Verweisstruktur nur als eine Schutzbehauptung, um literarisch frei verfahren zu dürfen, Wolf: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert, S. 135. Zwar nahmen sich weder Ernst Bloch noch Herbert Marcuse das Leben, ihre Sterbejahre (Bloch 1977, Marcuse 1979) sind aber sicherlich − neben der biographischen Perspektive Wolfs, die ich noch erläutern werde − als Inspiration zu lesen.
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die Wiedergabe der Briefe, wobei bereits Hinweise versteckt sind, die spätestens im Fortgang des Textes als solche erkannt werden können. So liest die Protagonistin bereits nach dem ersten Brief vom September 1945 (vgl.: SdE: 66 f.) den letzten Brief, der über das Ableben von L. spricht: „Unterzeichnet war er mit einem Vornamen: »Ruth«.“ (SdE: 67) Diese Ruth trifft die Protagonistin später (vgl.: SdE: 129) und schließt Freundschaft. Bereits über die Namensgleichheit lässt sich bei aufmerksamer Rezeption einiges vermuten, der Text wird aber noch deutlicher, als Ruth über ihre Therapie spricht: Erst eine lange Therapie, übrigens bei einer Emigrantin aus Deutschland, die ihre enge Freundin geworden, aber vor einigen Jahren leider gestorben sei, erst durch deren Hilfe habe sie verstehen gelernt, was da in ihr vorging. Nun sei sie selbst Psychologin. In meinem Apartment war meine erste Handlung ein Griff nach der roten Mappe. Noch nie, so kam es mir vor, hatte ich es wie heute bedauert, daß ich L. nicht kennengelernt hatte. (SdE: 131 f.)
Ohne dass der Name erwähnt werden muss, kann über die Beschreibung als Emigrantin und Psychoanalytikerin – ein Wissen, das aus einem früheren Brief bekannt ist (vgl.: SdE: 93) − und dem Griff der Protagonistin nach der roten Mappe, Identität vermutet werden. Jene Ruth ist es, die das ganze Dilemma schließlich aufklärt, die Identität enthüllt und die Verbindung zu Gutmans Philosophen herstellt: Sie wisse das, sagte Ruth, durch ihre Freundin Lily. Unglaubhaft, dachte ich. Ich weiß noch, ich dachte: unglaubhaft. […] Ihre Freundin Lily, die hätte sie gleich erwähnen müssen. Eine Psychoanalytikerin. Aus Berlin. […] Ihre Freundin aber, die selbst nicht Jüdin war, habe erkannt, daß im Deutschland der Nazis keine Analyse möglich sein würde. Und sie habe nicht von ihrem Geliebten lassen wollen, der, als Jude, auf ihr Betreiben hin rechtzeitig in die USA emigriert war. Was jetzt kam, was Ruth von Lily, von ihrem Leben, ihrem Charakter erzählte, glaubte ich alles zu kennen. Aus den Briefen jener L., die in der roten Mappe in meinem Regal lagen. Und ihr Geliebter, der Philosoph? hörte ich Peter Gutman sagen. Wie hieß er denn. Da wußte ich es schon, sagte er später zu mir. Es war ja nicht möglich, aber ich wußte es schon. Ruth nannte den Namen, auf den Peter Gutman gewartet hatte. Ein paar Sekunden war es still, dann sagte Peter Gutman leise: Ja. Das ist er. (SdE: 296 f.)
Gutman und die Protagonistin erleben ein gemeinsames Wiedererkennen. Die Suche, welche die Protagonistin als Motivation für den Aufenthalt hatte, ist an ihr Ende gekommen. Die aus Lesenden-Perspektive kriminalistisch aufgeladene Teilgeschichte – die Lesenden können die verschiedenen Puzzlestücke aus Briefen und anderen spärlichen Informationen zusammensetzen − fungiert im Text aber nicht nur als Nebengeschichte. In der Suche der Protagonistin nach der
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Identität Lilys spiegelt sich die eigene Suche nach dem Selbstbild in der neuen Situation einer neuen Welt. Diese Suche ist in beiden Fällen erfolgreich: Durch den glücklichen Zufall der Assoziation Ruths kann die Protagonistin ihr scheinbar aussichtsloses Unterfangen (vgl.: SdE: 55 f.) gewinnbringend zu Ende führen. Darüber hinaus schafft sie es, in der Bewältigung ihrer Schuld eine neue Bestimmung für ihr ostdeutsches Selbstbild hervorzubringen, das sich vor allem in der zweiten Hälfte des Textes niederschlägt. Lily und die verstorbene Freundin Emma spielen überdies in der Bestimmung zur Vergangenheit in der DDR eine nicht unwesentliche Rolle. So verkörpern diese beiden verschiedene Pole des Utopischen: Vergleicht man nun diese beiden Frauenfiguren miteinander, so ergibt sich ein aufschlussreiches Doppelporträt, das zwei wesentliche Facetten des Begriffs ‚Utopie‘ im 20. Jahrhundert beleuchtet. Während Emma als in der Partei engagierte Kommunistin eine radikale Veränderung der Eigentumsverhältnisse anstrebt, zielt Lily als Psychoanalytikerin auf eine Veränderung der Lebenskultur. […] Emma ist der Ansicht, die freie Entwicklung aller sei die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden, und Lily ist der genau umgekehrten Meinung.⁴²⁵
In dieser Doppelstruktur befindet sich die Protagonistin – nicht zuletzt durch die in Stadt der Engel zitierten intertextuellen Theoretiker Freud und Benjamin (sowie bedingt Adorno). Die Protagonistin sucht in diesem kontradiktorischen Verhältnis, für das die beiden Frauenfiguren einstehen, einen Ausweg. Dass Stadt der Engel immer wieder auf dialektische Theorien referiert, die (im Gegensatz zu Hegel) keine klassische (positive) Aufhebung kennen, ist keineswegs zufällig, sondern konstitutiv für die Frage, was Identifizierungen leisten können, um neue Bilder des Utopischen zu vermitteln. Haase bemerkt nicht ohne Grund den historischen Kontext des Todes von Emma, Lily und dem Philosophen: „Es ist gewiss kein Zufall, dass die späten 1970er Jahre, zugleich die Erscheinungszeit von ‚Kein Ort. Nirgends‘, diesen Endpunkt fixieren.“⁴²⁶ In den biographischen Dispositionen von Emma und Lily zeigt sich daher das Dilemma, „den Utopieverlust in der DDR [… zu beschreiben], aber auch […], dass kein Land vorhanden wäre, in das sich wegzugehen lohnte.“⁴²⁷ Es ist der gemeinsame Versuch der theoretischen Intertexte und der formalen Anlage des Textes – in den Zitatmontagen, inneren Monologen, Selbstgesprächen, der Aufspaltung des sprechenden Subjektes und der narrativen Erinnerungsanlage −, neue utopische Potentiale aufzuzeigen, die
Haase: „Christa Wolfs letzter Selbstversuch“, S. 225. Haase: „Christa Wolfs letzter Selbstversuch“, S. 225. Haase: „Christa Wolfs letzter Selbstversuch“, S. 225.
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sowohl für das Individuum als auch für ein kollektives ostdeutsches Selbstbild gelten sollen. Gerade in diesem Kontext ist auf die Traditionen zu verweisen, welche die Protagonistin aus der Zeit kurz vor dem Ende der DDR hervorhebt: Zu nennen ist vor allem die wiederholte Thematisierung des 4. November 1989, dessen befreiende Kraft fortwährend besprochen und durch die Teilnahme der Protagonistin verstärkt wird (vgl.: SdE: 22, 25, 262, 266, 411).
Veränderungen der Geschichte Nicht zuletzt das Fortleben des Benjamin-Philosophen verweist auf ein utopisches Potential, das in einer Neuschreibung der Geschichte liegt, in dem trotzdem die Gefahr für Leib und Leben weiterbesteht: Auch in dieser Narration fühlt sich der Philosoph von den Umständen – seien es auch ganz andere – zum Freitod gezwungen. Selbst wenn dieser Strang nicht im engeren Sinn mit der Konstruktion eines individuellen und kollektiven ostdeutschen Selbstbildes zusammenhängt, macht er deutlich, wie Stadt der Engel das utopische Potential denkt. Neben all den bisher aufgeführten Verweisen auf das Werk Benjamins gibt es noch einige kleine biographische Hinweise, die die Verwandtschaft des Philosophen zu Benjamin nachzeichnen. So wird immer wieder die Frau des Philosophen erwähnt, die den Namen Dora trägt: „Nein, der habe außer seiner eigenen Frau, Dora, die ein Ausbund an Tapferkeit sei, und Lily keine andere Frau gehabt, und auch keine andere gebraucht.“ (SdE: 312) Walter Benjamins Ehefrau trug ebenfalls den Vornamen Dora. Die 1917 geschlossene Ehe wurde aber bereits 1930 wieder geschieden.⁴²⁸ Der Verweis auf das Exil in Paris, „[w]ir lebten übrigens sehr ärmlich in Paris“ (SdE: 133), verbindet den Philosophen mit Benjamin und zeigt dessen außerordentlich schlechte ökonomische Lage in dieser Zeit. Während Benjamin diese ökonomischen Notsituationen jedoch zum Teil durch Unterstützung des emigrierten Instituts für Sozialforschung kompensierte, ist es im Falle des Philosophen die Frau, die durch Putzarbeit zur Ernährerin wird (vgl.: SdE: 133). Trotz der Abweichungen stellt sich angesichts der großen Überschneidungen die Frage, welche Funktion die Veränderung von Benjamins Biographie für Stadt der Engel hat? Zunächst ist das Aufspüren der enigmatischen Figur des ungenannten Philosophen Teil der kriminalistisch inspirierten Geschichte, welche die Handlung um das Briefkonvolut umfasst. Darüber hinaus steht das Weiterleben des Philosophen (statt dem Tode Benjamins in Portbou) in einer Kontinuität mit
Vgl.: Reijen, Willem van / Doorn, Herman van: Aufenthalte und Passagen. Leben und Werk Walter Benjamins: Eine Chronik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 45, 119.
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der Beschäftigung mit seinen theoretischen Arbeiten, vor allem seinem Engel der Geschichte und damit auch Pate für eine (Um‐)Schreibung der Geschichte. Wenn Benjamins Engel der Geschichte „die Toten wecken“⁴²⁹ will, exerziert die kontrafaktische Erzählung Stadt der Engel dies durch. Los Angeles wird zum Ort, an dem sich die fiktive Gestalt Benjamins aufhalten soll – so scheint es angesichts der starken Präsenz deutschsprachiger Exilanten (darunter auch Freunde Benjamins wie etwa Adorno und Brecht) nicht unwahrscheinlich, dass Benjamin im Falle einer geglückten Flucht an diesen Ort gelangt wäre. Dass der Philosoph, anders als Benjamin, überlebt, soll eine utopische Potentialität verkörpern, die der Engel der Geschichte sich erwünscht. Selbst wenn es realiter nicht möglich ist, die Toten zu wecken, kann die Fiktion dies durch den Modus ihres Sprechens vollziehen, wobei die Wahl, auf eine kontrafaktische Erzählweise zurückzugreifen, durchaus problematisch wirkt. Dieses Dilemma reflektiert sich in der fiktionalen Benjamin-Figur, wenn die Rettung vor dem Freitod auf der Flucht doch in seinem Freitod münden muss. Das Skandalon, das der Text hervorheben will, ist die Tatsache, dass die veränderten Umstände nicht ausreichen, den Tod zu verhindern. Die Utopie als Nicht-Ort wird vom Kein Ort. Nirgends zum Niemandsland ⁴³⁰: „Die Zone des Nichtsterbenkönnens ist zugleich das Niemandsland zwischen Mensch und Ding […].“⁴³¹ Was Adorno im Hinblick auf Kafkas Figuren Odradek und den Jäger Gracchus formuliert, ist angesichts der Tatsache bemerkenswert, dass er den Begriff Niemandsland positiv, als ein Niemandsland, das sich durch seine Zwischenstellung der Verdinglichung entzieht, konnotiert. Der Mensch ist dort noch kein Ding und gleichzeitig ist dieses Gebiet für den Menschen nicht erreichbar. Das Niemandsland hat Adorno andernorts direkt als Utopie bezeichnet: Das Land aber, das sie [die imaginierte Internationale in Adornos Kindheit zwischen bayrischer und badischer Grenze; M.K.] umschloss und das ich, spielend mit mir selbst, okkupierte, war ein Niemandsland. Später, im Krieg, tauchte das Wort auf für den verwüsteten
Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 697. „Sowohl Wolfs als auch Benjamins Ort war ein schwindendes Niemandsland, ein verlorener Posten und ein Vorposten zwischen Ost und West“, Wohlfarth: „Blinder Fleck“, S. 574. Wohlfarth wählt den Begriff Niemandsland keinesfalls zufällig, soll doch auch sein Buch über Benjamin den Titel Niemandsland tragen. Wohlfarth gilt als das historische Vorbild Peter Gutmans, welcher genau dieses Buch in Kalifornien zu schreiben versucht. Dies zeigt einmal mehr, wie Stadt der Engel in seiner Intertextualität Fiktion und Faktuales vermischt, vgl.: Wohlfarth, Irving: „Unterwegs zu Adorno, unterwegs zu sich“, in: Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): Adorno-Portraits. Erinnerungen von Zeitgenossen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 40 – 94, hier S. 52. Adorno: „Aufzeichnungen zu Kafka“, A-GS 10, S. 276.
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Raum vor den beiden Fronten. Es ist aber die getreue Übersetzung des griechischen − Aristophanischen – das ich damals desto besser verstand, je weniger ich es kannte, Utopie.⁴³²
Im ostdeutschen Kontext wird diese Doppelbedeutung von Niemandsland neu belebt. So ist nach 1989 sowohl die Front zwischen Ost und West ein Niemandsland als auch die zahlreichen (vermeintlich) leeren Gebäude (unter anderem der DDR-Administrationen), die nun zu kulturellen Freiräumen (gemacht) werden.⁴³³ In seinem utopischen Charakter verweist das Niemandsland auf die Absenz des Todes, was eine der zentralen Bestimmungen der Utopie ist und, wie Adorno im Gespräch mit Bloch erklärt, das Problem ihrer Darstellung verkörpert: Es gibt in der ganzen Utopie etwas tief Widerspruchsvolles, nämlich daß sie auf der einen Seite ohne die Abschaffung des Todes gar nicht konzipiert werden kann, daß aber auf der anderen Seite diesem Gedanken selber – ich möchte sagen – die Schwere des Todes und alles, was damit zusammenhängt, innewohnt. Wo dies nicht drin ist, wo die Schwelle des Todes nicht zugleich mitgedacht wird, da gibt es eigentlich auch keine Utopie. […] Jeder Versuch, die Utopie nun einfach zu beschreiben, auszumalen: so und so wird das sein, wäre ein Versuch, über diese Antinomie des Todes hinwegzugehen und so zu reden von der Abschaffung des Todes, als ob der Tod nicht wäre.⁴³⁴
Was Adorno als die konstitutive Antinomie bezeichnet, führt Stadt der Engel performativ vor. Der Philosoph kann dem Tod an der französisch-spanischen Grenze entgehen, aber nur um den Preis später auf die gleiche Art (den Suizid) zu sterben. Jedes Aufscheinen einer Utopie – also die Verhinderung des Sterbens – muss wieder eingeholt werden, da die Utopie nicht darstellbar wird. Stadt der Engel macht dieses Scheitern einer Darstellung von Utopie zur Grundbewegung des Textes, die auf eine undefinierte Offenheit zielt und ein utopisches Potential ohne Bild einer Utopie entwirft. Dieses utopische Potential erstreckt sich vor allem darauf, die Entwicklungen von Subjektivität neu zu denken. Protagonistin und Erzählerin, die fortwährend auf ihren eigenen ostdeutschen Hintergrund rekurrieren, um diese Subjektivität zu entwerfen, gehen von sich selbst aus, um angesichts historischer Entwicklungen über die Fragen neuer Handlungsfähigkeit des Individuums in einer veränderten Welt zu reflektieren. Dieser Anspruch, der besonders an den Auseinandersetzungen mit dem Utopischen deutlich wird,
Adorno: „Amorbach“, A-GS 10, S. 305. Vgl. hierzu: Ortlieb, Cornelia: Popmusikliteratur, Hannover: Wehrhahn 2018, S. 414 f. Bloch, Ernst / Adorno, Theodor W.: „Etwas Fehlt… Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Rundfunkgespräch mit Theodor W. Adorno, Gesprächsleiter: Horst Krüger, 1964“, in: Bloch, Ernst: Werkausgabe. Ergänzungsband. Tendenz − Latenz − Utopie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 350 – 368, hier S. 360.
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bestimmt den gesamten Text, der mit unterschiedlichen Zugängen immer wieder auf ostdeutsche Selbstbilder nach 1989 zurückkommt.
V Durs Grünbein: Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst Unterwegs mit dem Zug durch Deutschland, überfällt dich noch immer das Staunen, wie groß sie doch ist, diese Landmasse inmitten Europas. Ein Jahrzehnt ist es her, daß dieser siamesische Zwilling […], der so lange getrennt war, in einem beispiellosen Fusionsakt vernäht wurde zu einem neuen, abnormen Riesenkörper. […] Während chirurgischer Ehrgeiz sonst auf die Trennung des verwachsenen Zwillingskörper abzielt – zumeist auf Kosten des schwächeren Teils, der daraufhin eingeht −, hat Politik in diesem Fall aus zweien ein neues Ganzes gemacht. In den zehn Jahren, die seit der gewagten Operation vergangen sind, ist das Geschöpf prächtig gediehen, auch wenn die alten Glieder noch manchmal wie im Phantomschmerz zucken.¹
Im zweiten Hauptteil der vorliegenden Arbeit steht das essayistische Werk Durs Grünbeins im Fokus. Verschiedene Aspekte lassen sich ausmachen, die für ostdeutsche Selbstbilder eine gewichtige Rolle spielen. Grünbein thematisiert fortlaufend die miteinander verschränkten autobiographischen sowie poetologischen Aspekte seiner Texte. Darüber hinaus lassen sich Essays finden, die das Werk einzelner Autoren ins Zentrum stellen. Daneben ist das Grünbein’sche Œuvre reich an (essayistischen) Auseinandersetzungen, in denen sich ein impliziter intertextueller Niederschlag findet. Beide Aspekte spielen in der folgenden Beschäftigung eine wichtige Rolle.² Ein besonderes Augenmerk dieses Kapitels liegt auf der Beschäftigung mit dem autobiographischen Erinnerungsbuch Die Jahre im Zoo. Ich schließe mich prinzipiell Annette Simonis an, die für Grünbeins Text bereits eine essayistische Schreibweise diagnostiziert hat und werde diese Analyse noch einmal vertiefen.³ Ergänzend werden weitere Essays wie Transit
Grünbein: Das erste Jahr, S. 202 f. Hinrich Ahrend verweist auf drei Stränge der bisherigen Grünbeinforschung, die meines Erachtens immer noch aktuell sind und die in dem vorliegenden Kapitel in Dialog treten sollen: „1.) Formalästhetische, diskursanalytische und mediale Fragestellungen; 2.) Grünbeins Aufarbeitung der literarischen Tradition; 3.) zeitdiagnostische, historische, politische und biographische Fragestellungen“, Ahrend, Hinrich: „Tanz zwischen sämtlichen Stühlen“. Poetik und Dichtung im lyrischen und essayistischen Werk Durs Grünbeins, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 18. Vgl. hierzu: Simonis, Annette: „Essayistisches Schreiben als grenzüberschreitendes Genre im 21. Jahrhundert. Gattungsmischung und Transmedialität in neueren Werken Durs Grünbeins“, in: https://doi.org/10.1515/9783110741766-006
V Durs Grünbein: Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst
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Berlin, Den Körper zerbrechen oder Kurzer Bericht an eine Akademie herangezogen.⁴ Grünbeins Prosatexte, alle nach 1989/90 entstanden, widmen sich oftmals nicht direkt dem ‚Ostdeutsch-Sein‘. Diese Texte − eines in der DDR geborenen Autoren − fragen jedoch in und durch ihren essayistischen Modus fortwährend nach der Subjektivität des schreibenden und sprechenden Ichs, das nur durch seine historische Erfahrung so sprechen kann. Die Texte verhandeln Erinnerungen an die DDR, den Systemwechsel, die autobiographischen Erfahrungen eines Aufwachsens in Dresden und die Unmöglichkeiten von Erinnerungen und Identität. In ihrem Ausgang von oftmals spezifischen (Post‐)DDR-Erfahrungen, die allein durch den rekonstruktiven Charakter von Erinnerungen fragil sind und das erinnernde Ich beständig transformieren, beschäftigen sich die Texte mit der Frage, ob und wie es eine spezifisch ostdeutsche Subjektivität geben kann. Im Vorwort seiner ersten Essaysammlung Galilei vermißt Dantes Hölle formuliert Grünbein zusammenfassend, welchen Einfluss seine eigene historische Erfahrung, also die Herkunft aus der DDR als einer anderen Gesellschaft, für ihn bedeutet: „Die Differenz, die aus der Erfahrung einer anderen Gesellschaftsordnung kommt, ein Geheimwissen, reicht vermutlich für den Rest meines Lebens.“⁵ Aufgrund seiner Abneigung gegenüber festen Identitätskonzepten arbeitet sich Grünbein fortwährend an den (Un‐)möglichkeiten von Identifizierungen ab. Das nun folgende erste Kapitel versammelt anhand der Lektüre des ersten Abschnittes der Jahre im Zoo und dem damit verbundenen Essay Transit Berlin verschiedene Aspekte des Grünbein’schen Schreibens, die in den darauffolgenden Kapiteln einzeln behandelt werden. Im zweiten Unterkapitel beschäftigt sich die Arbeit mit weiteren Texten Grünbeins. Im Mittelpunkt steht das formale Charakteristikum einer essayistischen Schreibweise, wobei im Anschluss an Adorno die Frage von Identifizierung und Nicht-Identität dieses Modus diskutiert wird. Das dritte Unterkapitel untersucht die intertextuellen Verknüpfungen der Jahre im Zoo zu Texten und Autoren der klassischen Moderne. Eine exponierte Rolle kommt
Clare, Jennifer u. a. (Hrsg.): Schreibprozesse im Zwischenraum. Zur Ästhetik von Textbewegungen, Heidelberg: Winter 2018, S. 47– 66. Vgl. hierzu vor allem das Kapitel Grünbeins Essayismus und seine Nichtidentität. Grünbein, Durs: „Transit Berlin“, in: Ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989−1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 136 – 143, im Folgenden unter der Sigle TB zitiert; Grünbein, Durs: „Den Körper zerbrechen“, in: Ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989−1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 75 – 86, im Folgenden unter der Sigle DKZ zitiert; Grünbein, Durs: „Kurzer Bericht an eine Akademie“, in: Ders.: Antike Dispositionen. Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 11– 14, im Folgenden unter der Sigle KBA zitiert. Grünbein, Durs: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989−1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 9 f.
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V Durs Grünbein: Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst
Walter Benjamins Berliner Kindheit um 1900 sowie Franz Kafkas und Paul Adlers Verhältnis zu Dresden-Hellerau sowie Kafkas Bericht für eine Akademie zu. Dabei soll das Potential der narrativen Formen von Identifizierung, die von Benjamin entliehen und transformiert werden sowie die Funktionalisierung Kafkas und Adlers in ihrem neuen Kontext der Post-DDR-Narration ausgeleuchtet werden. Im letzten Kapitel stehen die optischen Aspekte aus den Jahren im Zoo im Zentrum. Hierbei werden die Funktionen der Photographie und der zoologische Blick, den Grünbeins Text entwirft, erläutert.
1 Eine Ouvertüre im Übergang Erinnerung und Intertext Der kurze Auftakttext von Grünbeins Die Jahre im Zoo trägt den Titel Ouvertüre im nachhinein. Ähnlich wie im ersten ‚Kapitel‘ von Wolfs Stadt der Engel finden sich dort bereits zahlreiche Aspekte, die für ostdeutsche Selbstbilder und die Prozesse von Identifizierungen von Bedeutung sind und daher einer intensiven Betrachtung unterzogen werden. Bereits der Titel zeigt an, aus welchem zeitlichen Horizont das Ich spricht. Die Eröffnung ist ex post geschrieben und nimmt eine erinnernde Perspektive ein. Dass der Text sich mit diesem Komplex auseinandersetzt, wird schon am ersten Satz deutlich: „Mit der Verläßlichkeit von Erinnerungen ist es, wie jeder aus Erfahrung weiß, nicht weit her.“ (DJZ: 7) Die Ouvertüre ruft das Problem der Authentizität von Erinnerungen auf, womit schon zu Beginn des Textes geklärt wird, dass die Beschäftigung mit jener Problemstellung die intrinsische Motivation des Textes ist. Der Kontext, an den sich Die Jahre im Zoo erinnert, ist nicht willkürlich, sondern das Leben und vor allem die Kindheit und das Jugendalter des Schreibenden; also ein Aufwachsen, das in der DDR verlebt wurde – ein Aspekt, der im Folgenden noch deutlichere Konturen erhalten wird. Der Vorbehalt gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Erinnerungen wird (wie der ganze erste Absatz) unpersönlich formuliert. Erst in dem anschließenden Absatz tritt das Ich auf, das sich an seinen „ersten Alptraum“ (DJZ: 7) erinnert. Infolge des verspäteten Auftretens des Ichs erhält der erste Absatz den Charakter universeller Wahrheit; es ist schließlich etwas, was „jeder aus Erfahrung weiß“ (DJZ: 7). In seiner Skepsis gegenüber der Erinnerung schließt Grünbeins Eröffnung an die (aus dem ChristaWolf-Kapitel bekannten) Konzeptionen Benjamins, Adornos und Freuds an. Doch geht die Übereinstimmung über diesen Aspekt hinaus, denn es finden sich zwei intertextuelle Referenzen, die auch für Adorno und Benjamin zu zentralen Stichwortgebern geworden sind:
1 Eine Ouvertüre im Übergang
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Dies zumindest haben Materie und Gedächtnis gemeinsam, daß sie ganze Welten verschlingen können, ohne daß die Oberfläche der Tage auch nur die leiseste Kräuselung zeigt. Tatsächlich können, so wie Gesichter, Stadtviertel, Straßenszenen im Klick einer Pupille verschwinden, ganze Lebensphasen und die zugehörigen Schauplätze und Gefühlslagen fortgewischt werden, als hätten sie nie existiert. Ganz genau weiß ich aber noch meinen ersten Alptraum. Er hatte sich mir eingeprägt, weil er sich viele Nächte lang wiederholte. (DJZ: 7)
An dieser Stelle werden mit dem Klick einer Pupille die optische Qualität des Anschauens mit der technischen Qualität der Photographie verbunden. Während eine korrektere Formulierung wäre, von einem Augenschlag bzw. einem Reflex einer Pupille oder dem Klicken einer Linse (wobei es die Blende ist, die das Geräusch macht) zu sprechen, verbindet der Erzähler⁶ die beiden optischen Aspekte und erklärt das betrachtende Auge zum Photoapparat. Die Amalgamierung von Photographie und Blick findet auf sprachlicher Ebene statt. Der Erzähler bestimmt das Verhältnis, in dem Bild und Sprache zueinanderstehen, wenn die zahlreichen Photographien vom Text gerahmt werden und ihn durch diese Rahmung bestimmen. Grünbein stellt so den Denkbild-Charakter seiner optischen Metaphoriken aus.⁷ In seinem intertextuellen Bezug zitiert der Erzähler im zweiten Satz einen der bekanntesten Texte der Gedächtnisforschung: Henri Bergsons Materie und Gedächtnis. ⁸ Allerdings nimmt sein Kommentar zu der von Bergson eingezogene Differenz von Gedächtnis und Materie einen anderen Begriff von Materie in den Blick als Bergson: Statt der körperlichen rückt der Erzähler eine nichtkörperlichenichtorganische Materie in den Fokus.⁹ Die Gemeinsamkeit zwischen Materie und Gedächtnis, ihre Fähigkeit zur Destruktion ganzer Welten, äußert sich im Regelfall unterschiedlich: Während im Fall des Gedächtnisses Vergessen oder Verdrängen für das Verschwinden von Erinnerungen verantwortlich sind, kann die Materie nur durch Vernichtung materieller Güter ihre Präsenz verlieren. Grünbeins unveränderte Oberfläche der Tage verweist ebenso auf zwei unterschiedliche Dimensionen: Denn während die materielle Welt (was außerhalb des Geistes liegt)
Wie schon im Kapitel zu Christa Wolf wird auch hier auf die Unterscheidung von Erzähler und Protagonist im Anschluss an Genette zurückgegriffen. Vgl. das Kapitel Denk-Bilder − Optische Identifizierungen. Grünbein selbst, aber auch Hinrich Ahrend verweisen auf die Bedeutung von Bergson für den Zeitbegriff Grünbeins, vgl.: Grünbein, Durs / Jocks, Heinz-Norbert: Durs Grünbein im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks, Köln: DuMont 2001, S. 10; Ahrend: Tanz zwischen sämtlichen Stühlen, S. 40. Vgl.: Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Versuch über die Beziehung zwischen Körper und Geist, hrsg. und übers. von Margarethe Drewsen, Hamburg: Meiner 2015, insbes. S. 16 f.
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normalerweise vom Vergessen nicht affiziert wird, kann das Gedächtnis die materiellen Veränderungen überdauern.¹⁰ Für Grünbeins Beschreibung – sein Aufwachsen in der DDR −, ist diese Diagnose wiederum zutreffend: So besteht die Gefahr, dass seine Erinnerungen dem Vergessen überantwortet werden, wie schon die DDR in ihren materiellen Manifestationen fortgewischt wurde. In dem Verschwinden ganzer Lebensphasen treffen Materie und Gedächtnis aufeinander: Das Vergessen von Erinnerungen und das materielle Verschwinden der DDR. Die Jahre im Zoo ist als ein Widerspruch gegen das Vergessen und Verschwinden zu verstehen. Die Narration des Textes wird zu einem performativen Verfahren, das die wahrgenommene Parallelität von Gedächtnis und Materie aufzuhalten sucht. Mit der zweiten intertextuellen Referenz – Marcel Proust – stellt Grünbein sein autobiographisches Projekt in eine literarische Tradition. Obwohl die Ouvertüre im nachhinein eine andere „Qual des Zubettgehens“¹¹ schildert, lassen sich doch Ähnlichkeiten zum Beginn von Du côté de chez Swann finden. Während Marcel im ersten Teil von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit das Zubettgehen vermeiden will, um nicht „Mutter und Großmutter fernbleiben“¹² zu müssen, ist es in den Jahren im Zoo ein sich wiederholender Alptraum, der den Protagonisten um den Schlaf bringt: Ganz genau weiß ich aber noch meinen ersten Alptraum. Er hatte sich mir eingeprägt, weil er sich viele Nächte lang wiederholte. Bis dahin muß ich mit allem und allen verbunden gewesen sein, nach der Art der Naturvölker und Kleinkinder: Von diesem Moment an war ich nur noch das Einzelkind in seiner ganzen Verlorenheit und Verfehltheit. Der Ablauf war immer derselbe. Es geschah in unserem Haus in der Hellerau-Siedlung am Stadtrand von Dresden, das wir bezogen hatten, kurz bevor ich zur Schule kam, und es muß in der Zeit gewesen sein, da man das Lesen und Schreiben und die ersten primitiven Rechenformen erlernte. (DJZ: 7)
Grünbeins Beispiel hierfür wäre ohne Frage Pompeji, auf das er immer wieder zu sprechen kommt. In seinem Essay Vulkan und Gedicht heißt es im Kontext des Ausbruches des Vesuvs: „Ganze Kommunen wurden augenblicklich begraben, Straßennetze verschwanden von Stadttor zu Stadttor im Bimssteinregen, Tausende Menschen fielen in Todesschlaf und verbrannten zu schwarzen Puppen. Eine urbane Welt wurde vollständig im Schlamm konserviert […].“, Grünbein, Durs: „Vulkan und Gedicht“, in: Ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989−1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 34– 39, hier S. 34. Vgl. hierzu auch: Assmann: Erinnerungsräume, S. 405. Proust, Marcel: Unterwegs zu Swann. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1, in: Ders.: Frankfurter Ausgabe. Bd. II.1, hrsg. von Luzius Keller, übers. von Ders. / Eva Rechel-Mertens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 16. Proust: Unterwegs zu Swann, S. 15.
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In dem Moment der iterativen Erzählweise des Geschehens, der autodiegetischretrospektiven Stellung der Erzählinstanz zum selbsterlebten vergangenen Geschehen und in dem Alter¹³ der Protagonisten stimmen Grünbein und Proust überein. „Kaum war es dunkel und ich lag im Bett ausgestreckt, da begann sich der Raum nach oben zu weiten und um mich zu drehen.“ (DJZ: 7) Die Wiedergabe des Grünbein’schen Alptraumes zitiert den Eingangssatz der Recherche, „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“¹⁴, und verbindet diesen mit der LaternaMagica-Szene des Kindes.¹⁵ In letzterer betrachtet das Kind die ihm durch die „schwankenden“¹⁶ Projektionen nun unbekannt gewordenen Wände seines Zimmers. Im Anblick der „Bilder längst vergangener Zeiten“ fühlt sich das Kind von dem Zimmer und von sich selbst − „ein Zimmer […], das ich endlich so sehr mit meinem Ich erfüllt hatte“¹⁷ − entfremdet; eine Erfahrung, welche die beiden Protagonisten, wenn auch aus anderen Gründen, verbindet. Der Bezug ist nicht direkt markiert, sondern gestaltet sich als ein „Zauber der Anspielung in einem Nebensatz“¹⁸, wie Grünbein sein intertextuelles Programm in einem poetologischen Essay formuliert. Es ist bemerkenswert, dass der Erzähler die Kinderszene aus Combray mit dem Beginn der ersten Sätze der Recherche verschränkt, in denen der Erwachsene Marcel schlafen gehen will. Die eigentlich unzutreffende Vermischung beider Szenen der intertextuellen Referenz, die unterschiedlichen zeitlichen Ebenen angehören, ist nicht einfach der Unkundigkeit des Autors geschuldet, sondern verweist auf den Titel Ouvertüre im nachhinein und damit auf die zeitliche Struktur dieser Erinnerungen in kondensierter Form: Es ist der erwachsene Erzähler, der sich an seine Kindertage erinnert und so das Bild über sich selbst erst formt.
Dies trifft zumindest zu, wenn man die zeitliche Datierung Genettes für die Recherche annimmt. Laut Genettes Chronologie beginnt die erzählte Zeit in Combray ungefähr als Marcel fünf Jahre alt ist und nimmt einen längeren Zeitraum ein. Der Protagonist der Ouvertüre ist sieben Jahre alt, vgl.: Genette: Die Erzählung, S. 56 f. Proust: Unterwegs zu Swann, S. 7. Vgl.: Proust: Unterwegs zu Swann, S. 15 f. Dies verbindet überdies den Alptraum mit dem Klicken der Pupille. Friedrich Kittler hat darauf hingewiesen, dass die Laterna Magica eine umgedrehte Camera Obscura ist. Der Vorgänger der Photographie ist dabei das Bindeglied zwischen der klickenden Pupille als photographischem Apparat, der Alptraumszene Grünbeins und dem literarischen Intertext der Laterna-Magica-Szene Prousts, vgl.: Kittler, Friedrich: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin: Merve 2002, S. 82. Proust: Unterwegs zu Swann, S. 15. Proust: Unterwegs zu Swann, S. 17. Grünbein, Durs: „Reflex und Exegese“, in: Ders: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989−1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 61– 66, hier S. 63.
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Die Verbindung zwischen Proust und Bergson stützt sich auf zahlreiche Untersuchungen, produktiv wurde sie beispielsweise angesichts der Äußerungen Benjamins und Adornos. Grünbein schreibt sich in eine Tradition ein, die nicht allein in der Verbindung des philosophischen und des literarischen Intertextes, sondern gleichsam in der Auslegung dieser Texte besteht. Die theoretische Auseinandersetzung mit Erinnerung und Gedächtnis entfaltet eine ebenso große Bedeutung. In Benjamins Baudelaire-Buch finden sich einige Verweise auf den Zusammenhang von Proust und Bergson: Man kann Prousts Werk »A la recherche du temps perdu« als den Versuch ansehen, die Erfahrung, wie Bergson sie sich denkt, unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen auf synthetischem Wege herzustellen. […] Das reine Gedächtnis – die mémoire pure – der Bergsonschen Theorie wird bei ihm zur mémoire involontaire – einem Gedächtnis das unwillkürlich ist. Unverzüglich konfrontiert Proust dieses unwillkürliche Gedächtnis mit dem willkürlichen, das sich in der Botmäßigkeit der Intelligenz befindet.¹⁹
Der Bezug, den Benjamin zwischen Proust und Bergson herstellt, ist von zentraler Bedeutung für Benjamins eigene Konzeption von Erinnerung und Gedächtnis − Schlagwort mémoire involontaire − und damit für die Möglichkeit der Aneignung von Erinnerung und Geschichte und deren Bedeutungskonstitution für das erinnernde Subjekt. Adorno bezieht sich in Der Essay als Form ebenfalls auf Proust und Bergson. Dort steht die Proust’sche Bezugnahme auf Bergson für eine besondere Art von Erfahrung und Erkenntnis, die sich neben Prousts Romanen vor allem im essayistischen Schreiben finden.²⁰ Folgt man dem im Kapitel geschilderten Alptraum, zeigt sich, wie die Problematisierung von Erinnerung und Gedächtnis mit Identifizierungen zusammenhängen. Schon der Bezug auf Prousts Recherche macht dies deutlich. Während für Marcel die Eltern in einer (gefühlt) unendlichen Ferne des großbürgerlichen Anwesens sind, befindet sich der Protagonist in einem deutlich beschränkteren Umfeld „in der Hellerau-Siedlung am Stadtrand von Dresden“ (DJZ: 7). Der Innenraum wird wie folgt beschrieben: „Über der Kammer, die nur eine Schiebtür mit Milchglaseinsatz vom Schlafraum der Eltern trennte, der uns tags als Wohnzimmer diente, war das Haus aufgebrochen.“ (DJZ: 7) Mit dieser Bestimmung im kleinbürgerlichen Umfeld einer Stadt in der DDR nimmt die Beschreibung des Alptraumes seinen Ausgang: Zwischen mir und dem Weltall gab es kein Dach mehr, und über den Kleiderschränken begann nun das Firmament. Ich war dem feuchtkalten, unfaßbar schwarzen Außenraum
Benjamin: „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“, B-GS I, S. 609. Vgl.: Adorno: „Der Essay als Form“, A-GS 11, S. 15 f.
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ausgesetzt und hatte das Gefühl, mit großer Kraft nach draußen gesogen zu werden. Mein Bett, mein geliebtes Bett bot keinen Halt mehr, der einzige Ort, an dem ich geschützt gewesen war vor den Attacken der Welt. Ich war jener unglückliche Kosmonaut (man gebrauchte damals den offiziellen sowjetischen Ausdruck, Astronauten waren nur Amerikaner), der versehentlich durch eine Klappe aus seiner Raumstation gefallen war und nun abgenabelt und abgekabelt umhertrieb. (DJZ: 7 f.)
Der Erzähler bezeichnet die Angst „grenzenlos“, die er damit verbindet, dass ihm (wie dem Dach) der „Schädel geöffnet worden“ (DJZ: 8) ist und er in das Weltall gesaugt wird. Dass der schlafende Protagonist vom Aufbrechen der Decke träumt, stellt eine Referenz an Proust dar − an die oben erwähnte Laterna-Magica-Szene − und radikalisiert diese: Werden die Wände bei Proust durch die Projektionen ersetzt, verschwindet die Decke in Die Jahre im Zoo vollkommen. Roland Barthes hat in seinem Essay Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen den Schlaf als Begründer einer neuen Form der Logik benannt: „Der Schlaf begründet eine andere Logik, eine Logik des ›Flackerns‹, des ›Aufbrechens‹ der Wände […].“²¹ Diese Art der Logik ist bei Barthes der Ausgangspunkt, von dem aus er über die Form der Recherche − zwischen Essay und Roman − reflektiert; eine Lesart, die ebenso auf Grünbeins Erzähler angewandt werden kann: „[A]ber wir kennen die Form, die er [Proust; M.K.] gewählt hat: eben die der Recherche: Roman? Essay? Keines von beiden oder beide gleichzeitig: was ich als dritte Form bezeichne.“²² Barthes Beschreibung der Recherche als dritte Form der Prosa, die zwischen Roman und Essay „wie ein Kleid angefertigt“²³ wird, ist der Versuch, „die wiedererinnerte Zeit der falschen Permanenz der Biographie zu entziehen.“²⁴ Einem ähnlichen Paradigma folgend präsentiert Grünbein sein Erinnerungsbuch, denn obgleich Prousts Mammutwerk essayistische Elemente enthält, muss es doch als ein Romanprojekt begriffen werden. Die Jahre im Zoo ist dagegen eine Ansammlung von Texten unterschiedlicher Länge, die eine thematische Kontinuität bezüglich des Aufwachsens in Dresden-Hellerau während der DDR aufweisen, aber jeweils singulär lesbar bleiben. Grünbein wählt daher den Untertitel Ein Kaleidoskop; gleichsam eine Bezeichnung des Dazwischen, in dem die singulären Elemente sich wie bei einem Kaleidoskop im Blick verbinden. Damit wird ein optisches Potential aufgerufen, das Grünbein in Das erste Jahr in Rekurs auf Proust beschreibt: „Das Experiment eines gewissen Marcel Proust, der Nachweis an einem einzelnen
Barthes, Roland: „»Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen«“, in: Ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, übers. von Dieter Hornig, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 307– 320, hier S. 311. Barthes: „»Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen«“, S. 310. Barthes: „»Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen«“, S. 311. Barthes: „»Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen«“, S. 312.
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Gedächtnis, an seiner persönlichen Odyssee durch die Zeit, hatte die Richtung gewiesen. Kann sein, ich bin noch nicht soweit, dieses Bild zu entwickeln, doch seinen Konturen beuge ich mich schon jetzt.“²⁵ Trotz dieser Zwischenform orientiert sich Grünbein stärker an einer essayistischen Schreibweise, deren Bezugnahme auf Proust jedoch das Potential einer Identifizierung beinhaltet, wie sie Barthes für sich selbst (in Bezug auf Proust) beschreibt: „Proust ist nun der bevorzugte Ort dieser besonderen Identifizierung […]: Ich identifiziere mich […] mit [Proust als; M.K.] dem bald sich abquälenden, bald überschwenglichen, aber jedenfalls mit dem bescheidenen Arbeiter […].“²⁶ Grünbeins essayistisches Schreiben identifiziert sich ebenfalls mit diesem Vorbild,²⁷ transformiert es aber angesichts des eigenen historischen Kontextes. Sonja Klein hat mit Blick auf ein Gedicht aus dem Band Nach den Satiren auf eine ähnliche Verwendung Prousts durch Grünbein hingewiesen: „Der Verweis auf die Suche nach der verlorenen Zeit ist hier nicht bloßes Zitat, sondern zugleich Hommage und dichterische Konfession.“²⁸ Die Jahre im Zoo stellt den Versuch dar, ein essayistisches Schreiben der Selbstbefragung zu entwerfen, das den Bericht der eigenen Lebensgeschichte in der DDR samt des rekonstruktiven Charakters eines solchen Projektes reflektiert. So formuliert der Erzähler zu einem späteren Moment eindeutig die Referenz zur Recherche: „Mir ging die kostbare Zeit des Jungseins zu schnell vorbei. Und ich weiß bis heute nicht, wie ich sie mir zurückholen kann, die verlorene, verlogene, sinnlos verplemperte Zeit. Mittels Sprache?“ (DJZ: 318) Die Suche nach der eigenen verlorenen Zeit, die sich einzig im Paradigma der Nachträglichkeit im Sinne Freuds vollziehen kann, zeichnet eine generelle „Affinität von Durs Grünbeins Werk zu Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit“²⁹ aus. Grünbein selbst hat in unterschiedlichen Kontexten auf diese Verbindung hingewiesen.³⁰ Jedes Schreiben über sich selbst und die eigene Subjektivität, das in einem essayistischproustschen Modus verfährt, muss die ständigen Bewegungen im Text hervorbringen, die auf die eigene Subjektivität zielen: Keine Identität, sondern Identi Grünbein: Das erste Jahr, S. 91. Barthes: „»Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen«“, S. 307. Roland Barthes weist in diesem Kontext auch daraufhin, dass einen Identifizierung nicht zu einem Vergleich führt: „Denn indem ich Proust und mich selbst in einer Zeile anbringe, bedeute ich keineswegs, daß ich mich mit diesem großen Schriftsteller vergleiche, sondern daß ich mich, auf gänzlich andere Weise, mit ihm identifiziere“, Barthes: „»Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen«“, S. 307. Klein, Sonja: „Denn alles, alles ist verlorne Zeit“. Fragment und Erinnerung im Werk von Durs Grünbein, Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 233 f.; vgl.: Grünbein: Nach den Satiren, S. 184– 194. Klein: Denn alles, alles ist verlorne Zeit, S. 13. Vgl. hierzu Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 60; Grünbein: Das erste Jahr, S. 105.
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fizierungen sind der Ausgangspunkt Grünbeins, die dieser in Rekurs auf das literarische Vorbild Proust begründet.
Alptraum der Kosmonauten In dem bereits zitierten Alptraum verwendet der Erzähler den Terminus Kosmonaut, die sowjetische Bezeichnung für das, was im Westen Astronaut genannt wird, wie er in direktem Anschluss kommentiert. Die Erzählinstanz erinnert sich, sich wie ein – und zwar ein bestimmter (›jener‹) − Kosmonaut gefühlt zu haben, der abgetrennt allein durchs All treibt. Der Kosmonaut scheint Grünbein – versteht man es als eine Aussage des Autors − seit jüngster Kindheit als etwas Angsteinflößendes zu begleiten. Der Alptraum nimmt eine paradoxe Wendung, denn während der „abgenabelt[e] und abgekabelt[e]“ (DJZ: 8) Kosmonaut völlig verloren im Weltall seinem baldigen Tod entgegenschaut, ist die Konfrontation mit der Welt, die der kindliche Protagonist erlebt, zwar durchaus bedrohlich, aber nicht notwendigerweise gefährlich oder gar todbringend. Diese erwachsene Perspektive wird von der Mutter vertreten, die dem Protagonisten keinen entsprechenden Trost bei seinen „Irrfahrten durch den Weltraum“ (DJZ: 9) spenden kann. Das Gefühl von Abnabelung und Autonomisierung, das dazu führt, dass „nichts […] mehr wie in den Jahrhunderten meiner Kindheit zuvor“ (DJZ: 9) war, parallelisiert in Die Jahre im Zoo die onto- und die phylogenetische Entwicklung, wenn der Zustand vor Beginn der Angstträume als eine Verbundenheit „mit allem und allen […] nach der Art der Urvölker und Kleinkinder“ (DJZ: 7) bezeichnet wird. Wenn man die kindliche Perspektive des Protagonisten einnimmt, ist es − etwas banal gesagt – die Angst vor dem Erwachsenwerden, die in der Erkenntnis mündet, dass die menschliche Entwicklung ständige Abweichungen produziert: „Kein Individuum, das nicht auf seine Weise von der Art abweicht.“ (DJZ: 9) In einem autobiographischen Kontext ist noch eine weitere Dimension zu ergänzen: Grünbein, Jahrgang 1962, ist während der ersten Mondlandung 1969 wie der Protagonist sieben Jahre alt. Die Handlung der Jahre im Zoo erstreckt sich (mit einem kurzen Rückgriff auf die Zeit in Dresden-Cotta) dementsprechend von den Jahren 1969 bis 1982/83.³¹ Dies ist der Zeitraum, der sich zwischen zwei (westlichen) Intertexten entspannt, die beide von einem im Weltall treibenden Astronauten berichten: David Bowies Space Oddity und Peter Schillings Major Tom (Völlig losgelöst). Beide Songs beziehen sich nicht nur aufeinander, sondern bilden den zeitlichen Rahmen, den Die Jahre im Zoo entwirft. Der Einbezug der
Grünbein leistet von 1981 bis 1983 seinen Wehrdienst bei der NVA ab. Die Handlung der Jahre im Zoo endet mit dem Eintritt und gibt noch einige Verweise auf die Zeit in der NVA.
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westlichen Popkultur verweist einerseits auf den kosmopolitischen Selbstentwurf, den Die Jahre im Zoo fortwährend betont, und andererseits auf das Begehren Jugendlicher in der DDR nach westlichen Waren und westlicher Kultur. In der Transformation von Bowies bzw. Schillings westlichem Astronauten in den Kosmonauten liegt gleichsam ein Bezug zum Osten, der trotz westlicher Referenz nicht abreißt. Es gibt im Werk Grünbeins einen weiteren Essay, der ebenfalls mit einer alptraumartigen Beschreibung eines Kosmonauten beginnt: Transit Berlin. Der Text rückt die Unmöglichkeit von Identität und den Kontext Ostdeutschlands verstärkt in den Blick und muss als intertextuelle Referenz innerhalb von Grünbeins Œuvre verstanden werden. In dem Essay von 1994 spricht Grünbein über den Alptraum als Kosmonaut, der während 1990/91 im All ist, die Zeit des politischen Systemwechsels in der Sowjetunion (quasi) zu verschlafen: Was für ein Alptraum – da kreist einer oben im All allein in seiner mit Elektronik vollgestopften Kapsel, ein russischer Kosmonaut, Eremit im Orbit, von seinen Artgenossen in den Weltraum geschossen, wo niemand ihn schreien hört −, und die Zeit vergeht, anders dort oben als auf der Erde unten, und nach 100 oder mehr Tagen, wenn er zurückkehrt, ist wie über Nacht alles verändert. Die Welt, die er vorfindet, ist eine andere als vor dem Start. Mehrere kleine Revolutionen und große Putsche sind ins Land gegangen. Die Großmacht, das siebzig Jahre alte Konstrukt, das seine Nation war, ist zerfallen […]. (TB: 136)
Während in den Jahren im Zoo von einem bestimmten (›jenen‹) Kosmonauten die Rede ist, bleibt in Transit Berlin unklar, wer dieser Kosmonaut sein soll oder ob potentiell jeder Kosmonaut dieses Schicksal erleiden könnte. Trotz dieser Unbestimmtheit lässt sich leicht ein (konkretes) historisches Vorbild finden: Sergei Konstantinowitsch Krikaljow war von Mai 1991 bis März 1992 auf der Raumstation Mir stationiert und gilt als letzter sowjetischer und erster russischer Kosmonaut, da sein Aufenthalt sich mit der Auflösung der UdSSR überschnitt. Das alptraumartige Gefühl verbindet nicht nur die beiden Kosmonauten-Stellen Grünbeins, sondern Die Jahre im Zoo erscheint regelrecht als eine Fortschreibung von Transit Berlin. Aus Perspektive der Jahre im Zoo muss man den rekonstruierten Alptraum als einen Kommentar zu Transit Berlin verstehen, in dem die Zeitebenen des Erinnerungsbuches, wie eine Zange um Transit Berlin liegen: Denn der Erzähler aus Die Jahre im Zoo verspürt nicht die Angst, den politischen Umbruch zu verpassen, sondern rekonstruiert ein Gefühl, in dem in der Unendlichkeit und Kontingenz des Weltalls der politische Systemwechsel nicht stattfindet bzw. nicht erlebt wird. Angeregt durch die Reflexion über den Kosmonauten wird deutlich, dass dessen Gefühlswelt in Transit Berlin ein pars pro toto bildet und es „ganzen Bevölkerungen so wie jenem einsamen Rückkehrer aus dem Weltall“ (TB: 137) geht.
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Der unbestimmte Plural ganzen Bevölkerungen deutet einen Wechsel an, der sich nicht einzig auf die Erfahrungen in der Sowjetunion, sondern auf alle Staaten des sogenannten Ostblocks bezieht. Diese gemeinsame Erfahrung der Staaten Osteuropas ist das Einbrechen der Globalisierung, die angetrieben durch eine ökonomische Basis, eine Beschleunigung in allen gesellschaftlichen Bereichen erwirkt: Die statische Topographie des europäischen Ostens, den Sinnen und der Erinnerung seiner Bewohner tief eingeschrieben, weicht der dynamischen Zyklenwelt des Westens mit all ihren wirtschaftlichen, politischen und moralischen Fliehkräften. […] Dem Auswandern der Ikonen und erfüllbaren Visionen folgt die Einfuhr der Waren und Werte. (TB: 137)
Grünbein impliziert infolge des Systemwechsels eine mentale Veränderung in der östlichen Welt, die auf das Innere der Subjekte zielt, denn diesen ist zwar die Statik des Ostens in die Erinnerung eingeschrieben, gleichzeitig wird dies durch die Zyklen des Westens in Bewegung gebracht, wobei sich nicht zufällig die alliterative Verbindung Waren und Werte findet. Diese Verbindung legt nahe, dass die Einfuhr der neuen Werte sich maßgeblich an diejenige der neuen Waren koppelt, diesen sogar folgt. Im Aufgreifen dieses Paradigmas, das an die marxistische Beschreibung − „[e]s ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“³² − anknüpft, transformiert Grünbein ein zentrales Paradigma des Ostens. Der dialektische Materialismus wird den „kommunistischen Bischöfen Stalins“ (TB: 139) entrissen und in Grünbeins eigenem Schreiben zu einem Bezugspunkt, der ohne Rückgriff auf den politisch-historischen Hintergrund funktionalisiert wird.³³ Der Bezug ist eine Identifizierung, die sich im Gebiet der PostDDR als ständiger Transitraum für Subjekte – insbesondere und vor allem Künstlersubjekte − konstituiert.
Transitraum (Ost)Berlin und die ostdeutschen Transitkünstler Berlin spielt hierfür eine besondere Rolle, da sein topologischer Zustand infolge der Wiedervereinigung einen besonderen Raum eröffnet: „Wenn es stimmt, daß jenes großangelegte soziale Experiment im Osten zu einem anderen anthropologischen Typus geführt hat, dann ist Berlin wie kein anderer Ort in Europa
Marx, Karl: „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“, in: MEW. Bd. 13. Januar 1859–Februar 1860, hrsg. von Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin: Karl Dietz 1961, S. 3 – 160, hier S. 9. Ahrend verweist auf die Bedeutung dieser marxistischen Annahme für Grünbeins nichtmarxistisches Schreiben, vgl.: Ahrend: Tanz zwischen sämtlichen Stühlen, S. 369.
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prädestiniert, dies zu bezeugen.“ (TB: 138) Der von Grünbein angeführte anthropologische Typus konstituiert sich aufgrund anderer historischer Erfahrungen,³⁴ die vor allem auf die Ausbildung von Selbstbildern zielen. Grünbein interessiert weniger die Frage, ob sich dieser Typus im Osten entwickelt hat – eine unbestimmte Andersartigkeit infolge der historischen Erfahrung ist vielmehr die axiomatische Setzung −, sondern welchen Transformationen der Typus unterliegt: „Es ist die Zeit, von der Situation des Künstlers jetzt, im Jahre Zwei nach der Vereinigung, zu sprechen.“ (TB: 140) Dem Konzept von Identität steht Grünbein (mehr als nur) skeptisch gegenüber, denn er spricht über „die Jungen“ (TB: 140) und ihr Verhältnis zu diesem Konzept, wobei an dieser Stelle unklar bleibt, ob er einer der Jungen ist³⁵ (Grünbein ist beim Verfassen des Textes immerhin erst gute 30 Jahre alt) oder lediglich ihre Erkenntnis teilt: Sollten sie [die Jungen; M.K.] die ersten sein, die erkannt haben, daß Identität ein Vexierbild ist, Summe einzelner Illusionen, die insgesamt nur ein beliebtes Phantasma bleiben? Ihr Jagdgrund, so scheint es, sind jetzt die Niemandsländer, die Zwischenzonen, noch unmarkiertes Gelände, wo sie als Clowns des Virtuellen eine Art Dasein wie im Transitraum pflegen. Ihr insgeheimes Credo ist das Rundumoffensein, triebhafte Wachsamkeit inmitten einer Dingwelt, in der das Ich millionenfach zerlegt und aufgelöst wird in einem Vielerlei von Reizen. (TB: 140 f.)
Grünbein bezeichnet die Jungen als diejenigen, welche die letzte Konsequenz aus der historischen Entwicklung ziehen und Identität als Konzept verwerfen. Ahrend versteht in seiner Deutung von Transit Berlin diese Stelle als einen Verweis auf das nomadenhafte Subjekt aus Deleuze und Guattaris Anti-Ödipus. ³⁶ Dieses wird jedoch – laut Ahrend – von Grünbein abgelehnt und stattdessen eine Folie, an dem sich sein Konzept abarbeitet, entwickelt: Auch wenn er hier dem bis zur Unkenntlichkeit atomisierten Ich das Wort redet, so glaubt Grünbein doch immer noch an eine Identität, nur sucht er sie so zu fassen, dass sie sich auch
Brüns beschreibt, wie die „Architektur staatlicher Neuordnung in Europa“ diese historischen Erfahrungen nicht überspielen kann, sondern es laut Grünbein einen „geographisch-politischanatomischen Riß“ (TB: 139) gebe, der sich weiterhin fortsetzt, Brüns: Nach dem Mauerfall, S. 56. Helmut Böttiger hat in seiner Geschichte der Gegenwartsliteratur Grünbein ganz unumwunden zu dieser neuen Generation von Literaten nach 1989 gezählt: „In Berlin […], in den Zerfallsprozessen der Hauptstadt der DDR, schien der Grünbein-Ton Ausdruck einer neuen Generationserfahrung zu sein: der letzten DDR-Generation, die noch nicht ganz in die DDR hineingewachsen war, sich aber durch das Gefühl der Geschichtslosigkeit in der Zeit nach 1989 von der DDR geprägt zeigte.“, Böttiger, Helmut: Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Wien: Zsolnay 2004, S. 114. Vgl.: Ahrend: Tanz zwischen sämtlichen Stühlen, S. 57.
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in einer postmodern verschärften Transit-Situation und gemäß der physiologisch-reduktionistischen Vorgaben des Sarkasmus-Konzepts behaupten lässt.³⁷
Bei Ahrend bleibt unklar, warum die Narration von Transit Berlin doch zu einer Identität führen sollte, denn Grünbeins Duktus lässt eher vermuten, dass er diagnostisch beschreibt, als dass er wertet. Ich schlage daher vor, das obige Zitat in einem anderen Theorierahmen produktiv zu machen: Bereits im Kapitel zum Utopischen in Stadt der Engel habe ich die Frage des Niemandslandes thematisiert.³⁸ Im Anschluss an Adornos Konzeption, der die Niemandsländer zwischen Ländern und Fronten mit der Utopie als Nicht-Ort assoziiert,³⁹ ist es daher sinnvoll aus einer anderen Perspektive zu argumentieren. Für Adorno ist dieses Niemandsland in der Kunst zu finden.⁴⁰ Obwohl Adornos ästhetische Überlegungen das Werk dem Künstler zu entreißen suchen,⁴¹ sind sie hilfreich, um den Grünbein’schen Umgang mit Selbstbildern von Subjekten zu verstehen. Denn Adornos Verständnis wendet sich harsch gegen die Identitätslogik, in der das Besondere unter ein Allgemeines subsumiert wird.⁴² Für den vorliegenden Fall ist dies zu konkretisieren: Das Besondere ist die Gesamtheit der jeweils einzelnen Individuen, die unter eine gemeinsame ostdeutsche Identität subsumiert werden, und die unterschiedlichen Facetten des jeweils einzelnen Individuums, die einer einzelnen ostdeutschen Identität untergeordnet werden. Der Einsicht in die Avantgardestellung der Kunst – bei Grünbein des Künstlers – ist ein zentraler Teil der Adorno’schen Überlegungen.⁴³ Gerade der Umgang von Kunst mit dem Vergangenen zeigt, in welchem Verhältnis DDR und der Prozess von Identifizierung stehen. In Bezug auf Tradition heißt es in der Ästhetischen Theorie: „Die Tradition ist nicht abstrakt zu negieren, sondern unnaiv nach dem gegenwärtigen Stand zu kritisieren; so konstituiert das Gegenwärtige das Vergangene. Nichts ist unbesehen, nur weil es vorhanden ist und einst etwas galt, zu übernehmen, nichts aber auch erledigt, weil es verging.“⁴⁴ Adornos Forderung für den Umgang mit ästhetischen Traditionen lässt sich für Grünbein produktiv machen: Sein Umgang mit den literarischen Intertexten sowie mit dem ‚Erbe‘ der DDR eignet sich ein ähn-
Ahrend: Tanz zwischen sämtlichen Stühlen, S. 58. Vgl. das Kapitel Walter Benjamin und das Niemandsland. Vgl.: Adorno: „Amorbach“, A-GS 10, S. 276. Vgl.: Adorno: Ästhetische Theorie, A-GS 7, S. 67. Vgl.: Adorno: „Der Artist als Statthalter“, A-GS 11, S. 126. Vgl. das Kapitel Die Unmöglichkeit von Identität. Vgl. hierzu: „Nur das je Fortgeschrittenste hat Chance gegen den Zerfall von Zeit.“, Adorno: Ästhetische Theorie, A-GS 7, S. 67. Adorno: Ästhetische Theorie, A-GS 7, S. 67.
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liches Verfahren an. In einer rekonstruktiven Praxis erinnert sich Grünbein an die DDR zurück, konstituiert diese neu und transformiert durch den Gang der Erinnerung das Verhältnis zu ihr. Das entstehende ostdeutsche Selbstbild misst sich immer an sich selbst und sein utopisches Potential ist es, sich in einem Niemandsland zu konstituieren. Dementsprechend versteht Grünbein die Einsicht in die Nicht-Identität der jungen Künstler, deren Zwischenzonen mehrere Dimensionen haben. Es sind im Berlin der Wendezeit die leerstehenden Häuser und die ehemaligen Sperrgebiete der Berliner Mauer.⁴⁵ Überdies sind es die medialen Räume der Kunst, in denen die Künstler nicht mehr ihre frühere Rolle erfüllen, sondern als Clowns des Virtuellen fungieren. Während das topologische Niemandsland die klassische utopische Funktion zu erfüllen scheint, zeigt sich angesichts der medialen Niemandsländer, dass das utopische Potential nicht mehr seine ursprüngliche Durchschlagskraft für den Künstler besitzt. Die Einsicht in die Unmöglichkeit von Identität ist für die Kunstschaffenden möglich, aber die „ersten Rückkehrer aus jenem langen Alptraum Geschichte“ (TB: 142), die wieder nach Berlin kommen,⁴⁶ schlagen aus dieser Einsicht kein Kapital. Die Unmöglichkeit von Identität führt für die Künstler zu Identifizierungen. Grünbein diagnostiziert angesichts der Einsicht in das Phantasma von ‚Identität‘ einen besonderen Typus des Künstlers, den Transitkünstler: „Auf dieser Drehscheibe zwischen Ost- und Westeuropa, die demnächst Hauptstadt werden soll, erwachen sie, als die ersten mit dem neuen Schwindelgefühl, das für den Transitkünstler, anderswo längst der gewöhnliche Typus, so charakteristisch ist.“ (TB: 141 f.) Dieser Typus erscheint bei Grünbein primär nicht als ein ostdeutsches Phänomen, jedoch sind paradoxerweise die Beispiele und Entwicklungsformen der ostdeutschen Erfahrung infolge der ‚Wende‘ entlehnt. Der Transitkünstler, scheinbar eine kosmopolitische Form derjenigen Subjekte, die Kunst betreiben, ist ein Phänomen, das sich in Berlin, jener „Frontstadt“ (TB: 140) zwischen Ost und West, verwirklicht. Dies verweist auf einen Aspekt, den Grünbein in den Jahren im Zoo ausarbeitet: die kosmopolitische Identifizierung angesichts einer Herkunft aus dem Osten.⁴⁷ Die Bezeichnung Transit-Künstler wählt Grünbein unter dem
Dies wurde bereits in dem Kapitel Walter Benjamin und das Niemandsland besprochen, vgl. hierzu auch erneut: Ortlieb: Popmusikliteratur, S. 414 f. Grünbein verweist zu einem früheren Zeitpunkt auf die Geschichte der Künstler in Berlin, die mit dem Nationalsozialismus ihr Ende fand und weder in Ost noch West nach 1945 wiederbelebt werden konnte, womit er gleichsam die literarische Moderne einholt, die er in den Jahren im Zoo bespricht. Vgl.: TB: 138 f. Diese Idee ist erstaunlich nah an dem Entwurf Wolfs aus Stadt der Engel, in der ebenso ein Potential in der ostdeutschen Herkunft gesucht wird. Während Wolfs Text allerdings nach Mög-
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Verweis auf die lateinischen Dimensionen des Herkunftswortes transitio. Hierbei werden die universell erscheinenden Begründungen für den Transit-Künstler explizit nicht an universellen oder (Gesamt‐)Berliner Beispielen verdeutlicht, sondern Grünbein wendet sich für die ersten beiden Dimension explizit einer ostdeutschen Künstlererfahrung zu: Transitio – das hieß im Lateinischen stets dreierlei, und die feinen Unterschiede, eingelagert in einem einzigen Wort, aus dem sie wechselseitig hervorgehen, werfen vielleicht noch immer ein Licht auf seine aktuellen Variationen. Zum einen bedeutet es das Überlaufen zum Feind […]. Folgt man der eben noch gültigen Klassentheorie, so ist dieser Teil des Pensums vom östlichen Künstler, je nachdem notgedrungen oder aus eigenem Antrieb, erfüllt. […] Die zweite Bedeutung, vom Politischen ins Pathologische hinüberführend, meint die Ansteckung mit einer Krankheit. Wenn man Dynamik, Effizienz, libidinöse Idiotie und Technologie als spezifisch westliche Krankheitsformen ansieht, wäre auch diese Bestimmung bald erfüllt […]. Die allgegenwärtigste Bedeutung aber, eine, die so physikalisch grundsätzlich ist, definiert transitio als Durchgang durch einen Ort. Und dies ist, im Zeitalter absoluter Beschleunigung und Medialisierung, vermutlich die eigentliche Bewegung. (TB: 142; Hervorheb. i. Orig.)
Im ersten Satz seiner etymologische Erklärung erläutert Grünbein, dass diese dazu dient, die aktuellen Variationen des Transit-Künstlers auszuleuchten. Eine Disposition, die sich durch den zeitlichen Index des Aktuellen an eine historische Situation koppelt, die wiederum in der ersten Erklärung lokal verortet wird. Es geht um den östlichen Künstler: Dieser ist es, der zum Feind überläuft und sich mit den spezifisch westlichen Krankheitsformen ansteckt. Die dritte Form, der Durchgang durch einen Ort, wird allerdings nicht konkretisiert. Er wird durch das angetrieben, was als Beschleunigung und Medialisierung bezeichnet wird. Es ist eine Erfahrung, die ebenso auf die ostdeutschen Künstler zutrifft: Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie Orte durchschreiten, nämlich die neuen Niemandsländer zwischen Ost und West, die sich infolge der Maueröffnung ergeben haben. Jedoch (wie schon bei dem Hinweis auf die Clowns des Virtuellen) findet sich im nächsten Satz ein anderes Niemandsland − das Mediale: Das frühe Zuhausesein in den Medien, die ihrerseits transitorische Orte, also Nicht-Orte sind, die Flüchtigkeit aller Ansätze, das auffällige Umschwärmen gerade der Übergänge und Schnittstellen, dieses ganze nur mehr zoologisch verstehbare Verhalten entlang einer Fluchtlinie vom Punkt A (Geburt) zum Punkt B (Tod) läßt erahnen, wie rasant die Veränderung sich vollzieht. (TB: 142 f.)
lichkeiten der Verallgemeinerung sucht, wirkt Grünbeins Gestus, obgleich dem Anschauungsgegenstand geschuldet, elitärer.
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Die Medien als Nicht-Orte − und im Anschluss an Adorno als potentielle Utopie − erhalten in diesem Kontext weniger einen negativen Charakter als in der ersten Charakterisierung der Transit-Künstler. Dafür wird ihnen durch die Apostrophierung des Transitorischen die Bewegung, der Durchgang durch einen Ort, eingeschrieben und bezieht sich auf die Medien und auf die Subjekte, welche die Medien hervorbringen und bedienen. Dadurch werden sie als Transit-Künstler selbst beweglich.⁴⁸ Ihr Verhalten, das diese Bewegungen braucht und vorlebt, ist wiederum zoologisch verstehbar. Schon an dieser Stelle von Transit Berlin entwickelt Grünbein einen zoologischen Blick, der nötig wird, um die Subjekte – zunächst die Transit-Künstler, später in Die Jahre im Zoo sich selbst – verstehbar zu machen, aber letztlich ihre Subjektivität und Identifizierungen erst zu konstruieren. Die Fluchtlinie, die Grünbein ausmacht, findet sich auch in den Jahren im Zoo. Diese verläuft dort nicht zwischen Geburt und Tod (diese fungieren in Transit Berlin eher als Beispiele), sondern entlang der Zeit der Kindheit in Dresden-Hellerau.
Kaleidoskop, Bild, Flaneur Der von Grünbein entworfene zoologische Blick hängt eng mit dem Kaleidoskop zusammen, wie angesichts einer intertextuellen Beziehung von Transit Berlin deutlich wird. Ahrend hat auf den Zusammenhang zwischen diesem Essay Grünbeins und Baudelaires Der Maler des modernen Lebens hingewiesen, wobei die Erfahrungen der Künstler Grünbeins mit denjenigen des Flaneurs verwandt sind.⁴⁹ Unter dem Hinweis auf eine zentrale Stelle bei Baudelaire kommt Ahrend zu der Schlussfolgerung: „Vor diesem Hintergrund stellt sich die vexierbildartige Identität als die postmoderne Steigerung von Baudelaires kaleidoskopartigem Ich dar.“⁵⁰ Unter dem Eindruck des Untertitels der Jahre im Zoo, nämlich Ein Kalei-
Brüns konstatiert hierzu treffend: „Der Transitkünstler weist die Idee des Kunstwerks als organische Ganzheit von sich, sondern bewegt sich, fragmentarische Spuren hinterlassend, quasi entortet durch die Medien.“, Brüns: Nach dem Mauerfall, S. 56. „[E]s [ist] nur allzu berechtigt, in seiner Figur des Transit-Künstlers seine Radikalisierung der modernen Figur des Flaneurs zu erblicken, die vor allem durch Walter Benjamin und Charles Baudelaire maßgeblich geprägt wurde. Die Zickzackbewegung, die diskontinuierliche und schockhafte Wahrnehmung und Unterminierung des Subjekts in der Reizüberflutung, die bereits für den Flaneur typisch waren, bestimmen auch Grünbeins Künstler, […] der sich daher als ein Nachfahr jener Schockästhetik begreifen lässt, die Walter Benjamin in seinem Essay Über einige Motive bei Baudelaire (1939) nicht nur für die Arbeitsweise des französischen Dichters, sondern für die Befindlichkeit des Flaneurs überhaupt als kennzeichnend dargestellt. […] So wie Baudelaire den Maler des modernen Lebens bestimmte, so bestimmt Grünbein den Künstler des postmodernen Lebens.“, Ahrend: Tanz zwischen sämtlichen Stühlen, S. 58 (Hervorheb. i. Orig.). Ahrend: Tanz zwischen sämtlichen Stühlen, S. 59.
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doskop – ein Faktum, das Ahrend noch nicht bekannt sein konnte –, gewinnt die Baudelaire-Referenz eine neue Bedeutung. So heißt es bei Baudelaire: Für den vollendeten Flaneur, den leidenschaftlichen Beobachter ist es ein ungeheurer Genuß, Aufenthalt zu nehmen in der Vielzahl, in dem Wogenden, in der Bewegung, in dem Flüchtigen und Unendlichen […]. Auch mit einem Spiegel läßt er sich vergleichen […]; oder mit einem Kaleidoskop, das mit Bewußtsein ausgestattet wäre und das uns jedes Mal, wenn man es schüttelt, das Leben in seiner Vielfalt und die bewegliche Anmut aller Lebenselemente erblicken läßt. Er ist ein Ich, das unersättlich nach dem Nicht-Ich verlangt, und dieses in jedem Augenblick wiedergibt, es in Bildern darstellt, die lebendiger sind als das immer unbeständige und flüchtige Leben selbst.⁵¹
Angesichts von Baudelaires Beschreibung ist der Erzähler der Jahre im Zoo als ein Flaneur zu verstehen, der (metaphorisiert) das eigene Leben und die Straßen Helleraus durchwandert. Baudelaire vergleicht den Flaneur mit dem Kaleidoskop – einem Kaleidoskop mit Bewusstsein. Der Blick durch das Kaleidoskop wird mit dem der Wahrnehmung des Flaneurs analog gesetzt. Dies ist das Verfahren des Erzählers in Die Jahre im Zoo, der das eigene Leben als eine kaleidoskopartige Vielfalt figuriert und gleichermaßen den eigenen Blick diesem Verfahren anpasst. Dabei gewinnt der letzte Satz aus obigem Baudelaire-Zitat eine zusätzliche Bedeutung. Denn während sich das Ich als Flaneur seiner Umwelt als Nicht-Ich gegenüberstellt – eine Subjekt-Objekt-Beziehung aufbaut, in der das Subjekt das Objekt in Bildern darstellt −, um dem Ephemeren des eigenen Lebens zu entgehen, transformiert Grünbein als Transitkünstler diese literarische Tradition.⁵² In Die Jahre im Zoo stellt sich das Ich sich selbst gegenüber. Es ist gleichzeitig das Ich, das spricht, sowie das Ich, das beschrieben und in Bildern dargestellt wird. Die Verwendung des Begriffes Bild sowie die Metaphorisierung der Wahrnehmung als Kaleidoskop stellt grundsätzlich optische Qualitäten in den Mittelpunkt. Gerade die Blickrichtung ist entscheidend und dient in den Jahren im Zoo dazu, den Charakter des Ephemeren, den das Leben in der Baudelaire’schen Beschreibung
Baudelaire, Charles: „Der Maler des modernen Lebens“, in: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 5. Aufsätze zu Literatur und Kunst: 1857−1860, hrsg. von Friedhelm Kemp, München: Hanser 1989, S. 213 – 258, hier S. 222 f. (Hervorheb. i. Orig.). Peter Bürger hat darauf hingewiesen, dass Baudelaire eine der „frühesten Darstellungen der Nicht-Identität des bürgerlichen Subjekts“ liefere. Bürger bezieht sich zwar nicht auf Den Maler des modernen Lebens, sondern auf Baudelaires Poèmes en prose, konstatiert aber gleichzeitig den Einfluss dieses Paradigmas auf „Proust, Kafka und Musil“, Bürger: Prosa der Moderne, S. 122. Grünbein bezieht sich auf Proust, Kafka und Baudelaire, um deren literarische Ästhetik aufzunehmen, aber ebenfalls, um auf die Dissoziation des Ichs hinzuweisen. Musil ist zwar kein erkennbarer Bezug, er ist aber angesichts von Grünbeins Essayismus als einer der zentralen Stichwortgeber dieses Feldes präsent (vgl. das Kapitel Dimensionen des Essays).
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hat, nicht völlig zu beseitigen, ihn aber in Prozesse der Identifizierung einzubinden. Die Subjekt-Objekt-Beziehung von Schauendem und Beschauten transformiert sich, da das Subjekt (also die Erzählinstanz) das Objekt (seine Erinnerungen) erst narrativ durch die Erzählung hervorbringt. Das Selbst des Erzählers kann sich erst durch diesen Prozess konstituieren, denn schließlich sind es Erinnerungen an das frühere Selbst (die Objektifizierung der Vergangenheit), die es ermöglichen, dass sich das Ich seiner selbst versichert. Durch diese Erzählsituation wird das Verhältnis von Subjekt zu Objekt zur Disposition gestellt. Es ist nicht das Subjekt, dass das Objekt konstituiert, vielmehr problematisiert der literarische Text die Frage nach dem konstituierenden Element zugunsten einer Reziprozität. Es besteht also keine feste Subjekt-Objekt-Beziehung, die eine Identität zulässt, sondern es kommt vielmehr zu ständigen Prozessen der Identifizierung.⁵³ Das Kaleidoskop führt die Optik in den literarischen Text ein, die in den Jahren im Zoo zwischen Form- und Blickbeschreibung oszilliert. Bei Baudelaire wird das Kaleidoskop geschüttelt, um die perspektivischen Veränderungen zu erzeugen, die schließlich optisch durch den Blick erfahren werden. Das Grünbein’sche Kaleidoskop wird zur poetologischen Metapher, weil es nicht mehr geschüttelt werden muss, um neue optische Erfahrungen zu evozieren. Die Veränderungen werden kleinteiliger erzeugt. Baudelaires große Brüche des Schüttelns werden bei Grünbein zu kleinen Drehungen der Identifizierungen. Jedes Ansetzen des Kaleidoskops mit jeder kleinen Drehung erzeugt ein neues Bild. In Die Jahre im Zoo setzt mit jedem neuen Kapitel (bzw. Unterkapitel) die Erzählung neu an und literarisiert so das optische Vorbild und macht es zu dem, was man getrost als Denkbild bezeichnen kann. Aufs engste werden Begriffe aus dem animalistisch-biologischen Diskurs mit der Blickrichtung verschränkt und schließlich der Sprache untergeordnet. In seinem Essay Reflex und Exegese spricht Grünbein in Anlehnung an Fritz Mauthners sprachkritische Überlegungen über die Unmöglichkeit einer Sprache des inneren Sinnes.⁵⁴ Jene Unmöglichkeit führt in Grünbeins Diagnose zu einem Sprechen, das nur auf die jeweiligen Eigenwelten abzielt und (eigentlich) nicht kommunizierbar ist: Dieser Horror der Eigenwelt ließ sich immer nur an den Rändern erfassen, nur in kleinsten Bruchstücken und mit dem Griff des genauen Worts. Doch was, wenn die natürliche innengeleitete Wahrnehmung, auf der Mauthner als Pflanzenliebhaber bestand, immer schon reichhaltiger, dynamischer und differenzierter war als die Formeln und Abstraktionen gealterter Sprache? Das einzige, was Sprache dann aufzubieten hatte, waren ihre Bilder, die
Vgl. zu diesem Aspekt grundlegend das Kapitel Selbstbilder zwischen Identität und Identifizierungen. Vgl.: Grünbein: „Reflex und Exegese“, S. 64 f.
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Vorstellungen, die in ihr arbeiteten. Ihr kultiviertes Gestrüpp waren die Anklänge und Laute, Zitate und Ausrufe, Reime und Störungen, in denen das Physische seinen Schatten warf. An die Stelle des inneren Sinns, der als blinder Fleck zurückblieb, rückte eine Flora und Fauna aus Klang und Bild, gleichzeitig imaginär und real. Und schon war, ohne Zauberspruch, nur durch leichte Drehung innerhalb des Sprechens, ein phantastischer, zoologischer und vegetativer Raum eröffnet, in dem jeder allein war mit sich, der Zeit und den Zeichen.⁵⁵
Ahrend hat den Schluss von Transit Berlin in eine Tradition mit Nietzsches Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne gestellt.⁵⁶ Diese Verbindung kann man durchaus für den zitierten Ausschnitt von Reflex und Exegese produktiv machen. Denn selbst wenn Grünbein Mauthner erwähnt, ähneln sich Nietzsches und Mauthners Sprachskeptizismus doch stark.⁵⁷ Beide beantworten die Frage nach einem inneren Sinn der Sprache gleichermaßen negativ. In der vorliegenden Stelle Grünbeins ist es besonders bemerkenswert, welche Bedeutung das Physische erhält. Zoologie und das Vegetative ersetzen die Leerstelle eines blinden Flecks, der nun sprachlich gefüllt wird. Hierbei schließt Grünbein indirekt Sprache und Kaleidoskop kurz, wenn die leichten Drehungen der Sprache neue semantische Räume eröffnen, wie analog die leichten Drehungen des Kaleidoskops neue Farbeffekte eröffnen. Grünbeins Thematisierung des Sprachskeptizismus zielt darauf ab, die Potentialität neuer semantischer Räume zu erkunden. Für Die Jahre im Zoo bedeutet dies vor allem, dass die Unmöglichkeit von Erinnerung zu einer besonderen Perspektive führt − derjenigen eines zoologischen Blickes. Der Zusammenhang von blinden Flecken und Erinnerungen ist im Zusammenhang mit Christa Wolf erläutert worden.⁵⁸ In den Jahren im Zoo sind die Erinnerungen blinde Flecken. Es ist unklar, ob sie von den Pupillen des Erzählers (richtig) gesehen werden bzw. (erinnert man sich an das Klicken der Pupille) photographiert wurden. Die Perspektive auf das eigene Selbst − ein Beschauen, das trotz oder gerade angesichts optischer Semantiken sprachlich vermittelt wird, − ist von einem Skeptizismus geprägt. Dieser verweist auf eine epistemologische Unsicherheit gegenüber dem Referenzcharakter der eigenen Aussagen. Bei Nietzsche heißt es dazu: „Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten. Vor dem Nervenreiz aber weiterzuschliessen auf eine Ursache ausser uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes
Grünbein: „Reflex und Exegese“, S. 65 (Hervorheb. i. Orig.). Vgl.: Ahrend: Tanz zwischen sämtlichen Stühlen, S. 60 f. Vgl. hierzu: Grimminger, Rolf: „Der Sturz der alten Ideale. Sprachkrise, Sprachkritik um die Jahrhundertwende“, in: Ders. / Murašov, Jurij / Stückrath, Jörn (Hrsg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995, S. 169 – 200, hier S. 174 ff. Vgl. das Kapitel Erinnern und Vergessen – Christa Wolf liest Freud und Benjamin.
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vom Grunde.“⁵⁹ In Rekurs auf Nietzsche wird deutlich, dass die Beschreibungen von Erinnerungen durch ihre sprachliche Verfassung nicht eine äußere Realität darstellen, sondern eine unendliche Reihe von Versuchen, dies auszudrücken. Bei Nietzsche werden diese Versuche schließlich lediglich zu Metaphernbildungen infolge von Reizen: Das ‚Ding an sich‘ (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswerth. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.⁶⁰
Grünbein literarisiert dieses epistemologische Dilemma. In den Verschränkungen des Physischen mit den Metaphern des Zoologischen wird das „Vergessen als Einbruch des Vegetativen in die historische Zeit“ (TB: 136) fassbar. Unbewusst und autonom ablaufende Vorgänge durchschneiden in Transit Berlin eine biographische Permanenz. Dies zeigt sich im Begriff des Vegetativen, der auf das autonom agierende Nervensystem verweist. Die Transit-Künstler haben „kein Programm mehr, sondern nur noch Nerven […].“ (TB: 141) Grünbein selbst figuriert sich in Transit Berlin nicht eindeutig als Transit-Künstler, teilt mit ihnen jedoch die Skepsis gegenüber dem Betrug⁶¹ der Identität und versucht durch seinen zoologischen Blick, eine neue Form des eigenen Selbstbildes durch Erinnerungen zu entwerfen.
2 Grünbeins Essayismus und seine Nichtidentität Durs Grünbein hat sich neben seinem Status als Lyriker ebenfalls einen Namen als arrivierter Essayist gemacht. Die großen Essaybände Galilei vermißt Dantes Hölle von 1996 und Antike Dispositionen von 2005 werden von kleineren Textsammlungen, wie Warum schriftlos leben (2003), Gedicht und Geheimnis (2007),
Nietzsche, Friedrich: „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, in: Ders.: Kritische Studienausgabe. Bd. 1. Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I−IV. Nachgelassene Schriften: 1870−1873, hrsg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari, München: Dtv 1999, S. 873 – 890, hier S. 878. Nietzsche: „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, S. 879. Laut dem Grimm’schen Wörterbuch ist das Vexierbild ein Bild, in dem sich ein Betrug oder Scherz verbirgt, vgl.: „Vexierbild“, in: Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm (Hrsg.): Deutsches Wörterbuch. Bd. 26, Leipzig 1854−1961, Sp. 37.
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Der cartesische Taucher (2009) oder Die Bars von Atlantis (2009) ergänzt. Darüber hinaus liegt mit Das erste Jahr (2001) ein Konvolut vor, das sich in Form von Tagebucheinträgen als Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Inhalten (Gesellschaft, Erinnerung, Kunstbetrachtungen) in eine essayistische Tradition einschreibt. Der jüngst erschiene Band Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate (2019) reiht sich zu großen Teilen in diese Tradition ein. All diese Bände werden (ebenso wie das Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks) das folgende Kapitel ergänzen. Im Fokus steht erneut Die Jahre im Zoo, das laut Simonis ebenfalls im essayistischen Modus spricht. Die Jahre im Zoo bildet der Form nach ein Konvolut aus mehrheitlich Prosatexten und wenigen lyrischen Einschüben, ergänzt durch 46 abgedruckte Photographien und Postkarten. In der vorliegenden Beschäftigung stehen die Prosapassagen der Jahre im Zoo im Mittelpunkt, obgleich für die lyrischen Abschnitte ebenfalls ein essayistischer Charakter konstatiert werden kann.⁶² Das Erinnerungsbuch Die Jahre im Zoo setzt ein Thema ins Zentrum der Erzählung: Das Leben des Erzählers. In autodiegetischer Form erzählt dieser sein eigenes Aufwachsen. Es sind deutliche Überschneidungen mit dem Leben des Autors Durs Grünbein festzustellen, die den essayistischen Gehalt der Prosastücke um einen autobiographischen Zugang ergänzen.⁶³ In den Auseinandersetzungen mit der eigenen Subjektivität, in welchen stets das vergangene Leben erinnert wird, werden nicht nur Aussagen über die vergangene Subjektivität, sondern über die des schreibenden Subjektes getätigt. Dieser Aspekt wird anhand der narrativen Anlage des Textes entfaltet, denn in der Auseinandersetzung mit der eigenen Erinnerung – dem kindlichen und jugendlichen Aufwachsen in Hellerau − entsteht ein Resonanzraum, der Bedeutung für das Subjekt der Schreibgegenwart erzeugt. Gerade der autobiographische Charakter macht deutlich, dass der Erzähler aus einer Gegenwart, die sich mit dem Erscheinen des Textes überschneidet, spricht. Das Erscheinungsdatum der Jahre im Zoo (2015) bildet den Hintergrund, vor dem sich der Erzähler zu seiner Kindheit verhält und vor dem sich die retrospektiven Identifizierungen entfalten. Der Raum der Kindheit ist nicht auf den Dresdner Stadtteil Hellerau (oder zu Beginn noch Cotta) begrenzt, sondern zeigt sich an vielen Stellen von der politischen Realität der DDR
Hinrich Ahrend hat diesen Aspekt in seinem Aufsatz Essayistische Lyrik bereits für den Gedichtband Schädelbasislektion beschrieben, vgl.: Ahrend, Hinrich: „Essayistische Lyrik. Grünbeins Grenzgänge zwischen Poesie und Poetik“, in: Bremer, Kai / Lampart, Fabian / Wesche, Jörg (Hrsg.): Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein, Freiburg: Rombach 2007, S. 135– 168. Vgl. zu diesem Aspekt das Kapitel Dresdner Kindheit um 1970 – Grünbein und die Berliner Kindheit um 1900.
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durchwirkt. Fabian Lampart hat die Bedeutung des biographischen Hintergrundes für Grünbeins Schreiben hervorgehoben: Die politische-gesellschaftliche Wirklichkeit der DDR bildet seinen [Grünbeins; M.K.] biographischen Horizont und bestimmt seine Wahrnehmung der Wirklichkeit. Zugleich aber sieht er sich nicht als Handelnder im Inneren des politischen Systems. Parteiliche Einflußnahme oder gar engagiertes Einwirken auf gesellschaftliche Entwicklungen sind Konzepte, die jenseits seines Selbstverständnisses liegen, gleich ob die jeweiligen politischen Hintergründe der Biographie das sozialistische System, die Wende- oder Nachwendejahre sind.⁶⁴
In Die Jahre im Zoo wird weder der Umbruch von 1989 noch sonst irgendeine konkrete Partizipation an dissidenten Tätigkeiten erzählt, wobei ersteres allerdings kein blinder Fleck in Grünbeins Essayistik ist; insbesondere der bereits besprochene Text Transit Berlin sowie Kurzer Bericht an eine Akademie⁶⁵ stellen die Erfahrung des politischen Systemwechsels und die Auswirkungen für Grünbein sowie die (gesamt‐)gesellschaftlichen Implikationen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Wie Ahrend treffend festhält, hat die „Erfahrung der Wendezeit […] für Grünbeins Werk eine katalysatorische Funktion: Sie ist es, die den poetologischen Selbsterkundungsprozess […] überhaupt erst anstößt.“⁶⁶ Wenn Lampart mit Blick auf das Gesamtœuvre wiederum argumentiert, dass es Grünbein weder um „Kritik an noch (nach 1989) um Abrechnung mit der DDR, wohl aber um die Erkundung des subjektiv als deformiert und in Bezug auf seine Subjekte als deformatorisch wahrgenommenen sozialistischen Systems“⁶⁷, geht, muss dies für Die Jahre im Zoo ergänzt werden. Denn Grünbeins autobiographische Textsammlung spricht von widerständigen Momenten, die − vor allem in Rekurs auf die Intertexte − Teil des ostdeutschen Selbstbildes nach 1989 werden. Im Mittelpunkt steht die „Realisierung seiner [Grünbeins; M.K.] subjektiven Wahrnehmung“⁶⁸, die durch den politischen Systemwechsel initiiert wird. Die literarische Form, die Grünbein hierfür wählt, ist ein autobiographischer Essayismus. Im Folgenden steht vor allem die literarische Form des Essays im Fokus und wie diese Form – im Anschluss an Adornos Konzeption − Nichtidentitäten produziert und präsentiert. Zunächst wird, nach einem kurzen Einblick in die Literaturgeschichte und der Charakterisierung zentraler Aspekte des Essays (immer im Abgleich mit Die Jahre
Lampart, Fabian: „‚Tropismen an den Rändern alter Formen‘. Annährungen an Durs Grünbeins Lyrik aus den Jahren der Wende“, in: Huntemann, Willi u. a. (Hrsg.): Engagierte Literatur in Wendezeiten, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 133 – 147, hier S. 135. Vgl. das Kapitel Von Löffeln und Akademien – Bezüge zu Franz Kafka. Ahrend: Tanz zwischen sämtlichen Stühlen, S. 18 f. Lampart: „Tropismen an den Rändern“, S. 139. Lampart: „Tropismen an den Rändern“, S. 144.
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im Zoo), Adornos Der Essay als Form als theoretischer Referenzpunkt ausgearbeitet, ehe in einem zweiten Schritt der essayistische Modus Grünbeins in den theoretischen Kontext eingeordnet wird. Zuletzt wird anhand der essayistischen Aspekte der maritimen Metaphoriken der Jahre im Zoo der Zusammenhang von essayistischer Schreibweise und ostdeutscher Identifizierung noch einmal mit Blick auf den literarischen Text untersucht.
2.1 Dimensionen des Essays Etymologie In Der Essay als Form konstatiert Theodor W. Adorno, dass der Essay „die kritische Form par excellence [ist; M.K.]; und zwar, als immanente Kritik geistiger Gebilde, als Konfrontation dessen, was sie sind, mit ihrem Begriff, Ideologiekritik.“⁶⁹ Adornos Charakterisierung des Essays hängt aufs engste mit seiner Etymologie zusammen. Lothar Baier beschreibt die Herkunft des Wortes aus dem lateinischen Verb exigere: In »essai« steckt die Wurzel exigere, ein an Bedeutungen reiches Verb, denn es meint »forttreiben« und »einfordern«, »abwägen« und »prüfen«, »beurteilen« und »vollenden«. Sowohl das Wort »exakt« leitet sich davon ab als auch das »Examen«. Der Essay und das Exakte haben sprachlich eine gemeinsame Familienherkunft, so merkwürdig das klingt. Im Französischen ist unter anderem das Verb »essaimer« aus dem exigere hervorgegangen, es heißt auf deutsch »schwärmen«, im Sinn von »ausschwärmen«.⁷⁰
Die Beurteilung verbindet in der Wortherkunft den Essay mit Adornos Kritik. Letzteres beinhaltet, aus dem Griechischen kommend, als eine Bedeutung z. B. Unterscheidung. Die semantische Nähe von Beurteilung und Unterscheidung legt nahe, dass der Essay als eine besonders avancierte Form der Kritik den Schritt von der Unterscheidung zur Beurteilung macht und so als literarische Form für Ideologiekritik prädestiniert ist. Die (von Baier beschriebene) Bedeutungsnähe zum Ausschwärmen spricht einen Formaspekt des Essays an: Denn der Essay ist die Form des gedanklichen Ausschwärmens, was die Bestimmung von ihm zukommenden distinkten Eigenschaften erschwert. So zeichnen sich Essays weniger durch eine Gemeinsamkeit verschiedener taxonomisch zu beschreibender Merkmale als durch einen Modus des Ausschwärmens der Gedanken aus. Der Modus Adorno: „Der Essay als Form“, A-GS 11, S. 27. Baier, Lothar: „Was Essayistisches. Zur Situation des Genre heute“, in: Ahrends, Martin / Dittberner, Hugo / Engelhardt, Linda Anne (Hrsg.): Der Satz des Philosophen. Das zweite Buch, Göttingen: Wallstein 1996, S. 87– 114, hier S. 89 (Hervorheb i. Orig.).
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des Schreibens macht ihn wiederum zu einer literarischen Form. In ähnlicher Weise beschreibt Peter Zima die Wortherkunft aus dem Lateinischen – bei ihm ist der Ausgangspunkt nicht das Verb, sondern das Substantiv exagium − bis zu seiner Transformation zum französischen essai. ⁷¹ Mit Michel de Montaigne wird der Begriff zu einer literarischen Form, die den Versuch in den Mittelpunkt der semantischen Bestimmung stellt, wie es Heinz Schlaffer im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft zusammenfasst: Montaignes ‚Essais‘ (1580) begründen zugleich die Geschichte und den Begriff des Essays. Seine Verwendung im Titel und im Text dieses Buches nimmt vor allem die Bedeutung ‚Kostprobe‘ auf, die das Wort essai im Frankreich des 16. Jhs. [… hat.] Auf die literarische Tätigkeit übertragen, meint essai bei Montaigne auch ‚Stilübung‘, ‚Entwurf‘, auf deren Gegenstand übertragen, auch ‚Erfahrung‘. Gattungsbezeichnung wird der Titel von Montaignes Buch erst durch seine Nachahmer zunächst durch Francis Bacons ‚Essayes‘ (1597). In Deutschland werden frz. essai bzw. engl. essay bis ans Ende des 18. Jhs. Als ‚Versuch‘ oder ‚Gedanken und Meinungen‘ wiedergegeben.⁷²
Montaigne gilt mit seinen Essais gemeinsam mit Francis Bacon (Essays) als Begründer der literarischen Gattung. Während bei Montaigne der Essay ein „Instrument eines subjektiv-ästhetischen Perspektivismus“⁷³ ist und das schreibende Individuum, das sich durch diesen Schreibakt hervorbringt,⁷⁴ im Mittelpunkt
Vgl.: Zima, Peter V.: Essay/Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 5. Vgl.: Schlaffer, Heinz: „Essay“, in: Weimar, Klaus / Fricke, Harald / Müller, Jan-Dirk (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. I: A−G, Berlin / New York: De Gruyter 2007, S. 522– 525, hier S. 522 (Hervorheb. Orig.). Schärf, Christian: Geschichte des Essays.Von Montaigne bis Adorno, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999, S. 63. Schärf: Geschichte des Essays, S. 57. Montaigne als Begründer des Essays führt auch noch einmal zur Entstehung des modernen Identitätsdiskurses zurück. Denn in seinem Aufsatz Montaigne und die Funktion der Skepsis beschreibt Max Horkheimer unter anderem die sozialen Umstände des entstehenden Kapitalismus zur Zeit der Reformationsbewegungen, während derer Montaigne schreibt. Horkheimer macht diese sozialen Bedingungen für die neue Sicht auf das Ich verantwortlich, die Montaigne entwickelt. David Hume wird dabei von Horkheimer sogar als „konsequenter Schüler Montaignes“ bezeichnet, Horkheimer, Max: „Montaigne und die Funktion der Skepsis“, in: Zeitschrift für Sozialforschung 7 (1938), S. 1– 54, hier S. 27. Seine Auseinandersetzung mit Montaigne bringt Horkheimer ferner dazu, das Ich radikal im sozialen Kontext zu verankern und es mutet fast an, als ob er hier die Beschreibungen moderner Identität vorwegnimmt: „Die Fähigkeiten, die es [das Ich; M.K.] konstituieren, Sinne, Gedächtnis und Verstand, hängen nicht bloss am gut funktionierenden Körper, sondern am stetig fortlaufenden sozialen Prozess. Das Verhalten der Umwelt, ihre Sprache, ihre Vorschriften, ihr Glaube gedingen die Existenz und Reaktionsformen jedes einzelnen Ichs. Bis in die Nuancen hinein besteht es nur in
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steht, begründet Bacon den Essay als einen „gegenstandsbezogenen Traktat, in dem die Beziehung des Autor-Ichs auf sich selbst inhaltlich keine Rolle spielt.“⁷⁵ Im historischen Verlauf werden diese beiden Tradition von Essayisten und Essayistinnen unterschiedlich gewichtet. Die Verbindung beider Seiten zeichnet aber den modernen Essayismus aus. Montaigne selbst legt den modernen Charakter des Essays an, der sich aus zwei Aspekten hervorgehend beobachten lässt: zum einen an der schwer bestimmbaren Form, die sich laut Schärf aus dem intratextuellen Problem ergibt, dass die Essais eine „Durchleuchtung des eigenen Ichs“⁷⁶ anstreben, was eine unmögliche Aufgabe darstellt; zum anderen aus der kontextuellen Situation ihrer Entstehung: „Montaigne schreibt Essais unter dem Eindruck einer tiefgreifenden Transformation der Welt (Auflösung des Feudalismus, Beginn früher kapitalistischer Strukturen, Ende der Einheit des Christentums, Entdeckung der ‚Neuen Welt‘).“⁷⁷ Grünbeins Jahre im Zoo verbindet die verschiedenen Elemente: Die einzelnen Kapitel sowie der gesamte Text sind als gegenstandsbezogene Texte zu verstehen, indem sie das Aufwachsen des Protagonisten als Ganzes bzw. in unterschiedlichen Konstellationen beschreiben oder sich bestimmten (thematischen) Gegenständen widmen und diese auf den Erzähler und/oder den Protagonisten zurückspiegeln. Die Jahre im Zoo ist daher der Versuch, das Ich des Textes − des vergangenen kindlichen bzw. jugendlichen Ichs sowie der schreibenden Erzählinstanz − zu erklären. Überdies ist die Lebenszeit von Protagonist und Erzähler in Überschneidung mit der Lebenszeit des Autors Grünbein von einem immensen gesellschaftlichen Umbruch geprägt. Einige Stichworte sind: Der politische Systemwechsel 1989, Ende einer globalen Bedeutung des real existierenden Sozialismus, Neoliberalisierung der Weltwirtschaft, Zeit der intensivierten Globalisierung.
Kritischer Versuch Wie Schlaffer im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft zeigt, ist der Essay im deutschsprachigen Kontext als Versuch bezeichnet worden. Die semantische Charakterisierung als Versuch hat nicht allein eine etymologische
Wechselwirkung. Die Meinung, etwas Festes, in sich Ruhendes an ihm zu haben, ist bloßer Schein.Wie sehr das individuelle Ich aktiv sein mag, es ist an sich selbst bloss abstrakt, und wer es in seiner Isolierung zum Prinzip oder inneren Halt verdinglicht, hat nur einen Fetisch gemacht.“, siehe bei Horkheimer, S. 29 f. Schärf: Geschichte des Essays, S. 69. Schärf: Geschichte des Essays, S. 44. Vgl.: Schärf: Geschichte des Essays, S. 61.
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Bedeutung, sondern hängt aufs engste mit dem kritischen Potential des Essays zusammen: Die Konnotation des Bei- oder Vorläufigen, die die Begriffe ‚Essay‘ und ‚Versuch‘ absichtsvoll hervorrufen, sind weniger Ausdruck der Bescheidenheit als vielmehr der Skepsis den großen Systemen gegenüber, die ihren Wahrheitsanspruch auf autoritative Traditionen und Institutionen, nicht auf individuelle Erfahrung uns spontane Reflexion gründen.⁷⁸
Die Möglichkeit zur Kritik verbindet in der literarischen Form die Kritik am Systemdenken (wie sie eine Traditionslinie der Kritischen Theorie ist) mit der Möglichkeit des einzelnen Individuums, sich „an einem Thema zu versuchen und sich dabei zu seiner eigenen Subjektivität zu bekennen.“⁷⁹ Zwar ist Adornos Essay über den Essay einflussreich geworden, die Charakterisierung des Essays als kritische Form findet sich allerdings schon vor seiner Beschreibung. Bereits Georg Lukács diagnostiziert in Die Seele und die Formen 1916 einen kritischen Geist, der im Essay wirkt: „Der Essay ist ein Gericht, doch nicht das Urteil ist das Wesentliche und Wertentscheidende an ihm (wie im System) sondern der Prozeß des Richtens.“⁸⁰ Lukács kontrastiert das Systemdenken mit dem Essay und während ersteres das Urteil in den Mittelpunkt stellt, ist es bei letzterem der Prozess. Die Kritik an einem Systemdenken und die Beschreibung essayistischer Praxis als ein Prozess sind für die Charakterisierung essayistischer Identifizierungen umso bemerkenswerter. Der Prozess des Richtens – bei Lukács freilich über einen ästhetischen Gegenstand im Sinne einer literarischen Kritik – unterscheidet sich in seiner narrativen Anlage vom System, indem der Modus des Schreibens sowie die Sprecherposition anders kontextualisiert werden müssen, sodass z. B. nicht aus einer auktorialen Position gesprochen werden kann. Aus Lukács Perspektive macht dies den Essay zu einer eigenen Kunstgattung.⁸¹ Für die ostdeutschen Selbstbilder in Grünbeins Essays ist dies ein entscheidender Punkt. Auch wenn Die Jahre im Zoo keine literarische Kritik am ästhetischen Gegenstand ist, ist es der Versuch, die eigene Subjektivität kritisch als Prozess zu fassen. Die Aussagen, welche der Erzähler über sein eigenes Werden trifft und welche ihn charakterisieren, beschreiben nicht nur den Prozess, sondern sind selbst prozessual. In den unterschiedlichen Episoden kommt es fortlaufend zu Identifizierungen, die mit Ostdeutschland in Verbindung stehen: Es werden die Vergangenheit des Prota-
Schlaffer: „Essay“, S. 523. Schärf: Geschichte des Essays, S. 7. Lukács, Georg: Die Seele und die Formen. Essays, in: Ders.: Werkauswahl in Einzelbänden. Bd. 2. hrsg. von Frank Benseler / Rüdiger Dannemann, Bielefeld: Aisthesis 2011, S. 43. Vgl.: Lukács: Die Seele und die Formen, S. 23.
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gonisten und die Gegenwart des Erzählers miteinander verschränkt präsentiert. Der Charakter des Versuches entwickelt eine zentrale Bedeutung für Die Jahre im Zoo, wie an einem Intertext deutlich wird: Erich Kästners Als ich ein kleiner Junge war. Kästners Text wird zwei Mal erwähnt (vgl.: DJZ: 295, 372). Im zweiten Fall grenzt sich der Erzähler zwar inhaltlich ab,⁸² trotzdem steht Kästners Erinnerungsbuch Grünbeins Entwurf der Erzählung der eigenen Kindheit ebenso Pate wie Benjamins Berliner Kindheit. Während Benjamin für die Motivik und die narrative Konstruktion der jeweiligen Abschnitte von Bedeutung ist, gibt es zwischen der grundlegenden inhaltlichen Strukturierung Kästners und Grünbeins Zusammenhänge. Beide enden ihre Erzählung mit dem Eintritt ins Militär, der als Ende der Kindheit figuriert. Die chronologische Ordnung der Prosastücke steht Kästners Konzeption deutlich näher als der endzeitlichen Konfiguration der Prosaminiaturen Benjamins – wobei die Vorausblicke innerhalb des Handlungsgeschehens des Protagonisten bei Grünbein deutlich ausgeprägter sind als bei Kästner. Grünbeins Wunsch nach einer „Ausdehnung der Kindheit mittels Schrift und Erinnerung“ (DJZ: 212) ist analog zu Erich Kästners „Versuch, die Geschichte einer Kindheit zu erzählen“⁸³. Diese Formulierung eines performativen Prozesses trifft als konzeptuelle Anlage ebenfalls auf Die Jahre im Zoo zu. Grünbein schreibt gleichsam einen prozessual angelegten Versuch, seine Kindheit zu erzählen. Die Selbstbeschreibungen und Selbstbefragungen sind als Prozesse von Identifizierungen zu verstehen, in denen vor allem Aussagen über das erzählende Subjekt getroffen werden. Max Bense hat diese Art des Schreibens und Denkens als experimentierend charakterisiert: Essayistisch schreibt, wer experimentierend verfaßt, wer also seinen Gegenstand hin und her wälzt, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert, wer von verschiedenen Seiten auf ihn losgeht und in seinem Geistesblick sammelt, was er sieht und verortet, was der Gegenstand unter den im Schreiben geschaffenen Bedingungen sehen läßt.⁸⁴
Was Bense als Experiment beschreibt, trifft ebenso auf Grünbein zu, denn seine unterschiedlichen Prosaabschnitte sind nicht einfach unterschiedliche Zeitebenen der Chronologie, sondern ergänzen die Betrachtungen durch einen jeweils Dazu heißt es bei Grünbein: „Jahrzehnte später bin ich dem kleinen Jungen noch einmal begegnet. Das war in den Lebenserinnerungen des Dresdner Kinderbuchsautors Erich Kästner. Es gab wenig Ähnlichkeiten – nicht nur das Kindsein, die Kindheit als solche und erst recht die Stadt, in der sie sich abspielte, waren so radikal anders, daß man nichts mehr wiedererkannte.“ (DJZ: 372 f.). Kästner, Erich: Als ich ein kleiner Junge war. Vollständige Ausgabe, München: Dtv 2003, S. 77. Bense, Max: „Über den Essay und seine Prosa“, Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 1/3 (1947), S. 414– 424, hier S. 418.
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eigenen Zugriff auf die Vergangenheit. Dies zeigt sich an der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung in den intertextuellen Bezugnahmen (Der Löffel – Kafka, Im Garten der Gartenstadt – Benjamin) sowie an den verschiedenen motivischen Ausgestaltungen, die den Zugriff auf die Vergangenheit eröffnen (Fischwaren – Seefahrt und maritime Diskurse, Die zoologische Internationale – Zoologie). Dieses Umkreisen und Reflektieren, das Bense als experimentalen Zugriff beschreibt, ist Teil eines kritischen Potentials, das der Form des Essays inhärent ist: „[D]er Essay ist die Form der kritischen Kategorie unseres Geistes. Denn wer kritisiert, der muß mit Notwendigkeit experimentieren, er muß Bedingungen schaffen, unter denen ein Gegenstand erneut sichtbar wird […].“⁸⁵ Der kritische Anspruch des Essays und sein Versuchscharakter hängen eng zusammen, da es zum poetologischen Programm eines Essays wird, sich an einem Gegenstand kritisch zu versuchen. Eine essayistische Schreibweise ist sich ihrer Unvollständigkeit bewusst und stellt so das Defizit aus, das mit dem Anspruch einhergeht, den Gegenstand vollständig umreißen zu wollen.
Der Essay als utopische Kunstform Das Interesse, den Essay als eigene ästhetische Kunstform zu instituieren, begleitet die Essayforschung seit ihren Anfängen. Für Lukács ist dies eine Frage der Ordnung, um den Essay – so kritisch der Essay dem System gegenüberstehen mag − in ein ästhetisches System zu sortieren: „Wenn ich aber hier von dem Essay als einer Kunstform spreche, so tue ich es im Namen der Ordnung […]. Ich versuche den Essay so scharf wie überhaupt möglich zu isolieren, eben dadurch, daß ich ihn jetzt als Kunstform bezeichne.“⁸⁶ Seine Funktion im System ist es, das ästhetische wie das philosophische System zu unterlaufen und so seinen Formcharakter zu gewinnen. Dieser besteht nicht in taxonomisch bestimmbaren Eigenschaften, um als Essay verstanden zu werden, sondern in einer Geisteshaltung, die mit dem Aspekt der Kritik sowie seiner utopischen Wendung zusammenhängt. Christian Schärf bringt diese Aspekte prägnant zusammen: „Essay und Essayismus zerstören nicht bloß das Denken in normativen ästhetischen Strukturen, sie löschen auch den Grenzverlauf zwischen Literatur und Leben tendenziell […] aus. In sie eingelagert findet sich ein Utopismus der exklusiven Art.“⁸⁷ Die Auflösung der Grenze zwischen Literatur und Leben, die nichts anderes impliziert als eine (ontologisch schwer zu begründende) Einmi-
Bense: „Über den Essay und seine Prosa“, S. 420. Lukács: Die Seele und die Formen, S. 24. Schärf: Geschichte des Essays, S. 11.
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schung der Autorinstanz in seinen Text, bringt ein Subjekt des Sprechens hervor, das sich der Kontingenz seiner eigenen Hervorbringung – nämlich durch die subjektive Einmischung des Autors − bewusst ist. Aus diesem Grund ist es umso schwieriger, dieses Subjekt in ein System einzuordnen: Im Gegensatz zum Subjekt des systematischen Diskurses, das seine Klassifikationen, Definitionen und narrativen Abläufe nicht als kontingente Konstruktionen reflektiert, denkt das Essay-Subjekt über seine diskursive Tätigkeit nach. […] Der Unterschied zum System besteht im Nachdenken über den Aufbau des eigenen Diskurses sowie über dessen Partikularität und Kontingenz.⁸⁸
Was Zima am Essay − im Unterschied zum System − betont, ist nichts anderes als das reflektierende und sich damit prozessual gestaltende Sprecher-Subjekt. In der Auseinandersetzung mit seinem Gegenstand bringt sich das Subjekt selbst prozessual hervor, wobei der Prozess sich nicht abschließen kann, wie es das philosophische System insinuiert. Stanitzek hat deshalb den „Essay als unbestimmbaren Statthalter des Individuellen“⁸⁹ charakterisiert. Ein sich selbst hervorbringendes Subjekt ist ein Prozess, den einzig die Reflektion leisten kann, also der Bezug auf etwas, was bereits vorhanden ist. Daher führt Georg Lukács Analyse auch dazu, den Essay als eine Auseinandersetzung mit einem Bestehenden zu verstehen: [D]er Essay spricht immer von etwas bereits Geformtem, oder bestenfalls von etwas schon einmal Dagewesenem; es gehört also zu seinem Wesen, daß er nicht neue Dinge aus einem leeren Nichts heraushebt, sondern bloß solche, die schon irgendwann lebendig waren, aufs neue ordnet. Und weil er sie nur aufs neue ordnet, nicht aus dem Formlosen etwas Neues formt, ist er auch an sie gebunden, muß er immer die „Wahrheit“ über sie aussprechen, Ausdruck für ihr Wesen finden. Vielleicht ist der Unterschied am kürzesten so formulierbar: die Dichtung nimmt aus dem Leben (und der Kunst) ihre Motive; für den Essay dient die Kunst (und das Leben) als Modell.⁹⁰
Schlaffer, der die (ohnehin problematische) Wahrheit ausstreicht, teilt die Position Lukács in diesem Fall.⁹¹ Die Auseinandersetzung mit etwas Existierendem findet in der Neukonstellation ihre neue Bedeutung. Für den Erzähler der Jahre im Zoo gewinnt die Auseinandersetzung mit seinem Leben als Modell einen beson-
Zima: Essay/Essayismus, S. 21 (Hevorheb. i. Orig.). Stanitzek, Georg: „Abweichung als Norm? Über Klassiker der Essayistik und Klassik im Essay“, in: Vosskamp, Wilhelm (Hrsg.): Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken, Stuttgart: Metzler 1993, S. 594– 615, hier S. 598. Lukács: Die Seele und die Formen, S. 34. Vgl.: Schlaffer: „Essay“, S. 522.
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deren Anspruch: Nur im Umkreisen des eigenen Lebens gewinnt die essayistische Auseinandersetzung ihren Wert, indem sie Aussagen über das schreibende Subjekt trifft. Die Jahre im Zoo wählt verschiedene Zugänge zu ihrem Gegenstand – der Beschreibung des eigenen Lebens −, und folgen darin einer Grundstrukturen des Essays: „Essayist ist ein Kombinatoriker, ein unermüdlicher Erzeuger von Konfigurationen um einen bestimmten Gegenstand.“⁹² Ähnlich charakterisiert Stanitzek die Form des Essays, wenn er die „Digression als textorganisierendes Prinzip“⁹³ dieser Gattung ausmacht. Damit werden zwei (sich nur scheinbar widersprechende) Aussagen miteinander verbunden: Denn zum einen ist der Essay monologisch strukturiert,⁹⁴ zum anderen ist er „Intertext par excellence“⁹⁵. Die intertextuellen Bezugnahmen in Motivik, Inhalt und Form sind stets Funktionalisierungen, die in der monologischen Strukturierung des Diskurses mehr über das Sprecher-Ich aussagen, als dass sie Selbstzweck hätten. Für Die Jahre im Zoo gilt dies in ähnlicher Weise, wenn die intertextuellen Bezugnahmen auf die Literatur der klassischen Moderne zu Aussagen über den Erzähler werden, der den Protagonisten in diese von ihm konstruierte Intertextualität einflicht. Die Erfahrung von Krisen- und Umbruchszeit, wie sie die Moderne entwirft, wird auf der Textoberfläche mit Kindheit und Jugend als persönlicher Umbruchszeit in Verbindung gebracht. In der Tiefenstruktur des Textes generiert sich die Intertextualität als Referenz auf die Krisen und Umbrüche, die der Erzähler nach 1989 erfährt. Die Intertextualität wird durch den Protagonisten ins erzählende Ich getragen, das diese Konstruktion hervorbringt. Dem intertextuellen Bezug ist ein Surplus an Bedeutung eingeschrieben − etwas, was über die Vereinheitlichung der Monologisierung hinausweist. Dieser Aspekt ist das Utopische des Essays. Ohne Frage hat Robert Musil den Essayismus als utopisches Konzept im Mann ohne Eigenschaften zu einem Höhepunkt gebracht, wie es sich bereits im Titel (Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus) des häufig kommentierten 62. Kapitel des zweiten Teiles zeigt. Hält man sich an Musils zentralen Satz, „Utopien bedeuten ungefähr so viel wie Möglichkeiten“⁹⁶, der die Konzeption des Möglichkeitssinnes anklingen lässt,⁹⁷ ist dieser mit einem weiteren zentralen Satz über den Essay zu verbinden:
Bense: „Über den Essay und seine Prosa“, S. 422. Stanitzek, Georg: „Referat über Essay und Ästhetik“, in: Schwering, Gregor / Zelle, Carsten (Hrsg.): Ästhetische Positionen nach Adorno, München: W. Fink 2002, S. 87– 101, hier S. 92. Vgl.: Zima: Essay/Essayismus, S. 19. Zima: Essay/Essayismus, S. 6. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften I. Roman. Erstes und Zweites Buch, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 246. Vgl.: Musil: Der Mann ohne Eigenschaften I, S. 16 ff.
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Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen, – denn ein ganz erfaßtes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein – glaubte er, Welt und eigenes Leben am richtigsten ansehen und behandeln zu können.⁹⁸
Die Möglichkeiten, welche die Utopie entwirft, können sich im Essay nur anhand seiner vielfältigen Zugänge zum Objekt äußern. Dies ist die Grundbedingung des utopisch-essayistischen Schreibens, das, wie Inka Mülder-Bach treffend festgestellt hat, „kein Idealzustand [ist; M.K.], sondern die experimentelle Erkundung einer Lebensmöglichkeit, die in der Wirklichkeit steckt […].“⁹⁹ Die daraus resultierende „polyperspektivische Sichtweise“¹⁰⁰ zeugt von einem multiplen Zugang zum Objekt des essayistischen Sprechens sowie von einem „Wunsch des modernen, multiplen Subjekts […], mit sich selbst identisch zu sein.“¹⁰¹ Dass dieser Wunsch nicht einlösbar ist, sondern die Wirklichkeit sich anders darstellt, formuliert der Protagonist Ulrich in einem Gedankengang selbst: Der Wille seiner eigenen Natur, sich zu entwickeln, verbietet ihm, an das Vollendete zu glauben; aber alles, was ihm entgegentritt, tut so als ob es vollendet wäre. Er ahnt: diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhenden Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen, und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist.¹⁰²
Die ständigen Wandlungen, die sich im Essayismus durch die konstitutive Multiperspektivität auf den Gegenstand sowie über diese verschiedenen Perspektiven auf das sprechende Subjekt richten, ermöglichen es, einen nicht-monologischen Zugang zu wählen. Der konsequente Schritt des Essayismus wäre daher, das monologische Sprechen durch das umkreisende, reflektierende und kritische Denken aufzusprengen: „Die Utopie des Denkens bestünde darin, einen theoretischen Diskurs zu entwerfen, der sowohl die Identifizierung mit dem Objekt als auch den Monolog meidet und sich die essayistische Offenheit zum anderen bewahrt.“¹⁰³ Ein solches Denken vertritt Theodor W. Adorno in seinem Der Essay als Form mit voller Konsequenz. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften I, S. 250. Mülder-Bach, Inka: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman, München: Hanser 2013, S. 213. Mülder-Bach: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 214. Nübel, Birgit: „Möglichkeitssinn und Essayismus“, in: Dies. / Wolf, Norbert Christian (Hrsg.): Robert-Musil-Handbuch, Berlin/Boston: De Gruyter 2016, S. 719 – 725, hier S. 722. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften I, S. 250. Zima: Essay/Essayismus, S. 167.
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Adornos Konzeption des Ideal-Essays Adornos analytische Annahmen, wie er sie in Der Essay in Form vorgelegt hat, sind überaus hilfreich, um Grünbeins essayistisches Schreiben zu verstehen, das zwar ohne konkreten intertextuellen Bezug auskommt, aber deutliche Ähnlichkeiten zu Adornos Überlegungen aufweist. Was Adorno als die Mischform des Essays bezeichnet, bringt laut ihm (insbesondere im deutschen Kontext) das Bedürfnis hervor, den Essay und seine Form klassifizieren und in ein System einordnen zu wollen.¹⁰⁴ Mit der Unmöglichkeit dieser Einordung hängt die Geringschätzung des Essays durch Literaturkritik und -wissenschaft (zur Zeit Adornos) zusammen. Adorno greift, so Schärf, bei seiner Konzeption weniger auf einen Korpus von vorhanden Essays zurück, als dass er eine Idealform konstruiert, die als „Schreibweise des Nichtidentischen“¹⁰⁵ zu bezeichnen ist. Adornos Konzeption des Nichtidentischen, wie er sie in der Negativen Dialektik ausführlich beschreibt, hängt aufs engste mit dem Mitte der 50er Jahre geschrieben Essay zusammen.¹⁰⁶ Die Antwort auf die Suche nach einer passenden literarischen Form, die seine Kritik am Systemdenken mit einer Schreibweise verbindet, scheint Adorno im Essay gefunden zu haben: Im Verhältnis zur wissenschaftlichen Prozedur und ihrer philosophischen Grundlegung als Methode zieht der Essay, der Idee nach, die volle Konsequenz aus der Kritik am System. [… Der Essay; M.K.] trägt dem Bewußtsein der Nichtidentität Rechnung, ohne es auch nur auszusprechen; radikal im Nichtradikalismus, in der Enthaltung von aller Reduktion auf ein Prinzip, im Akzentuieren des Partiellen gegenüber der Totale, im Stückhaften.¹⁰⁷
Adorno porträtiert nicht nur den Essay als die literarische Form der Kritik am System, sondern macht deutlich, dass das Bewusstsein der Nichtidentität ein Modus des Sprechens im Essay ist. Denn in der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand muss nicht offensiv dessen Nichtidentität besprochen werden, indem sie wortwörtlich benannt wird, sondern dies muss im Umkreisen des Gegenstandes deutlich werden. Die Nichtidentität des Gegenstandes, der vom Essay besprochen wird, verweist gleichsam auf die Nichtidentität des Subjektes, das den Essay schreibt. Der Essay trifft keine klare Sachaussage, sondern seine disparaten Zugänge gehen von den Disparitäten des sprechenden Subjektes aus, dessen Nichtidentität der essayistische Text stets mitreflektiert. Laut Adorno ist dies der
Vgl.: Adorno: „Der Essay als Form“, A-GS 11, S. 9. Schärf: Geschichte des Essays, S. 274. Zima: Essay/Essayismus, S. 140 f. Zum Nichtidentischen, vgl. das Kapitel Die Unmöglichkeit von Identität. Adorno: „Der Essay als Form“, A-GS 11, S. 16 f.
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Anspruch einer Aufklärung, die sich dem Dilemma einer Dialektik der Aufklärung zu entziehen vermag: In Deutschland reizt der Essay zur Abwehr, weil er an die Freiheit des Geistes mahnt, die seit dem Mißlingen einer seit Leibnizischen Tagen nur lauen Aufklärung, bis heute, auch unter den Bedingungen formaler Freiheit, nicht recht sich entfaltete, sondern stets bereit war, die Unterordnung unter irgendwelche Instanzen als ihr eigentlichen Anliegen zu verkünden. Der Essay aber läßt sich sein Ressort nicht vorschreiben.¹⁰⁸
Der Essay als Form nimmt das Programm der Nichtidentität ernst, da nur ein dialektischer Prozess das zu retten vermag, was durch die erkenntnistheoretische Begriffssubsumption ausgesondert werden würde. Für den Fall kollektiver und personaler Identität bedeutet dies, dass im Begriff des Subjektes von sich selbst − sowie im Begriff des Subjektes in seiner Zugehörigkeit zu einem Kollektiv − immer Teile ausgeschlossen werden müssen, um Einheitlichkeit herstellen zu können. Dagegen erhebt Adorno bekanntlich Einspruch. Die literarische Umsetzung zeichnet sich für ihn durch das Fragmentarische und Brüchige aus: [Der Essay; M.K.] denkt in Brüchen, so wie die Realität brüchig ist, und findet seine Einheit durch die Brüche hindurch, nicht indem er sie glättet.[…] Diskontinuität ist dem Essay wesentlich, seine Sache stets ein stillgestellter Konflikt. Während er die Begriffe aufeinander abstimmt vermöge ihrer Funktion im Kräfteparallelogramm der Sachen, scheut er zurück vor dem Oberbegriff, dem sie gemeinsam unterzuordnen wären; was dieser zu leisten bloß vortäuscht, weiß seine Methode als unlösbar und sucht es gleichwohl zu leisten.¹⁰⁹
Adorno entlehnt die Konzeption von Brüchigkeit und Fragmentarischem Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels, der diese wiederum aus dem romantischen Entwurf des Fragments als Kritik transformiert.¹¹⁰ Während bei Benjamin das Bruchstückhafte einen festen Zusammenhang durch Allegorisierung aufsprengt, wird es bei Adorno zu einem textorganisierenden Merkmal und schließt sich mit der von Stanitzek beschriebenen Digression kurz. In dieser Brüchigkeit des Fragmentarischen ist dem Essay immer ein utopisches Mehr an Bedeutung inhärent: Der geläufige Einwand gegen ihn [den Essay; M.K.], er sei stückhaft und zufällig, postuliert selber die Gegebenheit von Totalität, damit aber Identität von Subjekt und Objekt, und ge-
Adorno: „Der Essay als Form“, A-GS 11, S. 10. Adorno: „Der Essay als Form“, A-GS 11, S. 25. Vgl.: Benjamin: „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, B-GS I, S. 353 f.; Fetscher, Justus: „Fragment“, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Studienausgabe. Bd. 2 [Dekadent bis Grotesk], Hamburg: Junius 2013, S. 551– 588, hier S. 564 f., 583.
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bärdet sich, als wäre man des Ganzen mächtig. Der Essay aber will nicht das Ewige im Vergänglichen aufsuchen und abdestillieren, sondern eher das Vergängliche verewigen. Seine Schwäche zeugt von der Nichtidentität selber, die er auszudrücken hat; vom Überschuß der Intention über die Sache und damit jener Utopie, welche in der Gliederung der Welt nach Ewigem und Vergänglichem abgewehrt ist.¹¹¹
Adorno beschreibt, wie der Essay das Nichtidentische hervorbringt. Dieses muss nicht auf der Textoberfläche diskutiert werden, sondern zeigt sich in einer Bewegung zwischen den Bedeutungsträgern, die in ihrer Bedeutung nicht voll aufgehen. Das Flottieren der Signifikanten in der Signifikantenkette der Derrida’schen différance ist an dieser Stelle sicher eine zulässige Assoziation, um Adornos Verfahren zu veranschaulichen.¹¹² Der Versuch, dem Ephemeren zu seinem Recht zu verhelfen, ist der Versuch, die Dialektik in ihrer klassischen Konzeption aufzuhalten und zum Stillstand zu bringen. Da dies, wie Adorno unablässig betont, nicht auf der Textoberfläche geschieht, sondern als Struktur des Textes wirkt, zielt es weniger auf das ab, von dem gesprochen wird, als darauf, wie gesprochen wird. Zwar muss die Totalität – also ein Begriff des Sprechenden als Ganzes und in sich Abgeschlossenes − erkennbar sein, gleichzeitig darf Totalität niemals (als präsente) gezeigt werden.¹¹³ Der von ihm wiederholt vorgetragenen Befürchtung, dass das Subjekt durch die gesellschaftlichen Kontexte verschwindet,¹¹⁴ versucht Adorno mit der Form des Essays, Einhalt zu gebieten. In seiner Konzeption kann sich das Subjekt in der Essayform von der Zweckrationalität der Gesellschaft durch intensive Kontemplation emanzipieren. Jener Akt des geistigen Versenkens ist es, der ein Surplus der Nichtidentität durch die Form des Prozesses produziert. Dieser kann zwar zur Betrachtung stillgestellt werden, kommt aber nicht zu einem Abschluss. Damit versagt er sich den Ausblick auf Absolutheit: Das Wort Versuch, in dem die Utopie des Gedankens, ins Schwarze zu treffen, mit dem Bewußtsein der eigenen Fehlbarkeit und Vorläufigkeit sich vermählt, erteilt, wie meist geschichtlich überdauernde Terminologien, einen Bescheid über die Form, der um so schwerer wiegt, als er nicht programmatisch sondern als Charakteristik der tastenden Intention erfolgt.¹¹⁵
Adorno: „Der Essay als Form“, A-GS 11, S. 18. Vgl. zu einer Ähnlichkeit der Überlegungen Adornos und Derridas das Kapitel Theorie der Identifizierung. Vgl.: Adorno: „Der Essay als Form“, A-GS 11, S. 24. Vgl.: Müller-Funk,Wolfgang: Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus, Berlin: Akademie Verlag 1995, S. 251 ff. Adorno: „Der Essay als Form“, A-GS 11, S. 25.
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Adorno bestimmt den Versuchscharakter des Essays als dasjenige, was den utopischen Gedanken performativ vorführt. Dadurch, dass lediglich versucht wird, einen Gegenstand zu beschreiben und umkreisend neue Zugänge zum Beschriebenen gewählt werden, die zugunsten anderer Zugänge fortwährend abgebrochen werden, versagt sich der Essay in seiner Konstruktion den Anspruch auf Wahrheit. Dies führt zu der paradoxen Konstellation, die Adorno selbst beschreibt: „Seine Totalität, die Einheit einer in sich auskonstruierten Form, ist die des nicht Totalen, eine, die auch als Form nicht die These der Identität von Gedanken und Sache behauptet, die sie inhaltlich verwirft.“¹¹⁶ Damit verbindet der Essay seine Form und seinen Inhalt sowie die Aussage über das Sprecher-Subjekt. Der Prozess einer negativen Dialektik, die sich im Essay zur literarischen Form geronnen zeigt, ist Adornos Anspruch an ein Denken, das im Stande sein kann, eine wirkliche Erfahrung zu leisten. Aber allein in der Bewusstmachung, wie ein Begriff – auch von sich selbst bzw. von der eigenen Zugehörigkeit − sich bildet, was ausgeschlossen wird und wie das Ausgeschlossene in Schutz genommen werden kann, verwirklicht sich Adornos Konzeption: „[Der Essay; M.K.] möchte den Gedanken von seiner Willkür heilen, indem er sie reflektierend ins eigene Verfahren hineinnimmt, anstatt sie als Unmittelbarkeit zu maskieren.“¹¹⁷ Laut Adorno muss das Ziel sein, die durch die vollkommene Vermittlung gesellschaftlicher Verhältnisse vorherrschende Ideologie von Authentizität und Unmittelbarkeit aufzusprengen.¹¹⁸ Der Essay wird „zu der adäquaten Form eines antiideologischen Schreibens“¹¹⁹, wie es Schärf bezeichnet. Adorno entwirft den Essay als Idealform seines Verständnisses einer negativen Dialektik. Der Aspekt des Nichtidentischen gewinnt einen zentralen Stellenwert. Seine Rettung in der literarischen Form ist der utopische Kern, der Adornos Vorstellung innewohnt. Der Essay soll das Versprechen einlösen, einen Gegenstand zu umkreisen, ihn aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, ohne den Anspruch zu haben, ihn vollkommen erklären zu können. Dass dieser Anspruch fallengelassen wird, hängt nicht mit dem jeweils einzelnen Gegenstand zusammen, sondern mit der Beschaffenheit eines jeden Gegenstandes, der sich (wenn überhaupt) allein als jeweils einzelner und nicht als Teil einer Gruppe vollständig erklären lässt. Für Die Jahre im Zoo bedeutet dies: Der Erzähler als das sprechende Subjekt umkreist das eigene von ihm erzählte Leben als einen selbstreflexiven Gegenstand. Das Leben wird in den verschiedenen Abschnitten aus neuen Perspektiven in den Blick genommen, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu vertreten.
Adorno: „Der Essay als Form“, A-GS 11, S. 26. Adorno: „Der Essay als Form“, A-GS 11, S. 27. Vgl.: Müller-Funk: Erfahrung und Experiment, S. 263. Schärf: Geschichte des Essays, S. 274.
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Durch diese Form eines erinnerten Lebens spricht der Text immer über das Subjekt, das sich erinnert. Damit wird Die Jahre im Zoo zu einem Text, der die Identifizierungen des Erzählers thematisiert. Beständig wirft der Text die Frage auf, inwiefern die Betrachtung des eigenen vergangenen Lebens in seiner derzeitigen Version aufgeht, es gar bedingt und wie diese Identifizierungen sich stabilisieren oder fehlschlagen. Die zeitliche Distanz ist nicht zufällig, sondern es ist die zeitliche Position, die sich mit derjenigen des schreibenden Autors Durs Grünbein überschneidet, wie es der Text an einigen Stellen markiert. So spricht der Erzähler beispielsweise noch von einem Tag, „bevor der Staat unterging, und die Russen aus dem Ort abzogen“ (DJZ: 262), um kurz danach das hundertjährige Bestehen Helleraus 2009 zu thematisieren (vgl.: DJZ: 262). Die zeitliche Distanz von Erzähler zu Erzähltem markiert den Unterschied zwischen der DDR-Zeit und einer retrospektiven Post-DDR-Zeit. Simonis hat dieses Verhältnis mit Blick auf Die Jahre im Zoo als essayistisch bezeichnet: „Die erinnernde Rekonstruktion der individuellen Vergangenheit ist notwendig essayistisch, da sie stets nur bruchstückhaft gelingen kann und ihre Ergebnisse bis zu einem gewissen Grad kontingent sind.“¹²⁰ Damit stellt sich die Frage, wie das Verhältnis der Bestimmung des Essays durch die referierte Forschung und die Konzeption eines idealtypischen Essayismus im Anschluss an Adorno sich zu Durs Grünbeins eigener Poetologie des Essays verhält.
2.2 Zu Grünbeins essayistischem Schreiben Essayistischer Modus Grünbein erreichte in den 1990ern vornehmlich als Lyriker Bekanntheit, die sich mit der Georg-Büchner-Preisverleihung 1995 für sein lyrisches Frühwerk beträchtlich steigerte. Angesichts seines Rufs positioniert Grünbein sich als Autor zwischen seinen bevorzugten Gattungen Gedicht und Essay. Seine Textproduktion charakterisiert er als ein Wechselspiel und einen inhaltlichen Austausch zwischen lyrischen und essayistischen Formen.¹²¹ Während in den meisten bisherigen Buchpublikationen die Trennung zwischen den literarischen Formen eingehalten wurde, gilt dies für Die Jahre im Zoo und Aus der Traum (Kartei) nicht mehr. Beide beinhalten größtenteils Prosapassagen, die von den lyrischen Einschüben Simonis: „Essayistisches Schreiben“, S. 55. Grünbein, Durs / Kasper, Hartmut / Dittberner, Hugo: „Ein Nachtrag. Durs Grünbein im Gespräch“, in: Ahrends, Martin / Dittberner, Hugo / Engelhardt, Linda Anne (Hrsg.): Der Satz des Philosophen. Martin Ahrends, Kurt Drawert, Durs Grünbein, Florian Felix Weyh, Göttingen: Wallstein 1996, S. 143 – 163, hier S. 143.
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unterbrochen werden. Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt auf den Prosaarbeiten Grünbeins. Im Folgenden soll deutlich werden, was den essayistischen Modus Grünbeins auszeichnet. Ferner wird gezeigt, wie Grünbeins Schreibweise Adornos Idealform des Essays ähnelt. Den Versuchscharakter seiner Prosaarbeiten kontextualisiert Grünbein mit einem starken Bezug zu einer Erinnerungsarbeit: Alles was ich zustande bringe, sind Arbeitsnotizen, Planskizzen, essayistische Ausflüge, Gedankengänge, Aufzeichnungen über die Unmöglichkeit des konkreten Erinnerns.Wer sich ans schriftliche Erinnern macht, merkt schnell, in welche Fallen er da gerät. Nichts ist schwieriger, als auf dem Ozean des Gedächtnisses zu kreuzen.¹²²
Grünbein zählt literarische Vorstufen auf, die dem Versuch ähneln, ohne diesen zu nennen (Notizen, Skizzen, Ausflüge, Gedankengänge, Aufzeichnungen). Der Akt des Erinnerns, von dem sein Essayismus angetrieben wird, ist der Selbstaussage nach unvollständig. Mit der nautischen Metaphorik eines Kreuzens auf dem Ozean des Gedächtnisses verweist Grünbein auf die literarische Tradition¹²³ und zeigt einen Entdeckungsvorgang, der als Prozess entsteht. Dieser muss unvollständig bleiben. Für die Lyrik Grünbeins hat Schärf einen „Essayismus des digitalen Zeitalters“ konstatiert, in dem durch die „ruinösen und absurden Sprachspiele […] auch noch die letzten Reste subjektiver Illusionistik zermahlen“¹²⁴ werden. Ein Blick auf einen Gedichtausschnitt aus Schädelbasislektion macht dies deutlich: und wer war ich: ein genehmigtes Ich, Blinder Fleck oder bloßer Silbenrest… (‐ich), zersplittert und wiedervereinigt im Universum von Tag zu Tag, Gehalten vom Bruchband der Stunden zusammengeflickt Stückweise und in Fragmenten »I feel so atomized.«¹²⁵
Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 70. Vgl.: Grünbein, Durs: Die Bars von Atlantis. Eine Erkundung in vierzehn Tauchgängen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 13. Schärf: Geschichte des Essays, S. 16. Grünbein, Durs: Schädelbasislektion. Gedichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 31.
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In den Satzfragmenten, die in zerpflückten Versen angeordnet werden, spiegelt sich der Inhalt des Gedichtes. Das sich atomisiert fühlende lyrische Ich des Gedichtes kann (und braucht) keinen kohärenten lyrischen Text erzeugen, vielmehr zerfällt der Text wie das Ich in ruinenhafte Bruchstücke. Ahrend betont, dass sich Grünbeins Denken „im Kontext von Fragmentierung und Entzauberung, von Entlarvung und Destruktion“¹²⁶ entfaltet. Dies verbindet die lyrischen und die essayistischen Texte in ihrer Struktur und es wird anhand der Titel einiger Essays (Braun bezieht sich exemplarisch auf Ameisenhafte Größe und Mein babylonisches Hirn) deutlich, dass „in Extremen und Paradoxen gesprochen“¹²⁷ wird, die mit den Dichotomien, die nicht aufrechtzuhalten sind, fortwährend die eigene Fragmentarität ausstellen. Diese Paradoxie des Sprechens ermöglicht Grünbein, eine andere Dichotomie – Autonomie und Engagement − zu überwinden und sich „für den dritten Weg einer Suche nach positiver Erkenntnis auf dem Feld seiner [des Schreibenden; M.K.] Kunst“¹²⁸ einzusetzen. Die Überwindung dieser klassischen Polarität treibt gleichfalls Adornos Ästhetische Theorie an: „Alle Versuche, durch gesellschaftliche Funktion der Kunst zurückzuerstatten, woran sie zweifelt und woran zu zweifeln sie ausdrückt, sind gescheitert. Aber ihre Autonomie beginnt, ein Moment von Blindheit hervorzukehren.“¹²⁹ Der dialektische Prozess, in dem der politische Gehalt eines Textes sich in und durch die autonome Kunst verwirklicht,¹³⁰ verbindet Grünbein mit Adorno. Auffällig stimmig ist die Diagnose Ahrends, der eine Bezugnahme auf die (von Adorno und Horkheimer entwickelte) Idee des Verblendungszusammenhanges in Das erste Jahr konstatiert. Dort, so Ahrend, stellt Grünbein in seiner künstlerischen Auseinandersetzung die „subversive Funktion der Dichtung in den Vordergrund.“¹³¹ Grünbein selbst bezeichnet seinen Essayismus als ein „vollkommenes Retardieren.“¹³² Dieses Verzögern er-
Ahrend: „Essayistische Lyrik“, S. 155 f. Braun, Michael: „»Vom Rand her verlöschen die Bilder«. Zu Durs Grünbeins Lyrik und Poetik des Fragments“, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Durs Grünbein, Text + Kritik 153, München: Ed. Text + Kritik 2002, S. 4– 18, hier S. 7. Grünbein, Durs: „Ameisenhafte Größe“, in: Ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989−1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 13 – 17, hier S. 13. Adorno: Ästhetische Theorie, A-GS 7, S. 9. „Jedes Engagement für die Welt muß gekündigt sein, damit der Idee eines engagierten Kunstwerks genügt werde […].“, Adorno: „Engagement“, A-GS 11, S. 425 f. Ahrend: Tanz zwischen sämtlichen Stühlen, S. 44. Die Stelle bei Grünbein lautet: „Sarkastische Reflexion aber erschöpft sich keineswegs in beißendem Spott, in der Zerfleischung mißliebiger Verhältnisse oder Personen. Sie kommt erst dann zu sich selbst, wenn sie im lustvollen Zerreißen der Zusammenhänge die Verblendung im Blick auf das Ganze vorführt“, Grünbein: Das erste Jahr, S. 275. Kasper/Dittberner/Grünbein: „Ein Nachtrag. Durs Grünbein im Gespräch“, S. 147.
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möglicht eine Kontemplation, die es zulässt, unterschiedliche Perspektiven in den Text einzuholen. Ahrends Analyse, die Grünbeins Essayismus eine Offenheit und Multiperspektivität unterstellt, schließt hieran an.¹³³ Grünbein schafft es, die Sprecherinstanz in ihrer Subjektivität ernst zu nehmen, sie in ihren Kontexten zu situieren und ihrer eigenen Nichtidentität zu überführen. Teil eines solchen offenen Prozesses ist der literarische Status der Jahre im Zoo, die laut Simonis „zwischen Nichtfiktionalität und Fiktionalität eigentümlich oszillier[en].“¹³⁴ Diese Mischform von literarisch-fiktionalem und autobiographischem Text situiert die Selbstbefragung des Erzählsubjektes, denn sie bringt Kontinuität und Bruch miteinander in Einklang. Überdies wird Grünbeins eigenes poetisches Programm ausgestellt, das von Offenheit, Versuchshaftigkeit und Kritik am Systematischen (und Systemischen) lebt: Weit davon entfernt, einen einheitlichen Standpunkt zu formulieren, leistet sich Grünbein eine überaus heterogene Poetologie, die sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner zurückführen lässt. Das liegt zu einem großen Teil an Grünbeins tastender Denkweise, die jeglicher Dogmatik und Systematik feindlich gegenübersteht und die aufgeworfenen Probleme lediglich umkreist, anstatt sie auf den Begriff bringen oder sie in einen logisch-kohärenten Zusammenhang pressen zu wollen.¹³⁵
In diesem Nexus artikuliert sich der essayistische Modus Grünbeins. Er bedient sich der klassisch gewordenen Strukturen des Essays. Die Distanzierung von großen philosophischen Systemen, der assoziative Charakter, das Umkreisen seines Gegenstandes mit unterschiedlichen Gegenständen, der Fokus der Aussage auf das Sprecher-Subjekt etc. treten zusammen. In seinen Gegenständen variiert Grünbein: Es lassen sich essayistische Texte finden, die sich mit dem Werk einzelner Autoren¹³⁶, mit philosophischen Betrachtungen¹³⁷ und mit poetologischen Überlegungen¹³⁸ auseinandersetzen oder eine kritische Zeitgeistdiagnose liefern
Ahrend: „Essayistische Lyrik“, S. 136. Simonis: „Essayistisches Schreiben“, S. 47. Ahrend: „Essayistische Lyrik“, S. 135. Vgl. z.B. zu Gottfried und Benn und Ezra Pound: Grünbein, Durs: „Elegien für einen Irrtum“, in: Ders.: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 334– 354; Grünbein, Durs: „Die Casa Pound“, in: Ders.: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 365 – 403. Vgl. z. B.: Grünbein, Durs: Der cartesische Taucher. Drei Meditationen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. Vgl. z. B.: Grünbein, Durs: Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2009, Berlin: Suhrkamp 2010; Grünbein, Durs: „Warum schriftlos leben“, in: Ders.: Antike Dispositionen. Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 32– 57.
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wollen¹³⁹. Überdies findet sich eine große Anzahl von Selbstbetrachtungen, die mit diesen anderen essayistischen Formen korrespondieren und sie in den Text einweben. Für Die Jahre im Zoo, die in diesem Paradigma als essayistische Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit zu verstehen sind, kann dies ebenfalls festgehalten werden. Damit werden die Themenkomplexe von (Nicht‐)identischSein und Erinnerung in den Mittelpunkt des Textes gestellt.
Nichtidentität und Identifizierung Grünbeins Texte sind von einer großen Skepsis gegenüber Vorstellungen von fester Identität geprägt und ähneln Adornos Überlegungen. Denn während einerseits das Identisch-Sein des Menschen (im Fall von Grünbein meist sein eigenes Identisch-Sein) als Illusion entlarvt wird, soll das Ich andererseits dennoch nicht aufgelöst werden. Das Ich wird als zu Rettendes verstanden, wobei das Individuum nicht als selbstidentische Einheit, sondern disparat und dissonant präsentiert wird. Grünbein bezeichnet sich als „dezentriertes Subjekt“¹⁴⁰ und verdeutlicht das (Fort‐)Bestehen von Subjektivität in einer anderen Form, als sie in den klassischen philosophischen Formationen seit Descartes gedacht wurde, wie er im Anschluss an Nietzsche formuliert: Daß die Katze Mensch immer wieder auf ihre vier Beine fällt, Pardon: auf das eine Bein »Ich« (Nietzsche), ist nur ein Indiz für ihre physiologische Einheit, richtiger die Vereinigung ihrer widerstrebenden Teile oder Glieder; und noch lange kein Grund an eine seelische Einheit zu glauben.¹⁴¹
Die Absage an eine „Vorstellung vom ganzheitlich-identitären Ich“¹⁴² wird zu einer zentralen poetologischen Überlegung, die sich mit den in dieser Arbeit vorgelegten theoretischen Überlegungen überschneidet.¹⁴³ Denn das Verhältnis von Kontinuität und Bruch steht in engem Zusammenhang mit den Prozessen der Identifizierung, die sich auf Kontinuitäten berufen, während sie immer größere
Vgl. z. B.: Grünbein, Durs: „Die süße Krankheit Dresden“, in: Ders.: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 185 – 200. Grünbein, Durs: „Sarajevo. Danach“, in: Ders.: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 482– 507, hier S. 484. Grünbein: Das erste Jahr, S. 85 (Hervorheb. i. Orig.). Lampart, Fabian: „›Der junge Dichter als Sphinx‹. Durs Grünbein und die deutsche Lyrik nach 1989“, in: Bremer, Kai / Lampart, Fabian / Wesche, Jörg (Hrsg.): Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein, Freiburg: Rombach 2007, S. 19 – 36, hier S. 19. Vgl. zu diesen Überlegungen das Kapitel Selbstbilder zwischen Identität und Identifizierungen.
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Disparitäten produzieren. Sie sind Teil einer kontinuierlichen Subjektivität, die sich nicht einfach verflüchtigt und in ihrem Versuch, Begrifflichkeit von sich selbst zu entwerfen, diese Begrifflichkeit gleichermaßen trifft und verfehlt: „Schon deshalb, weil man niemals all die Ich-Anteile in diesem AssoziationsGestöber wahrnehmen kann, ist es unmöglich sich selbst bis ins kleinste Detail zu erkennen.“¹⁴⁴ Grünbeins essayistische Entwürfe verorten sich in der Ambivalenz einer Identifizierung zwischen sich selbst und der Kollektivität als Bezugspunkten. Sie verweisen fortwährend auf ihren Rahmen, welcher der Vorstellung einer festen Identität eine Absage erteilt. Das Problem, das die Texte aufwerfen und das die Sekundärliteratur bisher nicht beantwortet, sondern affirmativ aufgreift, sind die Bedeutungsunterschiede zwischen Begriffen wie Ich, Identität und Subjektivität. Grünbein selbst bestimmt diese Begriffe nicht unterschiedlich, sondern verwendet sie synonym. In diesem Kontext muss auf ihre Unterschiede hingewiesen werden. Denn während die Subjektivität etwas ist, zu dem der Mensch durch seine Fähigkeit, sich handelnd mit andern Menschen in ein Verhältnis zu setzen, kommt, ist Identität eine Projektions- und Zuschreibungsfläche. Das Ich versucht die verschiedenen Entwürfe, die es von sich selbst macht (ganz gleich, ob unwillentlich oder selbstbestimmt), zu vereinheitlichen und in Prozessen der Identifizierung eine Identität zu ermöglichen, was stets (ungewollt oder selbstbestimmt) scheitern wird. Die Subjektivität kann eine Form annehmen, die versucht, Identität herzustellen. Das Ich ist ein Arrangeur, der die verschiedenen disparaten Teile zu vereinigen sucht. Dies lehnt sich an die Konzeption Sigmund Freuds an, der das Ich, zwischen dem Es und Über-Ich gefangen und getrieben, beschreibt, wobei Teile des Gedächtnisses, auf das bei der Herstellung von Identität maßgeblich zurückgegriffen wird, in einem vorbewussten Zustand zugänglich sind.¹⁴⁵ So zeigt sich die schwierige Auseinandersetzung mit den Begriffen im Text Galilei vermißt Dantes Hölle: „Nicht daß das Subjekt, Hätschelkind der Geschichtsphilosophie, irgendwann, wie es heißt, verschwindet, macht ein Zusammenleben so problematisch, sondern daß es im Gegenteil nur noch Subjekte gibt … eine Wirklichkeit, die sich schwer denken läßt.“¹⁴⁶ Zwar lässt sich in diesem Kontext an die posthegelianische Konzeption eines Subjektes der Geschichte − wie etwa die Arbeiterklasse bei Marx − denken, gleichzeitig spricht Grünbein von einer Vervielfältigung der Subjektivitäten in der Gegenwart. Laut Grünbein wird Subjektivität durch die Vorstellung von unveränderlichen Identi Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 13. Vgl.: Freud: Vorlesungen, StA I, S. 514 ff. Grünbein, Durs: „Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen“, in: Ders.: Galilei vermisst Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989−1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 89 – 104, hier S. 89.
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täten und die Vorstellung von der Unmöglichkeit kommunikativer Vermittlung zwischen diesen Selbstentwürfen problematisch. Lampart nimmt daher an, dass Grünbeins Essayismus weniger auf einen Ich-Verlust, als auf eine Pluralisierung der Perspektiven zielt: [D]er vielbeschworene ›Ich-Verlust‹, relativiert sich bei näherem Hinsehen zu einer Differenzierung und Vervielfältigung der Sprechsituationen, zu einer variationsreichen Erweiterung der stilistischen Register. Die polyphone Reizvielfalt wird wohl nicht mehr kontrolliert, aber doch sehr dezidiert gefiltert und gestaltet von einem Ich, das sich dieses Zustands der Pluralisierung von Wahrnehmungen nur zu bewußt ist.¹⁴⁷
Diese Multiperspektivität, in der ein Subjekt seinen Status als Subjekt bewahrt, ohne auf ein Konzept von Identität zu setzen, bezieht Grünbein auf kollektive Identität. Er hält fest, dass Kunstwerke solche Bilder präferiert anbieten: „Die Psychologie beruft sich auf das Konzept der Identifikation. Aber woher dieses ursprüngliche Sichgleichsetzen mit einer fremden Subjektivität rührt, bleibt im Dunkel. Ich weiß nur, daß solche Signalwirkung am stärksten von Kunstwerken ausgeht […].“¹⁴⁸ Grünbein formuliert eine Skepsis gegenüber der Identifikation als einem Sichgleichsetzen, das als abgeschlossenes Faktum verstanden wird. Damit problematisiert Grünbein gleichsam, dass Identifizierungen auf Identität verweisen. Dieses Prinzip wird von dem Versuchscharakter (der mit dem Essay als Versuch korreliert) unterlaufen und stellt den Ausdruck eines essayistischen Modus dar, der sich „ganz im Gelände der Unbegrifflichkeit“¹⁴⁹ ausdrückt. Dass Grünbein diese Art des essayistischen Sprechens ernst nimmt, zeigt sich in der Büchner-Preisrede Den Körper zerbrechen. Ausgehend von Büchners literarischen und nichtliterarischen (seiner Probevorlesung an der Universität Zürich Über Schädelnerven) Texten beschäftigt sich Grünbein mit dem Themenfeld Autopsie in Büchners Werk. Grünbein, der diesen Preis insbesondere für seine physiologische Lyrik in Schädelbasislektion erhielt, versteht Büchner als den ersten seiner Vorgänger, bei dem qua seiner naturwissenschaftlichen Ausbildung Physiologie in Dichtung aufgeht (vgl.: DKZ: 76). Büchner wird zum Apologeten einer Dialektik der Aufklärung, die durch den „Schlaf der Vernunft“ (DKZ: 77) gekennzeichnet ist, wie es Grünbein in Anlehnung an Goya formuliert. Damit eröffnet sich ein „Abgrund, in dem die Körper verschwinden.“ (DKZ: 77) Dem Verschwinden des Körpers unter dem Diktat einer reinen Qualität des Geistes infolge der Vernunft wi Lampart: „Der junge Dichter als Sphinx“, S. 34. Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 13. Ruzzenenti, Silvia: „Bilder-Logik. Zur bild-epistemologischen Poetologie Durs Grünbeins“, in: Horst, Christoph auf der / Seidler, Miriam (Hrsg.): Bildlichkeit im Werk Durs Grünbeins, Berlin/ Boston: De Gruyter 2015, S. 83 – 112, hier S. 91.
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derspricht Grünbein im Anschluss an Büchner: „Ohne den Riß zwischen Dichtung und Naturkunde bei Büchner verdecken zu wollen, ohne sein Menschenbild zu reduzieren auf zwei, drei zoologische Annahmen – der Gegenstand selbst spricht dafür, daß er hier Aufschluß suchte, gerade hier, über etwas, das der ganzen kreatürlichen Existenz ihre Richtung gab.“ (DKZ: 78 f.) Grünbein referiert die zoologischen Annahmen Büchners, da sie die Körperlichkeit, die Nerven, das Vegetative des Menschen beschreiben, eine Motivik, die in den Jahren im Zoo ebenso auftritt. Die Autopsie wird Grünbein zur zentralen Anschauungsweise des Menschen: Denn Autopsie ist der sicherste Weg zum Verlust des Glaubens oder, wem das nicht ausreicht, zur Befestigung des Unglaubens. Das Zerlegen der Körper ist der Königsweg zum Absurden. Wo sonst als im Innern der sterblichen Körper wäre die Gleichheit unmittelbar mit Händen zu greifen, der gemeinsame Grundriß? Und folgt nicht aus solcher Eingeweideschau zuletzt auch etwas so Unerhörtes und Schlüssiges wie die Erfindung, die Proklamation universeller Menschenrechte? Büchner, der Arztsohn, hat die Gesellschaft von dorther zu korrigieren versucht. (DKZ: 80)
Grünbeins Büchner-Lektüre bringt ihn zu dem Ergebnis, dass Büchner mit der Doppeldeutigkeit des gleichen Menschen arbeitet: Zwar gibt es gleiche Menschen, diese werden aber nicht gleichgemacht, vielmehr geht es um „die Risse, die durch den einzelnen gingen“ (DKZ: 81). Ahrend hat darauf hingewiesen, dass die eigentliche Bedeutung der Autopsie das „‚Selbst-Schauen‘ und Beschauen des Selbst“¹⁵⁰ ist. Das Schreiben über Büchner und die neurologischen Zusammenhänge wird bei Grünbein zu einem Schreiben über sich selbst. In der Tradition des Essays steht weniger der Gegenstand als das Sprecher-Subjekt im Mittelpunkt. Grünbein betreibt eine Beschauung des Selbst durch Büchner, in dem die Körperlichkeit des Individuums im Mittelpunkt steht: Und deshalb ist jeder Gesellschaftsentwurf wertlos, wenn er nicht auch das Bewußtsein von der Zerbrechlichkeit dieser traurigen Körper einschließt. Mag sein, daß die Utopien mit der Seele gesucht werden, ausgetragen werden sie auf den Knochen zerschundener Körper, bezahlt mit den Biographien derer, die mitgeschleift werden ins jeweils nächste häßliche Paradies. (DKZ: 83)
Diese Zeilen deuten auf die fünf Jahre zuvor erlebten ‚Wendeerlebnisse‘ hin, denen sich Grünbein zum Schluss seiner Rede zuwendet. Sein Bericht über den 7. Oktober 1989 nimmt seinen Ausgang nicht, wie man annehmen könnte, mit einer Beschreibung dieser (oder weiterer folgender) Demonstrationen, sondern
Vgl.: Ahrend: Tanz zwischen sämtlichen Stühlen, S. 92.
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setzt nach der Demonstration ein. In einer Dissoziation zwischen Körper und Worten, letztere fungieren an dieser Stelle als Stellvertreter des Geistes, findet sich Grünbein in völliger Erschöpfung im Angesicht eines russischen Panzers wieder. Die Müdigkeit des Körpers nimmt die Müdigkeit der Nachwendezeit vorweg, in welcher der Körper erneut vergessen werden wird: Bis hierher [vor den Panzer; M.K.] war der Körper gekommen, nun suchte er Ruhe, eine Pause im Fortgang. Er hatte genug von alldem, genug von den Straßen breit wie Landebahnen, von Friedensplätzen und Todesstreifen, genug von Morgenappell und windschiefen Plattenbauten, von Sicherheitswahn und urbaner Monotonie, genug der konditionierten Regungen und der einfältigen Sprachen, endlich genug dieser langen sozialistischen Dämmerung, der Lethargie einer ganzen Landschaft, in die er durch Zufall hineingeraten war wie in eine riesige Falle. Ausruhn wollte er, abschalten von Ost und West, von der unseligen Verklammerung des Gespaltenen aller Verhältnisse und Gehirne, sich schlafen legen inmitten des Minenfelds, vergessen die Ohnmacht, die physiologische Diktatur und die jahrelange kollektive Erniedrigung … einschlafen, um die Beleidigungen des Intellekts zu vergessen, einen Augenblick Frieden finden, angelehnt an dieses schwere Kettenfahrzeug, das dort wie unbemannt dastand. Es war der Körper, der sich hier vor allen Worten, wie in der Anwandlung des Kleinkinds, seiner Erschöpfung hingeben wollte: etwas, das länger ausgeharrt hatte, beklemmender eingezwängt als die immerfort fluchtbereiten Gedanken. Es war, als hätte ich, im Rücken den Panzer, diese eine Mal die Geschichte verschlafen wollen, minutenlang, bevor alles in Fahrt kam, den Körper vergessend in einem traumlosen Schlaf. (DKZ: 85; Hervorheb. i. Orig.)
In der Teilung der Personalpronomen, das Ich ist den Gedanken und das Er dem Körper vorbehalten, findet sich eine Anknüpfung an den Leib-Seele-Dualismus der Philosophie.¹⁵¹ Es ist gleichzeitig die Beschreibung einer radikalen Nichtidentität des Ichs. Denn während Grünbeins Körper zur Ruhe kommen will, treiben die Gedanken weiter. Die Verhinderung eines kontemplativen Moments ist dem gedanklichen Fortschritt geschuldet, der sich selbst das heilsame Vergessen nicht zugestehen kann. Grünbein leitet die Passage mit der unzutreffenden Beschreibung ein, er gehe von Büchner „[z]urück in die Gegenwart“ (DKZ: 84). Unzutreffend daran ist, dass Grünbein die Rede 1995 und nicht im Jahr 1989 hält. Seine Schilderung ist eine Rekonstruktion, die vor allem unter der Perspektive der vergangenen sechs Jahre geschieht. Dies zeigt sich anhand des Wunsches, von ›Ost und West‹ abzuschalten, und des Wunsches, dem Körper die Möglichkeit einzuräumen, sich ›vor allen Worten‹ der Erschöpfung hinzugeben. Die Kursivierung der beiden Worte und sowie vor verweist auf die Rekonstruktivität, die
Ausführlich beschäftigt sich mit Grünbeins Behandlung des Leib-Seele-Problems in der Tradition Descartes Marek Gross in seiner Lektüre zu Vom Schnee.Vgl. hierzu: Gross, Marek: Bruch und Erinnerung. Durs Grünbeins Poetik, Berlin: LIT 2011, S. 173 – 190.
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sich aus der Erfahrung der Postwendezeit speist. Denn es ist die große Erschöpfung der Jahre nach dem politischen Systemwechsel, die nicht die Zeit ließ, die Beschädigungen durch die Diktatur zu heilen. Grünbeins Körper, der ein eigenes Gedächtnis hat, kann nicht zu der eingeforderten Ruhe kommen. Vielmehr wird durch eine Zweckrationalität des Fortschrittes der Körper vergessen. Die erneute Nennung von Schlaf knüpft an den Goya-Verweis einige Seiten zuvor an und reflektiert damit die Problemstellung einer dialektischen Aufklärung in der Tradition Adornos und Horkheimers. Insgesamt ist die Passage überdies von Benjamins Engel der Geschichte beeinflusst, der verharren will, aber vom Fortschritt fortgetragen wird.¹⁵² Grünbein ruft nicht einfach die Problemstellung auf, die mit einer Konzeption von ‚Identisch-Sein‘ einhergeht, sondern stellt die Prozesse einer Nichtidentität in sich selbst – zwischen Körper und Geist − aus. Diese Nichtidentität kontextualisiert sich in einer rekonstruktiven Betrachtung der Wendezeit, welche die Postwendezeit integriert. Damit wird die individuelle Beschreibung gleichzeitig entindividualisiert. Mit der Müdigkeit des Körpers werden die Erinnerungen an die DDR mit den Erinnerungen an das frisch wiedervereinigte Deutschland zusammengeführt. Diese Lesart wird durch die Rede von der unseligen Verklammerung des Gespaltenen aller Verhältnisse und Gehirne befördert. Grünbein deutet die verunglückte Vereinigung der beiden Staaten an, die durch eine Verklammerung nur äußerlich zusammengehalten werden, in einer Zurichtung des Körpers. Es kommt nur zu einem Eintritt ins „nächste häßliche Paradies“ (DKZ: 83). In der Nichtidentität zwischen Körper und Geist, die ihren Ausdruck in Worten − den Repräsentanten des Geistes − findet, löst Grünbein das Subjekt nicht auf, sondern zeigt in seinem Erinnerungsprozess, wie ein Prozess der Selbstidentifizierung scheitert. Die Worte, die erneut als Bedeutungsträger fungieren, können das Geschehen allerdings nicht in Gänze bezeichnen, sondern wirken vielmehr als sprachliche Fragmente eines Subjektes, das sich durch diese ausdrückt.¹⁵³
Erinnerung nach 1989 Die Darstellung einer rekonstruktiven Nichtidentität, die lediglich scheiternde Prozesse der Identifizierung zulässt, hängt eng mit Erinnerungen zusammen, die aus einer bestimmten zeitlichen Perspektive erzählt werden. Wie anhand der Lektüre von Den Körper zerbrechen deutlich geworden ist, ist hierfür die Erinne-
Vgl. hierzu die Kapitel Der Engel ihrer Geschichte sowie Von Löffeln und Akademien – Bezüge zu Franz Kafka. Vgl.: Ahrend: „Essayistische Lyrik“, S. 145.
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rung des nach 1989 schreibenden Grünbein entscheidend. Damit wird eine Übereinstimmung zwischen der zeitlichen Lokalisation des schreibenden Autors Grünbein, der seine Prosaarbeiten nach 1989 anfertigt, und den Sprecherinstanzen dieser Prosatexte sichtbar. Beide sprechen mit dem gleichen zeitlichen Horizont. Dass der Umbruch 1989/90 für Grünbeins Schreiben einen entscheidenden Wendepunkt in poetologischer Hinsicht darstellt, ist von der Forschung verschiedentlich beschrieben worden.¹⁵⁴ Pabst stellt in Grünbeins Essays zwar eine Abstraktion von konkreten Ereignissen fest, kommt allerdings ebenfalls zu der Interpretation, dass Durs Grünbein „sich in einem generalisierten Danach eingerichtet“¹⁵⁵ hat. Während Pabst die Danach-Situation dadurch bestimmt, dass sie in großer Anzahl in den Titeln auftritt (Nach den Satiren, Nach Hadrian, Nach den Fragmenten etc.), ist es jedoch produktiv zu fragen, ob die verschiedenen Verwendungen von Nach nicht durch die Erfahrung nach 1989 zu begründen sind. Neben der biographischen Tatsache, dass Grünbein (mehrheitlich) nach 1989 schreibt, ermöglichen die Texte einen erinnernden Zugriff auf dieses nach 1989. Der politische Systemwechsel stellt ein einschneidendes Ereignis dar. Grünbein selbst konstatiert, dass Erinnerungsstörungen – beispielsweise ausgelöst durch Schock − einen entscheidenden Wert für ihn haben: „Für mich ist nicht Erinnerung der zentrale Begriff, sondern die Erinnerungsstörung. Eines Tages fand ich heraus, daß ich mir nur merken konnte, was mit Störung, Dysfunktionen und Einbrüchen ins Gedächtnis, mit schockartig Erlebtem oder Unverstandenem verbunden war.“¹⁵⁶ Grünbein entlehnt die Idee der Erinnerung durch Schock den Annahmen Benjamins, die dieser in seiner Lektüre Freuds in Über einige Motive bei Baudelaire gewinnt.¹⁵⁷ Erinnerung bezeichnet Grünbein als eine Störung des Vergessens¹⁵⁸ und verschränkt so Vergessen und Erinnern miteinander. Der prozessuale Akt der Erinnerung gewinnt aus dem Schockmoment sein Potential. Nur so kann das erinnernde Subjekt sich mit seinem vergangenen Ich in Beziehung setzen und über einen „Akt des Er-Innerns, des Insichgehens“¹⁵⁹ seine Subjektivität herstellen. Ahrend legt in diesem Zusammenhang dar, dass eine solche Introspektion, die vergangenes und gegenwärtiges Ich in einen Zusammenhang
Vgl.: Ahrend: Tanz zwischen sämtlichen Stühlen, S. 369; Lampart: „Tropismen an den Rändern“, S. 140. Pabst: Post-Ost-Moderne, S. 320 f. Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 61. Vgl.: Benjamin: „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“, B-GS I, S. 612 ff. Vgl.: Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 62. Ahrend: „Essayistische Lyrik“, S. 147.
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bringt, nicht zu einer Übereinstimmung und Identität führt, sondern diese verweigert: Das Erinnern selbst ist kontaminiert. In ihm zeigt sich keine Manifestation von Identität, sondern gerade ihre Erosion. […] Anstelle von Identität und Transparenz herrschen im Ich Ambivalenz und Diversität. Das Ich ist sich selbst nicht verfügbar, was sich in einem Zwang zur wiederholten Selbstbeobachtung entlädt: In immer wieder neu in Angriff genommenen Rückwendungen auf die eigene Vergangenheit, die keine Klärung bringen, spiegelt sich die Ortlosigkeit eines Ichs, das sich selbst problematisch geworden ist und sich selbst nicht zu fassen vermag.¹⁶⁰
Das Verhältnis ist brüchig und der Zugang fragmentarisch. Dies korrespondiert mit Adornos Konzeption des Essays als fragmentarischem Zugang zum Gegenstand, dem Objekt der Rede, sowie dem Sprecher-Subjekt. Klein hat in ihrer Studie das Verhältnis von Fragment und Erinnerung in Grünbeins Œuvre besprochen und festgehalten: „Insofern ist das Fragment vor allem durch das Verlorene gekennzeichnet und trägt die Züge eines Desiderates.“¹⁶¹ Gerade die Referenz auf ein verloren gegangenes Ganzes¹⁶² ist den fragmentarischen Erinnerungen Grünbeins und den Prozessen der Identifizierung gemein. Die Erinnerungen (und damit einhergehend die Identifizierungen) beziehen sich zwar stets auf ein herzustellendes Ganzes (Identität als Telos), sind selbst aber lediglich fragmentarisch.¹⁶³ Der Versuch, durch Erinnerungen ein Selbstbild herzustellen, führt zu Prozessen der Identifizierung. Bei Grünbein wird dies einmal mehr mit Blick auf Ostdeutschland deutlich. Die Bezüge werden im Verlauf seines Gesamtwerkes immer expliziter. So spricht er 2019 in Aus der Traum (Kartei) über sich und die Bewohner des Brandenburgischen Döllnsees: „Es liegt manches noch in der Luft. Es zeigt sich im Verhalten der Ortsansässigen, in den Mentalitäten, die der Ostdeutsche in mir sofort wittert.“¹⁶⁴ Das Ostdeutsch-Sein stellt (nur) einen Teil des SprecherSubjektes dar, der dadurch aber die Mentalitäten anderer Ostdeutscher nachvollziehen kann. Die Prozesse der Identifizierung zielen nicht auf ein Ganzes, schließlich weist die Formulierung der Ostdeutsche in mir daraufhin, dass es einen anderen Teil gibt. Im Mauerbau kann Grünbein eine tiefgreifende Identitätsspaltung fundieren, die sich sprachlich niederschlägt:
Ahrend: „Essayistische Lyrik“, S. 148 (Hervorheb. i. Orig.). Klein: Denn alles, alles ist verlorne Zeit, S. 17. Vgl.: Klein: Denn alles, alles ist verlorne Zeit, S. 16. Vgl.: Klein: Denn alles, alles ist verlorne Zeit, S. 28. Grünbein, Durs: „Weekend am Döllnsee“, in: Ders.: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 139 – 144, hier S. 142.
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[Mit dem Mauerbau; M.K.] war alle Dialektik zunichte gemacht. Was daraus folgte, war eine tiefreichende Identitätsspaltung aller Beteiligten – die zuerst verschleiert, später geleugnet wurde. Die Sprache des Landes, jenes schauerliche schizoide Kauderwelsch, entströmte seither dem Riß in ihrer innersten Logik.¹⁶⁵
Insbesondere in Aus der Traum (Kartei) wird das Ostdeutsche wiederholt zum Thema. Diese − vielleicht auch dem Zeitgeist geschuldete − Beschäftigung spricht auch über das (Weiter‐)Bestehen einer Gemeinsamkeit der Ostdeutschen nach dem Untergang der DDR: Man hat den Eindruck, daß es vielen Menschen im Osten wie dem armen Franz Biberkopf aus Berlin Alexanderplatz erging. Der schlimmere Teil seiner Existenz begann, nachdem er die Gefängnistore in Richtung Freiheit passiert hatte. Kein Wunder, daß mancher sich heute nach der Schwelle sehnt, auf der er noch hätte umkehren können. Aber weder gibt es diese Schwelle mehr noch die Verhältnisse, aus denen man den folgenschweren Schritt wagen mußte. Eine ganze Bevölkerung riskierte damals den Auszug ins Unbekannte.¹⁶⁶
Der Bruch, der nur indirekt (›Auszug ins Unbekannte‹) benannt wird, hängt mit den Folgen der Jahre 1989/90 zusammen. Das Ergebnis dieses Bruches ist ein „neue[s], äußerlich geeinte[s], innerlich so zerrissene[s] Deutschland“¹⁶⁷. Für die Ostdeutschen ist die historische Zäsur markant und wirkt fort. Grünbein differenziert begrifflich nicht zwischen der DDR vor 1989 und Ostdeutschland nach 1989, aber er artikuliert das Bewusstsein der Veränderung durch Kontinuität: „Die Verzweiflung vieler Ostdeutscher hat ihre Gründe in den Entwicklungen nach der Wende.“¹⁶⁸ Die Selbstbilder, auf die Grünbein verweist, hängen mit der Verzweiflung vieler Ostdeutscher zusammen. Denn ein Bezug auf ein ‚OstdeutschSein‘ kann nach 1989 einzig über die Erinnerung an die DDR hergestellt werden. Im Vergleich der politischen Systeme findet sich ein fragmentarischer Rückbezug, der sich nicht erfüllt, sondern als ostdeutsche Identifizierung nach der Wende wirkt. Im Eintrag unter dem 9. November 2000 nimmt Grünbein in Das erste Jahr das Jahr 1989 als Zäsur in den Blick. Die Ereignisse bedeuten zunächst eine Befreiung aus dem Land der Mauer: „Kampflos hatte das Imperium kapituliert, die Macht sich davongeschlichen unter den grauen Himmeln. […] Lebenslänglich so hatte das Urteil gelautet, und nun war, im Augenblick der Befreiung, das ganze
Grünbein, Durs: „Der Weg nach Bornholm“, in: Ders.: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 107– 121, hier S. 109. Grünbein, Durs: „Unfreiheit. Eine Rede“, in: Ders.: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 146 – 168, hier S. 161. Grünbein: „Die süße Krankheit Dresden“, S. 185. Grünbein: „Die süße Krankheit Dresden“, S. 197.
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Strafmaß zusammengeschrumpft, zu einer einzigen Schaltsekunde […].“¹⁶⁹ Aus der historischen Distanz erinnert sich Grünbein an die Wendezeit zurück und bewertet diese erneut: Lüge die Rede von der friedlichen Revolution, Propaganda wie alles, was sich im Namen des Kommunismus, pro oder contra, politischer Spielraum zuschrieb, als sei dieser Block irgend anders als durch nacktes Begehren, Selbsttäuschung und strikten Ideenverzicht zu sprengen gewesen. Nur im Unbewußten der Kollektive, in der wunschlosen Lethargie der betäubten Massen, in den verödeten Hirnen und Eingeweiden der historisch Zukurzgekommenen konnte sich diese Umwälzung vorbereiten wie eine lange unendlich quälende Verdauungsstörung. Wahrhaft ein Zurückwälzen, ein Zurückdrehen der Weltzeit war dieser epochale Stuhlgang, und nur insofern hatte er etwas von einer revolutio, nicht im Sinne eines Aufruhrs, des hoch motivierten Umsturzes, sondern in dem der Erleichterung: Endlich ließ sich auf all das scheißen.¹⁷⁰
Mit der für sein Frühwerk typischen explizit derben Sprache äußert Grünbein sich über die Ereignisse von 1989 und deklariert diese in seiner Erinnerung zur Lüge. Grünbein referiert auf das lateinische Wort revolutio in seiner eigentlichen Bedeutung als Zurückwälzen und beschreibt die Ereignisse – mit der ihm eigenen physiologischen Anreicherung − als Stuhlgang, der vollzogen werden muss. Grünbein bleibt in der Metaphorik, um mit einem kollektiven Toilettengang die Situation aufzulösen: „Ein befreiendes, ein erschöpfendes Jahr: 1989. Wieviel Rizinusöl mußte fließen, wie lange hatte gedrückt und gepreßt werden müssen, ehe die verdauungsgestörten Ostler endlich den Durchbruch schafften von der Kolik zur erlösenden Defäkation.“¹⁷¹ 1989 markiert eine Zäsur, die sich ohne wirklichen revolutionären Geist ereignet. Revolution wird in diesem Kontext zur Zurückwälzung statt zur Neugeburt. „Die kommenden Depressionen“¹⁷², von denen Grünbein spricht, markieren Kontinuität und Bruch, mit denen er die Ereignisse der ‚Wendezeit‘ zu einem zentralen Anker seines Denkens macht. Alle Ereignisse nach 1989 sowie vor 1989 sind einzig durch Erinnerung zugänglich und positionieren, statt Beschreibung tatsächlicher Ereignisse zu sein, das Sprecher-Subjekt, das diese einordnet und sich zu diesen verhält. Der Modus des uneigentlichen Sprechens über die Wendezeit macht diese Verschiebung deutlich: Grünbein kann
Grünbein: Das erste Jahr, S. 242. Grünbein: Das erste Jahr, S. 242 (Hervorheb. i. Orig.). Essen, Gesa von: „»So viele Zeiten zur selben Zeit«. Geschichte und Gedächtnis in Grünbeins ›Das erste Jahr‹“, in: Bremer, Kai / Lampart, Fabian / Wesche, Jörg (Hrsg.): Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein, Freiburg: Rombach 2007, S. 79 – 102, hier S. 243. Grünbein: Das erste Jahr, S. 243.
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statt eines realistischen Erzählstils andere semantische Felder bedienen. Kleins Argumentation ist insofern folgerichtig, da Grünbein das „Fragment zum inneren Prinzip des Schreibprozesses“¹⁷³ erhebt. Denn der fragmentarische Zugang der Erinnerung ist der Zugang der Selbstbeschreibung, der ausstellt, keine Identität zu erreichen, wie Grünbein im Gespräch festhält: „Die Tatsache, daß jede Form der Identitätsbestimmung zu spät kam, macht die Besetzung der Übergänge, der Transiträume erforderlich. Vermutlich hatte es auch mit der Lebensweise damals im Osten zu tun.“¹⁷⁴ Die Aussage, die Grünbein im Zusammenhang der Gemeinsamkeiten von Künstler und Literaten trifft, ist jedoch erweiterbar. Denn das Jahr 1989 betrifft mit seinem Zäsur-Charakter nicht allein Kunstschaffende: „Bis zum Jahr 1989 lebten wir alle wie hinter Klostermauern […].“¹⁷⁵ In seiner Beschreibung bezieht er sich auf alle Bewohner der DDR und beschreibt das Gefühl, das Grünbein „[n]ach dem Fall der Mauer […] in einer offen und beschleunigten Welt“¹⁷⁶ erfährt.¹⁷⁷ Grünbeins essayistischer Modus bedient sich der Erinnerung, um Identifizierungen und Nichtidentitäten zu generieren. Dabei wird der Blick nach 1989 zu einem a priori des Sprechens, ohne welches dieser Zugang nicht möglich ist. Die Versuche Grünbeins sprechen über das Sprecher-Subjekt, das das Geschehen stets strukturiert, selbst wenn die erzählte Zeit in der DDR-Zeit zu verorten ist. Im Bewusstsein der Brüchigkeit der eigenen Erinnerungen ähneln Grünbeins essayistische Versuche Adornos idealtypischer Konzeption des Essays, die den fragmentarischen Zugang zu Welt und Wahrheit zur Bedingungen essayistischen Schreibens erhebt. Die sich dadurch ergebenden Prozesse vermeiden das Aufgehen des Beschriebenen in einem Begriff. Das Sprechsubjekt kann sich folglich
Klein: Denn alles, alles ist verlorne Zeit, S. 241. Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 47. Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 47. Ahrend, Hinrich: „Der junge Grünbein und die DDR − Poetik eines Schreibens jenseits der Avantgarden“, in: Meuser, Mirjam / Ludwig, Janine (Hrsg.): Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland. Bd. 2, Eschborn: FWPF 2014, S. 407– 422, hier S. 417. Der allgemeine Charakter der Aussage wird auch daran deutlich, dass Grünbein in einem anderen Kontext darauf verweist, dass die Disposition eines Lebens (und Lesens) in der DDR auf die jenseitige Welt − die Welt jenseits der DDR − vorbereiten konnte: „Insofern hatte das Lesen im Osten etwas von einer Übung, einem klösterlichen Exerzitentum, das einen auf die jenseitige Welt vorbereitete, vorausgesetzt, man war überhaupt an etwas mehr als dem kümmerlichen Stück zugewiesener Realität interessiert.“, Grünbein, Durs: „Wir Buschmänner. Eine Erinnerung an Elias Canettis »Masse und Macht«“, in: Ders.: Galilei vermisst Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989−1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 197– 209, hier S. 198.
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keinen (vollständigen) Begriff von sich selbst machen, sondern einzig in wiederholten Zugängen bei dem Versuch scheitern.
2.3 Paradoxien maritimer Metaphorik in Die Jahre im Zoo In den beiden Kapiteln Fischwaren und Das große Gehege spielt eine maritime Semantik eine herausgehobene Rolle. Die Schifffahrt auf der Elbe verweist auf einen größeren Rahmen und die Erzählinstanz assoziiert damit transatlantischen Seehandel und die Entdeckung ferner Länder. In Kontrast hierzu wird der Fisch in eine metaphorische Beziehung zu den DDR-Bürgern und der Unüberwindbarkeit der Grenze gesetzt. Gerade im letzten Fall treten einige Aspekte auf, die im Zusammenhang mit anderen Textstellen verhandelt werden: Der Bezug auf literarische Praktiken Walter Benjamins und die Funktionalisierung des Zoologischen für Beschreibungen der DDR.¹⁷⁸ Grünbeins essayistischer Modus spricht, indem er einen anderen Gegenstand zum Thema macht, über Protagonist und Erzähler, wobei die beiden narrativen Instanzen durch die Erinnerung vermittelt sind. In dieser Vermittlung ergeben sich Prozesse der Identifizierung, die jenseits der Handlungsebenen (vor 1989) vor allem Bedeutung für die Darstellung des Selbstbildes nach 1989 haben.
Die Grenzen des Fisches Fische werden in den Jahren im Zoo gleich zu Beginn des zweiten Kapitels zum Thema. Da die Narration im Großen und Ganzen einer Chronologie folgt, befindet man sich zeitlich vor dem Umzug nach Hellerau. Zu dieser Zeit wohnt der Protagonist mit seinen Eltern und Großeltern noch in Dresden-Cotta „in einem alten Dresdner Mietshaus, das der Krieg begnadigt hatte.“ (DJZ: 10) Da im Haus ein traditionsreicher Fischhandel angesiedelt war, der in der DDR zur HO (Handelsorganisation) umgewandelt wurde, kommt schon der kindliche Protagonist mit Fischen in Berührung: [Man; M.K.] las überm Eingang das verblichene Schild mit der Aufschrift »Fischwaren« und hatte den Hafen erreicht. Die Benennung war absichtlich so abstrakt gehalten, um die wilden Phantasien zu unterdrücken. Man fuhr nicht auf die Meere hinaus bei dem Wort Waren, man war sofort eingestimmt auf die schütteren Reihen von Konservenbüchsen und Einmach-
Vgl. die Kapitel Dresdner Kindheit um 1970 – Grünbein und die Berliner Kindheit um 1900 und Der zoologische Blick.
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gläsern voll trüber Tunke, die einen drinnen erwartete. Daß Fisch nicht stinken darf, nicht, wenn er frisch ist, lernte ich erst in einem späteren Leben. (DJZ: 12; Hervorheb. i. Orig.)
An der Beschreibung der Fische zeigt sich die triste Situation in der DDR – ganz in Opposition zu den wilden Phantasien, die durch die staatliche Realität ausgetrieben werden. Die Textoberfläche operiert in einem Bereich, der die Fische durch eine (schlechte) Abstraktion – der kapitalistischen Ware − von einem geschätzten Lebensmittel zu etwas Stinkendem oder zur eintönigen Konserve – mit der Nuancierung des Immergleichen − verschiebt. Der Fisch wird zum Exempel für das, was nicht mehr den natürlichen, staatliche Grenzen missachtenden Lebensraum bewohnt. Durch die äußere Gewalt der Verdinglichung wird der Fisch vereinheitlicht und sein Radius begrenzt. Der Erzähler figuriert die Menschen in der DDR als Fische. Diesen wird, so der Erzähler in seiner nachträglichen Beurteilung, durch die Sprache versucht, das Freiheitsdenken auszutreiben. In der trüben Tunke, in der der eingelegte Fisch sein Nachleben fristet, ist das trübe Leben einer Gesellschaft in Stillstand und Mangel zu erkennen; opponierend dazu gibt es das Gegenteil, in dem sich die wilden Phantasien erfüllen können. Der Erzähler bezieht die Spezifika des Kapitalismus − Verdinglichung durch den Warencharakter − ein, um in der retrospektiven Beurteilung auf das zu verweisen, was nach dem Systemwechsel eintritt. Denn die Vergesellschaftung verschiebt sich von einer Unfreiheit hinsichtlich der bürgerlichen Freiheitsrechte zu einer ökonomisch-sozialen Unfreiheit des Kapitalismus. Die Anwendung des (ur‐)kapitalistischen Begriffes Ware auf die Zeit des real existierenden Sozialismus erhält damit eine über den Begriff hinausweisende Funktion: Historisch ist es unstrittig, dass in der DDR der 1960er Jahre die Bezeichnung Fischwaren möglich und auch nicht unwahrscheinlich war, aber insbesondere der Warencharakter des Menschen gewinnt besonders nach 1989 an Gewicht. Durch die metaphorische Beziehung von Fisch zu Mensch wird eine Kontinuität von der Kindheit bis zum Leben im wiedervereinigten Deutschland erzählt. Dass Fisch und Mensch zusammenhängen, wird beim Anblick eines Fischlieferwagens umso deutlicher: Der weiße Kühltransporter hielt in der Seitenstraße, und ich blieb jedesmal stehen und sah mir Schrift und Bild lange an, bemerkte auch die Rostflecken an der Verkleidung. Die streng riechende Ware wurde in schmuddeligen Plastikwannen und Paletten überbracht von Männern in weißen Kitteln, die an Krankenpfleger erinnerten. […] Ich mochte den munteren blauen Fisch im Profil, mit seiner schwarzen Pupille und dem wie zum Sprechen geöffneten Maul, der meistens aufgerichtet auf seiner Schwanzflosse stand, als sei er auf dem Weg der Menschwerdung gestoppt worden. (DJZ: 23)
Beim Anblick des ikonischen Fisches, der den Kühltransporter ziert, setzt der Erzähler den Fisch in Beziehung zum Menschen. Obwohl der Fisch kein voll-
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ständiger Mensch wird, vielmehr ist die Transformation gestoppt, gibt es starke Ähnlichkeiten.¹⁷⁹ In dieser Ähnlichkeitsbeziehung ist auch die Bedeutung des Fisches zu suchen: Die DDR-Bürger werden als Fische dargestellt, wobei in diese Darstellung eine intendierte Paradoxie eingelagert wird: Der Fisch hält sich ebenso wenig an staatliche Grenzen wie die Gewässer, in denen er sich bewegt.¹⁸⁰ Diese Freiheit bleibt dem Fisch in den Jahren im Zoo jedoch versagt. Im Aufwachsen erlebt der Protagonist den Fisch einzig in einer verarbeiteten Form. Diese nimmt ihm den Ekel, der ihn vor den stinkenden Fischen in seinem ersten Wohnhaus erfasst hatte. Erneut steht eine Abstraktion im Mittelpunkt: Und eines Tages kam die Entdeckung der Abstraktion. Kinder mögen das Abstrakte und im Abstrakten das Konkrete: die weiße Wurst aus der Zahnpastatube, das grüne Männchen, das in der Ampel wohnt, die Dampfwalze, die aus der schwarzen Streichmasse Asphalt einen glänzenden Teppich macht. Kinder fragen sich, ob man mit Tannennadeln nähen kann und wie es sich auf einer Wolkenbank sitzt. Im Kindergarten gab es mit schöner Regelmäßigkeit Fischstäbchen, es war das beliebteste Mittagessen. Diese kleinen braungelben Quader mit der köstlichen Kruste waren immer abgezählt. (DJZ: 24)
Die Magie der Dinge, die in ihrer sprachlichen Ähnlichkeitsstruktur als belebt ernstgenommen werden, erinnern an Benjamins Beschreibungen, die im folgenden Kapitel thematisiert werden.¹⁸¹ Wichtiger für diesen Zusammenhang ist, dass die Fischstäben als ein Abstraktion präsentiert werden, der ein kindlicher Rückbezug auf das Konkrete fehlt. Vielmehr werden die Fische nicht mit den Fischstäbchen in Verbindung gesetzt: „Keiner hätte sie [die Fischstäbchen; M.K.] mit den phantastischen Wesen verwechselt, die mancher im Kinderzimmer hielt: den Goldfisch in seinem Kugelglas neben dem Globus, den Guppys im beleuchteten Aquarium […].“ (DJZ: 24 f.) Die Entfremdung vom tatsächlichen (freien) Fisch äußert sich in der Abstraktion des Fischstäbchens. Der ‚normale‘ Fisch impliziert einen freien Lebensraum, wie es die Figuration des Globus als Symbol einer erdumspannenden Bewegungsfreiheit (die der Protagonist ja gerade nicht hat) aufzeigt. Bei den Fischstäbchen ist diese Qualität durch die Abstraktion ausge-
Passenderweise haben Heiden und Vogl in Politische Zoologie darauf hingewiesen, dass „zoologische Metaphern“ immer auch „gefrorene zoo-politische Metamorphosen“ sind, Heiden, Anne von der / Vogl, Joseph: „Vorwort“, in: Dies. (Hrsg.): Politische Zoologie, Berlin: Diaphanes 2007, S. 7– 12, hier S. 9. Oftmals wird der Verlauf von Gewässern für die Grenze zwischen Staaten herangezogen. In diesem Moment erfüllen sie Adornos Paradigma eines Niemandslandes zwischen den Ländern als utopischer Raum, vgl. hierzu erneut: Adorno: „Amorbach“, A-GS 10, S. 305; sowie das Kapitel Walter Benjamin und das Niemandsland. Vgl. das Kapitel Dresdner Kindheit um 1970 – Grünbein und die Berliner Kindheit um 1900.
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strichen. Nicht einmal die (disziplinierten und im Glas eingesperrten) Goldfische lassen den Protagonisten auf eine Verwandtschaft von Fisch und Fischstäbchen schließen. Der Erzähler, der fortwährend Fische und Bürger der DDR parallelisiert, beschreibt seine eigene Sozialisation in diesem verdichteten Bild, in dem das Freiheitsgefühl (hinsichtlich der Reisefreiheit) vollkommen getilgt werden soll. Die Beschreibung insinuiert, dass durch diese Art des Aufwachsens Mensch wie Fisch gleichermaßen die Eigenschaft, Grenzen zu überschreiten, verloren geht. Vielmehr sind von dieser ursprünglichen (zoologischen und anthropologischen) Grundkonstante nur noch Zeichen (wie der Globus) erkennbar, die ihrer Entzifferung harren. Der Erzähler setzt in der Folge verschiedene Fische zueinander ins Verhältnis, wie sich an dem Bericht eines undatierten Sommerurlaubs zeigt, der als Jugendlicher verlebt wurde: In einem der Sommer an der Ostsee, als ich wie Robinson mit einem riesigen ausgefransten Strohhut umherlief, lernten wir in Surendorf den alten Fischer Peplow kennen. Das war ein Mann, wie von Ernest Hemingway in die Welt gesetzt, der manchmal abends mit seinem Kahn hinausfuhr und eine Wanne voll Aale zurückbrachte. Die wurden dann gehäutet und, auf Spieße gesteckt, am offenen Feuer gebraten […]. Für die Eltern war dies einer der kulinarischen Höhepunkte jedes Campingsommers. Ich weiß noch, daß ich mich lange nicht satt sehen konnte an den kleinen gezähnten Spitzmäulern der Flundern und Schollen. Besonders das eine, nach oben gewanderte Auge entfachte die Phantasie. Kein Fisch, von dem ich mich nicht beobachtet gefühlt hätte. (DJZ: 25 f.)
Der Verweis auf Daniel Defoes Robinson Crusoe macht deutlich, dass die Bewertung der Situation durch die Erzählinstanz nach 1989 erfolgt. Der Erzähler greift auf den Insel- und Robinsonaden-Topos der Post-DDR-Literatur zurück, der das Leben in der DDR als eine unfreiwillige Abschottung mit dem Aufenthalt Robinsons auf der Insel parallelisiert. Der Robinsonadentopos gewinnt stets eine subversive Funktion, da die Robinson-Figur als ein gesellschaftlicher Aussteiger modelliert wird.¹⁸² Überdies deutet sich eine zeitliche Dimension an, die aus einer
Vgl. hierzu: „[D]as Inselmotiv [hat; M.K.] eine exemplarische Funktion, weil das Inselleben das DDR-Leben im Kleinen abbildet – und zwar im Sinne einer Versuchsanordnung. Zugleich aber trägt das Inselmotiv auch deutlich eskapistische Züge, denn die Insel ist […] eine Art privilegierter Rückzugsort von der normalen DDR-Gesellschaft.“, Aumüller, Matthias: „Zwischen Eskapismus und Exempel. Inselmotive und ihre Funktionen im Sozialismus am Beispiel von Literatur und Film“, in: Ostheimer, Michael / Zubarik, Sabine (Hrsg.): Inseln und Insularitäten. Ästhetisierungen von Heterochronie und Chronotopie seit 1960, Hannover: Wehrhahn 2016, S. 153– 171, hier S. 171. Vgl. außerdem den Beitrag von Ostheimer, in dem dieser im Kontext von Lutz Seilers Kruso von der „DDR-Robinsonade“ spricht, Ostheimer, Michael: „Zwischen Idylle und Anti-Idylle. Hiddensee als Paradigma für die Insel-Literatur der DDR“, in: Ders. / Zubarik, Sabine (Hrsg.):
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Post-DDR-Perspektive verständlich wird: Robinson verbringt 28 Jahre auf der Insel, ebenso lang stand die Berliner Mauer, die sowohl mit ihrem Bau als auch mit ihrem Fall paradigmatisch für die deutsche Teilung steht.¹⁸³ Der Bericht des Erzählers über das Gefühl, das er bei der Beobachtung durch die Fische verspürt, verweist auf die Beobachtung der DDR-Bürger durch die Staatssicherheit. Die IMTätigkeit durch Teile der Bevölkerung wird so in die Fisch-Metaphorik eingespeist.¹⁸⁴ Diese Bewertungen sind − allein durch den Kontext des Mauerfalles − nur aus der zeitlichen Distanz nach dem Ende der DDR möglich. Die Fortführung der Szenerie zeigt das, wenn sie auf den Vorgang des Erinnerns verweist: Wenn man zu lange in die starren, schießscheibenförmigen Augen [der gegrillten Aale im Ostseeurlaub; M.K.] schaute, konnte es geschehen, daß man sich festsah. Dann rauschte man plötzlich in einen Zeitschacht ab und fand sich, um Jahre versetzt, in einer anderen Szene wieder – etwa beim Baden in einem Baggersee, im aufgewühlten Uferschlamm der Waldteiche hinter der Autobahn im Norden Dresdens oder beim Angeln am Hellerauer Gondelteich. (DJZ: 26)
Die Erinnerung des Protagonisten an den zurückliegenden Angelausflug zum abgelegenen Gondelteich verweist auf die Erzählstruktur der Fischepisode: Der Erzähler spricht aus einer Gegenwart nach 1989 über ein Ereignis, das dem Wendejahr vorausliegt. Wesche konstatiert in Rekurs auf Grünbeins Essay Zeit der Tiefseefische, in dem Grünbein die Tiefsee mit dem Unbewussten der menschlichen Psyche parallelisiert (Fisch und Mensch in eine Beziehung setzt), dass die Tiefsee und ihre Bewohner ein „symbolhaftes Erinnerungsarchiv“¹⁸⁵ repräsentieren. Ähnliches gilt für Die Jahre im Zoo. Der Gegenstand, von dem der Text
Inseln und Insularitäten. Ästhetisierungen von Heterochronie und Chronotopie seit 1960, Hannover: Wehrhahn 2016, S. 181– 210, hier S. 203. Die Dauer von Robinsons Aufenthalt auf der Insel und der Berliner Mauer ist nahezu gleichlang: Robinson ist, wie es im Text heißt, „eight and twenty Years, two Months, and 19 days“ auf der Insel. Die Berliner Mauer stand vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 und mit 28 Jahren, zwei Monaten und 28 Tagen nur neun Tage länger, als Robinson auf seiner Insel verbringen musste, Defoe, Daniel: Robinson Crusoe, hrsg. von Thomas Keymer, Oxford / New York: Oxford University Press 2009, S. 234. Der Erzähler spielt die Homonymie von Fischen und (Mikro‐)Fiche aus. Letztere verweisen auf die Speichermedien der Staatssicherheit. Thomas Brussig hat diese Doppeldeutigkeit schon in Helden wie Wir für den Stasi-Kontext verwendet. Dort wird sogar die unterschiedliche Schreibweise zugunsten einer stärkeren Ähnlichkeit angeglichen: „Noch kleinere Fische – das war eine Anspielung auf Mikrofische!“, Brussig: Helden wie wir, S. 226 (Hervorheb. i. Orig.). Wesche, Jörg: „Biotopoi. Tiergarten, Müllberg und Tiefsee als Orte literarischer Regression“, in: Bremer, Kai / Lampart, Fabian / Wesche, Jörg (Hrsg.): Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein, Freiburg: Rombach 2007, S. 213 – 239, hier S. 236.
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spricht, muss durch die Art der Narration − das Oszillieren der Fokalisierungen zwischen Protagonist und Erzähler − als nachträgliche Bearbeitung des Geschehens durch letzteren verstanden werden. Dass dem Fisch (wie dem DDRBürger) der Tod droht, wenn er die Grenze überschreiten will, wird beim Betrachten der Elbe deutlich: Und war nicht ein Fluß die beste Reklame für das nächste offene Meer? Auf den Gedanken konnte man leicht kommen […], wenn man die Elbwiesen entlangspazierte, landauswärts, in nordwestlicher Richtung. Aber dann machten schon ein paar tote Fische, bäuchlings im trüben Uferbereich dümpelnd, die ganze herrliche Werbeaktion zunichte. (DJZ: 22)
Der Fluss deutet schon das Meer an, in das er mündet. Die Bewohner des Gewässers sind jedoch, wenn sie dem Weg des Wassers folgen, dem Tod geweiht. Die toten Fische, die zudem auf die Umweltverschmutzung der Flüsse in der DDR anspielen, werden zu den Toten an der Deutsch-Deutschen-Grenze, die aufgrund ihres Freiheitsdrangs gestorben sind. Bei einem Besuch des Stralsunder Meereskundemuseums, der sich nach dem Mauerfall ereignet − die Gegenwart des Erzählers ist frühestens auf das Jahr 2010 (eher später) zu datieren (vgl.: DJZ: 262) −, wird die zeitliche Distanz noch einmal deutlicher inszeniert: „Vor einigen Jahren trieb es mich in das alte Meereskundemuseum in Stralsund. Ich kannte das Gebäude, in dem das Skelett eines Finnwals an der Decke schwebte, seit den Sommern der Kindheit.“ (DJZ: 27) Das ausgestellte Skelett des Wales – der als Meeressäuger eine Scharnierfunktion in der Metaphorik von Fisch zu Mensch einnimmt − evoziert Bezug sowie Abgrenzung zur DDR-Zeit. Denn die DDR-Zeit wird als museales Ereignis wahrgenommen. Der Wal ist in seinen sterblichen Überresten ausgestellt und damit ein Fall für ein museales Erinnern, das auf eine vergangene Zeit verweist. In der Erinnerung an die Museumsbesuche seiner Kindheit hält der Protagonist fest: Ich erinnerte mich an den maßstabsgetreuen Nachbau eines Schleppnetzes mitsamt dem silberblitzenden Schwarm, der darin gefangen war – für alle Museumsewigkeit in der Falle. Jetzt erst ging mir das Sinnbild des Fangschiffes auf, in der Presse des Landes gern Trawler genannt. Ganze Populationen von Kiemenatmern wurden über die Stahlrampe am Heck an Bord gezogen, dort in einem Produktionsgang sortiert, zur bloßen Sache verwandelt und, mit Eisgranulat bedeckt, in Paletten verpackt, alles bei voller Fahrt. Mein Blick hing lange an diesem Schwarm, um den das Netz sich geschlossen hatte. Die armen Leute, dachte ich, dort im magischen Licht der Vitrine. (DJZ: 28)
Es wird nicht eindeutig benannt, welches Sinnbild dem Erzähler bei Betrachtung des Fangschiffes aufgeht. Der Text lässt ebenso offen, wer die armen Leute sind. Jedoch zeigt sich in der Erinnerungsstruktur, auf was angespielt wird. Der Erzähler erinnert sich an die Ausstellung von Schleppnetz und Fangschiff und
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deutet dieses beim erneuten Besuch des Museums nach 1989. Der wiederholte Einbezug der Metapher Verdinglichung wird auf die Zeit der DDR angewendet. Gerade die beiden Leerstellen – das offene Sinnbild und die Frage nach den armen Leuten − bildet eine Verbindung zwischen Fischen und Bürgern der DDR. Diese werden vom Fangschiff des Staates − der Erzähler bedient sich der Metaphorik des Staatsschiffes (und ergänzt sie) − eingefangen, zur reinen Sache gemacht und dementsprechend verwaltet. Der Freiheitsdrang von Fisch und Bürger wird durch die Netze bzw. die Mauer begrenzt und schließlich in der staatlichen Verwertung völlig abgeschnitten. Das Mitleid mit den Leuten durchbricht die Metaphorik der Textoberfläche und wechselt in ein eigentliches Sprechen. Es ist daher kein Zufall, dass der Erzähler resümiert: „In diesem Museum war die Substanz eines ganzen Landes und seiner untergegangenen Eßkultur aufbewahrt.“ (DJZ: 29; Hervorheb. M.K.) Im Museum kann er sich der Fischmetaphorik bewusst werden, die mehr als eine untergegangene Esskultur bezeichnet, sondern gleichermaßen die Substanz der DDR enthält. Der Museumsbesuch, der nach 1989, aber vor der Schreibgegenwart liegt, nimmt auf das Schreiben des Erzählers und die Ausarbeitung der Metaphorik Einfluss. Das Erzählte wird zweifach nachträglich bearbeitet: Mit Blick auf das im Museum Ausgestellte assoziiert der Erzähler die DDR, deren Darstellung durch diesen Kontext präformiert wird. Der Erzähler arbeitet dies aber zudem in der Gegenwart seines Erzählens um und entwickelt die vorgefundenen (assoziierten) Metaphoriken weiter. Der Zeitpunkt des Erzählens ist von der Zeit vor 1989 unterschieden, wie beim Betrachten der Konserven im Museum deutlich wird: „Ich beugte mich über die Schaukästen mit den Fischkonserven aus sozialistischer Produktion. Jetzt wußte ich: Dies war die Vergangenheit.“ (DJZ: 28) Die Vergangenheit der Kindheit wirkt durch die nachträgliche Bearbeitung in die Gegenwart fort, wie die Einschätzung zeigt: „Alles war wieder gegenwärtig, und die Kindheit erwischte mich mit einem Streiflicht, als gelinder Schrecken, der durch den Magen ging.“ (DJZ: 28) Gegenwart und rekonstruierte Vergangenheit verbinden sich. Die Metaphorik, die der Erzähler nachträglich auf seine Kindheit blendet, hilft ihm, Gefühl und Leben der DDRBürger durch die Fische zu inszenieren. Der Schrecken, der durch den kindlichen Magen ging, ist daher nicht in der zeitlichen Ebene des Kindes zu suchen, sondern stellt sich Jahre später, nachdem der Fisch verspeist wurde, angesichts der Repressionen des real existierenden Sozialismus erst nachträglich ein. Volle Bedeutung entfaltet der Text mit seinen Gegenständen Fisch, Fischerei und Fischhandel in der DDR in Rekurs auf das erzählende Subjekt. Bei der Betrachtung des Gemäldes Das große Gehege von Caspar David Friedrich werden diese Diskurse aufgenommen und in eine gewöhnlichere Metaphorik – des eingezäunten Viehes − eingehegt:
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War es nicht so, daß wir gewissermaßen eingepfercht lebten in dieses Stück Kulturlandschaft, das uns von Geburt an zugeteilt war, vom Horizont umschlossen die Schläfen, und es gab kein Entkommen? […] Das kleine Land, in dem das sächsische Traumverlies lag, erwies sich bald insgesamt als ein einziges Lager, aus dem keiner, der da hineingeraten war, jemals ausbrach – es sei denn mit dem Risiko, daß man mit einer Maschinenpistole hinter ihm herschoß. Mir ist das Bild vom Großen Gehege in der Abenddämmerung jedenfalls nie mehr aus dem Kopf gegangen. Ich sah darin den Fingerzeig auf ein in Unfreiheit begonnenes Leben und eine Bevölkerung, die man umzäunt hatte, eingefriedet wie eine besondere Sorte Zuchtvieh, friedliche Kühe, mit denen die staatlichen Heger und Hirten noch einiges vorhatten. (DJZ: 43 f.)
Der Erzähler versammelt noch einmal einige Motive: Eingesperrt-Sein, Tod bei Grenzüberschreitung sowie die Verdinglichung und Zurichtung der Individuen, die allein als Zuchtvieh fungieren. Gleichzeitig ist mit dem Fingerzeig auf ein in Unfreiheit begonnenes Leben die Vollendung im Gegenteil impliziert: ein erneuter Verweis auf die Zeit nach 1989. Auch die Fisch-Metaphorik drückt die gesellschaftlichen Zusammenhänge in einer rekonstruktiven Nachträglichkeit aus. In Verbindung mit dem zweiten Aspekt maritimer Metaphorik – der Schifffahrt als Sehnsuchtsort − sucht der Erzähler seine Selbstbilder im Grenzgebiet zwischen Gegenwart und Vergangenheit.
Jenseits im großen Meer In Opposition zur Darstellung der gleichgeschalteten und gefangenen FischBürger tritt in den beiden Kapiteln Fischwaren und Das große Gehege die Schifffahrt hinzu. Während im Kontext des Fischfanges das Schiff die klassische Metaphorik des Staatsschiffes erfüllt und um die Bedeutungen des Fangens und Einsperrens ergänzt wird, werden die Schiffe sonst als Transportmittel zu Sehnsuchtsorten präsentiert: Fischerei und Handelsmarine waren ein beliebtes Thema in den Zeitungen. Hier ließ sich das überschüssige Fernweh in die vernünftigen Bahnen von Technikbegeisterung und das naturbeherrschende Pathos der Fünfjahrespläne lenken. Ich erinnere mich, wie ich nachts am Radio unter der Bettdecke ergriffen den Schiffsmeldungen lauschte. Der Heimathafen hieß immer Rostock, es gab für den Überseeverkehr nur den einen. Mich aber interessierten die Positionen da draußen, tausende Seemeilen entfernt, Hafenstädte wie Paramaribo, Bombay oder Mombasa. In meiner Schlafhöhle, die nur der Leuchttropfen des Transistors erhellte, waren solch vokalreiche Ortsnamen die reine Wonne. (DJZ: 19)
Der kindliche Protagonist ist von der allgemeinen Begeisterung für Schiffe erfasst. Die Aussage wechselt vom Allgemeinen zum Individuellen, als sich der Erzähler einschaltet. Er markiert den Erinnerungscharakter der Passage, da er die Be-
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deutungen im Moment der Erinnerung hineinprojiziert. Es findet ein Wechsel zwischen einerseits objektiv nachprüfbaren Informationen – Rostock als einziger Hafen für Überseehandel – und andererseits subjektiven Gefühlen, die der Erzähler in sein vergangenes Ich – ganz gleich ob zu Recht oder zu Unrecht − überträgt, statt. Letztere sollen in diesem Changieren objektiviert und mit dem Status von Authentizität aufgeladen werden. Das Begehren nach der Exotik ferner Länder wird von dem Erzähler in die Bewertung eingetragen und korrespondiert mit „Grünbeins eigene[m] global orientierte[m] Lebensmodell nach der Wende“¹⁸⁶. Mit Fokus auf den Begriff Kosmopolitismus beschreibt Grünbein in seinem essayistischen Prosaband Die Bars von Atlantis sein Verhältnis zur Reisesehnsucht in der DDR: Kosmopolit ist ein Ausdruck mit einer langen und wechselhaften Geschichte. In der Gegend, in der ich geboren wurde und aufwuchs, hatte er beinah etwas von einer Beschwörungsformel. Allerdings nur für den einen Teil der Bevölkerung: der andere hörte sogleich den Teufel heraus, witterte Verrat und Verschwörung, Reaktion und Subversion und was der Anzeichen mehr waren für das Wühlen des Klassenfeindes. In den Ohren der Systemfrommen, der gläubigen und glühenden Kommunisten, war Kosmopolit ein Schimpfwort, gleichbedeutend mit Trotzkist oder intellektuelles Dreckschwein.¹⁸⁷
Die Gleichsetzung von Kosmopoliten mit Trotzkisten praktizieren die Vertreter und Anhänger der staatlichen Autorität, von denen sich Grünbein abgrenzt. Vielmehr ist ihm der Begriff eine Beschwörungsformel für die „Befreiung aus der hermetischen Umschlossenheit des Systems.“¹⁸⁸ Seine Selbstbezeichnung als „verspäteter Kosmopolit“¹⁸⁹, dem vor 1989 die Möglichkeit zur Verwirklichung diese Lebenskonzeptes versperrt war, stellt einmal mehr die nachträgliche Konstruktion der Jahre im Zoo aus. Unter den Eindrücken nach 1989 erfährt der Kosmopolitismus für Grünbein aufgrund seiner Erfahrungen vor 1989 eine neue Bedeutung: Der hier spricht, ist selbst ein Überlebender der Weltrevolution. Er kann ihr Scheitern bezeugen und gehört nun zu den Reisenden aller Länder, die von Geschichte nichts weiter erwarten, als daß sie ihn in Zukunft mit solchen Experimenten verschont. Er weiß jedoch eines: daß der Kosmopolitismus als praktische Politik oder besser noch als Alltagsmoral erst heute in seine entscheidende Phase eingetreten ist. In Zeiten der Globalisierung, sprich der
Bartl, Andrea: „Weltliteratur und Weltbürgertum in Zeiten der Globalisierung? Durs Grünbeins Gedichte »Arkardien für alle« im Kontext der Aufsätze »Weltliteratur: ein Panoramagemälde« und »Die Bars von Atlantis«“, Das Argument 54/4 (2012), S. 519 – 528, hier S. 520. Grünbein: Die Bars von Atlantis, S. 31. Braun: „»Vom Rand her verlöschen die Bilder«“, S. 6. Grünbein: Das erste Jahr, S. 13.
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völkerverbindenden Krisen, wächst dem Wort noch eine weitere Dimension zu. Von nun an ist jeder Mensch, ob er will oder nicht, auf Gedeih und Verderb Kosmopolit. Globalisierung heißt ja zunächst einmal nur: Es gibt keine fernen Orte mehr, der Planet ist bis in den letzten Winkel erschlossen, monetär und medial kolonisiert.¹⁹⁰
Seiner Desillusionierung gegenüber dem realsozialistischen Experiment folgt eine ebenso große Skepsis gegenüber einem oktroyierten Kosmopolitismus der ökonomisch intensivierten Globalisierung nach 1989. Grünbein selbst − der Reisende aller Länder − gehört im Unterschied zu jenen, die auf Gedeih und Verderb dem Kosmopolitismus ausgeliefert werden, zu einer Gruppe, welche die historische Entwicklung als Befreiung verstehen muss. Grünbein ist der Reisende aller Länder geworden, der er in der Berichterstattung über seine Kindheit immer werden wollte. Was als selbsterfüllende Prophezeiung inszeniert wird, ist vielmehr eine narrative, nachträgliche Bearbeitung der Kindheit und der darin enthaltenen Motivik und Metaphorik. Die Erzählinstanz muss diesen Kindheitswunsch artikulieren, um sich selbst als kosmopolitischen Ostdeutschen zu figurieren. Dies geschieht in Abgrenzung zu jenen, deren Sympathien dem Staat galten.¹⁹¹ In seiner Erinnerung entpuppt sich der Ausweg, sich im Militärdienst zur Marine zu melden, als moralisch nicht gangbarer Weg. Die Gefahr, den maritimen Grenztruppen zugeordnet zu werden, überlagert den Wunsch nach der Weite des Meeres (vgl.: DJZ: 21). Trotz oder gerade ob dieser Ablehnung zieht es den Protagonisten vor seiner Einberufung zum Militär zu den Dampferanlegestellen der Elbe: Einige der Elbdampfer waren noch echte Seitenrad-Oldtimer aus dem neunzehnten Jahrhundert, und man mußte sich nur in das feine rhythmische Stampfen versenken und die Kästen mit den hölzernen Schaufelrädern, um die das Wasser schäumte, beim An- und Ablegen nur lange genug betrachten, dann konnte der Strom sich hinterrücks unmerklich zum Mississippi weiten. Dann stand man mit einem Bein plötzlich in einer anderen Welt, an den Ufern Louisianas. Und erstaunlich auch, wie ein bloßer Name – die stillen Dampfer von der Eleganz großer Schwäne gehörten alle zur Weißen Flotte – immer noch einen Rest von Verheißung enthielt. (DJZ: 22; Hervorheb. i. Orig.)
Er imaginiert Dresden als Amerika. Der Verbindung von Elbe und Mississippi sowie Louisiana und Sachsen dient dem Entwurf einer ‚anderen Welt‘, in welcher der Protagonist sich gerne aufhalten würde. Der Elbdampfer mit seinem an die Mississippi-Dampfer erinnerndem Seitenrad bietet als Schiff den Ausgangspunkt einer Beschreibung, die – zumindest in der Imagination − als Grenzüberschrei-
Grünbein: Die Bars von Atlantis, S. 33. Vgl.: Grünbein: „Unfreiheit. Eine Rede“, S. 158.
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tung erfahren wird. Die Vereinigten Staaten von Amerika fungieren hierbei ähnlich wie in den Indianer-Episoden¹⁹² als Negativfolie zur DDR. Dass die Regionen der USA stellvertretend für einen globalisiert-kosmopolitischen Zugriff auf die Welt stehen, wird an der Weißen Flotte deutlich. Dies ist die Bezeichnung für die Dresdner Dampfschifffahrtsgesellschaft. Die Verheißung, die dieser Name enthalten soll, bleibt wiederum als Leerstelle offen und ist verschieden zu füllen.¹⁹³ Der eingebürgerte Begriff Weiße Flotte verweist im DDR-Kontext auf die Zeit vor der DDR zurück, denn die offizielle Bezeichnung war seit 1967 VEB Fahrgastschiffahrt Dresden. Die Weiße Flotte Dresdens spielt überdies auf eine andere Flotte gleichen Namens an und bindet diese in einen globalen Kontext ein. So ist dies ein Hinweis auf die US-amerikanische Great White Fleet; eine Gruppe von USNavy-Schiffen, die auf Befehl Theodore Roosevelts zwischen 1907 und 1909 die Erde umrundeten.¹⁹⁴ Der implizite Verweis auf diese Flotte stellt gleichsam die Imaginationen von Louisiana in einen breiteren – einen globalen − Kontext. Der dritte Kontext hängt mit der Photographie Traditionsschiff Typ Frieden (Abb. 2) zusammen, die unter dieser Passage abgebildet ist. Da diesem Photo im Text kein Paratext zugeordnet ist, bleibt die Recherche, um die Bedeutung der Photographie zu füllen, in Zeiten der Digitalisierung den Lesenden überlassen. Das Photo zeigt keinen der Elbdampfer, sondern vielmehr ein Frachtschiff. Dieses diente dem internationalen Handel und trug ursprünglich den Namen Dresden. ¹⁹⁵ Damit fungiert es ebenfalls als Verweis auf eine Welt jenseits der DDR, indem Dresden – verkörpert im gleichnamigen Schiff − die Meere und Häfen erkundet, in denen der junge Protagonist sich wünscht, „Entdecker“ (DJZ: 55) zu sein. Die Schiffe und die Flüsse verweisen – ganz im Unterschied zu den Fischen − auf die Welt, die sich abseits der Grenzen der DDR befindet: [Die Elbe; M.K.] kommt aus dem böhmischen Riesengebirge […] und sie mündet hinter Hamburg in die Nordsee – ein Meer, das wir so schnell nicht sehen würden, denn es lag fern
Vgl. das Kapitel Von Löffeln und Akademien – Bezüge zu Franz Kafka. An dieser Stelle ist der Bezug nicht ganz deutlich. Der Text lässt offen, ob der bloße Name Louisiana oder die Weiße Flotte ist. Aufgrund des syntaktischen Einschubes durch die Halbgeviertstriche ist davon auszugehen, dass sich auf die Weiße Flotte bezogen wird. Vgl.: Albertson, Mark: They’ll have to follow you! The Triumph of the Great White Fleet, Mustang: Tate Publishing & Enterprises 2007, S. 13 f. Das Schiff kann im Schiff- und Schiffsbaumuseum Rostock besichtigt werden. Auf der Homepage des Museums ist die Dresden prominent abgebildet und trägt (wieder) ihren ursprünglichen Namen, vgl.: IGA Rostock: „Schiff- und Schiffsbaumuseum Rostock“, URL: https:// schifffahrtsmuseum-rostock.de/ (letzter Zugriff am 8. Februar 2021).
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Abb. 2: Traditionsschiff Typ Frieden im Westen. Nicht gerade hinter den sieben Hügeln wie im Märchen, aber doch durch eine Grenze von uns getrennt, eine Staatsgrenze, wie ich bald hörte. (DJZ: 33)
Die Elbe zeigt schon das dem Fluss folgende Meer mit der (westlichen) Hafenstadt Hamburg an, wobei der Protagonist – wie der Erzähler zu berichten weiß − jenem Fluss nachspüren will: Da begann ich zu träumen: Ich stellte mir den Alltag der Binnenschiffer vor in all seiner Herrlichkeit, ein Zigeunerleben (was wußte ich damals von dem vergifteten Wort, ich hatte es oft gehört und nichts von den Stämmen der Sinti und Roma), versuchte die Zeichen an Bord zu deuten, den festlandsfernen Tagesablauf, Hemden auf einer Leine, eine frisch gestrichene Werkbank, den Pudel, der auf einen Container geklettert war und von dort aus wie irre zu uns herüberkläffte. Was hätte ich darum gegeben, bei ihnen zu sein. Auf ein vorüberfahrendes Schiff aufzuspringen, einfach so, ohne Vorwarnung, unter den Augen der fassungslosen Eltern, war eine fixe Idee, die mir lange im Kopf spukte. (DJZ: 34)
Die implizite Anerkennung der Staatsgrenze führt dazu, dass der Protagonist sich nur noch ein Leben als Binnenschiffer vorstellen kann, das dem Entwurf des Kosmopolitismus am nächsten kommt. Erneut schaltet sich der Erzähler aus seiner Gegenwart ein, um den Begriff Zigeunerleben zu problematisieren und in einen politisch korrekten Kontext zu stellen. Das Stereotyp der nomadischen Sinti und Roma wird zum Vorbild, gar zum Vorläufer eines imaginierten Kosmopoli-
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tismus. Das Wort wird als vergiftet bezeichnet, allerdings nicht die zugehörige Bedeutung hinterfragt, was auf eine fortwirkend affirmative Bezugnahme des Konzeptes schließen lässt. Das Drängen des Protagonisten zum Kosmopolitismus ist von der nachträglichen Projektion des Erzählers durchsetzt. In der erinnerten Kindheit sollen die Beschränkungen der DDR durchbrochen werden.¹⁹⁶ Die Schiffsreisen beginnen auf der Elbe, jenem Ort, der dem Protagonisten ein neues Bewusstsein gibt: An dieser Flußlandschaft erwachte das Bewußtsein für Raum. Und wie begrenzt er auch war, wie unüberwindlich für viele Jahre, er lieferte doch eine erste Vorstellung von der Unermeßlichkeit selbst. Und sei es nur darum, weil jeder Fluß, welchen Umweg er auch nahm, ins Meer mündete und schon von weitem diesen Zug ins Offene verriet. Kindheit, das Schlummerstadium, mnemotechnische Rüstzeit … Was immer sichtbar war innerhalb dieses ersten Horizonts, trage ich seither mit mir herum. (DJZ: 55)
Der Erzähler versammelt noch einmal zentrale Aspekte: Da die Flüsse im Meer münden ist ihnen ein Zug ins Offene inhärent. Die Wahrnehmung des Raumes betrifft das Subjekt, das ihn erfährt, und ist stets die Perspektive des schreibenden Ichs, das die kindlichen Erfahrungen präformiert. Das Erwachen benennt den ersten Schritt eines längeren Prozesses. Da die Jahre vorübergehen, ist diesem Prozess das Ende der DDR schon eingeschrieben. Dass die Kindheit sich offensichtlich im Spannungsfeld von Schlummerstadium und mnemotechnischer Rüstzeit befindet, deutet die Brüchigkeit der Erinnerungen an: Denn entweder werden diese durch die Unbedarftheit des Schlafes nicht aufgenommen oder befinden sich in der Vorbereitung, um schließlich − aus Perspektive des Erzählenden − zur Erinnerung fähig zu sein. Die Schifffahrt bekommt im Kontext DDR eine zweite Bedeutung. Neben den eigenen Freiheitsphantasien fungieren Schiffe als Stabilisatoren der Ideologie der DDR: „In den Bilanzen spielte der Schiffsbau eine entsprechend große Rolle; er half, den Schein eines weltoffenen Landes zu wahren.“ (DJZ: 20) Die Notwendigkeit dieses Scheins hängt in der Einschätzung der Erzählinstanz mit einer neurotischen Struktur zusammen: „Daß dieses kleine, rundum verschlossene, neurotische Land eine eigene Hochseeflotte unterhielt, gehört zu den vielen Unbegreiflichkeiten jener Jahre.“ (DJZ: 19) Der ideologische Schein, der durch die Schiffe bewahrt wird, soll kompensieren, dass die Menschen eingeschlossen sind, wie es die Fisch-Metaphorik als Darstellung gewährleistet. Die Präsentation des Erzählers ist allerdings grundlegend von einem Paradox geprägt: Die Fische, die sich als Lebewesen nicht an staatliche Grenzen halten,
Vgl.: Simonis: „Essayistisches Schreiben“, S. 53.
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werden als gefangen und eingeschlossen imaginiert, während die unbelebten Schiffe − in ihrer Funktion abhängig von Menschen − die Überwindung von Grenzen implizieren. Während letztere im literarischen Diskurs oftmals für die Darstellung von Entdeckung und Grenzübertritt bemüht werden, kann dies für erstere nicht gelten. In seinem Vertauschen von Belebtem und Unbelebtem deutet der Erzähler eine Brüchigkeit der Metaphorik an, der sein eigener rekonstruktiver Identifizierungsprozess unterliegt: Der Erzähler identifiziert sich aufgrund seiner historischen Erfahrung des Einschlusses in der DDR als kosmopolitisch. Gleichzeitig präformiert der kindliche Zug ins Offene das kosmopolitische Leben nach 1989. All dies wird in der Perspektive des Erzählers (aus einer Gegenwart nach 1989) geschildert, ‚authentische‘ Dokumente der Kindheit fehlen. Die Erinnerungen sind der Fragmentarität des Schreibens unterworfen. Dies führt zur Verbindung zwischen Schiff und Schrift. In Die Bars von Atlantis schreibt Grünbein: Eines der ältesten Gleichnisse für die Dichtung ist das von der Schiffahrt. Wir kennen das Schiff als Modell für die menschliche Seele einerseits, den Staat andererseits als philosophischen Gemeinplatz; es waren aber die Dichter, die, der dynamischen Qualitäten dieser Fahrzeug-Metapher eingedenk, dem Bild erst ein Maximum an Dramatik abgewannen.¹⁹⁷
Grünbeins metaphorische Beziehung zwischen Dichtung und Schifffahrt bietet einen Interpretationsansatz für die Passagen der Jahre im Zoo. Das Streben, (mit dem Schiff) die DDR zu verlassen, wird zur poetologischen Selbstbestimmung, denn das Schreiben bringt diese Metaphorik hervor. Der Erzähler setzt sich im Akt des Schreibens in Beziehung zur DDR und seinem früheren Ich. Das Schreiben darüber, die DDR zu verlassen, eröffnet einen imaginären Raum, in dem das Subjekt, das die DDR aufgrund ihres Unterganges (vgl.: DJZ: 29) verlassen hat, einen damaligen Wunsch reflektiert.¹⁹⁸ Das Ideal eines nomadischen Lebens der Schifffahrer ist als eine vorweggenommene Imagination des Lebens als kosmopolitischer Schriftsteller in nuce eine Projektion des Erzählers auf den Protagonisten. Die erinnernden Prozesse der Identifizierung führen zu einem ostdeutschen und kosmopolitischen Selbstbild. Diese beiden Aspekte treten notwendig miteinander verschränkt auf und bringen sich gegenseitig hervor. Nur in Grünbeins essayistischem Modus ist eine solche Figuration zu erzeugen. Der Akt rekonstruktiver Erinnerung ist in seiner Nachträglichkeit stets brüchig und fragmentarisch. Die Erzählinstanz verhindert durch die narrative Konstruktion einen Blick aufs Ganze und präpariert das behandelte Thema als eine
Grünbein: Die Bars von Atlantis, S. 13. Das Sprechen über das untergegangene Land ist selbst von einer maritimen Metaphorik geprägt, vgl. Ouvertüre: Turmbau zu Dresden.
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Auseinandersetzung des eigenen Selbst mit dem vergangenen Bild von sich. In der historischen Distanz zwischen den beiden Ichs ist der Hinweis auf die Zäsur von 1989 zu finden. Der Erzähler, der sich oftmals im Hintergrund hält, zeigt sich vor allem, um das nach 1989 in den Text einzutragen. Grünbein greift auf die Traditionen essayistischer Schreibweisen zurück, die sich vor allem darin zeigen, dass der Erzähler wiederholt versucht, seinen Gegenstand (sich selbst) aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick zu nehmen, ohne einen Anspruch auf eine ganzheitliche Darstellung zu haben.
3 Zwischen Moderne und X – Intertextualitäten in Grünbeins Selbstbeschreibungen Grünbeins Gesamtwerk ist zutiefst intertextuell geprägt. Die Bände Antike Dispositionen und Nach den Satiren führen schon im Titel die Epoche bzw. die Gattung, aus denen sich ein Großteil der intertextuellen Verweise speist. Das Langgedicht Vom Schnee stellt die Person René Descartes sowie dessen Werk in den Mittelpunkt. Nicht nur in diesen Beispielen hat Grünbein intertextuelle Referenzen zum Ausgangspunkt seines Schreibens gemacht. In seinem Essay Zwischen Antike und X legt Grünbein dar, welche Bedeutung die Antike für ihn sowie sein Schreiben hat und welche Zuneigung er zu dieser Epoche verspürt.¹⁹⁹ Einen ähnlichen Text, der die Moderne als Ganzes in den Blick nimmt, sucht man in Grünbeins Œuvre derzeit vergebens. Und doch ist die literarische, allzumal die klassische Moderne eine Epoche, die auf Grünbein einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausübt, wie man an zahlreichen Essays ablesen kann. Gleichwohl schreibt Grünbein – ganz gleich auf welchen Zeitraum er sich bezieht − stets in einem Modus des (intendierten) intertextuellen Bezuges. Wie er selbst bemerkt hat, bereichert die Intertextualität in seinem Œuvre – gerade in seinen essayistischen Versuchen − das eigene Denken: „Ich gehe nicht los und suche mir ein Thema. Diese Sache ist schwer zu beschreiben: […] Es gibt einige Grundmotive, um die es immer wieder kreist, und im Essay gibt es eine Lust, anders zu kombinieren, auch mit Material anders umzugehen. Deshalb liegt es nahe, Referenten einzuladen.“²⁰⁰ Für Grünbein ist die intertextuelle Vernetzung nicht nur zentrales Merkmal seines Schreibens, sondern die Bedingung der Möglichkeit zu schreiben.
Vgl.: Grünbein, Durs: „Zwischen Antike und X“, in: Ders.: Antike Dispositionen. Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 393 – 398. Kasper/Dittberner/Grünbein: „Ein Nachtrag. Durs Grünbein im Gespräch“, S. 143.
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Dabei bezieht er sich nicht nur auf die literarischen Texte, sondern nimmt ebenso deren Autoren zum Vorbild. Im folgenden Kapitel stehen die Verbindungen zwischen dem Erinnerungsbuch Die Jahre im Zoo und der Literatur der klassische Moderne im Mittelpunkt. Gerade mit Blick auf das Gesamtwerk könnten in diesem Kontext einige Autoren und deren Texte (z. B.: T.S. Eliot, Gottfried Benn, Ezra Pound) diskutiert werden. Da der Fokus aber auf den Jahren im Zoo liegt, wird vor allem der intertextuelle Bezug zu Walter Benjamins Berliner Kindheit um 1900 sowie zu Franz Kafka erläutert. Zunächst wende ich mich dem Verhältnis zur Berliner Kindheit, ehe ich die Beziehungen zu Kafkas Person und Werk (v. a. Ein Bericht für eine Akademie) erörtere. Während Grünbein vornehmlich Benjamins literarischen Text in seinen eigenen einwebt, wählt er bei Kafka einen anderen Weg: Werk und Autor werden zu Anknüpfungspunkten. Im Mittelpunkt steht der Komplex einer verdrängten Moderne, die sich anhand Kafkas Besuch in Hellerau sowie dem Verhältnis von Kafka und Paul Adler zeigen lässt, ehe ich im Rückgriff auf Grünbeins Rede Ein kurzer Bericht an eine Akademie die Intertextualität zu Kafkas Bericht für eine Akademie untersuche. Grünbein entwickelt, wie er in Der cartesische Taucher formuliert, einen sehr breiten Begriff der Moderne: Moderne ist nach meiner Auffassung, ein Phänomen des Ungleichzeitigen, ein Kreuzungspunkt vieler unzusammenhängender Progressionen zu verschiedenen Zeiten, von Entwicklungssprüngen, die nichts miteinander gemein haben als den einen Effekt, über ihren Anlaß hinauszuschießen in eine überzeitliche Sphäre.²⁰¹
Grünbeins Beschreibung charakterisiert verschiedene literarische Texte und außerliterarische Phänomene. Nichtsdestotrotz ist es angesichts der Jahre im Zoo sinnvoll, den Fokus auf die Literatur der klassischen Moderne zu richten. Dies hängt mit dem zeitlichen Panorama zusammen, das der Text entfaltet und das sich von der Gründung Helleraus bis in die Gegenwart des Erzählers zieht. Mit der Gründungsphase der Künstlerkolonie wird auf einen Zeitraum Bezug genommen, der sich mit der klassischen Moderne überschneidet.²⁰² Die Forschung hat mit Blick auf weitere Texte Grünbeins diese intertextuellen Referenzen registriert und mit der Problematisierung von Identität sowie der Stabilität des schreibenden Ichs verknüpft. So spricht Fabian Lampart davon, dass die „verlängernde Transformation der Moderne weit über formale Adaptionen bis zu Fragen seines [Grünbeins;
Grünbein: Der cartesische Taucher, S. 11. Die Künstlerkolonie kann auch selbst als Teil einer Kultur der (klassischen) Moderne beschrieben werden.
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M.K.] ästhetischen Selbstverständnisses“²⁰³ reicht. Diese Praxis diene dazu, die „eigene Position als problematisch-plurales Ich zu stabilisieren.“²⁰⁴ Pabst charakterisiert Grünbeins Bezug auf die literarische Moderne vor allem als eine Bezugnahme auf die Krise der Literatur: Indem er diese Krise als konstitutives Phänomen der literarischen Moderne begreift, ist es ihm möglich, gleichermaßen kritisch und affirmativ an sie anzuschließen; affirmativ, insofern seine Gedichte an der Krise moderner Literatur weiterschreiben, kritisch, insofern sie eben nur im Sinne eines Krisenbefundes anzuschließen vermögen.²⁰⁵
Während in Grünbeins Lyrik sich das Krisengefühl vornehmlich formal ausdrückt, muss für Die Jahre im Zoo konstatiert werden, dass das Gefühl über Fragen der reinen Ästhetik hinausreicht. Es ist das Gefühl einer historisch-empirischen Krise der Moderne, das Grünbeins intertextuelle Bezugnahme verstehbar macht. Es wird besonders veranschaulicht in der Beschreibung von Kafkas Hellerau-Besuch und zeigt sich in der Erfahrung des anderen historischen Krisen- und Umbruchsmoments: 1989/1990. Grünbeins Reflexionen angesichts seines Kurzen Berichts an eine Akademie verdeutlichen dies umso mehr. Hinrich Ahrend hat in diesem Kontext die Verbindung von Moderne und Postmoderne bei Grünbein beschrieben: Die in ihm [Grünbein; M.K.] angelegte (modernistische) Tendenz zur Selbstmarginalisierung reichert sich um postmoderne Elemente an und radikalisiert sich zu einem Kurs der […] Selbstverflüchtigung […]. Er will vollkommen vergessen, wer er war und wo er herkam, seine Vergangenheit tilgen, sich am antrainierten ‚Identitätszwang‘ (Adorno) reinigen […].²⁰⁶
Dieser Deutung Ahrends ist nur teilweise zuzustimmen, denn es finden sich in großen Teilen der Literatur der Moderne Tendenzen einer Selbstverflüchtigung, insbesondere für Grünbein ist die Beschreibung, er wolle seine Vergangenheit tilgen, unzutreffend. In der Tat verbindet sich sein Bezug auf die Moderne mit den Erfahrungen seiner Gegenwart (ob der Terminus Postmoderne hilfreich ist, sei dahingestellt). Allerdings zeigt Grünbein die Befreiung vom Identitätszwang durch einen Bezug auf die eigene Vergangenheit, wie es Die Jahre im Zoo als autobiographisches Erinnerungsbuch regelrecht durchexerziert. Der intertextuelle Bezug eröffnet einen Raum, der die eigenen Selbstbilder in Abgleich mit anderen Selbstentwürfen aushandelt:
Lampart: „Tropismen an den Rändern“, S. 137 f. Lampart: „Tropismen an den Rändern“, S. 138. Pabst: Post-Ost-Moderne, S. 360 f. Ahrend: „Der junge Grünbein und die DDR“, S. 420 f. (Hervorheb. i. Orig.).
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Freiheit ist immer nur denkbar als Resultat einer Bewegung von Ich zu Du. Ihr physischer Aspekt ist der Abstand zweier Körper, die den Standort des jeweils anderen respektieren. Ihr metaphysischer dagegen liegt in der Annäherung zweier Psychen, für die der Raum zwischen beiden zum Schwingungsfeld wird – die gemeinsame Mitte. […] Nirgendwo zeigt sich der Zwischenraum, der Ort, an dem die Identitäten im Zwiegespräch zirkulieren, so klar wie im Zitat.²⁰⁷
Grünbein beschreibt einen Ort, der es möglich macht, Entwürfe des Selbst in Bewegung zu bringen. Was er ‚Identität‘ nennt, ist durch die Bewegung der Intertextualität keine feste Entität mehr, sondern lässt vielmehr den Raum für Prozesse der Identifizierung. Seine Faszination für den europäischen Modernismus, den Grünbein mit seinen Zeitgenossen teilt,²⁰⁸ führt gleichzeitig zu einer Kritik der Moderne. Pabst hält in Rekurs auf das Werk des späten Heiner Müller fest, dass Grünbeins Geschichtspessimismus sich aus einer Konzeption von Geschichte speist, die Müller nur noch als „die Abfolge von Katastrophen […], deren Telos bestenfalls in der einen finalen Katastrophe bestünde“²⁰⁹, versteht. Dies ist bereits ein Bezug auf Walter Benjamin, wie dieser es in Über den Begriff der Geschichte ausarbeitet. Während dieser Aspekt gerade im Hinblick auf die Akademie-Texte von Kafka und Grünbein noch einmal Thema sein wird, steht nun der Bezug auf Benjamins Berliner Kindheit im Mittelpunkt.
3.1 Dresdner Kindheit um 1970 – Grünbein und die Berliner Kindheit um 1900 Walter Benjamin hat im Werk Grünbeins immer wieder eine Schlüsselrolle und er greift auch wiederholt namentlich oder indirekt auf den Philosophen zurück.²¹⁰ Dieses Faktum haben verschiedene Beiträge bereits festgestellt und beispielsweise Andrew Webber gelangt sogar zu der Einschätzung, dass Grünbeins Œuvre
Grünbein, Durs: „Z wie Zitat“, in: Ders.: Antike Dispositionen. Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 61– 64, hier S. 64. Vgl.: Young, Christopher: „Durs Grünbein and the Wende“, in: Ders. / Eskin, Michael / Leeder, Karen J. (Hrsg.): Durs Grünbein. A Companion, Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 1– 22, hier S. 2. Pabst: Post-Ost-Moderne, S. 321. Vgl. hierzu etwa: Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 19; Grünbein, Durs: „Das Punktum des Gedichts“, in: Ders.: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 90 – 97, hier S. 91 f.; Grünbein, Durs: „Mein babylonisches Hirn“, in: Ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989−1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 18 – 33, hier S. 21.
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von Benjamin völlig durchdrungen sei.²¹¹ Während die Forschung fortwährend über eine Anwendung der Überlegungen Benjamins in Grünbeins Texten spekuliert, sollen diese Überlegungen um einen Aspekt erweitert werden. Obwohl Benjamins Name in Grünbeins Erinnerungsbuch Die Jahre im Zoo kein einziges Mal genannt wird (wie auch viele der weiteren intertextuellen Verweise), sind doch die intertextuellen Vernetzungen zu Benjamins Berliner Kindheit ²¹² sowie zu seinen erinnerungstheoretischen Überlegungen präsent. Annette Simonis hat in ihrem Beitrag daraufhin gewiesen, dass Grünbein in den Jahren im Zoo zwei Klassiker des essayistischen Schreibens in seinen Text integriert: Roland Barthes und Walter Benjamin mit dessen Erinnerungsbuch Berliner Kindheit. ²¹³ Während der Erstgenannte im folgenden Kapitel vor allem in Bezug auf die Photographie mit seinem Text Die helle Kammer (wie auch Benjamins Überlegungen zur Photographie) Thema wird, steht hier der Bezug zu Benjamin im Mittelpunkt; vier Aspekte werden aufgearbeitet: die Frage der Konzipierung von Erinnerungen an die Kindheit, die (Un‐)möglichkeit autobiographischer Schreibweisen, die Beziehung zwischen den beschriebenen Orten Hellerau/Dresden und Berlin sowie zuletzt der offensichtliche Bezug zwischen Benjamins Stück Schmetterlingsjagd und Grünbeins Kapitel Im Garten der Gartenstadt. All diese Aspekte hängen aufs engste mit der Frage von ostdeutschen Selbstbildern und Identifizierung nach 1989 zusammen, wenn die Beziehung von kindlichem Protagonisten und erinnernder Erzählinstanz in Rekurs auf Benjamins Konzepte ausgelotet wird.
Dauernder Abschied – Keine Rückkehr zur Kindheit Der sogenannten Fassung letzter Hand zufolge, die auf dem von Giorgio Agamben 1981 in der Pariser Nationalbibliothek gefundenen Pariser Typoskript beruht, hat Benjamin seinen Kindheitsbetrachtungen ein Vorwort vorangestellt. Während der Großteil der weiteren Texte, trotz der Verwendung des Präteritums, aus der Perspektive des Kindes berichten, wird im Vorwort eine Fokalisierung der Gegenwart Vgl.: Webber, Andrew: „Wunderblock. Durs Grünbein and the Urban Arts of Memory“, in: Young, Christopher / Eskin, Michael / Leeder, Karen J. (Hrsg.): Durs Grünbein. A Companion, Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 145 – 162, hier S. 146. Zu einer kleinen terminologischen Unterscheidung: Mit Berliner Kindheit bezeichne ich das gesamte Textkonvolut, das Benjamin in diesem Kontext geschrieben hat. Falls nicht explizit durch die Nennung der verschiedenen Typoskripte, Exemplare und zusammengestellten Fassungen bezeichnet, beziehe ich mich auf die Gesammelten Schriften und halte mich an den dort markierten Unterschied: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert ist die Fassung der Gesammelten Schriften Band IV, während Berliner Kindheit um neunzehnhundert auf die Fassung der Gesammelten Schriften Band VII rekurriert. Simonis: „Essayistisches Schreiben“, S. 52.
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des Schreibenden eingenommen und eine Begründung für den vorliegenden Text gegeben: Im Jahr 1932, als ich im Ausland war, begann mir klar zu werden, daß ich in Bälde einen längeren, vielleicht einen dauernden Abschied von der Stadt, in der ich geboren bin, würde nehmen müssen. Ich hatte das Verfahren der Impfung mehrmals in meinem inneren Leben als heilsam erfahren; ich hielt mich auch in dieser Lage daran und rief die Bilder, die im Exil das Heimweh am stärksten zu wecken pflegen – die der Kindheit − mit Absicht hervor.²¹⁴
Benjamin kontextualisiert sein Schreiben mit der Erfahrung des kommenden Exils. Das Jahr 1932 markiert den Beginn seiner Schreibarbeit an den Konvoluten der Berliner Kindheit. Das Pariser Typoskript, dem das Zitat entnommen ist, fertigte Benjamin 1938 – als das Exil längst Realität geworden war − an.²¹⁵ Der dauernde Abschied, von dem der Erzähler²¹⁶ zu berichten weiß, lässt das infolge der Bedrohung durch den Nationalsozialismus wahrscheinlich werdende Exil anklingen und durchbricht damit auch die Ebenen des Schreibprozesses, wenn sich der Erzähler des 1938 entstandenen Textteils in sein Ich von 1932 zurückversetzt. Benjamin begründet sein Erinnerungsbuch damit, dass ihm die Möglichkeit genommen wird, sich an die Orte seiner Kindheit zu begeben und dementsprechend die Möglichkeit nicht mehr existiert, dort die Erfahrungen einer mémoire involontaire zu erleben. Vielmehr ist er gezwungen, das Verfahren der Impfung zu vollziehen und die Erinnerungen in geringer Dosierung mit Absicht hervorzurufen. Die Kindheit wird nicht nur zu einer verlorenen Zeit, sondern durch die Unzugänglichkeit zu einem verlorenen Ort. Peter Szondi hat in seinem Aufsatz Städtebilder diese Verbindung von Ort und Zeit prägnant analysiert: Wer die eigene Stadt schildert, reise in die Vergangenheit statt in die Ferne. […] Die Berliner Kindheit um Neunzehnhundert zieht aus der These von der Verwandtschaft solcher Bücher mit Memoiren schon im Titel die Konsequenz. Zugleich zeigt sie, daß auch die Reise ins Vergangene eine Reise ins Ferne ist. Es gibt keine Schilderung ohne Distanz, es sei denn die
Benjamin: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, B-GS VII, S. 385. Aufgrund der schwierigen Überlieferungsgeschichte der Berliner Kindheit kann die Niederschrift des Vorwortes nicht gesichert datiert werden. Die Herausgebenden des Bandes zur Berliner Kindheit der Kritischen Gesamtausgabe gehen aufgrund von Benjamins Korrespondenz allerdings davon aus, dass das Vorwort wohl zwischen 1937 und 1938 − also im Umfeld der Entstehungszeit des Pariser Typoskriptes − geschrieben wurde, vgl.: Benjamin, Walter: Berliner Chronik / Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Bd. 2: Kommentar, in: Ders.: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 11.2, hrsg. von Burkhardt Lindner / Nadine Werner, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 45. Ich werde im Folgenden wie bereits bei Wolfs Stadt der Engel und Grünbeins Die Jahre im Zoo zur Ausdifferenzierung der Zeitebenen die Unterscheidung in Erzählinstanz/Erzähler sowie Protagonist/Kind einführen. Dies hängt − wie gleichsam bei Wolf und Grünbein − mit dem Problem des autobiographischen Schreibens zusammen (vgl. das nachfolgende Unterkapitel)
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Reportage. Dieser Niederung entreißt das Bild der eigenen Stadt der schmerzvolle Abstand des Erwachsenen von der Stätte seiner Kindheit. Daß die Stadt noch da ist, aber unwiederbringlich dahin: diese Paradoxie verschärft nicht nur den Schmerz, sondern auch den Blick. […] Benjamins Berlinbuch zeugt von der konstitutiven Rolle der Distanz.²¹⁷
Der Unterschied zum vielfach als Vorbild bezeichneten Marcel Proust liegt damit – nicht nur − in der Extension des literarischen Textes, der bei Benjamin zu einer bruchstückhaften Verdichtung der Erinnerungen führt,²¹⁸ sondern in der methodischen Herangehensweise. Die Erinnerung ist nicht nur das, was unverfügbar ist und sich unwillkürlich in Form der mémoire involontaire Bahnen bricht, sondern auch der willentliche Akt, der in der mémoire volontaire einen Zugang zur mémoire involontaire ermöglicht. Jedoch ist die Ausrichtung bei Benjamin eine andere als etwa bei Proust. Ziel ist nicht die Versenkung in die Vergangenheit um ihrer selbst willen, sondern diese − ganz wie es Benjamins Theorie der Erinnerung und der Geschichte insinuiert − für Gegenwart und Zukunft fruchtbar zu machen: Proust horcht auf den Nachklang der Vergangenheit, Benjamin auf den Vorklang einer Zukunft, die seitdem selbst zu Vergangenheit geworden ist. Anders als Proust will sich Benjamin nicht von der Zeitlichkeit befreien, er will die Dinge nicht in ihrem ahistorischen Wesen schauen, sondern er strebt nach historischer Erfahrung und Erkenntnis, wird aber in der Vergangenheit zurückgewiesen, in eine Vergangenheit indessen, die nicht abgeschlossen, sondern offen ist und Zukunft verheißt. Benjamins Zeitform ist nicht das Perfekt, sondern das Futurum der Vergangenheit in seiner ganzen Paradoxie: Zukunft und doch Vergangenheit zu sein.²¹⁹
Szondis Beschreibung von Benjamins Erinnerungsprojekt deckt sich mit dem (Szondi noch unbekannten) Vorwort des Pariser Typoskriptes: „Dagegen sind die Bilder meiner Großstadtkindheit vielleicht befähigt, in ihrem Innern spätere geschichtliche Erfahrung zu präformieren.“²²⁰ Das Sprechen im Futur II, das dem Text untergelegt ist (bei Szondi die Paradoxie),²²¹ kann auf das erinnernde Subjekt und auf das erinnerte Subjekt bezogen werden: Beide werden geworden sein.
Szondi, Peter: „Benjamins Städtebilder“, in: Ders.: Schriften. Bd. II. Essays: Satz und Gegensatz, Lektüren und Lektionen, Celan-Studien. Anhang: Frühe Aufsätze, hrsg. von Jean Bollack, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, S. 295 – 309, hier S. 296. Vgl.: Werner: Archäologie des Erinnerns, S. 14. Szondi, Peter: „Hoffnung im Vergangenen. Über Walter Benjamin“, in: Ders.: Schriften. Bd. II. Essays: Satz und Gegensatz, Lektüren und Lektionen, Celan-Studien. Anhang: Frühe Aufsätze, hrsg. von Jean Bollack, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, S. 278 – 294, hier S. 285 f. Benjamin: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, B-GS VII, S. 385. Für den Hinweis auf die Zeitstruktur der Berliner Kindheit danke ich meiner Betreuerin Inka Mülder-Bach.
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Damit spielt aber ebenso das Präsens – die Gegenwart des erinnernden Subjektes − eine eminent wichtige Rolle. Die Berliner Chronik (deren Niederschrift sich mit den ersten Arbeiten an der Berliner Kindheit überschneidet)²²² enthält noch deutlich stärkere erinnerungstheoretische Reflexionen, deren Geltungsbereich für die Berliner Kindheit Relevanz haben. Dort charakterisiert Benjamin das Verhältnis seines eigenen Textes zu Proust: Was Proust so spielerisch begann, ist ein atemraubender Ernst geworden. Wer einmal den Fächer der Erinnerung aufzuklappen begonnen hat, der findet immer neue Glieder, neue Stäbe, kein Bild genügt ihm, denn er hat erkannt: es ließe sich entfalten, in den Falten erst sitzt das Eigentliche: jenes Bild, jener Geschmack, jenes Tasten um dessentwillen wir dies alles aufgespalten, entfaltet haben; und nun geht die Erinnerung vom Kleinen ins Kleinste, vom Kleinsten ins Winzigste und immer gewaltiger wird, was ihr in diesen Mikrokosmen entgegentritt. So das tödliche Spiel, mit dem Proust sich einließ, und bei dem er Nachfolger schwerlich mehr finden wird als er Kameraden brauchte.²²³
Benjamins eigenes Schreiben grenzt sich in der Gestalt ab, dass sich allein in die Falten des Fächers vertieft und das dort Gefundene hervorgezogen und verdichtet wird. Er beschreibt also nicht das Auffächern, sondern vielmehr ziehen Benjamins Prosastücke die Erinnerungen zusammen und verbinden damit das „Prinzip des alinearen und achronologischen mit der Form des Denkbildes.“²²⁴ Nadine Werner charakterisiert aufgrund dieses Schreibens Benjamins Praxis als „archäologisches Erinnern“²²⁵, das seinen Stichwortgeber weniger in Proust als in Sigmund Freud findet. Ähnliches konstatiert Detlev Schöttker, der in der „Analogie zwischen dem bewußten Erinnern und der Archäologie“²²⁶ einen Freud’schen Impetus in Benjamins Texten beobachtet. Burkhardt Lindner liest die Berliner Kindheit angesichts der Distanz zwischen erinnerndem Erzähler und erinnertem Kind ebenfalls mit einer Freud’schen Perspektive: Es geht also nicht länger um die Wiedergewinnung des ursprünglich Erlebten, sondern um den nie zuvor gehabten Blick auf das Kind. Das entspricht der Freudschen Beobachtung von der Nachträglichkeit der Kindheitserinnerung. Es geht um die genuine memoriale Erzeugung von ›Selbsterblickungen‹, die es vordem im Erleben nie gegeben hat. Dieses ›Selbst‹ ist nicht
Vgl.: Benjamin: Berliner Chronik / Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Bd. 2: Kommentar, S. 11 f. Benjamin: „Berliner Chronik“, B-GS VI, S. 467 f. Werner: Archäologie des Erinnerns, S. 159. Werner: Archäologie des Erinnerns, S. 61. Schöttker, Detlev: Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 227.
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der metaphysische Wesenskern des Ich, die Seele, sondern stellt sich dar als ein Ensemble sehr verschiedener Selbsterblickungen: Stück für Stück.²²⁷
Mit dem Aspekt von Freuds Nachträglichkeit wird der Konstrukt-Charakter der Erinnerungen deutlich: Diese sind weder faktisch vorhanden noch stellen sie eine vergangene Realität dar, sondern bilden sich in einem Prozess der erinnernden Konstruktivität, wie es Lindner in Rekurs auf den reflexiven Charakter des Erinnerns festhält: Im Deutschen ist Erinnern ein selbstreflexives Verb: ich erinnere mich. Die Berliner Kindheit bricht diese zirkuläre Figur auf. Das Ich, das sich erinnert, nimmt das Ich, das in Erinnerung tritt, nicht in Regie. Das erinnerte Ich bleibt, so nahe es erscheint, dem Sich-Erinnernden ein fernes Kind.²²⁸
Dabei wird durch diesen Akt eine Distanz zwischen erinnerndem und erinnertem Ich eingeführt, die durch das Vorwort der Berliner Kindheit die Position des Subjektes hervorkehrt, das sich erinnert.²²⁹ Lindner macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass das Ich sich in den Prosastücken immer in dem Verhältnis von erinnerndem und erinnertem Ich aufspannt.²³⁰ In dieser spannungsreichen Diskrepanz zwischen den beiden Ichs liegt die Gemeinsamkeit mit Grünbeins Jahren im Zoo. Auch dort findet sich die Trennung in zwei Instanzen, die aufs engste zusammenhängen. Durch das Paradigma der Erinnerung wird diese Spaltung eingesetzt und bringt so qua Erinnerungen das vergangene Ich erst hervor. Der Prozess hat eine weitere Implikation, wenn Szondi darlegt, dass Benjamins Blick die Umwelt erfasst, die den Schreibenden wiederum maßgeblich prägt.²³¹ Es wird ein zirkulärer Prozess beschrieben, in dem die Erinnerung das Erinnerte hervorbringt, was wiederum die Bedingung der Möglichkeit wird, überhaupt zum Subjekt zu werden, das sich erinnern kann. Diese Beschreibung trifft ebenso auf die narrative Situation der Jahre im Zoo zu. Dort wird beispielsweise zu Beginn des Kapitels Fischwaren die Situation der Erinnerung transparent. Nach einer kurzen Beschreibung des ersten (Eltern‐)Hauses in Cotta fährt die Erzählung fort: „Das Haus stand als einziges seiner Art frei. An die Geräuschkulisse ringsum kann ich mich lebhaft erinnern, wenn ich die Augen Lindner, Burkhardt: „Vom »sentimentalischen« Kinderbild zur Topgraphie der Kindheit“, in: Ders.: Studien zu Benjamin, hrsg. von Jessica, Nitsche / Nadine, Werner: Berlin: Kulturverlag Kadmos 2016, S. 243 – 264, hier S. 262. Lindner: „Vom »sentimentalischen« Kinderbild zur Topgraphie der Kindheit“, S. 257. Vgl.: Werner: Archäologie des Erinnerns, S. 191. Vgl.: Lindner: „Vom »sentimentalischen« Kinderbild zur Topgraphie der Kindheit“, S. 255. Vgl.: Szondi: „Hoffnung im Vergangenen“, S. 284.
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schließe, in letzter Zeit kehrt sie manchmal im Halbschlaf zurück.“ (DJZ: 10) Das erinnernde Ich (der Erzähler) schaltet sich ein, um dann zu verschwinden. Vielmehr – eine weitere Analogie zu Benjamin − versetzt sich die Erzählinstanz kurz darauf in die interne Fokalisierung des Protagonisten, wenn er die „Vermieterin, eine Märchengreisin“, als eine „uralte Hexe des guten Willens“ (DJZ: 11) kategorisiert. Der Erinnerungsraum Kindheit, der von Grünbein aufgebaut wird, knüpft ebenfalls an Benjamin an. Annette Simonis hält in diesem Zusammenhang fest, dass Grünbein im Unterschied zu Benjamin aufgrund seiner biographischen Situation einen anderen Ort und eine andere Zeit beschreibt: Der Blick ist nicht mehr vom Pariser Exil zurück auf das Berlin vor dem Beginn des Weltkrieges, sondern Grünbein nimmt das „Dresden der ehemaligen DDR, eines Staats und einer Gesellschaft, die nicht mehr existiert“²³² in den Blick. Wie schon bei Wolfs Stadt der Engel lässt sich ebenso bei Grünbein ein Interesse feststellen, sich an der Tradition des Exils zu orientieren und wie bei Wolf ist dies vor allem ein kulturpolitisches Programm. Es ist weniger das Ziel, die eigene verlorene Kindheit mit jener der Exilierten zu parallelisieren (gerade angesichts des tragischen Ausganges von Benjamins Exil), sondern der intertextuelle Bezug ist ästhetischer Natur, d. h. nicht der historische Kontext ist entscheidend, sondern der ästhetische Anspruch an den literarischen Text, der sich daraus ergibt. Überdies sind die Situationen Benjamins und Grünbeins ohnehin andere: In Benjamins Schreibsituation existiert der historischen Raum seiner Kindheit noch. Zu großen Teilen hat dieser (vor allem im Jahr 1932, dem Beginn der Arbeit an der Berliner Kindheit) eine ähnliche Sozialstruktur wie zur Zeit seiner Kindheit. Aber der Raum ist (bzw. wird) für ihn als Juden nicht mehr betretbar. Er ist von diesem Raum abgeschnitten; die Erinnerung dient als Kompensation. Grünbein kann dagegen den Raum seiner Kindheit Hellerau/Dresden betreten, ist nicht von diesem ausgesperrt. Allerdings existiert der sozial-gesellschaftliche Raum durch den politischen Systemwechsel nicht mehr. Der Raum ist von sich selbst – zumindest teilweise − abgeschnitten. Grünbein selbst thematisiert die Frage der Emigration und der Erinnerung in Die Jahre im Zoo explizit: Nun war ich also eingetreten in das Erinnerungsland. Herr im Himmel, fängt so das Altern an? […] Wie denn nun weiter? Blieb nur das Kapitulieren vor dem Übermaß an Erinnerung? Wie gern wäre ich emigriert, hatte mir ein anderes Dasein erträumt, möglichst weit weg (der alte Fluchtreflex), irgendwo am hintersten Ende Patagoniens oder Neuseelands. Und war nun wieder hier gelandet, am Ausgangspunkt. Aber warum nur, warum? (DJZ: 196)
Simonis: „Essayistisches Schreiben“, S. 53.
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Erneut finden sich diese Reflexionen an einer Stelle, an der die Erzählinstanz die zeitliche Differenz zum Erzählten markiert. Der Zwang zur Emigration ist durch die historisch andere Situation dem Wunsch zur Emigration gewichen. Der Erzähler versucht sich an dieser Stelle durch seine Erinnerungen noch einmal in den Protagonisten zurückzuversetzen. Grünbein verdeutlicht, dass es nicht jener Zwang zur Emigration ist, der Benjamins Erinnerungen herbeinötigt, dem sein Text folgt. Der Wunsch, das Land zu verlassen (und zu emigrieren), ist Teil der Erinnerungen und begründet diese nicht. Grünbein verwendet die metaphorische Bezeichnung Erinnerungsland in diesem Kontext nicht zufällig, sondern verweist nicht allein auf eine Landschaft der Erinnerungen, sondern auch auf das Land − die DDR −, das in den Erinnerungen wieder entsteht und aus dem er in den Erinnerungen emigrieren will. Trotz dieser Unterschiede ist der Versuch, sich an Kindheit (und Jugend) zu erinnern, das gemeinsame Projekt Benjamins und Grünbeins. Wie ich bereits thematisiert habe,²³³ ist (neben Benjamin) ein weiterer Erinnerungstext intertextueller Anknüpfungspunkt für Die Jahre im Zoo: Erich Kästners Als ich ein kleiner Junge war. Dies hängt mit dem Ort des Geschehens zusammen: Kästner (wie Grünbein Dresdner) erinnert sich an sein Leben zu Beginn des Jahrhunderts in Dresden. Seine Erzählung endet mit der Einberufung zum Militär infolge des Ersten Weltkrieges. Auch in den Jahren im Zoo formiert der Eintritt ins Militär als das Ende von Kindheit und Jugend. Der Ort des Aufwachsens ist in beiden Fällen Dresden. Bei Grünbein lassen sich Koordinaten einer Chronologie feststellen, die das Buch strukturieren: von der ersten Wohnung der Eltern und den kindlichen Spaziergängen mit dem Großvater, über den Umzug nach Hellerau und die erste Schulzeit, bis hin zu Abitur und Wehrpflicht. Diese Linie durchzieht das Buch und wird immer wieder durchbrochen, abgebrochen und wiederholt. Das letzte Kapitel bezieht sich auf das erste zurück, wenn erneut auf einen Traum des kindlichen Protagonisten rekurriert wird (vgl.: DJZ: 396 ff.). Benjamin wiederum durchbricht durch seinen Fokus auf das Räumliche die zeitliche Struktur eines linearen Verlaufes.²³⁴ Jeder Text setzt neu an und generiert eine „kaleidoskopische Struktur der Erinnerungsbilder […], die jedes Bild, je nach Perspektive und Motivwechsel für immer neue Konstellationen öffnen.“²³⁵ Auch wenn Grünbeins Textstücke weniger der entzeitlichten Schreibweise von Benjamins Miniaturen folgen, setzt bei beiden jedes Kapitel mit einem neuen Gegenstand an, der bei Grünbein als essayistischer Diskurs über einzelne Teile der Kindheit fungiert.
Vgl. das Kapitel Grünbeins Essayismus und seine Nichtidentität. Vgl.: Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 15. Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 19.
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Ebenso scheinen die jeweiligen Titel der Kapitel einer ähnlichen Struktur zu folgen, so werden Orte (Die Siegessäule / Das Trafo-Häuschen), Gegenstände (Das Telefon / Die Schuluhr) und Geschehen (Unglücksfälle und Verbrechen / Eine Ohrfeige), die für die kindlichen Protagonisten von Bedeutung sind, als Überschriften gewählt. Lindner konstatiert in diesem Zusammenhang im Hinblick auf Benjamin: „Die Titel nennen vorzugsweise Orte, Gegenstände, Tiere, wiederkehrende Situationen; die personale Nähe des Erinnerten ist ausgeblendet.“²³⁶ Eine Diagnose, die ohne Frage auf Die Jahre im Zoo übertragbar ist, wobei sich − neben den zahlreichen Strukturanalogien − in der konkreten textlichen Bearbeitung Unterschiede erkennen lassen. Der deutlichste Unterschied liegt in der Länge der Texte. Grünbeins 400 Seiten umfassendes Buch ist im Verhältnis zu den kurzen, gedrängten Texten Benjamins merklich extensiver. In dieser Extension liegt der Grund für die chronologische Ordnung: Während Benjamin die genauen Kontexte seines Aufwachsens zugunsten eines allgemeinen Anspruches streicht, ist bei Grünbein dies der Zweck der Erinnerung. Allerdings soll bei Grünbein nicht der historische Kontext oder ein Anspruch aufs Allgemeine ausgestrichen, sondern das Individuum zu einem von vielen werden; denn Grünbeins Kindheit ist von der staatlich-politischen Ordnung durchwirkt: Die DDR war für ihn [der hier spricht, also Grünbein selbst; M.K.] keine kuschelige Zone, kein Kindergeburtstag mit roten Fähnchen und Sandmann-lieber-Sandmann-Gutenachtliedern, kein gelobtes Arbeiter-und Bauern-Reservat und erst recht keine heimliche Gelehrtenrepublik. Sie war ein ehrgeiziges Sozialexperiment, daß seine Kindheit und Jugend in Beschlag nahm, und er ist heilfroh, daß es so glimpflich zu Ende ging und daß das Labor zum Schluß nicht allen noch um die Ohren flog.²³⁷
Neben den Seitenhieben auf andere literarische Versuche über die DDR (Hensel, Tellkamp) zeigt der Ausschnitt den totalisierenden Anspruch des Staates, der Grünbeins Kindheit in Beschlag nahm. Der reflexive Akt spielt (wie in der von Lindner diagnostizierten Selbstschau Benjamins) für Grünbein eine zentrale Rolle. Ahrend beschreibt dies für andere Essays: „Erinnerung ist für Grünbein gleichbedeutend mit Selbstbegegnung. Sie bezeichnet einen kognitiven Akt des Er-Innerns, des Insichgehens also der Introversion.“²³⁸
Lindner, Burkhardt: „Das ‚Passagen-Werk‘, die ‚Berliner Kindheit‘ und die Archäologie des »Jüngstvergangenen«“, in: Ders.: Studien zu Benjamin, hrsg. von Jessica Nitsche / Nadine Werner, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2016, S. 217– 243, hier S. 219. Grünbein: „Unfreiheit. Eine Rede“, S. 163. Ahrend: „Essayistische Lyrik“, S. 147.
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Benjamins magisch-kindlicher Zugriff auf die Welt, dieser Zugriff auf andere sprachliche Semiotiken, die sich im Schlagwort der „unsinnlichen Ähnlichkeit“²³⁹ verbinden, sind für ihn eine anthropologische Grundkonstante, der er in seinen Miniaturen nachtastet, seien es die Mummerehlen, die Schmetterlinge oder das bucklichte Männlein. Bei Grünbein finden sich ebenso unsinnliche Ähnlichkeiten eines Kindes, die weniger im semiotischen denn im phänomenalen Bereich angesiedelt sind.²⁴⁰ In Die Jahre im Zoo greift der Erzähler ein, ehe es zu einer semiotischen Interpretation kommen kann, wie es sich am Begriff der Fischwaren zeigt.²⁴¹ Durch diese deutlichen und starken Eingriffe der Erzählinstanz in den Text, die essayistischen Ausführungen (etwa über den Dresdner Bahnhof, DJZ: 65 ff.) und die historischen Sprünge (z. B. zu einer Ohrfeige, die der Großvater 1933 erlitt, DJZ; 58 ff) unterscheiden sich die Texte Benjamins und Grünbeins. Durch den sich verstärkt einbringenden Erzähler, der mit seinem Wissen um die historischen Ereignisse das Erleben des Kindes kommentiert und einordnet, werden Staat und Gesellschaft vermehrt thematisiert. Ein Beispiel hierfür sind die essayistischen Ausführungen über den Dresdner Bahnhof, die in einem Bericht über den Zug mit Flüchtenden aus der Prager Botschaft münden: Und als im Oktober 1989 die Molotowcocktails flogen, aus Empörung über die westwärts vorbeirauschenden Züge mit den Landesflüchtigen aus der Prager Botschaft, als die Bahnsteige mit Ausreisewilligen voll waren, einzelne auf die Waggons aufzuspringen versuchten, von Soldaten beiseite gezerrt wurden und der Volkszorn zum Kochen geriet, gingen wohl ein paar Glasscheiben an der Fassade zu Bruch, wurden einige der Protestierenden von Polizisten böse verprügelt, der dunkle Trutzbau mit seinen Kuppeln und Uhrtürmen jedoch hielt abermals stand. (DJZ: 66 f.)
Gleichzeitig findet sich in den vorhandenen Strukturanalogien zur Berliner Kindheit ein Potential, identitätslogische Zusammenhänge aufzubrechen, das auf der Spaltung in erinnerndes und erinnertes Ich beruht. Die Unverfügbarkeit von Erinnerungen, die im Fall Grünbeins von dem Erinnernden eingeholt und situiert werden müssen, bricht mit der Illusion der Identität. Wie Ahrend argumentiert, führt dies zu einer fortwährenden Selbstbeobachtung, die aufgrund der Nichtverfügbarkeit der Erinnerungen überhaupt erst entsteht. Ahrend diagnostiziert ein Aufbrechen der Identität des Erinnernden durch die Erinnerung.²⁴² Grünbein hat dies (im Gespräch) mit der Kindheit und einem verloren gegangenem Ganz
Benjamin: „Lehre vom Ähnlichen / Über das mimetische Vermögen“, B-GS II, S. 207. Hierauf werde ich im Folgenden noch näher eingehen. Vgl. das Kapitel Paradoxien maritimer Metaphorik in Die Jahre im Zoo. Vgl. hierzu: Ahrend: „Essayistische Lyrik“, S. 148.
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heitszustand verbunden, der letztlich in einem Transitzustand mündet.²⁴³ Die Jahre im Zoo bezieht sich auf Benjamin, um die Erfahrungen des Aufwachsens in Dresden sowie in der DDR in einen Kontext anderer unverfügbarer Kindheiten einzureihen. Im Spannungsfeld zwischen Text und Intertext handelt die Erzählinstanz narrative Struktur, Erinnerung und Kontext miteinander aus. Grünbeins Erinnerungen an eine Kindheit in der DDR sind kein authentisches Zeugnis des Lebens, sondern Zeugnis eines Lebens, „so wie der, der’s erlebt hat, dieses Leben erinnert.“²⁴⁴
Essays über sich – Autobiographische Schreibweisen Auch der autobiographischen Status der Jahre im Zoo ist in Anlehnung an Benjamins Berliner Kindheit kontextualisierbar. Zunächst findet sich auf textlicher Ebene kein eindeutiger Hinweis, dass der Text autobiographisch zu verstehen sei. Grünbeins Buch trägt den Untertitel Ein Kaleidoskop und nicht etwa Eine Autobiographie. Der Suhrkamp Verlag, bei dem Die Jahre im Zoo erschien, hat nichtsdestotrotz im Klappentext folgende Beschreibung gegeben: „Ein Kaleidoskop ist dieses autobiographische Buch voller Geschichten,Verse, Reflexionen und Bilder.“ (DJZ: Klappentext vorne; Hervorheb. M.K.) Damit ist die (zumindest erste, unbedarfte) Rezeption schon im Sinne des Verlages vorstrukturiert. In Kombination mit den Photographien − insbesondere der Titelphotographie²⁴⁵ − umweht das Buch ein Hauch von Authentizität. Ein Blick auf das Leben des Autors insinuiert offensichtliche Überschneidungen zwischen erzählendem Ich und Autor. Ohne nun erneut die Gattungsprobleme autobiographischen Schreibens in extenso zu verhandeln, werde ich im Anschluss an den bereits im Kapitel zu Wolf dargelegten Forschungsstand²⁴⁶ den autobiographischen Gehalt von Die Jahre im Zoo im intertextuellen Bezug zu Benjamins Berliner Kindheit ausloten. Auch die Berliner Kindheit trägt keine Gattungsbeschreibung, die auf einen autobiographischen Gehalt der Texte verweist. Die Adorno-Rexroth-Fassung, die Grundlage der in Band IV der Gesammelten Schriften abgedruckten Version, ent-
„Kindheit, das war eine Ganzheitserfahrung von Raum und Zeit. Mit dem Übergang zu einem Leben gezielter Ortsbewegungen und Terminplanungen löste diese Erfahrung sich langsam auf. Der Verlust ist ein metaphysischer, prinzipiell unaufhebbar.[…] Die Vertreibung aus der Kindheit ist quasi das erste Glied einer langen Kette fortwährender Vertreibungen, bis man irgendwann gar nicht mehr sagen kann, wo man herkam und wohin man eigentlich wollte. Man befindet sich für den Rest des Lebens in einem Transitzustand.“, Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 7 f. Benjamin: „Zum Bilde Prousts“, B-GS II, S. 311. Vgl. das Kapitel Funktionen der Photographie. Vgl. das Kapitel Schreibweisen des Autobiographischen und der Beleg des Lebens.
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hält nicht das Vorwort des Pariser Typoskriptes, das immerhin eine deutliche Erläuterung gibt: Ich suchte es [das Gefühl der Sehnsucht; M.K.] durch die Einsicht, nicht in die zufällige biographische sondern in die notwendige gesellschaftliche Unwiederbringlichkeit des Vergangenen in Schranken zu halten. Das hat es mit sich gebracht, daß die biographischen Züge, die eher in der Kontinuität als in der Tiefe der Erfahrung sich abzeichnen, in diesen Versuchen ganz zurücktreten. Mit ihnen die Physiognomien – die meiner Familie wie die meiner Kameraden.²⁴⁷
Benjamin hat sein Programm, das individuell-biographische Moment zurücktreten zu lassen, eingelöst: selten genug werden andere Familienmitglieder überhaupt erwähnt; kommt es dazu (etwa der Vater in eine Todesnachricht oder die Mutter und die Tanten in Steglitzer Ecke Genthiner), bleibt ihre Darstellung – in Benjamins Duktus ihre Physiognomie − blass. In Grünbeins Text ist mit einigen wenigen Ausnahmen Ähnliches zu beobachten. So nehmen insbesondere der Großvater in den Anfangskapiteln Fischwaren, Das große Gehege und Die Ohrfeige sowie die Mutter in Die zoologische Internationale eine größere Rolle ein. Allerdings werden die biographischen Details fast vollkommen ausgespart. Beide fungieren eher als Prototypen ihrer jeweiligen Generation. Hermann Schweppenhäuser hat das sprechende Ich in der Berliner Kindheit mit Marx’ Begriff der Charaktermaske²⁴⁸ „als der Knotenpunkt der gesellschaftlichen und historischen Kraftlinien“²⁴⁹ zu fassen gesucht. Ähnlich kann man die Figuren verstehen, die den Protagonisten in den Jahren im Zoo umgeben; sie sind lediglich Vertreter ihrer gesellschaftlich-familiären Struktur. Damit hängt die konsequente Vermeidung von Namen zusammen, wenn selbst Schulfreunde mit Initialen bzw. selbst gegebenen Namen („Da war der E., ein dicklicher Junge, den die anderen Kröte nannten, für mich hieß er Ecki.“, DJZ: 146) oder Attributen („der Schöne“, DJZ: 273) bezeichnet werden. Schon in der Berliner Chronik hat Benjamin es zurückgewiesen, das Programm eines autobiographischen Projektes zu verfolgen. Dort heißt es dazu:
Benjamin: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, B-GS VII, S. 385. Im ersten Band des Kapitals heißt es zu diesem Begriff: „Die Personen existieren hier [auf dem Markt; M.K.] nur füreinander als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer. Wir werden überhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, daß die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten.“, Marx: Das Kapital. Bd. 1, S. 100. Schweppenhäuser, Hermann: „Physiognomie eines Physiognomikers“, in: Unseld, Siegfried (Hrsg.): Zur Aktualität Walter Benjamins. Aus Anlaß des 80. Geburtstags von Walter Benjamin, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 139 – 171, hier S. 162.
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Erinnerungen, selbst wenn sie ins Breite gehen, stellen nicht immer eine Autobiographie dar. Und dieses hier ist ganz gewiß keine, auch nicht für die berliner Jahre, von denen hier ja einzig die Rede ist. Denn die Autobiographie hat es mit der Zeit, dem Ablauf und mit dem zu tun, was den stetigen Fluß des Lebens ausmacht. Hier aber ist von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede. Denn wenn auch Monate und Jahre hier auftauchen, so ist es in der Gestalt, die sie im Augenblick des Eingedenkens haben. Diese seltsame Gestalt – man mag sie flüchtig oder ewig nennen – in keinem Falle ist der Stoff, aus welchem sie gemacht wird, der des Lebens.²⁵⁰
Benjamin begründet die Abgrenzung der geschriebenen Sätze mit seiner Fokussierung auf den Raum: das Berlin um 1900. Nicolas Pethes hat in diesem Kontext darauf hingewiesen, dass bereits der Titel, Berliner Kindheit um neunzehnhundert, diese Abgrenzung erfüllt, werden die verschiedenen Lexeme, aus denen sich der Titel zusammensetzt, doch entindividualisiert.²⁵¹ Pethes ist entgegenzuhalten, dass gerade im Vorwort ein aktives Subjekt auftritt, welches sich zu erkennen gibt, um die vorliegende Erzählung zu begründen und zu strukturieren. Ohne Frage ist es so, dass die biographischen Details stark dezimiert sind. Trotzdem zeigt Benjamin – sowie die ihn betreffende Forschung − ein starkes Bedürfnis, sich von der literarischen Gattung der Autobiographie abzugrenzen. Dies hängt mit zwei weiteren Aussagen Benjamins zusammen. Die erste findet sich in der Berliner Chronik, wo biographisches und topographisches Schreiben aufeinander bezogen werden: „Lange Jahre eigentlich, spiele ich schon mit der Vorstellung den Raum des Lebens − Bios − graphisch in einer Karte zu gliedern.“²⁵² Der in Gedankenstriche gerahmte griechische Begriff Bios grenzt mit dem zweiten Gedankenstrich an das Adjektiv graphisch. Das die Parenthese begrenzende Satzzeichen kann eine Rolle zwischen trennendem Gedanken- und verbindendem Bindestrich einnehmen. Der Raum des Lebens soll nicht nur graphisch in einer Karte dargestellt werden, was eine pleonastische Aussage wäre, sondern dieser Raum soll biographisch in einer Karte dargestellt werden. Die Verbindung dieser beiden Be-
Benjamin: „Berliner Chronik“, B-GS VI, S. 488. „Der temporale Kollektivsingular Kindheit verweist auf die Abbildung einer intersubjektiven Lebensepoche, die – durch das Berliner − eng an die Realität einer spezifischen Stadt gebunden wird. Daß darüber hinaus nicht die Geschichte eines Subjekts, sondern vielmehr das Erinnerungsbild einer Epoche kenntlich werden soll, bezeichnet das neunzehnhundert im Titel. Bis hinein in das vage um verweist die Titelgebung auf das Undeutliche, nicht Festzulegende diese Erinnerungsbildes, das nur in scheinbare Spannung zu ihrem typisierenden Gestus tritt: Die topische Allgemeinheit reduziert subjektive Individualität, scheint es sich doch um eine generelle Geschichte von Subjektivität am Vorabend der Moderne zu handeln.“, Pethes, Nicolas: Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin, Tübingen: M. Niemeyer 1999, S. 278. Benjamin: „Berliner Chronik“, B-GS VI, S. 466.
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deutungen impliziert den Verdacht, es handele sich bei der Berliner Kindheit um eine Form des autobiographischen Schreibens. Die zweite Aussage findet sich in einem Brief Benjamins an Gretel Adorno: Bevor ich ganz in dieser Lektüre verschwinde, hoffe ich aber noch ein weiteres Stück der „Berliner Kindheit“ abzuschließen, das „Der Mond“ heißt. Die Ähnlichkeit, welche Du zwischen den ”Loggien” und dem ”Fieber” bemerkt hast, besteht natürlich. Mir selber aber stehen die beiden Stücke sehr unterschiedlich nah; weit näher als das frühere das erstgenannte, in dem ich eine Art von Selbstporträt erblicke.²⁵³
Benjamin erklärt Gretel Adorno, dass der Text Loggien eine Art Selbstporträt sei, also eine zusammengezogene und verdichtete Autobiographie. Er hat diese Prosaminiatur an den Beginn der Berliner Kindheit gesetzt und sie dadurch besonders hervorgehoben. Im ersten Absatz der Loggien ruft Benjamin zahlreiche Bilder auf, die er in der Folge miteinander verbindet. Dazu gehört die Erinnerung, die durch den Raum (dem Blick von der Loggia in den Hof) gekräftigt wird, das damit verbundene bürgerliche Bewusstsein, das sich durch die Konfiguration des Raumes ergibt, und das Einwachsen einer stadtspezifischen Mentalität in den kindlichen Protagonisten: „[E]s ist eben diese Luft [die Luft der Höfe; M.K.], in der die Bilder und Allegorien stehen, die über mein Denken herrschen […].“²⁵⁴ Die Luft der Höfe bricht die Zeitebenen auf, wenn die Erzählinstanz in das Jüngstvergangene wechselt: „Ich glaube, daß ein Beisatz dieser Luft noch um die Weinberge von Capri war, in denen ich die Geliebte umschlungen hielt;“²⁵⁵ Hier bezieht sich der Erzähler offensichtlich auf sein erwachsenes Leben, also eher auf die Sprecherzeit als auf die erinnerte Kindheit. Zum Schluss dieser Miniatur bricht noch einmal die Fokalisierung des Kindes auf und die Erzählinstanz spricht aus ihrer Gegenwart: Seitdem ich Kind war, haben sich die Loggien weniger verändert als die anderen Räume. Sie sind mir nicht nur darum nahe. Es ist vielmehr des Trostes wegen, der in ihrer Unbewohnbarkeit für den liegt, der selber nicht mehr recht zum Wohnen kommt. An ihnen hat die Behausung des Berliners ihre Grenze. Berlin – der Stadtgott selber – beginnt in ihnen. Er bleibt sich dort so gegenwärtig, daß nichts Flüchtiges sich neben ihm behauptet. In seinem Schutze finden Ort und Zeit zu sich und zueinander.²⁵⁶
Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe. Bd. IV. 1931−1934, hrsg. von Christoph Gödde / Henri Lonitz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 275. Benjamin: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, B-GS VII, S. 386. Benjamin: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, B-GS VII, S. 386. Benjamin: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, B-GS VII, S. 387 f.
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Der Erzähler zeigt deutlich, wie das städtebauliche Umfeld, in dem die Bourgeoisie erwächst, bereits „die Züge des Kommenden“²⁵⁷ trägt. In diesem kurzen Stück verschränkt sich das Gefühl eines sicheren Aufwachsens mit dem Gefühl des Exilierten, wie es die Unmöglichkeit noch zu wohnen sowie das neue Flüchtige andeuten.²⁵⁸ Es wird nicht irgendeine Erfahrung, sondern diejenige präformiert, die Benjamin selbst erlebte. Der Anspruch, mit diesem Text das Allgemeine, eine von vielen gleichen Kindheiten um 1900, zu versprachlichen, kann sich nur durch das Individuelle, eine Kindheit um 1900, vermitteln. Die Forschung nimmt insbesondere die Nichtidentität des erinnernden wie des erinnerten Ichs in den Blick. So argumentiert Lindner: „Dieses Schema, das die autobiographische Identität des Sich-Erinnernden sichert, verwirft die Berliner Kindheit.“²⁵⁹ Schweppenhäuser spricht davon, dass die Berliner Kindheit ein „Niemandsland zwischen Nicht-Ich und Ich“²⁶⁰ eröffnet und Lemke diagnostiziert, dass der Text „kein Abbild [entwirft; M.K.], sondern Ausdruck eines Nichtidentischen“²⁶¹ ist. Eine besondere Rolle spielt der Zeitraum, über den die Berliner Kindheit spricht: So markiert der Raum Kindheit den Moment des Eintrittes in die symbolische Ordnung der Sprache.²⁶² In der Art und Weise zeigt sich, wie die Stücke keiner Chronologie folgen, sondern sich lose aneinanderreihen und damit „den autobiographisch-narrativen Faden“²⁶³ durchschneiden. Gerhard Richter bringt das Phänomen einer jeweiligen Neuerschreibung des Selbst in den jeweiligen Stücken prägnant auf den Punkt, wenn er konstatiert: The brief quasi-photographic thought-images of the Berlin Childhood form a constellation in which the self is constantly revised.While each individual scene or mode in the constellation shares a structural similarity regarding the self’s visual construction and dispersal, each
Benjamin: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, B-GS VII, S. 407. Vgl.: hierzu: Szondi: „Hoffnung im Vergangenen“, S. 285; sowie: Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 112. Dies bildet gewissermaßen die Vorgeschichte zu Adornos Asyl für Obdachlose aus den Minima Moralia, in dem die Unmöglichkeit eines richtigen Wohnens, trotz der Tatsache, dass die Wohnungen der Kindheit wieder betretbar sind, zu einem Dauerzustand geworden ist. Vgl. das Kapitel Die neue Welt der Obdachlosen. Lindner: „Vom »sentimentalischen« Kinderbild zur Topgraphie der Kindheit“, S. 253. Schweppenhäuser: „Physiognomie eines Physiognomikers“, S. 154. Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 9. Vgl.: Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 13. Lindner: „Das ‚Passagen-Werk‘, die ‚Berliner Kindheit‘ und die Archäologie des »Jüngstvergangenen«“, S. 219. Vgl. auch: Lindner, Burkhardt: „‚Berliner Kindheit um neunzehnhundert‘: Schreibprozeß, Nachlaß, Gedächtnismetaphern“, in: Ders.: Studien zu Benjamin, hrsg.von Jessica Nitsche / Nadine Werner, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2016, S. 265 – 315, hier S. 292.
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scene is singular and specific to its formal context. Each time, then, the visual self assumes a different shape; each time it must be rewritten.²⁶⁴
Neben der Differenz Erzählinstanz−Kind nimmt eine weitere Instanz eine wichtige Position in diesem Text ein: der Autor Walter Benjamin. In den Denkbewegungen wird wechselseitig über die Nichtidentität von Autor und Ich oder erinnerndem Ich und erinnertem Ich die Nichtidentität des Textes beschrieben. Die Ausstreichung der biographischen Details durch Benjamins Umarbeitungen umgeben den Text mit einem autobiographischen Gestus. Deutlich wird dies an der Transformation des Textes Mummerehlen: Während in der früheren Fassung noch die Beschreibung einer Photographie auftaucht, die sich mit einem Photo Benjamins mit seinem Bruder Georg überschneidet,²⁶⁵ ist diese Stelle in der späteren Bearbeitung des Pariser Typoskriptes gestrichen.²⁶⁶ Anja Lemke schlussfolgert, dass der Text aufgrund solcher Phänomene einen Zugang zu einem Selbst bildet, dessen Unzugänglichkeit in der Amalgamierung autobiographischen Schreibens, kindlicher Entstellung und Erinnerung liegt.²⁶⁷ Das autobiographische Schreiben sowie die Lektüre des Textes, beides durch ein „Identitätsbegehren“ angetrieben, münden in einen „unauflöslichen Doublebind zwischen Identitätsbildung und Identifikation, Selbst- und Fremdbestimmung“²⁶⁸, wie es bei Lemke heißt. „Das momenthafte Aufscheinen des Ich im Text rundet sich nicht zur Identität von schreibendem und geschriebenem Selbst […].“²⁶⁹ Obwohl der Text einen autobiographischen Anspruch abstreitet, bildet das Autobiographische den Ausgangspunkt, um über die Fragen von Nichtidentität und Identifizierung zu reflektieren. Benjamin selbst hat mit seinen unterschiedlichen Aussagen und seinen Umarbeitungen eine Raum mit eigenem poetologischen Anspruch eröffnet: Sein Einsatz für das Bruchstückhafte ist in diesem Kontext zu sehen. Denn was die Berliner Kindheit hinterlässt, ist ein in mehrfacher Hinsicht fragmentarischer Text: Die jeweiligen Stücke sind fragmentarische Aneinanderreihungen.²⁷⁰ Der Text selbst ist − geschuldet der Tatsache, dass es keine von Benjamin autorisierte Druckfassung gibt − als Fragment
Richter, Gerhard: Walter Benjamin and the Corpus of Autobiography, Detroit: Wayne State University Press 2000, S. 207. Vgl.: Benjamin: „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“, B-GS IV, S. 261. Zu der Photographie, vgl.: Abb. 3. Vgl.: Benjamin: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, B-GS VII, S. 417 f. Vgl.: Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 120. Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 123. Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 122. Vgl.: Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus, S. 231.
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zu verstehen. Nicht zuletzt ist die Beziehung von Erzähler zu Autor sowie zu erinnertem Ich bruchstückhaft, unvollständig und doch unauflöslich verquickt. Das Bruchstückhafte und die Verquickung hängen aufs engste miteinander zusammen und sind nicht als unfertige Bearbeitungen zu verstehen, sondern als das, was den Text strukturiert. Sein autobiographischer Anspruch ist nicht, Benjamins Leben zu beschreiben, sondern durch das Aufrufen und Negieren des Gattungskontextes das Feld von Nichtidentität und Identifizierung der jeweiligen Textinstanzen zu eröffnen. Grünbeins Die Jahre im Zoo verfährt im Umgang mit dem autobiographischen Schreiben und der Aufteilung in erinnertes und erinnerndes Ich ähnlich. Die Textteile bauen wenig aufeinander auf, die chronologische Linie, die sich bei ihm erkennen lässt, ist schwach ausgeprägt und strukturiert den Text lediglich subtextuell. Die jeweiligen Kapitel verweisen nicht aufeinander und sind individuell lesbar, selbst wenn Motive wiederkehren. Grünbein schreibt Essays über sich selbst und sein Aufwachsen. Diese referieren (unter anderem) auf das Vorbild Benjamins. Simonis hält Grünbeins Schreibweise durch diese Anknüpfung für eine Abkehr von der klassischen bürgerlichen Form der Autobiographie.²⁷¹ Hier trifft sich Grünbein mit seinem intertextuellen Vorbild: Benjamin schreibt zwar über eine bürgerliche Kindheit, bedient sich gerade in der Verdichtung und Assoziation eher avantgardistischer Schreibweisen. Diese Intertextualität versteht Simonis daher im Kontext des autobiographischen Schreibens: Insgesamt zeigt sich in Grünbeins autobiografischem Werk ein eigentümliches Oszillieren zwischen subjektiver autobiografischer Signatur und intertextueller überindividueller Verankerung. Hinter den literarischen Anspielungen und Reminiszenzen steht nichts weniger als der ambitionierte Versuch einer Selbstkanonisierung und Einreihung in die Galerie der großen Vorläufer.²⁷²
Daher ist es sinnvoll, Simonis Interpretation um noch einen weiteren Schritt zu ergänzen: Nicht nur oszilliert das Schreiben Grünbeins zwischen Autobiographie und Intertextualität, vielmehr begründet sich der autobiographische Diskurs in seiner intertextuellen Bezugnahme. Grünbein schreibt einen Text, der mit einem autobiographischen Impetus aufwartet und ihn doch dekonstruiert. Hierin ähnelt er Benjamins Berliner Kindheit und versucht, die gleiche Problemstellung aufzuwerfen: die Unmöglichkeit der Erinnerung und die Nichtidentität der Instanzen Autor, Erzählinstanz und Protagonist. Die Jahre im Zoo muss diese Nichtidentität erzeugen, um den Raum zu eröffnen, in dem die Prozesse der Identifizierung
Vgl.: Simonis: „Essayistisches Schreiben“, S. 58. Simonis: „Essayistisches Schreiben“, S. 59.
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stattfinden können, die ihrerseits stets wieder abbrechen. Bei Benjamin verweisen diese Prozesse auf die Bourgeoisie, in dem sie die biographischen Details zugunsten eines allgemeineren Anspruches ausstreichen. Wie Simonis gezeigt hat, lässt sich auch bei Grünbein eine Umarbeitung vom Individuellen zum Allgemeinen erkennen.²⁷³ In ihrem Aufsatz führt sie aus, dass Grünbein einige Jahre vor der Publikation von den Jahren im Zoo in der Zeitschrift Der Spiegel einen Artikel mit dem Titel Meine Jahre im Zoo veröffentlicht hat.²⁷⁴ Der Artikel, der große Ähnlichkeit mit den Kapitel Die zoologische Internationale und Der Rätselmeister hat, ist als Vorstufe von Die Jahre im Zoo zu verstehen. Grünbein verzichtete bei der Publikation des Buches auf das Possessivpronomen und gibt dem Text, der vom Verlag ohnehin als autobiographisches Projekt beworben wird, den Anspruch einer überindividuellen Erzählung, wie sie sich am Ort des Geschehens zeigt. Die Jahre im Zoo inszeniert ein literarisches Spiel um den Grad an Authentizität der beschriebenen Zeiträume. Die Funktion ist, den Text als Spiegel eines wirklichen Lebens zu präsentieren und über diesen Gestus der Authentizität, die Position des erzählenden Subjektes zu stärken und glaubhafter erscheinen zu lassen. Grünbeins Text ist sich wiederum der Fallstricke autobiographischen Schreibens vollauf bewusst. Er imitiert zwar nicht die verdichtete Schreibweise Benjamins, orientiert sich aber in der motivisch und in der narrativen Anlage an ihm und der Rekurs auf diese Vorlage arbeitet sich somit auch intensiv an der Problematik des autobiographischen Schreibens ab. Werner hat die Berliner Kindheit in die Erinnerungs- und Geschichtspoetik Benjamins eingeordnet und in diesem Kontext zusammengefasst, dass „[d]as Material der Erinnerungsniederschrift […] nicht das gelebte Leben [ist], sondern das, was mit der Konstellation von Vergangenheit und Gegenwart entsteht.“²⁷⁵ Eine solche theoretische Grundlage steht für Grünbeins Jahren im Zoo Pate und zeigt, wie − in der Konstruktion und Dekonstruktion eines autobiographischen Scheins − sich das Buch (als essayistisches Projekt über das eigene Leben Grünbeins) einer engen Gattungszuweisung entzieht, um einem Raum für das erzählende Subjekt zu eröffnen, der diesem die Möglichkeit bietet, neue Selbstentwürfe mit den Erinnerungen in Verbindung zu setzen.
Vgl. zum Folgenden: Simonis: „Essayistisches Schreiben“, S. 59 f. Vgl.: Grünbein, Durs: „Meine Jahre im Zoo. Der Lyriker Durs Grünbein über die Wurzeln seiner Poesie“, Der Spiegel 3 (2008), URL: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-55411023.html (letzter Zugriff am 27. August 2019). Werner: Archäologie des Erinnerns, S. 134.
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Räume der Erinnerung Der Raum, den Grünbein beschreibt, ist die Stadt Dresden. Dies ist die wohl markanteste Differenz zu Benjamins Berliner Kindheit, in der durch den Titel Berlin als zentraler Schauplatz der Erzählung benannt wird. Die Hauptstadt wird bei Benjamin als Zentrum des bürgerlichen Lebens beschrieben, in welchem der Erfahrungsraum des Kindes entsteht.²⁷⁶ Für Grünbein steht nicht der Entwurf einer Kindheit im Großbürgertum, sondern vielmehr in einem kleinbürgerlichen Umfeld im Mittelpunkt. Damit versteht sich Die Jahre im Zoo als Abgrenzung gegenüber dem in Tellkamps Der Turm gezeichnetem Bild des Bildungsbürgertums im Dresdner Viertel Weißer Hirsch. Während in Tellkamps Roman allein durch den Hauptschauplatz der Villenkolonie und dem Bezug auf die Nomenklatura andere soziale Klassen eine größere Rolle einnehmen, treten gesellschaftliche Unterschiede in Grünbeins Erinnerungsbuch fast vollends in den Hintergrund. Die Kindheit und Jugend in der Dresdner Gartenstadt Hellerau nimmt weniger Bezug auf die Frage von sozialer Herkunft – im Unterschied zum beengten Leben in Cotta vor dem Umzug −, sondern eröffnet einen magischen Raum des Aufwachsens, in dem der „Geist der Reformpädagogik“ (DJZ: 126) nicht in den Bildungsinstitutionen, aber in den Straßen Helleraus zu finden ist. Mit dem starken Bezug auf die Gründungszeit Helleraus – im Jahr 1909 − und dem Besuch Franz Kafkas²⁷⁷ bewegt sich der Text allein durch den zeitlichen Kontext in einem Zeitraum, der Benjamins um 1900 nahesteht. Dort bietet die Berliner Großstadt den notwendigen Hintergrund, an den sich die Erzählinstanz erinnert, um sich in die Kindheit zurückzuversetzen. Der spezifische Raum wird zur Bedingung der Möglichkeit von Erinnerung. Der Ort ist fortlaufend präsent, entweder in Form von Großstadterfahrungen oder durch die in den Kapitelüberschriften angezeigten (historischen) Berliner Orte (Die Siegessäule, Tiergarten, Steglitzer Ecke Genthiner, Pfaueninsel und Glienicke, Blumeshof 12, Krumme Straße). Insbesondere in dem Stück Tiergarten wird der im Titel apostrophierte Park Berlins pars pro toto für die ganze Stadt als Labyrinth beschrieben. Dieses erstreckt sich rund um die Statuen König Friedrich Wilhelms und Königin Luises, die der Protagonist in frühester Kindheit entdeckt, was ihn dazu bewegt, es als das erste Labyrinth seines Lebens zu bezeichnen.²⁷⁸ Die Jahre im Zoo wartet zwar nicht mit einer derartigen Labyrinthisierung des Dresdner Umfeldes auf, doch auch dort ist die Erwähnung eines Labyrinths zu finden, das gerade im Zusammenhang mit Benjamin bemerkenswert ist. In der Berliner Kindheit beschreibt Benjamin, dass
Vgl.: Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus, S. 235. Vgl. das Kapitel Von Löffeln und Akademien – Bezüge zu Franz Kafka. Vgl.: Benjamin: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, B-GS VII, S. 393.
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das Labyrinth rund um den Tiergarten das erste Labyrinth war, das er in seiner Kindheit kennlernte. Doch schon zuvor erwähnt er die von ihm – offensichtlich in der Schule − gezeichneten „Labyrinthe auf den Löschblättern meiner Hefte“²⁷⁹. Auch in den Jahren im Zoo taucht im Schulkontext das Labyrinth auf: „Dieses Schulgebäude werde ich nie vergessen. Ich trage es mit mir herum wie den Grundriß zum Eingang in mein persönliches Labyrinth.“ (DJZ: 143) Während der Protagonist der Berliner Kindheit in der Schule Labyrinthe zeichnet, erhält die Schule in Die Jahre im Zoo einen labyrinthischen Charakter. Um noch etwas genauer zu sein: nicht die Schule selbst wird ein Labyrinth, sondern das erinnerte Schulgebäude ist der Grundriss zu einer Art Vorraum, der zu durchschreiten ist, um das eigentliche Labyrinth zu betreten. Die Schule symbolisiert also nicht das Labyrinth mit einem Zentrum, sondern lediglich den Zugang zu einem persönlichen Labyrinth. Angesichts der Tatsache, dass die Schul- und Militärzeit in Die Jahre im Zoo als die stärksten Einwirkungen des Staates auf den Protagonisten beschrieben werden ist dies für das Selbstbild des Protagonisten umso relevanter, denn so rückt eine Identifizierung als Ostdeutscher in den Fokus. Es ist die Erfahrung des Aufwachsens im Bildungssystem der DDR, das allgegenwärtig durchdrungen von den Ideologemen des real existierenden Sozialismus den Weg in das Vergangene Selbst des Protagonisten weist,²⁸⁰ das der Erzähler einmal mehr beschwört. In Benjamins Berliner Chronik beschreibt dieser, dass das passende Schema, um sein Leben darzustellen, das Labyrinth sei, wobei weniger das Zentrum des Labyrinthes von Wichtigkeit sei: „Was in der Kammer seiner rätselhaften Mitte haust, Ich oder Schicksal, soll mich hier nicht kümmern, umso mehr aber die vielen Eingänge, die ins Innere führen.“²⁸¹ Wie man erfährt, ist Benjamins Labyrinth seine Kindheit. Deren vergangenes Selbst als Zentrum dieses Labyrinths ist weniger das Interesse als die Zugänge, die dorthin führen. Es ist ein umkreisender Zugang zum eigenen Selbst, der zum einen den essayistischen Selbstbetrachtungen und zum andern durchaus den Prozessen der Identifizierung ähnelt. Es ist die Suche, sein gegenwärtiges Ich an sein vergangenes anzunähern, wobei es gerade die Kontexte sind, die aufzeigen, wie die Identifizierungen funktionieren. Dieses Programm teilen Benjamin und Grünbein, gerade auch mit dem Blick auf die Orte, die sie beschreiben und die sich in Erzähler und Protagonisten einschreiben. Die Orte sind stets auch von der sozialen Ordnung der
Benjamin: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, B-GS VII, S. 393. In diesen Kontext passt auch, was die Erzählinstanz über die Beschreibung von Anarchisten und Kommunisten im Schulunterricht zu berichten weiß und wie die Sympathien trotz der schulischen Indoktrination bei den Anarchisten zu finden sind (vgl.: DJZ: 188). Hier zeigt sich erneut die Abgrenzung von der DDR bei gleichzeitigem Bezug auf spezifische DDR-Erfahrungen. Benjamin: „Berliner Chronik“, B-GS VI, S. 491.
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jeweiligen erinnerten Gegenwart durchformt − bei Benjamin der Bourgeoisie der Jahrhundertwende, bei Grünbein Hellerau und Dresden während der DDR. Mit seinem Erinnerungsbuch modifiziert Grünbein seine Selbstaussage aus dem Anfang des Jahrtausends geführten Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks. Dort hat er erklärt, dass die Gesellschaftsordnung der DDR „weniger prägend [war; M.K.] als der ursprüngliche Erlebnisraum, also die Stadt am Fluß, Dresden und die Wäldchen und verwunschenen Vorstadtwege um Hellerau.“²⁸² Auch wenn man zunächst den Eindruck bekommen kann, dass Grünbein immer noch den Raum Hellerau ins Zentrum stellt, ist doch ein Bewusstsein über die Gesellschaftsordnungen in seinen Text eingetreten. So etwa in dem Kapitel Die Schuluhr. Der Erzähler berichtet dort, wie er früher zum Unterricht zu spät kam. Grünbeins Text bezieht sich auf Benjamins Miniatur Zu spät gekommen, in dem dieser ebenfalls berichtet, wie sein früheres Selbst verspätet zum Unterricht erscheint. Und wie bei Grünbein ist es auch bei Benjamin die Schuluhr, die den kindlichen Fauxpas anzeigt: „Die Uhr im Schulhof sah beschädigt aus durch meine Schuld. Sie stand auf »zu spät«.“²⁸³ In den Jahren im Zoo erwartet den kindlichen Protagonisten nach seiner Ankunft in der Schule ein peinliches Verhör durch den Lehrer, während Benjamins Intertext einen anderen Umgang durch die Autorität erzählt: „Wie der Teufel den Schatten des Peter Schlemihl, hatte der Lehrer mir meinen Namen zu Anfang der Unterrichtsstunde einbehalten. Ich sollte nicht mehr an die Reihe kommen.“²⁸⁴ In dieser Umkehrung der Umstände, also der Bestrafung durch Schweigen und Nichtbeachtung oder der Strafe durch Befragung, tragen Benjamin und Grünbein jeweils die historische Situation, in derer sich die jeweiligen Protagonisten befinden, in den Text ein und es ist sicher kein Zufall, dass Grünbeins „peinlich[e] Qualen“ (DJZ: 163) an das realsozialistische Prinzip von Kritik und Selbstkritik erinnern, während der Lehrer des Wilhelminismus seine Strafe durch das drohende Schweigen inszeniert, in der es eher verwundert, nicht den Rohrstock surren zu hören. Einen Grund für das Zuspätkommen findet sich bei Benjamin nicht, während man bei Grünbein schon zu erahnen meint, dass der „Widerstand, den die Morgenluft mir entgegenbrachte“ (DJZ: 161), nicht harmloser Natur ist. In dem Bericht über die Angst vor jenem „Verhör“ (DJZ: 163) durch den Lehrer wird auch der Mut einiger anderer Schüler in diesem Gespräch über die Unpünktlichkeit erwähnt. Das Ende des Kapitels spricht vom „Gegenwind“ (DJZ: 164) als Grund für das Zuspätkommen des Prot-
Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 7. Benjamin: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, B-GS VII, S. 395. Benjamin: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, B-GS VII, S. 396.
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agonisten, wobei es schon kurz zuvor die titelgebende Schuluhr ist, welche die eigentliche Ursache darstellt: Es war der Turm, der mich streng auf Distanz hielt, dieser kleine, dem Dach aufgesetzte Aussichtsturm. An seiner Frontseite prangte die Schuluhr mit goldenem Zifferblatt. Sie war das einzig Glanzvolle weit und breit – eine aufgehende, am Mittag bei Schulschluß strahlende Sonne. War es die Sonne des Sozialismus? Flehentlich blieb der Blick an ihr hängen. Der Siebenjährige fürchtete sie wie in der benachbarten Tischlerei das Sägeblatt, wenn es sich aufheulend durchs Holz fraß. Die Ziffern glichen den schartigen Zähnen jenes rotierenden Ungetüms. Sägeblatt: Wer da hineingeriet, konnte mehr als nur den Finger verlieren, den tintenbeklecksten – die Schuluhr kostete einen den ganzen Kopf. (DJZ: 162)
Für den Erzähler steht diese Turmuhr in enger Assoziation zum real existierenden Sozialismus; eine Verknüpfung, die der Protagonist noch nicht leisten konnte, wenn dieser die Uhr zunächst als Sägeblatt charakterisiert. Es ist der Prozess der Erinnerung, in dem der Erzähler nachträglich die staatliche Macht qua unbeantworteter Frage markiert und es den Lesenden so selbst überlässt, das staatliche Schulsystem mit jenem Sägeblatt in Verbindung zu bringen, dass schon das frühere Ich als existentielle Bedrohung empfand. So wird es überdies möglich, zu verstehen, dass es genau diese Ordnung ist, die sich tief in das Selbstbild eingeschrieben hat und eine retrospektive Identifizierung − wenn auch in Ablehnung zum politischen System − hervorbringt. Das Ende der DDR nimmt der Erzähler dann sogar als Befreiung wahr, die aber im Erinnerungsprozess an den Ort der Kindheit zurückführt: Aus einem unbestimmten Drang heraus war ich seit der Befreiung immerfort auf der Flucht, aber kaum in Hellerau angekommen, sank ich sofort in Kindheitstiefen zurück. Hier und nur hier fand das Bewußtsein Ruhe, und es verblaßten alle die Boulevards und Wolkenkratzer mehrerer Kontinente, die Großstädte und die gigantischen Architekturen, der Kreml, das Kapitol, die Londoner City, der Eiffelturm, das Kolosseum und die Tempel von Kamakura und Borobudur. (DJZ: 194)
Die beide Bereiche der Gesellschaftsordnung und des kindlichen Erlebnisraumes werden so in den Jahren im Zoo als untrennbar miteinander verwoben dargestellt. In Grünbeins Gedicht über Dresden, das die Stadt als „Barockwrack an der Elbe“²⁸⁵ beschreibt, zieht das lyrische Ich Bilanz über seine Heimatstadt und die Zerstörungen, die in Folge des Zweiten Weltkrieges das Bild prägen. Der letzte Vers des Gedichtes, „Im Futur II wird alles still geworden sein.“²⁸⁶, verweist auf das Paradigma Benjamins, dass die Zukunft sich bereits in der Gegenwart präformiert Grünbein: Schädelbasislektion, S. 112. Grünbein: Schädelbasislektion, S. 112.
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zeigt. Szondi hat im Kontext der Labyrinth-Passagen aus Tiergarten diese Konstellation prägnant zusammengefasst: „So ist das Labyrinth im Raum, was in der Zeit die Erinnerung ist, die im Vergangenen die Vorzeichen der Zukunft sucht.“²⁸⁷ Gerade in diesem Kontext ist noch einmal auf die bereits zitierte Formel Benjamins von den Zügen des Kommenden zurückzukommen. Diese fällt in dem Stück Der Fischotter und Benjamins Text handelt dabei nicht nur von dem Tier Fischotter sowie von weiteren Tieren, sondern auch vom Zoologischen Garten in Berlin: „Wie man aus der Wohnung, wo einer haust, und aus dem Stadtviertel, das er bewohnt, sich ein Bild von seiner Natur und Wesensart macht, hielt ich es mit den Tieren des Zoologischen Gartens.“²⁸⁸ Wenn in Benjamins Text nun der Protagonist eine Logik, die ihm aus dem menschlichen Zusammenleben geläufig erscheint, auf die Tiere anwendet, verfährt Grünbein in den Jahren im Zoo prinzipiell ähnlich, nur dass bei ihm der Zoo gar die Heimat der Menschen ist. Benjamins Text führt die Lesenden in Der Fischotter durch den Berliner Zoo und zeigt die Stellen, die für das Kind besonders einprägsam waren. Hierbei ragt die des Fischotters besonders heraus: Es [das Portal bei der Lichtensteinbrücke; M.K.] war bei weitem das am wenigsten benutzte, führte auch in die abgestorbenste Region des Gartens. Die Allee, die den Besucher da empfing, ähnelte mit den weißen Kugeln ihrer Kandelaber einer verlassenen Promenade von Eilsen oder Bad Pyrmont, und lange trug dieser Winkel des Zoologischen Garten die Züge des Kommenden. Es war ein prophetischer Winkel. Denn wie es Pflanzen gibt, von denen man erzählt, daß sie die Kraft besitzen, in die Zukunft sehen zu lassen, so gibt es Orte, die die gleich Gabe haben. Verlassene sind es meist, auch Wipfel, die gegen Mauern stehen, Sackgassen oder Vorgärten, wo kein Mensch sich aufhält. An solchen Orten scheint es, als sei alles, was eigentlich uns bevorsteht, ein Vergangenes.²⁸⁹
Die Beschreibungen Benjamins erinnern an die Darstellung des nahezu entvölkerten Helleraus bei Grünbein. Denn dieses wird nicht nur vom Charme der Jahrhundertwende umweht, auch ist es als ein abseitiger Stadtteil Dresdens, diesem Tal der Ahnungslosen, noch weiter vom globalen Geschehen abgelegen. Aber für Grünbein ist genau dies der Ort, an dem sich ihm das Kommende offenbart, denn in der Rückschau auf die eigene Kindheit zeigen sich ja wiederholt die kosmopolitischen Dispositionen, die nach dem Untergang seines Zoos zur Wirklichkeit werden. Dies erklärt auch einmal mehr, warum Grünbeins Text die eigene Gegenwart vor allem in der Beschreibung der eigenen Vergangenheit aufsucht, die nicht einfach nur eine historische Gewordenheit zeigt, sondern
Szondi: „Benjamins Städtebilder“, S. 298 f. Benjamin: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, B-GS VII, S. 406. Benjamin: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, B-GS VII, S. 407.
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vielmehr das Bevorstehende in dem Vergangen zu beleuchten sucht. Was bei Benjamin die abgestorbenste Region des Zoos ist, wird bei Grünbein daher zu einem Zoo, der abgestorben ist, denn weder gibt es zum Handlungszeitpunkt noch die Hellerauer Künstlerkolonie, welche die Vorgeschichte der eigenen Kindheit ist, noch besteht zum Erzählzeitpunkt die staatliche Ordnung der DDR, in der das eigene Aufwachsen stattgefunden hat. In Die Wiederkehr des Flaneurs hat Benjamin geschrieben: „Die Stadt als mnemotechnischer Behelf des einsam Spazierenden, sie ruft mehr herauf als dessen Kindheit und Jugend, mehr als ihre eigene Geschichte.“²⁹⁰ Was Benjamin in seiner Rezension von Hessels Spazieren in Berlin mit Blick auf den Flaneur festhält, hat sowohl für sein eigenes Erinnerungsbuch als auch für Die Jahre im Zoo Bestand.²⁹¹ Denn beide entwickeln durch die Beschreibung des Raumes in der individuellen immer auch kollektive Erzählungen. Wie schon Benjamin will auch Grünbein „zum Bild einer Stadt“²⁹² kommen, in dem er die mnemotechnische Prämisse umformuliert, der zufolge die zu erinnernden Bilder (imagines) an vorgestellten (aber bekannten) Orten (loci) abgelegt werden müssen, um erstere besser im Gedächtnis zu behalten.²⁹³ Stattdessen wird die Stadt erst der Ort, an dem die Erinnerungen zu den Erzählinstanzen kommen. So strukturanalog dieses Verfahren sein mag, eröffnet gerade die Differenz der Orte eine wesentliche Perspektive: Wenn Benjamin von Paris aus sich an seine Kindheit in Berlin erinnert, treffen dort zwei Hauptstädte des Flaneurismus aufeinander. Nach der Exilzeit, die Benjamin nicht überlebt, wird in der geteilten Hauptstadt der von ihm beschriebene Teil zu Westberlin gehören. Elke Brüns hat in ihrer Studie Nach dem Mauerfall darauf hingewiesen, dass schon in den frühen 90er Jahren auf den „Ruf nach dem Wenderoman […] − schnell und ebenso vergeblich − derjenige nach dem Berlin-Roman“²⁹⁴ folgte. Brüns macht deutlich, wie Stadt und deren Vor-
Benjamin: „Die Wiederkehr des Flaneurs“, B-GS III, S. 194. Überdies sei daran erinnert, dass Grünbeins Erzähler durchaus auch selbst als Flaneur zu verstehen ist, der durch sein eigenes Leben und (dabei) durch die Straßen Helleraus flaniert, vgl. das Kapitel Eine Ouvertüre im Übergang. Benjamin: „Die Wiederkehr des Flaneurs“, B-GS III, S. 194. Schon Cicero beschreibt dies: „Wer diese Seite seines Geistes [die Erinnerung; M.K.] zu trainieren suche, müsse deshalb bestimmte Plätze wählen, sich die Dinge, die er im Gedächtnis zu behalten wünsche, in seiner Phantasie vorstellen und sie auf die bewußten Plätze setzen. So werde die Reihenfolge dieser Plätze die Anordnung des Stoffs bewahren, das Bild der Dinge aber die Dinge selbst bezeichnen, und wir könnten die Plätze an Stelle der Wachstafel, die Bilder statt der Buchstaben benützen.“, Cicero: De oratore / Über den Redner, S. 433. Vgl. auch: Assmann: Erinnerungsräume, S. 298. Brüns: Nach dem Mauerfall, S. 53 (Hervorheb. i. Orig.).
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stellung als Körper zusammenhängen und durch die Wiederzusammenlegung von Ost- und Westberlin eine neue Vorstellung von Ganzheit etabliert wird: In Berlin entstand eine paradoxe Situation: Mit dem Mauerfall und später mit der Vereinigung fand ein schockhafter Zusammenbruch des − durch die Mauer um so definierteren − Stadtraumes statt, wobei dem über seine vorangegangene Teilung als heterogen definiertem Stadtkörper ein neues, auf Ganzheit, Einheit und Kohärenz zielendes Körperbild aufgezwungen wurde.²⁹⁵
Brüns erkennt an, dass dieser Zwang zu einer „Entortung“²⁹⁶ des Raumes Berlins führe, sie argumentiert dies sogar mit Blick auf Grünbeins Transit Berlin und der dortigen Beschreibung der Transit-Künstler, und doch liegt hierin auch ein Grund, warum Berlin keine Rolle in Grünbeins Die Jahre im Zoo spielt. Die Stadt ist nicht einfach nur der handlungsgebende Raum, sondern zugleich auch ein Spiegel des erzählenden Ichs und Grünbeins Erinnerung zielt auf die Disparitäten zwischen Gegenwart und Vergangenheit sowie auf die Disparitäten in der Vergangenheit. Ein Vereinigung schließt der Text dabei schon strukturell aus und so erinnert sich Grünbein eben nicht an Berlin zurück, sondern von Rom²⁹⁷ und Berlin aus an Dresden und verschränkt ex post die beiden speziellen Orte der DDR: die Hauptstadt als Machtzentrum und die (medial) abgeschnittene Großstadt. Grünbein beschreibt eine andere Zeit und einen anderen Ort als Benjamin, wobei er doch immer bemüht ist auch an den von Benjamin beschriebenen Zeitraum anzuschließen. So scheint es in der Gedichtpassage Die Lehre der Photographie, als ob Grünbeins Charakterisierung von Dresden die Zeit zwischen der klassischen Moderne und der Gegenwart überspringt: „Die Stadt, in der ich aufwuchs, / War keine westliche Stadt, / Sie war keine östliche Stadt.“ (DJZ: 114) Geographisch ist so eine Beschreibung nur in zwei Zeiträumen sinnvoll: entweder in der Zeit des deutschen Kaiserreiches vor 1914 oder im Sinne einer europäischen Vereinigung nach 1989. Durch das Überspringen des kurzen 20. Jahrhunderts überbrückt der Raum den historischen Zeitverlauf. Das Gedicht selbst übergeht diesen Zeitraum nicht, widmet es sich doch vornehmlich der Zeit des Nationalsozialismus. Dresden kann nur mit einem gesamteuropäischen Blick zwischen Böhmen und Grönland verortet werden, wie es das Gedicht nahelegt (vgl.: DJZ: 114). Damit
Brüns: Nach dem Mauerfall, S. 55 f. (Hervorheb. i. Orig.) Brüns: Nach dem Mauerfall, S. 56. Benjamin grenzt explizit Rom und Paris voneinander ab, wenn erstere durch seine antiken Traditionen stärker auf den Reisenden, denn auf den Flaneur abziele. Dies passt zu der Erzählinstanz der Jahre im Zoo, die fortlaufend auf seinen Reisedrang verweist, vgl.: Benjamin: „Die Wiederkehr des Flaneurs“, B-GS III, S. 195.
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findet sich im Raum Dresden eine strukturelle Präfiguration für das spätere Leben des Erzählers. Die Zeit der DDR wird nicht einfach übersprungen, sondern vielmehr zeigt sich das Begehren nach einem kosmopolitischen Lebensentwurf auf eine zweite Weise, wie es die drastische Imagination einer Flucht verdeutlicht: Damals begann ich davon zu träumen, die Stadt zu verlassen, das Land, diese ganze, in sich kreisende,vor sich hin dämmernde Geisterbahnwelt. Erwachend stellte ich mir vor, auf einen Zug aufzuspringen und die Irrealität dieses real existierenden Sozialismus gegen irgendein Jenseits zu tauschen – gern auch für immer. (DJZ: 95)
Die Vorstellung das Land zu verlassen − eine Fluchtmöglichkeit durch Freitod wird offengelassen − ist durch das politische System, das als repressiv empfunden wird, bestimmt. Dresden bildet als Ort des Aufwachsens den ständigen Hintergrund und fungiert durch die Charakterisierung als „Objekt mehrfacher, verschiedenartiger Transformationen“²⁹⁸ eben gleichermaßen als Spiegelbild des Protagonisten, der sich ebenso verändert wie Dresden im 20. Jahrhundert. Die Geburtsstadt bietet für Grünbein den Raum der Erinnerung, den Berlin für Benjamin repräsentiert. Achim Geisenhanslüke hat den symbolischen Gehalt Dresdens aufgrund zweier Faktoren bestimmt: „Identität und Erinnerung im Rahmen einer Restauration des Vergangenen […].“²⁹⁹ Diese aufeinander bezogenen Aspekte gewinnen in dem Raum, der Die Jahre im Zoo strukturiert, vor allem für die Erzählinstanz an Bedeutung und betreffen das eigene vergangene Leben sowie die vergangene Geschichte der Stadt. Der Erzähler kann in diesem Verhältnis Identifizierungen ausloten und so Moderne – nicht zuletzt durch seinen Intertext − und DDR-Zeit durch die Repräsentation des Raumes Dresden miteinander verschränken. Die erzählerische Grundhaltung einer nachträglichen Konstruktion ist die Grundlage dieses Bildes, wie eine Rückkehr des Erzählers nach Dresden zeigt: Hier lag das Kindheits- und Jugendland. Und auch wenn ich mich weit von ihm entfernt hatte im Laufe des Lebens, wenn ich es in der Zeit intensivsten Reisens in dem Jahrzehnt nach dem Mauerfall und der Zusammenlegung der beiden Deutschlandteile – eines nachholenden, beinah hysterischen Reisens – immer länger vergessen und zuletzt auch verloren hatte, war mir jeder Anlaß zur Heimkehr lieb, und es brauchte nur Stunden, da wurde ich wieder schwach, überwältigt vom Heimatgefühl. (DJZ: 194)
Zemanek, Evi: „Vertraut(es) verfremdet. Heimat-Diskurse und Verfremdungsverfahren in der Gegenwartslyrik (Grünbein, Kling, Draesner)“, in: Broders, Simone / Gruss, Susanne / Waldow, Stephanie (Hrsg.): Phänomene der Fremdheit. Fremdheit als Phänomen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 69 – 94, hier S. 76 f. Geisenhanslüke: „Nach Dresden.“, S. 288.
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Der Erzähler erlebt aufgrund einer räumlichen und zeitlichen Distanz einen Moment der Anagnorisis, der sich im Unterschied zum Drama nicht auf eine Person, sondern auf das Gefühl bezieht, das ihn bei der Konfrontation mit dem Ort seines Aufwachsens übermannt. Die Markierung der historischen Umbruchssituation von 1989/90 bildet eine Brücke zwischen der kindlichen Erfahrungswelt und den Reisen rund um die Erde, die Grünbein nach 1989 unternimmt. Der Protagonist der Jahre im Zoo wird nicht wie Benjamin ins Exil gezwungen, sondern befindet sich auf einer anderen Flucht, der Flucht vor sich selbst, wie auch in dem oben bereits zitierten Ausschnitt deutlich wird: „Aus einem unbestimmten Drang heraus war ich seit der Befreiung immerfort auf der Flucht, aber kaum in Hellerau angekommen, sank ich sofort in Kindheitstiefen zurück.“ (DJZ: 194) In diesem melancholischen Moment zeigt sich – ohne eine Gleichsetzung der Systeme vor und nach 1989 zu implizieren −, dass sich der Wunsch zur Flucht vor dem Mauerfall in der Post-DDR-Zeit zu einer Flucht vor sich selbst entwickelt hat, dessen Leerstelle nun in Konfrontation mit der Stadt gefüllt werden soll. Andernfalls, so die Erzählinstanz, „quengelte die Erinnerung“ (DJZ: 194).
Die Ähnlichkeit des Schmetterlings Am prägnantesten gestalten sich Grünbeins Bezüge auf Benjamin im Kapitel Im Garten der Gartenstadt. Der mit Abstand längste Abschnitt der Jahre im Zoo umfasst ca. 100 Druckseiten und ist in zwölf Unterkapitel untergliedert. Jedes der Kapitel trägt als Überschrift die Bezeichnung eines Schmetterlings. Sieben der zwölf Überschriften überschneiden sich mit den in Walter Benjamins Schmetterlingsjagd erwähnten Faltern. Simonis verweist in ihrem Aufsatz auf eine Stelle,³⁰⁰ in der Grünbein die Farbe eines Zitronenfalters mit dem fragilen und filigranen Meißner Porzellan in Verbindung bringt (vgl.: DJZ: 191). Grünbein versetzt damit den Handlungsraum von Benjamins großbürgerlichem Berliner Horizont, der mit französischem Einfluss angereichert die „schimmernden Emaillen von Limoges“³⁰¹ mit seinen Schmetterlingen assoziiert, in den Dresdner Kontext. Jenseits davon lassen sich aber weitere Korrespondenzen zwischen Benjamins Prosaminiatur und Grünbeins Kapitel erkennen, die mit der von Benjamin konzipierten Ähnlichkeit zusammenhängen. In der Schmetterlingsjagd erinnert sich die Erzählinstanz an den Aufenthalt zur Sommerfrische am Potsdamer Brauhausberg. Abgesehen von der onomatopoetischen Sprachmagie, die der kindliche Protagonist angesichts der tiefen fal-
Vgl.: Simonis: „Essayistisches Schreiben“, S. 53. Benjamin: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, B-GS VII, S. 393.
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lenden Diphtongfolge des doppelten au verspürt (Brauhausberg), stehen die Schmetterlingsjagden als Kind im Fokus. Für das Sprachspiel findet sich ebenfalls ein Äquivalent in Grünbeins Kapitel. Dort assoziiert das Kind die Endsilbe Helleraus, allerdings mit dem Schmerzlaut Au (vgl.: DJZ: 168). Überdies findet sich an gleicher Stelle ein Verweis auf das Impfen, das auf das Vorwort der Berliner Kindheit rekurriert. In der Schmetterlingsjagd wendet Benjamin sein Konzept der Ähnlichkeit an und beschreibt, wie sich die Rollen von Schmetterling und Jäger zu tauschen beginnen: Es begann die alte Jägersatzung zwischen uns [dem Kind und dem Schmetterling; M.K.] zu herrschen: je mehr ich selbst in allen Fibern mich dem Tier anschmiegte, je falterhafter ich im Innern wurde, desto mehr nahm dieser Schmetterling in Tun und Lassen die Farbe menschlicher Entschließung an und endlich war es, als ob sein Fang der Preis sei, um den einzig ich meines Menschendaseins wieder habhaft werden könne.³⁰²
Benjamin, der dies in seiner eigenen Kafka-Deutung thematisierte,³⁰³ spielt mit der kindlichen Imagination von Ähnlichkeit auf Kafkas Der Jäger Gracchus an.³⁰⁴ Lemke hat die Prozesse des Ähnlich-werdens als Anverwandlungsformen beschrieben: Die Berliner Kindheit weist eine ganze Reihe von Erinnerungsbildern auf, in denen das kindliche Ich sich seiner Umwelt anverwandelt, wobei die verschiedenen Anverwandlungsformen zwischen Bannung, Aneignung und harmonischem Austausch oszillieren. Mit dem Wechsel der Anverwandlungsformen wird die Inbesitznahme der Objektwelt durch das Subjekt ebenso verhindert wie umgekehrt das Subjekt nicht einfach die Position des Objekts einnimmt, indem es seinerseits durch die Macht der Dinge unterworfen wird.³⁰⁵
In ihrer Lektüre der Schmetterlingsjagd erörtert Lemke dieses Paradigma und ordnet es in den Kontext der Identitätsgewinnung ein. Die Identifikation mit dem Objekt kann nur Identität sichern, wenn sich der Prozess der Selbstversicherung mit dem der Unterwerfung der Umwelt verbindet.³⁰⁶ Diese Konzeption erinnert an die Dialektik der Aufklärung, in der das selbstidentische Subjekt sich mittels Un-
Benjamin: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, B-GS VII, S. 392. Vgl.: Benjamin: „Franz Kafka“, B-GS II, S. 430. In einer gestrichenen Stelle, die in der von Max Brod editierten Ausgabe noch enthalten war, heißt es: „Bald oben bald unten bald rechts bald links immer in Bewegung, aus dem Jäger ist ein Schmetterling geworden.“, Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Apparatband, in: Ders.: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe hrsg. von Malcolm Pasley, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2002, S. 272. Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 123. Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 127.
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terwerfung der eigenen und der äußeren Natur seiner selbst versichert und so erst eine Identität ausbildet. Der Vorgang der entstellten Ähnlichkeit − einer Ähnlichkeit, die nicht auf sinnlicher Wahrnehmung beruht, die vielmehr hergestellt werden muss und das bezeichnete Objekte verändert − sorgt dafür, dass Benjamins Text selbst nicht in die Falle einer gelungenen Auflösung von Selbstversicherung und Beherrschung der Natur tappt, da der Jäger nicht in der Lage ist, das Tier vollständig zu unterwerfen.³⁰⁷ Die benjaminische Ähnlichkeit, die sich in dem Spiel der Kinder zeigt³⁰⁸, ist in ihrem rudimentären Zugang für den modernen Menschen vor allem ein semiotischer Prozess der Sprache und der Schrift.³⁰⁹ Die Gemeinsamkeit zwischen Ähnlichkeit und Erinnerung ist vor allem das augenblickhafte Auftreten. Das semiotische Spiel hat aber als Zugang zur Welt, wie Lemke feststellt, Einfluss auf das Subjekt, das sich diesem Spiel hingibt. Dieses produziert die Vorstellung von sich selbst nicht als Ähnlichkeitsstruktur, aber durch die Ähnlichkeiten, die sich dem Subjekt offenbaren. Grünbein greift diese Paradigma auf und zeigt, wie sich so Prozesse der Identifizierung ergeben. So lassen sich kleine Ähnlichkeiten zwischen Kindern und Schmetterlingen (vgl.: DJZ: 190) sowie speziell dem Protagonisten (vgl.: DJZ: 225 f.) finden. Die Jahre im Zoo nimmt die biologischen Entwicklungsstufen des Schmetterlings beim Wort und verwendet diese zur Beschreibung des Protagonisten. Das Kapitel Im Garten der Gartenstadt beginnt nach dem Umzug nach Hellerau und handelt vom Aufwachsen des Protagonisten bis hin zu seiner späten Pubertät. Der Text dekliniert die Logik von Raupe, Puppe und Schmetterling durch, welche der Protagonist selbst in seiner Ontogenese erlebt. Im Kontext der beginnenden Pubertät heißt es daher: „Nun waren wir in das Puppenstadium eigetreten.“ (DJZ: 249) ‚Identität‘ wird deutlich problematisiert, wenn der Protagonist über die Konfrontation mit einem entwickelten Schmetterling berichtet: In meiner inneren Unruhe bemerkte ich den schönen Wanderfalter, der dort auf einem der verschrumpelten sauren Äpfel saß, erst nach einiger Zeit. Mit den Flügeln klappend, saugte er mit seinem feinen Rüssel den Saft aus der Frucht. Da hielt die Zeit an, ich vergaß ringsumher alles und hatte nur noch Augen für ihn, den Schmetterling, diese tröstliche Erscheinung, ein Wunderwerk der Natur. Dunkelbraun-violette Flügel mit einer doppelten Borte, außen ein hellgelber Saum, innen ein Band blauer Tupfer – den Namen lernte ich später erst: Trauermantel. Und es dauerte Jahre, bis ich begriff, was Imago bedeuten sollte, das entwickelte Bild einer Art, ihr vollendeter Ausdruck nach der letzten Metamorphose. (DJZ: 231)
Vgl.: Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 128. Vgl.: Benjamin: „Lehre vom Ähnlichen / Über das mimetische Vermögen“, B-GS II, S. 205. Vgl.: Benjamin: „Lehre vom Ähnlichen / Über das mimetische Vermögen“, B-GS II, S. 208 f.
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In einem kontemplativen Moment, der das herausgehobene „Zeitmoment“³¹⁰ des Ereignisses betont, spricht der Protagonist von der Versenkung in die Schönheit der Natur, für die der Schmetterling paradigmatisch steht. Der zoologische Begriff Imago, der den entwickelten Schmetterling bezeichnet, gilt dem Erzähler als vollständige Form. Neben diesem Aspekt ruft der Begriff einen weiteren Kontext auf, der diese Aussage gleichermaßen in Frage stellt: die Psychoanalyse. Die sich einschaltende Erzählinstanz erläutert den Begriff Imago als das entwickelte Bild einer Art. Der psychoanalytische Begriff Imago hängt aufs engste mit der Frage von Identität und Identifizierung zusammen. Laplanche und Pontalis haben die Imago im Vokabular der Psychoanalyse als „unbewusste Vorstellung“³¹¹ beschrieben und auf ihre Herkunft aus dem Jung’schen Œuvre hingewiesen. Dies deckt sich mit den Anmerkungen, die in Freuds Werken zu finden sind.³¹² Lacan hat in seinem Aufsatz zum Spiegelstadium auf die Verbindung von Identifikation und Imago hingewiesen, da das Kind durch die Aufnahme eines Bildes von sich selbst – das durch die Spiegelung nicht dem Selbst entspricht, sondern Imago bleibt − eine Verwandlung durchläuft.³¹³ Die Imago – ganz gleich, ob es die Imago des Subjektes von sich selbst oder von anderen ist − stellt nicht die Realität dar, sondern vielmehr produziert sie eine unbewusste Vorstellung, an der sich das Subjekt orientiert und die es zum Maßstab nimmt und sich damit identifiziert. Es löst so die Vorstellung vollständig hergestellter Identität auf, da Identifizierungen immer nur der Versuch einer Annäherung ans anvisierte Objekt darstellen.³¹⁴ Der Kontext der Psychoanalyse ist nicht allein durch den Begriff Imago begründet, sondern im Text selbst wird – kurz nachdem über die Metamorphose von Kaulquappe zu Frosch reflektiert wurde − von einem Spiegelstadium gesprochen: „Und ich erschrak, über den Betontrog gebeugt, als ich neben dem Anschluß des Gartenschlauchs im trüben Wasser mein eigenes Spiegelbild sah.“ (DJZ: 230) Die „jubilatorische Aufnahme“³¹⁵ des Lacan’schen Kleinkindes wird zum Erschrecken des Jugendlichen im Realsozialismus. Der psychoanalytische Kontext subvertiert das durch den zoologischen Gebrauch gezeichnete Bild. Die Trias Raupe – Puppe – Schmetterling, die zunächst als perfekte Transformation wirkt, wird im Text als eine Ähnlichkeitsstruktur über die Entwicklung des Protagonisten gelegt, um so eine abgeschlossene Entwick-
Benjamin: „Lehre vom Ähnlichen / Über das mimetische Vermögen“, B-GS II, S. 206 f. Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 229. Vgl. hierzu: Freud: „Zur Dynamik der Übertragung“, StA Ergänzungsband, S. 160; sowie: Freud: „Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens“, StA V, S. 201. Vgl.: Lacan: „Das Spiegelstadium“, S. 64. Vgl.: Lacan: „Das Spiegelstadium“, S. 66 f. Lacan: „Das Spiegelstadium“, S. 64.
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lung zu einer Identität zu insinuieren. Durch die Verwendung des Begriffes Imago, der zoologisch diese Bedeutung erfüllt, psychoanalytisch aber unterläuft, löst der Text selbst die Vorstellung von zu erreichender Identität auf und begibt sich in seiner rekonstruktiven Arbeit lediglich auf die Suche nach einem abgerundeten Selbstbild. Überdies verweist die Imago auf die Imagines, die Gedächtnisbilder, die sich erst entfalten, sowie auf die Photographien von Hellerau, die das Kapitel begleiten. Eine weit größere Rolle spielt bei der Rekonstruktion das Verpuppen. Benjamin hat im Kontext der Prosaminiatur Das bucklichte Männlein festgehalten: „Das Vergessen ist der Kokon, in den die Erinnerung sich einspinnt.“³¹⁶ Nicht nur stellt dieser Satz eine explizite Verbindung zwischen den beiden Texten Benjamins − Schmetterlingsjagd und Das bucklichte Männlein − her, er gibt Aufschluss über das ästhetisch-poetologische und motivische Programm Grünbeins. Grünbein will sich ästhetisch in die klassische Moderne einschreiben, für die Benjamin und auch Kafka, auf den ich noch zurückkommen werde, paradigmatisch stehen. Gleichzeitig bietet ihm Benjamins Vorlage die Möglichkeit, die eigene Konzeption loser Identitätsentwürfe in eine Tradition zu stellen. Das Vergessen, das laut Benjamin den Kokon bildet, in dem sich die Erinnerung ihren Metamorphosen unterzieht, vollendet sich nicht in einer abgeschlossenen und endgültigen Form, der zoologischen Imago. Sie bleiben verpuppt: bei Benjamin in den magischen Sprachspielen und semiotischen Ähnlichkeitsstrukturen, auf welche die Schmetterlingsjagd mit ihren Reflexionen zum Brauhausberg zuläuft, bei Grünbein in der narrativen Grundkonstitution, die durch die Verwendung bestimmter Termini fortlaufend die Differenz von Protagonist und Erzählinstanz aufruft. Erinnerung wird durch das Vergessen präformiert und führt nur zu sich unbewusst verschiebenden Imagines, mit denen sich das Subjekt identifiziert. Der ostdeutsche Kontext gewinnt durch den Raum, in dem der Protagonist sich bewegt und den der Erzähler zu erinnern sucht, Bedeutung. Ausgelöst wird die Imago-Episode durch den Diebstahl eines Spielzeugmaschinengewehrs und einen unrechtmäßigen Verdacht, der sich gegen den Protagonisten richtet. Dabei wird von „Rowdytum […], die denkbar schlimmste Beschimpfung, die man sich von Seiten der Ordnungshüter einfangen konnte“ (DJZ: 229), berichtet und wie dies der „sozialistische[n] Moral“ (DJZ: 232) schaden würde. Der Bericht über staatliche Ordnungshüter und die Herabsetzung der Betragensnote infolge des Vorganges bindet die erinnerungstheoretischen Reflexionen wieder an den kon-
Benjamin,Walter: Berliner Chronik / Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Bd. 1: Texte, in: Ders.: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 11.2, hrsg. von Burkhardt Lindner / Nadine Werner, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 373.
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kreten Horizont der DDR-Zeit. Damit wird der gesellschaftliche Raum erkennbar, den Grünbein als stets von der (repressiven) Staatsgewalt durchwirkt präsentiert. Die Ablehnung der realsozialistischen Gesellschaft, die im Schulkontext offensichtlich wird (vgl.: DJZ: 232 f.), verdeutlicht aber, welche große Rolle ihr für die rekonstruktive Subjektkonstitution zukommt. Durch den Bezug auf Walter Benjamins Berliner Kindheit wird überdies deutlich, wie die Identifizierungen Grünbeins verlaufen und es gilt hier noch einmal drauf hinzuweisen: Die Jahre im Zoo nutzen literarische Texte, um die klassische Moderne mit der Post-DDR-Zeit verbinden und den Erinnerungsraum DDR wieder zu eröffnen. Zugleich sind alle diese Aspekte Teil einzelner Identifizierungen: Grünbeins Erzähler identifiziert sich mit seinen modernen Vorbildern wie er sich auch mit seinem vergangenen Ich identifiziert. Er identifiziert sich als Dresdner, als Ostdeutscher und zugleich als Kosmopolit. In dieser Disparität liegt aber gleichermaßen das Ziel des Textes, das eben jede Eindeutigkeit des Bezuges vermeiden will und diesen Impetus doch zugleich aus seiner eigenen Geschichte ableitet, wenn erst die eigene historische Erfahrung in der DDR und den drauffolgenden Ereignissen dieses Selbstbild erzeugt.
3.2 Von Löffeln und Akademien – Bezüge zu Franz Kafka Franz Kafka ist in Grünbeins Œuvre sowie in den Jahren im Zoo eine ebenso bedeutende intertextuelle Referenz wie Walter Benjamin. Da sogar Benjamins Kafka-Deutungen für Grünbeins produktiv gemacht werden können, potenziert sich die Vernetzung zwischen den intertextuellen Bezügen einmal mehr. Im folgenden Kapitel bespreche ich drei Texte Grünbeins. Zunächst steht der erste Abschnitt des Kapitels Der Löffel im Fokus. In Grünbeins Kapitel stehen weniger Kafkas Texte als seine Person im Mittelpunkt. Er wird dort als Teil der vergangenen bzw. als untergegangen verstandenen klassischen Moderne zum Fixpunkt. Der Rückbezug auf Kafka bietet die Möglichkeit, eine Kontinuität von Kafkas Hellerau-Besuch über die DDR-Zeit bis hin zur Gegenwart der Erzählinstanz aufzuzeigen. Das Bild, das der Erzähler durch die Verschränkung der historischen Epochen zeichnet, wird Teil von dessen Identifizierung. Im Anschluss analysiere ich den Zusammenhang zwischen Kafkas Hellerau-Besuch und seiner dortigen Begegnung mit dem in Hellerau lebenden Schriftsteller Paul Adler, die vornehmlich im Kapitel Nämlich verhandelt wird. Grünbeins Erzählung macht Adler hierbei zum Inbegriff des verdrängten Teiles der klassischen Moderne. Während Kafka in der Zeit nach 1989 (auch in Ostdeutschland) zu einem kanonischen Autor geworden ist, bleibt dieser Status Paul Adler bis heute verwehrt. Gerade anhand der Person Adlers wird deutlich, wie Die Jahre im Zoo die Zeit der DDR mit dem
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Zeitraum seit 1989 verschränken und wie der Erzähler sich selbst aus dem Bezug auf die Literatur und die Literaten der klassischen Moderne speist. Es sind Identifizierungen mit diesen Schriftstellern, die der Erzähler aber stets in seine eigene Biographie einflicht und damit Verbindungslinien zieht, die vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in das 21. Jahrhundert reichen. Er integriert so verschiedene Zeitebenen in sein Selbstbild, allerdings immer auch vor dem Horizont seines eigenen Lebens und seines Aufwachsens in der DDR. Damit markiert er die Kontinuitäten und Brüche, welche die verschiedenen historischen Zäsuren begleiten. Zuletzt steht Grünbeins explizitester Kafka-Bezug im Mittelpunkt, die Rede Kurzer Bericht an eine Akademie. Damit verschiebt sich der Fokus auf einen literarischen Text Kafkas. Durch die intertextuelle Referenz tritt in Grünbeins eigenem Text eine literarische Kritik zu Tage, in der explizit Moderne und ostdeutscher Umbruchskontext von 1989/90 verschränkt werden.
Den Löffel abgeben Das Kapitel Der Löffel (DJZ: 125−159) ist in drei nummerierte Unterkapitel eingeteilt. Gemeinsames Thema ist die Schulerfahrung in Hellerau sowie das Kennenlernen der ersten Schulfreunde. Seinen Titel bezieht das Kapitel aus dem dritten Abschnitt, in dem der Erzähler berichtet, dass einer jener Schulfreunde „den Löffel abgegeben“ (DJZ: 155) hat. Da dem Protagonist diese Redewendung unbekannt ist, entwickelt sich ausgehend von diesem Löffel eine Faszination, die durch das restliche Kapitel trägt. Diese zwar tragische, aber scheinbar unpolitische Geschichte hat aber einen eindeutigen DDR-Index: Es wird explizit thematisiert, dass der Jugendfreund U. „im weißen Mercedes“ des „Familienbesuch[s] aus Westdeutschland“ (DJZ: 156) verunglückt ist und dass die Imagination der kindlichen Erzählinstanz Bezug auf den real existierenden Sozialismus nimmt: Ich stellte mir vor, wie U. im Sarg aufgebahrt lag, und in den Händen, die über dem Bauch gefaltet waren, hielt er einen Löffel.Wo hatte ich das schon einmal gesehen? Richtig, das war in einer Filmszene, die sich mir tief eingeprägt hatte, weil ich ihren Sinn lange nicht verstand. In Sergej Eisensteins Revolutionsfilm »Panzerkreuzer Potemkin«, der zu den ersten Kinofilmen gehörte, die man uns Schülern vorgeführt hatte, lag ein toter Matrose […]. Aber wofür er hatte sterben müssen (»Für einen Löffel Suppe«), blieb mir noch viele Jahre verborgen. (DJZ: 157 f.)
Scheinbar spontan erinnert sich der Protagonist an das Revolutionsdrama Eisensteins − ein Klassiker des Filmbestandes der Sowjetunion sowie ein kanonisches Werk der klassischen Moderne –, wobei der Erzähler in einem Nebensatz die Indoktrination von Kindern in der DDR expliziert. Trotz aller filmgeschichtlicher Bedeutung kann man doch getrost festhalten, dass Panzerkreuzer Potemkin
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nicht unbedingt für eine Vorführung vor Grundschulkindern geeignet ist. In der Kontrastierung des Westautos mit dem sowjetischen Film verortet Grünbein sein kindliches Leben in der DDR zwischen einer Faszination für und einem Begehren nach der Warengesellschaft sowie dem realen Lebensbezug im ostdeutschen Kontext. Dass Panzerkreuzer Potemkin der sozialistischen Indoktrination von Kindern diente, steht wiederum in Bezug zum restlichen Kapitel und seiner extensiven Besprechung Kafkas. Denn während der Film mit seiner (scheinbar) eindeutigen Botschaft die Vorgaben zur Förderung des Sozialismus erfüllt, ist dies für die ambivalenten Texte Kafkas nicht der Fall, die in der DDR-Zeit erst durch das jeweils einzelne Individuum zu entdecken waren. Der Tod des Freundes ist eine Verlusterfahrung, die über den zeitlichen Rahmen der DDR hinwegweist. Grünbein selbst erzählt von dieser Erfahrung in einem Gespräch. Das Lebensende des Freundes steht in einer Linie mit dem Untergang der DDR: Jocks: Wie erklären Sie sich ihr transitorisches Bewußtsein? Grünbein: Offenbar sind gewisse Schocks, die jeden im Leben treffen, bei mir auf fruchtbaren Boden gefallen. Der Tod eines Klassenkameraden etwa. Das neue Jahr begann damit, daß sein Platz in der Schulbank einfach leer blieb. […] Ich weiß noch, wie mir eine Mitschülerin im Treppenhaus entgegenkam und den entscheidenden Satz sprach: »Der W. hat den Löffel abgegeben.« Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, aber der Spruch hat sich mir eingebrannt. Seltsamerweise war sie die Sitzenbleiberin der Klasse, ein Mädchen aus einem besonders desolaten Elternhaus. Mit dem Verlust einer mir nahestehenden Person fing es an. Später hat sich das Ganze gesteigert bis zum Zerfall eines ganzen Staats, auf dem alles, was ich bis dahin erlebt hatte, einschließlich der Schulzeit und des Militärdienstes beruhte.³¹⁷
Die von Grünbein im Gespräch beschriebene Episode korrespondiert offensichtlich mit der Erzählung über den verstorbenen U. aus Die Jahre im Zoo. Neben der Gemeinsamkeit der unbekannten Redewendung wird die Sitzenbleiberin im fiktionalen Text als die „faule Roswitha […], eine Sitzenbleiberin“ (DJZ: 154) beschrieben. Die alphabetische Nähe der Initialen U. und W. deutet ebenso eine lediglich geringe Verschiebung an. Die Erinnerung im Gespräch verstehe ich als Prätext, der den Bezug zum Ende der DDR deutlicher ausstellt. Der Zerfall eines ganzen Staates, eine eindeutige Referenz auf 1989/90, steht in einer Abfolge mit dem, was als Verlust einer mir nahestehenden Person bezeichnet wird. So transformiert sich der Verlust einer Person in den Verlust des Staates, denn als diesen empfindet Grünbein − trotz seiner Abneigung − den politischen Systemwechsel:
Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 56 f.
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Früher oder später, und heute immer schneller, erfahren wir uns selbst als anachronistisch. […] Es hilft nichts, sich zu verstellen […]. Erst recht nicht, wenn man, wie ich, den Untergang einer ganzen Kultur erlebt hat. Zu sehen wie eine Gesellschaft, ein Staat, ein ganzer Kosmos mit all seinen biederen Lebenswelten über Nacht verschwindet, wie eine Spukgestalt, ist schon ein heilsamer Schock.³¹⁸
Hieran zeigt sich das Verhältnis, das Grünbein selbst zu diesem Verlust aufbaut. Zwar verschwindet der ganze bekannte Kosmos, in dem sein bisheriges Leben stattgefunden hat, aber im Gegensatz zum negativen Schock, ausgelöst durch den Tod des Jugendfreundes, wird der Schock, der durch den Untergang der DDR entstanden ist, als heilsam verstanden. Die Verbindung, die sich zwischen dem Tod des Kindes und dem politischen Systemwechsel ergibt, ist zwar in dem Kapitel der Jahre im Zoo weniger ausgeprägt als in dem zitierten Gespräch, aber der Rückbezug zeigt den Einfluss der geschilderten Ereignisse auf das erzählende Subjekt. Dieses verortet sich so explizit in einem Post-DDR-Kontext, indem es um den Untergang des Staates weiß und so die Fokalisierung des erinnerten Ichs überschreitet. Es ist die zeitliche Differenz, mit der auf die erinnerten Ereignisse zurückgeblickt wird, durch die im Rückbezug eine (neue) Perspektive auf sie und auf sich selbst gewonnen werden kann.
Kafka in Hellerau Indem Grünbein Kafkas Aufenthalt in Hellerau kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit der DDR-Zeit und der Zeit des Erzählers verschränkt und dabei die verschiedenen Schichten assoziativ miteinander verbindet, funktionalisiert er zugleich das berühmte Vorbild. Das Kapitel, das seinen Ausgang von dem Schulbesuch des Protagonisten in Hellerau nimmt, wechselt immer wieder zwischen den Kindheitserlebnissen des Protagonisten und dem Bericht über Kafkas Besuch in der Gartenstadt im Juli 1914. In der Kontrastierung dieser beiden zeitlichen Ebenen wird vor allem das Verhältnis der klassischen Moderne, für die Kafka geradezu paradigmatisch steht, und der DDR-Zeit, die der Protagonist in seiner Kindheit und Jugend erlebt, aufgerufen. Schon der Einstieg in Der Löffel evoziert durch die Beschreibung der „Schlaglochstraßen“ (DJZ: 125) ein nostalgisches Szenario, in dem deutlich wird, dass die Umgebung des Protagonisten wohl schon bessere Zeiten gesehen hat: „In den Straßen hatten sich Pfützen gesammelt, die über Nacht braun geworden waren, alte Spiegel, von denen sich die Beschichtung löste.“ (DJZ: 125) Dieser erste Satz versammelt bereits zentrale Motive: Die Pfützen in den Schlaglöchern bilden sich erst durch den Verfall der Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 45.
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Straßen. Damit verweist Grünbein auf die teilweise desolate Infrastruktur der DDR, die unter anderem den Straßenbau sowie die Instandhaltung von Immobilien betraf. Die sich iterativ gebende Szenerie wird überdies explizit in einen ostdeutschen Kontext versetzt, da die Straße „zum Gelände der Russenkaserne“ (DJZ: 125) führt und der Protagonist dort sowjetische Laster beobachtet. Dass die Pfützen aber zugleich als Spiegel eine metaphorische Bedeutung erhalten, liegt einzig daran, dass so zwei weitere Aspekte verschränkt werden: Mit dem Verweis auf die „blitzblanken Schlammlöcher“ (DJZ: 125), die die Pfützen braun werden lassen, wird die marode Infrastruktur der DDR durch ein Oxymoron in die Metapher eingespeist. Die Erzählinstanz assoziiert die Schlammlöcher mit alten Spiegeln und holt einen Verweis auf die vergangene Zeit ein, in der die Spiegel noch klar waren. Die Spiegelmetaphorik erhält dadurch eine andere Konnotation: Es spiegelt sich in den braunen Pfützen nicht, was sich ‚tatsächlich‘ im aufgefangenen Regenwasser reflektiert, sondern was einst − als die Spiegel noch nicht trüb waren − zu sehen war: Während er [Kafka; M.K.] durch Hellerau spazierte, von der Sommerluft im Kreis herumgetrieben durch diese Bilderbuchsiedlung, in der es überall nach frischem Holz duftete – Holz, das hier zu Möbeln verarbeitet wurde und auf den frischen Baustellen leuchtete −, erschoß in Sarajewo ein Student Österreich-Ungarns jungen Thronfolger. Aber noch schien die Erdbebenwelle, die den Krieg auslöste, hinter den Alpen aufgefangen. Von der Tragweite des Attentats auf dem Balkan war in der Dresdner Randlage noch für einige Zeit nichts zu spüren. (DJZ: 133)
Grünbein versteht Kafkas Besuch in Hellerau als das letzte Ereignis vor dem Ende einer Ära. Die suggerierte Synchronität zwischen dem Attentat auf Franz Ferdinand und dem Aufenthalt Kafkas geht allerdings nicht auf: Zwar geschieht beides (angeblich) zeitgleich, die Folgen des Attentates werden bei Kafka erst später ihr volles Ausmaß entfalten. Kafkas Besuch wird als der Versuch eines letzten Widerstandes gegen die Katastrophe des Krieges stilisiert, der zum Scheitern verurteilt ist. Da der Spiegel Teil des Mobiliars einer Wohnung ist, sind die erwähnten Möbel – die Anschaffung für die niemals realisierte gemeinsame Wohnung mit Felice Bauer werden von Grünbein als Besuchsgrund angegeben (vgl.: DJZ: 132) − das Bindeglied zwischen den zeitlichen Ebenen des Kafka’schen Besuches und der DDR, die in den spiegelnden Schlaglöchern symbolisiert wird. In Kafkas Briefen findet sich zwar ein Hinweis auf die Beschäftigung mit den Deutschen Werkstätten in Hellerau, aber weder Briefe noch Tagebücher erklären den Grund des Besuches. In dem Brief vom 28. Mai 1914 an Felice Bauer heißt es dazu nur: In den nächsten Tagen wirst Du von 2 Seiten scheinbar auf meine Anregung hin wegen Möbelkaufes angegangen werden. Einmal von den Deutschen Werkstätten. Sie schrieben mir
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öfters, endlich mußte ich ihnen antworten. Im übrigen halte ich ihre Möbel wirklich für die besten, ich meine für die anständigsten, einfachsten.³¹⁹
Kafka findet lobende Worte für die Möbel, die in Hellerau hergestellt werden, einen Grund für den Aufenthalt einen Monat später liefert er nicht. In den Tagebüchern berichtet Kafka unprätentiös über diesen Aufenthalt und vermittelt lediglich einen etwas gehetzten Eindruck: Hellerau Leipzig mit Pick. Ich habe mich schrecklich aufgeführt. Konnte nicht fragen, nicht antworten, nicht mich bewegen, knapp noch in die Augen sehn. Mann der für den Flottenverein wirbt, das dicke Wurstessende Paar, Thomas bei dem wir wohnen, Prescher, der uns hinführt, Frau Thomas, Hegner, Fantl und Frau, Adler, Frau und Kind Anneliese, Frau Dr. Kraus, Frl. Pollack, die Schwester der Frau Fantl, Katz, Mendelsohn (Kind des Bruders, Alpinum, Engerlinge, Fichtennadelbad) Waldschenke, »Natura« Wolff, Haas, Vorlesung von Narciss im Garten von Adler, Besichtigung des Dalcrozehauses, Abend in der Waldschenke – Bugra – Schrecken über Schrecken. Mißlungenes: Nichtfinden der »Natura«, Ablaufen der Struvestraße; falsche Elektrische nach Hellerau, kein Zimmer in der Waldschenke; Vergessen, daß ich mich von Erna dort antelephonieren lassen will daher Umkehr; Fantl nicht mehr getroffen, Dalcroze in Genf; nächsten Morgen zu spät in die Waldschenke gekommen (F. hat nutzlos telephoniert); […].³²⁰
Dies notiert Kafka unter dem Datum 30. Juni 1914 im siebten Oktavheft. Auf der Textebene zeigen sich einige Abweichungen zwischen der Anverwandlung durch Grünbein, denn dieser verschiebt den Aufenthalt Kafkas in Hellerau um zwei Tage. Damit ist die Gleichzeitigkeit mit dem Attentat auf Franz Ferdinand hergestellt. Diese oben bereits thematisierte Synchronisierung ist aber eine Konstruktion des Erzählers und erzählt in seiner Funktion vom Ende einer Epoche; nicht nur die letzten Tage, die als Ruhe vor dem Sturm fungieren, sondern eine letzte Bastion, die noch im drohenden Unheil besteht, soll figuriert werden. Der knappe Bericht Kafkas wird bei Grünbein erzählerisch vergrößert. Obgleich Die Jahre im Zoo davon spricht, dass Kafkas Aufenthalt „kaum mehr als ein sinnloses Hin- und Hereilen zwischen verpaßten Terminen und Telefonaten“ (DJZ: 127) war, hält dies die Erzählinstanz nicht davon ab, die Geschichte auszuschmücken, so etwa bei der ersten Erwähnung Paul Adlers. Das Satzfragment Vorlesung von Narciss, im Garten von Adler wird in der Grünbein’schen Version zu einer Schilderung der Innerlichkeit Kafkas und der Bewertung Paul Adlers:
Kafka, Franz: Briefe an Felice Bauer und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2015, S. 654. Kafka, Franz: Tagebücher. Bd. 2: 1912−1914. In der Fassung der Handschrift, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 10, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2008, S. 163 f.
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Etwas Ablenkung fand er im Garten des Schriftstellers Paul Adler. Mitten im Grünen hatte man da beisammengesessen und in kleiner Runde einer Vorlesung gelauscht, auf praktischen Klappstühlen, Fabrikaten aus den nahe gelegenen Möbelwerkstätten. Sie trösteten ihn, in ihrer soliden Gestaltung, und er hatte sogleich erwogen, sie für sein künftiges Eheheim zu bestellen. […] Der Dichter Adler […] hatte ihn an diesem Nachmittag mit der Selbstverständlichkeit seines Schriftstellerseins überwältigt. Ganz schwindlig geworden war ihm in seiner Nähe, die ihn, wie jedesmal, mit Gewissensbissen erfüllte. (DJZ: 128)
Die Erzählinstanz imaginiert eine detaillierte Beschreibung, die sich in Kafkas Tagebüchern nicht findet. Im nahem Umfeld wird ein Eintrag Kafkas aus dessen Tagebuch zitiert: »Ich kam einmal im Sommer gegen Abend in ein Dorf, in dem ich noch nie gewesen war«, trug Kafka kurz darauf in sein Tagebuch ein. »Ich dachte, daß es gut wäre, hier zu übernachten, wenn ich einen Gasthof fände.« Von hier aus war er, gemeinsam mit Otto Pick, dem Prager Schriftstellerfreund, zu Spaziergängen aufgebrochen. (DJZ: 131 f.)
Die Komposition von Zitat und Kommentar legt nahe, dass diese Eintragung ins Umfeld des Hellerauer Besuches gehört, was jedoch nicht der Fall ist. Obgleich Kafka diesen Eintrag nur wenige Tage davor niederschreibt, notiert er diese Sätze am 21. Juni 1914 ins neunte Oktavheft.³²¹ Auch ist dieser Eintrag Teil des Fragments Verlockung im Dorf, wie an der Überschrift im Tagebuch zu sehen ist.³²² Der Erzähler verwendet Material Kafkas, das nicht zum Hellerau-Aufenthalt gehört, um die erfolglose Suche nach einem Zimmer in der Waldschenke auszustaffieren. Die beschriebene Qualität von Intimität und geistigem Austausch zwischen den Teilnehmenden hat den funktionalisierenden Zweck, ein Bild einer vergangenen Epoche zu entwerfen, in der ein solcher Austausch möglich war. Unerwähnt, aber als stets präsentes Negativ, arbeitet die DDR als historische Gegenwart des Protagonisten gegen diese intellektuelle Idealzeit. Die zeitlichen Ebenen sind einander dennoch in Bruch und Kontinuität verpflichtet, wie sich an der Umbenennung von Straßennamen zeigt: „Franz Kafka aber war dann doch privat untergekommen, im Haus eines Oberlehrers auf dem Breiten Weg, der bergan führenden Hauptader des Ortes, die später, als das alles wie nie gewesen war, den Namen Karl-Liebknecht-Straße erhielt.“ (DJZ: 131; Hervorbebung i. Original) Die (Nicht‐)Kursivierung der Straßennamen zeigt, dass deren Erwähnung keinesfalls zufällig ist. Die Umbenennung in Karl-LiebknechtStraße markiert einen Kulminationspunkt im politischen System, das die Moderne
Vgl.: Kafka, Franz: Tagebücher. Bd. 3: 1914−1923. In der Fassung der Handschrift, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 11, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2008, S. 13. Vgl.: Kafka: Tagebücher. Bd. 3, S. 12.
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mit Figuren wie Kafka ausstreicht und das der Erzähler aus vollem Herzen ablehnt.³²³ So wird der ‚wirkliche‘ Name kursiviert, während der ‚falsche‘ unmarkiert bleibt. Dies ist aber eine Einfügung, die aus der Gegenwart des Erzählers stammt, denn an der Unkenntnis des jugendlichen Protagonisten, der in seiner „historischen Desorientierung“ Kafka „für einen tschechischen Dissidenten“ (DJZ: 127) hält, wird auch die Anstrengung jenes Staates, der sich selbst als ein „Neuland“ (DJZ: 126) versteht, deutlich. Eine frühere Stelle in Die Jahre im Zoo thematisiert die systematische Verdrängung von Kafka in der DDR noch deutlicher. Auf einer Reise mit einem Freund nach Prag will der Protagonist als junger Erwachsener das Grab des Schriftstellers besuchen: Einmal war der Bahnhof Ausgangspunkt für eine Pilgerreise zu Franz Kafkas Grab. […] Damals war Kafka in seiner Hemisphäre nur ein Gerücht, eine Heiligenlegende für Eingeweihte. Er war der gemeinsame literarische Nenner aller Systemflüchtigen und oppositionellen Träumer, die Bilderbuchfigur des klugen, überempfindsamen Juden. Im Osten war sein Name tabu, im Deutschunterricht kam er nicht vor. [… E]s gab keine Wegweiser zu den Erinnerungsorten des Abseitigen. (DJZ: 70 f.)
Kafka, ausgeschlossen aus der offiziellen (Schul‐)Bildung und dem staatlichen Gedenken, wird zum Identifizierungspunkt für jene, die – wie der Protagonist – von ihm wissen. Damit erhält Kafka eine narrative Funktion: Er vermittelt narrativ zwischen der Zeit der „pädagogischen Utopie der Gartenstadt […] am Jahrhundertbeginn“ (DJZ: 126) und der Welt des Protagonisten in der DDR. Die Utopie endet mit dem Ersten Weltkrieg, „womit das Zeitalter der Gartenstädte wie das jeder anderen Insel der Seligen in Europa für immer zu Ende geht.“ (DJZ: 129). In der DDR vergessen, gewinnt er in der Post-DDR-Erzählung entscheidende Bedeutung: In dem Wechsel der Zeitebenen zwischen Kafka und der Schulzeit in der DDR versucht der Text, Moderne und DDR-Zeit neu in Beziehung zu setzen. In dieses Paradigma ist die Beschreibung der Schule Grünbeins eingebettet: Die Schule war eine der landesüblichen polytechnischen Lehranstalten, kein kantiger Neubau, auferstanden aus Trümmerzeiten, aber auch keines der schmucken Werkbundhäuser, für die Hellerau weithin berühmt war. Vom Geist der Reformpädagogik, der einmal dort geherrscht hatte, war nichts geblieben als eine Leere, gefüllt mit Kinderstimmen. Sie allein erinnerten noch an die pädagogische Utopie der Gartenstadt. (DJZ: 125 f.)
In diesem Zitat verschränken sich der Bezug auf die DDR und die Gartenstadt in der Moderne. Der Verweis auf die Nationalhymne der DDR wird spezifisch auf
Der Text ignoriert hierbei, dass Karl Liebknecht wiederum selbst Teil einer solchen Moderne ist und verweist einzig auf dessen Funktionalisierung in realsozialistischem Kontext.
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Dresden umgemünzt. Es ist nicht von einem Auferstehen aus Ruinen, sondern aus Trümmern die Rede. Die utopische Vorausdeutung der ersten Zeilen des BecherTextes („Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“) wird gewendet, denn während bei einer Ruine noch Reste des Zerstörten stehen, die wiederaufgebaut werden können, verweisen Trümmer auf etwas völlig Zerstörtes, das nur durch etwas anderes ersetzt werden kann. Dies stimmt mit der Konzeption des Textes überein, denn dieser wendet sich nicht der Zukunft zu, sondern hängt den Erinnerungen an die vergangene Pädagogik der Moderne nach, die in der DDR durch ein realsozialistisches Paradigma substituiert wurde. Es misslingt die Zäsur, die spätestens durch den Nationalsozialismus, wenn nicht bereits durch den Ersten Weltkrieg eintrat, durch etwas Neues zu füllen: „Was hätte sie [die Formel der vergangenen Welt; M. K.] einem auch sagen können, jetzt, da alles vorbei war, unrettbar versunken in diesem dürftigen Schmalland, für das drei Buchstaben als Bezeichnung genügten, täglich eingehämmert wie Nägel in ein halbiertes Brett: DDR?“ (DJZ: 126) Die Möbel, die Kafka einst in der Gartenstadt gesucht hat, sind nur noch ein deformiertes und schlecht mit Nägeln bearbeitetes Holz. Damit ist es der Protagonist, der die Leere in diesem „Neuland“ (DJZ: 126) selbst füllen muss und dessen Aufgabe es ist, die „Legenden aus der Welt von Gestern“ (126) − in diesem Fall der ‚versunkene‘ Kafka − zu erkunden. Eine Aufgabe, die nicht vom jugendlichen Protagonisten, sondern erst von der Erzählinstanz erfüllt werden kann. Grünbeins Erinnerungen an seine Kindheit gewinnen durch Kafka ihre Bedeutung und werden als Post-DDR-Erinnerung verstehbar. Das zeigt die Fortführung dieses Kapitels. Grünbein geht relativ kursorisch über die weitere Geschichte Helleraus hinweg, wobei Kafka wiederholt als Referenz fungiert, auf die zurückgegriffen wird. Kafka, der Protagonist und der Erzähler begegnen sich in einer symbiotischen Weise,³²⁴ da der Rückgriff auf Kafka dazu führt, dass die historischen Erfahrungen die persönlichen bereichern. Die Zeit des Protagonisten und die der Erzählinstanz wird mit „jenem letzten Sommer der Belle Epoque, nur wenige Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges“ (DJZ: 134) in Verbindung gebracht, um den jeweiligen Status quo als Ergebnis einer Umbruchszeit darzustellen:
Im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks spricht Grünbein über die Nähe zu Kafka und deutet an, dass es eine Verbindung zwischen beiden gibt, die ein besonderes Potential besitzt: „Ein Autor wie Kafka zum Beispiel, obgleich schon lange tot, ist mir auf eine physische Weise nah wie nur wenig Lebende. Er ist gegenwärtiger als die meisten Zeitgenossen, mit denen ich spreche, und ich weiß, das geht nicht nur mir so.“, Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 31 f.
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Wir später Geborenen wußten von diesem Aufbruch [der Künstlerkolonie Hellerau; M.K.] nichts mehr.Wir waren in eine Zeit der trügerischen Windstille geraten.Viel war nicht los mit uns und unserer Kindheit. […] Hätte uns jemand gesagt: Denkt nur, ihr seid nun mitten im Kalten Krieg – seine Rede wäre uns absurd erschienen. Man sprach von kaltem Kaffee, wenn etwas abgestanden war, und Kalter Hund war der Ausdruck für eine Kekstorte, mit Kakaocreme bestrichen, die man nicht zu backen brauchte, gerade das Richtige für Kindergeburtstage. (DJZ: 142)
Die Selbstbetitelung des Erzählers als später Geborener ist nicht nur durch das Präteritum eine Rückblickende. Die Attribuierungen von kalt mit weiteren Substantiven, die dem Protagonisten passender als der Kalte Krieg erscheinen, entfalten ihr komisches Potential erst aus einer Perspektive nach 1989, in der durch zeitliche Distanz die damit verbundene Gefahr ins Lächerliche gezogen werden kann. Aus dieser Perspektive gewinnen Moderne und DDR-Zeit einen anderen Vergleichswert: Sie werden beide zu Umbruchszeiten. Doch während die vielversprechende Moderne in einen desillusionierenden Krieg umschlägt, endet die desillusionierende DDR nicht in einem Krieg, sondern beendet vielmehr den (Kalten) Krieg. Der Blick der Erzählinstanz auf sein früheres Ich rührt daher weniger an die Identifizierungen des kindlichen Protagonisten, als dass sie Aussagen über das Sprechersubjekt macht. Dieser Blick ist unter den Bedingungen nach 1989 möglich: dem politischen Systemwechsels und den damit einhergehenden Erfahrungen. Die scheinbare Distanzierung zur eigenen tristen Kindheit, in der nichts los war, ist − wie die scheinbare Windstille − eben nur trügerisch. Der Erzähler versucht sich in der Verbindung von Moderne und DDR zu positionieren. Kafka wird zu einem Scharnier, das zwischen seinem Hellerauer Besuch, über die ersten Beschäftigungen des jungen Grünbeins bis zu seinen gegenwärtigen essayistischen Abhandlungen vermittelt. Die zu Beginn dieses Kapitels erwähnte nostalgische Beschreibungsweise erfährt eine Doppelung: Der Erzähler inszeniert die vergangene Moderne nostalgisch, wie es sich anhand der zur Tagebucheintragung Kafkas hinzugefügten Passagen zeigt. Überdies betrachtet die Erzählinstanz die eigene Kindheit nostalgisch als eine vergangene Zeit. In der Amalgamierung dieser beiden vergangenen Episoden – der selbst erlebten Kindheit und einer imaginierten Moderne − bildet sich eine Perspektive aus. Sie spricht aus einer Zeit, die die Kindheit im Rücken hat, wie in den oben bereits zitierten letzten Sätzen des Unterkapitels deutlich wird: Dieses Schulgebäude werde ich nie vergessen. Ich trage es mit mir herum wie den Grundriß zum Eingang in mein persönliches Labyrinth.Wir begruben unsere Vormittage dort und auch manche der Nachmittage in jener kostbaren Zeit, da man sechs Jahre alt war, dann sieben, dann acht und so weiter. Mit sechzehn hatte man es geschafft. Dann begann die Berufsausbildung, man wurde Facharbeiter für »Zerspanung«, Maurer, Elektromonteur oder Konditor. Einige konnten etwas Zeit herausschinden, indem sie einen Platz auf einer der be-
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gehrten Oberschulen ergatterten, die im Stadtzentrum lagen und nur mit langen Straßenbahnfahrten zu erreichen waren. Nun war man endlich zu einem Dresdner geworden – einem, der all die Jahrhunderte zuvor in einem verschlafenen Vorort vertrödelt hatte. (DJZ: 143 f.)
Zwar wird eine Nachwende-Erfahrung in diesem Kapitel nicht explizit angesprochen³²⁵, jedoch verweisen die Labyrinth- und Archäologie-Metaphoriken, wie ich schon gezeigt habe, drauf, dass der Erzähler aus einer zeitlichen Distanz spricht. Durch die zahlreichen weiteren Hinweise im Text³²⁶ ist deutlich, dass die Sprecherposition nach dem politischen Systemwechsel verortet werden muss. Dadurch referiert die zeitliche Entfernung auch auf die eigene Krisen- und Umbruchserfahrung. Als Rahmung wird das inszeniert, was in der historischen Forschung als kurzes 20. Jahrhundert bekannt ist.³²⁷ Aus dem Bewusstsein über den gesellschaftlichen Umbruch (sowohl dem von 1914 als auch erst recht dem von 1989) und den Bezug auf die literarische Tradition sowie nicht zuletzt durch den autobiographischen Hintergrund wird das Selbstbild des Schreibenden gespeist und zusammengesetzt. Der Erzähler verbindet die Zeit vor 1914 mit der Zeit vor 1989 und zugleich mit der Zeit nach 1989 und nur in der Beschreibung des eigenen Lebens, das von den gesellschaftlichen Umständen der DDR und des politischen Systemwechsels geprägt ist, kann er sich selbst konstituieren. Grünbeins Text wird dieses Verfahren und die Implikationen, die sich für das erzählende Selbst ergeben, an noch einer weiteren Figur der Moderne durchexerzieren und dabei noch einmal die Bedeutung für die Schreibgegenwart hervorheben: Paul Adler.
Verdrängungen der Moderne – Zwischen Kafka und Adler Das Kapitel Nämlich wendet sich intensiv der Person Paul Adler zu. Der Erzähler vergleicht Kafka und Adler. Der Unterschied zwischen den beiden Autoren zeigt sich in der Verdrängung bzw. Würdigung von Autor sowie Werk in und nach der Moderne. Das Kapitel trägt den Namen einer Prosaerzählung Adlers. Diese ist für
Fabian Lampart beschreibt für Grünbeins Lyrik eine äquivalente Position des lyrischen Ichs, wie sie für die Erzählinstanz von Die Jahre im Zoo zu konstatieren ist: „Immer ist die DDR-Wirklichkeit und die Wende-Zeit Hintergrund der Erfahrung des lyrischen Subjekts, selten unmittelbares Thema der Gedichte.“, Lampart: „Tropismen an den Rändern“, S. 140. Vgl. hierzu vor allem die aufgeführten Hinweise in dem Kapitel Grünbeins Essayismus und seine Nichtidentität. So auch der Titel einer zentralen Studie Eric Hobsbawms (wobei dieser das kurze 20. Jahrhundert 1991 mit dem Untergang der Sowjetunion enden lässt), vgl.: Hobsbawm, Eric J.: The Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914−1991, London: Abacus 1995, insbes. S. 5.
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den Erzähler von unschätzbarer literarischer Qualität und so konstatiert er im Hinblick auf Adlers Nämlich: Es war das gewaltigste Ding, das mir einmal im deutschen Sprachraum begegnen sollte, lange nachdem ich Kafkas Erzählungen, Carl Einsteins Bebuquin und Gottfried Benns Gehirne gelesen hatte. Keiner von uns unkundigen Büchernarren hat es damals gekannt, das kleine Schwarze Quadrat deutscher Prosa, und so wußten wir auch nichts von seinem Verfasser und von dem, was sich damals in unserer Nachbarschaft abgespielt hatte. (DJZ: 309)
Die Erzählinstanz formuliert an dieser Stelle die Anziehung zum ehemals unbekannten Adler und macht die Distanz zum Protagonisten deutlich. Geprägt von tiefer Bewunderung, ferner aber von langer Unkenntnis des Autors, der mit dem Ort des Aufwachsens so eng verbunden ist, misst sich Adler aus der Perspektive des Protagonisten mit den Größen der literarischen Moderne, die für den Erzähler (und den Autor) Bezugspunkte des literarischen Schreibens sind. Das Wort ›Nämlich‹³²⁸ durchzieht Grünbeins Kapitel. Damit spielt er auf eine Wortdichotomie aus Adlers gleichnamigen Prosatext Nämlich an: Adler verwendet in seinem Text die beiden Worte ›Nämlich‹ und ›Avorun‹ (bzw. die Ersetzungen Ahorun/ Ahorn). Diese beiden Worte werden im literarischen Text immer mehr zu Begriffen, die jeweils eine der unterschiedlichen Seiten des dissoziierten Erzählsubjektes bezeichnen. Ohne allzu tief in die Lektüre einsteigen zu wollen, sei auf die Publikation von Annette Teufel verwiesen, die Grünbein selbst bei der Konzeption der Jahre im Zoo zu Hilfe gezogen hat, wie in der Danksagung vermerkt ist (vgl.: DJZ: 400). Teufels Deutung der beiden in Adlers Text binär gegenüberstehenden Begriffe ›Nämlich‹ und ›Avorun‹ zeigt, wie eng diese mit der Frage von Selbstentwürfen zusammenhängen. Teufel leitet die Bedeutung von ›Nämlich‹ etymologisch her und beschreibt es als eine „Verleiblichung des Namens“³²⁹. ›Nämlich‹ gewinnt für Adlers Narration den Zweck einer „Rettung des Scheibenden durch den Schreibakt […], mit dessen Hilfe er seine Identität – seinen Namen zurückzuerlangen hofft.“³³⁰ Da Adlers Nämlich ebenso wie Die Jahre im Zoo eine autodiegetische Erzählung ist, stellt sich die Frage, wie und ob Identität durch das Schreiben und Erzählen zu erlangen sei. Allerdings ist Adlers Erzähler, wie der sprechende Name Paul Sauler andeutet, ein „gespaltene[s] Subjekt“³³¹, der − verkörpert durch die textbestimmende Dichotomie von ›Nämlich‹ und ›Avorun‹ −
Wenn von Adlers Text Nämlich die Rede ist, werde ich diesen (wie alle Titel in dieser Arbeit) kursivieren. Der Übersicht halber setze ich das Wort ›Nämlich‹ in einfache Guillemets. Teufel, Annette: Der ›un-verständliche‹ Prophet. Paul Adler, ein deutsch-jüdischer Dichter, Dresden: Thelem 2014, S. 281. Teufel: Der ›un-verständliche‹ Prophet, S. 281. Teufel: Der ›un-verständliche‹ Prophet, S. 263.
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keine Ganzheit herstellen kann: „Verkörpert dieser [Nämlich] die Rettung, stehen jene [Ahorun, Ahorn, Avorun; M.K.] für das Verlorene ein;“³³² Adlers Protagonist ist zerrissen. Apodiktisch erklärt er: „Ich bin kein Paulus. Und auch kein Saulus.“³³³ Dies bildet den Hintergrund des literarischen Intertextes, vor dem der Erzähler der Jahre im Zoo über die Verdrängung Adlers und dessen Werk reflektiert. In der Zersplitterung des Adler’schen Textes – ein dicht gewebtes Prosanetz aus einzelnen abgesetzten Absätzen, die nur lose miteinander verbunden sind und wenig kohärente Handlung zeigen − setzt Grünbeins Erzähler sich mit dieser Moderne in Verbindung. In diesem Kontext wird erneut die Frage von ostdeutscher Sozialisierung und dem Verhältnis zur Literatur der klassischen Moderne aufgerufen. Bereits der Beginn des Kapitels Nämlich thematisiert dies. Die Erzählinstanz berichtet über den morgendlichen Schulweg des Protagonisten, wobei die Referenz auf Literatur eine Spanne vom Beginn des Jahrhunderts bis in die DDR-Zeit eröffnet: Und dann entspann sich ein Disput über den Georg Trakl, den Rainer Maria Rilke, den Georg Heym. So wichtig waren uns diese Namen, daß wir sie immer nur vollständig aussprachen. Kafka, Dostojewski und Rimbaud kursierten, das war das kleine Einmaleins der modernen Literatur. Und eines Tages ging es um Masse und Macht. Wir summten die Lieder der Drahtharfe mit heimlicher Freude, erschauerten vor der Sonnenfinsternis Arthur Koestlers oder erregten uns über eine Fiktion auf das Jahr 1984, weil sie so lange schon Realität war, zumindest für uns, viele Jahre im voraus beschrieben – nämlich unsere Realität. […] Eingeschlagen in Zeitungspapier, als Päckchen mit der Aufschrift Neues Deutschland oder Wochenpost getarnt, gingen diese Ketzerschriften von Hand zu Hand. Aber etwas fehlte immer, und man ahnte es schon und kam sich sehr unterernährt vor und wie hinterm Mond. […] Nämlich, da war einer, der hieß Paul Adler, und den hatte man damals noch nicht gelesen und las ihn auch späterhin nicht. (DJZ: 299 f.)
Das Spektrum der von der offiziellen Kulturpolitik ausgeschlossenen Literatur reicht von Rilke bis zu Wolf Biermanns Drahtharfe. All diese Literatur kann nur unter der Hand zirkulieren. Adler ist wiederum von den subversiven Praktiken der literarisch gebildeten Abiturienten ausgeschlossen. Das Wissen um ihn ist vielmehr verschwunden und so bleibt es, laut Aussage des Erzählers, auch. Grünbeins Kapitel ist von jenem Wörtchen ›Nämlich‹ durchzogen, das in Adlers Prosa die Gewinnung von Identität symbolisiert. Überdies wechselt das Kapitel immer wieder seinen Gegenstand, berichtet von Kafka, von Adler und dem Ende der
Teufel: Der ›un-verständliche‹ Prophet, S. 283. Adler, Paul: „Nämlich“, in: Ders.: Absolute Prosa. Elohim, Nämlich, Die Zauberflöte und andere Texte, hrsg. von Claus Zittel, Düsseldorf: C.W. Leske 2018, S. 89 – 154, hier S. 106.
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Schulzeit des Protagonisten. Durch diese narrative Wechselstruktur werden die verschiedenen Gegenstände miteinander in Beziehung gebracht. Besonders bemerkenswert ist die Gegenüberstellung von Adler und Kafka. Wie im Kapitel Der Löffel nimmt der Tagebucheintrag des Kafka’schen HellerauBesuches eine zentrale Rolle ein. Ausgehend von „Hegner, Fantl und Frau, Adler, Frau und Kind Anneliese […], Vorlesung von Narciss, im Garten von Adler“³³⁴ entfaltet der Erzähler eine Geschichte der Beziehung der beiden Autoren: »Hegner, Fantl und Frau, Adler, Frau und Kind Anneliese«, schrieb Kafka in sein Tagebuch, in einer atemlosen Aufzählung der Protagonisten, die sein Gehetztsein, aber auch die Überfülle der Begegnungen, das Aufwallen einer plötzlichen Sympathie mit diesen Phäaken auf ihrer Gartenstadtinsel notdürftig verschlüsselten. (DJZ: 301)
Der Erzähler imaginiert ein Geschehen rund um Kafkas Hellerau-Besuch, das sich weder in seinem Tagebuch noch in anderen persönlichen Schriften findet. Es finden sich weitere literarische Überformungen: Auch die Datierung von literarischen Titeln Kafkas wird relativ lax gehandhabt. So behauptet der Erzähler, Kafka hätte Die städtische Welt kurz vor der Begegnung mit Adler (Juni 1914) geschrieben, obwohl der zugehörige Tagebucheintrag den 21. Februar 1911 nennt.³³⁵ Das Leben sowie das Nachleben von Kafka und Adler sollen dadurch in eine Relation gesetzt werden. Während geschildert wird, dass Adlers Leben für Kafka sowohl bewundernswert als auch erstrebenswert war (vgl.: DJZ: 300−304), wird mit dem Ersten Weltkrieg ein Ereignis Realität, das als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts beschrieben wird: Was aber keiner der Anwesenden damals ahnte: Mit Glücksmomenten wie diesen würde es bald für immer vorbei sein. Nur wenige Wochen trennten die Szene im Garten am Tännichtweg noch vom Ausbruch des Krieges, der einmal alles verändern sollte – nicht nur den grünen Künstlersalon Hellerau, sondern ganz Europa, jede Gesellschaft, das Zusammenleben der Völker, ihre Umgangsformen und Hierarchien, Religion, Politik und Kunst, jedes einzelne Menschenleben, einfach alles. (DJZ: 303)
Die historische Zäsur, ausgelöst durch die Erfahrung der Selbstzerstörung Europas, verschiebt das Nachleben der Autoren. Das Verhältnis dreht sich: Kafka wird nach seinem Tod zu einem der weltweit bekanntesten Autoren, dem spätestens nach Ende des Ostblocks auch dort volle Anerkennung widerfährt. Adler und seine Werke verschwinden vollkommen aus dem kollektiven Gedächtnis:
Kafka: Tagebücher. Bd. 2, S. 163. Vgl.: Kafka, Franz: Tagebücher. Bd. 1: 1909−1912. In der Fassung der Handschrift, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2008, S. 117– 124.
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Gründlicher als sein Hellerauer Besucher Kafka, der ausgerechnet seinen größten Verehrer mit der Vernichtung seines Nachlasses betraute, hatte er es darauf angelegt, wirklich der Verschollene zu werden. Nicht nur er selbst verschwand, auch seine Bücher und Manuskripte waren bald unauffindbar. Nicht einmal der Name hielt sich noch lange in der Ortschronik von Hellerau. (DJZ: 326 f.)
Die (Selbst‐)Tilgung (beschrieben in Rekurs auf das Romanfragment Kafkas) führt dazu, dass Adler im Unterschied zu Kafka nicht erst von der DDR ausgestrichen werden muss. Adler kursiert, da sein literarisches Erbe überhaupt nicht beachtet wurde, nicht einmal, wie es auf andere Autoren zutrifft, als subversives Gut.³³⁶ Adlers Absenz im literarischen Kanon ist laut Erzähler im historischen Kontext des Nationalsozialismus zu suchen: Paul Adler aber kam seinem Schicksal [der Vernichtung der europäischen Juden; M.K.] zuvor, indem er die Spur seines Erdendasein verwischte. Keinen Nachdruck seiner Bücher wünschte er mehr. Schon dem Versuch, sein Porträt zu zeichnen, hatte er, selbst Freunden gegenüber, entschieden widerstanden. (DJZ: 323)
Adler wird zum vollkommen Vergessenen: Verdrängt von der Moderne selbst, in der DDR-Zeit vergessen, wird er ebenso im wiedervereinigten Deutschland nicht beachtet. Der Erzähler präsentiert die Geschichte Adlers im Hinblick auf diese Kontinuität und verhindert so eine Idealisierung von historischer Moderne und Post-DDR-Zeit. Er bezieht sich vielmehr auf eine literarische Qualität der klassischen Moderne, für die Adler paradigmatisch³³⁷ steht: Paul Adler aber war Jude, und er schrieb eine helle Prosa, die bei aller Helligkeit doch rätselvoll war und elliptisch. Seine Bücher, in schneller Folge gedruckt im Verlag Jakob Hegner, dem des Freundes und Liebhabers der Buchstaben, der buchstäblich um die Ecke wohnte. […] »Ich bin ein Mensch, dem einiges unklar ist, nicht bloß dort draußen in dem Lauf der Welt, wie man sagt«, so beginnt das zweite der Bücher: Nämlich. (DJZ: 309)
Der Anfangssatz von Adlers Nämlich, den die Erzählinstanz als Beleg zitiert, wird für die vorliegende Frage von Identifizierung durch die Ergänzung der Folgesätze allerdings noch einmal relevanter. Denn die epistemologische Unsicherheit, die Paul Sauler ausdrückt, hat einen besonderen Fokus: „Vielmehr bin ich über mich selbst in einem bestimmten Punkte unklar. Etwas ist mit verloren gegangen, ich
Das Kapitel nennt verschieden Autoren − auch von unterschiedlichem literarischen Rang −, die auf diese Weise zirkulieren, so z. B. auch Karl May, vgl.: DJZ: 311. Vgl. hierzu: „[Paul Adler; M.K.], der ein Vierteljahrhundert lang im Ort die Moderne verkörpert hatte, verzog sich dorthin, von wo aus er einst aufgebrochen war.“ (DJZ: 326).
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weiß selbst nicht von welcher Art. Etwas fehlt mir, ich kann es auch nicht aus der Ferne erraten.“³³⁸ Es wird auf die Dichotomie von ›Nämlich‹ und ›Avorun‹ angespielt, die grundsätzliche Dissoziation, die den Text und sein Erzählsubjekt durchzieht. Diese Dissoziation ist es, welche die Erzählinstanz an Adler reizt und die zu einer Identifizierung mit dem von ihm ‚wiederentdeckten‘ Schriftsteller wird: [Paul Adler; MK.] war der einzige echte Bohemien damals in der Künstlerkolonie Hellerau. Ein Hüter des ursprünglichen Gemeinschaftsgedankens, Skeptiker allem Gewinnstreben und jedem aggressiven Eigennutz gegenüber, ein kosmopolitischer Erdenbürger, immun gegen die Begrenztheiten, die Nationalismus und Religion mit jedem Einzelnen immer wieder reproduzierten. (DJZ: 318 f.)
Diese Beschreibung Adlers erinnert an die Selbstbestimmung von Grünbeins Kosmopolitismus³³⁹ und veranschaulicht, welche Qualität die Identifizierung mit dem vergessenen Autoren bietet: Die Erzählinstanz ist durch die DDR-Sozialisation gewöhnt, verfemte Autoren, die vergessen werden sollen, zu entdecken. Dass Adler nicht nur ein Opfer des real existierenden Sozialismus, sondern ebenso von früheren und nachfolgenden Epochen unbeachtet blieb, zeigt die Notwendigkeit einer Reanimation durch den Erzähler. Die Selbstidentifizierung mit Adler ist unverkennbar. So formuliert der Erzähler rückblickend: Ich wuchs auf unter den Nachfahren dieser Wartenden und Wirklichkeitsfernen [den Hellerauer Bohemien; M.K.]. Nur waren die Zeiger der imaginären historischen Uhr ein halbes Jahrhundert vorangerückt – und wir, die Weltflüchtigen im östlichsten Winkel des Landes, bis auf die Knochen blamiert und entblößt. (DJZ: 325)
Die Selbstbeschreibung als Nachfahre der vergangenen Moderne erfolgt aus der Gegenwart des Erzählers, denn wie dieser markiert, wäre eine derartige Selbstidentifizierung während der DDR durch bestimmte kulturelle Faktoren nicht möglich: Nichts für uns, dachte ich viele Jahre später, nun selbst schon erwachsen, nichts für uns wäre das [Adlers Nämlich; M.K.] gewesen, die wir das Leben eben erst kennenlernten.Was wußten wir denn, wir Eingeborenen des sozialistischen Biedermeiers, von Ökonomie, Psychoanalyse, Prostitution und dem immer drohenden Sturz in die Schizophrenie? Fremdwörter waren das, die man tunlichst draußen hielt hinter dem Jägerzaun, den sieben Bergen, dem Eisernen Vorhang. Was wußten wir, die mit Geschichtsbildern Gefütterten, an Weltan-
Adler: „Nämlich“, S. 93. Vgl. hierzu das Kapitel Paradoxien maritimer Metaphorik in Die Jahre im Zoo.
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schauungsformeln Gewöhnten, vom radikalen Bezweifeln der Sprache und von der wahnwitzigen Willkür, die allem Sprechen und Schreiben zuletzt doch zugrunde lag? (DJZ: 312)
Der Zugang zum Wissen um die Diskurse, die Adler in seinem Text verhandelt, bietet sich erst durch die historische Distanz, wenn der Erzähler (zumindest der Selbstaussage nach) erst nach 1989 mit diesen in Berührung kommt. Nichtsdestotrotz gibt es einen Bezug zum Aufwachsen; denn in die Abhandlung über Adler sind die Berichte über die Militärzeit des Protagonisten eingelassen. Bei der Musterung verweigert dieser sowohl den dreijährigen „Ehrendienst in der NVA“ als auch die Ausübung der Wehrpflicht „an der Staatsgrenze der DDR“ (DJZ: 316). Angesichts seiner Einberufung kann der Protagonist berichten: Und so schickten sie mich an die äußerste Peripherie des kleinen Landes, mir war es nur recht. Nämlich, ich war unbrauchbar für sie, einer, den man am besten ausschied aus dem Volkskörper und seinem klassenfeindlichen Eigensinn überließ. […] Wie einfach das war: Ich gehörte dem Staat und war doch innerlich frei. Es kam der Tag des Gestellungsbefehls. (DJZ: 317)
Es zeigt sich eine Dissoziation zwischen dem Körper des Protagonisten und seinem Geist,³⁴⁰ die kurz drauf noch einmal explizit formuliert wird: „Nämlich, ich war doch ich und war es doch gerade nicht […].“ (DJZ: 318) Dieses Auseinanderfallen, das nachträglich beschrieben wird, ruft die Adler’sche Spaltung des Protagonisten aus Nämlich auf. Ein Auseinanderfallen von leiblicher und geistiger Identität ist das zentrale Element der Prosa Adlers. Auf diese Spaltung kommt der Erzähler am Ende des Kapitels zurück: Nämlich, das Elend der Welt, das Paul Adler bedrückte, lag auch hier, mitten im tiefsten Sozialismus, den er wie alles andere mit Unbehagen vorausgesehen hatte, wie in der Nußschale eingeschlossen. […] Alles war gleich nah und fern, gleich uneinholbar. Ahorun, das schien das Lösungswort, aber wofür? […] Nämlich ist das Losungswort, es führt einen tief hinein in das Dickicht der Sprache, hinein in die Abgründe der Schizopoesie. Nämlich ist die Überspielung der Ungewißheit schlechthin, der Widerwille gegen Antithesen, die ein schneller Geist immer vorwegnehmen wird. (DJZ: 327 ff.; Hervorheb. i. Orig.)
In der Gegenüberstellung zeigt sich die Deutung der beiden Begriffe: Denn während Nämlich das Losungswort ist, das den Zugang ermöglicht, ist Ahorun das Lösungswort, das den Komplex auflöst. Damit nimmt die Erzählinstanz das Nichtidentische gegen die Identität in Schutz. Auch der Widerwille gegen die
Damit schließt Die Jahr im Zoo gleichsam an die Büchner-Preis-Rede Den Körper zerbrechen an.
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Antithese – für diesen Begriff bürgt wiederum Kafka mit seinen Tagebucheinträgen³⁴¹ − fügt sich in dieses Schema ein. ›Nämlich‹ plädiert für den Versuch, die Antithesen aufzulösen, während ›Ahorun‹ die Möglichkeit einer Ambivalenz einschließt. Die Dissoziation, die der Protagonist angesichts seines Militärdienstes empfindet, wird von dem Erzähler mit der gespaltenen Struktur der Adler’schen Figur Paul Sauler in Verbindung gebracht. Obgleich Adler dem Protagonisten während seines Militärdiensts noch unbekannt ist, führt die Selbstbeschreibung zu einer Einschreibung in das (ästhetische) Erbe Adlers. Adler (in seiner Präsentation als verkanntes Genie der klassischen Moderne) war zu allen Zeiten verdrängt. Durch den Umgang mit verdrängter Literatur als historischer DDR-Erfahrung ist dem Erzähler der Zugang zu Adler möglich – der eigentliche Moment der Entdeckung bleibt wiederum eine Leerstelle des Kapitels. In dem Bezug auf Adler und sein Werk drückt die Erzählinstanz das Potential aus, das in seinem Selbstentwurf enthalten ist: jener verdrängten Moderne − durch die eigene Vermittlung − zur Geltung zu verhelfen.
Berichten für die Akademien Im Jahr 1995 hielt Grünbein anlässlich seiner Zuwahl in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung eine Rede mit dem Titel Kurzer Bericht an eine Akademie. Dieser im Titel an Kafkas Erzählung Bericht für eine Akademie anschließende Text stellt einen Lebenslauf Grünbeins dar, der im Jahr vor der Aufnahme mit einem ästhetischen Erweckungserlebnis endet. Neben einigen markanten Differenzen lassen sich große Gemeinsamkeiten zwischen Grünbeins und Kafkas Bericht sowie zu den Indianer-Episoden aus den Jahren im Zoo finden, auf die ich im Folgenden eingehen werde. Zunächst bespreche ich Kafkas Bericht, wobei der Fokus auf der Darstellung von ‚Identität‘ und Identifizierung liegt. In einem zweiten Schritt wird Grünbeins Kurzer Bericht im Mittelpunkt stehen, der sich in der Konstruktion auf das Vorbild Kafkas bezieht und sich selbst in einem ostdeutschen Kontext verortet. Er greift die Konstruktion von Ursprung und Vorleben des literarischen Intertextes auf und ermöglicht eine Identifizierung nach 1989. Schon der Titel ist ein offensichtlicher intertextueller Verweis, obgleich Grünbein sich eine kleine Variation gestattet: Denn während sein Vortrag ein Kurzer Bericht an eine Akademie ist, ist Kafkas Text Ein Bericht für eine Akademie. Die Differenz liegt nicht nur in der Länge (Grünbein vier bis fünf Seiten, Kafka ca. 15 Seiten), sondern in der Adressierung. Kafkas Text beginnt mit der Anrede:
Vgl.: DJZ: 329; sowie: Kafka: Tagebücher. Bd. 1, S. 201 f.
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„Hohe Herren von der Akademie!“³⁴² und berichtet über den Zweck des Berichtes: „Sie erweisen mir die Ehre, mich aufzufordern, der Akademie einen Bericht über mein äffisches Vorleben einzureichen.“³⁴³ Über dieses Vorleben des Affen Rotpeter, der sich anthropomorphisiert hat, kann er selbst keine Auskunft geben; es ist ihm aufgrund seiner derzeitigen Existenz unmöglich geworden.³⁴⁴ Das Aufgeben seiner bisherigen Erinnerung wird zur Bedingung der Möglichkeit für den Zugang zur menschlichen Sphäre: „Diese Leistung [die Vermenschlichung; M.K.] wäre unmöglich gewesen, wenn ich eigensinnig hätte an meinem Ursprung, an den Erinnerungen der Jugend festhalten wollen.“³⁴⁵ Im Doublebind von „unvordenklichem Ereignis und nachträgliche[r] ›Herstellung‹“³⁴⁶ zeigt sich eine Ursprungskonstellation. Diese rekurriert nicht auf die Darstellung einer Entstehung,
Kafka, Franz: „Ein Bericht für eine Akademie“, in: Ders.: Schriften, Tagebücher und Briefe. Kritische Ausgabe. Drucke zu Lebzeiten, hrsg. von Wolf Kittler / Hans-Gerd Koch / Gerhard Neumann, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2002, S. 299 – 313, hier S. 299. Kafka: „Ein Bericht für eine Akademie“, S. 299. Adorno hat in den Minima Moralia das Vorleben des Emigranten als eine nichtverdinglichte Erinnerung bezeichnet, die von der Gegenwart und einer falschen Erinnerung eingeholt wird, um das Vergangene im Nachhinein doch zu verdinglichen, indem sie in die Logik der Gegenwart eingepasst wird. Kafkas Rotpeter ist kein Emigrant. Trotzdem verlässt er seine Heimat, die Goldküste, gewaltsam. Kafkas Text ist der Versuch, gegen die Verdinglichung dessen, was vor der Urszene liegt, anzuschreiben, wenn dieses nicht erinnerbar ist. Wie ich zeigen werde, liegt die Ursache hierfür in einer Kultur von Selbstunterwerfung und -ermächtigung, die ein identisches Ich präsentieren will. Kafka wählt dafür den Menschenaffen (oder Affenmenschen) Rotpeter. In der Ästhetischen Theorie hat Adorno bemerkt: „Ausdruck haben sie [Kunstwerke; M.K.], nicht wo sie das Subjekt mitteilen, sondern wo sie von der Urgeschichte der Subjektivität, der von Beseelung erzittern; […] Das umschreibt Affinität des Kunstwerks zum Subjekt. Sie überdauert, weil im Subjekt jene Urgeschichte überlebt. Es fängt in aller Geschichte immer wieder von vorn an. Nur das Subjekt taugt als Instrument des Ausdrucks, wie sehr es auch, das sich unmittelbar wähnt, selber ein Vermitteltes ist. Noch wo das Ausgedrückte dem Subjekt ähnelt; wo die Regungen die subjektiven sind, sind sie zugleich apersonal, eingehend in die Integration des Ichs, nicht aufgehend in ihr. Der Ausdruck der Kunstwerke ist das nicht Subjektive am Subjekt, dessen eigener Ausdruck weniger als sein Abdruck; nichts so ausdrucksvoll wie die Augen von Tieren – Menschenaffen –, die objektiv darüber zu trauern scheinen, daß sie keine Menschen sind.“ Adorno beschreibt die Unmöglichkeit eines Subjekts sich in der Kunst wahrlich auszusprechen. Seine Darstellung ist immer durch einen gesellschaftlichen Zwang der Verdinglichung geformt und spricht nicht souverän, sondern als vermittelte und geformte Instanz. Das Gegenteil hierzu ist laut Adorno der Blick des Menschenaffen, der dem Menschen nachstrebt. Kafkas Rotpeter veranschaulicht die performative Erfüllung dieses Wunsches und dekonstruiert zugleich die Subjektivität, wenn Rotpeter die Urgeschichte als Affenmensch erzählt und dabei seine ontogenetische Zurichtung aufzeigt, die zugleich immer auf den Menschen (onto- und phylogenetisch) zutrifft, Adorno.: Minima Moralia, A-GS 4, S. 52; Adorno: Ästhetische Theorie, A-GS 7, S. 172. Kafka: „Ein Bericht für eine Akademie“, S. 299. Neumann, Gerhard: Franz Kafka. Experte der Macht, München: Hanser 2012, S. 173.
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sondern stellt − in Übereinstimmung mit Benjamins Beschreibung aus dem Trauerspielbuch³⁴⁷ − im Verfahren einer Nachträglichkeit eine bewegliche Konstruktion dar.³⁴⁸ Der Affe kann sich nicht erinnern; er kann nur in der Entsagung der Erinnerung (später werden Teile durch fremde Berichte über die Gefangennahme gefüllt) menschliche Züge annehmen. Seine Erinnerung erwacht – obgleich auf die Berichte anderer angewiesen³⁴⁹ − schließlich „in einem Käfig im Zwischendeck des Hagenbeckschen Dampfers“³⁵⁰. In dem Moment gewinnt er die Erkenntnis, dass es für ihn keinen Ausweg aus dieser Situation gibt. Cornelia Ortlieb hat aus diesem Grund den Käfig als „das eigentliche Zentrum der Erzählung“³⁵¹ bezeichnet. Die Entfremdung von seiner Affennatur geht mit dem Vergessen (bzw. vielleicht eher Verdrängen) sowie der Bewusstwerdung im Moment der Unfreiheit einher. Diese dialektische Konstruktion von Selbstunterwerfung (dem Vergessen) und Selbstermächtigung (der Bewusstwerdung) erinnert an die Beschreibung aus Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung: Die Menschen hatten immer zu wählen zwischen ihrer Unterwerfung unter Natur oder der Natur unter das Selbst. Mit der Ausbreitung der bürgerlichen Warenwirtschaft wird der dunkle Horizont des Mythos von der Sonne der kalkulierenden Vernunft aufgehellt, unter deren eisigen Strahlen die Saat der neuen Barbarei heranreift.³⁵²
Die Überschneidungen dieser Beschreibung mit Kafkas Bericht sind schon auf der Wortebene bemerkenswert. Wie später die Autoren der Dialektik der Aufklärung verwendet Rotpeter in seinem Bericht mit Metaphoriken der Sonne und des Strahlens zentrale Topoi der Aufklärung, um die Erkenntnisgewinne in Folge der Anthropomorphisierung zu charakterisieren und er gibt sich keinerlei Illusion hin, dass diese Erkenntnisse durch einen internalisierten Zwang entstehen: Diese Fortschritte! Dieses Eindringen der Wissensstrahlen von allen Seiten ins erwachende Hirn! Ich leugne nicht: es beglückte mich. Ich gestehe aber auch ein: ich überschätzte es nicht, schon damals nicht, wieviel weniger als heute. Durch eine Anstrengung, die sich bisher auf der Erde nicht wiederholt hat, habe ich die Durchschnittsbildung eines Europäers
Vgl.: Benjamin: „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, B-GS I, S. 226. Neumann: Franz Kafka, S. 177. „Ich soll, wie man mir später sagte, ungewöhnlich wenig Lärm gemacht haben […].“, Kafka: „Ein Bericht für eine Akademie“, S. 303. Kafka: „Ein Bericht für eine Akademie“, S. 302. Ortlieb, Cornelia: „Mitten ins Graue. Tierfang und Affenliebe bei Hagenbeck und Kafka“, in: Dies. / Ramponi, Patrick / Willner, Jenny (Hrsg.): Das Tier als Medium und Obsession. Zur Politik des Wissens von Mensch und Tier um 1900, Berlin: Neofelis 2015, S. 47– 72, hier S. 68. Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 38.
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erreicht. Das wäre an sich vielleicht gar nichts, ist aber insofern doch etwas, als es mir aus dem Käfig half und mir diesen besonderen Ausweg, diesen Menschenausweg verschaffte. Es gibt eine ausgezeichnete deutsche Redensart: sich in die Büsche schlagen; das habe ich getan, ich habe mich in die Büsche geschlagen. Ich hatte keinen anderen Weg, immer vorausgesetzt, daß nicht die Freiheit zu wählen war.³⁵³
Mit der Redewendung in die Büsche schlagen greift Rotpeter die Dialektik von Natur und Kultur auf und subvertiert sie: Denn der Akt, welcher der Wortebene nach auf die Natur ausgerichtet ist, das In-die-Büsche-Gehen, ist bei ihm der Akt der Menschwerdung. Durch das Verstecken einer ‚ersten Natur‘ tritt Rotpeter in die „Knechtschaft unter der so entstandenen zweiten Natur“³⁵⁴ ein, wie es Lukács im Anschluss an Hegel bezeichnet. Adornos und Horkheimers Barbarei wird zum Zwang, identisch zu werden. Dieser repräsentiert keine Freiheit, sondern wird als Ausweg apostrophiert: Ich habe Angst, daß man nicht genau versteht, was ich unter Ausweg verstehe. Ich gebrauche das Wort in seinem gewöhnlichsten und vollsten Sinn. Ich sage absichtlich nicht Freiheit. Ich meine nicht dieses große Gefühl der Freiheit nach allen Seiten. Als Affe kannte ich es vielleicht und ich habe Menschen kennen gelernt, die sich danach sehnen. Was mich aber anlangt, verlangte ich Freiheit weder damals noch heute. Nebenbei: mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzuoft. Uns so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so auch die entsprechende Täuschung zu den erhabensten.³⁵⁵
Das Verhältnis von Natur und Kultur ist unter dem Blickwinkel der Unfreiheit, die sich im Fall Rotpeter sogar auf das äffische Vorleben bezieht,³⁵⁶ die Bedingung für die Entstehung der Kultur. Gerhard Neumann interpretiert den Bericht daher als eine Ursprungserzählung: Kafkas singulärer Text ist eine Erzählung über den Ursprung der Kultur. Er beschreibt, was man die Urszene der Kultur nennen könnte, als die Überschreitung der Schwelle zwischen Natur und Kultur, die durch den Schmerz, die Wunde markiert wird, die zum Keim des Gedächtnisses wird.³⁵⁷
Kafka: „Ein Bericht für eine Akademie“, S. 312. Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 174. Kafka: „Ein Bericht für eine Akademie“, S. 304. Die Aussage, dass es ihn damals, also während seines Zustandes als ‚reiner‘ Affe, nicht nach Freiheit sehnte, ist eines der wenigen Dinge, an die er sich erinnern kann. Neumann, Gerhard: „Schmerz − Erinnerung − Löschung. Die Aporien kultureller Memoria in Kafkas Texten“, in: Ders.: Kafka-Lektüren, Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 328 – 351, hier S. 345.
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In der Ursprungserzählung von Kultur – zumindest der modernen abendländischen Kultur − ist, sowohl bei Kafka³⁵⁸ als auch bei Adorno und Horkheimer, die Entstehung des „identischen Ich[s]“³⁵⁹ ein zentrales Merkmal des bürgerlichen Individuums. Dass die Wunde als das Trauma des Verdrängten und niemals einholbaren Ursprunges in ihrem Schmerz immer weiterwirkt und als quasi neurotisches Symptom zumindest auf die Potentialität eines anderen Zustandes qua Veränderung verweist, werde ich später noch einmal thematisieren. Für Rotpeter führt der dialektische Prozess von Erinnern und Vergessen zu einer Identität, die ihn aus seiner Perspektive erfüllt, weil er die Suche nach einem Ursprung aufgegeben hat³⁶⁰ und damit die Unterwerfung der inneren Natur akzeptiert. Der Prozess ist durch die Ausstellung der Nachträglichkeit des Ursprunges allerdings niemals abgeschlossen. Der Bericht selbst ist die performative Bewusstmachung eines nichtabgeschlossenen Zustandes. Der Affe Rotpeter ist ein Hybrid, nicht Mensch, nicht Affe und doch beides zugleich.³⁶¹ Durch diese Hybridisierung wird die „Grenze von Eigenem und Fremden“³⁶² aufgerufen und gleichzeitig in Frage gestellt. Die Forschung spricht von „Selbstverlust“³⁶³, von der Konstitution eines Anderen und dementsprechend von Selbstwerdung und erreichbarer Identität³⁶⁴ unter den Bedingungen von „Konformismus, Nachahmung
Vgl. hierzu: Neumann: Franz Kafka, S. 184. Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 55. Vgl.: Neumann: Franz Kafka, S. 186. Ortlieb hat überzeugend dargelegt, wie das Auftreten von „Tiermenschen und Menschtieren“ im Werk Kafkas eine Reaktion auf die „darwinistische Verunsicherung menschlicher Artgewissheit“ ist, Ortlieb, Cornelia: „Kafkas Tiere“, Zeitschrift für Deutsche Philologie 126 / Sonderheft: Tiere, Texte, Spuren (2007), hrsg. von Eva Geulen / Norbert Otto Eke, S. 339 – 366, hier S. 348. Zum Hybrid, vgl.: Neumeyer, Harald: „Peter – Moritz – Rotpeter. Von »kleinen Menschen« (Carl Hagenbeck) und »äffischem Vorleben«“, in: Lehmann, Johannes F. / Borgards, Roland / Bergengruen, Maximilian (Hrsg.): Die biologische Vorgeschichte des Menschen. Zu einem Schnittpunkt von Erzählordnung und Wissensformation, Freiburg: Rombach 2012, S. 269 – 300, hier S. 291. Neumeyer, Harald: „Franz Kafka: Ein Bericht für eine Akademie (1917)“, in: Borgards, Roland u. a. (Hrsg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2013, S. 390 – 394, hier S. 393. Blank, Juliane: „Ein Landarzt. Kleine Erzählungen“, in: Engel, Manfred / Auerochs, Bernd (Hrsg.): Kafka-Handbuch. Leben –Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2010, S. 218 – 240, hier S. 236. Vgl. zu diesen beiden Aspekte die beiden Beiträge Neumanns: Neumann, Gerhard: „‚Ein Bericht für eine Akademie‘. Erwägungen zum ‚Mimesis‘-Charakter Kafkascher Texte“, DVjs 1/49 (1975), S. 166 – 183, hier S. 175; Neumann, Gerhard: „Die Arbeit im Alchemistengäßchen (1916 −1917)“, in: Binder, Hartmut (Hrsg.): Kafka-Handbuch. Bd. 2: Das Werk und seine Wirkung, Stuttgart: Kröner 1979, S. 313 – 350, hier S. 333.
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und Anpassung an die herrschende Gruppe und Lebensart“³⁶⁵. Angesichts der narrativen Konstruktion, die auf einer nachträglichen Konstruktion des Ursprunges – performativ durch den Bericht selbst hervorgebracht − und auf andauernder performativer Mimesis³⁶⁶ beruht, ist es sinnvoll, für Rotpeter nicht von einem beendeten bzw. beendbaren Prozess auszugehen: Identität ist hier nicht Substanz oder Wesen, sondern Tätigkeit, Errungenschaft. Sie besteht im Prozeß der Verfertigung und Schaffung einer Identität und im immer wiederholten sichtbaren Übergang von einer Identität in die andere. Rotpeters Identität besteht darin, sich zwischen Identitäten zu bewegen und selbst eigentlich keine zu haben.³⁶⁷
Sokel hält zwar an dem Begriff der Identität fest, angesichts des ständigen Werdens ist es folgerichtig von Prozessen der Identifizierung zu sprechen, die ihr prospektives Ziel ebenso wenig erreichen können, wie die retrospektiv-nachträgliche Konstruktion des Ursprunges tatsächlich eingeholt werden kann. Die Identifizierung durch Nachahmung ist nicht frei gewählt, sondern das Ergebnis eines Zwangs: „Ich wiederhole: es verlockte mich nicht, die Menschen nachzuahmen; ich ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem anderen Grund.“³⁶⁸ Der Zwang zur Nachahmung erfasst nicht nur das Subjekt Rotpeter, sondern trifft gleichsam auf andere Subjekte zu. Dies wird an dem ersten Lehrer deutlich, der dem Affen ähnlich, während Rotpeter menschlich wird – eine Konstruktion, die aus Benjamins-Schmetterlingsepisode der Berliner Kindheit bekannt ist: „Die Affennatur raste, sich überkugelnd, aus mir hinaus und weg, so daß mein erster Lehrer selbst davon fast äffisch wurde […].“³⁶⁹ Der Lehrer wird nicht zum Affen, sondern nur fast äffisch, was auch bei diesem Subjekt auf Prozesse der Identifizierung hindeutet und nicht auf die Erlangung einer festen Identität. Die Unabschließbarkeit dieses Prozesses zeigt sich an den letzten Sätzen der Erzählung, wenn Rotpeter davon spricht, nicht das erreicht zu haben, „was ich erreichen wollte.“³⁷⁰ Dort wird wiederholt, dass der Bericht performativ den Status quo eines andauernden Prozesses beschreibt: „Im Übrigen will ich
Sokel, Walter H.: „Identität und Individuum oder Vergangenheit und Zukunft. Zum Identitätsproblem in Franz Kafkas ‚Ein Bericht an eine Akademie‘ in psychoanalytischem und zeithistorischem Kontext“, in: Bolterauer, Alice / Goltschnigg, Dietmar (Hrsg.): Moderne Identitäten, Wien: Passagen 1999, S. 213 – 223, hier S. 222. Vgl.: Blank: „Ein Landarzt. Kleine Erzählungen“, S. 236. Sokel: „Identität und Individuum“, S. 214. Kafka: „Ein Bericht für eine Akademie“, S. 311. Kafka: „Ein Bericht für eine Akademie“, S. 311 f. Kafka: „Ein Bericht für eine Akademie“, S. 313.
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keines Menschen Urteil, ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren von der Akademie, habe ich nur berichtet.“³⁷¹ Die narrative Konstruktion eines monologisch sprechenden Ich, bei gleichzeitigem Schweigen der Angesprochenen − der Akademie³⁷² −, bildet eine Gemeinsamkeit zwischen Kafkas und Grünbeins Berichten. Denn auch bei Grünbein findet sich eine monologische Sprechsituation, obgleich der Grund des Sprechaktes ein anderer ist: Der Bericht folgt bloß bedingt einer Aufforderung. Es ist eine Rede zur Aufnahme Grünbeins in die Akademie. Grünbein berichtet darin über seine zwei Vorleben: zum einen über ein (frühkindliches) Vorleben, an das er sich nicht erinnern kann, und zum anderen über ein weiteres Vorleben, das mit einem poetologischen Erweckungserlebnis in Pompeji endet. Letzteres ist wiederum einzig aufgrund des politischen Systemwechsels 1989/90 möglich, da dieser Grünbein die Möglichkeit gibt, diesen Ort überhaupt zu besuchen. Das erste Vorleben wird relativ kurz thematisiert, da Grünbein dort lediglich den Tag seiner Geburt nennt und von dem „üblichen Geschrei eines Nachmittags“ (KBA: 11) sowie über das von Otto Rank entlehnte Konzept des Traumas der Geburt spricht. Der Kippmoment, in dem die Phase des nichterinnerten Vorlebens in das erinnerte umschlägt, ist mit einem intertextuellen Verweis angereichert, der sich an Walter Benjamin und an Kafkas Bericht anlehnt: Was darauf folgte, war eine fröhlich durchlebte Provinzkindheit, wobei mir recht bald der Akzent auf durchlebte zu liegen kam, das heißt, die Sache war schneller vorbei als gedacht, und bis heute läßt mich die Gewißheit nicht los, daß in die ausgestreckten Arme, die das Leben umfassen wollen, sofort der Wind fährt und einen weitertreibt, mit dem Rücken zur Zukunft, und eine Lebensphase ist immer großartiger als die vorherige, und somit wächst bald ins Unendliche das Verlustgefühl. (KBA: 11; Hervorheb. i. Orig.)
Das Bild des rückwärtsblickenden und vom Wind in die Zukunft getragenen Subjektes erinnert an Benjamins Engel der Geschichte.³⁷³ Der unterschiedlichen historisch-kontextuellen Situation − bei Grünbein gibt es im Unterschied zu Benjamin keine existenziell-bedrohenden Implikationen − trägt der Text in mehrfacher Hinsicht Rechnung: Der Sturm Benjamins ist zu einem Wind geworden und die Katastrophen, die der Engel beschaut, werden zu einem melancholischen Verlustgefühl. Dieses wird durch den Wind (der durch die ›großartigen Lebensphasen‹ trägt) ausgelöst. Die Reduzierung des Sturmes zum Wind entlehnt Grünbein wiederum der Berichterstattung Rotpeters, denn noch zu Beginn von Kafka: „Ein Bericht für eine Akademie“, S. 313. Vgl.: Blank: „Ein Landarzt. Kleine Erzählungen“, S. 333. Vgl.: Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 697 Zu einer ausführlichen Deutung des Engels der Geschichte vgl. das Kapitel Der Engel ihrer Geschichte.
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Kafkas Bericht heißt es: „[D]er Sturm, der mir aus der Vergangenheit nachblies, sänftigte sich; heute ist es nur ein Luftzug, der mir die Fersen kühlt […].“³⁷⁴ Grünbein verortet die retrospektive Darstellung seiner Kindheit zwischen dem Luftzug Rotpeters und dem Sturm des Engels der Geschichte.³⁷⁵ Wie Berg bemerkt, taucht Benjamins Engel der Geschichte in Grünbeins Œuvre als ein wiederkehrendes Motiv auf.³⁷⁶ Essen hat mit Blick auf Grünbeins Kurzen Bericht argumentiert, dass sich durch die Verwendung dieses Motivs verschiedene Diskurse in einer „Verknüpfung von memoria-Thematik und Wende-Erlebnis“³⁷⁷ verbinden. Grünbein selbst hält im Gespräch wiederum fest, welche Implikationen ein Denken mit Benjamin für ihn hat: Wie es bei Benjamin heißt: Fortschritt ist dieser Sturm, der vom Paradies her weht und uns unaufhaltsam vorantreibt. Sobald man in solchen Kategorien zu denken beginnt, kommt man nicht mehr los von den Zusammenhängen. Die Fortschritte in der Naturbeherrschung gehen aber nicht selten mit Rückschritten im Gesellschaftsleben einher. Jedes Dokument der Kultur ist zugleich ein solches der Barbarei.³⁷⁸
Kafka: „Ein Bericht für eine Akademie“, S. 300. Soweit mir bekannt, wurde die Verbindung von Benjamins Engel der Geschichte und Kafkas Sturm aus der Vergangenheit in der Sekundärliteratur bisher nicht thematisiert. Dies ist umso frappierender, da Benjamin in seinem Aufsatz Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages die Tiere in Kafkas Werk (also auch den Hybrid-Affen Rotpeter) als „Behältnisse des Vergessens“ (430) bezeichnet. Überdies findet der Sturm dort eine Erwähnung: „Denn es ist ja ein Sturm, der aus dem Vergessen herweht.“ (436) In Über den Begriff der Geschichte wird der Sturm, der den Engel wegträgt, als Fortschritt bezeichnet. Kommt der Sturm aus dem Vergessen, entspringt also auch der Fortschritt diesem Vergessen. Dies erscheint paradox, ruft man sich Benjamins Wertung bezüglich des Vergessens (positiv und die Bedingung wahrer Erinnerung) und des Fortschrittes (negativ) ins Gedächtnis. Unter Rückgriff auf Adornos Aufsatz Fortschritt ist jedoch möglich, eine produktive Verbindung herzustellen. Dieser diagnostiziert – wiederum unter Rückgriff auf Kafka –, dass Benjamin sich vornehmlich gegen einen falschen, nämlich einen sozialdemokratischen Fortschritt und nicht gegen eine Vorstellung emanzipativen Fortschrittes wendet: „[D]er Sinn des Benjaminschen Passus dürfte denn auch eher der Vorwurf sein, daß die Sozialdemokraten den Fortschritt von Fertigkeiten und Kenntnissen mit dem der Menschheit verwechselten, als daß er diesen selbst aus der philosophischen Reflexion hätte ausmerzen wollen. Er verschafft bei Benjamin sich sein Recht in der Lehre, die Vorstellung des Glücks ungeborener Generationen – ohne die von Fortschritt nicht gesprochen werden kann – führe unveräußerlich die der Erlösung mit sich.“, Benjamin: „Franz Kafka“ B-GS II, S. 430, 436; Adorno: „Fortschritt“, A-GS 11, S. 619. Vgl.: Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, B-GS I, S. 697 f. Vgl.: Berg, Florian: Das Gedicht und das Nichts. Über Anthropologie und Geschichte im Werk Durs Grünbeins, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 165. Ein Beispiel hierfür ist: Grünbein: Nach den Satiren, S. 90. Essen: „So viele Zeiten zur selben Zeit“, S. 100. Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 20.
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Diese Aussage führt nah an die oben skizzierte Lesart von Kafkas Bericht. An dieser Stelle wird die politische Implikation der Zitation von Benjamin und Kafka durch Grünbein beobachtbar. Die DDR, in der er eine durchlebte Kindheit verbringt, stellt er als Teil einer Dialektik der Aufklärung dar, in welcher sich Naturbeherrschung und gesellschaftlicher Rückschritt verbinden. Die Unterdrückung der inneren Natur zugunsten einer sozialistischen Gesellschaft produziert die Unfreiheit, ein Leben „im Schatten der chinesischen Mauer“ (KBA: 12), wie Grünbein es mit dem Titel der Erzählung Kafkas beschreibt. Die Totalität, von Grünbein im Gespräch formuliert, wird in erneutem Rekurs auf Kafka unterlaufen. Neumann hat argumentiert, dass der Schmerz der Wunde, die Rotpeter zugefügt wird, der Keim seines Gedächtnisses ist.³⁷⁹ Mit dem Gedächtnis entsteht ein Bewusstsein, dass es ein nicht-erzählbares äffisches Vorleben gibt. Dieses Bewusstsein kann nicht vom Gedächtnis erfasst werden. Grünbein berichtet von retrospektiven Fragmenten einer nicht erzählbaren Vorzeit, die auf die Folgen des Mauerfalles vorausdeuten: „So blieb der frühe Wunsch, Indianer zu werden, eine Anfälligkeit für das Nomadische, die schon so viele Sachsen getrieben hat – ebenso wie der Hang zur Hochstapelei, die das Fortleben der Träume sichert, bis hinein in die Niederungen des Erwachsenenlebens.“ (KBA: 12) Grünbein verweist an dieser Stelle auf einen weiteren Titel einer Kafka-Erzählung (diesmal Wunsch, Indianer zu werden). Diesen Text stellt er nicht allein in einen autobiographischen und DDR-Kontext, sondern referiert auf ihn in zwei Stellen aus den Jahren im Zoo: Daß Kinder sich, noch in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, für Indianer begeisterten, wenigstens in der Zeit des ersten Ausschwärmens, ist nicht weiter verwunderlich. Anscheinend gab es seit langem aber auch die verschiedensten Schleich- und Verbindungswege aus dem Sachsenland hinüber zu den Ureinwohnern der Neuen Welt. (DJZ: 208) Der Indianerenthusiasmus in der DDR war so weit verbreitet, daß er die allgemein üblichen Schranken spielend überwand und selbst Polizei und Staatssicherheit in die Defensive zwang. (DJZ: 213)
In den Jahren im Zoo verschiebt Grünbein schließlich sogar den kindlichen „Wunsch, Indianer zu werden“ (DJZ: 212) zu einem neuen Wunsch: „die Kindheit aufzuschreiben“ (DJZ: 212). Letzterer artikuliert sich aber erst in der Schreibgegenwart und gilt, ohne dass Grünbein dies in der gleichen Weise expliziert, auch für den Kurzen Bericht. In beiden Fällen zeichnet sich die Gegenwart des Schreibenden dadurch aus, dass sie explizit nach 1989 zu verorten ist. Dies deutet eine Kontinuität von Grünbeins Kurzem Bericht bis hin zum Akt des Erinnerns aus Vgl.: Neumann: „Schmerz − Erinnerung − Löschung“, S. 345.
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Die Jahre im Zoo an. Beide Grünbein-Texte sprechen nicht über Kafkas Text, sondern erwähnen ihn nur, um eigentlich die Möglichkeit der Erinnerung an die eigene Vergangenheit in der DDR zum Zentrum des eigenen Schreibens zu machen. Der ‹Hang zum Nomadischen‹ wird in der Erinnerung zum Verweis auf das, was sich nach 1989 ereignet: Seit dem entscheidenden Jahr 1989 bin ich auf Reisen. Berlin, die Stadt in der ich seit zehn Jahren wohne, ist der Transitraum, von dem aus ich den verschiedenen Einladungen folge, es könnte ebensogut auch New York sein, ihr Gegenüber und mein Metropolis seit frühesten Tagen. […] Bis heute kann ich nur mit einer gewissen Nervosität zurückdenken an die besondere Wendung, die seither alles in meinem Leben nahm. (KBA: 14)
Das Jahr 1989 ist das Symboldatum der sogenannten ‚Wende‘ und wird für Grünbein zur persönlichen Wende (›Wendung‹), die ihm ein Leben jenseits der Entsagung der eigenen Natur − zumindest mit Hinblick auf den Hang zum Nomadischen − ermöglicht. Die Ereignisse, die mit diesem Jahr zu assoziieren sind, beenden das zweite Vorleben. Dass New York als das Gegenüber von Berlin Erwähnung findet (und nicht Rom, die Stadt in der Grünbein neben Berlin lebt), ist ein erneuter Rückgriff auf Kafka. Denn New York ist der Ort, an dem Karl Roßmann amerikanischen Boden betritt. Ein Blick auf Benjamins Kafka-Aufsatz macht die Implikationen deutlich: Benjamin nimmt wie Grünbein Kafkas Wunsch, Indianer zu werden als Ausgangspunkt³⁸⁰, um zu einer Deutung von Der Verschollene (bei Benjamin firmiert das Romanfragment noch unter dem Brod-Titel Amerika) zu kommen: „Daß es mit »Amerika« eine besondere Bewandtnis hat, geht aus dem Namen des Helden hervor. Während in den früheren Romanen der Autor sich nie anders als mit dem gemurmelten Initial ansprach, erlebt er hier mit vollem Namen auf dem neuen Erdteil seine Neugeburt.“³⁸¹ Selbst wenn Grünbein seinen Namen nicht erst erhalten muss, geht er erst zum Schluss seines Kurzen Berichts auf diesen ein, ohne ihn allerdings zu nennen: Zum Schluß noch, um Mißverständnissen vorzubeugen, eine Art eidesstattliche Erklärung. Mein Name, so voraussetzungslos seltsam er scheint, ist kein artistischer Einfall. Es ist genau der Name, den das bürgerliche Familienrecht und der Eigensinn meiner Eltern mir nicht ersparen wollten. Daß es Ihnen in den Sinn kam, ihn unter die Namen der Mitglieder dieser Akademie einzureihen, ermutigt mich wie ein Zuruf von unerwarteter Seite. (KBA: 14)
Vgl.: Benjamin: „Franz Kafka“, B-GS II, S. 416. Etwas willkürlich erschient hier Benjamins Einordnung, dass es sich beim Verschollenen um Kafkas letztes Roman-Fragment handele. Benjamin orientiert sich bei der Datierung aber an den Veröffentlichungen durch Max Brod, der den Proceß 1925, Das Schloss 1926 und schließlich zuletzt den Verschollenen unter dem Titel Amerika 1927 veröffentlichte. Benjamin: „Franz Kafka“, B-GS II, S. 417.
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Dass Grünbein seinen Namen so kurz nach der (recht willkürlichen) Nennung von New York thematisiert, ergibt mit der Perspektive Benjamins als ein weiterer Kafka-Bezug Sinn. Es führt überdies zurück zu Kafkas Bericht. Grünbein bezeichnet die Einreihung seines Namens in die Akademie als einen Zuruf von unerwarteter Seite. Walter Sokel hat die Akademie in Kafkas Bericht als eine institutionalisierte Moderne bezeichnet: Die „hohen Herren von der Akademie“ stellen die klassische Moderne des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts dar – nicht nur ihres wissenschaftlichen Erkenntniswillens, sondern auch einer Haltung wegen, die man als Historismus bezeichnen könnte. Der Wunsch der Akademie, über Rotpeters „Vorleben“ als Affe zu erfahren, drückt ja ein Interesse an der Vergangenheit um ihrer selbst willen aus. […] Dieses Begehren setzt den Glauben an die bruchlose Kontinuität, das Andauern der Erinnerung, die Identität des Individuums voraus.³⁸²
Grünbeins Akademie, in die er sich einschreiben will, ist (neben dem tatsächlichen Anlass der Rede durch die Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung) eine selbstetablierte Akademie der Moderne. Wie gerade Die Jahre im Zoo zeigen, war es jene Moderne mit Protagonisten wie Kafka, die in Grünbeins DDR-Vorleben verdrängt wird. Und es ist sicher kein Zufall, dass Grünbein in Texten, die sein eigenes Selbst ins Zentrum setzen, sich auf die Moderne bezieht, die der Vorstellung einer unveränderlichen Substanz des Subjektes eine Absage erteilt hat (zumindest der Teil, auf den sich Grünbein mit Vorliebe bezieht). Der erste Satz seines Berichts reiht sich genau in diese Tradition ein, wenn er dort fragt: „Wie stellt man jemanden vor, den man nur flüchtig kennt?“ (KBA: 11) Das Nichtkennen des Selbst zeugt von einer Nichtidentität, die wie Kafkas Bericht einzig performative Akte der Identifizierung erzeugen kann, die keine Kontinuität besitzen. Die späte Thematisierung des Namens verbindet Grünbein und Rotpeter. Die ersten Teile beider Komposita-Namen sind eine Farbe (Grün/Rot), auch Rotpeter erhält seinen Namen erst mit seinem Eintritt in die bürgerliche Ordnung.³⁸³ Im Fall Grünbeins ist die narrative Konstruktion des Textes mit dem entscheidenden Jahr 1989 verbunden. Zwar publizierte Grünbein bereits 1988 das Buch Grauzone Morgens, aber erst mit der im Bericht geschilderten Erweckung in Pompeji erlebt er die ganze Bedeutung der Kunst. Dieses Erlebnis verbindet Moderne und Antike und veranschaulicht, wie sich darin die erzählerische Grundhaltung des Textes manifestiert. Die Intertextualität zu Benjamin und Kafka entfaltet im kurzen Text Grünbeins eine poetische Wirkung, die es ihm erlaubt,
Sokel: „Identität und Individuum“, S. 215. Vgl.: Kafka: „Ein Bericht für eine Akademie“, S. 301.
3 Intertextualitäten in Grünbeins Selbstbeschreibungen
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Vergangenheit und Gegenwart in Bezug zu setzen. Er entwirft einen Moment, in dem ästhetische Kraft nur angesichts eines nach 1989 erfahren werden kann. So bezieht er diese Erfahrung in seinem Kurzen Bericht explizit auf die Zeit der ‚Wende‘, deren politische Bedeutung erst wieder retrospektiv, nämlich von dem Besuch in Pompeji, verstanden werden kann: Ich habe, so sehr es mich manchmal beschämt, den Zerfall der Diktaturen im Osten tatsächlich als einen Zerfall erfahren, das heißt grundsätzlich passiv, als politikferner Tagedieb, wenn auch mit gelegentlich amüsierter Teilnahme an Kritik und Demonstration. So überwältigend als Erlebnis der Untergang des Sozialistischen Reiches war, ergiebig wurde er für mich erst fünf Jahre später während eines Italienaufenthalts, beim Besuch der Ausgrabungsstätten Herculaneum und Pompeji. (KBA: 13)
Die Diagnose der eigenen Passivität, trotz eines gelegentlichen Engagements bei Demonstrationen, lässt Grünbein die historische Bedeutung erst im kontemplativen Moment der Betrachtung der archäologischen Ausgrabung erkennen. Er ist vom Anblick, der sich ihm bietet, fasziniert und setzt ihn mit dem Untergang der DDR in Verbindung: „Erst dort sah ich die Wirkung dieser gewaltigen Detonation Zeit, sah das verzögerte Niederregnen der zivilisatorischen Splitter und in der berühmten Katastrophe, in Gegenwart des Vulkans, den Beweis für eine Art gedächtnisloses Gedächtnis […].“ (KBA: 13)³⁸⁴ Der an das vorhergehende Zitat anschließende Satz steht durch das Ergiebig-Werden des politischen Umbruches in Kontinuität mit dem politischen Wandel. Grünbein kann die Erkenntnis aufgrund seiner historischen Disposition nur in Pompeji erfahren und gleichzeitig kann er die eigene historische Disposition nur an diesem Ort erkennen. Erst die Konfrontation mit der untergegangenen Stadt erzeugt eine Auseinandersetzung mit dem untergegangenen Staat.Wenn, laut Grünbein, Dichtung dem gedächtnislosen Gedächtnis „auf die Spur kommen“ (KBA: 13) kann, dann ist es die Aufgabe − durch die Anschauung eines anderen gedächtnislosen Gedächtnisses −, dieses für die eigene Zeit zu ergründen. Seine Kindheitserkundungen sind daher in diesem Kontext zu verstehen: Sie sind eine Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, um eine Perspektive des Werdens für die Gegenwart zu entwerfen. Grünbein identifiziert sich auf unterschiedliche Art: mit seinen literarischen Vorbildern, mit seinem Herkunftsort Dresden,³⁸⁵ mit dem untergegangen Staat
Auf diesen Aspekt bezieht sich Grünbein zu Beginn der Jahre im Zoo zurück, vgl. das Kapitel Eine Ouvertüre im Übergang. In dem Essay Vulkan und Gedicht assoziiert Grünbein den Vesuv mit einem Berg seiner Kindheit: Dem Müllberg von Dresden, vgl.: Grünbein: „Vulkan und Gedicht“, S. 36. Essen legt in ihrer Interpretation dieses Zusammenhangs eine Gegenüberstellung von Moderne und Antike nahe: „Grünbein [hat; M.K.] durch die Überblendung des Vesuvs bei Pompeji mit dem Müllberg
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und mit seiner Gegenwart, die ihm diese Möglichkeiten überhaupt gibt. Im Haus der verkohlten Möbel in Herculaneum ist für Grünbein „alle historische Bewegung aufgehoben“ (KBA: 13). Dort wird ihm klar, „worum es im Schreiben, vielleicht durch alle Aktualität hindurch, gehen könnte“ (KBA: 14). Was dies nun sein soll, lässt der Text unerwähnt, selbst wenn er nahelegt, dass es „mit der Darstellung von Traum und Geburt, den Verstrickungen von Geschlecht und Wissen, Lebensaltern und Jahreszeiten“ (KBA: 15) zusammenhängt. Vor allem ist dieser künstlerische Erweckungsmoment das Ergebnis der historischen Entwicklungen des „entscheidenden Jahre[s] 1989“ (KBA: 14). Damit knüpft Grünbein noch einmal an Kafkas Bericht an.³⁸⁶ Die Beschreibung der Entstehung von Kultur und einer Selbstunterwerfung der inneren Natur wird zu einer künstlerischen Selbstermächtigung durch den Wegfall der Zwänge des DDR-Systems: „Den Ausgangspunkt von Grünbeins poetologischen Selbsterkundungen stellt der Fall der Mauer im November 1989 dar.“³⁸⁷ Wie Lampart konstatiert, bilden die gesellschaftlichen Faktoren den Hintergrund, vor dem Grünbein über die Bedingungen seines Schreibens angesichts der politischen Wende reflektiert.³⁸⁸ Wenn Kafkas Bericht ein „Bericht über das Scheitern einer künstlerischen Selbstbestim-
bei Dresden eine Art »Gegen-Gedächtnis« der Moderne entworfen […].“, Essen: „So viele Zeiten zur selben Zeit“, S. 101. Es erscheint in diesem Kontext sinnvoller Grünbeins bereits zu Beginn dieses Kapitels zitierte Aussage aus Der cartesische Taucher beim Wort zu nehmen und das Verhältnis als ein Vor- und Fortleben der Moderne unter anderen Bedingungen zu verstehen. Mit dieser Perspektive ist es plausibel, die Verbindung der Gegenwart Grünbeins mit der Antike als eine Anagnorisis zu kontextualisiern: „Moderne ist nach meiner Auffassung, ein Phänomen des Ungleichzeitigen, ein Kreuzungspunkt vieler unzusammenhängender Progressionen zu verschiedenen Zeiten, von Entwicklungssprüngen, die nichts miteinander gemein haben als den einen Effekt, über ihren Anlaß hinauszuschießen in eine überzeitliche Sphäre“, Grünbein: Der cartesische Taucher, S. 11. Überdies knüpft er an die Entdeckung der durch die Schlammlawinen konservierten antiken Schriftrollen in Herculaneum an, deren Fund im 18. Jahrhundert euphorisch aufgenommen wurde, wie Cornelia Ortlieb zusammenfasst: „Der Vesuv hat seine Feuerbäche zur Lust der Nachwelt verströmt, die große Katastrophe wird zum Glücksfall der Überlieferung.“, Ortlieb, Cornelia: „Die entstellte Urschrift. Friedrich Schleiermacher und die Kritik der Philologie“, in: Baum, Constanze / Disselkamp, Martin (Hrsg.): Mythos Ursprung. Modelle der Arché zwischen Antike und Moderne,Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 123 – 138, hier S. 128. Grünbein zeigt sich in seinem Erweckungsmoment auch von dieser Wiederentdeckung der antiken Tradition und Texte übermannt. Ahrend, Hinrich: Tanz zwischen sämtlichen Stühlen, S. 369. Ahrend spricht ferner davon, dass der politische Umbruch 1989 von Grünbein „als der Beginn einer neuen Zeitrechnung […] mit allen tiefgreifenden Folgen für Kultur, Denken und Mentalität der betroffenen Menschen“ wahrgenommen wird, S. 54. Vgl.: Lampart: „Tropismen an den Rändern“, S. 135.
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mung“³⁸⁹ ist, verkehrt sich dies bei Grünbein in sein Gegenteil. Sein Kurzer Bericht ist vielmehr eine „eidesstattliche Erklärung“ (KBA: 14) über eine künstlerische Selbstermächtigung unter der Bedingung des politischen Systemwechsels.
4 Denk-Bilder − Optische Identifizierungen In diesem (letzten) Kapitel zu Grünbein stehen erneut Die Jahre im Zoo im Zentrum und anhand zweier Aspekte werde ich zeigen, wie die Darstellung ostdeutscher Selbstbilder in den Jahren im Zoo mit Semantiken und Funktionen des Optischen angereichert wird. Zunächst möchte ich den Blick auf das Photographische richten. Zentral ist hierbei die Titelphotographie, die auf dem Umschlag zu sehen ist. In Rekurs auf verschiedene Theorien der Photographie (Benjamin, Kracauer, Barthes) werden die Implikationen, die sich durch die Verwendung dieses Photos für Identifizierungen ergeben, erörtert. Im zweiten Abschnitt werde ich ausgehend von dem im Titel angesprochenen Zoo das Verhältnis von Blickrichtung und zoologischer Metaphorik reflektieren. Grünbeins Kapitel Die zoologische Internationale aus den Jahren im Zoo bietet den Ausgangspunkt, von dem aus ich das Konzept eines zoologischen Blickes entwerfe, der sich auf die DDR-Zeit richtet und der für die Formierung von Subjektivität und Identifizierung zu einem bestimmenden Faktor wird. Die optischen Qualitäten, welche Die Jahre im Zoo auszeichnen, hängen mit dem bereits mehrfach thematisierten Untertitel Ein Kaleidoskop zusammen. Simonis hat in ihrem Aufsatz das Verhältnis von Schrift und Optik für Grünbeins Text charakterisiert: Die Ansätze zur Theoretisierung des (halb‐)autobiographischen Essays umkreisen die vorläufige und offene Tendenz und konsolidieren durch die Metaphorik optischer Geräte wie des Kaleidoskops die Referenz auf das Visuelle, auf die eingestreuten Bildmedien und signalisieren ihren angenommenen, gegenüber der Schrift womöglich gar privilegierten Erkenntniswert.³⁹⁰
Während Simonis den Bildern einen Sonderstatus gegenüber der Schrift einräumt, kann die Metaphorik des Optischen aber zudem auch anders verstanden werden. Denn Grünbein verdichtet bildliche Qualitäten in Sprache, wie das Beispiel des Kaleidoskops deutlich zeigt: Erinnerung funktioniert wie ein Kaleidoskop. Es gibt die Sensationen und Anekdoten, die Haupt- und Staatsaktionen des Lebens. Damit muß man sich nicht aufhalten, sie kehren
Blank: „Ein Landarzt. Kleine Erzählungen“, S. 236. Simonis: „Essayistisches Schreiben“, S. 55.
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immer wieder, ein sicherer Sagenschatz. Das meiste aber verschwindet und taucht nur durch Zufall wieder auf, wenn Prosa den Zauberstrahl findet, das Funkeln der Kristalle am Boden des Spielzeugs zu bündeln weiß. Kleine Objekte sind es, farbig und ziemlich konturenscharf, sie werden zu Reflektoren. Glas ist im Spiel, ein Fenster als Ausblick, ein Spiegel als Bildfang, ein belichtetes Stück Papier. Die Muster liefert das Kurz- oder Langzeitgedächtnis, als wäre das menschliche Hirn konstruiert wie ein optischer Apparat. (DJZ: 358)
Die Beschreibung der Erinnerung als fragmentarischer, kontingenter und konstruktiver Prozess wird mit dem Kaleidoskop als Vergleichsobjekt in Berührung gebracht; das menschliche Gehirn wird dem Erzähler gleich vollends zum optischen Apparat. Gerade die Prosa − und damit die literarische und sprachliche Form der Erzählung − ist es, die diese Bilder zu bündeln und zu verdichten weiß. Das Kaleidoskop wird in Grünbeins Text zu einer poetologischen Metapher, indem die Drehung des Kaleidoskops mit dem jeweils neuen Ansetzen der Erzählung mit jedem Kapitel zu parallelisieren ist. Gleichzeitig referiert das Kaleidoskop auf die sich fortwährend neu ergebenden Identifizierungen, die ihr Bild (wie beim Kaleidoskop) aus dem vorherigen hervorbringen. Es ist folgerichtig, dass der größte Teil der Jahre im Zoo in Prosaform verfasst ist und die Erinnerungen des Erzählers bzw. seine Bemühungen um diese wiedergibt. Die optischen Bilder werden damit in Sprache umgesetzt, sie werden Denkbilder. Die Forschung hat verschiedentlich bemerkt, dass Denkbilder auch eine literarische Form sind, die sich in den Werken von Autoren wie Benjamin, Adorno, Kracauer und Bloch findet.³⁹¹ Aber auch für Grünbein besitzen sie eine Faszination, wie dieser im Rekurs auf Benjamin erklärt: Benjamin hat sich ja lange mit der Allegorie beschäftigt und den Begriff des Denkbildes aus der Emblematik barocker Sinnbilder entwickelt. […] Aus dieser Dialektik [dem Wechselspiel literarischer Motive und malerischer Sujets; M.K.] hat Benjamin seinen Begriff des Denkbildes herauspräpariert und der Philosophie dienstbar gemacht.³⁹²
Diese Verbindung konstatieren Heinz Schlaffer und Gerhard Richter, die in ihren Abhandlungen jene erwähnten Autoren besprechen, die sie im weiteren Sinn der Frankfurter Schule zuordnen, vgl.: Schlaffer, Heinz: „Denkbilder. Eine kleine Prosaform zwischen Dichtung und Gesellschaftstheorie“, in: Kuttenkeuler, Wolfgang (Hrsg.): Poesie und Politik. Zur Situation der Literatur in Deutschland, Stuttgart: W. Kohlhammer 1973, S. 137– 154; Richter, Gerhard: Thoughtimages. Frankfurt School Writers’ Reflections from Damaged Life, Stanford: Stanford University Press 2007. Zur Etymologie und Geschichte des Denkbildes vor diesen Autoren, vgl.: Schulz, Eberhard Wilhelm: „Zum Wort ‚Denkbild‘“, in: Ders.: Wort und Zeit. Aufsätze und Vorträge zur Literaturgeschichte, Neumünster: Karl Wachholtz 1968, S. 218 – 252. Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 38.
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Grünbein geht über eine reine Beschreibung hinaus und zeigt sich von dem Vorgehen Benjamins (er erwähnt auch Adorno) regelrecht affiziert.³⁹³ Die Forschung hat nicht nur diese Aussage, sondern überdies verschiedene Kontexte und unterschiedliche Texte – lyrische wie essayistische − zum Anlass genommen, Grünbeins Texten einen Denkbilddcharakter zuzusprechen.³⁹⁴ In seinem Text über Benjamins Denkbilder-Buch Einbahnstraße hat Adorno festgehalten, dass in der Form der Denkbilder „Geist, Bild und Sprache sich verbinden“ und dadurch auszeichnen, dass sie das „Denken in Bewegung bringen, weil es in seiner traditionellen begrifflichen Gestalt erstarrt, konventionell und veraltet dünkt.“³⁹⁵ Diese Grundbestimmung der literarischen Form gilt in ähnlicher Weise für Grünbein, der in den Jahren im Zoo zwar keine kurzen Texte produziert, die die klassische Form des Denkbildes annehmen.³⁹⁶ Vielmehr orientiert sich sein Text in den Prosapassagen an einer Schreibweise des Denkbildes, wie sie Gerhard Richter für jeden Satz eines Denkbilds feststellt: „The sentence that the Denkbild gives us to read arrest thought in an image composed of words.“³⁹⁷ Hiermit hängt ein politischer Anspruch zusammen, denn, wie Schlaffer festhält, „muß sich im Denkbild die Erkenntnis von Gesellschaft einstellen.“³⁹⁸ Was die Besonderheit dieses literarischen Verfahrens ausmacht, ist die Möglichkeit das begriffliche Denken zu erweitern, wie es Grünbein selbst beschreibt: „Bilder sind auf jeden Fall geräumiger als Begriffe.“³⁹⁹ Damit überschneidet sich die Schreibweise des Denkbildes mit Grünbeins Essayismus und schließt an den damit einhergehenden Versuch an, sich einem selbstidentischen Bild zu entziehen. Michael Eskin hat aus diesem Grund argumentiert, dass Grünbein durch seine Denkbilder eine „Identitätsscharade“⁴⁰⁰ erzeugt. Grünbeins Versuch eines nichtbegrifflichen Sprechens in sprachlichen Bildern lässt Interpretationsmöglichkeiten zu, die Produktion und Rezeption miteinander verbinden.⁴⁰¹ Die As-
Vgl.: Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 38 f. Vgl. hierzu: Eskin, Michael: „Denkbilder. Zu einem Motiv bei Durs Grünbein“, in: Horst, Christoph auf der / Seidler, Miriam (Hrsg.): Bildlichkeit im Werk Durs Grünbeins, Berlin/Boston: De Gruyter 2015, S. 141– 162; Geisenhanslüke: „Nach Dresden“, S. 293; Wesche: „Biotopoi“, S. 227. Adorno: „Benjamins ›Einbahnstraße‹“, A-GS 11, S. 680 f. Vgl. zur Eigenschaft der Kürze bei der Gattung Denkbild: Schlaffer: „Denkbilder“, S. 145. Richter: Thought-images, S. 13. Schlaffer: „Denkbilder“, S. 144. Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 39. Eskin: „Denkbilder“, S. 152. Vgl. zu diesen beiden Aspekten: Krämer, Oliver: „Bildliches Denken als Erkenntnismodus zwischen Poesie und Wissenschaft. Grünbein über Dante, Darwin, Hopkins und Goethe“, in: Bremer, Kai / Lampart, Fabian / Wesche, Jörg (Hrsg.): Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein, Freiburg: Rombach 2007, S. 241– 257, hier S. 242; sowie: Seidler, Mi-
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pekte von Bildlichkeit und Denkbildern werden in den Jahren im Zoo mit den Metaphoriken des Optischen verknüpft, wobei umso deutlicher wird, dass es – um Adornos Beschreibung von Benjamins Denkbildern noch einmal zu bemühen − „gekritzelte Vexierbilder“⁴⁰² sind, die entstehen. Ich erinnere hier noch einmal daran, dass Grünbein in seinem Essay Transit Berlin Identität als ein Vexierbild bezeichnet⁴⁰³ und so muss man Grünbeins Denkbilder auch stets als Vexierbilder des Selbst verstehen. Wenn Adorno Benjamins literarische Verfahren als Vexierbilder bezeichnet, ist die Verbindung zu Grünbeins Vexierbilder-Identität nicht nur eine Assoziation meinerseits, sondern auch die Forschung stellt solche Verbindung bei Benjamin selbst her. Denn wie Rainer Nägele in seinem Essay über Benjamins Vexierbilder festhält, ist gerade der Versuch, das Selbst durch Erinnerung schreibend einzuholen, jenes Vexierbild, das Benjamin im Anschluss an Proust fasziniert.⁴⁰⁴ Wenn Grünbein sein Gehirn als Kaleidoskop bezeichnet, wird das bei ihm deutlich: Man schüttelte es [das Kaleidoskop; M.K.], drehte es vor dem Auge um und um – und die ganze Herrlichkeit erschien einem in veränderter Konstellation. Für den Augenblick glaubte ich an das, was ich da sah. Es dauerte, bis ich begriff, daß sich die Außenwelt mit so einem Ding nicht erfassen ließ wie durch ein Fernrohr. Daß da überhaupt nur eine abgeschirmte Welt aufschien in den strahlenden Farben am Grund des Röhrchens. Genauso weltunabhängig und von innen her beleuchtet, gleichsam hermetisch, erschien mir manches Mal auch das Gehirn. Man ging herum und wußte noch nicht, wer man war, man lebte und hatte noch keine Ahnung, wofür. (DJZ: 192)
In dem Bild des Gehirns als Kaleidoskop zeigt sich, dass die Konstruktivität des Selbst durch zwei Aspekte bestimmt ist: das Zusammensetzen neuer bruchstückhafter Konstellationen sowie die Bedeutung der Außenwelt, die das Subjekt formt. Die innere Welt wird als eine monadische Einheit beschrieben, deren Zugang zur Außenwelt abgeschirmt ist. Grünbeins Kaleidoskop spielt hier sicherlich erneut auf den Anfang von Prousts Recherche und das dortige „Kaleidoskop der Dunkelheit“⁴⁰⁵ an. Mit diesem charakterisiert Prousts Erzähler in Du côté de chez Swann den Moment des Erwachens, in dem das „kurz[e] Aufschimmern des Be-
riam: „Vom Stellenwert der Bilder. Bilder, Bildlichkeit und Bildtheoretisches im Werk Grünbeins“, in: Horst, Christoph auf der / Seidler, Miriam (Hrsg.): Bildlichkeit im Werk Durs Grünbeins, Berlin/ Boston: De Gruyter 2015, S. 5 – 14, hier S. 10. Adorno: „Benjamins ›Einbahnstraße‹“, A-GS 11, S. 680. Vgl. hierzu das Kapitel Eine Ouvertüre im Übergang sowie TB: 140 Vgl. hierzu: Nägele, Rainer: „Vexierbilder des Lebens. Benjamins Autobiographische Kurztexte“, in: Ders.: Literarische Vexierbilder. Drei Versuche zu einer Figur, Eggingen: Edition Isele 2001, S. 31– 50, hier insbes. S. 32. Proust: Unterwegs zu Swann, S. 8.
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wußtseins“ die Innenwelt des Schlafes durchstößt und einen kleinen Teil der Außenwelt, „dies Ganze, von dem ich nur ein kleiner Teil war und in dessen Fühllosigkeit ich gleich wieder einging“⁴⁰⁶, wahrnimmt. Die innere Welt von Grünbeins Protagonisten spiegelt zugleich auch seine äußere, die durch staatliche Inhaftierung gleichfalls abgeschirmt ist. Diese äußere Welt ist es, welche die innere formt. Es ist die innere Welt, die den Erzähler in seiner zeitlichen Distanz befähigt, in und durch seine Erinnerungen über sein Selbst zu reflektieren.
4.1 Funktionen der Photographie (Un‐)Ähnlichkeiten – Mummerehlen und Westauto Kondensiert wie kaum ein anderer Text nimmt Walter Benjamins Prosaminiatur Die Mummerehlen das Verhältnis von Photographie und Ähnlichkeit in den Blick. Ausgehend von dem Kinderlied Muhme Rehlen entwickelt Benjamin seine Konzeption von Entstellungen, in der die Sprache ihm die Möglichkeit gibt, durch magisch-semiotische Konstruktionen Ähnlichkeiten zwischen dem Kind und den Dingen, die es umgeben, zu erzeugen. Das Kind kann den „Wohnungen, Möbeln, Kleidern ähnlich“ werden, die ihm „die Wege [weisen], die in ihr [der Welt; M.K.] Inneres führten.“⁴⁰⁷ Benjamin bringt es auf den Punkt, wenn er auf den Titel des Stückes rekurrierend festhält: „Beizeiten lernte ich es, in die Worte, die eigentlich Wolken waren, mich zu mummen.“⁴⁰⁸ In der Adorno-Rexroth-Fassung wendet sich der Text, nachdem die Ähnlichkeitsstrukturen der Sprache diskutiert wurden, einer anderen Ähnlichkeit zu: „Nur meinem eigenen Bilde [wurde ich] nie [ähnlich; M.K.]. Und darum wurde ich so ratlos, wenn man Ähnlichkeit mit mir selbst von mir verlangte. Das war beim Photographen.“⁴⁰⁹ Umgeben von der künstlichen Anordnung des Interieurs eines photographischen Ateliers kann der Erzähler keine Ähnlichkeit zwischen sich, dem (Gedächtnis‐)Bild, das er von sich hat, und der zugehörigen Photographie erkennen. Doch dem nicht genug, Benjamin referiert nicht nur lose auf eine Photographie, die es von ihm und seinem Bruder Georg gibt (vgl.: Abb. 3), er wechselt zu der Beschreibung einer zweiten Photographie, deren Drastik ihn noch deutlicher von sich selbst distanziert, als die Beschreibung des Alpenbildes mit seinem Bruder: „Doch das gequälte Lächeln um den Mund des kleinen Älplers ist nicht so betrübend wie der
Proust: Unterwegs zu Swann, S. 8 f. Benjamin: „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“, B-GS IV, S. 261. Benjamin: „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“, B-GS IV, S. 261. Benjamin: „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“, B-GS IV, S. 261.
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Abb. 3: Walter und Georg Benjamin (ca. 1902)
Abb. 4: Franz Kafka (ca. 1988/89)
Blick, der aus dem Kinderantlitz, das im Schatten der Zimmerpalme liegt, sich in mich senkt.“⁴¹⁰ Das Bild, das als eine Beschreibung von Benjamin präsentiert wird, referiert auf ein reales Vorbild; dieses zeigt aber nicht Benjamin als Kind, sondern Franz Kafka (vgl.: Abb. 4). Die Narration der Mummerehlen klärt über dieses Verhältnis nicht auf, vielmehr konstatiert die Erzählinstanz mit Blick auf das überladene Interieur: „Ich aber bin entstellt vor Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich ist.“⁴¹¹ Die Entstellung ist in diesem Fall eine zweifache: Benjamins Protagonist steht nicht nur aufgrund einer magischen Sprachphantasie in einem Ähnlichkeitsverhältnis zu den Dingen, die er wahlweise als belebt imaginiert oder die zu einem semiotischen Missverstehen führen, das eine Entstellung des Selbst herbeiführt; er ist überdies von sich selbst entstellt, indem er eine Photographie Kafkas − als
Benjamin: „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“, B-GS IV, S. 261. Benjamin: „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“, B-GS IV, S. 261.
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Bild von sich selbst inszeniert − zum Vorbild nimmt. Jeder Verdacht, dass es sich um eine unabsichtliche Konstruktion Benjamins (also eine Verwechselung aufgrund von schlechtem Gedächtnis) handeln könnte, zerschlägt sich, betrachtet man die beiden weiteren Beschreibungen der gleichen Photographie im KafkaAufsatz und der Kleinen Geschichte der Photographie, wo der Abgebildete als Kafka identifiziert wird.⁴¹² Für Benjamin hat diese doppelte Entstellung, die auf einer Nichtidentität zwischen dem abgebildeten Kind und dem betrachtenden Erwachsenen beruht, programmatischen Charakter. In seinem Baudelaire-Aufsatz hält er fest: Am Anfang des Identifikationsverfahrens […] steht die Personalbestimmung durch Unterschrift. In der Geschichte dieses Verfahrens stellt die Erfindung der Photographie einen Einschnitt dar. Sie bedeutet für die Kriminalistik nicht weniger als die des Buchdrucks für das Schrifttum bedeutet hat. Die Photographie ermöglicht zum ersten Mal, für die Dauer und eindeutig Spuren von einem Menschen festzuhalten.⁴¹³
Gegen diesen Kontrollmechanismus, der einen Teil staatlicher Identifikationsverfahren darstellt, geht Benjamins eigener Text an, indem er die Identität zwischen dem sich erkennenden Ich und dem abgebildeten Ich auflöst. Was beide verbindet, sind die „unermeßlich traurigen Augen“⁴¹⁴ und nicht eine dahinterliegende physische und psychische Gleichheit der beiden Individuen. Die Nichtidentität wird damit zum Programm, das sich der Vorstellung einer Identität entzieht, wie sie ebenso − aber gewiss nicht allein − von staatlicher Seite propagiert wird.Während Benjamin selbst die staatliche Praxis der Identifikation mit dem literarischen Genre der Detektivgeschichte assoziiert, weist Lemke auf eine andere Verbindung hin: Doch die Photographie stellt nicht nur einen technischen Einschnitt in der Geschichte der Identifikation des einzelnen durch den Staat dar, ihr Aufstieg weist gleichzeitig eine frappierende Parallele zur Entwicklung des autobiographischen Textes auf. Beide Gattungen
Vgl.: Benjamin: „Kleine Geschichte der Photographie“, B-GS II, S. 375; Benjamin: „Franz Kafka“, B-GS II, S. 416. In einem Brief an Gretel Adorno findet sich wiederum ein Gegenargument, wenn Benjamin dort erklärt, es sei er, der auf der Photographie abgebildet wäre, und er habe das Original Gretel Adorno gezeigt. Angesichts der vermehrten Verwendung in anderen Texten Benjamins weist aber auch der Kommentar der Gesammelten Briefe darauf hin, dass es sich bei der Photographie um eine Abbildung Kafkas handeln müsse. Ob es überhaupt eine ähnliche Photographie Benjamins gab, bleibt ungesichert, vgl.: Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. IV. 1931−1934, S. 257 ff. Benjamin: „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“, B-GS I, S. 550. Benjamin: „Franz Kafka“, B-GS II, S. 416.
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finden ihre eigentliche Ausprägung mit dem Aufstieg des Bürgertums und dessen Streben nach Identität.[…] Die Ausbildung subjektiver Identität im bürgerlichen Zeitalter und die Möglichkeit der Identifikation und der Kontrolle von Außen werden in der Portraitphotographie als dialektische Momente desselben Prozesses sichtbar.⁴¹⁵
Benjamins autobiographischer Text, der auf Photographien rekurriert, subvertiert die Praxis bürgerlicher Identitätsvorstellung⁴¹⁶ und bedient sich der dialektischen Momente, die er in den Mummerehlen ausspielt. In Grünbeins Jahren im Zoo sind 46 Photographien und Postkarten abgebildet, die laut Hinweis aus der Sammlung Grünbeins stammen (vgl.: DJZ: 400). Schon die Bezeichnung Sammlung weist daraufhin, als was sich Grünbein selbst versteht: als Sammler.⁴¹⁷ Denn sein Text ist angereichert mit verschiedenen Sammlungen und so sind auch die Zitate aus den zahlreichen Intertexten, ebenso wie die Photographien als eine Art Sammlung zu verstehen. Aus diesem Grund hat Roman Bucheli in seiner Rezension in der Neuen Züricher Zeitung die Jahre im Zoo auch treffend als „eine kleine Kulturgeschichte des Ostens“ bezeichnet, die Grünbein in seinen „wunderbare[n] Miniaturen“⁴¹⁸ entwirft und erzählt. Im Passagen-Werk schreibt Walter Benjamin, dass das „Sammeln […] eine Form des praktischen Erinnerns“⁴¹⁹ ist und man gewinnt durchaus den Eindruck, dass dies der Anspruch von Grünbeins Photographien und Karten ist. Denn durch diese erzeugt Grünbeins Text eine Albumästhetik und wird regelrecht zu einem Photoalbum der Vergangenheit. Es ist diese Ästhetik, die die teilweise willkürliche Anordnung und Einsetzung der Photos erklärt, die einen Gegensatz zum durchgeformten Text etabliert. Denn laut Roland Barthes’ Vorlesung Die Vorbereitung des Romans unterscheiden sich Buch und Album vornehmlich dadurch, dass Ersteres „durchkonstruiert und wohldurchdacht“, während das Album eine Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 140. Busch und Albers weisen darauf hin, dass die Photographie-Praxis im Atelier seit Mitte des 19. Jahrhunderts „einer Versuchsanordnung gesellschaftlicher Identitätsproduktion und Habitualisierung“ gleicht, Busch, Bernd / Albers, Irene Albers: „Fotografie/fotografisch“, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Studienausgabe. Bd. 2 [Dekadent bis Grotesk], Hamburg: Junius 2013, S. 494– 550, hier S. 507. Auch in dem Gedicht Die Lehre der Photographie beschreibt sich Grünbein selbst als einen Sammler, der sich die Photographie zusammensucht: „Bis ich die Photographien sah, / Nicht im Familienalbum, sondern / Am Stand bei den Flohmarkthändlern. / Archivbilder waren das, Postkarten / Von Straßenszenen, Stadtansichten / Zwischen den Kriegen, Momente / Verschwundenen Lebens, / Manche noch mit dem Stempel / »Originalabzug von Hand«.“ (DJZ: 115 f.). Bucheli, Roman: „Im Taumel der Bilder“, Neue Züricher Zeitung, 05.03. 2016, URL: https:// www.nzz.ch/feuilleton/buecher/durs-gruenbeins-dresdner-kindheitserinnerungen-im-taumelder-bilder-ld.6254 (letzter Zugriff am 30. Oktober 2020). Benjamin: Das Passagen-Werk, B-GS V, S. 271.
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„Sammlung zufälliger Inspirationen“⁴²⁰ ist. Wie Barthes in dem Abschnitt zum Album ausführt, gilt für dieses das „Fehlen einer Struktur“, es ist vielmehr ein „künstliches Ensemble von Elementen, deren Ordnung, deren An- oder Abwesenheit zufällig ist“⁴²¹. Barthes bezeichnet das Album selbst als eine Sammlung und weist auf die neu zu etablierende Ordnung hin und überschneidet sich damit mit Benjamins Charakterisierung des Sammelns, wenn es bei diesem heißt: „Es ist beim Sammeln das Entscheidende, daß der Gegenstand aus allen ursprünglichen Funktionen gelöst wird um in die denkbar engsten Beziehungen zu seinesgleichen zu treten.“⁴²² In seiner Rede über das Sammeln konstatiert Benjamin überdies: „So ist das Dasein des Sammlers dialektisch gespannt zwischen den Polen der Unordnung und der Ordnung.“⁴²³ Die Unordnung löst sich in eine neue Ordnung auf und bewahrt doch ihre ursprüngliche Willkürlichkeit; es ist dieses dialektische Verfahren, das Album und Sammeln verbindet und das Grünbein zugleich als das Verfahren seiner Photographie-Einfügungen wählt, indem er sie in seine durchkonstruierten Texte einbettet und so erneut traditionelle und feste Formen, die des Albums und die des Buches, unterläuft. Gleichzeitig liegt in dieser Spannung von Unordnung und Ordnung auch das Potential für die Aneignung von Grünbeins eigener Vergangenheit, wenn dieser, wie auch schon Wolf, Benjamins Anspruch für die Geschichtsschreibung individualisiert. Auch Benjamins eigene Beschreibung des Sammlers oszilliert schon zwischen dem individuellen Vorgehen und einem geschichtsphilosophischen Zugang.⁴²⁴ Über den historischen Materialisten schreibt er:
Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978−1979 und 1979−1980, hrsg. von Éric Marty / Nathalie Léger, übers. von Horst Brühmann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 285. Unter Rückgriff auf Barthes argumentieren auch Kramer und Pelz in ihrer Einleitung zu dem einschlägigen Band Album. Organisationsform narrativer Kohärrenz, vgl.: Kramer, Anke / Pelz, Annegret: „Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.): Album. Organisationsform narrativer Kohärenz, Göttingen: Wallstein 2013, S. 7– 22, hier S. 8 f. Barthes: Die Vorbereitung des Romans, S. 290. Benjamin: Das Passagen-Werk, B-GS V, S. 271. Benjamin: „Ich packe meine Bibliothek aus“, B-GS IV, S. 388. Auf diese Engstellung verweist auch Lindner in seinem Beitrag aus dem Benjamin-Handbuch. Denn es finden sich zahlreiche wortgleiche Passagen in Ich packe meine Bibliothek aus und dem Fuchs-Aufsatz. Außerdem bezeichnet Lindner Ersteren als ein Selbstporträt, in dem Benjamin erstmals seine Theorie des Sammlers entwerfe, und konstatiert für Letzteren, dass Benjamin Eduard Fuchs dort vornehmlich seine eigene Programmatik überstülpe, vgl.: Lindner, Burkhardt: „Zu Traditionskrise, Technik, Medien. »Ich packe meine Bibliothek aus«/ »Der destruktive Charakter«/ »Erfahrungsarmut«/ »Eduard Fuchs. Der Sammler und der Historiker«/ »Lichtenberg. Ein Querschnitt«/ Sur Scheerbart / »Vereidigter Bücherrevisor«“, in: Ders. (Hrsg.): BenjaminHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2006, S. 451– 464, hier S. 452, 456.
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Der historische Materialist muß das epische Element der Geschichte preisgeben. Sie wird ihm Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die leere Zeit, sondern die bestimmte Epoche, das bestimmte Leben, das bestimmte Werk bildet. Er sprengt die Epoche aus der dinghaften ›geschichtlichen Kontinuität‹ heraus, so auch das Leben aus der Epoche, so auch das Werk aus dem Lebenswerk. Doch der Ertrag dieser Konstruktion ist der, daß im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben.⁴²⁵
Grünbein ist kein historischer Materialist, aber er geht mit der eigenen Kulturgeschichte ebenso hart ins Gericht wie Benjamin, denn die Kultur stammt auch bei ihm nicht „nur von der Mühen großer Genien“ ab, wenngleich es weniger um die „namlos[e] Fron ihrer Zeitgenossen“⁴²⁶ geht. Es ist nicht der Produktionsprozess den Grünbein in den Mittelpunkt stellt, wenn er versucht, in seinen Texten eine Kulturgeschichte zu entfalten, wohl sieht er aber, wie sein Lebensraum von den Diktaturen des 20. Jahrhunderts durchwirkt ist und wie es in Dresden und Hellerau fast kein „Dokument der Kultur“ geben kann, das nicht „zugleich ein solches der Barbarei“⁴²⁷ ist. Eine Ausnahme bildet lediglich der Hellerauer Raum vor 1914, wobei auch deren Dokumente von der Geschichte der Diktaturen berührt werden. Wenn Annegret Pelz schreibt, dass „Texte, die sich aus den Sammlungen von Alben speisen, […] Alltagsdokumenten eine gesteigerte Wertschätzung entgegen[bringen]“⁴²⁸, charakterisiert dies auch Grünbeins Umgang mit seinen Photographien und Karten, die zwar im Text selten angesprochen werden, aus diesem aber doch herausragen. Durch ihre Präsenz entsteht so ein „doppelter Echoraum“, wie es Roman Bucheli bezeichnet, der Gegenwart des Erzählens und Vergangenheit des Erinnerns verbindet und neu konstelliert: „In der Gegenwart hallen die Erinnerungen nach – und in den Gedächtnisspuren findet er einen Vorschein des Kommenden.“⁴²⁹ Wie sich beim Betrachten zeigt, ist es nicht einfach, die konkrete Funktion der jeweiligen Photographien zu benennen, aber man kann durchaus erkennen, dass ein großer Teil der Photographien in den meisten Fällen den Text illustriert, obwohl auf den ersten Blick nicht immer deutlich wird, in welcher Weise sie das tun. Da den Photographien konsequent paratextuelle Beschreibungen fehlen, müssen
Benjamin: „Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker“, B-GS II, S. 468 (Hervorheb. i. Orig.). Benjamin: „Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker“, B-GS II, S. 476. Benjamin: „Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker“, B-GS II, S. 477. Pelz, Annegret: „Vom Bibliotheks- zum Albenphänomen“, in: Kramer, Anke / Pelz, Annegret (Hrsg.): Album. Organisationsform narrativer Kohärenz, Göttingen: Wallstein 2013, S. 40 – 58, hier S. 40. Bucheli: „Im Taumel der Bilder“.
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die Lesenden – wie am Traditionsschiff Frieden gezeigt⁴³⁰ − selbst diese Verbindungen herstellen. Für Simonis zeugt dieses Verfahren von einer intentionalen Durchbrechung des traditionellen autobiographischen Schreibens,⁴³¹ bei dem aufsteigend alterstypische Photographien des schreibenden Subjektes zu erwarten wären. Während bei den Photographien, die in den Jahren im Zoo Menschen abbilden – abgesehen von der Photographie Paul Adlers (vgl.: DJZ: 309) −, unklar ist, ob die Personen diejenigen darstellen, von denen berichtet wird (z. B. der Großvater, vgl.: DJZ: 30), bildet eine Photographie eine Ausnahme: Die Titelphotographie, die auf dem Cover des Buches und auf der zweiten Seite noch einmal abgebildet ist (Abb. 5). Auf dem Bild sieht man ein Kind − noch vor dem Schulalter −, das sich an ein weißes Auto lehnt. Im Hintergrund erkennt man Häuserfassaden, Bäume und eine Straße, die für die Bestimmung des Bildes aber keine weitere Bedeutung haben. Der Photographie ist bei ihrer zweiten Abbildung kein Paratext zugeordnet (vgl.: DJZ: 2). Für die erste Abbildung auf dem Cover können wiederum Titel und Autorname als ein solcher charakterisiert werden. Schon der Titel Die Jahre im Zoo lässt auf eine Inhaftierung schließen und ein basales Hintergrundwissen über Grünbeins Herkunft aus der DDR macht deutlich, dass dieser Text sich mit dem DDR-Zeitraum beschäftigen wird. Die Innenseiten des Buchumschlages fungieren ebenso als paratextuelle Zuordnungen, die durch die publikationsüblichen Informationen auf einen autobiographischen Gehalt in Form einer ‚Inhaltsangabe‘ sowie auf das Leben durch die Kurzbeschreibung des Autors verweisen und damit bestehende Wissenslücken der Lesenden füllen (vgl.: DJZ: Klappentext vorne, hinten). Im Kind soll der Autor erkannt werden. Welche Konsequenzen sich aus dieser Identifizierung ergeben, wird im Folgenden noch diskutiert werden. Zunächst zu einem anderen Aspekt: dem Auto. Dieses nimmt den größten Teil der Abbildung auf dem Cover ein und bildet das Zentrum der Photographie. Das Kind wirkt eher als Staffage für das Auto.⁴³² Die Marke des Wagens ist besonders auf-
Vgl. das Kapitel Paradoxien maritimer Metaphorik in Die Jahre im Zoo. Vgl.: Simonis: „Essayistisches Schreiben“, S. 57. Auch damit schließt Grünbein zumindest indirekt an Benjamin an. Denn wie die Forschung schon verschiedentlich bemerkt hat, ist es gerade die Umgebung, die Dinge und die Hintergründe, die bei Benjamin das Kind von sich selbst entfremden und die Umgebung zum eigentlichen Agens der Szenerie machen. Schon in Anna Stüssis Monographie heißt es beispielsweise: „[D]ie toten Requisiten wollen dem Kind das Leben nehmen und selbst lebendig werden, wie Schatten im Hades.“, Stüssi, Anna: Erinnerung an die Zukunft. Walter Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977, S. 189.Vgl. bei Stüssi auch, S. 189 – 192; sowie: Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 158.
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fällig, denn es handelt sich um einen Ford Taunus 12 m (P4).⁴³³ Dass in der DDR ein westliches Auto photographiert wurde, mag vielleicht angesichts des exotischen Charakters gewöhnlich anmuten. Es ist aber umso bemerkenswerter, dass gerade eine Photographie mit einem westdeutschen Kraftfahrzeug im Fokus den
In ihrem Beitrag schreibt Annette Simonis, dass es sich bei dem Auto, um einen Opel Rekord handeln würde, vgl.: Simonis: „Essayistisches Schreiben“, S. 52. Wie meine Recherchen und freundliche Hinweise ergaben, ist es aber ein Ford Taunus, wie an dem 12 m schräg vor dem vorderen Radkasten erkennbar ist. Grünbeins Photographie bildet mit dem Ford Taunus die explizit westdeutsche Variante eines US-amerikanischen Fahrzeugherstellers auf dem Cover ab. Für den entscheidenden Hinweis danke ich Robert Stockhammer.
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Auftakt zu einem Buch über die Jahre im Zoo − also das Leben des Autors in der DDR, speziell in Dresden − bildet. Zunächst stellt dieses Bild eine Aktualisierung kindlicher Porträtphotographie dar. Das Kind ist nicht mehr, wie in den von Benjamin beschriebenen Photographien, von dem Tand der vergangenen Zeit, sondern von den Insignien des Anderen umgeben. Das Atelier des Großbürgertums um 1900 wird gegen die Straße, alpine Leinwände gegen den kleinbürgerlichen Wunsch nach einem eigenen Auto eingetauscht. Das Auto symbolisiert gleichermaßen den in der DDR schwer erfüllbaren Wunsch nach einem Wagen, wie den Wunsch in den Westen zu gelangen. Wenn das Kind tatsächlich Grünbein sein soll, ist die Photographie nach dem Mauerbau 1961 zu datieren, was den Zugang zu einem solchen Auto, noch dazu im abgeschiedenen Dresden − im Volksmund das ‚Tal der Ahnungslosen‘ −, erschwert. Die Photographie referiert auf die Tradition der Kinderbilder seit der Zeit der großen Kinderporträts um 1900, wenn sowohl in Benjamins Beschreibungen als auch in Grünbeins Photographie die Kulisse mehr das abgebildete Individuum determiniert, als dass dieses die Umgebung dominiert. Außerdem bespielt Grünbein durch das abgebildete Automobil die Klaviatur des Wunsches nach dem Zugang zum Westen und seinen Gütern. Der Zoo wird als Raum markiert, der seinen Sehnsuchtsort außerhalb von ihm selbst findet. Auf dieses ‚außerhalb‘ – markiert durch das Auto – richten sich Begehren und Streben. Das Kind soll hierfür als Garant fungieren und Kontinuität und Bruch zwischen Kindheit und Gegenwart des Schreibenden bildlich einholen, wobei die medialen Spezifika der Photographie, wie ich im Folgenden zeige, als Sollbruchstelle fungieren.
Kracauer und die Lehre der Photographie In seinem Essay Die Photographie – der später in die Textsammlung Das Ornament der Masse aufgenommen wurde − hat sich Siegfried Kracauer intensiv mit dem Verhältnis von Erinnerung und Photographie beschäftigt. Kracauer wiegt die beiden Aspekte gegeneinander ab und findet eine eindeutige Antwort auf ihre unterschiedlichen Funktionsweisen: Das Gedächtnis achtet der Daten nicht, es überspringt die Jahre oder dehnt den zeitlichen Abstand. Die Auslese der von ihm vereinten Züge muß dem Photographen willkürlich dünken. Sie mag so und nicht anders getroffen werden, weil Anlagen und Zwecke die Verdrängung, Verfälschung und Hervorhebung gewisser Teile des Gegenstandes fordern; eine schlechte Unendlichkeit von Gründen bestimmt die zu filtrierenden Reste. […] Die Photographie erfaßt das Gegebene als ein räumliches (oder zeitliches Kontinuum), die Gedächtnisbilder bewahren es, insofern es etwas meint. Da das Gemeinte in dem nur‐räumlichen Zusammenhang sowenig aufgeht wie in dem nur zeitlichen, stehen sie windschief zur photographischen Wiedergabe. Erscheinen sie von dieser aus als Fragment – als Fragment
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aber, weil die Photographie den Sinn nicht einbegreift, auf den sie bezogen sind und auf den hin gerichtet sie aufhören Fragment zu sein −, so erscheint die Photographie von ihnen aus als ein Gemenge, das sich zum Teil aus Abfällen zusammensetzt.⁴³⁴
Es mutet zunächst paradox an, Photographie und Erinnerung in Opposition zu bringen, scheint erstere durch ihre Realitätsillusion doch letztere zu verstärken.⁴³⁵ Laut Kracauer bilden sich Erinnerungen durch eine Sinnkonstitution, bei deren fortlaufender Narration einzelne Informationen und Details verdichtet und verdrängt werden können, wie man in Rückgriff auf Freud formulieren kann.⁴³⁶ Eine derartige Narration zielt auf einen Wahrheitsgehalt des erinnerten Bildes, von dem Kracauer konstatiert, dass es „mit gutem Recht das letzte heißen darf“ und die „eigentliche »Geschichte«“⁴³⁷ eines Menschen darstelle. Inka Mülder-Bach hat in ihrer Studie zu Kracauer dieses Verhältnis wie folgt charakterisiert: Die Erkenntnis dieses Sinns ist die Aufgabe, die mit den Gedächtnisbildern sich verknüpft. Sie sind das Material, aus dem das Denken sich eine neue Wirklichkeit schafft, eine Wirklichkeit, die sich gegenüber der gleichgültigen Konventionalität des Faktischen durch ihren höheren »Wahrheitsgehalt« auszeichnet.⁴³⁸
Kracauers eindeutige Wertschätzung gilt dem Gedächtnisbild. Dieses kann durch seine Qualität, eine Narration mit Wahrheitsgehalt hervorbringen zu können, mehr über das Subjekt aussagen, als es das Photo im Stande ist. Zu Beginn seines Essays vergleicht Kracauer zwei Photographien: Zum einen eine zeitgenössische Photographie einer ‚dämonischen Diva‘ aus einer Illustrierten und zum anderen eine 60 Jahre alte Photographie einer Frau. Die Photographie der Großmutter wird von ihren Enkeln betrachtet und diese stellen sich Fragen über die Vergangenheit der Großmutter: „Sah so die Großmutter aus? Die Photographie […] zeigt sie als junges Mädchen von 24. Da Photographien ähnlich sind, muß auch diese ähnlich
Kracauer, Siegfried: „Die Photographie“, in: Ders.: Werke. Bd. 5.2. Essays, Feuilletons, Rezensionen. 1924−1927, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2011, S. 682– 698, hier S. 685. Vgl.: Mülder-Bach, Inka: Siegfried Kracauer − Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften 1913−1933, Stuttgart: Metzler 1985, S. 73. Freud selbst bringt die Photographie als Analogie für das Verhältnis von vorbewussten und unbewussten Inhalten ins Spiel, vgl.: Freud: „Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse“, StA III, S. 34. In der Traumdeutung referiert er überdies im Kontext von Erinnerungen auf eine Aussage Breuers, in der die Photographie als Beispiel zur Verdeutlichung genutzt wurde, vgl.: Freud: Die Traumdeutung, StA II, S. 514; vgl. auch: Freud/Breuer: Studien über Hysterie, S. 207. Kracauer: „Die Photographie“, S. 686. Mülder-Bach: Siegfried Kracauer, S. 73.
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gewesen sein. […] Aber fehlte die mündliche Tradition, aus dem Bild ließe sich die Großmutter nicht rekonstruieren.“⁴³⁹ Allein ein paratextueller Kommentar seitens Dritter kann für die Enkel eine Ähnlichkeit zwischen der abgebildeten Person und dem eigenen mentalen Bild der Großmutter herstellen. Kracauer beschreibt, wie in der fortwährenden Betrachtung die Photographie ihre Ähnlichkeitsstruktur einbüßt und der Fokus sich von dem Individuum zu Requisiten und Staffage − im Falle der Großmutter-Photographie: die Kleidung −, der „Veranschaulichung des Zeitkostüms“⁴⁴⁰, verschiebt. Einem ähnlichen Verfahren folgt die Titelphotographie der Jahre im Zoo: Während zunächst, obwohl der Klappentext kein Autorenporträt enthält, eine Ähnlichkeit zwischen Autor und Kind gesucht wird, wendet sich der Blick bei fortwährender Betrachtung von dem am Rande stehenden Kind immer mehr zum massiven in die Bildmitte ragenden Kraftfahrzeug. Der Ford wird zur Insignie für eine vergangene Zeit. Die Zuordnung als westdeutsches Auto nimmt erst in der Folge Raum ein. Das Bild hält einen Status quo fest, der von den Erinnerungsbildern des literarischen Textes fortwährend unterlaufen wird. Zu keiner Zeit spielt das auf der Titelphotographie Abgebildete im Buch eine Rolle. Zwar werden Westautos erwähnt, allerdings findet sich keine Gelegenheit, bei der dieses Photo entstanden sein kann. Der Text situiert die westdeutschen Autos dafür an einer prägnanten Stelle ganz anders und rekurriert, ohne sie zu benennen, auf die Titelphotographie: Immer wieder pilgerten wir an die Ausfallstraßen, fuhren hinaus, um Hellerau zu vergessen, berauschten uns an dem rauschenden Verkehr. Wir lehnten uns über die Autobahnbrücke […]. Alarm wurde geschlagen, wenn ein Westauto in Sicht kam, einer dieser Exoten in extravaganten Metallicfarben vom Typ Mercedes, Opel oder VW, mit denen die Weltenkenner, die Weitgereisten unterwegs waren auf der alten Reichsautobahn, die für sie natürlich nur eine bedeutungslose Transitstrecke war. Mit schalen Augen, die uns nicht sahen, manche die Sonnenbrillen im Gesicht, fuhren sie wie die Außerirdischen an uns vorüber. Wir waren die Schläfer im Tal, eine Generation von Nachtfaltern bei Tag, unsichtbar für die meisten der hinter dem Steuer Sitzenden, so unsichtbar wie die Ligusterschwärmer, rostbraune Tarnkappenflieger in ihrem natürlichen Habitat. (DJZ: 240 f.)
Die Westdeutschen und die kurz darauf erwähnte „Westsehnsucht“ (DJZ: 241) machen deutlich, dass zwar die Kinder in dieses natürliche Habitat – ein weiterer Verweis auf Benjamins Schmetterlingsepisode sowie auf Arthur Rimbaud⁴⁴¹ −
Kracauer: „Die Photographie“, S. 682 (Hervorheb. i. Orig.). Kracauer: „Die Photographie“, S. 683. Vgl. das Kapitel Dresdner Kindheit um 1970 – Grünbein und die Berliner Kindheit um 1900. Der Verweis auf Arthus Rimbauds Gedicht Der Schläfer im Tal stellt die Hoffnungslosigkeit aus, die in der Gegenüberstellung von Ost und West liegt. Rimbauds Gedicht handelt von einem in der Idylle
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gehören, die Autos jedoch nicht. Diese bzw. ihre Fahrer kommen, so der stark Distanz aufbauende Vergleich, gar von einem andern Planeten. Sie erscheinen dem Protagonisten als Vertreter eines Kosmopolitismus, dem sich der Erzähler zugehörig fühlt. Die Autos stehen für etwas Nicht-Ostdeutsches und nur bedingt – in Form des Wunsches zur Ausreise − für die Jahre, die der Protagonist im Zoo verbringt, die das Buch doch qua Titel abbilden will. Den performativen Akt, die Gedächtnisbilder in Form des literarischen Textes hervorzubringen, präferiert der Erzähler deutlich gegenüber der Photographie. Denn bei der Betrachtung von Photographien im elterlichen Haushalt kann er lediglich feststellen: „Meistens langweilten mich diese Erinnerungsrituale […].“ (DJZ: 260) Trotz dieser offensichtlichen Abneigung gegenüber der Erinnerung qua Photographie hält er sich an das Diktum Benjamins, dass Photographien – obwohl Verdinglichung und Erfahrungsverlust mit ihnen einhergeht − „den Umfang der mémoire involontaire“⁴⁴² erweitern können, wie es Grünbein selbst mit dem Gedicht Die Lehre der Photographie zeigt: In diesem Langgedicht (vgl.: DJZ: 114−124) wird die Photographie als etwas apostrophiert, das dem lyrischen Ich – das die gleiche Instanz wie der Erzähler der Prosapassagen ist − zu Dresden einen neuen Zugang, ja sogar den „Schlüssel zu dieser Stadt“ (DJZ: 115) vermitteln kann. Dabei stehen weniger Photographien aus dem persönlichen Umfeld im Vordergrund, sondern die „Archivbilder […], Postkarten von Straßenszenen, Stadtansichten zwischen den Kriegen.“ (DJZ: 115) In der Anonymität dieser Photographien findet das lyrische Ich eine Auflösung der Geschichte, die zu einem Moment des Eingedenkens führt, indem es sich in fremde „familiäre Geschichten“ (DJZ: 119) einfühlt und so die „Momente verschwundenen Lebens“ (DJZ: 115) in seiner Vorstellungskraft retten kann.
sterbenden Soldaten. Dies ist die Befürchtung, die der Protagonist hat, wenn zu diesem Zeitpunkt für ihn das Ende der DDR noch nicht absehbar ist, vgl.: Rimbaud, Arthur: Sämtliche Dichtungen. Zweisprachige Ausgabe, hrsg. von Thomas Eichhorn, übers. von ders. / Reinhard Kiefer / Ulrich Prill, München: Dtv 1997, S. 72 f. Der Ligusterschwärmer als brauner Falter lässt überdies eine weitere intertextuelle Assoziation zu, die mit einer ähnlich fatalistische Lesart dieser Passage korreliert: Rilkes Haiku HAÏ-KAÏ (Kleine Motten taumeln schauernd). Dort wird das Bild einer sterbenden Motte inszeniert, die den Frühling nicht erlebt. Grünbein, selbst Haiku-Dichter, verweist damit erneut auf ein Leben im real existierenden Sozialismus, dessen Ende nicht abzusehen ist, und auf die Furcht des Protagonisten, diese Situation sein restliches Leben ertragen zu müssen, vgl.: Rilke, Rainer Maria: Die Gedichte, hrsg. von Ernst Zinn, Frankfurt a. M.: Insel 2004, S. 1031. Benjamin: „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“, B-GS I, S. 644.
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Das Punctum Grünbeins Roland Barthes’ Studie Die helle Kammer teilt mit Kracauer die Annahmen über die zeitliche Struktur des Bildes. Denn dieses unterscheidet sich, wie Kracauer dargestellt hat, von der Erinnerung in der Fixierung eines Zeitpunktes mit all seinen Details, die nicht mit dem Versuch einer sinnhaften Produktion von Gedächtnisbildern übereinstimmt: Die Photographie ruft nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis zurück (nichts Proustisches ist in einem Photo). Die Wirkung, die sie auf mich ausübt, besteht nicht in der Wiederherstellung des (durch Zeit, durch Entfernung) Aufgehobenen, sondern in der Beglaubigung, daß das, was ich sehe, tatsächlich dagewesen ist.⁴⁴³
Die Photographie kann im Unterschied zum Gedächtnis in ihrer Form keine Beweglichkeit der Erinnerung ausdrücken, sondern sie schreibt das Abgebildete fest und drückt etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt aus. Aus diesem Grund bestimmt Roland Barthes das Wesen der Photographie wie folgt: „Der Name des Noemas der Photographie sei also: »Es-ist-so-gewesen« oder auch: das Unveränderliche.“⁴⁴⁴ Mit der Festschreibung des Zeitpunktes der Abbildung als unveränderlich in der Vergangenheit liegend⁴⁴⁵, ist es der Photographie nicht möglich, etwas über die weitere Entwicklung des Referenten zu sagen. Dieser ist in seiner Vergangenheit unumstößlich bestimmt, kann aber über dieses Bild Bedeutung entfalten: Die Photographie sagt (zwangsläufig) nichts über das, was nicht mehr ist, sondern nur mit Sicherheit etwas über das, was gewesen ist. Diese feine Unterscheidung ist ausschlaggebend. Beim Anblick eines Photos schlägt das Bewußtsein nicht unbedingt den nostalgischen Weg der Erinnerung ein […], sondern bei jedem überhaupt auf der Welt existierenden Photo, den Weg der Gewißheit: das Wesen der Photographie besteht in der Bestätigung dessen, was sie wiedergibt.⁴⁴⁶
Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, übers. von Dietrich Leube, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 92. Barthes: Die helle Kammer, S. 87 (Hervorheb. i. Orig.). Bereits in seinem früheren Aufsatz Rhetorik des Bildes spricht Barthes diesbezüglich von „Dagewesensein“ und verweist auf eine „neue Kategorie des Raum-Zeit-Verhältnisses: räumliche Präsenz bei zeitlicher Vergangenheit, eine unlogische Verbindung des Hier und Jetzt mit dem Da und Damals“. Barthes, Roland: „Rhetorik des Bildes (1964)“, in: Stiegler, Bernd (Hrsg.): Texte zur Theorie der Fotografie, übers. von Dieter Hornig, Stuttgart: Reclam 2017, S. 78 – 94, hier S. 87 (Hervorheb. i. Orig.). Barthes: Die helle Kammer, S. 95 (Hervorheb. i. Orig.).
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Mit dieser konkreten Situierung schafft die Photographie eine momenthafte Darstellung von äußerlicher Identität, die – wie Benjamin gezeigt hat − nicht mit einer mentalen Entsprechung übereinstimmen muss. Barthes verspürt ein ähnliches Unbehagen gegenüber diesem Verhältnis und ergänzt, dass ein Blick auf sich selbst erst durch die Photographie (als ein die ganze Gesellschaft durchdringendes und von der ganzen Gesellschaft genutztes Phänomen) entstehen konnte.⁴⁴⁷ Wie Benjamin und Kracauer beschäftigt Barthes sich vornehmlich mit Porträtphotographien oder solchen, die zumindest einen Menschen abbilden. Dies trifft bei weitem nicht auf alle Photographien in den Jahren im Zoo zu, aber die prägnante Titelphotographie fällt in dieses Schema. Sie verweist in Form einer individuellen Photographie auf kollektive Erinnerungsbilder. Barthes hat in Die helle Kammer die Unterscheidung von studium und punctum bei der Betrachtung von Photographien eingeführt. Ersteres stellt eine „Hingabe an eine Sache, das Gefallen an jemandem, eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit“ dar, die Barthes „als Zeugnisse politischen Geschehens“ oder „als anschauliche Historienbilder“⁴⁴⁸ versteht. Das punctum dagegen verschiebt die Bedeutung der jeweiligen Photographie ums Ganze: Das zweite Element durchbricht (oder skandiert) das studium. Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht […], sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. […] Das zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt − und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).⁴⁴⁹
Die Beschreibung des punctum mutet nicht ohne Grund subjektiv an, denn das punctum stößt dem Rezipienten zu.⁴⁵⁰ In der Betrachtung wirkt es auf den Betrachtenden ein und verändert dessen Blick auf die Photographie grundlegend; es ist der Irritationsmoment, dessen „supplementäre Struktur“⁴⁵¹ sich nicht auf den
Vgl.: Barthes: Die helle Kammer, S. 20 f. Barthes: Die helle Kammer, S. 35. Barthes: Die helle Kammer, S. 35 f. (Hervorheb. i. Orig.). Vgl.: Geimer, Peter: Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg: Junius 2009, S. 134. Wolf, Herta: „Das, was ich sehe, ist gewesen. Zu Roland Barthes’ »Die helle Kammer«“, in: Dies. (Hrsg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Bd. 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 89 – 107, hier S. 99.
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ersten Blick zeigt, sondern sich langsam ins Bild und seine Bedeutung schiebt. Barthes’ Es-ist-so-gewesen bleibt davon unberührt, denn das punctum zielt nicht auf das abgeschlossene Bild des Referenten, sondern auf das Subjekt, welches das Bild betrachtet. Im Interview Über Fotografie hat Barthes das Verhältnis von Konnotation und Denotation ähnlich wie das von studium und punctum beschrieben: „Die Fotografien konnotieren immer etwas anderes, als sie auf der Ebene der Denotation zeigen.“⁴⁵² Damit wird deutlich, dass das, was das punctum auslöst, zwar subjektiv induziert sein kann, aber faktisch „dennoch schon da ist“⁴⁵³. Die rezeptionsästhetische Perspektive wird auf eine objektivere Basis gestellt, indem das punctum auf dem Bild zu finden sein muss. Im Fall von Grünbeins Titelphotographie zeigen sich in dem Ford Taunus sowohl Aspekte des studium als auch des punctum. Denn erst ein studium im Sinne Barthes, das immer auf kulturellen Hintergrund referiert und diesen zur Situierung nutzt,⁴⁵⁴ ergründet, dass es sich um ein Westauto handelt. Der Abgleich mit dem eigenen kulturell-historischen Wissen führt dazu, das Auto als ein Westauto zu erkennen. Gleichzeitig könnte es damit, insbesondere für die Betrachtenden, die die DDR erlebt haben und ihren kulturellen Kontext vor Augen haben, außerdem zu einem punctum werden. Denn das Automobil durchbricht die Vorstellung einer Porträtphotographie, wie sie aus der DDR-Zeit zu vermuten wäre. Im vorliegenden Setting läge ein Photo mit einem Trabant oder Wartburg, vielleicht einem Moskwitsch, näher, nicht jedoch mit einem Ford. Die Photographie bildet einen Moment ab und korrespondiert − wie der folgende literarische Text, der das Momenthafte durch seine Erinnerungsarbeit abstreift −, durch die Einführung eines Westautos noch vor Beginn der eigentlichen Narration mit der Zeit nach den Jahren im Zoo. Das Wissen um die Veränderung der historischen Zustände manifestiert sich im Auto und kann als ein punctum verstanden werden, das nicht allein subjektiv ist, sondern durch die Abtretung der „Deutungshoheit über die eigenen Kindheitsfotos an den Rezipienten“⁴⁵⁵ einen mindestens intersubjektiven Gehalt bekommt. Zugleich konstatiert Barthes, dass ein punctum nicht kodiert sein darf;⁴⁵⁶ eine Diagnose, die nicht auf Grünbeins Titelphotographie zutrifft und die für eine studium-Lesart spricht. Aber genau hierin liegt das Eigentümliche von Grünbeins Bild. Denn es ist die zeitliche Struktur, in der ein
Barthes, Roland: „Über Fotografie. Interview mit Angelos Schwarz (1977) und Guy Mandery (1979)“, in: Wolf, Herta (Hrsg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Bd. 1, übers. von Dieter Hornig, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 82– 88, hier S. 82. Barthes: Die helle Kammer, S. 65. Vgl.: Barthes: Die helle Kammer, S. 35, 53. Simonis: „Essayistisches Schreiben“, S. 55. Vgl.: Barthes: Die helle Kammer, S. 60.
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Bild aus den 1960er Jahren zugleich auf die Zeit nach 1990 verweist, obwohl die Anlage als Photographie doch gerade diese zeitliche Brücke verunmöglicht. Diese komplexe Verschachtelung der Zeitebenen, die der Text durch seine Differenz von erinnerndem und erinnertem Ich wiederaufnimmt und die sprachlich buchstäblich schwer zu kodieren bleibt, steht als Bild den Lesenden vor Augen, noch bevor sie mehr als den Titel und den Autornamen gelesen haben. Das Kind, das sich an das Auto lehnt, wird mit dem Autor identifiziert, erhält Ähnlichkeit und ist doch ganz anders. Wenn Roland Barthes festhält, „[m]ein »Ich« ist’s, das nie mit seinem Bild übereinstimmt“⁴⁵⁷, dann beschreibt er eine Erkenntnis, die auf Grünbeins Photographie zutrifft: Denn die Abbildung dieses Kindes enthält in ihrem „Oberflächenzusammenhang“⁴⁵⁸ keine Information über die Identität des schreibenden Autors. Die Abbildung ist der Versuch die Identität des Autors oder zumindest seine Ähnlichkeit mit dem Kind, das er einst war – so wie es das Bild abbildet −, herzustellen. Im Gegensatz zu Siegfried Kracauer hält Roland Barthes an dem Begriff der Ähnlichkeit fest: [I]n einem bestimmten Photo glaube ich die Umrisse der Wahrheit zu erkennen. Das geschieht, sobald ich ein solches Photo für »ähnlich« halte.Wenn ich darüber nachdenke, muß ich mich fragen: wer ähnelt wem? Die Ähnlichkeit ist eine Übereinstimmung, doch womit? mit meiner Identität. Nun ist diese Identität so unbestimmt, imaginär sogar, daß ich weiterhin von »Ähnlichkeit« sprechen kann, ohne je das Modell gesehen zu haben.⁴⁵⁹
Er formuliert den Begriff der Ähnlichkeit so weit wie möglich und spricht in diesem Kontext weiter davon. Damit beschreibt er einen Prozess der Identifizierung – eines Ähnlich-Machens und eines Versuches des Identisch-Werdens. Barthes ist sich bewusst, dass Identität bestenfalls imaginär zu erreichen ist. Diese Art der Identifizierung gilt gleichsam für Grünbein und die Kinderphotographie. Der Autor soll sich mit dem vergangenen Selbst identifizieren, das sich in die Schreibgegenwart richtet. Gleichzeitig ist es nicht das konkrete Kind, mit dem er sich identifizieren soll, sondern es sind die ohnehin schon vielfach variablen Formen, die das Kind bzw. der Jugendliche in den Jahren im Zoo angenommen hat. Damit stellt die Konstitution des Buches explizit Grünbeins ostdeutsche Herkunft aus, deren gesellschaftlich-kollektiver Hintergrund die Identifizierung – zusätzlich zu der individuellen Erinnerungsarbeit − beheimatet. Der Paratext ›Die Jahre im Zoo‹ bildet eine Bedeutungs- und Verweisungsstruktur zwischen dem abge-
Barthes: Die helle Kammer, S. 20. Kracauer: „Die Photographie“, S. 687. Barthes: Die helle Kammer, S. 111.
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bildeten Subjekt, dem Erzähler des Textes und dem abgebildeten Automobil und zeigt den Bezug auf die DDR-Zeit als eine rekonstruktive Tätigkeit in nuce an.
4.2 Der zoologische Blick Bedingungen des Blickes Das Kapitel Zoologische Internationale versammelt, wie die Ouvertüre im nachhinein, zentrale Aspekte, welche Die Jahre im Zoo durchziehen und spitzt diese, wie es der Titel schon nahelegt, auf die Metaphorik des Zoologischen zu. An dem Komplex Zoo wird einmal mehr deutlich, dass Grünbein eine spezielle Perspektive auf sich selbst entwickelt, die ich in der Folge als einen zoologischen Blick verstehen möchte. Im oben genannten Kapitel bemerkt die Erzählinstanz bei einer weiteren Betrachtung von Photographien die eigene Dissoziation. Dem Verlauf der inzwischen historisch gewordenen Ereignisse wird jede Teleologie abgesprochen und dem Subjekt seine eigene Fragilität bewusst: Es fällt mir schwer, zu sagen, wie alles kam, wie es gekommen ist. Jedenfalls ist es anders gekommen, ganz anders, als je gedacht. Ich muß nur ein paar frühe Photos betrachten, schon werden mir die Knie weich. Hunderte Bilder, und in keinem erkennt man sich wieder. Kennst du das? Wenn du plötzlich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen kannst, wer du bist? Wenn dir klar wird, daß du vergessen hast, wer du einmal warst? So viele Bewußtseinsstadien, Situationen des Lebens, so viele Ansichten von ein und derselben Person – und stets war sie ein anderer und sagte und schrieb dabei doch immer treuherzig: Ich. (DJZ: 358)
Die Erzählinstanz reflektiert über die eigene Nichtidentität, die durch die historischen Ereignisse ausgelöst wird, und spricht sich teilweise in der zweiten Person Singular an – ein Verfahren, das bereits von Christa Wolf als Marker für Nichtidentität bekannt ist. Die Photographien, die der Erzähler betrachtet (an dieser Stelle werden keine Abbildungen in den Text eingebettet), existieren selbst wiederum nur sprachlich vermittelt und werden nicht in den Text eingefügt. Zwar gibt der Erzähler damit viele Ansichten von sich selbst, doch diese werden allein durch das sprechende und schreibende Ich zu jener Einheit, die der Text im gleichen Schritt wieder dekonstruiert. Der Erinnerungsprozess, der versucht, jene Einheit aus diesen losen Enden zu erzeugen, folgt − um erneut auf Kracauer zu verweisen − anderen Regeln. Dies wird anhand einer kurz darauf eingebetteten Photographie deutlich. Auf dieser ist ein Junge mit seiner Mutter zu erkennen, der einen Plüschhund hinter sich herzieht (Abb. 6). Im literarischen Text findet sich eine Beschreibung der Szene:
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Abb. 6: Kind mit Mutter Ein kleiner Junge, er hat eben erst eine der Elbebrücken überquert in Richtung Postplatz, Stadtzentrum, geht an der Hand seiner Mutter. Er zieht ein Objekt hinter sich her, ein schneeweißes Hündchen auf Rädern. Er ist fein herausgeputzt, in Sandalen und Kniestrümpfen. Er trägt etwas Handgestricktes, Pulli und Hose, das sich so weich und flauschig anfühlt wie das Fell seines Hündchens. Blickt er zur Seite, kann er die Hand sehen, die diese Sachen gestrickt hat. Sie streckt sich der seinen entgegen, fängt sie, wenn er losläßt, immer wieder sanft ein. (DJZ: 362)
Wie sich im Abgleich mit der Photographie zeigt, die im Text in einer Größe von 4x4 cm abgebildet ist, sind einige Details, wie die Kleidung, schlicht nicht genau erkennbar (wobei man durch Vergrößerung sehen kann, dass der Junge auf der Photographie ein T-Shirt trägt), andere wie die Hand der Mutter unterschieden sich von der Photographie, in der die Frau ihre Hände hinter dem Rücken ver-
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schränkt hält und damit die entscheidende Wahrnehmung der Hand, wie sie im obigen Zitat inszeniert wird, (trotz eines recht gütigen Lächelns) regelrecht verweigert. Text und Photographie ergänzen sich und verweigern doch eine Übereinstimmung. Der Erzähler rahmt das Geschehen auf eine spezielle Weise, indem er es explizit im DDR-Kontext situiert: „Um sie herum erstreckte sich die sozialistische Stadt. Es war eine Stadt der Frauen.“ (DJZ: 364; Hervorheb. i. Orig.) Der erste Satz des Absatzes, der wie in diesem Kapitel üblich in Kapitälchen gesetzt ist, markiert durch die lokale Zuschreibung gleichsam einen zeitlich-gesellschaftlichen Raum, indem explizit das Geschlecht im zweiten Satz betont wird, und hebt damit die chronotopische Form der Erzählung hervor. Die Reproduktionsarbeit der Frauen, die der Text in der Folge markiert, fällt vor allem durch die Absenz der Männer auf, wie der Erzähler bemerkt: Nur, wo waren die Männer geblieben? Es war, als hätte man den männlichen Teil der Bevölkerung evakuiert. Vielleicht waren sie im Fußballstadion, in den Kleingartenanlagen mit ihren ewigen Reparaturarbeiten beschäftigt. Oder sie standen hinter der Kamera, wie in diesem Fall. Denn die Aufnahme hat niemand anderer gemacht als der Vater, ein passionierter Freizeitphotograph. (DJZ: 365)
Der Mann, der sich hinter der Kamera befindet, ist Teil der geschlechterstereotypen Zeitaufteilung, die angesprochen wird.⁴⁶⁰ Dass der Erzähler damit aber auch
Gerade in dem Gedicht Unheimliche Mutter werden durch die Thematisierung einer Bronzestatue einer sogenannten Trümmerfrau, die „[i]n Kleid und Hosen, mit Kopftuch, Schürze / In der Hand fest den Ziegelhammer“ (DJZ: 347) beschrieben ist (vgl. auch die zugehörige Photographie, DJZ: 348), die Leistungen von Frauen beim Wiederaufbau Dresdens hervorgehoben. Gleichzeitig ist diese „[u]nheimliche Mutter aus Bronze“ (DJZ: 347) vor allem deshalb so unheimlich, weil sie die Geburt des weiblichen Proletariers in der DDR symbolisieren soll, wie an dem Anfang des Gedichtes deutlich wird: Es waren die abgeräumten, die ausgeträumten Stätten der Kindheit, die er sah, Wenn er die Augen schloß und zurückging In sich: den Jungen, der kilometerweit Über die Freifläche irrte, wenn wieder Einmal die Straßenbahn ausfiel, der Bus. Einziger Anhaltspunkt in der Ferne Vor den unsagbar sauberen Himmeln Waren die neuen Plattenbauten, einzeln Im Brachland verstreute Kästen. Viele Glichen den Bienenstöcken, mit ihren Reihen nie variierter Balkons, andere Den Spalten der Kreuzworträtsel Im Wochenblatt. Auf einem
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seine eigene Position markiert, ist für die narrative Anlage von größerer Bedeutung.Wie durch eine Kamera blickt er auf seine Vergangenheit und zeichnet Bilder von sich selbst. Sein Blick ist fragmentarisch – wie der einer Kamera –, füllt diese Fragmente allerdings durch Sinngebung, um neue Bilder durch (wiederum fragmentarische) Erinnerungen zu schaffen. Der Blick, den ich als einen zoologischen Blick bezeichnen möchte, richtet sich auf das Subjekt, das er in dieser Weise neu formt. Indem der Erzähler sein vergangenes Ich in diesem Blick neu entdeckt, erschreibt er sich selbst gleichzeitig beständig neu, allerdings stets durch das im Blick geformte vergangene Ich. Der politische Systemwechsel mit der historischen Zäsur wird zu der Bedingung der Möglichkeit dieses Blickes auf sich selbst, der sich in die DDR-Zeit zurückrichtet. Es sind die historische und politisch-gesellschaftliche Distanz, die ihn ermöglichen. Der Begriff zoologischer Blick, wie ich ihn hier vorschlage, korrespondiert mit Michel Foucaults ärztlichem Blick. Letzterer „begründet […] das Individuum“⁴⁶¹, wie es in Die Geburt der Klinik heißt. In Foucaults Verständnis geht mit der Begründung dieses neuen, „klassifizierenden Blick[s]“⁴⁶² eine „epistemologische Reorganisation“⁴⁶³ der medizinischen Grundlagen seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einher.Wie Michael Ruoff treffend zusammenfasst, verdankt diese Revision „ihre Existenz nicht medizinischen Einsichten, sondern sie entsteht letztlich auf der Grundlage sozialer und ökonomischer Veränderungen.“⁴⁶⁴ Foucaults Studie nimmt einen epistemologischen Umbruch zum Ausgang, der durch gesellschaftliche Veränderung möglich wird, um über die Veränderung des medizinischen Wissens und der medizinischen Praxis zu sprechen. Für den zoologischen Blick lässt sich hierzu eine Strukturanalogie finden, wenn dieser seine Qualität der Selbstbetrachtung angesichts des politischen Systemwechsels gewinnt. Der Umbruch von 1989/90 wird vor allem an der zoologischen Metaphorik deutlich und kann so narrativ seine Bedeutung entfalten. Denn es ist ein Blick, wie in einem Zoo, auf ein Eingesperrt-
War als Lösung hoch oben am Giebel Eine Leuchtschrift zu lesen, die sagte: Der Sozialismus siegt. (DJZ: 347) Durch den leeren Blick der Statuen-Mutter und den ausgeträumten Stätten der Kindheit, aber auch die Beschreibung der Elbe als „[…] trüben / Fluß, der alle Kindheiten schluckte“(DJZ: 348) schreibt Grünbein seinem Gedicht und auch seiner Kindheit retrospektiv eine Melancholie ein, deren Grund ganz offensichtlich auch in der „staatlichen Kälte“ (DJZ: 348) zu suchen ist. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, übers. von Walter Seitter, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1988, S. 12. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 23. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 206. Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon. Entwicklung, Kernbegriffe, Zusammenhänge, Paderborn: W. Fink 2007, S. 26.
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Sein, das zwar vergangen ist, aber bereits währenddessen als Festsetzung verstanden wurde.⁴⁶⁵ Das lyrische Ich in einem Gedicht aus Grünbeins Band Strophen für übermorgen nimmt ebenfalls diese Position mit einer Sprecherhaltung aus DDR-Perspektive ein, wenn es vom „Zonen-Zoo“⁴⁶⁶ spricht. Im Kapitel Zoologische Internationale kommt es zu der Verbindung von Blick, Photographie und Tier. Dort heißt es: Warum photographieren die Leute so gern ihren Nachwuchs? Sicher, aus Affenliebe, aus Vater- und Mutterstolz, schlichter Sentimentalität zumeist. Oder aus plötzlicher Einsicht in das gleichgültige Wesen der Zeit. Den Augenblick festhalten, sich einen Sekundenbruchteil lang gegen den Fortgang stemmen, den Fortschritt auch, all das unbewußt. Das Objektiv geht in Stellung, sobald das Kind seine ersten Schritte macht. Benutzt wird die jeweils neuste Technik. Würden Tiere dasselbe tun, wenn sie die Apparate beherrschten? (DJZ: 360 f.; Hervorheb. i. Orig.)
Der Affe, als nächster tierischer Verwandter des Menschen,⁴⁶⁷ wird zum Bindeglied zwischen Mensch und Tier, die einander in der Liebe zu ihren Kindern nahegebracht werden. Die Frage, ob photographische Technik von Tieren ebenso genutzt würde, korreliert mit einem Blick, der die Menschen als Tiere begreift, die im titelgebenden Zoo des Textes eingesperrt sind. Gleichzeitig ist dies ein Hinweis auf Nietzsches Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, wo dieser gleich zu Beginn schreibt: „So lebt das Thier unhistorisch.“⁴⁶⁸ Denn im Gegensatz zum Menschen kennt das Tier bei Nietzsche keine Erinnerung und muss „das Vergessen nicht lernen“, vielmehr ist es an den „Pflock des Augenblickes [gebunden; M.K.] und deshalb weder schwermüthig noch überdrüssig.“⁴⁶⁹ Durch den Einsatz der Photographie wird der Mensch gewissermaßen zoomorph, da er sich dem Tier anähnelt und sich selbst durch die Fixierung des Augenblickes an diesen bindet.
Hier zeigt sich eine weitere Konvergenz mit dem Essay Kurzer Bericht an eine Akademie und den Bezügen zu Kafkas Ein Bericht für eine Akademie, vgl. hierzu das Kapitel Von Löffeln und Akademien – Bezüge zu Franz Kafka. Grünbein, Durs: Strophen für übermorgen. Gedichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 15. Vgl. hierzu auch noch einmal das Kapitel Von Löffeln und Akademien – Bezüge zu Franz Kafka. Nietzsche, Friedrich: „Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“, in: Ders. Kritische Studienausgabe. Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I−IV. Nachgelassene Schriften: 1870−1873, hrsg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari, München: Dtv 1999, S. 243 – 334, hier S. 249. Nietzsche: „Unzeitgemässe Betrachtungen II“, S. 248.
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Erinnerungen an den Zoo des Ostens Die Erinnerungen an den Zoo sind für den Erzähler hinsichtlich ihrer Erinnerungsfähigkeit von immenser Bedeutung. So konstatiert er: „Scharfe Erinnerungssplitter verbinden sich mit dem Wort Zoo.“ (DJZ: 359; Hervorheb. i. Orig.) Mit dieser Aussage macht der Erzähler deutlich, dass die Erinnerung keinen Anspruch auf eine Totalität der Darstellung vergangener Zeit erheben kann. Es sind schließlich nur Splitter, also abgelöste Bruchstücke, die zugänglich werden.⁴⁷⁰ Das Kapitel Zoologische Internationale eröffnet mit einem prägnanten Satz: „Ich erinnere mich an den Zoo meiner Kindheit, den Dresdner Zoo hinter dem Großen Garten.“ (DJZ: 357; Hervorheb. i. Orig.) Der Erzähler verbindet damit verschiedene, teils gegenstrebige Aussagen. Zunächst ist der reale Ort Zoo Dresden gemeint, der sich von Norden aus – was auf Hellerau zutrifft − hinter der Parkanlage Großer Garten befindet. In einer selbstreferentiellen Lektüre kann man aber auch verstehen, dass die Lesenden sich am Ende des literarischen Textes befinden, also ‚hinter‘ dem großen Garten des Buches, dem Kapitel Der Garten der Gartenstadt. Dieses steht paradigmatisch für das Aufwachsen des Protagonisten bis hin zum Militärdienst. Der Eintritt ins Militär ist als Ende der Kindheit charakterisiert, wenn die Bezeichnung Kindheit − zutreffend wäre eher Jugendalter − in diesem Kontext irritiert. Nachdem die histoire der Jahre im Zoo schon zum Ende gekommen ist, wendet sich der discours in den letzten Kapiteln analeptisch zur Kindheit zurück. Der Text kommt, nachdem er seinen eigenen Garten (Den Garten der Gartenstadt) durchquert und den Protagonisten beim Aufwachsen beobachtet hat, nicht einfach zur frühen Kindheit zurück. Denn betrachtet man die Selbstreferentialität des Kapitels nicht aus narratologischer, sondern aus tropologischmetaphorischer Perspektive, ist das Kapitel eine Rückwendung zu einem Zoo, der allegorisch für das (eingesperrte) Leben des Protagonisten in der DDR steht. Das Kapitel Zoologische Internationale wird zu einer Gesamtschau des bereits Erzählten, die dem Blick auf den Garten der Gartenstadt folgt. Nach dem Erwachsenwerden wird ein Blick zurückgeworfen und damit eine intensivierte Perspektive auf das eingenommen, was das Aufwachsen präformiert: die staatliche Ordnung mit ihren Repressalien. Der Zoo, der als eine „Märchenbühne, eine großangelegte Kulisse“ bezeichnet wird, drückt ein „Willkommensein“ aus, das allerdings nur eine „fromme Lüge“ (DJZ: 367) ist. Er ist ein Ort, an dem eingesperrt wird und der einen Blick auf „den Alltag gefangener Existenzen“ (DJZ: 367) ermöglicht. Unschwer ist in diesen Zitaten eine metaphorische Beziehung zwischen Jean-Claude Milner argumentiert, dass eine Totalität schon immer nur in Splittern zugänglich ist und diese Splitter dem Allgemeinen immer vorgängig sind, vgl.: Milner, Jean Claude: L’universal en éclats, Lagrasse: Verdier 2011, S. 10. Die Erinnerungssplitter sind also das, was auf eine Erinnerung als Ganzes zielt, jedoch immer nur als Fragment zugänglich ist.
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Zoo und DDR zu erkennen. Von der Künstlichkeit der Staatsgründung, über eine Politik, in der es lediglich scheinbar um Humanität geht, bis hin zur Kontrolle und zum Eingesperrt-Sein finden sich verschiedene Motive wieder. Der Erzähler lässt seinen Protagonisten in einer für Kinder üblichen freudigen Erwartung einige Kreuzungen vor dem tatsächlichen Dresdner Zoo in der direkten Rede nach diesem fragen: „Wir hatten den Pirnaischen Platz hinter uns gelassen und saßen nun in der Straßenbahn Richtung Großer Garten. »Zoo«, sagte der kleine Junge. »Wo ist?« fragte er. Und wiederholte noch mehrmals: Zoo, wo, Zoo, wo?“ (DJZ: 365) Die Ironie dieser Zeilen wird mit der historischen Distanz erkennbar, wenn die kindliche Frage nach dem Zoo eigentlich anzeigt, dass man sich schon lange im ZonenZoo befindet. Eine besondere Rolle nimmt der Erzähler ein, der sich in dieser Ausgestaltung einen kindlichen Berufswunsch nachträglich zu erfüllen scheint: Außerordentlich klare Erinnerungen an den Dresdner Zoo haben sich in mir festgehakt. Woran mag das liegen? Wahrscheinlich daran, daß ich, so weit ich zurückdenken kann, die Absicht hatte, Zoodirektor zu werden – oder wenigstens Tierforscher in Afrika. Und schließlich, letzte Schwundstufe, zumindest Veterinärmediziner. (DJZ: 357; Hervorheb. i. Orig.)
Die kosmopolitische Grunddisposition, die offensichtlich durch das Leben im Zoo befördert wird, ist im Wunsch, Tierforscher in Afrika zu werden, schon angelegt. Grünbein hat für sich selbst einen derartigen Wunsch bestätigt⁴⁷¹ und sich in seinem tagebuchähnlichen Text Das erste Jahr als „Zoologe[n]“ bezeichnet, als der er „Beobachtungen“⁴⁷² an seinem Hund macht.⁴⁷³ Diese fortwährende Verbindung von Zoologie und Optik eröffnet den Weg für ein Verständnis des Zoos in der Zoologischen Internationale. Der Blick, den die Erzählinstanz auf den ZooBesuch legt und den sie metaphorisch auflädt, kann erst durch eine historische Distanz entstehen. Die Beschreibung − des Zoobesuches sowie der DDR als Zoo − unterliegt den Paradigmen der Erinnerung, ist fragmentarisch, erlebt aber durch den Raum Zoo eine gesteigerte Erfahrungsintensität, wie Simonis argumentiert.⁴⁷⁴ Das Kapitel Zoologische Internationale verschränkt den Zoo mit seinen Tieren und die DDR mit seinen menschlichen Einwohnern. Wenn der Erzähler festhält, „[a]ls Kind gelang es mir ohne weiteres, mich in ein Tier zu verwandeln“ (DJZ: 361), spielt dies erneut auf Benjamins Ähnlichkeitskonzeption an und zeigt, dass er in
Vgl.: Grünbein/Jocks: Gespräch, S. 69. Grünbein: Das erste Jahr, S. 19. Grünbein spielt hier erneut (wenn auch etwas verdreht) auf Kafka und dessen Forschungen eines Hundes an. Vgl.: Simonis, Annette: Das Kaleidoskop der Tiere. Zur Wiederkehr des Bestiariums in Moderne und Gegenwart, Bielefeld: Aisthesis 2017, S. 125.
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seiner Kindheit und Jugend selbst eines jener Tiere im Zoo der DDR war. Wesche hat mit Blick auf verschiedene Texte Grünbeins argumentiert, dass die „poetische[n] Verfahren in Grünbeins Werk […] die Anthropomorphisierung des Tierischen bzw. Zoomorphisierung des Menschlichen“⁴⁷⁵ sind. In Die Jahre im Zoo tritt beides auf, denn sowohl werden Fische zu DDR-Bürgern⁴⁷⁶ als auch DDR-Bürger zu Zootieren. Es kommt zu einer eigenartigen Überlappung, in der die einen niemals ohne die anderen auftreten. Denn selbst wenn die Einwohner der DDR in einer metaphorischen Beziehung zu den Zootieren stehen und zu diesen werden, treten immer noch Menschen auf: Soviel ahnte er instinktiv, daß sie Vertreter waren einer zoologischen Internationale. Schilder, die man ihm vorlas, erklärten ihm einige der Tiere als Geschenk aus den Bruderländern. Sie vermittelten ihm die Illusion eines gewaltigen geographischen Raumes über mehrere Zeitzonen hinweg, der jedem Bürger des Imperiums zugänglich war. Sie gaben ihm das Gefühl von Weite und Unbegrenztheit. (DJZ: 368 f.; Hervorheb. i. Orig.)
Im vorhergehenden Absatz werden verschiedene Tiere aufgezählt und es liegt daher zunächst nah, anzunehmen, dass das sie des ersten Satzes sich auf diese bezieht. Da dieser Satz aber durch Kapitälchen typographisch hervorgehoben ist und einen neuen Absatz einleitet, ist es durchaus auch möglich, einen anderen Bezug für das sie auszumachen: Versteht man den neuen Absatz als ein neues Ansetzen der Narration, bezieht das sie sich auf das Kollektiv der Menschen in der DDR. Dass in diesem Kontext die Ahnung mit dem (sich menschlicher Ratio entziehendem) Instinkt zusammengezogen wird, lässt sich als weiterer Hinweis darauf deuten, dass der Protagonist sich als Zootier identifiziert. Der Verweis auf den Raum − die Sowjetunion sowie die anderen Bruderländer − stellt aus, dass aber die Hälfte der Welt nicht allen DDR-Bürgern offensteht. Dieser Schein ist trügerisch. Sobald Zoo und DDR miteinander verschränkt werden, wird deutlich, dass es gerade keine unendliche Weite, sondern eher ein Käfig ist, in dem die Bewohner leben: Das ganze Werk aus Betonwällen, Schleusen und eisenbewehrten Tierkäfigen entging ihm in seiner ausgeklügelten Systematik, dafür war er zu klein. Daß er in einem Land lebte, das eine scharf bewachte Grenze vom Rest der Welt trennte, ahnte er damals noch nicht. Als er geboren wurde, standen die Berliner Sperranlagen bereits ein Jahr und waren nun endgültig befestigt. (DJZ: 369)
Wesche: „Biotopoi“, S. 225. Vgl. hierzu das Kapitel Paradoxien maritimer Metaphorik in Die Jahre im Zoo.
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Die Befestigungsanlage der DDR-Grenze und der Berliner Mauer werden mit den Tiergehegen in Verbindung gebracht, da es in beiden Fällen doch keine wirkliche Fluchtmöglichkeit gibt. Grünbein hat in seinem Œuvre, das von Tieren nur so durchsetzt ist,⁴⁷⁷ das Tier als ein Wesen figuriert, das keine Grenzen kennt und überdies einen starken Bewegungsdrang hat, der einzig mit Gewalt − etwa in Form von Käfigen und Gehegen in Zoos − gebrochen werden kann.⁴⁷⁸ Der Mensch wird in Analogie zum Herdentier dem Tier ähnlich,⁴⁷⁹ womit Grünbein mit dem Ähnlich-Werden von Menschen und Tieren auf Konzeptionen aus den bereits bekannten Intertexten Kafkas und Benjamins und seiner Verarbeitung zurückgreift. Überdies korrespondiert gerade die Qualität des Blickes mit einem weiteren Intertext der Literatur der klassischen Moderne: Rainer Maria Rilkes Der Panther. Liest man Rilkes Gedicht unter diesem Blickwinkel, wirkt es so, als ob der Erzähler aus den Jahren im Zoo die Blickrichtung des Panthers umdreht: Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nicht mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.⁴⁸⁰
Rilkes Panther hat durch die Gefangenschaft jeglichen Weltbezug aufgegeben. Das lyrische Ich begibt sich in die Perspektive des Panthers und macht deutlich, wie die Mechanismen der Gefangenschaft diesen von sich selbst entfremden. Der Blick des lyrischen Ichs geht mit dem Panther vom Käfig nach draußen bzw. vielmehr nur auf die Käfigstäbe, die den Blick nach draußen verhindern. Grünbeins Erzähler dreht die Situation um: Er hatte in seiner Kindheit und Jugend diesen Blick nach draußen, der durch das Eingesperrt-Sein verhindert wurde − in Beispielsweise gibt es in den Bänden Falten und Fallen, Nach den Satiren sowie Erklärte Nacht eine Reihe von Gedichten, die im Titel einen Zoo sowie ein Zootier tragen, vgl.: Grünbein, Durs: Falten und Fallen. Gedichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 115 ff.; Grünbein: Nach den Satiren, S. 55; Grünbein, Durs: Erklärte Nacht. Gedichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 38. Annette Simonis hat darauf hingewiesen, dass Grünbein damit aus seinen Zoobetrachtungen ein globales Phänomen macht, vgl.: Simonis: Das Kaleidoskop der Tiere, S. 129. Vgl. hierzu: Grünbein, Durs: „Bevor der Mensch mit sich allein ist. 150 Jahre Zoologischer Garten Berlin“, in: Ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989−1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 229 – 236, hier S. 229 f. Vgl.: Simonis: Das Kaleidoskop der Tiere, S. 126. Erneut ist dies auch ein Verweis auf Nietzsche und den zweiten Teil seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen. Dieser betrachtet in den oben bereits zitierten Ausschnitten zur unhistorischen Wahrnehmung von Tieren eine Tierherde und von dieser Betrachtung nimmt seine Argumentation ihren Ausgang, vgl.: Nietzsche: „Unzeitgemässe Betrachtungen II“, S. 248. Rilke: Die Gedichte, S. 451.
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Dresden als sogenanntem ‚Tal der Ahnungslosen‘ umso mehr. Die historische Situation ist aber eine andere geworden: Nun blickt der Erzähler auf diese Zeit zurück und seine Blickrichtung ist diejenige des Zoobesuchers, der seine Perspektive auf die Eingesperrten richtet. Wesche hat anhand von Grünbeins Lyrik und Essays argumentiert, dass der Zoo „als Grenzraum zwischen Museum und Gefängnis“⁴⁸¹ erscheint. Dem ist für die Zoologische Internationale zuzustimmen, in der der Blick auf eine ähnliche Weise operiert. Der Protagonist, der die meisten Teile des Kapitels aus seiner Perspektive präsentiert, ist von Simonis als „naiver, aber genauer Beobachter“⁴⁸² bezeichnet worden. Hinzuzufügen bleibt, dass bei der Einordnung dieser Beobachtung die Fokalisierung zur Erzählerebene wechselt und es sich zeigt, wie rückblickende Beschreibung und nachträgliche Interpretation auf genaueste Weise komponiert sind. In dem Essay Der verschwundene Dichter, der ebenfalls nach dem Fall der Mauer geschrieben wurde und zeitlich diese Perspektive einnimmt, spricht Grünbein im DDR-Kontext vom „ostdeutschen Alptraum“ als einem „Zoo der Angepaßten“⁴⁸³. Auf ähnliche Weise charakterisiert der Erzähler seinen Besuch im Dresdner Zoo: Vollendete Tatsachen: Der Mensch gewöhnt sich daran. Tiere hinter Gittern, das hat noch keinen gestört. Man ging in den Zoo, wie man zur Wahlurne ging, auf den Friedhof oder zum nächsten Postamt. Vater und Mutter machten mit ihm ihren Rundgang durch den Zoologischen Garten, als wäre das die normalste Sache der Welt. Das Leben in der Deutschen Demokratischen Republik hatte nun wirklich begonnen. […] Damals begann es, daß sie lernten, hinter Gittern zu leben, Großstädter in ihren Wohnställen, Bürger eines Landes, das seit kurzem ein Eiserner Vorhang trennte vom Rest der Welt. (DJZ: 371; Hervorheb. i. Orig.)
In einer erneuten Verschränkung von staatlicher Ordnung und Zoobesuch durch die Assoziation mit dem Wahlgang zeigt der Erzähler den Zusammenhang von beidem. Die doppelte Nennung von Gitter – einmal im Tier-Kontext, einmal im DDR-Kontext − weist die erneute Parallelisierung (trotz der Erwähnung menschlicher Präsenz) aus. Für den literarischen Text ist es problemlos möglich, die DDR-Bürger als Tiere zu figurieren und trotzdem als Menschen auftreten zu lassen, was einmal mehr auf die nachträgliche Bedeutungszuweisung durch Erinnerungen hinweist. Wie Ahrend anhand der Essays Ameisenhafte Größe und Transit Berlin zeigt, hängt die ganze Frage der Tiermetaphorik mit fragilen Iden Wesche: „Biotopoi“, S. 227. Simonis: Das Kaleidoskop der Tiere, S. 126. Grünbein, Durs: „Der verschwundene Dichter“, in: Ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989−1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 67– 74, hier S. 71.
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titäten durch (re‐)konstruktive Erinnerungsprozesse zusammen: „Es ist ja mehr als auffällig, dass Grünbein gerade dann zur Tiermaske greift, wenn er gleichzeitig auch vom Ichzerfall spricht […].“⁴⁸⁴ Durch den ursprünglichen Berufswunsch – Zoodirektor − gewinnt die Frage von Identitätsbezug noch einmal Bedeutung: Was war aus dem Wunsch, Zoodirektor zu werden, denn geworden? Nichts. Nur die Liebe zu den Tieren war ihm geblieben, allmählich aber wuchs in ihm der Haß auf die Zoos. Er war genauso verloren wie alle anderen, Mensch oder Tier, und was ihn noch als erwachsenen Mann antrieb, war als letztes die Sehnsucht nach Freiheit. (DJZ: 375)
Wenn der Protagonist ablehnt, dass Tiere eingesperrt werden, zielt das auf seine spätere kosmopolitische Grundhaltung, welche durch die Erfahrung erzeugt wird, selbst eingesperrt gewesen zu sein. Der Erzähler wird kein Zoodirektor, sondern Zoologe, der seine Objekte vornehmlich betrachtet, nicht etwa dressiert oder einsperrt. Da das Arbeitsgebiet eines Zoologen breit gefächert ist und von Laboratorien über das Freiland bis hin zu Museen und Zoos reicht, passt diese Beschreibung zum Erzähler, der seinen Blick auf die Vergangenheit der DDR als Zoo richtet. Die DDR ist als Hintergrund für den Protagonisten stets präsent, ganz gleich ob er vom Lebensmittelladen Konsum (vgl.: DJZ: 361), der Uniformierung der Thälmann-Pioniere als „klassenbewußten Zwergen“ (366) oder Ernteeinsätzen und Mauerbau (370) spricht. Der Erzähler versucht ein Bild von sich und der vergangenen Gesellschaft zu gewinnen und gerät mit den Identifizierungen, die er erzeugt, in Konflikt. Seine Figuration der DDR als Zoo wird durch den historischen Bruch 1989 prädisponiert. Rückblickend beschreibt der Erzähler sein Verhältnis zu seiner Umgebung: „Er war nun da, und als Kreatur zog es ihn zu den Kreaturen, eine solidarische Regung, was sonst, als ein kindlicher Zootropismus.“ (DJZ: 375) Erneut vermischt sich die zoologische Metaphorik – angesichts der bewussten Vermeidung des Wortes Mensch und der neutraleren Verwendung von Kreaturen − mit dem real existierenden Sozialismus. Dass die Solidarität als eines der zentralen Schlagworte des DDR-Jargons bemüht wird, um auf eine kindliche Wendung zu anderen Menschen zu verweisen, macht dies umso deutlicher. Auch das Kompositum Zootropismus verbindet die Zoologie mit der Trope und stellt die metaphorische Beziehung aus.⁴⁸⁵ Damit verbunden ist die Frage, die den Text
Ahrend: Tanz zwischen sämtlichen Stühlen, S. 56. Das Zootrop (auch Zoetrop), besser bekannt unter dem Namen Wundertrommel, ist nicht nur ein Vorläufer der Kinematographie, es verweist erneut auf Benjamins Berliner Kindheit und die dortige Prosaminiatur Kaiserpanorama, in der ebenfalls eine optische Apparatur präsentiert wird, die zwar nicht Bewegung, aber eine Tiefenperspektive der Bilder in den Mittelpunkt stellt. Das Zootrop legt den Fokus auf die optische Qualität, wird doch eine kontinuierliche Bewegung dem
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V Durs Grünbein: Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst
umgibt: „[K]einer sucht sich [bei Geburt; M.K.] aus, wo die Seinen ihn abwerfen. Erst später fragt er sich, wohin er gehört.“ (DJZ: 374) Dies referiert auf den konkreten Raum Dresden bzw. Hellerau, durchzogen ist dieser aber immer von der staatlichen Ordnung der DDR, die das Leben des Protagonisten gestaltet und die spätere Einordnung des Erzählers präformiert.⁴⁸⁶ Nicht ohne Grund ist zum Schluss der Jahre im Zoo von einem „Leben jenseits der Zone, der von Geburt an naturgegebenen Zone“ (DJZ: 398) die Rede. Der geläufige Ausdruck Zone für die DDR – als Kurzform von Sowjetische Besatzungszone − mutet als ein Freud’scher Versprecher an, der im nächsten Moment eingeholt wird. Der Erzähler präsentiert die DDR als Zoo; gleichzeitig werden die Metaphoriken brüchig, wenn Mensch und Tier gemeinsam auftreten, obwohl letztere die ersteren ersetzen sollen.⁴⁸⁷ Die Metapher wird konstruiert und dekonstruiert, da der zoologische Blick nicht einfach zu einem westdeutschen Blick wird, in dem die DDR als Zoo figuriert wird.⁴⁸⁸ Vielmehr wird diese Darstellung gleichermaßen ironisiert und durch die Innenperspektive des Zoos ersetzt. Der zoologische Blick richtet sich zwar von außen als ein rekonstruktiver Erinnerungsprozess auf die DDR zurück, aber er erinnert sich an die Innenperspektive, was den Unterschied zu weiteren literarischen Zoo-Darstellungen markiert, die zwar, wie Grub betont,
Betrachtenden darin lediglich vorgespielt. Damit kann der kindliche Zootropismus als eine erneute Hervorhebung des Fragmentarischen verstanden werden, die nur scheinbar auf einen tatsächlichen historischen Ablauf verweist. Mit dem Abwerfen wird überdies auf das ‚Werfen‘ als Bezeichnung für Geburten von Tieren abgezielt. Heiden und Vogl verweisen im Rückgriff auf Aristoteles zoon politikon darauf, dass eine politische Zoologie stets die Gattungsgrenzen zwischen Mensch und Tier brüchig werden lässt, vgl.: Heiden/Vogl: „Vorwort“, S. 8. Im Rückgriff auf Deleuze und Guattari argumentieren sie, dass drei Arten von Tieren zu unterscheiden sind: 1.) Haus-, Wohn- und Familientiere, 2.) Gattungs-, Klassifikations- oder Staatstiere. Die dritte Kategorie bezeichnen sie als dämonische Tiere: „Drittens aber gibt es dämonische Tiere in einem besonderen Sinn, Tiere, die sich in Populationen und Vielheiten bewegen und noch im einzelnen Exemplar weniger eine Einheit als ein Gewimmel realisieren. Diese Tiere widersetzen sich der Abzählbarkeit ebenso wie der Subsumption: Meuten und Horden, die kaum zu einer Verwandlung ins Anthropomorphe neigen, sondern Metamorphosen vom Menschen weg initiieren − Tierheiten also, die das Gesetz der Gattung unterlaufen.“, S. 11. Von Grünbeins Tieren lebt zwar einzig das „Weißschwanz-Gnu“ (DJZ: 368) in größeren Gruppen, trotzdem können sie nur als dämonische Tiere verstanden werden, wenn ihre Analogisierung mit dem Menschen dekonstruiert wird und sie sich ebenso wenig in ihrer Vielheit subsumieren lassen, wie der Erzähler bereit ist, sich auf eine Identität festzulegen. Zum ‚westdeutschen Blick‘, in dem die DDR als Zoo verstanden wird, vgl.: Grub: ›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur, S. 540.
4 Denk-Bilder − Optische Identifizierungen
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typisch für Nachwendeliteratur sind,⁴⁸⁹ jedoch in diesen Texten westdeutsche Perspektiven beschreiben. Die Jahre im Zoo ist vordergründig ein Buch über ein Aufwachsen und Leben in Dresden/Hellerau, deren Ablauf von der staatlichen Konfiguration der DDR durchzogen ist. Die Erzählinstanz, die in einem historischen Abstand spricht, der fortlaufend als nach 1989 markiert wird, kann ihre Erinnerungen nur in und durch diesen Abstand hervorbringen und erzeugt damit seine Identifizierungen als Ostdeutscher. Diese sind in Bewegung, verschieben sich von Erinnerung zu Erinnerung und bedienen sich unterschiedlicher Motive. Der Erzähler, der zwar nicht auf der Suche nach der verlorenen Zeit, sondern nach dem vergangenen Selbst ist, sagt stets mehr über das gegenwärtige als das vergangene Ich aus. Der Blick, den er auf sich selbst richtet, birgt Identifizierung nach 1989, deren Ort eindeutig ein ostdeutscher – ein durch die DDR und deren Auflösung infolge des Systemwechsels geformter − Raum ist. Wie Grünbein selbst in Fußnote zu mir selbst konstatiert, ist der Akt des Schreibens derjenige, der bereits zu DDR-Zeiten auf sein Ich abzielte, um dieses vor dem staatlichen Zugriff zu schützen: „Das Schreiben war damals mein erster Schritt über die Grenzen des Körpers und der geschlossenen Gesellschaft hinaus.“⁴⁹⁰ Mit der Erfahrung nach 1989 wird es der Ort, an dem er seinem Selbst nachspüren und sowohl Herkunft in als auch Veränderung durch das politische System der DDR begründet.
Vgl.: Grub: ›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur, S. 539. Grünbein, Durs: „Fußnote zu mir selbst“, in: Ders.: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 9 – 13, hier S. 11.
VI Schluss: Kinder der Zone Das Eigentum Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen. KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN. Ich selber habe ihm den Tritt versetzt. Es wirft sich weg und seine magre Zierde. Dem Winter folgt der Sommer der Begierde. Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst. Und unverständlich wird mein ganzer Text Was ich niemals besaß wird mir entrissen. Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen. Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle. Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. Wann sag ich wieder mein und meine alle.¹
Im Jahr 2002 erschien Jana Hensels Zonenkinder. Das Buch wurde ein Verkaufsschlager und löste rege Diskussionen um die Frage der Erinnerung an die DDR und die Identitätsformationen von Ostdeutschen aus.² In dem zwischen Sachbuch und literarischer Bearbeitung changierenden Text spricht eine Erzählinstanz (mit 26 Jahren damals ungefähr altersidentisch mit der Autorin) über ihr Aufwachsen in der DDR und den Bruch, der sich aus den politischen Ereignissen der Jahre 1989/90 für ihre Biographie ergeben hat. Soweit ist das noch kein Skandalon für eine mediale Diskussion gut zehn Jahre nach den Ereignissen der ‚Wende‘. Hensels Zonenkinder erregte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vielmehr, weil sich eine Erzählinstanz an die Kindheit in der DDR erinnert, die zwar von keiner politischen Verwicklung mit dem ‚System DDR‘ betroffen ist, diese aber gar nicht zur Kenntnis nimmt. Die Erzählerin erinnert in einem bewusst naiven Ton eine materielle Kultur und den Alltag eines Kindes in der DDR, in der die Pioniernachmittage nicht den Eindruck politischer Manipulation erwecken, sondern für lustige gemeinsame Jugendaktivitäten stehen. Dieses Schreiben erhitzte die Dis Braun, Volker: Der Stoff zum Leben 1−4. Gedichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 97 (Hervorheb. i. Orig.). Der Rowohlt-Verlag brachte als Reaktion auf die regen (nicht ausschließlich) feuilletonistischen Debatten gar 2004 die Dokumentation Die Zonenkinder und Wir. Die Geschichte eines Phänomens heraus, in der bekannte Rezensenten wie Volker Weidermann und Jens Bisky, aber auch − damals noch (nur) CDU-Vorsitzende − Angela Merkel und nicht zuletzt aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Moritz Baßler Beiträge beisteuerten. Im Vorwort der Dokumentation spricht der Herausgeber Tom Kraushaar von über 160 000 verkauften Exemplaren und einer durchgängigen Listung auf der Spiegel-Bestsellerliste für das erste Jahr nach der Erscheinung, vgl.: Kraushaar, Tom: „Vorwort“, in: Ders. (Hrsg.): Die Zonenkinder und Wir. Die Geschichte eines Phänomens, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004, S. 7– 10, hier S. 7. https://doi.org/10.1515/9783110741766-007
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kussion um das Buch und führte zu Debatten um die richtige und angemessene Erinnerung an die DDR. Hensel, die ich im Kapitel Ostdeutschland nach 1989 bereits erwähnt habe, ist, glaubt man zumindest der Werbeankündigung des Aufbau-Verlages, eine der „wichtigsten Stimmen des Ostens“³ und ohne Frage zeigt die Titelwahl der Bücher Zonenkinder, Achtung Zone. Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten (2009), ihre 2019 publizierte Zeitungsartikelsammlung Wie alles anders bleibt. Geschichten aus Ostdeutschland, ihr Liebesroman Keinland sowie das gemeinsam mit dem Soziologen Wolfgang Engler 2018 erschienene Gesprächsbuch Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein deutlich einen thematischen Zuschnitt. In all diesen Texten konstruiert Hensel den Raum Ostdeutschland aus einer Mischung von Erinnerungen und Zeitgeschehen. Es sei noch einmal in Erinnerung gerufen, dass Hensel im Gespräch mit Engler eine These formuliert, welche die vorliegende Arbeit ebenfalls vertritt: Das ist etwas, was in der Öffentlichkeit noch nicht angekommen ist, eine genaue Unterscheidung zwischen der DDR-Erfahrung und der ostdeutschen Erfahrung. Die ostdeutschen Erfahrungen beginnen eben im Jahr 1989. Davor müssen wir von der DDR-Erfahrung sprechen. Das eine lässt sich nicht blind aus dem anderen ableiten, dafür sind die beiden Räume grundsätzlich verschieden. Im Gegenteil, es gilt, sehr genau auf Kontinuitäten und Brüche zu achten.⁴
An Hensels Zonenkinder wird dieses Paradigma deutlich und die Diskussion, die sich sicherlich nicht ganz zu Unrecht um ihr Buch entspannt hat, vergisst dieses Diktum ernst zu nehmen und nach den Bedingungen des Erinnerns zu fragen. Es fehlt die Auseinandersetzung mit einer Erfahrung nach 1989 und gerade diese bildet doch, blickt man allein auf die Textmenge, den Hauptteil des Textes. Hensels Buch beginnt mit der ‚Wendezeit‘ und markiert bereits mit dem ersten Satz, dass es sich um eine Erinnerung handelt: „Am letzten Tag meiner Kindheit, ich war dreizehn Jahre und drei Monate alt, verließ ich gemeinsam mit meiner Mutter am frühen Abend das Haus.“ (ZK: 11) Die Erzählinstanz benennt hier, wie sie retrospektiv das Ende der eigenen Kindheit mit dem Ende der DDR verknüpft. Die Protagonistin befindet sich im Oktober 1989 auf einer Montagsdemonstration in Leipzig. Die autodiegetische Erzählinstanz deutet mit der Reflexion über die Unsicherheit der eigenen Erinnerung an, dass diese Erinnerung das Ergebnis eines (Re‐)Konstruktionsprozesses sein müsse, wenn sie festhält,
Hensel, Jana: Wie alles anders bleibt. Geschichten aus Ostdeutschland, Berlin: Aufbau 2019, Klappentext. Engler/Hensel: Wer wir sind, S. 54 (Hervorheb. i. Orig.).
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dass sie „nicht mehr [weiß; M.K.], ob ich es mir heute einbilde oder ob wir tatsächlich keinem Menschen begegnet sind […]“ (ZK: 11 f.) Die Beschreibung der Demonstration wird mit dem Wissen um den erst noch kommenden Mauerfall gerahmt, ehe die Erzählerin in ihre Schreibgegenwart wechselt: Heute sind diese letzten Tage unserer Kindheit, von denen ich damals natürlich nicht wusste, dass sie die letzten sein würden, für uns wie Türen in eine andere Zeit, die den Geruch eines Märchens hat und für die wir die richtigen Worte nicht mehr finden. Eine Zeit, die sehr lange vergangen scheint, in der die Uhren anders gingen, der Winter anders roch und die Schleifen im Haar anders gebunden wurden. Es fällt uns nicht leicht, uns an diese Märchenzeit zu erinnern, denn lange wollten wir sie vergessen, wünschten uns nichts sehnlicher, als dass sie so schnell wie möglich verschwinden würde. Es war, als durfte sie nie existiert haben und als schmerzte es nicht, sich von Vertrautem zu trennen. Eines Tages schlossen sich die Türen dann tatsächlich. Plötzlich war sie weg, die alte Zeit. (ZK: 13 f.)
Hier finden sich die beiden Aspekte, denen Hensels Buch seine Bekanntheit und die anschließende Debatte verdankt: das Sprechen in der Pluralform Wir und die Charakterisierung des Aufwachsens in der DDR als Märchenzeit. Mit dem fortwährenden Auftritt eines Wir verbindet sich eine rezeptionsästhetische Kategorie, denn wie Hector argumentiert, ist die Funktion ein Mitfühlen und Weiterdenken des Textes: „Erinnerungslücken im Erzählfluss […] regen die Leserinnen und Leser an, selbst darüber nachzudenken und die Wissenslücken eventuell zu füllen.“⁵ Zonenkinder umfasst ca. 170 Seiten und gliedert sich in acht Kapitel sowie ein anschließendes Glossar, das in einer willkürlichen Auswahl − nicht die gesamte textrelevante DDR-Terminologie wird aufgeführt − Begriffe ironisch erklärt.⁶ Im Gespräch erklärt Hensel, dass die Gattung des Buches „zwischen Autobiographie und soziologischer Studie, Subjektivität und Pauschalität, Literatur und NonFiction“⁷ oszilliert. Die Erzählinstanz spricht in einem Wechsel zwischen der individuellen Ich-Perspektive und einer kollektiven Wir-Perspektive retrospektiv im Präteritum.
Hector, Anne: „Vom Stiften und Hinterfragen einer Gedächtnisgemeinschaft in Ostdeutschland. Claudia Rusch und Jana Hensel − Ankunft im Westen“, in: Nagelschmidt, Ilse / Müller-Dannhausen Lea / Feldbacher Sandy (Hrsg.): Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts, Berlin: Frank & Timme 2006, S. 107– 123, hier S. 111. Exemplarisch: „FDJ: Freie Deutsche Jugend“ (ZK: 170), aber auch „Thälmann, Ernst: Für uns hieß er nur Teddy“ (ZK: 173). Hensel, Jana / Kraushaar, Tom: „Die Normalität des Ausnahmezustandes. Ein Gespräch mit Jana Hensel“, in: Ders. (Hrsg.): Die Zonenkinder und Wir. Die Geschichte eines Phänomens, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004, S. 94– 110, hier S. 98.
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Zonenkinder schließt in Ton und Gestus intertextuell an ein Vorbild an, das sich aber in einem entscheidenden Punkt unterscheidet. Zwei Jahre zuvor publizierte der damalige FAZ-Journalist Florian Illies mit Generation Golf die Selbstdiagnose der eigenen Generation: Diese umfasst laut Illies die zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 1970er Geborenen.⁸ In thematisch ähnlich strukturierten Kapiteln wie Hensel führt Illies eine Inspektion – so der Untertitel − durch, in der er den materiell-warenfetischistischen Umgang des eigenen Aufwachsens bis in die Gegenwart schildert. Ähnlich wie Hensel oszilliert Illies zwischen den individuellen Erzählungen eines Ich und den Beschreibungen kollektiv geteilter Erfahrungen eines diffusen Wir. Jedoch − und dies ist der Unterschied − verläuft Illies Narration ohne Brüche, indem er sich autodiegetisch und der Chronologie folgend zurückerinnert. Hensels Text lebt wiederum vom Bruch. Denn wenn die Erzählerin sich am Ende des ersten Kapitels auf den Weg begibt (nun kurz vor der Schreibgegenwart angekommen), um für ihre Generation ein „schönes warmes Wir-Gefühl“ (ZK: 26) zu entdecken, das Westdeutsche und -europäer schon lange haben, ist der Ort dieses Entschlusses besonders bemerkenswert: „Wir werden es nie schaffen, Teil einer Jugendbewegung zu sein, dachte ich einige Jahre später, als ich mit italienischen, spanischen, französischen, deutschen und österreichischen Freunden eng zusammengequetscht in einem Marseiller Wohnheimzimmer saß.“ (ZK: 25) Der Hinweis auf die Enge impliziert, dass der Text die Welt enger zusammenrücken lässt und akzentuiert den gewaltigen Unterschied zur erlebten (bzw. nachträglich durch Narration verinnerlichten) Isolation in der DDR − eine Figuration des Anderen, die der Text stetig bemüht, wie die Aufzählung der unterschiedlichen europäischen Nationen und der Ort außerhalb Deutschlands indizieren. Es ist die Erfahrung des Anderen, eines internationalen, europäischen und globalen Austausches, welche den Drang zur Erinnerung erst hervorruft, der auf das teleologische Ziel des Buches hindeutet. So bemerkt die Protagonistin am Ende der Party im Marseiller Wohnheimzimmer lakonisch: „Ich nahm noch einen Schluck aus dem Weinglas und beschloss, mich langsam auf den Weg zu machen.“ (ZK: 26) Nicht wirklich subtil wird die Doppeldeutigkeit ausgespielt, dass die Protagonistin sich einerseits auf den Weg nach Hause, aber andererseits metaphorisch auf den Weg zu sich selbst begeben wird. Gerade die letzte Perspektive, die Erkundung des eigenen Selbstbildes qua Erinnerung, wird als die Textintention von Zonenkinder deutlich. In der narrativen Anlage des Textes fokalisiert die Erzählerin auf drei Ebenen: die Erinnerungen an die DDR, die Erinnerungen an das Aufwachsen in den 1990er Jahren und schließlich die kommentierende Fokalisierung ihrer Schreibgegen-
Vgl.: Illies, Florian: Generation Golf. Eine Inspektion, Berlin: S. Fischer 2000, S. 18 f.
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wart. Bezeichnenderweise nehmen die Erinnerungen an die DDR in der reinen Textmenge einen geringeren Raum ein als die Erinnerungen an die Zeit nach 1989: Die DDR-Zeit wird vor allem erinnert, um den Umbruch zu markieren. Mit dem Verschwinden der materiellen Kultur − diverse DDR-Marken und ihre west- bzw. gesamtdeutschen Äquivalente werden aufgezählt (vgl.: ZK: 47 f., 57) − sowie dem Verlust des die Kindheit gestaltenden sozialen Raumes − beispielsweise dem Pioniernachmittag (vgl.: ZK: 83 ff.) − haben ‚die Zonenkinder‘ in der Nachwendezeit ihre eigene Vergangenheit vergessen, die wieder aktiviert werden soll. Fast schon paradigmatisch hält die Erzählerin kommentierend fest: „Wie ich waren auch sie [die anderen Zonenkinder; M.K.] bemüht, sich dauerhaft in einer Fremdheit einzurichten, die sich auf dem Boden des Heimatlandes ausbreitete und von uns verlangte, permanent alte gegen neue Bilder auszutauschen.“ (ZK: 45) Wie Hector bemerkt hat, ist Zonenkinder „bewusst als Identitätsangebot konzipiert, um eine in der Gesellschaft empfundene Leere auszufüllen und Diskussionen zu provozieren.“⁹ Dieses Identitätsangebot wird in der Alltagswelt gesucht, welche die Erzählerin und die anderen Generationsmitglieder direkt umgibt: Es sind die Waren und die sozialen Ereignisse, die verschwinden. Dem Vergessen wird durch die Inventarisierung und die Bewusstmachung des Bruches eine Absage erteilt. In der Erinnerung an das Aufwachsen und die Jugendorganisationen der DDR (Thälmann-Pioniere und Freie Deutsche Jugend) sowie den regelmäßig stattfindenden ‚freiwilligen‘ Pflichtveranstaltungen, wie dem Subbotnik, dem Altstoffsammeln und dem Aufheben von Lebensmittelresten in der sogenannten Speckitonne, wird nicht der soziale Zwang, sondern das soziale Gemeinsamkeitsgefühl und ein kindlicher Glaube an einen höheren Zweck betont: „Bis ich eines Tages wirklich gefordert und wie Lenin geheime Botschaften mit Milch schreiben würde, begnügte ich mich damit, Kartoffelschalen in die Speckitonne zu tragen, die Geschichte der SED auswendig zu lernen und wie Teddy [Thälmann; M.K.] den ärmeren Mitschülern von meinen Schulschnitten abzugeben.“ (ZK: 85) Eine solche bewahrende Rhetorik vergangener Praktiken hat bereits Friedrich Nietzsche in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben beschrieben. Dort hat er sich nicht allein gegen eine unnütze Betrachtung der Geschichte gewandt, er hat überdies drei Arten der Geschichtsbetrachtung kategorisiert: die monumentalische, die antiquarische und die kritische Art.¹⁰ Zonenkinder erinnert insbesondere an die antiquarische Art:
Hector: „Vom Stiften und Hinterfragen einer Gedächtnisgemeinschaft in Ostdeutschland“, S. 113 (Hervorheb. i. Orig.). Vgl.: Nietzsche: „Unzeitgemässe Betrachtungen II“, hier S. 258.
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Die Geschichte gehört also zweitens dem Bewahrenden und Verehrenden, dem der mit Treue und Liebe dorthin zurückblickt, woher er kommt, worin er geworden ist. […] Die Geschichte seiner Stadt wird ihm zur Geschichte seiner selbst, er versteht die Mauer, das gethürmte Thor, die Rathsverordnung, das Volksfest wie ein ausgemaltes Tagebuch seiner Jugend und findet sich selbst in diesem allen, seine Kraft, seinen Fleiss, seine Lust, sein Urtheil, seine Thorheit und Unart wieder. […] So blickt er, mit […] „Wir“, über das vergängliche wunderliche Einzelleben hinweg und fühlt sich selbst als den Haus-, Geschlechts- und Stadtgeist.¹¹
Laut Nietzsche führt die antiquarische Art die Problematik mit sich, dass sie in ihrer Geschichtsversunkenheit kein sinnvolles Werturteil über das Vergangene treffen kann.¹² Betrachtet man Hensels Text, findet sich dort das von Nietzsche angesprochene Wir – Aleida Assmann bringt die archivalische Bewegung der Geschichtsbetrachtung auch mit der Entstehung kollektiver, genauer: nationaler Identitäten in Verbindung¹³ −, das eine zumindest problematische Stellung zu Werturteilen einnimmt. Dies hängt vor allem mit Hensels Sprache zusammen, die eine magische Kindheitswelt auferstehen lassen möchte, die sie mit ihrer „Märchenzeit“ (ZK: 14) beschwört. Die Erzählerin von Zonenkinder versucht durch die Verwendung des Wir die „kommunikative Vergegenwärtigung von Vergangenem“ als eine „gemeinsame Praxis“¹⁴ zu inszenieren – wie Harald Welzer in Das kommunikative Gedächtnis argumentiert.¹⁵ Dafür setzt Hensel „bei den Signifikaten und Symbolen einer im Austausch begriffenen Welt an, um den absoluten und unverständlichen Wandel ihrer direkten Umgebung zu beschreiben.“¹⁶ Foucault hat in seinem Genealogie-Aufsatz darauf hingewiesen, dass die von Nietzsche diagnostizierte antiquarische Historie am meisten der (einzig) richtigen Betrachtung der Geschichte, der Genealogie, entgegenstehe. Genealogie nach Foucault löst Identitäten auf, während die antiquarische Historie nur scheinbar diese herstellen kann. Stattdessen sei das Ziel der Genealogie, „die heterogenen Systeme ans Licht zu bringen, welche uns unter der Maske des Ich jede Identität untersagen.“¹⁷
Nietzsche: „Unzeitgemässe Betrachtungen II“, S. 265. Vgl.: Nietzsche: „Unzeitgemässe Betrachtungen II“, S. 267. Vgl.: Assmann: Erinnerungsräume, S. 57. Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 165. Welzer argumentiert ausgehend von einem familiären Gedächtnis, das er aber exemplarisch für andere Formen kollektiver Narrativierungen von Erinnerung versteht. Caspari, Martina: „Die schwierige Konstitution von Identität zwischen den Welten. Jana Hensels »Zonenkinder«“, The German Quarterly 81/2 (2008), S. 203 – 219, hier S. 210 f. Foucault, Michel: „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: Ders.: Von der Subversion des Wissens, hrsg. und übers. von Walter Seitter, München: Hanser 1974, S. 83 – 109, hier S. 107. Foucault weist darauf hin, dass eine genealogische Betrachtung der Vergangenheit immer zur Auflösung von Identität führt: „Die Historie kann auch der systematischen Auflösung von Iden-
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Es zeigt sich, dass die Beschreibung der Erziehung die Funktion hat, den Bruch zwischen den Systemen zu verdeutlichen. Betrachtet man das konkrete Beispiel der Erziehung und Bildung in Hensels Text, wird das besonders deutlich, denn nach den Episoden über Pioniere, Schule, Jugendweihe wechselt die Erzählerin mit den Worten, „[a]ls die Mauer dann weg war, war alles anders“ (ZK: 95), in die 90er Jahre und damit in die Post-Wende-Zeit, dem sich der Rest dieses Kapitels widmet. Die Selbstcharakterisierung als „wir zwittrigen Ostwestkinder“ (ZK: 54) erscheint stimmig, wobei bemerkenswert ist, dass die Erzählinstanz den Osten als ersten Teil des Kompositums einsetzt. Sie benötigt die DDR narrativ als Bezugspunkt, wenn sie Wandel und Verschwinden sowie die Wiedergewinnung in einer Art Empowerment inszeniert. In Hensels Roman Keinland werden den Lesenden Gedankengänge der ebenfalls autodiegetischen Erzählinstanz präsentiert, die in diesem Kontext ergänzend wirken: „Damals, als das falsche Land [im Roman die Bezeichnung für die DDR; M.K.] aufgehört hatte, zu existieren, glaubte niemand mehr an die Zukunft, wollte niemand mehr etwas von der Vergangenheit wissen.“¹⁸ Dieses Zwischen-den-Zeiten-stehen ist es, das Zonenkinder antreibt, denn Zone verweist einerseits auf die despektierliche Bezeichnung für die DDR, andererseits soll eine Zone, die zwischen den Zeiten seht, eingeführt werden, wie es die Forschungsliteratur verschiedentlich bemerkt hat.¹⁹ Die Erzählerin konstatiert das gegen Ende von Zonenkinder selbst: Wir sind weder in der DDR noch in der Bundesrepublik erwachsen geworden. Wir sind die Kinder der Zone, in der alles neu aufgebaut werden musste, kein Stein auf dem andern blieb und kaum ein Ziel bereits erreicht worden ist. Die Wende traf uns wie ins Mark. Wir waren gerade zwölf, dreizehn, vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. […] Eine ganze Generation entstand im Verschwinden. Deshalb sind Veränderung in unserem bisherigen Leben stets Abschiede, immer Brüche und nie Übergänge gewesen. (ZK: 160)
Die Brüche sind jene, die sich in den Identifizierung ergeben, wie es in Kontrast zu den Eltern deutlich wird, die entrückt einer anderen Zeit angehören und „in tität dienen. […] Die genealogisch aufgefaßte Historie will nicht die Wurzeln unserer Identität wiederfinden, vielmehr möchte sie sie in alle Winde zerstreuen.“, S. 106. Hensel, Jana: Keinland. Ein Liebesroman, Göttingen: Wallstein 2017, S. 92. Vgl.: Bluhm, Lothar: „Herkunft, Identität, Realität. Erinnerungsarbeit in der zeitgenössischen Deutschen Literatur“, in: Breuer, Ulrich / Sandberg, Beatrice (Hrsg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 1: Grenzen der Identität und der Fiktionalität, München: Iudicium 2006, S. 69 – 80, hier S. 79; sowie: Herrmann, Elisabeth: „Individuelle Erinnerung als kollektive Identitätsstiftung nach dem Ende des Real-Sozialismus in Daniela Dahns »Westwärts und nicht vergessen« und Jana Hensels »Zonenkinder«“, in: Gansel, Carsten (Hrsg.): Rhetorik der Erinnerung. Literatur und Gedächtnis in den ›geschlossenen Gesellschaften‹ des Real-Sozialismus, Göttingen: V&R Unipress 2009, S. 369 – 385, hier S. 381.
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keine[m] Nachwendealltag angekommen“ (ZK: 74) sind. Zonenkinder erschreibt aber eine Subjektivität für die Schreibgegenwart. Das Buch ist nicht nur, wie es in der Forschung heißt, Autofiktion²⁰, „Selbstverständigungstext“²¹ oder „Aufklärungsbuch“²², sondern es stellt die Rückwendung in die DDR-Zeit unter dem Blickwinkel gegenwärtiger Identifizierung in den Mittelpunkt. Dass dies das Ziel einer Betrachtung ‚der Ostdeutschen‘ sein muss, formuliert Hensel wenige Jahre später als die Grundthese von Achtung Zone: „[E]s [geht; M.K.] mir nicht um die DDR, sondern um die Gegenwart.“²³ Die Erzählerin erklärt am Ende von Zonenkinder, dass die Zonenkinder nun, also knappe 15 Jahre nach dem Ende der DDR, „über den Berg“ seien, denn sie sind „die ersten Wessis aus Ostdeutschland“ (ZK: 166) geworden. In Verbindung mit der Inventarisierung der Warenwelt und dem Fehlen einer kritischen Distanz zur DDR ist es dieser ironische Stil, der Hensel den Vorwurf einer Schreibweise des Westens²⁴ eingebracht hat. Dieser Vorwurf verkennt, dass − stimmt man der Kritik prinzipiell zu und erklärt Zonenkinder aufgrund des Wir und der Archivierung eines Kulturbestandes im Anschluss an Moritz Baßler zur Popliteratur²⁵ − hierin (trotz aller Problematik) das Politikum dieses Buches besteht: Das Wegfallen einer Schreibweise des Ostens aufgrund der Verdrängung der eigenen Geschichte im Nachwendedeutschland. Diese These ist besonders interessant, da sie an die Überlegungen zu den vorgelegten Bestimmungen der Post-DDR-Literatur anschließt.²⁶ Im Unterschied zu den bisher vorgestellten Texten schließt Zonenkinder nicht an große Traditionen des literarischen Schreibens der Moderne an, sondern verortet sich in der intertextuellen Bezugnahme radikal im Gegenwartskontext popliterarischen Schreibens. Die Beantwortung der Frage, ob es eine Post-DDR-Literatur der Generation der Wende- und Nachwendekinder gibt und wie deren Schreibweisen sich figurieren, muss aufgrund der wenigen literari-
Vgl.: Bluhm: „Herkunft, Identität, Realität“, S. 78. Caspari: „Die schwierige Konstitution von Identität“, S. 203. Hector: „Vom Stiften und Hinterfragen einer Gedächtnisgemeinschaft in Ostdeutschland“, S. 111. Hensel, Jana: Achtung Zone.Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten, München: Piper 2009, S. 9. Vgl. auch: S. 42 f. Vgl.: Brüns: Nach dem Mauerfall, S. 243. Vgl.: Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München: C.H. Beck 2005, S. 20; sowie: Baßler, Moritz: „Die «Zonenkinder» und das «Wir». Ein Nachwort“, in: Kraushaar, Tom (Hrsg.): Die Zonenkinder und Wir. Die Geschichte eines Phänomens, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004, S. 111– 119, hier S. 111. Vgl. das Kapitel Perspektiven durch Erinnerung – Gedächtnis und Literatur.
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schen Publikationen der relativ jungen Alterskohorte (noch) ausharren.²⁷ Bemerkenswert ist, dass das Interesse an Ostdeutschland und Ostdeutschen (gefördert durch die Jubiläumsjahre 2009/10, 2014/15, 2019/20 sowie die Wahlerfolge der AFD in ostdeutschen Bundesländern) nicht versiegt, vielmehr ist– neben den zahlreichen filmischen Publikationen − ein Anstieg popkultureller Verarbeitung im musikalischen Bereich zu verzeichnen.²⁸ Ich habe in dieser Arbeit versucht, in den Werken Christa Wolfs (mit Schwerpunkt auf Stadt der Engel) und Durs Grünbeins (mit Schwerpunkt auf Die Jahre im Zoo) sowie in kurzen Lektüren zu Beginn (Uwe Tellkamp Der Turm) und zu Ende (Jana Hensel Zonenkinder) den ostdeutschen Selbstbildern in diesen Texten nachzuspüren. Leitend waren hierbei mehrere Thesen: Ausgehend von theoretischen Reflexionen habe ich gezeigt, dass ein Begriff der Identität aus unterschiedlichen Gründen unpassend ist. Stattdessen schlage ich im Anschluss an Überlegungen Freuds, Adornos, Benjamins und Derridas vor, von Identifizierungen zu sprechen. Diese vollziehen sich prozessual und sind ständigen Verschiebungen unterworfen. Ihre Prozessualität ist in Literatur und insbesondere in Prosa besonders gut darstellbar, da durch die narrativen Möglichkeiten von Analepsen, der Aufsprengung der Kontinuität von Erzählinstanz und Protagonist bzw. Protagonistin sowie der Verlangsamung der Erzählzeit Identifizierungen stillgestellt und beobachtbar werden. Die Identifizierungen, die diese Arbeit in den Blick genommen hat, finden in einem speziellen Rahmen statt: So sind sie geprägt von Erinnerungen an die DDR und die Post-DDR-Zeit und setzen sich in Erinnerungsprozessen mit diesen auseinander. Konstitutiv für Erinnerungen und Identifizierungen ist der politischen Systemwechsel von 1989/90, der sie von den DDR-Erfahrungen unterscheidet und die Reflexion auf den Eintritt in eine neue Welt (Gesamtdeutschland, Globalisierung, Beschleunigung) evoziert. Die Analyse des Abschnittes zu Christa Wolf nahm ihren Ausgang in der Dialektik von Erinnerung und Vergessen, die sich in Stadt der Engel vor allem an
Naturgemäß ist es angesichts des großen literarischen Feldes schwierig dieses in ihrem ganzen Umfang zu überblicken. Hingewiesen sei doch auf einige Publikationen dieser Generation, die das Aufwachsen nach 1989 in Ostdeutschland in Blick nehmen, vgl.: Bangel, Christian: Oder Florida. Roman, München: Piper 2017; Fürstenberg, Paula: Familie der geflügelten Tiger. Roman, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016; Meyer, Clemens: Als wir träumten. Roman, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2006; Präkels: Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß; Richter, Peter: 89/90. Roman, München: Btb 2017. Auch hier ist es unmöglich, eine vollständige Inventarisierung vorzunehmen. Besonders hingewiesen sei auf die beiden Künstler(gruppen), die aufgrund ihrer Beschäftigung mit dem Osten sogar auf der Gedenkveranstaltung zum 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalles vor dem Brandenburger Tor auftreten durften: Die Rapband Zugezogen Maskulin (mit ihren Songs Plattenbau O.S.T., Heiko und Uwe sowie Steine&Draht) und der Rapper Trettmann (mit Grauer Beton).
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der Frage eines Engagements für die DDR und für die Staatssicherheit auslotet. Die beiden Aspekte bilden den Übergang zu Überlegungen einer autobiographischen Schreibweise in Stadt der Engel, die ich in Auseinandersetzung mit Theorien der Autobiographieforschung sowie poetologischen Texten Wolfs entwickelt habe. Im Anschluss daran habe ich Figurationen der globalisierten Welt, wie Obdachlosigkeit und Darstellungen von Schwarzen und Native Americans, und ihr Verhältnis zu Protagonistin und Erzählerin bearbeitet. In diesem Abschnitt fand ebenfalls die Auseinandersetzung mit den literarischen Intertexten (mit Schwerpunkt auf Brecht und Th. Mann) statt. In Stadt der Engel fungieren sie sowohl als Bezugspunkt für das Ende der literarischen Moderne als auch für den euphorischen Aufbruch der DDR-Gründungsphase (für die auch paradigmatisch KuBa und Louis Fürnberg angeführt werden). In einem letzten Abschnitt zu Wolf habe ich den Aspekt eines utopischen Schreibens, das stark an Walter Benjamins Über den Begriff der Geschichte anschließt, entwickelt und gezeigt, wie dieses die entwickelten Selbstbilder verschiebt und versucht aufgrund der ostdeutschen Umbruchserfahrungen und der Erfahrungen der globalisierten Welt, neue Identifizierungen zu erzeugen. Im Kapitel zu Durs Grünbein folgte auf eine intensive Auseinandersetzung mit dem Auftaktkapitel von Die Jahre im Zoo und dem Essay Transit Berlin eine Erörterung seiner Poetologie des Essayismus und des Zusammenhanges dieser fragmentarischen Schreibweise für Prozesse der Identifizierung. Ausgehend von theoretischen Vorüberlegungen habe ich im Hinblick auf verschiedene Essays Grünbeins versucht, seine Schreibweise des Nichtidentischen darzulegen. In zwei Kapiteln der Jahre im Zoo habe ich in Close-Readings die Reflexionen auf Prozesse der Globalisierung und des Kosmopolitismus dargestellt. Anschließend daran habe ich das intertextuelle Geflecht in Grünbeins Jahren im Zoo sowie in seinem Essay Ein kurzer Bericht an eine Akademie verfolgt und vor allem die Bezüge zu Werken Walter Benjamins und Franz Kafkas beleuchtet. Verschiedene Aspekte ostdeutscher Selbstbilder und Identifizierungen nach 1989 waren hierbei besonders markant: das autobiographische Schreiben, das Aufwachsen des Protagonisten, Figurationen von Dresden und Hellerau sowie die Verdrängungen von Literatur in der DDR. Im letzte Kapitel bin ich auf die Funktion der Photographie, Metaphoriken des Optischen und die Entwicklung eines zoologischen Blickes auf die Vergangenheit eingegangen, die jeweils die Frage von Subjektivität und die Verortung dieser in einem ostdeutschen Kontext zum Thema hatten. Ostdeutschland und die Erarbeitungen einer Zugehörigkeit zu diesem Gebiet, die das Individuum in seinen Selbstbildern präformiert, sind Gegenstand unterschiedlicher Forschungen. Medienwissenschaften, Kultur- und Literaturwissenschaften, Soziologie und Geschichtswissenschaften beteiligen sich an der Diskussion. Innerhalb dieser Forschung verortet sich die vorliegende Arbeit, die
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Debatten aus allen Teilbereichen aufnimmt. Sie hat ihren Gegenstand in der Literatur, den ich auf die Werke Christa Wolfs und Durs Grünbeins zugespitzt habe und die ich daraufhin befragt habe, wie sich in ihnen ostdeutsche Selbstbilder ausformen, welche disparaten Identifizierungen die erzählenden Individuen erzeugen und miteinander ins Gespräch bringen. Literatur ist insofern ein Reflexionsmedium, als dass es sich aus gesellschaftlichen Diskursen speist. Die ästhetische Form, die Literatur als solche auszeichnet, übersteigt dies und schafft es letztlich, in kreativen Prozessen neue Perspektiven zu eröffnen. In den philologischen Lektüren der für diese Arbeit zentralen Texte Stadt der Engel und Die Jahre im Zoo zeigt sich, wie die Frage des Ostdeutsch-Seins nicht einfach eines von vielen behandelten Motiven ist. Vielmehr wird das stetige Umkreisen der Selbstbestimmung zum bestimmende Aspekt dieser Texte, welche fortwährend die Herkunft der erzählenden Subjekte thematisieren. Sie sind stets von den Fragen begleitet, wie eine ostdeutsche Subjektivität sich in ihren widerstrebenden Teilen ausformt und wie diese sich angesichts des historischen Endes der DDR weiterhin konzeptualisieren lässt.
Bibliographie Siglen A-GS: Adorno, Theodor: Gesammelte Schriften. Bde. 1−20, hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno / Susan Buck-Morss / Klaus Schultz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. B-GS: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bde. I-VII, hrsg. von Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno / Gershom Scholem, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972−1991. DKZ: Grünbein, Durs: „Den Körper zerbrechen“, in: Grünbein, Durs: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989 – 1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 75 – 86. DJZ: Grünbein, Durs: Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop, Berlin: Suhrkamp 2015. DT: Tellkamp, Uwe: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. KBA: Grünbein, Durs: „Kurzer Bericht an eine Akademie“, in: Grünbein, Durs: Antike Dispositionen. Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 11 – 14. SdE: Wolf, Christa: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, Berlin: Suhrkamp 2010. StA: Freud, Sigmund: Studienausgabe. Bde. I–X mit Ergänzungsband, hrsg. von Alexander Mitscherlich / Angela Richards / James Strachey, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1989. TB: Grünbein, Durs: „Transit Berlin“, in: Grünbein, Durs: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989 – 1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 136 – 143. ZK: Hensel, Jana: Zonenkinder, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002.
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Bibliographie
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Durs Grünbein Grünbein, Durs: Schädelbasislektion. Gedichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Grünbein, Durs: Falten und Fallen. Gedichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994. Grünbein, Durs: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989−1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996. – „Ameisenhafte Größe“, S. 13 – 17. – „Mein babylonisches Hirn“, S. 18 – 33. – „Vulkan und Gedicht“, S. 34 – 39. – „Reflex und Exegese“, S. 61 – 66. – „Der verschwundene Dichter“, S. 67 – 74. – „Den Körper zerbrechen“, S. 75 – 86. – „Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen“, S. 89 – 104. – „Transit Berlin“, S. 136 – 143. – „Wir Buschmänner. Eine Erinnerung an Elias Canettis »Masse und Macht«“, S. 197 – 209. – „Bevor der Mensch mit sich allein ist. 150 Jahre Zoologischer Garten Berlin“, S. 229 – 236. Grünbein, Durs: Nach den Satiren, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999. Grünbein, Durs: Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. Grünbein, Durs: Erklärte Nacht. Gedichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. Grünbein, Durs: Antike Dispositionen. Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. – „Kurzer Bericht an eine Akademie“, S. 11 – 14. – „Warum schriftlos leben“, S. 32 – 57. – „Z wie Zitat“, S. 61 – 64. – „Zwischen Antike und X“, S. 393 – 398. Grünbein, Durs: Strophen für übermorgen. Gedichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. Grünbein, Durs: Der cartesische Taucher. Drei Meditationen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008.
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Abbildungen Alle Abildungen aus Durs Grünbeins Die Jahre im Zoo entstammen im Original der Sammlung des Autors.
Frontispiz Franca Walser, „Christa und Durs“, 2020. Abb. 1
Umschlagzeichnung, Zeichnung (21,3 × 24,5 cm). Quelle: Tellkamp, Uwe: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, Vorsatz.
Abb. 2
Traditionsschiff Typ Frieden, Photographie (4,6 × 7,0 cm). Quelle: Grünbein, Durs: Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 22.
Abb. 3
Walter und Georg Benjamin (ca. 1902), Photographie (Atelier Gillert, Schreiberhau, 11,3 × 7,4 cm). Quelle: Nachlass Günther Anders im Österreichischen Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. ÖLA 237/04.
Abb. 4
Franz Kafka (ca. 1888/89), Photographie (Kinderphoto, 18,0 × 12,8 cm). Quelle: Walter Benjamin Archiv, Akademie der Künste Berlin, Sign. WBA 1536.
Abb. 5
Cover, Die Jahre im Zoo, Photographie (7,0 × 7,0 cm). Quelle: Grünbein, Durs: Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop, Berlin: Suhrkamp 2015, Cover sowie S. 2.
Abb. 6
Kind mit Mutter, Photographie (4,0 × 4,0 cm). Quelle: Grünbein, Durs: Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 364.
https://doi.org/10.1515/9783110741766-009
Personenregister Adler, Paul 18, 266, 330, 363, 368 f., 373 – 380, 403 Adorno, Theodor W. 4, 14, 23, 29 f., 35 f., 40 – 51, 54 – 56, 59 f., 66, 89, 91, 95, 115 – 117, 160, 168, 177 f., 185, 191 – 193, 195, 198 f., 203, 229 – 232, 236 – 238, 241, 249, 254 – 256, 259, 261 f., 265 f., 270, 277, 280, 286 f., 290, 294 – 302, 304, 309, 311, 314, 317, 331, 346, 381 – 384, 387, 394 – 396, 434 Aristoteles 220, 424 Assmann, Aleida 26 f., 31 f., 39 f., 56, 61 f., 72 f., 268, 355, 431 Assmann, Jan 25, 36 f., 61, 72 f., 76 Balibar, Étienne 14, 19 Barthes, Roland 89, 271 f., 333, 393, 400 f., 409 – 412 Baudelaire, Charles 89 f., 280 – 282 Bauman, Zygmunt 50, 65, 87, 90, 224 Benjamin, Walter 7, 13, 17 f., 22 f., 48, 60, 63 – 66, 89, 91, 93 f., 99, 101 – 104, 107, 109, 112 f., 115 – 117, 120 f., 123 f., 137 – 139, 158 f., 161, 191, 195, 226, 228, 235 f., 239, 245 – 257, 259 – 261, 266, 270, 280, 291 f., 297, 309 f., 315, 317, 330, 332 – 363, 382, 385 – 390, 393 – 403, 405, 407 f., 410, 419, 421, 423, 434 f. Bense, Max 291 f., 294 Bergson, Henri 71, 267, 270 Bloch, Ernst 238 f., 247, 253 – 255, 257, 262, 394 Brasch, Thomas 1, 92 Braun, Volker 426 Brecht, Bertolt 22, 95, 157, 173, 187, 196 f., 200, 203, 207 – 212, 215, 261, 435 Brussig, Thomas 21, 80, 83 f., 319 Butler, Judith 29, 36, 45, 54 – 56, 58 Cicero, Marcus Tullius De Man, Paul
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17, 152 – 155
https://doi.org/10.1515/9783110741766-010
Defoe, Daniel 318 f. Derrida, Jacques 23, 41 f., 50, 56 – 59, 63, 66, 111, 153, 155, 165 f., 298, 434 Engels, Friedrich 168, 215 Engler, Wolfgang 67 f., 70, 85, 91, 427 Erikson, Erik H. 32 – 34, 238 Fanon, Frantz 214 f. Faulkner, William 109 Feuchtwanger, Lion 203, 213 f. Foucault, Michel 38, 59, 144, 146, 416, 431 Frank, Leonhard 202 f. Freud, Sigmund 17, 23, 32 f., 50 – 55, 58, 62 – 64, 93, 98, 103 – 111, 121, 126, 137, 140, 142, 184, 190, 195 f., 218, 226 – 228, 248, 253, 256, 259, 266, 272, 305, 310, 336 f., 361, 406, 424, 434 Genette, Gérard 96, 102, 267, 269 Goethe, Johann Wolfgang von 2 f., 172 – 174, 205 f. Halbwachs, Maurice 71 f. Hall, Stuart 23, 50 f., 171 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 30, 39, 117 f., 127, 259, 383 Hensel, Jana 18, 21 f., 67 f., 80, 84, 340, 426 – 434 Hesse, Hermann 3, 5 Hilbig, Wolfgang 21, 83 Hoffmann, E. T. A. 5, 9 Hofmannsthal, Hugo von 3, 192 Horkheimer, Max 42, 46, 132, 168, 177 f., 185, 199, 241, 288 f., 302, 309, 382 – 384 Hume, David 24, 27 – 29, 39, 58, 288 Illies, Florian Jirgl, Reinhard
429 21, 82 f.
468
Personenregister
Kafka, Franz 18, 22 f., 261, 266, 281, 292, 330 – 332, 350, 359, 362 – 377, 380 – 390, 392, 398 f., 417, 419, 421, 435 Kant, Immanuel 29 f., 49, 162, 223 Kästner, Erich 291, 339 Kleist, Heinrich von 250 Kowalczuk, Ilko-Sascha 68 – 70, 85, 88 Kracauer, Siegfried 192, 393 f., 405 – 407, 409 f., 412 f. Kristeva, Julia 109 KuBa [Barthel, Kurt] 207 f., 435 Lacan, Jacques 54, 128 f., 361 Leibniz, Gottfried Wilhelm 27 Lejeune, Philippe 17, 146 f., 151, 153, 155 f., 453 Locke, John 27 – 29, 39, 87 Lukács, Georg 44 f., 174 – 176, 179 f., 192, 290, 292 f., 383 Lyotard, Jean-François 86 Mann, Thomas 2 – 4, 14, 22, 90, 95, 157, 160, 196, 200 f., 203 – 207, 435 Marcuse, Herbert 24, 203, 228, 257 Marx, Karl 42 – 44, 168, 176, 182, 215, 253, 275, 305, 343 Mead, Georg Herbert 25, 30 – 33 Milton, John 94 Müller, Heiner 21, 84, 88, 332 Musil, Robert 14, 90, 281, 294 f. Nietzsche, Friedrich 430 f.
283 f., 304, 417, 421,
Papenfuß-Gorek, Bert 83 Proust, Marcel 10, 23, 64, 116, 121, 268 – 273, 281, 335 f., 396 f. Reckwitz, Andreas 40, 45, 87 Ricœur, Paul 27, 34 f., 37 f., 55 Rilke, Rainer Maria 375, 408, 421 Rimbaud, Arthur 375, 407 f. Rosa, Hartmut 29, 45, 86 – 90 Rosenlöcher, Thomas 16, 88 Ruge, Eugen 81 Sabrow, Martin 70 f., 73 – 78, 85 f. Schlegel, Friedrich 248 Schoch, Julia 81 Scholem, Gershom 246, 249 Schulze, Ingo 21, 80 – 82, 84 Seiler, Lutz 81, 318 Simon, Jana 106, 158 Stifter, Adalbert 4 Szondi, Peter 334 f., 337, 346, 354 Tellkamp, Uwe 350, 434
2 – 18, 21 f., 81, 83, 340,
Weber, Max 132 Welzer, Harald 60, 72, 431 Wittgenstein, Ludwig 26 Wohlfarth, Irving 64 f., 99, 105, 108, 110, 119, 145, 158, 216, 218, 228, 235 f., 248, 255, 261