Alternative Modernen: Literatur in autoritären Regimen. Simin Daneshvar - Mercè Rodoreda - Christa Wolf [1. Aufl.] 9783839426227

In this book, the politics and poetics of cultures in the 1960s literary works of three renowned authors are examined: S

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German Pages 228 Year 2014

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Alternative Modernen: Literatur in autoritären Regimen. Simin Daneshvar - Mercè Rodoreda - Christa Wolf [1. Aufl.]
 9783839426227

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Yahya Kouroshi Alternative Modernen

Lettre

Diese Arbeit ist meinen Eltern Fakhri und Mohammadtaqi gewidmet.

Yahya Kouroshi (Dr. phil.) forscht an der Universität Erfurt und am Kunsthistorischen Institut in Florenz (Max-Planck-Institut). Seine Schwerpunkte sind Neuzeitliches Denken und Interkulturalität.

Yahya Kouroshi

Alternative Modernen Literatur in autoritären Regimen. Simin Daneshvar – Mercè Rodoreda – Christa Wolf

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat & Satz: Yahya Kouroshi Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2622-3 PDF-ISBN 978-3-8394-2622-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7 Einleitung Moderne: unvollendet oder multipel? | 9 Iran unter der Schah-Regierung. Savushun, Drama der Trauer von SƯmƯn DƗnešvar | 25

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Die schreibende Frau als ‚Schiraserin ohne Namen‘ | 27 Ästhetische Leistung und gesellschaftliches Engagement (adabiyƗt-e motea'hed) | 37 Ausdifferenzierte Lebenswelt und ‚heterotopisches‘ Verfahren | 61 Die ‚neue Kulturschaffende‘ zwischen ‚Selbstsorge‘ und ‚Kolonialisierungsphobie‘ | 73 Zur Verschleierungspoetik und zur Politik des ‚zarten Geschlechts‘ (jens-e latƯf) | 89

Spanien unter der Franco-Regierung. La plaça del Diamant von Mercè Rodoreda i Gurgui | 103

1 2 3 4 5

Literarische Praxis und die Erfahrung des Exils | 105 ‚España Eterna‘ und ‚Anti-España‘ | 113 La placa del Di-amante: De- und Re-Platzierung der Liebe | 119 Kulturgeschichtliche Revision | 125 Krieg als homöopathisches Mittel? | 141

Die DDR unter der sozialistischen Einheitspartei-Regierung. Der geteilte Himmel von Christa Wolf | 151

1

Von der ‚alten‘ und ‚neuen‘ Polis: Literatur im sozialen Gefüge | 153

2 3 4 5

Das ‚schöne Geschlecht‘ - Maßstab für den Fortschritt? | 167 Die kulturpolitische Dimension | 173 Die kulturschaffende Frau zwischen Selbstund Kollektiv-Verwirklichung | 179 Vom ‚Gewicht‘ und ‚Ungewicht‘ des Körpers | 185

Schlussbetrachtung  Das Haus, das keins mehr ist | 193 Bibliografie | 199

Danksagung

Prof. Dr. Wolfgang Struck möchte ich für seine hervorragende und verständnisvolle Betreuung dieser Dissertation meinen herzlichen Dank mit einem Spruch ausdrücken, den ich in meinen Schuljahren im Iran als kalligrafische Schrift üben musste: Strenge des Lehrers ist mehr als Vaterliebe. Insbesondere gilt mein Dank Prof. Dr. Jörg Dünne, dem Zweitgutachter meiner Dissertation. Seine konstruktiven Kommentare, kritischen Anmerkungen und Anregungen waren für mich und die Entwicklung meiner Arbeit wegweisend. Ebenfalls danke ich Prof. Dr. Birgit Schäbler und den Mitgliedern der „Plattform Weltregionen und Interaktionen“ (Area Studies, Transregional) der Universität Erfurt, die durch anregende Diskussionen zum Gelingen meiner Arbeit beigetragen haben. Ich danke auch allen Angehörigen, Kolleginnen und Kollegen der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel für ihre Unterstützungen in den ersten Jahren meiner Promotion, insbesondere Prof. Dr. Javier Gomes-Montero (Romanistik). Nicht zuletzt geht mein besonderer Dank an all jene, die mich unermüdlich während verschiedener Phasen meiner Promotionszeit durch geduldiges Korrekturlesen unterstützt haben vor allem Dr. Anneliese Wittig, Dietlinde Schmalfuß-Plicht und Hilke Dreyer sowie Susanne Eden. Der FAZIT-Stiftung danke ich für die finanzielle Unterstützung zum Druck meiner Arbeit.

Einleitung. Moderne: unvollendet oder multipel?

Im Zentrum der folgenden Analysen stehen drei literarische Werke, die in einer Phase ambivalenter Modernisierung in drei unterschiedlichen Weltregionen und unter höchst unterschiedlichen politischen und kulturellen Konstellationen entstanden sind: Savushun, Drama der Trauer der Iranerin SƯmƯn DƗnešvar, La plaça del Diamant der Katalanin Mercé Rodoreda i Gurgui und Der geteilte Himmel der deutschen Autorin Christa Wolf. Gemeinsam ist diesen drei Werken nicht nur die Zeit ihrer Entstehung in den 1960er Jahren, sondern vor allem die Tatsache, dass sie unter autoritären politischen und kulturellen Verhältnissen entstanden sind, dass sie deren Entstehung während und nach dem Zweiten Weltkrieg mit der darauffolgenden ‚neuen Weltordnung‘ reflektieren, dass sie ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit und ein großes Lesepublikum erreicht haben und dementsprechend sehr erfolgreich waren und schließlich, dass alle drei Werke von Frauen verfasst wurden. Die drei Autorinnen benutzen in ihren Werken poetisch-historiografische Konzepte, die sich auf entscheidende Momente der sozialen und politischen Entwicklungen in ihrem Kontext beziehen. Diese Momentaufnahmen, die in diesen Romanen wie ‚geteilte Geschichten‘ erzählt werden, sind: 1. die Besetzung des Iran durch die Alliierten im August 1941 sowie der von England und den USA unterstützte Putsch im August 1953, der den Sturz der neuen Demokratie und die Etablierung der Monarchie zur Folge hatte in Savushun, Drama der Trauer.

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2. der spanische Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 mit der Niederschlagung der republikanischen Kräfte und der darauffolgenden Machtübernahme von General Franco als Repräsentant der militärischen, kirchlichen und monarchistischen Interessen in La plaça del Diamant. 3. der Mauerbau 1961 in Berlin als Bestandteil der als notwendig behaupteten Sicherheitsmaßnahmen für den Aufbau des sozialistischen Staates der DDR infolge der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg in Der geteilte Himmel. So wie jede Rede von Geschichte immer aus der Verflochtenheit der Aspekte von Homogenität und Diversität hervorgeht, kann eine ‚gemeinsame‘ oder ‚globale Geschichte‘ ihre Legitimität ausschließlich aus der Diversität ihrer Mikro-Geschichten ableiten. Dies trifft auf die oben genannten kollektiven politischen Ereignisse zu, welche sich jeweils auf individuelle Geschichten beziehen, die in allen drei Fällen in erster Linie Geschichten von Frauen sind. Damit rücken zugleich die jeweiligen GenderOrdnungen in den Fokus, die auf spannungsreiche Weise in die politischen Transformationen nach dem Zweiten Weltkrieg und der Etablierung der ‚neuen Weltordnung‘ in den Ost-West-Blöcken verwoben sind. Die 1960er Jahre waren weltweit ein Jahrzehnt der politisch-kulturellen und sozialen Auf- und Umbrüche. Dies gilt in besonderer Weise für die hier thematisierten Staaten: Der Iran1 war ungeachtet seiner offiziellen Neutralität vom Zweiten Weltkrieg betroffen. Auf Befehl von Stalin und Churchill marschierten im August 1941 sowjetische und britische Truppen mit dem Ziel sicherer Nachschublinien von Norden und Süden in das Land ein und schickten Rezaschah Pahlavi (1878-1944) ins afrikanische Exil. Seit der ‚konstitutionellen Revolution‘ (‚enqelƗb-e mašrutiat‘) und der darauffolgenden Verfassung aus dem Jahr 1907 tendierte die Staatspolitik des schiitisch-islamisch geprägten Iran mehr oder weniger zu einer ‚Verwestlichung‘ (Alavi

 1

Die offizielle Namensänderung des Landes von Persien zum Iran geschah im Jahr 1934 im Sinne von ‚Arier‘ bzw. ‚Land der Arier‘. Die Entstehungsgeschichte des Begriffes ‚Iran‘ ist laut Gnoli auf die Anfänge des Sassanidenreiches im 3. Jahrhundert n. Chr. in der Form von ‚Eran‘ bzw. ‚ƜrƗndžahr‘ zurückzuführen (Gnoli 2008; dazu auch Daryaee 2009). Laut Fragner bekommt die Idee von einem iranischen Geschichtsbewusstsein (im Rückblick auf Schahnameh) einen Aufschwung unter der Mongolenherrschaft (Fragner 1999, 78 ff.).

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1964, 9 ff.). Im Zuge dieser auf ‚Säkularisierung‘ gerichteten Politik baute sich ein Spannungsverhältnis zu dem klassisch-islamisch geprägten kulturellen Milieu auf. Die Entstehung und Entwicklung der ‚antiwestlichen‘ Strömung ‚ƤarbzadegƯ‘ (‚Westtoxikation‘) ist im Kontext solch staatlich verordneter Modernisierungspläne zu betrachten, für welche die ‚Verwestlichung‘ quasi als Idealbild bzw. Soll-Zustand angesehen werden kann. Diese einflussreiche Bewegung kristallisierte sich infolge der sozialen und politischen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg im Iran der 1950/60er Jahre heraus. Die Einbeziehung der islamischen Elemente auch in die Intellektuellendebatten gilt als ein entscheidendes Merkmal der ‚ƤarbzadegƯ-Debatten‘. Damit kommt der ‚Verwestlichung‘ und ‚Westtoxikation‘ als zwei zentralen Begriffen im Zusammenhang mit der neueren kulturgeschichtlichen Entwicklung im Iran eine spezifische Bedeutung zu. Mit der ‚Westtoxikation‘ ist die Thematik des ‚politischen Islams‘ verbunden, die bezogen auf die soziokulturellen Verhältnisse im Iran der 1950/60er Jahre indes weniger als Sammelbegriff für reaktionäre, metaphysische, nostalgische Orientierungen verstanden werden darf, sondern genauso als Bestandteil eines lokalen kulturpolitischen Phänomens, in Verflechtung mit den Moderne-kritischen Positionen von Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre im ‚Zentrum‘ zu betrachten ist (Mirsepassi 2011, 85 ff.). Zugleich ist es aber wichtig, aus diesem interkulturellen Blickpunkt die eigenständige Besonderheiten dieser Bewegung an der Peripherie der ‚RestWelt‘ (Hall 1992) zu beleuchten. Spanien belasteten schon vor dem Zweiten Weltkrieg starke soziale und politische Probleme, welche die am 14. April 1931 ausgerufene Zweite Republik scheitern ließen: Unter den zunehmend instabilen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen kam es im Juli 1936 zu einem militärischen Putsch unter Führung von General Franco. Diesem Putsch folgte der spanische Bürgerkrieg (‚Guerra Civil‘) mit den brutalsten Schlachten in der Geschichte des Landes. Man kann bei dieser gewaltsamen Konfrontation zwischen unterschiedlichen sozialen und politischen Kräften differenzieren: Zwischen den traditionell kirchlich monarchischen und denen der bürgerlich republikanischen Richtung (‚Las Dos Españas‘). Dabei ist die Rolle der Religion im spanischen Bürgerkrieg von zentraler Bedeutung, wie dieser „im Selbstverständnis der Kirche und der ‚nationalen‘ Seite insgesamt ein ‚Kreuzzug‘ war“ (Bernecker/Brinkmann 2006, 131; auch Juliá 2006, 31). Am 1. April 1939 begann mit dem offiziellen Ende des Bürgerkrieges

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die Regierungszeit des katholisch-nationalistisch orientierten Generals Franco bis zu dessen Tod im Jahre 1975. Spaniens Modernisierungsweg ist ein ‚Sonderfall‘. Auf diese Besonderheit wird im Laufe der Analyse unter Einbeziehung von Intellektuellendebatten über ihr Selbstbild und Geschichtsverständnis noch näher eingegangen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur Teilung Deutschlands durch die westlichen Siegermächte und die Sowjetunion. Dabei versuchten die Siegermächte und ihre Verbündeten, in ihrem jeweiligen Einflussbereich ihre politischen Prinzipien und sozialen Systeme zur Geltung zu bringen. Infolge dieser politischen Entwicklungen wurde im September 1949 zuerst die Bundesrepublik Deutschland (BRD) gegründet. Im Oktober desselben Jahres wurde daraufhin auch in der sowjetischen Besatzungszone die Teilung Deutschlands mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vollzogen. Mit dem Beginn des Mauerbaus – von den kommunistischen Machthabern als ‚antifaschistischer Schutzwall‘ bezeichnet – wurde die Spaltung in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 sowohl symbolisch als auch de facto endgültig vollzogen: „An der Mauer haben Todesschützen in der Folgezeit die Abriegelung der DDR ‚vollendet‘.“ (Weber 2000, 59) Auf dieser Grundlage lassen solche auf den ersten Blick als individuell und lokal erscheinende Ereignisse hinsichtlich ihrer globalen Verflechtung (Zweiter Weltkrieg/Putsch, Bürgerkrieg und Mauerbau) Konturen der gemeinsamen bzw. geteilten Geschichten in Erscheinung treten. Eine solche globale Vernetzung gewinnt im Kontext der untersuchten Romane im Hinblick auf die jeweils offizielle staatspolitische Propaganda an Profil. Dies zeigt sich deutlich anhand der Konstruktion von ‚Selbst- und Fremdbildern‘ über die Mechanismen der Inklusion/Exklusion bestimmter politischer Ideologien die Lebenswelt der Individuen strukturiert wird. So kommt im Iran der 1950/60er Jahre dem Feindbild ‚der kollektivistischen Ideologien‘ in der offiziellen Staatspolitik eine wichtige Funktion zu. Die feindbildliche Metapher des ‚Kollektivismus‘ steht im Zusammenhang mit einer Reihe von weiteren Maßnahmen, über welche die Vorstellungen von ‚eigener‘ Identität geformt und stabilisiert werden sollten: “In the decade after the 1953 coup d'état, the shah worked to consolidate his power. […] He used martial law, military tribunals, and the 1931 decree against „collectivist ideology“ to crush not only the Tudeh [Massen- oder Volkspartei, Y.K.] but also

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the National Front and all other opposition parties. For example, the Iran party – the main pillar of National Front – was outlawed in 1957 on the grounds that ten years earlier it had formed an alliance with the communist movement.” (Abrahamian 1982, 419)

Vergleichbares zeigt sich auch in Spanien, wo sich das ‚Selbstbild‘ der Siegergruppe des spanischen Bürgerkriegs über das ‚kommunistische Feindbild‘ legitimiert: „Aus der Sicht der Aufständischen war der Bürgerkrieg der Kampf gegen Anti-Spanien, gegen Freimaurerei und kommunistische Fremdherrschaft.“ (Schmolling 2005, 265) Der Logik solcher Dichotomien (als „zentrale Rahmen sowohl des modernen Intellekts wie der modernen Praxis“: Bauman 1996, 28) folgend zeugt der Mauerbau (ob in der realen Welt oder in Wolfs Romanwelt) im Rahmen der Kulturpolitik der DDR vom Selbstbild des sozialistischen Deutschlands beim Aufbau des sozialistischen Staates auf dem Weg zum Kommunismus: „Im Grunde ging es bei allen Diskussionen unter den Künstlern und im Kulturbund seit dem XX. Parteitag um die kulturellerzieherische Funktion unseres Arbeiter- und Bauernstaates beim Aufbau des Sozialismus.“ (Abusch, 32. Plenum des ZK der SED Juli 1957; zitiert nach Schubbe 1972, 473; kursiv im Original) Die 1960er Jahre waren schließlich sowohl im Iran als auch in Spanien das letzte vollendete Jahrzehnt der jeweils herrschenden Diktaturen. In der DDR hingegen waren sie eine entscheidende Konsolidierungsphase der kommunistischen Diktatur. Aber wie im Iran waren die 1960er Jahre zugleich das Jahrzehnt, in dem sich die erste Generation nach dem Zweiten Weltkrieg politisch sozialisierte. Spanien, dessen Bürgerkrieg 1939 ein gewaltsames Ende fand, und das viele Andersdenkende – unter ihnen auch die Autorin Rodoreda – ins Exil schickte, weist ähnliche Charakteristika auf. Zählt die autoritäre Zentralmacht als besondere Erscheinungsform des modernen politischen Denkens, so wäre die diktatorische und totalitäre Herrschaft eine ihrer Sonderformen. Was bedeutet aber Moderne und was wären ihre Alternativen? Der Begriff Moderne wird im Rahmen dieser Arbeit aus einem interkulturellen Gesichtspunkt als Oberbegriff für kulturhistorische Sinnkonzepte und Semantiken über das neuzeitliche Denken verstanden (Jaeger 2004; Graevenitz 1999). Im Hinblick auf das Thema Moderne ist es wichtig, zwi-

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schen historischen wertorientierten substantiellen Erfahrungsformen und nichthistorischen funktionalen Prozessen zu unterscheiden, die zugleich auch als „Kehrseiten ein und desselben Zeitgeschehens“ gelten können (Heidbrink 1999, 546 f.). Aus dieser Perspektive sind solche bereits angeführten freund-feindlichen identitätsstiftenden Prozesse, die in der Nachkriegs-Ära mit den West- und Ostblöcken ihre weit verbreitete Wirksamkeit zeigten, Bestandteile der Semantik eines ambivalenten und anachronistischen Modernediskurses (Loo/Reijen 1992; Bauman 1996; Graevenitz 1999). Der Anachronismus der Moderne bezieht sich einerseits auf die historischen wertorientierten Erfahrungsformen (‚Modernität‘), andererseits auf die nichthistorischen funktionalen Prozesse (‚Modernisierung‘) (Heidbrink 1999, 546 f.). Der Logik des fortschreitenden projektiven Entwicklungsverlaufs einschließlich der durch Habermas formulierten Thesen vom ‚unvollendeten Projekt der Moderne‘ (Habermas 1992, 32 ff.) unterworfen, setzt ein derartiger Anachronismus die Vorstellungen von „Homogenität“ und „Universalität“ der Geschichte voraus (Heidbrink 1999, 545 f.; Reijen 2000, 21 ff.), die genauso für ihr Erbe, die nationale Zentralmacht, charakteristisch sind. In Abgrenzung zu dem fortschrittsorientierten projektiven oder programmatischen Verständnis von Moderne (Gumbrecht 1978, 120 ff.) muss betont werden, dass die Modernität eine Frage der “self-refashioning” (Tavakoli-Targhi 2001, 3) bzw. “self-authentication” ist, die verschiedene psychische bzw. kulturelle Prozesse der Selbstaufwertung (individuell oder kollektiv), aber auch der Abwertung des ‚Anderen‘ einschließt (Schäbler 2004, 4 f.). Die Rede von den Semantiken und Konzepten der Moderne erfordert das Augenmerk auf die spezifischen Charakterzüge des neuzeitlichen post-metaphysischen Denkens im Hinblick auf die selbstreflexiven gegenwartsbezogenen Aspekte und die ‚Handlungsmöglichkeiten‘ für die menschliche ‚Selbstbehauptung‘ (Blumenberg 1988) zu richten. Gilt das Verständnis von Moderne als ein globales und multiples Phänomen (Eisenstadt 2000), so zählen die Bedeutung der heterotopischen Erfahrungen (Foucault) zu deren Besonderheiten, die aber keinesfalls auf die Vorstellungen von europäischen und amerikanischen Zentren mit der Moderne als ‚singulare tantum‘ beschränkt werden kann:

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“[…] modernity was not a homemade product of ‚Occidental rationality‘, as asserted by Max Weber and universalized by ‚modernization‘ theorists. Alternatively, modernity can be viewed a product of a globalizing network of power and knowledge that informed the heterotopic experiences of crisscrossing peoples and cultures and thus provided multiple scenarios of self-refashioning.” (Tavakoli-Targhi 2001, 3 f.)

Ist die Frage der Modernität die Haltung des Subjekts zu seiner Gegenwart, die Hervorbringung von Sinn und die ‚self-authentication‘ bzw. ‚self-refashioning‘, so können über den Kollektivsingular ‚Moderne‘ hinaus, die Ansichten von Max Weber und Charles Baudelaire als zwei Referenzpunkte für entscheidende Sichtweisen auf das Thema Modernität innerhalb der europäischen kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse betrachtet werden. Darauf nimmt Gaonkar in seiner Analyse Alternative Modernities2 Bezug und spricht von zwei sich überkreuzenden Visionen im europäischen Kontext: “the Weberian societal/cultural modernity and the Baudelairian cultural/aesthetic modernity” (Gaonkar 2001, 8 f.). Liegt in der einen Vision die Betonung auf der Fragmentierung der Lebenswelt der Individuen durch das institutionelle wirtschaftliche, bürokratische Arrangement, aus dem das ‚stählerne Gehäuse‘ des Staates entsteht (Weber), so zeichnet sich die andere Vision durch die Selbstreflexion, Selbstverwirklichung und Ästhetisierung des Sinnes (Baudelaire) aus (Gaonkar 2001, 12 ff.). Grundlegend für meine Untersuchung ist der Ansatz, die Moderne (im Sinne von Modernität und Modernisierung zugleich) in Abgrenzung zu den historizistischen evolutionär verlaufenden Vorstellungen von der Geschichte mit ihren fort- und rückschrittlichen Implikationen im europäischen und amerikanischen Kontext als ein globales, multiples, kulturelles und soziales Phänomen und aus der Mikro-Perspektive der jeweiligen kulturellen Akteuren zu betrachten (Giddens 1995; Appadurai 1998; Eisenstadt 2000; Gaonkar 2001; Chakrabarty 2008). Kontextualisiert man die szientistischfortschrittlich orientierten Vorstellungen von ‚Metaerzählungen‘ der Moderne zugunsten ihres offenen, paradoxalen und nichtlinearen Charakters, so ist die Frage nach den alternativen divergierenden Erscheinungsformen nicht nur legitim, sondern sogar erforderlich: “[…] at every national/cultural site, modernity is not one but many; modernity is not new but

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Der Titel dieser Arbeit geht auf Gaonkar zurück.

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old and familiar; modernity is incomplete and necessarily so.” (Gaonkar 2001, 23; kursiv im Original) Auf dieser Grundlage bildet Christa Wolfs Roman Der geteilte Himmel als Vertreter jenes europäischen fortschrittsorientierten projektiven ModerneVerständnisses die Kontrastfolie zu den beiden anderen Romanen, die quer zu solchen Vorstellungen stehend, in ihrer Besonderheit im Rahmen dieser Analyse als ‚alternative Modernen‘ zu untersuchen sind. In der Verflechtung von Moderne und Literatur dient Letztere in ihrer ‚semi-autonomen‘ Funktion‘ (Struck 1995) als ein bedeutendes kulturelles Aufschreibesystem (Kittler 2003). Mittels literarischer Darstellung können Vorstellungen von Modernität als prozessuale Gedächtnisarbeit im Umgang mit den Geschichten und Traditionen jeweiliger gesellschaftlicher Kontexte rekonstruiert, ausgehandelt, fort- und umgeschrieben werden. Bereits der Begriff Roman ist interkulturell verflochten: „[...] das Wort Roman impliziert die Einbettung in einen übernationalen Komplex, von dem eine nationale Produktion nur eine Arbeit sein kann“ (Nivelle 2004, 23; kursiv im Original). Der Roman besitzt im Iran eine erst relativ kurze Tradition seit Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts (Balay 1998, 254 f.). Mithilfe der Gattungsgeschichte des Romans lassen sich innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Strukturzusammenhangs wertvolle Erkenntnisse über die Gesellschaft selbst gewinnen. So gesehen dokumentieren die drei untersuchten Romane (als ‚Werke schreibender kulturschaffender‘ Frauen) jeweils ein Verständnis vom Subjekt, welches die Überwindung gewisser traditioneller gesellschaftlicher Vorstellungen wie Rollenverständnis und Geschlechterverhältnis voraussetzt. Dies ist zugleich ein Beweis für einen vollzogenen gesellschaftlichen Wandel. Diese Überlegungen bilden das Fundament für meine Analyse und schaffen die Rahmenbedingungen für die Vergleichbarkeit der auf den ersten Blick ganz heterogen erscheinenden europäischen und iranischen sozialen und kulturellen Verhältnisse in den 1960er Jahren. Die Literatur ist ein Handlungs- und Symbolsystem. Sie gilt als „eine besondere Thematisierungs- oder Perspektivierungsstrategie, durch die Bedeutungen erzeugt werden. […] In ihnen verdichtet sich das Potential der Literatur als ausgezeichnete Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften.“ (Böhme 1998, 480; kursiv im Original) Aus einer derartigen ‚Selbst-

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beobachtungsperspektive‘ ergeben sich für die vorliegende Arbeit folgende Fragestellungen: - Was bedeutet literarisches Schreiben unter autoritären politischen und kulturellen Systemen? - Wie ist das Verhältnis von ‚Politik und Poetik‘? - Welche Lebensbedingungen und welche daraus resultierenden Wahlmöglichkeiten bieten die untersuchten Kulturen dem Individuum? - Welche Optionen werden im Text präsentiert? - Wie wird dabei die ‚Lebenswelt‘ der Heldinnen und Helden infolge der konstruierten intersubjektiven kulturellen und politischen ‚Verhandlungen‘ strukturiert? Um diese Fragen zu beantworten, kann ein Literaturbegriff produktiv sein, der den Text als ‚Handlungs-, Sozial- und Symbolsystem‘ betrachtet. Dabei ist es möglich, die Literatur als eine Gedächtnisarbeit innerhalb des kulturellen und gesellschaftlichen Kontextes zu erfassen und diese auf ihre textuell transportierten und konstruierten Elemente zu untersuchen. Es werden anhand des ausgewählten Untersuchungsmaterials sowohl das in den literarischen Texten transportierte Verhalten der Individuen als auch die wirkenden kulturellen Regulierungsmechanismen (wie etwa die konstruierten Werte, Normen, Rituale und Traditionen) analysiert. Ziel ist es, durch die Analyse der literarischen Texte in verschiedenen Lesarten „Zugang zu den Selbstbeschreibungsdimensionen einer Gesellschaft zu gewinnen“ (Bachmann-Medick 2004, 10 f.). In Savushun wird das Ehe- und Familienleben der Heldin und des Helden mit entscheidenden historischen Ereignissen des Landes verknüpft. Hierzu gehört der Einmarsch der alliierten Truppen in den Iran im Zweiten Weltkrieg, der mit dem späteren militärischen Putsch im August 1953 gekoppelt wird. Der Ehemann der Heldin wehrt sich gegen die Unterstützung der Engländer zum Nachteil seiner Untergebenen. Diese Haltung vertritt auch die Heldin. Das führt den Mann in den Tod, der zeitlich mit dem Putschereignis, am 28. Mordad im iranischen Kalender gekoppelt wird: „Zari öffnete die Augen. […] Die Stimme von Khan Kuka erhob sich […] ‚Was für ein Tag ist übermorgen?‘

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Khossrows Stimme: ‚Der einunddreißigste Mordad‘. Khan Kukas Stimme: ‚Schreib, anlässlich des Ablebens dieses jungen unglückseligen…‘ Ammehs Stimme: ‚Ableben? Schreib gefälligst Märtyrer‘.“ (Savushun, Drama der Trauer, 307 f.)3

Im katalanischsprachigen Roman La plaça del Diamant dominieren die ehelichen Liebesbeziehungen, die durch die beiden Heiraten der Heldin dargestellt werden. Auch hier sind die gesellschaftlichen Bedingungen (Bürgerkrieg) für das Zerbrechen der Beziehungen ursächlich: Im ersten Eheleben fällt der Mann dem Bürgerkrieg zum Opfer, der zweite Ehemann wird im Krieg verletzt und in der Folge impotent. In diesem Roman wird rückblickend das Erleben der Ausrufung der Republik (am 14. April 1931) folgendermaßen beschrieben: „Und alles ging so seinen Gang bis die Republik kam […] und Quimet sich so begeisterte, daß er auf der Straße herumschrie und eine Fahne vor sich hertrug […]. Ich [Colometa] spüre noch heute den frischen Wind von damals, einen so frischen Wind habe ich seit damals nie wieder gespürt. […] denn es war April, und die Knospen waren noch zu, als aus meinen kleinen Sorgen große Sorgen wurden.“ (Auf der Plaça del Diamant, 77)4

Die Erzählung Der geteilte Himmel stellt die freie Liebesbeziehung einer werktätigen Frau dar. Darin wird im Einklang mit dem vom Anspruch her

 3

DƗnešvar, SƯmƯn: Savushun, Drama der Trauer (Übersetzung von M. H. Allafi, Sabine Allafi und Jutta Himmelreich), Glaré-Verlag, Frankfurt a. M. 1997. Die Seitenzahlen (in Klammern) hinter einem Zitat beziehen sich in der vorliegenden Arbeit jeweils auf diese Ausgabe (weiterhin werden in der Analyse nur Seitenzahlen angegeben, Y.K.).

4

Rodoreda i Gurguí, Mercè: La Plaza del Diamante (spanische Übersetzung von Enrique Sordo), Edhasa, Barcelona 1965. Die Seitenzahlen (in Klammern) hinter einem Zitat beziehen sich bei dieser Analyse auf die folgende deutsche Ausgabe: Auf der Plaça del Diamant (Übersetzung von Hans Weiss), Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1979. Im Folgenden werden alle Zitate aus der Primärliteratur einheitlich auf Deutsch wiedergegeben.

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sozialistischen egalitären Geschlechterverhältnis ein relativ hohes Maß ihrer Individualität im Text artikuliert. Das deutsch-sozialistische Werk realisiert das Zusammenfallen von ‚Privatem‘ und ‚Politischem‘ in der Verknüpfung einer Liebesbeziehung, die an der Teilung Deutschlands zerbricht. Der Beginn des Mauerbaus vom 12. auf den 13. August 1961 in Berlin setzt den Schlusspunkt: „‚Der Sonntag nach meinem Besuch bei Manfred war der dreizehnte August‘, sagt sie [Rita].“ (Der geteilte Himmel, 181)5 Stilistisch tendieren sowohl Savushun, Drama der Trauer als auch La plaça del Diamant zur Symbolhaftigkeit. Davon zeugt die Mythisierung im Titel Savushun. Das Wort bedeutet ‚Trauerfeier für den mythischen Helden‘, der Unschuld repräsentieren soll. Vergleichbares zeigt sich am Beispiel des Motivs ‚Taube‘ in La plaça del Diamant. Ursprünglich hatte dieser Roman den Titel Colometa (dt. Täubchen), als ihn Rodoreda 1959 für die Preisausschreibung ‚Sant Jordi‘ einreichte (Casals i Couturier 1991, 197 ff.). Ähnliches gilt für den Titel La plaça del Diamant, der im Zusammenhang mit den kulturellen und politischen Verhältnissen des Landes hervorgehoben wird. Die Symbolisierungen in den genannten Texten operieren auf zwei Bedeutungsebenen: im Sinne der ‚gemeinschaftlichen‘, aber auch ‚geschlechtsspezifischen‘ Interessen der handelnden Figuren und im übertragenen Sinne auch der schreibenden Autorinnen. Der Roman Der geteilte Himmel basiert auf dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das im Kontext der sozialistischen Kulturpolitik die Vorstellungen von einer ‚quasi selbstverständlichen‘ Priorität des ‚Kollektivs‘ reflektiert und weiterschreibt. Zugleich ist auffallend, dass das Vorantreiben der kollektiven Idealvorstellungen an das Autonomiestreben der vom Sozialismus überzeugten Heldin gekoppelt ist. Dabei werden gewisse geschlechtliche Grenzmarkierungen jener Zeit verschoben und neu konstruiert. Obwohl die Erzählung von der Literaturkritik allgemein als typisch für den ‚sozialistischen Roman‘ anerkannt wird, ist darin eine Tendenz zur Metaphorisierung erkennbar, etwa im Titelbild des Geteilten Himmels. In allen drei Werken ist auffallend, dass tendenziell die Individualität der Akteure zugunsten einer kollektiven Identität bzw. gemeinschaftlichen

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Wolf, Christa: Der geteilte Himmel, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1973. Die Seitenzahlen (in Klammern) hinter einem Zitat beziehen sich auf diese Ausgabe.

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Idealvorstellungen zurücktritt. Überdies lassen sich in den untersuchten Romanen gewisse bedeutende überindividuelle historische Momente (Zweiter Weltkrieg/Putsch, Bürgerkrieg und Mauerbau) feststellen, die, gekoppelt an die persönlichen Liebesbeziehungen, den Verlauf der Narration mitbestimmen. So wie die Textproduktion den regulierenden, kollektiv gesteuerten Mechanismen (staatlichen oder kulturellen Forderungen, Interessen des Verlagswesens, Lesererwartungen usw.) unterworfen ist, sind auch die favorisierten oder dysfunktional konstruierten Familienmodelle bzw. Liebesbeziehungen im Hinblick auf die Sinnkonstitution im Interesse gewisser kulturell und gesellschaftlich übergeordneter Kategorien zu betrachten. Hierzu gehören Hierarchien wie bestimmte politische bzw. ethnische Zugehörigkeiten, sozialer Klassenstand und Kollektiv. Wenn solche primär übergeordneten kulturellen und politischen Vorgaben die Konstruktion des sozialen Geschlechts regeln, ist die Literatur zugleich fähig, Möglichkeiten für die Konstruktion der erwünschten alternativen Modelle anzubieten, die neue Spielräume für die Subjekte schaffen können. Für die weiblichen Protagonistinnen (Subjekte), so die These, dienen die ausgewählten, allgemein bekannten kulturellen und historischen Momente als Kulisse, in der sie innerhalb der traditionellen Geschlechterordnung mehr oder weniger eigenständig ihre Spielräume schaffen können. Bezogen auf diese Prämissen soll betont werden, dass zwar die ausgewählten literarischen Texte den Zugang zur Analyse anbieten, eine Akzentverschiebung von der textimmanenten Bedeutungsebene zur Ebene der außertextuellen, kulturellen ‚Rahmenbedingungen‘ indes unvermeidbar ist. Dabei geht es weniger um die Vernachlässigung des ästhetischen Aspekts des Kunstwerks, vielmehr soll zusätzlich ein breiteres Spektrum politischer und kultureller Prozesse in den Blick genommen werden, denen bei der Strukturierung der Lebenswelt der Subjekte eine entscheidende Rolle zukommt. Um ein derartiges Ziel zu erreichen, soll „nicht mehr primär die Beziehung zwischen Text und Bedeutung ins Blickfeld“ treten, sondern „Faktoren wie Macht, Prozesse des Aushandelns von Bedeutungen im Kontext der Kulturen […]“ (Bachmann-Medick 2004, 322). Es soll – ausgehend von der unverzichtbaren Gebrauchsfunktion des Zeichens als Grundlage aller kulturellen und anthropologischen Praxen (Assmann 2008; Baltzer 2000) – das Wechselverhältnis von literarischem Werk (als ein Artefakt) und seinem historischen Kontext in den Blick genommen werden. Hierfür ist in Hinsicht auf das Text-Kontext-Verhältnis zu betonen, dass das soziale

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und historische Moment keinesfalls als isoliertes Phänomen, sondern eher als relationale Größe zu betrachten ist: „Das soziale Moment ist unverzichtbar, weil kulturelle Zeichenprozesse immer soziale Gebrauchsprozesse sind. Das geschichtliche Moment ist unverzichtbar, um die im Zeichenprozess immer bereits statthabenden sozialen Gebräuche im Kontrast mit historisch entstandenen Alternativen in den Blick zu bekommen.“ (Baltzer 2000, 92)

Eine solche soziologische Position ist anschlussfähig an die kulturwissenschaftlichen Ansätze, welche die Bindung des Individuums (und somit auch die Konstruktion seiner Identität) im Hinblick auf die ideologischen Praktiken in die herrschenden Strukturen (race, class, gender) zum Untersuchungsziel haben (Pirker 2010, 145 ff.). Berücksichtigt man das Attribut des ‚Sozialen‘, mit dem auch die Genese der geschlechtlichen Identität in einer Sex-Gender-Relation zusammenhängt, kann die Anwendung sozialgeschichtlich orientierter Methoden für diese literaturwissenschaftliche Analyse von Vorteil sein. Entscheidend für die Literaturwissenschaft in sozialgeschichtlichem Interesse ist das Rezipierte, das heißt, wie der Text durch den Leser zum ‚Werk‘ wird. Das bedeutet aber auch, „vor allem nach der Rolle zu fragen, die Literatur im Leben der Menschen spielte und spielt. Dieses Interesse ist insofern der ‚Funktionsgeschichte‘ der Literatur verwandt, setzt aber im Gegensatz zu deren Praxis konsequent bei den realen historischen Subjekten an: den Menschen.“ (Schön 2001, 612) Die Popularität der ausgewählten Werke erfüllt eine solche sozialgeschichtliche Funktionszuweisung der Literatur. Davon ausgehend soll das Augenmerk auf die Spannung zwischen Rezeption, Funktionszuweisung und Medialität der Literatur in ihrem kulturellen und gesellschaftlichen Kontext liegen. Die Überlegungen zu den rezipierten, funktionalen und medialen Aspekten sind immer im Zusammenhang mit der Vermittlungsrolle der Kunst zu betrachten, wobei die Problematik der Vermittlung als das universelle Prinzip jeglichen Zeichengebrauchs zu verstehen ist. Die gesamte Analyse ist entsprechend der untersuchten Romane in drei Kapitel gegliedert. Die beiden ersten Unterkapitel nehmen jeweils zu den historischen Situationen Stellung, darin soll die Verortung des Werkes mit seinem einmaligen ‚Ereignischarakter‘ im jeweiligen kulturellen und sozialen Kontext in den Fokus treten. Hierfür sind Aspekte, wie die kulturpoli-

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tisch relevanten Konzeptualisierungen der Geschlechtlichkeit im kulturgesellschaftlichen Kontext, die Biografie der Autorin, institutionelle Mechanismen und Funktionszuweisung der Literatur mit dem Blick auf ihre Vermittlungsrolle (Popularität, zeitgenössische Kritik, Rezensionen und mögliche staatspolitische Lenkungen) von Interesse. Es wird davon ausgegangen, dass Literatur ein Handlungs- und Sozialsystem ist, das mittelbar und unmittelbar (etwa durch Leser, Kritiker oder Organisationen) funktionalisiert, rezipiert und innerhalb der kulturellen Prozesse von den Zugehörigen einer Kultur ver- und ausgehandelt wird (durch Rezension, Wertung, Abwertung, Vermarktung, Zensur u.a.). Im Laufe solcher Prozesse der Funktionalisierung der Kunst werden immer auch die Grenzen der Kultur selbst sichtbar, auf deren Spuren man durch die Beobachtung der Mechanismen des Ausschlusses, des Vergessens, des Verbotes u. ä. kommen kann. Den Unterkapiteln folgt eine textnahe Analyse (eine Art ‘close reading‘), die exemplifizieren soll, wie Literatur solche politischen und kulturellen Vorgaben realisiert oder weiterschreibt, verschiebt oder negiert. In diesen Abschnitten werden jeweils bestimmte Aspekte wie Raumdarstellungen, mediale Funktion der Körperlichkeit und stilistische Besonderheit der Werke analysiert. Zentral für eine solche Herangehensweise ist, die Literatur als Handlungs- und Sozialsystem zu betrachten, das mit den anderen Symbolsystemen der Kultur oder einer Gemeinschaft interagiert. So gesehen kann eine literarische Analyse Aufschluss über das Wirklichkeitsverständnis geben, „als eine Ausdrucksform kultureller Wirklichkeitsaneignung, der spezifische, als fiktional ausgezeichnete Explorationsräume zur Verfügung stehen“ (Neumann 2005, 165). Mit „Explorationsräumen“ ist im Rahmen dieser Arbeit weniger ein enger Raumbegriff wie z.B. eine verkürzte Raumsemantik gemeint, als vielmehr das raumbezogene topologische Denken (Faber 1995; Günzel 2008; Dünne/Günzel 2010). Hierfür wird in der Analyse der ausgewählten Werke jeweils im dritten Unterkapitel auf die räumlichen Aspekte fokussiert, beispielsweise Grenzziehungen, Grenzverschiebungen sowie die Verteilung der materiellen und kulturellen Ressourcen. Die weiteren Unterkapitel sind zugunsten der Eigenständigkeit der analysierten Werke flexibler aufgebaut. In diesen Abschnitten der ‘closereading‘ Analyse werden Aspekte wie besondere stilistische Merkmale und bestimmte zentrale Motive und Themen der jeweiligen Werke im Zusammenhang mit dem dargestellten Gesellschaftssystem analysiert und im Hinblick auf die Interaktionen zwischen den handelnden Akteuren und ihrer

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Lebenswelt bewertet. Ein weiterer Aspekt der Analyse ist in diesen Abschnitten die Untersuchung der Körperdarstellungen. Der Körper ist das Telos aller Zuschreibungen für die Konstruktion jeder geschlechtlichen Identität – seien diese Produkte der Diskurse oder ‚Überbau‘ einer vermeintlich biologischen ‚Basis‘. Damit sind die Anwendungsmöglichkeit der medialen Funktion des Körpers und die Spuren seiner Ab- und Anwesenheit in den literarischen Darstellungen gemeint. So kann es beispielsweise zu neuen Grenzziehungen und Grenzverschiebungen in kulturell vorgegebenen geschlechtlichen Identitätsmustern kommen. Der Terminus ‚Grenze‘ meint im Rahmen dieser Arbeit „symbolisch kulturelle und soziale Elemente der Grenzziehung, Abgrenzung und Grenzüberschreitung“ (Medick 1995, 211). Entscheidend dabei ist, dass der menschliche Körper und die Möglichkeiten seiner Verletzbarkeit als Bezugspunkte bleiben, z.B. während des Krieges als Folge gesellschaftlich-institutioneller Gewalt, menschlicher Interaktionen oder kultureller Grenzüberschreitung von Normen bzw. eines Tabuthemas wie Sexualität. Das Ziel einer derartigen Herangehensweise besteht darin, eine ‚zweifache Rekonstruktionsleistung‘ der literarischen Texte im Hinblick auf ihren Doppelcharakter – als autonome Werke und als Produkte gesellschaftlicher Arbeit – in ihrer spezifischen „Literarizität und Historizität“ (Struck 1995, 182) aufzuzeigen und diese für die Analyse nutzbar zu machen. So gesehen gewinnt die literarische Darstellung der Autorinnen als ‚neue Kulturschaffende‘ und als ‚Resonanzraum‘ (Greenblatt 1991, 17 f.) für die herrschenden Narrative besondere Bedeutung im Hinblick auf die Repräsentationsfrage mit ihren ‚epistemologischen‘ und ‚politischen‘ Implikationen (Spivak 1994). Aus einer solchen Perspektive bekommen die dargestellten poetischen Historiografien eine doppelte Funktion für die Aushandlungen von ‚Poetik und Politik‘ der Kulturen und des Geschlechts in der Verflechtung mit den gemeinschaftlichen Interessen, die im Rahmen dieser Analyse als Momentaufnahmen im Hinblick auf ihre ‚Literarizität und Historizität‘ untersucht werden.



Erste Momentaufnahme: Iran unter der Schah-Regierung S AVUSHUN , D RAMA DER T RAUER VON S ƮMƮN D ƖNEŠVAR 



1 Die schreibende Frau als ‚Schiraserin ohne Namen‘

SƯmƯn DƗnešvar, die Autorin des Romans Savushun, Drama der Trauer, wurde 1921 im südwestiranischen Schiras als Tochter eines Arztes und einer Malerin geboren.1 Im Jahre 1942 zog sie von Schiras in die Hauptstadt Teheran, um dort zu studieren. 1949 schloss sie mit einer Doktorarbeit über die Ästhetik in der persischen Literatur bis zum 13. Jahrhundert ihr Studium ab.2 Das Studium an der Teheraner Universität war für DƗnešvar eine besondere Gelegenheit, mit bedeutenden iranischen Intellektuellen und Literaturwissenschaftlern in Kontakt zu treten. Hier machte sie Bekanntschaft mit renommierten iranischen Denkern jener Zeit, die an dieser Universität lehrten, u.a. Fatemeh Sayyah, Mohammad Mo'in und Badi'-ol-Zaman Foruzanfar. DƗnešvar selbst sagt über diese Zeit, ihr Schicksal habe sie in einer „deftigen Soße“ gekocht (Eshaghian 2006, 11). 1950 heiratete sie den iranischen Essayisten Jalal Al-e Ahmad. DƗnešvar bekam in den Jahren 1952/1953 ein Fulbright-Stipendium von der Universität Stanford (USA). Dort hatte sie Gelegenheit, die Veranstaltungen über kreatives Schreiben

 1

Eine ausführliche Biografie zum Leben und Werk SƯmƯn DƗnešvars findet man bei Milani (1992, 181 ff.); oder im Buch nƗmahahƗ-yi SƯmƯn DƗnishvar wa Jalal Al-e Ahmad 2005, S. 15-24; ebenso in der Online-Bibliografie von Mahnaz Abdollahi (beide in persischer Sprache): http://bukharamag.com/?p=1304 (Zugriffsdatum: 18.06.2011).

2

DƗnešvars Dissertation wurde im Winter 1389 publiziert: i’lm al-jamƗl wa jamƗl dar adabiyƗt-e fƗrsƯ (dt. Ästhetische Theorie und Ästhetik in der persischen Literatur), Masu’d Ja’fari Jazi (Hg.), Teheran 1389/2010/2011.

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von Wallace Stegner zu besuchen. Nach ihrer Rückkehr aus den USA lehrte sie bis 1981 als Assistentin an der Universität Teheran. Zwei Jahre nach der Revolution von 1979 wurde DƗnešvar zur Emeritierung gezwungen. Am 8. März 2012 starb sie in Teheran. Das Ehepaar DƗnešvar/Al-e Ahmad unternahm verschiedene Reisen. Ein Ergebnis ihrer Reisen war ihr Briefwechsel, der als wertvolles historisches Dokument für die iranischen kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den 1950/60er Jahren gilt.3 So kann man in einem Brief vom 13. Januar 1962 die Ansichten der Autorin über die Frauenrechte finden, in denen sie sich als deren Verfechterin bezeichnet. Eben dort markiert sie aber auch ihren eigenen Standpunkt in Abgrenzung zu den in ihrer Zeit geläufigen feministischen Tendenzen, wie sie sie in den USA erlebt hatte: „[…] Die amerikanischen Feministen waren im Jahre 1953 radikal. Ich erinnere mich daran, mit ihnen damals gesprochen zu haben, dass ich nicht an die Benachteiligung der Männer zugunsten der Frauenrechte glaube, weil dies wiederum zur Destabilisierung der Gleichung (‚mo’Ɨdeleh‘) führt. Auf diese Weise entsteht nochmals ein anderes Verhältnis von Unterdrückern und Unterdrückten (‚zƗlem wa mazlum‘). Stattdessen sollte man die Frauenrechte mithilfe von Männern (ja mit Hilfe von Männern und mit der Veränderung der sozialen Verhältnisse, etwa in den wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, künstlerischen Bereichen usw. usf.) steigern, bis Mann und Frau gleichberechtigt auf ein Niveau kommen und somit die Männer die Ungerechtigkeit, die sie jahrhundertelang den Frauen angetan haben, wiedergutzumachen.“ (DƗnešvar, in: Ja’fari Jazi 2007, 334 f. Im Original persisch)

Dieser Textabschnitt veranschaulicht DƗnešvars Standpunkt zu den Geschlechterverhältnissen: Sie geht von einer Geschlechterdifferenz aus und beharrt zugleich auf der Gleichheit des menschlichen Geschlechts. Im

 3

Dieses Material ist in drei Bänden (zwischen 1384-1386/2005-2007) in Teheran erschienen. Der Herausgeber ist Masu’d Ja’fari Jazi. Das erste Buch beinhaltet die Briefe von DƗnešvar an Al-e Ahmad während ihres Aufenthalts in den USA (1331-1332: September 1952 bis Juni 1953). Das zweite beinhaltet Al-e Ahmads Briefwechsel mit DƗnešvar während ihrer USA-Reise. Das dritte ist eine Auswahl gegenseitiger Briefe während verschiedener Reisen (u.a. nach Europa) von 1341-1344/1962-1965. Vgl. hierzu die Einleitung des dritten, 2007 erschienenen Buches.

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Rahmen der interkulturellen Debatten, die auch Anliegen dieser Arbeit sind, möchte ich das so interpretieren: DƗnešvars Einforderung von Gleichberechtigung steht in Übereinstimmung mit den dominierenden sozialistischen Debatten der Intellektuellen im Iran und ist somit im Anschluss an die internationalen sozialistisch-marxistischen Tendenzen zu verstehen und ihnen zuzuordnen. Es ist jedoch meiner Auffassung nach zu einseitig, diese Haltung lediglich als iranische Rezeption des marxistisch-sozialistischen Gedankenguts zu betrachten. Dies vor allem angesichts der Tatsache, dass es genauso bedeutend ist, ihre Position zur Gender-Frage als einen Bestandteil der Vorstellungen von einem ‚islamisch-einheimisch‘ orientierten egalitären Verständnis der Geschlechterverhältnisse aus einer Frauenperspektive innerhalb der Debatten über die ƤarbzadegƯ (Westtoxikation) des Iran in den 1950er und 1960er Jahren zu betrachten. Die Egalitäts- und Differenz-Debatten zum Thema Gender im Kontext der islamisch geprägten Kulturen sind aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert worden.4 Als Beispiel resümiert Etin Anwar in ihrer philosophisch orientierten Analyse über das Thema Gender im Islam die Existenz des egalitären humanen Geschlechterverständnisses folgendermaßen: “In light of the creation of humans out of one self (nafs), I have argued for an inclusive humanity in which all accidental differences, such as race, ethnicity, religion, sexuality, and nationality are acknowledged as components of this humanity. This inclusion accords with the Qur'Ɨnic texts that teach the principle of equality, according to which men and women share the same origin, namely, one self (nafs wƗhidah), and are created in pairs. Each member of the pair completes each other, without which humanity would be incomplete. The pairs also constitute humanity as whole.” (Anwar 2006, 70; kursiv im Original)

Das heißt zunächst, dass entscheidende Aspekte über die Egalität des weiblichen oder männlichen Geschlechts bereits explizit in den kanonisch-religiösen Texten vorhanden sind. Das heißt aber auch, dass ein derartiger Egalitarismus über das Thema der geschlechtlichen Differenz hinausgeht und ausdrücklich das Zurücktreten weiterer sozialer Markierungen wie Rasse,

 4

Einige Beispiele: bei Ahmed 1992 (v.a. 66 f.); Mir-Hosseini 1999 (Introduction) und 2003; Braun/Mathes 2007 (v.a. 102 ff.).

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Ethnizität, Nationalität im Verhältnis zum menschlichen Wesen fordert. Das heißt außerdem, dass die Bedeutung des Egalitarismus als ‚inklusive humane‘ Vorstellungen von Relationen zwischen Teil und Ganzem im Sinne der Einheit der menschlichen Gattung, wie Anwar es aus den kanonischen sakralen Texten ableitet, für die islamisch geprägte iranische Kultur wesentlich sind. Beispielsweise ist das der poetologisch-anthropomorphischen Darstellung von Muslih al-Din Sa'dƯ Schirasi (gest. 1292) zu entnehmen: „Die Menschenkinder sind ja alle Brüder5, aus einem Stoff wie eines Leibes Glieder. Hat Krankheit nur ein einzig Glied erfaßt, so bleibt den andern weder Ruh noch Rast. Wenn andrer Schmerz dich nicht im Herzen brennet, verdienst du nicht, daß man noch Mensch dich nennt.“ (Golestan von Sa'di 1998, 49; Übersetzung von K. H. Graf)

Wie unterschiedlich das Spannungsverhältnis zwischen theoretischer und praktischer Dimension in einem bestimmten Zeitraum im Hinblick auf solche Sinnressourcen einer Kultur sein kann, wird unter Einbeziehung des Textmaterials diskutiert. Der oben erwähnte Brief von DƗnešvar (vom 13. Januar 1962) ist insofern ein Dokument für die Beobachtung der globalen Zirkulation der Zeichen, als sie sich bei ihrer Stellungnahme zu den Gender-Fragen auf Simone de Beauvoir stützt: „Die Frau wurde zuerst durch den Vater, dann den Bruder, dann den Ehemann und später durch ihren Sohn ausgebeutet. […] Diese Problematik hat Frau Simone de Beauvoir in ihrem Buch Le Deuxième Sexe [Das zweite Geschlecht] bestens geklärt.“ (DƗnešvar, in: Ja’fari Jazi 2007, 334 f.) DƗnešvar war gegen das Tragen des Kopftuchs für Frauen unter Zwang, was sie bei ihrer Heirat deutlich machte. Ihr Mann Jalal Al-e Ahmad stammte aus einer religiösen Familie. So war für Jalals Vater das Kopftuchtragen bei den weiblichen Familienmitgliedern selbstverständlich, eine

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Im Persischen bezieht sich der Terminus bani Ɨdam (wortwörtlich: Kinder des Adam) in diesem Vers sowohl auf das weibliche als auch auf das männliche Geschlecht.

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Konvention, der auch die zukünftige Frau seines Sohnes SƯmƯn gehorchen sollte. DƗnešvar hatte jedoch nicht nur ausdrücklich ihre Haltung gegen das Kopftuch verteidigt, sondern es darüber hinaus zu einer Bedingung für die Hochzeit gemacht, dass sie ihren Mädchennamen behalten dürfe. Es ist im Iran in der Regel so, dass die Frau ihren Mädchennamen behält. Aus ihr wurde nicht SƯmƯn-e Al-e Ahmad (Paidar 1995, 182). Die Hochzeit fand statt, aber ohne den Vater des Bräutigams, denn dieser wollte das ‚neue unverschleierte Familienmitglied‘ SƯmƯn DƗnešvar nicht anerkennen. Die schriftstellerische Karriere DƗnešvars begann bereits Anfang der 1940er Jahre, als sie Artikel für Radiosendungen sowie für die Zeitung Iran schrieb. Im Jahre 1947 publizierte sie ihr erstes Buch, das eine Sammlung von Kurzgeschichten mit dem Titel Ɨtash-e khamush (Das erloschene Feuer) enthielt (Milani 1992, 182). In den 1950er Jahren übersetzte sie verschiedene Bücher ins Persische, darunter The Chocolate Soldier von George Bernard Shaw (1949), Enemies und The Cherry Orchard von Anton Tschechow (1952), Frau Beate und ihr Sohn von Arthur Schnitzler und Biographical Roundup; Highlights in the Lives of Forty Famous People von Dale Carnegie (1953), The Human Comedy von William Saroyan und The Scarlet Letter von Nathaniel Hawthorne (1954) und Ride with the Sun von Harold Courlander (1957).6 Im Jahre 1968 wurde sie zur Vorsitzenden des iranischen Schriftstellerverbandes ernannt. Von ihren Werken wurde neben dem Roman Savushun (Savushun, Drama der Trauer 1997; Savushun: a novel about modern Iran 1990) auch ein Erzählband az parandegan-e mohajer bepors (Frag doch die Zugvögel 2001) vom Glaré-Verlag in deutscher Sprache veröffentlicht. Das Buch Savushun wurde inzwischen in 16 Sprachen übersetzt und zählt zu den meistgelesenen und meistverlegten persischen Büchern im Iran (Eshaghian 2006, 12; Payandeh 2002, 73f.). Ebenso betont die in den USA tätige Literaturwissenschaftlerin Milani die Popularität dieses Romans: “No other novel in the history of modern Persian literature has sold more than Savushun, which reportedly had sold about 400,000 copies by 1984.” (Milani 1985, 328; unterstrichen im Original)

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Diese Literaturangaben sind der Datenbank der iranischen Nationalbibliothek entnommen: http://opac.nlai.ir/opac-prod/search/briefListSearch.do (letztes Zugriffsdatum: 11.09.2011).

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Mit der Betonung der Popularität dieses Romans wird die Rezeptionsseite, die Ebene der Text-Leser-Relation, angesprochen. Im Anschluss an die literarische Rezeption soll auf die Literaturkritik und die damit verbundenen Funktionszuschreibungen der Kunst in ihrem gesellschaftlichen Kontext eingegangen werden. Die Diskussionen über die gesellschaftlichen Funktionszuschreibungen der ‚fiktiven‘ Poetik, einschließlich des Status von Poeten selbst, geben auch immer Einblicke in die ‚realen‘ gesellschaftlichen Verhältnisse. Eben dadurch lassen sich wertvolle Erkenntnisse, etwa im Hinblick auf die Kanon- und Autorschaftsfrage und über literaturkritische Unternehmen, einschließlich der kulturellen Regulierungsmechanismen über die geschlechtsspezifischen Fragen gewinnen. Angesprochen sind damit sowohl die staatspolitischen als auch genderspezifischen kulturellen Kontrollmechanismen, deren Zusammenwirken die soziale Funktion der Literatur selbst zwischen den zwei Polen ‚Autonomie und Heteronomie‘ (Struck 1995) bzw. ‚Selbstreferenz und Fremdreferenz‘ (Müller 2004) bestimmte und auch heute noch bestimmt. Bezogen auf die iranischen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg ist das 1969 erschienene Buch von DƗnešvar der erste Roman einer iranischen Frau. Das gilt auch als Indiz für einen kulturellen und gesellschaftlichen Wandel und den Vollzug eines neuen Verständnisses vom Subjekt, dem der kulturschaffenden Frau. Die Spuren des Konflikts zwischen den alten und neuen Geschlechterverhältnissen (Frau als ‚Kulturschaffende‘) lassen sich von der institutionellen Regulierung durch die Literaturkritik ablesen. Hierfür ist Savushun, Drama der Trauer ein aussagekräftiges Beispiel: Der Roman war von staatlichen Kontrollmaßnahmen betroffen und wurde von der Zensur um mindestens 60 Seiten gekürzt (Milani 1985, 330). Im Sommer 2007 habe ich ein persönliches Gespräch mit dem damaligen Lektor des Romans (Alireza Heydari vom Verlag Kharazmi) in Teheran geführt. Dabei hat der inzwischen verstorbene Verleger, der damals den Roman lektorierte und veröffentlichte, von einer Kürzung um etwa 100 Seiten gesprochen, die seiner Meinung nach die „freiwillige Entscheidung der Autorin bzw. eine Korrektur“ gewesen sein soll. Was die kulturspezifischen Mechanismen betrifft, betonen beispielsweise die Literaturwissenschaftler Hasanli und Salari im Hinblick auf den Roman Savushun, dass „die schreibende Frau von zeitgenössischen iranischen Kritikern literarischer Zirkel nicht ernst genommen wurde und wird“ (Hasanli/Salari 2007, 7). Ein Blick auf die qualitativ wie quantitativ gerin-

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gen kritischen Angaben über dieses im Iran populäre Buch verdeutlicht, dass die schreibende Frau in ihrem Umfeld von den überwiegend männlichdominierten literaturwissenschaftlichen Unternehmen vielfach negiert wird. Im Frühling 2010 widmete die renommierte Zeitschrift Bukhara SƯmƯn DƗnešvar eine Festschrift. Darin besteht die Bibliografie der Analysen der Werke der Autorin nur aus 28 Titeln einschließlich Aufsätzen, Zeitschriften- und Lexika-Artikel (Habibi-Azad 2010, 217-219). Andererseits behauptet Eshaghian in seiner Kritik über DƗnešvars Werke (mit der englischen Titelangabe des Autors: Reflections on the »Wanderings« of the PostModern Sherzad, Simin Daneshvar), dass „über DƗnešvar und die Analyse ihrer Werke nicht wenig geschrieben wurde“7 (Eshaghian 2006, 13). Ironischerweise überschreiten seine ‚Beweise‘ für die Unterstützung der behaupteten ‚kritischen Vielzahl‘ nicht mehr als vier erwähnenswerte Namen bzw. vier Publikationen, darunter zwei Aufsätze.8 Auch bei der Werkanalyse lassen sich Spuren aufdecken, die als Indizien für solche autoritären kulturellen und sozialen Verhältnisse zu verstehen sind, wie die Darstellung einer ‚Madwoman‘ (Abschnitt 5). Blickt man auf das Leben der Autorin DƗnešvar, so kann man darin Beispiele finden, die den Druck der regulierenden kulturellen Kontrollmechanismen beweisen, etwa wenn es über ihre schriftstellerische Tätigkeit heißt, sie habe in den 1930er und 1940er Jahren ihre Artikel für den Radiosender Teheran sowie für die Zeitung Iran unter dem Pseudonym ‚Schiras-i binƗm‘ (‚Schiraserin ohne Namen‘) verfasst (Payandeh 2002, 73 f.). Wichtig erscheint mir die Einstellung von zwei weiteren bedeutenden iranischen Kritikern, Hushang Golshiri und Hasan Mir-Abidini, in die Analyse einzubeziehen. Die Gemeinsamkeit ihrer Aussagen besteht darin, gewisse gemeinschaftsbildende Aspekte des Werkes, wie die Liebe zum Vaterland, die antiimperialistische, nonkonformistische Haltung der Heldin bzw. des Helden besonders zu betonen. So nimmt Golshiri Bezug auf den voran gestellten Vers von Schams al-Din Mohammad Hafiz Schirasi im

 7

„Dar bƗreye DƗnešvar wa barrasiy-e ƗsƗraš kam newešteh našodeh.“

8

Ausführliche Kommentare und Beschreibungen über die Schwierigkeiten literarischer Tätigkeit iranischer Frauen gibt es bei Milani 1985 und 1992; Payandeh 2002; und im Sonderheft der Zeitschrift nime-ye digar, Vol. 1, Nr. 8. Fall, 1367/1988.

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Roman9 und zieht einen weiteren Vers von ihm heran, um die Bedeutung der kollektiven Dimension der ungerechten, gewalttätigen Geschehnisse in der Romanwelt zu akzentuieren: „Nach diesem Wüstensturm, der am Garten vorbeifegte, Welch Wunder, daß (überhaupt noch) der Hauch einer Rose existiert und die Farbe eines Jasmins.“ (Hafiz 2004, 586; Übersetzung von Wohlleben. Im Original persisch bei Golshiri 1997, 148)

In derselben Analyse aber kritisiert Golshiri stilistische Schwachpunkte des Romans von DƗnešvar. Er spricht von „den gewissen Kunstfertigkeiten“, die er in einem belehrenden Ton als „eine Warnung für die zukünftigen Werke“ (DƗnešvars) zum Ausdruck bringt (Golshiri 1997, 103).10 Dabei geht es aus meiner Sicht nicht um die Bewertung einer literaturkritischen Analyse oder Überbetonung der Sympathie/Antipathie ihres Verfassers, sondern vielmehr darum, dass solche Aussagen kulturelle Verhaltensmuster transportieren, die auf einer gewissen geschlechterspezifischen hierarchischen Logik in Bezug auf die Unterordnung des Weiblichen beruhen. Ebenso wie in der literarischen Kritik ist die regulierende Wirkung solcher kulturellen Verhaltensmuster im Roman Savushun selbst auch ein Thema (mehr dazu in der Analyse). In diesem Zusammenhang sei zu bemerken, dass DƗnešvar sich selbst bei Golshiri über dessen Haltung beschwerte, was aus einem Interview mit ihm aus dem Jahre 1987 hervorgeht.11 Darin kann man Spuren eines gesellschaftlichen Konflikts zwischen dem ‚neuen‘ weiblichen Subjekt als Kulturschaffende und seiner Lebenswelt finden. Man muss bedenken, dass das Erscheinungsjahr der vorher erwähnten ‚belehrenden‘ Kritik (erstmals 1984 publiziert) mit der 11. Auflage Savushuns als dem Werk einer Dozentin mit Doktortitel im Fach Literaturwissenschaft zusammenfällt. Es kann nicht überraschen, dass der Roman einer Frau, die

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„Der Schah der Türken schenkte den Worten von Heuchlern Glauben, Schande über ihn, er hat Ssiawashs Blut vergossen.“

10 „[…] in zerƗfatkƗrihƗ rƗ mitawƗn hamþun hošdƗri barƗye ƗsƗri az pase in be yƗd dƗšt.“ 11 http://www.bisheh.com/Uploaded/PostFile/634554116240738750.pdf (S. 1 f.), (Zugriffsdatum: 20.11.2013).

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sich ausdrücklich als Verfechterin der Frauenrechte bekennt, aus der Sicht der dominierenden männlichen Literaturkritik im Iran im Sinne der gemeinschaftlichen nationalistischen und ideologischen Interessen funktionalisiert wird. Dafür kann auch die Aussage von Mir-Abidini über DƗnešvar als „Geschichtenschreiber(in) des menschlichen Herzens“12 ein Beispiel sein, mit der er seine Kritik über ihren Roman eingeleitet hat (Mir-Abidini 1998, 473). Es ist wichtig zu wissen, dass es in der persischen Sprache keinen Artikel gibt. Deshalb kann sich der Titel im Original auch auf kein weibliches oder männliches Geschlecht beziehen. Das kann nur dem Inhalt der Analyse entnommen werden. Bei DƗnešvars Biografie sind zwei Aspekte zu beachten: Erstens ist sie zur Entstehungszeit ihres Werks Savushun, Drama der Trauer Akademikerin im staatlichen Bildungssystem. Zweitens ist sie an die ‚Verwestlichungskritische bzw. Moderne-kritische‘ Bewegung der ‚*arbzadegƯ‘ (‚Westtoxikation‘) gebunden. Gemessen daran wird es mir weniger darum gehen, die Gemeinschaftsinteressen, gering zu schätzen, als vielmehr darum, nach der Diskrepanz zu fragen, die sich zwischen den zugewiesenen Positionen der Literaturkritik (‚Geschichtenschreiber(in) des menschlichen Herzens‘) und der persönlichen Einstellung einer Autorin befindet, die sich offensichtlich auch für die emanzipatorischen Gedanken Simone de Beauvoirs einsetzt.

 12 „tƗrƯkh nevƯs-e del-e ƗdamƯ.“

2 Ästhetische Leistung und ‚gesellschaftliches Engagement‘ (adabiyƗt-e motea'hed)

Den Roman Savushun, Drama der Trauer widmete DƗnešvar ihrem Mann Jalal Al-e Ahmad, der im Publikationsjahr 1969 verstorben war. Der Entstehungskontext dieses Werkes fällt in einen Zeitraum, in dem im Iran bei den Debatten über die ‚Autonomie‘ oder ‚Heteronomie‘ der Kunst in ihrem sozialen Gefüge zwischen Vorstellungen von ästhetizistischem Autonomiepostulat und/oder ihrer Integration in die gesellschaftliche Lebenspraxis Letzterem ein besonderer Stellenwert zukommt. So beschreibt Ashuri in seinem Andenken an Al-e Ahmad die literarische Bühne der 1960er Jahre im Iran wie folgt: „Unsere Literatur kommt mit einem Sprung von der [Sadeq] Hedayat- zur [Jalal] Ale Ahmad-Periode. Die pessimistische, düstere und trübe Stimmung, wie in Die blinde Eule, wandelte sich zu einer kämpferischen, lebhaften und lebendigen Literatur. Al-e Ahmad verließ die alten Diskussionen über ‚Kunst für Kunst‘ und ‚Kunst für Gesellschaft‘ zugunsten des Begriffs ‚Verantwortung des Schriftstellers‘, indem er, in Anlehnung an [Jean-Paul] Sartre, die Bedeutung von Verantwortung und Engagement als Essenz der schriftstellerischen Arbeit betonte und nicht als etwas, das zusätzlich dazu kommen soll.“ (Ashuri 1999/2000, 660; im Original persisch)

Allerdings war bereits in den 1950er Jahren das gesellschaftliche Engagement für einige iranische Schriftsteller das entscheidendste Kriterium für die literarische Wertung, wie z.B. bei dem renommierten Dichter Ahmad-e Schamlu. Schamlus Auffassung von der ›poésie engagée‹ kann man besonders aus seinem 1956 publizierten Gedichtband hawƗy-e tƗzeh (Frische

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Luft) entnehmen, so als wolle er dem Leser „mit seiner Poesie eine Waffe gegen Tyrannei und Unterdrückung in die Hand geben“ (Alavi/MohadjerGhomi 2009, 315 f.). Für die Entwicklung derartiger kultureller Verhältnisse im Iran sind vor allem die Ideen von Jean-Paul Sartre über das politische und gesellschaftliche Engagement der Intellektuellen, aber auch die Thesen von Frantz Fanon über den ‚Kulturimperialismus‘ ausschlaggebend (Nabavi 1999, 337 ff.). Die Auswirkung von Sartres und Fanons Ansichten zeigt sich besonders in der ‚Politisierung‘ des Intellektuellenkonzepts und seiner Neubestimmung mit Inklusion des Klerus durch Al-e Ahmad. Er zitiert in seinem posthum erschienenen Buch dar khedmat wa kheyƗnat-e roschanfekrƗn (Über den Dienst und den Verrat der Intellektuellen1) diese beiden Persönlichkeiten und nimmt mehrmals Bezug auf ihre Ideen (Nabavi 1999, 337 ff.; Pistor-Hatam 2003, 89 ff.). Nikki Keddie spricht von diesem Buch als “a work of historical sociology” (Keddie 2006, 190). Man kann es als einen Versuch Al-e Ahmads werten, in Anlehnung an Jean-Paul Sartres Ideen von der Verantwortung der Intellektuellen für politisches Handeln eine Geistesgeschichte des Iran zu skizzieren; und zwar anhand von Kriterien wie ‚kosmopolitisch‘, ‚verantwortungsbewusst‘, ‚konformistisch‘ oder ‚nonkonformistisch‘. Hierbei teilt er die einflussreichen Persönlichkeiten der iranischen Kulturgeschichte in vier Gruppen ein. Bei seiner Kategorisierung misst er die höchste Wertschätzung den als Ketzern ermordeten Denkern zu, die er Märtyrer nennt wie Mani, den Stifter der manichäischen Lehre, oder den Sufi-Meister Mansur-e Halladsch. Diese beiden Persönlichkeiten starben aufgrund ihrer Überzeugungen. Die niedrigste Stufe der Wertschätzung wird in Al-e Ahmads Klassifikation denjenigen Denkern zuteil, die sich ihren jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen anpassten, wie z.B. der Dichter Muslih al-Din Sa'di Schirasi (Al-e Ahmad 1357/1979, 166 ff.). Zusätzlich zu seiner literarischen Tätigkeit hat Al-e Ahmad mehrere Werke, vor allem französische Literatur ins Persische übersetzt. Hierzu gehören u.a. Der Fremde und Das Missverständnis von Albert Camus; das Theaterstück Die schmutzigen Hände von Jean-Paul Sartre; Die Nashörner

 1

Die Wiedergabe in Pistor-Hatam 2003, 90. Zunächst wurde dieses Buch

1966 in Abschnitten in der Zeitschrift jahƗn-e now publiziert (Nabavi 1999, 338).

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UND GESELLSCHAFTLICHES

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von Eugène Ionesco; Zurück aus der Sowjetunion von André Gide, aber auch Über die Linie von Ernst Jünger (zusammen mit Mahmoud Hooman) und Der Spieler von Fjodor Dostojewski. So wurde der Begriff ‚engagierte Literatur‘ (‚adabiyƗt-e motea'hed‘) im Sinne von politischer und sozialkritischer Funktion der Literatur geprägt. In seinem literaturgeschichtlichen Buch spricht Talattof hiervon als “second episode of modern Persian literature” bzw. als “Revolutionary Literature” für die Zeitspanne nach dem Putsch von 1953 bis zur Revolution von 1979 (Talattof 2000, 66 f.). Dies ist die Phase im Anschluss an die erste ‚Episode‘ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gekennzeichnet durch eine Dominanz nationalistischer Tendenzen mit dem Wunsch nach Reformen entsprechend dem Vorbild der europäischen Industrienationen. Dafür verwendet Talattof den Terminus “Persianism” (Talattof 2000, 19 ff.). Dabashi betrachtet aus einer soziologischen Sicht das Thema des Engagements der Intellektuellen in der modernen iranischen Literatur als eine soziale Kategorie bzw. als ‚bourgeoises Phänomen‘ mit seiner ‚politischen und ideologischen Natur‘ (Dabashi 1985, 160 ff.). Daraus folgernd spricht er von der institutionellen Funktion des Engagements der iranischen Intellektuellen als ‚Entlastung‘ zum Ausgleich für die fehlenden sozialen modernen Institutionen: “Alienated and atomized, the modern Iranian intelligentsia expressed its ambivalent perplexity in oscillating loyalties to past and present. In ideological commitment to real and imagined social causes they found the single most important release from traditional institutions normative and inhibitive.” (Dabashi 1985, 180) Eine andere Einstellung vertritt Katouzian, indem er bei seiner Erörterung des ‚intellektuellen Unternehmens‘ die Betonung gezielt auf die kulturgeschichtliche Dimension verschiebt (wie auch Al-e Ahmad). Dabei weist er auf den kontinuierlichen Konflikt zwischen iranischen Denkern und politischen Herrschern hin. Zugleich versucht er, Parallelen zwischen einem europäischen Intellektuellenbegriff mit dessen Äquivalent in der iranischen Kulturgeschichte zu ziehen: “Even though the French and the Russians provided the paradigms for modern Iranian intellectuals, both monavvar al-fekran and rawshanfekran, the phenomenon was not unfamiliar in Iranian history and had a counterpart in various forms throughout the ages. It had existed in the shape of thinkers and intellectual critics

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like Farabi, and Ibn Sina, radical poets and campaigners as Naser Khosraw, and countless mystic thinkers, leaders, and poets […].” (Katouzian 2003, 25; kursiv im Original)

Für welche der Einstellungen man sich bei der Verortung der Intellektuellenthematik sowie dem damit verbundenen gesellschaftlichen Engagement auch entscheiden mag, die hohe Wertigkeit des Engagements für DƗnešvar in ihrem Werk ist unbestritten. Dass dieses gesellschaftliche Engagement im Roman Savushun, Drama der Trauer eine entscheidende Rolle spielt, signalisiert bereits der voran gestellte Vers von Schams al-Din Mohammad Hafiz Schirasi: „Der Schah der Türken schenkte den Worten von Heuchlern Glauben, Schande über ihn, er hat Ssiawashs Blut vergossen.“

Das Gedicht von Hafiz kann verstanden werden als eine Solidaritätserklärung über das ‚vergossene Blut‘ des unschuldigen Siavush (identisch mit Ssiawash) und als ein Tadel am Schah als zuständiger politischer Instanz für die geschehene Ungerechtigkeit bzw. die Betonung seines Versagens. Im Hinblick auf das Thema des literarischen Engagements dient der Autorin das Heranziehen dieses Verses von Hafiz als eine Selbstvergewisserung in der ‚eigenen‘ Tradition. Daraus können die Vorstellungen von der gesellschaftskritischen Funktion der Kunst abgeleitet werden. So wird die ‚pädagogische Funktion‘ der Kunst in der Gesellschaft vor allem dadurch betont, dass das überindividuelle und gesellschaftliche Engagement ins Blickfeld des Rezipienten gerückt wird. Aus dieser Perspektive ist die Einstellung, dass das literarische Engagement in der modernen iranischen Literatur als ein ‚bourgeoises Phänomen‘ (Dabashi 1985) zu betrachten ist, nicht unproblematisch. Dies ist insofern wichtig, als bereits in der Etymologie des persisch-arabischen Worts für ‚Literatur‘ (‚adabiyƗt‘/‚adab‘) als ‚Bildung‘, ‚Erziehung‘ und ‚Höflichkeit‘ eine erzieherische Bedeutung angelegt ist.2 Was das literarische Engagement DƗnešvars betrifft, so hält Talattof es für ein ‘Emblem of Commitment’ und hebt dabei die ‚realistische‘ Darstellungsweise des Romans Savushun hervor:

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Dazu vgl. Fähndrich 1990.

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“The dominant tendency to use the form of socialist realism appears in the way that the author juxtaposes segments of the novel to address such problems as social inequality, political repression, and the dichotomy between the family and the movement. […] As in socialist novels, the heroes of Savushun take all the steps necessary to accomplish their most honorable goal: helping the movement.” (Talattof 1997, 535)

Es ist zugleich wichtig, über diese Kategorisierung (als ‘socialist novel’) hinaus die stilistischen Besonderheiten des Werks zu berücksichtigen. Die Vermittlungen über die ‚soziale Realität‘ und ihre ‚literarisch dokumentierende Darstellung‘ (als Aufgabe einer als Sozialistischer Realismus verstandenen Literatur) scheinen mit der vielschichtig überladenen Symbolsprache des Werks Savushun, Drama der Trauer eher unvereinbar zu sein. Aus solcher Perspektive betrachtet beispielsweise der iranische Literaturwissenschaftler Ghobadi diesen Roman. Dabei verweist er einerseits darauf, dass die Etablierung des Genres Roman infolge der „Debatten über Tradition und Moderne“ durch Savushun vollzogen wurde, andererseits betont er eine stilistische Besonderheit, wenn er von „Versöhnung zwischen Symbolismus und Realismus“ in DƗnešvars Roman spricht (Ghobadi 2004, 51). Er sieht darin die besondere Leistung der Autorin, die er zusätzlich zur Bedeutung des gesellschaftlichen Engagements und ihrer antiimperialistischen Haltung als Stifterin eines eigenen literarischen Stils (‚sƗheb-e maktab‘) hervorhebt. Diese stilistischen Besonderheiten des Romans stehen im Zusammenhang mit den zeitgenössischen literarischen Tendenzen wie ‚Symbolismus‘ oder ‚Symbolischem Realismus‘, die vor allem aus der Poesie bekannt sind, aber auch in der Prosa vorkommen, z.B. in der 1968 publizierten Erzählung mƗhi siƗh-e kouþolu (Der kleine schwarze Fisch) von Samad-e Behrangi. In der globalen Zirkulation des Zeichens sind Begrifflichkeiten wie ‘socialist novels’, ‘socialist realism’ und ‘commitment’ keine unbekannten Referenzpunkte. Die genauere Betrachtung des erwähnten sozialistisch-marxistischen Vokabulars macht deutlich, wie diese Begrifflichkeiten zwischen verschiedenen Kulturen verbindend, zugleich aber auch trennend sind. Als integraler Teil einer übergreifenden Strömung ‚ƤarbzadegƯ‘ (‚Westtoxikation‘) dienen diese Begriffe im iranischen kulturellen Kontext dazu, sich vom ‚Westen‘ mit seiner dominierenden und unterdrückenden technologischen Überlegenheit zu distanzieren. Aus dieser Perspektive zeichnet sich

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die ‚antiwestliche‘ bzw. anti-modernistische Strömung ‚ƤarbzadegƯ‘ (‚Westtoxikation‘) durch die kritische Auseinandersetzung mit sich selbst wie auch gegenüber den imperialistischen Machtinteressen aus. Über einen solchen scheinbar widersprüchlichen Charakter (mit der gleichzeitigen Anund Ablehnung der eurozentrischen Vorstellungen von Modernisierung) wird zugleich kulturelle Differenz artikuliert. Für diese Dynamik der sozialen und politischen Kräfte im Iran spielt die Religion, genauer Nuancen von religiösen Motiven und Praktiken, bei einigen Intellektuellen eine wichtige Rolle. Eine solche Besonderheit wird in den heutigen Debatten dem Oberbegriff des ‚politischen Islams‘ untergeordnet. Dabei ist wichtig, dies nicht auf eine nostalgische, reaktionäre Belebung des metaphysischinstitutionellen Unternehmens zu reduzieren, sondern vielmehr als Bestandteil eines regionalen Moderne-kritischen Neu-Entwurfes. Diese Entwicklung, wie widersprüchlich sie auch sein mag, ist in Interaktion mit den Moderne-kritischen Debatten vor allem über die Fortschrittsidee und über den Postkolonialismus im Europa der Nachkriegszeit zu betrachten. Diesen Aspekt betont Ali Mirsepassi: “[…] there is a profound influence of certain intellectual trends, originating in the West, that has contributed significantly to the formation and continuing development of political Islam as antiWestern and counter-Enlightenment ideology” (Mirsepassi 2011, 2). Solch kulturelle Dynamik ist eng mit verschiedenen regionalen und globalen politischen Ereignissen im Iran der 1950er und 1960er Jahre verflochten. Hierzu zählen der Putsch von 1953 mit seinen Nachwirkungen, die Reformpläne der Schah-Regierung, die sogenannte ‚enqelƗb-e sefid‘ (‚Weiße Revolution‘) sowie die darauffolgende Niederschlagung der protestierenden Gegner im Jahre 1963. Diese Ereignisse wreden noch ausführlicher erläutert. Anfang der 1960er Jahre begann Mohammad Rezaschah Pahlavi unter dem Einfluss der Amerikaner mit den Reformen der ‚enqelƗb-e sefid‘. Ziel dieser Reformen war es, den landwirtschaftlichen Sektor zugunsten der Kleinbauern umzustrukturieren. Von besonderer Wichtigkeit war aber die Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts für Frauen im Jahre 1963. Das Frauenwahlrecht stieß ebenso wie die Bodenreform besonders beim schiitischen Klerus auf Kritik. Es kam im selben Jahr zu Protesten, die jedoch von der Regierung gewaltsam niedergeschlagen wurden. Beide Reformansätze waren mit durchgreifenden Änderungen in den patriarchalen Strukturen der iranischen Gesellschaft verbunden, weshalb sie auch unvorhersehbare Auswirkungen hervorbrachten. Die Ulama (Klerus) mit Ayat-

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ollah Khomeyni an der Spitze nutzte die Unzufriedenheit der Massen aus und setzte die schiitisch-religiösen Rituale wie die Aschura-Prozession, als „Mobilisierungsressource“ (Kauz 2000, 351) mit organisierten Protestmärschen gegen den diktatorischen Überwachungsstaat des Schahs ein. Diese Protestmärsche wurden zwar im Juni 1963 von der Polizei niedergeschlagen, gaben aber zugleich Anlass zu weiteren Protestketten, die letztendlich die Stärkung der religiös-konservativen Kräfte bedeuteten. Infolge dieser Proteste konnte man die Annäherung zwischen zwei einflussreichen Oppositionsrichtungen unter der Schah-Regierung feststellen: eine sozialistisch nationalistisch orientierte und jene der traditionellen religiösen Kräfte (Ulama). So begrüßte Al-e Ahmad in einer Fußnote im zweiten Druck des Buches ƤarbzadegƯ ausdrücklich die Aktivität des Klerus und erklärte seine Solidarität mit den niedergeschlagenen Protesten (Poulson 2006, 191). Zu dieser einflussreichen sozialistisch-nationalistisch orientierten Organisation, die als ‚Nirooye Sevvom‘ (‘Third Force’) bekannt wurde, zählten mehrere bedeutende Persönlichkeiten in den 1950er und 1960er Jahren wie Khalil Maleki, Al-e Ahmad aber auch die Autorin DƗnešvar (Poulson 2006, 156 f.; Katouzian 2003; Nabavi 1999). Ihre Mitgliedschaft wird bewiesen durch ihren Ausweis als Journalistin für ‚Nirooye Sevvom‘, der im Buch über ihren Briefwechsel mit Al-e Ahmad zu finden ist (Ja’fari Jazi 2005, 169). Die Strömung ‚ƤarbzadegƯ‘3 erhielt ihren Namen nach dem gleichnamigen Buch von Al-e Ahmad. Dieses international vieldiskutierte Buch (Hanson 1983; Boroujerdi 1992; Dabashi 1993; Allam 2004) wurde zunächst 1962 aus Angst vor der Zensur in Abschnitten als inoffizieller Vorabdruck publiziert. Vollständig wurde ƤarbzadegƯ im Jahr 1963 ohne staatliche Genehmigung aufgelegt und blieb weiterhin auf der Zensurliste des SchahRegimes.4 Das Buch gilt als Schlüsseltext für das Verständnis der iranischen Kultur- und Gesellschaftsverhältnisse in der zweiten Hälfte des 20.

 3

Zu dieser Strömung zählen weitere Persönlichkeiten wie Dariush Shaygan, Ehsan Naraghi und Reza Davari. Der Begriff ƤarbzadegƯ stammt von Ahmad Fardid. Darauf weist Al-e Ahmad in seinem Buch auch hin. Zu den unterschiedlichen Sichtweisen über ƤarbzadegƯ innerhalb der ‚ƤarbzadegƯ-Debatten‘ im Iran, vgl. Mirsepassi 2011, 28-43; Hashemi 1386/2007.

4

Vgl. Bericht über Al-e Ahmad in den Akten der Geheimpolizei SAVAK, in: yƗdnƗmeh Jalal Al-e Ahmad (Persisch) 1999/2000, 619 ff.

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Jahrhunderts. Dies träfe auch zu, wenn seine Bedeutung weniger auf seinem schlüssigen oder theoretischen Inhalt (wie z.B. Ashuri 1999/2000; Pistor-Hatam 2003; 2009), als auf seinem symbolischen Charakter wie dem eines ‚Übergangsritus‘ beruhte: „This popularity was achieved more on symbolic rites of initiation than on any meaningful critical ground.“ (Dabashi 1993, 76) Das Buch ƤarbzadegƯ ist in der globalen Verflechtung der 1960er Jahre zu betrachten. Die zentrale Bedeutung einer solchen Verflechtungsgeschichte kann Al-e Ahmads Korrespondenz mit DƗnešvar während seiner Europareise (datiert am 18. Oktober 1962) verdeutlichen: „Nun bin ich mir sicher, daß beispielsweise [Jean-Paul] Sartre händeringend nach einem solchen Text wie ƤarbzadegƯ sucht; doch weder finde ich einen Weg zu ihm, noch er zu mir“ (Al-e Ahmad, in: Ja’fari Jazi 2007, 45; im Original persisch). Der Terminus ‚ƤarbzadegƯ‘ ist eine Krankheitsmetapher, die unterschiedlich übersetzt wurde: In der deutschen Wiedergabe mit ‚Okzidentalitis‘ (Pistor-Hatam 2003, 91 f.) bzw. mit ‚Westtoxikation‘ als eine Art Intoxikation (Allam 2004, 42); in der englischen Wiedergabe mit ‚Westoxication‘ (Hanson1983; Boroujerdi 1992, 52 f.).5 ‚ƤarbzadegƯ‘ wird als eine Krankheit beschrieben, die von außen kommt und die Weizenkörner von innen zerfrisst, bis nur eine leere Hülle bleibt. Sie ist der Cholera ähnlich, wie dies Al-e Ahmad in seinen stilistisch einfachen Kurzsätzen beschrieben hat: “I say that Gharbzadegi [Weststruckness] is like cholera. If this seems distasteful, I could say it’s like heatstroke or frostbite. But no. It’s at least as bad as sawflies in the wheat fields. Have you ever seen how they infest wheat? From within. There’s a healthy skin in place, but it’s only a skin, just like the shell of cicada on a tree. In any case, we’re talking about a disease. A disease that comes from without fostered in an environment made for breeding diseases.” (Al-e Ahmad 1997, 11; Übersetzung von Green/Alizadeh; unterstrichen im Original)

 5 Es gibt verschiedene Übersetzungen von diesem Wort und auch vom Werk, u.a.: Westernmania, Xenomania, Weststruckness, Okzidentalitis, Plagued By the West usw. Mehr dazu siehe: Boroujerdi 1992, 52 f.; Pistor-Hatam 2003, 91 f. und Allam 2004, 41 f.

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Eine solche Bestandsaufnahme der iranischen Kultur und Gesellschaft der frühen 1960er Jahre versteht sich zum einen als Versuch einer kritischen Selbstreflexion über die iranischen Intellektuellen mit ihrer zunehmenden Abhängigkeit von europäischen Metropolen seit dem 19. Jahrhundert. Damit stellt sich auch die Frage der Mitverantwortung für das Voranbringen imperialistischer Wirtschafts- und Machtinteressen, die Al-e Ahmad ausführlich in seinem Buch dar khedmat wa kheyƗnat-e roshanfekrƗn (Über den Dienst und den Verrat der Intellektuellen) weiter diskutiert hat (Al-e Ahmad 1357/1979, 45 ff.). Zum anderen ist es die Reflexion über eine psychische Ohnmacht gegenüber dem unterdrückenden neokolonialistischen Machtapparat, dessen Ausmaß und Auswirkungen der Iran im Putsch von 1953 erlebt hat. Zur Bedeutung dieser beiden Dimensionen sei an den provokativen Satz von Jean-Paul Sartre im Kontext der postkolonialen Debatten6 erinnert: „[…] einen Europäer erschlagen heißt zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen. Was übrigbleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch“ (Sartre 1969, 18). Mit ‚ƤarbzadegƯ‘ ist kein monolithisches Phänomen gemeint, sondern vielmehr gruppenübergreifende Moderne-kritische Tendenzen in verschiedenen kulturellen und politischen Bereichen, deren Formierung im Iran Ende der 1950er bzw. Anfang der 1960er Jahre zu finden ist (Hanson 1983; Boroujerdi 1992; Mirsepassi 2011). So hat beispielsweise der Schriftsteller Samad-e Behrangi (1939-1968) eine andere Krankheitsmetapher benutzt: ‚Amerikazadegi‘ (dt. Amerikanisierung oder Amerikatoxikation des Iran, o.ä.) (Hanson 1983, 2) als Kritik an der Rolle der USA. Als überzeugter Marxist konzentrierte er sich in seinen gesellschaftskritischen Schriften auf die iranische Bourgeoisie sowie die ‚Verdinglichung‘ der einheimischen Kultur durch die ‚imperialistisch-kapitalistische‘ politische Ideologie.7 Ein weiterer Vertreter der ‚ƤarbzadegƯ-Debatten‘ ist Ali Sharia'ti (1933-1977), der als Theoretiker der iranischen 1979er Revolution bekannt ist (Abra-

 6

Sartres Vorwort zu dem 1961 erschienenen Buch von Frantz Fanon: Die Ver-

7

Mehr über Behrangi: Hanson 1983, 2 ff. Über das Werk von ƤolƗm- Hoseyn

dammten dieser Erde. SƗa'edi im Zusammenhang mit ‚adabiyƗt-e motea'hed‘ siehe die Arbeit von Claudia Stodte 2000.

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hamian 1988, 289 ff.). Er studierte an der Sorbonne in Frankreich Soziologie und Religionssoziologie und kehrte nach Abschluss seiner Studien in den Fächern Soziologie und Islamische Studien 1965 in den Iran zurück (Kaweh 2005, 17). Während seines Aufenthalts in Paris kam er in Kontakt mit Intellektuellen verschiedener akademischer Kreise, unter ihnen seine Dozenten Louis Massignon und George Gurvitch (Rahnema 2000, 120 ff.). Er übersetzte verschiedene Texte ins Persische, u.a. von Jean-Paul Sartre und Frantz Fanon (Kaweh 2005, 17 ff.; Rahnema 2000, 88 ff.). ‚ƤarbzadegƯ‘ ist ein kulturelles Phänomen, durch das Fragen zur Konstruktion einer gemeinschaftlichen Identität ausgehandelt werden können. Dabei wird eine ‚eigene iranisch-islamische‘ Identität imaginiert, die sich in Gegenüberstellung zum ‚Westen‘ in der Position der Andersheit, “as a radical other” zu etablieren versucht: “the majority of both religious and secular Iranian intellectuals have turned toward nativism, traditionalism and Islamicism” (Boroujerdi 1992, 50 f.). Man kann ‚ƤarbzadegƯ‘ insofern für eine „Metapher der Transformation“ (Hall 2000, 113 ff.) halten, als sie sich gegen die hierarchischen Vorstellungen von ‚West und Rest‘ (Hall 1992) richtet. Zugleich markiert dies aber auch eine Umbewertung der Vorstellungen von einem ‚progressiven Westen‘ innerhalb der soziokulturellen Verhältnisse im Iran. Dieser metaphorische Transformationsprozess kann wie folgt beschrieben werden: Der Konstruktion des iranischen Nationalismus liegen zwei Konstanten zugrunde, eine vergangene vorislamische und eine gegenwärtige islamisch-schiitische Kultur. In den Spielen der Identitätsbildung kommt als dritte Komponente eine Vorstellung vom ‚Westen‘ hinzu. Dieser ist entweder in seiner Alteritätsposition negativ besetzt oder wird als progressiv für positiv und anschlussfähig gehalten, wie es vor allem in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts der Fall war. Eine Alteritätsposition wurde von vielen iranischen Nationalisten vor der Putsch-Ära ebenso auf den Islam und auf die Araber projiziert. Das Wechselverhältnis zwischen diesen identitätskonstruierenden Polen hat Tavakoli-Targhi in seiner historiografischen Analyse über den modernen Nationalstaat Iran meiner Auffassung nach treffend formuliert: “Emplotted in a tragic mode, these ancient histories of Iran signalled the will to recover lost national glories and to dissociate the Iranian Self from the "alien" Muslim-Arabs who had dominated Iran. […] In a double process of projection and in-

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trojection Iranian nationalists attributed their undesirable customs and conditions to Arab and Islam. Obversely, desirable European manners and cultures were appropriated and depicted as originally Iranian.” (Tavakoli-Targhi 2001, 101 f.)

Die Formierung der ƤarbzadegƯ-Debatten im Iran geschieht in Verflechtung mit den globalen Debatten der 1950er und 1960er Jahre sowohl im Zusammenhang mit der Konfrontation von Faschismus und Sozialismus in der Ära des Kalten Krieges als auch im Kontext der Unabhängigkeitsbewegungen der Länder im “waiting-room” der Geschichte (Chakrabarty 2008, 8). Solch eine Orientierung sozialer Kräfte steht in engem Zusammenhang mit den Erfahrungen des Putsches von 1953. Dabei führte das Versagen einflussreicher Kräfte wie der sowjetnahen Tudeh-Partei zu den tiefgreifenden Änderungen der kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Iran. Mirsepassi hat davon als ‚Desäkularisierungsprozess‘ gesprochen: “The locational transformation of political activities in the post-coup-period contributed to a process of desecularization of politics and public life in Iran.” (Mirsepassi 2000, 71) Auf dieser Grundlage kommt der Zuwendung engagierter Intellektueller zum ‚politischen Islam‘ als einem Kampfmittel im iranischen kulturellen und gesellschaftlichen Kontext besondere Bedeutung zu. Von dieser strategischen Orientierung spricht auch Hamid Dabashi als ‘a hidden agenda’, womit er seine Meinung über das Buch ƤarbzadegƯ (1993, 78 ff.) zum Ausdruck bringt. Die Breitenwirkung der ƤarbzadegƯ–Debatten kann vor allem in der Suche nach alternativen künstlerischen Gestaltungs- und Erfahrungsmöglichkeiten im Bereich der visuellen Kultur gesehen werden, zu deren Besonderheit die Anwendung der islamisch-iranischen Elemente zählt. Wichtige Beispiele für solche ‚Selbstbehauptungen‘ in der künstlerischen Form sind die Entstehung einflussreicher künstlerischer Bewegungen wie saqqakhaneh und qahvehkhaneh in der Malerei und Skulptur in den 1960er Jahren im Iran. In ihren Kunstwerken kommt den volkstümlichen und religiös motivierten Themen sowie der Kalligrafie eine besondere Bedeutung zu (Daftari 2002, 65 ff.; Keshmirshekana 2005, 607 ff.). Vergleichbares lässt sich am Beispiel des Kerbela-Motivs8 als Vorbild für den Kampf gegen die autoritäre Herrschaft im Roman Savushun, in

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Der Tod des Imams Hossein symbolisiert vor allem die nonkonformistische Haltung gegen die illegitime und ungerechte Herrschaft. Der dritte Imam der Schii-

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Analogie zu den verwendeten Motiven in den beiden künstlerischen Bewegungen (saqqakhaneh und qahvehkhaneh), mit der Reaktualisierung und Funktionalisierung religiös schiitischer Elemente zeigen. Mithilfe des Kerbela-Motivs wird das Extreme in Form einer wiederkehrenden Geschichte der Gewalt durch souveräne Macht vergegenwärtigt. Nach dem Scheitern des ‚Sozialismusprojekts‘ in der Romanwelt wird die Todesdarstellung des Romanhelden Yussof über das Motiv ‚abgeschlagener und blutiger Kopf in einer Schüssel‘ mit jener der ‚Siavushslegende‘ verbunden. Bei dieser Darstellung wird zugleich auf den Tod Siavushs aus dem vorislamischen und auf das Kerbela-Motiv mit dem Tod Hosseins aus dem islamisch-schiitischen Iran Bezug genommen, die auch im Roman an die Todesdarstellung von Johannes dem Täufer anknüpft. Dabei handelt es sich um ein nicht-lineares Geschichtsverständnis mit Gewalt als Antriebskraft. Das zeigt eine determinierende Geschichtskonzeption mit der ungerechten Opferung unter den unterschiedlichen souveränen Machtverhältnissen, was auch durch die Wahl des Trauerrituals (‚Savushun‘) im Werktitel akzentuiert wird. Eine solche poetische Historiografie ist Bestandteil des gesellschaftlichen Engagements der Autorin DƗnešvar, mit deren Hilfe das ungerechte gewalttätige Geschehen in der Romanwelt (in Analogie zum Putsch in der realen Welt) literarisch behandelt und angeprangert wird. Geht man von dem Systemcharakter der Literatur in Interaktion mit ihrem kulturellen und gesellschaftlichen Kontext aus, so interagiert Savushun mit den Debatten der Intellektuellen im Iran über ‚ƤarbzadegƯ‘. In diesem geschichtlichen Determinismus lassen sich im Roman Züge eines marxistischen Geschichtsverständnisses erkennen. Auch Sharia'tis Lektüre von Karl Marx Schriften ist in diesem Zusammenhang zu betrachten, wobei er von „deterministischer Dialektik“ statt von „materialistischer Dialektik“ (Rahnema 2000, 341) spricht. Das bestätigt auch die Annahme, dass Sharia'ti und DƗnešvar seit 1966 in Kontakt gewesen sind, wie dies Rahnemas Buch über Sharia'ti zu entnehmen ist: “It is possible that later year [Brief von 1967] Sharia‘ti did in fact visit Al-e Ahmad, since his wife, Simin Daneshvar, recalls numerous visits to their house in Tehran.” (Rahnema 2000, 191) Es ist wichtig zu erwähnen, dass

 ten, Hossein, hat im Jahre 680 in einer Schlacht in der Stadt Kerbela im heutigen Irak den Märtyrertod erlitten und wurde geköpft. Während der Aschura-Passion wird dieser Schlacht gedacht.

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die Erstpublikation Sharia'tis Buch Islamschenasi (Islamologie oder Islamkunde), dessen Material aus seinen Vorlesungen an der Universität Maschhad (1966-67) entstand, im Jahre 1969 erschienen ist (Rahnama 2000, 195 f.). Die Bedeutung der religiös motivierten Elemente in der kulturellen Praxis iranischer Intellektueller, Künstler und Schriftsteller der 1960er Jahre ist grundlegend für das Verständnis der Moderne über das ‚singulare tantum‘ hinaus und für die Frage nach Alternativen. Die Betonung der Nuancen von Religiosität darf aus diesem interkulturellen Blickpunkt weder als Vernachlässigung der religionskritischen Haltung anderer Schriftsteller missverstanden (weil dies etwa den Vorstellungen vom Subjekt in der ‚entzauberten Welt‘ widerspräche) noch als eine konservative Haltung verstanden werden. Es geht um die Betonung der relationalen bzw. ‚responsiven‘ Dimension der menschlichen Interaktion und Kommunikation, indem jede Rede vom ‚Eigenen‘ immer das ‚Andere‘ einschließt, um diese dann in einer ihm zugeschriebenen Position zu verorten, sodass ohne das ‚Andere‘ auch das ‚Eigene‘ seinen Sinngehalt verlieren kann (im Anschluss an Bernhard Waldenfels 2006). Folglich sollen jene Aspekte in den Fokus der Untersuchung gerückt und problematisiert werden, auf deren meist dichotomisch gedachten Grundlagen ein Orientalismus-Diskurs vom mystischen, mythischen und religiösen Orient in Relation zum aufgeklärten, humanen und säkularen Okzident, oder die ‚kugelrunden Vorstellungen von aufeinanderprallenden Kulturen‘ (Wolf 1982, 6) wie in Huntingtons These über Clash of Civilizations, entstehen und aufrecht gehalten werden können. Anhand von zwei Beispielen mit sozialgeschichtlicher Orientierung soll die Relevanz solcher kultureller Grenzübergänge für die Stabilisierung bzw. Destabilisierung des Eurozentrismus in der Begegnung mit den marginalen außereuropäischen Positionen anhand von Begrifflichkeiten wie ‚religiös‘ und ‚säkular‘ deutlicher gemacht werden. So hebt Michael Hillmann in seiner Analyse der iranischen modernen Literatur (The Modernist Trend in Persian Literature and Its Social Impact) den ‚säkularen‘ Aspekt besonders hervor: “Their advocacy of an essentially secular social and political order seems as well to represent the effects of their exposure to Western thought.” (Hillmann 1982, 19) Eine vergleichbare Meinung vertritt auch Nikki Keddie: “Like the majority of well-known Iranian writers since the late nineteenth century, these three [Samad Behrangi, Golam-Hossein

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SƗa'edi, Reza Baraheni] and many of their contemporaries were both antiregime and secularist.” (Keddie 2006, 184; kursiv im Original) Mir erscheint jedoch wichtig zu betonen, dass es keinesfalls ausreicht, sich an Kriterien wie ‚religiös‘ oder ‚säkular‘ zu orientieren, um die kulturelle Praxis der iranischen Künstler und Schriftsteller nach dem Putsch von 1953 angesichts der dominierenden ‚antiwestlichen‘ Tendenzen zu analysieren. Mit solchen Dichotomien zu operieren, bedeutet, die Augen hinsichtlich der Tatsache zu verschließen, dass „[d]as europäische Muster säkularisierter Modernität […] nur beschränkten Exportwert [hat]“ (Berger/Luckmann 1995, 41). Eine solche Betrachtungsweise erfordert darüber hinaus, viele weitere Zwischenstellen innerhalb der zugeschriebenen ‚säkularen‘ und ‚gläubigen‘ Positionen auszublenden, wie dies DƗnešvars Roman Savushun besonders deutlich macht. Die Logik der Dichotomien verlangt ‚die Ambivalenz auszulöschen‘: „Die typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens ist die Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen.“ (Bauman 1996, 20) Daraus folgernd kann es auch legitim und nützlich sein, den sozialhistorischen europäischen Erfahrungshorizont einer ‚entzauberten säkularen‘ Welt mit jener ihr zugrunde liegenden Idealisierung der Subjektposition von René Descartes bis Immanuel Kant im Lichte der anderen intersubjektiven Konzepte der Sufi-Denker (wie Dschelal ad-Din Rumi oder Mahmud Shabistari) zu betrachten. Grundlegend für die intersubjektive und poetische Weltanschauung der Sufi-Meister ist, die Religion wie eine äußere Schale (scharia'a) zu betrachten und ist damit diese in Relation zu den dogmatischen Ansichten (gleichgültig ob theologischer oder philosophischer Natur) gewissermaßen zu relativieren bzw. zu individualisieren9, welche in einem weiteren Schritt in Relation zu einem Wahrheitskern (haqiqah) als Bestandteil des prozesshaften (sufischen) Weges (tariqah) beschrieben wurde (Lewisohn 1995; Modjtahed Schabestari 2009; Soroush 2009). Dies versteht sich als ein Plädoyer für die Bedeutung der kritischen Selbstreflexion in den interkulturell ausgerichteten Analysen über das neuzeitliche Denken, denn aus solcher Perspektive kann die Existenz der

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Zur Kritik der Begriffe ‚Selbstverwirklichung‘ und ‚Individualisierung‘ siehe Magnus Schlette 2013.

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‚Parallelwelten‘ oder ‚Gegendiskurse‘10 real sein: als in Amsterdam in der Cartesianischen Philosophie der Grundstein für die Bestimmung der Welt in res cogitans und res extensa gelegt wurde, hatte sich in Isfahan im philosophischen Denken die Entessentialisierung derselben Welt in der Lehre von der ‚substantiellen Bewegung‘ (al-haraka al-jawhariyya) durch Mulla Sadra11 (gest. 1640?) vollzogen. Wie auch die Philosophen das Verhältnis von Mensch und Welt bzw. die Grenzmarkierung von innen und außen (‚Skandal der Philosophie‘) ausloten mögen, mit welchen Beweismitteln auch die Historiker die Weltgeschichte in den gängigen Kategorien wie mittelalterlich, neuzeitlich oder modern zu erschließen und zu ordnen behaupten, so bewirkt doch diese Tatsache nicht, dass die Idee von einer relativ autonomen künstlerischen Selbstbehauptung als Prototyp eines für ‚modern‘ gehaltenen Subjekt-Verständnisses kein ‚Sonderangebot‘ der europäischen Ideengeschichte ist, sondern immer nur in der Verflechtung mit den anderen Kulturen zu betrachten ist.12

 10 Dazu Dussel 2013. 11 Zur Mulla Sadras Lehre von der ‚substantiellen Bewegung‘, vgl. Rizvi, Sajjad H. 2009; Kamal, Muhammad 2010. 12 Wo wäre sonst solche Preisgabe der Dichter-Prophet-Analogie im Rahmen der eurozentrischen Weltsicht von mittelalterlich, neuzeitlich oder modern zu verorten, so wie Nezami Gangawi (gest. vermutlich 1209), in seinem Meisterwerk Xamseh das Verhältnis zwischen dem Erhabenen und dem Dichter in Analogie zum Prophet beschrieben hat: „There are two ranks standing before God the Almighty: in front stand prophets…behind, the creators of poetry.” (Makhzan al asrar von Nezami 2012, 101; Übersetzung von Smith) Oder in den vergleichbaren Worten von Muslih al-Din Sa'di Schirasi (gest.1360), in denen er sein Verständnis vom künstlerischen Idealtypus zum Ausdruck bringt: „Es geht hier kein Gebild aus meiner Hand hervor, Das mir nicht obenher zeichnet der Meister vor“ (Bostan von Sa'di 1882, 186; Übersetzung von Rückert). Oder im von Johann Wolfgang von Goethe dem Buch Hafis im west-östlichen Divan voran gestellen Vers von Schams al-Din Mohammad Hafiz: „Sei das Wort die Braut genannt, Bräutigam der Geist; Diese Hochzeit hat gekannt, Wer

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Es mag vielleicht die Ironie des Schicksals sein, dass die Bedeutung des aristotelischen Mimesis-Begriffs im Schatten der arabischen Übersetzung von Averroes auf dem europäischen Boden erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch Lessings Überlegungen zum Drama enthüllt werden würde.13 Es scheint effizienter, innerhalb der vorherrschenden Moderne-kritischen Tendenzen der Nach-Putsch-Ära im Iran der 1950er und 1960er Jahre die Religion (ob in der visuellen Kultur, ob in der Narration oder in den theoretischen Konzeptionen) als ein strategisches Mittel zu betrachten. Aus dieser Perspektive kommt den Neuentwürfen der Akteure im Umgang mit der bis dahin verdrängten, für eigen gehaltenen islamischen Kultur (in Analogie zum Terminus “Homeless Texts”, vgl. Tavakoli-Targhi 2001, 1 ff.) eine besondere Bedeutung zu, so z.B. wenn sich DƗnešvar in ihren poetischen Konzeptualisierungen in Savushun auf das Gedankengut der Sufi-Dichter (wie Attar, Rumi und Hafiz) bezieht, mit deren Hilfe sie die Konstitution eines weiblichen Subjekts literarisch aushandelt oder in ihrer kosmopolitischen Haltung die imperialistische Gewaltherrschaft anprangert (Abschnitt 4). Aus diesen Gründen erscheint es mir besonders wichtig, unter Berücksichtigung des tiefgreifenden ‚Desäkularisierungsprozesses‘ im Iran nach dem Putsch vom 19. August 1953 (Mirsepassi), die bedeutende Rolle der Funktionalisierung religiöser Motive durch die regimekritischen Intellektuellen in den literarischen Texten aufzuzeigen, die mit dem Fokus auf ‚Säkular-‘ oder ‚Religiössein‘ geringere Beachtung finden könnten. Für eine solche Betrachtungsweise ist von zentraler Bedeutung, dass „[d]ie Religion […] eine wichtige Rolle als Macht [spielt], die es den Unterdrückten ermöglicht, ein Stigma in eine Quelle der Selbstermächtigung zu verwandeln“ (Göle 2004, 21). Der Putsch, der den Sturz des gewählten liberalen Ministerpräsidenten Mossadeq zum Ziel hatte, änderte die politischen Machtverhältnisse des Iran hin zur Etablierung der Monarchie. Vorher hatte Mossadeq bereits im

 Hafisen preist.“ (Dieser Vers ist im Zusammenhang mit dem ganzen Ghasel von Hafiz zu betrachten.) 13 Dazu, Wels 2009.

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Rahmen einer Politik der Unabhängigkeit des Landes im März 1951 die Verstaatlichung der von britischer Aktienmehrheit dominierten ‚Anglo-Iranian Oil Company‘ bekanntgegeben. Die Verstaatlichung der Ölgesellschaft war Anlass dafür, dass die britischen und amerikanischen Geheimdienste – unter dem Vorwand einer drohenden Verbreitung des Kommunismus im Iran – schließlich im August 1953 einen Putsch inszenierten, der mitten in der Zeit des Kalten Krieges den zweijährigen unerbittlichen Kampf auf der iranischen Politikbühne zugunsten der Briten beendete. Der Putsch geschah durch die Zusammenarbeit der britisch-amerikanischen Geheimdienste (AJAX-Operation). Dabei flossen hohe Summen von Bestechungsgeldern für ein breites Spektrum der iranischen Gesellschaft, angefangen bei Ministern und Theologen bis hin zu ‚einfachen‘ Bürgern: „Mit Hilfe seiner unschätzbaren iranischen Mitarbeiter hatte Roosevelt [Kermit] eine riesige Menschenmenge auf die Straße gebracht. […] Rund dreihundert Menschen starben während der Kämpfe am Mittwoch, die Hälfte davon bei der Schlacht um Mossadeghs Haus. Einige der zivilen Opfer hatten noch die 500-Rial-Scheine in der Tasche. Roosevelts Männer hatten das Geld am Morgen an Dutzende verteilt.“ (Kinzer 2009, 249 f; 261)

Das Resultat dieser antiimperialistischen Kämpfe war in Übereinstimmung mit den ausländischen Machtinteressen die Etablierung der Monarchie, die gleichzeitig die Machtlosigkeit des größten Teils der iranischen Bevölkerung und Unterdrückung ihrer sozialen Ansprüche bedeutete. Die tiefgreifenden Auswirkungen der gewaltsamen AJAX-Operation werden im Hinblick auf die historische Semantik noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass die Akteure der iranischen ‚konstitutionellen Revolution‘ von 1905/06 die Verwirklichung ihrer Reformpläne in der Errichtung einer Institution mit dem Namen ‚e'dalatkhaneh‘ (‚Haus der Gerechtigkeit‘) gesehen hatten. Dem Putsch von 1953 kommt als einer kollektiven Gewalterfahrung eine bedeutende Rolle zu. Unter Berücksichtigung der ‚mnemotechnischen Funktion‘ der Kunst, dass die Literatur, indem sie das Gedächtnis für die Kultur stiftet, „mnemonische Kunst par excellence“ ist (Lachmann 1990, 36 ff.; kursiv im Original), sollen in der Folge die Wirkungen des Putsches anhand von Beispielen aus der meistgelesenen iranischen Literatur weiter diskutiert werden.

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Betrachtet man die iranische Literatur der ersten Jahre nach dem Putsch, so gehört zu ihrem zentralen Merkmal die verstärkte Anwendung der mythischen Elemente und eine stark überladene symbolische Sprache. Dies kann man als Folge der repressiven Verhältnisse und als Enttäuschung sowie als innere Emigration der Künstler bewerten. Derart bedrückende staatliche Repressionen zeigen sich auch daran, dass beispielsweise die Zahl der Frauenzeitschriften aufgrund der Zensur im Zeitraum nach dem Putsch bis zehn Jahre danach um ‚bis zu einem Viertel‘ sank (Babran 1381/2002, 120). Mir-Abidini hat in seinem Buch mit dem Titel Hundert Jahre iranische Prosaliteratur (sad sal dastan newisi Iran) in Bezug auf die Ära nach dem Putsch von der „Generation der Niederlage“ gesprochen, mit Themen voll von Motiven wie „Kälte, Dunkelheit und Tod“ (Mir-Abidini 1998, 195). „Man findet kaum Künstler zu dieser Zeit, die keine mythischsagenhafte Erzählung geschaffen haben“, betont Mir-Abidini weiterhin (ebd.). Drei populäre Beispiele unterschiedlicher literarischer Gattungen (Poesie, Drama und Roman) aus der Zeit nach dem Putsch von 1953 können diese gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse veranschaulichen: Das Gedicht zemestƗn (Winter) von Mehdi Akhawan Sales (das Titelgedicht seines 1956 erschienenen Gedichtbandes) reflektiert die Wirkungen des Putsches in der Literatur: Es handelt sich um eine „vor Kälte klirrende Winterlandschaft mit dunklem tief hängendem, die Sonne hinter Staub verbergendem Himmel, in der die Menschen einander nicht ansehen, sondern den Kopf gesenkt halten, um auf den vereisten Weg zu achten und nicht auszurutschen“ (Seidel 2009, 136). Es ist das „wohl einflussreichste Gedicht des ‚sozialen Symbolismus‘“,14 das „zu einer Art Hymne der gescheiterten nationalen Bewegung wurde und spielt auf die soziale Kälte und Angst nach dem Putsch an“ (ebd.). Der literarische Text ist Medium des kollektiven Gedächtnisses und steht in Verbindung mit diesem durch bestimmte Funktionen wie ‚Speicherung‘, ‚Zirkulation‘ und sogenannte ‚cue-Funktion‘, d.h. Abrufhinweise, die die Erinnerungsprozesse in Gang setzen können (Erll 2005, 254 f.). Geht man von solcher medialen Funktion des literarischen Textes für das kollektive Gedächtnis aus, so kommt dem Gedicht zemestƗn in seiner

 14 Das ist eine der bedeutendsten lyrischen Strömungen dieser Zeit.

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sprachlich-stilistischen Ähnlichkeit zum Roman Savushun, Drama der Trauer eine ‚cue-Funktion‘ für die Abrufung der Erinnerung an die politischen und kulturellen Verhältnisse im Iran nach dem Putsch von 1953 zu. Als ein Beispiel aus dem Genre Drama gilt im Hinblick auf die Wirkungen des Putschtraumas SƗa'edis Theaterstück þub be dasthƗ-ye VarrƗzil (dt. Aufruhr in VarrƗzil). Dieses Drama ist 1965 unter SƗa'edis Pseudonym Gouhar MorƗd erschienen. Es behandelt das Schicksal der Dorfbewohner VarrƗzils, die sich, von Wildschweinen geplagt, von einem Armenier beraten lassen. Die Figur des Armeniers, eines Christen, besitzt symbolische Implikationen wie ‚Fremder‘ und ‚Nichteinheimischer‘. Im Lauf der Handlung werden einige Male Jäger geholt, die jedoch in der Tat keine Hilfe sind, da sie nur faulenzen und schließlich mehr als die Schweine von den unterlegenen Dorfbewohnern verzehren und Schaden anrichten. Am Ende des Dramas schließen sich die Jäger zu einer bewaffneten Gruppe gegen die ihnen unterlegenen unbewaffneten Dorfbewohner VarrƗzils zusammen. ýub be dasthƗ-ye VarrƗzil gilt als SƗa'edis „bekanntestes Theaterstück“, das man allegorisch für die zunehmende politische und wirtschaftliche Abhängigkeit des Iran von westlichen Industriestaaten nach dem Putsch von 1953 und „als Anspielung auf die Einmischung Großbritanniens und der USA in die inneren Angelegenheiten des Irans lesen [kann]“ (Alavi 2009, 242). Als ein Beispiel aus dem Genre Roman ist vor allem DƗnešvars Buch Savushun, Drama der Trauer zu nennen, das 16 Jahre nach dem Putsch publiziert wurde. Darin lassen sich die Reflexionen von ‚ƤarbzadegƯ‘ und ‚Nativismus‘ in enger Verknüpfung mit den Erfahrungen dieses Putsches beobachten: Das ‚einheimische‘ halbnomadische bzw. bäuerliche Gemeinschaftssystem dient als ein alternatives nicht-kapitalistisches Gemeinwesen. Dieses zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die Arbeitskraft und die Produktionsmittel nicht voneinander getrennt sind. Die Forderung nach gerechter Umverteilung der Güter wird im Roman als ein entscheidendes Charakteristikum des dargestellten Gemeinschaftswesens beschrieben. Dieses nicht mehr zu realisierende Gesellschaftssystem führt schließlich zum Märtyrertod des männlichen Helden (in Analogie zum Imam Hossein, S. 46). Die Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit wird durch die Heldin (Zari) unterstrichen, zu deren wöchentlichen Riten ein Gelübde für eine bevorstehende Geburt zählt, für das sie „Brot und Datteln“ (24 f.) in einer

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Heilanstalt und einem Gefängnis verteilt (in einer Analogie zu Ali, dem ersten Iman der Schiiten). Dem ‚einheimischen‘ Gesellschaftssystem steht im Roman die akzentuierte Rolle der britischen Besatzungstruppen gegenüber, deren Invasion in das Land in den 1940er Jahren mit der Gewalt des Putsches im Jahre 1953, mit dem die Engländer ihre kapitalistischen Machtinteressen durchgesetzt hatten, in Verbindung gebracht wird. Bezug nehmend auf diese historischpolitischen Ereignisse knüpft der Tod des Romanhelden am Tag des ‚westlich‘ gelenkten Putsches vom 28. Mordad 1953 an. So fragt die Figur Ammeh einen Tag nach dem Tod des Ehemanns der Heldin: „[…] ‚Was für ein Tag ist übermorgen?‘ Khossrows Stimme: ‚Der einunddreißigste Mordad.‘ Khan Kukas Stimme: ‚Schreib, anlässlich des Ablebens dieses jungen unglückseligen…‘ Ammehs Stimme: ‚Ableben? Schreib gefälligst Märtyrer‘.“ (307 f.)

Auf die Bedeutung dieser Zeitangabe im Roman Savushun hat die Autorin selbst bei einem Interview hingewiesen: „[…] ich ließ [die Figur] Yussof am 29. Mordad töten, womit jedoch der Sturz von Mossadeq [am 28. Mordad] gemeint war“ (Mir-Abidini 1998, 475 f.). Geht man vom Prozesscharakter der Erinnerung aus, als „Spannung zwischen Textualität (oder Monumentalität) und Prozessualität (oder Performativität)“, zwischen „medialer Repräsentation und gesellschaftlichem Prozess“, die die Dynamik des kulturellen Gedächtnisses ausmacht (Assmann 2002, 31 f.), so darf man den Roman Savushun als eine Verarbeitung dieses zu einem kollektiven Trauma gewordenen Putsches von 1953 ansehen. Somit tritt in den Fokus der Darstellungen dieser drei ausgewählten populären literarischen Werke die nicht überwindbare Gegenwärtigkeit eines vergangenen Geschehens, nämlich des gewaltsamen Putsches. Es überrascht nicht, dass unter solchen politischen und kulturellen Verhältnissen auf den ersten Blick die Gender-Frage sogar bei den Autorinnen als ein zweitrangiges Thema erscheint: “Prerevolutionary [1979] women`s literature, as exemplified by the works of Danishvar, Farrukhzad, and Behbehani, displays a remarkable sensitivity toward social issues, thought issues re-

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lated specifically to women were treated as secondary.” (Talattof 2000, 107) Es sei indes angemerkt, dass Fragen zu den Geschlechterverhältnissen integraler Teil des kulturellen intersubjektiven ‚Ver- und Aushandelns‘ zwischen Männern und Frauen sind (Habermas 1993, 499 f.). Aus einer solchen Perspektive müssen die Aussagen von Talattof über DƗnešvar am Beispiel ihres Romans Savushun relativiert werden, wovon ausführlicher in der folgenden Analyse die Rede sein wird. Es erscheint mir wichtig, an dieser Stelle auf die Darstellung der Sexualität aus der weiblichen Perspektive einzugehen. Die Auseinandersetzung der Autorin mit solch einem Tabuthema im Iran der 1960er Jahre setzt ein hohes Maß an Selbstbewusstsein voraus. Im Roman wird Sexualität aus weiblicher Perspektive zwischen den Ehepartnern an mehreren Stellen geschildert. Damit beschreitet DƗnešvar als erste iranische Romanautorin einen Weg, mit diesem Tabuthema umzugehen: „Yussof kam zurück ins Schlafzimmer. […] ‚Soll ich dir helfen, die Knöpfe aufzumachen?‘ […] Yussof trat hinter seine Frau und begann, die Knöpfe ihres Kleides zu öffnen: ‚Du liebe Güte, wozu so viele Knöpfe?‘ […] Zaris Kleid glitt auf ihre Hüften. Yussof begann, den Büstenhalter aufzuknöpfen […]. Der Büstenhalter fiel. Yussof streichelte Zaris Brüste: ‚Sie tun mir leid. Warum schnürst du sie so fest ein?‘ Zari spürte ein Stechen in der Brust. Ihre Brustwarzen wurden fest. Yussof ließ seine heißen Lippen zärtlich über ihre Schultern wandern.“ (22 f.; auch 24)

Sexualität wird im Roman auch mithilfe anderer Modi dargestellt, z.B. in der Figuration der ‚Madwoman‘ (Abschnitt 5) oder am Beispiel der offenen Darstellung eines obdachlosen Bauernmädchens, welches im Haushalt der Nachbarin sexuell missbraucht wird: „[…] es hat keine Woche gedauert, da hatte entweder der Vater oder der Sohn das Kind schon in der Mangel“ (112). Vergleichbares kann man in der Lyrik von Forugh Farrukhzad (19351967) erkennen, in der die Betonung der Weiblichkeit sowie die Existenz einer weiblichen Stimme entscheidende Kriterien sind. Dies haben Milani (1992, 127 ff.) und Scharf (2005) hervorgehoben. So hält Scharf Farrukhzads Lyrik beispielsweise für wichtig zur Entstehung eines neuen weiblichen Bewusstseins, das die Poesie als Mittel zur Darstellung persönlicher

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Erfahrungen anzuwenden weiß und „unverblümt die Gefühle einer Frau auch im Bereich des Erotisch-Sexuellen“ anspricht (Scharf 2005, 44). Die wichtigen Aspekte im kulturellen und gesellschaftlichen Kontext des Romans Savushun, Drama der Trauer lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: a.

b.

Scharfe Kontrastierung der ‚West-Ost-Verhältnisse‘ und Kritik an der technologischen, imperialistischen Überlegenheit des ‚Westens‘, der daraus resultierenden Ausbeutung materieller und kultureller Ressourcen nach dem erfolgreichen Putsch und den darauffolgenden rasanten Modernisierungs- und Industrialisierungsplänen im Iran. Dabei kam der Formierung der Tendenzen zur Integration religiöser Motive in die kulturelle Praxis eine besondere Bedeutung zu. Als Konsequenz des Putsches tritt der ‚Westen‘ zunehmend in eine Position der Alterität zu der Vorstellung von einer Identität des Selbst. Ein Gedicht von Mehdi Akhawan Sales aus dem Jahre 1960 mit dem Titel qesse-ye šahr-e sangestƗn15 (dt. Die Geschichte von der versteinerten Stadt) kann solche Vorstellungen konkretisieren. Das Gedicht wird aus der Perspektive zweier Tauben erzählt, die über die möglichen Ursachen für die hoffnungslose Lage eines Prinzen miteinander diskutieren: eines „als gefallener Mosaddeq zu deutenden Königs“ (Seidel 2009, 137), der einsam unter einem Baum schläft. Die letzten Zeilen des Gedichts offenbaren das Schicksal des Prinzen in einer Klage über die vermeintliche ‚arabische‘ und ‚türkische‘ Gewaltherrschaft über sein Land Iran (wie man dies schon als Beweggrund16 für das Na-

 15 Dieses Gedicht befindet sich in dem Gedichtband: az Ưn awestƗ (dt. Aus diesem Awesta)1370/1991. 16 Das Epos Schahnameh ist aus der vorislamischen Zeit des Iran und wurde von Abolqasem Ferdowsi in der Zeit zwischen 977 bis 1010 n. Chr. niedergeschrieben. Es handelt sich um eine Zeitspanne ausgehend von der mythischen Zeit bis zur Niederlage des letzten Sassanidenkönigs (dem sogenannten Zweiten Perserreich) infolge der arabisch-islamischen Invasion gegen Mitte des 7. Jahrhunderts n. Chr. Vgl. Khaleghi-Motlagh, Jalal: Abolqasem Ferdowsi, in: Encyclopædia Iranica, Online-Version: http://www.iranicaonline.org/articles/ferdowsi-i (Letzter Zugriff: 21.11.2011).

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c.

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tionalepos Schahnameh behauptet hat17). Zu dieser ‚historischen Fremdherrschaft‘ ist im 20. Jahrhundert noch das Moment des Europäischen hinzugekommen, indem von den „Ungerechtigkeiten der Europäer (‚farang‘), der Türken und der Araber“ („satamhƗy-e farang-o turk o tƗzi rƗ“) die Rede ist. Die ideologischen Vorstellungen der Iraner werden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, des ‚romantischen Nationalismus‘ (Katouzian 1991, 67 ff.; Tavakoli-Targhi 2008, 108 ff.), als das konstruierte progressive ‚Westbild‘ durchaus noch positiv besetzt war, in Frage gestellt. Zwei Beispiele hierfür sind die germanophilen Gedichte im Zeitraum des Ersten Weltkrieges von Adib-e Pishawari (qeysar-nameh, dt. Buch des Kaisers), von denen „fast ein Drittel Lob des deutschen Kaisers“ ist (Aryanpour 1988, 319) und die radikale Haltung des Nationalisten und ‚Westsympathisanten‘ Seyyed Hassan Taghizadeh, der als Herausgeber der Zeitschrift Kaweh (1916-1922) im Berliner Exil einmal behauptet haben soll: “[…] Iran must become wholly Western in every way if it were to progress.” (Zitiert nach Keddie 2006, 181)

Als ein Resultat solcher Prozesse übernimmt die Literatur im Iran der 1950er und 1960er Jahre zunehmend eine politisch-gesellschaftliche Aufgabe, sodass deren ästhetische Leistungen über das gesellschaftliche Engagement ausgehandelt werden müssen.



 17 Es bestehen jedoch Zweifel über die Echtheit solcher ‚antiarabischen‘ Verse in Schahnameh. Möglicherweise sind sie diesem Werk in späteren Zeiten hinzugefügt worden. Vgl. Jalil Dustkhah: naqd-e adabi: ‚naqd‘ ya ‚nafy-e‘ Schahnameh (dt. Literarische Kritik: ‚Kritik‘ oder ‚Abwertung/Verneinung‘ von Schahnameh?), offener Brief an Ahmad Shamlu 1371/1992, S. 70 f.

3 Ausdifferenzierte Lebenswelt und ‚heterotopisches‘ Verfahren

Der Handlungs- und Zeitraum im Roman Savushun, Drama der Trauer beziehen sich auf die Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs, als die Russen vom Norden und die Engländer vom Süden her in den Iran einmarschierten. Diese Zeit der Präsenz der Engländer und ihrer Kontrolle über die südlichen Gebiete des Landes wählte die Autorin DƗnešvar zum Thema ihres Romans. Die Protagonisten Zari/Zarah und Yussof und deren Familien- und Freundeskreis repräsentieren eine Gruppe von Großgrundbesitzern (‚Khan‘), die mit ihren nomadischen Untertanen durch Ackerbau und Viehzucht verbunden sind. Zari/Zarah ist die Erzählerin der Ereignisse, aber als Hausfrau bleibt sie zu abhängig von ihrem Mann, als dass sie Zugang zu den öffentlichen Bereichen der Romanwelt finden könnte. Über sie erfährt man indes, dass sie in einer „Englischen Schule“ eine hohe Schulbildung genossen hat (8 f.). Neben ihrer Charakterisierung als Hausfrau trägt die Figur auch Züge einer (bezogen auf die iranischen Verhältnisse) gebildeten Frau, etwa wenn von ihrem guten Englisch die Rede ist, oder wenn sie bei gesellschaftlichen Anlässen zwischen Engländern und Einheimischen als Dolmetscherin auftritt (12). An einer anderen Stelle überbringt ihr Yussof die Nachricht, dass sie bei der iranisch-englischen Gesellschaft ‘Essentials Two’ unterrichten dürfe (157). Sie lebt mit ihren drei Kindern, einem Dienstmädchen, ihrem Ehemann Yussof sowie seiner verwitweten Schwester Fatemeh (im Roman auch Ammeh: dt. Tante genannt), zusammen in einem Haushalt. Zu dieser Figurengruppe tritt der Bruder ihres Ehemannes (Khan Kuka/Abolghasem) hinzu, der engen Kontakt zum Haushalt der Heldin hat. Gleichzeitig pflegt er auch gute Beziehungen zu den ausländischen Besatzungstruppen. Neben der Präsenz der Engländer

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wird auch die der Inder thematisiert. Sie erscheinen sowohl kollektiv als Soldaten im Dienst der imperialen britischen Truppen, wie auch als Individuen in Gestalt der Geschwister Ssoudabeh und Mohammad Hossein. Des Weiteren sind zwei Großgrundbesitzer aus dem Freundeskreis der Familie zu erwähnen, die beiden Brüder Malak Rosstam und Malak Ssohrab. Zum Figurenensemble des Romans gehört darüber hinaus noch ein zweiter Haushalt, der einen Gegenentwurf zum Haushalt Zaris/Zarahs darstellt. Es handelt sich dabei um den der verwitweten Nachbarin Ezat-al-doleh. Dieser Familienhaushalt wird durch Opportunismus und Sexismus vornehmlich negativ charakterisiert. Im Laufe der Handlung gerät das Familienleben der Protagonistin Zari/Zarah in eine Krise. Das geschieht parallel zur zunehmenden Verschlechterung der innenpolitischen Lage des Landes, deren Ursache eindeutig in der Einflussnahme der ausländischen Besatzungstruppen zu suchen ist: Unter derart bedrückenden Umständen entscheidet sich der Großgrundbesitzer Yussof dafür, das Getreide unter seinen Untertanen zu verteilen, anstatt es an die englischen Truppen zu verkaufen. Während der Güterverteilung an die Bauern wird Yussof von einem Schuss getroffen und stirbt. Am Ende des Romans wird die Begräbniszeremonie des als ‚Märtyrer‘ verstorbenen Mannes mit unterschiedlichen historischen, religiösen und heroischen Momenten der iranischen Kulturgeschichte in Verbindung gebracht. Ausgehend von der vorislamischen Mythenwelt bis hinein in das 20. Jahrhundert haben diese Ereignisse eines gemeinsam: die ungerechte Opferung und die Unterwerfung unter die nackte Gewalt. Einen Hinweis auf solche Bedeutungen gibt der Romantitel Savushun, der auf das Trauerritual für einen der unschuldig ermordeten Helden des iranischen Nationalepos Schahnameh verweist. Im Zusammenhang mit solchen Vergangenheitsund Gegenwartsbezügen kommt den aus Schahnameh entlehnten Figurennamen (Rosstam, Ssohrab, Ssudabeh und Siavushs Sohn: Khossrow) eine wichtige Bedeutung zu. Damit wird im Roman Savushun, Drama der Trauer ein unmittelbarer Textbezug zu der Siavush-Legende im Epos Schahnameh hergestellt (mehr dazu in den Abschnitten 4 und 5). Die Relevanz der Namenssemantik zeigt sich darüber hinaus in dem Doppelnamen der Romanheldin als Zari und Zarah. Diese zwei Namen sind als ein Hinweis auf zwei Textebenen zu verstehen, sodass die Erzählerin sich selbst Zari nennt, von den anderen Figuren in den meisten Fällen als Zarah angesprochen wird. Der Name Zarah ist ein religiös-islamischer Name, der Beiname Fatimas, der Tochter des Propheten Mohammed. Der

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Name Zari hingegen hat keine religiöse Bedeutung und ist ein populärer volkstümlicher Name (dt. golden). Diese Erzählstrategie verweist auf die Markierung der Grenzen zwischen zwei Textebenen mit privat-weltlichen und öffentlich-religiösen Implikationen. In der Originalfassung des persischen Textes ist diese Unterscheidung vom ersten Kapitel des Romans an eindeutig, was jedoch in der vorliegenden Übersetzung nicht immer berücksichtigt worden ist. Dies ist besonders bei manchen Änderungen der Erzählinstanz oder bei den Dialogen zwischen den Figuren auffallend. So werden die Hochzeitsfestlichkeiten, mit denen der Roman beginnt, wie folgt beschrieben: „Und so strömten die Gäste ins Hochzeitszimmer, um dieses Brot zu bestaunen. Auch Khanom [Frau] Zarah und Yussof Khan sahen es sich aus der Nähe an.“ (7) Ein paar Zeilen weiter heißt es: „Zari behielt ihre Bewunderung für sich, nahm Yussofs Hand und sah ihn flehend an […].“ Auf Seite 12, nachdem die Protagonistin der Figur Hamid begegnet ist, müsste unter Berücksichtigung des Originals die deutsche Übersetzung wie folgt lauten: „Zari war auf Hamid Khan im Hochzeitszimmer erst aufmerksam geworden […]. Und zu Zari gewandt, sagte er [Hamid]: ‚Frau Zarah, wenn Sie bitte übersetzen möchten‘. Ihr Verehrer von einst. In Gedanken entgegnete sie ihm […].“ In der deutschen Übersetzung heißt es jedoch nur Zari! Der Siedlungsraum der dargestellten Qaschqaii-Nomaden1 befindet sich hauptsächlich im Südwesten des Iran, in der Provinz Fars mit der Hauptstadt Schiras. Durch den Verweis auf diese Provinz (Fars/Pars = Perser) entsteht eine pars-pro-toto-Relation zwischen der Provinz und dem Gesamtland Persien/Iran. Mit der Markierung dieser Provinz (Fars/Pars) als Handlungsraum für die Romanereignisse rückt sie als ›Lieux de mémoire‹ (im Nora’schen Sinn) der iranischen Kultur ins Blickfeld des Rezipienten.2

 1

Qaschqaii ist der Name eines großen türkisch sprechenden Nomadenstamms mit etwa 30 kleineren Untergruppen. Mehr zu den nomadischen Strukturen im Iran siehe: Abrahamian 1982, 19 ff.

2

Provinz Fars mit der Hauptstadt Schiras ist sowohl die einstige Hauptstadt beider Perserreiche (Achämeniden- und Sassanidenreich) in der vorislamischen Zeit als auch der Heimatort zweier großer Dichter und Denker der islamischen Zeit: Muslih al-Din Sa'di Schirasi, und Schams al-Din Mohammad Hafiz Schirasi.

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Der bäuerlich-nomadischen Gesellschaftsstruktur selbst kommt eine mehrdeutige Funktion zu. Sie ist nicht nur als ein alternatives nicht-kapitalistisches Gemeinschaftssystem, sondern auch im Zusammenhang mit der gesellschaftskritischen Dimension des Werkes zu betrachten. Diesbezüglich handelt es sich um ein Gemeinschaftssystem, mit dessen Hilfe aus einer weiblichen Perspektive die Binnenlogik von patriarchalen Machtstrukturen anhand der Darstellung von Großfamilie/Haushalt veranschaulicht und darauffolgend auch hinterfragt wird. Geht man von der Vieldeutigkeit der literarischen Darstellung aus, kann der Literatur angesichts ihres Doppelcharakters von „Literarizität und Historizität“ (Struck 1995, 182) im Verhältnis zu ihrem gesellschaftlichen und kulturellen Kontext auch eine psychisch kompensatorische Funktion zukommen. Das bäuerliche Gemeinschaftssystem in Savushun zeigt kompensatorische Charakterzüge, die sich auf die beschleunigten Modernisierungsund Industrialisierungspläne im Iran seit den 1960er Jahren zurückführen lassen.3 Mir-Abidini beschreibt die zunehmende Darstellung verschiedener Formen des regional geprägten Dorflebens seit jener Zeit als eine der wichtigsten Tendenzen in der iranischen Literatur (Mir-Abidini 1998, 398 ff.). Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse ist die nomadische wenig ausdifferenzierte ‚fiktive‘ Gemeinschaft im kompensatorischen Verhältnis zu jener städtisch-industrialisierten, ausdifferenzierten ‚realen‘ Welt zu betrachten. Die Erzählstruktur des Romans Savushun basiert auf einer dualistischen Konfrontation zwischen Innen und Außen, Frau und Mann, Denken und Handeln sowie Traum und Realität (Golshiri 1997, 139 ff.). Auch die Raumstruktur entfaltet sich entsprechend des nomadisch-bäuerlichen Gemeinschaftssystems in einem Dorf-Stadt-Verhältnis: Die städtische Figurengruppe der Großgrundbesitzer (‚Khan‘), einschließlich der Familie der Heldin, steht in Verbindung mit ihren Untertanen in den Dörfern. Im städtischen Raum stehen zwei Familienhaushalte im Zentrum der Handlungen: der Haushalt der Romanheldin mit dem Ehemann, drei Kindern, Dienstmädchen und Ammeh, der verwitweten Schwester des Mannes, und der Haushalt der verwitweten Nachbarin Ezat-al-doleh als Repräsentantin einer

 3

Mehr zum Thema Modernisierung im Iran der 1960er: Afkhami 2009, 185 ff.; Mirsepassi-Ashtiani 1994, 58 ff.

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adlig-höfischen Familie mit einem Sohn als Einzelkind, Dienstmädchen und Pförtner. Es scheint mir treffender, angesichts der dargestellten nomadischen Gesellschaftsstruktur im Roman von zwei Haushalten zu sprechen, die gegensätzlich charakterisiert sind. Der Haushalt Ezat-al-dolehs ist gekennzeichnet durch ‚negative Eigenschaften‘ wie Hinterhältigkeit, Opportunismus, Sexismus, Waffenschmuggel usw. Das zeigt sich auch darin, dass Ezat-al-doleh in enger Beziehung zum Haus des Gouverneurs als Repräsentanten der politischen Macht steht. Dagegen ist der Haushalt Zaris/Zarahs besonders durch seine Schutzfunktion und seine altruistischen Werte (Integration der verwitweten Schwester des Ehemanns und Adoption des Waisenkindes Kalou) und Vitalität (sie hat drei Kinder und ist schwanger) charakterisiert. Die Raumverteilung basiert auf der strikten Trennung von öffentlich und privat, wie dies sich entscheidend in der Formensprache der iranischen Architektur ‚andaruni‘/‚biruni‘ (privat/öffentlich) eingeprägt hat. Die oben angesprochene Provinz-Staatsgebiet-Relation wiederholt sich ein weiteres Mal in der Beziehung von Haus-Stadt-Land: „Weinend antwortete Zari [zu Yussof]: ‚Macht, was ihr wollt, aber verschont unser Haus mit eurem Krieg. Was kümmert es mich, daß die ganze Stadt zum Vergnügungsviertel [Bordell] geworden ist. Meine Stadt, mein Land ist dieses Haus hier. Aber sie sind imstande und tragen den Krieg noch bis hierher…‘.“ (23 f. und 32)

Mit dieser pars-pro-toto-Relation wird das Haus in Beziehung zu der von den englischen Besatzungstruppen eingenommenen Stadt gesetzt. Dem Haus Zaris/Zarahs wird die Funktion eines Widerstandsortes und damit eines Angriffsziels zugeschrieben, das unter den herrschenden Kriegsverhältnissen zu verteidigen ist. Die Nachbarin, als Bindeglied zwischen Zaris/Zarahs Haus und dem des Gouverneurs, trägt dazu bei, dass Zaris/Zarahs ‚Ohrringe‘ (10 f.) und ‚das Pferd des Sohnes‘ auf Wunsch der Frau bzw. der Tochter des Gouverneurs weggenommen werden (70 ff.). Diese beiden Handlungen kann man aus anthropologischer Sicht als Angriffe auf Zaris/Zarahs Privatsphäre verstehen, auf ihre „zweite“ und „dritte Haut“ (König 2007, 105 f.). Bemerkenswert ist, dass diese Handlungen geschlechtsspezifisch durch weibliche Akteure vollzogen werden. Vergleichbares geschieht auch im Falle von Zaris/Zarahs Mann, der im Kampf gegen soziale Ungleichheit bei der Umverteilung der Güter zwischen den Bauern in der dörflichen Idylle stirbt. Auch sein Tod folgt der

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geschlechtsspezifischen Logik, die durch eine Assoziationskette von Einzelelementen charakterisiert ist: Ein Schuss unter kriegerischen Verhältnissen, der den Tod der revolutionär handelnden Figur verursacht. In einer ähnlichen Logik werden im Roman die Kartografie und die reproduktive Funktion der Frau in der patriarchalen Gesellschaft aneinander geknüpft. So spricht Yussof in Bezug auf die Narben infolge des Kaiserschnitts als der „Landkarte auf ihrem Bauch“ (24). Über eine Assoziationskette mit kartografischen Elementen wird an einer anderen Textstelle an ‚die Landkarte des Iran‘ angeknüpft. Dies geschieht, als sich die Figuren zu einem Besuch im Zelt der ausländischen Besatzungstruppen zusammenfinden: „Zari warf einen Blick auf die Landkarte, die gespickt war mit zahllosen Nadeln in den unterschiedlichen Farben. Selbst einem Kenner der Lage mußte bei ihrem Anblick schwindelig werden. Yussof ging zur Landkarte, Khan Kuka folgte ihm. ‚Ganz schön zugerichtet haben sie unser Land‘.“ (41) Auffallend ist die geschlechtsspezifische Darstellung ‚kartografischer Lesepraxis‘, die aus der Perspektive des Mannes thematisiert wird (Dabashi 1988, 73). Bei solcher metonymischen und metaphorischen Sinnkonstitution fällt deutlich auf, wie eng die persönliche und kollektive Identität mit einander verbunden sind bzw. wie diese zusammenfallen. Die Stadtkonstitution in den literarischen Texten kann durch ‚referentielle‘ und ‚semantische‘ Techniken entstehen (Mahler 1999). ‚Referentielle Stadtkonstitution‘ ist die Technik ‚des referentiellen Verweisens‘ wie z.B. in Döblins Berlin Alexanderplatz. Die Stadt kann aber auch in der erzählten Welt durch Anwendung bedeutungssemantischer Elemente konstituiert werden, wie durch ‚Konstitutions-Isotopien‘ als „eine Reihe von Textelementen, welche sich zusammenschließen zum Bereich ‚Stadt‘“ (Mahler 1999, 12 ff.). Das Stadtbild im Roman Savushun wird durch die oben erwähnten ‚referentiellen Verweise‘ mit ihren semantischen Implikationen konstituiert. Dazu kommen weitere Komponenten, etwa wenn im ersten und zweiten Kapitel des Romans die Rede davon ist, dass die Heldin wegen der Schwierigkeiten bei den Geburten ihrer Kinder ein Gelübde ablegt. Danach verteilt die Heldin wöchentlich einmal Lebensmittel im „Gefängnis“ und in der „Heilanstalt“: „Als sie die beiden zur Welt brachte und auch bei der Geburt ihres Bruders Khossrow hatte Zari ein Gelübde abgelegt: jeden Donnerstagabend würde sie ins Gefäng-

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nis und in die Heilanstalt gehen, um den Häftlingen und den Patienten Brot und Datteln zu bringen. Zari war schlank und ihr schmales Becken bereitete ihr schwere Geburten.“ (24 f.)

Das Weiblichkeitsbild in den patriarchalen Strukturen zeigt sich in seiner reproduktiven und mütterlichen Funktion, die durch die Verkopplung von Geburt und Schmerz gleichsam charakterisiert ist. Darüber hinaus ist die ‚Verortung‘ im Privat-Häuslichen ein Anlass für den Eintritt der Frau in die Öffentlichkeit: Die Problematik der schweren Geburt und der darauffolgende Wunsch, ein Gelübde abzulegen, gewährt der Protagonistin Zugang zum Gefängnis sowie zur Heilanstalt. Im Verlauf der Handlung wird die ihr zugängliche Öffentlichkeit um das Rotlichtmilieu erweitert, als Zari/Zarah als Beauftragte der ‚Gemeinschaft der Frauen‘ die Bordelle im Vergnügungsviertel der Stadt inspizieren soll. In diesen Bordellen arbeiten auch Kinder als Prostituierte. So trifft die Erzählerin ein Mädchen im Alter von „vielleicht sieben oder acht Jahren“, das von der Kupplerin unter dem „Nähmaschinentisch“ versteckt wurde (195). Als englisches Produkt besitzt die „Nähmaschine“ einen Symbolcharakter: Sie steht für die wirtschaftlichen Machtinteressen der im Roman als Kolonialmacht4 dargestellten englischen Besatzer.5 Mittels ihrer Darstellung im Bordell wird eine Verbin-

 4

Iran ist in seiner Geschichte nie eine Kolonie gewesen. Aber indirekt unterlag das Land den imperialistischen Wirtschafts- und Machtinteressen von England und USA. Jürgen Osterhammel (2001, 28) schlägt zwischen ‚Imperialismus‘ und ‚Kolonialismus‘, den ersten als Oberbegriff vor. Ich orientiere mich in meiner Arbeit an dieser Klassifikation, wobei im Roman dem Kolonialismus (z.B. durch das Netzwerk der aus Indien stammenden Figuren) eine breite Sinndimension zukommt, die auch eine trennscharfe Unterscheidung zwischen diesen beiden Begriffen in der Analyse nicht möglich macht.

5

Dieses Symbol ist bei DƗnešvar und auch in den Werken ihres Mannes Al-e Ahmad zu finden. Nach Al-e Ahmads marxistisch-orientierter Auffassung der Entwicklung der Gesellschaft folgen auf den Feudalismus Bourgeoisie und Kapitalismus, angetrieben von einer kraftvollen Maschinerie. Aus dieser Perspektive ist der Feudalismus positiv konnotiert als alternatives Modell zum Kapitalismus. Die Nähmaschine dagegen ist gekoppelt an eine Veränderung in der Haushaltsökonomie und der Selbständigkeit der Frauen. Das Vorantreiben der bour-

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dung zwischen den politischen, militärischen und ökonomischen Interessen der englischen Besatzungstruppen hergestellt: „Der jetzige Sergeant Singer war kein geringerer als jener Mister Singer, der ehemals Nähmaschinen verkauft hatte. […] Sie [Zari] hatte damals gehört, daß Mister Singer bei Kriegsausbruch über Nacht in eine Uniform geschlüpft war, Sterne und Orden inbegriffen.“ (9) Die Präsenz dieses englischen Verkaufsprodukts im Bordell verweist auf den Verkauf des weiblichen (iranischen) Körpers als Tauschpreis. Daraus resultierend finden an dieser Textstelle mittels der metonymischen und raumsemantischen Verfahrensweise die Ängste der einheimischen iranischen Bevölkerung vor der Übermacht der europäischen Technologie-Maschinerie ihren Ausdruck. Während das Bordell mit den imperialistischen ökonomischen Machtinteressen in Verbindung steht, reflektiert sich die patriarchale Macht in den Darstellungen eines ‚prototypisch orientalischen‘ Raums, dem Hammam. In Savushun bildet der Hammam sowohl einen privaten als auch einen öffentlichen Ort. So besitzt Ezat-al-doleh einen historischen Privathammam. Trotzdem besucht sie eines Tages einen öffentlichen Hammam, um Zaris/Zarahs ‚nackten Körper‘ in der Absicht zu begutachten, für ihren Sohn um ihre Hand anzuhalten (13; 190). Zari/Zarah beschreibt den privaten Hammam von Ezat-al-doleh, den sie mit ihren Schulkameradinnen als historisches Denkmal besucht hat. Seine Wände sind mit Szenen aus den iranischen Epen dekoriert, u.a. mit Bildern nackter Frauen und Männer (191 f.). Die dargestellten Szenen nehmen Bezug auf das Liebesepos Khosrow o Shirin (Chosrou o Schirin) (1180/1 n. Chr.) von Nezami Gangawi (gest. vermutlich 1209 n. Chr.), dessen Stoff aus der vorislamischen Zeit des Iran stammt.6 Solche Bilder konservieren und transportieren durch ihren malerischen Stoff und ihre Darstellungsweise (z.B. den nackten Körper) emblematisch die vergangene vorislamische Kultur des Iran und sind damit quasi als zwei ‚Kontexte‘ ein Beispiel für den paradoxalen Charakter iranischer (vorislamischer und islamischer) Kultur, wovon im Rahmen dieser Analyse

 geoisen Interessen stellt für sie eine Vereinnahmung dar und ist somit auch negativ konnotiert. Vgl. dazu: Ranjbar 2006, 51 f. (Im Original persisch). 6

Die bibliografischen Angaben über Nezami sind Bürgel 1980, 336 f. entnommen.

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als ‚doppeltem Bezugsrahmen‘ noch gesprochen wird7 (Abschnitt 5). Mittels des Verweises auf solche Wandmalereien können dem Rezipienten die Vorstellungen über eine Geschichte von Körperlichkeit und Erotik in der iranischen Kultur (von der vorislamischen bis in die islamische Zeit) suggeriert und vergegenwärtigt werden. Die Sichtbarmachung des Körpers im Hammam als Ort der Hygiene selbst knüpft an die bildlich-tradierte kulturelle Tradition (episch-erzählerisch und bildlich-malerisch) an, auf die in den Wandmalereien verwiesen wird. Im Hinblick auf diese Darstellung ist zweierlei zu konstatieren: Erstens werden über das Motiv ‚Hygiene‘ im Roman die beiden Räume Bordell und Hammam miteinander gekoppelt. Zweitens lassen sich im intermedialen (schriftlich-narrativen und visuellbildlichen) Spiel zwei Textebenen unterscheiden, die kollektiven und geschlechtsspezifischen Interessen folgen. Zielt die eine (schriftlich-narrative) darauf, die kollektive Geschichte textuell sagbar zu machen, so dient die andere (visuell-bildliche) dazu, die geschlechterspezifischen Interessen sichtbar zu machen. Aus der weiblichen Perspektive wird kulturkritisch das Problem der Repräsentation der Frau als Objekt des männlichen Begehrens (Bronfen 1995, 409 ff.; Spivak 1994, 66 ff.) hinterfragt, indem der historische Hammam der Nachbarin in Analogie zum Bordell zu einem Ort wird, an dem der aus-gestellte nackte Körper der Frau, in ihrer Verkörperung quasi ‚als Fleisch‘, sichtbar gemacht wird. Im Hinblick auf solche intermedialen und raumsemantischen Bedeutungen, die auch im Anschluss an die gegensätzliche Haushaltskonstellation im Roman stehen, kann man von einer doppelten Diskriminierung des Weiblichen unter den patriarchalen und imperialistischen Machtstrukturen sprechen. Als weitere stadtkonstituierende Orte sind noch die Schule und das Krankenhaus zu nennen, die sich im Besitz englischer Missionare befinden bzw. von ihnen geleitet werden: „[Yussof]: Hier in dieser Stadt laufen die Dinge so, daß die beste Schule die britische Schule ist, das beste Krankenhaus das Missionskrankenhaus, und wer sticken

 7

Ich beziehe mich auf die gedächtnistheoretischen Ansätze, die sich vor allem im Anschluss an Halbwachs’ Thesen über ›cadres sociaux‹ entwickelt haben, vgl. Kontexte und Kulturen des Erinnerns: Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, Echterhoff/Saar/Assmann (Hg.), Konstanz 2002.

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lernen will, lernt auf der Nähmaschine von Singer, die einem Singer auch gleich verkauft.“ (153 f.) [Zari mit Bezugnahme auf Engländer]: „Aber ich habe immer gewußt, daß sie scheinheilig waren und daß irgend etwas nicht stimmt. Ich wußte, daß sie uns Tag für Tag etwas mehr wegnehmen, aber was es war, vermochte ich nicht zu sagen.“ (155)

Die Darstellung der Fremdbestimmtheit geht in DƗnešvars Roman über die physische Präsenz der imperialistischen Machtstrukturen in Form von Kolonialisierung mit dem Truppeneinmarsch hinaus. Die tiefgreifende Wirkung dieser Kolonialisierung in verschiedenen kulturellen Bereichen zeigt sich am Beispiel der institutionalisierten Macht im Gesundheit- und Bildungssystem. Aus dieser Perspektive wird im Roman Savushun die Fremdbestimmtheit des Iran mit der Kolonialisierung deckungsgleich und somit auch zum zentralen Kritikpunkt. Das beweisen noch die folgenden Aussagen der Romanfiguren: „Sie [Zari] fragte: ‚Hat er [McMahon] dich nicht gefragt, wo das Vergnügungsviertel liegt?‘ ‚Doch, er hat gefragt. Ich [Yussof] habe ihm gesagt, es ist das Viertel, in dem armselige Frauen wohnen, die ihren Lebensunterhalt geschminkt verdienen. Ihr schickt die indischen Soldaten zu ihnen. Selbst seid ihr ja gut versorgt. Ich habe ihm auch gesagt, euretwegen ist unsere Poesie verstummt, und alle Kutscher, Huren und Hehler haben statt dessen ein paar Brocken Englisch gelernt‘.“ (23)

Die beschriebenen Orte bilden die relevanten ‚Koordinaten‘ des Stadtbildes im Roman, der zugleich auch ›Lieux de mémoire‹ iranischer Kultur zum Schauplatz hat. Die Stadtkonstitution im Roman Savushun, Drama der Trauer lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Handlungsräume sind strikt geschlechtsspezifisch aufgeteilt zwischen der Hausfrauen- und Mutterrolle der Heldin und der Arbeit im öffentlichen Raum des männlichen Protagonisten (Verpflegung und Beaufsichtigung der bäuerlich-nomadischen Untertanen). Hierfür wird die modern-industrielle Stadt der dörflichen Idylle gegenübergestellt, wobei beide Räume durch die Omnipräsenz der repressiven Machtverhältnisse gekennzeichnet sind: Wird das Dorf, in dem die unmittelbare Güterproduktion im Vordergrund steht, durch den gewalttätigen Tod des Protagonisten den kapitalistischen Macht-

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interessen unterworfen, so ist das Städtische durch Repression, Überwachung und Profitgewinn in der Semantisierung des Räumlichen dominant, wie etwa durch das Gefängnis, die Heilanstalt und das Bordell, die allesamt in die Kategorie der Foucaultschen „Abweichungsheterotopien“ fallen (Foucault 1992, 34 ff.). Ebenso zu dieser Gruppe zählt die Heterotopie Hammam. Raumsemantisch wird durch den Hammam das Nebeneinander des ‚Alten‘ und ‚Neuen‘ veranschaulicht. Infolge der Kriegsauswirkungen in der Romanwelt werden die Verschränkungen der kollektiven und individuellen Identität deutlich, in deren Konsequenz die doppelte Diskriminierung des Weiblichen unter den patriarchalen und imperialistischen Machtstrukturen reflektiert wird.



4 Die ‚neue Kulturschaffende‘ zwischen ‚Selbstsorge‘ und ‚Kolonialisierungsphobie‘

„Wie der erhabene Gott Moses – Friede sei mit ihm – wegen des Hirten tadelte […] Gott sandte Moses eine Offenbarung: ‚Du hast Meinen Diener von Mir getrennt. Kamst du, um zu verbinden, oder kamst du, um zu trennen?‘ […] Jedem habe Ich einen Charakter gegeben: Ich habe jedem eine besondere Ausdrucksform zugeteilt. Für ihn [den beleidigten Hirten] ist es Lobpreis, und für dich [den dogmatisch-handelnden Propheten] ist es Schande: Für ihn ist es Honig, für dich Gift. […] Bei den Indern eignet sich die Hindi-Sprache Mich zu lobpreisen, bei den Sindis ist es die Sindi-Sprache. Ich werde durch ihren Lobpreis nicht gereinigt; sie werden gereinigt und klar. [...].“ (Dschelal ad-Din Rumi 2001, 384 f.; Massnawi, Buch II.; Übersetzung von Meyer/Dalir Azar) „Unbestimmtheit ist bei dieser Grundform des historischen Nachweises von Identität des Gottes [dogmatisches Denken, Y.K.] nicht zulässig. Man könnte sagen: Vor allem die Chronologie muß stimmen.“ (Blumenberg 1996, 141) “However, it is undoubtedly a decisive stage in the development of our modern predicament, in which belief and unbelief can coexist as alternatives. ” (Taylor 2004, 187)

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Die reichlich und verschieden montierten intertextuellen Bezüge sind eine stilistische Besonderheit des Romans Savushun. Intertextualität (als Schreibstrategie oder Analysemethode) gilt als ein zentraler Ansatz etwa im Rahmen der postkolonialen und genderspezifischen Studien. Hält man die Intertextualität, also die Text-Text-Bezüge für das Gedächtnis der Literatur (Lachmann 1990, in Anlehnung an Bachtin u.a.), so soll im Folgenden nach möglichen Funktionen derartiger Einschübe gefragt werden. Parallel zu den aggressiv-kriegerischen Darstellungen auf der Textoberfläche gibt es im Roman auch ständige Text-Text-Bezüge zwischen der ‚eigenen‘ und einer vorstellbaren textuellen ‚Welt-Kultur‘. Dabei kommt es zu den Ein- und Ausschließungen auf der intertextuellen Ebene durch Verschiebungen oder die Anwendung gewisser rhetorischer Mittel wie Ironie, die auf einen emanzipatorischen Ansatz zielen, als Versuch‚ einen Raum für die Frau als Subjekt zu schaffen. Solche Texteinschübe gelten als Bestandteile einer literarischen Sinnkonstruktion, in der die Identitätsbildung sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiv-nationalen Ebene eine bedeutende Rolle spielt. Gründe hierfür liegen zum einen in der Tatsache, dass der Roman Savushun der Erstling einer iranischen Schriftstellerin überhaupt ist. Die Gattung Roman hat im Iran seit Ende des 19. oder sogar Anfang des 20. Jahrhunderts eine kurze Geschichte (Balay 1998, 254 f.). Zum anderen sprechen die Popularität des Romans und seine vielfältigen intertextuellen Bezüge zum iranischen National-epos Schahnameh für eine neue Auffassung von einer kollektiven Identität unter den dargestellten politischen und kulturellen Verhältnissen in der Romanwelt. Mit der Selbstdarstellung des Kollektivs ist weniger eine Vorstellung von einem ‚Kollektivsubjekt‘ gemeint als vielmehr eine kollektive Identität im Hinblick auf „die Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen“ (Straub 1998, 102 ff.; kursiv im Original; dazu auch Assmann 1992, 130 ff.). Bezogen auf die Popularität des Romans ist eine derartige Identifikation im Verhältnis zwischen dem Text und seinen Rezipienten zu suchen. In Savushun, Drama der Trauer werden Aspekte der Selbstdarstellung eines Kollektivs vermittelt, welche mit der Drohung seitens der kolonialen Fremdherrschaft konfrontiert werden (Abschnitt 3). Es handelt sich um ein psychisches Moment der „Krisenerfahrungen“ bzw. „Identitätskrise“, das stark auf die Identitätsbildung wirken kann (Straub 1998, 101 f.; dazu auch Giesen 1991, 13 f.). In der Analyse des Romans werden zunächst die Verschiebungen beim Verweis auf das iranische Nationalepos Schahnameh erläutert. Schahnameh

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erfüllt die Funktion eines kollektiven Selbstbildes im iranischen Kulturraum, wie man am Attribut ‚Nationalepos‘ erkennen kann (Davis 2006, xiii). Solche Text-Text-Bezüge zwischen Roman und Epos sind Bestandteile des bereits erwähnten ‚doppelten Bezugsrahmens‘ der iranisch-islamischen Kultur, die auch die Grundlage für die Nationwerdung des Iran bilden. Bei den Umschreibungen und Verschiebungen des Epos tritt im Roman die heldenhafte epische Totalität in den Hintergrund. Bezug nehmend auf die Hauptgestalten der Vater-Sohn-Beziehung im Epos wird im Roman auf die ursprünglich-tragische Dimension verzichtet, indem die Helden des Epos als Brüder (Malak Rosstam und Malak Ssohrab) in die opportunistischen Machtbeziehungen der Romanwelt einbezogen werden. Darüber hinaus wird mit dem Verweis auf Savushun die Betonung auf eine der Episoden im Epos gelegt, in der das Schicksal eines der Helden mit der Unterwerfung unter die nackte Gewalt dargestellt wurde. Eine kurze Inhaltsangabe der Siavush-Legende dient als Grundlage für das Verständnis der Analyse: ‚Siavush gehört zu den Helden des vorislamischen Iran in Ferdowsis Epos Schahnameh (Königsbuch). Siavushs unübertreffliche Schönheit führt dazu, dass sich seine Stiefmutter Ssoudabeh in ihn verliebt. Das damit verbundene Angebot lehnt Siavush jedoch ab. Zum Beweis seiner Unschuld muss er sich beim Vater einer Prüfung unterziehen. Auf seinem schwarzen Ross tritt er in ein riesiges Feuer und besteht unversehrt die Prüfung. Um weiteren Racheakten der Stiefmutter zu entgehen, zieht er gemeinsam mit Rosstam, dem Helden des Epos, und seinen Truppen freiwillig an die Grenzen des Reiches, wo sie einen feindlichen Angriff des Königs Afrasiyab bekämpfen müssen. Bei der Begegnung der Heere macht der Feind ein Friedensangebot, welches vom Helden akzeptiert wird, jedoch auf Ablehnung bei Siavushs Vater, Key-Kawus, stößt. Siavush entscheidet sich gegen seinen Vater und wechselt zur feindlichen Seite über. Er heiratet Farangis, die Tochter von Afrasiyab, des einstigen Feindes des Königs. Das Paar beginnt das gemeinsame Leben in einer für sie eigens erbauten Stadt, Siavushgird. In dieser Ehe wird ein Sohn geboren, Key-Khossrow. Doch König Afrasiyab hat einen hinterhältigen Bruder, Garsiwaz, der Siavush dessen Beliebtheit am Königshof neidet. Es gelingt ihm, Afrasiyab einzureden, Siavush beabsichtige, ihn vom Thron zu stoßen, so dass Siavush gefangengenommen und enthauptet wird. Getränkt mit dem Blut Siavushs wächst schließlich eine Pflanze, die den Namen Siavushs Blut (‚khun-e siavushan‘) erhält. Bis heute wird jährlich in manchen Regionen des Iran das Trauerfest ‚Savushun‘ begangen, es bezieht sich auf

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die Siavush-Legende und erinnert an den unschuldigen Tod dieses mythischen Helden.‘ (Kanus-&UHGpDabir Sayaghi 2004). [Zusammengefasst von Y.K.]

Die Bedeutung des ‚Savushun-Rituals‘ erfährt die Heldin Zari in der Romanwelt im Traum durch Frauen von bäuerlichen Untertanen, die ihr die Legende erzählen (324 f.). Die kulturgeschichtliche, geschlechtsspezifische Dimension des Trauerns innerhalb der halluzinatorischen Schilderungen und Traumszenen nach dem Tod Yussofs im Roman wird auf der prärationalen Ebene des Traums dargestellt. Auffallend ist, dass sowohl das Trauerritual als auch seine mündliche Tradierung zwischen den weiblichen Figuren geschlechtsspezifisch ausgehandelt werden. Dies ist ein Bestandteil der Erzählstrategien, die auf zwei Ebenen die gesamte Narration durchziehen. Somit kommt dem Werktitel eine ambivalente Funktion zu, die sowohl im Sinne geschlechtsspezifischer als auch kollektiver Interessen zu interpretieren ist. Zielt die eine geschlechtsspezifisch auf das Trauern als „weibliche Kulturtätigkeit“ (Ecker 1999, 11 ff.), so ist die andere Sinndimension im Zusammenhang mit den Auswirkungen des Putsches im Jahre 1953 zu verstehen (Abschnitt 2). Durch das Zusammenfallen dieser beiden Bedeutungsebenen wird im Romantitel Savushun, Drama der Trauer das Moment des Trauerns, des Unterworfen- und des Untergeordnetseins sowohl kollektiv als auch geschlechtsspezifisch in den Fokus des Rezipienten gerückt. Die Bedeutung solcher Doppelung der Erzählperspektive zeigt sich beispielsweise am Ende des Romans, als während der Trauerzeremonie die staatlichen und männlich-sexistischen Machtstrukturen auf die scharfe Kritik der Heldin stoßen (345 f.). Der sexistische Schwager und der Sohn der Nachbarin haben Pläne, die verwitwete Heldin zu besitzen. Dazu gehört unter anderem der Versuch ihr Kind abzutrieben (333). Bei ihrer nonkonformistischen Haltung gegen solche männlich-sexistischen Machtstrukturen wird sie von anderen Frauenfiguren in ihrem Umkreis auch unterstützt: „Ferdoss antwortete: ‚Khanom hat mich losgeschickt, um Sie [Zari] zu belauschen. Der Wunsch möge ihr unerfüllt bleiben, daß Sie das Kind abtreiben.‘[…]“ (340; dazu auch 332 f.) Die Aufdeckung dieser Pläne durch Frauen in Zaris Umfeld und der symbolische Akt des Scheiterns der Abtreibung sind als Hinweise für den Abbruch der Kontinuität eines Ehelebens und eine gewisse Selbstbehauptung der Frau innerhalb der dargestellten Gesellschaftsstrukturen zu verstehen.

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Ausgehend von einer derartigen Doppelung der Erzählperspektive, die ständig die genderspezifischen Interessen inkludiert, lässt sich zeigen, wie im Roman Savushun die ‚Grenzen‘ (im soziologischen und semiotischen Sinne: Schimanski 2007; Medick 1995) der männlich-dominierenden offiziellen Kultur mehrmals zugunsten des weiblichen Subjekts verschoben werden. Hierzu gehört die intertextuelle Bezugnahme auf die Geschichte einer hochrangigen religiösen Autorität (‚Scheikh-e Ssanan‘).1 Inhaltlich werden in dieser Erzählung2 entsprechend der offiziellen islamischen Orthodoxie die ideal-religiösen Vorstellungen allegorisch dargestellt. In der Um- und Weiterschreibung der Geschichte von Scheikh-e Ssanan wird im Roman zusätzlich die Verbannung der Ehefrau (der Mutter des Protagonisten Yussof) und deren freiwilliges Exil mit dem darauffolgenden Tod in der Fremde beschrieben. Die allegorische Verfahrensweise erschöpft sich nicht im bloßen Akt des Verweisens, „sondern sie führt zugleich die Struktur der Repräsentation am ästhetischen Gegenstand mit vor“ (Horn/Weinberg 1998, 7). Auch die Konzepte und Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit können dadurch mittransportiert werden, wie dies vor allem im Fall von Personifikationen wie ‚Britannia‘ oder ‚Germania‘ usf. bekannt ist (Schade 1994). Die Figuration des ‚unperfekten Scheikhs‘ und der ‚verführenden Christin‘ versinnbildlicht die Problematik zwischen der weltlichen Liebe und dem ‚echten Glauben‘, den der ‚Scheikh‘ für eine gewisse Zeit für diese

 1

Es gibt verschiedene Variationen dieser Geschichte; die persische Erzählung von Farid ad-Din Attar stammt aus der zweiten Hälfte des 12. Jhs. Das Wort ‚Scheikh‘ ist identisch mit ‚Scheich‘ und Ssanan oder Ssaman ist ein Ortsname, beides zusammen bedeutet ‚Scheich von Ssanan‘.

2

Die Geschichte erzählt von einem asketischen Scheich, der mit seinen Anhängern von Mekka nach Rum (Byzanz) reist. Dort verliebt er sich in eine Christin. Aufgrund der Liebe verlässt er den ‚rechten Glauben‘: Er trinkt Wein, verbrennt den Koran und konvertiert zum Christentum. (Mehr dazu vgl. Ritter 1955, 387; Davis/Darbandi 1986, 57 ff.). Die Erzählstruktur der Geschichte von Scheikh-e Ssanan basiert auf einem Schema von Ausbruch, Sünde und Wiederkehr. Sowohl der Scheikh aber auch die Christin kehren infolge eines Wunders zum Islam zurück, wobei der anschließende Tod der Christin ihre Erlösung aus männlicher Perspektive veranschaulichen soll.

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Liebe aufgibt. Wie Helmut Ritter in Bezug auf die Geschichte Scheikh-e Ssanan betont, ist eine derartige Liebesdarstellung kein seltenes Thema in der persischen Literatur: „Man wird sich erinnern, daß in der persischen lyrik öfters das motiv auftaucht, daß glaube und religion vor dem forum der liebe gleichgültig werden und keine bedeutung mehr haben.“ (Ritter 1955, 388; im Original klein geschrieben.) Während sich der Mann in der Erzählung von Scheikh-e Ssanan durch seine Nähe zur vermeintlichen ‚wirklichen Wahrheit‘ (Islam) auszeichnet, verkörpert die weibliche christliche Verführerin die ‚unwirkliche Wahrheit‘ im Sinne einer Wahrheit zweiten Ranges. Das dargestellte Bild von Weiblichkeit verkörpert das ‚Andere‘ des Männlichen: Die Konvertierung der beiden zum Islam bedeutet nicht nur die Wiederherstellung der gestörten religiös-sozialen Ordnung, sondern vor allem auch die Aufrechterhaltung der ‚ein-geschlechtlichen‘ Gender-Ordnung, die ihren Ausdruck in dem aus männlicher Perspektive ‚erlösenden‘ Tod der Christin am Ende der Geschichte findet. Bei der Bezugnahme auf die Geschichte von Scheikh-e Ssanan im Roman wird diese ironisch und in emblematischer Form von einer Pictura-Subscriptio-Konstellation wiedergegeben. So erzählt Ammeh, die verwitwete Schwester von Yussof, über ihren Vater: „Jedenfalls haben wir nie erfahren, welcher Gauner den vielen Stoff in Isfahan bestellt hatte, bedruckt mit dem Bild von Scheikh Ssanan, unter dem geschrieben stand: ‚Scheikh Ssanan reist mit seinem Gefolge nach Europa [‚farang‘ im Original]‘.“ (88) [Hervorgehoben von Y.K.] Das persische Wort ‚farang‘ (Europa) besitzt im Roman eine ‚heterotopische‘ Funktion (im Sinne von Foucault) mit erotischen und exotischen Implikationen, wie dies vor allem in den Texten von iranischen Europareisenden im 18. und 19. Jahrhundert beschrieben wurde (Tavakoli-Targhi 2001, 54 ff.; noch zu diesem Begriff, Sefatgol 2012). Der intertextuelle Bezug auf die Geschichte von ‚Scheikh Ssanan‘ während seiner ‚Europareise‘ wird im Roman ironisch wiedergegeben. Die Ironisierung der Aussage ist ein Bruch in der Sinnkonstitution, wodurch eine Umstellung der Bedeutung im Text an den Adressaten signalisiert wird. In der zitierten Stelle findet in der spielerischen Zuordnung des ‚bedruckten Bildes‘ (als Pictura) zu seiner Beschreibung (als Subscriptio), die Verschiebung der Grenzen der offiziellen Kultur zugunsten des weiblichen Subjekts statt. Mittels solcher Einschübe werden die idealen patriarchalen und religiösen Wertvorstellungen aus weiblicher Perspektive kritisch umgeschrieben, wobei die zentralen

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Texte der Kultur in einer Re-Lektüre mit anschließender Re-Integration im Roman deplatziert und in ihrer emblematischen Wiedergabe ironisch hinterfragt werden. Der Umgang mit den Texten iranischer Kultur im Roman erweitert sich durch die Einbeziehung sufisch-gnostischer Denktradition. Mit dem Kompositum ‚Sufi-Gnostik‘ sollen zwei Aspekte angesprochen werden: zum einen ist mit dem Sufismus (arab. tasawof; e'rfanͿ eine kulturgeschichtliche Strömung gemeint, deren Besonderheit in der Verflechtung von Dogma, Theosophie bzw. Philosophie3 sowie Dichtung zu betrachten ist. Zum anderen sollen über das ‚Gnostische‘4 jene Besonderheiten dieser Denkweise gegenüber dogmatischem und autoritärem Denken hervorgehoben werden, welche aus dem interkulturellen Blickpunkt Anschlussmöglichkeiten an die Debatten über Neuzeit oder Post-Moderne anbieten können, wie die diesem Abschnitt voran gestellten Sätze von Dschelal ad-Din Rumi, Hans Blumenberg und Charles Taylor trotz ganz unterschiedlicher Grundpositionen dieser Autoren belegen können. In der iranischen Kulturgeschichte sind Sufismus und Dichtung untrennbar. Die Literatur (adabiyƗt; še'r) diente der Sufi-Denker als Medium der Welterkenntnis. Darum ist es kein Zufall, dass die erkenntnistheoretische Qualität der Sufi-Tradition für die Romanheldin zum geeigneten Mittel wird, durch das sie ihre Liebesbeziehung zu ihrem zukünftigen Mann zum Ausdruck bringen kann. In Savushun übernimmt die Poesie des SufiDichters die Rolle des Kommunikationsmediums zwischen den Liebenden. So vervollständigt Yussof den rezitierten Halbvers von Zari/Zarah, während er sie auf dem Weg von der Schule nach Hause begleitet:

 3

Dabei darf nicht vergessen werden, dass Abu Hamid Mohammed ibn Mohammed al-Ghazali (gestorben 1111), welcher den Sufismus institutionalisierte, seine eigenen kritischen Ansichten in der Abgrenzung zu den bedeutenden Philosophen seiner Zeit wie z.B. Avicenna und al-Farabi entwickelte. Dazu vgl. Marmura 1997, xix ff.; Campanini 1996, 258-274; Fakhry 1970, 244-261 und 2003. Zu den Überschneidungen zwischen Theosophie und Philosophie vgl. Nasr 1997; Hairi Yazdi 1992.

4

Der Begriff e'rfan heißt übersetzt u.a. Gnosis und a'rif Gnostiker, z.B.: Shirazi, Mulla Sadra: The Elixir of the Gnostics (iksƯr al-a'rifƯn), Übersetzung von William C. Chittick, Provo, Utah 2003.

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„Sie [Zari] rezitierte ‚Ich erkenne den König in jedem Kleid…‘ Die erste Zeile habe ich vergessen.“ Der Mann [Yussof] trägt vor: ‚Solch Auge wünsche ich mir, das den König kennt und sei es in jedem Kleid, das er sein eigen nennt‘.“ (313)

Dieser paraphrasierte Vers stammt ursprünglich von Farid ad-Din Attar5 (gest.1221), wird aber auch wie in Savushun Dschelal ad-Din Rumi6 (gest. 1273) zugeschrieben. Durch intertextuelle Bezugnahme auf das Gedicht von Attar/Rumi wird im Roman an die poetische Verfahrensweise der Sufis mit ihrer De- und Rekonstruktion des kulturellen Sinnes und den daraus resultierenden Neuentwürfen angeknüpft, denen die Relativierung der strengen gesellschaftlichen und dogmatischen Konventionen entnommen werden kann. Eine solche Sichtweise der Sufi-Denker7 lässt sich beispielsweise anhand der diesem Abschnitt voran gestellten Verse von Rumi veranschaulichen. Darin werden in der Figuration vom getadelten Propheten und gelobten Hirten die Grenzen der Kultur von oben (Moses, stellvertretend für die höchste religiöse Instanz, die Prophetie) nach unten (zum einfachen Hirten) in kritischer Darstellung der dogmatischen Haltung zugunsten des sozial niedrig stehenden Hirten verschoben.8

 5

Mantiq at-tair 2010, 8.

6

Auch bei Rumi gibt es einen ähnlichen Vers an folgender Stelle: Massnawi, V. Buch 2001, 114, Vers 1551 f.

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In der Einleitung dieser Analyse wurde im Hinblick auf den Begriff Moderne auf die Rückführung der selbstreflexiven Ästhetisierung des Sinnes auf Charles Baudelaire hingewiesen. Dazu muss auch eine vorgeschichtliche Verflechtungsbeziehung berücksichtigt werden: die Bedeutung des sufisch-poetischen Denkens in Johann Wolfgang von Goethes Schaffen und auch der Vorschub, der damit der späteren Entwicklung der ‚Dichtung der Moderne‘ geleistet wurde (Hofmann 2006, 78 ff.; Graevenitz 1994, 85 ff.). So heißt es in Graevenitz‘ Schlussbetrachtung: „Er [Goethes Divan] öffnet eine engere deutsche Perspektive für den europäischen Kontext. In diesem Kontext erscheint der introspektive Konstruktivismus der ‚arabesken Lyrik‘ als eine Vorgeschichte zur Zukunft der Avantgarden.“ (Graevenitz 1994, 235)

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So wie in einer solchen Kritik die dogmatische Dimension der Gewalt (in der Figuration von Moses und Hirten), der offene Horizont des sufischen Denkens

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Der im Roman rezitierte Vers thematisiert die sufische Denkweise der Erkenntnis mittels des Herzens. In diesem Gedicht beschreibt der Sufi-Denker das Thema einer tiefgreifenden identifikatorischen Erkenntnis: Das Auge und das Herz dienen dabei als Beobachtungs- und Unterscheidungsinstrumente. Während das Auge nur das Äußere (das königliche Kleid) erkennen kann, bleibt die eigentliche Erkenntnis, die sich hinter dem Äußeren verbirgt, der Erkenntnis durch das Herz vorbehalten: das Königliche im übertragenen Sinne von edel, essentiell, damit also das Wesentliche des Menschlichen. Die polyphone Qualität von Sufi-Poesie bietet die geeignete Möglichkeit, durch diesen intertextuellen Einschub die Liebesbeziehung zwischen den Protagonisten der Romanwelt poetisch auszuhandeln. Das Zurückgreifen auf die sufisch-gnostische Methode der Erkenntnis bedeutet, dass der Akzent auf „das unterschiedliche Verhältnis zum Wissen und die abweichende Weise des Wissenserwerbs“ gesetzt wird (Gruber 1997, 18; kursiv im Original). Aus der medienphilosophischen Perspektive bedeutet die Bezugnahme auf den Sufismus mit seinen intersubjektiven Konzepten wie Liebe (e'šq) in Savushun die Aktualisierung eines alternativen Kommunikationsmodells. Durch Anwendung solcher intersubjektiven Konzepte werden im Roman neue Handlungsspielräume geschaffen, mit deren Hilfe es zu einer Relativierung der Subjekt-Objekt-Differenz kommt. Dies hat die Veränderung der kulturell vorgegebenen männlichen und weiblichen Subjektpositionen zur Folge, die letzten Endes eine Grenzverschiebung zugunsten des weiblichen Subjekts bedeutet. Wie entscheidend die Bedeutung der poetologischen Welterkenntnis der Sufi-Dichter im Roman ist, zeigt sich auch darin, dass diese Denktradition mit der platonischen Lehre in Verbindung gebracht wird. Dies wird an einer Textstelle deutlich, welche die inneren Veränderungen der Heldin nach dem Tod ihres Ehemannes beschreibt. Ein alter erfahrener Arzt aus dem

 und das Problem der ‚Übersetztbarkeit‘ von Rumi weit über das jüdischchristlich-islamische Monotheismus-Verständnis hinaus mit der Inklusion der aus der islamisch-dogmatischen Sicht ungläubigen ‚Sindi‘ und ‚Hindi‘ poetisch ausgehandelt wurde, so wäre es nicht obsolet zu fragen, welches ‚Islambild‘ bei den kulturhistorisch orientierten Analysen der Gewalt (wie etwa ‚Die Mosaische Unterscheidung‘ von Jan Assmann (2003)) zugrunde liegt: ein Rumi und SufiDenktradition inkludierendes?

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Bekanntenkreis untersucht Zari/Zarah und die beiden kommen anschließend ins Gespräch: „Ich [Arzt] weiß nicht wo ich das gelesen habe, daß die Welt ein dunkler Raum ist, in den wir mit geschlossenen Augen eingetreten sind. Wahrscheinlich öffnet einer von uns seine Augen. Vielleicht bemüht sich eine Gruppe, ihre Augen zu öffnen. Vielleicht hat jemand Glück, und ihm wird durch irgendein Licht, das durch irgendeine Öffnung dringt, der Weg erhellt, daß er für einen Moment alles sehen und verstehen kann. Ihr Mann war einer derjenigen, der von Anfang an vergessen hat, die Augen zu verschließen.“ (334 f.)

Der Arzt paraphrasiert bei diesem Gespräch das bekannte platonische ‚Höhlengleichnis‘. Er selbst ist Mitglied einer der Sufi-Gemeinden, der ‚Hafezianer‘ (338). Diese bekennen sich zu einer Denktradition, die auf den persischen Dichter Schams al-Din Mohammad Hafiz Schirasi (gest. um 1390) zurückzuführen ist. Zur Tradition des Arztes/Sufis gehören das Weintrinken und Musikspielen9 (338). Die Figur des Arztes personifiziert mit den ihr zugeschriebenen Tätigkeiten die literarische Verfahrensweise der Sufi-Dichter: die poetische Darstellung der Wirklichkeit. Es werden somit die Vorstellungen von einem Subjekt konzeptualisiert, das von den religiösen Normen abweicht bzw. diese in seiner Praxis überschreitet. In dieser Bezugnahme auf die Sufi-Tradition handelt es sich um die Suche nach alternativen ‚Vorbildmustern‘. Es sind im Sufismus bereits gewisse Anknüpfungspunkte an die Thematik der Subjektwerdung und somit auch an die Gender-Frage angelegt, die unter den Bedingungen des ‚modernen‘ Staates in manchen islamischen Ländern Bezugspunkte herstellen können. (Vgl. Malik 1995, 93) Im Roman Savushun bekommt die vorangegangene literarische Tradition der Sufi-Meister mit dem Hinweis auf die Mitgliedschaft in der SufiGemeinde einen Symbolcharakter. Das Allegorische wird dadurch zum Symbol, indem der Arzt/Sufi das geschriebene Wort der Dichter praktiziert. Manches Handeln der Romanfigur (wie Weintrinken oder Musizieren) zielt auf die Betonung der weltlichen Aspekte dieser Denktradition, die auch für

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Das Thema der Musik wurde in der deutschen Übersetzung vernachlässigt. Im Original (S. 287) wird über diese Gruppe gesagt: „sƗz wa tanbur ham darand…“, auf Deutsch etwa: „Sie haben Musikinstrumente u.a. auch Tanbur.“

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die poetische Darstellung der Welt der Sufi-Dichter charakteristisch sind. Daraus folgernd werden in DƗnešvars Rezeption der Sufi-Poetik im Roman die Bedeutung der sufisch-gnostischen Erkenntnis im Zusammenhang mit den individuell-weltlichen Aspekten ihrer Lebens- und Denkweise, wie Liebe, Wein und Musik hervorgehoben. Wie man die ambivalenten Aspekte der Sufi-Denktradition auch interpretieren mag, ihre tiefgreifende Wirkung in den islamisch geprägten Kulturen im Allgemeinen und in der iranischen Kultur im Besonderen ist nicht zu unterschätzen (Leaman 2004; Lewisohn 1999; Ardalan/Bakhtiar 1973). Die zentrale Bedeutung der Ästhetisierung des kulturellen Sinns lässt in den Sufi-Praktiken (einschließlich ihrer Schriften) die Möglichkeit für eine weltlich-profane und individuelle Selbstreflexion offen. Eine solche Weltsicht war die Ursache dafür, dass kulturgeschichtlich der Häresie-Vorwurf seitens der Orthodoxie die sufisch-gnostische Denkweise von jeher begleitete, was einige Sufi-Meister sogar das Leben gekostet hat. Auf die Bedeutung solcher Vielfältigkeit und Offenheit innerhalb der kulturellen Ordnung weist Oliver Leaman in seinem Buch Islamic aesthetics hin, indem er die Gemeinsamkeit der Kunst mit der Religion im Schlüsselkonzept “the concept of seeing one thing as something else” beschreibt. Zugleich macht er aber auch auf die Trennung zwischen Dogma und Sufismus mit der entscheidenden Rolle des letzteren für die Kunst aufmerksam: “What we should notice is that it should be strange to identify Sufism with such a dogmatic view. Sufism celebrates diversity, and acknowledges the openness of the world. To insist on a particular definition of Islam, of the meaning of artefacts, even of religious artefacts, is to betray these wider principles of Sufism itself. In particular, to demand that art has to be interpreted from a Sufi perspective is not a move that Sufis themselves should find acceptable.” (Leaman 2004, 11)

Aus dieser Perspektive bietet im iranischen Kulturkontext das sufisch-poetische Verfahren einen Vorbildcharakter für die Subjektivierung an, wie dies bei DƗnešvars Lektüre von iranischen Sufi-Denkern in ihrem Roman Savushun vollzogen wurde. Eine vergleichbare Betrachtungsweise hatte beispielsweise Michel Foucault über die Ideen des 922 hingerichteten SufiMeisters Mansur-e Halladsch, die ihn in seinen Vorstellungen über die Subjektkonstitution im Sinne von „Selbstsorge“ beeinflusst haben sollen (Jam-

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bet 1992, 243 ff.). Halladschs Leitspruch hieß ‚anƗ al-haqq‘, was so viel bedeutet wie ‚ich bin die (absolute) Wahrheit‘. Demzufolge ist DƗnešvars intensive Auseinandersetzung mit dem sufisch-gnostischen Denken10 in ihrem Roman unter der Schah-Regierung der 1960er Jahre eine besondere, wegweisende Leistung, die zwei entscheidende Wendepunkte markiert: Erstens werden im Hinblick auf das Thema Subjektivierung tragfähige Konzepte in Savushun entworfen, die in Abgrenzung zu dem emanzipatorischen fortschrittsorientierten linear verlaufenden Verständnis der Geschichte als eine alternative Form der ‚Selbstbehauptung‘ innerhalb der ‚ƤarbzadegƯ-Debatten‘ im Iran zu betrachten sind. Zweitens verzeichnet DƗnešvar mit ihrem Roman die Überwindung der abwertenden antiislamischen und sufismus-feindlichen Tendenzen mancher einflussreichen iranischen Intellektuellen wie Ahmad Kasrawi (1890-1946) und Sadeq Hedayat (1903-1951). Diese, überzeugt von der evolutionären, fort- und rückschrittlichen Modernesemantik‘,11 hatten das Sufitum als Kern des vermeintlichen ‚islamisch-arabischen Kultur-Imports‘, ursächlich für den vermeintlichen kulturgesellschaftlichen Rückschritt des Iran im Vergleich mit der modern-industriellen Welt diagnostiziert. Zudem lässt sich in DƗnešvars Roman Savushun zeigen, wie sie bei einem derartigen Neuentwurf über die beschränkten Vorstellungen von Nationalismus oder Nativismus hinaus kulturübergreifend die Wirkung der institutionalisierten Macht und Gewaltherrschaft in den Blick des Rezipienten rückt. Als Resultat einer solchen Darstellungsweise tritt die Wirksamkeit der gängigen Orientalismus-Okzidentalismus-Dichotomien (Jalal al-'Azm 1981; Boroujerdi 1996) zugunsten eines kosmopolitischen Menschenge-

 10 DƗnešvar betont im Interview mit Golshiri die entscheidende Rolle der Intution (šohud) in Savushun. Im Hinblick auf die Bedeutung der intuitiven Erkenntnis bringt sie Beispiele aus verschiedenen Strömungen der indischen und iranischen Mystik. Zugleich betont sie auch, dass sie zu keiner mystischen bzw. gnostischen Gruppierung gehöre (S. 11-13). http://www.bisheh.com/Uploaded/PostFile/634554116240738750.pdf (Zugriffsdatum 20.11.2013). 11 “[…] Kasravi's own understanding of modernism and his ‘rational‫ ތ‬theology most surely contributed to his tirades against Sufism.” (Ridgeon 2008, 93)

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schlechts in den Hintergrund. Dieser Aspekt wird abschließend anhand weiterer intertextueller Markierungen erläutert. Im Roman gibt es die Figur des irischen Dichters McMahon, der mit der Heldin korrespondiert. McMahon ist Kriegsberichterstatter (10) der englischen Besatzungstruppen, aber als Ire ist er zum engen Freund von Zaris/Zarahs Familie geworden. Er versucht, in seinen Gesprächen mit der Familie Gemeinsamkeiten zwischen Iran und Irland zu finden und zu betonen, wie es in seinem Gedicht „Baum der Unabhängigkeit“ zum Ausdruck kommt (16 ff; 46 f.). Der Wunsch beider Länder nach Unabhängigkeit von der englischen Besatzung verbindet sie. An einer weiteren Textstelle wird das Thema der Identitätsbildung in Abgrenzung zu den ‚kolonialen‘ Engländern beschrieben. Mit der Rezitation seines Beileidschreibens, das Zari/Zarah für ihre Familie ins Persische über-setzt und vor-liest, kommt der Roman zum Schluss: „Weine nicht meine liebe Schwester. In deinem Garten wächst ein Baum heran, Bäume in deiner Stadt und zahllose Bäume in deiner Heimat. Und der Wind wird die Botschaft eines jeden Baumes zum nächsten Baum tragen, und die Bäume werden den Wind fragen: ‚Hast du unterwegs die Morgendämmerung [Pers. Ssahhar12] gesehen‘?“ (358)

Dieses Beispiel mit geschlechtsspezifischen Merkmalen der Lese- und Schreibpraxis ist mit einem anderen intertextuellen Bezug zu betrachten, der die kolonialen Interessen vertritt. Eine Missionarsdelegation besucht Zaris/Zarahs englische Schule: „Und als Zari an der Reihe war, ihr Gedicht aufzusagen, kam ihr ohne Zutun statt ‚Wenn‘ von Kipling das Gedicht Samsons Blindheit über ihre Lippen: ‚Dunkel, dunkel, dunkel. In der strahlenden Mittagssonne‘.“ (185 f.)

Es zeigt sich ein dialogischer, intertextueller Prozess von Sinnproduktion mit den Momenten des Wieder- und Widerschreibens, des Umschreibens und des tragischen Kampfes eines fremden Textes (Kipling13), der durch ei-

 12 ‚Ssahhar‘ ist der Name von Khossrows Pferd im Roman; der Sohn des Romanhelden ist identisch mit dem Sohn von Siavush aus dem Epos. 13 Wenn, in: Kipling 1910, 200 f.

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nen anderen Text (von Milton14) palimpsestisch ersetzt wird (in Anlehnung an Lachmann 1990, 38 ff.). Das Spiel der Ersetzung des Kipling-Textes durch jenen von Milton markiert ein Moment des Widerstandes gegen die Kolonialisierung in der konstruierten Romanwelt. Die Prozesse des Aufschubs der Texte und deren Neu-ordnung öffnen gleichzeitig neue Möglichkeiten der Sinnkonstitution, von denen sich eine Spur wie folgt rekonstruieren lässt: Einerseits wird Bezug genommen auf die für ‚eigen‘ gehaltene iranische Tradition des Humanismus durch das Gedicht Attars/Rumis, über das die Liebesbeziehung zwischen Zari/Zarah und ihrem Mann angedeutet wird. Andererseits wird Miltons Gedicht (Samson Agonistes) als ein Referenzpunkt für die Vorstellungen von einem europäischen humanen Erbe herangezogen. Das Gedicht von Kipling steht im Zusammenhang mit den kolonialen Interessen der Engländer, Milton hingegen vertritt die ‚humane Stimme eines Freiheitskämpfers‘, der im Nachvollzug seines Läuterungsweges „die Katharsis des Textes“ bestehe (Weiß/Emig 2009, 314). Basierend auf solchen Kontrastierungen folgt die kritische Auseinandersetzung mit den kolonialen Machtinteressen, diesmal auf der intertextuellen Ebene. Mithilfe dieser Text-Text-Bezüge kommt es zur Verschiebung der Grenzen mit dem daraus resultierenden kosmopolitischen (Neu-)Entwurf, in dem die geistig-humane Weltsicht von Attar/Rumi bis Milton der Kolonialisierenden mit Kipling an der Seite gegenüber steht. Auf diese Weise werden zugleich zwei zentrale Aspekte der europäischen Kulturgeschichte angesprochen: die des Kolonialisierenden und die des Humanisten. Während in dieser neuen Ordnung in der Romanwelt ‚der Fremde‘ als Kolonialist (am Beispiel Kipling) ausgegrenzt wird, gilt der europäische Humanist als Resonanzboden des iranischen ‚Eigenen‘. Diese Grenzziehung schafft darüber hinaus einen Raum, in dem sich auch die ‚alte-einheimische‘ literarische Tradition (Epos) mit jener des ‚neu-entstehenden europäischen‘ (Romans) im iranischen Kulturkontext versöhnt. Die Mehrfachkodierungen stellen sich schließlich ostentativ im ‚Schlussstein‘ des Romans (im McMahons Beileid) dar, die in der Ausdrucksform der Fragestellung die dialogische Qualität und die Nichtabgeschlossenheit des Textes unterstreichen möchten: Die Figur des irischen Dichters schreibt (wieder) die Geschichte des ‚männlichen, gefallenen‘ Romanhelden (Opfer der anglo-

 14 Samson Agonistes, in: Milton 1978, 26.

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amerikanischen Putsches) nieder, die gleichzeitig über beide Motive Baum und Pferd (Morgendämmerung) mit dem Schicksal des ‚heroisch Gefallenen‘ des Epos (zweifache Opfer: des ‚eigenen‘ väterlichen Hauses und des ‚fremden‘ Feindes) verbunden wird. An diesen Neuentwurf knüpft die Heldin an, indem sie den Text für die Mittrauernden (Khossrow und Ammeh) in die ‚eigene‘ Sprache übersetzt: Im Prozess des Über-setzens und des Vor-tragens vollzieht sich ein intermediales Spiel mit dem Übergang von der textuell-schriftlichen zur mündlichen Tradition, von „zeremonieller“ zu „rituelle[r] Kommunikation“ (Assmann 1992, 142 f.). Das Resultat dieser Verschiebung mit darauffolgender Aneignung hat eine geschlechtsspezifische Bedeutung: Diese Position des Außerhalb- und Außenseiter-Seins, die sich im Anschluss an das Spiel der Verschiebung und Umschreibung verschiedener Text-Text-Bezüge befindet, ist eine Zwischenstelle (in Anlehnung an Bhabha 1997). An diesem Ort der außerhalb des Text-Zeichensystems gelegenen Leer-stelle, lässt sich eine Stimme erkennen, die die des Unterworfenen und Ausgeschlossenen repräsentiert und zugleich mit jener des Weiblichen zusammenfällt.



5 Zur Verschleierungspoetik und zur Politik des ‚zarten Geschlechts‘ (jens-e latƯf)1

„Wenn jener Schirazer Türke2 mein Herz in die Hand nähme, würde ich für sein Hindu-Mal3 Samarkand und Buchara4 wegschenken. (Hafiz 2004, 50; Übersetzung von Wohlleben)

Der Kleidercode dient gewissermaßen der Repräsentation der Geschlechtsidentität bzw. durch die Kleidung wird diese artikuliert. Die Kleidung verbirgt „den Körper und macht ihn erst gesellschaftlich ‚lesbar‘“

 1

Die performative Funktion der Sprache lässt sich am Beispiel der Transformation bestimmter wirksamer Metaphern für die Gender-Konstruktion zeigen. So ersetzt im aktuellen Sprachgebrauch des Persischen die Metapher ‚zartes Geschlecht‘ (‚jens-e latƯf‘) die ältere Version vom ‚schwachen Geschlecht‘ (‚jense zarƯf‘). Gemeinsames Bedeutungsfeld dieser beiden Metaphern ist die Suggestion einer gewissen Schutzbedürftigkeit des weiblichen Geschlechtes. Vgl. Das Wörterbuch von ‚Dehkhoda‘: (letztes Zugriffsdatum:

09.09.2010) http://www.loghatnaameh.org/dehkhodaworddetail-165d8a9f163b46008f1908b0

8af7b59a-fa.html 2

‚Der Türke ist der schöne Knabe; zugleich ist der Türke grausam. Der Vers ist auch lesbar in Bezug auf ein Mädchen‘.

3

‚Schwarzer Schönheitsfleck, bei Hafiz ein besonders erotisches Merkmal. Der ‚Inder‘ ist für den persischen Dichter ‚schwarz‘, der Türke ist ‚weiß‘. Das Ideal ist die raffiniert schöne Mischung‘.

4

‚Beides reiche Städte in Turkestan […]‘. (Alle Fußnoten zum Gedicht stammen aus der Übersetzung von Wohlleben 2004, 50)

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(Engel/Scholz 2005, 7). Ebenso ist die Bekleidung „als Körperhülle das zentrale Medium bei der Konstituierung der Geschlechterdifferenz“ (Gaugele 2002, 9). Bei den Diskussionen über Gender ist der performative Charakter der Geschlechteridentität das zentrale Thema, das in den Begrifflichkeiten von ‚doing‘ und ‚performing gender‘ ihren Ausdruck findet. Die Vorstellungen von ‚doing gender‘ tendieren dazu, vielmehr die Geschlechtlichkeit als ‚Gemachtheit‘ im ethnologischen Sinne zu betrachten, d.h. in einer interaktiven, intersubjektiven Form bzw. einer Selbstautorisierung ‚was Frauen und Männer tun‘ (Hof 2003, 344). Mit der Performativität sind die Zusammenhänge zwischen Sprechen und Handeln im Sinne der Sprechhandlungstheorie gemeint, wie mittels der sprachlichen Aussagen bzw. über eine Reihe von Vorschriften, Regeln und Sanktionen kulturell vorgegeben ist, was normal und akzeptabel bzw. was anormal und inakzeptabel zu sein hat. 5 Dies sind beispielsweise kulturelle Regulierungsmechanismen, zu denen in der iranischen Gesellschaft die Verschleierung des Weiblichen gehört. Der Schleier mit seiner später dazugekommenen islamisch-religiösen Konnotation6 ist wie „ein symbolisches Haus“ bzw. im Verhältnis zur heiligen Schrift des Korans ein „portatives Mutterland“ für die Gemeinschaft der Gläubigen (Braun/Mathes 2007, 302). Er zählt darüber hinaus als Teil der erweiterten und allgemeineren semiotischen ‚Überwachungsmechanismen‘ für die Regulierung der Geschlechterverhältnisse, zu denen auch der ‚Blick‘ und die ‚Stimme‘ gehören. Geht es um die körperverhüllenden Tücher, so „lebt die Semantik des Tuches von der Spannung zwischen Verbergen und Vorzeigen, von ‚Drunter‘ und ‚Drüber‘“ (Engel/Scholz 2005, 7). Wie der Schleier den weiblichen Körper vor dem nichtverwandtschaftlichen Blick (‚nƗmahram‘) schützen soll, so ist der Mann aber auch zu einem ‚abgewandten Blick‘ verpflichtet:

 5

Zum Thema Performativität, vgl. Loxley 2007; Auslander 2003.

6

„Weibliche Verschleierung und Absonderung sind keineswegs ursprünglich islamische Institutionen. Sie existierten in mediterranen Gesellschaften schon lange vor der Offenbarung des Korans: in antiken Gesellschaften in Orient und Okzident, in Griechenland und in Persien, in hellenistischen, byzantinischen und sassanidischen Reichen, und bei Juden, Christen und anderen Gläubigen. […] auch bei den vorislamischen polytheistischen Arabern!“ (Ammann 2004, 106) Mehr zum Thema Schleier und Verschleierung: Milani 1992; Braun/Mathes 2007; Keddie 2007.

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“[…] women must veil themselves in the presence of unrelated men and unrelated men must avert their eyes. In the aesthetics of veiling, the voice has a complementary function. […] However, veiling as a social practice is not fixed or unidirectional; instead, it is a dynamic practice in which both men and women are implicated.” (Naficy 2003, 139 f.)

Solch ‚komplementäre Ästhetik‘ von Stimme und Kleidervorschrift zeigt sich auch im Roman Savushun, indem die männliche Stimme über den Ruf ‚Ya-Allah!‘ [dt. etwa ‚Oh, Allah!‘] als ein Mechanismus dient, der als kulturelle Verhaltensnorm die Verschleierung des weiblichen Körpers regelt. Der männliche Ruf ist ein Zeichen, mit dem der fremde Mann z.B. bei seinem Eintritt ins Haus des Gastgebers die weiblichen Angehörigen des Haushalts dazu aufruft, dass sie sich ‚normgemäß‘ bekleiden bzw. verschleiern sollen. Das Beispiel zeigt die Dominanz des Kleidercodes einerseits und die Rolle des Mannes als Normstifter für die symbolische Ordnung und die Herstellung, Regulierung und Aufrechterhaltung der Geschlechterdifferenz andererseits. Das literarische Werk bietet in seiner Wechselbeziehung zu seinem Kontext eine Gelegenheit für die Beobachtung der kulturellen Dynamik, wie die Geschlechtlichkeit reguliert wird. Dabei ist die Literatur in ihrem semiautonomen Status zur Erfüllung gewisser vorgegebener staatlicher sowie kultureller Regelungen verpflichtet. Unter diesen Umständen sind zwei Aspekte zu berücksichtigen: a. dass es erforderlich ist, den produzierten Romantext Savushun unter Berücksichtigung der bekannten Formel autoritärer Regime‚ ‚die Schere im Kopf‘, zu lesen. b. dass die Rolle der kulturellen ‚Überwachungsmechanismen‘ einzukalkulieren ist, denen gegenüber die Frau ihren ‚neu erworbenen‘ Subjektstatus als ‚kulturschaffenden Initianten‘ zu legitimieren hat. Den Zusammenhang zwischen diesen beiden Aspekten beschreibt die Literaturwissenschaftlerin Farzaneh Milani in ihrer Analyse über das Werk von DƗnešvar wie folgt: “In Daneshvar's fictive world, as in her society, a disturbing disjunction exists between private and public. […] these private, sacred precincts both protect and imprison. The barriers that separate the private from the public take on an internal dimension. The sophisticated mechanisms which shield the inner self from exposure and intrusions also amputate and silence part of the self.” (Milani 1985, 337 f.)

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Solche ‚internalisierte Dimension‘ schlägt sich in der vielschichtigen Symbolsprache des Romans nieder, die im Folgenden anhand spezifischer Beispiele analysiert wird. Als erstes wird auf die Darstellungen im Hinblick auf die Kleidervorschrift und die Konsequenzen bei der Normabweichung eingegangen. Verdeutlichen die mehrfachen Codierungen des weiblichen Körpers mittels der Kleidervorschrift den akzeptablen und ‚normalen‘ Fall, so können umgekehrt aus der Perspektive des Normabweichenden und Ausgeschlossenen die Prozesse der Grenzziehung der kulturellen Ordnung besser beleuchtet werden. Daraus lässt sich die Quelle der Dynamik der Kultur zwischen ihrer Peripherie und dem Zentrum erkennen. In diesem Zusammenhang ist die Rolle der politischen und religiösen Ideologien insofern interessant, als vor allem in den Zeiten des sozialen Umbruchs die Kleidervorschrift von der dominierenden Ideologie geregelt und dabei auch gewissermaßen instrumentalisiert wird. Hierfür bekommt der Körper mit der ihn umhüllenden Bekleidung einen besonderen Symbolcharakter, indem er sozusagen als ‚Vorgriff einer neu entstehenden Kultur‘ dienen kann. Entscheidend ist, dass derartige soziale Umwälzungen aus der Innenperspektive der Kultur gesehen immer mit einer „Wertung“ bzw. Änderung gewisser Wertvorstellungen verbunden sind (Lotman/Uspenskij 1977, 1 ff.). Im Fall der iranischen sozialen und kulturellen Verhältnisse reflektieren sich solche Prozesse besonders in den staatlichen Imperativen von Ent- und Verschleierung der Frau, die sich zu einem komplexen und wirksamen Unterdrückungsmittel etabliert haben. So trat 1936 als ein Bestandteil des ‚Modernisierungsprojekt‘ Schahs das Entschleierungsgesetz in Kraft, das aber etwa zwei Jahre nach der Abdankung von Rezaschah im September 1943 rückgängig gemacht wurde: “[...] the veil became officially a matter of personal choice” (Chehabi 2003, 205; dazu auch Gronke 2006, 99 ff.). Vergleichbares geschah mit den Reformen des Thronfolgers, die im Rahmen der sogenannten ‚Weißen Revolution‘ von 1963 auf blutigen Widerstand stießen und infolge einer zum islamischen Gottesstaat führenden Revolution (zehn Jahre nach der Publikation des Romans Savushun) abgebrochen wurden, das die zwangsläufige Verschleierung des ‚zarten Geschlechts‘ nach sich zog.

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Als ein Beispiel des ‚Anormalen‘ in Savushun ist die in der Heilanstalt verortete7 Figur Fatuhi zu sehen, die die Sympathie der Erzählerin genießt: Zari/Zarah sammelt Zeitungen für sie und bringt diese am Wochenende samt der ‚Gelübdemahlzeit‘ zu ihr in die Heilanstalt. Die eingesperrte Figur Fatuhi wird nicht nur als Herausgeberin einer Zeitschrift und Verteidigerin der Frauenrechte beschrieben, sondern auch als eine Kritikerin des schwarzen Schleiers, den sie für ein „Leichentuch“ hält (129). Fatuhi tritt in der Romanwelt in der Rolle einer Grenzgängerin auf, indem sie den Schleier „gegen einen blauen moderneren Zuschnitts […] noch vor der offiziellen Verkündung der Entschleierung“ vertauscht (129). Aus ihrem Familienstand weiß man, dass sie einen Bruder hat, der „Geschichtslehrer“ (140) und Mitglied eines gewissen „Stab[s] der Werktätigen“ (233) ist. Bei einer Begegnung mit der Erzählerin in der Heilanstalt werden seine Einstellungen, z.B. wie er die Voraussetzung der Befreiung und Rettung der Individuen in den veränderten gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen sieht, in einem idealistischen Ton wiedergegeben: „Sie [Zari] hatte seit geraumer Zeit Wut auf ihn. Ohne Vorwurf sagte Fatuhi: ‚Wir müssen eine Gesellschaft aufbauen, in der niemandes Schwester verrückt wird. Die psychische Krankheit meiner Schwester ist ein Symptom einer kranken Gesellschaft. Wenn wir die Massen organisieren und die Macht übernehmen, dann wird jeder zu seinem Recht kommen‘.“ (256 f.)

Entsprechend der zugeschriebenen Persönlichkeitsmerkmale repräsentiert Fatuhi mit ihrem sozialistisch-marxistischen Familienhintergrund den Typus einer iranischen Intellektuellen, wie aus dem kulturellen und gesellschaftlichen Romankontext zu entnehmen ist: “Thus, in the 1940s and 1950s, the general outlook of the main body of Iranian intellectuals – whether Tudeh [Massen- oder Volkspartei, Y.K.], or non-Tudeh – was leftist, though not necessarily Communist.” (Katouzian 2003, 26) Die Figuration von Fatuhi als ‘Madwoman’ hält Milani für “a ‚double‘ for Zari” bzw. “a distorted mirror image of Zari´s own repressed desires and propensities for independence” (Milani 1992, 59). Eben in Übereinstimmung mit dieser Argumentation gelten auch die Aussagen von Mackenthun (in einem anderen Kontext), wenn sie beschreibt, wofür die litera-

 7

Zum Thema Verortung Vgl. Leutner/Erichsen 2003.

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rische Darstellung von ‘Madwoman’ stehen kann: „als Metapher und als Erinnerungsspur für oftmals verdrängte soziale und historische Tatbestände, die dem literarischen Diskurs zu unheimlich sind, um direkt artikuliert zu werden, die zu vergessen aber das politische Unbewusste verbietet“ (Mackenthun 2001, 70). Darauf aufbauend dient die Rhetorik der Geisteskrankheit dazu, die Problematik der Autonomiebestrebung der Frau unter den patriarchalen Strukturen der iranischen Gesellschaft auszuhandeln, die in der Darstellungsform einer eingesperrten Figur ihren Ausdruck findet: „[…] die Männer damals hatten nicht das Zeug dazu, eine Frau wie mich zu akzeptieren. Zuerst dachten alle, ich bin süß wie Honig und wollten sich gütlich tun. Kaum sagte ich ‚Laßt die Finger von mir‘ begannen sie mich zu verachten, war ich Luft für sie.“ (129) Zugleich kann man in der Figuration der ‘Madwoman’ mit dem sozialistisch-intellektuellen Hintergrund die Vorwegnahme der Unmöglichkeit der Realisierung der ‚Sozialismus-Utopie‘ ablesen. Dabei ist es gleichgültig, ob dies nun im Hinblick auf das Schicksal der Sozialstaaten oder das alternative ‚einheimische‘ Sozialsystem in der Romanwelt wäre, das scheitert, weil die handelnden Akteure erschossen oder gehängt worden. Folglich zeigt sich, wie sich DƗnešvar in ihrem Roman Savushun trotz der Einordnung in den globalen Kontext der ‚engagierten Literatur‘ (‘Emblem of Commitment’, Talattof 1997, 535) gezielt vom projektiven Verständnis der Moderne am Beispiel der Figurationen der dargestellten Geschwister abgrenzt mit den Extrempunkten: ‚idealistische Utopie‘ und ‚Wahnsinn‘. Inwiefern sich die Rhetorik der ‘Madwoman’ auf die Anerkennungsproblematik eines weiblichen Subjekts bezieht, lässt sich auch im Hinblick auf den autoritären gesellschaftlichen und kulturellen Kontext verdeutlichen, wenn sogar zur Regierungszeit des liberalen und nationalistischen Mossadeq das Wahlrecht der Frauen in den Hintergrund treten musste: “[…] the National Front stopped advocating for women’s voting rights because of resistance from clerical factions who were supporting the oil nationalization effort” (Poulson 2006, 272). Diese Darstellungen geben Kenntnis über den engen Zusammenhang zwischen Subjekt und Kleidercode, zwischen ‚Sozialem‘ und ‚Symbolischem‘. Daraus folgernd ist es wichtig, den Zusammenhang zwischen der dominierenden Rolle des Kleidercodes und dem gescheiterten ‚Sozialismusprojekt‘ des Romans näher zu betrachten. Der Romanheld Yussof fällt der Realisierung der gerechten Umverteilung der Güter zum Opfer. Das de-

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terministische Geschichtsverständnis (Abschnitt 2) zeigt sich auch in der Todesdarstellung einer anderen Romanfigur, Malak Ssohrab. Er wird als Rebell festgenommen und zum Tode verurteilt. Somit bleibt seine Opferrolle auf der intertextuellen Ebene im Epos wie im Roman kontinuierlich unverändert. Von besonderer Bedeutung ist, dass seine Todesszene mit der Darstellung einer Masse verschleierter Frauen zusammenfällt, als die Romanfigur vor ihren Augen zum Galgen geführt wird: „Jeder [Mann] trägt eine Schüssel auf dem Kopf. […] In jeder Schüssel liegt ein abgeschlagener Kopf, aus dem Blut strömt. […] Aber die Frauen haben sich so fest und gründlich in die Schleier eingewickelt, daß man nicht weiß, wo ihre Augen sind. Sie führen Malak Ssohrab zum Galgen.“ (304) Mit dieser Darstellung ist die exekutive Staatsgewalt in die Nähe der repressiven kulturellen ‚Überwachungsmechanismen‘ gerückt. Dabei wird die kollektive Dimension des verschleierten Weiblichen („fest und gründlich in die Schleier eingewickelt“) hervorgehoben. Dies knüpft dann an ein weiteres Bild8 der Unsichtbarkeit ihrer Augen an, die man als eine Problematisierung der Seh- und Erkenntnismöglichkeit, im übertragenen Sinne als eine Art symbolische ‚Blindheit‘ lesen darf. Daher ist diese Darstellung als Kontrast zu einer anderen Erkenntnisstufe in der Narration, dem in Abschnitt 4 diskutierten ‚Höhlengleichnis‘, zu verstehen. Anhand dieser erkenntnistheoretischen Gegenüberstellungen lässt sich erneut ablesen, wie das Terrain der Geschlechterverhältnisse ausgehend von der repräsentativen Rolle der Kleider zu einem zentralen Konfliktfeld zwischen den konservativen und progressiven Kräften geworden ist: Auf der einen Seite befindet sich die Macht der staatlichen Gewalt als Garant der zu unternehmenden Modernisierungspläne (Verwestlichung als Maßstab für den Fortschritt, als Ideal- bzw. Soll-Zustand), auf der anderen Seite die Macht der konservativen und repressiven Gesellschaftsstrukturen. Im Anschluss an die oben diskutierten Aspekte soll noch nach den Möglichkeiten der Verschiebung und Transgression (Stallybrass/White 1986) im Umgang mit diesen ‚Überwachungsmechanismen‘ in der dargestellten Welt gefragt werden. In diesem Zusammenhang lässt sich zeigen, wie über die ethnische Zugehörigkeit die Rolle des Weiblichen unter den

 8

Mit dem Begriff „Bild“ ist an dieser Stelle „die sprachliche Bildlichkeit“ gemeint bzw. „die metaphorisch figürliche Sprachverwendung“ (Vgl. Mitchell 1990, 32 ff.).

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patriarchalen Strukturen kulturgeschichtlich hinterfragt wird. Dies geschieht über die intertextuellen Bezüge zwischen dem Roman und dem Epos über die Figuration der indischen Frauenfigur Ssudabeh im Roman. Ssudabeh ist namentlich mit der Stiefmutter von Siavush aus dem Epos identisch. Die Bedeutung der historischen Rolle der Frau wird im Roman Savushun dadurch bekräftigt, dass Ssudabeh zusätzlich auch mit einer weiteren Erzählung aus der iranisch-islamischen Zeit (Sheikh Ssanan) intertextuell verknüpft wird (Abschnitt 4). Als Sünderin und Verführerin charakterisiert, dienen solche Figurationen aus männlicher Perspektive dazu, in ihrer Funktion als „Außer-ordentliche“ (Waldenfels 1997, 77 f.) die reguläre Gender-Ordnung erst zu konstruieren bzw. diese aufrechtzuhalten. Deren Gemeinsamkeit ist die Konstruktion eines verführenden, sündigen Weiblichkeitsbildes, welches dem jeweiligen männlichen Helden gegenübersteht. Im Roman ist Ssudabeh eine Inderin, Angehörige einer ethnischen Gruppe, die auch im Dienste der imperialistischen Truppen im Iran ist. Ihr kommt eine ambivalente Funktion zu, da sie als ‚fremde‘, nicht-iranische Frau zugleich Repräsentantin des Kolonialisierten und des iranischen Weiblichen ist. Die Bedeutung solcher Ambivalenz zeigt sich auch in ihrer sozialen Praxis als Tänzerin (‚raqƗseh‘), die aus der Sicht des Dogmas als reines Mittel zum Spaß (‚lahw wa la'eb‘) degradiert und somit mit Sanktionen belegt ist. In der Figuration von Ssoudabeh lassen sich die Spuren von Gegenwart und Vergangenheit im intertextuellen Bezug zwischen dem ‚traditionellen‘ Epos und dem ‚modernen‘ Roman aufdecken: Ssoudabeh ist im Epos die Stiefmutter von Siavush und verkörpert sexuelles Begehren; sie ist mitverantwortlich für Siavushs Vertreibung und seinen darauffolgenden Tod in der Fremde. Im Roman ist sie eine indische Tänzerin und gekennzeichnet durch ihre uneheliche Beziehung mit dem hochrangigen Theologen und Vater des Romanhelden Yussof. Ssoudabehs Darstellung aus männlicher Perspektive mit ihrer verführerischen Rolle und der daraus resultierenden Vertreibung des Siavush, die schließlich seinen Tod in der Fremde zur Folge hat, verkörpert im Epos das sexuelle Begehren. Entsprechend ihrer Rolle eines ‚bösen‘ Weiblichen bzw. einer ‚bösen‘ Stiefmutter fällt sie schließlich dem Racheakt des Helden des Epos, Rosstam, nach dem Tod von Siavush zum Opfer: “[...] he dragged Sudabeh from Kavus´s harem and killed her for her part in the young prince´s downfall” (Schahnameh; zitiert nach Davis 2006, 280).

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Aus weiblicher Perspektive wird Ssoudabeh im Roman aus dem voyeuristischen Blick der Frauenfigur Ammeh folgendermaßen wiedergegeben: „Über der Oberlippe hatte sie ein schwarzes Muttermal. Sie hatte dunkle Haut. Besonders hübsch war sie nicht. Klein war sie auch. Sie hatte langes Haar und ihre Augen hatte sie mit Antimon schwarz umrandet. Wenn sie ernst war, sah sie aus wie eine Eule. Aber wenn sie lachte, hatte man das Gefühl, ein ganzer Strauß Blumen ergieße sich aus ihrem Mund. Alle Gäste, Männer und Frauen, standen um den gepflasterten Platz und klatschten Beifall. Man hätte denken können, sie sei nackt und nur mit funkelnden Juwelen bedeckt. Aber sie war nicht nackt. Sie trug ein glitzerndes Oberteil über einem hautfarbenen Trikot [Persisch: fleischfarben!9], das ihren ganzen Körper bedeckte. Ich hatte Ssoudabeh noch nie tanzen sehen. Es war schon außergewöhnlich. Sie bewegte alle Wirbel ihres Körpers. Schultern, Bauch, Augen, Augenbrauen. Sogar ihr Kinn, ihre Nase, ihre Ohren, ihre Pupillen tanzten mit. Sie bewegte sich, als tanzte sie auf einem männlichen Körper [Persisch: Leichnam eines Mannes!10].“ (86) [Hervorgehoben von Y.K.]

Mit überhäufter Symbolkraft gehen die unterschiedlichen Textebenen in der Traumlogik mit ‚Verdichtung‘ und ‚Verschiebung‘ ineinander über. Die absoluten Schönheitsideale einer Geliebten in der traditionellen persischen Literatur (wie indisches Muttermal11, langes Haar12, schwarze Augen, ein lachender Mund wie ein Blumenstrauß) sind Bestandteile dieser körperbetonten erotisierenden Darstellung. Der Tanz wird zu einer alternativen Sprache für die Verschiebungen und De-Platzierungen der kulturell vorgegebenen stereotypen Fixierungen des Weiblichen bei den Extremen von

 9

„rang-e gušt“ (Savushun 2001, 72).

10 „jasad-e mard-i“ (Savushun 2001, 72). 11 Z.B. im voran gestellten Vers von Hafiz in diesem Abschnitt. 12 Beispielsweise die Darstellung von Farangis (der Frau Siavushs) in Schahnameh, nachdem sie die Todesnachricht von Siavush bekommt: „Farangis [löste] [ihre] langen Moschuszöpfe (kamand), sie schnitt sie ab und band die Hüften mit den Zöpfen, mit den Nägeln verletzte sie die Rosen und die Judasblüten.“ [Damit ist ihr Gesicht gemeint, vgl. Dabir Sayaghi 2004, 177]; (Schahnameh 2002, 127; Übersetzung von Kanus-Credé)

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‚gut‘ und ‚böse‘: lächelnd vs. ernst, Blumenstrauß vs. Eule13 und zugleich kunstvoll und gelobt als Schönheitsideal, unterworfen ihrer binären Logik der Repräsentation „beides zur gleichen Zeit zu sein!“ (Hall 2004, 112 f.; kursiv im Original). Im Zusammenspiel der schriftlichen Darstellung und der tänzerischen Bewegung treten zwei unterschiedliche Medien einander gegenüber, zwei Zeichensprachen der Kultur. Kultursemiotisch gesprochen hält man die Sprache für den „strukturell prägenden Mechanismus“ der Kultur, die vom „strukturiertesten“ Zentrum zu den „Quasi-Strukturen“ der Peripherie organisiert ist (Lotman/Uspenskij 1986, 855 f.). Solche mediale Differenzierung dient zugleich auch zur Markierung der geschlechtlichen Hierarchie: von dem ‚strukturiertesten‘ männlichen Zentrum zu dem ‚quasi-strukturierten‘ peripheren Weiblichen, von der Sprache zum Tanz. In seiner kommunikativen Funktion drängt der Tanz während der Aufführung temporär den zentralen Mechanismus der Sprache mit ihren normativen Regulierungen in den Hintergrund. Damit kommt es über das alternative ‚Medialsystem‘ des Tanzes zur Verschiebung der kulturell vorgegebenen Geschlechterhierarchien. Stimmt man dieser Argumentation zu, dann wären auch in den medial-körperlichen Vorführungen die Spuren einer symbolischen ‚Kastrierung‘ des Männlichen lesbar, indem die Bewegungen der Tänzerin so beschrieben werden, als tanzte Ssoudabeh auf dem „Leichnam eines Mannes“ (86). Schließlich vollzieht sich im festlichen Ende dieses Karnevalesken (in Anlehnung an Bachtin und Lachmann 1990) die Umkehrung der dominierenden, monostimmigen, männlichen Ordnung, indem der Repräsentant der dogmatischen religiösen Autorität in der Romanwelt vor den anwesenden Gästen auf dem Platz in der Dienerrolle des Ausgegrenzten, Fremden und Kolonialisierten dargestellt wird: „Und ich sah, wie mein Vater, der oberste Geistliche der Stadt, ihr [Ssoudabeh] mit einem Fächer Kühlung verschaffte.“ (86) [Hervorgehoben von Y.K.] Auffallend ist, wie über ein solches intermediales Spiel das Erkenntnisinteresse im betonten Akt des Sehens durch die Erzählerin und in der damit gekoppelten raumsemantischen Dimension des Platzes, als öffentlicher Raum der Kultur sichtbar und sagbar gemacht wird. Das Ergebnis

 13 Im Persischen ist die Eule als ‚Unglücksbringerin‘ negativ konnotiert. Vgl. Das Wörterbuch von Dehkhoda http://www.loghatnaameh.org/dehkhodaworddetailfef2924c0a9c4f869e8bc1ef16c21884-fa.html (Zugriffsdatum: 5.10.2013).

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solcher karnevalesken Darstellung der Ereignisse mit ihren utopischen Charakterzügen (Lachmann 1990, 222 ff.) ist in der Romanwelt eine temporäre Veränderung in den kulturell vorgegebenen Geschlechterhierarchien von hoch und niedrig. Betrachtet man die Literatur in ihrer doppelten Funktion von ‚Fiktivem‘ und ‚Realem‘, von ihrer dichterischen und gesellschaftlichen ‚Gemachtheit‘, so ist zu fragen, welche Bedeutungsinhalte noch im Rahmen einer derartig überladenen Symbolsprache ausgehandelt und vorgeführt werden. Aus weiblicher Perspektive kann solche ‚detailgetreue‘ Darstellung der Tanzszene mit der Fokussierung auf die Körperglieder als Kritik der Repräsentationsfrage unter den patriarchalen Strukturen, im Sinne von Vergegenwärtigung der historischen Fixierung des Weiblichen als Objekt des männlichen Begehrens (Bronfen 1995, 409 ff.; Spivak 1994, 66 ff.) gedeutet werden. Solch eine Inszenierung könnte man auch als ‚Deckerinnerung‘ für erotische Wünsche bzw. kompensatorisch als Wunscherfüllung für eine freie unkonventionelle Liebe, die auf der degradierten und ‚tabuisierten‘ Werteskala der offiziellen Kultur liegt, interpretieren. Ein Beispiel für solch eine unkonventionelle Liebe ist im Roman die Darstellung der ‚normabweichenden‘ unehelichen Beziehung zwischen ‚Ssoudabeh‘ und dem Geistlichen ‚Haj Agha‘. Ihre allegorische Deutung lässt sich als ein Hinweis auf den ‚doppelten Bezugsrahmen‘ der iranischen Kultur interpretieren: ‚Haj Agha‘ und ‚Ssudabeh‘ sind jeweils die Repräsentanten eines kulturellen Zeichenrepertoires, eines ‚Repräsentationsregimes‘ in Stuart Halls Vokabular: eines der islamischen (‚Haj Agha‘) gegenüber dem anderen der vorislamischen Kultur (‚Ssudabeh‘). Diese Unterscheidung ist für das Verständnis der iranisch- islamischen Kultur von besonderer Bedeutung. Die wirksame Dynamik solcher Doppelung lässt sich vermutlich am deutlichsten im Iran des 20. Jahrhunderts in den vom Schah und von den Mullahs praktizierten Regierungsformen beobachten: glorifizierte sich die erste (PahlaviDynastie 1925-1979) als Nachfolger des einstigen vorislamischen Perserreiches, so versteht sich die zweite als Realisierung eines schiitischen ‚Musterstaates‘ unter theologischer Schirmherrschaft als Islamische Republik (Hajatpour 2002). Es liegen also zwei verschiedene Identitäts-Vorstellungen von einem Kollektiv vor, die antagonistische Einstellungen zu einer historischen Realität (die ‚Islamisierung‘ oder der Übergang des vorislamischen Iran in das

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islamische Reich im siebten Jahrhundert n. Chr.) haben. Die Dynamik dieser beiden politischen und religiösen Kräfte ist an sich aber keinesfalls ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Deren Ursprung ist vermutlich besonders auf die widersprüchliche Funktionalisierung der persischen Sprache nach der Islamisierung als erste „islamisierte Sprache“ (Fragner 1999, 27 f.) zurückzuführen. Mit dieser neuen zugewiesenen Funktion wurde zum einen das Überleben der persischen Sprache (neben dem Arabischen als Sprache der Offenbarung), seitens der politisch-religiösen Herrschaft gewährgeleistet. Zum anderen bedeutete dies zugleich aber auch das Fortleben des Zeichenarsenals der ‚untergegangenen‘ Kultur, wovon vor allem die künstlerische Imagination profitieren konnte: „Es muß festgestellt werden, daß sich in Fällen, arabisch-persischer Analogie der jeweiligen Domäne dennoch Unterschiede feststellen lassen. Einem Minus an Gelehrsamkeit war im Falle des Persischen von früher Zeit an ein Plus von Unterhaltsamkeit gegenübergestanden.“ (Fragner 1999, 50) Ein solches ‚Plus von Unterhaltsamkeit‘ für die persische Sprache lässt sich anhand zweier literarischer Beispiele deutlich machen: an dem Nationalepos Schahnameh und dem Roman buf-e kur (Die blinde Eule): Schahnameh liefert einen aussagekräftigen Beweis für den widersprüchlichen Charakter des doppelten Bezugsrahmens der iranischislamischen Kultur. Dies zeigt sich darin, dass der persisch sprechende Dichter Abolqasem Ferdowsi im 10./11. Jahrhundert (n. Chr.), dreißig Jahre seines Lebens damit verbrachte in über 50.000 Versen die politisch und religiös vergangene kulturelle Ordnung in seinem Königsbuch (Schahnameh) zu glorifizieren und zu verewigen: „Allerdings war das auf die altiranische Religion gebaute Stolzgefühl von demjenigen, welches die iranische Vergangenheit hervorrief, nicht zu trennen. […] Firdausis Anschauung der Vergangenheit entbehrt der Einheitlichkeit, da er Verehrer der iranischen Vergangenheit und Muslim zugleich ist.“ (Rypka 1959, 163) Das zweite Beispiel, das die entscheidende Wirksamkeit solcher kulturhistorischen Besonderheit des Iran im Hinblick auf ihren widersprüchlichen dualen Charakter als islamisch und nicht-islamisch im Sinne von zoroastrisch, vorislamisch, pagan oder wie man es nennen mag, deutlich machen kann, ist der Roman buf-e kur (Die blinde Eule) von Sadeq Hedayat (19031951). Hedayats Roman gilt mit seiner sprachlich vielschichtigen symbolbeladenen „Alptraumlogik“ als der „bedeutendste Beitrag der neupersischen Erzählprosa zur Weltliteratur“ (Scharf 2006, 116). In dieser “psycho-

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fiction” (Katouzian 2008, 10 f.) lassen sich im mörderisch dargestellten Kampf die Spuren der dichotomisch aufgelegten Identitätsmuster innerhalb dieses doppelten Bezugsrahmens wiedererkennen: die degradierte islamisch konnotierte Facette steht als Projektionsfläche der anderen idealisierten vergangenen, vorislamischen kulturellen Ordnung gegenüber (Katouzan 2008, 90 f.; Beard 1990; Ajudani 2006). In Kontrast zu einer solchen poetisch historiografischen Sinnkonstitution lässt sich die besondere Leistung DƗnešvars über die identitätskonstruierenden Dichotomien im regionalen und global-transkulturellen Kontext hinaus, besser erkennen. Dies zeigt sich darin, wie es DƗnešvar gelang, sowohl über die Debatten um Exklusion und Inklusion des Islams, als auch jene des Orientalismus-Okzidentalismus (Jalal al-'Azm 1981; Boroujerdi 1996) neue Möglichkeitsräume in ihrem Roman Savushun zu entwerfen, über deren Besonderheiten im Rahmen dieser Analyse als eine alternative Moderne diskutiert wurde.

Zweite Momentaufnahme: Spanien unter der Franco-Regierung L A PLAÇA DEL D IAMANT VON M ERCÈ R ODOREDA I G URGUI 

1 Literarische Praxis und die Erfahrung des Exils

Den Roman La plaça del Diamant schrieb Rodoreda im Genfer Exil. In einem Interview über ihre Exilerfahrungen äußerte sie sich wie folgt: “Writing Catalan in a foreign country is the same as hoping for flowers to bloom at the North Pole.”1 (Zitiert nach Nichols 1986, 407) An einer anderen Stelle spricht Rodoreda über ihre harten Erfahrungen im Exil, an die sie sich nur ungern erinnert.2 Zunächst eine kurze Biografie der Autorin: Mercè Rodoreda wurde am 10. Oktober 1908 in Barcelona geboren und wuchs als Einzelkind in einer ständig von Geldproblemen bedrohten Familie auf. Ihre schulische Ausbildung musste sie mit neun Jahren abbrechen, um ihren Großvater zu pflegen. Den Abbruch ihrer regulären Schulausbildung konnte sie jedoch mit seiner Hilfe überwinden, er unterstützte sie beim Lernen zu Hause. Der Großvater, vor allem dessen Stolz auf die katalanische Sprache und Kultur, spielte eine entscheidende Rolle in der Kindheit Rodoredas, wenn z.B. in ihrer Biografie (Casals i Couturier 1991, 36 f.) von seinem euphorischen Wunsch nach einem freien, unabhängigen Katalonien die Rede ist, den er bei Festlichkeiten äußerte. Ebenso wichtig ist seine Verehrung des katalanischen Dichters Jacint Verdaguer, mit dem er befreundet war, und dessen Texte er Rodoreda vorlas (Davis 1998, 213).

 1

„Escriure en catalá a l'exili és com voler que floreixin flors al Pol Nord.” (Zitiert

2

„Com el de tots, el meu exili ha estat dur: una mica massa per a tenir moltes ga-

nach Ibarz 1991, 87) nes de recordar-me'n.“ (Zitiert nach Nichols 1986, 406)

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Er erklärte sogar die Hommage an diesen Dichter zu einer universellen Sache.3 Von solchen Erlebnissen mit dem Großvater wurden Rodoredas Kindheitserinnerungen geprägt.4 Zwei Aspekte sollen an dieser Stelle festgehalten werden: Zum einen gilt Verdaguer als Gründer der modernen katalanischen Literatur;5 zum anderen sind „mit Jacint Verdaguer und Josep Carner zwei der bedeutendsten katalanischen Lyriker aus den ‚Jocs Florals‘ hervorgegangen […]“ (Hina 1978, 112). (Mehr zur Bedeutung von ‚Jocs Florals‘ an anderer Stelle). Im Alter von zwanzig Jahren heiratete Rodoreda ihren vierzehn Jahre älteren Onkel Joan Gurguí Guárdia. Aus dieser Verbindung ging ein Sohn hervor. Schon bevor die Autorin im Jahr 1937 ins Exil ging, lebte sie nicht mehr mit ihrem Mann zusammen. Sie blieb aber im Exil in Kontakt mit ihrem Sohn und ihrer Mutter: “Yet Rodoreda had never sought divorce or separation from her own husband and was constantly in touch with her mother and son.” (Davis 1998, 215) Der Einfluss des Ehemanns auf das weitere Leben von Rodoreda lässt sich aus ihrem biografischen Werk von Casals i Couturier (Mercè Rodoreda: contra la vida, la literatura; biografia) entnehmen. Diese verweist auf das sehr unfreundliche Benehmen des Mannes bezüglich der Autorisation für die Auszahlung des 1957 gewonnenen Víctor-Catalá-Preises an Rodoreda6. (Casals i Couturier 1991, 192). Die schriftstellerische Karriere Rodoredas begann 1932 mit der Publikation des Romans Sóc una dona honrada? (Bin ich eine anständige Frau?). Bereits in ihrem Erstlingsroman thematisiert Rodoreda die Problematik der schreibenden Frau unter den männlich dominanten Verhältnissen in ihrer gesellschaftlichen Umgebung. Sie richtet ihre Kritik auf die konservativen Einstellungen der katalanischen Denker wie Eugeni d'Ors, der die Frau in seinem Buch Ben Plantada als “idealized Virgin Mother” thematisierte (Arkinstall 2004, 23). Darüber hinaus veröffentlichte Rodoreda Erzählungen in der katalanischen lokalen Presse, z.B. in La Publicitat, Mi-

 3

„[…] que retre homenatge a Verdaguer és ‚una causa universal‘“ (Casals i Couturier 1991, 37).

4

„A la Mercé aquestes sortides del su avi li semblen magnífiques i divertides.“ (Casals i Couturier 1991, 37)

5

„[…] és considerat el fundador de la literatura catalana moderna“ (Bou 2000, 760).

6

„[...] en uns termes del tot desagradables“ (Casals i Couturier 1991, 192).

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rador und Clarisme. Bei Letztgenannter war sie auch als Journalistin tätig. Sie pflegte Kontakte zu verschiedenen Schriftsteller- und Intellektuellengruppen in Barcelona wie ‚Colla de Sabadell‘ (‚Sabadell-Gruppe‘) (Casals i Couturier 1991, 77 f.). Dabei ist zu bedenken, dass sie aufgrund ihrer unterbrochenen Schulbildung und den damit verbundenen sprachlichen Barrieren von vielen anderen Kollegen in der Zeit vor ihrem Exil nicht ernstgenommen wurde, wie dies Davis (in Anlehnung an Casals i Couturier 1991) hervorgehoben hat: “[...] she [Rodoreda] had no access to the literary circles of her time” (Davis 1998, 213). Für ihren 1937 erschienenen Roman Aloma (dt. Aloma 19917) erhielt sie den Crexells-Preis, der für katalanische Literatur verliehen wurde. Der Roman, den Rodoreda 1969 überarbeitete, erzählt vom Erwachsenwerden der jugendlichen weiblichen Protagonistin Aloma in einer ständig wachsenden Stadt. Er beschreibt die Entwicklung einer durch ihre städtische Umgebung beeinflussten weiblichen Identität. Am 23 Januar 1939, vor der endgültigen Machtergreifung durch General Franco, ging die Autorin ins Exil. Sie verließ Barcelona in einem ‚Bibliobus‘ des Instituts der katalanischen Literatur mit einer Gruppe von katalanischen Schriftstellern und Intellektuellen. Darunter waren auch Obiols, ihr künftiger Lebensgefährte, und Anna Murià, ihre langjährige Freundin. Ihr Briefwechsel wurde unter dem Titel Mercè Rodoreda: Cartes a l'Anna Murià, 1939-1956 veröffentlicht. Die Gruppe kam nach Frankreich, wo sie nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besetzung mehrmals gezwungen wurde, ihren Aufenthaltsort zu wechseln. Ende 1953 ging Rodoreda nach einer Zeit gesundheitlicher Probleme zur Rehabilitation in die Schweiz. Anschließend zog sie zu ihrem Lebensgefährten Armand Obiols nach Genf. Obiols gehörte zu den katalanischen Schriftstellern im Exil, die für die Publikation der Zeitschrift Revista de Catalunya verantwortlich waren. Diese Zeitschrift gilt als eines der renommiertesten Organe für die katalanische Sprache und Kultur, das vor dem

 7

Die Angaben hinsichtlich der deutschen Übersetzungen von Rodoredas Werken sind der deutschen Nationalbibliothek entnommen (letzter Zugriff 09.12.2013): https://portal.dnb.de/opac.htm?method=showNextResultSite¤tResultId= %20Woe%20%253D11898019X%2526any¤tPosition=0

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Bürgerkrieg in Barcelona und danach im Pariser Exil erschien8. Rodoreda kehrte zum ersten Mal im Juni 1949 nach Barcelona zurück, um ihre Mutter und ihren Sohn zu besuchen (Casals i Couturier 1991, 161). Im Jahr 1972, ein Jahr nach dem Tod von Obiols, kam sie aus dem Exil nach Romanyà de la Selva in Girona zurück und ließ sich dort nieder (Ibarz 1991, 133). Die erste Zeit des Exils hatte negative Auswirkungen auf die schriftstellerische Tätigkeit Rodoredas.9 Während dieser Zeit beschäftigte sich Rodoreda mit Malerei und Poesie. Ihre Gedichte erweckten besondere Aufmerksamkeit, sie erhielt für sie als Anerkennung mehrere Auszeichnungen, u.a. im Jahr 1949 (in Montevideo) die Auszeichnung ‚la Mestra en Gai Saber‘ (‚Meister der Poesie‘), die jährlich für die katalanische Literatur verliehen wird (Casals i Couturier 1991, 152). Der Anlass für diese Preisverleihung bestand darin, dass Rodoreda in den Jahren 1947 bis 1949 drei Mal den Dichterwettstreit ‚Jocs Florals‘ (dt. ‚Blumenspiele‘) gewonnen hatte, der 1859 in Barcelona ins Leben gerufen worden war. Die Wiederbelebung dieser Zeremonie ist als Bestandteil der identitätsstiftenden Elemente für die katalanische Kultur zu betrachten, die sich in Anknüpfung an eine Tradition aus dem 14. und 15. Jahrhundert zu legitimieren versuchte. Der Dichterwettstreit ‚Jocs Florals‘ entstand im Anschluss an eine bedeutende katalanische Bewegung der ‚Renaixença‘ (‚Renaissance‘), im Sinne einer katalanischen Wiedergeburt: “With the second half of the nineteenth century came the Renaixença, a remarkable revival of Catalan as a language of literary creation.” (McRoberts 2001, 8) Von 1956 an kann man von einer neuen Phase in Rodoredas schriftstellerischer Tätigkeit sprechen. Dies ist einerseits als Folge ihrer gesundheitlichen Rehabilitation in Genf und der Verbesserung ihrer Lebensumstände zu betrachten, was sich auf ihr künstlerisches Schaffen positiv auswirkte; andererseits spielte es eine Rolle, dass in Barcelona seit 1956 ohne staatliche Genehmigung ‚illegal‘ Preise für katalanische Literatur ausgeschrieben wurden. So bekam Rodoreda 1956 den Joan-Santamaria-Preis für die Erzählung Carnaval und 1957 den Víctor-Català-Preis für die Samm-

 8

„La represa de la ‚Revista de Catalunya‘ no deixa de ser un capítol dels més sinuosos de la história de la cultura catalana a l'exili.“ (Casals i Couturier 1991, 133)

9

„Entre 1940 i 1956, Rodoreda va passar llargs períodes de sequera.“ (Ibarz 1991, 15)

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lung Vint-i-dos-contes (dt. Zweiundzwanzig Erzählungen) (Casals i Couturier 1991, 191 f.). Im Anschluss an diese Phase begann Rodoreda 1959 mit der Arbeit an dem Roman La plaça del Diamant (dt. Auf der Placa del Diamant 1979), welcher 1962 erschien und zu ihrem Weltruhm beitrug. Außer La plaça del Diamant gehören die folgenden Werke zu ihren wichtigsten: El carrer de les Camèlies 1965 (dt. Die Kamelienstraße), Mirall trencat 1974 (dt. Der zerbrochene Spiegel 1982) sowie zwei Publikationen aus dem Jahr 1980: die Sammlung Tots els contes (dt. Alle Erzählungen) und der Roman Quanta, quanta guerra… (dt. Weil Krieg ist 2007). Für diesen letzten Roman erhielt Rodoreda den Kritikerpreis der Zeitschrift Serra d'Or. Für die Erzählung Viatges i flors (dt. Reise ins Land der verlorenen Mädchen 1981) bekam sie den Ehrenpreis der Katalanischen Literatur und den Preis der Stadt Barcelona. Mercè Rodoreda starb am 13. April 1983 in Girona in Katalonien. Im Jahr 1959 begann Rodoreda im Genfer Exil an dem Manuskript Colometa zu arbeiten, aus dem der Roman La plaça del Diamant entstand, der im März 1962 publiziert und im April 1964 mit einigen Änderungen zum zweiten Mal in Barcelona aufgelegt wurde (Casals i Couturier 1991, 216). Im Herbst 1959 sendete Rodoreda den Roman mit dem Titel Colometa für das Preisausschreiben von ‚Sant Jordi‘ ein. Trotz erfolgloser Teilnahme an diesem Wettbewerb erhielt Rodoreda das Angebot von Joan Sales vom Verlag ‚El Club dels Novellistes‘, ihr Werk zu lektorieren. Das Lektorat von Sales spielte bei der Revision des Romans eine sehr wichtige Rolle. Casals i Couturier spricht in ihrer Biografie über Rodoreda gar als ‚eine magische Erscheinung‘.10 La plaça del Diamant ist ein populärer Roman, nicht nur im katalanisch-, sondern auch im spanischsprachigen Raum. Dies kann man beispielsweise einer Aussage Gabriel García Márquez’ entnehmen,11 in der er dieses Werk als den besten Roman bezeichnet, der nach dem Bürgerkrieg in Spanien publiziert wurde. Die Popularität eines literarischen Werkes ist Ergebnis verschiedener kultureller Prozesse. Dabei kommt den literaturkritischen Unternehmen mit der damit verbundenen Frage der Kanonisierung literarischer Texte sowie

 10 „L'aparició mágica d'un editor“ (Casals i Couturier 1991, 203 ff.). 11 „[...] la más bella [novela] que se ha publicado en España despues de la guerra civil“ (zitiert nach Nichols 1986, 406).

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ihrer Übersetzung in andere Sprachen als überregionale, transnationale Prozesse von interkulturellem Austausch und dem Wissenstransfer eine wichtige Rolle zu. La plaça del Diamant wurde in über zwanzig Sprachen übersetzt, u.a. auch im Jahr 1965 ins Spanische als Rodoredas erstes Werk. Dies geschah, obwohl Joan Sales, der Lektor, bereits im Erscheinungsjahr des Romans in einem Brief an Rodoreda (vom 29. August 1962) seine tiefe Unzufriedenheit darüber artikulierte, dass sich verschiedene Verlage aus dem Ausland (englische, französische, deutsche usw.) für die Übersetzung von La plaça del Diamant interessiert haben sollen, es jedoch bis zu jener Zeit keine Anfrage seitens der Verlage im spanischsprachigen Raum, ‚Castellano‘, gäbe.12 Obschon Sales’ Aussage auf die kulturellen Grenzmarkierungen zwischen Katalanischem und dem Kastilischen innerhalb der spanischen Verhältnisse verweist, findet die erste Übersetzung von La plaça del Diamant 1965 ins Spanische statt und erst danach, 1967, folgt die englische (Davies 1998, 216). Die deutsche Übersetzung dieses Werkes erschien erst im Jahre 1979. Das Buch wurde 1982 in Spanien von Francesc Betriu verfilmt. Im Entstehungsjahr des Romans gab es sowohl positive als auch weniger positive Kritiken. So betrachtet ihr Lebensgefährte Obiols (der Herausgeber der Zeitschrift Revista de Catalunya) ihn als eines der besten literarischen Werke überhaupt und bezeichnet ihn als „Wunder“ („miracle“) (Casals i Couturier 1991, 223). Ein anderer katalanischer Kritiker hält den Roman für „ein absolutes Meisterwerk“.13 Wichtig erscheint mir zu erwähnen, dass die Äußerungen mancher bekanntester Kritiker (wie Miquel Dolç und Joan Fuster) im Erscheinungsjahr des Romans nicht nur auf Reaktionen der Autorin stießen, sondern auch zu solchen von Sales (Verleger) und Obiols führten (Casals i Couturier 1991, 225 f.). Joan Fusters Kritik tendierte beispielsweise vielmehr dazu, den Roman in erster Linie geschlechtsspezifisch als ‚Arbeit einer Frau‘ statt in Anerkennung seiner ästhetischen Leistungen zu interpretieren. Bereits der Titel von Fusters Kritik suggeriert, dass der Fokus eher auf ‚der Arbeit der neuen Kulturschaffenden‘ lag, als auf irgendeiner ästhetischen Leistung des Werkes: Una vida de mujer: ‚La plaça del Diamant‘. Den Roman betrachtete er als „die Biografie einer Frau“ („la biografia de una mujer“), seine Protagonistin, Verkäuferin in einer Kondi-

 12 „Curiosament, ni un de sol de llengua castellana!“ (Casals 2008, 127) 13 „[…] una absoluta obra mestra“ (Casals 2008, 1036).

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torei, wird mit Attributen wie „vulgär“, „einfach, demütig und naiv“ beschrieben. Zudem verwies er auf die fehlende kulturelle Lesepraxis der Protagonistin des Romans, darauf, dass diese nicht einmal ein Buch durchblättert.14 Mercè Rodoreda beschwerte sich über diese Kritik und teilte ihre Empörung darüber in einem Schreiben ihrem Verleger Sales mit (Casals i Couturier 1991, 226 f.). In diesem Zusammenhang macht sich das Wechselverhältnis von Kritik, Vermarktung und Popularität des literarischen Werkes sichtbar: Die 2000 Exemplare der ersten Ausgabe dieses Romans konnten von seiner Publikation im Jahr 1962 bis zum Ende des Jahres 1964 nicht vollständig verkauft werden. Diese Bilanz kann zwar einerseits als ein Erfolg betrachtet werden,15 andererseits sind die Äußerungen des Verlegers Sales erwähnenswert: Er verwies in seiner Korrespondenz mit Rodoreda auf die Bedeutung ihres Werkes und äußerte seine Unzufriedenheit im Hinblick darauf, dass es zehn Millionen potenzieller katalanischer Interessenten geben könnte. Er unterstrich dabei die negativen Auswirkungen der ersten lokalen Kritiken, die für diese Situation verantwortlich waren.16 Über die soziale Funktion der Literatur wurde und wird in den theoretischen Debatten über die Kunst innerhalb zweier Pole von ‚Autonomie‘ und ‚Heteronomie‘ von ‚Selbst- und Fremdreferenz‘ diskutiert (Struck 1995; Roughley 1995; Müller 2004). Gilt der literarische Text als ein Medium der Kultur, so ist er in seiner Vermittlungsrolle an eine soziale Funktion gekoppelt. Damit ist die Bedeutung der Rezeptionsseite gemeint. Zum Verhältnis zwischen dem literarischen Text und seinen umgebenden kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (d.h. seinem Kontext) gehören vor allem die Fragen über die Prozesse ihrer Funktionalisierung, ihrer Kanonisierung und ihrer Institutionalisierung. Dabei ist wichtig, dass die Analyse solcher Prozesse Kenntnis darüber geben muss, was die Literatur in ihrem

 14 „[…] el personaje que narra es una mujer vulgar y corriente, una dependienta de pastelería, ingenua, que ni siquiera sabríamos imaginar leyendo un libro“ (Casals 2008, 1042 f.). 15 „[…] va ser tot un éxit“ (Casals i Couturier 1991, 224). 16 „Peró en aquells moments, aquelles deu mil persones catalanes comptabilitzades per Sales, poc o mal incitades per la crítica local, van tardar prácticament dos anys a consumir els poc menys de 2.000 exemplars de la primera edició […].“ (Casals i Couturier 1991, 230)

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Kontext leisten soll. Betrachtet man die Literatur als ein Symbolsystem in Interaktion mit anderen kulturellen Systemen, so können über die Mechanismen ihrer Institutionalisierung und Funktionalisierung die Grenzen der Kultur selbst sichtbar werden. In Abgrenzung zu den essentialisierenden Vorstellungen von Kultur muss betont werden, dass die Kulturen keine ahistorischen Entitäten sind, die wie ‚runde harte Billardbälle‘ nebeneinander existieren bzw. ‚aneinander prallen‘ können (Wolf 1982, 6). Die Idee der Nation als eine ‚imaginierte Gemeinschaft‘ ist eine Erscheinungsform des modern-europäischen politischen Denkens mit einer etwa zweihundertjährigen Geschichte (Anderson 1996; Mühlmann 1985). Eine Nation kann mehrere Kulturen überdachen, wie z.B. im Falle Spaniens. Wie verschwommen in der Tat die Grenzen solcher scheinbar harten ‚imaginierten Größen‘ (Anderson) sind, kann die Beobachtung der Wissenszirkulation und der Kanonisierung des literarischen Werkes La plaça del Diamant in den regionalen und nationalen Verflechtungen seines kulturellen Kontextes zeigen. Während Rodoreda in dem Buch The Cambridge History of Spanish Literature als renommierteste katalanische Schriftsteller(in) des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnet wird, (“the most important Catalan writer of the twentieth century”, Perez 2004, 640), oder im Dictionary of the literature of the Iberian Peninsula von der besonderen Bedeutung ihres Romans La plaça del Diamant als eines absoluten Meisterwerkes europäischer Literatur die Rede ist (“an absolute masterpiece of European literature”, Gilabert 1993, 1386), ist die Vernachlässigung der Würdigung Rodoredas im spanischen Heimatland sehr auffallend. So findet man beispielsweise in den 16 Bänden des Manual de Literatura Española (Pedraza Jiménez/Rodríguez Cáceres 1980-) ein einziges Mal den Namen von Mercè Rodoreda; im neunbändigen Lexikon Historia y crítica de la Literatura Española (Jordi/Rico 1999) ein einziges Mal bei einer Aufzählung der Autoren; im zweibändigen Buch Diccionario de Literatura Española e Hispanoamericana (Gullón 1993) findet sie überhaupt keine Erwähnung! Betrachtet man die Bedeutung der kulturellen Praxis der Kanonisierung literarischer Werke, so bleibt die paradoxe Frage offen, ob und inwiefern die katalanisch-schreibende Autorin Mercè Rodoreda Spanierin ist?



2 ‚España Eterna‘ und ‚Anti-España‘

Regine Schmolling beschreibt in ihrer Analyse der spanischen Romane im Zeitraum von 1939 bis 1943, die den Bürgerkrieg (1936-1939) zum Thema haben, die Einstellungen der Sieger folgendermaßen: „Aus der Sicht der Aufständischen war der Bürgerkrieg der Kampf gegen Anti-Spanien, gegen Freimaurerei und kommunistische Fremdherrschaft.“ (Schmolling 2005, 265) Einer der bedeutendsten spanischen Historiker, Santos Juliá, beschreibt die Eigen- und Feindbilder der Sieger mit dem Selbstverständnis, das spanische Vaterland (‚patria‘) vor der Gefahr der Anarchisten bei einer Konfrontation der Kräfte zwischen ‚España‘ und ‚Anti-España‘ zu verteidigen. Dieser Kampf, betont Juliá weiter, wurde auf der Seite der Sieger als Inbegriff des Kreuzzuges für die katholische Religion (‚cruzada‘) verstanden und propagiert1. Durch die Betrachtung von Francos Sprachpolitik kann man Einblicke in die kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse ins ‚Ewige Spanien‘ (‚España Eterna‘) gewinnen. Unter der national-katholischen Franco-Regierung war die Verwendung anderer regionaler Sprachen wie katalanisch, baskisch oder galizisch verboten. So ist die folgende geläufige Parole ein Beispiel, das von der starken Diskriminierung der Katalanisch sprechender unter der autoritären Franco-Regierung zeugt: ‚Sprich christlich […] Belle nicht, sprich die Sprache des Imperiums‘.2

 1

„En resumen, había que reconocer en la guerra un espíritu de verdadera cruzada en pro de la religión católica. Era una guerra de civilizaciones puesta de manifiesto en el sentido de religión y patria que habían levantado a España contra la anti-España.” (Juliá 2006, 31)

2

„Habla en cristiano [...] No ladres; habla el idioma del Imperio.“ (Woolard 1989, 28)

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Vergleichbares ist als der Fall ‚Galinsoga‘ bekannt, dabei handelt es sich um die Äußerungen von Luis de Galinsoga, dem Direktor der Zeitung La Vanguardia Española in Barcelona. Dieser hatte am 21. Juni 1959 die Katalanen als „Scheißdreck“ angesprochen.3 Das hatte lange Proteste zur Folge, die zur Kündigung von Galinsoga führten (Balcells 1996, 140). Diese Beispiele verweisen auf die Konfliktzone zwischen den lokalen katalanischen und den nationalen Interessen in Spanien. So ist auch der Roman La plaça del Diamant im Zusammenhang mit derartigen Interessenskonflikten zu betrachten. Darin nimmt Rodoreda beispielsweise Bezug auf bestimmte historische Ereignisse wie die Ausrufung der Republik (77 f.) und die traumatischen Erfahrungen der Menschen durch den Bürgerkrieg: „Jung und Alt, alles mußte in den Krieg; der Krieg saugte alles in sich hinein und brachte allen den Tod.“ (167) Die Erzählerin beschreibt die Gräuel eines Krieges, dem ihr erster Ehemann zum Opfer gefallen ist. Sie erzählt von Hungersnot und der Todesangst der Überlebenden, wie in dem Moment, als sie nicht einmal schreien konnte: „Ich wollte nach den Nachbarn schreien, nach der Polizei, nach irgend jemand, damit er diese Hände packen könnte, und als mir der Schrei schon auf der Zunge war, überlegte ich es mir noch einmal und schrie nicht, denn die Polizei hätte mich ja verhaftet, weil Quimet im Krieg gefallen war.“ (173) Mercè Rodoreda setzt sich in ihrem Roman La plaça del Diamant nicht nur mit dem Brennpunkt der politischen Ereignisse Spaniens im 20. Jahrhundert, dem Bürgerkrieg (1936-1939), auseinander, sie gibt ihrer poetischen Historiografie Tiefe, indem sie diese Ereignisse mit einem entscheidenden politischen Geschehen in Zusammenhang bringt: der Einigung beider Kronen Castilla y Leon mit Aragón in den letzen Phasen der Reconquista. Dies geschieht dadurch, dass sich der erste Ehemann (Quimet) der Heldin (Colometa/Natàlia) durch seine nationalistisch-katalanischen und katholischen Merkmale auszeichnet, deren Einzelheiten in den folgenden Abschnitten der Analyse erläutert werden. Als Beispiel beschreibt Quimet in einem Gespräch mit der Heldin seine Ansichten über das künftige eheliche Familienleben und betont dabei, wie ihm und seiner Familie „die Mütter der Katholischen Könige [Reyes Católicos] […], den rechten Weg [el buen camino] gezeigt hätten“ (16).

 3

„Luis de Galinsoga [...] havia afirmat que todos los catalanes son una mierda“. (Casals 2008, 27; kursiv im Original)

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Diese dargestellte Eheschließung im Roman besitzt sowohl genderspezifische, individuelle als auch kollektive Charakterzüge, über die das Vergangene und das Gegenwärtige miteinander gekoppelt werden. Da die Darstellungen von Frauenfiguren in der Ehe und der kulturgeschichtlichen Revision die gesamte Werkanalyse durchzieht, wird an dieser Stelle auf eine Vertiefung dieses Aspektes zugunsten näherer Kontextualisierung des Romans verzichtet. Die Bedeutung der Kopplung beider Eheschließungen (zwischen den Figuren Quimet und Natàlia und den historischen Personen Isabel de Castilla und Fernando II. de Aragón) liegt darin, dass damit der Trenn- und/oder ‚Bindepunkt‘ zwischen dem Kernland Kastilien und Katalonien ins Blickfeld des Rezipienten gerückt wird. Dies ist eine Lektüre der Geschichte, die die der offiziell-staatlichen Lesart unterminiert. Daraus folgernd nimmt Rodereda mittels ihrer poetischen Historiografie auf die Kontroversen um die Nationwerdung Spaniens Bezug und schreibt sie in ihrem Roman weiter. Werner Krauss hat das Problem unterschiedlicher Geschichtsauffassungen im Hinblick auf die Nationwerdung Spaniens als einen ideologiegeschichtlichen Ansatz (unter dem Titel Spanien 1900-1965 als Beitrag zu einer modernen Ideologiegeschichte) ausdiskutiert. Hierzu soll in der Folge mithilfe dreier unterschiedlicher Positionen im Hinblick auf Selbstbilder der spanischen Nation von Claudio Sánchez-Albornoz, Américo Castro und des im katalonischen Kreis wirkenden Jaume Vicens Vives eingegangen werden. Vor diesem Hintergrund muss betont werden, dass sich der Roman La plaça del Diamant in die Debatten der spanischen Intellektuellen einreiht, die infolge des Bürgerkriegs nicht nur innerhalb des Landes, sondern vor allem auch im Ausland geführt wurden. Den Kern der Polemik zwischen Sánchez-Albornoz und Castro bildet die Einordnung bzw. Relevanz des mittelalterlichen Spaniens bezüglich der Partizipation der arabischen und jüdischen Kultur bei der Entstehung einer nationalen Identität des Landes. Während Sanchez den „Zusammenhang der spanischen Nationwerdung mit dem römischen und mit dem westgotischen Hispanien“ behauptet, vertritt Castro die These, dass „der arabische und der jüdische Sektor, insbesondere in kultureller Hinsicht, einen entscheidenden Beitrag zur Kristallisierung der spanischen Nation gegeben hätte“ (Krauss 1997, 35 f.). Trotz ihrer unterschiedlichen Auffassung zur Wirksamkeit äußerer Einflüsse auf die spanische Geschichte ist beiden Historikern gemein, dass sie die Geschichte des Landes aus dem Kernland Kastilien ableiten. Anders ist die Einstellung des Katalanen Jaume Vicens Vives, der diesem

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Modell seine Vorstellungen von einer Kollektivgeschichte Kataloniens entgegen hält. Vicens Vives’ Thesen über die Geschichte zeigen starke nationalistische Tendenzen.4 Seine Betrachtung der Geschichte geht von seiner katalonischen Heimat aus, die Geschichte Spaniens wird davon abgeleitet und die Europas wiederum aus dem Spanischen.5 Ein Schwerpunkt in Vicens Vives’ Arbeit ist die Forschung über die Krone von Aragón in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. So erschienen beispielsweise seine Untersuchungen über Ferdinand II., König von Aragón, bekannt als ‚der Katholische‘ (‚el Católico‘), unter dem Titel Historia crítica de la vida y reinado de Fernando II de Aragón im Jahr 1962 bei der Einrichtung ‚Fernando el Católico‘6. Wichtig erscheint mir sein Essay mit dem Titel Notícia de Catalunya (Notizen über Katalonien), der im Jahr 1954 und in erweiterter Form 1960 unter der Franco-Regierung erschien. Diese Schrift „sollte ursprünglich den Titel „Nosaltres els catalans“ (Wir Katalanen) bekommen; der neutralere, von Josep Pla vorgeschlagene Titel wurde gewählt, um Problemen mit der franquistischen Zensur aus dem Wege zu gehen“ (Hina 2009, 796). Eine solche nationalistisch-katalanische Bewegung war in den 1950er und 1960er Jahren in Katalonien stark vertreten. Dies betont auch Miguel Batllori in seinem biografischen Ansatz über Jaume Vicens Vives. Er verweist darauf, dass im Zeitraum von 1957 bis 1959 die Bedeutung der historiografischen Werke von Vicens die akademischen Kreise überschritt und sich unter allen lesefähigen gesellschaftlichen Schichten in Katalonien verbreitete.7 Von diesen lokal-nationalistischen Tendenzen in Spanien zeugt ebenso der Text von Joan Fuster, der unter dem Titel Nosaltres, els valencians im Jahr 1962 in Barcelona erschien. Man muss bedenken, dass Rodoreda über solche Debatten in Katalonien auch während ihres Exils gut in-

 4

„Vices fou supranacionalista.“ (Batllori 2001, 313)

5

„És cert que Vicens veia la história d'Espanya de Catalunya estant, i tot Europa

6

Diese Informationen sind dem Klappentext der Ausgabe entnommen: Jaime

des d'Espanya.” (Batllori 2001, 313) [identisch mit Jaume] Vicens Vives: Historia crítica de la vida y reinado de Fernando II de Aragón, Introducción de Miquel A. Marín Gelabert, Zaragoza 2007. 7

„En aquells anys, la transcendéncia de l'obra historiográfica de Vicens havia sobrepassat els murs de la Universitat per estendere's a tota la classe culta de Catalunya.“ (Batllori 2001, 327)

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formiert war. Dies kann beispielsweise der Korrespondenz zwischen der Autorin und dem Verleger Sales entnommen werden. Sales weist in seinem Brief vom 21. November 1962 an Rodoreda auf die Kritik von Fuster über den Roman La plaça del Diamant hin. Darin äußerte er seine Enttäuschung über Fusters Kritik des Romans, die im Widerspruch zu seiner nationalistisch, „pankatalanistischen“ Thesen stehe.8 Die angeführten Positionen und Aussagen sollen hinsichtlich der Kontextualisierung des Romans La plaça del Diamant als Vertiefung verstanden werden. In der weiteren Analyse soll die Dynamik der kastilisch-katalanischen Tendenzen in den Fokus der Untersuchung rücken. So scheint mir die kritische Einstellung von Josep Fradera wichtig, indem er von einem ‚doppelten Patriotismus‘ (‚doble patriotismo‘) bei Vicens Vives spricht (Fradera 1999, 96). Er untersucht in seinen Analysen die Ursprünge eines katalanischen Nationalismus-Projekts. Dabei konstatiert er, dass es bis zu den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts solche nationalistischen Tendenzen, in Opposition zum spanischen Staat, nicht gegeben hat; die Lektüren des nationalistischen Projekts Spanien seitens der katalanischen Intellektuellen indes schon.9 Ein weiterer Hinweis für die Fokussierung auf die Dynamik zwischen katalanischen und kastilischen Verhältnissen ist auch die Tatsache, dass es mehrere katalanische Schriftsteller gibt, die spanisch schreiben, so etwa die in Barcelona geborene Carmen Laforet (1921-2004). Ihr Roman Nada (1944) ist insofern interessant, als die Heldin zum Zweck des Studiums aus der Umgebung nach Barcelona kommt, wo ihre Großmutter lebt. Die repressiven Familienverhältnisse zwingen die Heldin schließlich dazu, das Studium abzubrechen, Barcelona zu verlassen und mit ihrer Freundin in die Hauptstadt Madrid zu ziehen. Ein weiteres Beispiel ist Ana Maria Matute (1926-), geboren in Barcelona, als Kind einer Spanisch sprechenden Mutter und eines katalanisch sprechenden Vaters. Ihr Gesamtwerk hat sie in spanischer Sprache verfasst. Die beiden renommierten Autorinnen haben verschiedene Preise für ihre literarischen Werke gewonnen.

 8

„[Fuster] que ha empunyat la bandera del nacionalisme pan-català, ‚a les terres

9

„En el siglo XIX, o por lo menos hasta sus últimas décadas, no hay proyectos

valencianes’” Casals 2008, 154). nacionalistas catalanes en oposición al español. Hay lecturas catalanes, eso sí, del proyecto nacional español.” (Fradera 1999, 97 f.)

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Vor diesem Hintergrund ist Rodoredas literarische Praxis im interregionalen Kontext der katalanisch-kastilischen Verhältnisse in Verflechtung zwischen lokalen und nationalen Interessen zu betrachten. Dabei spielt die Dynamik zwischen den Vorstellungen von gemeinschaftlicher Identität, Katalanin und/oder Spanierin zu sein, als zweier ‚Repräsentationsregime‘ (Hall 2004) eine entscheidende Rolle. Von besonderem Interesse sind im Hinblick auf das Untersuchungsmaterial die Auseinandersetzungen mit der ‚eigenen‘ Tradition und der Versuch weiblicher Subjekte, die Partizipation an der kulturellen Praxis und Selbstbehauptung aufzuzeigen und in die Analyse einzubeziehen. Diese sind als Bestandteile persönlicher und kollektiver Prozesse der Selbstaufwertung wie auch der Abwertung des ‚Anderen‘, im Sinne von “self-authentication” (Schäbler 2004, 4 f.), als Kernpunkt der Debatten um das Thema Modernität zu betrachten und zu analysieren.

3 La placa del Di-amante: De- und Re-Platzierung der Liebe

Die Protagonistin des Romans La plaça del Diamant, Natàlia/Colometa, heiratet zwei Mal. Den ersten Ehemann, Quimet, der sie bei einem Walzertanz mit ‚Colemeta‘ (‚Täubchen‘) anspricht, lernt sie auf dem ‚plaça del Diamant‘(‚di-amant‘: ‚zwei Geliebte‘) kennen (Scarlett 1991, 135). Quimet ist Republikaner und fällt später im Spanischen Bürgerkrieg. Nach dem Tod Quimets heiratet Natàlia/Colometa den vom Krieg geschädigten, älteren, impotenten Antoni. In der ersten Ehe bekommt sie zwei Kinder, Rita und Antoni. Der Junge wird Soldat und das Mädchen heiratet nach dem Abitur den Jungen Vicenç aus der Nachbarschaft. Eine zentrale Figur des Romans ist die Nachbarin Senyora Enriqueta. Ihre Einflussnahme auf das Leben der Protagonistin wird sowohl in den beiden Ehen deutlich als auch bei der Bewältigung der Krisen, vor allem während der Kriegszeit. Die titelgebende plaça del Diamant wird am Ende des Romans noch einmal zentraler Handlungsort, als das Hochzeitsfest der Tochter stattfindet, das mit dem Hochzeitsjubiläum ihrer Mutter Colometa/Natàlia mit ihrem zweiten Ehemann zusammenfällt. Wie man bereits dem Werktitel entnehmen kann, kommt der räumlichen Struktur im Roman La plaça del Diamant eine zentrale Bedeutung zu. Die Entstehung und Überwindung der Konflikte (“creation and resolution of conflicts”) folgt der Logik der scharfen Trennung zwischen ‚geschlossenen‘ und ‚offenen‘ Räumen: “The former [closed] occupy the majority of the text and are the places from which the language, tone, symbolism, and even events are born. The latter are vague, fragmentary and short descrip-

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tions of a city that disregards Natàlia and excludes her from social activities.” (Robles 1999, 146) Die Dualität der räumlichen Ordnung zeigt sich auch in den dargestellten Beziehungen zwischen den Geschlechtern, vor allem während der beiden Ehen der Protagonistin. Die erste Begegnung Natàlias mit Quimet, die zur Heirat führt, findet auf der ‚plaça del Diamant‘ statt. Es handelt sich um eine Bewegung vom Offenen zum Geschlossenen, vom Öffentlichen (‚Plaça‘) ins ‚Privathäusliche‘ (Robles 1999, 146; Wyers 1983, 373). Diese Struktur entfaltet sich im Text weiter, wenn sich Quimet in Colometas außerhäusliche Arbeit einmischt und sie unter Druck setzt: Er fängt mit dem Bäcker, bei dem Colometa vor ihrer Heirat gearbeitet hat, Streit an, indem er behauptet, dieser schaue Colometas Hintern nach (19; 28). Mit der Thematisierung der Ehre des Mannes zeigt sich Quimets Tendenz, die Heldin von sozialer Praxis auszuschließen und sie ins Häusliche zu verdrängen. Die strikte Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem in der ersten Ehe wird auch in einer Episode an Quimets Arbeitsort deutlich. Bei einem Besuch Colometas in seiner Werkstatt stößt ihr Versuch, die dreckigen Fenster zu putzen, auf Quimets Ablehnung mit der Begründung, „die Werkstatt ist meine Sache!“ (46). Ähnliches geschieht am Beispiel eines Schaukelstuhls: Quimet verbietet Colometa, ihn zu benutzen, weil der Stuhl allein Männern vorbehalten sei (48). Es handelt sich in diesen Beispielen um Darstellung der streng asymmetrischen Geschlechterverhältnisse. Die starre Grenzziehung repräsentiert die männlich-autoritäre Macht, die das hierarchische Verhältnis zwischen den Geschlechtern reguliert, das sich u.a. in der schlechten Verteilung der materiellen Ressourcen zum Nachteil der Frau manifestiert. Parallel zum Ausschluss aus der sozialen Praxis (Arbeit in der Bäckerei) findet raumsemantisch auch die Eingrenzung Colometas im geschlossenen Raum des Privathäuslichen statt. Vergleichbares zeigt sich durch die Betonung der reproduktiven Funktion des Weiblichen. Das praktizierte Eheleben Quimets basiert auf starren katholischen Wertvorstellungen von der Mutterrolle der Frau. Der satirische Ton der Ich-Erzählerin bei der Thematisierung des ‚Fortpflanzungsrituals‘ mag dies verdeutlichen: „Abends, wenn ich mich auszog, wusste ich schon; weil heut Sonntag ist, machen wir ein Kind.“ (46; 49) Dass die Bezugnahme auf die katholischen Wertvorstellungen auch der Logik der Bewegung vom Öffentlichen ins Private folgt (und damit als Be-

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standteil der Strategien für die Eingrenzung des Weiblichen fungiert), manifestiert sich weiterhin im Akt der Namensgebung der Heldin auf der ‚plaça del Diamant‘ durch Quimet, wie Carbonell es erläutert hat: “Name and doves (in Catalan the name is the same: ‘colom’) convey his dominion over Natàlia and the invasion of her own private space.” (Carbonell 1994, 22) Durch den Akt der Namensgebung wird eine Grenzziehung zwischen den Geschlechtern hervorgebracht. Dies geschieht in der Form des ‚Definierens‘ und der ‚Bestimmung‘ der Heldin, die Quimet von Natàlia zu Colometa (um)benennt. Damit stellen sich die Vorstellungen von Weiblichkeit in der abendländisch-christlichen Kulturgeschichte (als Eva und Maria) in Rodoredas poetologischem Modell zur Schau: Adams/Quimets ‚Entdekkung des fleischlich-sündigen Weiblichen‘ (Eva/Natàlia) fällt mit der ‚niedlichen-idealisierten‘ Gottesmutter im Bild des Täubchens (Maria/Colometa, dt. ‚Täubchen‘) zusammen (Carbonell 1994, 18 f.). Diese Argumentation wird unterstützt durch die Beschreibungen vom Güell-Park als semantisiertem Raum der Liebe, mit dem ersten Kuss zwischen Quimet und Colometa (17). Im Güell-Park hält Quimet Colometa eine ‚Predigt‘ über das Verhältnis zwischen Mann und Frau, Ehe usw. Dabei spricht er von seinem ‚Tischlerberuf‘, von seiner Familie und seiner Abstammung, wobei ihre Integration in den Katholizismus hervorgehoben wird. Rodoreda visiert in ihrem Roman La plaça del Diamant diese historische Heiratspolitik an und vergegenwärtigt sie, indem diese in den Aussagen des ersten Ehemanns der Protagonistin, Quimet, angedeutet wird: „Anschließend hielt er mir [Colometa] eine lange Predigt über den Mann und die Frau und über die Rechte und Pflichten von beiden. […] Und noch eine Predigt: Wieder sehr lang. Alle möglichen Leute seiner Familie [Quimet] kamen darin vor: seine Eltern, sein Onkel, der eine kleine Kapelle und einen Betstuhl hatte, die Großeltern, die Mütter der katholischen Könige, die ihnen – wie er sich ausdrückte – den rechten Weg gezeigt hätten.“ (16)

Mit einer derartigen Bezugnahme auf die katholische Genealogie wird impliziert, dass Quimets (zukünftiges) Eheleben mit Colometa/Natàlia, auch so einzuordnen ist. Das gegenwärtige eheliche Familienleben wird anhand des einstigen historischen ‚Vorbildes‘ für die Regulierung religiöser und politischer Herrschaft zwischen Katalonien und Kastilien mit der Heirat von ‚los Reyes Católicos‘ legitimiert. Darüber hinaus bezieht Quimet sich

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bei diesem Treffen auf Antoni Gaudí und dessen Kunstfertigkeiten, die von ihm gehuldigt werden: „Und nirgendwo auf der Welt gäbe es einen zweiten Güell-Park oder eine zweite Sagrada Família oder eine zweite Pedrera. Ich sagte, alles in allem ist das für meinen Geschmack einfach zu rund und zu spitzig. Da schlug er mir mit der Handkante gegen das Knie, sodaß mir unwillkürlich das Bein hochschnellte, und dann sagte er, daß ich langsam damit anfangen müsste, alles gut zu finden, was er gut findet, wenn ich seine Frau werden wolle.“ (16)

Wie auf der ‚plaça del Diamant‘ kommt es auch an dieser Stelle zu einer Parallelisierung, die über die folgenden rhetorischen Operationen vermittelt wird: Zum einen liegt eine Similaritätsrelation zwischen Quimet-Colometa und der Heiligen Familie (Joseph und Maria) vor (Arnau 1978, 164). Zum anderen aber ist wichtig, dass diese Relation darüber hinaus in einer Beziehung zum prominenten katalanischen Architekten Antoni Gaudi mit seiner monumentalen Bauanlage der Kathedrale ‚Sagrada Família‘ steht. Gemäß solcher Konstellationen soll einleuchten, dass Quimet mit seinem beruflichen Attribut ‚das Haupt der Sagrada Família‘ verkörpert. (Das wird in der Analyse über den Krieg erneut eine Rolle spielen.) Es kann festgehalten werden, dass sowohl die Betonung der reproduktiven Funktion der Frau als auch ihr Ausschluss aus der Arbeitswelt einer Logik der Rückwärtsbewegung und Verdrängung des Weiblichen aus der Öffentlichkeit ins Private folgt, die zu den bedeutenden Merkmalen des ersten Ehelebens der Protagonistin gehören. Unter Einbeziehung der zweiten Heirat der Heldin, deren Feier auf der ‚plaça del Diamant‘ mit der Hochzeit der Tochter zusammenfällt, kann man von einer ‚zirkulären Form‘ der Romanstruktur ausgehen: “from the Plaça del Diamant to the Plaça del Diamant, from her marriage and wedding dance to her daughter’s marriage and wedding dance” (Wyers 1983, 307). Diese ‚zirkuläre Bewegung‘ entsteht primär aus den beiden Ehen der Protagonistin, wobei sich die zweite an die der Tochter anschließt. Die zweite Heirat ist durch eine Bewegung nach außen gekennzeichnet, von einem geschlossenen (Antonis Haus) zu einem offenen Raum (Plaça). So symbolisiert sie mehr Platz für die Frau innerhalb dieser Ehe. Entsprechend ist eine Lockerung der Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem feststellbar: Natàlia findet unproblematisch Zugang zu Antonis Arbeitsort, dem Laden. Dies aber war bei Quimet streng

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‚geschlechtsspezifisch‘ geregelt. Natàlias Raumgewinn zeigt sich weiterhin durch die Erleichterung ihrer Hausfrauenrolle mithilfe eines Dienstmädchens. Dieser Logik folgt auch die Tatsache, dass Antoni als ‚impotenter Mann‘ dargestellt wird. Durch eine solche Charakterisierung Antonis werden in der zweiten Beziehung die Möglichkeiten für weitere Schwangerschaften (d.h. die reproduktive Funktion des Ehelebens) sowie eines möglichen Sexismus ausgeschlossen. Gleichzeitig besitzt diese Bewegung nach außen eine doppelte Bedeutung, indem die Hochzeitsfeiern von Mutter und Tochter zusammenfallen. Betrachtet man die Rhetorik des Textes genauer, so steht diese Doppelung auch in einer Similaritätsrelation zur ersten Hochzeit der Protagonistin, wo die Struktur der Doppelung in Form einer zweifachen Namensgebung für die Heldin (Colometa/Natàlia) vorliegt. Deshalb bleibt die Option offen, im Laufe der Analyse noch nach weiteren möglichen Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Ehen zu fragen. Im Roman gibt es ausreichend Indizien dafür, dass das religiös-legitimierte Eheleben nicht als favorisierte Form der Partnerschaft gilt. Vielmehr ist dies die einzige gesellschaftlich und kulturell vorgegebene Möglichkeit für die Selbstverwirklichung des Weiblichen, was vor allem in der De- und Replatzierung in den beiden ehelichen Beziehungen zum Ausdruck kommt. Aus solcher Diskrepanz entsteht eine Dynamik im Text: Auf der einen Seite diese raumsemantisch akzentuierte Bewegung ins Öffentliche, die dann in der erzählten Welt mit der Darstellung geschichtlicher Kontinuität und der damit verbundenen Wirksamkeit repressiver gesellschaftlicher Verhältnisse (vor, während und nach dem Bürgerkrieg mit der darauffolgenden Etablierung der Franco-Regierung) in Konflikt tritt; auf der anderen Seite entsteht eine Gegenbewegung, die mittels verschiedener narrativer Strategien dazu tendiert, der dargestellten geschichtlichen Kontinuität zu widersprechen und diese zu durchbrechen. Gleichzeitig kommt es zu neuen Grenzziehungen und -verschiebungen in den kulturell vorgegebenen geschlechtlichen Identitätsmustern, wodurch neue Spielräume für die handelnden Akteure der Romanwelt geschaffen werden.



4 Kulturgeschichtliche Revision

Die Darstellung des Ehelebens steht im Roman La plaça del Diamant in enger Verbindung mit dem Thema Krieg und dessen nachhaltigen Auswirkungen: der erste Ehemann (Quimet) fällt im Bürgerkrieg, der Zweite (Antoni) wird als kriegsgeschädigter, impotenter Mann beschrieben. Aus dieser Perspektive gesehen, kann man annehmen, dass die Darstellung des Bürgerkriegs im Roman als Folie für die Aus- und Verhandlungen über die religiös-legitimierte Geschlechterhierarchie dient (Carbonell 1994; Fernández 1999), wie dies auch bereits im Hinblick auf die Semantisierung der Räume diskutiert wurde. Der Text bezieht sich auf biblische Topoi wie die ‚Erschaffung der Frau aus der Rippe des Mannes‘ und dem damit entworfenen entstellten Weiblichkeitsbild im ‚Sündenfall-Mythos‘: „Und wenn ich [Natàlia] mich so zerstreute, dachte ich manchmal, daß Quimet nach so vielen Jahren doch nun wirklich tot sein müsste […]. Und die Rippen waren alle da bis auf die eine, und die war ich […].“ (216) Mit der Bezugnahme auf den christlichen Schöpfungsmythos und die damit verbundenen Schuldzuweisungen an das weibliche Geschlecht wird in der erzählten Welt auf den mythischen Ursprung abendländischer Kultur verwiesen. Dabei werden diachron und synchron gewisse kulturgeschichtliche Momente miteinander verflochten: auf der einen Seite wird diachron auf eine ursprüngliche kollektive Vergangenheit (Sündenfall) Bezug genommen, wird diese vergegenwärtigt bzw. re-aktualisiert sich diese auf der anderen Seite synchron in den destruktiven Kriegserfahrungen der Romanheldin in der Gegenwart. Mittels solcher Verflechtungen der kollektiven und individuellen Erinnerungen kommt es zu Kontrastierungen zwischen der ‚fundierenden mythenbezogenen und kontrapräsentischen Funktion der Erinnerung‘ (Assmann 1992, 78 f.) aus einer weiblichen Perspektive mit ih-

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ren kulturgeschichtlich erinnerten Diaspora-Erfahrungen, die an jene der ‚Besiegten‘ im Bürgerkrieg anknüpfen. Aus einer ähnlichen Perspektive betrachtet Neus Carbonell diesen Roman, wenn sie ihren kulturkritischen Ansatz hervorhebt: “Mercè Rodoreda retells the story of Eve and the serpent, and the battle between the sexes, in her novel La plaça del Diamant [The Time of the Doves].” (Carbonell 1994, 18; kursiv im Original) Die Bezugnahme auf diese feministische Lesart soll jedoch keinesfalls die Vernachlässigung von Rodoredas Kritik am Bürgerkrieg bedeuten. Es ist genauso zutreffend, diesen Roman für eine ‚Hommage an die Besiegten‘ zu halten, vor allem aufgrund der Tatsache, dass darin die gewaltsame Dimension des Bürgerkriegs thematisiert wurde: “The Spanish Civil War is an emotive subject and the novel [La plaça del Diamant: Y.K.] is a homage to the losers.” (Davies 1998, 225) Betrachtet man die Polyphonie des literarischen Textes, so muss auch die Intention der Autorin im Vorwort des Werkes erwähnt werden, die von ihrem Roman als von einem ‚Liebesroman‘ spricht.1 In der Verquickung zwischen verschiedenen Lesarten fasst William Sherzer zwei zentrale kritische ‚feministische und historische Diskurse‘ über den Roman La plaça del Diamant zusammen (“historical vs. sexual discourse”) und zieht dabei folgenden Schluss: “But if we are to take the feminist perspective, it must be in conjunction with the historical approach. Part of Quimet’s madness, as far as Natàlia is concerned, is found in his revolutionary politics. And one aspect of Antoni’s neutered condition is his passive submission, not just to the newly dominant Natàlia, but also to the fascist state that has come to rule in Spain. This is a curious interpretation of a novel written by a double exile (as Republican and Catalan) from Franco’s Spain, but it may be the only way to make sense out of the two supposedly contradictory readings that have been predominant up to this point.” (Sherzer 2000, 138 f.)

Es werden im Folgenden auch diese beiden Gruppierungen (feministische und eher textimmanente einerseits und andererseits die historischen Ansätze, welche sich besonders für die Text-Kontext-Verhältnisse interessieren), in die Analyse einbezogen.

 1

„[...] una novella d’amor“ (Sherzer 2000, 136; Fernández 1999, 107).

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Unter Berücksichtigung verschiedener Lektüren des Romans scheint es mir sinnvoll zu sein, von einer Parallelität der Kriegsdarstellung zu sprechen: Die Erzählperspektive eines ‚Unterworfenen‘ fällt im Laufe der Handlungen weitgehend mit jener der ‚weiblichen‘ Erzählerin zusammen. Auf diese Weise besitzt die Darstellung der gewaltsamen historischen Konfrontation zwischen Siegern und Unterworfenen (im Bürgerkrieg) zugleich auch eine diachrone kulturgeschichtliche Dimension, die sich auf die historische Ungleichheit der Geschlechter und damit auf den untergeordneten sozialen Status der Frau bezieht. Demzufolge ist es wichtig, dass bei der Analyse des Romans diese ‚Doppelung der Perspektive‘ (Carbonell 1994, 27) berücksichtigt wird. Daraus folgernd findet die Sinnkonstitution parallel auf zwei Ebenen statt: Zielt die eine primär auf die katastrophalen Erfahrungen des Krieges selbst als einem gescheiterten Versuch, den Gang der kulturgeschichtlichen Tradition zu durchbrechen, setzt die andere den Fokus auf die Kontinuität dieser Tradition (vor allem über die Darstellung gesellschaftlicher Strukturen in der Nachkriegszeit), deren institutionalisierte Macht das Individuum (im Allgemeinen und das Weibliche im Besonderen) weiterhin ausgesetzt ist. Der Bürgerkrieg und die gescheiterte Zweite Republik (1931-1936), die die Rechte der weiblichen wie männlichen Bürger auf Freiheit, Gleichheit und Partizipation in der sozialen und kulturellen Praxis realisieren sollte, werden zu zentralen Kritikpunkten im Roman. So wird auf die ungebrochene Tradition des gesellschaftlich legitimierten untergeordneten Status der Frau (in der Zeit der Republik, in und nach der Kriegszeit) fokussiert. Daraus ist vor allem Rodoredas Kritik am Schein der Gleichheit aller Bürger im Rahmen der Verheißungen des Moderneprogramms zu entnehmen. Für die Verortung der Frau im Netzwerk der gesellschaftlichen repressiven Strukturen (wie Kirche, Ehe und Nachbarschaft) kommt den Darstellungen von geschichtlicher Kontinuität und dem Widerstand gegen sie mittels verschiedener narrativer Strategien eine entscheidende Bedeutung zu. Dadurch entsteht eine Dynamik im Text: Mithilfe literarischer Mittel wird die repressive und zerstörerische Macht der kulturellen Hegemonie in Frage gestellt und innerhalb der ‚relativ machtneutralen‘ Institution (wie der Familie) Spielräume für die handelnden Akteure geschaffen. Deshalb ist es erforderlich, die Wechselwirkungen zwischen den Akteuren der Romanwelt und der Machtausübung solcher gesellschaftlichen Strukturen anhand des

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Textgegenstandes zu diskutieren.2 Auf eine Kontinuität der Tradition weist im Roman das Motiv ‚Bett‘ hin. In seiner unmittelbaren Beziehung zum Körper nimmt es im Roman eine Symbolfunktion ein, durch die die Kontinuität der Traditionen generationenübergreifend dargestellt wird. So ist ein „Messingbett“ das einzige, was die Protagonistin vom elterlichen Haus in ihre erste Ehe mitnimmt (37). Das Motiv erscheint nochmals in ihrer zweiten Ehe: „Ich sagte, daß ich für die Kinder gern Messingbetten hätte; und er [Antoni] stellte mir Messingbetten für die Kinder hin, wie mein Mädchenbett […]“ (199). Auch Antonis Bett fügt sich in diese Beschreibung einer traditionsstiftenden Kontinuität ein, indem er Natàlia erzählt, „daß es das Bett seiner Eltern gewesen sei, und dieses Bett sei für ihn der Geruch seiner Familie, der Geruch von den Händen seiner Mutter, die bei Beginn des Winters immer Backäpfel für ihn gemacht hatte“ (188). Auch die Tatsache, dass der Name des Sohnes aus der Ehe Natàlias mit Quimet mit dem Namen seines späteren Stiefvaters Antoni (Natàlias zweitem Ehemann) identisch ist (199), folgt einer ähnlichen Logik. Es geht bei diesen Darstellungen um ein kollektives Familiengedächtnis, dessen Vermittlung über Generationen über das Motiv ‚Bett‘ substanziell (Messingbetten) wie auch sinnlich-kommunikativ (Geruch) literarisch ausgehandelt wird. Der Aspekt der Namensgebung spielt noch an einer anderen Textstelle eine Rolle: Während Colometa/Natàlia dem Vater ihre Schwangerschaft mitteilt, beklagt er sich darüber, dass „unser Familienname ja sowieso ausstirbt, ganz egal, ob es ein Junge oder Mädchen wird“ (60). [Hervorgehoben von Y.K.] Die Bezugnahme auf die väterliche Abstammung verdeutlicht eine soziale Hierarchie, die die konsequente Ungleichheit der Geschlechter durch die Unterordnung bzw. Degradierung des weiblichen Geschlechts zeigt. Während des Vater-Tochter-Gesprächs treten die Konturen patriarchaler Geschlechterordnung in Erscheinung. Es wird nicht nur die Bedeutung männlicher Genealogie hervorgehoben, sondern auch die gegenübergestellte Position des Weiblichen mitbestimmt und definiert, die eine auf ihre biologische Trägerfunktion reduzierte Leerstelle ist.

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Mehrere Autorinnen und Autoren haben den symbolischen Gehalt dieses Romans unter verschiedenen theoretischen Ansätzen diskutiert, z.B. Arnau 1978; Martí-Olivela 1993; Ortega 1983; Carbonell 1994; Gómez 2008.

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Der Darstellung institutioneller Macht für die Generierung und Aufrechterhaltung der autoritären und repressiven Gesellschaftsstrukturen kommt in der Romanwelt eine besondere Bedeutung zu. Die Institution ‚Kirche‘ spielt dabei eine zentrale Rolle. Dies zeigt sich im Hinblick auf die anderen Institutionen wie ‚Familie‘ oder ‚Nachbarschaftsbeziehungen‘ darin, dass die ihnen zugrundeliegenden ethisch-katholischen Prinzipien hervorgehoben werden. So drückt sich die Dominanz katholischer Wertvorstellungen in der Darstellung des ausschließlich religiös-ehelich regulierten Familienlebens aus. Ihre exemplarische Wirksamkeit konkretisiert sich am Beispiel dreier Ehen (der Protagonistin und ihrer Tochter), die eine unaufhörliche Kontinuität im Bereich des Werte- und Normensystems von der Vor- bis in die Nachkriegszeit veranschaulichen. Dies betrifft auch die Rolle der Nachbarschaftsbeziehungen, deren Repräsentantin Senyora Enriqueta ist. Ihre Mitwirkung bei wichtigen Entscheidungen der Heldin zeigt ihre dominante Rolle, die auch im Hinblick auf die kleinsten Details der Privatsphäre explizit wird: „Senyora Enriqueta besuchte mich wieder, und als sie zum ersten Mal kam, fing sie gleich an und wollte unbedingt wissen, wie wir unsere Hochzeitsnacht verbracht hätten […]“ (201). Enriquetas Integration in alle Handlungsabläufe der Romanwelt zeigt sich auf mehreren Ebenen: Sie evaluiert die Ereignisse, spielt eine Rolle bei der Sozialisation der Kinder und vertritt die kollektiven Normen und Werte der Romanwelt. Bei der Heirat der Protagonistin gibt sie jeweils ihre Kommentare ab. Die erste Eheschließung mit Quimet bejaht sie. Sie zieht Quimet Pere, dem ehemaligen Freund Colometas/Natàlias, mit dem Argument vor, dass er sein eigener Herr sei (26). Bei der zweiten Heirat weist sie die Heldin darauf hin, dass Männer ohne Familie „wie eine leere Flasche“ seien, die im Meer treibe (198). Sie versucht die Protagonistin zu dieser Heirat zu überreden und betont dabei, dass er im Krieg schon verstümmelt worden sei (ebd.). Die Darstellung der Nachbarschaft zeigt sich darüber hinaus in der Form diskursiver Machtbeziehungen. Hierzu zählt ein breites Netz kollektiver Werte und Normen, die eine wirksame Macht über die Individuen der dargestellten Ordnung ausüben. Diese Machtbeziehungen behalten ihre kontinuierliche Wirksamkeit auf die Weiblichkeit auch in der Jugendgeneration:

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„Rita gab ihre Hochzeit vor uns allen bekannt, und sie sagte, daß sie sich entschlossen habe, damit sie Vicenç nicht mehr herumlaufen sehen müsse mit dem Gesicht einer Seele im Fegefeuer und damit er nicht die ganze Nachbarschaft für sich gewinne und sie glauben mache, er sei ein Opfer. Und mit dem Gesicht, das er da mache, sagte sie, und ohne nur ein Wort zu sagen, stelle er sie hin, als wäre sie weiß Gott was für ein schlechtes Ding. Und mit diesem Ruf, den er ihr so anhänge, wolle sie dann sowieso kein anderer mehr heiraten, sagte sie und eine alte Jungfer wolle sie ja auch schließlich nicht werden […].“ (226)

Auffallend ist die ‚plastische‘ Darstellung der Nachbarschaft als ein ‚Ort‘, von dem aus der Prozess des gesellschaftlichen Fetischisierens des weiblichen Körpers in Gang gesetzt wird. Die regulierende Kraft der Nachbarschaft demonstriert diese Textpassage in Form einer diskursiven Macht von Sanktionen, die in Indikatoren wie dem des ‚schlechten Rufs‘ oder der ‚alten Jungfer‘ ihren Ausdruck findet. Es handelt sich um gewisse gesellschaftlich und kulturell vorgegebene Normen, denen eine entscheidende Wirkung zukommt, indem sie an der Regulierung der Lebensweise der jungen Generation mitwirken bzw. diese steuern. Geht man vom kontinuierlichen und wirklichkeitsstiftenden Charakter solcher Aussagen aus (dadurch, dass diese anschließend zur Heirat führen sollen), sind diese als Beispiele für die performative Dimension der Sprache bzw. der Kultur zu betrachten. Der performative Aspekt der Darstellung zeigt sich sowohl ‚theatralisch‘, indem an der obigen Textstelle der Charakter des ehelich-religiösen Hochzeitsrituals veranschaulichend vor- und ausgeführt wird, er zeigt sich aber auch anhand der sprachlichen Akte (im Sinne von Austins: “to say something, is to do something”) (Bial 2008, 175 f.; kursiv im Original). Mittels solcher theatralischen, plastischen Darstellungen über das Gesagte geschieht irgendetwas bzw. wird etwas getan, indem über diese Aussagen der Prozess ehelicher Lebensführung in Gang gesetzt wird. Ritas Zustimmung zur religiös ‚ehelichen‘ Hochzeit ist ihre Ankündigung dafür, die neue gesellschaftliche Funktion als Ehefrau anzunehmen. Somit wird Ritas künftige Ehe in der erzählten Welt über die religiös motivierten Ängste (‚Fegefeuer‘) einerseits und die Sorgen um einen ‚schlechten Ruf‘ in der Nachbarschaft andererseits ausgehandelt. Der Darstellungsmodus nimmt mit den fetischistischen Charakterzügen eine kollektive Dimension an, deren Wirkungen bei der Regulierung von Ritas Eheleben veranschaulicht werden. Die ethisch-normative Macht der gesellschaftlichen Strukturen richtet sich

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auf die Formierung des Individuums durch dessen Integration in die herrschende katholisch-eheliche Familienform. Diese Feststellungen werden noch dadurch unterstützt, dass an anderen Textstellen auf die entscheidende Rolle der Religion in der regulierenden Machtkonstellation der Romanwelt hingewiesen wird. Dies wird an der Stelle demonstriert, wo vom Hochzeitsgeschenk der Nachbarin Senyora Enriqueta für Rita die Rede ist: „Wir feierten die Hochzeit von Rita und Vicenç und zugleich den Jahrestag meiner Hochzeit mit Antoni. Senyora Enriqueta, die jetzt zusehends alt wurde, schenkte Rita das Bild mit den Langusten, weil du es dir früher, als kleines Mädchen, immer so gern angeguckt hast….“ (230) Das Motiv der ‚Langusten‘ auf einem Gemälde ist dem Leser bereits aus Colometas/Natàlias erster Trauungszeremonie bekannt: „[…] und ich dachte, was Hochwürden Joan wohl sagen würde, wenn er eines Tages das Bild mit den Langusten zu Gesicht bekäme, die mit ihrem Schwanz alles töteten und komische Köpfe hatten [!]“3 (38). Der Hinweis auf dieses Motiv mit seinem bedrohlichen Charakter zeigt die Wirksamkeit der religiös-patriarchalen Macht, deren bestimmende Kräfte in der Darstellung des Ehelebens vorgeführt werden. Demzufolge wird ostentativ darauf hingewiesen, wie im Rahmen dieser Machtkonstellationen die Sexualität auch in der Jugendgeneration reguliert und ausgehandelt wird. Das visuelle Bild des Gemäldes dient dazu die formierende normative Kraft der offiziellen Kultur zu veranschaulichen, die generationsübergreifend über die repräsentative Rolle der schon ‚alt gewordenen‘ Nachbarin Senyora Enriqueta vermittelt wird. Die Allianz zwischen dem Visuell-Bildlichen und dem SchriftlichSymbolischen soll die vieldiskutierten phallischen und logozentrischen Qualitäten der abendländischen Kultur repräsentieren, die dem weiblichen Körper einen Fetischcharakter zuschreiben und die über ‚das Sehen‘ „sowohl mit der Gender-Bildung als auch mit semiotischem Verhalten“ (Bal 2002, 131) verknüpft sind. So zeigt sich die kontinuierliche Auswirkung institutionell-kirchlicher Macht in der Jugendgeneration über die Regulierung des Familien- und Ehelebens. Zugleich kommt es mithilfe poetologischer

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Die Zeitangaben der Verben sind in der deutschen Übersetzung nicht korrekt wiedergegeben. Im Spanischen lautet diese Textstelle wie folgt: „[…] y yo me puse a pensar lo que diría mesón Joan si un día llegaba a ver el cuadro de las langostas con aquella cabeza tan complicada, que mataban a coletazos…“ (39).

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Mittel zum Widerstand gegen eine Darstellung solcher historischer Kontinuität. So widerspricht bei der Hochzeit Ritas ein parallel zur Handlungsebene verlaufender Subtext dieser erzählten Welt und versucht, diese zu durchbrechen. Die junge Rita sagt, „daß sie Sprachen studieren wolle, nur Sprachen, um bei der Fliegerei zu arbeiten“ (208). Ihre Bedingungen für die Hochzeit beschreibt sie folgendermaßen: „[…] und mit dem Tag der Hochzeit wolle sie [Rita] ein anderes Leben anfangen und sich nur amüsieren“ (228). Sie verzichtet jedoch auf ihre Pläne (Studium oder Arbeit), welche schließlich Indizien für ihre Autonomie wären, und heiratet Vicenç, der aus einer gutbürgerlichen Familie stammt. Somit erstreckt sich die Linie des ehelichen Familienlebens von der Mutter- zur Tochtergeneration. Ungeachtet Ritas Verzicht auf ihre individuellen Zukunftspläne ist im Roman gleichzeitig auch die Rede von Ritas Liebe zu ihrem zukünftigen Mann: „Und während Vicenç den Walzer verkündete, sagte sie [Rita] mir [Nataliá] ganz leise ins Ohr, daß sie sich vom ersten Tag an wie verrückt in Vicenç verliebt hätte, und daß sie es nur nicht habe zeigen wollen, und daß Vicenç nie erfahren würde[!]4 wie sehr sie in ihn verliebt sei.“ (232) In der Darstellung des Ehelebens der Tochter ist ansonsten weniger von der Intensität der Beziehung die Rede. Betrachtet man Ritas Haltung zu ihrer Ehe (im Hinblick auf die institutionellen Regulierungsmechanismen der Kirche und Nachbarschaft), fällt die Widersprüchlichkeit ihrer Darstellung im Roman auf. So ist die Rede von der plötzlichen Liebeserklärung in der Hochzeitsnacht einerseits, andererseits gibt es mehrere Indizien, die diese Liebesbeziehung in Frage stellen. Auf der Handlungsebene, die die Dominanz der diskursiven Machtbeziehungen der bestehenden Ordnung gegenüber der Weiblichkeit in der Jugendgeneration erkennen lässt, ist die Liebeserklärung Ritas an ihren Mann eher als Kompromiss zu verstehen. Die Heirat der Tochter fällt in die Nachkriegszeit, als die traditionellen Vorstellungen der Geschlechterverhältnisse auf der Basis der katholischen Werte und Normen stabilisiert worden sind. Die Kontinuität der Tradition wird unterstrichen durch die Ehe selbst sowie den Hochzeitstanz auf demselben Platz, nämlich der ‚plaça del Diamant‘, wie bei ihrer Mutter. Die

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Die Zeitangaben der Verben in der deutschen Übersetzung sind nicht korrekt. Im Spanischen lautet diese Textstelle wie folgt: „[…] que desde el primer día se había enamorado como una loca del Vicenç pero que no se lo quería demostrar y que el Vicenç no sabría nunca que ella estaba enamorada de él“ (243).

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Darstellung der Hochzeitsszene der Tochter mit ‚künstlichen Papierrosen‘ verzerrt die Vorstellung von einem Happy-End im Roman, das man sich bei diesen Hochzeiten vorstellen könnte: „Die Wände waren mit Girlanden aus Asparagus und weißen Papierrosen geschmückt, weil es keine echten mehr gegeben hatte.“ (230) [Hervorgehoben von Y.K.] In der Betonung der ‚unechten‘ Materie (Rosen) ist eine Kritik an der Scheinmoral der kirchlich institutionalisierten Macht in der Nachkriegszeit Spaniens erkennbar. Dass es sich in dieser Bildsprache um einen Kritikpunkt handelt, beweist Rodoredas persönliches Interesse an Blumen. In ihrem literarischen Schaffen kommt dem Motiv ‚Blume‘ eine zentrale Funktion zu: “Mercé Rodoreda’s use of flowers all the more outstanding, for she incorporates flowers and other kinds of vegetation on the very surface of her novels, where they serve as inseparable parallels to the lives of her heroines.” (Scarlett 1994, 73) Aus dieser Perspektive wird gegenüber der historischen Realität (die Stabilisierung des konservativ-katholischen Moralverständnisses unter der Franco-Regierung) die metaphorische Sprache des Romans zu einem Ort des Widerstands gegenüber der scheinbaren Homogenität der offiziellen Kultur und damit zur Voraussetzung für die Entstehung des Neuen. Die Weiblichkeit der Jugendgeneration lässt sich zwar dem katholisch-ehelichen Moralprinzip unterordnen, gleichzeitig wird aber auch im Text eine subversive Strategie in Gang gesetzt: Im Gegensatz zur ersten Ehe von Ritas Mutter, die den katholischen Normen von Mütterlichkeit und Hausfrauenrolle gehorcht, ist Ritas Vorstellung von ihrem Eheleben anders: „mit dem Tag der Hochzeit, wolle sie ein anderes Leben anfangen und sich nur noch amüsieren“ (228). [Hervorgehoben von Y.K.] Infolge dieser Verschiebung geschieht eine Umfunktionalisierung der Ehe, indem das katholische Sakrament instrumentalisiert wird. Es ist nicht nur keine Rede von der reproduktiven Funktion dieser Ehe, sondern Ritas Ziel des Ehelebens wird beschrieben mit ‚sich nur noch amüsieren zu wollen‘. Durch diese Darstellung der Ehe geschieht die Umkehrung der offiziellen verabsolutierenden Kultur, deren Werte mithilfe literarischer Mittel deplatziert und relativiert worden sind. Die Interdependenzen zwischen den Akteuren mit ihrem nachbarschaftlichen Umfeld lassen sich auch aus anthropologischer Sicht erklären. Dabei handelt es sich um die Darstellung eines Zustands der Kultur, von dem man in der Anthropologie als ‚integrativ gesteigerte Kultur‘ bzw. ‚ge-

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steigerte Einheit nach innen‘ spricht, die zugleich die Verstärkung der Grenzen nach außen bedeutet (Assmann 1992, 144 ff.). Als brisante literarische Darstellung solcher kulturell gesteigerten Formationen sei García Lorcas Werk in der Zeit vor dem Bürgerkrieg erwähnt, insbesondere seine Trilogie (Bodas de sangre; Yerma; La casa de Bernarda Alba). Im Drama La casa de Bernarda Alba (1936) zum Beispiel kündet die Witwe Bernarda Alba eine traditionell acht Jahre dauernde Trauerzeit an, die die strikte Isolation ihrer fünf Töchter von ihrer dörflichen Außenwelt bedeutet. Für sie und ihr Haus zählt der gute Ruf, den sie mit ‚schöner Fassade und familiärer Harmonie‘5 beschreibt. Das Drama endet im letzten Akt mit dem Selbstmord von Albas jüngster Tochter nach einer sexuellen Affäre. Die repressive Haltung innerhalb des Hauses erfährt ihren absurd-tragischen Höhepunkt, als Bernarda Alba in der Öffentlichkeit auf die Jungfräulichkeit ihrer verstorbenen Tochter beharrt: ‚Meine Tochter ist jungfräulich gestorben!‘6 Die analogen Darstellungen hinsichtlich der dominanten Verhältnisse innerhalb der Nachbarschaftsbeziehungen bei García Lorca und Rodoreda kann man als Zeichen für die Kontinuität der repressiven Gesellschaftsverhältnisse in Spanien der Vor- und Nachkriegszeit interpretieren, eine geschichtliche Kontinuität, die im Roman vielfach mithilfe literarischer Mittel hinterfragt und kritisiert wird. Bezieht man den historischen Kontext des im Exil geschriebenen Romans La plaça del Diamant mit ein, so gelingt es besser, die darin enthaltene scharfe Kritik an der katholischen Kirche (als die zentrale Institution mit starkem Einfluss auf Familie und Nachbarschaft) nachzuvollziehen. Dies betrifft sowohl die offizielle Stellungnahme der Kirche zum Bürgerkrieg, den sie als ‚Kreuzzug‘ in Form einer nationalen Bewegung erklärte (Juliá 2006, 31 ff.; Bernecker/Brinkmann 2006, 75 ff.); das gilt aber auch für ihre Stellungnahme zur Regulierung der GenderFragen in der Nachkriegszeit, wie Davies beschreibt: “The greatest obstacle to women’s emancipation in Spain was the Catholic Church whose influence (including during the Franco regime) often shaped state policies.” (Davies 1998, 7) Betrachtet man die mediale Funktion des Körpers in der literarischen Darstellung, so wird in La plaça del Diamant über seine symbolische Vermittlungsrolle die Dynamik zwischen der Kontinuität autoritärer Gesell-

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„[…] buena fachada y armonía familiar“ (García Lorca [1936=] 1997, 623).

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„!Mi hija ha muerto virjen!“ (García Lorca [1936=] 1997, 633)

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schaftsstrukturen und dem Widerstand gegen selbige sichtbar. Im ersten Kapitel des Romans wird der familiäre Status der Protagonistin, eines Waisenkindes, beleuchtet: „Meine Mutter schon seit Jahren tot und kann mir nicht beistehen und mein Vater mit einer anderen verheiratet. […] Und mein Vater verheiratet und ich ein junges Ding allein auf der Plaça del Diamant […].“ (8) Die Verortung der Romanheldin auf dem öffentlichen Platz der Kultur ist als “allegory of her state of mind and her evolution” (Bou 1994, 31) zu deuten. Eine solche Darstellung impliziert aus-gestellt, marginalisiert und schutzlos zu sein, ein Hinweis auf den soziokulturellen Stand des Weiblichen im Laufe der Entwicklung der Romanhandlungen. Der Verweis auf die Körperlichkeit der Protagonistin (als ‚junges Ding‘) darf als Vorausdeutung der darauffolgenden Konfrontation des Weiblichen mit den es umgebenden sozialen Strukturen gedeutet werden. Ortega hat die Bedeutung der Einsamkeit der Romanheldin aus einer psychisch-soziologischen Perspektive begründet. Er hält sie für ein Resultat der abgebrochenen frühkindlichen Identitätsbildung der Romanheldin.7 Die affektive Wirkung der Einsamkeit wird zusätzlich durch den reduzierten Wissenshorizont der Erzählerin mit ihrer „naiven Schilderung“ mancher Geschehnisse (z.B. über die Sexualität) verstärkt, von der Ortega als „ingenuismo“ spricht (Ortega 1983, 81). Der Text variiert die Darstellung des weiblichen Körpers als Objekt des männlichen Begehrens in einer metaphorischen Sprache: Als Quimet nach der ersten Begegnung und dem Tanz auf dem Plaça hinter Colometa her rennt, reißt im Laufen das Band ihres Unterrocks, der daraufhin zu Boden fällt (12). Die Kleidung schützt den Körper und markiert seine Grenze zur Umwelt. Über eine solche semantische Funktion der Kleidung als Grenzzeichen wird die Relation zwischen dem weiblichen Körper und ihrer sexistisch orientierten männlichen Umwelt dargestellt, wie es Scarlett beschrieben hat: “ [...] an article of feminine clothing restricts the body in the same way that the social guidelines prescribing its use restrict the wearer” (Scarlett 1994, 107; dazu auch McNerney 1999, 93 f.). Die Darstellung des Sexuellen mittels verschiedener Strategien zeigt im Roman die Brutalität des Männlichen gegenüber dem Weiblichen als Objekt seiner Begierde, die in Analysen als “trope of the war of the sexes” (Fernández 1999, 105) bzw. als “the battle between the sexes” (Carbonell

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„Este aislamiento es el resultado de la imposibilidad de un proceso de identificación abortado por una temprana orfandad.“ (Ortega 1983, 72)

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1994, 18) beschrieben wurde. So sprechen etwa die Protagonistin und Senyora Enriqueta über ihre sexuellen Erfahrungen in ihrer ersten Hochzeitsnacht. Dabei erzählt Colometa/Natàlia, dass sie mit Quimet über dieses Thema gesprochen habe, weil sie besondere Angst vor dieser ersten Nacht als Ehefrau gehabt habe, nämlich davor, „aufgeschlitzt zu werden und dabei zu sterben“ (51). Daraufhin verweist er im sarkastischen Tonfall auf die Geschichte der ‚Königin Bastamante‘: „[…] ihr Mann hat sie von einem Pferd aufschlitzen lassen, um sich selbst die Arbeit ersparen zu lassen und daran ist die arme Frau dann kaputtgegangen“ (51). Colometa/Natàlia erzählt weiterhin, wie Quimet die Tür von innen verriegelt habe, sodass die Hochzeitsnacht eine ganze Woche dauerte. Daran schließen auch Enriquetas eigene Erfahrungen an: „[…] was mein Mann […] damals immer mit mir gemacht hat: er band mich einfach am Bett fest wie eine Gekreuzigte, weil ich immer lieber davonlaufen wollte“ (51). Bei diesen Darstellungen werden die mädchenhaften Vorstellungen weiblicher Figuren der Sexualität denen der Männerwelt gegenübergestellt. Die naiv-kindliche Erzählweise wird – zusätzlich zu der metaphorischen Bildsprache – durch eine stereotype Charakterisierung des Männlichen als ‚Macho‘ ergänzt, um die Brutalität der sexuellen Erfahrungen wiedergeben zu können. Sander Gilman betont die Bedeutung der Stereotypenbildung in der Analyse von Texten und hebt dabei den proteischen Charakter der Stereotype hervor: „Wir suchen den Ursprung unserer Angst auf in der Welt existierende Objekte zu projizieren, indem wir Modelle unserer sozialen Umwelt übernehmen.“ (Gilman 1992, 13) Die Stereotype sind eine „einfache innerpsychische Symbolisierung der Welt“ und auf die Ängste vor einem Kontrollverlust zurückzuführen (Gilman 1992, 10 f.). Bezogen auf die Werkanalyse heißt das: Die Protagonistin findet ihre sexuellen Erfahrungen in denen der Figur Enriquetas bestätigt, die somit exemplarisch für die der häuslichen Gewalt am weiblichen Körper stehen. Daran anschließend ist die Assoziationskette vom sexuellen Akt mit der ‚Kreuzigung‘ nochmals als eine Strategie zu verstehen, die eine religiöskulturgeschichtliche Kritik signalisieren soll. Geht man davon aus, dass das Kind in seiner frühkindlichen Vorstellung „die Welt als bloße Erweiterung des Selbst“ annimmt (Gilman 1992, 9), so kann man die dargestellten Erfahrungen Enriquetas als eine Erweiterung von Natàlias Selbst betrachten. Somit verkörpern die dargestellten Bilder der Sexualität die inneren Ängste der weiblichen Figuren als Objekte der männlichen Begierde. Gilt die Bil-

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dung von Stereotypen als ‚eine Begleiterscheinung des menschlichen Individuationsprozesses‘ (Gilman 1992, 9), so sind auch die Fälle von Colometa und Enriqueta als Prozesse der Identitätsbildung zu interpretieren. Diese weibliche Identität wird im Roman in der Konfrontation ihrer mädchenhaften Vorstellung von Sexualität mit der brutal männlich triebhaften Vorstellung von Sexualität beschrieben. Anders sind die Darstellungen der Körperlichkeit in der zweiten Ehe der Erzählerin. Hier kann man von einer starken Reduktion oder sogar dem Verschwinden des Körpers sprechen. Ein bedeutendes Merkmal des Ehemanns ist dessen Impotenz. Dies veranlasst in der Nachkriegszeit die Aussparung der sexuellen Dimension in der zweiten Ehe der Protagonistin. Bei der Jugendgeneration liegt die Betonung auf der Macht der institutionellen Gesellschaftsstrukturen, weshalb die Körperlichkeit deutlich in den Hintergrund tritt, wenn sie nicht sogar gänzlich verdrängt wird oder verschwindet. Das zeigt sich am Beispiel der Darstellung von Ritas Eheleben mit einem minimalen Maß an Körperlichkeit wie auch ihrer Emotionen. Auch im Falle des Sohnes liegt die Betonung auf der Darstellung der institutionellen Regulierung des Körpers. So wird vor allem über seinen Eintritt in das Militär berichtet, einer Armee, die einst seinem leiblichen Vater den Tod brachte. Über die Jugendgeneration in der erzählten Welt erfährt man überwiegend von der Darstellung eines ‚kollektiven Körpers‘. Deshalb ist es notwendig, hinter der metaphorischen Bildsprache auch nach Spuren eines zum Schweigen gebrachten ‚individuellen Körpers‘ zu fragen, um dessen Existenz im Text lesbar zu machen. Aus dieser Perspektive verrät die formale Integration der Jugendgeneration in die staatspolitischen und religiöskatholischen Institutionen (Militär und Ehe) einiges über den formierenden Druck der institutionalisierten Macht, der das Individuum während der spanischen Franco-Regierung ausgesetzt ist (zu diesem Ergebnis kommt auch Sherzer 2000, 63). Die Zugehörigkeit des Sohnes zum Militärapparat der Sieger ist demzufolge in Verbindung mit der politischen Staatsmacht zu betrachten: „Toni konnte nicht mit in die Kirche gehen, aber er kam zum Essen, in Uniform und in Uniform tanzte er dann auch. […] Und als ich mit dem Soldaten tanzte, der mein Sohn war, und als ich meine Hand mit all den Linien zwischen Handgelenk und Fingerspitzen ganz platt gegen die Hand meines Sohnes preßte, da war mir, als ob der

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Bettstab mit den übereinandergestapelten Holzkugeln abbrechen würde, und ich ließ seine Hand los und legte meine an seinen Hals und drückte zu, und er sagte, aber was machst du denn, und ich sagte ihm, ich erwürge dich.“ (231 f.) [Hervorgehoben von Y.K.]

Die distanzierte Haltung Tonis, nicht die Kirche betreten zu wollen, impliziert eine in der Jugendgeneration vorhandene kritische Haltung gegenüber der Religion. In der Beschreibung der Beziehung zwischen Mutter und Sohn tritt dann aber auch die Bedeutung der militärischen Macht in den Vordergrund. Über eine Assoziationskette von unerträglichem Druck der Hand, Fingerkontakten und Bettstab, werden die gewalttätigen sexistischen Erfahrungen der Protagonistin in der ersten Ehe vergegenwärtigt. Infolge dieser Textpassage werden die Motive ‚Uniformjacke‘ und ‚Zuchtperlenkette‘ verwendet, denen eine symbolische Funktion zu kommt: „Und als der Tanz mit meinem Sohn zu Ende war, verfing sich die Zuchtperlenkette in einem Knopf an seiner Uniformjacke, und die Perlen fielen alle auf den Boden [...].“ (232) Eine solche Relation zwischen diesen beiden Symbolen während des Tanzes verweist auf eine gewisse Grenze zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen. Der Schmuck ist mit dem Körper verbunden und dekoriert ihn: “as inner space of women’s vivencia” (Scarlett 1994, 188). Die Verwendung dieser Elemente in der Romanwelt kann man in Anlehnung an ein ethnologisches Modell der „limitischen Struktur“ genauer deuten. Damit ist die Möglichkeit des Menschen gemeint, selbst „zum Träger von Grenzzeichen“ zu werden, z.B. durch Tätowierungen, Schmuck usw. (Mühlmann 1985, 19 f.). Demzufolge wird im oben erwähnten Textabschnitt mittels der weiblich und männlich konnotierten Elemente (Perle und Uniform) auf die Existenz dieser Grenze hingewiesen. Das Zerreißen der Kette (231 f.) verweist somit auf die Dominanz der männlichen Macht gegenüber der Ohnmacht des Weiblichen in der Romanwelt, die in den Gesellschaftsverhältnissen der Nachkriegszeit zugleich auch militärisch institutionalisiert ist. Die Inszenierungen von Körpern unterscheiden sich im Roman in der Phase vor und während der Kriegszeit von jenen der Nachkriegszeit grundsätzlich. Im ersten Teil des Romans ist der Körper zugleich der Gewalt des Krieges wie auch der von ‚Machos‘ ausgesetzt. Die Darstellungen des Körpers in der Nachkriegszeit sind charakterisiert durch sein Verschwinden un-

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ter dem Druck der gesellschaftlichen und politischen Institutionen. Es ist erkennbar, dass seine Existenz zum Schweigen gebracht wurde. Wie aus der Analyse hervorgeht, entfaltet der Roman die Darstellung der autoritären gesellschaftlichen Verhältnisse programmatisch, wofür die nachbarschaftliche Struktur mit ihrem be- und entlastenden Charakter exemplarisch ist. Damit einhergehend ist die Bedeutung der Performativität. Diese findet ihren Ausdruck in verschiedenen literarischen Mitteln (etwa in den theatralischen, visuellen, sprachlich-bildlichen oder im Vollzug gewisser normativ-sprachlichen Aussagen), wie sie sich im Roman vor allem im Hinblick auf die dominante Rolle der Nachbarschaftsbeziehungen und ihre Mitwirkung auf die Konstruktion des sozialen Geschlechts zeigen. Senyora Enriqueta reguliert, evaluiert und lenkt das Handeln der Heldin im Verlauf der Entwicklung. Ihre Rolle bei der Krisenbewältigung durch Arbeitsvermittlungen ist für die Protagonistin existenziell. Ähnliches gilt für ihre Hilfsbereitschaft bei der Erziehung von Colometas/Natàlias Kindern, womit auch ihre Mitwirkung bei der Sozialisation angesprochen ist. Als Repräsentantin des traditionell-katholischen Wertesystems in der dargestellten gesellschaftlichen Ordnung verweist sie auf Analogien zur männlichen Figur Quimet. Quimets Körper wird krankhaft und von den Würmern geschädigt beschrieben (85 f.). Fällt der ‚krankhafte‘ Quimet dem Bürgerkrieg zum Opfer, überlebt Senyora Enriqueta hingegen. In der Figur Senyora Enriquetas verkörpern sich sinnbildlich das Weiterleben und die Verschränkung des katholischen und patriarchalen Werte- und Normensystems in der Nachkriegszeit Spaniens, durch welches das Nebeneinander der ‚alten‘ und ‚neuen‘ Gesellschaftsstrukturen im Roman La plaça del Diamant veranschaulicht wird.

5 Krieg als homöopathisches Mittel?

Die Heldin des Romans La plaça del Diamant erzählt eine Geschichte, in der sie als Frau nicht deren Subjekt, sondern ihr Opfer und Objekt ist, wie dies vor allem die feministischen Ansätze hervorgehoben haben: “She [Colometa], as ‘Woman’ is not the ‘Subject’ of historical events, not even an active spectator of them.” (Carbonell 1994, 18) In der erzählten Welt lässt sich eine Dynamik erkennen, die sich in Form eines breiten Subtextes entfaltet, um die dargestellte historisch-gesellschaftliche Kontinuität mittels verschiedener poetischer Verfahren und narrativer Erzählstrategien zu durchbrechen. Auch bei der Darstellung des Krieges lassen sich zwei Textebenen erkennen: die des ‚Besiegten‘ im Bürgerkrieg und die des ‚Weiblichen‘. Daraus folgernd wird der Krieg zusätzlich zu seinen destruktiven Auswirkungen auch sinnbildlich quasi als ‚ein homöopathisches Mittel‘ gegen die autoritären männlich-dominanten Gesellschaftsverhältnisse im Roman dargestellt. Aus der weiblichen Perspektive wird Gewalt mit Gewalt bekämpft. Ausgehend von solch doppelter Perspektive wird im Folgenden diskutiert, inwiefern sich der Text zum Thema Krieg ambivalent verhält. Der Krieg wird im Roman durch seine zerstörerischen Aspekte beschrieben, wenn es beispielsweise heißt: „[…] der Krieg saugte alles in sich hinein und brachte allen den Tod“ (167). Dies ist die Perspektive der Besiegten, die im Zusammenhang mit den Darstellungen der Sieger zu betrachten ist. So wird im Roman an verschiedenen Stellen über die Einstellungen der Siegergruppe berichtet. Wichtig für die Betrachtung des SiegerBesiegten-Verhältnisses sind die Gespräche zwischen den Nachbarn der Heldin. Aus diesen Gesprächen kann man als Gemeinsamkeiten feststellen, dass sie zum Mittel- oder Großbürgertum (u.a. Haus- oder Ladenbesitzer)

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gehören und pro-monarchistisch eingestellt sind (Enriqueta). So beschreibt eine Figur das Verhältnis zwischen Armen und Reichen so, dass „die Armen ohne die Reichen verloren sind“ bzw. „nicht leben können“ (132; 138). Eine andere vertritt folgende Meinung über den Krieg: „[…] mir gefällt dieser Krieg. Ein Monat noch und dann haben wir Frieden. Ich hab da so meine Erfahrungen. Womit ich allerdings nie einverstanden war, das waren die Krawalle in der Stadt und das mit dem Kirchenanzünden am Anfang, denn das sind alles Dinge, die eher ein schlechtes Licht auf uns werfen und sonst nichts […].“ (144) Zu dieser Gruppe gehört auch Senyora Enriqueta aus dem ‚Mikrokosmos der Nachbarschaft‘. Beim Gespräch zwischen dem „Mann aus dem Laden“ und dem „Milchmann“ (so werden sie benannt) verlangt letzterer die sofortige Zahlung des Geldbetrags, da er nicht weiß, ob er unter den sich zunehmend verschlechternden Kriegsverhältnissen morgen noch kommen könne. Darauf meldet sich Enriqueta mit den Worten: „[…] die Kühe werden doch wohl keine Revolution machen, und der Milchmann sagte, das nicht aber […]“ (132). Bei dieser Konstellation stehen der Siegergruppe die gefallenen Opfer im Umkreis der Protagonistin wie Quimet, Cintet, Mateo und Julieta gegenüber. Aus dieser Perspektive ist ‚für‘ oder ‚gegen die Revolution‘ ein entscheidendes Unterscheidungskriterium für die Darstellung der Figuren. Die konterrevolutionäre Grundeinstellung ist charakteristisch für die Figuren der Siegergruppe wie ‚der Mann aus dem Laden‘ oder Senyora Enriqueta. Dass die revolutionäre Haltung als Grenzmarkierung zwischen den Siegern und Besiegten gelten kann, zeigt sich vor allem an einer Textstelle, an der nach Quimets Tod die Protagonistin von „dem Mann mit der Schürze“ als „ein Kommunistenweib“ bezeichnet wird (170). Zu dieser Siegergruppe zählt auch der Lehrling Quimets, der ein Bein im Krieg verloren hat, und von dessen Verdienst im Kriegsgeschäft die Rede ist: „[…] und er [Lehrling] sagte zu mir [Natàlia], daß er jetzt sein eigenes Geschäft hätte, und daß er den Krieg auf der anderen Seite mitgemacht hätte, und das würde ihm jetzt natürlich eine Menge Vorteile einbringen“ (175 f.). Die Betonung der materiellen Werte (durch soziale Klassenzugehörigkeit oder Vorteilsgewinn nach Kriegsende) sowie die solidarische Haltung zur katholischen Kirche zeigen im Werk La plaça del Diamant die negative, inhumane Seite des Krieges als ein Mittel zum Profitgewinn seitens der Sieger aus der Sicht der Besiegten. Die revolutionäre Haltung ist im Roman mit einem positiven Wert besetzt, wie man der gegen-

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sätzlichen Gruppierung der Figuren entnehmen kann. Diese Feststellung wird auch durch die dargestellten Analogien zwischen Krieg und Revolution unterstützt. Daraus ergibt sich, dass der Krieg in einer zweiten Bedeutung dargestellt wird: In seiner Analogie zur Revolution kann er zu erwünschten Änderungen in den autoritären patriarchalen Gesellschaftsstrukturen führen. Auf dieser Bedeutungsebene ist der Krieg identisch mit der positiv bewerteten Revolution, die bei Rodoreda als ein Ideal gilt: “Revolution was a charged word for Rodoreda and its representation in La Plaça makes itself known not only in terms of its relevance to working women but also as an ideal.” (Ugarte 1999, 305) Ausgehend von der Ähnlichkeitsrelation zwischen Krieg und Revolution kann beiden aus der Perspektive der Frauenfiguren die Funktion eines ‚homöopathischen Lösungs- und Heilmittels‘ gegen sexistische und repressive Gesellschaftsverhältnisse ihres Umfelds zukommen. Eine derartige Semantisierung des Krieges wird im Anschluss an die Kriegs-RevolutionsAnalogie im Folgenden anhand weiterer Indizien im Textmaterial erläutert. Die beiden Ehemänner der Protagonistin sind sexuell durch Machismo (verkörpert im Quimet) und Impotenz (Antoni) gekennzeichnet. Stellt man sich den Krieg auf einer Ursache-Wirkung-Skala vor, so dient er im Roman als eine Option für die Auflösung der repressiven Verhältnisse zwischen den Geschlechtern und bildet dabei einen Lebensraum mit neuen Qualitäten: ‚Das Phallische‘ wurde vernichtet und seine Alternative ist ‚kastriert‘ (Carbonell 1994, 24). Das ist ein Beispiel aus der weiblichen Perspektive für eine ‚revolutionär‘ und positiv konnotierte Semantisierung des Krieges: Sie zieht die Änderung der mehrfach kritisierten Geschlechterverhältnisse im Roman nach sich. Ein zweites Beispiel bezieht sich auf das zentrale Motiv im Roman: die Taube. Buendía Gómez hat in ihrer Analyse des Romans (Mercè Rodoreda: Gritos y silencios en La plaza del diamante, 2008) den Symbolcharakter von Tauben und ihre Bedeutung im Zusammenhang mit den Kriegsdarstellungen ausführlich beschrieben. Sie betont die Doppeldeutigkeit des Motivs Taube als ein domestiziertes, unterworfenes und friedliches Lebewesen. Zugleich werden den Tauben im Roman aber auch gewalttätige, dominierende und eingreifende Eigenschaften zugeschrieben. Solche Ambivalenz symbolisiert Buendía Gómez zufolge die Kritik an den Institutionen des

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Krieges und der Ehe als besondere Organisationen der androzentrischen Strukturen.1 Im Abschnitt 3 dieser Analyse wurde über die Bedeutung der Umbenennung der Protagonistin von Colometa zu Natàlia diskutiert. Die Figur Quimet verbindet eine idealisierte Denkweise mit einer Vorstellung von Weiblichkeit in der ausschließlichen Hausfrauen- und Mutterrolle. Vor den ersten Kriegsdarstellungen im Roman beginnt Colometa/Natàlia ihren Kampf gegen diese Denkweise, deren stigmatisierender Tauben-Symbolik (Colometa = Täubchen) Natàlia sich zu entziehen versucht, wenn sie von der „große[n] Revolution mit den Tauben“ spricht (131). In einer Analogie zu der erwähnten ‚Raumaneignung‘ im Fall der zweiten Ehe wird hier auch eine Strategie der ‚Zurücknahme‘ in Gang gesetzt. Das beweisen die Gespräche Colometas mit anderen Figuren (z.B. mit Quimet, seiner Mutter und Mateo), bei denen diese auf ihre Entscheidung, was mit den Tauben passieren soll, aufmerksam macht. Dabei ist die Rede vom Quälen der Tauben und von der Vernichtung ihrer Nester und Eier (126 ff.). An Quimets Todestag wird auch das Schicksal der Tauben besiegelt. Es wird beschrieben, dass die letzte „mit dem Bauch nach oben“ in einer Ecke liegt (162 f.). Diese Darstellung verdeutlicht, dass diese Similaritätsrelationen zwischen Quimet und den Tauben und deren anschließende Vernichtung in einer Analogie zum Prinzip der oben beschriebenen ‚Raumaneignung‘ der Protagonistin während ihrer zweiten Ehe steht. Diese Strategie manifestiert sich dann in der metaphorischen Form der ‚Zurücknahme‘ bzw. einer Art ‚Zurückeroberung‘, indem die Protagonistin das von den Tauben okkupierte Haus zurückgewinnt. So wird über die Taubensymbolik das Ende eines Kampfes mit dem ersten Ehemann, Quimet, angekündigt.2 Diese Argumentation wird auch durch die Bedeutung des Namens der Protagonistin, Natàlia, die Wiedergeborene unterstützt, die Carbonell in ih-

 1

„En las palomas de La plaza del diamante, descubrimos una gran ambigüedad. […] las identifico como símbolo crítico de las instituciones sociales del matrimonio y de la guerra, organizaciones propias de estructuras androcéntricas, fundamentales para el ejercicio de la dominación masculina.” (Buendía Gómez 2008, 50)

2

„El símbolo de la paloma aparece, nuevamente, unido a Quimet, indicando que la batalla con su marido y con todas las imposiciones y sufrimientos que éste le causaba habían termindao.“ (Buendía Gómez 2008, 81 f.)

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rer Lektüre des Romans als ‚Dekonstruktion der Mann-Frau-Dichotomie‘ interpretiert hat (Carbonell 1994, 25). Ein drittes Beispiel: Die Darstellung der nichtehelichen Liebe von Julieta, der Freundin der Protagonistin, wird in die Analyse einbezogen. Julieta, die im Bürgerkrieg kämpft, erzählt von ihren Liebeserfahrungen, die sie in einer einzigen Nacht mit einem ihrer Kameraden erlebt hat. Mit Verweis auf ihr hartes Leben als Mutter, Haus- und Arbeiterfrau offenbart Colometa der Freundin den Wunsch nach einem ebensolchen Liebesabenteuer, wenn auch nur für eine Nacht: „Ich [Colometa] sagte ihr [Julieta], daß ich auch gern so eine Nacht verbracht hätte wie sie, so verliebt, aber daß ich nur Büros putzen und Staub wischen müsse und die Kinder versorgen […].“ (152) Diese Textstelle zielt darauf, das patriarchale und religiöse Rollenverständnis in Frage zu stellen, ein Aspekt, den Ugarte in seiner marxistisch orientierten Analyse des Romans untersucht hat: “Rodoreda tells the story of a woman working ‘at a Discount’.” (1999, 297) An die Kritik der patriarchalen und religiösen Rollenverteilung knüpft der Wunsch nach Reformen dieser Strukturen an, die in der Idealisierung einer erhofften freien, nichtkonventionellen Liebesbeziehung ihren Ausdruck findet. Anschließend wird auf die Zweite Republik Bezug genommen und in einem ironischen Ton auf den Verlust ihrer freiheitlichen und sozialistischen Ziele infolge des Krieges hingewiesen. Der Liebesakt Julietas, verstanden als Durchsetzung ihrer emanzipatorischen Ziele gegenüber der herrschenden offiziellen Kultur, erhält dadurch das Signum des Revolutionären, wenn auch innerhalb des Bürgerkrieges angesiedelt: „Und daß sie [Julieta], ein einfaches Arbeitermädchen, ohne die Revolution doch nie so eine schöne Nacht voller Liebe und im Luxus gehabt hätte.“ (152 f.) Die Liebesnacht Julietas, als eine emanzipatorische und ‚revolutionäre Aktion‘, markiert eine Grenze gegenüber den konterrevolutionären Figuren der Siegergruppe: Erst unter den Kriegsverhältnissen wird es Julieta ermöglicht, die kulturell vorgegebenen konservativen Vorstellungen von den Geschlechterrollen, die im Roman sonst unverändert bleiben, zugunsten eines Neuentwurfs (freier Liebe) zu verschieben. Das Wechselspiel von der Kontinuität der Tradition und dem Wunsch, diese zu durchbrechen, macht sich auch am Beispiel solcher Konfrontationen bemerkbar: Versucht sich die Protagonistin durch ihre Sympathie für Julieta deren ‚revolutionärer‘ Haltung anzuschließen, so grenzt im Gegensatz dazu Enriqueta Julieta aus, in-

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dem sie deren Verhalten als Normverstoß brandmarkt, „[...] daß diese Revolutionsmädchen ganz schamlose Dinger seien [...]“ (153). Die ambivalente Darstellung des Krieges im Roman La plaça del Diamant zeigt sich als Verdienstmöglichkeit und gleichzeitig als Schadensbringer, aber auch aus der weiblichen Perspektive als Heilsbringer für erwünschte Veränderungen. Nun wird noch nach Konsequenzen der ambivalenten Kriegsdarstellung für die katalanisch-kastilischen Verhältnisse gefragt. „Territorium“, „Geschichte“ und „Sprache“ zählen zu den konstitutiven Elementen des Identitätsdiskurses im allgemeinen Sinn, aber auch im Besonderen, genauer in den sogenannten „minorisierten Literaturen“ Spaniens (Gómez-Montero 2001, 330), zu denen auch das Katalanische gehört. Auch im Roman La plaça del Diamant zählt das historische Moment des Bürgerkrieges (die Niederlage der Republikaner) mit dem Fokus auf Barcelona als Erinnerungsort sowie die Wahl des Katalanischen als Romansprache zu den Bestandteilen einer imaginierten katalanischen Identität. Die Frage, wie sich unter Einbeziehung des historischen Kontextes das Verhältnis zwischen der Gender-Frage und der nationalen Identität im Roman klären lässt, wird im Folgenden weiter diskutiert. Jaume Martí-Olivella hebt die mythisch-allegorische Dimension dieses Romans als Konsequenz einer Art inneren Emigration hervor, die er als ‚typisch‘ für die meisten katalanischen Schriftsteller in der spanischen Nachkriegszeit hält: “Like most Catalan writers in the postwar period, Rodoreda emerged from her crisis by means of a radical process of interiorization and mythical projection.” (Martí-Olivella 1993, 316) Mit Bezugnahme auf das Exilleben der Autorin spricht er von einem politischen Projekt, das er weiterhin mit seiner allegorisch-psychologischen Lesart des Romans verbindet. Daraus resultierend hält er die Verquickung in den narrativen, sprachlichen und autobiografischen Elementen emblematisch für die nationale katalanische Identität: “[…] Rodoreda’s tremendous identity loss was transformed into a subtle literary myth: the myth of language as preserver. […] Her survival, that mythical story of death and rebirth alluded to by Rosenthal in the beginning of this essay, was the survival of a whole nation.” (MartíOlivella 1993, 327) Auch Christine Arkinstall hat in einer bemerkenswerten Untersuchung mehrere Werke Rodoredas (mit Ausnahme von La plaça del Diamant) in ihrer kulturellen und soziopolitischen Matrix unter den Aspekten Gender,

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Class and Nation analysiert. Einige Ergebnisse ihrer Arbeit treffen ebenso auf diesen Roman zu, wenn sie schreibt: “Fundamental to Rodoreda’s critique of the gendered politics of the Catalan middle class is the repudiation in her narratives of marriage and motherhood: institutions that perpetuate the patriarchal family and impede the full and equal access of women to the public sphere.” (Arkinstall 2004, 22) Diese beiden Auffassungen aufgreifend, erscheint mir das Verhältnis des Romans zu den Themen des Bürgerkriegs sowie zur katalanischen Identität ambivalent zu sein: Einerseits bekommt die Darstellung der Erfahrungen der Protagonisten als Opfer dieser Kriegsverhältnisse die Dimension einer Traumaverarbeitung (Krieg als zerstörerischer Faktor); andererseits gibt es aber auch einen zweiten Darstellungsmodus des Krieges im Roman, der der Logik des ersteren (zerstörerischen) widerspricht, indem er als ein ‚homöopathisches Lösungs- und Heilmittel‘ gegen repressive gesellschaftliche Verhältnisse und somit als ein nützliches Mittel dargestellt wird. Daraus resultierend richtet sich Rodoredas Kritik in ihrem Roman gezielt auch gegen die katalanische Nationalistenbewegung und ihre idealisierten und traditionellen Vorstellungen von Weiblichkeit in der Hausfrauen- und Mutterrolle. Am deutlichsten hat diesen Aspekt Victor Sevillano in seiner Analyse von Rodoredas Kriegsdarstellung im Roman beschrieben, indem er von einer ‚Entmystifizierung‘ der von den Republikanern behaupteten revolutionären Realität spricht (Sevillano 2008, 329 ff.). Er verweist dabei auf das Versagen und die Verantwortung der Republikaner, denen es nicht gelungen ist, die neuen freiheitlichen bürgerlichen Werte mit jenen der Tradition in Einklang zu bringen.3 An dieser Stelle sei noch einmal auf die Analogien zwischen Quimet, dem ersten Ehemann der Heldin, und Antoni Gaudí, dem katalanischen Nationalhelden, verwiesen (Abschnitt 3). In der Figur Quimets fallen die katholischen und nationalistischen Wertvorstellungen als Verkörperung des religiös-patriarchalen Rollenverständnisses von Weiblichkeit zusammen: seine politisch-republikanische Orientierung und sein Selbstverständnis als ‚Haupt der Sagrada Família‘ mit Colometa in ihrer Hausfrauen- und Mutterrolle. Die Dechiffrierung dieser Strategie bedeutet Kritik am nationalis-

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„El món de La Plaça del Diamant […] mostra que l’enemic mès important de la República venia des de l’interior per la incapacitat d’harmonitzar velles tradicions i noves llibertatas.” (Sevillano 2008, 338)

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tisch-katalanischen Idealismus und seinem Weiblichkeitsideal, wie es Arkinstall am Beispiel anderer Werke Rodoredas konstatiert hat: “Conversely, the noucentista symbol of Catalan nationalism created by Eugeni d’Ors, the Ben Plantada [The Well-Planted Woman], situates Catalunya at the other extreme of the patriarchal binary opposition pertaining to woman, as an idealized Virgin Mother. […] It is on these conservative aspects of Ors’s philosophy, and their implications for gender and class, that Rodoreda will focus her critique of the Ben Plantada in her first novel, Sóc una dona honrada? […].” (Arkinstall 2004, 22 f.; kursiv im Original)

La plaça del Diamant gehört nicht zu Arkinstalls Untersuchungsgegenstand, ihre Feststellungen treffen aber dennoch auch hier zu, wie es in der Analyse dargelegt wurde. Damit sind die Aporien der sozialen Identitätsbildung angesprochen, wie Seyla Benhabib es beschrieben hat: „Alle Identitätsbewegungen sind soziologisch gesehen folgendem Paradox ausgesetzt: Sie sind gezwungen, die Kontingenz oder Willkürlichkeit behaupteter Identitätsdefinitionen festzustellen, während sie gleichzeitig für deren essentiellen Charakter eintreten.“ (Benhabib 1999, 19; kursiv im Original) Rodoredas Roman gehört zur katalanischen Kultur, vor allem weil er in dieser Sprache niedergeschrieben wurde (etwa die zugeschriebene mythische Dimension von Martí-Olivella 1993). Gleichzeitig rebelliert er gegen sie, weil die Frau ausgehend von ihrer kulturgeschichtlich marginalisierten Position beschrieben wird und damit dem Vorwurf der Ungleichheit in der kulturellen Praxis ausgesetzt ist. Betrachtet man diesen Roman als einen Bestandteil der katalanischen Bewegung, so muss die Kritik des Katholizismus als seine Besonderheit berücksichtigt werden. Der Sonderstatus des Romans La plaça del Diamant wird deutlich, wenn man ihn unter den katalanisch sprechenden, Francokritischen Tendenzen in Spanien betrachtet, für deren Formierung dem Katholizismus eine entscheidende Rolle zukam: “In the mid-1950s a new Catalanism was born. It was strongly influenced by Catholicism and rejected the Catalanism of the Republic, holding it partly responsible for the Civil War on account of its anticlericalism.” (Balcells 1996, 139) Der Roman La plaça del Diamant schreibt sich also nicht nur in den katalanischen Kulturkreis ein, sondern durchkreuzt zugleich auch das damit entstandene Postulat einer nationalen Identität. Dies ist das Moment, wel-

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ches Davis (auch Arnau 1978, 116) an diesem Roman hervorhebt und über die Grenzen der katalanischen Identität als Huldigung der Verlierer des spanischen Bürgerkriegs versteht: “Colometa’s life experiences of the Civil War closely reflect those of the overwhelming majority of Spanish women. In this sense the novel is their testimony and a homage to their resilience.” (Davis 1998, 225)

Dritte Momentaufnahme: Die DDR unter der Sozialistischen Einheitspartei-Regierung D ER

GETEILTE

H IMMEL

VON

C HRISTA W OLF

1 Von der ‚alten‘ und ‚neuen‘ Polis: Literatur im sozialen Gefüge

Christa Wolf (mit dem Geburtsnamen Ihlenfeld) wurde am 18. März 1929 in Landsberg an der Warthe (im heutigen Polen) in eine Kaufmannsfamilie geboren. Nach dem Krieg floh sie 1945 mit ihrer Familie nach Mecklenburg, wo sie im Jahr 1949 ihr Abitur ablegte. Im selben Jahr wurde sie Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der DDR und begann ihr Germanistikstudium in Leipzig und Jena, welches sie 1953 abschloss. 1951 heiratete sie den Schriftsteller Gerhard Wolf; aus dieser Ehe gingen zwei Töchter hervor. Christa Wolf übte nach dem Studium unterschiedliche Tätigkeiten aus, unter anderem arbeitete sie von 1953 bis 1959 als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Schriftstellerverband, 1956 wurde sie Cheflektorin des Verlags Neues Leben. Von 1958bis  1959 arbeitete sie als Redakteurin der Zeitschrift neue deutsche Literatur, außerdem war sie zwischen 1959 und 1962 als Lektorin des Mitteldeutschen Verlags in Halle tätig. Vor allem in den 1960er Jahren galt Christa Wolf als politisch aktive sozialistische Schriftstellerin. Sie war von 1963 bis 1967 Kandidatin des Zentralkomitees der SED. Zu Beginn der 1980er Jahre unterrichtete sie als Gastdozentin an der Universität Frankfurt am Main. Sie erhielt zahlreiche Ehrentitel und Auszeichnungen der DDR und der BRD, u.a. den Heinrich-Mann-Preis 1963 für Der geteilte Himmel, die Ehrendoktorwürde der Universität Hildesheim 1990, den Georg-BüchnerPreis 1980, den Nationalpreis I. Klasse der DDR, 1987 den ElisabethLanggässer-Literaturpreis und den Nelly-Sachs-Preis 1999. Christa Wolf starb am 1. Dezember 2011 in Berlin.

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Die schriftstellerische Karriere Wolfs begann mit ihrer 1961 erschienenen Erzählung Moskauer Novelle. Zwei Jahre später publizierte sie beim Mitteldeutschen Verlag den Roman Der geteilte Himmel, der zu seiner Entstehungszeit für kontroverse Diskussionen sorgte. Das 1964 von Konrad Wolf verfilmte Werk ist „der erste Roman, der als spezifische DDR-Prosa weltweit Anerkennung findet“ (Schulz 2004, 813). Anders verhielt es sich mit Wolfs darauffolgendem Roman Nachdenken über Christa T. aus dem Jahr 1968. Weder Wolfs Vorstellungen von der literarischen Darstellung, bekannt als ‚subjektive Authentizität‘, noch ihre an Leukämie gestorbene Romanheldin entsprachen den Erwartungen der Verlagsgutachter, die die Funktion der Literatur entsprechend der kulturpolitischen Leitlinien vom ‚Basis-Überbau-Modell‘ im ‚Vorantreiben des Sozialismus‘ sahen. Solch ein politisch-ästhetisches Urteil entspringt insofern einer idealistischen Denkweise, als dass seine Legitimations-grundlage die Dichtung als ‚Fiktion‘ einer auf Wahrheitsanspruch gegründeten ‚Realität‘ entgegensetzt (Blumenberg 1986; Assmann 1980). Dabei ist es gleichgültig, welcher Zweck erfüllt werden soll, ob die Regulierung einer Polis wie im platonischen Idealstaat oder in Bezug auf Urteile von Ästheten und Theoretikern des Moderne-Projekts wie bei Immanuel Kant und Friedrich Schiller oder im Falle der sich darauf beziehenden materialistischen Verfechter der idealistischen Lehre mit dem Ziel des Aufbaus eines kommunistischen Staates wie in der DDR in den 1950er und 1960er-Jahren. Mit solch einer verwirrungsstiftenden Wirkung der Dichtung in ihrem sozialen Gefüge ist der zentrale Konfliktpunkt im Hinblick auf die DDR-Gesellschaft und DDRKunst in der Verflechtung von ‚Geist und Macht‘ (Goodbody 1992) angesprochen. Die Bedeutung des literarisches Schreibens unter autoritären politischen und kulturellen Systemen zeigt sich im Falle von Christa Wolfs literarischem Schaffen in der Diskrepanz zwischen den beiden Aspekten: „Politische Loyalität und ästhetische Eigenständigkeit“ (Magenau 2002, 142 f.). Wolfs Ästhetik der ‚subjektiven Authentizität‘ findet sich formal-stilistisch auch in ihrem 1976 erschienenen Roman Kindheitsmuster, der autobiografische Elemente enthält. Christa Wolf macht in diesem Roman die Erinnerung an ihre eigene Kindheit und Jugend und die daran anknüpfende Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus zum Thema ihres literarischen Werkes. Besonders zu erwähnen ist das 1979 geschriebene und erst 1990 nach der Wiedervereinigung Deutschlands erschienene Werk

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Was bleibt, das einen in den Medien heftig ausgetragenen ‚Literaturstreit‘ auslöste. Es ging darum, dass bzw. inwiefern die Intellektuellen im Hinblick auf ihr Verhältnis zu den Repressalien des politischen Systems der DDR verantwortlich und somit auch schuldig seien. Die Zentralfigur der Diskussionen war Christa Wolf mit ihrem Engagement im politisch-gesellschaftlichen Bereich wie auch in ihren literarischen Darstellungen. Bei diesen Diskussionen wurden die Glaubwürdigkeit und die ästhetische Qualität ihrer Werke u.a. in Bezug auf ihr Festhalten an der sozialistischen Gesellschaftsutopie ebenso in Frage gestellt wie ihre politische Vergangenheit. In dem geführten ‚Literaturstreit‘ ging es um Fragen des Verhältnisses von ‚Wahrheit‘ und ‚Fiktion‘ und der damit verbundenen Frage nach Verortung und (Neu-)Bestimmung der Kunst im wiedervereinigten Deutschland. Bezogen auf die Standpunkte der an den Debatten Teilnehmenden aus dem gesamten deutschsprachigen Raum und ihrer Orientierung an ehemaligen politisch-ideologischen westdeutschen oder ostdeutschen Verhältnissen fiel die Antwort auf eine derartige gesellschaftliche Funktionsbestimmung der Literatur unterschiedlich aus. Dabei könnte man die Leitfragen – zugespitzt ausgedrückt – folgendermaßen formulieren: Ist die Kunst/Literatur ‚gesellschaftlich moralisch verpflichtet‘ oder als ‚autonomes und emanzipiertes‘ Objekt zu betrachten? (Gerigk 2006, 238 ff.) Welche Antwort man auf diese Frage auch gibt, beeinflusst dies doch nicht die Tatsache, dass die ‚StasiDebatten‘ um Christa Wolf nach der deutschen Einheit einen Sonderfall darstellen, durch die die Schriftstellerin „mutwillig und ohne sachlichen Grund“ beschädigt wurde (Vinke 1993, 13), denn „[s]chließlich wird nicht bewiesenes Engagement gewürdigt, sondern angeblich fehlendes in einer Art Prozess-Inszenierung angeklagt“ (Gerigk 2006, 242). Zu den wichtigen Werken Christa Wolfs gehören Kassandra (1983) und Medea-Stimmen (1996). In diesen Werken versucht die Autorin eine neue Ästhetik des ‚weiblichen Schreibens‘ (Loster-Schneider 2000, 229 ff.) zu entwickeln. Dafür verwendet sie die antiken Mythen als Folie für eine kritische Betrachtung der männlich-dominierten Kulturgeschichte. Ihre beiden Werke nehmen Bezug auf ihr Leben und ihre Erfahrungen in der DDR. Das autobiografische Werk Ein Tag im Jahr (2003), welches sich auf den Zeitraum von 1960-2000 bezieht, liefert Material vom Alltag und der politischen Geschichte der DDR. In der Erzählung Leibhaftig (2003) kann der Körper der lebensgefährlich erkrankten Ich-Erzählerin als Hinweis auf eine kritische Verarbeitung der Vergangenheit der Autorin verstanden werden.

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Ihr letzter Roman erschien 2010 unter dem Titel Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Darin geht es um ihre Auseinandersetzung mit der Verantwortung der Deutschen für die Verbrechen des nationalsozialistischen Staats. In Wolfs poetologischer Geschichtschreibung bündeln sich die Gedanken zu Heil und Unheil der Geschichte im Allgemeinen mit oder ohne Erwartung des Erlösers wie die des Sündenfalls. Davon zeugt das voran gestellte Walter Benjamin-Zitat im Zusammenhang mit dem Titelbegriff des „Engels“ (der Geschichte). Der messianische Charakter tritt in den Gedanken der Erzählerin auf ihrer Spurensuche zwischen Europa und den USA in den Hintergrund. Der Abschlusssatz des Romans führt dem Leser dieses Zweifeln vor Augen: „Wohin sind wir unterwegs? Das weiß ich nicht.“ (Wolf 2010, 415)

Dass die Debatten über die gesellschaftlichen Funktionszuschreibungen der ‚fiktiven‘ Poetik immer auch die ‚realen‘ gesellschaftlichen Verhältnisse reflektieren, ist seit dem platonischen Idealstaat bekannt. Im geteilten Nachkriegsdeutschland wurde der Kampf um das ‚kulturelle Erbe‘ der deutschen Nation über die Aneignung der ‚Klassiker‘ wie Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller geführt. So wurde Schiller in den deutsch-deutschen Verhältnissen in den Jahren 1955 und 1959 (seinem 150. Todes- und 200. Geburtstag) „zum Konkurrenzobjekt beider deutscher Staaten“ (Roßberg 2009, 11). Innerhalb der offiziellen Kulturpolitik der DDR kam der Aneignung von Schiller als ‚Dichter der Freiheit‘ bzw. ‚Dichter der Nation‘ stellvertretend für den (sozialistischen) ‚Humanismus‘ eine zentrale Funktion zu (Roßberg 2009, 17; Fronzek 2011, 430 f.; Schiller 2006, 54 ff.). Ebenso war Goethe – vor allem seine Faust-Rezeption – im Rahmen der Kulturpolitik der DDR von besonderer Bedeutung. Goethes Faust wurde zur ‚Nationaldichtung‘ erklärt und seine Figur als ‚Persönlichkeitsideal‘ favorisiert (Langermann 2000, 184 f.; Schlenker 1977, 121 f.; Mandelkow 1989, 195 ff.). Konzepte des sozialistischen Realismus bildeten seit Anfang der 1950er Jahre „zumindest programmatisch und in der theoretischen Diskussion“ die Basis der DDR-Literatur (Durzak 1979, 165; dazu auch Baasner 2001, 86 f.). Dabei war die Funktion der Literatur in der staatlich regulierten Kulturpolitik die ‚Veränderung der Welt‘ und nicht ihre ‚Interpretation‘ (im Vokabular von Karl Marx), wie man dies bei-

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spielsweise auch der Rhetorik Anna Seghers auf dem V. Deutschen Schriftstellerkongress im Mai 1961 entnehmen kann: „Ich denke, ein Werk hat Tiefe, wenn es einen wichtigen Ausschnitt der Wirklichkeit so klar, so wahr, so packend darstellt, daß es den Leser aufrüttelt, ihn dazu bringt, diese Wirklichkeit zu begreifen und ihn zum Nachdenken und Handeln bewegt. […] Tiefe verändernde Wirkung geht nur von wirklicher Kunst aus.“ (Zitiert nach Schubbe 1972, 723 f.) Angesichts dieser Erkenntnisse kann festgehalten werden, dass sich die Literatur in der DDR in eine Ordnung fügte, die „alle Bereiche der materiellen und geistigen Produktion innerhalb der Gesellschaft zu erfassen und zu führen beanspruchte“ (Hörnigk 1992, 29 f.). Demnach war die ‚Gesellschaft der DDR‘ nicht nur „der Ort, der die Bedingungen setzte für die Literatur, sondern zugleich ihr Produkt“ (ebd.). Primär aus dieser gesellschaftlich-politisch vorgegebenen Funktion entstammen Begrifflichkeiten wie ‚Etappen-, Aufbau-, Ankunfts-Literatur‘, ‚Ankunfts-Roman‘ usw. In Abgrenzung zur ‚imperialistischen Unkultur‘ und durch Förderung der ‚sozialistischen Nationalkultur‘ (Breuer 1982, 242) wurden die staatlich vorgegebenen Maßnahmen zur Regulierung der Literatur ausgehandelt und durchgeführt: „Die Germanistik war verantwortlich für die Etablierung und Erhaltung einer angemessenen muttersprachlichen Kultur (‚sozialistische Nationalkultur‘): Es entstand der Entwurf einer Leitungswissenschaft Germanistik unter der Führung des Zentralinstituts.“ (Baasner 2001, 80; Hervorgehoben im Original) Der Literatur wurde im Kontext der DDR-Gesellschaft eine entscheidende politisch-gesellschaftliche Rolle bei der Überwindung der Klassenungleichheit zugeschrieben. Darauf basierend gilt neben dem Versuch einer möglichst ‚realitätsnahen‘ literarischen Darstellung die Antizipation der Zukunft als zentrales Merkmal der DDR-Literatur: „Indem sie [die Literatur] mit Hilfe ihrer positiven Helden und optimistischen Schlußwendungen die progressiven Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung betone oder vielmehr antizipiere, sei die Literatur das geeignete Mittel, um den gesellschaftlichen Wandel nicht nur zu dokumentieren, sondern auch voranzutreiben.“ (Ankum 1992, 23) Entsprechend einer solchen ‚didaktischen Funktion‘ war die Literatur (als Teil des ‚Überbaus‘) dazu verpflichtet, die gesellschaftliche Wirklichkeit in dem sie umgebenden „Kulturbund“ zu reflektieren, der „die Organisation der gesamten Intelligenz und kulturell in-

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teressierten Kreisen aus allen Bevölkerungsschichten“ beim ‚Aufbau des sozialistischen Staates‘ zum Ziel hatte (Auszug aus dem Programm der ZK der SED Juli 1957; zitiert nach Schubbe 1972, 478). Der Roman Der geteilte Himmel ist im Kontext der erläuterten politischen und kulturellen Zusammenhänge zu betrachten und zu analysieren. Darin wird Bezug genommen auf den Vollzug eines historischen Moments der politischen ‚Neuordnung der Welt‘ während des Kalten Krieges, der Konfrontation des West- und des Ostblocks mit dem Mauerbau in Berlin im Jahr 1961. Inhaltlich knüpft im Roman der überindividuell-politische Akt der Grenzziehung nachträglich an eine individuelle Liebesbeziehung an, die bereits zerbrochen war. Das Verhältnis dieser beiden Aspekte der Erzählung darf nicht unterschätzt werden. Das beschreibt beispielsweise die Autorin selbst folgendermaßen: „Weil nämlich mein Grundthema, mein erstes Thema für dieses Buch nicht die Teilung Deutschlands war, sondern die Frage: Wie kommt es, daß Menschen auseinandergehen müssen?“ (Zitiert nach Stephan 1991, 37) Damit wird deutlich, dass a.) die Entscheidung der Heldin insofern „keine ganz private“ ist, da die dargestellte gescheiterte Liebesbeziehung als metaphorische Wiedergabe der damaligen deutschdeutschen Verhältnisse mit der historischen Trennung durch den Mauerbau kollektiv-politisch motiviert wird und dass es sich b.) zugleich aber auch um „den schmerzlichen Einbruch des Politischen in den persönlichen Bereich des Menschen [handelt] und wie er damit zurecht kommen muss“ (Mittenzwei 2001, 191). Diese Sichtweise zeigt sich auch darin, wie Christa Wolf in ihrem Werk Der geteilte Himmel erzähltechnisch die Vergangenheit ihrer Protagonistin Rita rekonstruiert, etwa durch einen „montageartig verknüpften Doppelvorgang erinnernder Reflexion und erzählter Vergangenheit [woraus] [...] die geistige Spannung der Erzählung [wächst]“ (Hörnigk 1990, 81). Das Verhältnis dieser Doppelung im Text (individuell – überindividuell) ist Ursache für kontroverse Diskussionen1 gewesen. Obwohl inner-

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Ein älteres Beispiel ist die Sammlung von Martin Reso: „Der geteilte Himmel“ und seine Kritiker: Dokumentation Halle/Saale 1965. Ein neueres ist die Analyse von Ankum über die Rezeptionen zu dieser Erzählung in der DDR und BRD: Katharina von Ankum: Die Rezeption von Christa Wolf in Ost und West: von „Moskauer Novelle“ bis „Selbstversuch“, Amsterdam [u.a.] 1992.

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halb der DDR der Roman zunächst von den dogmatischen linientreuen Parteivertretern als normabweichend bzw. als Inbegriff der „dekadente[n] Lebensauffassung“ (Reso 1965, 83) Wolfs interpretiert wurde, avancierte er im Laufe der Diskussionen zu einem „Musterbeispiel der sozialistischen Nationalliteratur“ (Ankum 1992, 185). Auch in der Bundesrepublik wurde der Text unterschiedlich bewertet. Dabei kam es vor allem im Hinblick auf die „utopisch-marxistische Grundlage von Wolfs Werk“ und ihr Sozialismus-Verständnis, „das sich eindeutig von dem der politischen Führung unterschied“, zu Missverständnissen unter Kritikern und Wissenschaftlern (Ankum 1992, 184 ff.). Wie sehr sich das Werk an die Kulturpolitik des ‚Bitterfelder Wegs‘ anschließt, belegt etwa die Zuordnung der Heldin zu einem Produktionsbetrieb. Erklärte Ziele der Kulturpolitik der DDR (I. Bitterfelder Weg, April 1959) waren vor allem ‚die Einbettung der Kunst-Produktion in die gesamtgesellschaftliche Produktion‘ (Greiner 1974, 100) und „die Aufhebung des Widerspruchs zwischen Hand- und Kopfarbeit“ bzw. die Überwindung der „Arbeitsteilung zwischen Produktionsarbeiten und Kulturschaffenden“, Leitlinien, die unter den Schlagwörtern „Schriftsteller an die Basis“, „Realität als Probe“ und „Greif zur Feder, Kumpel“ bekannt wurden (Emmerich 1996, 128 f.).2 Die Rolle der Literaturkritik bei der Funktionszuweisung der Literatur ist insofern interessant, als es hinsichtlich der politisch-ideologischen Einordnung des Geteilten Himmels im Spannungsverhältnis zwischen DDR und BRD noch immer Unstimmigkeiten gibt. Während z.B. Kähler vom Geteilten Himmel als einem der „Kinder des Bitterfelder Weges der Kunstpolitik unserer Partei der Arbeiterklasse“ (Kähler 1978, 26) spricht, stellt Barbara Dröscher in ihrem 1993 publizierten Werk Subjektive Authentizität: zur Poetik Christa Wolfs zwischen 1964 und 1975 (mit Verweis auf Hilzinger 1986) die These auf, dass Der geteilte Himmel „von den westdeutschen Literaturwissenschaftlern fälschlicher Weise dem ‚Bitterfelder

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Mehr zum ‚Bitterfelder Weg‘: Trommler, Frank: Prosaentwicklung und Bitterfelder Weg, 1975; ders.: Die Kulturpolitik der DDR und die kulturelle Tradition des deutschen Sozialismus, 1981; Rüther, Günther: „Greif zur Feder, Kumpel“: Schriftsteller, Literatur und Politik in der DDR 1949-1990, 1992.

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Weg‘ zugerechnet [worden sei]“ (Dröscher 1993, 43).3 Christa Wolf selbst betont die Bedeutung des ‚Bitterfelder Wegs‘ für die Entstehung der Werke wie Spur der Steine und Der geteilte Himmel in Erinnerung an das 11. Plenum des ZK der SED: „Auch den ‚Geteilten Himmel‘ hätte ich nicht geschrieben, ohne daß ich in einem Betrieb gewesen wäre.“ (Wolf 1991, 269) Angesichts derartiger Unstimmigkeiten scheint die Herangehensweise Zimmermanns effizienter zu sein, da er bei seiner Analyse der Industrieliteratur der DDR den Schwerpunkt weniger „auf den Konflikt zwischen Schriftstellern und Partei als vielmehr [auf] de[n] Stand der Auseinandersetzung zwischen der Führungsschicht innerhalb der Bürokratie und den anderen Klassen und Schichten der Bevölkerung, vor allem der Arbeiterklasse“ setzt (Zimmermann 1984, 3). Der entscheidende Punkt bei dieser Betrachtungsweise besteht darin, dass einerseits durch diesen Ansatz die ideologisch motivierten Ost-West-Positionen in den Analysen leichter überwindbar scheinen (Zimmermann spricht in diesem Zusammenhang von einem Erklärungsmodell: ‚Lenkungs-Reaktions-Schema‘); andererseits betont er (im Hinblick auf die Diskrepanzen zwischen Bitterfelder Programmatik und Bitterfelder Literatur), dass „der entscheidende literarische Wandlungsprozeß lange vor der Bitterfelder Konferenz eingesetzt hat und sich mit dieser weder zeitlich noch ideologisch synchronisieren läßt“ (Zimmermann 1984, 12 f.). Wie die angeführten Positionen zu dem Roman Der geteilte Himmel zeigen, können der Literatur genauso wie der Kritik an ihr in der Verortung innerhalb des kulturellen und gesellschaftlichen Kontextes (z.B. in der DDR oder BRD) unterschiedliche Funktionen zukommen. Erst im Laufe solcher ‚Fremdreferenz‘ oder ‚Heteronomie‘ (Struck 1995; Roughley 1995; Müller 2004) wird der literarische Text zum ‚Werk‘ einer Kultur oder sozialen Gruppe. Literatur (aus ihrem wirkungsästhetischen Blickpunkt betrachtet) ist ein Handlungs- und Sozialsystem, das mit den anderen Sym-

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Auch bei Dröscher 1993 unter Fußnote 1 (S. 43). Eine ähnliche Meinung vertritt Werner Krogmann: „Der ‚Geteilte Himmel‘ ist kein Roman des sog. Bitterfelder Weges […].“ [mit Verweis auf K. R. Mandelkow] (1989, 19). Das Werk wird jedoch prinzipiell im Zusammenhang mit dem Thema ‚Bitterfelder Weg‘ mitdiskutiert, z.B. bei Frank Trommler (1975, 293 ff.); Therese Hörnigk (1990, 75 f.); Rüdiger Bernhardt (2005, 19 f.); Dieter Sevin (1988, 11).

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bolsystemen der Kultur oder einer Gemeinschaftsgruppe interagiert. Auf dieser Ebene kann die Analyse der Literatur mit ihrem Doppelcharakter (von Fiktionalität und Realität) Aufschluss über die gesellschaftlichen Verhältnisse geben, unter denen die Menschen leben. Um solche Dynamik unter den autoritären Verhältnissen der DDR in den 1950/60er-Jahren näher beleuchten zu können, wird auf die Publikationsgeschichte weiterer literarischer Werke eingegangen. Hierfür wurden die Romane Nachdenken über Christa T. (1968) von Christa Wolf und Mutmaßungen über Jakob (1959) von Uwe Johnson ausgewählt. Bereits in ihrem 1968 erschienenen Roman Nachdenken über Christa T. verstößt Christa Wolf gegen die staatlich vorgegebenen Festlegungen über die Literatur. Anders als in Der geteilte Himmel zeigt die Autorin in diesem Roman eher eine ungeschönte Bestandsaufnahme des Lebens in der DDR. Dabei wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft u.a. dadurch problematisiert, dass die Priorität des ‚Kollektiven‘ nicht in den Vordergrund tritt. Dies lässt sich selbst vom voran gestellten Motto des Romans (von J. R. Becher) ableiten: „Was ist das: Dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen?“ Heinrich Mohr hat dessen Bedeutung im Sinne von „Aufhebung der Selbstentfremdung“ gedeutet, als „eine dreifache Identität von kommunistischer Ideologie, vom Leben der Christa T. und vom Thema des Buches der Christa Wolf“ (Mohr 1990, 46). Um möglichst ‚wahrheitsgetreu‘ zu erzählen, übernimmt Wolf von Anna Seghers eine poetische Konzeption der „subjektiven Authentizität“, die, so Wolf, „die Existenz der objektiven Realität nicht nur nicht bestreitet, sondern gerade eine Bemühung darstellt, sich mit ihr produktiv auseinanderzusetzen“ (zitiert nach Hilzinger 1999, 409). Eine solche Darstellungsweise bedeutet zugleich auch eine „Distanzierung vom normativen Realismusbegriff“ (Hilzinger 2007, 64), indem es zu einer Akzentuierung der persönlichen Erfahrungen im Kontext der DDR-Gesellschaft kommt. Der von Christa Wolf eingeschlagene Weg war mit den staatlich vorgegebenen Regulierungsmaßnahmen über die literarische Darstellung mit den optimistischen und ‚positiven Helden‘, entsprechend den Leitideen vom BasisÜberbau-Modell der Realität und ihrer ästhetisch-literarischen ‚Widerspiegelung‘ schwer vereinbar. Allerdings nimmt der Roman Nachdenken über Christa T. – im Gegensatz zum Geteilten Himmel – kein positives Ende, bei dem sich das Individuelle mit dem gesellschaftlichen Glück vereinbaren lässt. Die Fokussierung auf die individuellen Probleme in Nach-

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denken über Christa T. markiert die Abweichung von dem staatlich vorgegebenen, herrschenden Verständnis von Kunst als ‚Widerspiegelung der Realität‘ in der sozialistischen Gesellschaft: „Die Gestaltung des Menschenbildes des Sozialismus – das ist die Hauptaufgabe aller Künste.“ (Grundsätze sozialistischer Kulturarbeit im Siebenjahrplan vom April 1960; Zitiert nach Schubbe 1972, 637; kursiv im Original) So verwundert es nicht, dass der Roman Nachdenken über Christa T. auf Kritik bei den Verlagsgutachtern stieß. Zweimal und in zwei Etappen wurde der Roman jeweils von zwei Personen begutachtet, währenddessen Christa Wolf einige Änderungen vornehmen musste (Magenau 2002, 199 ff.). In den Gutachten werden gewisse Aspekte bemängelt wie „die gesellschaftliche Isoliertheit Christa T.s, die jede ‚humanistische Aktivität‘ unmöglich mache“ (Magenau 2002, 199), ebenso das Lob der „künstlerische[n] Erzählkraft“ oder die Warnung, dass in dem Buch die Gefahr einer „möglichen ideologischen Desorientierung“ des Lesers bestehe (Drescher 1991, 10). Christa Wolf selbst hat über die Publikationsprobleme dieses Werkes von einem „langen Dreck-Protest-Brief“ an den Verlag gesprochen. Darüber hat sie sich in ihrer Korrespondenz mit Brigitte Reimann (datiert am 5.2.1969) folgendermaßen geäußert: „[…] (weil sie seit drei Monaten „Christa T.“ durch alle möglichen öffentlichen und nichtöffentlichen Auseinandersetzungen zerren, ohne daß irgendein Mensch mir je ein Sterbenswörtchen sagen würde: Warum plötzlich der Fertigungsprozeß gestoppt wurde, warum dann die Auflage herabgesetzt auf 5.000, von denen nur 3.000 ausgeliefert werden sollen, warum aber auch die nun seit über einem Monat nicht fertig werden können…).“ (Wolf, in: Drescher 1993, 20)

In der DDR gar nicht erscheinen konnte Uwe Johnsons Roman Mutmaßungen über Jakob (1959). Dabei weist der Text strukturell starke Gemeinsamkeiten mit dem Geteilten Himmel auf: das geteilte Deutschland, eine Liebesbeziehung mit den Liebenden in West und Ost und den Romanhelden Jakob, der sich für das Leben in der DDR entscheidet. Was aber ist der gravierende Unterschied, durch den Der geteilte Himmel als „spezifische DDR-Prosa weltweit Anerkennung finde[n]“ (Schulz 2004, 813) sollte, während Mutmaßungen über Jakob nur in der BRD publiziert werden konnte?

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Jörg Drews verweist auf die zentralen Themen des Romans, die auch sein weiteres Werk bestimmen: „die Chance eines menschenwürdigen Sozialismus, [und] die deutsche Teilung und deren Auswirkungen auf die Menschen beiderseits des Eisernen Vorhangs“ (Drews 2009, 415). Die Frage bleibt aber offen, nach welchen Kriterien die Unterschiede zwischen einem menschenwürdigen und einem nicht menschenwürdigen Sozialismus zu erörtern wären. Wie ist z.B. das Verständnis von einem menschenwürdigen Sozialismus bei Christa Wolf oder bei Bertolt Brecht zu messen? Die angesprochene Publikations-problematik bei Nachdenken über Christa T. dürfte ein Beweis dafür sein, dass auch Christa Wolfs Verständnis von Sozialismus nicht mit dem der Partei gleichzusetzen ist. Carsten Gansel spricht in seiner gedächtnistheoretisch orientierten Analyse der Literatur im Gesellschaftskontext des ‚Realen Sozialismus‘ von „Gegen-Erinnerung“ und „Gegen-Diskurs“, worunter er die textuellen Elemente (narrativ, rituell, ikonisch) meint, die eher die autoritären Ansprüche des Staats negieren bzw. diesen widersprechen. Gansels Lektüre von Johnsons Werk läuft darauf hinaus, dass er die Hegemonisierung des offiziellen Gedächtnisses in der DDR mit literarischen Mitteln in Frage stellt (Gansel 2007, 20 ff.). Sein Fazit über die Besonderheit von Johnsons Werk vor allem in Bezug auf Mutmaßungen über Jakob und die Teilung Deutschlands lautet folgendermaßen: „Bereits vor dem Mauerbau von 1961 wirkt die offene Grenze als literarische Kategorie, weil sie zwei Ordnungen trennt, ‚nach denen heute in der Welt gelebt werden kann‘ [Johnson zitierend].“ (Gansel 2007, 20) Eine weitere Erklärung für die unterschiedliche Rezeption von Wolf und Johnson bietet Kirsten Søholm (1990). Sie hat die Mutmaßungen und den Geteilten Himmel im Hinblick auf modernes ‚neosynthetisches Denken‘ mit seinen Paradigmen wie ‚Fortschrittsglaube‘, ‚Rationalisierung‘ und ‚Emanzipation‘ des Subjekts miteinander verglichen. Zur Diskussion stehen für sie zwei moderne/postmoderne Denksysteme (u.a. in Anlehnung an Michel Foucault, Norbert Elias und Jürgen Habermas), die die beiden Werke repräsentieren. Darauf aufbauend weist Søholm auf eine im Geteilten Himmel enthaltene Doppelheit von „Einheitssuche“ (wie die Motive Mutter, Kindheit, Liebe, Heimat) und „Brucherfahrung“ (Verlust, Verfall, Trauer, Trennung) hin, die sich auch in den Einheitsräumen und Totalitätsentwürfen (Partei, Kollektiv, Werks-Brigade usw.) in der Überzeugung eines zu verwirklichenden Sozialismus darstellt bzw. diese konstruiert und

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weiterschreibt (1990, 1517 f.). Solchen Darstellungen stehen die Verhältnisse in Johnsons Mutmaßungen gegenüber, bei deren Konstruktion er auf diesen ‚Diskurs der Moderne‘ exemplarisch am Beispiel seiner Hauptfigur Jakob mit dessen mysteriösen Tod verzichtet. Søholms Schlussfolgerung lautet: „Bei aller Kritik der realexistierenden Gesellschaft befindet Christa Wolf sich innerhalb des großen, alleslegitimierenden Diskurses der Moderne von Emanzipation, Fortschritt usw., der übrigens nicht nur im Aufbau des Sozialismus eine legitimierende Funktion hatte, sondern als Legitimationsgrundlage beider industriellen Gesellschaftssysteme der Moderne dient. […] Aber eine aktive Position außerhalb der Moderne ist für Uwe Johnson in diesem Roman nicht denkbar: Er läßt seinen Helden konsequenterweise verschwinden, was vielleicht den eigentlichen Realismus dieses Buches ausmacht.“ (Søholm 1990, 1522)

Im Anschluss an Søholms Feststellung zeigt sich ein wichtiger gemeinsamer Aspekt zwischen den untersuchten Romanen unter autoritären Regimen, nämlich dass auch ein literarisches Werk wie Der geteilte Himmel, das in seinem Kontext das Modernisierungsprogramm aktiv vorantreibt, die Erfahrung des Bruches und des Leidens des Individuums und die Sehnsucht nach Einheit mit den anderen Romanen, die solchen Status nicht in Anspruch nehmen, teilt. Dieses Festhalten an dem ‚Diskurs der Moderne‘, dessen Genese sich vielfach mit dem ästhetischen überschneidet (Habermas 1996, 7), ist zugleich das entscheidende Kriterium für die Positionierung des Geteilten Himmels als Kontrast zu den beiden Romanen Savushun, Drama der Trauer und La plaça del Diamant. Von Denkern des Moderne-Diskurses wurde der Kunst bzw. Literatur infolge ihres Autonomiepostulates die Funktion eines Versöhnungsortes für die mögliche Überwindung des in der Folge des technisch-fortschreitenden Modernisierungsprozesses eingetretenen Bruches zwischen dem Individuum und seiner Lebenswelt zugeschrieben (z.B. in Schillers Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen). Entstand einst das anachronistische projektive Moderneverständnis in der Verflechtung mit jenem Autonomiepostulat der Kunst (Schmidt 2001; Heidbrink 1999; Bürger 1983), so gibt in der DDR der 1950er und 1960er Jahre der Legitimationsdruck der Dichtung Zeugnis von der Unmöglichkeit seiner Realisierung unter den so-

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zialen Bedingungen des modern-industriellen ‚materialistischen Idealstaats‘ am Beispiel der oben angeführten Publikationsgeschichten.



2 Das ‚schöne Geschlecht‘ - Maßstab für den Fortschritt?

Über die Rolle der Frau in der Gesellschaft der DDR wird, wie über vieles andere innerhalb der deutsch-deutschen Verhältnisse, kontrovers diskutiert. Die Fragen zu den Geschlechterverhältnissen sind integraler Bestandteil der intersubjektiven Handlungen bzw. des kulturellen ‚Ver- und Aushandelns‘ zwischen Männern und Frauen: „Sie waren stets eine Frage des ‚Aushandelns‘ zwischen Frauen und Männern, mitgeprägt durch soziale und ökonomische Faktoren und von den maskulinen Entwürfen von Weiblichkeit und Männlichkeit genauso wie die femininen Phantasien über Männlichkeit und Weiblichkeit – die sich freilich weit schwieriger rekonstruieren lassen.“ (Habermas 1993, 499 f.)

Im Kontext der DDR-Gesellschaft kann man über solche Aus- und Verhandlungen durch Zahlen, Daten und Fakten wie auch die Wirksamkeit bestimmter Metaphern im Hinblick auf die gesellschaftliche Verortung des ‚schönen Geschlechts‘ Erkenntnisse gewinnen. 1946 setzte die SED den Rahmen für eine egalitäre Kulturpolitik in ihren ersten Verlautbarungen über die Ziele der Partei folgendermaßen: „[...] die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied von Rasse und Geschlecht“ (Wiggershaus 1979, 157 f.). Die SED forderte dabei „im besonderen noch einmal die Gleichberechtigung der Frau im öffentlichen Leben und Beruf“ (ebd.). Später wurde diese Gleichberechtigung in der Verfassung von 1949 durch weitere Artikel für „alle Gebiete des öffentlichen und privaten Lebens“ festgeschrieben, sodass die Frauen – zumindest programmatisch – „zum erstenmal in der deutschen Geschichte rechtlich, ökonomisch und politisch den

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Männern gleichgestellt wurden“ (ebd.). Als ein typisches Bild der 1950erJahre in der DDR gilt die „Eingliederung von Frauen in die Betriebe durch regelrechte Kampagnen“ (Nave-Herz 1993, 107). Solche soziale Mobilität der Arbeitskräfte entsprach den Vorstellungen der DDR-Regierung über den gesellschaftlich-revolutionären Fortschritt. Infolge dieser Politik stiegen die Erwerbstätigkeit und die damit verbundene ökonomische Selbstständigkeit der Frauen deutlich an. So kann man beispielsweise im Buch Die Chronik der Frauen (erschienen 1992) Informationen über die steigende Berufstätigkeit von Frauen in der DDR-Gesellschaft entnehmen: „Allein zwischen 1960 und 1971 erhöhte sich der Beschäftigungsgrad von Frauen von 64 auf 80 %. Damit wies die DDR auch im internationalen Vergleich den höchsten Frauenanteil im Erwerbsleben auf.“ (Kuhn 1992, 528) Die Spuren der kulturellen Ver- und Aushandlungen über die GenderOrdnung lassen sich auch an den sprachlichen Bildern ablesen. So hat einst Karl Marx den Zusammenhang von gesellschaftlichem Fortschritt und der Rolle der Frau in der Gesellschaft folgendermaßen beschrieben: „Der gesellschaftliche Fortschritt lässt sich exakt messen an der gesellschaftlichen Stellung des schönen Geschlechts (die Häßlichen eingeschlossen).“ (Marx 1976, 582 f.) Seine Rhetorik über das „schöne Geschlecht“ als Maßstab für die gesellschaftlichen Verhältnisse hat zwei Bedeutungen: Wortwörtlich im kollektiven und politischen Sinne der Steigerung gesellschaftlicher Produktion, wie dies etwa in den angeführten Ansichten ein Thema war; aber auch der Verweis auf humane Werte durch die Irrelevanz der ‚schön‘/‚hässlich‘-Dichotomie zugunsten eines zur Gerechtigkeit führenden Egalitarismus. Von der Wirksamkeit des sprachlichen Bildes ‚schönes Geschlecht‘ kann auch das populäre Buch Guten Morgen, du Schöne von Maxie Wander zeugen, das 1978 als Sammlung protokollarischer Lebensbeschreibungen von Frauen in der DDR erschien. Christa Wolf hat dafür das Vorwort geschrieben. Wolf identifiziert sich darin mit Marx’ Voraussetzung für eine nicht entfremdete Existenz in der sozialistischen Gesellschaft, „den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches“ (Wolf, in: Wander 2009, 16; kursiv im Original). Eben dort äußert sich Wolf über die Berufstätigkeit der Frau in der DDR, die ihrer Meinung nach aus volkswirtschaftlichen und aus ideologischen Gründen eine Selbstverständlichkeit gewesen sei, folgendermaßen: „Die Möglichkeit, die unsere Gesellschaft ihnen [den Frauen] gab: zu tun, was die Männer tun, haben sie, das war vorauszusehen, zu der Frage gebracht: Was tun die Männer

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überhaupt? Und will ich das überhaupt?“ (Wolf, in: Wander 2009, 19; kursiv im Original) Ausgehend von der Egalität der Geschlechter läuft ihre Haltung auf die Andersheit der Frau und die Betonung der Differenz hinaus. Damit skizziert sie die Konturen zweier zentraler geschlechtsspezifischer Fragen hinsichtlich der gerechten ‚Umverteilung‘ der materiellen Ressourcen und der biologischen ‚Differenz‘. Das heißt, dass für Christa Wolf die beruflich ökonomische Gleichberechtigung der Geschlechter eine notwendige Trennung für das Nachdenken über die Bedeutung der geschlechtlichen Differenz darstellt. Diese unterschiedliche Positionierung zum Thema Geschlecht bildet eine Konfliktzone innerhalb der deutsch-deutschen-Verhältnisse, die auf unterschiedlichen Auffassungen über die Emanzipation der Frau beruhen. Dies zeigt sich beispielsweise in den Einstellungen der Literaturwissenschaftlerinnen Sonja Hilzinger und Katharina von Ankum über die Protagonistin Rita im Geteilten Himmel. Für Hilzinger ist „Ritas Reifung, ihre Entwicklung zu mehr Selbstbewußtsein, ihre Aktivität im betrieblichen und gesellschaftlichen Bereich und die Ausprägung ihres sozialistischen Bewußtseins, […] mit einer Vereinseitigung ihrer Persönlichkeit erkauft“ (Hilzinger; Zitiert nach Ankum 1992, 94 f.). Ankum hingegen betont, „daß die Emanzipation der Geschlechter im Bereich von Arbeit und Öffentlichkeit für Wolf einen wesentlichen ersten Schritt zur Gleichberechtigung der Frau darstellt“ (Ankum 1992, 94). Sie zieht mit dem Verweis auf Moskauer Novelle und Der geteilte Himmel den Schluß, dass diese „genauso Teil einer überzeugten affirmativen sozialistischen Literatur wie Werke anderer Autoren aus den 60er Jahren“ (Ankum 1992, 95) zu betrachten seien. In diesem Zusammenhang ist auch die Haltung von Kornelia Hauser zu erwähnen. In ihrer Analyse der literarischen Texte aus der DDR spricht sie von ‚Geschlecht und (entleerter) Erfahrung‘ und ihre Bilanz hinsichtlich der gesellschaftlichen Rolle der Frau bei einem Vergleich zwischen der DDR und der BRD entspricht den bereits erwähnten Ansichten von Hilzinger: „In der BRD wurde und ist das zweite Geschlecht sehr sichtbar in seinen kulturellen und ideologischen Artikulationen. In der DDR verschwand das zweite Geschlecht als werktätiger Mensch in der Ideologie.“ (Hauser 1994, 24 f.) Diese konfliktbeladene Diskussion innerhalb der deutsch-deutschen Verhältnisse zu den Gender-Fragen zeigt sich auch in der Rhetorik einer anderen Autorin, die sich über die Erstpublikation von Simone de Beau-

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voirs Buch Le Deuxième Sexe (dt. Das andere Geschlecht) in der DDR kurz vor der Wiedervereinigung Deutschlands vorsichtig ausgedrückt hat. In ihren Aussagen über dieses Buch, das sie ‚die Bibel der neuen Frauenbewegung‘ nennt, versucht sie einem möglichen Vorwurf zu entgehen: „[…] ob das Buch – angesichts der Fülle seither publizierter Ergebnisse feministischer Wissenschaft in westlichen Ländern – nicht so antiquiert wäre, daß die DDR mit seiner verspäteten Herausgabe einen weiteren Beweis ihrer Provinzialität erbringen würde“ (Dölling 1990, 1181). Eine weitere kritische Meinung vertritt Wolfgang Emmerich, der gegen das Bild der Frau in der DDR-Literatur der 1950er-Jahre mit seinen ‚eklatanten Widersprüchen‘ Stellung nimmt. Dabei stellt er die Behauptung auf, dass das Bild der Frau zu jener Zeit von den Vorstellungen des „männlichen Kommunismus“ geprägt und die Arbeitstätigkeit der Frau eher die Anpassung der Heldinnen an die bestehenden männlichen Normen gesellschaftlicher Wertschätzung sei als eine ‚Befreiungstat‘. Anschließend spricht er von einer gewissen Kontinuität auch in den 1960er-Jahren: „Die DDR-Literatur der frühen sechziger Jahre, insbesondere die Erzählliteratur, setzt den skizzierten Trend mit einer entschiedenen Abwandlung fort: jetzt werden vornehmlich Frauen gezeigt, die aus ihrer untergeordneten Rolle aufsteigen in gehobene Stellungen. Sie werden Ärztinnen, Lehrerinnen, Wissenschaftlerinnen. Mit der Literatur der fünfziger Jahre sind diese Texte jedoch dadurch verbunden, daß sich der dargestellte Bildungs- und Selbstverwirklichungsprozeß grundsätzlich über das Verhältnis der Heldin zur gesellschaftlichen Arbeit realisiert. […] Hingegen wird die Selbstverwirklichung im privaten Bereich, so in der Geschlechterbeziehung, kaum thematisiert.“ (Emmerich 1994, 18 f.; kursiv im Original)

Unter diese Kategorisierung von Emmerich fällt auch Rita, die Protagonistin vom Geteilten Himmel, die aus dem Dorf in die Stadt zieht, um Lehrerin zu werden. Im Hinblick auf ‚das Verhältnis der Heldin zur gesellschaftlichen Arbeit‘ in der DDR-Gesellschaft darf man von der Bezugnahme Emmerichs auf den Marx’schen Spruch über die Frau als das ‚schöne Geschlecht‘ ausgehen. Darin fallen aus der heutigen Sicht die utopisch-idealistischen Vorstellungen von gerechter Umverteilung und Egalität mit den damit gekoppelten Verlusten, Versagen an den emanzipatorischen Fortschrittsglauben unter einem modern-industriellen sozialistischen Staat zusammen, wie man dies der Aussage von Frank Hörnigk entnehmen könnte:

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„Die Verbeugung im aufrechten Gang bietet ein berührendes, mir heute äußerst wichtig erscheinendes Denkbild gerade vor dem Hintergrund des Verlustes bzw. der Krise der alten Gewißheiten – und eine Vorstellungsmöglichkeit ganz anderer am Horizont aufscheinender Entwürfe von Utopien.“ (Hörnigk 1992, 31 f.) Darüber hinaus bleibt aber der Antagonismus in der Marx-Rhetorik – der von Beginn an das ‚projektive‘ bzw. ‚programmatische‘ Moderneverständnis begleitet – (Heidbrink 1999, 545 f.; Reijen 2000, 21 ff.) unbeantwortet, wie über ‚traditionelle‘ Kategorien wie ‚schön‘ in Gegenüberstellung zu jenem anderen häufig als ‚hart‘ erklärten Geschlechterpol das vorgestellte und für modern gehaltene Projekt zu realisieren sei. Die Ansichten über die Verortung der Frau als ‚schönes Geschlecht‘ innerhalb der DDR-Gesellschaft werden durch ein breites Ideenspektrum vom Maßstab für die fortschrittliche gesamtgesellschaftliche Reproduktion einerseits und vom Gedanken an Täuschung, Verlust und ‚Provinzialität‘ andererseits ausgeführt. Diese Erkenntnisse sollen sowohl im Hinblick auf die Verortung des Geteilten Himmels im Kontext der DDR als Erbin des Moderne-Projekts als auch auf die Rolle des weiblichen Subjekts unter Einbeziehung des Untersuchungsmaterials weiter diskutiert werden.



3 Die kulturpolitische Dimension

Im Geteilten Himmel wird die Liebesbeziehung zwischen der 21-jährigen Protagonistin Rita und dem Wissenschaftler Manfred in der DDR dargestellt. Nach dem Krieg, der fünfzehn Jahre zurückliegt und aus dem Ritas Vater nicht zurückkehrte, wurde die Mutter gezwungen, mit ihrem Kind in ein Dorf zu ziehen. Dort kommen sie bei Ritas Tante unter. In diesem Dorf wächst Rita auf und lernt dort später Manfred kennen, mit dem sie anschließend in die Stadt zieht, um Pädagogik zu studieren. Während ihres Aufenthalts in der Stadt beginnt sie ein Praktikum in der Montagehalle einer Waggonfabrik in einer Männerbrigade. Die Ereignisse werden rückblickend erzählt, während Rita sich nach einem Zusammenbruch an ihrem Arbeitsort in einem Sanatorium auf dem Weg der Genesung befindet. Die Liebesbeziehung scheitert: Manfred kehrt von einem Chemiekongress in Westberlin nicht mehr in die DDR zurück. Das Liebespaar trifft sich anschließend zwar in Westberlin, dem neuen Wohnort von Manfred, aber Rita hat sich als überzeugte Sozialistin bereits bei der Abreise in den ‚Westen‘ das Rückfahrt-Ticket besorgt. Im Gegensatz zu dem nicht vom Sozialismus überzeugten Manfred, der sich aus beruflichen und gesellschaftlichen Zwängen für ein Leben im ‚kapitalistischen Westen‘ entscheidet, verzichtet Rita, überzeugt vom Erfolg des Sozialismus, auf ihr persönliches Glück zugunsten des (Weiter-)Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft in der DDR. Das Scheitern der Liebesbeziehung knüpft an den Zeitpunkt des Mauerbaus an, wie dem Werktitel Der geteilte Himmel zu entnehmen ist. Die Struktur des Romans folgt einem Schema, das als typisch für sogenannte ‚Ankunfts-Romane‘ gilt: „Heimat (Dorf) – Fremde (Stadt) – Suche nach neuer Heimat/eventuell neue Heimat“ (Søholm 1990, 1516). Das Dorf besitzt im Geteilten Himmel einen ‚idyllischen Charakter‘ (Schlenstedt 1965, 194; Stephan 1991, 39) und ist Ritas Erinnerungsort mit ihren Ver-

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gangenheitsbezügen: „Sie [Rita] war zufrieden mit ihrem Dorf: Rotdachige Häuser in kleinen Gruppen, dazu Wald und Wiese und Feld und Himmel in dem richtigen Gleichgewicht, wie man sich’s kaum ausdenken könnte.“ (11) Dem Dorf gegenüber steht die Stadt als neuer, noch nicht vertrauter Ort, der in einer ‚Ankunfts‘-Konstellation auf einen Moment des Umbruchs hinweist, auf dem Weg zum „Gewinn einer sozialistischen Heimat“ (Schlenstedt 1978, 54). Diese wird als eine von Chemie verseuchte Industriestadt beschrieben, als ein Ort, an dem man „die Himmelsrichtungen nach Schornsteinsilhouetten der großen Chemiebetriebe, die wie Festungen im Vorfeld der Stadt lagen“, bestimmt (27). Damit werden in der erzählten Welt die Merkmale einer „ehemals kapitalistischen Entwicklung“ ins Blickfeld gerückt: Das Stadtbild ist noch „bestimmt von einer in der kapitalistischen Vergangenheit angelegten Industrie“ (Schlenstedt 1965, 195). Bezogen auf das Schema der ‚Ankunfts-Romane‘ mag dieses Stadtbild die Stoßrichtung für die möglichen Veränderungen, die die Romanheldin anzugehen hat, geben. Diese Schematisierungen dienen entsprechend der ‚didaktischen Funktion‘ der Literatur in ihrem Kontext in der DDR-Gesellschaft dem Ziel, den Übergang von den ‚alten‘ kapitalistischen Strukturen zu jener ‚neuen‘ sozialistischen Heimat darzustellen bzw. diese zu antizipieren. Der städtische Raum, in dem der Roman beginnt, ist ein Sanatorium, in dem Rita im Laufe ihrer Genesung rückblickend ihre Lebensgeschichte rekonstruiert. Dabei wird festgestellt, dass die Liebe die Romanheldin krank gemacht hat, so wie es der Arzt attestiert: „daß nur Liebe ein junges Ding so krank machen kann“ (9). Das Sanatorium ist als Schutz- und Heilungsort der kranken Rita charakterisiert. Dieser Ort wird im Laufe der Handlungen mit zwei weiteren Vertrautheit assoziierenden Orten in Verbindung gebracht: Einmal ist es das Dorf, in dem die Protagonistin aufwuchs, ein Erinnerungsort ihrer Kindheit, der durch „Sehnsucht“ gekennzeichnet ist (26; 98 f.; 106; 126 f.). Ein anderes Mal ist es die Werks-Brigade, die quasi als ein Emblem für die neue sozialistische Heimat steht. Zusätzlich zu diesen beiden Relationen (Sanatorium – Dorf und Sanatorium – Brigade) sind noch zwei weitere zu betrachten: das Lehrerbildungsinstitut und Manfreds Elternhaus, wo das Liebespaar wohnt. Das Institut ist im Verhältnis zum Arbeits- und Wohnort in den Hintergrund getreten. So ist das Verbleiben der Heldin im großbürgerlichen Wohnhaus der Herrfurths eine andere Lebenswirklichkeit, die ihr

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in der erzählten Welt den Zugang zu den ‚alten‘ bürgerlichen Strukturen ermöglicht. Vom angesprochenen Schema der ‚Ankunfts-Romane‘ ausgehend sind die städtischen Räume im Roman im Verhältnis zu der Herkunft der Heldin aus dem Dorf zu betrachten: Rita verlässt das Klein-Dörfliche und zieht aus Bildungs- und beruflichen Gründen in den städtischen Großraum, wo an ihre Liebesgeschichte zwei weitere Handlungsstränge angeknüpft werden, die „entsprechend den hauptsächlichen Feldern der damaligen SED-Kulturpolitik im Betrieb und an der Hochschule angesiedelt sind“ (Dröscher 1993, 44). Im Einklang mit den egalitären Vorstellungen von Geschlechtlichkeit, durch die die Integration des Weiblichen in der Öffentlichkeit zum Leitfaden der staatlichen Kulturpolitik avancierte, sind im Geteilten Himmel die Grenzen der traditionellen Rollenzuschreibung wie ‚privat-weiblich‘ und ‚öffentlich-männlich‘ verschoben bzw. aufgehoben. Die Sanatorium-Dorf-Relation wird vor allem durch Bezugnahmen auf Ritas Herkunft sowie auf ihre Liebesbeziehung zu Manfred dargelegt. Im Hinblick auf Ritas Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen ist das Dorf infolge der Kriegsauswirkungen stark weiblich charakterisiert: eine Tante, die den Flüchtlingen Zuflucht bietet, sowie Ritas Mutter, die als Arbeiterfrau mit ihrer Arbeit „auf den Feldern“ bzw. in einer „Textilfabrik“ (14) die Familie versorgen muss. Die Darstellung der Mutter als Arbeiterin bietet Rita einen Vorbildcharakter (als Träger der proletarisch-sozialistischen Werte), an dem sich die Tochter im Rahmen der neuen kulturpolitischen Ordnung der DDR orientieren kann. Darauf basierend zeichnet sich die elterlich-familiäre Beziehung mütterlicherseits durch sozialistische Merkmale aus, im Gegensatz zur väterlichen Seite, die als kriegführend charakterisiert ist. Wird ‚das Väterliche‘, ‚Im-Krieg-Verschollene‘ sinnbildlich als ‚andere‘ Deutschland ausgegrenzt, sorgt hingegen ‚das Mütterliche‘ durch die Berufstätigkeit als Arbeiterin für eine Kontinuität im ‚neu beheimatenden sozialistischen‘ Deutschland. Der zweite Bezug zu dem Dorf reflektiert Ritas Liebesbeziehung zu Manfred, die durch sein Verlassen der DDR gescheitert ist. Der Genesungsprozess ist somit gleichsam eine Verarbeitung des Vergangenen bzw. deren Überwindung. Ritas Verarbeitungsprozess zeigt den zweidimensionalen Charakter dieses Scheiterns, nämlich einen individuellen und einen überindividuellen. Das Zerbrechen der Liebesbeziehung infolge Manfreds skeptisch-ablehnender Haltung gegenüber dem Sozialismus und seiner Übersiedlung nach Westberlin ist die individuelle Dimension. Dadurch, dass dieses Ereignis mit dem historischen Mauerbau

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im Jahr 1961 in Berlin und der Teilung Deutschlands zusammenfällt, erhält diese Trennung zugleich auch einen überindividuellen Charakter. Aus der Verkettung dieser beiden Aspekte entwickeln sich die gesamten Handlungsabläufe der Narration. Die zweite Relation ist das Sanatorium und die Werks-Brigade, die vor allem auf die Zukunft gerichtet sind. Die Brigade spielt als ein Mikrokosmos der sozialistischen Gesellschaft eine zentrale Rolle im Handlungsablauf. In dieser Männerbrigade arbeitet Rita als Praktikantin. Das Waggonwerk ist der Hauptwirkungsort der Protagonistin und zugleich der Ort des Ereignisses, das sie ins Krankenhaus bzw. Sanatorium geführt hat. Es ist ein “acting place” im Sinne von Bal: “It influences the fibula, and the fibula becomes subordinate to the presentation of space.” (Bal 1994, 95 f.) Anhand der Interaktionen an diesem Ort und seines Umfeldes (der Universität oder dem Institut, wo andere Freunde oder Bekannte des Liebespaares angesiedelt sind) lässt sich die gesellschaftliche Situation ablesen. Ritas Rehabilitation folgt ihrer (Re-)Integration in den Betrieb als Arbeiterin in der Produktion. Das Sanatorium besitzt in der Relation zwischen Sanatorium und Werks-Brigade die Funktion eines ‚Übergangsortes‘. Es ist ein Ort zwischen Ritas Vergangenheit und einer ihr offenstehenden sozialistischen Zukunft. Der zukunftsbezogene ‚sozial-proletarische‘ Charakter grenzt sich gegen die ‚kapitalistisch-kriegerische‘ Vergangenheit ab, der primär Ritas Vater zuzuordnen ist und später auch Manfred mit seinem Weggang aus der DDR, der einem ‚Selbstmord‘ gleich kommt (179). Diesen beiden Relationen ist der semantische Raum des Himmels übergeordnet. Er korrespondiert einerseits, wie der Werktitel des Geteilten Himmels zeigt, mit dem Verlust, der infolge der Trennung des Liebespaares entsteht, gleichzeitig wird er zusätzlich im Rahmen des politisch-ideologischen Werksinhalts unter Verwendung des intertextuellen Einschubs über den Weltraumflug Gagarins ‚sozialistisch‘ konnotiert: „Ich sah die Wolken und ihre leichten Schatten auf der fernen, lieben Erde. Für einen Moment erwachte in mir der Bauernsohn. Der vollkommen schwarze Himmel sah wie ein frischgepflügtes Feld aus, und die Sterne waren die Saatkörner.“ (143; kursiv im Original)

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Die Relevanz des Gagarin zugeschriebenen Textes1 als einem intertextuellen Einschub wird im Roman zusätzlich durch die kursive Schrift hervorgehoben. Mit der Bezugnahme auf Gagarin werden zwei Spuren mit politischen und poetischen Sinndimensionen im Roman hinterlassen. Die politische ist die Hauptspur: Gagarin mit seinem Attribut als Bauernsohn und Kosmonaut verkörpert den Fortschritt ‚im Zeichen des roten Sterns‘ und knüpft dabei an die Emanzipations- und Fortschritts-Semantik im Rahmen der projektiven Modernevorstellungen an. Die poetische Dimension ist eine Nebenspur: die metaphorisch überladene Bildsprache, in der diese fortschrittliche Überlegenheit dem Rezipienten vermittelt wird. Gagarins Verkörperung des Fortschritts ist der binären Logik der Repräsentation unterworfen „beides zur gleichen Zeit zu sein“ (Hall 2004, 112 f.; kursiv im Original): er soll nach seiner Raumfahrt – quasi als Unterwerfung des Himmels – nicht nur den Vollzug des technischen Fortschrittsdenkens repräsentieren, sondern seine Darstellung führt zugleich das begehrenswerte Sanktionierte in frei fließenden Sprachbildern vor, das im Werkkontext sonst als Verstoß gegen die ästhetischen ‚funktionsbestimmenden‘ Regelungen der ‚modern-industriellen Polis‘ gelten könnte: ‚Der Bauernsohn pflügt mit seinem Raumschiff das Feld des Himmels und die Sterne sind Saatkörner‘. Es kann festgehalten werden: Aus der Diskrepanz zwischen den Relationen (Himmel – Werks-Brigade und Himmel – Dorf) bekommt der semantische Raum des Himmels im Geteilten Himmel eine ambivalente Funktion. Dadurch kommt es in der erzählten Welt zur Entstehung unterschiedlicher räumlicher Qualitäten, die mit der „Brucherfahrung“ und „Einheitssuche“ konnotiert sind (Søholm 1990, 1517 f.). Auf diese ambivalente Funktion des Himmels wird im letzten Abschnitt der Analyse noch eingegangen.



 1

Siehe z.B. Neues Deutschland, Organ des Zentralkomitees der SED vom 23.12.1961, S. 9.

4 Die kulturschaffende Frau zwischen Selbst- und Kollektiv-Verwirklichung

Im Roman sind zwei Generationen präsent: die Eltern- und Kindergeneration, die mit den Folgen des Weltkrieges bzw. den Trümmern des Krieges sowie dem Wiederaufbau konfrontiert sind. Daran anschließend folgt eine Gegenüberstellung der herkömmlichen ehelichen Lebensform und die der ‚freien‘ Liebesbeziehungen, welche für das ‚Neue‘ steht. Die Umgestaltung und Negation des Werte- und Normensystems des ‚alten‘ Deutschlands ist ein zentraler Punkt für die Betrachtung der Geschlechterverhältnisse in der erzählten Welt. In vergleichbarer Analogie zu dem kapitalistischen Stadtbild ist auch die bürgerliche Familie Ziel des ideologischen Machtkampfs zwischen den ‚alten‘ bourgeoisen und jenen ‚neuen‘ sozialistischen Strukturen. Im Rahmen dieser Konstellation werden die Familienstrukturen grundsätzlich durch den Blick auf die Eltern des Liebespaares bzw. auf deren Arbeits- und Freundeskreis beleuchtet. Die Familie der Heldin gehört zu einem Familien-Typus, der durch den im Krieg vermissten Vater gekennzeichnet ist (auch „Restfamilien“-Modell genannt1). Der beschädigten Familie Ritas steht die ‚vom Krieg verschonte‘ großbürgerliche Familie Manfreds gegenüber. Mit der Darstellung dieses Familiengefüges rücken das ‚alte‘ und das ‚neue‘ Deutschland in den Fokus des Rezipienten. Ritas Familie ist durch die Ausschließung bzw. Abwesenheit des Väterlichen (verloren im Krieg) und des überlebenden Mütterlichen als Garant der biografischen und historischen Kontinuität gekennzeichnet. Dieses ‚neue‘ genealogisch legitimierte Identitätsmuster ist durch die Zuweisung sozialistischer Merkmale gekennzeichnet: Als von den Zerstörungen des Kriegs be-

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Zum Begriff vgl. Brand 2006, 92 f.

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troffene Proletarierin bietet die Mutter ihrer jungen Tochter Rita Identifikationspotential und Orientierung, wenn diese sich im Anschluss an ihre Trennung von Manfred für den Aufbau des ‚neuen‘ sozialistischen Deutschlands entscheidet. Während sich infolge des Krieges neue Familienstrukturen herausbilden, rückt das traditionelle Familienmodell, das auch weiterhin die Denk- und Gefühlswelt der Elterngeneration beherrscht, kritisch ins Blickfeld. Solche Kritik der Tradition ist z.B. während Manfreds Besuch bei Ritas Familie – einer Einladung zum weihnachtlichen „Gänsebraten“ – im Gespräch, mit der Ritas Mutter Hoffnungen auf die Zukunft der Tochter verbindet: „Ein Chemiedoktor, dachte die Mutter. Wenn er sie nimmt, hat sie ausgesorgt, und ich kann beruhigt sterben.“ (16) Die Vorstellung von der Ehe als Versorgungseinrichtung korrespondiert mit einer verkümmerten Gefühlswelt, die am Beispiel von Ritas Mutter und Tante an deren Unfähigkeit deutlich wird, Zugang zur emotionalen Welt der verliebten Rita zu finden: „[...] die Tante und die Mutter hatten nie erfahren oder längst vergessen, wie ein Mädchen beklemmende Liebe zu verbergen sucht. Sie sorgten sich um das Gelingen des Bratens.“ (16 f.) In der Darstellung solcher Generationenkonzepte treffen hier die Schemata der ‚alten-bürgerlichen‘ und der ‚neuen-sozialistischen‘ Lebensweise aufeinander. Der fehlenden emotionalen Nähe stehen die Einstellungen der ‚neuensozialistischen‘ Generation (unkonventionelles Liebesverhältnis) gegenüber. Durch die ‚alten‘ Strukturen (Ritas Mutter als deren Stellvertreter) wird die Bedeutung der sozialen Ungleichheit im Sinne von patriarchalen Rollenverständnissen hervorgehoben. Die Äußerungen von Ritas Mutter referieren zudem die bürgerliche Idee vom sozialen Aufstieg (auf dieser Ebene auch vergleichbar mit Manfreds Eltern). Ihnen stehen die Verfechter der „sozialistische[n] Bildungs- und Arbeitsideale“ (wie Rita, Wendland oder Meternagel) gegenüber (Lützeler 1981, 245). Die Kritik an der bourgeoisen Familie im Geteilten Himmel gewinnt am Beispiel von Manfreds Eltern weiter an Schärfe, indem deren Lebenswelt ausführlicher aus der Perspektive der beiden Protagonisten Manfred und Rita dargestellt wird. Manfred beschreibt die Enge seines Elternhauses mit Begriffen wie „Esssarg“, „Schlafsarg“ oder „Vorhölle“ und er hält die Familie für ein „Gefängnis“ (24; 43). Darüber hinaus wird Manfreds Familie mit der faschistischen Vergangenheit des ‚alten‘ Deutschlands in Beziehung gebracht (23; 43). Das bourgeoise Eheleben stößt im Geteilten Himmel auf scharfe Kritik der Figuren. Es wird als eine Art zwangsläufig zur Frustration führender

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Kompromiss am Beispiel der 30-jährigen Ehe von Manfreds Eltern dargestellt. Manfreds Mutter verkörpert eine typische ‚bourgeoise‘ Hausfrau, etwa durch die Betonung ihres hohen sozialen Status, ihrer Kleidung oder ihrer Erscheinung (34). Obschon sich Manfred für das Leben im ‚kapitalistischen Westen‘ entscheidet, ist er aber, wie die Heldin Rita, gewissermaßen an der Kritik des bourgeoisen Familien- und Ehelebens beteiligt, wenn er z.B. über dessen reproduktive Funktion als eine „automatisch geregelte Kinderaufzucht“ spricht (100). Ein Konfliktpunkt zwischen dem ‚alten‘ und ‚neuen‘ Werte- und Normensystem betrifft die geschlechtlichen Rollenverständnisse. So kritisiert Manfreds Mutter aus großbürgerlicher Perspektive Ritas freies Liebesleben und ihre Tätigkeit in der Gesellschaft als Normverstoß: „‚Früher‘ sagte sie seufzend, ‚bereiteten junge Mädchen sich in einem Internat auf die Heirat vor. Heute steckt man sie in eine Fabrik unter lauter Männer.... ‘“ (34) Manfreds Mutter als Vertreterin der Elterngeneration markiert aus ihrem sozialen Stand heraus die Konturen der traditionellen Geschlechterrollen und verwirft die neue Ordnung der Jugendgeneration als gestört. Dem Weltbild des bürgerlich-ehelichen ‚alten‘ Deutschlands steht das emanzipatorische Weiblichkeitsbild des ‚neuen‘ Deutschlands gegenüber, das vor allem durch berufliche Autonomie sowie sexuelle Selbstverwirklichung gekennzeichnet ist. Die Gegenüberstellung der Wertvorstellungen der Heldin Rita und denen von Manfreds Mutter konkretisiert den Übergang vom traditionell-bürgerlichen Eheleben zu einem favorisierten Modell der freien Liebesbeziehung in der hier beschriebenen Romanwelt. Dass es sich dabei um ein bedeutendes Konfliktfeld handelt, zeigt sich beispielsweise an Ritas Bemerkung auf einem Fest, „[…] daß Manfred sie zum erstenmal mit seinen Bekannten zusammenbrachte und daß jeder ihnen anmerken musste, daß sie ein Brautpaar waren“ (69). Ebenso fallen die Textstellen auf, in denen die freie Beziehung durch den Verweis auf die zukünftige Heirat, die „zukünftige Frau“ (24) oder „die Frau, die er heiraten soll“ (55) gerechtfertigt werden. Im Geteilten Himmel wird das bourgeoise Familienleben sowohl von der ‚sozialistisch konnotierten‘ Rita als auch von dem der Idee des Sozialismus skeptisch gegenüberstehenden Manfred kritisiert. Je nachdem, wie das Werk gelesen wird, oder an welcher Lektüre man sich bei der Werk-

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analyse orientiert, kann man auch unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen. So schreibt z.B. Stephan über die Figuren von Christa Wolf: „Simpel sind die Menschen in Christa Wolfs Erzählung deshalb nicht. Und schon gar nicht passen sie in das Schema jener Schwarz-Weiß-Malerei, wie sie typisch für die sozialistisch-realistische Literatur der 50er Jahre und viele der Produktionstexte aus dem Umkreis des Bitterfelder Wegs war. Das beweist nicht nur die relativ ausgewogene, wenn auch etwas flach bleibende Behandlung der positiven Figuren, sondern vor allem die außergewöhnlich objektive Darstellung des wichtigsten Systemgegners: Manfred.“ (Stephan 1991, 45)

Etwas anders ist die Meinung von Cercignani über dieses Thema, indem er Manfreds Kritik an seiner bürgerlichen Familie als negativ bewertet: „Schon auf den ersten Seiten der Erzählung ist seine Gestalt nicht nur passiv, sondern in gewissem Sinne sogar negativ, vor allem dort, wo seine Einstellung gegenüber den Eltern und seiner eigenen Generation durchscheint [...].“ (Cercignani 1988, 46) Für ihn ist Manfred ein eindeutiger ‚Antiheld‘ (ebd.). Es sei an dieser Stelle jedoch die Frage erlaubt, ob Cercignani mit seiner Kritik an Manfreds Haltung gegenüber seinen ‚Eltern‘ die herrschende ideologische Kulturpolitik im Kontext des Romans Der geteilte Himmel gegen die ‚bourgeoisen Familienstrukturen‘ berücksichtigt. In Übereinstimmung mit den Ansichten von Stephan scheint es aber, dass sich die Figur Manfred nicht in eine ‚Schwarz-Weiß-Konstellation‘ fügen lässt. Er bleibt in seiner Darstellungsweise eher ambivalent, vor allem aufgrund seiner kritischen Auseinandersetzung mit den bürgerlichen Familienvorstellungen. Trotz seiner Funktion als Kontrastfigur zu anderen den ‚Sozialismus vertretenden‘ Figuren (z.B. Wendland als dritte Seite der Dreiecksgeschichte in der ersten Fassung) werden Manfred auch Ähnlichkeiten mit der Heldin als ihr „Alter-Ego“ zugeschrieben, als „jener Teil von ihr, der die pragmatischen Entscheidungen, die Ablehnung eines heldischen Opfers à la Meternagel akzeptiert oder zumindest versteht“ (Cercignani 1988, 37). Hierzu gehört ebenso seine Kritik der bürgerlichen Familie in Übereinstimmung mit der Rolle der Romanheldin Rita, wie schon erwähnt wurde. Wichtig erscheint mir die Thematisierung des Verhältnisses von ‚persönlichem Glück‘ und gesellschaftlicher Rolle des Individuums im Geteilten Himmel, wie es in einem Gespräch zwischen Rita und ihrer Mutter an-

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gedeutet wird. In einem belehrenden Ton antwortet die Protagonistin Rita der Mutter, die fragt, ob ihr Kind „glücklich“ sei: „Ach Mutter, darum geht es nun nicht mehr. Ist es nicht vielleicht auch diese Frage, die ihr immer noch für möglich haltet, die uns von euch trennt – von euch, den immer Besorgten, immer Gutmeinenden, immer Nichtsbegreifenden...“ (162) Auch hier kommt es erneut zur Inszenierung des Verhältnisses zwischen der Eltern- und Kindergeneration als Stellvertreter des ‚alten‘ und ‚neuen‘ Deutschlands, wobei die ‚didaktische Funktion‘ der Literatur beim Aufbau des sozialistischen Staates auffallend ist. Das persönliche Glück tritt hinter die gesellschaftlichen Ansprüche an das Individuum zurück. So kann man festhalten, dass im Geteilten Himmel vor dem Hintergrund der ideologischen Klassenkämpfe das bürgerlich-eheliche Familienleben als Projektionsfläche der ‚eigenen sozialistischen‘ Vorstellung von Familie dargestellt wird. Trotzdem bleibt die Frage nach einer Alternative offen: Die gescheiterte Liebe, die mit dem politischen Totalitätsanspruch in Konflikt kommt, bleibt nahezu alternativlos und erhält bestenfalls in Form der Figur Wendlands ‚nüchtern angedeutet‘ ein Pendant, dessen Rollenzuschreibung weitestgehend jedoch den Mutmaßungen des Rezipienten überlassen bleibt. Die Generation und die genealogischen Denkfiguren gelten als kulturelle Deutungsmuster, „die an der Schwelle von Körper und Geschichte, Zeugungsgeschehen und Sprache, Natur und Kultur angesiedelt sind“ (Parnes et al. 2008, 20; dazu auch Weigel et. al. 2005). Die Anwendung solcher Konzepte im Geteilten Himmel ist insofern wichtig, als bei den Verhandlungen über die faschistische Vergangenheit und sozialitische Gegenwart (in der Darstellung eines ‚Im-Krieg-Verschollenen‘ Vaters in Relation zu der überlebenden Mutter im geteilten Nachkriegsdeutschland), jenseits der Verheißungen des ‚projektiven Moderne-Verständnisses‘ zugleich auch die Konturen des Ortes des handelnden Subjekts an der Schwelle zwischen Kultur und Natur, zwischen gesellschaftlichem Strukturzwang und der individuellen Handlungsfreiheit in Erscheinung treten.





5 Vom ‚Gewicht‘ und ‚Ungewicht‘ des Körpers

Patricia Herminghouse hat die Darstellung der Frau in den Romanen der DDR der 1960er-Jahre analysiert. Ihr Untersuchungsgegenstand sind drei der repräsentativen Werke der DDR-Literatur: Christa Wolfs Der geteilte Himmel (1963), Brigitte Reimanns Ankunft im Alltag (1961) und Erik Neutschs Spur der Steine (1964). In der Analyse dieser Werke hebt sie folgende Gemeinsamkeit hervor: „In den Romanen kommt eine ausgeprägte Sensibilität für die komplizierten Momente der Beziehung des Individuums zu dieser Gesellschaft zum Vorschein, sogar bei Schriftstellern, die ihre Themen gemäß den Bitterfelder Grundsätzen auswählen. […] Da aber die in diesen Romanen dargestellte neue Gesellschaft tatsächlich noch nicht voll verwirklicht ist, erstaunt kaum, zu welchem Schluß sie allesamt kommen zumindest im gegenwärtigen Zeitpunkt muß die Frau bisweilen ihr persönliches Glück dem Wohl der Gesellschaft als dem übergeordneten Wert opfern.“ (Herminghouse 1981, 302 f.)

Demzufolge gilt in diesen Romanen (bekannt auch als ‚Ankunfts-Romane‘) als allgemeines Merkmal die Unterordnung der Frauenfiguren unter das gesellschaftliche ‚Kollektiv‘. Die Betonung der Unterordnung des Individuums unter die jeweilige dargestellte Ordnung dieser Werke kann von dem dominanten Totalitätsanspruch ihres kulturellen und gesellschaftlichen Kontextes zeugen. Auch Heidelberger-Leonhard hat sich am Beispiel der Werke von Christa Wolf mit der Rolle der Frau im Roman der DDR beschäftigt. Sie sieht in den Protagonistinnen der beiden Werke Moskauer

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Novelle und Der geteilte Himmel, Vera und Rita, eine Analogie aufgrund einer ähnlichen Konstellation. Bezogen auf die Figur Vera in der Moskauer Novelle, die „ihre Gefühle durch ein vernunftorientiertes Handeln sublimiert“, geht sie von einer parallelen ethischen Entwicklung der Figur und der sozialistischen Gesellschaft aus und erkennt darin die neue „DDR-Moral“, die sie so bezeichnet: „Askese im emotionalen Bereich wird reichlich belohnt mit der Sicherheit, im Sinne der neuen DDR-Moral gehandelt zu haben.“ (Heidelberger-Leonhard 1994, 129 f.) Ihre These weitet sie auf alle Werke Christa Wolfs aus, von der Moskauer Novelle bis zur Erzählung Was bleibt. Als einzige Emanzipationsmöglichkeit der Protagonistin im Geteilten Himmel sieht sie die ‚Einswerdung‘ des Individuums mit dem ‚Kollektiv‘: „Ihre [Ritas] Entscheidung für ein Leben der Solidarität in der Brigade tröstet sie über ihre gescheiterte Liebesbeziehung hinweg.“ (HeidelbergerLeonhard 1994, 130) Wie vor allem im Hinblick auf die Genderfrage und Christa Wolfs Verständnis des Sozialismus in der DDR (in den Abschnitten 1 und 2) diskutiert wurde, sollen die Begriffe wie ‚DDR-Moral‘ oder ‚Sublimation‘ innerhalb der konfliktbeladenen deutsch-deutschen Verhältnisse verortet und somit auch relativiert werden. Im Folgenden soll das Verhältnis von Individuum und ‚Kollektiv‘ in der DDR-Gesellschaft am Beispiel vom Geteilten Himmel weiter diskutiert werden. Es wird innerhalb der ästhetischen Polyphonie des Textgebildes nach der Verortung des Subjekts bzw. des Individuums und dessen Unterordnung unter die dominanten Anforderungen des ‚Kollektivs‘ gefragt. Für meine Lektüre des Romans spielen bestimmte Momente der Metaphorisierung der Sprache wie im Werktitel sowie die Einbeziehung der ersten Fassung dieses Werkes eine Rolle. Die Metaphorisierung der Sprache, wie sie im Werktitel Der geteilte Himmel erscheint, darf als eine Antwort auf den rational und kollektiv orientierten Totalitätsanspruch des Handlungsverlaufs der Narration gelesen werden, so die These. Den Geteilten Himmel auf ein ‚politisches Dokument‘1 zu reduzieren oder ihn als Schauplatz für „fast ein utopisches Totum“ (Berghahn 1983, 280) zu betrachten, heißt, die Bedeutsamkeit polyphonischer Qualität im literarischen Werk zu unterschätzen. Das heißt aber keinesfalls, die politisch-ideologische Dimension des Textes verleugnen zu wollen; vielmehr geht es darum, im Kontext des Werkes den folgenden As-

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Hierzu gibt es eine ausführliche, kritische Einleitung von Cercignani 1988, 12 f.

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pekt zu berücksichtigen, dass gegenüber gesellschaftlicher Totalität „die individuelle Aufopferung“ als „Heldentat“ gilt (Cercignani 1988, 129). Wie bereits vorher erwähnt wurde, knüpfen im Roman Der geteilte Himmel zwei Handlungsstränge erzähltechnisch aneinander an: die Darstellung der gescheiterten Liebesbeziehung und deren rückblickend rekonstruierte Verarbeitung während der Rehabilitationsphase der Heldin im Sanatorium. Scheint die alleinige Darstellung der Liebesgeschichte „banal“ (11) zu sein, steigt jedoch ihr ‚Erzählwert‘ durch die Unterordnung des ‚Individuellen‘ unter die sozial-politische Realität, die sich durch den Hinweis auf den Tag des Mauerbaus im August 1961 konkretisiert: „‚Der Sonntag nach meinem Besuch bei Manfred war der dreizehnte August‘, sagt sie [Rita].“ (181) Mit der Akzentuierung des Überindividuell-Politischen tritt die staatlich vorgegebene Funktion der Kunst als ‚Lösungsmodell‘ für die Widersprüche ihres gesellschaftlichen Kontextes in den Vordergrund. In Wolfs Erzählung wird dies an der erwähnten Textstelle durch die Unterordnung des ‚Privaten‘ unter das ‚Politische‘ deutlich, indem die gescheiterte Liebe in Analogie zum politischen Akt des Mauerbaus nachträglich als ihm untergeordnet gerechtfertigt wird. Dies zeigt sich im Hinblick auf die Prozesse der Funktionalisierung der Literatur in ihrem Kontext auch darin, dass die repräsentative Bedeutung des Geteilten Himmels für die DDR-Literatur nachträglich infolge langer Diskusionen vollzogen wurde. Somit soll die Literatur modellhaft die gesellschaftlichen Dissonanzen dokumentieren und in ihrer ‚didaktischen Funktion‘ Lösungen für sie anbieten: „So wie sie [Rita] individuell alle Widerstände überwunden hat und auf ihr Privatleben, das im Widerspruch zu ihrer gesellschaftlichen Existenz gestanden hätte, verzichtet, wird auch über den augenblicklichen Dissonanzen des gesellschaftlichen Gesamtprozesses bereits der Zustand der Harmonisierung evoziert.“ (Durzak 1971, 275) Vor diesem Hintergrund kommt der Darstellung des Prozesses der Bewusstwerdung im Geteilten Himmel eine zentrale Rolle zu. In diesem Zusammenhang ist auch die Aussage der Heldin am Ende des Romans zu verstehen, als sie infolge ihrer Persönlichkeitsentwicklung mit anschließender (Re-)Integration in den sozialistischen Mikrokosmos der Werks-Brigade von der „neue[n] Freiheit“ (199) spricht, die sie am Ende ihres Erkenntnisprozesses glaubt, gewonnen zu haben. Es zeigt sich die Bedeutung der ‚didaktischen Funktion‘ der Literatur und ihres Anteils an der

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Antizipation der Zukunft in der DDR-Gesellschaft, worauf in dieser Analyse eingegangen wurde. Durzak hat auf die „irrationalen Elemente“ im Geteilten Himmel aufmerksam gemacht und diese auch als Beweise für die Entfremdung interpretiert. Er stellt dabei die Frage in Bezug auf die Darstellung der Aufopferung der Figur Meternagel während ihrer Arbeit im Werk: „Wird damit eigentlich vom Resultat her die messianische Zuversicht in den Sozialismus, die hinter Meternagels unermüdlichem Einsatz stand, als subjektive Täuschung widerlegt?“ (Durzak 1979, 196) Er führt dann weitere Beweise an, die er als „irrationale Elemente“ in der Erzählung benennt, wie die „Träume“ in ihrer prärationalen Funktion (durch die die Zukunft vorausgedeutet und vorweggenommen wird) sowie die „Mythisierung der Natur“ und Übernahme der „konventionellen Metaphorik“ (Durzak 1979, 195 ff.). All dies sind Aspekte, konstatiert Durzak, die im Widerspruch zu Ritas sozialistischem Lernprozess im Roman stehen und ihren „aufklärerischen Impuls“ eigentlich eher negieren (ebd.). Solche Widersprüchlichkeiten zeigen sich vor allem in der Metaphorisierung der Sprache im Titelbild des Geteilten Himmels sowie in dessen Verhältnis zum didaktischen Lern- und Bewusstwerdungsprozess als Inhalt der Narration. Will man die Relevanz der Rationalisierung und die Prozesse der Bewusstwerdung in diesem Roman, der die DDR-Literatur repräsentiert, ernstnehmen, so muss noch (wie bei Durzak) die Frage gestellt werden, inwiefern der Werktitel Der geteilte Himmel den Inhalt ‚widerspiegeln‘ kann. Einen direkten Bezug zwischen dem Werktitel und der erzählten Welt kann man der folgenden Stelle entnehmen: „Früher suchten sich Liebespaare vor der Trennung einen Stern, an dem sich abends ihre Blicke treffen konnten. Was sollen wir uns suchen? ‚Den Himmel wenigstens können sie nicht zerteilen‘, sagte Manfred spöttisch. Den Himmel? Dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer? ‚Doch‘, sagte sie leise. ‚Der Himmel teilt sich zuallererst‘.“ (187)

Wie aus dieser Textpassage zu entnehmen ist, bezieht sich das Bild des Geteilten Himmels viel mehr auf das Moment der Trennung, welches den ‚Schwellenzustand‘ markiert, von dem aus das Spiel der Unterordnung des Privaten unter die politisch-sozialistische Ideologie beschleunigt in Gang

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gesetzt wird oder gesetzt werden konnte. Die Akzentuierung dieses Bruchs im Werktitel steht jedoch weniger in Einklang mit der Handlungslogik des Romans, dessen Happy-End mit Blick auf die Trennung des Liebespaares als ‚neue Freiheit‘ für die sozialistische Heldin gefeiert werden soll. Es steht sogar im Gegensatz zum gesamten Handlungsablauf der Narration, die auf eine rational und linear fortschrittliche Persönlichkeitsentwicklung und Reintegration der Heldin als Trägerin der sozialistischen Ideologie hinausläuft. Das betonte Moment der Trennung gehört zu jener Sphäre des Emotionellen, ‚noch-nicht-Rationalisierten‘, ‚Rohen‘, deren literarische Verarbeitung zum ‚Gekochten‘ das Wesen der staatlich vorgegebenen Thesen über die Aufgaben der Literatur in der DDR ausmacht. Mit der Erwähnung der staatlich vorgegebenen Funktion der Literatur in der DDR-Gesellschaft ist auch die Rolle des Individuums angesprochen im Hinblick auf kulturelle Zwänge, die mit dem ‚Kollektiv‘ und dem totalitären Anspruch der kommunistischen Partei als dessen Mandant zu assoziieren wäre. Schlenstedt hat die Symbol- und Metaphernsprache dieses Werkes, zu denen auch die Metaphorisierung des Werktitels gehört, als Sprachproblematik „des Sagenund Verstehen-Könnens“ oder der poetischen Leistung, „für deren noch nicht vollendete Lösung auch das Symbol einspringt“, interpretiert (Schlenstedt 1965, 220 f.). Frank Trommler hat die Ursache der „Metaphorisierung und Symbolisierung vieler Vorgänge“ im Werk als Folge der „nachträglichen Bewältigung“ der Vergangenheit beschrieben bzw. auf die Tendenzen einer „zunehmenden Subjektivierung des Erzählens“ im Entstehungskontext des Werkes zurückgeführt (Trommler 1975, 312 f.). Dazu muss aber betont werden, dass die im Titelbild verortete Metapher des Geteilten Himmels eine permanente Korrespondenz mit der emotionalen Ebene in der erzählten Welt in Gang setzt, deren Verarbeitung gerade das ‚eigentliche‘ Wesen des Romans ausmachen soll, der ‚als spezifische DDR-Prosa‘ weltweit Anerkennung findet (Schulz 2004, 813; Drescher 1996, 293). So wie in der Logik des ‚sozialistisch-konnotierten‘ Himmels-Bildes (eine Nebenspur des ‚himmelpflügenden‘ Raumschiffes von Gagarin im Abschnitt 3) steht auch das ‚uneigentliche‘ metaphorische Bild des Geteilten Himmels in Relation zu einer anderen Sphäre, die ‚eigentlich‘ als ‚Nicht-sozialistisches‘, ‚Rohes‘ aus der erzählten Welt auszuschließen und zu verbannen ist. Im Zusammenspiel von (grafischer) ‚Schrift‘ und (Sprach-) ‚Bild‘, von Textinhalt der Narration und metaphorischem Titelbild kann man aber annehmen, dass Letzterem im Roman Der geteilte

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Himmel eine gewisse Autonomie zukommt. Die ‚unterprivilegierte‘ verdichtete Metapher des Geteilten Himmels lässt in seiner Ausschließung als „Außer-ordentliche“ (Waldenfels 1997, 77 f.) die Konturen der ‚kulturellen Ordnung‘ in Erscheinung treten, wie dies von der ‚Banalität‘ der Liebensgeschichte selbst (11) in der Narration zu entnehmen wäre. Zwar wird dieses ‚Außer-ordentliche‘, den Anforderungen und Regulierungsmechanismen des autoritären Gesellschaftssystems folgend, in der Romanwelt verarbeitet und somit auch fortlaufend von der Textoberfläche verbannt bzw. verdrängt, kehrt jedoch auf eine andere Weise wieder zurück und demonstriert seine Existenz in dem metaphorischen Titelbild eines Geteilten Himmels. Die sich unterzuordnende Individualität entzieht sich diesem Formungsprozess, indem sie sich im ‚verdichteten‘ Titelbild einen besonderen Rang aneignet. Scheint die sozial-ökonomische Ungleichheit in der Romanwelt in der Verkörperung einer emanzipierten werktätigen Frau und ihrer freien Liebesbeziehung überwunden zu sein, so geschieht diese ‚Befreiung‘ gerade als Teil des gesamtgesellschaftlichen Prozesses, der die Usurpation des Individuums unter das ‚Kollektiv‘ voraussetzt. Wäre es vorstellbar, dass eine arbeitslose Rita oder eine quasi exzentrische Figur wie Christa T. oder Johnsons Jakob mit seinem mysteriösen tödlichen Schicksal die Heldin oder der Held eines populären ‚sozialistischen‘ DDR-Romans ist? Die Problematik des Individuums mit seiner gesellschaftlichen Lebenswelt zeigt sich in Form der Reibung zwischen „Rollenzwang und Individuation“ (Durzak 1979, 187), die sich deutlicher in den späteren Werken Christa Wolfs manifestiert, beispielsweise in Nachdenken über Christa T. oder Kassandra. Der Unterschied besteht darin, dass im Geteilten Himmel dieses Thema überwiegend aufgrund der Dominanz der sozialistischen Ideologie im Werk einer jungen Autorin durch Strategien der Verdichtung und Metaphorisierung an den Rand verschoben wurde. Diese Argumentation unterstützt auch die Einbeziehung der ursprünglichen Fassung des Romans, der sich von einer reinen Brigadegeschichte hin zu einer „Dreieckgeschichte“ entwickelte (Bernhardt 2005, 26 f.; Sevin 1988, 13 f.; Stephan 1991, 37 f.). Die Verquickung der Dreieckseiten der Liebesbeziehung wird in der Sekundärliteratur unterschiedlich diskutiert.2 Unabhängig davon, wie

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Über deren mögliche Qualität (Einführung der Person Wendlands) wurde in der Sekundärliteratur unterschiedlich diskutiert, von „Hoffnung auf ein verständiges

V OM ‚G EWICHT ‘

UND

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man diese Situation bewertet, bleibt die Frage ungeklärt, warum im Gegensatz zu jenem nicht-sozialistischen Manfred die ‚dritte Dreieckseite‘ (in den ersten Fassungen ein „junger Meister“, Sevin 1988, 13), an dessen ‚vom Sozialismus überzeugter Qualität‘ die Erzählung keinen Zweifel lässt, so ‚nüchtern‘ angedeutet worden ist? Bei allen Diskussionen bleibt die Frage letztendlich offen, wo im Rahmen der egalitären Kulturpolitik der DDRGesellschaft der Platz der Liebe und der persönlichen Selbstverwirklichung sein sollte. Die Lektüre von Fausto Cercignani mag dennoch ein Orientierungspunkt im Hinblick auf das Text-Kontext-Verhältnis sein, die Aufopferung des Individuums in seiner „heldische[n] Auffassung von Existenz“ (Cercignani 1988, 135) zu betrachten. In diesem Sinne verstehen sich auch die Ergebnisse dieser Analyse, indem sie zeigen, wie im materialistischen Gesellschaftskontext des Werkes ‚das Verdrängte‘ als eine Nebenspur in der Darstellung des ‚Fortschrittshelden‘ Gagarin oder in der Logik der metaphorischen Darstellung in den ‚uneigentlichen‘ Bereich verdichtet und in das Titel-Bild des Geteilten Himmels verlegt wurde. Solche Verschiebungsund Verdrängungsprozesse im literarischen Text Der geteilte Himmel lassen sich auch auf die Konsequenzen des paradoxalen Charakters der Modernisierung wie in Korrelation zur Handlungsfreiheit des Menschen auf der einen Seite und seiner technisch-strukturellen Abhängigkeit auf der anderen Seite zurückführen (Loo/Reijen 1992, 34 ff.).



 liebevolles Miteinander mit dem geschiedenen Wendland, ohne daß das ein Ersatz für ihre Liebe zu Manfred wäre“ (Bernhardt 2005, 58), bis zu dem völligen Ausschluss der Möglichkeit solcher Liebe: „Die Erzählung schaltet jeden Zweifel aus […].“ (Cercignani 1988, 86) Cercignani bezieht sich auf die Einstellung von Beinssen-Hesse „Die Erzählung schaltet jeden Zweifel aus: die Möglichkeit, ‚daß [Rita] Direktor Wendland mit der Erziehung seines Kindes helfen würde‘, besteht eigentlich nicht.“ (Cercignani 1988, 86 f.) Beinssen-Hesse, Silke 1984, 31 f.; ferner noch zu diesem Thema Adams 1984, 128.

Schlussbetrachtung. Das Haus, das keins mehr ist

Der zentrale gemeinsame Aspekt der drei untersuchten Romane besteht in der Semantisierung des Hauses, in dem sich die persönlichen Narrative der Selbstverwirklichung der handelnden Akteure mit jener der jeweiligen Kollektivgeschichte vielfach überschneiden. So gesehen bildet das Haus insofern den ‚Koordinationspunkt‘ für die raumzeitliche Dimension, als das Bindungs-Trennungs-Reintegrations-Schema der Narration von diesem Raum ausgeht bzw. sich auf diesen Raum bezieht. Die selbstreferenzielle allegorisch dargestellte Geschichte der Heldin und ihr Haus sind zugleich integrale Teile einer Kollektivgeschichte: Im Roman Savushun, Drama der Trauer ist der ‚Märtyrertod‘ des Ehemannes und die darauffolgende Ablehnung des zweiten Heiratsantrags als Bruch der Wirksamkeit patriarchaler Machtstrukturen zu verstehen; in La plaça del Diamant stehen der Tod des ersten Ehemanns im Bürgerkrieg und die Kastrierung des Zweiten stellvertretend für die Kastrierung der patriarchalen Gender-Ordnung; im Geteilten Himmel bedeutet die Entscheidung für den Schlussstrich unter die freie uneheliche Liebesbeziehung die Reintegration der Heldin in den Aufbau des sozialistischen ‚Kollektivs‘. Eine solche Allegorisierung der Erotik zeichnet sich durch ihre politische Dimension im Hinblick auf die geschlechtsspezifischen und kollektiven Interessen aus. Die Besonderheit solcher Interaktionen liegt in der selbstreferentiellen Konfiguration der Kollektivgeschichte, mit deren Hilfe die Grenzen zwischen der individuellen Handlungsfreiheit und dem Strukturzwang von den handelnden weiblichen Akteuren ausgelotet werden. Eine derartige Semantisierung drückt sich in Savushun beispielsweise in der Metapher der infolge der Geburten operier-

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ten ‚Bauchnarbe‘ in Relation zu der mit Nadeln markierten Landkarte durch die Besatzungstruppen aus (Abschnitt 3). Vergleichbares zeigt sich im kritischen Konzeptualisieren des ehelichen Haushalts in La plaça del Diamant, in dem die geschlechtsspezifischen Interessen vor dem Hintergrund der Erfahrungen eines Kollektivtraumas (Bürgerkrieges) programmatisch vorangetrieben werden (Abschnitt 5). Gemeinsam ist diesen beiden Romanen, dass die ‚alten‘ Gender-Ordnungen kritisch hinterfragt und ihre Kontinuität abgebrochen bzw. bestimmten ‚Korrekturen‘ unterworfen werden. Zwar wird die Kontinuität des Ehelebens nicht vollständig abgebrochen, aber durch die Absage der zweiten Ehe (Savushun) bzw. durch die symbolische Kastration (Diamant) werden ‚Korrekturen‘ angebracht, deren Konsequenz die Negierung der herkömmlichen reproduktiven Funktion der Ehe bedeutet. Hingegen kann man im Geteilten Himmel von einer Art Irrelevanz des Hauses sprechen, dessen Bedeutung (im Rahmen der Kulturpolitik im Kontext des Werkes) zugunsten der neuen sozialen Einheiten wie ‚Kollektiv‘ oder ‚Brigade‘ quasi aufgelöst wurde. Eine solche Darstellung ist Bestandteil der projektiven „Moderne-Semantik“ (Graevenitz 1999, 8), die sich vor allem über die Topoi des Mauerbaus und des Weltraumfluges von Juri Gagarin in der Narration niederschlägt. Auf dieser Ebene treibt Christa Wolfs poetische Historiografie als Kontrastfolie zu den beiden anderen Romanen die Forderungen der anachronistischen ‚Moderne-Semantik‘ programmatisch voran. Die Bedeutung eines solchen Anachronismus des ‚Moderne-Projekts‘ zeigt sich nicht nur in Wolfs Poetologie, sondern noch offensichtlicher im Leitfaden des Gender-Programms der DDR, als dessen Träger ‚das schöne Geschlecht‘ seinen Beitrag zu leisten hatte. Wie konnte die vermeintlich gleichberechtigte Umverteilung der Ressourcen über die in der ‚Tradition‘ verwurzelten normativen Kategorien wie ‚schön‘ oder ‚unschön‘ bzw. ‚hart‘ realisierbar sein? Das Haus, das keines mehr ist, verbindet und trennt zugleich die drei untersuchten Romane. Das dargestellte Haus ist ein infolge der kriegerischen Gewalterfahrungen Abgebrochenes, ‚Steriles‘ wie in Savushun, Drama der Trauer und in La plaça del Diamant. Oder es ist ein Nicht-Ort, der der Logik der kulturellen Ordnung folgend, als das ‚Andere‘ des Fortschrittsdenkens von der Gegenwart zu verbannen ist (Reijen 2000, 21 ff.; Waldenfels 1997, 77f.) wie im Geteilten Himmel.

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Auf die zentrale Bedeutung der Antagonismen wie ‚Konstruktion und Organismus‘ und ‚Kunst und Natur‘ weist Hans Blumenberg hin, welche er als „Fazit der neuzeitlichen Geistesgeschichte“ bezeichnet (Blumenberg 1986, 62). Zugleich verweist er auf die entscheidende Rolle der Literatur, Möglichkeitsräume für die Überwindung solcher dichotomischen Oppositionen zu schaffen: „Es ist ein entscheidender Unterschied, ob wir das Gegebene als das Unausweichliche hinzunehmen haben oder ob wir es als den Kern von Evidenz im Spielraum der unendlichen Möglichkeit wiederfinden und in freier Einwilligung anerkennen können“ (Blumenberg 1986, 94; kursiv im Original). Die Romane Savushun, Drama der Trauer und La plaça del Diamant zeichnen sich dadurch aus, dass sie in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext zwischen Hinnehmen des Vorgegebenen und Anerkennen der alternativen Möglichkeiten, zwischen dem Strukturzwang und individueller Handlungsfreiheit das Vorgegebene, jene Wirklicheit also, die „einer Epoche als das Selbstverständlichste und Trivialste von der Welt erscheint“ (Blumenberg 1969, 10), bestimmte Positionen vertreten, die gegenüber den herkömmlichen Vorstellungen der ‚Moderne-Semantik‘ mit ihrem charakteristischen universalstisch und homogen gedachten Geschichtsverständnis (Heidbrink 1999, 545 f.; Reijen 2000, 21 ff.), als ‚Wendepunkte‘ zu betrachten sind. Darüber hinaus markieren diese beiden Romane nicht nur ‚Wendepunkte‘, die in ihrer Andersheit den Status der ‚alternativen Modernen‘ in Anspruch nehmen, sie liefern zugleich aussagekräftige Beweise für die Übermacht der kulturellen Ordnung auf der Basis der Dichotomien, die Zygmunt Bauman in seinem Buch Moderne und Ambivalenz: das Ende der Eindeutigkeit als „zentrale Rahmen sowohl des modernen Intellekts wie der modernen Praxis“ (Bauman 1996, 28) beschreibt. Die vorliegende Analyse exemplifiziert, wie solche alternative Postionen der ‚neuen weiblichen Kulturschaffenden‘, die die herrschenden stark dichotomisch angelegten Narrative wie ‚säkular-religiös‘, ‚katalanisch-kastilisch‘ oder den gängigen ‚Orientalismus-Okzidentalismus‘ (Jalal al-'Azm 1981; Boroujerdi 1996) unterminieren, der Logik der Systemordnung folgend, als „Außer-ordentliche“ (Waldenfels 1997, 77 f.) ausgeschlossen werden. So kann trotz aller Debatten in verschiedenen akademischen Bereichen um die Inter- und Transkulturalität und das breite Themenspektrum zwischen Orient und Okzident festgestellt werden, dass solche Positionen von der Forschung kaum ernst genommen werden. Ein Beweis hierfür: Der Suchbegriff ‚political Islam‘, bzw. ‚politi-

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scher Islam‘ im Karlsruher Virtueller Katalog bzw. im OPAC-Katalog des gemeinsamen Bibliotheksverbundes ergibt (der Reihe nach) 2654 und 645 Treffer, darunter kein einziger Verweis auf SƯmƯn DƗnešvar. Die Zahl der Treffer für den Suchbegriff SƯmƯn DƗnešvar im selben Katalog beläuft sich auf 25 Referenzen, darunter aber nicht eine einzige Werkanalyse.1 Vergleichbare Ausschlussmechanismen wurden im Hinblick auf den Roman La plaça del Diamant in der Analyse des interregionalen Kontexts der katalanisch-kastilischen Verhältnisse und der Verflechtung zwischen lokalen und nationalen Interessen diskutiert, so z.B. die Ausschließung von Rodoredas Werken aus dem spanischen Literaturkanon (Abschnitt 1). Im Rahmen dieser Analyse wurde mit der Fokussierung auf die literarische Kulturtätigkeit von Frauen am Beispiel der literarischen Werke von drei Schriftstellerinnen in autoritären Regimen der 1960er-Jahre das Thema Modernität von ‚Randpositionen‘ in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt. So wie die Repräsentationsfrage über die Begriffe Geschlechterordnung und Mimesis in der menschlichen Kulturgeschichte verwurzelt ist, trat damit zugleich die Bedeutung der Vermittlungsrolle der Kultur, vor allem die der Literatur als ihr „Aufschreibesystem“ (Kittler 2003) im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext in den Blickpunkt der Analyse. Im Kampf um die Verwirklichung und das Vorantreiben egalitärer Umverteilung der Ressourcen überkreuzten sich vielfach die geschlechtsspezifischen Interessen mit den gemeinschaftlichen bzw. nationalen im kulturellen und gesellschaftlichen Kontext. Hierzu zählen die ‚Verwestlichungs- und ƤarbzadegƯ-Debatten (Westtoxikation) im Iran innerhalb des doppelten Bezugsrahmens der iranisch-islamischen Kultur in Savushun, Drama der Trauer, die Kontroversen um die Nationwerdung Spaniens am Beispiel der katalanisch-kastilischen Verhältnisse in La plaça del Diamant und die Rückkopplung an Sozialismus-Kapitalismus/Faschismus-Debatten im Geteilten Himmel. Die Ergebnisse der untersuchten Momentaufnahmen zeigten die ‚Poetik und Politik‘ der Kulturen, die auf der moralpraktischen Ebene vielfach Berührungspunkte mit dem mimetischen Vermögen (platonischer oder aristotelischer Rezeption) aufwiesen. Davon zeugen intertextuelle Markierungen, verschiedene Erzählstrategien und literarische Mittel wie Metaphorisierung

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Letztes Zugriffsdatum am 25. Februar 2013.

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und Ironisierung der Sprache, Inversion, Karnevalisierung usw., die die kulturellen und gesellschaftlichen Machtstrukturen herausforderten und die geschlechtsbezogenen Grenzen unterminierten, verschoben und zugunsten weiblicher Subjekte neu konstruierten. Solche Berührungspunkte wurden aber auch über die Mechanismen der Funktionalisierung und Kanonisierung der untersuchten literarischen Texte sichtbar. Der homogenisierende und unterdrückende Charakter von ‚Nation‘ bzw. ‚Kollektiv‘ war ein zentrales Thema, weshalb die repräsentative Rolle der untersuchten Romane in erster Linie über die gemeinschaftlichen Interessen durch die literaturkritischen Unternehmen ausgehandelt wurde. In den Verflechtungen der kulturellen und politischen Regulierungsmechanismen musste der Untersuchungsgegenstand unter Berücksichtigung der Bedingungen einer ‚Schere im Kopf‘ behandelt werden (Savushun, Drama der Trauer). Dort, wo die Grenzen zwischen der Nation und ihren untergeordneten Kulturen nicht miteinander übereinstimmten, war der Preis des Autonomiestrebens der ‚Minoritäten‘ die Diskriminierung und der Ausschluss aus dem nationalen literarischen Kanon (La plaça del Diamant). Ebenso offenbarte sich die Wirksamkeit der Machtstrukturen der modernen ‚Polis‘, indem sie den Imperativen instrumenteller Vernunft von ‚Überbau-Basis-Dogma‘ folgend, die verwirrungsstiftende Dichtung aus der allgemeinen Gesellschaftspraxis sanktionierte und ausschloss (Nachdenken über Christa T.; Mutmaßungen über Jakob). Im Hinblick auf die Verhandlungen über die Grenzen der Mimesis traten vielfach die Konturen der autoritären kulturellen und politischen Ordnung selbst in Erscheinung. Die Hervorbringung von Differenz zeigte sich in den verschiedenen ‚Europa-Bildern‘: Das imperiale Europa, das für den Kolonialismus in ‚alten‘ und ‚neuen‘ Formaten Pate steht, das anschlussfähige Europa in Abgrenzung von historizistisch-ethnozentrischen Ideen, aber auch Europa in seiner heterotopischen Funktion aus der ‚Peripherie‘ gesehen, als Ort des Begehrens und als Projektionsfläche für das ‚verdrängte Eigene‘ (Savushun, Geschichte von ‚Scheich Ssanan‘). Zu einem solchen facettenreichen EuropaBild gehörte darüber hinaus der zum Modell des Nationalstaats quer stehende Katalanismus. Ebenso war das Nebeneinander der ‚alten‘ und ‚neuen‘ Strukturen wie Nachbarschaft (Savushun; La plaça del Diamant) ein Thema, das als ein Beweis für die Geschichtlichkeit der revolutionären, materialistischen ‚a-kulturellen‘ Vorstellungen von Modernität (Taylor 2001)

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betrachtet werden kann. In diesem Sinn verstehen sich auch die Ergebnisse dieser Arbeit, die auf der transkulturellen Ebene (Osterhammel 2004, 62 f.) das für universal gehaltene eurozentrische Idiom unterminieren, wenn etwa in den 1960er-Jahren die religiösen Elemente nicht als ‚Opium für das Volk‘ sondern als Mittel gegen das autoritäre System eingesetzt werden, vor allem unter Einbeziehung der sufi-gnostischen Denktradition (Savushun). Im Hinblick auf solche Vergangenheits- und Gegenwartsbezüge wurde aus der interkulturellen Perspektive über die Neuzeit-Debatten mit der Problematisierung der Dichotomien (wie ‚religiös‘ und ‚säkular‘) dafür plädiert, dass die Existenz der alternativen ‚Parallelwelten‘ den usurpierenden makroperspektivisch geprägten Methodenkonzepten vorausgehen soll, denn als in Amsterdam in der Cartesianischen Philosophie der Grundstein für die Bestimmung der Welt in res cogitans und res extensa gelegt wurde, hatte sich in Isfahan im philosophischen Denken die Entessentialisierung derselben Welt in der Lehre von der ‚substantiellen Bewegung‘ (al-haraka al-jawhariyya) durch Mulla Sadra (gest. 1640?) vollzogen. Auf der Grundlage der untersuchten Serie von Momentaufnahmen in den 1960er-Jahren wurde der widersprüchliche Charakter des Modernisierungsprozesses in den Fokus genommen, der parallel zum Vorantreiben der individuellen geschlechtsspezifischen wie kollektiven Autonomiebestrebungen immer auch die Spuren von Verlust, Bruch, Krise und Kompensation hinterließ. In Analogie zu dem oben erläuterten Hauskonzept kam dem Körper als Telos aller der Zuschreibungen geschlechtlicher/sozialer Identität und Träger kultureller Werte in seiner medialen Funktion in der literarischen Darstellung eine entscheidende Bedeutung zu, die sich in seiner Ab- und Anwesenheit unter Druck gesellschaftlicher Machtstrukturen offenbarte. Als Tragwerk symbolischer Geschlechterordnung war er am Beispiel von Savushun den kulturellen Überwachungsmechanismen der Ent- und Verschleierungs-Poetik und Politik unterworfen; seine hypertrophen oder uniformierten institutionsgebundenen Erscheinungen markierten die Generationsunterschiede unter den militärisch-religiösen Machstrukturen vor, während und nach dem Bürgerkrieg in Spanien in La plaça del Diamant; und sein ‚Ungewicht‘ und sein ‚asketisches Dasein‘ wies auf seine Ohnmacht gegenüber der Übermacht des ‚Kollektivs‘ in der DDR hin (Der geteilte Himmel).



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Martina Läubli Subjekt mit Körper Die Erschreibung des Selbst bei Jean-Jacques Rousseau, Karl Philipp Moritz und W.G. Sebald April 2014, 302 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2655-1

Claudia Liebrand, Rainer J. Kaus (Hg.) Interpretieren nach den »turns« Literaturtheoretische Revisionen Juli 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2514-1

Johanne Mohs Aufnahmen und Zuschreibungen Literarische Schreibweisen des fotografischen Akts bei Flaubert, Proust, Perec und Roche 2013, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,99 €, ISBN 978-3-8376-2491-5

Petra Moser Nah am Tabu Experimentelle Selbsterfahrung und erotischer Eigensinn in Robert Walsers »Jakob von Gunten« 2013, 182 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2341-3

Madleen Podewski Komplexe Medienordnungen Zur Rolle der Literatur in der deutsch-jüdischen Zeitschrift »Ost und West« (1901-1923) 2013, 372 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2497-7

Caroline Roeder (Hg.) Topographien der Kindheit Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen Juli 2014, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 46,99 €, ISBN 978-3-8376-2564-6

Tanja Rudtke Kulinarische Lektüren Vom Essen und Trinken in der Literatur 2013, 284 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2374-1

Natascha Ueckmann Ästhetik des Chaos in der Karibik »Créolisation« und »Neobarroco« in franko- und hispanophonen Literaturen Mai 2014, ca. 520 Seiten, kart., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2508-0

Yuan Xue Über den Körper hinaus Geschlechterkonstruktionen im europäischen Roman seit Ende der 1990er Jahre März 2014, 244 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2659-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Kathrin Audehm, Iris Clemens (Hg.)

GemeinSinn Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2013

2013, 136 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2322-2 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort.

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4. Jahrgang, 2013, Heft 2

Dezember 2013, ca. 200 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2375-8 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht.

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