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German Pages 300 Year 2020
Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens
Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens Anwalt zwischen Deutschtum und Judentum Herausgegeben von Rebekka Denz und Tilmann Gempp-Friedrich
Die Konferenz „125 Jahre Centralverein. Ein Jubiläum ohne Jubilar“ wie auch der Konferenzband „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Anwalt zwischen Deutschtum und Judentum“ wurden ermöglicht von
ISBN 978-3-11-067542-9 e-ISBN (PDF) ISBN 978-3-11-067553-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067558-0 Library of Congress Control Number: 2020944401 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlag: Herbert Sonnenfeld, Hans Reichmann mit einem Besucher in einem Büro der C.V.Zeitung, Emser Straße 42, Berlin 22. Oktober 1936; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. FOT 88/500/118/001, Ankauf aus Mitteln der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin Satz: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Für Avraham Barkai
Inhalt Rebekka Denz und Tilmann Gempp-Friedrich Einleitung 1
Personen Jonathan Voges Der Centralverein in der Provinz. Norbert Regensburger als „deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ in Braunschweig 13 Eva Rohland „Assimilation oder Katastrophe“: Das Wirken des Pädagogen Heinemann Sterns für den Centralverein im Spiegel seiner Erinnerungen 33 Martin Herholz Hans-Joachim Schoeps und der Centralverein 55 Wilma Schütze Eva Reichmann – Plädoyers für jüdisches Leben im frühen NS-Deutschland 71
Positionen Christian Wiese „Eine Pflicht der Selbstachtung“: Jüdische Apologetik im Kontext der ‚Abwehrarbeit‘ des Centralvereins im Wilhelminischen Deutschland 89 Rebekka Denz Pionierinnen und Pioniere der ersten Dekade. Das Reichsvereinsgesetz von 1908 als Modernisierungsmarker des Centralvereins 121 Tilmann Gempp-Friedrich Zugehörigkeitsnarrative im Centralverein. Erzählungen von Anpassung und Selbstermächtigung ab 1914 135
VIII Inhalt
Warren Rosenblum Dreyfus in Deutschland. Die französische Affäre als Modell und Gegenmodell für den Centralverein 153 Simon Sax Das Büro Wilhelmstraße: neue Quellen, neue Perspektiven 169 Jürgen Matthäus Zwischen Anpassung und Risikobereitschaft: Der Centralverein nach der NS-‚Machtergreifung‘ 195 Marie Ch. Behrendt Kein Epilog. Das organisationskulturelle Erbe des Central-Vereins in der Emigration 211
Presse Kerstin Schoor „Unser Haus brennt…“ – Der Topos vom ‚Haus‘ im Kontext der Emanzipations- und Abwehrdiskurse in der C.V.-Zeitung von 1922 bis 1938 229 Michael Nagel Die Monatsausgabe der C.V.-Zeitung: Ein Bindeglied zwischen jüdischer und allgemeiner Öffentlichkeit? 251 Tobias Bargmann Eine C.V.-Zeitschrift? Der Morgen (1925–1938) im Spannungsfeld von C.V.-Nähe und publizistischer Eigenständigkeit 267 Über die Autorinnen und Autoren 281 Register 287
Rebekka Denz und Tilmann Gempp-Friedrich
Einleitung Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.)1 wurde 1893 in Berlin in Reaktion auf den Antisemitismus im deutschen Kaiserreich gegründet. Ganz den Prinzipien des Liberalismus verpflichtet, war er der Ansicht, diesem durch Aufklärung und juristische Gegenwehr begegnen zu können. Der Erfolg der Mitgliederwerbung und die stetige Schaffung neuer Ortsgruppen erstaunte nicht nur die Gründer, sondern führte auch dazu, dass der Centralverein zu einer der größten jüdischen Organisationen anwuchs. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte er 40 000 Mitglieder und konnte diese Zahl in der Weimarer Republik noch einmal deutlich auf über 70 000 steigern. Allein durch seine über 600 Ortsgruppen Ende der 1920er Jahre war der C. V. nahezu allerorts in der Republik sichtbar und vertreten. Dieser Erfolg fußte nicht nur auf der geleisteten Abwehrarbeit, vielmehr repräsentierte der Centralverein schon bald nach der Gründung eine selbstbewusste jüdische Identität innerhalb der deutschen Gesellschaft. Diese Symbiose aus Deutschtum und Judentum entsprach dem Empfinden der überwiegenden Mehrheit des deutschen Judentums, wurde jedoch auch innerhalb des Centralvereins nicht als gänzlich konfliktfrei angesehen, wie die Auseinandersetzungen mit dem Zionismus und mit der sich verändernden Qualität des Antisemitismus deutlich machten. In diesem Spannungsfeld zwischen Rückgriff auf Traditionen und der Neuschaffung einer kulturellen Identität vertrat der Centralverein die mehrheitlich anerkannte Position einer nationalen Zugehörigkeit als ‚jüdische Deutsche‘ und wurde so zu einem der Hauptprotagonisten des deutsch-jüdischen Kultursystems2. Durch seine politische Arbeit, kulturelles Engagement sowie den Kampf gegen Antisemitismus vor Gericht und in der Öffentlichkeit galt er darüber hinaus als eine wirkmächtige Stimme von gesamtgesellschaftlicher Relevanz, die nicht nur für sich in Anspruch nahm, das deutsche Judentum zu vertreten, sondern auch in die nichtjüdische Gesellschaft einwirken wollte. In den Jahren der NS-Diktatur wurde die Arbeit des Centralvereins erschwert und zunehmend eingeschränkt. Der C. V. war ein Motor der (zwangsläufigen) 1 In Quellen und Forschungsliteratur existieren viele unterschiedlichen Schreibweisen für den Centralverein. In diesem Sammelband wurden keine Vorgaben zur Vereinheitlichung gemacht, daher variieren die Namensschreibungen und Abkürzungen in den verschiedenen Beiträgen. 2 In Anlehnung an das Begriffsverständnis von Volkov. Vgl. Shulamit Volkov, Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland, in: dies., Das jüdische Projekt der Moderne. München 2001, 118–136. https://doi.org/10.1515/9783110675535-001
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Schaffung neuer inner-jüdischer Organisationsstrukturen und der jüdischen Selbsthilfe, wie der im September 1933 gegründeten Reichsvertretung der Deutschen Juden. Im November 1938 wurde die reichsweite Organisation Centralverein durch das NS-Regime zwangsaufgelöst.
Geleistetes – Umriss der Forschungslage Trotz seiner einstigen numerischen Größe und seiner zentralen Stellung im deutsch-jüdischen Kultursystem blieb der Centralverein als Organisation, als Geistesströmung und auch als politischer Akteur in der (jüdischen) Geschichtsschreibung bis heute unterrepräsentiert. Die ersten Arbeiten nach der Shoah, die sich mit dem C. V. auseinandersetzten, wurden meist von emigrierten ehemaligen Mitgliedern verfasst und beschränkten sich oftmals auf eine deskriptive Zusammenfassung der Arbeit des Centralvereins. Hier lag der Fokus auf der geleisteten Abwehrarbeit, was dazu führte, dass sich die weitere Forschung häufig nur noch im Kontext der Antisemitismusforschung mit dem Centralverein auseinandersetzte. Dieser verengte Zugang wird der Komplexität und Diversität der unterschiedlichen Arbeits- und Betätigungsfelder des Vereins jedoch bei weitem nicht gerecht. Eine deutliche Forschungskonjunktur wurde im Jahr 1990 durch die Wiederentdeckung des als verschollen bzw. kriegszerstört gegoltenen C. V.-Archivs in Moskau und durch Avraham Barkais ideengeschichtliche Gesamtdarstellung3 aus dem Jahr 2002 ausgelöst. Auf Basis der neuen Quellenlage sind in den letzten zwanzig Jahren einige Arbeiten entstanden, die den Centralverein und seine facettenreichen Tätigkeiten aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten.4 Sie 3 Barkai, Avraham, „Wehr Dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893–1938. München 2002. 4 Als Monografien, die zumeist als Promotionsschriften erarbeitet wurden, sind in alphabetischer Reihenfolge zu nennen: Hannah Ahlheim, „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935. Göttingen 2011; Dominic Bitzer, Im deutschen Reich. Das publizistische Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Diss. Aachen 2013; Thomas Brechenmacher/Christoph Bothe, Bruno Blau. Ein deutsch-jüdisches Leben. Berlin 2018; Christian Dietrich, Verweigerte Anerkennung. Selbstbestimmungsdebatten im „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin 2014; Gabriel Eikenberg, Der Mythos deutscher Kultur im Spiegel jüdischer Presse in Deutschland und Österreich von 1918 bis 1938. Hildesheim/Zürich/New York 2010; Christina Goldmann, Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Rheinland und Westfalen. 1903–1939, Diss. Düsseldorf 2006; Cornelia Hecht, Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Bonn 2003; Christoph Jahr, Antisemitismus vor
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eröffnen neue Möglichkeiten, eine deutlich differenziertere Sichtweise auf das Wirken des Centralvereins zu erlangen.
Zu Leistendes – Anriss von Forschungszugängen Ältere Forschungsarbeiten betrachteten die Geschichte des Centralvereins meist von ihrem Ende her. Dies führte zum einen zur erwähnten Engführung der Organisation auf die vermeintlich gescheiterte Abwehrarbeit, es ermöglichte aber darüber hinaus auch der zionistischen Bewegung, ihre eigene Geschichte als eine des Erfolgs fortzuschreiben, während die Geschichte des deutsch-jüdischen Zusammenlebens unter den Vorzeichen von Aufklärung und Emanzipation jäh und einseitig beendet wurde. Denn die Auseinandersetzungen zwischen dem liberalen, dem C. V. nahestehenden Judentum und dem Zionismus wurden in der Zeit nach der Shoah unter geänderten Bedingungen weitergeführt. Zionistinnen und Zionisten5 konnten sich als ideologische Sieger/innen fühlen und ihre Narrative gewannen in den Geschichtswissenschaften deutlich an Einfluss. Erst in den letzten Jahren haben sich die Forschungszugänge zum Centralverein verändert und ließen ihn so in einem neuen Licht wahrnehmen. Anstöße hierfür waren und sind:
Gericht. Debatten über die juristische Ahndung judenfeindlicher Agitation in Deutschland (1879–1960). Frankfurt a. M./New York 2011; Arndt Kremer, Deutsche Juden – deutsche Sprache. Jüdische und judenfeindliche Sprachkonzepte und -konflikte 1893–1933. Berlin/New York 2007; Johann Nicolai, „Seid mutig und aufrecht!“ Das Ende des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. 1933–1938. Berlin 2016; Arnold Paucker, Deutsche Juden im Kampf um Recht und Freiheit. Studien zu Abwehr, Selbstbehauptung und Widerstand der deutschen Juden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Berlin 2004; Miriam K. Sarnecki, Doppelte Ungleichzeitigkeit. Die C. V.-Zeitung von 1925 bis 1933 – Zeitzeugnis eines Pionierprojekts postkolonialer Akkulturation. Gießen 2018; Inbal Steinitz, Der Kampf jüdischer Anwälte gegen Antisemitismus. Die strafrechtliche Rechtsschutzarbeit des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (1893–1933). Berlin 2008; Susanne Urban-Fahr, Der PhiloVerlag 1919–1938. Abwehr und Selbstbehauptung. Hildesheim/Zürich/New York 2001; Anna Ullrich, Von „jüdischem Optimismus“ und „unausbleiblicher Enttäuschung“. Erwartungsmanagement deutsch-jüdischer Vereine und gesellschaftlicher Antisemitismus 1914–1938, Berlin 2018. Siehe auch die fortlaufend ergänzte Bibliografie, in die seit 2000 veröffentlichte Literatur mit Bezug zum Centralverein aufgenommen wird: https://centralverein.net/ressourcen/bibliographie/ (17.06.2020). 5 Aus Rücksichtnahme auf die verschiedenen Forschungstraditionen wurde im vorliegenden Sammelband bewusst auf Empfehlungen oder editorischen Vereinheitlichung der geschlechtergerechten Sprache verzichtet.
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Erstens die Quellenlage – nach der Entdeckung des C. V.-Archivs in Moskau und der im Anschluss vorgenommenen Verfilmung ist der Bestand nun an vielen Orten der Welt verfügbar. Zudem sind im Onlineportal Compact Memory6 alle C. V.-Periodika frei verfügbar und recherchierbar. Nichtsdestotrotz fehlen immer noch wichtige Quellenbestände bzw. müssen als zerstört gelten, so die Redaktions- und Verlagsarchive des C. V.-eigenen Publikationswesens, aber auch wichtiges Material aus den Gründungsjahren, der Zeit des Ersten Weltkrieges und den Anfängen der Weimarer Republik. Zweitens konnten entscheidende neue Impulse für die Forschung zum Centralverein auch durch eine Erweiterung der Fragestellung hin zu einem organisationssoziologischen Zugang gewonnen werden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Soziologie und Geschichtswissenschaft verspricht hier neue Perspektiven, die, betrachtet man etwa Stefan Kühls Forschungen zur Shoah7, einen wesentlichen Erkenntnisgewinn bedeuten können. Gerade Fragen nach Identitätsherstellung in Organisationen, nach Entscheidungsfindungen und den dahinterstehenden Prozessen, nach dem Umgang mit gezielten Angriffen auf die Organisation als solche, aber auch nach persönlichen Netzwerken und deren Wirksamkeit in organisationalen Zusammenhängen versprechen neue Erkenntnisse. Als Drittes sind die aktuellen Zugriffe auf die Geschichte der Weimarer Republik insgesamt zu nennen. Diese Neuorientierung, dass man der Weimarer Republik nicht gerecht werde, „wenn man sie nur von ihrem Ende, von ihrem Einmünden in die ‚deutsche Katastrophe‘ her“ betrachtet, formulierte Detlev Peukert schon 1987 in seiner mittlerweile zur Standardlektüre gewordenen Gesamtdarstellung.8 Neuere Forschungen versuchen, die Engführung auf das Scheitern zu vermeiden und die Weimarer Republik als einen Möglichkeitsraum mit offenem Zukunftshorizont zu begreifen.9 Ob und inwieweit dieser Ansatz für die deutsch-jüdische Geschichte vor der Shoah zu nutzen ist, gilt es angesichts der jüdischen Katastrophe, in die die Weimarer Republik eben auch mündete, kritisch zu hinterfragen. Inwieweit kann man von der Shoah abstrahieren, um eine Idee von den Zukunftsvorstellungen eines deutsch-jüdischen Zusammenlebens zu bekommen? Doch gerade in Bezug auf den Centralverein scheint diese Art des Zugangs neue Perspektiven zu eröffnen und die Vielschichtigkeit dieser Organisation sichtbar zu machen. Aber nicht nur die Vielschichtigkeit als Orga6 http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm (11.07.2020). 7 Stefan Kühl, Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust. Frankfurt 2014. 8 Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne. Frankfurt a. M. 1987. 9 Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignung in Deutschland 1918–1933. München 2008.
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nisation per se lässt sich so extrahieren, sondern auch die Rolle des Centralvereins als wichtigster Akteur in einem deutsch-jüdischen Kultursystem, als bedeutendstes identitätsstiftendes Element innerhalb des deutschen Judentums und als sichtbarste Manifestation des liberalen, jüdischen Lebens in Deutschland. Dabei soll keineswegs vergessen werden, dass die Abwehrarbeit eine der Grundsäulen des Centralvereins war, auch ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Konzept der Symbiose von Deutschtum und Judentum letztendlich scheiterte. Aber schon der Blick in die Ortsvereine zeigt eindrücklich, dass der Centralverein mehr war. Hier wurde er von einer Großorganisation im ständigen, ideologiegeleiteten Kampf gegen Zionismus und Antisemitismus, aber auch für Deutschtum, für die deutsche Kultur, tatsächlich zu etwas, das wir ‚Verein‘ nennen dürfen. Dies schlug sich in der Lebenswelt der Mitglieder nieder, in Form von regelmäßigen öffentlichen Veranstaltungen, (vereinsinternen) Treffen, Leseabenden, informellen Zusammenkünften oder gemeinsamen Ausflügen. Und doch scheint die eigentliche Frage im Hintergrund immer wieder auf: War der Centralverein zu lange blind gegenüber den Veränderungen und der Gefahr, die mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus und seinen Akteurinnen und Akteuren aufkam? Hätte er früher und drängender zur Auswanderung aufrufen müssen, wie es beispielsweise Friedrich Brodnitz10 nach der Shoah sich selbst vorwirft?
Zu Lesendes –Schwerpunkte des Sammelbandes Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens verstand sich, so auch der Untertitel dieses Bandes, stets als Anwalt zwischen Deutschtum und Judentum. Die Funktion, die er sich selbst zuschrieb, war, dafür Sorge zu tragen, beide Begriffe und die damit verbundenen Identitäten und Gefühle in Einklang zu bringen; eine Symbiose herzustellen und dafür die Regeln zu definieren oder, der Lebenspraxis näher, den Ehevertrag zwischen zwei Partnern auszuhandeln. Die Einteilung des Bandes verdeutlicht, wie die Praxis dieser Organisation funktionierte.
10 Friedrich Brodnitz (1899–1995) war wie sein Vater Julius Brodnitz, dem C. V.-Vorsitzenden von 1920 bis 1936, für den C. V. aktiv. Gemeinsam mit Ludwig Tietz war Friedrich Brodnitz Vertreter des Kreises jüngerer C. V.-Mitglieder, die Ende der 1920er Jahre als nachwachsende Generation neue ideologische Impulse in den Verein gaben.
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1. Sektion: Personen Die erste Sektion stellt Menschen und deren Handlungsräume im Kontext des Centralvereins in den Fokus. Wie prägten sie die Politik und Ziele des C. V., welche Möglichkeiten hatten sie dazu und waren sie damit erfolgreich? Jonathan Voges’ Beitrag versucht am Beispiel einer regional prominenten Persönlichkeit „mithilfe spezifischer Sonden […] bestimmte Herausforderungen und Reaktionsschemata lokaler Centralvereins-Vertreter zu (re)konstruieren“. Der vornehmlich in der Zwischenkriegszeit in Braunschweig tätige Norbert Regensburger gestaltete als Rechtsanwalt, Politiker, Gemeindevertreter und Vereinsfunktionär die ‚C. V.-Idee‘ in vielfältiger Weise mit. Der Blick in die Provinz und auf eine Einzelperson, die in vielfachen Zusammenhängen neue Verbindungen des deutsch-jüdischen Kultursystems knüpfte, schärft das Verständnis des Centralvereins als weit verzweigte Organisation. Im Mittelpunkt des nächsten Artikels steht der Pädagoge Heinemann Stern und sein Engagement für den Centralverein, der in den 1920er Jahren zu seiner „politischen Heimat“ wurde. Die Autorin Eva Rohland macht in der Stern’schen Interpretationen der Ideen des C. V. mehrere Phasen aus, die sich an sein pädagogisches Selbstverständnis und seine Publikationen rückbinden lassen. Dabei geht sie insbesondere auf seine reflexive Selbstverortung in seinen im brasilianischen Exil verfassten Briefen und Erinnerungen ein. Martin Herholz zeichnet anhand bisher nicht ausgewerteter Aktenbestände das Verhältnis zwischen Hans-Joachim Schoeps und dem Centralverein nach. Dabei verfolgt der Autor die Frage, welche Zusammenarbeit zu welchem Zeitpunkt möglich war und teils auch realisiert wurde. Hierbei können drei Phasen unterschieden und neue Aspekte auf die Abwehrarbeit vor 1933, aber auch Belege für einen erhöhten Kooperationsdruck innerhalb des deutschen Judentums nach 1933 aufgezeigt werden. Der diese Sektion abschließende Beitrag von Wilma Schütze nimmt die ‚Chefideologin‘ der 1930er Jahre Eva Reichmann und ihre „Plädoyers für jüdisches Leben im frühen NS-Deutschland“ in den Blick. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf den ersten Jahren der nationalsozialistischen Diktatur bis zur Zwangsauflösung des Centralvereins als reichsweite Organisation im November 1938. Auf Basis ausgewählter publizistischer Beiträge der C. V.-Mitarbeiterin arbeitet Schütze die neuen, erzwungenen Notwendigkeiten heraus, denen der Centralverein sich mit seinem verbindenden Grundverständnis von Deutschtum und Judentum stellen musste. Der C. V. befand sich in der Situation, sich aufgrund des zunehmenden Verfolgungsdrucks in einer jüdischen Subkultur organisieren und andere Abwehr- und Aufklärungsarbeit entwickeln zu müssen.
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2. Sektion: Positionen Wird die Komplexität des diskursiven Feldes, das der Centralverein aufgemacht hat, bereits an den personenbezogenen Beiträgen deutlich, so zeigt auch die zweite Sektion auf vielfältige Weise, wie der Centralverein sich zu unterschiedlichen Ereignissen, Strategien, Anfeindungen oder auch Fragestellungen positionierte und welche Strategien er selbst dafür anwendete. Christian Wiese verdeutlicht, wie während der Gründungszeit und bis zum Ersten Weltkrieg die Apologetik im Centralverein eine immer wichtigere Rolle einnahm. Um eine effektive Abwehrarbeit leisten zu können, musste zunächst herausgearbeitet werden, was verteidigt werden soll. Ein Umstand, der auch die liberale, oft areligiöse Mehrheit dazu zwang, sich Kenntnisse über jüdische Traditionen anzueignen, um so dem „neuen jüdischen Selbstbewusstsein ein Fundament [zu] verschaffen.“ Im Beitrag von Rebekka Denz wird dem Aspekt der Einbindung von Frauen in die Vereinsarbeit nachgegangen. Vor dem Hintergrund der Auswirkungen des 1908 erlassenen Reichsvereinsgesetzes, das Frauen die Mitgliedschaft im Centralverein als politische Organisation überhaupt erst ermöglichte, reflektiert sie den Zusammenhang von Geschlechterfrage und der Frage der sogenannten Fortschrittlichkeit im Verein insgesamt. Tilmann Gempp-Friedrich geht in seinem Beitrag der Frage nach den unterschiedlichen Zugehörigkeitsnarrativen und deren Anpassung an Mehrheitsdiskurse in der Zeit ab 1914 bis zum Ende der Weimarer Republik nach. Dabei wird gezeigt, wie flexibel der Centralverein sich an eine Einheitsvorstellung zumindest terminologisch angepasst hat, aber auch, dass zu jeder Reflexion über Zugehörigkeit auch ein Nachdenken über die eigene Identität gehört. Warren Rosenblum nimmt den Umgang mit der Dreyfus-Affäre in Deutschland und insbesondere durch den Centralverein zum Anlass, die unterschiedlichen Strategien im Umgang mit antisemitisch grundierten Gerichtsverfahren zu erläutern. Wurde die Öffentlichkeit mobilisiert und wenn ja, wie? Welche Pressestrategien wurden angewandt, wurde versucht, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen und wurde das Verfahren überhaupt als antisemitisch decouvriert? Der Beitrag von Simon Sax beleuchtet anhand neuer Quellen und unter einem kommunikationswissenschaftlichen Blickwinkel das vom Centralverein getragene Büro Wilhelmstraße und die dort angesiedelte kommunikative Abwehr. Dabei verdeutlicht er auch, dass „die Geschichte des Büros Wilhelmstraße einen Beitrag zur Frage nach der Integration der deutschjüdischen (Teil-)Öffentlichkeiten in die deutschen (Teil-)Öffentlichkeiten leisten“ kann. Jürgen Matthäus fokussiert in seinem Beitrag auf die Reaktionen und Taktiken des Centralvereins in der frühen NS-Zeit. Dabei weist er ein vielfältiges Spektrum an Strategien nach, die klandestiner waren, als es die bisherige For-
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schung wahrgenommen hat. Der Autor kann so zeigen, dass der C. V. bereit war, deutlich höhere Risiken in seinem Abwehrkampf in Kauf zu nehmen und keinesfalls nur eine Politik der Anpassung an die neuen Umstände verfolgte. Marie Ch. Behrendt untersucht die Zeit nach der Zwangsauflösung des Centralvereins 1938 als „[d]as organisationskulturelle Erbe des Central-Vereins in der Emigration“. Die Autorin beschreibt das aus NS-Deutschland insbesondere nach Großbritannien transferierte Netzwerk, unter dem personelle, aber auch positionelle Traditionslinien zu subsummieren sind.
3. Sektion: Presse In der der dritten Sektion wird der Rolle und Funktion der im Umfeld des Centralvereins erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften als wichtigste Popularisierungsmöglichkeit der eigenen Positionen nachgegangen. Welche Möglichkeiten gab es, stabilisierend in den Verein selbst hinzuwirken, wie konnte die Wahrnehmung über den Verein hinaus gesteigert werden, und unterlag die Presse bestimmten vereinseignen Beschränkungen? Kerstin Schoor analysiert die C. V.-Zeitung anhand des Topos ‚Haus‘. Den zeitlichen Schwerpunkt legt Schoor auf die Jahre der nationalsozialistischen Diktatur, jene Zeit, in der jüdisches Leben erzwungenermaßen aus der Öffentlichkeit zunehmend in die Privatheit des Hauses als neuen ‚Schutzraum‘ der jüdischen Subkultur gedrängt wurde. Der Beitrag von Michael Nagel widmet sich der Monatsausgabe der C. V.Zeitschrift, die zwischen 1925 und 1938 erschien. Dabei geht er der Frage nach, ob diese Publikation als Bindeglied zwischen einer jüdischen und einer nichtjüdischen Öffentlichkeit gesehen werden kann, zeigt die Angebote und Möglichkeiten, die die Monatsausgabe nichtjüdischen Leserinnen und Lesern sowie Autorinnen und Autoren macht und fragt nach der Wahrnehmung durch das nichtjüdische Publikum. Abschließend konzentriert sich Tobias Bargmann auf das in der Forschung häufig vernachlässigte Periodikum Der Morgen. Als Grundfrage seines Beitrags lässt sich das Für und Wider der Frage ausmachen, ob sich die Zeitschrift als Teil der C. V.-Publizistik bestimmen lässt oder eben nicht. Somit schlägt der Beitrag einen Bogen zur Kernintention des vorliegenden Sammelbandes. Hier wird dafür plädiert, die Geschichte des Centralvereins als ein, wenn nicht das zentrale Element des heterogenen deutsch-jüdischen Kultursystems wahrzunehmen, um damit elementare Fragen deutsch-jüdischer Existenz vor der Shoah in den Blick zu nehmen. Was war deutsches Judentum? Was war jüdisches Deutschtum?
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Zum Abschluss – Dank 125 Jahre nach der Gründung des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und 80 Jahre nach dem erzwungenen Ende seiner Tätigkeit stellte im November 2018 erstmals eine Konferenz die Geschichte dieser größten deutsch-jüdischen Organisation vor der Shoah in den Fokus und bezog dabei das historische, jüdische wie nichtjüdische Umfeld mit ein. Die inhaltliche Konzentration auf einen zentralen Akteur bot bei der internationalen Veranstaltung an der Universität Potsdam unter dem Titel „Ein Jubiläum ohne Jubilar – 125 Jahre Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ die Chance, neue Erkenntnisse über Bedingungen und Möglichkeiten jüdischen Lebens in Deutschland vor der Shoah zu gewinnen. Die Durchführung der Konferenz im Jahr 2018 wäre ohne die großzügige Unterstützung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, der Alfred Freiherr von Oppenheim Stiftung sowie der Forschungsförderung der Universität Potsdam nicht möglich gewesen – ihnen allen sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. Ohne die tatkräftige Unterstützung unseres Kollegen Dr. Michael K. Schulz vor Ort in Potsdam wäre die Konferenz kaum umsetzbar gewesen. Auch Larissa Binnebesel hatte als studentische Hilfskraft ihren Anteil an der erfolgreichen praktischen Durchführung. Zukunftsträchtige Projekte gelingen zumeist mit Kooperationspartnerinnen und -partnern. Prof. Dr. Thomas Brechenmacher, Inhaber der Professur für Neuere Geschichte (deutsch-jüdische Geschichte) an der Universität Potsdam, ist zuvorderst als beständige Hauptsäule zu nennen. Ihm möchten wir unseren tiefen Dank aussprechen. Gleiches gilt für Prof. Dr. Christian Wiese, Inhaber der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, der unsere Projekte im Bereich der C. V.-Forschung in vielerlei Weise stützt. Auch Prof. Dr. Susanne Talabardon, Inhaberin der Professur für Judaistik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, und der Vereinigung für Jüdische Studien e. V. als weitere aktive Kooperationspartnerinnen möchten wir unseren herzlichen Dank aussprechen. Für die Druckkostenübernahme der vorliegenden Publikation sei der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung und dem GRADE Center RuTh (Goethe Research Academy for Early Career Researchers Religionsforschung und Theologie) unser herzlichster Dank ausgesprochen. Dieser Sammelband ist im Kontext des vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderten LOEWE-Forschungsschwerpunkts „Religiöse Positionierung. Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten“ an der Goethe-Universität Frankfurt und der Justus-Liebig-Universität Gießen entstan-
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den. Dr. Julia Brauch vom Verlag de Gruyter danken wir für die erquickliche und effiziente Zusammenarbeit ebenso wie Elise Wintz als Mitarbeiterin desselben Hauses. Denise Jurst-Görlach danken wir für ihre Arbeit, die weit über das Korrektorat hinausgegangen ist. Diese Veröffentlichung wäre ohne die kollegiale Mitarbeit der Autorinnen und Autoren undenkbar gewesen. Jürgen Matthäus widmete seinen Beitrag Avraham Barkai zu einer Zeit, als dieser noch unter uns war. Während des Entstehungsprozesses dieses Bandes, am 29. Februar 2020 ist Avraham Barkai fast 100jährig verstorben. Dieser Band sei ihm gewidmet, seiner Arbeit, seinem Forscherdrang, seiner Leidenschaft und der Inspiration, die er für viele war, ob sie ihn persönlich kannten oder nicht.
Personen
Jonathan Voges
Der Centralverein in der Provinz. Norbert Regensburger als „deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ in Braunschweig Einleitung: Das Making of eines „deutschen Staatsbürgers jüdischen Glaubens“? „Herr Dr. Regensburger wird seiner Persönlichkeit nach und besonders wegen seiner hervorragenden Stellung im öffentlichen Leben unserer Stadt und des Landes eine wesentliche Ergänzung unseres Gemeinderates bilden“, so ein Wahlaufruf der jüdischen Gemeinde zur braunschweigischen Gemeindeverordnetenwahl 1925.1 Die Person, um die es ging, war in den 1920er Jahren wohl tatsächlich eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der jüdischen Bevölkerung der Stadt sowie des gesamten Landes Braunschweig: der Anwalt, Politiker und örtliche CV-Vertreter Dr. Norbert Regensburger.2 Ziel des folgenden Beitrags ist es, sich anhand seiner unterschiedlichen Tätigkeitsfelder dem Engagement Regensburgers im Sinne der ideellen Grundlinien des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) zu nähern. Dabei geht es weniger darum, seinen individuellen Beitrag für die deutsch-jüdische Verständigung zu würdigen; das ist an anderer Stelle geschehen.3 Das Erkenntnisinteresse des vorliegenden Beitrags ist es vielmehr, den Vorgaben der neueren Biographik folgend, mithilfe spezifischer Sonden auf das 1 Privatarchiv Dieter Miosge: Zur Gemeindeverordnetenwahl am Sonntag, den 25. Oktober von 10 bis 12 Uhr! (Kopie im Besitz des Verfassers). 2 Für einen sehr knappen biographischen Überblick siehe Burkhard Schmidt, Norbert (Nathan) Ernst Regensburger, in: Horst-Rüdiger Jarck/Günter Scheel (Hrsg.), Braunschweigisches Biographisches Lexikon. 19. und 20. Jahrhundert. Hannover 1996, 479. 3 Jonathan Voges, Ein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Das staatspolitische Selbstverständnis Norbert Regensburgers, in: Frank Ehrhardt (Hrsg.), Täter – Opfer – Nutznießer. Beiträge zur Geschichte Braunschweigs im Nationalsozialismus, Bd. 2. Braunschweig 2016, 75–100; ders., Norbert Regensburger. Anwalt, Politiker und Vertreter des deutsch-jüdischen Bürgertums, in: Frank Ehrhardt/Kirsten Bergemann/Ders. (Hrsg.), Zwischen Erfolg und Ablehnung. Jüdische Braunschweiger und ihr Engagement in der Gesellschaft. Braunschweig 2013, 37–46. Für die finanzielle Förderung der Recherchen bedanke ich mich beim Arbeitskreis Andere Geschichte Braunschweig e. V. und insbesondere bei Frank Ehrhardt. https://doi.org/10.1515/9783110675535-002
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Fallbeispiel Regensburger bestimmte Herausforderungen und Reaktionsschemata lokaler Centralvereins-Vertreter zu (re)konstruieren. Es geht dabei darum, anhand des „sozialen Handelns dieser Akteure“ dem Prozess nachzuspüren, wie bestimmte Strukturen „aktualisiert“ werden.4 Der Kontext, in dem sich die AkteurInnen bewegten, ist dabei von entscheidender Bedeutung.5 Ja, das biographische Einzelbeispiel dient gerade dazu, diese Kontexte historiographisch zu erfassen. Im Falle von Regensburger ist dieser Kontext die Stadt bzw. das Land Braunschweig – beide sicher kein ‚Hotspot der deutsch-jüdischen Geschichte‘ und vielleicht gerade deshalb von besonderem Interesse für eine biographische Annäherung an Regensburger.6 Fernab von den metropolitanen Zentren und politisch bedeutenden Orten – allen voran Berlin – zeigt der Blick ins eher beschauliche randständige Braunschweig die spezifischen Bedingungen, denen jüdisches Leben und vor allem die Arbeit des Centralvereins im eher beschaulichen Setting einer mittelgroßen Stadt und eines eher kleines Landes unterworfen waren. Der folgende biographische Abriss versteht sich deshalb explizit im Sinne Jacques Le Goffs als „Problem-Geschichte“7; das Leben Regensburgers dient dabei vor allem auch als erzählerisches Mittel, um „einen ersten Blick auf die überwältigende Komplexität der Dinge zu werfen.“8 Für eine derart konzipierte Biographie eignet sich gerade Regensburger deshalb so gut, weil er vor allem in den 1920er Jahren nahezu rastlos damit befasst war, zu Fragen des deutsch-jüdischen Lebens Stellung zu beziehen. Sowohl in seiner Rolle als Anwalt (hier insbesondere als Rechtsvertreter für osteuropäischjüdische MigrantInnen) wie als Landtags- und Stadtverordnetenversammlungsdelegierter der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und in der jüdischen Gemeinde und der örtlichen Sektion des Centralvereins meldete er sich zu Wort, kommentierte, kritisierte und prozessierte bis zur physischen und psychischen Belastungsgrenze – und zuweilen auch darüber hinaus; die zahlreichen Krank4 Cornelia Rauh-Kühne, Das Individuum und seine Geschichte. Konjunkturen der Biographik, in: Andreas Wirsching (Hrsg.), Oldenbourg Geschichte Lehrbuch: Neueste Zeit. München 2009, 215–232, hier 226. 5 Vgl. dazu z. B. das Plädoyer von Ian Kershaw, Biography and the Historian. Opportunities and Constraints, in: Volker Berghahn/Simone Lässig (Hrsg.), Biography Between Structure and Agency. Central European Lives in International History. New York 2008, 27–39. 6 Vgl. z. B. Hans-Heinrich Ebeling, Braunschweig, in: Herbert Obenaus (Hrsg.). Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Bd. 1. Göttingen 2008, 257–306. 7 Jacques LeGoff, Wie schreibt man eine Biographie?, in: Fernand Braudel/Lucien Febvre (Hrsg.), Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers. Berlin 1990, 103–112, hier 108. 8 Ebd., 103.
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heiten und Kuraufenthalte Regensburgers sind beredtes Zeugnis dieser Überanstrengung. Diese unterschiedlichen Rollen stellen dabei das strukturierende Prinzip des folgenden Aufsatzes dar.9 Es wird darum gehen, jeweils für das spezifische gesellschaftliche Sub-System10 (Zivilgesellschaft, Politik, Religion, Recht) zu fragen, welche Position Regensburger darin vertrat und wie er sich im Sinne der Vorgaben des Centralvereins selbst positionierte und definierte. Explizit fragt dieser biographische Ansatz deshalb auch nach dem „(bewussten wie unbewussten) Inszenierungs- und Konstruktionscharakter“ des porträtierten Individuums.11 Am Beginn steht seine Arbeit für den Centralverein, im Anschluss folgt die Abgeordnetentätigkeit in Stadt und Land, daran schließt seine Arbeit in der braunschweigischen jüdischen Gemeinde an und zuletzt geht es um seine Arbeit als Anwalt, bevor in einem Fazit versucht wird, die unterschiedlichen Ebenen zusammenzuführen.
Deutsch – und „mit jüdischem Selbstbewusstsein“. Norbert Regensburger und der Centralverein Im Juni 1905 berichtete die CV-eigene Zeitschrift Im deutschen Reich von einer „Studenten-Versammlung“ im Münchener „Saale zur ‚Blüte‘“. Dabei lobte man vor allem, dass die Redner der Veranstaltung sich in ihren Ausführungen an den zuvor im selben Blatt veröffentlichten Leitlinien „Der Kampf um die akademische Freiheit“ orientierten; konkreter Anlass der Kundgebung war eine Maßgabe des „Beirats der Münchener Studentenschaft“, die es unmöglich machen sollte, „daß Juden im Ausschusse säßen.“ Bei der Veranstaltung muss es hoch hergegangen sein, Antisemitismusvorwürfe waren (naheliegenderweise) im Raum, derart Beschuldigte versuchten, sich zu verteidigen – auch wenn sie trotz allem unumwunden forderten, dass Juden sich (zunächst) aus den Gremien der Freien
9 Zur Thematisierung unterschiedlicher Rollen in Biographien vgl. Jan Eckel, Historiography, Biography, and Experience. The Case of Hans Rothfels, in: Berghahn/Lässig (Hrsg.), Biography (wie Anm. 5), 85–102; hier 87. 10 Ohne freilich einem strikt Luhmannschen Verständnis der Systemtheorie folgen zu wollen. 11 Christian Klein, Einleitung: Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: Ders. (Hrsg.), Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart/Weimar 2002, 1–22, hier 14.
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Studentenschaft zurückziehen sollten, um sich nicht des Verdachts „philosemitisch“ zu sein auszusetzen.12 Einer der Redner war der „Cand. Regensburger“, der „als ‚deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens‘“ protestiert habe – wohlgemerkt nicht zentral gegen den Ausschluss von Juden aus den Gremien der Studentenschaft (das taten andere Redner in der Debatte), sondern „gegen die Bestrebungen der Zionisten“. Diese bleiben im Text allerdings erstaunlich unpräzise, es reichte dem Autoren offenbar festzustellen, dass der Redner, gegen den sich Regensburger wandte, „zionistische Tendenzen zum besten gab“ und damit „bei einem Teil seiner Glaubensgenossen scharfen Widerspruch“ erntete. Offenbar ging man davon aus, dass einem Leser von Im deutschen Reich derartige Positionen – ebenso wie die möglichen Gegenreaktionen der eigenen Seite – schon so vertraut seien, dass sie nicht eigens rekapituliert werden mussten.13 Im selben Jahr hatte sich der noch nicht einmal 19-jährige auch bei anderer Gelegenheit im studentischen Milieu zu Wort gemeldet; schon im Februar 1905 war Regensburger bei einer akademischen Veranstaltung im Münchner Löwenbräukeller aufgetreten (Regensburger studierte zu dieser Zeit Jura in München). Der Anlass war im Grunde ein recht ähnlicher wie jener nur wenige Monate später, mit dem er sich zum ersten Mal in die deutsch-jüdische Öffentlichkeit des CV-Organs eingeschrieben hatte (wenn auch nur als kleine Randnotiz); es ging wiederum um den Ausschluss von Juden aus studentischen Verbindungen. Seine „Löwenbräurede“, auf deren Manuskript er stolz vermerkte, dass er sie vor 3 500 Personen gehalten habe, zielte auf die „konfessionellen Studentenverbindungen“ ab. Diese seien zwar prinzipiell abzulehnen, würde Juden allerdings – wie es vielfach der Fall sei – die Mitgliedschaft in den studentischen Verbindungen verwehrt, so bleibe ihnen nichts Anderes übrig, als selbst tätig zu werden und eigene Verbindungen zu gründen. Diese seien so ein „Akt der Notwehr“.14 Seine Argumentation ist dabei ebenso besonnen wie rhetorisch geschickt; wichtig im Zusammenhang dieses Aufsatzes ist aber vor allem zweierlei. Zum einen wurde Regensburger zu diesem Zeitpunkt explizit mit biologistisch motiviertem Rassismus konfrontiert – ein Einwurf, den er mit rationalen Argumenten zu kontern versuchte: „[Zuruf: Rasse] Ach was, Rasse, meine H[erren], das ist das alte Gefühl, die deutsche Nation besteht aus den verschiedensten Rassen, da wohnen in Posen die Polen, im Spreewald die Wenden, [sic] und in Elsaßlothringen Romanen.“ Regensburger entwirft hier ein überaus inklusives Verständ12 O. A., München, 10. Juni, in: Im deutschen Reich (IdR) 6/7, 1905, 367–368, hier 368. 13 Ebd. 14 Privatarchiv Dieter Miosge: Norbert Regensburger, Meine Löwenbräurede in München vor 3500 Personen. (Kopie im Besitz des Verfassers).
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nis der deutschen Nation, das weit entfernt ist vom verbreiteten Verständnis der deutschen Nation als Kulturnation, sondern Nationalität vor allem von der deutschen Staatsbürgerschaft her denkt (und sich damit eher am französischen Modell orientiert)15, ohne allerdings das Konzept der Menschenrassen generell zu verwerfen – was er hingegen ablehnt, ist lediglich deren hierarchische Gewichtung. Zugleich dekonstruierte er aber auch das vermeintlich wissenschaftliche und moderne Theorem der Rasse und entlarvte es als aktualisierte Verbrämung des traditionellen ‚irrationalen‘ Antisemitismus vergangener Zeiten.16 Außerdem schrieb er damit äußerst selbstbewusst die Juden in die deutsche Nation ein. Damit zusammen hängt auch der zweite wichtige Aspekt der Rede, die sie so gleichsam zu einem Schlüsseldokument nicht nur in der Biographie Regensburgers (was dieser auch durch die Überlieferungsform und die Übermittlung an seine Familie deutlich machte), sondern zum deutsch-jüdischen Selbstverständnis im akademischen Milieu um die Jahrhundertwende macht.17 Er definierte nämlich direkt zu Beginn sehr genau die Rolle, in der er zu den Anwesenden zu sprechen vorhatte: „Ich stehe hier [unleserlich] als Jude, als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, nur als solcher halte ich es für meine unabweisbare Pflicht, das Wort zu ergreifen.“18 Offenbar wurde dies zu einer Einleitungsfloskel, die Regensburger bei all seinen öffentlichen Auftritten wählte, um sich vorzustellen. Diese Selbstzuschreibung nahm Regensburger durchaus ernst – bis hin zur Wahl seines Dissertationsthemas, das sich der Frage annahm, unter welchen Bedingungen eine Richtigstellung falsch dargestellter Sachverhalte in Zeitungen erfolgen müsse.19 Gerade diese Richtigstellung antisemitischer Medienberichte war eine der Hauptstrategien des Centralvereins, gegen Judenfeindschaft vorzugehen. Regensburger empfahl sich somit durchaus als juristischer Experte in ei-
15 Vgl. dazu im Allgemeinen auch Andreas Fahrmeier, Die Deutschen und ihre Nation. Geschichte einer Idee. Stuttgart 2017. 16 Vgl. Susanne Wernsing (Hrsg.), Die Erfindung von Menschenrassen. Göttingen 2018. 17 Am Beispiel der Studentenverbindungen vgl. Miriam Rürup, Auf Kneipe und Fechtboden. Inszenierung von Männlichkeit in jüdischen Studentenverbindungen in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Martin Dinges (Hrsg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute. Frankfurt a. M. 2000, 141–156. 18 Regensburger, Löwenbräurede (wie Anm. 14). 19 Nathan Ernst Regensburger, Die preßgesetzliche Berichtigungspflicht. Historisch, dogmatisch und kritisch unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung für den Handgebrauch dargestellt. Braunschweig 1911. Regensburger hatte den Namen Nathan abgelegt und sich den ‚deutscher‘ klingenden Namen Norbert gegeben.
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nem besonders relevanten Feld. Und er sollte später selbst mit falscher Berichterstattung konfrontiert werden, auf die er mit Gegendarstellungen reagierte.20 Bei der Zentrale des Centralvereins in Berlin machte Regensburger aber zeitgleich als reger Jugendfunktionär auf sich aufmerksam. So wetterte er 1909 bei der CV-Delegiertenversammlung gegen „Indifferentismus und Verachtung“, die viele junge Juden dem Judentum gegenüber zeigen würden, vermisste die „streng-jüdische Erziehung“ und bedauerte die „Entfremdung der jüdischen Jugend vom Judentum“. Er schloss mit einer Forderung in schönster CV-Manier: „Und weil dem so ist […] soll man in den Jugendvereinen […] das Hauptgewicht auf die Pflege jüdischen Geistes, jüdischen Denkens und Fühlens legen. (Bravo!) Gewiß soll der junge Mensch als deutscher Staatsbürger erzogen werden, er soll den Zusammenhang mit der vaterländischen Kultur, in der wir wurzeln, nicht verlieren.“ Für den Centralverein gehe es vor allem darum, „sich eine neue Generation von Mitgliedern heranzubilden“ – ausgestattet mit einem „in eminent positiven Sinne jüdischen Selbstbewusstsein.“21 Der Vorsitzende der Versammlung dankte Regensburger für „seine feurigen Ausführungen“.22 In Braunschweig selbst gelang es Regensburger, den örtlichen Jüdischen Jugendbund, der im ersten Vereinsjahr 1908/09 schon 103 ordentliche und 58 außerordentliche Mitglieder gehabt haben soll (bei einer „jüdischen Gemeinde von nur 850 Seelen“23), auf die Linie des Centralvereins einzuschwören – ganz zu dessen Freude: „Durch den Anschluß an den ‚Zentralverein [sic] deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens‘ hat der Bund wohl zur Genüge bewiesen, was er innerlich will, nämlich daß sich die jüdische Jugend mit Feuereifer dem Ideale jüdischen Selbstbewußtseins hingibt und das Interesse für jüdische Fragen in sich weckt, um so dahinzuarbeiten, daß das Judentum auch eine Zukunft haben soll.“24 Besonders erfreut zeigte man sich in Berlin auch über Regensburgers Anwerbungserfolge in Braunschweig: „Wenn der Central-Verein jetzt in Braunschweig über 60 Einzelmitglieder zählt, seine dortige Mitgliederschaft sich dem-
20 So wehrte er sich z. B. 1924 gegen einen Artikel in der Braunschweigischen Landeszeitung, der ihm unredliches Verhalten in der Abstimmung über die Frage der Fürstenenteignung vorwarf. Regensburger war Prozessbevollmächtigter des Landes Braunschweig im Verfahren und enthielt sich deshalb bei der Abstimmung. Vgl. Norbert Regensburger, Zu „Wahlangst in Braunschweig“, in: Braunschweigische Landeszeitung, 02.10.1924. 21 Norbert Regensburger, Rede bei der Delegiertenversammlung des Centralvereins, 21.02.1909, in: IdR 3/4, 1909, 187–190. 22 Ebd., 190. 23 O. A., Braunschweig, in: Der Gemeindesbote. Beilage zur „Allgemeinen Zeitung des Judentums“, 02.07.1909, 1–2. 24 O. A., Braunschweig, in: IdR 6, 1909, 378–379.
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nach im Laufe eines Jahres verdoppelt hat, ist dies wesentlich dem Eifer des Herrn Referendar Regensburger für unsere Bestrebungen zu danken.“25 Der Jugendbund selbst entfaltete ein reges kulturelles und politisches Leben, veranstaltete Vorträge mit Themen, die „zumeist dem Gebiete der jüdischen Geschichte und Literatur wie auch vor allem den jüdischen Tagesfragen entnommen waren“, arbeitete mit dem jüdischen Literaturverein zusammen und nutzte dessen Bibliothek.26 Für eine Region wie Braunschweig bedeutete das nicht nur quantitativ eine hohe Zahl von Mitgliedern, sondern auch qualitativ gelang es Regensburger und seinen MitstreiterInnen, eine für die norddeutsche Provinz nicht unbedingt zu erwartende Aktivität aufzubauen. In den Quellen wird es nun etwas stiller, was Regensburgers Arbeit für den Centralverein bzw. verwandte Organisationen betraf; sieht man von einer knappen Bemerkung von 1913 ab, die von einer „großen Versammlung“ des Braunschweiger Ortsvereins des Centralvereins berichtete. Spannend ist die Notiz deshalb, weil sie zum einen deutlich macht, dass es Regensburger schon zu diesem frühen Zeitpunkt gelang, die nationale CV-Elite auf ihren Vortragsreisen durch die gesamte Republik auch nach Braunschweig zu holen. Er und seine Ehefrau Resi Regensburger waren in den 1920er Jahren ziemlich gut darin, den CV-Granden einen Besuch in Braunschweig nahezulegen – diese ließen sich allerdings auch nicht lange bitten.27 Hermann Cohn aus Dessau und Ludwig Holländer aus Berlin waren 1913 zugegen und hielten Reden. Regensburger selbst sprach zu „Worüber wir Braunschweiger Juden zu klagen haben“, wobei er darauf verwies, „wie gerade in Braunschweig der Kampf für unsere Gleichberechtigung geboten sei.“ Die Signale, die eine derartige Veranstaltung aussendeten, waren doppelt codiert: Zum einen bettete Regensburger die lokalen Probleme in einen nationalen politischen Kontext ein (Holländers Vortrag unter dem Titel „Einkehr und Abwehr“ zeigte – in Harmonie mit Regensburgers eigenen Ausführungen – „die Notwendigkeit der Centralvereinsarbeit“). Zugleich zeigte er aber auch der Zentrale in Berlin, dass die Provinz aktiv war – und vor allem auch er. Am Ende folgte dementsprechend die übliche Wasserstandsmeldung, was Neuanmeldungen nach der Veranstaltung (47) und Gesamtmitgliederzahl (110) betraf.28 In den CV-eigenen Publikationen tauchte Regensburger erst nach dem Ersten Weltkrieg verstärkt wieder auf; 1919 trat er bei einer Veranstaltung der Orts25 Ebd. 26 Ebd. 27 So sprach z. B. 1921 Ludwig Holländer erneut in Braunschweig (diesmal zum Thema „Neudeutscher Antisemitismus“). Einladung im Archiv der Wiener Library, London, MF DOC55, Reel 11; 1928 hatte man Alfred Wiener in der Leopold-Zunz-Loge zu Gast, der Regensburger angehörte. Einladung ebd. 28 O. A., Vereinsnachrichten: Braunschweig, in: IdR 5/6, 1913, 271.
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gruppe Magdeburg auf. Zusammen mit einem Redner aus Berlin (einem Schriftsteller namens Beer) sprach der nunmehr als Rechtsanwalt firmierende Regensburger über „die allgemeine Lage, die antisemitische Agitation und über die Abwehrspende“. Im Rahmen der schwierigen Möglichkeiten war wohl auch dieser Auftritt erfolgreich, jedenfalls vermeldete das CV-Blatt einen Spendeneingang „namhafter Beträge […] und den Beitritt 20 neuer Mitglieder.“29 Ein wenig mehr über das Denken Regensburgers lässt sich aus der Notiz zu einem Vortrag des Zionisten Hermann Lelewer in Braunschweig entnehmen. Dessen Vortrag mit dem Titel „Die Schicksalsstunde des jüdischen Volkes“ traf bei Regensburger auf keine besondere Gegenliebe – wie die zionistische Jüdische Rundschau mokant feststellte. „Recht stürmisch“ sei die Veranstaltung gewesen: „Es war bereits vorher von unseren Gegnern die Parole ausgegeben, den Redner nicht zu Wort kommen zu lassen.“ Lelewer gelang es dennoch zu sprechen. „In der Debatte sprach nur Herr Landtagsabgeordneter Dr. Regensburger, der versuchte, die deutsch-patriotischen Gefühle seiner Gesinnungsgenossen aufzupeitschen unter besonderem Hinweis darauf, daß in der jetzigen schweren Zeit Deutschlands eine jüdischen Sonderinteressen dienende Versammlung zu verurteilen sei.“ Regensburger schloss seinen Redebeitrag mit einer Resolution, „in der das Bedauern über das Stattfinden der Veranstaltung ausgedrückt und das Bekenntnis der deutschen Juden als ‚national unlöslicher Bestandteil des deutschen Volkes‘ erneuert wurde.“ Die Jüdische Rundschau schloss ihren Artikel mit zwei Bemerkungen, die die vermeintlichen Geländegewinne gegenüber der Gegenseite (also dem CV) deutlich machen sollte: „Diese Resolution wurde von uns natürlich nicht zur Abstimmung gebracht.“ Und man verwies darauf, eine zionistische „Ortsgruppe Braunschweig-Wolfenbüttel“ gegründet zu haben, „der gleich 35 Mitglieder beitraten, und die sofort ihre Arbeit aufnehmen wird.“30 Was deutlich wird, ist Regensburgers Ringen an zwei Fronten: Zum einen – wie an diesem Beispiel gesehen – gegen ein Verständnis des Judentums als etwas vom Deutschen Distinktes, ein Verständnis des Judentums als Nation und nicht als Religion, wie er es bei den Zionisten beobachtete. Er war sich ganz offensichtlich nicht zu schade dafür, sich zu diesem Zweck auch auf kleinere rhetorische Scharmützel einzulassen – gerade um als überzeugter Vertreter des Centralvereins seinen Punkt zu machen. Die zweite Front war der Kampf gegen den Antisemitismus, den Regensburger die gesamten 1920er Jahre hindurch mit den Argumenten des Centralvereins führte. Derartige Geschäftigkeit brachte Regensburger das Wohlwollen der Berli29 O. A., Die Ortsgruppe Magdeburg, in: IdR 11, 1919, 477–478. 30 O. A., Braunschweig, in: Jüdische Rundschau, 13.06.1919, 334.
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ner Zentrale des Centralvereins ein; zum einen wurde er eingeladen, bei größeren Kundgebungen zu sprechen (so z. B. bei zwei öffentlichen Versammlungen der „Gross-Berliner Mitglieder des Central-Vereins“ neben Rabbiner Dr. Braunschweiger, Ludwig Haas, Ludwig Holländer, Paul Nathan u. a.31). Zum anderen stieg er selbst in der Hierarchie des Centralvereins auf und wurde Teil des reichsweiten Vorstands, in den er 1919 gewählt wurde32 und aus dem er erst 1930 ausschied.33 Auch wenn die antisemitischen Vorfälle, zu denen er Stellung bezog, durchaus gravierend waren34, verlor Regensburger doch nie die Hoffnung auf die Vernunft der nichtjüdischen MitbürgerInnen. Zur Reichstagswahl 1924 berichtete Regensburger z. B. aus Braunschweig davon, dass die „Völkischen“ auch hier „eine vernichtende Niederlage“ erlitten hätten. Er folgerte: „Die völkische Bewegung hat in Braunschweig von Anfang an keinen festen Boden gewinnen können, da dem der gesunde Sinn der niedersächsischen Bevölkerung und das dieser innewohnende Gerechtigkeitsgefühl letzten Endes entgegenstehen.“35 Dieser Optimismus (nicht nur) seinen Braunschweiger christlichen MitbürgerInnen gegenüber erlitt in den 1920er Jahren durchaus Eintrübungen; 1927 hielt Regensburger bei der Großberliner CV-Woche ein Referat, das Anwesende als „unvergeßlich“ bezeichneten. In diesem versteifte er sich auf die These, dass „der Judenhaß der Gasse […] zusehends ab[-], die Abneigung gegen die Juden in den Salons zusehends zu[nehme].“ Für die Zukunft lasse diese Entwicklung nichts Gutes ahnen, weil so davon ausgegangen werden könne, dass der Antisemitismus noch mehr als ohnehin schon von der DNVP im Wahlkampf eingesetzt werden könne.36 Bei der Hauptversammlung des Centralvereins 1929 war vom ursprünglichen Optimismus nur noch wenig zu spüren; Regensburger hielt eine Brandrede gegen den grassierenden Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft; er beobachtete, dass sich das völkische Nationsverständnis zunehmend größerer Beliebtheit erfreute und das bedeutete, dass „wir nicht Deutsche sein [sollen] we31 Anzeige in: IdR 47, 1924, 728. 32 O. A., Der neue Vorstand des Centralvereins, in: IdR 7/8, 1919, 335–336. 33 Wiener Library, MF DOC 55, Reel 6: Protokoll einer Besprechung in der Privatwohnung Ludwig Holländers am 20. Mai 1930. 34 So berichtete er z. B. 1927 von Schändungen jüdischer Friedhöfe aus antisemitischen Gründen. O. A., Gegen die Friedhofsschändungen, in: CV-Zeitung 28, 1927, 400. Vgl. dazu allgemein Dirk Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik. Bonn 1999, 80. 35 Norbert Regensburger, Die Wahlergebnisse in Braunschweig zur Reichstagswahl 1924, in: CV-Zeitung 50, 1924, 792. 36 O. A., Groß-Berliner CV-Woche. Herbsttagungen des Centralvereins, in: CV-Zeitung 47, 1927, 657.
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gen unserer Abstammung.“ Interessanterweise wurde „Abstammung“ handschriftlich ergänzt, zunächst stand im Typoskript „Rassezugehörigkeit“. Trotz all der Herausforderungen eines dezidiert deutsch-jüdischen Selbstverständnisses blieb Regensburger dem Centralverein, seinen Zielen und Methoden verbunden. Der Central-Verein hat auch, wie wir mit Freude und Genugtuung sagen können, gerade im Kampfe, den wir um diese grundlegenden Fragen zu führen haben, Hervorragendes geleistet und leistet es stets aufs neue. Wir leugnen nicht die Verschiedenheit der Abstammung, bestreiten aber, dass sie Einfluss haben darf auf den Rechtsgedanken als solchen. Wir wehren uns nicht so sehr um unserer selbst, als um der Erhabenheit der Volkstumsidee willen, gegen ihre Mechanisierung, gegen ihre Herabziehung aus der rein ethischen Begrifflichkeit in den Bereich einer – um es einmal krass auszudrücken – zoologischen Betrachtungsweise.
Und er schloss mit dem Pathos der Vernunft: Sie [die Central-Vereins-Arbeit; Anm. J. V.] ist über unsere Selbstbehauptung hinaus zugleich Dienst am Vaterlande, an seinem kulturellen Wiederaufbau und damit an der Hebung seines Ansehens unter den Völkern. Das ist die vaterländische Aktivlegitimation zu unserem Kampf, und so sind die Lebensfragen des deutschen Judentums, über die wir heute reden, zugleich Lebensfragen des deutschen Volkes. Misserfolge und Rückschläge können uns nicht wankend machen. Den Kampf aufgeben oder in ihm auch nur erlahmen, hiesse an der sittlichen Höherentwicklung der Menschheit zu verzweifeln, hiesse den ethischen Optimismus zu verleugnen, der das schönste Erbteil des Judentums durch alle Zeiten gewesen ist.37
Regensburger hielt auch Ende der 1920er Jahre an der Vorstellung einer deutsch-jüdischen Symbiose fest und er tat das – trotz aller Rückschläge und zunehmenden Verbitterung – mit kämpferischem Mut und rhetorischem Geschick. Seine Appelle an die Vernunft verhallten aber zusehends – vor allem auch in Braunschweig, wo schon recht früh Nationalsozialisten an der Landesregierung beteiligt wurden. Das, wogegen er sich zeit seiner Aktivität in den Gremien des Centralvereins, aus denen er sich nach und nach krankheitsbedingt zurückziehen musste, wehrte, wurde so Staatsdoktrin.38
37 Privatarchiv Dieter Miosge: Rede Regensburgers bei der CV-Hauptversammlung 1928. (Kopie im Besitz des Verfassers). 38 Zur politischen Geschichte des Freistaats Braunschweig in der Weimarer Republik vgl. Bernd Rother, Der Freistaat Braunschweig in der Weimarer Republik (1919–1933), in: HorstRüdiger Jarck/Gerhardt Schildt (Hrsg.), Die Braunschweigische Landesgeschichte. Jahrtausendrückblick einer Region. Braunschweig 2000, 945–980.
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Gegen die „geistigen Mörder“. Norbert Regensburger als Abgeordneter der Deutschen Demokratischen Partei Nach dieser ausführlicheren Beschäftigung mit Regensburgers organisatorischer Tätigkeit, seinem Selbstverständnis und den Auseinandersetzungen, die er in seiner Rolle als lokaler Vertreter und Teil der Führungsriege des Centralvereins auf nationaler Ebene zum Teil suchte, in die er aber zum Teil auch hineingezogen wurde, können die weiteren Elemente der biographischen Annäherung knapper ausfallen. Zum einen, weil es zu bestimmten Bereichen weniger Material gibt, das uns eine genauere Analyse ermöglichen würde; zum anderen aber auch, weil viele der hier vorgestellten Argumentationsmuster und Selbstdefinitionen auch in den anderen Arenen39 seiner Tätigkeit ähnlich wieder aufgegriffen wurden. Das verwundert auch nicht, war es ja gerade integraler Bestandteil des Selbstverständnisses als „deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ – wie gesehen, wählte Regensburger diese Formel zur Selbstbeschreibung explizit bei verschiedenen Gelegenheiten –, sich nicht nur im Rahmen der eigenen ‚community‘ einzubringen, sondern darüber hinaus zu wirken.40 Dies geschah in der lokalen und Landespolitik, in der jüdischen Gemeinde (wo er ähnliche Konflikte ausfocht wie die schon angedeuteten mit den ZionistInnen) und letztlich auch als Anwalt osteuropäisch-jüdischer MigrantInnen. So trat Regensburger nach der Revolution von 1918 und den anschließenden Landtags- wie auch Stadtverordnetenwahlen als Kandidat der DDP auf – eine klassische Option für Mitglieder des Centralvereins.41 Bis 1926 gehörte er dem Braunschweigischen Landtag an, bevor er – wiederum aus gesundheitlichen Gründen – ausscheiden musste.42 Von Beginn an zeigte sich Regensburger in seinen Parlamentsreden als Demokrat der Mitte. So hielt er 1919 eine Rede zur Rolle des Rats der Volksbeauftragten nach der Revolution, in der er sich dem 39 Arena dient hier lediglich als beschreibende Metapher. 40 Paucker sieht es geradezu konstitutionell für die Mitglieder des Centralvereins, mindestens einer „Doppelbeschäftigung“ nachgegangen zu sein – als Centralvereins-Angehörige und als Mitglieder der liberalen Parteien. Vgl. Arnold Paucker, Das Berliner liberale jüdische Bürgertum im „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, in: Ders., Deutsche Juden im Kampf um Recht und Freiheit. Studien zur Abwehr, Selbstbehauptung und Widerstand der deutschen Juden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Teetz 2003, 161–180. 41 Ebd., 164. 42 Verhandlungen des Braunschweigischen Landtags. 47. Sitzung, Braunschweig 18.03.1926, Braunschweig 1926, 3340–3341.
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„Grundsatz reiner und unverfälschter Demokratie“ verschrieb. „Wir betrachten diesen Grundsatz als oberste Richtschnur unseres gesamten Handelns. Für uns, die wir uns Demokraten nennen, bedeutet Demokratie in der Politik eine sittliche Verpflichtung, und wir messen und beurteilen deshalb auch die Richtlinien des Rates der Volksbeauftragten nach diesem Gesichtspunkte.“ Was folgte, war eine zwar kritische, aber durchaus fair zu nennende Evaluation der Arbeit des Rates – unterbrochen von Zwischenrufen Sepp Oerters, mit dem Regensburger später noch wegen antisemitischer Kommentare aneinandergeraten sollte43 – und gleichzeitig auch eine Verdammung des autoritären Systems des Kaiserreichs.44 Diese Äquidistanz nach links und rechts versuchte die DDP die gesamten 1920er Jahre hindurch aufrechtzuerhalten, wobei man durchaus – auf Ebene der Republik zu Beginn in der sogenannten ‚Weimarer Koalition‘ – mit der parlamentarischen Linken der SPD zusammenarbeitete. Die polarisierende politische Kultur der Weimarer Republik stand allerdings einer auf Ausgleich setzenden Partei der Mitte entgegen und der Bedeutungsverlust der DDP lässt sich im Verlauf der 1920er Jahre genauso auf Landes- wie auch auf Ebene der Republik selbst beobachten.45 Nichtsdestotrotz konnte Regensburger als Abgeordneter sowohl im Landtag wie zeitgleich auch in der Stadtverordnetenversammlung gezielt pro-demokratische Zeichen setzen. So war er es, der 1922 anlässlich der Ermordung des Außenministers Walther Rathenau eine lange und kämpferische Rede für die Demokratie hielt. Dabei interpretierte Regensburger den Mord nicht allein als individuelles Attentat, sondern als Ausdruck der „ganzen furchtbaren Zustände“ im Land, als Fanal der „vergifteten Atmosphäre“. Wogegen er sich allerdings verwahren wollte, war Rache. „Unsere republikanische Sache ist rein, und ich möchte wünschen, daß, wenn es der Arbeiterschaft wirklich ernst ist mit dem Schutze dieser Staatsform, sie die Würde bewahrt, die die Republik in sich tragen muß, wenn sie vor aller Welt bestehen soll.“ Genauso, wie sich Regensburger aber gegen Gewalttaten von links als Reaktionen auf die Ermordung von Rathenau wandte, machte er deutlich, wen er au43 Oerter selbst ist eine schillernde Gestalt der braunschweigischen Politik, der sich im Laufe seiner politischen Karriere von ganz links (USPD) nach ganz rechts (NSDAP) bewegte. Für eine Kurzbiographie Oerters vgl. Bernd Rother, Josef [Sepp] Oerter, in: Jarck/Scheel (Hrsg.), Braunschweigisches Biographisches Lexikon (wie Anm. 2), 447–448. Oerter hatte Regensburger 1923 in einer Zeitung vorgeworfen, „durch Rasseart“ zu jedem „politischen Schiebertrick“ fähig zu sein. Sepp Oerter, Braunschweiger Bilderbogen. Die ungehaltene Rede, in: Täglicher Anzeiger Holzminden, 09.12.1923. 44 Braunschweigische Landesversammlung, 9. Sitzung, 27.02.1919, 331–347. 45 Für Braunschweig vgl. Rother, Freistaat Braunschweig (wie Anm. 38), 970.
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genblicklich als die eigentliche Bedrohung der Republik ansah – die Rechte: Dieser warf er vor, den Mord Rathenaus rhetorisch vorbereitet zu haben und verwies darauf, „wie derartige Hetzreden und Hetzartikel erst bei den betörten Jünglingen wirken müssen, die diese schaurige Mordtat verübt haben.“ Zum Schluss appellierte Regensburger – gut republikanisch – an die Vernunft und das Verantwortungsgefühl aller Politiker. Ich glaube, um dieses Verantwortlichkeitsgefühl als leitenden Begriff könnten wir uns sammeln, sammeln zum Schutze der Verfassung, alle diejenigen, die des guten und ehrlichen Willens sind, den Frieden im Lande aufrechtzuerhalten und damit aus der schweren Notzeit, in der sich unser Volk außenpolitisch befindet, und die durch solche Gewalttaten im Innern noch mehr belastet wird, herauszukommen in bessere, hoffentlich friedlichere Zeiten, wo wir wieder Bürger sind, die den Geisteskampf miteinander fechten, der notwendig ist, aber die politischen Meinungsverschiedenheiten nicht mit vergifteten Hetzreden und Parolen entscheiden. (Lebhafter Beifall)46
Regensburger nutzte also die Rede zur Ermordung Rathenaus als staatspolitischen Appell zum Zusammenhalt; dabei machte er deutlich, dass Streit durchaus zur Demokratie gehöre, dieser aber eben innerhalb des verfassungsmäßig gesetzten Rahmens bleiben müsse. Was dagegen interessanterweise keine Rolle spielte, war, dass es sich bei Rathenau um einen der wohl prominentesten Juden der Weimarer Republik gehandelt hatte; ein Umstand, der ihn auf der Rechten (neben seiner politisch exponierten Stellung in der Politik) nur umso verhasster gemacht hatte. Regensburger ging es mit seiner Rede aber ganz bewusst darum, den Mord an Rathenau nicht als Bedrohung eines Teils der deutschen Bevölkerung, sondern als Angriff auf die Republik als solche zu präsentieren. Offenem Antisemitismus begegnete Regensburger im Parlament allerdings dennoch in vielgestaltiger Form;47 kurz nach seiner Rede für Rathenau und sein Plädoyer für den Schutz der Republik z. B. musste er sich mit dem „antisemitischen Bekenntnis“ des Abgeordneten der Deutsch Nationalen Volkspartei (DNVP) Karl von Müller auseinandersetzen. Dieses lasse sich auf die Formel bringen, „daß diese ganze Saat des Hasses, die gegen meine Glaubensgenossen ausgestreut wird, daraus verstanden werden müsse, daß das deutsche Volk von Deutschen regiert sein wolle und nicht von Juden.“ Und er folgerte: „Darin liegt, daß dem deutschen Juden abgesprochen wird die Zugehörigkeit zum deutschen Vaterlande und zum deutschen Volk.“ Einen „Zuruf von rechts“ erfasste das 46 Braunschweigischer Landtag, 18. Sitzung, 29.06.1922, 932–940. 47 Nach Weins Studie zum Antisemitismus im Reichstag wäre es unbedingt wünschenswert, dass sich Studien auch der Sprache in den Länderparlamenten annehmen würde. Vgl. Susanne Wein, Antisemitismus im Reichstag. Judenfeindliche Sprache in Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik. Frankfurt a. M. 2014.
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Protokoll der Sitzung leider nicht im Wortlaut. Regensburger verwies als Antwort auf diesen Angriff auf die im Ersten Weltkrieg gefallenen Juden und nochmals explizit auf Rathenau: „Ich glaube, daß gerade in dem ermordeten Rathenau das deutsche Judentum einen seiner besten Söhne im Dienste des Vaterlandes zum Opfer gebracht hat.“ Was folgte, war das Credo des Centralvereins auf politischer Bühne: Ich muß gegenüber den Ausführungen des Herrn Abgeordneten von Müller betonen, daß, wer den deutschen Juden die Zugehörigkeit zum deutschen Vaterlande und zum deutschen Volk abspricht, ihnen die Sprache nimmt, die sie reden, ihnen die Kultur raubt, in der sie atmen, ja ihnen die Luft nimmt, die sie umgibt. Deshalb muß ich mich gegen jedermann, der derartige Anschauungen vertritt, wehren wie gegen einen geistigen Mörder, weil er mir die Grundlagen meiner vaterländischen und damit seelischen Existenz raubt. Die Zeit ist zu ernst, um eine längere Debatte über dieses Gebiet heraufzubeschwören.
Und er schloss mit einem persönlichen Bekenntnis: „An Treue und Anhänglichkeit gegenüber dem deutschen Vaterlande läßt sich der deutsche Jude von keinem übertreffen, und an Rathenau selbst haben sie das verkörperte Bild getreuer Pflichterfüllung am deutschen Vaterlande. […] Stoßen wir nicht einen Teil des deutschen Volkes, der ehrlich gewillt ist, mitzuarbeiten, zurück, wie es der Abgeordnete von Müller getan hat.“ Allerdings machte Regensburger auch in dieser sehr persönlichen und auf seine spezifische Rolle als deutscher Jude abzielenden Rede deutlich, dass Antisemitismus – insbesondere von politischen Amtsträgern – keine Frage ist, die nur Juden etwas angehe: „Es ist doch zu bedenken – und nun rede ich nicht mehr als Angehöriger des Judentums, sondern ich spreche als Deutscher, der ich beanspruche zu sein“, so die Einleitung Regensburgers für den Schlussabsatz seiner Rede, in der er wiederum die antisemitische Vergiftung des politischen Diskurses anprangerte und zur Zusammenarbeit aufrief. Alles andere sei dazu angetan, „nur jene Atmosphäre der Verhetzung zu verschlimmern, die alle Vaterlandsfreunde, die es wahrhaft gut mit dem deutschen Volke und dem deutschen Vaterlande meinen, bekämpfen müssen.“48
48 Braunschweigischer Landtag. 18. Sitzung, 29.06.1922, 961–963.
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„Eine starke Tradition im Sinne einer deutsch jüdischen Gemeinde.“ Norbert Regensburger im Vorstand der jüdischen Gemeinde in Braunschweig 1928 ging es in der jüdischen Gemeinde Braunschweigs hoch her – und Norbert Regensburger war als Vorsitzender mittendrin. Die Gemeinde befand sich gerade in einer innerjüdischen Auseinandersetzung; die liberale Linie, die wohl im Großen und Ganzen auch den Vorstellungen des Centralvereins entsprach, stieß auf Kritik. Sowohl der 1927 gegründete Ostjüdische Verein49 (auf Regensburgers Verhältnis zu osteuropäischen Jüdinnen und Juden wird im Folgenden noch eingegangen) wie auch die zionistische Ortsgruppe fühlten sich übergangen. Unter der Überschrift „Demokratie und Öffentlichkeit ausgeschlossen“ fuhr der Gemeindevorstand schwere Geschütze auf, um sich mit der Kritik auseinanderzusetzen – bzw. sie möglichst zum Schweigen zu bringen. Thema war vor allem, dass „nicht reichsdeutschen Glaubensgenossen“ eine Karenzzeit aufgebürdet wurde, bevor sie sich an den Wahlen zum Gemeindevorstand beteiligen durften. Gleichzeitig war es notwendig, „daß der größte Teil der Gemeindeverordneten die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen muß.“ (Zwei Nichtdeutsche waren im Vorstand zugelassen.) Zwar sei diese Regelung auch in anderen Teil des Reiches vorzufinden, für Braunschweig sei sie jedoch besonders wichtig. Diese Stadt habe „eine starke Tradition im Sinne einer deutsch jüdischen Gemeinde“, so Regensburger als Sprachrohr der Gemeinde weiter. „Leitender Gedanke mußte sein, innere Kämpfe zu vermeiden und den Bestand der Gemeinde – auch in steuerlicher Hinsicht – zu sichern.“ Eine Änderung des Gemeindestatuts führe unweigerlich zu Spaltungen, „wobei daran erinnert sei, daß erst vor zwei Jahren gerade anläßlich der Regelung der Beziehungen zu den ostjüdischen Glaubensgenossen eine ernste Verwaltungskrise entstanden ist.“50 Leider lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, worin diese Krise bestand, die Stoßrichtung der Ausführungen Regensburgers und die Sorge, die dahinterstand, wird hingegen deutlich. Zum einen diente die Abgrenzung dazu, die eigene Position – eben als „deutsch jüdisch“ – besonders herauszustellen. Zugleich fühlte man sich ganz offenbar in genau dieser Position herausgefordert. Und dass die ‚Ostjuden‘ gerade für ein deutsch-jüdisches Bürgertum eine 49 Zur Gründung vgl. O. A., Gründung eines ostjüdischen Vereins in Braunschweig, in: Nachrichtenblatt 27, 1927, o. S. 50 O. A., Vorstand der jüdischen Gemeinde Braunschweig, Demokratie und Öffentlichkeit ausgeschlossen, in: Nachrichtenblatt 36, 1928, o. S.
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solche Herausforderung darstellten, lässt sich auch andernorts nachvollziehen.51 Gleichzeitig befand man sich unter Rechtfertigungszwang, darzulegen, warum man den bedrohten und häufig in finanzieller Not lebenden Glaubensgenossen nicht stärker helfe. So nutzte Regensburger einen Großteil seines Artikels dafür, auszuführen, warum es der Gemeinde nicht möglich sei, mehr als 450 Reichsmark für den Betsaal der osteuropäischen Jüdinnen und Juden zur Verfügung zu stellen, und achtete dabei peinlichst darauf, dies allein mit der angespannten Finanzlage der Gemeinde zu begründen, nicht aber mit religiösen Überzeugungen oder dem Versuch, „durch ‚finanziellen Druck‘ [die ‚Ostjuden‘] zum Füllen der Gemeindesynagoge“ zu zwingen. Überhaupt musste sich Regensburger für unterschiedliche Formen vermeintlicher Geldverschwendung rechtfertigen – von Reisen des Vorstands zu jüdischen Versammlungen auf Reichsebene bis zu Gehältern von Hausmeistern.52 Wie nicht anders zu erwarten, stellte die Antwort des Vorstands der jüdischen Gemeinde die Gegenseite nicht zufrieden; man beharrte auf Aufgabe der Bestimmung, dass „nur zwei Ostjuden in der Repräsentanz sitzen dürfen“, forderte die Aufgabe der zehnjährigen Karenzzeit, bevor eine Wahlberechtigung erteilt wurde, verlangte, „daß der konservative Gottesdienst von der Gemeinde übernommen wird“ und ermahnte zu mehr Öffentlichkeit seitens des Vorstands. „Auf Grund des Trägheitsgesetzes muß eine einmal bestehende Ungerechtigkeit immer erhalten bleiben“, so der scharfe Angriff Rosenhains und Ilbergs für die Zionistische Ortsgruppe und Goldmanns und Elperins für den Ostjüdischen Verein. Und sie gingen noch weiter: „Die Tradition der Gemeinde in Ehren, aber ein Wahlrecht kann nicht dazu da sein, dieses einmal vorhandene Bild für alle Zeiten zu erhalten, im Gegenteil, eine Wahl soll eine getreue Wiedergabe der Zusammensetzung der Gemeinde ergeben. War sie einmal nur von deutschen Juden gebildet, nun gut. Jetzt wird sie von deutschen und nichtdeutschen Juden erhalten, das muß sich in der Zusammensetzung der Repräsentanz zeigen.“ Aus Angst, bei Änderung des Wahlrechts eventuell vermögende Gemeindemitglieder zum Austritt zu bringen, also auf deren Synagogensteuern verzichten zu müssen, halte man an der Ungleichbehandlung der ‚Ostjuden‘ fest – und das sei nichts Anderes als „Plutokratie“. „Es liegt uns nichts an einer Prestigefrage, alles aber an der Sache: das Judentum lebensfähig zu erhalten. Ein Weg dazu
51 Vgl. z. B. Shulamit Volkov, Die Dynamik der Dissimilation. Deutsche Juden und die ostjüdischen Einwanderer, in: Dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays. München 1990, 166–180. 52 Vorstand der jüdischen Gemeinde, Demokratie (wie Anm. 50).
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ist, das mittelalterliche Ghetto der Autokratie und Plutokratie zu verlassen, der Demokratie Einzug in unsere Gemeindestuben zu gewähren.“53 Die Auseinandersetzung von 1928 wurde hier nur beispielhaft herausgegriffen; zum einen, weil sie über das Gemeindeblatt so gut dokumentiert ist, da es der Kontroverse breiten Raum einräumte – was bei dem eher schmalen Periodikum schon die enorme Bedeutung verdeutlicht, die sie für die Gemeinde hatte. Zum anderen ist sie aber bezeichnend im Sinne der Fragestellung dieses Beitrags. Während sich Regensburger im politischen Feld als unbedingter Advokat der Demokratie zu präsentieren wusste und in dieser Rolle auch staatspolitisch bedeutsame (zumindest für den lokalen Rahmen) Reden zu halten verstand, wurde diese grunddemokratische Haltung in der Gemeinde ein Stück weit herausgefordert. Das Recht der Mehrheit hätte hier zu Entwicklungen führen können, die Regensburgers Verständnis des Judentums in Deutschland zuwidergelaufen wären. Regensburger trat in diesen Debatten explizit als Vertreter einer sich expressis verbis als „deutsch jüdisch“ verstehenden Gemeinde auf. Dabei wurden Vorbehalte gegenüber ‚Ostjuden‘ deutlich, die genau jenes Selbstverständnis nicht nur implizit, sondern direkt herausforderten. Zumindest galt dies für diejenigen, die sich im Ostjüdischen Verein organisierten. Gerade deshalb ist es so interessant, dass und wie Regensburger als Rechtsbeistand für osteuropäische Jüdinnen und Juden auftrat, die sich einbürgern lassen wollten.
‚Ostjuden‘ als Differenzkategorie: Regensburger als Rechtsvertreter in Einbürgerungsfragen Wichtiger als die einzelnen Fälle von Einbürgerungen, ihre genauen Umstände und Erfolge bzw. Misserfolge, ist im Sinne der hier gewählten Fragestellung die Art und Weise, wie Regensburger die Einbürgerungsfähigkeit seiner Mandantinnen und Mandanten begründete. Denn bei diesen Begründungen zeigt sich ein Muster, das zum einen durchaus dazu angetan war, die Chancen der Petentinnen und Petenten zu erhöhen. Zum anderen entsprach es aber auch voll und ganz Regensburgers eigenen Vorstellungen, wie sie aus der vorhergehenden Analyse destilliert werden konnten. Als Beispiel dafür mag ein Blick in die Einbürgerungssache des Kaufmanns Max Bergwerk und seiner Ehefrau Klara genügen. Bergwerk wurde 1876 im damaligen Österreich-Ungarn geboren; seine Frau war gebürtige Rumänin, doch 53 Zionistische Ortsgruppe Braunschweig/Ostjüdischer Verein Braunschweig, Demokratie, Autokratie, Plutokratie, in: Nachrichtenblatt 42, 1928, o. S.
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auch deren Eltern müssen schon kurz nach ihrer Geburt nach Berlin gezogen sein, „sodass diese nur deutsche Eindrücke ihr ganzes Leben hindurch, insbesondere in den Jahren der Entwicklung, empfangen hat.“ Max Bergwerk lebte seinerseits ebenfalls schon seit mehr als 25 Jahren in Deutschland, zunächst in Erfurt, anschließend in Berlin, bevor er 1911 nach Braunschweig kam. Beide Eheleute führten ein „unbescholtenes“ Leben, Max Bergwerk war nur einmal „wegen eines gewerblichen Vergehens“ zu einer geringen Geldstrafe verurteilt worden. Mit diesen Hinweisen zur persönlichen Integrität und der wirtschaftlichen Solidität ließ es Regensburger allerdings nicht bewenden; für ihn (und vor allem auch für die Einbürgerungsbehörden) zählten auch kulturelle Argumente: „Der Antragsteller gehört weder wirtschaftlich, [sic] noch kulturell in die Kategorie der sogenannten Ostjuden, vielmehr sind sowohl er, [sic] wie seine Ehefrau, [sic] durchaus in deutsche Verhältnisse eingelebte Menschen.“ Was Regensburger hier in die Argumentation einführt, ist die Differenzkategorie der sogenannten „Ostjuden“, von der es seine Mandantin und seinen Mandanten abzugrenzen galt, um ihnen die Einbürgerung zu ermöglichen.54 Die Frage, die sich bei diesen juristischen Anträgen stellt, ist, inwieweit Regensburger hier auch in seiner eigenen Person argumentierte oder ob er sich lediglich an den – zum Teil sicher auch subkutan – vermittelten Vorgaben der Behörden orientierte.55 Schrieb er nur, was er als vorteilhaft für die Antragstellerinnen und Antragsteller annahm, oder lassen derartige Ausführungen auch Rückschlüsse über seine eigenen Überzeugungen zu? Solche Fragen sind sicher schwer zu beantworten, gerade in einem derart hochkodifizierten System wie der Rechtsprechung. Nichtsdestotrotz ist die gewählte rhetorische Strategie vielsagend, zumal wenn man sie im Zusammenhang mit Regensburgers Arbeit für den Centralverein und in der jüdischen Gemeinde vor Ort liest. So ist aus letzter zumindest hervorgegangen, dass ihm sogenannte ‚Ostjuden‘ als Störung im Betriebsablauf einer sich selbstbewusst als „deutsch jüdisch“ verstehenden Gemeinde erschienen. Es ist nicht davon auszugehen, dass Regensburger Personen die deutsche Staatsbürgerschaft – und damit eben auch das Stimmrecht in der Gemeinde – verschafft hätte, die sich als Herausforderung der deutsch-jüdischen Dominanz herausgestellt hätten. Deshalb verwundert es auch nicht, dass er sich der Einbürgerungssache der Familie Baron annahm, die das einzige jüdi54 Niedersächsisches Landesarchiv, Wolfenbüttel (NLA-W), 12 Neu 13 Nr. 7624: Brief Norbert Regensburgers an den braunschweigischen Innenminister vom 10.11.1924. 55 Vgl. dazu auch allgemein Dieter Gosewinkel, „Unerwünschte Elemente“. Einwanderung und Einbürgerung der Juden in Deutschland, 1848–1933, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 27, 1998, 71–106.
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sche Speiselokal unterhielten; die Argumentation in diesem Verfahren ähnelte der im Falle Bergwerks.56 Es ist also anzunehmen, dass Regensburger sich seine KlientInnen in diesem Bereich durchaus aussuchte und nur diejenigen vertrat, die seinen Vorstellungen deutsch-jüdischen Lebens entsprachen. Diese vertrat er in den Verfahren durchaus mit Verve, übernahm aber – bewusst oder unbewusst – in den Verfahren die Argumentationsschemata der Behörden. Auf deren Bewertungsskala standen „Ostjuden“ ganz unten.57 ‚Ostjuden‘ verbanden für weite Teile der national gesinnten deutschen Beamtenschaft und der Gesetzgeber zwei schon für sich genommen negativ besetzte Begriffe – Juden und den Osten.58 Ihre Ansinnen auf Einbürgerung wurden per se besonders restriktiv behandelt, dehnbare Rechtsformeln wie die Feststellung, dass ein_e PetentIn „bevölkerungspolitisch unerwünscht“ sei, genügten als Ablehnungsgrund.59
Schluss Eine der vornehmsten Aufgaben des Biographen ist es, sein eigenes Vorgehen transparent zu machen. Es gehe darum, „den Konstruktionscharakter einer Lebensbeschreibung“ zu verdeutlichen und die „Schlüsselbedeutung, welcher der Perspektive des Forschers und seinen Fragestellungen zukommt“, kenntlich zu machen.60 Für den vorliegenden Aufsatz wurde versucht, die Biographie Norbert Regensburgers durch die Sonde seines deutsch-jüdischen Selbstverständnisses zu erkunden und zu befragen, inwieweit dieses Selbstverständnis in den unterschiedlichen Sphären, in denen er sich bewegte, von Bedeutung war. Selbstredend kamen in diesem Zusammenhang andere Elemente seines Lebens gar nicht oder zu kurz vor; über den Privatmann Regensburger haben wir zum Beispiel nichts erfahren (was auch auf Grundlage der verfügbaren Quellen anders nicht möglich gewesen wäre).
56 Vgl. NLA-W, 12 Neu 13 Nr. 7624: Brief Norbert Regensburgers an das Staatsministerium, 19.07.1923. 57 Vgl. Dieter Gosewinkel, Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert. Berlin 2016, 46. 58 Inge Blank, „…nirgends eine Heimat, aber Gräber auf jedem Friedhof.“ Ostjuden in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Klaus J. Bade (Hrsg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. München 1992, 324–332. 59 Vgl. Michael Marrus, Die Unerwünschten. Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert. Berlin 1999, 80. 60 Rauh-Kühne, Das Individuum (wie Anm. 4), 228.
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Was hier im Zentrum stand, war die öffentliche Seite Regensburgers. Im Zentrum stand die Frage, wie er in den unterschiedlichen Bereichen seine Selbstdefinition als „deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, als der er sich selbst bei verschiedenen Gelegenheiten einführte, thematisierte, was daraus für ihn folgte und wie er auf Herausforderungen auf dieses Selbstverständnis reagierte. Heuristisch problematisch ist sicher, dass Regensburger diese Fährte für den späteren Biographen selbst ausgelegt hat; ohne schon zu wissen, dass er irgendwann einmal der Gegenstand einer historischen Auseinandersetzung werden würde, hat er dennoch bereits als nicht einmal 19-jähriger z.B. durch die – kommentierte – Übermittlung seiner frühen Redebeiträge an die Familie an einem bestimmten Bild seiner selbst gearbeitet. Dieses Bild war eben das des bürgerlichen deutschen Juden, ab 1918 gekoppelt mit dem Demokraten. Wiederum macht es die Quellenlage schwer, hinter dieses Bild zu schauen und dessen Konstruktionscharakter offenzulegen. Einzelne Hinweise, die sich auf seine Frau Resi finden lassen, können zu der Vermutung führen, dass Regensburger die zahlreichen Aufgaben, die er sich selbst auferlegt hatte, keineswegs allein stemmte, sondern man den öffentlichen Norbert Regensburger durchaus auch als Gemeinschaftsprodukt von ihm und seiner Frau verstehen kann.61 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, ja einer eklatant zynischen Komponente, dass es gerade Regensburgers Tod war, der dieses Selbstbild abrundete. Es ist nicht mehr ganz sicher zu klären, ob er 1933, nachdem ihm die Anwaltslizenz entzogen worden war, an seinen Krankheiten starb, die ihn schon seit den 1920er Jahren immer häufiger an der Ausübung seiner Tätigkeiten hinderten, oder ob er sich selber das Leben nahm. Der Tod im Jahr der nationalsozialistischen Machtübernahme allerdings setzte den Schlusspunkt hinter Norbert Regensburgers Leben, der sich zeit seines Lebens als Jude und Deutscher begriff und sich auch immer so präsentierte. 1933 war diesem Lebensmodell in seiner bisherigen Form keine Zukunft mehr beschieden.
61 Vgl. z. B. den Schriftverkehr Resi Regensburgers mit der Zentrale des Centralvereins in Berlin. Wiener Library, MF Doc 55, Reel 11.
Eva Rohland
„Assimilation oder Katastrophe“: Das Wirken des Pädagogen Heinemann Stern für den Centralverein im Spiegel seiner Erinnerungen Inzwischen bahnt sich allmaehlich eine neue Wertung des „Centralvereins“ an. Die Zeiten nach dem Kriege, wo man billigerweise Verleumdung, ja Spott über ihn ergoss, sind vorbei. Es zeigt sich, Ihnen nicht unbekannt, dass der Begriff der Assimilation nicht in Gaensefuesschen zu schreiben ist, sondern seinen grossen bleibenden Werte dem deutschen Judentum mit auf den Weg gab und es vielleicht in seiner Einmaligkeit formte. Aber solche Betrachtungen gehoeren in eine Festschrift und nicht so unmittelbar auf den Geburtstagstisch wie dieser Brief.1
Diese Zeilen richtet Alfred Wiener2 in einem Brief vom 21. Januar 1954 in London an seinen ehemaligen Kollegen Heinemann Stern im Hauptvorstand des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) nach Rio de Janeiro. Er reflektiert in dieser Briefpassage eine Sichtweise, die den Beitrag des C. V. zur Geschichte des deutschen Judentums über die einer jüdischen Abwehrorganisation hinaus erweitert und an bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland diskutierte Gedankengänge anknüpft.3 Der Antisemitismus war nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten gewissermaßen zur „Staatsreligion“4 erhoben worden und der die Arbeit des C. V. bestimmende Kampf gegen den Antisemitismus verloren. So steht die Frage nach dem Erbe des liberalen deutschen Judentums im Zentrum der Rückbesinnung in der Emigration.
1 Wiener Library, London, 3000/9/1/1332: Correspondence with Stern, Heinemann. Die Korrespondenz umfasst 44 Briefe vom 11. Januar 1954 bis 8. Januar 1958. 2 Alfred Wiener (1885–1964) war von 1919 bis 1923 Syndikus des C. V.-Landesverbandes GroßBerlin. Von 1923 bis 1933 war er stellvertretender Direktor der Gesamtorganisation und wirkte auch in der Redaktion der C. V.-Zeitung und in der Leitung des Philo-Verlages mit. Über ihn liegt seit 1997 eine ausführliche Biographie vor: Ben Barkow, Alfred Wiener and the Making of the Holocaust Library. London 1997. Vgl. zu Wiener auch Avraham Barkai, „Wehr dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893–1938. München 2002, 162. 3 Vgl. vor allem dazu: Christian Dietrich, Verweigerte Anerkennung. Selbstbestimmungsdebatten im „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin 2014. Darüber hinaus auch Evyatar Friesel, The Political and Ideological Development of the Centralverein Before 1914, in: Leo Baeck Institute Yearbook (LBIYB) 31, 1986, 121–146. 4 Barkai, Wehr dich (wie Anm. 2), 372. https://doi.org/10.1515/9783110675535-003
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Wieners Schreiben an Stern ist aus Anlass des 75. Geburtstags von Heinemann Stern entstanden. Es ist die Wiederaufnahme des Kontaktes, der aufgrund ihrer verschiedenen Emigrationswege gut 20 Jahre brachgelegen hatte. Alfred Wiener emigrierte schon 1933 nach Amsterdam. Zu diesem Zeitpunkt war Heinemann Stern bereits seit zwei Jahren Leiter der jüdischen Mittelschule in Berlin.5 Erst 1940 folgte er zusammen mit seiner Frau Johanna Stern ihrem gemeinsamen Sohn Lutz nach Rio de Janeiro. Inzwischen war Wiener seit zwei Jahren in London und baute die nach ihm benannte Wiener Holocaust Library auf, die mittlerweile weltälteste Organisation zur Erforschung der Verfolgung der europäischen Judenheiten im Nationalsozialismus, in deren Archiv sich auch die Korrespondenz der beiden befindet.6 Alfred Wiener gehörte zu dem Kreis der Spitzenfunktionäre, die in London „das meiste für die Erhaltung der Erinnerung des Centralvereins geleistet“7 haben. Der vorliegende Beitrag zum Wirken Heinemann Sterns im C. V. im Spiegel seiner Erinnerungen ist dem Ansatz verpflichtet, „die eigene Wahrnehmung der Protagonisten auf ihre Zeit verschärfter zu fokussieren und Positionen […] im Kontext ihrer Zeit zu sehen.“8 In der Diskussion um die Rolle und die Positionsbestimmungen des Centralvereins führen Heinemann Sterns Beiträge zur Entwicklung und Geschichte des Vereins derzeit noch ein Nischendasein, was generell für die Wahrnehmung seines Lebenswerkes gilt.9 Im Dezember 2019 konnte endlich der in der Emigration entstandene Briefwechsel mit seiner ehemaligen
5 David Friedländer, Isaak Daniel Itzig und Hartwig Wessely hatten sie 1778 als erste jüdische Freischule Deutschlands gegründet. Heute ist sie das Jüdische Gymnasium Moses Mendelssohn. Vgl. zur wechselvollen Schulgeschichte auch: Ingrid Lohmann (Hrsg.), Chevrat Chinuch Nearim. Die jüdische Freischule in Berlin (1778–1825) im Umfeld preußischer Bildungspolitik und jüdischer Kultusreform. Eine Quellensammlung. Münster 2001; sowie Dirk Külow, Schalom und Alefbet. Die Geschichte des Jüdischen Gymnasiums. Berlin 2015. 6 Den Aufbau ihres Bestandes begann Wiener bereits in Amsterdam als Jewish Central Information Office, bevor er die Sammlung nach London verlegte. 7 Barkai, Wehr dich (wie Anm. 2), 374. 8 Eva Rohland, Nachwuchsworkshop „Der Centralverein als Teil des deutsch-jüdischen Kultursystems“, in: PaRDeS 23, 2017, 202–206, hier 206. 9 Vgl. für einen umfassenden Blick über die Forschungsliteratur zum Centralverein: Dietrich, Verweigerte Anerkennung (wie Anm. 3), 19–24. Heinemann Stern findet bei ihm wie in vielen der aufgeführten Publikationen keine Erwähnung, so auch in dem von Avraham Barkai 2002 vorgelegtem Standardwerk zum Centralverein (wie Anm. 2). Tatsächlich wird Heinemann Stern sogar öfter mit Heinrich Stern, einem einflussreichen Mitglied des C. V. verwechselt. So zum Beispiel in Dominic Bitzer, Im deutschen Reich. Das publizistische Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Diss. Aachen 2013, 1. d-nb.info/1047324660/34 (15.06.2020). In verschiedenen Bibliotheken findet man Sterns Publikationen Angriff und Abwehr und Warum sind wir Deutsche unter Heinrich Stern katalogisiert.
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Schülerschaft an der jüdischen Mittelschule in Berlin veröffentlicht werden.10 Der Band versammelt Briefe von 33 ehemaligen Schülerinnen und Schülern Heinemann Sterns, die ihm aus aller Welt nach Berlin, und dann ab 1940 in seinem Exil in Rio zugingen – „ein eindrückliches Zeugnis für die Herausbildung eines weltweiten Netzwerks der deutsch-jüdischen Emigration“11. Der Briefwechsel zwischen Stern und Wiener ist Teil dieses Netzwerks. Stern hatte sich schon des Öfteren bei Alfred Hirschberg in São Paulo nach Wieners Wohlergehen erkundigt und das Projekt der Wiener Holocaust Library in der von Hirschberg herausgegebenen Cronica Israelita mitverfolgen können. Wiener wiederum erfuhr durch einen Artikel in der Januarausgabe der AJR Information, der Zeitschrift der Association of Jewish Refugees in Great Britain, von Sterns 75. Geburtstag. Unter dem Titel „Jüdischer Schulmann als Wahrer einer Tradition – Dr. Heinemann Stern – 75 Jahre“ hatte Ernst Lowenthal12, der zu dem Kreis ehemaliger C. V.-er in London gehörte, Sterns Verdienste gewürdigt.13 Lowenthal stellt Sterns Eigenheiten der Leserschaft vor Augen: „Ich erlebe wieder die klare Art seines Ausdrucks, ich höre wieder die energische Sprache, fast ein Gemisch von kurhessischer Mundart und oberschlesischen Tönen.“14 Den kurhessischen Dialekt hatte sich Stern aus seiner Kindheit und Jugend im hessischen Nordeck bewahrt, wo er am 21. Dezember 1878 geboren worden war und Kindheit wie Jugend verbrachte, bevor er für seine Lehrerausbildung nach Hannover zog. Danach unterrichtet er die Fächer Religion, Deutsch und Geschichte in Guntersblum in Rheinhessen, dann in Sarstedt in Niedersachsen, bevor er für die nächsten knapp zwanzig Jahre in Oberschlesien wirken würde. Un10 Aubrey Pomerance/Eva Rohland/Joachim Schlör (Hrsg.), Heinemann Stern. Jüdische Jugend im Umbruch. Briefe nach Berlin und Rio de Janeiro 1937–1953. Berlin 2019. „Die Themen der Briefe sind dabei so vielfältig wie die Lebenswege, die Alltagserfahrungen und die Zukunftshoffnungen der unterschiedlichen Persönlichkeiten. Sie umfassen einen Zeitraum von 16 Jahren (1937–1953) und sprechen die Herausforderungen der jüdischen Gemeinde in Shanghai ebenso an wie Fragen der Apartheid in Südafrika oder der Arbeitsorganisation in den IcaKolonien in Argentinien. Religion, Philosophie und Literatur – die Gegenstände des Unterrichts – fehlen auch nicht.“ Ebd., 18. 11 Ebd., 17. 12 Ernst G. Lowenthal (1904–1994) war Professor für Wirtschaftswissenschaften und wirkte publizistisch ab 1929 als Fachreferent im Centralverein. 1938 konnte von ihm noch der PhiloAtlas. Handbuch für die jüdische Auswanderung im Verlag des Jüdischen Kulturbundes erscheinen, bevor er nach London emigrierte. Nach dem Krieg arbeitete er auch in Bonn. Dort hatte Lowenthal dazu beitragen können, dass Stern seine Pension in Brasilien erhielt, wie Stern Wiener erzählt. 13 Der Artikel erschien auch in der Cronica Israelita in São Paulo am 16. Dezember 1953 und in der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung in Düsseldorf am 18. Dezember 1953. 14 Ebd.
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terbrochen wird diese Zeit nur von seinen kriegsbedingten Stationierungen im Ersten Weltkrieg, unter anderem in Konstantinopel. Von Repzin in Pommern kommt er 1906 nach Tarnowitz in Oberschlesien, wo er die Prüfung als Mittelschullehrer ablegt. Ab 1909 unterrichtet und publiziert Stern in Kattowitz. In diese Zeit fällt auch der Beginn seiner Aktivität in der Kattowitzer Ortsgruppe des Centralvereins, die sich verhältnismäßig spät, erst am 18. Februar 1907 gegründet hatte.15 In der deutsch-polnischen Volksabstimmung vom März 1921 zur Festlegung der deutsch-polnischen Grenze optiert Stern für die deutsche Staatsbürgerschaft, verlässt Kattowitz und zieht nach Berlin. Dort wirkt er an der jüdischen Knabenschule, deren Leitung er 1931 bis 1939 innehat. Dabei war er keineswegs nur auf die Schule und das Pädagogische beschränkt. In welchem Maß sich seine weiten Kenntnisse und Fähigkeiten der Wertschätzung durch jüdische Gemeinden und Organisationen erfreuten, zeigt allein die Tatsache, daß er als Mitglied in den Rat des „Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden“ und in den Hauptvorstand des „Central-Vereins“ berufen und zum Vorsitzenden des „Reichsverbandes der jüdischen Lehrervereine“ und des „Jüdischen Lehrerverbandes in Preußen“ gewählt wurde. Jüdische Zeitungen und Zeitschriften zählten Stern zu ihren Mitarbeitern.16
Für den Centralverein verfasste er in den 1920er Jahren unter anderem die apologetischen Streitschriften Angriff und Abwehr17 und Warum sind wir Deutsche?18 Kurz vor seiner Emigration erschien 1938 in Berlin das gemeinsam mit Fachkollegen erarbeitete Kompendium Die Didaktik der jüdischen Schule19. Der unter anderem mit dem über seine 1927 publizierte und weitläufig in Schulen verwendete Pessach-Haggadah bekannte Zeichenlehrer Otto Geismar verfasste das Kapitel zum Kunstunterricht. In London, wo Geismar mit seiner Frau ebenfalls bei seinen Kindern Exil gefunden hatte, berichtete er Wiener über Sterns Wohlergehen, wie Wiener an Stern schreibt:20
15 Bereits zwei Jahre nach seiner Gründung am 26. März 1893 hatte der C. V. beachtliche Erfolge im Mitgliederzuwachs verzeichnen können, der sich von Berlin und anderen Großstädten auf die Provinz ausweitete. Vgl. dazu Barkai, Wehr dich (wie Anm. 2), 26 f. Zur Gründung der Ortsgruppe vergleiche Anonym, Vereinsnachrichten, in: Im deutschen Reich (IdR) 13, 1907, 185–186. Eine für März 2020 geplante Sichtung der Unterlagen der Ortsgruppe im Archiv in Kattowitz konnte wegen der Covid-19-Pandemie noch nicht stattfinden. 16 Ebd. 17 Heinemann Stern, Angriff und Abwehr. Berlin 1924. 18 Heinemann Stern, Warum sind wir Deutsche? Berlin 1926. 19 Heinemann Stern (Hrsg.), Die Didaktik der jüdischen Schule. Berlin 1938. 20 Otto Geismar (1873–1957) war im März 1936 nach England emigriert. Sein Pessachlesebuch wurde 2006 durch Hermann Simon vom Centrum Judaicum neu herausgegeben. Vgl. zu Geismar auch Külow, Schalom und Alefbet (wie Anm. 5), 125 f.
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Ich war so froh zu erfahren, dass Sie wohlauf und gesund sind, ich erinnerte mich so oft der Zeiten, als wir noch zusammengearbeitet haben. Ich glaube bestimmt, Sie und ihre Lieben in Kattowitz kennengelernt zu haben und dann natuerlich eine Reihe von Jahren in Berlin, sei es als Mitarbeiter in der CV Zeitung und durch Ihre verschiedenen Schriften, sei es in den Kreisen des Vorstandes. Jedenfalls steht mir Ihre Persoenlichkeit klar vor Augen, und ich denke vor allem an den leidenschaftlichen Ernst, der ein, wie mir scheint, wesentliches Merkmal von Ihnen ist, und auch an die Beharrlichkeit, mit der Sie Ihre gute Sache und das, was man „Weltanschauung“ nur in deutscher Sprache nennt, beharrlich verteidigten.21
Im Folgenden soll schlaglichtartig aufgezeigt werden, wie Stern seine politische Gesinnung in Korrelation zu jeweils aktuellen Grundfragen und Debatten im C. V. über die Jahrzehnte seines Bestehens bis 1938 entwickelte, und wie er sie rückblickend in der Emigration bewertete. Neben Sterns Gedanken in der Korrespondenz mit Wiener und den erwähnten Publikationen sind seine in den 1940er Jahren auf Grundlage einer 1911 in Kattowitz begonnenen Familienchronik verfassten Erinnerungen aufschlussreich für das Verständnis seines Denkens. Stern versteht sie nicht als private Memoiren. Die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden zu erzählen, bildet das Leitmotiv. In ihrer Retrospektivität erzählen sie weniger das Gewesene wie es war, sondern was davon in der Gegenwart des Erinnernden wirkt. Der Fluchtpunkt der Gegenwart ist der Verlust der Heimat aufgrund seiner vorangegangenen Verfolgung als Jude. Diese erfordert, „im weitesten Ausmaße die Beziehungen zwischen uns Juden und unserer nichtjüdischen Umwelt ins Auge [zu] fassen“22. So werden biographische Fakten und Erinnerungen an das Familienleben, Eltern, Geschwister, Frau, Kinder und Enkel beiläufig und, wenn überhaupt, nur für die Kontextualisierung des Fragegegenstandes erwähnt. Ebenso verhält es sich mit Jahreszahlen und historischen Fakten. Stern entwickelt sein Thema nicht aus der ihm anlässlich des Zeitpunktes der Verfassung seiner Erinnerungen bekannten historischen Katastrophe der Shoa heraus, sondern streng im Rahmen der jeweiligen Zeit. Damit bleibt auch eine „historisch-psychologische und die aus dem Verlauf der Geschichte abgeleitete Beantwortung“23 der im Titel der Erinnerungen gestellten Frage „Warum hassen sie uns eigentlich?“ aus. Es bleibt eine Verhandlung mit offenem Ausgang, die von ihrem eigenen Fortgang bestimmt wird und jederzeit zu Grenzerweiterungen führt, die über das eigentliche Erkenntnisinteresse hinausgehen und Blicke auf die Entwicklung des Judentums in der Moderne freigeben. Dabei 21 Wiener Library, Correspondence (wie Anm. 1). 22 Heinemann Stern, Warum hassen sie uns eigentlich? Jüdisches Leben zwischen den Kriegen, hrsg. und kommentiert von Hans Ch. Meyer. Düsseldorf 1970, 20. 23 Guido Kisch, Warum hassen sie uns eigentlich? Jüdisches Leben zwischen den Kriegen by Heinemann Stern, Hans Ch. Meyer, in: Historische Zeitschrift (HZ) 214, 1972, 437.
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lassen sich vier verschiedene Phasen in Sterns Denken und Überzeugungen unterscheiden: Am Vorabend des Ersten Weltkriegs versteht Stern seine Mitgliedschaft im C. V. als dezidierte Abgrenzung von orthodoxen und zionistischen Positionen. Der von Eugen Fuchs geprägte Begriff des Stammesjudentums steht dabei im Zentrum seines Selbstverständnisses (Phase 1). In seinen apologetischen Publikationen für den C. V. in den 1920er Jahren entfaltet er ein Geschichtsverständnis, das vor allem den Beitrag des deutschen Judentums zur deutschen Nationalgeschichte verteidigt wie bekräftigt (Phase 2). In den 1930er Jahren muss er in seinen Lektionsentwürfen für den Geschichtsunterricht in der Didaktik der jüdischen Schule das propagierte emanzipatorische Ideal vor dem Hintergrund der erlebten nationalsozialistischen Verfolgung modifizieren und sich wie der C. V. selbst auch für zionistische Zielsetzungen öffnen (Phase 3). Nach seiner Emigration in den 1940er Jahren verändert sich sein Verständnis von Assimilation mit weitreichenden Konsequenzen für seine Vorstellungen vom Erhalt des traditionellen Judentums und einhergehender Kritik an der nun ehemaligen Praxis des C. V. Dabei ist der Begriff der Assimilation nicht länger als ein statisches Konstrukt verhandelbar, sondern müsse variabel, je nach den Umständen der Aufnahmeländer angewandt werden können (Phase 4).
Phase 1: Die Synthese von Deutschtum und Judentum als Kern von Sterns politischer Überzeugung Die „Auseinandersetzung mit dem Zionismus [war] ein Katalysator im Prozess der ideologischen Standortbestimmung des C. V.“24 vor dem Ersten Weltkrieg gewesen. „Drei Adjektive charakterisieren den Verein im Sommer 1913 aus [sic]. Er ist positiv-jüdisch, national-deutsch und antizionistisch.“25 Für die Entwicklung seines eigenen politischen Standpunktes benennt Stern in seinen Erinnerungen sowohl seine Auseinandersetzungen mit den zionistischen Positionen wie aber auch die mit den innerjüdischen Gemeindeverhältnissen als entscheidende Wegmarken. Am 6. März 1906 wird er nach bestandener Prüfung zum Mittelschullehrer an der Mädchen-Simultanschule in Tarnowitz berufen,
24 Barkai, Wehr dich (wie Anm. 2), 50. 25 Dietrich, Verweigerte Anerkennung (wie Anm. 3), 118.
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in dem Vertrauen, daß der Berufene Seiner Majestät dem Könige und dem königlichen Hause jederzeit in unverbrüchlicher Treue ergeben bleiben, die ihm obliegenden Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, seinen Vorgesetzten Ehrerbietung und Gehorsam zollen, und der Gemeinde und der Schuljugend ein nachahmenswertes Vorbild frommen und vorwurfsfreien Lebenswandels bieten werde, wie es sich für einen rechtschaffenen Beamten gehört.26
Als überhaupt nicht nachahmenswert, sondern als verlogen, beschreibt Stern nun das Betragen der jüdischen Gemeinde in Tarnowitz. Ihr Rabbiner27 war streng orthodox und „die übrigen Beamten mußten in seine Fußstapfen treten, obwohl der Großteil der Gemeinde liberal war, nur wenige Familien wirklich gesetzestreu lebten und ein geringer Prozentsatz konservativ zu nennen war.“28 Diese Verlogenheit führte eine Verzerrung des gesamten religiösen Lebens und vor allem der religiösen Erziehung herbei, die einen aufrechten Charakter mit nur einer Spur wirklich religiösen Empfindens mit Ekel erfüllen mußte. Kam noch hinzu, daß im Vorstand Männer saßen, deren Verbindung mit der Gemeinde nur noch darin bestand, daß sie ihre Steuern zahlten, dann war die religiöse Korruption komplett, dank der Charakterlosigkeit der sogenannten Liberalen.29
Infolgedessen wird Stern zwar Mitglied des sich zu dem Zeitpunkt in seinem Bezirk gründenden jüdischen Lehrervereins (alle jüdischen Lehrer gehören aber auch den allgemeinen Lehrervereinen an) und hält ab und an für die jüdische Gemeinde einen Vortrag. Als „gewissenhafter Liberaler“30 distanziert er sich aber von ihr. So führt Stern etwa im Religionsunterricht der Volksschule das Lesen in der deutschsprachigen Auerbach Bibel31 ein, wofür er Anfeindungen, aber
26 Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem (CAHJP), Sammlung Heinemann Stern P 132/1: Urkunden und Ehrungen bezüglich der beruflichen Laufbahn Sterns. 27 Hirsch Gradenwitz (1876–1943) war ein deutscher orthodoxer Rabbiner, der im Juni 1905 zum Rabbiner des Synagogengemeindebezirks Tarnowitz gewählt worden war. 1913 trat er aus dem Allgemeinen Rabbiner-Verband in Deutschland aus und schloss sich der Vereinigung traditionell gesetzestreuer Rabbiner Deutschlands an. Er wirkte dann hauptsächlich in Hanau. 1943 wurde er in Auschwitz ermordet. 28 Stern, Warum hassen sie uns eigentlich? (wie Anm. 22), 76. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Jakob Auerbach (Hrsg.), Kleine Schul- und Hausbibel. Geschichte und erbauliche Lesestücke aus den heiligen Schriften der Israeliten. Nebst einer Auswahl aus den Apokryphen und der Spruchweisheit der nachbiblischen Zeit. Berlin 1902. Verbreiteter war die „Kleine Ausgabe“: Biblische Erzählungen für die israelitische Jugend, bearb. von Dr. Jakob Auerbach. Berlin 1908.
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auch Respekt erntet.32 Der bekannte, damals in Oppeln wirkende Rabbiner Felix Goldmann33 tritt mit dem Plan der Gründung einer Liberalen Vereinigung in Oberschlesien an Stern heran. Stern lehnt die „Mitarbeit entschieden ab, in dem ich den Herren bedeutete, erst möchten sie die liberalen Notabeln über das Wesen des liberalen Judentums aufklären, bevor sie mit religiösen Ignoranten Gemeindekämpfe anfingen.“34 Im weiteren Verlauf sieht er dann aber Anzeichen zur Besserung und Überwindung dieser „beschämenden und schädlichen Zustände“35. Mit dem Generationenwechsel zu einer neuen Generation „überzeugtliberaler und tatkräftiger Rabbiner“36 und „durch die Erstarkung des Zionismus“37 waren die liberalen Kräfte zu einer mehr prinzipiengeleiteten Position gezwungen, um ihren Einfluss zu bewahren. Nach dem Umzug nach Kattowitz im Jahre 1909, wo Stern eine Stelle an der örtlichen Mittelschule antrat, verbesserte sich nicht nur seine finanzielle Lage. Die Schulverwaltung in Kattowitz war „wegen ihrer Liberalität, Großzügigkeit und ihres ausgezeichneten Verhältnisses zu ihrer Beamtenschaft bekannt und anerkannt.“38 Dies galt, so Stern, auch für die kulturellen und politischen Verhältnisse im oberschlesischen Judentum. Außer Berlin und wenigen Großstädten mag es kaum Orte und Gegenden im weiten Deutschland gegeben haben, in denen mehr allgemeine und jüdische Bildung, mehr allgemeine und jüdisch-geistige Aktivität anzutreffen gewesen wäre, und was ich hier hinsichtlich der Juden im ganzen festgestellt habe, gilt von der Jugend im besonderen.39
Auch wenn diese Bewertung der kulturellen und politischen Dynamik in Kattowitz aus der Rückschau verklärend sein mag, so hatte die Erstarkung des Zionis32 Der Rabbiner selbst lehnt Sterns Antrag einer Bestellung der Bibeln in Klassengröße ab, aber der Vorstand gibt Stern recht und dem Antrag statt. Vgl. dazu: Stern, Warum hassen sie uns eigentlich? (wie Anm. 22), 77. 33 Felix Goldmann (1882–1934) war ein deutscher Rabbiner und Mitglied im C. V. Hauptvorstand, der sich besonders für die Verständigung von liberalen und orthodoxen Juden einsetzte. Darüber hinaus war er um eine bessere Integration der Juden aus Osteuropa bemüht. Vgl. zu ihm auch die Ausführungen bei Barkai, der ihn als „generationenverbindende[n] Ideologe[n] des Centralvereins betrachtet“: „[A]uf der Hauptversammlung im Februar 1917 hielt der kaum 35jährige das Referat über die Aufgaben des Centralvereins in und nach dem Kriege und trat mit Nachdruck für die Dezentralisierung und Demokratisierung der Bewegung ein.“ Barkai, Wehr dich (wie Anm. 2), 158 f. 34 Stern, Warum hassen sie uns eigentlich? (wie Anm. 22), 77. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd., 78. 39 Ebd., 85.
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mus in Oberschlesien tatsächlich früher als in anderen Gegenden Deutschlands begonnen. Noch vor 1897, also bevor der erste Zionistische Weltkongress in Basel getagt hatte, fand 1884 in Kattowitz eine internationale Versammlung der Choveve-Zion-Vereine40 statt. Bei dieser als Kattowitzer Konferenz bekannt gewordenen Versammlung tauschten sich die europäischen Führer der Präzionisten unter dem Vorsitz von Leon Pinsker, dem Autor der Schrift Autoemanzipation, über das weitere gemeinsame Vorgehen aus.41 Als 1897 dann auch die Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD) gegründet wurde, stand dem C. V. ein Verein gegenüber, mit dem ihn zwar die „Enttäuschung über die unvollendete Emanzipation und den Aufstieg des Antisemitismus“42 verband, der aber vor allem mit der Forderung nach einem eigenen jüdischen Staat eine mit dem Selbstverständnis des C. V. unvereinbare Position bezog. Die beste Strategie, um dem ZVfD möglichst wenig Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, schien auf Seite des Centralvereins das Ignorieren zu sein.43 Mit dem Wachsen der zionistischen Bewegung und ihrem Versuch, Einfluss auf die Jugend zu nehmen, wuchs für den C. V. die Notwendigkeit einer klaren Positionierung und Abgrenzung von den Zionisten. Stern führt für diese Entwicklung zwei entscheidende Versammlungen 1912 in Kattowitz an. Zum einen erinnert er sich an eine zionistische Versammlung, bei der Rabbiner Osias Thon44 versuchte, die osteuropäisch-jüdische Jugend für die Zionisten einzunehmen: „Zum erstenmal [sic] – und niemals wieder in solchem Maße – sah ich bei 40 So nannten sich die Mitglieder von Chibbat Zion (Zionsliebe). Um 1881 begann diese jüdische Bewegung, die als erste zionistische Organisation in Europa gilt, zu wachsen. Vgl. dazu auch Ivonne Meybohm, David Wolffsohn – Aufsteiger, Grenzgänger, Mediator. Eine biographische Annäherung an die Geschichte der frühen Zionistischen Organisation (1897–1914). Göttingen 2013, 43. 41 Sie tagte von 6. bis 11. November 1884 in Kattowitz, was nicht nur wegen der Nähe zu Russland, wo die meisten der 36 Delegierten herkamen, gewählt wurde, sondern auch, weil es die einzige deutsche Stadt war, in der sich ein Chovevei Zion-Verband gegründet hatte. Vgl. zu der Konferenz auch Heinrich Loewe, Chibbat Zion. Gedenkschrift zur fünfzigjährigen Gedenkfeier der Kattowitzer Konferenz der Chowewe Zion. Kattowitz 1934. 42 Barkai, Wehr dich (wie Anm. 2), 50. 43 Christian Dietrich, der die Konfliktlinien, die 1913 im Bruch münden, anhand einer Presseanalyse bis zum ersten Zionistenkongress nachzeichnet, spricht sogar von einer Strategie des „Totschweigens“: Dietrich, Verweigerte Anerkennung (wie Anm. 3), 88 f. Vgl. für die Darstellung des Konflikts ebd., 83–117. Vgl. darüber hinaus Marjorie Lamberti, The Centralverein and the Anti-Zionists. Setting the Historical Record Straight, in: LBIYB 33, 1988, 123–128; sowie Jehuda Reinharz, Advocacy and History: The Case of the Centralverein and the Zionists, in: ebd., 113–122. 44 Rabbiner Dr. Osias Thon (1870–1936) wirkte vor allem in Krakau aktiv in der zionistischen, aber auch der polnischen Innenpolitik mit.
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dieser Gelegenheit ostjüdische Jugend von jenseits der Grenze in solcher Menge und gepackt von einer Erregung ohngleichen [sic].“45 Zum anderen kritisiert er das Benehmen von Zionisten auf einer im November 1912 stattfindenden Konferenz des Centralvereins. Auf der von über 1 000 Personen besuchten Konferenz grenzt der stellvertretende Vorsitzende des C. V. Eugen Fuchs die unterschiedlichen Positionen voneinander ab, indem er zur laufenden Debatte um die Thesen von Werner Sombart und Moritz Goldstein Stellung bezieht.46 Als im Anschluss an diesen Vortrag der Rabbiner von Königshütte, Salomon Goldschmidt, den Zionisten vorwirft, dass von ihrem Standpunkt, „vom Standpunkte des Nationalismus aus auch getaufte Juden gute Zionisten sein können“47, kommt es zum „Tumult“48 und anschließend zum Vorwurf, dass die Zionisten das Gastrecht missbraucht hätten. Dieser Streit trug nach Stern maßgeblich zu dem danach folgenden Bruch im deutschen Judentum bei, der „bis zur Katastrophe von 1933 unüberbrückt blieb.“49 Der nicht mehr zu heilende Bruch setzte sich nach Stern als „ein Kleinkrieg in Permanenz“50 fort, an dem er aktiv teilnahm. Seinen Standpunkt formuliert er unter Rückgriff auf das von Eugen Fuchs und anderen C. V.-Mitgliedern um 1912 in die Diskussion eingebrachte Konzept vom Stammesjudentum „als quasi einer der deutschen Stämme, die im deutschen Volk oder der deutschen Nation solidarisch vereint sind.“51 Heinemann Stern assoziiert sich mit diesem Begriff und stellt ihn in das Zentrum seiner jüdischen Identität: „Ich war Jude! Nicht nur Religionsjude, sondern mehr: Stammesjude.“52 Aber seine jüdische Identität sei untrennbar mit seiner deutschen Zugehörigkeit verbunden, vor allem als Lehrer für Deutsch und Geschichte an einer allgemeinen Schule. Seine Auffassung erklärte er damit, dass die Geschichte
45 Stern, Warum hassen sie uns eigentlich? (wie Anm. 22), 90. 46 Vgl. zu der Debatte zwischen Zionisten und Centralverein um das Buch des Volkswirts Werner Sombart Die Zukunft der Juden und den Artikel von Moritz Goldstein im Kunstwart vom März 1912 auch Dietrich, Verweigerte Anerkennung (wie Anm. 3), 83–117. Der Konferenzbericht findet sich in der Januarausgabe von Im Deutschen Reich 1913. 47 Anonymos, Vereinsnachrichten, in: IdR 19, 1913, 22–27, hier 27. 48 Ebd. 49 Stern, Warum hassen sie uns eigentlich? (wie Anm. 22), 87. Die Bewertung des Umgangstons ist in der Forschungsliteratur recht einig dahingehend, dass, wie auch Barkai schreibt, „den Zionisten die Hauptverantwortung für die Schärfe dieses ideologischen Konflikts zufällt“. Barkai, Wehr dich (wie Anm. 2), 53. 50 Stern, Warum hassen sie uns eigentlich? (wie Anm. 22), 87. 51 Barkai, Wehr dich (wie Anm. 2), 49. 52 Stern, Warum hassen sie uns eigentlich? (wie Anm. 22), 89.
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uns zum Leben innerhalb der sogenannten Wirtsvölker und zum kulturellen und wirtschaftlichen Gemeinschaftsleben mit ihnen bestimmt. Auf diesem Wege sah ich kein Zurück, selbst dann nicht, wenn der Traum vom jüdischen Palästina für einen Teil der Juden Wirklichkeit werden sollte. Dabei sah ich wohl klar, daß die Assimilation – die gesunde und für die Synthese vom Deutschtum und Judentum notwendige – solange nicht Tatsache werden konnte, als sie nicht auch von der deutschen Seite angenommen und anerkannt wurde. Von dem endlichen Erfolg hing die Synthese und unser Schicksal ab, in der Diaspora, versteht sich. Darum lautete für mich die Alternative nicht: Assimilation oder Rückkehr zum „wesensjüdischen Menschen“ (wie Martin Buber später den neuen jüdischen Typ charakterisierte), sondern Assimilation oder Katastrophe.53
Assimilation kann danach nur dann erfolgreich verlaufen, wenn beide Seiten, die Assimilierenden und die zu Assimilierenden, gemeinsam in diesem Prozess mitwirken. Wie die Geschichte zeigt, war dies nicht der Fall. Während des Ersten Weltkrieges nimmt der Antisemitismus wieder erheblich zu. In der […] 1893 mit so viel Überzeugung proklamierten Synthese „von Deutschtum und Judentum“ konnte sich jedes C. V.-Mitglied rückhaltlos als „hundertprozentig deutsch und hundertprozentig jüdisch“ fühlen oder zumindest erklären. Nun wurde diese Synthese zunehmend fragwürdig und es entstand eine Art „Identitätsskala“, auf der nicht nur der C. V., sondern auch jedes seiner Mitglieder seinen verunsicherten Standort jeweils neu bestimmen mußte.54
In seinem während des Krieges geführten Tagebuch notiert Stern nur vereinzelt antisemitische Vorfälle. So am 15. Dezember 1916, als er in der Kaserne in Köln Dienst tut: In der letzten Zeit habe ich mehrmals das Wort Jude hören müssen, früher nie. Schuld daran ist der Utffz., jetzt Vizefeldw. Bier vom 2. Depot. Der Kerl ist der Protz in optima forma, aufdringlich u. taktlos dazu. – Auch der Feldw. lässt sich manchmal gehn, wenn ein Jude ihm Arbeit macht. – Antisemitismus ists nicht, mehr Taktlosigkeit u. angeborene Naturwüchsigkeit im Ausdruck, wie mich eine Auseinandersetzung mit einem Gefreiten gelehrt hat. Die Leute denken sich nichts dabei u. sind erstaunt, wenn man sich verletzt fühlt. Man muß ihnen das Taktlose u. Verletzende ihres Benehmens dann zeigen – das ist das beste Mittel.55
Diese Einschätzung, die Antisemitismus als Taktlosigkeit kleinredet, wird Stern schon sehr bald im Zuge seiner politischen Profilierung als publizistisch tätiges C. V.-Mitglied zurücknehmen. Im Tagebuch erwähnt er den Centralverein erstmals am 6. Februar 1917 in einer Notiz über die zu diesem Zeitpunkt stattfinden53 Ebd., 89 f.; Stern bezieht sich hier auch explizit auf die Rede von Eugen Fuchs vom 20. Februar 1912: Eugen Fuchs, Die Zukunft der Juden, in: IdR 18, 1912, 257–275. 54 Barkai, Wehr dich (wie Anm. 2), 87 f. 55 CAHJP, P 132/9: Tagebuch von Heinemann Stern, 70.
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de Hauptversammlung in Berlin, an der er als oberschlesischer Delegierter teilnimmt. „Im Zentralverein stand besonders die Judenstatistik im Vordergrund. Es scheint wirklich, als habe die Regierung nichts Böses dabei im Sinne gehabt. Die höchsten Stellen, auch Kaiser u. Kronprinz, sind durchaus nicht antisemitisch.“56 Vor dem Hintergrund, dass die sogenannte Judenzählung „von der Führung des C. V. als eines der traumatischsten Ereignisse seit der Emanzipation empfunden“57 wurde, überrascht es, wenn Stern sich hier der Beschwichtigungsstrategie von Eugen Fuchs anschließt, „daß zwar der Antisemitismus in den unteren Heeres- und Bevölkerungsschichten zugenommen hat, daß aber die Regierung vorurteilsloser geworden ist.“58 Höhepunkt seines Kriegsdienstes ist seine Zugreise nach und seine kurzzeitige Stationierung in Konstantinopel. In seinen Erinnerungen beschreibt er gleichsam anekdotisch seine Begegnung mit einem osmanischen Mitarbeiter der Bahn, der ihn in sein Dienstabteil bittet: Auf seiner Dienstkiste liegt ein Hammelviertel, noch blutig. Das Bild war mir schon nicht mehr neu. In Sofia hatte ich einen Eingeborenen gesehen, der ein ebensolches Hammelstück am Beinchen trug und das abgehäutete Schwanzstück durch den Straßenschmutz schleifen ließ. – Wir machten uns miteinander bekannt; er hieß Samuel Isaak – vielleicht auch umgekehrt, aber Isaak ganz bestimmt. „Also auch Jude?“ Da setzte er eine ernste Miene auf: „Non monsieur [sic], je suis un turque dé [sic] religion israélite.“ „Aha, Partei und Gesinnungsgenosse, türkischer C. V. er. Ob noch mehr türkische Staatsbürger jüdischen Glaubens bei der Bahn angestellt sind?“59
, fragt Stern und lässt das Motiv der Solidarität mit der internationalen jüdischen „Schicksalsgemeinschaft“60, wie die C. V.-Ideologie „die Gemeinsamkeit der jüdischen Abstammung“61 terminologisch fasste, erklingen.
56 Ebd., 119. 57 Barkai, Wehr dich (wie Anm. 2), 60. 58 Vgl. ebd., 63. 59 Stern, Warum hassen sie uns eigentlich? (wie Anm. 22), 100. Wie Hans Christian Meyer anmerkt, war er wahrscheinlich durch die Schulen der Alliance Israélite Universelle oder des jüdischen Hilfsvereins gegangen. „Die durch das Schulwerk der beiden Organisationen hindurchgegangenen Zöglinge sprachen fehlerfrei deutsch bzw. französisch. Beide Organisationen erfreuten sich der Sympathie ihrer Regierungen“; ebd., 329. 60 Barkai, Wehr dich (wie Anm. 2), 49. 61 Ebd.
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Phase 2: Sterns Veröffentlichungen auf dem Gebiet der C. V.-Apologetik in den 1920er Jahren Am 8. Dezember 1918, einen Monat nach der doppelten Revolution vom 9. November 1918 dokumentiert Stern eine Zunahme der antisemitischen Angriffe im Tagebuch. Pogrome hält er nicht für möglich, aber „einen furchtbaren Antisemitismus werden wir erleben u. nicht mit Unrecht. Überall, wo Radikalismus herrscht, sind Juden an der Spitze. Schauderhafte Flugblätter werden zu Millionen vertrieben – wenn man speziell auch hier nichts davon merkt. Selbst in sozialdemokratischen Kreisen spielt man mit der Judenhetze. O tempora, o mores!“62 In der konservativen Tradition des C. V. positioniert sich Heinemann Stern strikt patriotisch.63 Auf die Nachricht von der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Januar 1919 reagiert er mit einem „Sie habens verdient“ und „ein Aufatmen geht durch Deutschland.“64 Mit dem Beginn der Weimarer Republik beginnt Stern, sich politisch verstärkt zu engagieren und wirkt prominent im Centralverein mit. „Wir leben in einer mießen [sic], aber jedenfalls hochinteressanten Zeit. Versammlungen aller Art jagen sich: politische, jüdische, zionistische, antizionistische. Ich immer vorneweg!“65, schreibt er am 2. März 1919 in sein Tagebuch. Der Centralverein wird ihm in diesen turbulenten Zeiten zur „politischen Heimat“66 und in den 1920er Jahren Dreh- und Angelpunkt seiner politischen Agitation. „Im C. V. hatte ich meine politische Heimat gefunden, als ich anfing, mich politisch zu orientieren, und diese Heimat habe ich erst aufgegeben, als ich die staatsbürgerliche verlor.“67 Mit der Berufung in den Hauptvorstand des Centralvereins, „durch die Eingliederung in den geistigen Generalstab“68, kam „System in diese Arbeit“69 für den Verein: In ersterer Hinsicht war ich vielbeschäftigter Mitarbeiter an der C. V.-Zeitung sowie Vortrags- und Versammlungsredner in Berlin und im Reiche; in zweiter Beziehung Instruktor an Schulungskursen, insbesondere jedoch periodischer Hilfsarbeiter für wissenschaftliche Angelegenheiten in der Verwaltung. Als solcher hatte ich die Aufgabe, die Literatur, vornehmlich die geisteswissenschaftliche (Philosophie, Psychologie, Geschichte und ähnli-
62 63 64 65 66 67 68 69
CAHJP, Zweites Tagebuch (wie Anm. 55), 53. Vgl. dazu auch Barkai, Wehr dich (wie Anm. 2), 65. CAHJP, Zweites Tagebuch (wie Anm. 55), 56. Ebd., 58. Stern, Warum hassen sie uns eigentlich? (wie Anm. 22), 142. Ebd. Ebd. Ebd.
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che), und damit die geistigen Strömungen der Zeit zu beobachten, Zusammenhänge mit der C. V.-Arbeit festzustellen und die Ergebnisse in Referaten und Denkschriften niederzulegen, oder, wo es der Gegenstand erlaubte, für die Zwecke der Apologetik auszuwerten.70
Drei Schriften von Heinemann Stern, ein Aufsatz mit der Überschrift „Bilanz“ in der Zeitschrift Im deutschen Reich, dem Vorläufer der C. V.-Zeitung,71 das Handbuch Angriff und Abwehr72 und Warum sind wir Deutsche?73 sind exemplarisch für Sterns publizistische Tätigkeit auf dem Gebiet der Apologetik, „ein Begriff, der im damaligen Sprachgebrauch die an die Vernunft appellierenden Aufklärungsschriften und Vorträge über das ‚wahre‘ Wesen des Judentums bezeichnete.“74 In dem Artikel „Bilanz“ legt Heinemann Stern seine Vorstellung zur Fortsetzung des Emanzipationskampfes vor. Der Regierungsantisemitismus sei nach der Revolution zu einem Ende gekommen, aber die viel größere Gefahr des Volksantisemitismus werde immer noch unterschätzt. Die jüdische Bevölkerung nehme im Volksbewusstsein immer noch eine Sonderstellung ein und ihre tatsächliche Gleichberechtigung sei noch nicht garantiert. Bedenken gegenüber unbeschränkter Gleichstellung seien geäußert worden, in der „die Furcht vor der jüdischen Herrschaft und vor dem zersetzenden jüdischen Geist zum Ausdruck kommen.“75 Die deutsche Judenheit sei überproportional in der sozialen Ebene der „Führerberufe“76 verortet. Die Überwindung solcher Vorurteile hänge auch von den Juden selbst ab, die Erziehung eines jedes Juden in dem Bewusstsein der eigenen Verantwortung dafür sei zu ihrer Überwindung von zentraler Bedeutung. „In diesem Sinne sollten wir die Phase des Zweiten Emanzipationskampfes eröffnen.“77 Ziel sei, dass „der deutsche Jude ohne inneren und äußeren Widerspruch bekennen und behaupten darf ‚Civis Germanus sum‘!“78 Das Handbuch Angriff und Abwehr steht im Kontext dieser „zweiten Phase des Emanzipationskampfes“, setzt sich mit den wesentlichen Mythen des Antisemitismus auseinander und widerlegt sie. Diese thematisch geordnete Zusam70 Ebd., 145. 71 Heinemann Stern, Bilanz, in: IdR 26, 1920, 299–306. 72 Stern, Angriff und Abwehr (wie Anm. 17). 73 Stern, Warum sind wir Deutsche? (wie Anm. 18). 74 Barkai, Wehr dich (wie Anm. 2), 38. 75 Stern, Bilanz, in: IdR 26, 1920, 303. 76 Ebd. Stern konkretisiert diesen Begriff hier nur dahingehend, dass Juden „auf bestimmten Gebieten und darüber hinaus im gesamten öffentlichen Leben einen Einfluß ausüben, der in keinem Verhältnis zu ihrer numerischen Stärke“ stehe. 77 Ebd., 306. 78 Ebd.
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menstellung von Argumenten, eine Anleitung für Referentinnen und Referenten in der Öffentlichkeitsarbeit des C. V., unterlegt die programmatische Behauptung des „Civis Germanus sum“ mit Fakten und Beispielen. Es unterstreicht aus der Situation des Krisenjahrs 1923 heraus die bedeutende Rolle von Juden als deutsche Staatsbürger. Angriff und Abwehr erlebte schon nach zwei Monaten eine zweite Auflage. „Es war gleicherweise auch eine verbesserte, denn das Kapitel über die Leistungen der Juden in Wissenschaft, Natur und Technik erwies sich in sehr vielen Punkten als irrig und falsch. Naturgemäß mußte ich mich auf diesem Gebiet auf die vorliegende Literatur beziehen, und nun erfuhr ich […], wie unzuverlässig die Angaben waren.“79 Im Folgenden fand das Handbuch breite Beachtung und wird 1927 im Jüdischen Lexikon unter dem Stichwort „Apologetik“ mit bibliographischer Angabe erwähnt.80 Auch die 1926 von Stern für den C. V. herausgegebene Broschüre Warum sind wir Deutsche? gehört schon bald „zum ideologischen Schulungsgut in vielen jüdischen Bünden und Vereinen“81. Hermann Cohens Deutschtum und Judentum und Jakob Wassermanns Mein Weg als Deutscher und als Jude bieten die Grundlagen für Stern, der deren wesentliche Grundgedanken didaktisch aufbereitet. Was die sechs dialektisch aufeinander bezogenen Aufsätze Sterns vernetzt, ist die bedeutende Funktion, die Stern der Erzählung von Geschichte beimisst: Wir sehen also, daß es ein inneres, seelisches Band ist, das den Menschen an sein Volk und Vaterland fesselt. Es gibt aber noch ein anderes, mehr äußerliches Band, das dem einzelnen Menschen nicht so zum Bewußstsein kommt, weil es in der Vergangenheit geknüpft worden ist, das ist die Geschichte.82
Stern dekliniert diesen Gedanken durch einzelne Subkontexte durch. Er legt im Folgenden dar, warum die deutsch-jüdische Jugend sich deutsch nennen kann, nämlich weil „die geschichtliche Entwicklung“83 sie zu Deutschen gemacht habe, sie mit der deutschen Kultur und mit dem „deutschen Vaterland verwach-
79 Stern, Warum hassen sie uns eigentlich? (wie Anm. 22), 143. 80 Jüdisches Lexikon: Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden, begr. von Georg Herlitz und Bruno Kirschner. Berlin 1927. 81 Hans Christian Meyer, Vorwort, in: Stern, Warum hassen sie uns eigentlich? (wie Anm. 22), 15. 82 Stern, Warum sind wir Deutsche? (wie Anm. 18), 4. 83 Ebd., Inhaltsverzeichnis, 3.
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sen“84 seien. In einem zweiten Teil widerlegt er Argumente, nach denen die deutschjüdische Jugend „rassefremd“85 und „volksfremd“86 sei. Der Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion im Mittelalter habe den Abstieg und die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung bedeutet. Wäre dies nicht erfolgt, hätte die jüdische Assimilation in Deutschland schon viel früher eine Erfolgsgeschichte sein können, wie Stern die Emanzipation um Lessing und Mendelssohn erzählt. Heinrich Heines Loreley sei unvergleichbar: „Dichter haben den deutschen Rhein besungen, aber keines ist so in die deutsche Seele gedrungen, wie das des Juden Heinrich Heine doch wohl deshalb, weil keines so aus deutscher Seele spricht.“87 Als Spalter der deutschen Seele sieht er die „Nationaljuden“88, weil sie eine jüdische und deutsche Identität nicht für vereinbar halten. Dem widerspricht Stern klar: „Die jüdische Geschichte als Volksgeschichte ist tot. Sie ist nur noch eine Erinnerung, wie das Land, in dem sie sich abgespielt hat. Eine liebe, eine stolze, eine heilige Erinnerung, wie man will – aber immer nur eine Erinnerung. Das Leben aber gehört der Gegenwart und der Zukunft, die deutsche Geschichte dagegen ist lebendig.“89 In seinem den Centralverein behandelnden Kapitel seiner Erinnerungen gelangt Stern rückblickend zu dem Urteil, dass der C. V. „erst in der Auseinandersetzung mit dem Zionismus und mit der Vergeistigung des Kampfes gegen den Antisemitismus“90, erst im Zuge der Widerlegung von antisemitischen Vorwürfen mit apologetischen Argumenten „seine endgültige Form“91 gefunden habe. Im Juli 1935, kurz bevor gegen die C. V.-Zeitung ein dreimonatiges Verbot verhängt wurde, wird Sterns Wirken für den Centralverein in einer Anzeige seiner Silberhochzeit wie folgt gewürdigt: Der Führer der jüdischen Lehrerbewegung, der Mittelschulrektor Dr. Heinemann Stern und Gattin, begangen in diesen Tagen in Bad Nauheim das Fest der silbernen Hochzeit. Dr. Stern ist als Rektor der Jüdischen Mittelschule der Berliner Jüdischen Gemeinde in der Großen Hamburger Straße wie als Vorsitzender des Verbandes jüdischer Lehrer eine bekannte und allgemein beliebte Persönlichkeit. Der auf liberalem Boden stehende Jubilar hat sich auch als Hauptvorstandsmitglied des Centralvereins in technischer wie in schrift-
84 Ebd. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Ebd., 11. 88 Ebd., 29. 89 Ebd. 90 Stern, Warum hassen sie uns eigentlich? (wie Anm. 22), 143. 91 Ebd., 142.
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stellerischer Hinsicht einen Namen gemacht. Seine Ausführungen auf dem Gebiet der Apologetik fanden weitgehende Beachtung.92
Nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze im September 1935 darf der Centralverein den Begriff ‚Staatsbürger‘ nicht mehr in seinem Titel tragen und firmiert nunmehr als ‚Centralverein der Juden in Deutschland‘. 1936, mit Blick auf die immer drängenderen Fragen der Auswanderung, wird er in ‚Jüdischer Centralverein e. V.‘ umbenannt. Während der Novemberpogrome wird der Centralverein am 10. November 1938 insgesamt verboten. In der Schule erlebte Stern die Pogrome wie folgt: Die Zügellosigkeit, die im Zusammenhang mit den Vorgängen einriß, ergriff vor allem die Jugendlichen, die ihre Judenhetze auf eigne Faust unternahmen. Einer solchen „Einzelaktion“ fiel auch unser Mendelssohndenkmal zum Opfer. […] Eines Morgens fanden wir die Büste zu Füßen des Sockels, die Umzäunung des Gartens niedergerissen und diesen selbst verwüstet.93
Phase 3: Neuorientierung des jüdischen Selbstverständnisses in der Didaktik der jüdischen Schule In der Erinnerung einer Schülerin an der jüdischen Mittelschule in Berlin, an der Stern seit 1921 Geschichte und Deutsch unterrichtete, kommt die C. V.-Programmatik auch für die Schulgemeinschaft zum Ausdruck: „Hier wurden wir zu selbständigen Individuen erzogen als Deutsche jüdischen Glaubens, nicht zionistisch.“94 Das ist eine Tradition, die Stern weiterhin als Schulleiter zu bewahren versucht. In seiner eingangs zitierten rückblickenden Würdigung stellt Ernst G. Lowenthal Stern in eine Reihe von Schulleitern, die in dieser emanzipatorischen Tradition die „geistige Formung“95 der Schule beeinflusst haben.96 „In ei92 CAHJP, Urkunden und Ehrungen (wie Anm. 26). 93 Stern, Warum hassen sie uns eigentlich? (wie Anm. 22), 301. 94 Külow, Schalom und Alefbet (wie Anm. 5), 98. 95 Ernst G. Lowenthal, Jüdischer Schulmann als Wahrer einer Tradition – Dr. Heinemann Stern – 75 Jahre, in: Jüdische Allgemeine Wochenzeitung, 18.12.1953. 96 „Der erste Schulleiter war Leopold Zunz (bis 1829), der den Begriff ‚Wissenschaft des Judentums‘ geprägt hat. Ihm folgten Baruch Auerbach (bis 1851), mit dessen Namen das von ihm 1833 in Berlin gegründete Waisenhaus verknüpft ist, Aron Horwitz (bis 1881), der die Jüdische Lehrerbildungsanstalt wiederaufrichtete, Michael Holzmann (1882–1911) und schließlich Studiendirektor Dr. Josef Gutmann“, bis Stern ihn 1933 ablöste. Vgl. ebd.
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ner Epoche jüdischen Lebens in Deutschland, gekennzeichnet durch zunehmend äußere Bedrängnis, gleichzeitig aber durch inneren, jüdisch-kulturellen Auftrieb, hat er bis Ende 1938 an der Spitze eines Schulwerks gestanden, das ein traditionsreiches Erbe zu wahren hatte.“97 Die nationalsozialistische Diktatur erschütterte diese Tradition und führte zu einem Bruch mit der geläufigen didaktisch historischen Sinnbildung: „Für uns ist die Situation noch besonders dadurch kompliziert, daß unsere Gegenwart in eine Zukunft weist, die nicht mehr als kontinuierliche Fortsetzung einer Vergangenheit erscheint, die bisher Gegenstand des Geschichtsunterrichts war“98, schreibt Stern 1938 in seiner Einführung in die Didaktik der jüdischen Schule. Diese neue Didaktik steht zwangsläufig im Zeichen des allumfassenden und vielfach schon erfolgten Umbruchs. Zu einem Zeitpunkt, wo die deutschjüdische Geschichte in Diskontinuität verfällt, sind die Anforderungen doppelt: zum einen klassische Bildung, zum anderen auch praktische Fertigkeiten zu vermitteln, um den Herausforderungen der Emigration entsprechen zu können. Die Briefe, die Heinemann Stern von seinen ehemaligen Schülern auch nach seiner Emigration nach Brasilien aus aller Welt erhält, zeigen, dass die Ausbildung an der jüdischen Mittelschule diesem Anspruch gerecht geworden war. Mit seinen beiden Lektionsentwürfen im Kapitel zum Geschichtsunterricht in der Didaktik der jüdischen Schule „Die Ansiedlung der Juden in Deutschland durch Karl den Großen“ und „Leon Pinskers Autoemanzipation“ unternahm Stern entsprechend den Versuch, die zionistischen und liberal-emanzipatorisch entgegengesetzten Narrative miteinander zu vereinen. Seine Ausführungen zur Geschichtsdidaktik fassen so eine Debatte zusammen, in der sowohl von liberaler wie auch von zionistischer Seite Geschichtslehrer begannen, ihr Geschichtsbild zu überprüfen, und Begriffe wie Aufklärung, Fortschritt und Rationalismus einer scharfen Kritik zu unterziehen. Beide Gruppen konnten nur wenig für das Judentum als „Gesetzesreligion“ aufbringen; das Judentum als „geschichtliche Gemeinschaft“ hingegen sprach sie an. Die jüdische Geschichte wurde dem säkularisierten Erzieher, bewußt oder unbewußt, zum „Religionsersatz“.99
Nicht zu vernachlässigen ist der Aspekt des Zwangs und der Nötigung, unter dem die Didaktik der jüdischen Schule entstehen musste. Stern notiert am 25. August 1938 in sein Tagebuch: „Soeben die Eigenexemplare der ‚Didaktik‘ halten.
97 Ebd. 98 Stern, Didaktik der jüdischen Schule (wie Anm. 19), 177. 99 Joseph Walk, Jüdische Schule und Erziehung im Dritten Reich. Frankfurt a. M. 1991, 144.
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Freude? Alles andere als dies – nach zwei-jähriger Arbeit u. Quälerei. Wäre Dr. Galliner nicht gewesen, hätte ich das Manuskript ins Feuer werfen können.“100 Seine beschriebene Öffnung für zionistische Konzepte findet seine Entsprechung schon im Kontext einer programmatischen Änderung der C. V.-internen Diskussion, die bereits Ende der 1920er Jahre ihren Anfang genommen hatte. Der Diskurs um Deutschtum und Judentum mußte unter den politischen Zugzwängen der Zeit zunehmend in die Diskussion um den Zionismus münden. […] Je mehr der wachsende Antisemitismus das ursprünglich stolze Bekenntnis zum Deutschtum nach dem Gefühl der jüngeren C. V. er in den Dunstkreis unwürdigen Anbiederns rückte, um so zugänglicher wurden sie für die Anerkennung der positiven Erfolge der zionistischen Aufbauarbeit in Palästina und suchten sich an ihr zu beteiligen.101
1935 forderte der auf Julius Brodnitz folgende C. V.-Vorsitzende Ernst Herzfeld die „Neumarkierung der ideologischen Grenze zwischen dem C. V. und dem Zionismus, die durch die Zeitumstände und die von ihnen diktierte engere Zusammenarbeit verwischt zu werden drohte.“102 Palästina hatte in dieser neuen Debatte eine neue Bewertung bekommen. Es „hat das Judentum gekräftigt und stellt einen wesentlichen Faktor für seine Erhaltung dar“103, erkennt Herzfeld an. Dass das keine Abkehr von der eigenen Grundüberzeugung bedeuten muss, zeigen Sterns Äußerungen dazu in der Korrespondenz mit Wiener „zur alten C. V.-Frage: Ich bin heute noch derselbe, der ich war, trotz meiner Kinder in Israel.“104 Eine erfolgreiche wie friedliche Entwicklung Israels sei deshalb natürlich auch in seinem Interesse.
Phase 4: Rückbesinnung und Neubewertung der C. V.-Praxis im Exil Wie blicken Heinemann Stern und Alfred Wiener nach den zwei grundlegenden Umbrüchen „der jüdischen Gesellschaft im zwanzigsten Jahrhundert – die Vernichtung des Großteils des europäischen Judentums und die Gründung des
100 CAHJP, Tagebuch (wie Anm. 55), 70. 101 Barkai, Wehr dich (wie Anm. 2), 226. 102 Zitiert nach ebd., 344. 103 Ebd. 104 Wiener Library, Correspondence (wie Anm. 1). Sterns Tochter Margarete war bereits 1934 mit 24 Jahren nach Israel in den Kibbutz Dorot ausgewandert.
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Staates Israels“105 – in der zu Anfang angeführten Korrespondenz auf ihre gemeinsame Vergangenheit im C. V. zurück? Stern versichert Wiener zunächst, immer noch derselbe zu sein. „Immer noch Assimilant, habe ich einmal Hirschberg geschrieben.“106 Auch Wieners Antwortbrief bekräftigt den Erhalt seiner Überzeugungen und seine Verbundenheit mit deutscher Kultur: Zur Frage Central-Verein und deutsche Gesinnung: Wir haben unsere Verbundenheit mit der deutschen Kultur und mit der deutschen Arbeit nicht abzuleugnen. Beide waren naturgegeben und koennen nicht trotz furchtbarem Leide ausgeloescht werden, noch wegdiskutiert. Das hoechst Merkwuerdige der Entwicklung ist, dass unsere alten zionistischen Freunde, nachdem der Staat Israel errichtet ist, fuehlen, welche bleibende Erbschaft ihnen die deutsche Kultur vermittelt hat, und dass sie dafuer kaempfen. Es stellt sich heraus, zum mindesten fuer Zentral Europa, dass die tausendjaehrige Verbundenheit mit einem Lande mindestens so stark, wenn nicht noch staerker ist, als das selbstverstaendliche Bekenntnis zu einem Judentum, welcher Art das Bekenntnis auch immer ist. Und in diesem Sinne habe ich auch Verbindung mit anstaendigen Deutschen schon seit mehreren Jahren aufgenommen und pflege sie bewusst und nicht mit schlechtem Erfolg.107
In seiner Antwort skizziert Stern neue Einsichten zur Assimilation und zur Politik des C. V. in diesem Zusammenhang. Er habe schon recht frühzeitig Zweifel an der Praxis des Centralvereins gehabt, die davon ausgehe, Vorurteile durch Aufklärung und vernunftmäßige Argumentation erfolgreich bekämpfen zu können. Die Betonung der Vernunft sei schon ein Grundfehler der Aufklärung gewesen. Irrationale Argumentation könne nur auf der Ebene von Irrationalität wirksam bekämpft werden: Wir brauchen uns gegenseitig nicht unserer treuen Gesinnung zu versichern, da wir beide in unserer ehemaligen Grundanschauung für unsere gemeinsame Arbeit fest verwurzelt waren. Daher will ich beileibe nichts gegen diejenigen gesagt haben, die in jener Anschauung u. Haltung schwankend geworden sind. Denn das ungeheure Erlebnis der Hitlerzeit konnte auch den festesten CVer umwerfen. […] Ueber unsere eigene Politik, d. h. Praxis108 zu sprechen, würde ins Uferlose führen. Nur so viel lassen Sie mich sagen, dass ich schon frühzeitig an ihr irre geworden bin. Es war ein tragischer Irrtum, dass wir uralte, überall wirkende triebmäßige, instinkthafte Gegensätze als Vorurteile bagatellisieren wollten u. daher durch „Aufklärung“, d. h. mit rationalen Mitteln bekämpfen wollten. Damit mussten wir Schiffbruch leiden, wie die gesamte Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts zusammengebrochen ist. Ein Affekt lässt
105 Michael Brenner, Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert. München 2006, 296. 106 Wiener Library, Correspondence (wie Anm. 1). 107 Ebd. 108 Im Original unterstrichen.
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sich nur durch einen anderen Affekt paralysieren, sagt Spinoza in seiner Ethik, u. der ist doch selber ein ausgesprochener Rationalist.
Vor diesem Hintergrund plädiert Stern für ein neues Verständnis von Assimilation im Sinne von Akkulturation und greift damit die Debatte auf, die in den 1930er Jahren im C. V. begonnen wurde:109 – Hier habe ich in unserem engen Kreis mehr Mischehen gefunden als in meinem ganzen Leben drüben. Und seltsam: Man ist in den arischen Kreisen Frauen gegenüber viel toleranter, selbst in betont religiösen u. zionistischen Kreisen, als in dem liberalen Berlin. Erstaunlich auch, wie betont jüdische Männer ohne Schwanken christliche Frauen heiraten, auch Brasilianerinnen. – Können Sie das verstehen? Es ist eine neue Form der Assimilation – u. meiner ketzerischen Meinung nach die einzig wirksame. Sind Sie entsetzt?110
Wiener hat sich zu dieser Meinung in der weiteren Folge des Briefwechsels nie geäußert. Das Thema der Korrespondenz verschiebt sich in den verbleibenden Jahren auf Wieners Bemühungen, einen deutschen Verleger für Sterns Erinnerungen zu finden, die erst sehr viel später, 1970, zum Erfolg führen sollten. Stern hat die Publikation seiner Erinnerungen nicht mehr erleben dürfen. Er starb am 23. Dezember 1957 kurz nach seinem 79. Geburtstag. Wiener kondolierte Johanna Stern mit den Worten: „So steht mir sein Bild Anfang der zwanziger Jahre aus Kattowitz vor der Seele. Wie war er bei allem Stolz auf sein Judentum auf deutschem Boden gewachsen.“111
109 Vgl. dazu z. B. Barkai, Wehr dich (wie Anm. 2), 347 f. 110 Wiener Library, Correspondence (wie Anm. 1). 111 CAHJP, Urkunden und Ehrungen (wie Anm. 26).
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Hans-Joachim Schoeps und der Centralverein „Er ist eine Mischung von preussischem Adligen und Jeschiwebocher, beides im besten Sinne.“1 Mit diesen Worten beschreibt der in Frankfurt an der Oder tätige Rabbiner Ignaz Maybaum (1897–1976)2 1931 in einem Brief an die Berliner Zentrale des Centralvereins den zu diesem Zeitpunkt 22-jährigen Hans-Joachim Schoeps. In den folgenden Zeilen empfiehlt der Rabbiner der C. V.-Führung und den Verantwortlichen des Philo-Verlags die Drucklegung von Schoeps’ Erstlingswerk Jüdischer Glaube in dieser Zeit. Prolegomena zur Grundlegung einer systematischen Theologie des Judentums.3 Bereits drei Jahre zuvor stellt sich der damals 19-jährige Student Schoeps in Eigeninitiative der Redaktion der C. V.-Zeitung vor und bietet der Organisation seine Unterstützung in der Abwehr gegenüber antisemitischen Angriffen und einen von ihm verfassten Artikel zur Weiterverwendung an.4 Während der erste Kontakt trotz eines späteren Empfehlungsschreibens Leo Baecks (1873–1956) zunächst nicht zu einer weiteren Zusammenarbeit führte, belegt die überlieferte und bislang von der Forschung unbeachtet gebliebenen Korrespondenz, dass Schoeps mindestens bis in das Jahr 1934 mit dem Centralverein in Verbindung stand – zunächst als junger Student und potenzieller Mitstreiter, später als Vertreter der von ihm selbst 1933 gegründeten Jugendorganisation Deutscher Vortrupp, Gefolgschaft deutscher Juden (D. V.).5
1 Microfilm at Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem (CAHJP), HM2/ 8735, 1737 CV-files – Korrespondenz mit Hans Schoeps betr. Herausgabe seiner Werke über die Geschichte der deutschen Juden, l. 39. 2 Maybaum war zwischen 1928 und 1936 als liberaler Rabbiner in Frankfurt a. O. tätig und verfasste zahlreiche Beiträge für den Morgen und die C. V.-Zeitung, vgl. Maybaum, Ignaz, Dr., in: Michael Brocke (Hrsg.), Biographisches Handbuch der Rabbiner, Teil 2, Die Rabbiner im Deutschen Reich 1871–1945, Bd. 2. München 2009, 421–423. 3 Vgl. CAHJP, Korrespondenz mit Schoeps (wie Anm. 1), l. 38–40. 4 Vgl. ebd., l. 55. 5 Der Deutsche Vortrupp wurde 1933 in Kassel als deutsch-jüdische, anti-zionistische und deutschnationale Jugendorganisation gegründet, die eine Mitwirkung deutscher Juden im NS-Staat zu Beginn des NS-Regimes für möglich hielt. Die Organisation wurde Ende 1935 zwangsaufgelöst; Schoeps emigrierte 1938 nach Schweden. Vgl. zum Vortrupp Carl J. Rheins, Deutscher Vortrupp, Gefolgschaft deutscher Juden 1933–1935, in: Leo Baeck Institute Yearbook (LBIYB) 26, 1981, 207–229; Chaim Schatzker, The Jewish Youth Movement in Germany in the https://doi.org/10.1515/9783110675535-004
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Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage, wie sich der Centralverein im Kontext öffentlicher und interner Stellungnahmen zu Schoeps positionierte und welche Standpunkte und Personen innerhalb des C. V. das Verhältnis der beiden Akteure zueinander prägten. Hierbei ermöglichen die bisher nicht ausgewerteten Aktenbestände eine Facette des C. V. zu beleuchten,6 die sowohl in den Darstellungen zum Centralverein wie auch in den biographischen bzw. autobiographischen Arbeiten zu Schoeps bislang weitestgehend unbearbeitet geblieben ist.7 Es können dabei drei Phasen voneinander unterschieden werden; während in den ersten beiden Zeiträumen vom Ende der 1920er bis in die frühen 1930er Jahre insbesondere die Abwehrarbeit des C. V. den Hintergrund für den Kontakt der beiden Akteure bildet, gibt die letzte Phase, welche die Jahre 1933–1934 umfasst, einen Einblick in die Verortung des Centralvereins innerhalb der Debatten des zeitgenössischen Judentums der Weimarer Republik.
Unterstützung im Abwehrkampf Der erste in den vorliegenden Akten auszumachende Kontakt zwischen Schoeps und dem C. V. entsteht in den späten 1920er Jahren durch einen Brief des 19-jährigen Studenten an die Redaktion der C. V.-Zeitung. In diesem Schreiben vom 22. August 1928 bietet Schoeps der Redaktion den von ihm verfassten und in der republikanischen Zeitschrift Der Fackelreiter veröffentlichten Artikel „Analysis psychopathika“ zum Nachdruck an, um, wie er selbst formuliert, „das Verbot des ‚Stürmer[s]‘ u. weiterer Hetzblätter durch Zustimmung der C. V.-Zeitung wirkungsvoll zu unterstützen.“8 Wenig später sendet Alfred Hirschberg (1901– 1971), der zu dieser Zeit das „Jugend- und Studentendezernat“ im C. V. betreut,9 Holocaust Period (I): Youth in Confrontation with a New Reality, in: LBIYB 32, 1987, 157–181, hier 178 f. 6 Einleitend zu den Osoby Archives und dem überlieferten C. V.-Archiv vgl. Avraham Barkai, The C. V. and Its Archives. A Reassessment, in: LBIYB 45, 2000, 173–182; Sebastian Panwitz, Zur Geschichte des Sonderarchivs Moskau, in: Bulletin des Deutschen Historischen Instituts Moskau, 2008, 11–20. 7 Dies gilt sowohl für die von Schoeps selbst veröffentlichten Lebenserinnerungen (Hans-Joachim Schoeps, Ja – Nein – und trotzdem. Erinnerungen Begegnungen Erfahrungen, in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. vom Moses Mendelssohn Zentrum, Bd. 15. Hildesheim 2005; Ders., „Bereit für Deutschland!“ Der Patriotismus deutscher Juden und der Nationalsozialismus. Frühe Schriften 1930 bis 1939. Eine historische Dokumentation. Berlin 1970), wie auch für die von Micha Brumlik veröffentlichte Biographie (Micha Brumlik, Preußisch, konservativ, jüdisch. Hans-Joachim Schoeps’ Leben und Werk. Köln 2019). 8 CAHJP, Korrespondenz mit Schoeps (wie Anm. 1), l. 55.
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einen kurzen Brief an Schoeps, in dem er zusagt, „in den nächsten Tagen auf diese wichtige Angelegenheit“ zurückzukommen.10 In der ersten Septemberwoche 1928 erscheint Schoeps in der Berliner Zentrale des Centralvereins und stellt sich den Anwesenden, vermutlich Hirschberg und Hans Reichmann (1900–1964),11 als „Referent für Judaica in der ‚Christlichen Welt‘ des Professor Rahde [sic]“ vor, der sich insbesondere mit „Religionsphilosophie“ und „vergleichende[r] Religionswissenschaft“ auseinandersetze.12 In der vom Centralverein angefertigten Aktennotiz werden im Nachgang dieses ersten persönlichen Treffens insbesondere Schoeps’ gute Kontakte zu protestantischen Theologen und seine „Tätigkeit in der Freien deutschen Jugendbewegung in Verbindung“ lobend hervorgehoben.13 Wohl auch aufgrund dieser Kontakte Schoeps’ setzt sich der C. V. bereits in dieser frühen Phase eingehend mit seinen Schriften auseinander und lässt verschiedene Aufsätze intern prüfen. Besonders der bereits 1927 in der Zeitschrift Junge Menschen erschienene Aufsatz „Vom religiösen Erleben“14 zieht die Aufmerksamkeit der C. V.-Führung auf sich, auch wenn man ihn eher für eine Arbeit von „reproduktive[m] als produktive[m] Charakter“ hält.15 Anfang Februar 1929 sendet die Führung des Centralvereins „auf Veranlassung Hirschberg[s]“ Schoeps’ Aufsatz an den „junge[n] Theologen“ Heinz Graupe,16 der nach der Prüfung des Manuskripts eine Drucklegung empfiehlt. Interessanterweise ordnet Graupe Schoeps dabei als „junge[n] protestantische[n] Theologen aus der Jugendbewegung“ ein,17 in dessen Ausführungen insbesondere der Einfluss der dialektischen Theologie Barths und Gogartens erkennbar sei – eine Verortung, die auch in späteren Rezensionen von Schoeps’ Werken bestimmend wird; die
9 Vgl. dazu Avraham Barkai, „Wehr dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893–1938. München 2002, 164. 10 CAHJP, Korrespondenz mit Schoeps (wie Anm. 1), l. 53. 11 Reichmann war zu dieser Zeit stellvertretender Syndikus des C. V.; vgl. Barkai, Wehr dich (wie Anm. 9), 166. 12 CAHJP, Korrespondenz mit Schoeps (wie Anm. 1), l. 52. 13 Ebd., l. 52. 14 Die Arbeit entstand, wie Stefan Meißner anmerkt, anscheinend noch vor Schoeps’ Abitur als „Jahresarbeit“. Offenbar hatte eine positive Stellungnahme des protestantischen Theologen Adolf Deissmann (1866–1937) auch zur Entscheidung Schoeps’ beigetragen, das Studium der vergleichenden Religionswissenschaft aufzunehmen; vgl. Stefan Meißner, Die Heimholung des Ketzers. Studien zur jüdischen Auseinandersetzung mit Paulus. Tübingen 1996, 76. 15 CAHJP, Korrespondenz mit Schoeps (wie Anm. 1), l. 47. 16 Ebd., l. 41. Ob es sich hierbei um Heinz Moshe Graupe (1906–1997) handelt, kann nicht eindeutig geklärt werden, da keine weitere Korrespondenz vorliegt. 17 Ebd., l. 46.
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falsche religiöse Zuordnung wird vonseiten des Centralvereins dabei nicht näher kritisiert. Rund zwei Wochen nach dem Schreiben Graupes wendet sich Reichmann zudem schriftlich an Baeck um „Euer Ehrwürden auf Schoeps aufmerksam zu machen.“18 Schoeps habe, so Reichmann, zwar nur „wenig Fühlung zu jüdischtheologischen Kreisen“, allerdings hoffe man, dass seine „immerhin wesentliche Aufgabe“ als Referent in der Christlichen Welt „durch eine Fühlungnahme mit den religiösen Führern des deutschen Judentums befruchtet werden“ könne.19 Diese, so die Hoffnung Reichmanns und des Centralvereins, solle durch den Kontakt mit Baeck vorangebracht werden. Baeck schließt sich nach der Lektüre des „vielleicht etwas einseitigen Aufsatz[es]“20 dem positiven Urteil an und bittet den Centralverein schriftlich, ein Treffen mit Schoeps zu arrangieren.21 Trotz dieser vielversprechenden ersten Stellungnahmen Baecks und Graupes bricht die Korrespondenz mit Schoeps im C. V.-Archiv an dieser Stelle ab, so dass in diesem Archivbestand nicht überliefert ist, in welchem Umfang Schoeps in dieser Phase im Rahmen der Abwehrarbeit des Centralvereins tätig wurde.22 Dass der Kontakt zwischen Schoeps und dem C. V. weiterhin bestand, belegt die in der C. V.-Zeitung ausgetragene Kontroverse zwischen Schoeps und Hans Blüher (1888–1955) – Ausgangspunkt dieser publizistischen Auseinandersetzung war die von Schoeps anonym in der C. V.-Zeitung veröffentlichte zweiseitige Rezension von Blühers Werk Die Erhebung Israels gegen die christlichen Güter, auf die eine Erwiderung Blühers folgte.23 Als potenzieller Mitarbeiter des Centralvereins wird er in dieser ersten Phase primär der Abwehrarbeit zugeordnet; einem Arbeitsgebiet, in welchem die Organisation u. a. durch öffentliche Aufklärungsveranstaltungen versuchte, dem gesellschaftlich virulenten Antisemitismus auf der Basis wissenschaftlicher Argumente entgegenzutreten.24 Dabei versuchte der Centralverein seit den späten 1920er Jahren vermehrt, „gemischte Versammlungen“ zu initiieren, an denen 18 Ebd., l. 44. 19 Ebd. 20 Ebd., l. 42. 21 Vgl. ebd. 22 Das letzte für diesen Zeitraum überlieferte Schreiben ist eine von Reichmann verfasste Einladung an Schoeps, Baeck in seiner privaten Wohnung in Berlin zu treffen; vgl. ebd., l. 41. 23 Hans-Joachim Schoeps, Zu Hans Blühers: Die Erhebung Israels gegen die christlichen Güter, in: C. V.-Zeitung, 15.01.1932, 21–22. Die Auseinandersetzung zwischen Blüher und Schoeps wurde zudem 1933 unter dem Titel „Streit um Israel. Ein jüdisch christliches Gespräch“ veröffentlicht. 24 Zur Abwehrarbeit, Aufklärung und Apologetik und dem Wandel dieser Tätigkeitsfelder während der späten 1920er Jahre vgl. Barkai, Wehr dich (wie Anm. 9), 38 f., 187–191; Anna Ullrich, Von „jüdischem Optimismus“ und „unausbleiblicher Enttäuschung“. Erwartungsma-
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sowohl jüdische wie auch eine kleinere Anzahl christlicher Gäste teilnehmen konnten.25 Neben diesen Veranstaltungen zählten zum Bereich Abwehrarbeit auch die explizit für nicht-jüdische Kreise gestaltete Monatsausgabe der C. V.Zeitung sowie ein beständig anwachsender Kanon an Aufklärungsliteratur, der primär im Philo-Verlag veröffentlicht wurde.26
Die Veröffentlichung der Prolegomena im Philo-Verlag Durch ein ausführliches Empfehlungsschreiben des eingangs bereits zitierten Rabbiners Maybaum im Oktober 1931 treten der C. V. und Schoeps erneut miteinander in Kontakt. Ausgangspunkt ist dabei Maybaums Lektüre von Schoeps’ Arbeit Bemerkungen zur Grundlegung einer systematischen Theologie, welche Maybaum Hirschberg zum Druck im Philo-Verlag empfiehlt.27 Es schließt sich eine ausführliche Darstellung des Charakters und bisherigen Wirkens Schoeps’ an, im Zuge dessen Maybaum prognostiziert, „dass sich in diesem 22jährigen eine grosse Zukunft eröffnet [...].“28 Wie bereits im Gutachten von Graupe hebt auch Maybaum Schoeps’ gute Vernetzung in den Kreisen protestantischer Theologen positiv hervor. Dabei scheint Schoeps selbst zu dieser Zeit, wie Maybaum konstatiert, nur wenig Zweifel an seiner beruflichen Zukunft anzumelden: „Er will Theologe sein.“29 Nachhaltig beeindruckt zeigt sich Maybaum von dem jungen Doktoranden in der Rolle als Vermittler zwischen christlichen und jüdischen Kreisen. In einer Diskussion „im kleinen Kreis“ sei es ihm nicht nur gelungen, Franz Rosenzweig als „Juden preussischer Prägung“ in die Diskussion einzubringen, er habe darüber hinaus eine anwesende deutschnationale Reichstagsabgeordnete von seinagement deutsch-jüdischer Vereine und gesellschaftlicher Antisemitismus 1914–1938. Berlin/ Boston 2019, 174–192. 25 Ullrich, Von jüdischem Optimismus (wie Anm. 24), 181. 26 Zum Philo-Verlag vgl. Susanne Urban-Fahr, Der Philo-Verlag 1919–1938. Abwehr und Selbstbehauptung. Hildesheim 2001. 27 In Frage kommen nach Maybaum auch die von Baeck initiierte Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums und die von Maybaum und Bamberger herausgegebene Zeitschrift für jüdische Theologie; vgl. CAHJP, Korrespondenz mit Schoeps (wie Anm. 1), l. 38. Zum Verhältnis von Schoeps zum Werk Salomon Ludwig Steinheims (1789–1866), dem er das Werk widmet, vgl. Gary Lease, Salomon Ludwig Steinheim’s Influence: Hans Joachim Schoeps, A Case Study, in: LBIYB 29, 1984, 383–402. 28 CAHJP, Korrespondenz mit Schoeps (wie Anm. 1), l. 39. 29 Ebd.
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nem Standpunkt überzeugen können.30 Maybaum hält sodann fest, dass „die von Schoeps unter der Hand geleistete Abwehrarbeit nicht zu unterschätzen“ sei und man bei einer Veröffentlichung seiner Schrift im Philo-Verlag mit einem „starken Absatz in christlichen Kreisen“ und „ausführlichen Besprechungen“ in einschlägigen christlichen Zeitschriften rechnen könne.31 Ähnlich erfolgreich sei, so Maybaum, auch die von Schoeps geleistete Abwehrarbeit innerhalb der allgemeinen deutschen Jugendbewegung – auch hier sei er „antisemitischen Regungen mit Erfolg“ entgegengetreten.32 Im Empfehlungsschreiben Maybaums finden sich so diejenigen Zuordnungen wieder, welche bereits in der Phase der ersten Kontaktaufnahme hervorgehoben werden – die Nähe zu christlichen Theologen, die profunden Kenntnisse im Bereich der protestantischen Theologie und der bereits geleistete große Beitrag in der Abwehrarbeit. Dabei erscheint er nicht nur als Vermittler zwischen jüdischen und christlichen Kreisen, sondern darüber hinaus auch als Mitstreiter im Abwehrkampf innerhalb der allgemeinen Jugendbewegung, die in der Weimarer Republik zum gesellschaftlichen Massenphänomen avancierte und als Ort der Identitätsbildung für deutsch-jüdische Jugendliche und junge Erwachsene zunehmend auch die Aufmerksamkeit der C. V.-Führung auf sich zog. Nach dem Schreiben Maybaums wird Schoeps abermals in die Berliner Zentrale eingeladen und hinterlässt bei den anwesenden C. V.-Funktionären Hirschberg und Ludwig Tietz (1879–1933) offenbar erneut einen positiven Eindruck.33 Im Nachgang des Treffens wendet sich Schoeps schriftlich an Hirschberg, um sich über den Stand der Verhandlungen und die Chancen einer Veröffentlichung seiner theologischen Schrift im Philo-Verlag zu erkundigen. Wie zuvor Maybaum hebt er selbst dabei seine guten Kontakte zu christlichen Theologen und entsprechenden Zeitschriften hervor und garantiert Rezensionen in „ca. 15 christliche[n], z. T. theologische[n] Fach-Zeitschriften.“34 Trotz dieser erneuten Werbung Schoeps’ und dem „ausserordentlich[en]“ Interesse Hirschbergs an dem Werk nehmen der Philo-Verlag und der C. V. zunächst Abstand von einer Veröffentlichung.35 Dabei wird zu diesem Zeitpunkt die Befürchtung geäußert, dass die Schrift dem Centralverein „starke innere Schwierigkeiten bereiten
30 Ebd., l. 40. Maybaum spricht von einer „Dame […] namens Magda von Trilling.“ Gemeint ist hier wohl die Religionspädagogin und DNVP-Reichstagsabgeordnete Magda von Tiling (1877– 1974), die auch im 1930 gewählten preußischen Reichstag vertreten war. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd., l. 33. 34 Ebd. 35 Ebd., l. 31.
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könnte.“36 Nichtsdestotrotz beteuert Hirschberg in seinem Schreiben an Schoeps, dass diese Entscheidung nicht den „Schreibtischschubladentod“ der Arbeit bedeuten müsse und sendet zusätzlich zu dem offiziellen Schreiben auch „einige private Zeilen“ an Schoeps.37 In diesen versucht Hirschberg ihn von der Mitarbeit in einer C. V.-internen Diskussionsrunde, dem „Kreis 31“,38 zu überzeugen, welcher sich der „Klärung [der] […] gegenwärtigen jüdischen und deutschen Problematik“39 widme und in unregelmäßigen Abständen in Berlin zusammenkomme.40 Auch wenn aus den Akten und der Korrespondenz keine weiteren Informationen über den Kreis hervorgehen, wird anhand der Einladung ersichtlich, dass Hirschberg unabhängig von einer möglichen Publikation im Philo-Verlag darum bemüht war, Schoeps zumindest informell in die Arbeit des C. V. miteinzubeziehen. Diese Wertschätzung kommt auch in einer internen Aktennotiz zum Ausdruck, in welcher Hirschberg festhält: „Die Verbindung Schoeps/C. V. erscheint mir sehr wünschenswert.“41 So prüfte die C. V.-Führung anscheinend weiter die Möglichkeit einer Veröffentlichung und erbat von Rabbinern aus dem Kreis des Centralvereins Stellungnahmen und Gutachten zu Schoeps’ Manuskript. Dabei wurden neben dem bereits im Kontext des Stürmer-Artikels kontaktierten Baeck auch die Rabbiner Hugo Hahn (1893–1967) und Felix Goldmann (1882–1934), der „generationenverbindende[] Ideologe des Centralvereins“42, um eine Stellungnahme gebeten.43 Insbesondere die Fürsprache Baecks, der das Werk als „wertvolle Leistung eines jungen Menschen“ einstuft, 44 scheint den C. V. und die Führung des Philo-Verlags überzeugt zu haben. Nach langer Korrespondenz, Telefonaten und persönlichen Treffen einigen sich Schoeps und der Philo-Verlag im Februar 1932 auf die Drucklegung seiner 36 Ebd., l. 32. 37 Ebd., l. 29. 38 Ebd., l. 25–26. 39 Ebd., l. 29. 40 Eine Einladung zu einem Vortrag vor diesem Kreis war anscheinend bereits unmittelbar nach dem Treffen in Berlin von Hirschberg an Schoeps ergangen, vgl. ebd, l. 33. Den von Schoeps vorgeschlagenen Termin an einem Freitagabend lehnt Hirschberg allerdings „aus traditionellen Gründen“ ab. Die Schwierigkeiten, einen Termin zu finden, an dem alle wichtigen Mitglieder dem Vortrag beiwohnen konnten, führte dazu, dass der Vortrag erst 1932 stattfinden konnte, vgl. ebd., l. 34. 41 Microfilm at CAHJP, HM2/8737, 1773 CV-files – Korrespondenz mit dem Philo-Verlag und Hans Schoeps betr. Verbreitung seiner Broschüre „Der jüdische Glaube in der Gegenwart“, l. 178. 42 Barkai, Wehr dich (wie Anm. 9), 158. 43 Vgl. CAHJP, Korrespondenz mit dem Philo-Verlag (wie Anm. 41), l. 178. 44 Vgl. ebd., l. 177.
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Schrift als Kommissionsgeschäft, im Zuge dessen Schoeps sich verpflichtet, „sämtliche Druck- und Herstellungskosten“ zu übernehmen und zudem den Druck des Werkes selbst zu organisieren.45 Im Gegenzug sichert der Philo-Verlag zu, das Werk in Sammelanzeigen in der C. V.-Zeitung mehrfach zu bewerben und „alles [zu] tun, um den Absatz trotz der katastrophalen Wirtschaftslage zu fördern.“46 Wohl nicht zuletzt aufgrund der für den Verlag besonders günstigen Konditionen und des kurz zuvor publizierten Streitgesprächs zwischen Blüher und Schoeps in der C. V.-Zeitung rechnete Hirschberg damit, dass „unter Umständen sogar ein kleines Geschäft für den Philo-Verlag zu erwarten“ sein könne.47 Trotz der Bemühungen Schoeps’ und des Centralvereins, ein möglichst großes Publikum mit Ansichts- und Rezensionsexemplaren zu bedenken, scheint die Rückmeldung auf seine Schrift zunächst eher verhalten. Exemplarisch kann das Presseecho anhand dreier prominenter Rezensionen in der C. V.-Zeitung, der Bayrischen Israelitischen Gemeindezeitung und der Jüdischen Rundschau beleuchtet werden. Ludwig Feuchtwangers (1885–1947) Rezension erscheint in der ersten Juniausgabe 1932 der Bayrischen Israelitischen Gemeindezeitung und kritisiert insbesondere den spürbaren Einfluss der „literarischen Erzeugnisse des antiliberalen Protestantismus“ auf Schoeps’ Schrift, der dazu führe, dass sich das Werk „bis zur Unerträglichkeit“ an Denkfiguren und Vokabular protestantischer Theologen orientiere.48 Die durchaus vorhandenen positiven Aspekte, wie beispielsweise die umfassende Bibliographie, rückten darüber in den Hintergrund, so dass Feuchtwanger nicht zuletzt am Philo-Verlag herbe Kritik äußert: „Diejenigen, die dem Verfasser zu der verfrühten Publikation verhalfen und geraten haben, taten ihm, fürchte ich, keinen guten Dienst.“49 Eine Kritik an Schoeps’ nur lückenhafter Kenntnis des traditionellen Schrifttums äußert auch Gershom Scholem (1897–1982) in seinem im gleichen Jahr publizierten „öffentlichen Brief an Schoeps“. Scholem merkt darüber hinaus an, dass der Autor sich vom zeitgenössischen Protestantismus so sehr beeinflussen lasse, dass seine „Fragestellungen sich von der dort herrschenden Problemlage mehr vorschreiben lassen als gut“ sei.50 Ähnlich äußert sich im April des Jahres auch der frühere Unter45 Vgl. ebd., l. 172–173. Schoeps vergewissert sich, dass die Form des Kommissionsgeschäftes äußerlich nicht zu erkennen ist: „Auf den Umschlag kommt die regelrechte Verlagsangabe – aber ohne Zusatz: In Kommission gegeben oder ähnlich“; ebd., l. 171. 46 Vgl. ebd., l. 172–173. 47 Ebd., l. 178. 48 Ludwig Feuchtwanger, Jüdischer Glaube in dieser Zeit. Der Versuch einer neuen jüdischen Glaubenslehre, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, 01.06.1932, 165–167, hier 166. 49 Ebd, 167. 50 Gershom Scholem, Offener Brief an den Verfasser der Schrift „Jüdischer Glaube in dieser Zeit.“, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, 15.08.1932, 241–244, hier 243.
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stützer Maybaum,51 der Schoeps zwar eine „tiefe Kenntnis der protestantischen Problematik der Gegenwart“ zugutehält, darüber hinaus allerdings auch das Unvermögen attestiert, dieses Wissen fruchtbar auf das Judentum zu übertragen, denn, so Maybaum: „Was rabbinisches Judentum ist, davon hat Schoeps auch nicht die blasseste Vorstellung.“52 Besonders bemerkenswert erscheint zudem der abschließende Satz Maybaums, in dem dieser sich gegen jeden Versuch „‚neues Judentum‘ zu schaffen“ ausspricht.53 Dies könnte nicht zuletzt als Verweis auf die C. V.-intern geführten Debatten um das Werk Schoeps’ gelesen werden. Hahn, der das Buch für die C. V.-Zeitung bespricht, äußert in einem internen Schreiben, dass in Schoeps’ Werk zum ersten Mal „von der ‚neuen Religion‘“ gesprochen werde und er in seiner Rezension den Versuch unternommen habe, den „Lesern der C. V. Zeitung einmal einen Begriff davon zu geben, wie sich die Weltenwende […] auch auf dem religiösen Gebiet abspielt.“54 In der abgedruckten Rezension benennt der Essener Rabbiner zwar durchaus auch die Vorzüge der Arbeit und stuft sie als „beachtenswerten Beitrag zur jüdisch-religiösen Situation unserer Zeit“ ein,55 es überwiegt aber deutlich spürbar der Versuch, sich von Werk und Inhalt abzugrenzen. Ein Hinweis darauf, dass der C. V. in der Auseinandersetzung mit Schoeps’ Werk darauf bedacht war, seine Rolle als innerjüdisch weitestgehend überparteiliche Organisation nicht zu gefährden.56 Anders als im ersten dargestellten Zeitabschnitt begegnet Schoeps in dieser Phase weniger als potentieller Multiplikator der C. V. -Ideologie in nicht-jüdischen Kreisen, sondern vielmehr als Teil der vielfältigen zeitgenössischen Debatten um Gestalt und Inhalte der vom Centralverein vertretenen deutschjüdischen Identität.57
51 Ignaz Maybaum, Das Konsistorium des Israel Jacobsohn. Anmerkungen zu einer Schrift aus dem Jahre 1932, in: Jüdische Rundschau, 20.04.1932, 153. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 CAHJP, Korrespondenz mit dem Philo-Verlag (wie Anm. 41), l. 73. 55 Hugo Hahn, Joachim Schoeps: „Jüdischer Geist in dieser Zeit.“, in: C. V.-Zeitung, 24.06.1932, 266–267. 56 Das Werk wurde von den Zeitgenossen trotz allem anscheinend primär dem C. V. zugerechnet; vgl. Schalom Ben-Chorin, In memoriam Hans-Joachim Schoeps. Die frühen Jahre, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 32, 1980, 301–305, hier 301. 57 Vgl. dazu u. a. Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München 2000, 50. Dies hängt, wie auch Brenner anmerkt, eng mit dem Wandel des C. V. vom Abwehrverein zum Gesinnungsverein zusammen, vgl. dazu u. a. Barkai, Wehr dich (wie Anm. 9), 42; Michael Brenner, Central-Verein, in: Dan Diner (Hrsg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 1. Stuttgart 2011, 480–484, hier 482.
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Der C. V. und der Vortrupp Im weiteren Kontext dieser Debatten ist auch die dritte Phase, die im Zuge dieser Darstellung in den Blick genommen wird, anzusiedeln. Anders als zuvor tritt Schoeps nun primär als Bundesführer des Vortrupps mit dem Centralverein in Kontakt. Der C. V., der während der Weimarer Republik verschiedene ihm ideologisch nahestehende deutsch-jüdische Jugendorganisationen unterstützt hatte,58 verkündete zum Jahreswechsel 1933/34 seine Unterstützung für den neu zusammengeschlossenen Bund deutsch-jüdischer Jugend (B. d. j. J.).59 Als „offizielle Nachwuchsorganisation“ des Centralvereins wurde der Bund von diesem Zeitpunkt an in den eigenen Reihen innerhalb der C. V.-Zeitung und internen Rundbriefen an die Ortsgruppen und Landesverbände beworben.60 Im Rahmen dieses Engagements des Centralvereins in der Jugendarbeit ist auch die Auseinandersetzung mit Schoeps und dem Vortrupp in dieser Phase einzuordnen. Als Vertreter des Vortrupps verhandelt Schoeps mit der C. V.-Führung über finanzielle und ideologische Unterstützung und tritt ab 1933 mehrfach schriftlich mit Hirschberg in Kontakt, zudem dokumentieren die Akten weitere persönliche Treffen und Telefonate. Aus einer solchen persönlichen Zusammenkunft zwischen Schoeps, Hirschberg und Leo Löwenstein (1879–1956) als Vertreter des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten (RjF) geht anscheinend die finanzielle Subvention bzw. das Darlehen hervor, dass dem Vortrupp vonseiten des C. V.
58 Vgl. Barkai, Wehr dich (wie Anm. 9), 142–149. 59 Der B. d. j. J. wurde im Dezember 1933 in Lehnitz gegründet und war ein Zusammenschluss deutsch-jüdischer, nicht-zionistischer Jugendgruppen. Zu ihnen gehörten die u. a. in Hamburg bestehenden C. V.-Jugendgruppen, die Deutsch jüdische Jugendgemeinschaft (DJJG), die Liberalen Jugendgruppen (Ili) und der Ring. Bund deutsch-jüdischer Jugend. 1934 traten nach der Auflösung auch Teile des Schwarzen Fähnleins bei. Ab 1936 war der Bund gezwungen sich umzubenennen und agierte bis zu seiner Zwangsauflauflösung durch das NS-Regime im Dezember 1936 unter dem Namen Ring. Bund jüdischer Jugend. Vgl. Glenn R. Sharfman, The Dilemma of German-Jewish Youths in the Third Reich. The Case of the Bund deutsch-jüdische Jugend 1933–1935, in: Shofar 16, 1998, 28–41; Lothar Bembenek, Werner T. Angress, Paul Yogi Mayer und Guy Stern, in: Barbara Stambolis (Hrsg.), Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen. Göttingen 2013, 69–88; Bund deutsch-jüdische Jugend. Gründungstagung in Lehnitz, in: C. V.-Zeitung, 29.12.1933. 60 Microfilm at CAHJP, HM2/8729, 1531 CV-Papers – Korrespondenz mit dem CV-Landesverband Rheinland-Westfalen betr. propagandistische Arbeit unter der Jugend, l. 1.
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und des RjF zur „Flottmachung des Vortrupp-Verlages“61 gewährt wurde.62 Neben diesem Ersuchen um finanzielle Unterstützung tritt Schoeps auch mit der Bitte um ideologische Unterstützung an den Centralverein heran und richtet wiederholt entsprechende Anfragen an die Berliner Zentrale, die sich nach der Bewerbung von Publikationen des Vortrupp-Verlages oder nach der Möglichkeit eines gemeinsamen Versands von C. V.-Zeitung und Vortrupp-Heft erkundigen. Schoeps merkt dazu gegenüber Hirschberg an: „Es wäre schön, wenn der Vortrupp in der C. V. Zeitung nicht mehr totgeschwiegen werden würde!“63 Die C. V.-Führung lehnt diese Anfragen in der Mehrzahl der Fälle ab;64 so komme beispielsweise eine „Versendung des ‚Vortrupp-Heftes‘ an die Ortsgruppen des C.-V. durch unsere Organisation […] nicht in Frage.“65 Ebenso wird von Hirschberg der intern kommunizierte Vorschlag einer engeren Zusammenarbeit der „in gleiche[] Richtung marschierenden Verbände[]“ mit Nachdruck abgelehnt.66 Diese von Schoeps vorgeschlagene Kooperation von C. V. und Vortrupp sah u. a. vor, einen „jüngeren Führer des C. V.“ in die Redaktion der VortruppHefte mit aufzunehmen und die Zeitschrift so „langsam zum Sprachrohr der jungen Generation in allen politischen Verbänden“ auszubauen.67 Schoeps’ Plan sah im Gegenzug für den so gewährten „Einfluss auf die positive Gestaltung“ eine monatliche Zahlung des Centralvereins an den Vortrupp in Höhe von 200,RM vor,68 ein Angebot, das Hirschberg entrüstet ablehnt.69 Rund zwei Wochen nach diesem Angebot Schoeps’ wird der Berliner Zentrale von der Hamburger 61 Microfilm at CAHJP, HM2/8739, 1845 CV-files – Korrespondenz mit dem „Vortrupp-Verlag“, den CV-Landesverbänden und Mitgliedern des CV u. a. betr. gemeinsame propagandistische Tätigkeit des „Vortrupp-Verlags“ und des CV, l. 28. 62 Zusätzlich zu diesem Darlehen gewährte der C. V. dem Vortrupp eine einmalige Subvention in Höhe von 225,- RM; vgl. ebd., l. 22. 63 Ebd., l. 116. 64 Einer Notiz aus dem Jahr 1936 ist zu entnehmen, dass eine solche Zusammenarbeit zumindest potenziell auf lokaler Ebene bestand, über die tatsächliche Umsetzung dieses Vorhabens finden sich allerdings keine Belege. In der Notiz heißt es: „Es wird vereinbart, dass Prospekte des [Vortrupp-]Verlages gelegentlich von Massenversendungen an Landesverbände oder aber an Funktionäre des L. V. Gross-Berlin beigelegt werden sollen“; ebd., l. 2. 65 Ebd., l. 81. 66 Microfilm at CAHJP, HM2/8747, 2005 CV-files – Korrespondenz mit der Union deutscher Juden in Hessen-Nassau und Hessen betr. den „Deutscher Vortrupp“ etc., l. 12. Die Pläne hingen wohl auch direkt mit dem von Schoeps anvisierten Aufbau einer „deutschjüdischen Einheitsfront“ u. a. bestehend aus Vortrupp, C. V. und RjF zusammen, vgl. ebd., l. 15. 67 Ebd., l. 12. Von Schoeps wurde der Syndikus des Münchener C. V. Werner Cahnmann (1902– 1980) vorgeschlagen. 68 Ebd. 69 Hirschberg antwortet: „Sie haben, lieber Schoeps, anscheinend keinen rechten Eindruck von dem, was heute, in einer jüdischen Organisation RM 200,- bedeuten“; ebd., l. 11.
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C. V.-Ortsgruppe ein, wohl für den internen Gebrauch erstelltes, Protokoll der „Gespräche der Hamburger Gefolgschaft des D. V. vom 16. Januar 1934“ zugesendet.70 Unter dem Punkt „Die Krankheit der heute bestehenden Organisationen“ wird dem C. V. attestiert, dass „der Zusammenbruch der Idee […] gleichzeitig mit dem praktischen Versagen“ erfolgt sei und nun eine „vorzüglich auswertbare Organisation“ zurückbleibe, derer sich der Vortrupp plane anzunehmen.71 Trotz dieser Polemik, die von der Berliner Zentrale unbeantwortet bleibt, belegt die Korrespondenz zwischen den beiden Organisationen, dass im Verlauf des Jahres 1934 die Möglichkeit einer engeren Zusammenarbeit diskutiert und geprüft wurde. Wie einem Schreiben von Schoeps zu entnehmen ist, gab es seitens der Führung des Centralvereins Pläne, Schoeps und den Vortrupp für die religiöse „Schulung der B. d. j. J. Führer“ einzusetzen.72 Das Vorhaben einer geplanten Kooperation und entsprechende Annäherungsversuche des Vortrupps führten aber umgehend zu Protesten auf Seiten des Bundes. So berichtet Schoeps im selben Brief, dass einem engen Mitarbeiter bei einer Veranstaltung des B. d. j. J. „auf die unhöflichste Weise mitgeteilt“ wurde, dass seine Anwesenheit „höchst unerwünscht sei.“73 Zudem sei Martin Sobotker (1899–1977), einer der Führer des Bundes,74 Schoeps gegenüber vehement gegen eine solche Kooperation eingetreten und hätte versucht, „jedes Näherkommen systematisch zu unterbinden.“75 Das von Schoeps eingeforderte Entschuldigungsschreiben bleibt ebenso aus wie die zur Bedingung der weiteren Zusammenarbeit gemach-
70 Ebd., l. 3. 71 Ebd. Ähnliche Stellungnahmen finden sich auch in der ersten Ausgabe der Vortrupp-Hefte. Dort heißt es, diesmal ohne Angabe von Namen: „Darum proklamieren wir den Aufbruch einer dritten Front im Judentum, den Aufbruch der jungen Generation, die quer durch die überalterten Organisationen hindurch sich auf Grund ihrer bündischen Haltung zur sachlichen Aufbauarbeit zusammenfindet und über die Verbände einer vergangenen Zeit hinwegschreitet.“ Dem Vortrupp die Führung, in: Der deutsche Vortrupp. Blätter einer Gefolgschaft deutscher Juden, Oktober 1933, 8–11, hier 9. 72 CAHJP, Korrespondenz mit dem Vortrupp-Verlag (wie Anm. 61), l. 123. Hervorgegangen waren diese Pläne wohl aus einem persönlichen Treffen Hirschbergs, Brodnitz’ und Schoeps’; vgl. ebd. 73 Ebd. 74 Martin Sobotker war Mitbegründer der Kameraden und später in der DJJG aktiv. Ab 1933 war er als Direktor des Jugendpflege- und Jugendwohlfahrtsdezernats der Jüdischen Gemeinde Berlin tätig, vgl. Sobotker, Martin, in: Werner Röder/Herbert A. Strauss (Hrsg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Band I: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben. München 1999, 707; Bernhard Trefz, Jugendbewegung und Juden in Deutschland. Eine historische Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung des Deutsch-Jüdischen Wanderbundes ‚Kameraden‘. Frankfurt a. M. 1999, 183. 75 CAHJP, Korrespondenz mit dem Vortrupp-Verlag (wie Anm. 61), l. 123.
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te Erklärung über die künftige Zusammenarbeit der Organisationen.76 Trotz allem sendet der „Theologische Arbeitskreis für jüdische Erneuerung im Deutschen Vortrupp“ ab Januar 1935, wohl auch zur Prüfung einer solchen Kooperation, „Vorschläge zur Schabbosgestaltung“ an den C. V., die neben entsprechenden Textpassagen auch vertiefende Sekundärliteratur, Abbildungsvorschläge und ein musikalisches Rahmenprogramm umfassten.77 Eine Aktennotiz belegt die vom C. V. intern geäußerten Zweifel an der möglichen praktischen Umsetzung und der Attraktivität der Vorschläge für die Gruppen des Bundes. So sei etwa die geplante musikalische Gestaltung auf ein „Kammertrio“ angewiesen und dementsprechend „für die Gruppen des Bundes nicht recht zugeschnitten.“78 Dagegen zeuge die angegebene Literatur zwar von „guter Literaturkenntnis“, es fehle aber „erstaunlicherweise […] vielfach das deutschkulturelle Moment darin.“79 Wohl auch aufgrund des deutlichen Widerstands aus den Reihen des Bundes und den internen Äußerungen aus den Reihen des Vortrupps wandelt sich das Verhältnis der beiden Organisationen in den 1930er Jahren deutlich. Ende 1934 ergeht so vonseiten des Centralvereins das Verbot einer doppelten Mitgliedschaft für die Führer des B. d. j. J.80 – zuvor war bereits ein ‚Verkehrsverbot‘ zwischen Vortrupp und Bund ausgesprochen worden.81 Im Nachgang dieser Anordnung zeigt sich der C. V. als Organisation darum bemüht, sich mit Nachdruck von Schoeps und dem Vortrupp zu distanzieren. In Beantwortung eines Schreibens des Badischen Landesverbands des Centralvereins betont Hirschberg dem folgend, dass es „sachlich und persönlich“ keinerlei Verbindung zwischen 76 Ebd., l. 123–124. 77 Ebd., l. 51. Der theologische Arbeitskreis im Vortrupp wurde bereits 1933 initiiert und sah seine Aufgabe u. a. in der Prüfung und Vorbereitung der „autoritären Neugliederung“ der jüdischen Gemeinden im NS-Deutschland. Dem Vortrupp bzw. Schoeps zufolge sollte diese durch die Wiedereinführung des „altjüdische[n] Prinzip[s] des starken Rabbinats mit richterlichen Befugnissen“ begonnen werden, das auch das Recht haben müsse „Personen, […] die sich also judentumsfeindlichen Mächten verschrieben haben […] aus der jüdischen Religionsgemeinschaft auszuschließen“; Dem Vortrupp die Führung (wie Anm. 71), 9 f. Die angestrebte Umstrukturierung der jüdischen Gemeinden und die damit einhergehende Wiederherstellung der „frühere[n] autoritäre[n] Stellung“ des Rabbiners wird auch von Hahn in einem Beitrag im Morgen positiv angemerkt. Nichtsdestotrotz kommt er zu dem abschließenden Fazit: „Bei aller Achtung vor dem ehrlichen Willen des Vortrupp, der deutschen Judenheit den Marsch ins neue Deutschland zu erleichtern, müssen wir aus jüdischem Verantwortungsgefühl erklären: Das ist nicht der Weg.“; Hugo Hahn, Der Vortrupp, in: Der Morgen 9, 1933, 386–387. 78 CAHJP, Korrespondenz mit dem Vortrupp-Verlag (wie Anm. 61), l. 54. 79 Ebd. 80 Ebd., l. 67–68. Ende 1934 wurde dieses Verbot auf alle Mitglieder ausgeweitet, vgl. Vom Wesen des deutschen Judentums, in: C. V.-Zeitung, 20.12.1934. 81 CAHJP, Korrespondenz mit dem Vortrupp-Verlag (wie Anm. 61), l. 30.
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B. d. j. J. und Vortrupp gebe, und dass auch zwischen C. V. und Vortrupp, trotz persönlicher Beziehung zwischen Hirschberg und Schoeps, „keinerlei organisatorische Verbindung“ bestehe.82 Ähnlich positioniert sich Hirschberg auch in einem Schreiben an den früheren Syndikus des Berliner C. V., Kurt Alexander (1892–1962),83 dem gegenüber er äußert, dass, insofern sich der Vortrupp nicht „in einem starken Maße“ wandle, eine Zusammenarbeit mit dem Centralverein völlig undenkbar sei.84 Auch von der Person Schoeps distanziert sich Hirschberg intern nun mit deutlichen Worten: „Schoeps ist ein Einspänner, der […] von sehr wesentlichen Fragen des deutschen Judentums kaum eine hinreichende Kenntnis und Vorstellung hat.“85 Die zu Beginn der 1930er Jahre angedachte Mitarbeit Schoeps’ in der Abwehrarbeit scheint in dieser Phase keinerlei Rolle mehr für die Führung des Centralvereins zu spielen. Dies ist wohl nicht zuletzt auch auf die Erfahrungen mit Schoeps als Redner zurückzuführen, welche die Erwartungshaltung anscheinend nicht erfüllen konnten. So gibt Hirschberg nach einem in Hamburg gehaltenen Vortrag gegenüber Schoeps unumwunden zu, dass „ein erheblicher Teil des Publikums“ seinen Ausführungen „nicht recht zu folgen vermocht [habe]“ und er deshalb für Vorträge vor größerem Publikum in naher Zukunft nicht in Frage käme.86
Fazit Die Beziehung zwischen der Berliner C. V.-Führung und Schoeps wandelt sich innerhalb der sechs Jahre der Zusammenarbeit, die im Rahmen dieses Beitrags in den Blick genommen wurden, grundlegend. Während innerhalb des Centralvereins anscheinend lange die Hoffnung bestand, in Schoeps einen jugendlichen Verfechter der vom Centralverein vertretenen deutsch-jüdischen Ideologie und gut vernetzten Mitstreiter im Abwehrkampf gefunden zu haben, offenbaren 82 Ebd., l. 71. 83 Kurt Alexander war zwischen 1919–1921 Syndikus des Berliner Centralvereins und Chefredakteur des Vereinsorgans Im deutschen Reich; vgl. Dr. jur. Kurt Alexander, in: Joseph Walk (Hrsg.), Kurzbiographien zur Geschichte der Juden 1918–1945. München 1988, 6; Barkai, Wehr dich (wie Anm. 9), 399 f. 84 CAHJP, Korrespondenz mit der Union deutscher Juden (wie Anm. 66), l. 28. Dabei kritisiert Hirschberg auch mit deutlichen Worten die weiterhin bestehende Kooperation zwischen RjF und Vortrupp: „Wenn der RJF meint, sich diese Bettgenossen leisten zu können, so ist das seine Sache. Ich würde Sie jedoch sehr gern vor den Konsequenzen einer solchen Kompagnie bewahrt wissen.“ Ebd., l. 30. 85 CAHJP, Korrespondenz mit dem Vortrupp-Verlag (wie Anm. 61), l. 87. 86 Ebd., l.112.
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die späteren Aktenbestände eine deutliche Distanz zwischen beiden Akteuren. Diese hängt einerseits eng mit Schoeps’ Engagement in der deutsch-jüdischen Jugendbewegung und der Gründung des Vortrupps zusammen, dessen ideologische Haltung und deren Führungsanspruch der C. V. nicht teilen konnte; andererseits aber auch mit der ab 1933 notwendig gewordenen Neuorientierung des Centralvereins und der Unmöglichkeit, die bis dato organisierte Abwehr- und Aufklärungsarbeit im NS-Staat fortzusetzen.87 Dabei genoss Schoeps trotz allem lange die Unterstützung Hirschbergs, mit dem ihn wohl auch eine persönliche Freundschaft verband. Andere wichtige Fürsprecher aus den Reihen des Centralvereins, die ihn im Kontext der Veröffentlichung seines Erstlingswerks im Philo-Verlag unterstützten, waren die im C. V. engagierten Rabbiner Baeck, Maybaum und Hahn, welche trotz mancher kritischer Anmerkungen intern seine Schrift lobten, vereinzelt später aber auch öffentlich Schoeps’ mangelnde Kenntnis der jüdischen Religion beklagten. Ungeachtet der offen vorgetragenen Kritik am Centralverein und dem Philo-Verlag, welche die Veröffentlichung von Schoeps’ Werken hervorriefen, brach der Kontakt auch in den kommenden Jahren nicht ab. Dabei ist die 1933 vom C. V. gewährte finanzielle Unterstützung für den Vortrupp-Verlag wohl erneut primär dem Einsatz Hirschbergs zu verdanken. Mit der Gründung des Bundes und der Unterstützung als offizielle Nachwuchsorganisation des C. V. distanziert man sich sowohl intern wie auch öffentlich zunehmend und mit Nachdruck von Schoeps und dem Vortrupp.
87 Zur späten Phase des C. V. vgl. Johann Nicolai, „Seid mutig und aufrecht!“ Das Ende des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1933–1938. Berlin 2016.
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Eva Reichmann – Plädoyers für jüdisches Leben im frühen NS-Deutschland Einleitung Im Jahr 1933 konzentrierte der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) seine Strategien der politischen und öffentlichen Einflussnahme gegen die ‚Judenpolitik‘ der nationalsozialistischen Regierung und übergab der jungen Nationalökonomin Eva Gabriele Reichmann1 und dem Germanisten Hans Bach2 die Leitung des kleinen deutsch-jüdischen Kulturmagazins Der Morgen. Die Zeitschrift trug nicht nur durch die Zusammenstellung und Auswahl der Artikel die redaktionelle Handschrift der beiden Centralvereinsmitglieder; 1 Zu den beiden Herausgebern von Der Morgen liegen keine Biografien vor. Grund hierfür mag unter anderem die schlechte Quellenlage sein: Egodokumente sind keine überliefert. Von den wenigen vorhandenen Aufsätzen über Eva Reichmann bilden diejenigen von Kirsten Heinsohn die Forschungsgrundlage. Sie beleuchten ihr Wirken in den 1930er Jahren und der Nachkriegszeit. Die Einleitung von Michael Wildt zum Sachsenhausen-Bericht Hans Reichmanns von 1939 geht u. a. auf die Arbeit seiner Frau ein. Vgl. Kirsten Heinsohn, Erfahrung und Zeitdeutung. Biographie und Werk der Soziologin Eva G. Reichmann, in: Henning Albrecht (Hrsg.), Politische Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Festgabe für Barbara Vogel. Hamburg 2006, 295–308; dies., Diaspora as Possibility and Task. The Plea of a German-Jewish Woman, in: Susanne Lachenicht/Kirsten Heinsohn (Hrsg.), Diaspora Identities. Exile, Nationalism and Cosmopolitanism in Past and Present. Frankfurt a. M. 2009, 130–147; dies., Eva Gabriele Reichmann, in: Hiram Kümper/Angelika Schaser (Hrsg.), Historikerinnen. Eine biobibliographische Spurensuche im deutschen Sprachraum. Kassel 2009, 170–174; dies., Verteidiger des Liberalismus. Eva G. Reichmann (1897–1998) und der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, in: Angelika Schaser/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Liberalismus und Emanzipation. In- und Exklusionsprozesse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Stuttgart 2009, 157–176; Hans Reichmann, Deutscher Bürger und verfolgter Jude. Novemberpogrom und KZ Sachsenhausen 1937 bis 1939, eingeleitet und bearb. v. Michael Wildt. München 1998. Für die Nachkriegszeit vgl. Hannah-Vilette Dalby, Between Diaspora and Heimat. German-Jewish Women Historians and the Writing of Post-War German-Jewish Historiography, in: Storia Della Storiografia 46, 2004, 105–118; dies., German-Jewish Female Intellectuals and the Recovery of German-Jewish Heritage in the 1940s and 1950s, in: Leo Baeck Institute Yearbook (LBIYB) 52, 2007, 111–129. 2 Der 1902 in Stuttgart geborene Hans Bach wurde in Berlin zum Literaturwissenschaftler promoviert. Er war Mitglied des deutsch-jüdischen Wanderbunds Kameraden. Von 1928 bis 1933 arbeitete er als Lektor im Innenministerium. 1939 emigrierte Bach nach Großbritannien, wo er an einer Biografie über den Philologen Jacob Bernays arbeitete. Hans Bach starb 1977 in London. https://doi.org/10.1515/9783110675535-005
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Bach und Reichmann steuerten dem Magazin ebenso längere Leitartikel und Editorials bei. Als studierte Soziologin und promovierte Nationalökonomin klärte Eva Reichmann die Leser*innen3 über die Ausformung des Antisemitismus in Deutschland auf, verteidigte die Ideale der jüdischen Emanzipation gegen den Rassismus der Nationalsozialist*innen und bestand auf das Recht, als Jüdin eine Zukunft im deutschen Staat zu haben. Mit ihren Artikeln machte sie denen Mut, die ihr Verfolgungsschicksal teilten und sich (zunächst) für den Verbleib in ihrer Heimat entschieden oder nicht emigrieren konnten. Sie mahnte dazu, sich in der Zeit der äußeren Bedrohung auf die inneren Bindungen zum Judentum und der jüdischen Geschichte zu besinnen, um daraus Stärke für den Kampf gegen den Judenhass zu beziehen. Ihre umfangreichen herausgeberischen und journalistischen Tätigkeiten machten sie zu einer der wichtigsten Akteurinnen im Feld der Publizistik des Centralvereins der dreißiger Jahre. In ihren Veröffentlichungen musste sich Eva Reichmann sowohl gegen antisemitische Diffamierungen als auch zionistische Vereinnahmungen zur Wehr setzen. Beide Seiten betonten die Unmöglichkeit einer jüdisch-deutschen Gemeinschaft und stellten den Verbleib der Juden im Deutschen Reich in Frage. Im Folgenden wird Reichmanns publizistische Tätigkeit von 1929 bis zu ihrer Flucht im November 1938 betrachtet.4 Neben ihren Veröffentlichungen in Der Morgen schrieb sie als Expertin für die britische Nahost-Politik sowie die jüdischen Siedlungen im Mandatsgebiet für die C. V.-Zeitung, die Allgemeine Zeitung des Judentums, die Blätter des Jüdischen Frauenbundes und das Israelitische Familienblatt. Besonders die Meinungsartikel in Der Morgen sind für diese Untersuchung von Interesse;5 daher soll kurz die Genese dieser Zeitschrift dargestellt werden. Der Morgen war eine Publikation des 1919 gegründeten Philo-Verlags. Nach dem Ersten Weltkrieg initiierten die beiden C. V.-Vorstandsmitglieder Paul Nathan und Ludwig Holländer die Verlagsgründung zum Zweck der Öffentlichkeitsarbeit und der Zurückdrängung der Judenfeindschaft in Gesellschaft und Politik. Die Publikationen sollten sich der Aufklärung über das Judentum in Geschichte und Gegenwart widmen und der Betroffenen ein Mittel an die Hand geben, sich gegen antisemitische Diffamierungen zu wehren. Bis 1922 stand dem Philo-Verlag Ludwig Holländer vor; danach führte ihn Lucia Jacoby. Bis 1933 er3 Im Folgenden wird die grammatikalisch weibliche Form als Grundform verwendet. 4 Die vollständige Bibliografie von Reichmanns Schriften wird demnächst über die Datenbank Digitales Archiv jüdischer Autorinnen und Autoren in Berlin, 1933–1945, abrufbar sein. 5 Eva Reichmanns geäußerte Überlegungen zum Judenhass flossen in ihre kurz nach dem Krieg erschienene Analyse des Nationalsozialismus ein. Hostages of Civilisation erschien 1946 in Großbritannien und wurde fünf Jahre darauf in Deutschland unter dem Titel Flucht in den Haß verlegt. Kurzweilige Bekanntheit erlangte das Buch, da es bereits zahlreiche Argumentationen enthielt, die später maßgeblich für die Antisemitismusforschung waren.
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schienen ca. 200 Veröffentlichungen, darunter die Vereinszeitung des Centralvereins, mehrere Monografien, das Propagandablatt Anti-Anti sowie Broschüren, wofür die folgende Streitschrift ein Beispiel ist.
„Aussprache über die Judenfrage“ Im Auftrag des Centralvereins druckte der Philo-Verlag 1930 eine 41-seitige Broschüre mit dem Titel Eine Aussprache über die Judenfrage zwischen Dr. Margarete Adam und Dr. Eva Reichmann-Jungmann. Die Streitrednerinnen waren Margarete Adam, bei Ernst Cassirer promovierte Philosophin und bekennende Katholikin,6 und Eva Reichmann. Reichmann wurde am 16. Januar 1897 im oberschlesischen Lublinitz geboren und war die Tochter des Rechtsanwaltes und Stadtabgeordneten von Oppeln Adolf Jungmann und seiner Frau Agnes. 1916 schrieb sie sich für Ökonomie ein. Ihr Studium in Breslau, München, Berlin und Heidelberg schloss sie mit einer Promotionsstudie über Syndikate ab. Ludwig Holländer holte sie 1924 als Referentin für Kultur- und Bildungsfragen mit dem Schwerpunkt ‚Palästinafrage‘ in den Centralverein. Auf den ersten 21 Seiten ergriff Adam das Wort und schilderte, weshalb sie zu einer NSDAP-Wählerin wurde. Nicht wegen, sondern trotz der antisemitischen Politik: Alle anderen Parteien hätten sich angesichts ihres kollektiven Unvermögens, die wirtschaftlich-politische Krise einzudämmen, als nicht wählbar erwiesen.7 Der Antisemitismus sei aus ihrer Sicht eine nebensächliche Problematik. Adam sah die Ursache des Antisemitismus im Zusammenleben zwischen Jüd*innen und Nichtjüd*innen. Zwischen beiden Gruppen bestehe ein „Gegensatzgefühl“, behauptete Adam, das sich darin äußere, dass der „Jude vom Arier als ein dem Wesen nach anderer Mensch empfunden [wird]“.8 Die jüdische Gegenwehr liege richtig damit, die rassentheoretischen Annahmen der Antisemiten zu widerlegen. Jedoch scheiterten die Jüd*innen mit ihrem Abwehrkampf an dem „reziproken Fremdgefühl“, welches den Kern des Rasseantisemitismus ausmache.9 Die Frage, ob der jüdischen Bevölkerung ernsthafte Gefahr drohe, ver6 Nachdem Magarete Adam 1933 der Lehrauftrag an der Hamburger Universität entzogen wurde, kämpfte sie öffentlich gegen das NS-Regime. 1937 wurde sie des Hochverrats für schuldig befunden und zunächst in der Frauenhaftanstalt Lübeck-Lauerhof inhaftiert, anschließend in Cottbus. Ein Jahr nach Kriegsende starb sie an den Haftfolgen. Vgl. Gisela Bock, Geschlechtergeschichten der Neuzeit. Ideen, Politik, Praxis. Göttingen 2014, 329–331. 7 Philo-Verlag (Hrsg.), Eine Aussprache über die Judenfrage zwischen Dr. Margarete Adam und Dr. Eva Reichmann-Jungmann. Berlin 1930, hier 20–22. 8 Ebd., 5. 9 Ebd., 6.
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neinte Adam, denn eine Politik der antisemitischen Gewalt sei nicht im Interesse der Wähler*innenmehrheit.10 Dem zwischen Jüd*innen und Nichtjüd*innen bestehenden „Gegensatzgefühl“ stimmte Reichmann zu – nicht jedoch der Erklärung, weshalb dieses Gefühl in Hass und Verachtung umzuschlagen drohe und eine Massenbewegung mit einer dezidiert antijüdischen Programmatik hervorgebracht hatte. Schließlich würde der Trend zur Akkulturation der jüdischen Minderheit an die nichtjüdische Mehrheit die tatsächlichen Gegensätze verringern.11 Die spannungsgeladene jüdisch-christliche Beziehungsgeschichte brächte besondere Entwicklungen für die jüdische Gruppe mit sich, die sich, so Reichmann, beispielweise durch ihre ‚anormale Berufsstruktur‘, von der christlichen Mehrheit unterscheide. Auf drei Ebenen finde man das „Gegensatzgefühl“ vor: Mitglieder der jüdischen Gruppe würden als religiös, körperlich und soziologisch anders empfunden.12 Besondere Bedeutung käme dem in der Soziologie beschriebenen „Differenzaffekt“ bei, dem „Gegensatzgefühl des ‚Ariers‘ gegen den großstädtischen, jüdischen Kaufmann oder Rechtsanwalt, der […] durch das Leben in einer ziemlich ausgesprochenen jüdischen gesellschaftlichen Exklusivität spezifische Züge ‚jüdischer Geistigkeit‘ angenommen hat.“13 Durch die Zusammenfassung von Individuen zu Typen lastete man den Einzelmitgliedern Gruppeneigenschaften an; die Imagination des ‚jüdischen Typs‘ war entstanden. Doch erst die Wirtschaftskrise bewirkte den Bruch, der die Entwicklung der antijüdischen Einstellungen zum virulenten und radikalen Antisemitismus der NSDAP hervorbrachte: „Es bedurfte einer alles Bestehende durcheinanderrüttelnden, jede einzelne Existenz in Frage stellenden Wirtschaftsnot von den gigantischen Ausmaßen derer, deren verzweifelte Zeugen wir sind, um die kleinen Quellen des ‚arisch‘-jüdischen Gegensatzgefühls in den Strom des gegenwärtigen Judenhasses münden zu lassen.“14
Die Ursachen des Judenhasses aus soziologischer Sicht Reichmann hob Adams kurzsichtige Perspektive auf das Phänomen des Antisemitismus hervor; denn erst ein Blick auf die europäische Geschichte und Gegenwart würde die deutsche „Sonderentwicklung“ aufscheinen lassen. Reichmann verquickte den modernen Antisemitismus mit dem deutschen Nationalismus: 10 Vgl. ebd., 23. 11 Vgl. ebd., 34. 12 Vgl. ebd., 30–33. 13 Ebd., 32–33. 14 Ebd., 33.
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Das deutsche Nationalgefühl ist zu einer gesunden, ruhigen und allumfassenden Normalität noch nicht gelangt. […] Das junge, unter Kinderkrankheiten leidende deutsche Nationalgefühl jedoch erlag allzu leicht der Versuchung, eine Teilschwierigkeit für alle seine Entwicklungsnöte insgesamt verantwortlich zu machen. So haben wir im deutschen Antisemitismus einen [sic] der charakteristischsten Anzeichen nationaler Schwäche zu sehen.15
Die Mechanismen der Projektion und Aufwertung der ‚eigenen‘ Gruppe durch Abwertung der ‚fremden‘ Gruppe, welche unbewusst von der nationalen Schwäche ablenken und sich auf einen Feind im Inneren des Volkes konzentrieren sollten, waren beim Erklärungsansatz der ‚deutschen Sonderwegsthese‘16 ausschlaggebend. Jedoch dürfe der Entwicklung des Antisemitismus keine Zwangsläufigkeit oder allgemeine Gültigkeit unterstellt werden. Sie betonte, dass sich die „Judenfrage“ nur für einen Teil der deutschen Bevölkerung stelle. Aus dieser Feststellung leite sich die praktische Abwehrarbeit ab: Wir können ihn [den Betätigungsraum] nützen, indem wir das ‚antisemitische Grundgefühl‘, das wir eingangs betrachteten, da wo es unbewußt im Menschen ruht und seine vermeintliche Objektivität trübt, bewußt machen und dadurch auflösen. […] Nicht die Unterschiede abzuleugnen, wo sie in der Tat bestehen, sondern der Minderschätzung der deutschen Juden entgegenzuwirken, das ist die Richtung, in die unser Weg führt.17
Reichmann betrachtete den Antisemitismus als ein Gruppenphänomen, wobei die jüdische „Andersartigkeit“ von beiden Seiten – jedoch nicht von allen Gruppenmitgliedern gleichermaßen – empfunden werden würde.18 Vor dem Hintergrund der akuten antisemitischen Welle, die das Deutsche Reich zum Zeitpunkt der Entstehung der Texte Adams und Reichmanns erfasste, beschränkte sich letztere Autorin darauf, den Zusammenhang zwischen den judenfeindlichen Einstellungen und dem deutschen Nationalismus darzulegen. Eine größere Betrachtung der Genese der Judenfeindschaft lag nicht in der Absicht der Broschüre. Diese spiegelte vielmehr den publizistischen Versuch wider, die Abwehrstrategie des Centralvereins gegen die antisemitische Bewegung 15 Ebd., 35–36. 16 Die nach 1919 von der Geschichtswissenschaft aufgeworfene und heute als widerlegt geltende These, die deutsche Entwicklung zum demokratischen Verfassungsstaat sei im Vergleich mit den westeuropäischen Staaten gehemmt verlaufen, womit antiliberale und antidemokratische Tendenzen begünstigt worden wären, wurde als eine Begründung für die politischen und gesellschaftlichen Belastungen der Weimarer Republik herangezogen. 17 Philo-Verlag, Eine Aussprache (wie Anm. 7), 40. 18 Vgl. Reichmanns Argumentation über die Differenz zwischen kollektiver und individueller Antisemitismuserfahrung in dem Artikel: Eva Reichmann, Laßt uns arbeiten!, in: C. V.-Zeitung 12,27, 06.07.1933, 257–258.
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zu legitimieren. So zielte der Lösungsansatz Reichmanns auf die Bewusstmachung der Gefühlslage ab: Die Rationalisierung der emotional aufgeladenen Beziehung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen schaffe eine sachliche Grundlage für einen Dialog. Die Überzeugung, man könne mit Aufklärung den judenfeindlichen Ressentiments begegnen, war bestimmend, obschon Reichmann einschränkend feststellte: „Gerade der Antisemitismus, und mag er sich noch so viele wissenschaftliche Mäntelchen umhängen, ist letzten Endes unabhängig von seinen theoretischen Systemen, er steht und fällt mit der Aufnahmewilligkeit seiner Anhänger, er wurzelt im Irrationalen.“19 Weitaus größere Skepsis, ob der Judenhass je besiegt werden könne, überlagerte Reichmanns Replik auf Constantin Brunner. In ihrem Artikel „Leben oder Untergang?“ schrieb sie: „Es bleibt zur Beseitigung des Judenhasses mit Aussicht auf Erfolg noch mehr zu tun übrig, als unsere Kräfte jetzt und lange bewältigen können.“20 Brunner, dessen philosophische Schriften vielfach die sogenannte Judenfrage aufwarfen, hatte in einem Aufsatz die jüdischen Gemeinschaften zur „Selbstemanzipation“ aufgefordert, worunter er die Nivellierung der Unterschiede zwischen Juden und Jüdinnen und ihrer nichtjüdischen Umwelt begriff. 21 Für Brunner war die „Judenfrage“ nicht auf die wesensmäßige „Andersartigkeit“ der Jüd*innen zurückzuführen, vielmehr verstand er darunter eine „Antisemitenfrage“. Da man den Antisemit*innen jedoch kaum von der Unbedenklichkeit des jüdischen Einflusses überzeugen konnte, so Brunner, läge die Verantwortung der Bekämpfung des antisemitischen Wahns dennoch bei den Jüd*innen.22 Reichmann fasste Brunners Gedanken zusammen: „[Man] müsse mit seinem Besserungswillen da eingreifen, wo etwas zu ändern sei. Trage das Anderssein der Juden die Schuld am Judenhaß, so müsse eben das Anderssein aufhören.“23
19 Philo-Verlag, Eine Aussprache (wie Anm. 7), 27. 20 Eva Reichmann, Leben oder Untergang? Eine Antwort an Constantin Brunner, in: C. V.-Zeitung 10,42, 16.10.1931, 495–496, hier 495. 21 Reichmann bezog sich auf den Artikel „Über die notwendige Selbstemanzipation der Juden“, der im August 1931 in den Preußischen Jahrbüchern erschienen war. Zur Diskussion, die Brunner mit seinen Schriften in den Reihen des Centralvereins auslöste, siehe Avraham Barkai, „Wehr Dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893–1938. München 2002, 238–246. Zu Brunners Antisemitismusverständnis, der radikalen Ablehnung des Zionismus und seinem ambivalenten Verhältnis zur Assimilation vgl. Andreas Kilcher, Das Gebot der Anpassung. Constantin Brunners Ausweg aus dem Judentum, in: Irene Aue-Ben-David/Gerhard Lauer/Jürgen Stenzel (Hrsg.), Constantin Brunner im Kontext. Ein Intellektueller zwischen Kaiserreich und Exil. Berlin 2014, 269–290. 22 Vgl. Moshe Zimmermann, Judenhass, Zionistenhass, Deutschenhass, in: ebd., 291–301, hier 293–294. 23 Reichmann, Leben oder Untergang? (wie Anm. 20), 495.
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Reichmann erteilte der Assimilationsaufforderung Brunners eine klare Absage: Dies würde „nichts anderes als unseren Untergang als Juden“ bedeuten.24 Auf den Zweifel, den Brunner gegenüber der Effektivität der Abwehrarbeit äußerte, ging Reichmann mit den Worten ein: „Muß wirklich der Centralverein, dessen Wirken Brunner doch bejaht […], an seiner Aufklärungsarbeit verzweifeln, da sie an enge durch die Menschennatur gesetzte Grenzen stößt? Den Ernst der Frage verkennen wir nicht, denn wir teilen weitgehend Brunners Ansicht von der Entstehung des Judenhasses.“25
Der irrationale Gehalt des Nationalsozialismus In ihrer Zusammenschau der Literatur zum Nationalsozialismus mit dem Titel „Flucht vor der Vernunft“ stellte Reichmann fest, dass es der Bewegung an innerer Geschlossenheit und Logik mangele; Widersprüche, etwa hinsichtlich des wirtschaftsliberalen Kurses traten offen zutage:26 Anders als die nationalsozialistische Bewegung ihren Anhänger*innen Glauben machen wollte, würden nicht die Interessen der proletarischen Schichten, sondern die der Großgrundbesitzer*innen und Kapitaleigner*innen vertreten werden. Reichmann beschrieb den Nationalsozialismus als wirtschaftsliberal und „großkapitalistisch, großagrarisch, mit einem Wort: faschistisch“.27 Demagogie und Opportunismus würden die Widersprüche überlagern, weshalb das Phänomen intellektuell schwer zu durchdringen wäre.28 Die Journalistin Margarete Susmann beschrieb die Unbeständigkeit der nationalsozialistischen Ideologie mit ähnlichen Worten: „Es ist bekannt, daß die Nationalsozialisten jedem ihrer Anhänger etwas Passendes zu sagen wissen. Für den Arbeiter sind sie Sozialisten, für den Unternehmer wirtschaftsfriedlich, für den positiven Christen religiös; wer es will, dem bringen sie den Wotanskult.“29 Schließlich resümierte Reichmann: „Sie bezeichnen als einzigen wirklich feststellbaren Angelpunkt des Nationalsozialismus den Grundsatz völliger Grundsatzlosigkeit. […] Wie ein roter Faden durchzieht eine haßerfüllte Reaktion auf alles das, was die ordnende Vernunft als klar erkennbar herausstellen müß24 Ebd. 25 Ebd., 496. 26 Eva Reichmann, Flucht vor der Vernunft. Kritische Bemerkungen zu neuer Literatur über die Soziologie des Nationalsozialismus, in: Der Morgen 8,2, Juni 1932, 116–121. 27 Ebd., 118. 28 Vgl. ebd., 116. 29 M. S. [Margarete Susmann], Antwort auf einen „Offenen Brief an die Deutschen Juden“, in: Der Morgen 6,3, August 1930, 300–302, hier 302.
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te, den Nationalsozialismus.“30 An die Stelle von Rationalität, Vernunft und Ordnung war irrationaler, ungebändigter Hass auf alles vermeintlich Fremde getreten. In Reichmanns Erklärung ergänzen sich kulturhistorische, soziologische und massenpsychologische Argumente. Doch der Erfolg der völkischen Bewegung war für Reichmann letztendlich ein Effekt der Krise. Zwar bestehe Reichmanns Ausführungen zufolge zwischen dem modernen Antisemitismus und der christlichen Judenfeindschaft ein Zusammenhang und auch habe die Epoche der Emanzipation die starken Abwehrreaktionen hervorgerufen, die im „Judenhass“ gemündet hätten. Doch erst die Wirtschaftskrise in der Weimarer Republik habe durch Abstiegs- und Existenzängste eine enorme Verunsicherung des Bürgertums bewirkt. Nur so konnte die NSDAP mit ihrer hasserfüllten Propaganda breite Wähler*innenschichten in Deutschland begeistern und der latente Antisemitismus in ein radikal-politisches Programm umgesetzt werden. Das Verständnis des Antisemitismus, seiner Entstehungsgründe und seines irrationalen Gehalts wirkten sich auf die Möglichkeiten aus, ihn zu bekämpfen. Beschrieb Reichmann 1930 als Antwort auf Margarete Adam noch die Möglichkeit, den für kluge Argumente aufgeschlossenen Teil der Nichtjüd*innen zu erreichen, wich wenige Jahre darauf ihre aufklärerische Haltung der Einsicht, der antisemitischen Bewegung liege ein irrationales Weltbild zugrunde. Aus negativen Gefühlen und feindlichen Einstellungen waren Hass und Wahn geworden. Vor diesem Hintergrund erwies sich der Versuch der rationalen Widerlegbarkeit des antisemitischen Weltbildes, auf dem die Abwehr und das Anschreiben gegen die Judenfeindschaft fußten, als vergebene Liebesmüh.31 Zudem geriet man zum persönlichen Angriffsziel, kritisierte man öffentlich das nationalsozialistische Regime. Deshalb rückte in Der Morgen nun eine konkrete Bemühung ins Zentrum: der Erhalt der jüdischen Gemeinschaften.
30 Reichmann, Flucht vor der Vernunft (wie Anm. 26), 120. 31 Die Diskussion über die Effektivität der Abwehrarbeit des Centralvereins gegen den Antisemitismus wurde seit Gründung des Vereins immer wieder geführt. In den dreißiger Jahren führte sie zu einem Richtungsstreit, bei dem u. a. Hans Reichmann und Walter Gyßling für eine propagandagestützte Öffentlichkeitsarbeit eintraten. Vgl. Walter Gyßling, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 und Der Anti-Nazi. Handbuch im Kampf gegen die NSDAP, hrsg. v. Leonidas E. Hill. Bremen 2003.
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Der Morgen 1925 gründete der Darmstädter Philosoph und C. V.-Ideologe Julius Goldstein die Zeitschrift Der Morgen als liberales Forum, um den Aufschwung der antidemokratischen Bewegungen zu Beginn der dreißiger Jahre zu ergründen.32 Die Wirkungsweise der Völkischen Bewegung und die ihr inhärente Judenfeindlichkeit sollten aufgezeigt und ihre Anziehungskraft erklärt werden. Die Programmatik der Zeitschrift zielte darauf ab, das Judentum als eine aufgeklärte religiöse Strömung der Moderne darzustellen, der, ähnlich dem Protestantismus und Katholizismus, eine zentrale Rolle in der Entwicklung der europäischen Geistesgeschichte zukam. Goldstein versuchte nicht, die ‚Massen‘ zu erreichen. Von jüdischer Seite erschien dies weder möglich noch wünschenswert. Vor diesem Hintergrund beschrieb Hans Reichmann – er leitete die vereinseigene geheime Propagandaabteilung und war seit 1930 mit Eva Reichmann verheiratet – rückblickend die publizistische Strategie des Vereins in den zwanziger Jahren: „Zum ‚geistigen Generalstab‘ sollte ein von höchster Warte geschriebenes Organ sprechen, das sich der Verein in Gestalt der ursprünglich als Zweimonatsschrift, seit 1933 als Monats-
32 In der Forschung zur deutsch-jüdischen Presse, die knapp 150 verschiedene jüdische Zeitungen und Zeitschriften in der Weimarer Republik und dem nationalsozialistischen Deutschland umfasste, wurde Der Morgen aufgrund seiner geringen Auflagenhöhe nur punktuell zu Untersuchungen herangezogen. Den gesamten Erscheinungszeitraum der Zeitschrift von 1925 bis 1938 umfasst die Untersuchung von Sarah Fraiman. Sie stellte fest, dass nach 1933 die Berichterstattung stärker durch Wertungen und Meinungsäußerungen geprägt war. Nach 1935 nahm die Beschäftigung mit religiösen und kulturellen Themen zu. Gert Mattenklott beschäftigte sich in seinem Aufsatz über die Zeitschrift nach 1933 mit dem „ökumenischen Interesse am christlich-jüdischen Dialog“, welchen die für Der Morgen schreibenden Rabbiner verfolgten. Susanne Urban-Fahr betonte in ihrer Monografie über den Philo-Verlag, dass die Zeitschrift inhaltlich wie personell dem Centralverein nahestand, woher sich ihre politische Ausrichtung ergab. In seiner Gesamtdarstellung von 1987 über die jüdische Presse zwischen 1933 und 1938 widmete Herbert Freeden der Zeitschrift ein eigenes Kapitel. Freedens Erkenntnisse flossen maßgeblich in die 1997 erschienene Studie von Katrin Diehl über die jüdische Presse ein. Vgl. Sarah Fraiman-Morris, The Transformation of Jewish Consciousness in Nazi Germany as Reflected in the German Jewish Journal „Der Morgen“, 1925–1938, in: Modern Judaism 20,1, 2000, 41–59; Gert Mattenklott, Juden in NS-Deutschland. „Der Morgen“ 1933–1938, in: Kerstin Schoor (Hrsg.), Zwischen Rassenhass und Identitätssuche. Deutsch-jüdische literarische Kultur im nationalsozialistischen Deutschland. Göttingen 2010, 77–88; Susanne UrbanFahr, Der Philo-Verlag 1919–1938. Abwehr und Selbstbehauptung. Hildesheim 2001; Herbert Freeden, Die jüdische Presse im Dritten Reich. Frankfurt a. M. 1987, 149–155; Katrin Diehl, Die jüdische Presse im Dritten Reich. Zwischen Selbstbehauptung und Fremdbestimmung. Tübingen 1997. Vgl. auch den Aufsatz von Tobias Bargmann in diesem Band.
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schrift erscheinenden Zeitschrift ‚Der Morgen‘ angliederte.“33 Nach Goldsteins Tod 1929 gab seine Witwe Margarete Goldstein das Organ gemeinsam mit dem Rabbiner Max Dienemann heraus. Dienemann, der 1935 die erste Ordination einer Frau zur Rabbinerin, der Theologin Regina Jonas, abnahm, war nach der Niederlegung seiner Herausgeberschaft weiterhin an der Debatte in Der Morgen um die Anerkennung des Judentums als liberale religiöse Strömung beteiligt. Mit der Redaktionsübergabe im April 1933 entschied man sich für eine Neugestaltung der Zeitschrift. So umfassten die monatlich erscheinenden Ausgaben von Der Morgen etwa fünfzig Seiten, wovon zwei bis fünf für das Editorial vorgesehen waren. Artikel zu den Schwerpunkten Wirtschaft, Kultur, Politik oder Religion fanden sich auf den ersten Seiten des Hefts und waren mit einer Länge von höchstens sechs Seiten auf ein Drittel des Umfangs der alten Ausgaben geschrumpft. Einzelne Themenhefte widmeten sich grundlegenden Fragen jüdischen Lebens der Gegenwart: der jüdischen Diaspora, dem Erziehungswesen oder den veränderten Aufgaben der Rabbiner. Zunehmend rückte die Dringlichkeit der konkreten Hilfe, wie die Organisation der jüdischen Wohlfahrt, die Einrichtung eines separaten jüdischen Bildungswesens als Reaktion auf den Ausschluss jüdischer Kinder und Jugendlicher aus dem staatlichen Schulwesen, die Gründung von Auswanderungsstellen oder Umschichtungsplänen von akademischen zu handwerklichen oder landwirtschaftlichen Berufen in den Fokus. Kulturinteressierte Leser*innen mussten zu den hinteren Seiten blättern. Hier fanden sich Buchbesprechungen, Gedichte oder ein Fortsetzungsroman. Die Seiten von Der Morgen waren schlicht gestaltet; sie kamen ohne Fotografien oder Illustrationen aus. Abgesehen von kleinformatigen Anzeigen zur Erwerbsmöglichkeit von Publikationen des Philo-Verlags wurde keine Werbung abgedruckt. Der Morgen war eine Zeitschrift für gebildete, bibliophile Leser*innen. Im zeitgenössischen Urteil zum zehnten Erscheinungsjahr bemerkte daher die Jüdische Gemeindezeitung Frankfurt: Die schmalen, schön gedruckten und geschmackvoll aufgemachten Hefte bringen eine Fülle anregender Aufsätze und Glossen zur Geschichte und Situation der Juden, besonders in Deutschland. Der Charakter einer wissenschaftlichen Aufklärungsarbeit ist zurückgetreten gegenüber einer frischen, klar betonten Gesinnung […]. Mit diesem, zu neuen Leben gebrachten Forum jüdischer Forscherarbeit verknüpft sich die Hoffnung weiter Kreise der jüdischen geistig Schaffenden, denen hier die Möglichkeit, Anregungen zu empfangen und zu geben, aufgetan erscheint.34 33 Hans Reichmann, Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, in: Council for the Protection of the Rights and Interests of Jews from Germany (Hrsg.), Festschrift zum 80. Geburtstag von Leo Baeck am 23. Mai 1953. London 1953, 63–75, hier 69. 34 Ghr., Literarische Rundschau, in: Frankfurter Israelitisches Gemeindeblatt. Amtliches Organ der Israelitischen Gemeinde 12 4 (Dez. 1933), 147.
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Die Presse und Verlage unterlagen den kulturpolitischen Gesetzen der nationalsozialistischen Regierung.35 Über die Eingliederung der freien Berufe in ein Kammersystem kontrollierten die Nationalsozialist*innen die Kulturbeschäftigten im Deutschen Reich. Joseph Goebbels’ Reichskammerkulturgesetz trat im September 1933 in Kraft; bis zum Herbst 1935 wurden jüdische Antragsteller*innen in die Kammern aufgenommen. Jüdische Journalist*innen, Chefredakteur*innen und Schriftleiter*innen fielen unter das Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933 und mussten sich in eine separate jüdische Berufsliste eintragen. Jüd*innen war es ab diesem Zeitpunkt untersagt, für nichtjüdische Zeitungen und Zeitschriften zu schreiben oder in sonst einer Weise zu ihrer Entstehung beizutragen. So sollte die deutsche Kultur in eine ‚jüdische‘ und eine ‚arische‘ Sphäre getrennt und der ‚jüdische Einfluss‘ auf die ‚deutsche Kultur‘ unterbunden werden. Erscheinungsverbote, Repressionen der Beschäftigten durch NS-Behörden und die Zensur bestimmten die Kulturproduktion. Nur selten gelang es, beispielsweise durch die Verwendung von Pseudonymen, die Kontrolle zu umgehen. Da das journalistische Schreiben eine der wenigen verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten für diejenigen darstellte, die mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums am 1. April 1934 ihre Anstellung verloren hatten, war das Feld der Autor*innen groß. Die meisten von ihnen waren als Funktionär *innen in jüdischen Organisationen tätig und konnten so über die Entwicklungen innerhalb ihres Wirkungsbereichs berichteten. Margarete Susmann36 und Jacob Picard37 gehören zu den wenigen hauptberuflichen Schriftsteller*innen, welche für Der Morgen schrieben. Trotz der Autor*innenprominenz erreichte die Zeitschrift auch in Anbetracht des Zielpublikums nur einen kleinen Teil der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung. 1934 betrug die gesamte Auflage 1 600 Exemplare; von der letzten Ausgabe im Oktober 1938 wurden nur noch 1 050 gedruckt.38 Diese geringe Verbreitung brachte der Zeitschrift im Philo-Verlag mitunter den Titel des „Sorgenkinds“ ein, da ihre Herstellung mehr Ressourcen verlangte, als durch den Vertrieb gedeckt werden konnten.39 35 Zu aktuellen Darstellungen vgl. u. a. Christoph Studt (Hrsg.), „Diener des Staates“ oder „Widerstand zwischen den Zeilen“? Die Rolle der Presse im „Dritten Reich“. Berlin 2007. 36 Margarete Susmann (1872–1966) war eine deutsch-schweizerische Lyrikerin und Essayistin. Literarisch befasste sich Susmann insbesondere mit der Emanzipation der Frau und dem christlich-jüdischen Dialog. Nach 1917 arbeitete sie für Martin Bubers Zeitschrift Der Jude. 1946 erschien ihr Hauptwerk Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes. 37 Jacob Picard (1883–1967) musste 1935 seine Tätigkeit als Anwalt aufgeben. 1936 erschien sein Buch Der Gezeichnete über das Landjudentum. Zwischen 1922 und 1938 arbeitete er für die C. V.-Zeitung. Bis zu seiner Emigration 1940 verfasste er zahlreiche Aufsätze und Rezensionen für jüdische Zeitungen. 38 Diehl, Die jüdische Presse (wie Anm. 32), 133. 39 Urban-Fahr, Der Philo-Verlag (wie Anm. 32), 161.
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Die ‚Palästinafrage‘ Obwohl Der Morgen dem liberal-religiösen, nicht-zionistischen Judentum in Deutschland zuzurechnen war, fragte man nach 1933 auch hier nach der Bedeutung des jüdischen Siedlungsvorhabens im britischen Mandatsgebiet Palästina – und welche praktischen Konsequenzen mit dem Erfolg der zionistischen Bewegung für die deutsche Judenheit verbunden sein würden. Die Haltung, die hier zum Ausdruck kam, kann einerseits auf den äußeren Druck der judenfeindlichen Umwelt, andererseits auf einen dialektischen Denkprozess in der Auseinandersetzung mit zionistischen Positionen zurückgeführt werden. Auch im Centralverein rückte man zu Beginn der dreißiger Jahre vom antizionistischen Kurs ab, der noch 1928 zur Resolution gegen eine Mithilfe am ‚Palästinaaufbau‘ geführt hatte.40 Man war sich einig darüber, dass die Emigrationsströme eine Reaktion auf die Maßnahmen nach dem 30. Januar 1933 darstellten.41 Die Folgen bekamen die jüdischen Organisationen unmittelbar zu spüren: Viele waren in die Arbeitslosigkeit gezwungen worden und so auf die von jüdischen Einrichtungen organisierte Fürsorge, Wirtschafts- oder Rechtshilfe angewiesen. Das Thema Auswanderung war unweigerlich auf die Tagesordnung gerückt. Eva Reichmann hatte eine differenzierte Sicht auf das Thema. Bereits als sie zum Centralverein kam, äußerte sie gegenüber dem damaligen Vereinsdirektor, Ludwig Holländer: „Ich bin nicht in allen Punkten auf dem Boden des Central-Vereins, zum Beispiel bin ich für den Palästina-Aufbau“.42 Die Vielzahl ihrer Artikel, die sie als Palästina-Referentin für die C. V.-Zeitung verfasste, zeugen von ihrer steten Auseinandersetzung mit dem Thema. Sie brachte pragmatische Argumente hervor, weshalb jüdisches Leben hier wie dort möglich sein müsse. Ihre Expertise und ihre grundsätzliche Befürwortung der Emigrationsbewegung spiegeln sich in ihrem Engagement in anderen Auswanderungsorganisationen wider: Reichmann gehörte in den dreißiger Jahren dem Vorstand des deutschen Ablegers der Keren Hajessod und der Jugend-Alijah an.43 40 Vgl. Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 21), 233. 41 Die Terrorwelle der ersten Jahreshälfte 1933 löste eine Emigrationsbewegung aus, in deren Folge etwa 37 000 Jüd*innen das Land verließen; bis 1937 emigrierten jährlich zwischen 20 000 und 25 000. 1938 verließen noch einmal circa 40 000 das Deutsche Reich. Von den 520 000 jüdischen Bürger*innen, die 1933 im Zensus erfasst wurden, hatten im Jahr 1939 noch 307 000 ihren Wohnsitz im Deutschen Reich. Vgl. Werner Röder/Herbert A. Strauss (Hrsg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933–1945, Bd. 1. München 1999, XIX. 42 Zitiert nach: Reichmann, Eva Gabriele, in: Renate Heuer (Hrsg.), Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Bd. 18. München 2011, 203. 43 Leo Baeck Institute Archives, New York (LBINY), Eva Reichmann Collection, AR 904, Box 1, Folder 13, p. 23: Lebenslauf. Der Keren Hajessod war ein 1920 gegründeter Fonds, der private
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Verzweiflung und Zionismus Im Editorial des Themenhefts über die deutsche Diaspora im Juni 1934 vernahm Eva Reichmann unter den Jüd*innen im Deutschen Reich einen deutlichen Willen zur Auswanderung. Sie sprach von einer „tiefe[n] Fragwürdigkeit“, welche das Leben der jüdischen Deutschen seit dem Vorjahr bestimmen würde.44 In dieser Situation liege es nahe, sich Bekanntem zuzuwenden: „Wie in den zweieinhalb Jahrtausenden der jüdischen Geschichte blickt sie [die jüdische Gemeinschaft] nach Palästina. Und doch ist diese Hoffnung anders als je die Hoffnung einer früheren Generation. Es ist die Hoffnung, deren Kraft nicht aus der Verheißung strömt, sondern aus der Verzweiflung […].“45 Nicht von Idealismus und Überzeugung waren die Auswanderungswilligen getrieben, sondern wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Druck bestimmte ihr Handeln. In dem Editorial „Nach einem Jahr“ wurde im April 1934 die Bilanz gezogen: „Es lag nahe, daß mancher aus Verbitterung und verletztem Stolz eine Wendung um 180 Grad machte, daß aus indifferenten Leugnern jeder jüdischen Problematik Anhänger radikal-nationaljüdischer Lösungen wurden“.46 Die Judenheit wende sich gekränkt dem jüdischen Nationalismus zu. Eretz Israel erscheine in dieser schweren Zeit als Trost, als „Erlösung, einzige Hoffnung in diesem Dunkel“, merkte Reichmann an.47 Unter Anerkennung der Notlage versuchte Reichmann der Entrechtung und Ausgrenzung den Stolz auf die gemeinschaftlichen Errungenschaften, das Heimatgefühl und kulturelle Selbstbewusstsein entgegenzusetzen. Reichmann widersprach der von zionistischer Seite erhobenen Bedeutungszurückweisung der Diaspora für die jüdische Geschichte. „Kaum ist der Mensch […] ohnmächtiger Spielball höherer Gewalten, durch einen merklichen Vorstoß der Weltgeschichte besonders unsanft seiner Kleinheit bewußt geworden […] stellt [er] fest, wie alles Spenden für den Aufbau und die Ausgestaltung des jüdischen Siedlungswerks in Eretz Israel sammelte. Zionistisch wie nichtzionistisch eingestellte Personen wirkten in den mehr als 60 Ländervertretungen zusammen, um Einreisen in das britische Mandatsgebiet zu organisieren, Neuankömmlinge bei der Arbeitssuche zu unterstützen oder etwa Investitionen in die Elektrifizierung und das Schulsystem des Landes zu verwalten. Die von Recha Freier am 30.01.1933 gegründete Jugend-Alijah setzte sich für die Auswanderung von Kindern und Jugendlichen nach Eretz Israel ein. Vgl. Hagit Lavsky, Before Catastrophe. The Distinctive Path of German Zionism. Detroit 1996, 57–60. 44 Eva Reichmann, Diaspora als Aufgabe [Editorial], in: Der Morgen 10,3, Juni 1934, 97–98, hier 98. 45 Ebd. 46 H. Rn., Nach einem Jahr, in: Der Morgen 10,1, April 1934, 1–3, hier 2. 47 Eva Reichmann, Unsere Stellung zum Palästinaproblem, in: C. V.-Zeitung 12,31, 03.08.1933, 311.
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doch genau so gekommen sei, wie er es vorausgesagt habe“, fasste Reichmann das fatalistische Geschichtsverständnis der Zionist*innen zusammen.48 Sie wies die Annahme der ewigen Judenfeindschaft christlicher Gesellschaften zurück, der zufolge die Diaspora nur eine Episode in der Geschichte des jüdischen Volkes sei, dessen Rückkehr nach Eretz Israel angestrebt werden müsse. Besonders, wenn man die Gegenwart zum Ausgangspunkt der gesamten Geschichtsbetrachtung erhebe, erscheine der Niedergang der jüdischen Gemeinschaften vorgezeichnet. Doch habe es seit der christlichen Expansion im Mittelalter Verfolgungen und Pogrome an der jüdischen Bevölkerung gegeben, ohne dass die jüdischen Gemeinschaften aufgehört hätten zu existieren, führte Reichmann im Editorial „Lüge der Statistik“ aus.49 Vielmehr hätten die Gemeinschaften sich „regeneriert“ und wären zu neuer Prosperität gelangt. Max Eschelbacher beobachtete Ähnliches: „Die unbemerkte stille und unscheinbare Arbeit der Begründung, Erhaltung und Führung der jüdischen Gemeinden und ihre Neuerrichtung nach schweren Katastrophen ist das eindringliche Zeugnis für die politische Kraft der Juden“.50 Historisch betrachtet seien es gerade die Gemeinden außerhalb Eretz Israels gewesen, in denen sich die jüdische Hochkultur entwickelt habe. Der babylonische Talmud sei ein eindringliches Beispiel hierfür. Der anhaltende Terror gegen die jüdische Bevölkerung ließ jedoch im Erscheinungsverlauf von Der Morgen die geschichtsphilosophischen Auseinandersetzungen mit dem Zionismus gegenüber den tagespolitischen Fragen in den Hintergrund rücken. Was sollte mit denjenigen geschehen, die blieben? Wie sollte die Berufsausbildung für junge jüdische Menschen aussehen, denen kaum mehr ein Platz in der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft zugestanden wurde? In ihrer Kritik gegenüber der Jüdischen Rundschau äußerte Reichmann, dass diese ausschließlich die Ausbildung der Jugend für die Landwirtschaft gefordert hatte, doch „ohne Rücksicht darauf, was aus der größeren Hälfte dieser Jugend werden soll, für die das Land keine Verwendung hat.“51 Reichmann kritisierte die ideologische Verblendung des radikalen Kerns der deutschen zionistischen Bewegung, der diejenigen vergaß, die nicht Teil des zionistischen Projektes sein konnten. Im Februar 1936 unterstrich Reichmann ihre Position in Der Morgen noch einmal deutlich. Anlass war der Delegiertentag der Zionistischen Vereinigung, auf dem diese ihren Führungsanspruch bekräftigte. Reichmann führte aus: 48 Dies., Vom Sinn deutsch-jüdischen Seins, in: C. V.-Zeitung 13,22, 31.05.1934, 297–299, hier 297. 49 Dies., Lüge der Statistik [Editorial], in: Der Morgen 10,4, Juli 1934, 149–151. 50 Max Eschelbacher, Der deutsche Jude und der deutsche Staat, in: Der Morgen 8,6, Februar 1933, 404–414, hier 408. 51 N. N., Umschau [Editorial], in: Der Morgen 10,8, November 1934, 333–335, hier 334.
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„Selbst wenn das außerordentlich unwahrscheinliche Tatsache werden sollte, daß das Judentum in Deutschland zionisiert und in all seinen Schichten allein auf Palästina ausgerichtet werden könnte, so hätte man sich der Lösung der Judenfrage keinen Schritt genähert.“52 Denn „[i]mmer wird es und soll es auch die anderen jüdischen Lebensbezirke geben, denen ihr Dasein inmitten der Welt, ihre Durchtränkung mit allen Schätzen des Geistes und der Kultur zugleich Grundlage und Ziel ist.“53 Mit anderen Worten: Auch die Diaspora sei den Jüd*innen eine geistige und kulturelle Heimat. Reichmann unterstrich, dass weder eine Lösung der jüdischen Zwangslage in der Ansiedlung aller jüdischen Menschen in Palästina zu erwarten war, noch, dass die deutsche jüdische Vergangenheit negiert werden dürfe. Durch die Betonung der historischen und religionsgeschichtlichen Berechtigung der diasporischen Gemeinschaft im Deutschen Reich konnte der politische Schlagabtausch mitunter nicht immer vermieden werden. In Der Morgen versuchte man zwischen ideologischen Argumenten für die Bewahrung des deutschen Judentums und der pragmatischen Erfordernisse der Auswanderung eines bestimmten Teils der Gemeinschaft zu lavieren. Schließlich regte unter anderem die literarische Verarbeitung des Themas dazu an, die Bedeutung des Auswanderungsentschlusses für den einzelnen Menschen abzuwägen. Damit stimmte Der Morgen überein mit der Positionierung des Centralvereins, der die Auswanderungsfrage nun pragmatisierte. Ab 1935 informierte beispielsweise die C. V.Zeitung in einer Artikelserie über die Emigrationsländer in Übersee.54 Hierzu bildete Eva Reichmanns Artikel „Die Zerstreuung der Juden über die Erde“ den Auftakt.55 Von nun an überlagerten jene rationalen Erwägungen die bis dahin vorherrschenden ideologischen Debatten zwischen deutsch-gesinnten und zionistischen Jüd*innen.
Schluss Die Angriffe der Gesellschaft und Politik auf die jüdische Bevölkerung zu Beginn der 1930er Jahre veranlasste von jüdischer Seite eine Vielzahl von Reaktionen 52 Eva Reichmann, Lösung der Judenfrage? [Editorial], in: Der Morgen 11,11, Februar 1936, 473–476, hier 475. 53 Ebd., 476. 54 Vgl. Johann Nicolai, „Seid mutig und aufrecht!“ Das Ende des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1933–1938. Berlin 2016, 228. 55 Eva Reichmann, Die Zerstreuung der Juden über die Erde. Eine statistische und soziographische Untersuchung, in: C. V.-Zeitung 14,5, 31.01.1935, 1. Beiblatt.
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der Abwehr, Zurückweisung und des Widerstands, aber auch der Apologetik und Selbstkritik. Die Publizistik der 1930er Jahre gibt Aufschluss über die vielfältigen Bemühungen, Selbstorganisation, Aufklärungs- und Abwehrarbeit zu leisten. Als im November 1938 die bestehenden jüdischen Vereinigungen (mit Ausnahme der Gemeinden) im Deutschen Reich aufgelöst und durch Zwangszusammenschlüsse unter der ständigen Kontrolle der NS-Behörden zusammengefasst wurden – im November 1938 waren bereits alle bis dahin bestehenden jüdischen Zeitungen und Zeitschriften verboten worden –, zeichnete sich ab, dass die Politik der Nationalsozialist*innen nicht nur die Rechteeinschränkung für Jüd*innen zur Folge haben, sondern zunehmend ihre gesamte Lebensgrundlage, bis hin zum vollständigen Verlust jeglicher Lebensrechte, entzogen werden würde. Wie zahlreiche Funktionär*innen der jüdischen Vereinigungen zögerten auch Hans und Eva Reichmann lange, bis sie sich zur Flucht entschlossen. Am 10. November 1938 wurde Hans Reichmann verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Die Bedingung für seine Freilassung war die unverzügliche Ausreise aus dem Deutschen Reich. Eva und Hans Reichmann flohen im April 1939. Ihre Bemühungen, den Hass gegenüber Jüd*innen, der von Teilen der Gesellschaft ausging, nicht zu akzeptieren, gab Eva Reichmann bis an ihr Lebensende nicht auf. Für die Wiener Library und das Leo Baeck Institute leistete sie nach Kriegsende wertvolle Arbeit, die eine wissenschaftliche Würdigung und größere Auseinandersetzung verdient.
Positionen
Christian Wiese
„Eine Pflicht der Selbstachtung“: Jüdische Apologetik im Kontext der ‚Abwehrarbeit‘ des Centralvereins im Wilhelminischen Deutschland Wissenschaft des Judentums als emanzipatorisch-apologetisches Projekt Die Wissenschaft des Judentums ist die historische Kenntnis des Judenthums, die Wissenschaft von seinen religiösen Ideen, von deren Offenbarungen in den großen Individualitäten des jüdischen Volkes, in seiner Literatur, in seinem religiösen und sittlichen Leben. Sie ist auch die Wissenschaft von den religiösen Ideen und Einrichtungen, wie sie eingeordnet erscheinen in unsere Weltanschauung, daß sie sich in uns und an uns als lebendige sittliche Mächte bewähren. Sie ist das große Zeugnis von den Taten des Judenthums in der Vergangenheit, von seinem Rechte in Gegenwart und Zukunft, sie ist unser Schutz gegen tausendjährige Vorurtheile, gegen alle geistigen Waffen, die gegen uns und unsere Lehre geschmiedet werden. Sie hütet die großen Thatsachen der Vergangenheit, sie sammelt die Strahlen, die den Urkunden des Judenthums entströmen, daß sie für die Gegenwart und für die Zukunft leuchten. Ohne sie wären wir ein Körper ohne Seele, ein Schiff ohne Steuermann. […] Sie hat das Erbe der wunderbaren Vergangenheit des jüdischen Volkes angetreten, darum harrt ihrer noch die schwere Aufgabe, alle guten Geister unseres Stammes mit kräftigem Worte wachzurufen gegen die Zerstörung, welche von der Kurzsichtigkeit, Unwissenheit und Gleichgültigkeit angerichtet worden ist, ein Ende zu bereiten der Schlaffheit, mit welcher die Lehren des Judenthums den Jüngeren überliefert wurden. Es harrt ihrer die Aufgabe, Allen, die es angeht, zu Bewußtsein zu bringen, welche Aufgabe das Judentum erfüllt hat, indem es unter unerhörten Kämpfen und Leiden seiner Bekenner die Religion der Propheten und der Thora vor allerlei Trübungen bewahrt hat, und sie wird auch die Pflicht haben, gegen das Beginnen, durch Aufnahme fremder Institutionen unsere Religion zu einem synkretistischen Gebilde zu machen, […] Stellung zu nehmen.1
Diese Definition, mit welcher der Historiker und Orientalist Martin Mordechai Schreiner (1863–1926), seit 1893 Dozent an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, in einem Essay aus dem Jahre 1898 die eminente Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung der Wissenschaft des Judentums akzentuierte, spiegelt mit ihren drei zentralen Elementen – historisch-kritisches Gespräch 1 Martin Schreiner, Was ist uns die Wissenschaft des Judenthums?, in: Allgemeine Zeitung des Judentums (AZJ) 62, 1898, Nr. 13, 150–152, Nr. 14, 164–165 und Nr. 15, 175–177, Zitat 177 [Hervorhebungen C. W.]. https://doi.org/10.1515/9783110675535-006
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mit der eigenen Tradition, aufklärerisch-emanzipatorischer Impuls nach außen und Stabilisierung jüdischer Identität nach innen – präzise das Selbstverständnis wider, das die junge Disziplin im Verlaufe des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte. Programmatisch hob Schreiner namentlich die Verantwortung seiner Disziplin für die Bekämpfung des zeitgenössischen Antisemitismus hervor: Neben dem historisch-kritischen Dialog mit der jüdischen Tradition und ihrer Aktualisierung für das gegenwärtige religiös-ethische Bewusstsein müsse sich jüdische Gelehrsamkeit in den Dienst der Verteidigung des Judentums stellen und insbesondere den sich wissenschaftlich gebärdenden Manifestationen der zeitgenössischen Judenfeindschaft entgegentreten. Damit formulierte er den Konsens, der sich vor allem in der liberalen Strömung der Wissenschaft des Judentums spätestens seit den 1880er Jahren herausgebildet hatte. Die Zäsuren, die durch den Berliner Antisemitismusstreit 1880/81, das Eindringen des Antisemitismus in weite Kreise des deutschen Bildungsbürgertums, die ideologischen Transformationen judenfeindlicher Positionen durch völkisch-rassisches Denken und – als Antwort darauf – die Konzeption einer institutionalisierten ‚Abwehrarbeit‘ markiert sind, nötigten die jüdischen Gelehrten der Zeit, sich verstärkt auf die apologetisch-politische Dimension ihres Forschens zu besinnen. Dass jüdische Religionsphilosophie und die Wissenschaft des Judentums das Existenzrecht des Judentums gegen Stereotypen, Überlegenheitsansprüche und Angriffe nichtjüdischer Intellektueller zu verteidigen suchten, ist selbstverständlich kein Phänomen, das erst Ende des 19. Jahrhunderts festzustellen ist. Von Moses Mendelssohn (1729–1786) über Leopold Zunz (1794–1886), Samuel Hirsch (1809–1889), Abraham Geiger (1810–1874) und Heinrich Graetz (1817– 1891) bis zu Hermann Cohen (1842–1918) und Leo Baeck (1873–1956) dominierte das Bestreben, unter den politischen Bedingungen einer noch ausstehenden, unvollendeten oder gefährdeten bürgerlichen Emanzipation und des aufkommenden modernen Antisemitismus die Legitimität einer eigenständigen, selbstbewussten jüdischen Kultur in einer plural verfassten deutschen Gesellschaft zu begründen. In ihrer apologetisch-emanzipatorischen Funktion richtete sich das intellektuelle Projekt der Wissenschaft des Judentums darauf, die Vereinbarkeit der jüdischen Religion mit der Moderne nachzuweisen, ein objektives Bild ihres Beitrags zur allgemeinen Kultur zu zeichnen und so ihr Fortleben zu legitimieren, zugleich aber innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zur Vergewisserung der wertvollen Vergangenheit des Judentums und seiner zukünftigen Bedeutung in der Weltgeschichte des Geistes beizutragen.2 2 Vgl. Benno Jacob, Die Wissenschaft des Judentums – ihr Einfluß auf die Emanzipation des Judentums. Vortrag gehalten auf der Generalversammlung des Rabbiner-Verbandes in Deutschland, Berlin am 2. Januar 1907. Berlin 1907; Max Wiener, Jüdische Religion im Zeitalter
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Hatte Abraham Geiger in seinen historischen Arbeiten vor allem noch versucht, eine wirksame Gegengeschichte gegen protestantisch-liberale Konstruktionen der jüdischen Geschichte zu entwerfen,3 so verliehen der Relevanzverlust des politischen Liberalismus, die ideologische Verschärfung des antisemitischen Diskurses seit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs und die Herausbildung eines antipluralistischen integralen Nationalismus der apologetischen Dimension der Wissenschaft des Judentums eine neue Dringlichkeit. Dabei war zunächst noch eine gewisse Zurückhaltung zu beobachten, wenn etwa liberale jüdische Gelehrte die Bekämpfung der Dämonisierung des Judentums durch Talmudhetze und Ritualmordvorwürfe zunächst vorzugsweise Vertretern der protestantischen Judenmission wie Hermann L. Strack (1848–1922) oder Franz Delitzsch (1813–1890) überließen und dabei deren im Grunde stark ambivalente Haltung gegenüber dem Judentum stillschweigend in Kauf nahmen.4 Zunehmend sahen sich jüdische Gelehrte jedoch, wie widerstrebend auch immer, gezwungen, sich selbst gegenüber Anfeindungen und Verleumdungen des Judentums zu positionieren. Spätestens mit der einflussreichen Agitation des protestantischen Hofpredigers Adolf Stoecker (1835–1909) seit 1879, den Debatten über die antisemitischen Positionen des nationalliberalen Berliner Historikers Heinrich von Treitschke (1834–1896) 1880/815 und der Entstehung radikaler Antisemitenparteien, welche die Aufhebung der Emanzipation forderten, war die Zerbrechlichkeit des Traums der jüdischen Gemeinschaft von einem unumkehrbaren Integrationsprozess offenkundig geworden. Das Vordringen völkischer Phantasien eines germanisch-jüdischen Rassenantagonismus markiert eine weitere Zäsur, die jüdische Gelehrte dazu herausforderte, neu über die politische Relevanz ihrer Forschung nachzudenken. Exemplarisch lässt sich das am Beispiel des Wirkens Chajim Heymann Steinthals (1823–1899) zeigen, der seit 1872 an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin Religionsphilosophie und Ethik lehrte und in seinen Abhandlungen der 1880er und 1890er Jahre immer wieder gegen den Antisemitismus Stellung bezog. Im Zentrum stand das Bekenntnis zur jüdischen Reder Emanzipation. Berlin 1933; Ismar Schorsch, The Ethos of Modern Jewish Scholarship, in: Leo Baeck Institute Yearbook (LBIYB) 35, 1990, 55–71. 3 Vgl. Susannah Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie. Berlin 2001. 4 Vgl. Christian Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein „Schrei ins Leere“? Tübingen 1999, 88–130. 5 Zu Reaktionen jüdischer Intellektueller vgl. u. a. Michael A. Meyer, Great Debate on Antisemitism. Jewish Reaction to New Hostility in Germany 1879–1881, in: LBIYB 11, 1966, 137–170; Uffa Jensen, Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert. Göttingen 2005, 197–324.
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ligion, die den bürgerlichen Pflichten und der Identifikation mit einem auf liberalen Grundsätzen beruhenden deutschen Nationalstaat in keiner Weise entgegenstehe.6 Der Völkerpsychologe untermauerte diese Position durch seine Auffassung, Rasse und Blut stellten im Diskurs über Juden und Judentum keine relevanten Kategorien dar. Der „Volksgeist“ einer menschheitlichen Gruppe hänge nicht vom Blut ab, vielmehr könne der semitische Geist, Wegbereiter des Monotheismus, wertvolle Beiträge zum deutschen Nationalgeist leisten, ja, er sei im deutschen Geist – auf dem Wege über das Christentum, das im Grunde selbst eine semitische Religion sei – längst darin wirksam.7 Die Frage, ob diese Art der Selbstverteidigung der jüdischen Minderheit durch wissenschaftliche Aufklärung tatsächlich erfolgversprechend sei, beurteilte Steinthal allerdings mit erheblicher Skepsis, wenn er bereits 1879 in seinem Essay „Ueber religiöse und nationale Vorurteile“ den Antisemitismus als von Emotion, von Gefühlen der Fremdheit, der Angst und des Hasses gesteuerte beharrliche kognitive und moralische Fehlleistung beschrieb, die jeder realen Erfahrung vorausliege und jeder Widerlegung unzugänglich sei: „Vorurteile werden wie Lieblinge, Kinder der Liebe, gehegt, deren Schwäche wir kennen, von denen wir alles Schädliche fernhalten“.8 Dennoch, trotz seiner Vermutung, er rede zu Feinden, die nicht hören wollten, betonte er, es gehöre zur Würde und Verantwortung gerade der Wissenschaft des Judentums, den Anfeindungen beharrlich entgegenzutreten.
‚Abwehrarbeit‘ zwischen „Trotzjudentum“ und „jüdischer Renaissance“ Einen wichtigen Wendepunkt für das apologetische Projekt der Wissenschaft des Judentums stellt die Entwicklung einer kollektiven Abwehrbewegung gegen den Antisemitismus dar, die sich in den 1890er Jahren allmählich wirkungsvolle Institutionen und Verteidigungsstrategien schuf. Vor der wilhelminischen Zeit 6 Heymann Steinthal, Das auserwählte Volk oder Juden und Deutsche [1890], in: ders., Über Juden und Judentum, hrsg. von Gustav Karpeles. Berlin 1910, 12–17. 7 Heymann Steinthal, Die Stellung der Semiten in der Weltgeschichte [1890], in: ders., Über Juden und Judentum (wie Anm. 6), 105–125. 8 Heymann Steinthal, Ueber religiöse und nationale Vorurteile [1879], in: ders., Zu Bibel und Religionsphilosophie. Vorträge und Abhandlungen. Berlin 1890, 207–237, hier 218–219. Zu Steinthals Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus vgl. Cornelie Kunze, H. Steinthals Über Juden und Judentum im Kontext des aufkommenden Antisemitismus, in: Hartwig Wiedebach/Annette Winkelmann (Hrsg.), Chajim H. Steinthal. Sprachwissenschaftler und Philosoph im 19. Jahrhundert. Leiden 2002, 153–170.
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herrschte innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland trotz und gerade angesichts der zunehmenden Bedrohung durch die antisemitische Bewegung der 1880er und 1890er Jahre tendenziell eher Vorsicht gegenüber einer allzu offensiven organisierten Verteidigung der eigenen Interessen. Motiviert war diese Zurückhaltung durch die Befürchtung, solche Aktivitäten könnten als jüdische Sonderpolitik oder als Eingeständnis dessen verstanden werden, dass die Integration gescheitert sei und tatsächlich eine ‚Judenfrage‘ existiere. Nicht wenige jüdische Zeitgenossen verstanden den Antisemitismus einerseits als bloßes Relikt vergangener Ressentiments der nichtjüdischen Gesellschaft, andererseits als Reaktion auf historisch bedingte Fehlentwicklungen im eigenen Sozialverhalten, der mit der Zeit durch vollkommenere Integration die Kraft entzogen werden könne.9 Liberaler Fortschrittsoptimismus ließ die antisemitischen Bestrebungen zudem als Nachwehen längst überholter Denkmuster erscheinen, die keine Zukunft hätten und letztlich von selbst verschwinden würden. Die frühen Ansätze einer Gegenwehr vor 1890 entfalteten daher, wie die aufgrund mangelnder Kooperation weitgehend erfolglose Rechtsschutzarbeit des 1869 gegründeten Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes zeigt, keine nachhaltige organisatorische Wirkung.10 Auch das 1880 von dem Völkerpsychologen Moritz Lazarus (1824–1903) ins Leben gerufene Dezember-Komitee, das vor allem Kenntnisse über das Judentum verbreiten sollte, fand in der jüdischen Öffentlichkeit kaum Resonanz.11 Erst zu Beginn der 1890er Jahre entwickelte sich eine Form lokaler Abwehrarbeit, die sich in Broschüren und Reden vor antisemitischen Versammlungen artikulierte und allmählich ein Bewusstsein für die Notwendigkeit solidarischer Interessenpolitik schuf.12 Vor allem die örtlichen Vereine für Jüdische Geschichte und Literatur, die sich zum Ziel setzten, der jüdischen Minderheit zu helfen, sich ihres religiösen Erbes zu vergewissern und dieses zu verteidigen, und der 1893 von Gustav Karpeles (1848–1909) begründete Verband der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur können als Indika-
9 Vgl. Arnold Paucker, Zur Problematik einer jüdischen Abwehrstrategie in der deutschen Gesellschaft, in: Werner E. Mosse/ders. (Hrsg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890– 1914. Tübingen 1976, 479–547, hier 487. 10 Vgl. Ismar Schorsch, Jewish Reactions to German Antisemitism, 1870–1914. New York/London 1972, 23–52. 11 Lazarus rückte in der Folgezeit die wissenschaftliche Verteidigung der ethischen und kulturellen Relevanz des Judentums in den Vordergrund; vgl. Moritz Lazarus, Die Ethik des Judentums, 2 Bde. Frankfurt a. M. 1898–1911; zu Lazarus vgl. Mathias Berek, Moritz Lazarus. Deutschjüdischer Idealismus im 19. Jahrhundert. Göttingen 2020. 12 Vgl. Jacob Borut, The Rise of Jewish Defense Agitation in Germany, 1890–1895, in: LBIYB 36, 1991, 59–96.
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toren für ein wachsendes kulturell-historisches Selbstbewusstsein in dieser Zeit gelten.13 Die für die jüdische ‚Abwehrarbeit‘ entscheidende Gründung des Centralvereins Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens (C. V.) am 26. März 1893 verdankte sich der Entscheidung maßgeblicher Kreise der jüdischen Gemeinschaft, die Bekämpfung des Antisemitismus – wie es der Jurist Eugen Fuchs (1856– 1923), eine der einflussreichsten Figuren innerhalb der Organisation vor der Weimarer Zeit, formulierte – unter dem Slogan „Selbstverteidigung im vollen Lichte der Öffentlichkeit“ nunmehr selbst zu gestalten,14 anstatt sie den wohlwollenden nichtjüdischen, meist linksliberalen Politikern und Intellektuellen zu überlassen, die etwa im Kontext des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus agierten.15 Angesichts des qualitativen Wandels der Judenfeindschaft, der sich in einer neuerlichen Welle des Antisemitismus in Staat und Gesellschaft auswirkte, und der tiefen Desillusionierung hinsichtlich des politischen Spielraums und der Motive liberaler Befürworter jüdischer Gleichberechtigung war die Überzeugung gewachsen, die jüdische Gemeinschaft müsse Zuflucht zu neuen, effizienteren Methoden der Selbstverteidigung nehmen. Der C. V. stellte von Beginn an die Vertretung insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, der Mehrheit der „religiös-liberalen, assimilierten, deutschgesinnten, mittelständischen jüdischen Bevölkerung“ dar.16 Die Formulierung seines Selbstverständnisses und die Gestaltung der praktischen Arbeit wurden maßgeblich von einer Gruppe jüdisch-liberaler Akademiker geprägt, deren Akkulturation am weitesten gediehen war und die sich daher am tiefsten von Anfeindungen und Ausgrenzung im Kontext des akademischen Antisemitismus an den Universitäten betroffen fühlten: die zahlenmäßig dominierenden Juristen, die zumeist als Repräsentanten nach außen wirkten, aufgrund ihrer beruflichen Beschränkungen, sowie die Rabbiner und Lehrer, denen eher die kulturelle Arbeit zufiel, durch ihre Position als Vertreter einer vielfach diskriminierten und minderprivilegierten Religion.17 Der Akzent der Selbstverteidigung und der vom 13 Vgl. Schorsch, Jewish Reactions (wie Anm. 10), 111–113. 14 Eugen Fuchs, Die Bestrebungen und Ziele des Centralvereins, in: Im deutschen Reich (IdR) 1, 1895, 145–161, hier 151; zur Gründung und weiteren Entwicklung des C. V. bis zum Ersten Weltkrieg vgl. Schorsch, Jewish Reactions (wie Anm. 10), 117–148; Avraham Barkai, „Wehr Dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893–1938. München 2002, 19–54. 15 Vgl. dazu Schorsch, Jewish Reactions (wie Anm. 10), 79–102; Barbara Suchy, The Verein zur Abwehr des Antisemitismus (I). From its Beginning to the First World War, in: LBIYB 28, 1983, 205–239. 16 Paucker, Zur Problematik einer jüdischen Abwehrstrategie (wie Anm. 9), 491. 17 Vgl. Jacob Toury, Zur Problematik der jüdischen Führungsschichten im deutschsprachigen Raum 1880–1933, in: Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte 16, 1987, 145–168.
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C. V. angebotenen Gestalt jüdischer Identität lag auf der selbstverständlichen jüdischen Loyalität zum ‚Deutschtum‘ sowie auf dem Anspruch, die jüdische Glaubensgemeinschaft stelle einen legitimen Teil des vielgestaltigen nationalen, gesellschaftlichen und kulturellen Gefüges des Deutschen Reiches dar.18 Zentral war das Argument, die ursprüngliche ethnische Zusammengehörigkeit der jüdischen Gemeinschaft begründe – entgegen antisemitischen Unterstellungen – keine eigene nationale Identität, sondern qualifiziere sie als einen ‚Stamm‘ unter den anderen deutschen Stämmen. Dabei genoss die Demonstration der Zugehörigkeit zum ‚Deutschtum‘ anfänglich zumeist deutliche Priorität, während im Vergleich dazu die inhaltliche Füllung eines spezifisch jüdischen Selbstverständnisses zunächst noch kaum erkennbare Konturen gewann. Die Betonung der Treue zum Vaterland blieb das entscheidende Leitmotiv, wenn auch mit der Zeit das Element der bleibenden Loyalität zum Judentum als Religion und Kultur sowie der Notwendigkeit ihrer Verteidigung zunehmend deutlicher akzentuiert wurde. „Kerndeutsch und urechtjüdisch“, so der Hamburger Rabbiner Paul Rieger (1870–1939) anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des preußischen Emanzipationsedikts vom 11. März 1812, sei das Losungswort, mit dem die deutschen Juden „in das zweite Jahrhundert ihrer Gleichberechtigung eintreten. Sie glühen von heiliger Liebe für ihr preußisches Vaterland und für ihre jüdische Wahrheit“.19 Die konkreten Aktivitäten des C. V. lassen sich unter den Begriffen ‚Rechtsschutz‘ und ‚öffentliche Aufklärung‘ fassen. Die Rechtsschutzarbeit, die sich zunächst auf die Anstrengung von Prozessen gegen Antisemiten konzentrierte, zog mit der Zeit auch politische Aktionen nach sich, etwa im Rahmen der Wahlhilfe für die linksliberale Opposition und gegen antisemitische Kandidaten.20 Aus der Aufklärungsarbeit im Sinne einer Widerlegung antisemitischer Verleumdungen, für die dem C. V. seit 1895 mit der Monatsschrift Im deutschen Reich ein eigenes Organ zur Verfügung stand, entwickelte sich jedoch allmählich eine immer deutlicher profilierte Apologetik. Signifikant für diesen Aspekt der Abwehrarbeit ist der eng mit dem C. V. verbundene Verband der deutschen Juden (VdJ), der mit dem Ziel geschaffen wurde, Stolz auf die Zugehörigkeit zum Judentum zu wecken. Auf der ersten Hauptversammlung des Verbandes im Jah18 Jehuda Reinharz, Deutschtum and Judentum in the Ideology of the Centralverein Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893–1914, in: Jewish Social Studies 36, 1974, 19–39. 19 Paul Rieger, Das Judenedikt vom 11. März 1812, in: IdR 18, 1912, 113–121, hier 121. 20 Vgl. Marjorie Lamberti, Jewish Activism in Imperial Germany. The Struggle for Civil Equality. New Haven/London 1978, 23–54; zu Prozessen im Rahmen der Rechtsschutzarbeit vgl. Inbal Steinitz, Der Kampf jüdischer Anwälte gegen den Antisemitismus. Die strafrechtliche Rechtsschutzarbeit des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893–1933. Berlin 2008.
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re 1905 begründete Eugen Fuchs die Notwendigkeit dieser neuen Organisation damit, dass der C. V. trotz seiner Erfolge nicht das letzte Wort sein könne. Als Abwehrverein gegen die antisemitische Bewegung sei er nicht imstande, über die Tagesaktualität hinaus wichtige politische und kulturelle Funktionen zu erfüllen. Der Verband solle daher die Abwehrbestrebungen unterstützen und die jüdische Gemeinschaft dem Staat gegenüber vertreten, vor allem jedoch dafür sorgen, „daß aufklärende und apologetische Schriften in die Lande gesandt werden, welche über das Wesen des Judentums und seine Ethik Aufschluß geben“.21 Ziel sei – man beachte die charakteristische Doppelstruktur jüdischer Apologetik – die Aufklärung der Nichtjuden, vor allem aber auch die Verbreitung des Wissens über das Judentum innerhalb der jüdischen Gemeinschaft selbst: „Denn Abwehr verlangt Wissen, und Wissen bringt uns Selbstbewußtsein und Stolz und Treue, die über das Ende des Kampfes hinausreicht“.22 Tatsächlich gewann der VdJ seine Bedeutung vor allem durch seine von maßgeblichen Repräsentanten der Wissenschaft des Judentums getragene apologetische Tätigkeit. Viele der Vorträge und Aufsätze, in denen sich jüdische Forscher vor dem Ersten Weltkrieg mit den Vorurteilen nichtjüdischer Theologen, Historiker, Philosophen und Orientalisten auseinandersetzten, hatten ihren Ort in den vom Verband durchgeführten Versammlungen oder in seinem Organ, dem Korrespondenz-Blatt des Verbandes der Deutschen Juden, das 1907–1914 in 14 Nummern erschien und vor allem zur Verteilung in christlichen Kreisen gedacht war. Die Themen, die in diesen Jahren behandelt wurden, betrafen religiöse Fragen wie die Darstellung der Pharisäer, das Verständnis jüdischer Erwählung oder des jüdischen Universalismus, aber auch politisch-praktische Angelegenheiten wie Verbote des Schächtens, die rechtliche Stellung des jüdischen Religionsunterrichts oder die Zurücksetzung von Juden im Justizdienst. Der C. V. und der VdJ verkörperten also eine im Zeichen des modernen politischen Antisemitismus entstandene Bewegung zur Wahrung emanzipatorischer Interessen, aber auch zur Aufklärung über das Judentum, seine Geschichte und gegenwärtige Wirklichkeit. Gewiss stand das Bekenntnis zum ‚Deutschtum‘ zunächst im Vordergrund,23 und vielfach bildete die Ideologie des C. V., wie der Historiker Ismar Schorsch urteilte, eine – als „Trotzjudentum“ zu kennzeichnen21 Eugen Fuchs, Entwicklung und Aufgaben des Verbandes der Deutschen Juden. Vortrag gehalten am 30. Oktober 1905, in: ders., Um Deutschtum und Judentum. Gesammelte Reden und Aufsätze (1894–1919), im Auftrag des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens hrsg. von Leo Hirschfeld. Frankfurt a. M. 1919, 268–287, hier 284. 22 Ebd., 285–286. 23 Arnold Paucker, Die Abwehr des Antisemitismus in den Jahren 1893–1933, in: Herbert A. Strauss/Norbert Kampe (Hrsg.), Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust. Frankfurt a. M./New York 1988, 143–171, hier 151; vgl. die kritische Sicht von Evjatar Friesel,
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de – Ersatzreligion, insofern die Verteidigung gegen antisemitische Angriffe selbst ins Zentrum jüdischer Identität trat.24 Die Abwehrarbeit zwang jedoch unweigerlich zur Besinnung auf die Werte, die es zu verteidigen galt, forderte ein Wissen über die Tradition, das einem neuen jüdischen Selbstbewusstsein ein Fundament verschaffen sollte. Tatsächlich zeigten sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg Anzeichen einer identitätsbildenden Kraft der Abwehrbewegung,25 die mit in das von Shulamit Volkov identifizierte Phänomen jüdischer „Dissimilation“ gehören, insofern sie den Willen der Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft verkörperten, bei voller Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft und Kultur an der Berechtigung religiös-kultureller Eigenart festzuhalten.26 „Wir sind“, so stellte sich für Eugen Fuchs 1913 der Weg des C. V. dar, „innerlicher, positiver, jüdischer geworden, das kann ich ohne Stolz und ohne Überhebung von uns sagen, wenigstens bemühen wir uns, es zu sein“. Die Erkenntnis habe sich durchgesetzt, dass sich formale Abwehr nicht ausführen lasse „ohne Kenntnis, ohne Stolz, ohne Treue“, dass nicht einige jüdische Reserveoffiziere und Landräte das Ziel sein dürften, sondern dass es einer wirklichen „Renaissance des Judentums“ bedürfe.27 Rückblickend beschrieb Fuchs diese Entwicklung einer allmählichen ‚Positivierung‘ der Abwehrarbeit des C. V. wie folgt: Anfangs besaß die Mehrheit von uns kaum irgendwelches jüdisches Selbstbewußtsein. Die Gefühle, die uns beherrschten und die zur Gründung des Vereins geführt hatten, waren vorwiegend Ärger und Empörung über die uns versagte Rechtsgleichheit. […] Der Kampf mit der antisemitischen Radaupresse, die Stellung von Strafanträgen füllte zunächst unsere Tätigkeit ganz aus. […] Damals glaubte man noch, die Judenfrage durch einen seichten Rationalismus lösen zu können, glaubte den Antisemitismus aus der Welt zu schaffen, wenn man die Speisegesetze aufgab, dem Talmud abschwor und die Sozialdemokratie bekämpfte. In diesem naiven Glauben wurde damals unser Schrifttum, das Alte Testament, die Propheten in keiner Weise berührt, ja man hütete sich, sie in den Kampf einzubeziehen. Erst viel später dämmerte den führenden Persönlichkeiten die Erkenntnis auf, daß wirkungsvolle Abwehr gründliche Kenntnis des Judentums bedinge und daß man für die Gleichberechtigung der Juden nur dann mit Erfolg eintreten könne, wenn man als Kämpfer für die Gleichbewertung des Judentums auftrete. Auf diesem Wege führten unsere Abwehrbemühungen langsam zur Kenntnis unserer Tradition, zur Kenntnis The Political and Ideological Development of the Centralverein before 1914, in: LBIYB 31, 1986, 121–146. 24 Schorsch, Jewish Reactions (wie Anm. 10), 207. 25 Ebd., 38–39; Paucker, Zur Problematik einer jüdischen Abwehrstrategie (wie Anm. 9), 517– 518. 26 Shulamit Volkov, Jüdische Assimilation und Eigenart im Kaiserreich, in: dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays. München 1990, 131–145. 27 Eugen Fuchs, Referat über die Stellung des Centralvereins zum Zionismus vor der Delegiertenversammlung vom 30. März 1913, in: Fuchs, Um Deutschtum und Judentum (wie Anm. 21), 230–246, hier 236–237.
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der jüdischen Sittenlehre und Ethik, zur Kenntnis der Propheten und des Talmuds, und auf diesem Wege erst gelangten wir zu unserer wertvollsten Waffe: zu unserem Stolz auf das Judentum, zu unserem jüdischen Selbstbewußtsein. […] Mit der siegenden Kraft der Wahrheit hat sich dieser Gedanke Bahn gebrochen […]. Über alle Einzelerfolge hinaus darf der Centralverein es heute stolz sein Verdienst nennen, wenn das deutsche Judentum heute wieder Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstkritik besitzt und die Taufe wieder als Ehrlosigkeit, als Fahnenflucht gilt.28
Die Kontroversen über das ‚Wesen des Judentums‘ und das Konzept einer jüdischen Apologetik Nicht zufällig stellten die beiden Jahrzehnte vor dem Ende des Ersten Weltkriegs den Höhepunkt der Abwehrarbeit jüdischer Gelehrter im unmittelbaren Kontext des C. V. und darüber hinaus dar. Auslöser der Kontroversen über das ‚Wesen des Judentums‘, die zwischen der Jahrhundertwende und dem Ausbruch des Krieges die öffentlichen Diskussionen insbesondere zwischen liberalem Judentum und liberalem Protestantismus bestimmten, war zunächst der antijudaistische Charakter der 1900 veröffentlichten Schrift Adolf von Harnacks (1851–1930) über Das Wesen des Christentums. Der prominente Kirchenhistoriker, ein Gegner des politischen Antisemitismus, hatte in diesem höchst einflussreichen Buch, in dem er in großen Zügen die historischen Grundlagen eines modernen, vernunftgemäßen Christentums für das anbrechende 20. Jahrhundert darlegte, Jesus von Nazareth und seine Lehre auf dem Hintergrund eines negativen Bildes des „Spätjudentums“ gedeutet und weitgehend aus dem jüdischen Kontext herausgelöst. Dass ein so bedeutender protestantischer Gelehrter das nachbiblische Judentum von der Antike bis zur Gegenwart mit dem Anspruch auf höchste wissenschaftliche Objektivität implizit als religiös wie kulturell obsolete und sittlich inferiore Erscheinung kennzeichnete, löste bei seinen jüdischen Kollegen höchste Besorgnis aus.29 Die Erbitterung, mit der die nachfolgenden scharfen Debatten über das Judentum geführt wurden, an denen sich zahlreiche namhafte Repräsentanten der
28 Eugen Fuchs, Aus der Jugend des Central-Vereins, in: C. V.-Zeitung. Organ des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1, 04.05.1922, 2. 29 Vgl. Wiese, Wissenschaft des Judentums (wie Anm. 4), 131–139.
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Wissenschaft des Judentums beteiligten,30 hing damit zusammen, dass es sich dabei nicht um rein akademische, sondern um eminent politische Kontroversen handelte, in denen stets die Frage nach der Anerkennung oder Bestreitung der Relevanz und Gleichberechtigung des Judentums als eines religiös-kulturellen Elements der europäischen Gesellschaften auf dem Spiel stand. Im Medium der historischen, religionsgeschichtlichen und theologischen Diskussionen wurde vor allem der Streit um die verbreitete Forderung nichtjüdischer Intellektueller nach einer Unterwerfung der jüdischen Minderheit unter eine dominierende protestantische ‚Leitkultur‘ ausgetragen. Beim Kampf gegen den Antisemitismus und um die Rechte der jüdischen Gemeinschaft ging es daher, wie Leo Baeck 1910 betonte, eben nicht nur um die Beschränkungen der rechtlichen und sozialen Gleichheit des Einzelnen, sondern zugleich um die Vollendung der Emanzipation auch des Judentums, seiner Institutionen, zumal seiner seit Jahrzehnten von den Universitäten ausgeschlossenen Wissenschaft: Keine Minorität, die ihren eigenen Glauben hat, kann ihre Gleichberechtigung durchsetzen, so lange sie nicht für ihre Religion den Respekt erkämpft hat. Wir haben gestritten und streiten um Stellungen und Ämter; aber das alles wird auf die Dauer nichts fruchten, wenn wir nicht für unsere Religion vor allem streiten, um ihr die Achtung zu erringen, die ihr zukommt. Die echte, die ehrliche und aufrichtige Anerkennung werden wir uns endlich erwerben, nur wenn wir offen und stolz es immer bekennen: ‚Wir wissen, wer wir sind und weshalb wir es sind; wir sind Juden, weil wir Gott über uns wissen und die Wahrheit auf unserer Seite; wir sind Juden, weil wir überzeugt sind, in unserer Religion die Zukunft zu besitzen‘.31
Im Kontext der Kontroversen mit der protestantischen Universitätstheologie reflektierten die Repräsentanten der Wissenschaft des Judentums über Begriff, Konzeption, Strategie und Grenzen einer jüdischen Apologetik und nutzen dafür – neben den etablierten wissenschaftlichen Zeitschriften und Schriftenreihen – z. T. auch den institutionellen Rahmen oder die Publikationsmöglichkeiten, die ihnen der C. V. und der VdJ boten. Martin Schreiner beschrieb in seiner Schrift Die jüngsten Urteile über das Judentum (1902), in der er sich prononciert sowohl mit judentumsfeindlichen Tendenzen der protestantischen Theologie als auch mit den pseudowissenschaftlichen Angriffen antisemitischer Ideologen 30 Vgl. dazu Uriel Tal, Theologische Debatte um das „Wesen“ des Judentums, in: Mosse/Paucker (Hrsg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland (wie Anm. 9), 599–632; zum Echo der Wesensdebatte im C. V. vgl. Christian Dietrich, Verweigerte Anerkennung. Selbstbestimmungsdebatten im „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin 2014, 123–146. 31 Leo Baeck, Unsere Stellung zu den Religionsgesprächen, in: Liberales Judentum 2, 1910, 123–126, hier 126.
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wie Eduard von Hartmann (1842–1906), Paul de Lagarde (1827–1891) und Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) auseinandersetzte, stellvertretend für viele jüdische Gelehrte die Zwänge zur Apologetik, denen er sich ausgesetzt sah. Weil „die christlichen Theologen, Historiker und Philologen an die Betrachtung der jüdischen Geschichte und Litteratur“ voller negativer Werturteile heranträten und die Forschungen der Wissenschaft des Judentums völlig außer Acht ließen, verfolge seine Arbeit zwangsläufig „nicht nur einen wissenschaftlichen, sondern auch den praktischen Zweck, Vorurteile gegen das Judentum zu zerstören und sein Recht zur Geltung zu bringen“. Dies könne sich so lange nicht ändern, wie „ernste Gelehrte in ihren Urteilen über das Judentum nicht mehr Vorsicht walten lassen, so lange wissenschaftliche und litterarische Streber durch gelegentliche feindselige Äußerungen über Vergangenheit und Gegenwart des Judentums den Antisemitismus zu speisen nicht aufhören und so lange die Vernichtung des Judentums als erstrebenswertes Ziel hingestellt wird“.32 Welche Überlegungen sich konkret mit dem Begriff der ‚Apologetik‘ verbanden, zeigen programmatische Äußerungen des Berliner Historikers, Arabisten und Rabbiners Joseph Eschelbacher (1848–1916), der im Zusammenhang der ‚Wesensdebatte‘ mit zwei Verteidigungsschriften in Erscheinung getreten war.33 Im Oktober 1908 forderte er in einem Essay mit dem Titel „Aufgaben einer jüdischen Apologetik“ im Korrespondenz-Blatt des Verbandes deutscher Juden eine effiziente, wissenschaftlich fundierte Verteidigungsstrategie. Zu lange sei die alte Tradition der jüdischen Apologetik vernachlässigt worden und hätten sich Juden damit begnügt, lediglich Angriffe auf den Talmud und Verdächtigungen wegen Brunnenvergiftung, Hostienfrevel oder Ritualmord zurückzuweisen. In einer Zeit, in der Juden „jedes kräftige Wort und jede Wärme in der Aussprache ihrer Überzeugung“ hätten unterlassen und sich „mit stumpfen Waffen gegen starke, rücksichtslose Gegner“ wehren müssen, seien sie der Apologetik aus dem Wege gegangen. Der seit den Emanzipationskämpfen deutlich sichtbareren Literatur zur Verteidigung des Judentums komme angesichts des modernen An32 Martin Schreiner, Die jüngsten Urteile über das Judentum. Berlin 1902, V–VII; vgl. Moritz Güdemann, Jüdische Apologetik. Glogau 1906, VIII: „Es ist die wissenschaftliche christliche Theologie unserer Tage, die in zahlreichen Darstellungen eine Auffassung vom Judentum verbreitet, die unsere Abwehr herausfordert. Wenn auch jene Darstellungen nicht unmittelbar die jüdische Religion der Gegenwart ins Auge fassen, sondern ihre frühere Erscheinung schildern, so ist doch bei dem Zusammenhange zwischen Gegenwart und Vergangenheit auch das derzeitige Judentum in jene Schilderung einbezogen, was ihre Berichtigung zu einer um so dringenderen Pflicht macht“. 33 Joseph Eschelbacher, Das Judentum und das Wesen des Christentums. Vergleichende Studien. Berlin 1905; ders., Das Judentum im Urteile der modernen protestantischen Theologie. Leipzig 1907.
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tisemitismus enorme Bedeutung zu. Zwar hätten die „rohen Anfälle“ der Antisemitenparteien etwas nachgelassen, Juden müssten ihre Aufmerksamkeit nun jedoch verstärkt auf die subtileren Formen der „Verdächtigung und Herabsetzung alles Jüdischen“ richten, die „in weiten Kreisen der Gebildeten und Aufgeklärten“ herrschten, namentlich bei den „Männern der Feder“, welche die öffentliche Meinung bestimmten.34 Eine „redliche Apologetik“ dürfe dabei keine „advokatorische Kunst“ sein und „kein einseitiges Lichtbild gegenüber einem Schattenbilde“ zeichnen, sondern müsse „im Dienst der Wissenschaft und der Wahrheit“ stehen, sich also auf Gründe und Beweise stützen. Dass aus ihr „der warme Hauch der eigenen tiefen Überzeugung“ spreche, sei damit nicht ausgeschlossen. Unter dieser Voraussetzung werde die jüdische Apologetik, so hoffte Eschelbacher, „wenn auch nicht immer vollständige Zustimmung, so doch jedenfalls Achtung und Anerkennung sich erwerben“.35 Diese Ausführungen können als repräsentativ für das Selbstverständnis vieler der in der Abwehrbewegung tätigen Rabbiner und Gelehrten gelten. Sie weisen drei Leitmotive auf, die in der Auseinandersetzung mit der protestantischen Theologie immer wieder begegnen: Hoffnung auf die Wirksamkeit wissenschaftlicher Aufklärung, das Bewusstsein, für die intellektuelle Redlichkeit der Verteidigung verantwortlich zu sein, und zugleich die Überzeugung, es sei legitim, in der Apologetik auch die Treue zur eigenen Religion zum Ausdruck zu bringen. Eschelbacher wünschte sich eine „systematische Apologetik des Judentums und der Juden“, bei der die Verteidigung gegenüber christlichen Zerrbildern der jüdischen Religion und Ethik lediglich ein Teilaspekt sein sollte. Gerade ihr komme jedoch hohe Bedeutung zu, da religiöse Vorurteile nach wie vor den Nährboden für die radikaleren antisemitischen Einstellungen bildeten.36 Er forderte ein organisiertes Zusammenwirken jüdischer Forscher im Rahmen des VdJ und regte unterschiedliche praktische Projekte an, namentlich die Errichtung einer Biblio34 Joseph Eschelbacher, Aufgaben einer jüdischen Apologetik, in: Korrespondenz-Blatt des Verbandes deutscher Juden 2,3, 1908, 1–10, Zitate 2–4. 35 Ebd., 10. 36 Ebd., 5–6. Vgl. Simon Bernfeld, Die Organisation der Verteidigung, in: Ost und West 7, 1907, 738–742, bes. 742: Die Verteidigung der bürgerlichen Rechte der Juden sei nicht ohne die Verteidigung des Judentums zu leisten, denn die geschichtliche Erfahrung lehre, dass die Juden immer zunächst „wegen ihrer religiösen Anschauung und ihres religiösen Lebens verächtlich gemacht“ worden seien, – „dann kam ihre Entrechtung und Knechtung“. Vgl. Ignaz Ziegler, Jüdische Apologetik, in: AZJ 70, 1906, Nr. 47, 561–563 und Nr. 48, 572–574, bes. 561–562: Es müsse als „vornehmste Aufgabe der jüdischen Schriftgelehrsamkeit“ gelten, „den Schild des Judentums von dem Schmutze zu reinigen, mit dem die christliche Theologie, allen voran die protestantische, ihn von allen Seiten beworfen hat und unablässig bewirft“. Letztere leugne „die Daseinsberechtigung des Judentums, wie die politischen Feinde die der Juden leugnen“.
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thek apologetischer Werke, die Publikation eines apologetischen Handbuchs und die Schaffung eines Archivs, das in minutiöser Arbeit „alle irgendwie bemerkenswerte[n] Angriffe gegen Judentum und Juden“ und jenes Material sammeln sollte, das zu ihrer Entkräftung dienen konnte.37 Die „literarisch-apologetische Kommission“ des VdJ plante ursprünglich sogar, in Berlin einen „apologetischen Lehrstuhl“ und ein Zentrum zur Heranbildung kompetenter Kräfte zur Abwehr antisemitischer Angriffe einzurichten.38 Während das Projekt des Lehrstuhls an den Spannungen zwischen den verschiedenen jüdischen Strömungen scheiterte,39 erwies sich die Errichtung eines „apologetischen Archivs“ des VdJ, die 1910 unter der Leitung des österreichischen Rabbiners und Publizisten Simon Bernfeld (1860–1940) mit dem Ziel erfolgte, jüdischen und nichtjüdischen Verteidigern des Judentums das in einzelnen Schriften und Aufsätzen verstreute apologetische Material zur Verfügung zu stellen, als wirkungsvolle Maßnahme. Neben dem 1913 publizierten Essayband über Soziale Ethik im Judentum, das sich mit den fortschrittlichen Perspektiven des Judentums für Fragen des Rechts, der Wohlfahrt, der Volksbildung und der Geschlechterverhältnisse in der modernen Gesellschaft befasste,40 kann das umfassende fünfbändige Handbuch Die Lehren des Judentums nach den Quellen, an dem u. a. Gelehrte wie Leo Baeck und Ismar Elbogen (1874–1943) mitarbeiteten, als bedeutendste Leistung des Verbandes gelten. Dabei handelte es sich um den ambitionierten Versuch, den theologischen und ethischen Gehalt des Judentums aufgrund seiner eigenen Quellen darzulegen und so „in weiten Kreisen eine gerechte Würdigung des Judentums herbeizuführen“.41
37 Eschelbacher, Aufgaben einer jüdischen Apologetik (wie Anm. 34), 6–7. 38 Aus der literarisch-apologetischen Kommission, in: Korrespondenz-Blatt des Verbandes der deutschen Juden 3, 1908, 10–12. 39 Vgl. Schorsch, Jewish Reactions (wie Anm. 10), 175–176. 40 Verband der deutschen Juden (Hrsg.), Soziale Ethik im Judentum. Frankfurt a. M. 1913. 41 Verband der deutschen Juden (Hrsg.), Die Lehren des Judentums nach den Quellen, bearb. von Simon Bernfeld, 5 Bde. Berlin 1920–1929, Zitat aus dem Vorwort von Simon Bernfeld, in: Bd. 1: Die Grundlagen der jüdischen Ethik, 9. Bereits in der Anordnung des Materials spiegeln sich deutlich die apologetischen Anliegen des Handbuchs wider: Nach einer einführenden Orientierung über jedes Sachgebiet führen die Bearbeiter jeweils Stellen aus der Bibel sowie dem apokryphen und jüdisch-hellenistischen Schrifttum an; es folgen Stellen aus der rabbinischen und der mittelalterlichen religionsphilosophischen Literatur, einem von der christlichen Theologie stets ausgesparten Bereich. Das aus der neueren jüdischen Wissenschaft zitierte Material reflektiert deren Anspruch auf Relevanz für die Forschung. Die jeweils am Ende angeführten Stimmen christlicher, meist protestantischer Theologen sind so ausgewählt, dass sie als christliche Zeugnisse gegen antijüdische Vorwürfe und für den religiös-sittlichen Wert der Hebräischen Bibel und des Frühjudentums zu verstehen sind.
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In einem unveröffentlichten Vortrag, den Eschelbacher im Herbst 1908 vor der deutschen Sektion des Ordens B’nai B’rith hielt, beantragte er die Einsetzung einer literarischen „Überwachungskommission“ für alle Neuerscheinungen zu jüdischen Themen. Sie sollte über solche Schriften aufklären, „die geeignet sind, das Judentum im falschen Lichte erscheinen zu lassen oder es in den Augen des Judentums herabzusetzen“, und für die Verbreitung von Literatur sorgen, „die, frei von Vorurteilen, dem Judentum Gerechtigkeit zuteil werden läßt“. Dies schien ihm umso wichtiger, als er die nachhaltige Wirkung literarischer Erzeugnisse auf die Einstellungen einer Öffentlichkeit wahrnahm, die zumeist die Lückenhaftigkeit oder polemische Tendenz eines Werkes über das Judentum nicht aus eigener Kenntnis beurteilen konnte: Wir Juden leiden ganz besonders unter der Wirkung solcher einseitiger Darstellungen religiöser, geschichtlicher, politischer und sozialer Verhältnisse. Der Antisemitismus früherer, wie jetziger Zeiten war vielfach ein Erzeugnis literarischer Tätigkeit und einer längere Zeit fortgesetzten Einwirkung auf unsere Umgebung, wie auf unsere eigenen Kreise. Vielfach sind deren Urteile irregeführt worden durch die falsche Darstellung jüdischer Dinge, durch die Verschweigung wichtiger Tatsachen oder die systematische Ignorierung dessen, was die Juden auf irgend einem Gebiete geleistet haben. Ja, die Geringschätzung des jüdischen Wesens und Schrifttums, der jüdischen Geschichte, der bedeutungsvollen Teilnahme der Juden an der allgemeinen Entwickelung von Religion und Kultur, der ausgedehnten und erfolgreichen Leistungen von Juden auf den verschiedenen Gebieten wissenschaftlicher, produktiver und sozialer Arbeiten der Gegenwart beruht meist auf den ungenügenden Darstellungen, die davon in grossen, von der Autorität berühmter Namen getragenen Büchern gegeben werden. Diese, meist von hervorragenden protestantischen Gelehrten geschriebenen Werke beherrschen die Literatur und die öffentliche Meinung. Sie werden stets in erster Linie angeführt und für weitere Kreise empfohlen. Sie gelten als die standard Works. Wie bei Ämtern und Anstellungen Juden im Hintergrunde stehen und nur schwer zur Geltung und Anerkennung kommen, so werden vielfach selbst bedeutende Werke von Juden wenig beachtet, wenig angeführt, selbst in namhafte Bibliotheken nicht aufgenommen und so um die Wirkung gebracht, die ihnen nach ihrem innern Gehalte zukommt. Diese Ignorierung oder Geringschätzung jüdischer Werke und Leistungen entgegenzuwirken, ist eine Pflicht der Selbstachtung und zugleich ein Kampf im Interesse der Wahrheit. Wir wollen Niemanden eine Meinung aufzwingen, aber auch wir wollen gehört und beachtet werden. Wir wollen nichts, wie der Welt das Material für eine genaue und umfassende Prüfung und damit für ein gerechtes Urteil bieten. Wir wollen unsererseits dafür sorgen, dass die Schriften tüchtiger, wissensreicher und geistvoller jüdischer Schriftsteller nicht mehr unbeachtet zu Ladenhütern des Buchhandels werden, sondern bekannt und beachtet, von Juden, wie von ernsten, wahrheitsliebenden Nichtjuden gelesen und gewürdigt.42 42 Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem (CAHJP), Akten des Allgemeinen Rabbiner-Verbands in Deutschland M 4/2, Vol. 1: Joseph Eschelbacher, Referat zum Antrage auf Einsetzung einer literarischen Überwachungskommission für alle literarischen Neuerscheinungen, die zu Juden und Judentum in irgendwelcher Beziehung stehen [undatiert].
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‚Deutschtum‘ und Judentum: Wider die Taufe und für eine pluralistische Gesellschaft Die oben zitierte Passage zeugt von dem Bewusstsein, dass eine tendenziöse Darstellung des Judentums und seiner Geschichte zwangsläufig soziale Folgen haben musste. Darüber hinaus klingt neben dem Protest gegen die Missachtung der jüdischen wissenschaftlichen Selbstdarstellung die Sorge an, die jüdische Gemeinschaft könne durch solche Fremdbilder in ihrer Treue zur eigenen Tradition geschwächt werden. Im Zuge der Abwehrarbeit spielte die Klage über das Phänomen religiöser Indifferenz sowie des Verlustes an jüdischer Bindung eine zentrale Rolle. Ein großer Teil der jüdischen Gesprächsbeiträge zur Debatte über das ‚Wesen des Judentums‘ verfolgte daher die Absicht, Juden, die ihrer eigenen Tradition entfremdet waren, gegenüber einer Verinnerlichung antijüdischer Stereotype und der Faszination von einer modernen, ‚dogmenlosen‘ Variante des Protestantismus zu immunisieren und so den hegemonialen Ansprüchen einer preußisch-protestantischen Leitkultur entgegenzutreten.43 Vor allem die zunehmende Konversionsrate wurde, wie der Historiker Nathan Samter in seiner Untersuchung über Judentaufen im 19. Jahrhundert (1906) formulierte, als „eins der traurigsten Symptome von dem krankhaften Zustand unserer Religionsgemeinschaft“ wahrgenommen.44 Besonders bedrückend erschien ihm, dass nicht wenige Juden zwar selbst ihrer Herkunft treu blieben, aber keine Bedenken trügen, ihre Kinder „dem Christentum zu überantworten“, um ihnen größere Zukunftschancen zu eröffnen.45 „Alles, alles predigt über die Vorzüge des Christentums und die Inferiorität des Judentums“, klagte Samter und forderte, dem Indifferentismus müsse mit intensiver Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und Literatur begegnet werden, denn – „wer das Judentum kennt, muß es lieben und wird es nimmermehr verlassen“.46 Symptomatisch war die Reaktion jüdischer Gelehrter, als der Leiter der jüdischen Gemeindebibliothek in Berlin, Jakob Fromer (1865–1938), ein ursprüngAus den Akten geht hervor, dass der Antrag aufgrund eines Gutachtens von Ismar Elbogen, der die Nicht-Zuständigkeit des Ordens B’nai B’rith feststellte, an den Rabbiner-Verband verwiesen (ebd.: Brief vom 24. November 1908 mit Anlage des Gutachtens), nicht aber, ob das Projekt realisiert wurde. 43 Vgl. dazu Christian Wiese, Übertritt als Integrationsleistung? Leitkultur- und Konversionsdebatten im Deutschen Kaiserreich, in: Martin Przybilski/Carsten Schapkow (Hrsg.), Konversion in Räumen jüdischer Geschichte. Wiesbaden 2014, 81–122. 44 Nathan Samter, Judentaufen im neunzehnten Jahrhundert, mit besonderer Berücksichtigung Preußens. Berlin 1906, 96. 45 Ebd., 80. 46 Ebd., 97.
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lich aus Łódź stammender Orientalist, Talmudforscher und Schriftsteller, am 18. Juni 1904 in der von Maximilian Harden (1861–1927) herausgegebenen Zeitschrift Die Zukunft unter dem Pseudonym Dr. Elias Jakob einen Aufsatz über „Das Wesen des Judentums“ veröffentlichte und darin den Juden Westeuropas riet, sich taufen zu lassen und ganz in ihren Wirtsvölkern aufzugehen.47 Wenig später wurde Fromer als Autor enttarnt und von der Berliner Gemeinde seines Amtes enthoben. 1906 entfaltete er seine Ideen in seinem autobiografischen Bildungsroman Vom Ghetto zur modernen Kultur. Unter Hinweis auf den Antisemitismus als unabänderliche Tatsache der europäischen Kultur suchte er darin das Selbstverständnis und Integrationsmodell des liberalen Judentums als illusorisch zu entlarven und forderte als Lösung des jüdischen Dilemmas in der Moderne eine radikale Assimilation, ein allmähliches Verdorren-Lassen der jüdischen Wurzeln namentlich durch die Taufe der eigenen Kinder.48 Ismar Elbogen, Dozent für jüdische Geschichte und Liturgie an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, brachte die Haltung des liberalen Judentums in einer Rezension in der Zeitschrift Im deutschen Reich stellvertretend zur Sprache, wenn er Fromer entgegenhielt, der Religionswechsel sei für den, der ihn vollziehe, ebenso schmachvoll wie für den Staat, der ihn fordere, und ihm vorwarf, seine Aufforderung zur Taufe der Kinder gebe lediglich dem Vorurteil der Judenfeinde Recht, „daß dem modernen Juden für Geld und Ehren alles feil ist, daß er auch mit dem Heiligsten und Teuersten Schacher treibe“. Angesichts der Tatsache, dass Juden sich durch alle Judenverfolgungen hindurch die Kraft ihres Glaubens bewahrt hätten, könne das Ansinnen, in den weit günstigeren Zeiten der Emanzipation „unterzutauchen“ und das Judentum der Auflösung entgegenzutreiben, nur als schmachvoll gelten – ihm nachzugeben „hieße den Glauben an die sittliche Zukunft der Menschheit aufgeben“.49 Herausfordernder als Fromers Gedanken selbst, die man letztlich als marginal hätte abtun können, wirkte ihre Rezeption durch – ausgerechnet liberale – Nichtjuden, die ihn zum Kronzeugen der Unmöglichkeit des Überlebens eines modernen Judentums machten. Namentlich das positive Urteil des unter jüdischen Intellektuellen weithin anerkannten Orientalisten Theodor Nöldeke (1836–1930), der Fromers Buch als „von tiefer Einsicht und von rücksichtslosem Wahrheitssinn zeugende Abhandlung“ würdigte, rief eine Reihe jüdischer Kritiker auf den Plan. Nöldeke gestand zwar zu, dass Fromers Ideen über das „Wesen 47 Elias Jakob [Jakob Fromer], Das Wesen des Judentums, in: Die Zukunft 47, 1904, 440–456; vgl. Jakob Fromer, Das Wesen des Judentums. Berlin/Leipzig 1905. 48 Jakob Fromer, Vom Ghetto zur modernen Kultur. Eine Lebensgeschichte. Heidelberg 1906, 182–183. 49 Ismar Elbogen, Das Wesen des Judentums. Eine Erwiderung, in: IdR 10, 1904, 378–386, hier 382–383.
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des Judentums“ verkürzt seien, pflichtete ihm jedoch der Grundtendenz nach bei und urteilte, immer Fromer zitierend, die Juden in der Zerstreuung seien „sich und den Wirtsvölkern zum schweren Nachteil gewaltsam und naturwidrig ein Volk geblieben“ und das Judentum habe „der modernen Bildung gegenüber […] keine Existenzberechtigung“ mehr. Sobald die Juden die moderne Kultur annähmen und die volle Gleichberechtigung verlangten, hätten sie „kein Recht auf Fortführung einer Sonderexistenz, die ihren Ahnen ungemessene Trübsal bereitet“. Die Amtsenthebung Fromers verurteilte Nöldeke als illiberalen Akt, der nur durch den traditionellen jüdischen „Religionshaß“ gegen Dissidenten zu verstehen sei, die öffentlich aussprächen, „was doch manche ‚Glaubensgenossen‘ im Gespräch mehr oder weniger anerkennen“, nämlich, dass das Judentum rettungslos überlebt sei.50 In einem Beitrag, den er im März 1907 in einer von dem Sozialdemokraten und Herausgeber des Berliner Generalanzeigers für die gesamten Interessen des Judentums, Julius Moses (1868–1942) initiierten Umfrage über Wesen und Lösung der ‚Judenfrage‘ veröffentlichte, wurde Nöldeke noch deutlicher. Gewiss sei es historisch nachvollziehbar, dass die Juden in der kurzen Zeit seit der Gewährung der bürgerlichen Gleichberechtigung ihre „Sonderstellung“ bewahrt hätten. Nun sollte jedoch „wenigstens der gebildete und dogmatisch nicht gefesselte Jude den Schritt tun, der am sichersten und schnellsten die Verschmelzung mit der Nation herbeiführt, unter der er lebt: daß er, wenn er sich selbst nicht entschließen kann, sich taufen zu lassen, doch wenigstens seine Kinder durch die Taufe der Gesamtheit wirklich einverleibt“. Wer mit dem orthodoxen Judentum an der jüdischen Tradition hänge und glaube, „daß der Messias kommen werde (‚in unseren Tagen!‘)“, der möge seinen Glauben bewahren, dürfe „dann aber auch nicht verlangen, als einheimischer Vollbürger betrachtet zu werden“.51 Dass ein prominenter liberaler Gelehrter in dieser Weise das Aussterben des Judentums als notwendigen Prozess voraussetzte, veranlasste den Marburger Neukantianer Hermann Cohen zu einer heftigen öffentlichen Stellungnahme. Fromer mache sich der Verletzung der religiösen Scham schuldig, wenn er nicht einmal die Spur eines Zweifels daran zeige, ob nicht doch bei gebildeten Juden ein religiöses Bedenken vorhanden sein könnte, „welches ihm die Taufe seiner Kinder ebenso verbieten würde und müßte, wie er seine eigene nicht über sich 50 Theodor Nöldeke, Besprechung von Jakob Fromer, Vom Ghetto zur modernen Kultur. Eine Lebensgeschichte, Berlin/Leipzig 1905, in: Münchner Neueste Nachrichten 596, Morgenblatt, 21.12.1906. 51 Theodor Nöldeke, in: Die Lösung der Judenfrage. Eine Rundfrage, hrsg. von Julius Moses. Berlin/Leipzig 1907, 233–234.
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zu bringen vermag“. Dass Fromer – und mit ihm Nöldeke – dem Judentum das Recht auf „Sonderexistenz“ bestreite, verstoße gegen die verfassungsmäßig verbrieften rechtlichen Grundlagen der Emanzipation und müsse als „der nackteste Antisemitismus“ gelten.52 Als Nöldekes Grundfehler diagnostizierte Cohen die „Skepsis gegen das liberale Judentum“, die ihn dazu verführe, dessen religiöse Kraft und so auch dessen „intime Zusammenhänge mit den innersten Triebkräften der sittlichen Kultur“ zu verkennen. Zugleich übersehe er die tiefgreifenden Differenzen zwischen Judentum und Christentum im Bereich der Gottesidee, die Juden eine Konversion unmöglich machten.53 Hätte Nöldeke jüdische Freunde, die ihrem Glauben die Treue bewahrten, so hätte er durch sie das Wesen der jüdischen Religiosität kennengelernt und ihre Standfestigkeit „anerkannt, hochgerühmt und mehr als dies, natürlich und sympathisch gefunden“. Er hätte dann feststellen können, wie bei liberalen Juden die Treue zu ihrem Glauben mit der Treue zum deutschen Vaterland und seiner Kultur und mit Achtung gegenüber dem Christentum selbstverständlich verbunden sei. Und so hätte er tun können, was er – Cohen – als Jude von den liberalen christlichen Freunden erwarten müsse: dass sie „das Wesen unserer Religiosität kennen zu lernen sich gedrungen fühlen, und daß es ihnen Bedürfnis werden muß, in diesem Heiligsten unseres Inneren uns die Sympathie der Verständigung und der Freundschaft zu widmen“.54 Die Verantwortung für Nöldekes verfehlte Interpretation der Bedingungen der Integration schrieb Cohen jenen Juden zu, die das Judentum verrieten, sie, und nicht die Antisemiten oder die Konservativen, seien dessen „schlimmste Feinde“: Sie sind unsere Ankläger. Sie sagen nicht etwa: Wir sind Opportunisten, sind moderne Menschen; was geht uns die Religion an? Wir wollen für unsere Kinder sorgen. So entschuldigen sie sich bei ihren jüdischen Freunden. Den Christen aber sagen sie: Die jüdische Religion ist minderwertig; wir wollen nicht, daß unsere Kinder mit ihr zusammenbleiben; das Höchste, was ihr Wahrheitsgefühl etwa noch leisten könnte, wäre, zu sagen: faute de mieux lassen wir sie Christen werden. Dagegen aber, ob sie es sagen oder nicht, wirkt ihr Beispiel im nationalen Sinne gegen uns. Ihr Verhalten wird als ein nationales Opfer gesehen, das die anderen Juden – aus Mangel an deutschem Nationalgefühl – verschmähen. Nach diesen ‚Juden‘ beurteilen uns die besten Christen. Darum glauben sie es uns nicht, wenn wir mit dem Propheten sagen: Ich bin Hebräer, weil ich den Ewigen, den Gott des Himmels, ehrfürchte. Diese Überläufer schwächen auch unter uns die Energie und den Enthusiasmus des religiösen Bewußtseins; sie stumpfen das sittliche Gefühl ab über eine natürliche Ehrenfrage des schlichten Menschengefühls, und sie untergraben 52 Hermann Cohen, Das Urteil des Herrn Prof. Nöldeke über die Existenzberechtigung des Judentums, in: Hermann Cohens Jüdische Schriften, 3 Bde. Berlin 1922–1924, hier Bd. 2: Zur jüdischen Zeitgeschichte, hrsg. von Bruno Strauß. Berlin 1924, 369–377, hier 371–372. 53 Ebd., 374–375. 54 Ebd., 376.
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nicht minder auch die naive Überzeugung von der Verträglichkeit des Judentums mit dem deutschen Nationalgefühl. Trotz alledem aber stehen diese beiden Gemütskräfte als natürliche Gefühle unauslöschlich in uns, und sie werden in uns fortleben, indem sie einander bald mäßigen und einschränken, bald beschwingen und kräftigen, bis die ethische Entwicklung der Menschheit zu ihrer Reife gelangen wird.55
Mit seiner Intervention bekräftigte Cohen die im Zusammenhang der Abwehrarbeit des C. V. und des VdJ vor allem seit der Jahrhundertwende immer offensiver betonte Zurückweisung von Taufe und ‚Assimilantentum‘ als einer charakterlichen Schwäche.56 Er hatte seit langem vor der moralischen und politischen Gefahr jüdischer Konversionen zum Christentum gewarnt, da Konversionen gerade in einer Zeit neuer Judenfeindschaft und des durch gesellschaftliche Diskriminierung und kulturelle Verunglimpfung gesteigerten Taufdrucks fatal seien.57 Es ging ihm jedoch im Grunde weniger um die Ächtung der Taufwilligen als vielmehr um kultur- und bildungspolitische Strategien zur Förderung des religiösen Bewusstseins der jüdischen Jugend und zur Sicherstellung der rechtlichen Durchsetzung der Emanzipation. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg trat Cohen dezidiert dafür ein, jüdische Identität durch Bildung zu stärken, um so dem gesellschaftlichen Konversionsdruck zu begegnen und zur „wahrhaften, leben-
55 Ebd., 377. Vgl. Jakob Klatzkin, Ein offener Brief an Herrn Prof. Theodor Nöldeke, in: Frankfurter Israelitisches Familienblatt 5,15, 1907, 1–3. 56 Mit besonderer Schärfe brachte etwa der im C. V. engagierte Leipziger Rabbiner Felix Goldmann (1882–1934) 1910 die Stimmung gegen getaufte Juden in einem programmatischen Aufsatz zum Ausdruck. Der „Kampf gegen das Taufjudentum“ sei schon deshalb nötig, weil es die Bemühungen vereitele, Staat und Gesellschaft davon zu überzeugen, dass die Juden in Deutschland es mit ihrem Festhalten an ihrer Religion und der Forderung nach Gleichberechtigung in ihrer Unterschiedenheit ernst meinten. Ein „widerwärtiges Strebertum, das Ehre und Ehrlichkeit der Karriere opfert“, könne einer Würdigung des wahren Wesens des Judentums nur schaden; erforderlich seien daher eine scharfe Bekämpfung des Indifferentismus und die gesellschaftliche Ächtung der Getauften, vgl. Felix Goldmann, Taufe und Gleichberechtigung, in: IdR 16, 1910, 65–76, Zitate 74–76. Vgl. bereits Felix Goldmann, Der getaufte Jude, in: IdR 13, 1907, 397–402; 14, 1908, 395–402, bes. 369–370. Zur Taufbewegung der Zeit vgl. Guido Kisch, Judentaufen. Eine historisch-biographisch-psychologisch-soziologische Studie besonders für Berlin und Königsberg. Berlin 1973; zur Diskussion innerhalb des C. V. vgl. Barkai, „Wehr Dich“ (wie Anm. 14), 43–45. 57 Vgl. Hermann Cohen, Der Religionswechsel in der neuen Ära des Antisemitismus [1890], in: Cohen, Jüdische Schriften (wie Anm. 52), Bd. 2, 323–345, hier 345: „Das ist das positive Unrecht, welches der Religionswechsel der verlassenen Glaubensgemeinschaft zufügt: er bestätigt und bestärkt die Gesellschaft und die Staatsverwaltung in ihrem Mißtrauen und ihrem Widerstande gegen die staatsrechtlich gleichgestellte jüdische Gemeinde. So greift die Privatmoral in die öffentliche über“.
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dig durchgeführten sozialen Gleichstellung“ der Juden beizutragen.58 Die eigenständigen Institutionen der Wissenschaft des Judentums in Breslau und Berlin hätten viel geleistet und beeinflussten auch die allgemeine Wissenschaft, doch diese Wirkung bleibe „unterbunden, gehemmt, vom Vorurteil des Ghetto verdunkelt und verdrängt“.59 Mit der Emanzipation der Juden, so argumentierte Cohen in einem Essay anlässlich der Hundertjahrfeier des Emanzipationsedikts von 1812, sei der Begriff des „christlichen Staates“ grundsätzlich entwurzelt, das Judentum von einer Schutzreligion zu einem den christlichen Konfessionen rechtlich gleichgestellten Bekenntnis geworden. Der Staat habe damit die Pflicht übernommen, die jüdische Religion aktiv zu fördern und den negativen Begleiterscheinungen der Akkulturation, dem Verlust an jüdischer Bildung und Identität, entgegenzuwirken. Es liege daher im Prinzip der Emanzipation, dass die „volle wissenschaftliche Pflege und Fortentwicklung“ der jüdischen Religion „in ihrer politisch anerkannten Lebendigkeit als Kulturaufgabe des Staates zugestanden“ sei. Entsprechend müsse der Staat dafür Sorge tragen, dass an den Universitäten jüdische Religion und Kultur nicht als „historisches Petrefakt“, sondern „auf Grund der wissenschaftlich freien Überzeugung von dem Wahrheitsgehalt des Judentums“ von jüdischen Forschern gelehrt werde. Mit eindringlicher Schärfe verlangte er zudem, die Politik der Verführung zum Glaubenswechsel und somit die Förderung der Wahrnehmung zu beenden, „der jüdische Dissident allein beweise sein Recht am nationalen Staate. Das ist der moderne Scheiterhaufen. Wir verachten ihn“.60 Eine der prominentesten jüdischen Stimmen in den zeitgenössischen Leitkultur- und Konversionsdebatten war jene Leo Baecks, der 1905 mit seinem Buch über Das Wesen des Judentums eine brillante religionsphilosophische Apologie des modernen Judentums als der überlegenen Religion der Zukunft vorgelegt hatte.61 Sein spezifischer Beitrag zum Abwehrkampf des C. V. bestand darin, 58 Hermann Cohen, Zwei Vorschläge zur Sicherung unseres Fortbestandes [1908], in: Cohen, Jüdische Schriften (wie Anm. 52), Bd. 2, 133–141, hier 138. 59 Ebd., 139. Vgl. auch Cohens Vortrag auf der Tagung des Verbandes der deutschen Juden in Frankfurt am Main am 13. Oktober 1907: Hermann Cohen, Religiöse Postulate [1907], in: Cohen, Jüdische Schriften (wie Anm. 52), Bd. 1: Ethische und religiöse Grundfragen, hrsg. v. Bruno Strauß. Berlin 1924, 1–17. 60 Hermann Cohen, Emanzipation. Zur Hundertjahrfeier des Staatsbürgertums der preußischen Juden (11. März 1912), in: Cohen, Jüdische Schriften (wie Anm. 52), Bd. 2, 220–228, hier 227; zu den Diskussionen dieser Zeit über die Etablierung der Wissenschaft des Judentums an den Universitäten vgl. Wiese, Wissenschaft des Judentums (wie Anm. 4), 294–360. 61 Vgl. Leo Baeck, Das Wesen des Judentums. Berlin 1905; ders., Die Religion der Zukunft, in: Liberales Judentum 2, 1910, 217–220; vgl. Christian Wiese, Ein unerhörtes Gesprächsangebot: Leo Baeck, die Wissenschaft des Judentums und das Judentumsbild des liberalen Protestantis-
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dass er der Tendenz des Kulturprotestantismus, dem Judentum die Legitimität als gleichberechtigte religiös-kulturelle Kraft in Deutschland zu bestreiten, die politische Vision einer pluralistischen, für verschiedene religiöse Traditionen und Minderheiten offenen Gesellschaft und Kultur entgegenhielt. Theologisch forderte er den liberalen Protestantismus durch die polemische These heraus, letzterer vollziehe mit seiner Konzentration auf ethische Themen und die kritische Revision der christologischen und trinitarischen Dogmen im Grunde eine „Umkehr zum Judentum“, d. h. eine Wiederannäherung an die jüdischen Ursprünge des Christentums, die ihn auch dem modernen Judentum näherbringen müsse.62 In anderen, eher religionspolitischen Essays bestritt er grundsätzlich das protestantische Konzept einer dominierenden, exklusiven christlichen Kultur und forderte, das Judentum müsse als integraler Teil des ‚Deutschtums‘ anerkannt werden und das Recht besitzen, gleichberechtigt – und bei voller Bewahrung der eigenen jüdischen Identität – daran teilzuhaben. Als der prominente liberale Berliner Rechtshistoriker Josef Kohler (1849–1919) die Juden in Deutschland in der Deutschen Montagszeitung unter Hinweis auf die starke Affinität zwischen liberalem Judentum und protestantischem Christentum zur Konversion aufforderte und betonte, der Übertritt und die Aufgabe jüdischer Sonderidentität seien „die Bedingung vollständiger Assimilation“,63 verurteilte Baeck das illiberale politische und rechtliche Denken, das in diesem Ansinnen zum Ausdruck kam: Eine einheitliche christliche Gesellschaftsgrundlage, deren sich das Mittelalter vielleicht rühmen konnte, gibt es nicht mehr. Heute besteht die Assimilation in dem Eintritt in die Kultur-, Rechts- und Arbeitsgemeinschaft, die geistige wie die materielle, und der sich daraus ergebenden Gleichberechtigung, und diese dreifache Gemeinschaft, die die organische Verbindung der Einzelnen im Staatsganzen bewirkt, ist heute durchaus interkonfessionell und unkonfessionell. Ein Jude, der den angeratenen Übertritt von wegen der Assimilation vollzöge, verleugnete damit also auch den Geist der Gegenwart und wendete sich zur mittelalterlichen Anschauung wieder zurück.64
Seine Überzeugung, religiöse Vielfalt und eine Kultur, welche die Minderheiten und ihr Recht zu schätzen wisse, seien ein Segen für die Gesellschaft, bekräftigte mus, in: Georg Heuberger/Fritz Backhaus (Hrsg.), Leo Baeck 1873–1956. „Mi gesa rabbanim“ – Aus dem Stamme von Rabbinern. Frankfurt a. M. 2001, 147–171. 62 Leo Baeck, Umkehr zum Judentum, in: Korrespondenzblatt des Verbandes der deutschen Juden 3,5, 1909, 1–5; vgl. dazu Wiese, Wissenschaft des Judentums (wie Anm. 4), 256–262. 63 Josef Kohler, Die Juden, in: Deutsche Montagszeitung vom 12.12.1910; zit. n. Werner Sombart (Hrsg.), Judentaufen. München 1912, 62–68, hier 66. 64 Leo Baeck, Judentum und Juden. Eine Entgegnung auf die Aufforderung von Professor Josef Kohler, in: Liberales Judentum 3, 1911, 2–5, hier 3–4.
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Baeck in einem am 5. November 1911 vor der Hauptversammlung des Verbandes der deutschen Juden gehaltenen Vortrag über „Das Judentum unter den Religionen“. Er vertrat darin die Auffassung, eine Gesellschaft könne überhaupt nur dann als modern gelten, wenn sie sich von jeglicher Vorstellung einer absoluten Religion löse und sich den Idealen der Toleranz und des Pluralismus zuwende. Als zerstreute Minorität hätten sich die Juden, als die „grossen Nonkonformisten“, die „grossen Andersseienden, die ihren Glauben für sich haben wollten“, zu allen Zeiten den Machtansprüchen ihrer Umwelt widersetzt. Die Geschichte habe sie zudem allmählich die Anerkennung der Bedeutung auch anderer Religionen gelehrt, wenn auch nicht im Sinne einer „theoretische[n], indifferente[n] Toleranz“. Wahre, praktische Toleranz „steht nicht bloss gleichgültig dem andern gegenüber, sondern sie gründet sich auf Sympathie, sie sucht in das Wesen des anderen einzudringen, die Seele des anderen zu verstehen“.65 Die jüdische Tradition zeichne sich durch Offenheit und Respekt für mannigfaltige Wege zur Wahrheit aus, und das Judentum habe sich nie als Kirche verstanden, die den Einzelnen Glaubenszwängen unterwerfen dürfe, sondern das Wesentliche stets im Tun des Menschen, in der Verwirklichung des Willens Gottes erblickt. Juden hätten ihren festen Glauben, mit dem sie lebten und in den Tod gingen. Sie glaubten an eine historische Sendung ihrer Religion, hielten jedoch an dem alten Grundsatz fest: „Fromme gibt es in allen Gemeinden auf Erden“, oder, wie Baeck interpretierte: „um fromm und gottesfürchtig zu sein, muss man nicht erst ein Jude werden“.66 Dabei verhehlte Baeck nicht, dass die religiös-ethischen Werte des Judentums seiner Überzeugung nach dem menschlichen Fortschritt am ehesten entsprachen. Die modernen, auf Humanität gerichteten Entwicklungen anderer Religionen deutete er aus ihrem unbewussten Streben, „jüdischer, dem Judentum näher“ zu sein. Der Fortschritt der Zeiten bestand jedoch aus seiner Sicht nicht in uniformen religiösen Überzeugungen, sondern „weit mehr in der Herausbildung der Fülle der Eigenart“. Das liberale Judentum träume nicht davon, die „absolute Religion“ zu sein, sondern richte, entsprechend dem politischen Zukunftsbild vereinigter Kulturstaaten, seine messianische Hoffnung auf die „vereinigten Religionen der Kulturwelt.“ Seine jüdischen Zeitgenossen rief Baeck dazu auf, für eine pluralistische Gesellschaft zu kämpfen und in der Begegnung mit dem Christentum das eigene Selbstverständnis in aller Klarheit geltend zu machen, denn Selbstverleugnung sei nicht nur Feigheit, sondern auch „Intoleranz im niedrigsten, unsympathischsten Sinne“, da sie die Differenz des Ande65 Leo Baeck, Das Judentum unter den Religionen, in: Korrespondenzblatt des Verbandes der deutschen Juden 6,11, 1912, 9–15, hier 9. 66 Ebd., 12.
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ren nicht ernstnehme. Mit diesem Appell an die Treue der Juden zu ihrer eigenen Gemeinschaft ging zugleich die Forderung an die Mehrheitsgesellschaft einher, dem Judentum ohne Vorurteil seinen legitimen Platz als Bestandteil der europäischen Kultur zuzugestehen und anzuerkennen, „daß unsere Besonderheit keine Sondertümelei ist, sondern ein wertvolles menschliches Besitztum“.67
„Eine spaßhafte Prozessgeschichte mit ernstem Hintergrund“: Der Gotteslästerungsprozess gegen Theodor Fritsch Die Auseinandersetzung jüdischer Gelehrter mit dem Zusammenspiel protestantischer Stereotypen und antisemitischer Ressentiments betraf eine Vielzahl theologischer und religionsgeschichtlicher Fragestellungen – von christlichen antitalmudischen Affekten über die Abgrenzung Jesu und des frühen Christentums vom antiken Judentum bis zur Verneinung der Sittlichkeit der Hebräischen Bibel, etwa im Kontext des berühmten Bibel-Babel-Streits zu Beginn des 20. Jahrhunderts.68 Der C. V. war an diesen Kontroversen vor allem im Kontext jahrelanger erbitterter Debatten über den Gottesbegriff der Hebräischen Bibel beteiligt, die durch die Agitation eines der radikalsten Vertreter des völkischen Antisemitismus jener Zeit, des Leipziger Publizisten Theodor Fritsch (1852–1933), ausgelöst worden waren und sich über sieben Jahre hinzogen.69 Auslöser waren mehrere Gotteslästerungsprozesse, die der C. V. gegen Fritsch angestrengt hatte, und zwar auf der Grundlage der Paragraphen 130 und 166 des Strafgesetzbuchs, die für die Verleumdung einer mit Korporationsrechten ausgestatteten Religionsgemeinschaft und die Gefährdung des öffentlichen Friedens durch Anreizung von Gewalttaten Gefängnis vorsahen. Er reagierte damit auf die Tatsache, dass Fritsch durch systematische Verleumdung der Religion, des Charakters und der Mentalität der jüdischen Gemeinschaft die Auffassung verbreitete, sie müsse als destruktive Rasse bekämpft werden. Dabei projizierte Fritsch seine Phantasien von der Bedrohung durch eine jüdische Weltherrschaft nicht nur, wie die traditionelle Talmudhetze, in die angeblich geheimen und verbrecherischen Inhalte 67 Ebd., 14. 68 Vgl. Klaus Johanning, Der Bibel-Babel-Streit. Eine forschungsgeschichtliche Studie. Frankfurt a. M. u. a. 1988. 69 Vgl. ausführlich Wiese, Wissenschaft des Judentums (wie Anm. 4), 206–231, zum Kontext jüdischer Wahrnehmungen der protestantischen alttestamentlichen Bibelwissenschaft vgl. ebd., 179–237.
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der rabbinischen Literatur hinein, sondern dehnte seine Angriffe zudem konsequent auf die Gottesvorstellung der Hebräischen Bibel aus. Als Fritsch am 15. Mai 1910 in seiner Zeitschrift Hammer einen verleumderischen Merkspruch – „Daß die Hebräer ihr Judentum abtun und Deutsche werden, glaube ich nicht eher, als bis sie ihre talmudischen Schriften verbrennen und ihre Synagogen niederreißen – zum Zeichen dafür, daß sie nicht länger Jahwe, den Geist der Bosheit und Lüge anzubeten gesonnen sind“ – veröffentlichte,70 wurde er aufgrund einer Anzeige des C. V. am 18. November 1918 von der 2. Strafkammer des Königlichen Landgerichts Leipzig zu einer Woche Gefängnis verurteilt. Fritsch behauptete während des Prozesses, der alttestamentliche und talmudische „Jahwe“ könne aufgrund der ihm im jüdischen Schrifttum zugeschriebenen Eigenschaften nicht als Gott in dem Sinne beschrieben werden, dass er in einem Kulturstaat unter gesetzlichem Schutz stehen dürfe, und sei nicht „identisch mit unserem christlichen Gotte“, sondern ein „Stammesgötze“, der ausschließliche Gott der Juden, der ihnen alle unsittlichen Taten erlaube, die ihrem Vorteil dienten.71 1911 gab Fritsch ein antisemitisches Pamphlet mit dem Titel Mein BeweisMaterial gegen Jahwe heraus, in dem er den Nachweis zu führen vorgab, dass „der jüdische Jahwe nichts gemein hat mit dem Geist der Liebe und Güte, als welchen wir uns Gott vorstellen“, sondern vielmehr „der Antipode dieses Gottes“ sei. Die jüdische Religion entspreche nicht den herrschenden Begriffen von Moral und Religion, sondern sei „vermöge ihres tückischen, menschenfeindlichen Geistes […] zum Fluch der heutigen Kultur geworden“. Die Bewahrung des deutschen Volkes vor den Juden zwinge dazu, „dem trügerischen Doppelgänger Gottes die Maske abzureißen“.72 Das Judentum sei ein verbrecherischer Geheimbund, der sich unter Verdunkelung der Sittenwidrigkeit seiner Religion die Emanzipation erschlichen habe, um die europäischen Völker zu verderben, und der jüdische Gott, den deutsche Gerichte schützen zu müssen meinten, sei lediglich „das Zerrbild eines Gottes“, eine Projektion der jüdischen Unmoral. Der „Jahwe-Kult“ müsse endlich als „die Selbstvergöttlichung der jüdischen Begierde“ entlarvt werden.73 Der Gott des „Alten Testaments“ könne nicht der einigeinzige Gott der Gerechtigkeit und Liebe sein, den das Christentum verkündige. 70 Theodor Fritsch, in: Hammer. Blätter für deutschen Sinn 9, 1910, 266. 71 Die Protokolle sind abgedruckt in: Theodor Fritsch, Mein Beweis-Material gegen Jahwe, 3. Aufl. Leipzig 1913 [erste Aufl.1911], 6–22, hier 7–9. Am 19. Mai 1911 wurde Fritsch erneut zu zehn Tagen Haft verurteilt; vgl. Theodor Fritsch, Prozeß Fritsch. Anklage wegen Beleidigung der sogenannten „jüdischen Religions-Gemeinde“. Verhandelt Leipzig, den 19. Mai 1911. Leipzig 1911. 72 Fritsch, Mein Beweis-Material gegen Jahwe (wie Anm. 71), 4–5. 73 Ebd., 143 und 145.
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Vielmehr sei er der „National-Gott des Hebräertums, der nur seinem Volke Gutes gönnt und von Haß und Rachegefühlen gegen alle übrigen Völker der Welt erfüllt ist“. 74 Bei den hasserfüllten Charakterisierungen, die Fritsch für den Gott Israels und für sein Bundesvolk fand, ging es dabei immer nur um ein Ziel: die in dieser Weise dämonisierte jüdische Religion mit der Vorstellung einer jüdischen Rasse zu assoziieren, von der Gefahr für das deutsche Volk ausgehe, und dem Hass gegen das Judentum eine Art erlösende Funktion zuzuschreiben: „Stürzen wir den Lügengott, den Geist der Finsternis vom Throne, und Licht und Wahrheit werden in der Menschheit wieder ihren Einzug halten!“75 1912 ging daraufhin bei der Leipziger Staatsanwaltschaft erneut eine Anzeige des C. V. gegen Fritsch ein. Die Anklageschrift der Königlichen Staatsanwaltschaft legte ihm zur Last, „in beschimpfenden Äußerungen Gott gelästert“ und „die jüdische Religionsgesellschaft beschimpft zu haben“. Fritsch verstehe unter „Jahwe“ den „Gott des Alten Testaments“, dieser sei aber „derselbe Gott, an den auch heute das Judentum glaubt, also der Gott einer vom Staate anerkannten Religionsgesellschaft“.76 Fritschs Verteidiger machte in seiner Stellungnahme zur Anklageschrift geltend, sein Mandant habe „nichts als eine Charakterisierung der talmudisch-rabbinischen Gottesvorstellung im Gegensatze zur christlichen“ geben wollen. Als „tief religiös angelegte Natur“ scheide er zwischen „dem wahrhaftigen (wirklichen) Gott und dem ‚jüdischen Sondergott‘ Jahwe“ und führe seinen Kampf gegen das rabbinische Schrifttum „zu Ehren des wahren Gottes gegen eine fälschende Gottesvorstellung“.77 Fritsch beteuerte in einer persönlichen Stellungnahme, er habe den „wahren Gott“ gegen die Entstellung durch die jüdische Tradition schützen wollen. Juden, die den durch den „Gotteslästerungsparagraphen“ staatlich geschützten „modernen und höheren Gottesbegriff“ billigten, dürften sich dadurch „nicht verletzt fühlen“. Deshalb beantrage er, durch Hinzuziehung von Sachverständigen aus den rabbinischen Schriften nachweisen zu dürfen, „daß die Rabbiner in den genannten Schriften und zum Teil auch die Verfasser der biblischen Schriften dem von ihnen Jahwe genannten höchsten Wesen die von mir hervorgehobenen, allerdings verächtlichen Eigenschaften beimessen“.78 Das Leipziger Gericht ging auf die Strategie der Verteidigung ein und beschloss, diesmal vor Eröffnung des Strafverfahrens den Sachverhalt durch Fachgutachten klären zu lassen. Der C. V. benannte als Gutachter den renommierten 74 Ebd., 38. 75 Ebd., 86. 76 Zit. n. Rudolf Kittel, Judenfeindschaft oder Gotteslästerung? Ein gerichtliches Gutachten. Mit einem Schlußwort: Die Juden und der gegenwärtige Krieg. Leipzig 1914, 8–9. 77 Ebd., 16. 78 Ebd., 18–20.
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Exegeten und Talmudisten David Zvi Hoffmann (1843–1910), der – als Rektor des Berliner Rabbiner-Seminars – für die orthodoxe Richtung der Wissenschaft des Judentums sprach, und den Talmudisten Adolf Schwarz (1846–1931), der aus der Tradition des konservativen Breslauer Seminars stammte und seit 1893 Rektor der Israelitisch-Theologischen Lehranstalt in Wien war. Beide warfen Fritsch Verunglimpfung der vom Staat geschützten jüdischen Religion vor. Seitens der Verteidigung wurden die beiden protestantischen Alttestamentler Georg Beer (1865–1946) aus Heidelberg und Johannes Meinhold (1861–1937) aus Bonn benannt, die beide bereits zuvor durch antisemitische Publikationen hervorgetreten waren und folgerichtig urteilten, Fritschs Schriften beschrieben zutreffend Aspekte des historischen Judentums, richteten sich aber nicht gegen die gegenwärtige jüdische Religion. Angesichts der völlig entgegengesetzten Einschätzungen wandte sich der Richter an einen der einflussreichsten deutschen Alttestamentler jener Zeit, Rudolf Kittel (1853–1929), der seit 1898 in Leipzig lehrte, mit der Bitte um ein „Obergutachten“, das dieser am 20. Mai 1913 vorlegte. Am 30. September 1913 wurde der Antrag der Staatsanwaltschaft, das Hauptverfahren zu eröffnen, aufgrund dieses Gutachtens abgelehnt, und Fritsch wurde – anders als in den bisherigen Verfahren – von der Anklage der Gotteslästerung und Beschimpfung der jüdischen Religionsgemeinschaft freigesprochen. Das Gericht stellte sich auf den Standpunkt, Fritsch habe zwar anhand missverstandener und entstellter biblischer Texte „in agitatorischer und leidenschaftlicher Weise“ eine „Kritik des alttestamentlichen Judengottes Jahwe“ gegeben, die „in hohem Maße abstoßend“ wirke und zur „rohen Beschimpfung Jahwes“ geworden sei. Durch Kittels Gutachten sei man aber zu der Auffassung gelangt, „der durch den Angeschuldigten gelästerte Gott Jahwe“ sei nicht „der von der Judenschaft Deutschlands heute verehrte Gott“, sondern der „vorprophetische Jahwe des alten Israels“. Darüber hinaus habe Fritsch nicht die gegenwärtige jüdische Gemeinschaft beschimpft, da seine Anklagen nur diejenigen vereinzelten Juden träfen, die noch am Talmud und am Schulchan Aruch festhielten und daher „außerhalb der jüdischen Religionsgemeinschaft“ stünden.79 Der aufsehenerregendste Prozess, den der C. V. im wilhelminischen Deutschland unter Beteiligung namhafter jüdischer Gelehrter gegen die Verunglimpfung des Judentums führte, endete demnach damit, dass vor einem deutschen Gericht, wie Hans G. Adler treffend festhielt, „nicht nur die jüdische Orthodoxie, sondern auch der Gott der Patriarchen und des Bundes vom Sinai für
79 Zit. n. Theodor Fritsch, Der falsche Gott. Beweismaterial gegen Jahwe, 10. Aufl. Leipzig 1933 [1. Aufl. 1916], 209.
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vogelfrei erklärt“ wurde.80 Kittel hatte den jüdischen Gutachtern die Fähigkeit zu einem objektiven Urteil über das „Alte Testament“ kategorisch abgesprochen und den Freispruch Fritschs – trotz einer vernichtenden Bewertung der rassistischen Haltung, des Charakters und der eklatanten Unkenntnis des völkischen Agitators – mit zahlreichen inhaltlichen Zugeständnissen begründet, die er religionsgeschichtlich zu untermauern versuchte. Auch in ihrer verzerrenden Weise, so sein Argument, enthielten Fritschs Aussagen „einen richtigen Kern“ – „irgendein Wahrheitselement liegt ihnen fast durchweg zu Grunde“.81 Recht habe Fritsch vor allem darin, dass der Gott des „Alten Testaments“ vom christlichen Standpunkt aus nicht als ein „sittliches Wesen schlechtweg“ verstanden werden könne.82 Auf der Grundlage seiner eigenen Forschungen zur Geschichte und Religion Israels hatte Kittel in seinem Gutachten ein überaus negatives Bild ganzer Schichten der Hebräischen Bibel gezeichnet, die aus seiner Sicht ihren Wert allein aus ihrer Erfüllung und Überwindung im Neuen Testament gewannen und lediglich als religiös-sittlich minderwertige Vorgeschichte des Christentums zu verstehen seien. Das moderne, liberale Judentum, so Kittel, habe sich von den niedrigen Aspekten des Gottesverständnisses der biblischen „Volksreligion“ und „Gesetzesreligion“ sowie der rabbinischen Literatur längst gelöst und müsse sich daher aufgrund seiner höheren Religionsauffassung von Fritschs Beschimpfung nicht betroffen fühlen. Dieser wolle eigentlich die Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft nicht verunglimpfen, sondern nur diejenigen angreifen, „die vielleicht aus Unwissenheit neben ihrer reinen Gotteserkenntnis noch einer minder vollkommenen Erkenntnis Raum geben“, kämpfe also „zugleich seinem Willen nach für das Judentum, nämlich für das religiös ideale gegenüber dem minder idealen“.83 Jüdische Leser des „Obergutachtens“ konnten darin nur eine ungeheuerliche Verharmlosung der Tatsache erkennen, dass Fritsch mit seiner Hetze selbstverständlich auf das zeitgenössische Judentum zielte. Interessant ist, dass das Verfahren des C. V., mit gerichtlichen Mitteln gegen Fritsch vorzugehen, unter jüdischen Gelehrten nicht gänzlich unumstritten war. Der Wiener Oberrabbiner Moritz Güdemann (1835–1918) unterzog Kittels „Obergutachten“ auf Bitten des Herausgebers der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, Markus Brann (1849–1920), zwar einer scharfen 80 Hans G. Adler, Die Juden in Deutschland. Von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus. München u. a. 1988, 124. 81 Kittel, Judenfeindschaft oder Gotteslästerung (wie Anm. 76), 52. 82 Ebd., 33. 83 Ebd., 77. Hermann Cohen trat Rudolf Kittel explizit im Kontext der Abwehraktivitäten des VdJ entgegen; vgl. Hermann Cohen, Der Nächste, in: Korrespondenzblatt des Verbandes der deutschen Juden 8,14, 1914, 1–6.
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Kritik, warnte aber davor, ihm aufgrund seiner bibelkritischen Urteile Antisemitismus zu unterstellen. Problematisch sei lediglich der eigentümliche Gegensatz zwischen der klaren moralischen Verurteilung Fritschs und den „Serpentinen, Windungen und Wendungen“, mit denen Kittel den Freispruch befürwortet habe. Das Gutachten sei ein „Eiertanz, wie man ihn sich nicht mit größerer Geschicklichkeit, Geschmeidigkeit, Ängstlichkeit, Behutsamkeit und noch einer ganzen Menge von anderen -keiten ausgeführt vorstellen“ könne. Der ernste Aspekt des ganzen Vorgangs lag aus Güdemanns Sicht jedoch letztlich weniger in der Entlastung Fritschs vor Gericht. Im Grunde stimmte er mit Kittels Ansicht überein, dass ein gerichtliches Vorgehen verfehlt sei und eine Verurteilung Fritsch lediglich zum Märtyrer machen würde. Er selbst hätte, wenn er um ein Gutachten gebeten worden wäre, nur antworten können: „Fritsch kann Gott nicht beleidigen, und Jahwe ist Gott“.84 Da es nun aber einmal zum Prozess gekommen sei und Kittel – merkwürdig genug – als christlicher Gelehrter mit dem entscheidenden Obergutachten beauftragt worden sei, habe dieser eine besondere Verantwortung auf sich genommen. Sein Versäumnis liege darin, dass er nicht der Tatsache Rechnung getragen habe, dass der C. V. den Prozess angestrengt habe, weil die Agitation Fritschs das gesamte gegenwärtige Judentum betraf: Allen den tausenden von Juden ist Gott, den Fritsch unter dem Namen Jahwe beschimpft und besudelt, das Heiligste, was es für sie gibt. Zu ihm beten Eltern und Kinder, Greise und Jünglinge, Kranke und Gesunde, Frauen und Mädchen, Verzweifelte und Besorgte, Glückliche und Unglückliche aus tief bewegtem Herzen und haben dabei den vierbuchstabigen Namen Gottes, den sie nicht einmal aussprechen würden, selbst wenn sie die Aussprache wüßten, die aber nur den Bibelkritikern bekannt ist, im Gebetbuche vor Augen. Nun denke man sich, wie einem solchen betenden Juden zu Mute sein mag, wenn er von dem Schmutz weiß oder erfährt, den Fritsch über Jahwe, der für den Juden der Gott des Himmels und der Erde ist, ausgießt. Mußte Prof. Kittel dies sich nicht vor Augen halten, mußte er sich nicht sagen, daß es sich hier nicht um eine philologische, nicht um eine geschichtliche Frage, sondern um eine gottesdienstliche, eine religiöse, eine Gefühlsangelegenheit handelt, von der allein der jüdische Centralverein bei seiner Klage ausgegangen ist, und über welche Kittel als Christ gar kein Urteil hat und vielleicht nicht einmal haben kann?85
Privat äußerte sich Güdemann skeptischer und kritisierte in einem Brief an Brann das gesamte Gerichtsverfahren als verfehlt und kontraproduktiv: „Einzig anzuklagen ist der Centralverein, der auf jedes Hundegebell hin nach dem
84 Moritz Güdemann, Eine spaßhafte Prozeßgeschichte mit ernstem Hintergrund, in: Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums 59, 1915, 65–76, hier 69–70. 85 Ebd., 73–74.
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Staatsanwalt ruft. Weniger wäre hier mehr“.86 Simon Bernfeld hingegen, der Leiter des „Apologetischen Archivs“, hielt es für selbstverständlich, dass der C. V. gegen Fritsch vorging, selbst wenn gegenüber antisemitischen Schmähschriften Gelassenheit zu empfehlen sei: Indessen ist es zu verstehen, wenn eine jüdische Körperschaft eine Sühne für die abscheulichen Lästerungen gefordert hat. Wir leben in einem Staat, in dem beleidigende Äußerungen gegen das Christentum, selbst nicht so schroffer Art, strafrechtlich verfolgt werden. Darf man nun das Judentum in der abscheulichsten Weise schmähen, so sieht dies danach aus, als ob von Staats wegen die Herabsetzung des Judentums gebilligt würde, weil man die angebliche Immoralität im jüdischen religiösen Schrifttum als tatsächlich vorhanden erachte. Dagegen mußte nun Stellung genommen werden.87
Die politische Instinktlosigkeit, mit der ein anerkannter protestantischer Alttestamentler, anstatt sich zur Solidarität mit dem verleumdeten Judentum bereitzufinden, Elemente der Propaganda eines völkischen Hasspredigers wissenschaftlich rechtfertigte und mittels einer konstruierten akademischen Spiegelfechterei das Recht der jüdischen Gemeinschaft auf staatlichen Schutz wegdisputierte, war aus der Sicht jüdischer Beobachter Ausdruck einer verhängnisvollen Verharmlosung des aggressiven Potentials des Antisemitismus und der mangelnden Reflexion über die politische Wirkung und Instrumentalisierbarkeit theologischer Zerrbilder des Judentums. Der Wiener Rabbiner David Feuchtwang (1864–1936) sprach in diesem Zusammenhang von „wissenschaftlicher Judenverfolgung“ und betonte, anders als Güdemann, die unbedingte Pflicht der jüdischen Gelehrten, sich sowohl mit wissenschaftlichen Argumenten als auch mit rechtlichen Mitteln zu wehren, wenn nichtjüdische Theologen, Philologen oder Philosophen „Judenhetzen in kleinem oder großem Maßstabe“ betrieben. Eine harte Auseinandersetzung mit protestantischen Gelehrten über eine angemessene Auslegung der Hebräischen Bibel sei selbstverständlicher Teil des akademischen Diskurses, solange dies auf wissenschaftlich verantwortliche Weise geschehe. Aber gegen Beschimpfung, Beleidigung, Herabsetzung und Verleumdung müssen wir uns wehren. Ganz besonders aber dann, wenn wirklich große, anerkannte Gelehrte, die in die Toga objektiver Forschung gehüllt sind, diesen Ehrenkränkungen und Gefährdungen an unserem seelischen oder sogar physischen Leben durch ihre allzuoft tendenziöse Darstellung und Darlegung der jüdischen Antike dem rohen handgreiflichen Judenhasse bewußt oder unbewußt zu Diensten sind. […] Darum müssen wir gegen Art und Methode auch Kit86 National Library of Israel, Jerusalem (NLI), Nachlass M. Brann, Acc. Ms. Var 308/506: Brief von M. Güdemann an M. Brann vom 13. Januar 1915. 87 Simon Bernfeld, Literarische Jahresrevue, in: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 19, 1916, 18–59, hier 32.
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tels in seiner Beurteilung und Begutachtung der Angriffe Fritsch’ feierlich Protest erheben. […] Und dieser Protest gilt allen Genossen Kittels, die es versuchen, die vom Judentum gelehrte und gelebte Ethik auf Grund ihrer angeblich kritisch-wissenschaftlichen Forschungen über alles, was das antike Judentum angeht, anzuzweifeln, zu verunglimpfen, zu leugnen. Das dürfen wir nicht dulden. Wir dürfen uns eine Überprüfung unserer religiösen oder ethischen Vollwertigkeit, die sich durch Jahrtausende bewährt hat, durch diese wissenschaftlich-kritische Exegeten- und Theologenschule nicht gefallen lassen.88
*** Am 22. Oktober 1907 hielt Eugen Fuchs anlässlich des Umzugs der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in die Artilleriestraße 14, unweit der Berliner Universität, eine Rede, in der er im Namen des C. V. die unverzichtbare Rolle der Wissenschaft des Judentums für die Abwehrarbeit würdigte und das Bündnis des Vereins mit den Vertretern der jüdischen Gelehrsamkeit hervorhob: Wir vom Centralverein sind je länger je mehr von dem Gedanken durchdrungen, daß wir bei unseren Bestrebungen nicht der Hilfe entraten können, die uns die Wissenschaft des Judentums und vom Judentum gewährt. Wir haben uns im Centralverein in sturmbewegter Zeit, wo Antisemitismus und Renegatentum wie zwei Meeresbrandungen den Fels des Judentums umstürmen, zusammengefunden, um die Juden zu sammeln und zu kräftigen in der Treue zur Glaubensgemeinschaft neben der Treue zum Vaterlande. Abwehr verlangt Kenntnis und Treue. Nur die Wissenschaft kann uns das Rüstzeug geben, um im Kampfe zu bestehen. Wer das Judentum kennt, der wird es achten, und wer sich erfüllt mit seinem Geiste, seiner Lehre und seiner Geschichte, der wird dessen inne werden, daß man von ihm nicht abzurücken braucht, um seinem Vaterland ein getreuer Sohn zu sein. Deshalb sind uns die Stätten, in denen jüdisches Wissen gepflegt und das Wissen vom Judentum gemehrt wird, die willkommenen Arsenale in dem uns aufgedrungenen Kampfe, und die Hüter und Jünger der Wissenschaft sind uns willkommene Genossen, die unsere Waffen mit Kraft erfüllen. […] Durch Kampf zur Wissenschaft, durch Wissenschaft zur Treue, die den Kampf überdauert. 89
Ob die Rhetorik des Kampfes und die Kennzeichnung der Wissenschaft als Arsenale jüdischen Wissens als Rüstzeug in der Auseinandersetzung mit Diskriminierung und Antisemitismus den anwesenden Gelehrten in dieser Form behagte, ist nicht überliefert. Immerhin findet sich in Ismar Elbogens anlässlich der Einweihung des neuen Gebäudes verfasstem Rückblick auf die Entwicklung der Wissenschaft des Judentums seit ihren Anfängen ein Echo auf die aus der Sicht des C. V. formulierten Zuschreibungen. Bei der Darstellung der mangelnden Un88 David Feuchtwang, Bibelwissenschaftliche Irrungen, in: Freie Jüdische Lehrerstimme 6, 1917, 61–63, hier 61–62. 89 Eugen Fuchs, Ansprache zur Einweihung des Neuen Heims der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums als Delegierter des Centralvereins am 22. Oktober 1907, in: Fuchs, Um Deutschtum und Judentum (wie Anm. 21), 311–313, hier 311–312.
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terstützung der Institution durch die jüdische Gemeinschaft ließ er anklingen, die kritische wissenschaftliche Erforschung der jüdischen Religion, Geschichte und Kultur bedürfe der intensiven Unterstützung, da sie ansonsten nicht leisten könne, wozu sie berufen sei, nämlich „auch in Zukunft das Rüstzeug zum Kampf für unser Recht und unsere Ehre“ zu liefern und „gegenüber Gleichgültigkeit und Abfall“ ins helle Licht zu setzen, „welchen Kulturwert wir als Juden besitzen und verteidigen“.90 Was hier als Einstimmen in die C. V.-Rhetorik klingt und die Kritik des zeitgenössischen Zionismus am durch und durch apologetischen Charakter der Wissenschaft des Judentums zu bestätigen scheint, steht jedoch im Kontext von Reflexionen über die genuinen wissenschaftlichen Aufgaben einer eigenständigen, kritischen und im Gespräch mit der allgemeinen Wissenschaft stehenden Forschung. Die am Abwehrkampf gegen Antisemitismus und Verunglimpfung des Judentums beteiligten Gelehrten haben sich die ihrem Forschen von außen auferlegten apologetische Funktion vielfach mit hohem Engagement zu eigen gemacht, allerdings nicht ohne gelegentlich ihr Unbehagen daran zur Sprache zu bringen. Martin Schreiner, dessen Definition der Wissenschaft des Judentums als einer Disziplin, die ihren außerakademische Aufgaben nicht ausweichen könne, am Anfang dieses Essays stand, betonte in seiner eigenen Auseinandersetzung mit antisemitischen Denkströmungen, letztlich sei der Zwang zu dieser Form der Apologetik eine Herabwürdigung des Judentums, die jüdische Gelehrte lediglich aus zwei Gründen auf sich nähmen: einmal, um die Verinnerlichung der Zerrbilder durch Juden zu verhindern, die ihrer Tradition entfremdet seien, vor allem aber, um den zeitgenössischen nichtjüdischen Gelehrten ihre große Verantwortung gegenüber den rassistischen Geschichtsfabeln und Dämonisierungsstrategien der Antisemiten vor Augen zu führen: Man kann nicht von einer Minorität jahraus, jahrein predigen, sie wäre von einer Rasse mit gefährlichen Eigenschaften, ihre Religion von einer niederen Moral, und sie wäre überhaupt eine Gefahr für die Kultur. Wer solches verbreitet, hat auch moralisch die Verantwortung dafür zu tragen, wenn der Pöbel in der Litteratur und auf der Straße seine Doktrin, die Folge seiner Liebhabereien und seiner Unkenntnis, ins Pöbelhafte übersetzt. Auf solche Litteraten fällt die Schuld solcher Ungerechtigkeiten zurück, welche gegen Juden begangen werden. Die Tausende geknickter Existenzen, die Sklaverei der Millionen Juden im östlichen Europa haben zum größten Teil die Litteraten des Abendlandes mit ihrem anthropologischen Aberglauben auf dem Gewissen.91
90 Ismar Elbogen, Die Hochschule, ihre Entstehung und Entwicklung, in: Ismar Elbogen/Jakob Höninger (Hrsg.), Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums. Festschrift zur Einweihung des eigenen Heims. Berlin 1907, 1–98, hier 97. 91 Schreiner, Die jüngsten Urteile (wie Anm. 32), 140.
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Pionierinnen und Pioniere der ersten Dekade. Das Reichsvereinsgesetz von 1908 als Modernisierungsmarker des Centralvereins Historische Studien werden zumeist mithilfe von Phasen gegliedert, die sich an Epochen und Herrschaftswechseln orientieren. Auch die Geschichte des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) wurde mittels dieser Konstruktion in verschiedene Phasen unterteilt: 1.) das Kaiserreich, in Bezug auf den C. V. von dessen Gründung 1893 bis zum Ende des Kaiserreiches; 2.) die Weimarer Republik; und 3.) die Zeit des Nationalsozialismus, im Fall des Centralvereins von 1933 bis zu dessen Zwangsauflösung als reichsweite Organisation im November 1938. Die Beschäftigung mit dem frühen Wirken von Frauen in dieser größten gemischtgeschlechtlichen jüdischen Organisation im Deutschen Reich steht im Mittelpunkt dieses Beitrags. Dies geht zuvorderst auf Basis der Berichterstattung des Hauptorgans des Centralvereins Im deutschen Reich vonstatten. Eine andere Periodisierung wird erforderlich, wie im Folgenden gezeigt werden wird. Selbstredend beschreibt dies einen Umstand, der nicht nur für die Historiografie des Centralvereins gilt, sondern der sich auf viele historische Phänomene übertragen ließe. Ganz allgemein gesprochen wurde das Reichsvereinsgesetz von 1908 in Abhandlungen über Organisationen, jüdisch oder nichtjüdisch, als wichtiger Punkt erwähnt, und das geschieht bis heute in der Forschung. Doch die Auswirkungen des Gesetzes, also der offizielle, gesetzlich legitimierte Beginn der politischen Partizipation von Frauen im deutschen Kaiserreich wurde bislang in erster Linie auf die Frauenbewegungen hin analysiert. „Am besten vorbereitet und nahezu automatisch verlief die Eingliederung der proletarischen Frauenbewegung in die SPD sowie der konfessionellen, das heißt der evangelischen in die Konservativen und der katholischen ins Zentrum“ – so Ute Gerhard in einem der Standardwerke über die Geschichte der allgemeinen Frauenbewegung in Deutschland.1 Die Wirkmacht des Reichsvereinsgesetzes auf die Entwicklungen in ge1 Ute Gerhard, Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung. Reinbek bei Hamburg 1990, 281. Auch: Miriam Sachse, „Da wir nicht wählen können, so müssen wir um so mehr wühlen.“ Die proletarische Frauenzeitung „Die Gleichheit“ (1891–1923) als Beispiel weiblicher https://doi.org/10.1515/9783110675535-007
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mischtgeschlechtlichen Organisationen, wie dem Centralverein, war bislang selten Thema einer Untersuchung.2 Als Meilenstein oder gar Wendepunkt in der gemischtgeschlechtlichen Vereins- und Parteiengeschichte wird das Gesetz von 1908 nicht verstanden, geschweige denn zum Anlass genommen, über eine andere Phasenaufteilung der Organisationsgeschichte nachzudenken.
Der Centralverein ohne „Frauenspersonen“ Die Geschichte von Frauen im Centralverein setzte eben nicht bereits mit der Vereinsgründung 1893 im preußischen Berlin ein. Weibliche Teilhabe wurde erst verspätet möglich. Gegründet wurde der Verein von einer Gruppe bürgerlicher Männer mittleren Alters, Juristen waren in der Mehrheit. Der C. V. entstand in einer vierten Phase der jüdischen wie nichtjüdischen „Vereinigungswut“, die in Europa und Übersee von den 1890er Jahren bis um 1910 herrschte.3 Dass keine Frau als Gründungsmitglied zu verzeichnen war oder der Organisation in den folgenden Jahren beitreten durfte, entsprach dem Ende des 19. Jahrhunderts geltenden Preußischen Vereinsrecht, das die Mitgliedschaft von Frauen in politischen Vereinen verbot. Neben diesem juristischen Hindernis lassen sich auch Gründe in den Konventionen im jüdischen und allgemeinen Bürgertum sowie im Standpunkt des traditionellen Judentums finden. Die distinkte Organisation hatte in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit des 19. Jahrhunderts eine erprobte Tradition. Paragraph 8 des 1850 erlassenen Preußischen Vereinsgesetzes lautet: „Für Vereine, welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörTeilhabe an Öffentlichkeit und Demokratie im deutschen Kaiserreich, in: Hella Hertzfeld/Katrin Schäfgen (Hrsg.), Demokratie als Idee und Wirklichkeit. (Rosa-Luxemburg-Stiftung Manuskripte, 39.) Berlin 2002, 40–60. 2 Eine Ausnahme bildet dabei: Winfrid Halder, Katholische Vereine in Baden und Württemberg. 1848–1914. Ein Beitrag zur Organisationsgeschichte des süddeutschen Katholizismus im Rahmen der Entstehung der modernen Industriegesellschaft. (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen, 64.) Paderborn u. a. 1995, 353–358. Er bemerkt allerdings zu den Auswirkungen, die das Reichsvereinsgesetz mit sich brachte – zuweilen etwas ungeschickt formuliert: „Irgendwelche besonders einschneidenden Konsequenzen für das katholische Vereinswesen ergaben sich aus dem Reichsvereinsgesetz nicht. Allerdings brachte es indirekt in der Folgewirkung für den Volksverein einige Unannehmlichkeiten mit sich, da er unter den neuen rechtlichen Bedingungen seit 1908 auch Frauen aufnahm, ohne jedoch allzu nachdrücklich um diese zu werben.“ [Hervorhebungen R.D.], ebd. 354. 3 Stefan-Ludwig Hoffmann, Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich. 1750–1914. (Synthesen. Probleme europäischer Geschichte, 1.) Göttingen 2003, 74.
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tern, gelten außer vorstehenden Bestimmungen nachstehende Beschränkungen: a) Sie dürfen keine Frauenspersonen [sic], Schüler und Lehrlinge als Mitglieder aufnehmen […].“4 In der Wilhelminischen Zeit gab es mehrere Versuche, das Vereinsrecht zu reformieren, auch da sich die Reichsregierung bzw. Reichsleitung zuweilen bürgerlich-liberalen Kräften nähern wollte. Zwar hatte die Bismarck’sche Verfassung von 1871 dem Reich die Regelung des Vereinsrechts übertragen. Doch die Reichsleitung scheute sich davor, diesen Teil des öffentlichen Lebens einheitlich im gesamten Reich zu regeln und damit die älteren einzelstaatlichen Gesetze außer Kraft zu setzen. 1906 forderte der Reichstag die uneingeschränkte Beteiligungsmöglichkeit von Frauen in politischen Vereinen und Versammlungen. Im November 1907 wurde ein Gesetzentwurf in den Reichstag eingebracht, der dort im April 1908 angenommen wurde. Wie der Name dieses seit dem 15. Mai 1908 geltenden Reichsvereinsgesetz verrät, waren Vereinsfragen ab Inkrafttreten reichsweit einheitlich geregelt. Zudem waren die Möglichkeiten der polizeilichen Kontrolle verringert. Jugendliche ab 18 Jahren erhielten fortan ebenso wie Frauen die vollständigen Zugangsmöglichkeiten zu politischen Vereinen.5 Der Protest der Frauenbewegungen und ihre Publizistik hatten einen Anteil daran gehabt, zumindest Teile der Bevölkerung dafür zu sensibilisieren, dass das Vereinsgesetz in dieser die Frauen exkludierenden Form auf Dauer nicht mehr tragbar war. Ganz unzweifelhaft ist der frauenemanzipatorische Fortschritt, der mit der Neuschaffung des Vereinsgesetzes einherging. Der Handlungsraum von Frauen erweiterte sich enorm. Doch ohne die Wirkkraft des Reichsvereinsgesetzes von 1908 schmälern zu wollen, sei ergänzend angemerkt, dass bereits in zeitgenössischen Schriften und in den Publikationen der allgemeinen Frauenbewegungen zu lesen ist, dass Frauen schon vor 1908 in politischen Vereinen und Parteien mitgearbeitet hatten. Sei es in Form der Verbreitung von Flugblättern oder Plakaten, von redaktionellen Tätigkeiten, von Büroarbeit oder der Durchführung von Vorträgen und Versammlungen, also wenig Aufsehen erregende, aber für die Organisation sehr wohl bedeutende Arbeitsfelder.6 In der sozialdemokratischen Bewegung aktive Frauen wählten das Konstrukt der sogenannten „Vertrauensperson“. Auf dem SPD-Parteitag von 1894 4 Hans Delius, Das preußische Vereins- und Versammlungsrecht unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1850. Berlin 1891, 28 f. http://resolver.staatsbibliothek-berlin. de/SBB0000A58E00000000 (30.04.2020). 5 Dieter Herzt-Eichenrode, Deutsche Geschichte 1890–1918. Das Kaiserreich in der Wilhelminischen Zeit. Stuttgart/Berlin/Köln 1996, 168–170. 6 Angelika Schaser, Frauenbewegung in Deutschland 1848–1933. Darmstadt 2006, 54; dies., Frauen auf dem bürgerlichen Weg, in: Historische Zeitschrift 263, 1996, 650 f.; Ulla Wischermann, Frauenbewegungen und Öffentlichkeiten um 1900. Netzwerke, Gegenöffentlichkeiten,
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wurde der Beschluss gefasst, „einzelne weibliche Vertrauenspersonen zu wählen, die auch die spitzfindigste Polizeibehörde nicht zu einem ‚politischen Verein‘ stempeln konnte.“7 Auch der Centralverein arbeitete mit dem System der Vertrauenspersonen – an solchen Orten, an denen keine C. V.-Ortsgruppe bestand.8
Der Centralverein mit „vollberechtigte[n] Mitkämpferinnen“ Am 15. Mai d[e]s J[ahre]s ist das neue Reichsvereinsgesetz in Kraft getreten. Dasselbe macht keinen Unterschied mehr zwischen Männern und Frauen. Den Frauen steht also jetzt der Eintritt in politische Vereine unbeschränkt frei. Wir fordern deshalb alle deutschen Frauen jüdischen Glaubens auf, unserem Verein als vollberechtigte Mitglieder beizutreten, um Schulter an Schulter mit den Männern in den Kampf um unsere Gleichberechtigung einzutreten.9
So wurde bereits in der ersten Nummer nach Erlass des Reichsvereinsgesetzes im Juni 1908 auf der Titelseite der C. V.-Zeitschrift Im deutschen Reich ein „Aufruf an die jüdischen Frauen“ gestartet. Und dieses Plädoyer blieb kein reines Lippenbekenntnis: Mit der Aufhebung des Preußischen Vereinsrechts begannen sich immer mehr Frauen im Centralverein zu engagieren. Was konkret bedeutete die Mitarbeit von Frauen in dieser ersten Dekade von 1908 bis 1918? Gelang es Frauen als vollberechtigte Mitglieder „Schulter an Schulter“ mit den männlichen Vereinskollegen zu kämpfen? Entwickelten Frauen neue Arbeitsfelder oder wurden diese für sie von den etablierten männlichen Vereinskollegen entwickelt? Arbeiteten Frauen unter Frauen für Frauen? Oder wirkten Männer und Frauen gemeinsam für die Ziele des Centralvereins? Wurden Frauen von den männlichen Vereinskollegen gerne aufgenommen oder stießen sie auf ein Klima der Abwehr und der Abgeschlossenheit?
Protestinszenierungen. (Frankfurter Feministische Texte. Sozialwissenschaften, 4.) Königstein/ Ts. 2003, 217–227. 7 Ottilie Baader, Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen einer Sozialistin. 3. Auflage. Berlin/ Bonn 1979, 51. Auch: Gisela Notz, „Her mit dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht für Mann und Frau“. Die internationale sozialistische Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Kampf um das Frauenwahlrecht. (Gesprächsreihe Geschichte, 80.) Bonn 2008, 26. 8 Jehuda Reinharz, Deutschtum und Judentum in the Ideology of the Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, in: Jewish Social Studies 36, 1974, 19–39, hier 25. 9 [Maximilian] Horwitz, Aufruf an die jüdischen Frauen!, in: Im deutschen Reich (IdR) 6, 1908, Titelseite.
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Fünf Nummern später, im Dezember 1908, behandeln fast 40 Prozent (3 von 8 Seiten) der Rubrik Vereinsnachrichten des C. V.-Organs Im deutschen Reich C. V.-Versammlungen, die sich mit der Implementierung des neuen Reichsvereinsgesetzes in die Mitgliedschaft des Centralvereins auseinandersetzen. Der Redebeitrag des Vorsitzenden des Centralvereins Dr. Maximilian Horwitz10, der auch den „Aufruf an die jüdischen Frauen“ gezeichnet hatte, wird bei einer Versammlung der C. V.-Ortsgruppen Schöneberg und Wilmersdorf folgendermaßen wiedergegeben: […] daß seit dem Inkrafttreten des neuen Vereinsgesetzes auch die Frauen berufen seien, in die Reihen der Mitkämpfer zu treten und der guten Sache auch im öffentlichen Leben zu dienen. Herr Dr. Horwitz sprach die Erwartung aus, daß die jüdischen Frauen aller Stände, gleichviel, ob deren Männer bereits Vereinsmitglieder seien oder nicht, dem Central-Verein sich als selbständige Mitglieder anschließen würden. Je größer Armee und Kriegskasse, je mehr könne auch erwirkt und erreicht werden.11
Die Vereinsnachrichten dieser Ausgabe von Im deutschen Reich werden noch bemerkenswerter. Im November 1908 wurde die erste Berliner Centralvereins-Frauenversammlung durchgeführt, die „bis auf den letzten Platz, und zwar fast ausschließlich von Damen, dicht gefüllt“ war „und Hunderte keinen Einlaß mehr erlangen konnten.“ Es ist von Frauen als „vollberechtigte[n] Mitkämpferinnen“ die Rede, „die, wenn sie sich mit unseren Bestrebungen erst völlig vertraut gemacht haben würden, zur Erreichung des Zieles, der Verwirklichung der Gleichberechtigung der deutschen Juden, wesentlich beitragen könnten.“12 Es herrschte Aufbruchsstimmung mit Neueintritten, herzliche Willkommensgrüße wurden ausgesprochen, Frauen als „klug und energisch“ charakterisiert.13 Zwei prominente Frauen referierten, Henriette May14 und Frau Rabbiner Dr. Eschelbacher15. Die zuletzt genannte „drückte ihre Freude darüber aus, daß den jüdischen Frau10 Der Rechtsanwalt Maximilian Horwitz (1855–1917) war von 1894 bis 1917 Vorsitzender des Centralvereins. 11 Vereinsnachrichten, in: IdR 12, 1908, 714–724, hier 716. 12 Ebd., 717 f. 13 Ebd. 14 Henriette May (1862–1928) war ab 1918 Ehrenmitglied des Centralvereins, in Berlin wohnhaft und politisch und sozial tätig. Sie war maßgeblich an der Gründung des Jüdischen Frauenbundes (J. F. B.) 1904 beteiligt und fungierte dort als Vorstandsmitglied und Schriftführerin. Siehe: Bettina Kratz-Ritter, May, Henriette, in: Jutta Dick/Marina Sassenberg (Hrsg.), Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Lexikon zu Leben und Werk. Reinbek bei Hamburg 1993, 265–266; Bettina Kratz-Ritter, Henriette May, in: Paula Hyman/Dalia Ofer (Hrsg.), Jewish Women. A Comprehensive Historical Encyclopedia. http://jwa.org/encyclopedia/article/may-henriette (30.04.2020); Ernst G. Lowenthal, Juden in Preußen. Biographisches Verzeichnis. Ein repräsentativer Querschnitt. Berlin 1982, 152.
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en im Rahmen des Central-Vereins ein reiches Arbeitsfeld sich erschließe“. Der Erfolg der Berliner Frauenversammlung wird am Ende des Berichts sogar als „Markstein in der Geschichte des Central-Vereins“ bezeichnet.16 Die Berichterstattung setzte sich in den Vereinsnachrichten der Dezemberausgabe 1908 fort. Julius Brodnitz17 sprach in der Ortsgruppe Essen über „Die Mitarbeit unserer Frauen“. Die Ära der alleinigen Zuweisung des „Haus[es] als Arbeitsplatz“ für die Frau sei beendet. Brodnitz wies dem C. V. die Rolle als Mittler zwischen Privatem und Öffentlichem zu, er interpretierte den Centralverein als Übungsfeld für die öffentliche Betätigung von Frauen, wenn er sagte: „Auf dem Boden der Central-Vereinsbestrebungen eröffne sich ihnen [den Frauen] die Möglichkeit, den Uebergang zur öffentlichen Betätigung zu finden.“ Die Beibehaltung des bürgerlichen Rollenverständnisses wurde im Folgenden überaus deutlich, wenn er Frauen als Hauptaufgabe die Kindererziehung zuwies. Im Rahmen der Kindererziehung sei es „ihre Pflicht“ die C. V.-Idee „der Jugend einzuimpfen“.18 In der Novellierung der Statuten des Centralvereins 1909 wurde erstmals in Paragraph 5 die Möglichkeit der Mitgliedschaft für männliche Staatsbürger und weibliche Staatsbürgerinnen jüdischen Glaubens zu Papier gebracht.19 Verabschiedet wurden die Satzungsänderungen auf der Delegiertenversammlung im Februar 1909, an der zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte Frauen teilnahmen. Eugen Fuchs wies bei seiner Eröffnung auf diesen erfreulichen Umstand hin und begrüßte explizit die anwesenden „Damen und Herren“. „Mit Stolz und Genugtuung erfüllt mich der Anblick dieser Versammlung. […] Ich muß sagen, das Herz geht einem auf, wenn man den Verein so blühen, wachsen und gedei-
15 Ernestine Eschelbacher, geborene Benario (1858–1931) war Sozialfürsorgerin. 1879 heiratete sie Rabbiner Dr. Josef Eschelbacher (1848–1916), der zu dieser Zeit im badischen Bruchsal seine erste Stelle antrat. Das Paar hatte sechs Kinder. 1900 zogen sie nach Berlin. Ernestine Eschelbacher war Vorsitzende des Schwesternverbandes der B’nai B’rith-Loge und wirkte in den Frauengruppen des Centralvereins. Ab 1917 saß sie im Vorstand des Jüdischen Frauenbundes. Siehe: Bettina Kratz-Ritter, Eschelbacher, Ernestine, in: Dick/Sassenberg, Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 14), 110 f. 16 Vereinsnachrichten (wie Anm. 11), 718. 17 Dr. Julius Brodnitz (1866–1936) war Jurist, Rechtsanwalt und Notar. Seit 1901 saß er im Vorstand des Centralvereins. Von 1920 bis 1936 war er der erste Vorsitzende der Organisation. 1933 begründete er die Reichsvertretung der Deutschen Juden mit. Siehe: Lowenthal, Juden in Preußen (wie Anm. 14), 37. 18 Vereinsnachrichten (wie Anm. 11), 720. 19 Christina Goldmann, Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Rheinland und Westfalen. 1903–1938. Diss. Düsseldorf 2006, 42. http://docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DocumentServlet?id=8552 (30.04.2020).
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hen sieht“ 20 – so Fuchs in seiner Begrüßung. Der Erörterung des Themas der Mitarbeit von Frauen – ebenso wie der Jugend, die als Minderjährige erst mit Einführung des neuen Vereinsrechts zugelassen waren – wurde bei der rund siebenstündigen Versammlung viel Zeit eingeräumt. Nach einer Diskussion des ‚Fall Mugdan‘21 und der vorzunehmenden Satzungsänderungen22 folgte ein Referat von Minna Schwarz. Die Sozialarbeiterin war Gründerin und 50 Jahre lang Leiterin des Frauenvereins der B’nai B’rith Logen in Berlin. Zudem war sie Vorstandsmitglied des Jüdischen Frauenbundes (J. F. B.) und später auch des Centralvereins.23 Bei der Delegiertenversammlung des Centralvereins 1909 referierte Minna Schwarz über „[d]ie Propaganda unter den Frauen“. Eingangs kommentierte sie das neue Reichsvereinsgesetz von 1908, das nun Frauen ermöglichte, „Seite an Seite mit den Männern für die Verwirklichung der edlen Ziele zu kämpfen.“ 24 Schwarz umriss die Aufgaben von Frauen im C. V., die laut ihrer Vorstellung im Bereich der Frau als Erzieherin ihrer Kinder zu selbstbewussten Jüdinnen und Juden, im Kampf gegen den Antisemitismus unter christlichen Frauen und im Bereich des jüdischen Wohlfahrtswesens lagen.25 Die Referentin stellte fest, dass seit Erlass des Reichsvereinsgesetzes „ein erheblicher […] Teil jüdischer Frauen und Mädchen“ in Berlin „geworben“ worden sei. Was das konkret bedeutete, bleibt im Dunkeln, also ob die Frauen und Mädchen dem Centralverein beigetreten waren oder aber vermutlich mehrheitlich, ganz unbestimmt, der C. V.-Idee nicht abgeneigt waren. Ihrer Erfahrung nach fände Werbearbeit am erfolgreichsten auf persönlicher Ebene durch Mundpro20 Stenographischer Bericht über die zweite Delegierten-Versammlung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (21. Februar 1909), in: IdR 3–4, 1909, [129]–221, hier 129. 21 Dr. Otto Mugdan (1862–1925) war Arzt und Sozialpolitiker. 1886 erklärte er seinen ‚Austritt aus dem Judentum‘ und konvertierte einige Jahre später zum Protestantismus. 1908 kandidierte er für die Stadtverordnetenversammlung in Berlin. Er wurde dabei von prominenten Mitgliedern des Centralvereins unterstützt. Der ‚Fall Mugdan‘ wurde Teil der innerhalb des Centralvereins geführten ‚Taufdebatte‘. Dazu ausführlich: Christian Dietrich, Verweigerte Anerkennung. Selbstbestimmungsdebatten im „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin 2014, 127–146. 22 Der C. V. hatte mittlerweile 23 000 Mitglieder, diskutiert wurde die Änderung der Vereinsstruktur, konkret statt Mitgliederversammlungen Delegiertenversammlungen abzuhalten. 23 Minna Schwarz (1859–1936), geborene Rosenau. Siehe: Lowenthal, Juden in Preußen (wie Anm. 14), 205; Gedenktafeln in Berlin. Eintrag zu Minna Schwarz. Online verfügbar unter: http://www.gedenktafeln-in-berlin.de/nc/gedenktafeln/gedenktafel-anzeige/tid/minnaschwarz-geb/ (30.04.2020). 24 Vortrag von Minna Schwarz und Diskussion, in: Stenographischer Bericht über die zweite Delegierten-Versammlung (wie Anm. 20), 162–172, hier 162. 25 Ebd.; Goldmann, Der Centralverein in Rheinland und Westfalen (wie Anm. 19), 40 f.
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paganda statt. Ihr Rollenbild war klar bürgerlich: die Frau als Mutter, Erzieherin der Jugend und damit verbunden als Hüterin der Tradition. Sie sprach von Sittlichkeit, jüdischem Bewusstsein, von entschiedener Gegenwehr der Taufe gegenüber, was nicht nur aufgrund des ‚Fall Mugdan‘ ein Thema war, das im Centralverein diskutiert wurde und mithilfe dessen er sich öffentlich zu positionieren wusste. Schwarz kritisierte in ihrer Rede jüdische Frauen, die sich in der allgemeinen Sozialarbeit engagierten, aber keine Zedaka mehr betrieben. Sie plädierte für ein gutes Gleichgewicht von Beibehaltung jüdischer Tradition bei gleichzeitiger Öffnung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber. Die Rednerin artikulierte also die C. V.-Idee in Reinform. In ihrer Kritik – nämlich, dass jüdische Frauen ihre Tradition verloren hätten und somit die aus ihrer Sicht ‚naturgemäße‘ Rolle als Erzieherin der Kinder und damit verbunden als Bewahrerin des Judentums nicht mehr erfüllen würden, stand Minna Schwarz unter ihren Zeitgenossinnen und -genossen nicht allein da. Der Vorwurf, die jüdische Frau sei verantwortlich für den Niedergang des Judentums, zog sich wie ein roter Faden durch die gesamte Zeit des Kaiserreiches. Spätestens seit den Forschungen von Marion Kaplan wissen wir, dass der Vorwurf haltlos war. Denn das Gegenteil war der Fall – jüdische Frauen hatten im Kaiserreich eine Doppelfunktion inne: Sie waren Agentinnen der Akkulturation und Hüterinnen der Tradition.26 Minna Schwarz schlägt in ihrem Vortrag abschließend der Delegiertenversammlung eine Resolution vor, aus der im Folgenden auszugsweise zitiert werden soll: Die Delegiertenversammlung erblickt die Hauptrichtung der Tätigkeit der jüdischen Frauen für die Ideen des Central-Vereins darin, daß die jüdische Frau in ihrem Selbstbewußtsein gestärkt wird und nicht nur für ihre Person, sondern auch für ihre gesamte Familie und insbesondere die heranwachsende Generation als Muster bestimmtester Selbstachtung und Selbstwürde erscheint. […] An alle Ortsgruppen soll die Aufforderung ergehen, in eine energische Werbetätigkeit einzutreten und alle weiblichen Mitglieder aufzufordern, aktiv an der Förderung der Bestrebungen des Central-Vereins mitzuarbeiten. Es wird hierbei auch praktischerweise der Gedanke zum Ausdruck zu bringen sein, daß es der durch die gegenwärtige Vereinsgesetzgebung geschaffenen Stellung der Frau nicht entspricht, damit zufrieden zu sein, daß der Ehemann bereits dem Central-Verein angehört. Hinzuweisen soll ferner darauf sein, daß gerade unser Verein einen politischen Verein darstellt, bei dem die Frau auf dem gesamten Arbeitsgebiet gleichberechtigt mitarbeiten kann. […] Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg! Wir Frauen haben den festen Willen, wie das innige Bedürfnis, unsere Arbeitskraft nach jeder Richtung zur Förderung der Bestre26 Marion A. Kaplan, Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität im Kaiserreich. Hamburg 1997. Auch ausführlich am Beispiel von Pappenheim diskutiert: Britta Konz, Bertha Pappenheim (1859–1936). Ein Leben für jüdische Tradition und weibliche Emanzipation. Frankfurt a. M./New York 2005.
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bungen des Central-Vereins in dessen Dienst zu stellen und vereint mit den Männern der guten und edlen Sache im Interesse unserer Glaubensgemeinschaft zu dienen.27
Vortrag und Resolution stießen auf der Delegiertenversammlung auf Zustimmung. In seiner sich anschließenden Rede erwähnte Julius Brodnitz einen Arbeitsausschuss für Frauen in Berlin, dessen Vorsitz er innehatte. Er beschrieb ihn als ein sehr hilfreiches Instrument und empfahl allen Ortsgruppen, einen solchen Arbeitsausschuss ins Leben zu rufen. Der Arbeitsausschuss stand der Ortsgruppe bei der agitatorischen Arbeit unter Frauen zur Seite. Des Weiteren sprach der Korreferent die Frage an, ob Frauen in die Vereinsvorstände auf allen Ebenen nachrücken sollten. Brodnitz betonte, dass der Centralverein eine Arbeitsvereinigung sei, es ginge nicht darum, Posten zu verteilen, diese Frage sei nachrangig. Frauenarbeitsausschüsse zu gründen, wiederum erklärte er zum vorrangigen Ziel.28 Über die Quantität der weiblichen Mitgliedschaft oder die Übernahme von Positionen auf der Führungsebene seitens CVerinnen existieren keine Erhebungen. In den Listen, die unregelmäßig in der C. V.-Presse oder anderen C. V.-Publikationen veröffentlicht wurden, sind Frauen, die den Vorsitz einer Ortsgruppe innehatten, äußerst rar vertreten. Einen C. V.-Landesverband scheint keine Frau geleitet zu haben. Über die Mitarbeit im Vorstand werden in der Forschungsliteratur widersprüchliche Angaben gemacht. Aus der Durchsicht der Quellen ergibt sich, dass erst 1917, knapp zehn Jahre nach Einführung des Reichsvereinsgesetzes von 1908, mit der Berliner Sozialarbeiterin Henriette May die erste Frau in den Vorstand des C. V. gewählt wurde. Die gläserne Decke war also vorhanden, Frauen war der Zutritt in die Führungsebene des Centralvereins verwehrt, die Ungleichheit der Geschlechter wird hier offenbar. Der Korreferent Julius Brodnitz führte auf der Hauptversammlung 1909 über die Einbeziehung von Frauen im Centralverein weiter aus: Es ist gelegentlich der Erörterungen über das neue Vereinsgesetz den Frauen vielfach zum Vorwurf gemacht worden, sie seien politisch noch nicht reif für eine weitgehende politische Vereinstätigkeit. Nun, die Erfahrungen, die wir gemacht haben, haben uns längst darüber belehrt, daß das ein arges Vorurteil war. Wir haben gesehen, daß wir sehr gut mit den Frauen zusammenarbeiten können. Im übrigen bietet gerade die Tätigkeit in unserem Vereinsleben einen glücklichen Uebergang für alle diejenigen, die glauben, daß unsere Frauen zum politischen Denken erst erzogen werden müssen. Bei uns ist die politische Tätigkeit ganz, ich möchte sagen, identisch mit ihrer Tätigkeit im Familienleben. Sie leisten unseren staatsbürgerlichen Aufgaben den Dienst, daß sie uns diejenigen künftigen deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens erziehen, die geeignet sind, unsere Fahne 27 Stenographischer Bericht über die zweite Delegierten-Versammlung (wie Anm. 20), 166 f. 28 Ebd., 167–170.
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hochzuhalten, wenn wir sie nicht mehr halten können. Denn die größte Sorge, die uns erfüllt, ist die Zukunft.29
Mit Stolz in der Brust drückte Brodnitz den Gedanken aus, dass der Centralverein „[s]eines Wissens der einzige politische Verein [ist], bei dem die Frauen in der glücklichen Lage sind, nach jeder Richtung hin dem Manne vollkommen gleichberechtigt zu sein.“30 Brodnitz postulierte, dass Frauen in allen Bereichen der Vereinsarbeit mitarbeiten könnten und sprach hierbei die zumindest theoretische Möglichkeit an, dass weibliche Mitglieder des Centralvereins das aktive und passive Wahlrecht besäßen. Der Korreferent appellierte an die männlichen Vereinsmitglieder, unvoreingenommen und unbefangen mit weiblichen Vereinsmitgliedern zusammenzuarbeiten. An alle anwesenden Frauen wiederum appellierte er, weiterhin Agitation unter Frauen zu betreiben. Zwei Jahre später, 1911, finden sich die nächsten Hinweise über die Mitarbeit von Frauen im Centralverein in der Zeitschrift Im deutschen Reich. Die Stimmung ist ernüchtert, der Umfang der Berichterstattung wesentlich verringert, die Aufbruchsstimmung nach 1908 scheint abgekühlt. Auf der Hauptversammlung im Februar 1911 wurde über die Arbeit der Ortsgruppen diskutiert. Diese sollten tätig werden in der Überwachung der Lokalpresse, die Bevölkerung über Antisemitismus aufklären und die Mitglieder „zu tüchtigen Kämpfern für die C. V.Sache erziehen“.31 Frauen wurden explizit dazu aufgefordert, sich in dieser Form politisch in den C. V.-Ortsgruppen zu betätigen. Zwei Nummern später ist im „Bericht des Vorstands über seine Tätigkeit in der Zeit von Februar 1909 bis Februar 1911“ zu lesen, dass zwar „die Propaganda unter den Frauen gefördert worden ist“, zugleich aber ein Problem offenbar geworden ist – es fehlte an einer ausreichenden Zahl geeigneter Rednerinnen.32 Der Centralverein war also in den Realitäten der praktischen Arbeitszusammenhänge angekommen.
29 Ebd., 168. 30 Ebd., 169. 31 Die Hauptversammlung des Central-Vereins, in: IdR 4, 1911, 182–189, hier 185. 32 Bericht des Vorstandes über seine Tätigkeit in der Zeit vom Februar 1909 bis Februar 1911, in: IdR 6, 1911, 311–323, hier 314.
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Der Centralverein und sein Verhältnis zur ‚Fortschrittlichkeit‘ 1918, zehn Jahre nach der Aufnahme von Frauen in die Organisation, formulierte Paul Rieger das Mitwirken von Frauen im Centralverein an prominenter Stelle in einer Schrift zum 25. Vereinsjubiläum folgendermaßen: Eine bedeutsame Erhöhung der Mitgliederzahl brachte das neue preußische Vereinsgesetz […]. Es beseitigte den Ausschluß der Frauen von der Teilnahme an politischen Vereinen und ermöglichte so die erwünschte tätige Beteiligung der jüdischen Frauen am Vereinsleben. Der Verein erfuhr hierdurch einen überaus wertvollen Zuwachs an tätigen Kräften. Eine Reihe hochbegabter, arbeitsfreudiger Frauen trat in die Werbearbeit ein: Sie verstanden es, in ihren Mitschwestern, die Erkenntnis der Pflicht der Mitarbeit der Frau an dem Kampf um die Gleichberechtigung kraftvoll zu fördern und zahlreiche neue Kräfte in den Dienst der Bewegung einzustellen.33
Wie lässt sich die erste Dekade von Frauen im Centralverein auf Basis der Analyse des Vereinsorgans Im deutschen Reich zusammenfassen? Das Reichsvereinsgesetz vom Mai 1908 wurde verblüffend schnell in der Organisation implementiert. Die Werbekampagne, die der Centralverein unmittelbar nach Einführung des Reichsvereinsgesetzes im Juni und im Herbst/Winter 1908 in seiner Vereinszeitschrift Im deutschen Reich lancierte, ist bemerkenswert in der Deutlichkeit ihres einladenden Charakters. Glaubt man der Berichterstattung, waren die Bemühungen, Frauen in die Vereinsarbeit aktiv einzubeziehen, von schnellem Erfolg gekrönt.34 Aus der Berichterstattung von Im deutschen Reich lässt sich eine regelrechte Aufbruchsstimmung ablesen. Der Blick auf die Mitgliederentwicklung der Zeit spiegelt das Bild. Die Mitgliederzahlen liegen zwar nicht nach Geschlecht aufgeschlüsselt vor, es ist aber davon auszugehen, dass der Zuwachs an Vereinsmitgliedern ab 1908 insbesondere auf Frauen zurückzuführen war. Von 1903 (16 000) verdoppelten sich die Mitgliedschaften bis 1913 auf etwas mehr als 35 000.35
33 Paul Rieger, Ein Vierteljahrhundert im Kampf um das Recht und die Zukunft der deutschen Juden in den Jahren 1893–1918. Berlin 1918, 66. 34 Eine Frage, die an dieser Stelle nicht diskutiert werden kann, ist, ob es hierbei eine Rolle spielt, dass im Centralverein so viele Juristen organisiert waren. Weiterhin stellt sich die Frage, ob CVer als Juristen ein stärker ausgeprägtes Grundverständnis dafür hatten, dass der Erlass eines Gesetzes eine konkrete Umsetzung, die Implementierung notwendigerweise erforderte? 35 Bis 1917 wiederum wuchs der Verein nur geringfügig um 1 000 Mitglieder auf insgesamt 36 000 an. Reinharz, Deutschtum und Judentum (wie Anm. 8), 21 f.
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Ganz praktisch betätigten sich Frauen gemeinsam mit Männern im Centralverein. Dies taten sie zumindest nominell gleichberechtigt und selbständig. Die Schaffung einer eigenen Frauenorganisation innerhalb des Vereins wurde in dieser Phase nicht diskutiert. Die Etablierung von Arbeitsausschüssen für Frauen in den Ortsgruppen wurde zwar anempfohlen und zumindest in Berlin auch umgesetzt. Hierbei ging es um eine zwischen den Geschlechtern vermittelnde Einrichtung, eine Art inter-geschlechtlichen Dialog. Ziel war es, Frauen in die praktische Arbeit des Centralvereins zu integrieren. Der Centralverein inszenierte sich als ein Verein, bei dem die praktische Arbeit im Fokus stand, als ein Verein der Tat, in dem jeder und jede eine von ihm oder ihr erfüllbaren Rolle einnehmen konnte. Dennoch existierte eine gläserne Decke – in die Führungsebenen des Vereins rückten nur wenige Frauen auf, dies war auch nicht das erklärte Ziel der männlichen Vereinsriege. Frauen wurden Grenzen gesetzt, die mit zeitgenössischen Konventionen der jüdischen und nichtjüdischen Gesellschaften konformgingen.36 Bemerkenswert ist das Geschlechterbild, das aus den Quellen spricht. Frauen wurden mehrfach zur Mitarbeit „Schulter an Schulter mit den Männern“ aufgefordert. Sie sollten selbständige Mitglieder des Vereins werden, die alleinige Mitgliedschaft des Ehemanns wurde von der Vereinsführung als nicht ausreichend angesehen. Parallel dazu war der Centralverein von den Vorstellungen des bürgerlichen Frauenbildes durchdrungen. Der „Natur der Frau“ gemäß wurde ihr als wichtige Rolle die der Erzieherin der nachwachsenden Generation zugewiesen. Aber die Rolle der Frau sollte eben nicht darauf beschränkt bleiben. In den Quellen finden sich erste Hinweise auf die besondere Rolle, die CVerinnen im Kampf gegen den Antisemitismus unter Frauen einnehmen sollten. Hier wurde bereits in der Zeit unmittelbar nach 1908 zwischen Mann und Frau differenziert. Bislang fehlt es an wissenschaftlichen Untersuchungen über die Auswirkungen des Reichsvereinsgesetzes auf gemischtgeschlechtliche Organisationen, die im Deutschen Reich tätig waren. Ebenso standen Gruppierungen, in denen deutsch-jüdische Männer und Frauen gemeinsam aktiv waren, selten im Fokus
36 Hierbei ist einzubeziehen, dass selbst bei bürgerlichen Frauenvereinen häufig ausschließlich Männer den Vereinsvorstand bekleideten. Daniel Watermann stellt am Beispiel Halle/Saale einen ab 1900 langsam einsetzenden Bewusstseinswandel fest, Frauen Vorstandspositionen zu ermöglichen. Dazu Daniel Watermann, Bürgerliche Netzwerke. Städtisches Vereinswesen als soziale Struktur – Halle im Deutschen Kaiserreich. (Bürgertum Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft, 15.) Göttingen 2017, 198–202.
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der Geschlechterforschung.37 In der allgemeinen Geschichtswissenschaft war diese Frage bislang am ehesten im Kontext der deutschen Sozialdemokratie von Interesse. Wie oben ausgeführt, wurde auf der Titelseite von Im deutschen Reich unmittelbar nach Erlass des Reichsvereinsgesetzes eine Einladung an alle jüdische Frauen ausgesprochen, sich dem Centralverein anzuschließen und für ihn aktiv zu werden. Im Vergleich dazu findet sich im SPD-Organ Vorwärts am 15. Mai 1908 – dem Tag des Erlasses – auf der Titelseite zwar der Artikel „Das neue Vereinsgesetz“. Dieser diente allerdings nicht dazu, Frauen für die SPD anzuwerben, sondern kam zu dem Fazit: „Ein schlechtes Gesetz tritt heute in Kraft.“38 Die Verbesserung der politischen Partizipationsmöglichkeiten, die durch das neue Gesetz geschaffen worden waren, wurde anerkannt, allerdings um auf die weiterhin fehlenden Chancen von Jugendlichen hinzuweisen: „Wohl sind die Frauen in Preußen von der Fessel des Ausnahmezustandes befreit, aber dafür sind die Minderjährigen bis zu 18 Jahren entrechtet, und damit ist den Gewerkschaften eine Fußangel angelegt.“39 In der eine Woche später veröffentlichten Nummer des Vorwärts vom 22. Mai 1908 fand das Gesetz erneut an zwei Stellen Erwähnung: einmal in Form eines Hinweises auf eine neue Publikation des Verlages der Buchhandlung Vorwärts ohne das rechtliche Novum für Frauen anzubringen. Im zweiten Fall wurde in der Rubrik „Aus der Frauenbewegung“ über eine erfolgreiche Werbeveranstaltung für Frauen im preußischen Jastrow (heute Jastrowie, Polen) berichtet, die unter dem programmatischen Motto „Bahn frei den Frauen!“ stand.40 Nach der Diskussion der Frage anhand der Veröffentlichungsstrategie der Zeitschrift Im deutschen Reich verdichtet sich der Eindruck, dass sich der Centralverein in Bezug auf die Einbeziehung von Frauen positiv im Sinne der geschlechtlichen Gleichstellung von anderen jüdischen und nichtjüdischen gemischtgeschlechtlichen Organisationen der Zeit abhob. „Mit der Politisierung der Frau bewies der CV zu diesem Zeitpunkt seine außerordentlich fortschrittliche Einstellung“, stellte bereits Christina Goldmann in ihrer kaum rezipierten Doktorarbeit aus dem Jahr 2006 fest.41 Goldmanns Befund bestätigt sich durch eine im Zuge der Erarbeitung dieses Beitrags stichprobenhaft vorgenommene 37 Als seltene Ausnahme soll hier Erwähnung finden: Tamara Or, Vorkämpferinnen und Mütter des Zionismus. Die deutsch-zionistischen Frauenorganisationen (1897–1938). (Zivilisationen & Geschichte, 3.) Frankfurt a. M. u. a. 2009. 38 Das neue Vereinsgesetz, in: Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 113, 1908, Titelblatt. 39 Ebd. 40 Vorwärts 119, 1908, [3 f.]. 41 Goldmann, Der Centralverein in Rheinland und Westfalen (wie Anm. 17), 40 f. Interessanterweise stellt dies auch die Germanistin Sandra Alfers in ihrer gut recherchierten Biografie
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Untersuchung. Diese kam zu dem Ergebnis, dass in anderen allgemeinen und jüdischen Zeitungen im Zeitraum ab dem Mai 1908 keine mit dem Centralverein vergleichbare Werbekampagne unternommen oder von ähnlichen Erfolgen berichtet wurde. Die so genannte ‚Fortschrittlichkeit‘ scheint insgesamt eine interessante Frage für das ‚Wesen‘ des Centralvereins zu sein – in Bezug auf die Geschlechterforschung, aber auch ganz fernab davon. Wie anpassungsfähig, wie offen war, und welchen inneren Reformwillen hatte der Centralverein eigentlich? Inwiefern wandelte er sich bzw. sah eine Notwendigkeit des Wandels, um zu wachsen, aber auch um ‚up to date‘ in den sich verändernden, alltäglichen Fragen zu bleiben? Denn der Centralverein verstand sich in jeder seiner Phasen – im Kaiserreich, vor und nach der Einführung des Reichsvereinsgesetzes, in den Zeiten Weimars und während der Herrschaft des NS-Regimes – als die Mehrheitsvertretung der deutschen Staatsbürger und Staatsbürgerinnen jüdischen Glaubens. Darüber hinaus verstand es der Centralverein nach 1908 glaubhafter als andere (jüdische) Organisationen seiner Zeit, die weibliche Mitgliedschaft zu einem wahrhaftigen Teil seines Vereins zu machen. Kennzeichnend für diese erste Dekade von 1908 bis zur staatsbürgerlichen Gleichberechtigung von Frauen durch die Erlangung des aktiven und passiven Wahlrechts im Jahr 1918 ist das nunmehr gemeinsame Wirken von Mann und Frau, die C. V.-Idee bei Wahrung aller bürgerlicher Geschlechtergrenzen zusammen voranzubringen.
über Else Dormitzer fest. Die Nürnbergerin war nach dem Ersten Weltkrieg für den Centralverein aktiv. Sandra Alfers, weiter schreiben. Leben und Lyrik der Else Dormitzer. Berlin 2015, 31 f.
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Zugehörigkeitsnarrative im Centralverein. Erzählungen von Anpassung und Selbstermächtigung ab 1914 Einleitung Zugehörigkeitsnarrative waren für den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) stets ein heikles Unterfangen. Der Spagat – oft von außen erzwungen –, eine Definition für Deutschtum und Judentum zu finden, die beides in Einklang bringt und nicht zu einer Entscheidung zwischen den Begriffen zwingt, begleitete den C. V. seit seiner Gründung im Kaiserreich im Jahr 1893. Diese Narrative waren einem stetigen Wandel unterworfen und erforderten eine kontinuierliche Anpassung. Zum einen, weil sich der Sprachgebrauch innerhalb der Mehrheitsgesellschaft änderte, zum anderen aber auch, weil seitens des C. V. vielfach versucht wurde, aktiv bestimmte Begrifflichkeiten zu etablieren. Allerdings war deren Verwendung ebenfalls oft nur von kurzer Dauer, da sie sich in der Debatte nicht durchsetzen konnten. Wollte der Centralverein sich positionieren, kam er demnach nicht umhin, sich der mehrheitlich gebrauchten Begriffe zu bedienen, versuchte dabei aber stets zumindest einen gewissen Interpretationsspielraum einzuführen, um das deutsche Judentum in den oftmals distinktiv konnotierten Gebrauch zu integrieren. Diese Debatten wurden nicht nur als Reaktion auf direkte antisemitische Angriffe durch völkische Ideologien geführt, einer verfestigten Ideologie also, die für Argumente kaum zugänglich war, sondern besonders aus dem Grund heraus, dass sich ein biologistisches Denken immer weiter in der Gesellschaft ausbreitete. Vorbereitet durch die in Deutschland äußerst populären Schriften von Gobineau und Chamberlain rückten Juden und Jüdinnen nicht nur vermehrt in den Fokus einer sich als zweckfrei gerierenden Wissenschaft, sondern nahmen auch immer selbstverständlicher die Rolle einer wissenschaftlich notwendigen Kontrollgruppe ein.1 Mit der Zunahme einer biologistischen Rahmung der ‚Nation‘ wurde es für deutsche Juden immer schwieriger, Narrative zu finden, die ein Konzept der kulturellen Teilhabe und Zugehörigkeit zur Nation mehrheitsfähig machten. Denn mit zunehmender Biologisierung und dem nationalis1 Ausführlich hierzu: Christian Geulen, Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert. Hamburg 2004. https://doi.org/10.1515/9783110675535-008
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tischen Druck, eine homogene nationale Einheit zu bilden, konnte man auch Begriffen wie ‚Rasse‘, ‚Ethnie‘ und ‚Volk‘ nicht mehr ausweichen.2 Stattdessen musste nach Möglichkeiten gesucht werden, das deutsche Judentum weiterhin als integralen Bestandteil Deutschlands zu verteidigen. So wird auch deutlich, dass der Centralverein in den Zugehörigkeitsnarrativen stets nur das deutsche Judentum meinte und sich selbst trennscharf von anderen Judentümern abgrenzte. Dabei wurde zwar ein Solidaritätszusammenhang durch eine gemeinsame Religion und Geschichte nie in Abrede gestellt, aber ein bis in die Gegenwart gültiger nationaler Zusammenhang mit der jüdischen Bevölkerung in anderen Ländern stets negiert. In diesem Beitrag sollen einige Zugehörigkeitsnarrative nachgezeichnet werden, die im Centralverein ab 1914 diskutiert wurden. Die unterschiedlichen Strategien in der Begegnung mit und Abwehr von vermeintlicher Andersartigkeit der jüdischen Deutschen stehen im Fokus und machen deutlich, dass es dabei nicht nur um eine Auseinandersetzung mit der Zugehörigkeit zum Deutschtum, sondern auch um eine Auseinandersetzung mit der Definition von deutschem Judentum und somit dem eigenen Selbstverständnis ging.
Völker und Volksgemeinschaft Die Botschaft Kaiser Wilhelms II. zu Beginn des Ersten Weltkrieges, im Kampf höre jede Partei auf, er kenne „nur noch deutsche Brüder“3, die er in seiner Thronrede im Reichstag am 4. August 1914 noch einmal auf die vielzitierte Formel „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“4 brachte, klang in den Ohren vieler jüdischer Deutscher nach der endgültigen Umsetzung der langersehnten Integration. Endlich schienen die gläsernen Schranken überwunden und der Krieg, auch von den meisten Juden und Jüdinnen – zumindest anfänglich – leidenschaftlich herbeigesehnt, bot auch gleich Gelegenheit, die eigene nationale Verlässlichkeit unter Beweis zu stellen. In der monatlich erscheinenden Zeitung des Centralvereins Im deutschen Reich wurde der Kriegsbeginn auf der Titelseite mit einem sechsstrophigen Gedicht gefeiert. Dabei wurde be2 Vgl. Peter Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 176.) Göttingen 2007, 67– 149. 3 O. A., Eine neue Rede des Kaisers. „Keine Parteien mehr.“, in: Berliner Tageblatt 387, Morgenausgabe, 02.08.1914, o. P. 4 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. XIII. Legislaturperiode, II. Session 1914. 1914/18.1 (306). Berlin 1916, 2.
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sonderer Wert auf die endlich erreichte Einigkeit der unterschiedlichen Völker gelegt, wie in der zweiten Strophe deutlich wird: Daß die Deutschen aus Völkern und Völkelein Nun ein einziges Volk geworden, Und daß keine Grenze mehr war an dem Main, Daß einig der Süden und Norden; Daß ein kraftvoller Stamm, seiner Kraft sich bewußt, Sich emporrang nach schmachvollen Tagen: Das hat die Neider kränken gemußt, Das konnten sie nimmer ertragen! 5
Darüber hinaus durfte auch die vom Kaiser postulierte Unterschiedslosigkeit innerhalb der nationalen Einheit in dieser patriotischen Ode nicht fehlen und so schließt das Gedicht mit der Strophe: Ja, wir stehen zueinander! Verschwunden ist Jeder Unterschied, wo er bestanden; Ob hoch oder nieder, ob Jud’ oder Christ, Ein Volk nur in all unseren Landen! Wir kämpfen zusammen für Kaiser und Reich, Zusammen die Neider wir schlagen: Durch Kampf zum Sieg! Und Streich auf Streich! Durch Kriegsnot zu ruhigen Tagen!6
In dem Gedicht wird deutlich, dass es zu diesem Zeitpunkt noch keine stabile Vorstellung von Vergemeinschaftungsbegriffen gab; es wird von „Völkern und Völkelein“, die sich zu einem Volk zusammenschließen ebenso gereimt wie von einem „kraftvollen Stamm“. Aber es handelt sich zweifellos um einen Zusammenschluss, auch wenn ein wenig unklar bleibt, wer sich zu was vereinigt hat. Nachträglich wurde dieses ‚August-Erlebnis‘ von nahezu allen politischen Strömungen in der Weimarer Republik oft mit dem Gefühl einer Volksgemeinschaft gleichgesetzt7 und auch in dem auf das Gedicht folgenden Artikel „Unter den 5 M. H., Krieg, in: Im deutschen Reich (IdR) 9, 1914, 337–338. 6 Ebd., 338. 7 Vgl. Jeffrey Verhey, Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Hamburg 2014. Im englischen Original wird die Intention des Autors deutlicher, der besonders auf die Macht und Möglichkeiten politischer Mythen eingeht und so ein wesentlich differenziertes Bild der Kriegsbegeisterung zeichnet. Siehe Jeffrey Verhey, The Spirit of 1914. Militarism, Myth, and Mobilization in Germany. (Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare, 10.) Cambridge 2006. Die Schwierigkeiten, die dieses Konzept aufwirft, erläutert: Ian Kershaw, „Volksgemeinschaft“. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1, 2011, 1–17.
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Waffen“ wird deutlich gemacht, dass die Juden „im Laufe der Geschichte ein unlösbarer Bestandteil des deutschen Volkes geworden [sind].“8 Der Begriff ‚Volksgemeinschaft‘ fand damals zwar noch kaum Verwendung, aber in vielen Reflexionen wird darauf rekurriert und das damals empfundene Gefühl von Einheit und Gleichheit spiegelte sich dann in der später formulierten Idee.9 „Indeed, many contemporaries saw the two symbols as the same thing.“10 Die schnelle Anpassungsfähigkeit des Sprachgebrauchs zeigt sich auch daran, wie die relevanten Diskurse identifiziert wurden und die eigene Wortwahl beeinflussten. Eugen Fuchs, der Grand-Seigneur, Ideengeber und Vordenker im Centralverein, hat auf einer Delegiertenversammlung im Mai 1913 kundgetan: „Ich möchte die Formel, wenn ich sie heute prägen könnte, so fassen: ‚Wir sind ein Centralverein jüdischer Deutscher.‘“11 Hier wurde, anders als bereits eineinhalb Jahre später, ‚jüdisch‘ noch als Attribut zu ‚Deutscher‘ verwendet. Im Beitrag „Unter den Waffen“ und auch schon in der Bekanntmachung „An die deutschen Juden“12 wird ‚deutsch‘ zum Attribut des ‚Juden‘ und der ‚Jüdin‘. ‚Deutsch‘ wird hier zur Klammer, die all die „Völker und Völkelein“, die den „Süden und den Norden“, „Jud’ und Christ“ nicht nur zusammenhält, sondern auch egalisiert. Vermeintliche Unterschiedlichkeiten werden durch eine national konnotierte Attribuierung aufgehoben und Alle können gleichwertige Teile einer Volksgemeinschaft sein. Doch bei aller Begeisterung sowohl für den Krieg wie auch für die damit einhergehende Einigkeit und Gleichheit, die sofort auch mit der Hoffnung auf eine Besserung der Stellung der Juden einherging, traute man dem nationalen Einheitstaumel wohl nicht so ganz.13 Dem Aufruf, „über das Maß der Pflicht hinaus
8 O. A., Unter den Waffen, in: IdR 9, 1914, 342. 9 Verhey, The Spirit of 1914 (wie Anm. 7), 213–219. 10 Ebd., 213. 11 Eugen Fuchs, Vortrag des Herrn Geh. Justizrat Dr. Eugen Fuchs, Berlin (Centralverein und Zionismus), in: IdR 5–6, 1913, 214–224. 12 Verband der deutschen Juden/Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, An die deutschen Juden!, in: IdR 9, 1914, 339. 13 Eine Bewertung der Kriegsbegeisterung oder der Erwartungshaltung von deutschen Juden zu Beginn des Ersten Weltkrieges soll hier nicht vorgenommen werden. Zuletzt hierzu und überzeugend: Anna Ullrich, Von „jüdischem Optimismus“ und „unausbleiblicher Enttäuschung“. Erwartungsmanagement deutsch-jüdischer Vereine und gesellschaftlicher Antisemitismus 1914–1938 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 120.) Berlin 2019, 13–23. Zur spezifisch-jüdischen Erfahrung im Ersten Weltkrieg siehe: Sarah Panter, Jüdische Erfahrungen und Loyalitätskonflikte im Ersten Weltkrieg. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 235.) Göttingen 2014.
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[die] Kräfte dem Vaterlande zu widmen“14, folgte die Bitte an die Ortsgruppen und Mitglieder des Centralvereins, „alles auf die Beteiligung der Juden am Kriege Bezügliche mitzuteilen, da der Umfang der Beteiligung der deutschen Juden an dem Feldzuge für spätere Zeiten festgestellt werden muß.“15 Auch wenn bis „in die jüngsten Tage hinein […] das Wort des Gesetzes [des Gleichberechtigungsgesetzes, Anm. T. G.-F.] nicht Tat geworden“ war, glaubte man doch, dass sich durch den „in der Weltgeschichte beispielslosen Krieg“ auch „sittlich eine neue Morgenröte Deutschlands“ ankündigte.16 Unter diesen Vorrausetzungen hoffte man mehr als es tatsächlich geglaubt wurde, dass der Antisemitismus keine Rolle mehr spielen würde und die bürgerliche Gleichheit auch in den kommenden Friedenszeiten Bestand haben würde. Ganz dem Gedanken des Burgfriedens verpflichtet, lässt der C. V. seine Mitglieder wissen: „Da ist selbstverständlich auch unser Kampf um das bisher verkümmerte Recht eingestellt. Hoffentlich für alle Zeit.“17 Wie brüchig das Narrativ eines sich aus verschiedenen Völkern vereinigenden Volkes und das Konstrukt einer so heraufbeschworenen Volksgemeinschaft war, konnte der C. V. schon zwei Jahre später feststellen. Die sogenannte ‚Judenzählung‘ 1916 löste bei den deutschen Juden eine Welle der Enttäuschung auf zwei Ebenen aus: Denn nicht nur, dass ihnen schon wieder die nationale Zuverlässigkeit abgesprochen wurde und sich kaum ein Nichtjude oder Nichtjüdin gegen diesen Umstand aussprach, sahen darüber hinaus auch die eigenen Vereine wie der C. V. und der Verband der deutschen Juden (VdJ) von einer öffentlichen Verurteilung, zumindest während des Krieges, ab.18 Das Gefühl, als Kollektiv aus dem Einheits- und Gleichheitsversprechen des Kaisers wieder ausgeschlossen worden zu sein und nicht mehr Teil der Volksgemeinschaft19 zu sein, führte auch dazu, dass ein neues Narrativ gefunden werden musste. Ein Aufgeben des Kampfes um Zugehörigkeit, wie es teils im Zionismus gefordert wurde,20 war für den Centralverein keine Option und so wurde die von außen auferlegte, ver14 VdJ/C. V., An die deutschen Juden (wie Anm. 12). 15 Der Vorstand des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, An die Ortsgruppen und Mitglieder des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens!, in: IdR 9, 1914, 339–340. 16 O. A., Unter den Waffen (wie Anm. 8), 343. 17 Ebd. 18 Siehe Jacob Rosenthal, „Die Ehre des jüdischen Soldaten“. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen. (Campus Judaica, 24.) Frankfurt a. M. 2007, 81–87. 19 Siehe Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939. Hamburg 2007. Volksgemeinschaft wird hier praxeologisch verstanden und als Analysekategorie auch für die Weimarer Zeit gewonnen. 20 Vgl. hierzu Stefan Vogt, Subalterne Positionierungen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland, 1890–1933. Göttingen 2016, 231–234.
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meintliche Unterschiedlichkeit antizipiert und in ein anderes Verständnis der deutschen Nation integriert. Bis zu den Friedensverhandlungen wurde die vermeintliche jüdische Eigenart meist auf Stammesprägung, also eine durch die gemeinsame Geschichte erlangte Eigenart, die auch andere Stämme innerhalb der deutschen Nation haben,21 zurückgeführt.22 So konnte man wie diese, trotz einer vermeintlich charakteristischen Unterschiedlichkeit, teilhaben, wie es Walther Rathenau in einem Brief formulierte: „Du sagst gelegentlich ‚mein Volk‘ und ‚Dein Volk‘. Ich weiß, daß es nur ein verkürzter Ausdruck ist, aber ich möchte ein Wort dazu bemerken. Mein Volk sind die Deutschen, niemand sonst. Die Juden sind für mich ein deutscher Stamm, wie Sachsen, Bayern oder Wenden.“23
Nationen und Nationalitäten Im Kontext von Wilsons 1918 vorgelegten 14-Punkte-Programm und der damit verbundenen Idee von nationaler Selbstbestimmung oder auch Selbstbestimmung der Völker und dem Bewusstsein um einen notwendigen Minderheitenschutz,24 der gerade durch die jüdischen Interessenvertretungen bei den Gesprächen in Versailles gefordert wurde, versuchte der Centralverein erneut, das deutsche Judentum in das Begriffspaar ‚Nation‘ und ‚Nationalität‘ zu integrieren. Bruno Lange, damals in Magdeburg tätiger Rabbiner und langjähriges Mitglied des C. V.,25 schrieb in Im deutschen Reich einen Beitrag, in dem er die „objektive Bedeutung“ von Nation und Nationalität „einmal klarstellen“ wollte: Nation hat in keiner Beziehung mehr den wörtlich-grammatischen Sinn, etwa die durch Abstammung und Blutsverwandtschaft gebildete und durch Sprache, Sitte und Gewohnheit umgrenzte Volksmenge, sondern bedeutet lediglich ein durch feste Grenzen gesichertes, auch ethnisch-heterogenes Volksganzes,das im friedlich-brüderlichen Gemeinschaftsle-
21 Vgl. Eugen Fuchs, Glaube und Heimat, in: IdR 9, 1917, 338–351. Hier wird auch schon auf Nation und Nationalität eingegangen. Oder auch in derselben Ausgabe: Bruno Weil, Unsre Soldaten und die Judenfrage. Eine Untersuchung, in: IdR 9, 1917, 351–359. Selbst die Berliner werden hier als eigener Stamm geführt. 22 Ein Narrativ, das auch in der Weimarer Republik noch einmal kurz aufkommt. 23 Walther Rathenau, Briefe, Bd. 1. Dresden 1926, 220. 24 Vgl. Dietmar Müller, Staatsbürgerschaft und Minderheitenschutz. „Managing diversity“ im östlichen und westlichen Europa, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006. www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1379 (30.6.2020). 25 Zu Bruno Lange siehe: Michael Brocke/Julius Carlebach (Hrsg.), Biographisches Handbuch der Rabbiner, Teil 2: Die Rabbiner im Deutschen Reich 1871–1945. München 2009, 364.
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ben seine Wurzel, in der Sicherung und Festigung der Gemeinschaft seine Existenz und Zukunft schafft.26
Lange hebt also die Verknüpfung von ‚nasci‘ und ‚natio‘ auf und sieht die Nation inhaltlich als fast schon freiwillige Gemeinschaft, die durch den Renanschen Zukunftsgedanken, der die Nation stabilisiert, zusammengehalten wird.27 Davon abgrenzend definiert er ‚Nationalität‘ als das, was er für die ‚Nation‘ ausschloss: Nationalität hingegen, die heute so oft mit Nation verwechselt wird, heißt die Zugehörigkeit zu einer völkischen Einheit, die, ohne sie rein gewahrt zu haben, auf Blutsverwandtschaft sich stützt und durch Sprache, Denkart, Bräuche und Sitten real in die Erscheinung tritt.28
Dass diese beiden Definitionen eher realpolitischen Überlegungen als dem akademischen Diskurs entspringen, muss auch Lange zugeben, aber er meint, diesen Vorwurf durch „naheliegendste Beispiele“ entkräften zu können.29 Hierzu verweist er auf die „ethnisch betrachtet bunt zusammengewürfelt[en]“ großen Nationen wie Frankreich, England und Deutschland.30 Diese Definitionen verknüpfend, macht Bruno Lange noch einmal deutlich, was für ihn (und den Centralverein) eine Nation ausmacht. Er beschreibt damit ein Nationenverständnis, das Juden und Jüdinnen genauso in diese Einheit mit aufnahm, wie es für die so bezeichnete „Blutsverwandtschaft“ der Fall war. Was all diese Nationen in ihrer ethnischen Mannigfaltigkeit zu einer Macht- und Willenseinheit eng vereinte, ist also nicht die Abstammung, sondern die geistige Assimilation, die bestimmend auf das Fühlen, Denken und Wollen der einbezogenen Volkselemente einwirkt und die mangelhafte Blutsgleichheit durch eine feste Interessengleichheit ersetzt.31
Kamen sowohl das patriotische Gedicht wie auch der nachfolgende Beitrag aus dem Jahr 1914 noch ohne eindeutig biologistische Zuschreibungen wie ‚Rasse‘ oder vermeintlich anthropometrisch erfassbare Merkmale aus, scheint das kurz vor Ende des Krieges nicht mehr möglich zu sein. Das nun aufgebaute Narrativ 26 Bruno Lange, Nation und Nationalität, in: IdR 9, 1918, 321–327, hier 322. 27 Vgl. Ernest Renan/Walter Euchner/Silvio Lanaro/Maria Fehringer, Was ist eine Nation? Und andere politische Schriften. (Transfer Kulturgeschichte, 2.) Wien 1995. Dabei ist Zukunft keinesfalls mit Progression zu verwechseln, sondern beschreibt eher die gemeinsame Umsetzung einer bestimmten Idee von der Nation, die selbstverständlich – und in den meisten Fällen – allein durch restaurative Elemente einer mystifizierten, glorreichen Vergangenheit bestehen kann. 28 Lange, Nation und Nationalität (wie Anm. 29), 322. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. ebd., 322–323. Zitat auf 322. 31 Ebd., 322.
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musste die Möglichkeit bieten, auch vermeintlich biologisch konnotierte Unterschiedlichkeiten zu integrieren, weshalb die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen Nation und Nationalität nicht verwundert. Die Nation ist ihm die Form und die Nationalität ihr Inhalt.32 Die deutsche Nation kann demnach unterschiedliche Nationalitäten beinhalten (und tut das nach Lange auch), ohne ihren Nationalcharakter zu verlieren: Nicht Abstammung, Sitten oder Sprachverwandtschaft bilden die Nation, sondern räumlich und geographisch festgefügte Grenzen nach außen und die in friedlich-brüderlicher Gemeinschaft lebende und strebende Volksmenge, homogen durch Erziehung und Anschauung, heterogen nach ethnischer Abkunft, nach innen.33
Die Verschiedenheit von Nationalitäten wird dann auch mit biologischen Unterschieden begründet. „Das äußere Merkmal der Nationalität ist identisch mit den Anzeichen der Rasse, die sich durch Körperbildung, Lebensgewohnheit, Sitten und vielleicht Sprache und Sprechart kundtun.“34 Allerdings ist dies so offen formuliert, dass es weitab der tatsächlichen Vererbungslehrediskurse der damaligen Zeit stand. Der Centralverein befürchtete, dass sich im Zuge der Friedensverhandlungen das Nationalitätenprinzip durchsetzen würde und sich so „das buntscheckigste Staatenbild ergeben [würde], das noch das Kleinstaatentum des Mittelalters übertrifft.“35 Übertragen auf die deutschen Juden könne der Vorwurf, sie bildeten eine eigene Nation, Lange zufolge keine Geltung mehr haben, da ihnen ein Staatsgebiet fehle, außerdem gäben sie „auch die erste Nation ab, in der Nationalität und Nation zusammenfallen.“36 Zwar sei die „geistige Assimilation“ bedingt durch Unterdrückung und viel zu späte Gleichstellung noch nicht so weit fortgeschritten, wie dies bei anderen Nationalitäten der Fall gewesen sein mag, aber „kommt ihnen daher nicht die staatsbürgerliche Stellung ebenso zu wie den übrigen, solange sie – wie dieser Krieg es gezeigt hat – ihre nationalen Pflichten zu würdigen und zu bestätigen verstehen?“37 Ein semantischer Unterschied zwischen ‚Völkern‘, die ein Volk, und deutschen ‚Stämmen‘, die eine nationale Einheit sowie ‚Nationalitäten‘, die eine Nation bilden, lässt sich kaum festmachen, und es ist in diesem Kontext eher zu vermuten, dass Lange sich explizit auf die Sprache der sich abzeichnenden Friedensverhandlungen zu beziehen versuchte. Wichtig war, die Begrifflichkeiten 32 33 34 35 36 37
Vgl. ebd., 324. Ebd. Ebd. Ebd., 325. Ebd., 326. Ebd., 327.
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so zu fassen, dass es zu keinem Ausschluss der deutschen Judenheit kommen konnte. In Bezug auf die Verhandlungen, die zwar in ihrem Ergebnis noch nicht absehbar waren, deren mögliche Richtung aber schon erkennbar war, bestand die abstrakte Gefahr, mit osteuropäischen Juden und Jüdinnen gleichgesetzt zu werden.38 Der Centralverein hätte dadurch die nationale Zugehörigkeit zu Deutschland in Gefahr gesehen und fürchtete darüber hinaus eine Anerkennung des deutschen Judentums als Minderheit, da so eine vermeintliche Unterschiedlichkeit zur Mehrheitsgesellschaft manifestiert würde. Daher musste der Unterschied zu Juden und Jüdinnen aus anderen Nationen zwangsläufig aufrechterhalten werden, um nicht durch die Vergemeinschaftung einen anderen Status innerhalb Deutschlands zu bekommen, sowohl in den Argumenten der eigenen Auseinandersetzung um Zugehörigkeit als auch, wie in diesem Falle, durch politische Zuschreibungen von außen.39 Allerdings muss noch auf einen entscheidenden Unterschied in der Argumentation hingewiesen werden, nämlich das Fehlen eines eindeutigen biologistischen Vokabulars in den Äußerungen von 1914. Zwar ist zu vermuten, dass gerade in dieser Zeit der nationalen Einheit aktiv und bewusst versucht wurde, dieses Vokabular aus der Debatte rauszuhalten, quasi verknüpft mit der Hoffnung auf die nun einsetzende politische und gesellschaftliche Gleichstellung, mitgedacht wurde es wahrscheinlich dennoch.
Positionierungen nach dem Ersten Weltkrieg Der Centralverein verwendete biologistische Begriffe vor dem Ersten Weltkrieg kaum; zu abgegrenzt war der Diskurs und man wollte sich nicht an einer Debatte beteiligen, die als Grundvoraussetzung die Verschiedenheit von jüdischer und der übrigen Bevölkerung annahm. Der Hauptaustragungsort der Vorkriegs38 Vom osteuropäischen Judentum hat sich der Centralverein stets eindeutig abgegrenzt und sich trotz einiger Solidaritätsaktionen und -bekundungen meist für einen schnellen Transit und die Auswanderung ausgesprochen. Vgl. Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland. 1918–1933. (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, 12.) Hamburg 1986, 561–568. 39 Das betraf aber nicht nur die Abgrenzung gegenüber Juden und Jüdinnen aus anderen Nationen, sondern auch gegenüber Zionisten und Zionistinnen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg kam es zu massiven Auseinandersetzungen zwischen der Zionistischen Vereinigung für Deutschland und dem Centralverein. Siehe Christian Dietrich, Verweigerte Anerkennung. Selbstbestimmungsdebatten im „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin 2014, 83–90. Durch die Balfour-Deklaration 1917 wurde deren Position gestärkt und viel Hoffnung, dass sich durch den Kriegsverlauf daran noch etwas ändert, konnte der C. V. im August/September 1918 sich nicht machen.
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debatte um biologische Unterschiedlichkeit war noch die Wissenschaftscommunity gewesen und jeder Versuch, sich daran zu beteiligen, unterlag den akademischen Kontrollfunktionen.40 Geisteswissenschaftlich argumentierenden Positionen wie denen des Centralvereins war es dadurch kaum möglich, sich an der Debatte zu beteiligen.41 Doch insgesamt hatte diese Kontrollfunktion innerhalb der Wissenschaft bis zum Ersten Weltkrieg relativ gut funktioniert, weshalb eine Unterscheidung zwischen ideologisierter Wissenschaft, die ihre politischen Überzeugungen priorisierte, und dem Versuch, sich möglichst wertfrei mit der Biologie menschlicher Verschiedenheit auseinanderzusetzen, noch gut möglich war – zumindest was die Standards der damaligen Zeit betraf. Während des Ersten Weltkrieges änderte sich dieser Umstand und es wird deutlich, dass die akademische Rahmung und Kontrolle in bestimmten Themengebieten der biologischen Rassenlehre immer weiter zurückgedrängt wurden.42 Vier Jahre Krieg und die sich anschließende Isolierung in den ersten Jahren nach dem Friedensschluss von Versailles mögen einen Einfluss auf die besonders in Deutschland zu beobachtende Radikalisierung in der ‚Rassenkunde‘ gehabt haben; auch scheint es plausibel, nach dem Verlust der Kolonien ethnologische Forschung verstärkt im eigenen Land durchzuführen.43 Entscheidend in beiden Fällen ist jedoch, dass nicht nur der Wegfall der Kontrollfunktion eines internationalen wissenschaftlichen Kollektivs zu beobachten war, sondern dass die Isolierung in einigen Bereichen freiwillig fortgesetzt wurde. Gerade die Rassenhygiene, als tonangebende Disziplin, isolierte sich aktiv und glaubte, damit einer inhärenten Überzeugung zu folgen.44 Die bisherige gegenseitige Publikationskultur45 wurde aufgegeben und die Debatte fortan von klar antisemitischen Autoren wie Hans F. K. Günther, Fritz Lenz und Eugen Fischer dominiert; jüdische Biowissenschaftler zogen sich immer mehr zurück und „publizierten nun 40 Aber nicht nur Verschiedenheit, sondern in den meisten Fällen Minderwertigkeit. Vgl. Veronika Lipphardt, Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Vererbung 1900–1935. Göttingen 2008, 71. 41 Vgl. hierzu ebd., 53–186. Lipphardt unterscheidet eine erste Debattenphase zur „Biologie der Juden“ von 1900–1915 und eine zweite, die sie in der Zeit von 1916–1933 verortet. 42 Vgl. hierzu nochmal ebd., 133. 43 Vgl. Anja Laukötter, Von der „Kultur“ zur „Rasse“ – vom Objekt zum Körper? Völkerkundemuseen und ihre Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2007, 32–48. 44 Vgl. Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen eugenischen Bewegung im 20. Jahrhundert. (Sozialwissenschaften, 2013.) Frankfurt a. M. 2014, 66–67. 45 Bis zum Ersten Weltkrieg war es möglich, als jüdischer Biowissenschaftler auch in nichtjüdischen Fachpublikationen zu veröffentlichen, genauso wie das umgekehrt der Fall war. Danach sind keine solchen Publikationen nachweisbar. Vgl. Lipphardt, Biologie der Juden (wie Anm. 43).
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eher in allgemeinen oder jüdischen Zeitschriften sowie in Monografieform und weniger in wissenschaftlichen Zeitschriften.“46 Während empirische Arbeiten kaum noch veröffentlicht wurden und somit die Suche nach Unterschiedlichkeit durch anthropometrische Forschungen ihre Aussagekraft verlor, kam der vermeintlich ‚jüdische Geist‘ in die Debatte zurück. Biowissenschaftler und völkische Antisemiten waren inzwischen schwer zu unterschieden und in Fragen der sogenannten jüdischen Rasse steuerten beide wieder auf Chamberlains berühmtes Zitat zu: „Es [das wissenschaftliche Vorgehen, Anm. T. G.-F.] ist aber für meinen Zweck durchaus unnötig. Ohne mich um eine Definition zu kümmern, habe ich Rasse im eigenen Busen.“47 Durch die Etablierung von ‚Geist‘ als Unterscheidungskategorie zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung eröffnete sich jedoch erneut die Möglichkeit, von geisteswissenschaftlicher Seite an der Debatte von Verschiedenheit und Zugehörigkeit teilzunehmen. Eine Aufgabe, die der Centralverein auch sofort wahrnahm.
Kulturelle Zugehörigkeit Julius Goldstein hat sich schon 1910 in einem Vortrag auf der Generalversammlung des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus in Berlin mit „Moderne[n] Rassentheorien“48 auseinandergesetzt. Als er sich in der Weimarer Republik wieder intensiver mit dem Thema beschäftigte, war er damit ganz auf der Linie des Centralvereins. Goldstein stand dem Verein schon lange nahe und war inzwischen nach eigener Auffassung „Spezialist auf dem Gebiet der Abwehr geworden, inoffizieller Syndikus.“49 Gerade in Fragen der Rassentheorien galt er in der Weimarer Republik als Sprachrohr der Organisation und verfasste bis zu seinem 46 Ebd., 133. 47 Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. München 1906, 290. Selbstverständlich gaben auch antisemitische Biowissenschaftler ihren Status von Wissenschaftlichkeit nicht auf, aber die Debatte um eine ‚jüdische Rasse‘ war für sie entschieden und nicht mehr Teil ihrer Forschungen, vielmehr traten in der zweiten Debattenphase andere Themen wie Vererbungslehre in den Vordergrund. 48 Julius Goldstein, Moderne Rassentheorie. Vortrag des Herrn Professor Goldstein – Darmstadt, gehalten in der Generalversammlung des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus in Berlin am 9. Mai 1910, in: Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 19/20, 1910, 144–147. 49 Tagebucheintrag vom 5. November 1924, abgedruckt in: Uwe Zuber (Hrsg.), Julius Goldstein. Der jüdische Philosoph in seinen Tagebüchern. 1873–1929. Hamburg – Jena – Darmstadt. Wiesbaden 2008, 195.
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Tod 1929 unzählige Artikel in der C. V.-Zeitung und in Der Morgen50, aber auch in anderen Zeitschriften. Aus den veröffentlichten Beiträgen kompilierte Goldstein zwei wichtige Monographien: 1921 Rasse und Politik51, 1927 Deutsche Volks-Idee und Deutsch-Völkische Idee52. Dabei unterscheidet Goldstein, und das hat er bereits 1910 getan, zwischen Anthropologie als Wissenschaft einerseits und der Rassenlehre andererseits, die er als von Renan, Gobineau und Chamberlain inspirierte und geprägte Geschichtsphilosophie betrachtet. Er selbst wendet sich als Philosoph gegen die Rassenlehre als Hilfskonstruktion für den Antisemitismus und versucht, geisteswissenschaftlich argumentierend, diesem die biologistische Grundlage zu entziehen.53 Ideologisch Gefestigte sieht er dabei nicht als seine Zielgruppe, sondern versteht seine Arbeit im Sinne der Abwehrarbeit des Centralvereins, Aufklärungsarbeit bei denen zu leisten, die noch erreichbar sind. Ganz in diesem Sinne schreibt er in der Vorrede zu Rasse und Politik: Mit Menschen dieser Haltung [Antisemiten, Anm. T. G.-F.] ist ebensowenig zu rechten, wie mit solchen die willentlich allen Einwänden sich verschließen. Nur wer auch bei der Frage des Antisemitismus bereit ist, sich den Normen der Wahrheit, Gerechtigkeit und Billigkeit unterzuordnen, für den ist diese Schrift bestimmt.54
Das Vorwort des Buches wurde von dem evangelischen Theologen Heinrich Frick geschrieben. Dieses Vorgehen, Einleitung bzw. Vorrede von einem Nichtjuden schreiben zu lassen, galt als ‚Entreebillet‘ in einen nichtjüdischen Leserkreis und vergrößerte somit die Außenwirkung. Außerdem vermied es den Vorwurf, dass hier nur Juden über Juden schrieben und somit parteiisch seien. In seiner „Vorrede über Christentum, Deutschtum und Judenfrage“55 protestiert Frick „aus Gründen wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit gegen den Rassenantisemitismus. Und wir protestieren ebenso aus nationalen Gründen.“56 „Gerechtigkeit“, so Frick weiter, „verlangt anzuerkennen, daß die deutsche Volksseele mit ihr Bes50 Siehe dazu auch den Artikel von Tobias Bargmann in diesem Band. 51 Julius Goldstein, Rasse und Politik. Vorwort von Lic. Dr. Heinrich Frick. Schlüchtern 1921. Die zweite (1923) und dritte (1924) von insgesamt vier Ausgaben erschienen im C. V.-eigenen Philo-Verlag. 52 Julius Goldstein, Deutsche Volks-Idee und Deutsch-Völkische Idee. Eine soziologische Erörterung der Völkischen Denkart. Berlin 1927. 53 Dass Goldstein dabei auch – nach seiner Einteilung – anthropologische Argumente verwendet (das Vokabular verwendet er uneingeschränkt) und somit seine eigene Trennung nicht einhält, zeigt deutlich, dass eine klare Linie bei den noch sehr unbeständigen Wissensständen dieser Disziplin kaum zu ziehen war. Damit bestand auch weiterhin das Problem, sich nicht klar dagegen positionieren zu können, da das argumentative Gegenüber noch zu fluide war. 54 Goldstein, Rasse und Politik (wie Anm. 54), 16. 55 Heinrich Frick, Eine Vorrede über Christentum, Deutschtum und Judenfrage, in: ebd., 5–15. 56 Ebd., 14.
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tes dem Judentum verdankt“ – die Bibel. Aber die Gerechtigkeit verlange ebenso „anzuerkennen, daß auch in der Moderne das Wachstum der deutschen Seele von Juden reich gefördert worden ist. Oder will man Spinoza, die Mendelssohn, einen Hermann Cohen aus der deutschen Geschichte streichen?“57 Wichtig für den Centralverein war besonders das fünfte Kapitel „Ist Nation Abstammungsgemeinschaft?“, in dem Goldstein die Zugehörigkeit zur deutschen Nation näher bestimmt und die Ideologie hinter dieser Frage decouvriert: „In der Gleichsetzung von Nation und Abstammungsgemeinschaft drückt sich die Tatsache aus, dass Rassentheorie und Nationalismus sich zu einer politischen Kampftheorie vereinigt haben.“58 Einer Kampftheorie, die die Mittel der Rassentheorie um eine im Geist angesiedelte Komponente der Zusammengehörigkeit ergänzt hat, um Verschiedenheit auf einer kaum empirisch zu erfassenden Ebene konstruieren zu können. Ein Konstrukt, das davon ausgeht, unterschiedliche Abstammung wie angeblich bei der deutschen und jüdischen Bevölkerung würde unterschiedlichen Geist in eine Nation bringen und so zur Degeneration führen. Goldstein macht deutlich, dass er einen homogenen Geist innerhalb der Nation ebenfalls für wichtig hält, jedoch diesen nicht mit der Abstammung verbunden wissen will, denn: Die Entwicklung zum Staat, zur Kirche, zur Nation, zur Menschheitsidee, bedeutet, wenigstens in Europa, die Homogeneität [sic] der Abstammung zu einer solchen des Geistes erweitern. Die Geschichte hat sich in Europa nicht um Rassen und ihre Reinheit gekümmert, […]. Staaten und Nationen konnten sich erst bilden, nachdem die Abstammungsgemeinschaft aufgehört hatte, Voraussetzung politischen Zusammenlebens zu sein.59
Nachdem er im Folgenden die angeblichen Kriterien wie Sprache, Religion und gemeinsamer Staat, die eine Nation ausmachen würden, widerlegt, stellt er fest: Allgemein gesprochen: Nation gehört zur Klasse jener sozialen Erscheinungen, die nicht durch etwas Objektives, sondern nur durch etwas Subjektives bestimmt werden können. […] Aus diesen vergeblichen Versuchen für das Wesen der Nation objektive Kriterien festzustellen, hat sich schließlich die Wissenschaft gezwungen gesehen, das Wesen der Nation von der subjektiven Seite her zu erfassen […].60
57 Ebd., 10–11. Wen er dann zwölf Jahre später selbst aktiv aus der deutschen Geschichte streicht, als er förderndes SS-Mitglied wurde, bleibt hier erstmal unbeantwortet. Vgl. Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt a. M. 2005, 166. 58 Goldstein, Rasse und Politik (wie Anm. 54), 57–58. 59 Ebd., 59. 60 Ebd., 70.
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Diese Subjektivität bot die Möglichkeit, das Judentum in die deutsche Nation zu integrieren und darüber hinaus auch den nötigen Deutungsspielraum, sollte es zu Versuchen kommen, es dennoch auszuschließen. Doch war dies ein steter argumentativer Abwehrkampf gegen die ständigen Angriffe einer sich mit dem völkischen Antisemitismus verbündenden Rassenhygiene, deren Ziel es war, dem Judentum die Teilhabe an der deutschen Gesellschaft zu verweigern. Dieser Kampf, eine Symbiose von Deutschtum und Judentum gegen alle Widerstände weiterhin zu ermöglichen und aufrechtzuerhalten, forderte Julius Goldstein viel ab und ließ ihn oft an Wirksamkeit und Erfolg, aber auch am eigenen Standpunkt zweifeln. Bin stark in der Abwehr tätig – Notabeln, Versammlungen und C. V.-Zeitung. Mit dem Honorar kann ich leben – aber auf die Dauer doch eine geistig unproduktive Tätigkeit. Es ist wohl notwendig, aber ich wollte, ich könnte mich positiveren Aufgaben zuwenden. […] Ich sehe Schrecken und Katastrophe. Die Welt balanciert auf des Messers Schneide. Die C. V.-Arbeit erscheint mir manchmal ein lächerliches Bemühen. Ein Mannheimer Arzt sagte kürzlich bei Betrachtung der jüdischen Situation: Man kann entweder nur orthodox oder zionistisch sein. Ob der Mann ganz Unrecht hat?61
Hinzu kommt, dass Goldstein stets von Geldsorgen geplagt war und sein Buch Rasse und Politik trotz der vier Auflagen wohl nicht viel einbrachte. „In den ersten Januartagen kam ‚Rasse und Politik‘ in 4. verbesserter Auflage heraus. Bei Oldenburg Leipzig: Wieder Pech: Verlag kann nicht zahlen. Schäbige Ausstattung.“62 Die Arbeit an dem nächsten Projekt, das sich mit dem Thema beschäftigt und aus dem letztlich die Publikation Deutsche Volksidee und Deutsch-Völkische Idee entstand, begann schon im Frühsommer 1925, doch auch hier kamen Goldstein schnell Zweifel: „Ich bin dabei, mich mit Stapel: Antisemitismus63 auseinanderzusetzen und nehme die Gelegenheit wahr, über Volk, völkisch mich und die anderen aufzuklären. Lohnt’s sich eigentlich?“64 In der schließlich 1927 erscheinenden Veröffentlichung versuchte Goldstein einmal mehr, dem völkisch grundierten Antisemitismus die Grundlage zu entziehen und ihm argumentativ zu begegnen, merkte aber selbst, welche Schwie61 Tagebucheintrag vom 20. Juni 1924, abgedruckt in: Zuber (Hrsg.), Julius Goldstein (wie Anm. 52), 190. 62 Tagebucheintrag Januar 1925, abgedruckt in: ebd., 196. 63 Wilhelm Stapel, Antisemitismus. Hamburg 1920. Goldstein bezieht sich auf eine Ausgabe von 1922. Stapel war einer der Hauptprotagonisten der völkischen Bewegung in der Weimarer Republik und Herausgeber sowie Chefredakteur der Zeitschrift Deutsches Volkstum. 64 Tagebucheintrag vom 27. Mai 1925, abgedruckt in: Zuber (Hrsg.), Julius Goldstein (wie Anm. 52), 198.
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rigkeiten und mögliche Fehlinterpretationen in seiner Argumentation liegen könnten und weist gleich zur Einführung selbst darauf hin: Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei festgestellt: Ich verneine die deutsch-völkische Idee, ich bejahe die deutsche Volksidee. Die deutsch-völkische Idee vertritt die objektive Volkstheorie, nach der die Abstammung über die Volkszugehörigkeit eines Menschen oder einer Gruppe entscheidet. Die deutsche Volksidee – man kann sie auch die nationalkulturelle nennen – hält an der subjektiven Volkstheorie fest, nach der im europäischen Kulturkreis die psychische Einstellung für die Volkszugehörigkeit bestimmend ist.65
Die Missverständnisse, denen er vorbeugen will, beruhen auch auf dem Umstand, dass es immer schwieriger wurde, sich innerhalb desselben Sprach- und Argumentationsraums deutlich und klar abzugrenzen. Wenn man sich aus Angst vor einem Ausschluss aus der Debatte auf eine Auseinandersetzung einlässt, die zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich nur noch von Sophismen getragen wurde, scheint auch der eigene Standpunkt immer verworrener und kann kaum noch luzide, verständlich und ohne weiterführende Erklärungen dargelegt werden. Aber auch hier wird deutlich, dass Goldstein sein subjektives Verständnis von Zugehörigkeit aufrechterhält und durch ein national-kulturelles Element ergänzt. Die Idee einer Volkstheorie, die national-kulturell definiert wird, ist auch ganz im Sinne des Centralvereins, der stets darum bemüht war, die Errungenschaften des deutschen Judentums am kulturellen Leben hervorzuheben und sie als Beweis für ein harmonisches Zusammengehen von Deutschtum und Judentum sah. Diese Bemühungen liefen oft ins Leere, denn was als ‚Deutsch‘ zu definieren war, bestimmte die Mehrheitsgesellschaft und diese war zu einem beträchtlichen Teil eben nicht für rationale Argumente zugänglich, sondern tat nahezu alles dafür, Juden und Jüdinnen von einer Teilhabe und Zugehörigkeit auszuschließen. Dessen schien sich auch Goldstein in seinen Tagebucheinträgen bewusst gewesen zu sein und so ist es schwer zu entscheiden, ob er es zynisch meint oder als Ironie verstand, wenn er im Oktober 1927 schreibt: „Meine Schrift: Deutsche Volksidee und deutsch-völkische Idee ist im Philo-Verlag erschienen. […] Nun möchte ich mit dieser Art Arbeiten Schluß machen. Soziologisch viel gelernt dabei. Habe mich dem Don Quichote zugewandt.“66 Der Kampf gegen Windmühlen ging also weiter.
65 Goldstein, Deutsche Volks-Idee und Deutsch-Völkische Idee (wie Anm. 55), o. P. [5–6]. 66 Tagebucheintrag vom 05. Oktober 1927, abgedruckt in: Zuber (Hrsg.), Julius Goldstein (wie Anm. 52), 209.
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Schluss Der Central Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens war eine der wichtigsten Organisationen des deutschen Judentums und meinungsbildend für die deutliche Mehrheit der Juden und Jüdinnen. Dem Grundverständnis nach sah er es als seine Aufgabe an, die deutsche Judenheit als etwas zu definieren, das ohne Zuschreibungen aus dem biologischen Kontext wie ‚Rasse‘, ‚Volk‘ oder ‚Ethnie‘ auskam, um auf diese Weise Deutschtum und Judentum vereinen zu können. Allerdings konnte er kaum das Aufkommen immer biologistischer geführter Debatten ignorieren und versuchte hier zu intervenieren, ohne von einer vermeintlich empirisch nachweisbaren Unterschiedlichkeit zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Bevölkerung Deutschlands auszugehen. Die damit verbundenen Schwierigkeiten und Probleme sollte dieser Beitrag zeigen. Zum einen bewegte sich der C. V. zwischen den Debattenräumen des akademischen Diskurses und dessen gesellschaftlicher Aneignung, zum anderen auch zwischen innerjüdischen und gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Dabei war es kaum durchzuhalten, diese Räume getrennt zu halten. Auch waren die bisherigen Erkenntnisse, die in der Wissenschaft gewonnen wurden, noch so instabil und einem ständigen Anpassungsprozess unterworfen, dass eine eindeutige Positionierung schwer herzustellen war. Die gesellschaftliche Debatte um Zugehörigkeit bediente sich selbstverständlich an den in der Wissenschaft hervorgebrachten Argumenten zu Verschiedenheit, ebenso wie die völkische Debatte um die Kriterien eines deutsche Volkes sich genauso selbstverständlich an den zionistischen Argumenten für ein jüdisches Volk bediente, um die vermeintliche Unvereinbarkeit beider zu belegen. Die Tagebuchaufzeichnungen von Julius Goldstein zeigen die Zweifel in diesem Kampf um Zugehörigkeit, der an so vielen Fronten ausgefochten wurde und werden musste. Zweifel nicht nur gegenüber der Sinnhaftigkeit einer Debatte, die so wenig positives Echo in der nichtjüdischen Bevölkerung fand, sondern auch in Bezug auf den Zionismus in Deutschland, dessen Anziehungskraft zunahm. Die Argumente, die auf einer geschlossenen Gruppe – dem deutschen Judentum – aufbauten, wurden in dem Maße unglaubwürdig, wie die Geschlossenheit dieser Gruppe nachließ. Trotz des deutlichen Ungleichgewichts zwischen dem sich Deutsch fühlenden Judentum und der zionistischen Bewegung in Deutschland glaubte Goldstein nicht zuletzt auch auf diesem Feld auf dem Rückzug zu sein: „Gestern abend war Holländer bei mir. […] Er hat – wie ich –
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das Gefühl, unsere Sache ist dem Zionismus unterlegen. Wir schlagen uns in der Defensive, die andern in der Offensive. Jugend und Frauen stürmen zum Zionismus.“67
67 Tagebucheintrag vom 24. Oktober 1928, abgedruckt in: Zuber (Hrsg.), Julius Goldstein (wie Anm. 52), 215.
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Dreyfus in Deutschland. Die französische Affäre als Modell und Gegenmodell für den Centralverein Im Jahre 1930 wurde Richard Oswalds Film Dreyfus landesweit in deutschen Städten gezeigt. Der Film, in dem einige der damals bekanntesten deutschen Schauspieler mitwirkten, zeigt den Leidensweg des Alfred Dreyfus, des französisch-jüdischen Armeehauptmannes, der aufgrund falscher Anschuldigungen des Hochverrats bezichtigt und vor ein Kriegsgericht gestellt wurde. Der Film stellt die berüchtigte, öffentliche Degradierung vor einer aufgebrachten Menge und das Leiden Dreyfus’ in Gefangenschaft auf einer südpazifischen Insel dar. Er zeigt die Hinhaltetaktiken und Beweisfälschungen der Militärbeamten sowie deren Verunglimpfungen des prinzipientreuen Major Marie-Georges Picquart, aber auch dessen Bemühungen, die Wahrheit aufzudecken. Des Weiteren porträtiert er die heldenhafte Intervention des Schriftstellers Émile Zola. Es finden dramatische Auseinandersetzungen im Gerichtssaal, leidenschaftliche Reden und emotionelle Szenen zwischen Dreyfus und seiner Familie statt. Seltsamerweise wurde diese populäre Unterhaltung jedoch mit einem 4-minütigen Vortrag über die Bedeutung der Angelegenheit eingeleitet. Der Sprecher wurde lediglich als „Bruno Weil“ vorgestellt, obwohl wahrscheinlich die wenigsten Zuschauer den Namen kannten. Weil war Vorsitzender des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) und zudem ein prominenter Berliner Anwalt. Sein Buch zur Dreyfus-Affäre lieferte einen Großteil des Filmmaterials.1 Als Anwalt hatte Weil einen Ruf als vehementer Verfechter der Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung. Er hatte einige der beeindruckendsten juristischen Erfolge des Centralvereins errungen, darunter eine Klage gegen antisemitische Agitatoren auf der Kurinsel Borkum. Der Film vermittelt jedoch nichts von der Dynamik und der Ausstrahlung Weils, die er im Gerichtssaal zum Ausdruck gebracht haben muss. Auffallend steif und untheatralisch steht er hinter einem großen Pult unter einem grellen Licht, die Papiere vor sich, ein Glas Wasser parat. Ein beträchtlicher Mangel an Unmittelbarkeit und Affekt prägen diese Darstellung. 1 Bruno Weil, Der Prozeß des Hauptmanns Dreyfus. Berlin 1930. „Kristina Anders möchte ich für ihre maßgebliche Hilfe und Unterstützung beim Lektorat der deutschen Übersetzung danken.“ https://doi.org/10.1515/9783110675535-009
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Am auffälligsten an Weils Vortrag ist, dass darin weder Juden noch Antisemitismus erwähnt werden. Laut Weil lag die Bedeutung der Angelegenheit in der „ewige[n] uns alle bewegende[n] Schicksalsfrage … ob ein Mensch zu Recht oder zu Unrecht verurteilt worden ist.“ Wiederholt betont Weil die universelle Natur des Konfliktes. „Solange Menschen auf menschlichen Richterstühlen sitzen und über Menschen urteilen,“ verkündet er, „werden Rechtsirrtümer sich immer ereignen.“ Dreyfus sei ein Jedermann; es handele sich in der Angelegenheit um ein gemeinsames Bestreben nach Gerechtigkeit. Tatsächlich macht Weils Rede den herausragendsten antisemitischen Skandal der Neuzeit somit zu einer banalen Zelebrierung liberaler Werte. Es war nicht immer so. Unmittelbar nach dem Skandal in Frankreich beschäftigten sich deutschjüdische Journalisten und insbesondere Schriftsteller in der Zeitung des Centralvereins Im deutschen Reich mit der Bedeutung des Antisemitismus in dieser Affäre. Veröffentlichte Berichte befassten sich mit der Rolle der französischen Presse bei der Erzeugung antisemitischer Ressentiments, der Wankelmütigkeit des französischen Pöbels und den tiefsitzenden antijüdischen Vorurteilen der französischen Eliten. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges war die Dreyfus-Affäre weitgehend aus dem deutsch-jüdischen Diskurs verschwunden. Weils Buch und Oswalds Film bildeten einen Teil einer bemerkenswerten Renaissance des Interesses im Jahre 1930. Ein Korrespondent der New York Times in Deutschland berichtete von einer „perfect shower“ Dreyfus-bezogener Werke in diesem Jahr, darunter vier Bücher, ein Theaterstück und ein Film, welche laut dem Reporter mit einer Ausnahme alle von Juden verfasst worden waren. Der amerikanische Beobachter interpretierte die Faszination für Dreyfus offensichtlich als eine Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland. Was er nicht anmerkte – weil er es offenbar nicht bemerkt hatte – war, dass das Thema Antisemitismus bei dieser neuen textlichen und bildlichen Auseinandersetzung mit Dreyfus fast vollständig ausgeblendet wurde.2 Dieser Aufsatz erörtert die Haltung des Centralvereins zur Dreyfus-Affäre und den Zusammenhang mit den sich ändernden Strategien des Centralvereins zur jüdischen Selbstverteidigung. Vor dem Ersten Weltkrieg war der C. V. einer Rechtsstrategie verpflichtet, die auf einem beständigen Vertrauen in die Gerechtigkeit und Rationalität des deutschen Rechtssystems beruhte. Darstellungen ‚antisemitischer Hysterie‘ in Frankreich unterstrichen die Notwendigkeit, falsche Anschuldigungen und Beleidigungen deutscher Juden einzeln und gemein2 Kendall Foss, Likens Paris Stand to That on Dreyfus, in: New York Times (NYT), 12.10.1930, E 3.
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sam durch rechtzeitige und methodische Argumente zu bekämpfen. Bis zum Jahre 1930 wurde das Vertrauen von Juden in deutsche Rechtsinstitutionen allerdings zutiefst erschüttert. Jüdische Aktivisten und Intellektuelle machten sich nun eine neue Version der französischen Affäre zu eigen, die sich auf den Erfolg der Dreyfusarden bei der Verteidigung eines universellen Rechtsideals konzentrierte. Bei dem Kampf um Dreyfus’ Entlastung ging es nun nicht mehr darum, antisemitische Mythen zu widerlegen und reale Gleichheit für Juden zu realisieren. Vielmehr war er ein Versuch, die Justiz selbst zu retten, liberale Institutionen zu stärken und das Konzept der bürgerlichen Gleichheit unabhängig von Religion und Ethnie zu verteidigen.
Antisemitismus in der Dreyfus-Affäre Die Mehrheit der Historiker bewerten die Rolle des Antisemitismus in der Dreyfus-Affäre heute einhellig: Das französische Militär hatte Dreyfus ins Visier genommen, weil er Jude war. Die Führung weigerte sich, die Entscheidung, ihn zu verfolgen, zu überdenken, weil die antisemitische Presse die Ressentiments der Bevölkerung zu schüren wusste. Schließlich wurde der Ausbruch antijüdischer Gewalt in ganz Frankreich durch ihre Lügen und Verzerrungen befördert und gutgeheißen. Antisemitische Denker innerhalb der katholischen Kirche und anderer konservativer Institutionen in Frankreich spielten eine wesentliche Rolle bei der Zusammenführung der Stränge des Anti-Dreyfus-Gefühls im Laufe der Jahre, in denen der Fall diskutiert wurde. Die antisemitischen Elemente der Affäre wurden nicht nur von Historikern benannt. Sie wurden bereits in zeitgenössischen Aufsätzen und Berichten sowie in den Aussagen des französischen Kassationsgerichts detailliert dargelegt, anhand welcher das Urteil von Dreyfus im Jahr 1906 aufgehoben wurde.3 Für die antisemitischen Intentionen der Gegner Dreyfus’ in Frankreich ließen sich unzählige Beispiele anführen. Einer der Hauptankläger, Oberstleutnant Sandherr, verwies auf den „falschen und eingebildeten Charakter des Verdächtigen, in dem man den ganzen Stolz und die […] Schmach seiner Rasse erkennt.“ 4 Die französischen Offiziere, die dem Prozess gegen Ferdinand Esterhazy beiwohnten, riefen infolge des Freispruchs des wahren Spions „Tod dem Juden“.5 3 Siehe Jean-Denis Bredin, The Affair. The Case of Alfred Dreyfus. New York 1986; Louis Begley, Why the Dreyfus Affair Matters. New Haven 2009; Ruth Harris, Dreyfus. Politics, Emotion, and the Scandal of the Century. New York 2010. 4 Begley, Dreyfus Affair (wie Anm. 3), 8. 5 Bredin, The Affair (wie Anm. 3), 241–242.
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Mit der katholischen Bewegung der Assumptionisten verbundene Autoren lobpreisten antisemitische Unruhen und verurteilten Juden als vermeintliche Raubtiere. Durchschnittsfranzosen, Männer wie Frauen, spendeten, um die Familie eines Anti-Dreyfusard-Verschwörers finanziell zu unterstützen. Dies war gepaart mit der Äußerung ihrer Fantasien antijüdischer Gewalt voller „Bilder der Verstümmelung und Ausrottung“6. Nichts davon ist den deutsch-jüdischen Autoren im Fin de Siècle entgangen. Theodor Herzl führte die Dreyfus-Affäre bekanntermaßen auf antijüdischen Hass zurück.7 Aus zionistischer Sicht bot diese Orgie des Antisemitismus im Mutterland der Revolution den deutlichsten Beweis dafür, dass echte bürgerliche Gleichstellung für die europäische Judenheit unmöglich war. Rückblickend behauptete Herzl sogar, es sei diese Affäre gewesen, die ihn zum Zionisten gemacht habe. Die meisten Historiker bestreiten diese Behauptung, obwohl Julius Schoeps argumentiert, dass Herzls Anwesenheit bei Dreyfus’ Degradierungszeremonie ein entscheidender Moment für die Entwicklung seines politischen Programms gewesen sei. „Dass einem jüdischen Offizier vor johlenden Massen die Epauletten abgerissen und der Säbel zerbrochen wurde,“ schreibt Schoeps, „war für Herzl […] gleichbedeutend mit einer Absage an die jüdischerseits betriebenen Bemühungen um Akkulturation und Assimilation.“8 Jüdische Autoren mit einer eher assimilatorischen Neigung kamen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen über die Bedeutung der Affäre. Sie waren sich jedoch einig, dass antijüdische Ressentiments die Ursache des Skandals waren. Alphonse Levy, der Generalsekretär des C. V., erkannte früh die Schwäche der Beweise gegen Dreyfus und die Rolle der antisemitischen Presse bei der Erregung des Anti-Dreyfus-Gefühls.9 Theodor Wolff, der Inbegriff des liberalen Kosmopoliten und Pariser Korrespondent des Berliner Tageblatts, reichte unter der Überschrift „Antisemitismus in Frankreich“ eine Reihe von Artikeln ein.10 Der C. V.-Anwalt Ludwig Fuld beschrieb den Fall als Auslöser für die fanatischen Leidenschaften der Menge. Fuld zeigte mit dem Finger auf die katholischen Ultramontanen und den Journalisten Eduard Drumont, der im Laufe der Jahre den Keim für ein populäres antijüdisches Gefühl gelegt hatte. Während Fuld an Dreyfus’ Schuld zweifelte, schien ihm das Schicksal des französischen Hauptmanns fast zweitrangig. Die Angelegenheit war im Wesentlichen die Geschichte 6 Harris, Dreyfus (wie Anm. 3), 222–223, 244. 7 Siehe Julius Schoeps, Herzl und die Affäre Dreyfus, in: Simon Hermann/Julius Schoeps (Hrsg.), Dreyfus und die Folgen. Berlin 1995, 25. 8 Ebd., 27. 9 Siehe Im deutschen Reich (IdR) 10, Oktober 1896; IdR 11, November 1896; IdR 12, Dezember1896. 10 Siehe Bernd Sösemann, Theodor Wolff. Ein Leben mit der Zeitung. München 2001, 69.
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von „Demagogen“ und „Anstiftern“, die die Lüge der jüdischen Kollektivschuld propagierten.11
Dreyfus und der Centralverein Die zentrale Rolle des Antisemitismus bei der Interpretation der Affäre bestand auch nach der Rehabilitation Dreyfus’ im Jahr 1906 weiter. Bei seiner umfassenden Überprüfung des Falls beleuchtete Alphonse Levy alle wichtigen Wendepunkte in Dreyfus’ Revision. Indem er die Argumente von Dreyfus’ Rechtsanwalt vor dem Kassationsgericht zitiert, macht er deutlich, dass die Folge von vermeintlichen ‚Fehlern‘ in allen Phasen der Ermittlung, des Kriegsgerichts und der Berufung „hauptsächlich zurückzuführen waren auf den Antisemitismus, der in militärischen Kreisen und sogar in ganz Frankreich herrschte.“ Die Affäre Dreyfus begann laut Levy tatsächlich in dem Moment, als er dem Generalstab beitrat. Mit anderen Worten, ein wohlhabender Jude aus dem Elsass war von Natur aus ein Hauptverdächtiger.12 Autoren, die in der C. V.-Zeitung Im deutschen Reich vor dem Ersten Weltkrieg publizierten, verglichen regelmäßig den Antisemitismus in Frankreich mit jenem in Deutschland. Sie zitierten ausführlich aus antisemitischen deutschen Zeitungen, die sich über die Anklage Dreyfus’ wegen Hochverrats hämisch freuten und die Dreyfusards für ihre Beschäftigung mit dem Schicksal eines jüdischen Offiziers beschimpften. Indem die deutsch-jüdischen Autoren auf Parallelen und Zusammenhänge zwischen französischen und deutschen Antisemiten hinwiesen, machten sie auf die Gefahr des neuen öffentlichen Raumes und auf die Notwendigkeit der Wachsamkeit aufmerksam. Es sei ein großes Risiko, antisemitische Verleumdungen und Beleidigungen zu ignorieren: Ungehemmte Ausbrüche giftiger Worte würden sich dadurch verbreiten und verstärken. Eines taten jüdische Schriftsteller im Kaiserreich jedoch nicht, nämlich sich mit dem Sieg der Dreyfusards auseinanderzusetzen. Die Historikerin Beate Gödde-Baumann argumentiert sogar, dass die Deutschen die „helle Seite“ der Dreyfus-Affäre ignorierten und den „Aufstand der Gewissen“, der die positive Wendung des Falls herbeiführte, nicht anerkannten.13 In der Tat verwies die C. V.-Zeitung häufig auf Zola, Picquart und sogar Clemenceau (den berüchtigten Deutschenhasser), um deren Mut und eifriges Bekenntnis zur Wahrheit zu lob11 IdR 2, Februar 1898, 69 und 71. 12 IdR, 7-8, Juli 1906. 13 Beate Gödde-Baumann, Die helle Seite bleibt verborgen. Über die deutsche Rezeption der Dreyfus-Affäre, in: Schoeps, Dreyfus und die Folgen (wie Anm. 7), 92–117.
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preisen. Und doch: Es gab keine detaillierte Analyse der Taktik, mit der die Dreyfusards die französische Volksmeinung beeinflussten und letztendlich die französische Regierung zwangen, die Verurteilung zu überdenken. Während der Centralverein die Dreyfusards lobte, machte er sie nie zum Vorbild für den Kampf gegen den Antisemitismus. Nur die Zionisten interessierten sich scheinbar besonders für französisch-jüdische Kämpfer, wie der französisch-jüdische Journalist Bernard Lazare, der unermüdlich dafür kämpfte, die antijüdischen Vorurteile der Armee-Eliten und ihrer Unterstützer zu entlarven.14 Das relative Desinteresse der Führung des Centralvereins am Erfolg der Dreyfusards spiegelt wider, wie sehr die deutsch-jüdischen Strategien zur Bekämpfung des Antisemitismus im Kaiserreich auf rechtlichen Eingriffen und bewussten Appellen an die ‚Vernunft‘ beruhten. Die Presse im Allgemeinen und die Boulevardblätter im Besonderen wurden mit Argwohn betrachtet. Für die Mitglieder des Centralvereins war der ultimative Feind des guten Rechts und der reinen Vernunft die Sensation – ein Wort, das nie definiert und doch ständig zitiert wurde. Die Literaturwissenschaftlerin Joy Wiltenburg beschreibt den Sensationalismus als den Rahmen einer Erzählung „in Form von Entsetzen und Mitleid, das das Publikum empfinden soll, um das Gefühlserlebnis von Opfern und Zeugen bildhaft zu evozieren.“15 In der Zeitschrift Im deutschen Reich erschienene Artikel beschrieben den Sensationalismus als Schlüsselbaustein des Antisemitismus. Der Feind genoss tragische, furchterregende, fantastische und groteske Geschichten. Sie konnten „vollständig erfunden oder in gehässiger Weise entstellt und aufgebauscht“ werden. Ob es sich um die „sensationellen Romane“ eines ehemaligen Kreuzzeitungsredakteurs handelte, recycelte alte Fantasien oder die Sensationspresse, die über einen jüdischen Leimsiedereibesitzer berichtet, der menschliche Knochen verarbeitet hätte16 – die Geschichten wuchsen durch die Sensationsgier der Bevölkerung und durch den verbreiteten Unwillen, den Wahrheitsgehalt dieser Geschichten zu prüfen. Ein nicht genannter Autor von Im deutschen Reich meinte, „[w]enn den an scharf gewürzte Kost gewöhnten Massen nichts Neues, Sensationelles geboten wurde, wären möglicher Weise die antisemitischen Versammlungen verödet, die antisemitischen Blätter nicht mehr gelesen und der Antisemitismus ein nicht mehr lohnender Betriebszweig geworden.“17
14 Siehe Hans Kohn, Bernard Lazare und die Dreyfus Affaire, in: Der Jude 5–6, 1924. 15 Joy Wiltenburg, Ballads and the Emotional Life of Crime, in: Patricia Fumerton/Anita Guerrini/Kris McAbee (Hrsg.), Ballads and Broadsides in Britain, 1500–1800. Burlington 2010, 173– 188. 16 IdR 1, Juli 1895, 29; und IdR 5, Mai 1896, 283. 17 IdR 1, Januar 1897, 26.
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Der Centralverein stellte sich ebendiesem Sensationalismus in einem gewissen Maße als Kontrapunkt entgegen. Während Antisemiten „jede kleinste Schwäche“ erspähten und „jeden Fehler ins Ungeheure“ aufbauschten, definierte der Centralverein Würde und Ehrlichkeit als seine wichtigsten Tugenden.18 „Wir bauen auf den endlichen Sieg der Wahrheit über die Lüge“, erklärte der Rechtsanwalt Dr. Hirsch Hildesheimer bei einem Treffen des Vereins in Berlin im Jahr 1897.19 Gleichzeitig warnte er seine Vereinskollegen davor, jeden kleinen Konflikt der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.20 30 Jahre später, im Jahr 1927, fasste Alfred Wiener die Mission der Organisation als „nüchtern-sachliche Arbeit“ zusammen und verzichtete auf jede Anstrengung, mit öffentlichen Gefühlen zu spielen. „Keine Sensation, kein Aufbauschen in den Tageszeitungen“, postulierte er.21 In den ersten Jahrzehnten war die wichtigste Waffe im Arsenal des C. V. die Rechtsschutzstelle: ein Team von Anwälten, die nach Rechtsbehelfen für die Opfer antisemitischer Diskriminierung suchten. Ein naheliegender Praxisbereich bestand darin, jüdische Angeklagte vor Gericht zu verteidigen, wenn sie fälschlicherweise eines Verbrechens beschuldigt wurden. Mitglieder der Rechtsschutzstelle durchsuchten darüber hinaus die Zeitungen nach antisemitischen Beleidigungen und setzen dann Staatsanwälte unter Druck, Verleumdungen zu verfolgen oder Opfern zu helfen, ihre eigenen privatrechtlichen Verfahren einzuleiten.22 Dieser Ansatz beruhte auf einem enormen Vertrauen in die deutschen Gerichte und einem gewissen Misstrauen gegenüber der Presse. Der Rechtsbereich bot ihrer Ansicht nach den Raum, in dem die Wahrheit öffentlich und fair entschieden werden konnte. Verleumdungsklagen wurden genutzt, damit, in den Worten Ludwig Holländers, „die Haltlosigkeit und Unwahrhaftigkeit [antisemitischer] Behauptungen ans Tageslicht gezerrt werden kann.“23 Auf Lügen oder Falschangaben lediglich mit Korrekturen und Gegenargumenten zu reagieren, wurde als unzureichend betrachtet. Im Gegensatz zu den Aktivisten und Anwälten des Centralvereins zielten die Dreyfusards auf eine große politische und kulturelle Mobilisierung, in der enge juristische Strategien und Privatappelle an die Würde ausdrücklich abgelehnt 18 IdR 12, Dezember 1909, 706. 19 IdR 2, Februar 1897, 110. 20 Ebd., 115. 21 Central-Verein Zeitung (CVZ) 25, 24.06.1927. 22 Siehe Avraham Barkai, „Wehr Dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893–1938. München 2002, 29–31; siehe auch: Ann Goldberg, Honor, Politics and the Law in Imperial Germany, 1871–1914. Cambridge 2010. 23 CVZ 41, 11.10.1923, 313.
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wurden. Hierbei ist einzubeziehen, dass die Familie Dreyfus der Presse gegenüber misstrauisch und bestrebt gewesen war, auf offiziellem Wege gegen die Justizirrtümer vorzugehen. Im Verlauf der Affäre wurde diese zurückhaltende, legalistische Strategie jedoch durch öffentlichere, aggressivere und politischere Bemühungen ersetzt, Veränderungen herbeizuführen.24 Ruth Harris weist darauf hin, dass die Kampagne der Dreyfusards auf der bewussten Gestaltung eines Mythos basierte. In diesem als ‚Bruderbund‘ beschriebenen Verhältnis beruhten Freundschaft und Solidarität auf einem Bekenntnis zur Selbstaufopferung oder, falls nötig, zum Märtyrertod. Ein Hauch von Leidenschaft und Romantik in der Pro-Dreyfus-Kampagne durchzog alle Aspekte ihres Kampfes. Gute rechtliche Argumente basierend auf Vernunft und Beweis waren wichtig, aber der Erfolg vor dem Gericht der öffentlichen Meinung wurde für genauso wichtig, wenn nicht als noch essenzieller erachtet. In diesem Sinn waren die Größten der Dreyfusards nicht die kühlen, systematischen Denker wie Mathieu Dreyfus und Major Picquart, sondern die Impresarios der Emotionen wie Zola und sein Anwalt Laborie. Die Dreyfusards hatten bekanntlich eine Leidenschaft für die Wahrheit, scheuten aber nicht davor zurück, Punkte zu übertreiben oder Fakten neu zu ordnen, um eine effektivere, ‚romanhafte‘ Wahrheit darzustellen.25 In diesem Sinne waren sie Sensationalisten schlechthin. Angesichts der Eingeschränktheit der taktischen Vision des Centralvereins würde man seinerseits eine gewisse Ambivalenz den Dreyfusards gegenüber erwarten. Und in der Tat wurde die Dreyfus-Affäre von nicht-zionistischen jüdischen Publikationen zwischen 1910 und 1930 größtenteils als Diskussionsthema in jeglicher Form ignoriert. Zwei viel rezipierte jüdische Zeitungen behaupteten sogar, die Affäre sei weitgehend in Vergessenheit geraten. Eine neue Generation deutscher Juden, so meinten sie, kannte bestenfalls noch den Namen Dreyfus, brachte damit aber weiter nichts in Verbindung.26
Jüdische Anwälte und die Vertrauenskrise Die ‚Vertrauenskrise der Justiz‘ in der späten Weimarer Republik löste eine neue Beschäftigung mit Dreyfus aus. Belege für ein berechtigtes Misstrauen gegenüber der Rechtsstaatlichkeit wurden ursprünglich von der radikalen Linken in 24 Siehe Albert Lindemann, The Jew Accused: Three Anti-Semitic Affairs (Dreyfus, Beilis, Frank), 1894–1915. Cambridge 1991, 107–110. 25 Siehe Harris, Dreyfus (wie Anm. 3), 117–118; Bredin, The Affair (wie Anm. 3), 249. 26 Menorah 5–6, Mai 1930, 306; Bayerische Israelitische Gemeindezeitung 9, 01.05.1930, 143– 144.
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Umlauf gesetzt. Teils von Emil Gumbels statistischen Studien über Vorurteile in deutschen Gerichten beeinflusst, argumentierten viele Nachkriegskritiker, dass in der Kaiserzeit ernannte Richter linksgerichtete Angeklagte übermäßig hart behandelten, während sie bei von Rechten begangenen Verbrechen ‚ein Auge zugedrückt hatten‘. Der Vorwurf einer politischen Justiz überschnitt sich mit dem älteren Vorwurf der Klassenjustiz, d. h. der Tendenz der Gerichte, die Interessen des Kapitals zu fördern und gleichzeitig die Macht der Arbeiter zu untergraben. Die Anwälte und Funktionäre im Centralverein distanzierten sich zunächst von dieser Bewegung gegen die Gerichte, ganz zu schweigen von den Forderungen einiger Linker, die Justiz von ‚reaktionären‘ Elementen zu bereinigen und Justizwahlen einzuführen, wie man sie aus den Vereinigten Staaten kannte. Im Jahre 1925 erlangte ein Fall in Magdeburg nationales Aufsehen, als gerichtlich geklärt werden sollte, ob der sozialdemokratische Präsident der Republik, Friedrich Ebert, während des Ersten Weltkriegs Landesverrat begangen habe, indem er mit streikenden Metallarbeitern verhandelte. Der Fall löste die bis dahin heftigsten Proteste gegen reaktionäre Strömungen in der Justiz aus.27 Der Centralverein nahm hierzu jedoch keine Stellung. Ebenfalls in Magdeburg kam es 1926 zu einem veritablen Justizskandal. Bereits ein Jahr nach dem Ebert-Prozess löste die ungerechtfertigte Festnahme und Inhaftierung des jüdischen Industriellen Rudolf Haas wegen Mordes eine weitere Protestrunde aus. Der Centralverein sträubte sich erneut gegen jegliche öffentliche Beteiligung an den Protesten. Haas’ Anwalt Eduard Guttmann, ehemaliger Vorsitzender des Centralvereins in Magdeburg, verfolgte zunächst die klassische C. V.-eigene Strategie der ‚nüchtern-objektiven‘ Rechtsaufsicht, während er jegliche Publizität vermied. Angesichts der offensichtlichen Verschleppung des Verfahrens durch die Richter übernahm Haas’ Schwager, Paul Crohn, die Verteidigung und mobilisierte auch die Öffentlichkeit. Crohn war ein enger Berater von Otto Hörsing, sozialdemokratischer Oberpräsident der preußischen Provinz Sachsen, und einer der Hauptkritiker der Richter des Ebert-Prozesses. Gemeinsam nutzten Crohn und Hörsing die Presse, um die Autorität der Magdeburger Richter zu untergraben und Beweisfeststellungen zu veröffentlichen, die der Argumentation des Gerichtes widersprachen. Haas’ Schicksal wurde schlussendlich auf höchst unkonventionelle Weise entschieden: Der preußische Staat drängte den Untersuchungsrichter, Urlaub zu machen. Ein stellvertretender Richter entlastete Haas und der einzige jüdische Liberale der Magdeburger Justiz leitete den Prozess gegen den tatsächlichen Mörder. Im Anschluss an den 27 Siehe Emil Gumbel, Vier Jahre politischer Mord. Berlin 1922; Warren Rosenblum, Serene Justitia and the Passions of the Public Sphere, in: InterDisciplines. Journal of History and Sociology 2, 2015, 101–130.
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Fall wurde ein Disziplinarverfahren gegen zwei der Richter eingeleitet, die auf Haas’ Schuld bestanden hatten. 28 Der Magdeburger Justizskandal, wie er schließlich genannt wurde, trug dazu bei, eine grundlegende Veränderung in der Haltung von Juden gegenüber Gerichten herbeizuführen. War die Vertrauenskrise einst nur eine Angelegenheit politischer oder klassenbezogener Vorurteile der Richter, so umfasste sie jetzt auch antisemitische Vorurteile. Es war nicht einfach so, dass zwei Magdeburger Richter antisemitische Annahmen zugelassen hatten, um ihre Argumentation zu beeinflussen, sondern sie wurden von ihren Kollegen, der konservativen Presse und den konservativen Eliten aktiv unterstützt. Nur das Eingreifen der liberalen Presse und die Mobilisierung politischer Kräfte hatten die Verurteilung eines unschuldigen jüdischen Mannes verhindert. Nach dem Skandal äußerten sich zahlreiche Richter gegen die staatlichen Disziplinierungsbestrebungen, die ihren Kollegen in Magdeburg auferlegt wurden. Für Juden eröffnete die Magdeburger Affäre erneut die Frage, ob sie erwarten können, vor dem Gesetz gleich behandelt zu werden.29 Während deutsche Zionisten den Centralverein attackierten, da er aus ihrer Sicht zu wenig aggressiv gegen Vorurteile der Justiz kämpfte, forderten vereinsinterne Kritiker ein Überdenken der C. V.-Strategie.30 Daraufhin organisierte der Centralverein die erste nationale Konferenz jüdischer Anwälte, um die Herausforderungen des Antisemitismus in der Justiz zu erörtern. Vierhundert Anwälte trafen sich im Frühsommer 1927 in Berlin. Die Analysen der Redner reichten von der Verurteilung eines „Übergreifen[s] deutsch-völkischer Weltanschauung in den Bereich der Rechtspflege“ des Berliner Richters Jaques Stern bis hin zur Forderung des Anwalts und Journalisten Erich Eyck nach der „Reinigung“ der Justiz. Der Direktor des Centralvereins beschrieb die Atmosphäre auf der Konferenz als elektrisch. Insbesondere beeindruckte ihn die hohe Zahl der Teilnehmer, die der gesamten Konferenz beiwohnten. Getagt wurde an zwei Tagen für jeweils 12 Stunden.31
28 Siehe Warren Rosenblum, The Paranoid Style in German Culture. Conspiracy, the Courts, and Antisemitism in Magdeburg 1926–1933 (in Vorbereitung). 29 Ebd. 30 Siehe Leo Baeck Institute Archive, Berlin (LBIJMB), ME 541 LBI Memoir Collection: Kurt Sabatzky, Meine Erinnerungen an den Nationalsozialismus. 31 Siehe Julius Brodnitz (Hrsg.), Deutsches Judentum und Rechtskrisis. Berlin 1927; Alfred Wiener, Die Juristentagung des CV, in: CVZ 25, 24.06.1927.
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Dreyfus in Weimar Die dritte Grundsatzrede der Berliner Konferenz 1927 hielt Bruno Weil, der Anwalt im erfolgreichen Kampf gegen Antisemitismus in deutschen Kur- und Badeorten und amtierender Vorstandsvorsitzender. Weil wandte sich dem Thema politischer Prozesse, einschließlich der Dreyfus-Affäre, zu. Indem er seinen eigenen Erfolg als Anwalt und den gesamten Fokus des Centralvereins über mehr als dreißig Jahre in Frage stellte, argumentierte Weil, dass Gerichtsfälle zu gewinnen weniger wichtig sei als um die öffentliche Meinung zu kämpfen. „Der Prozess ist nichts“, teilte Weil dem Publikum mit. „Das Echo ist alles.“32 Weil war ein erfolgreicher, pragmatischer, international tätiger Wirtschaftsanwalt in Berlin. Trotzdem schien er die Praxis kommunistischer Anwälte zu übernehmen und Gerichtsverhandlungen politisch einzusetzen. Sich auf das Echo zu konzentrieren bedeutete schließlich, die symbolischen Möglichkeiten der Verhandlung zu nutzen, die tatsächlichen Aufgaben der juristischen Vertretung traten in den Hintergrund.33 Weil ging in seiner Berliner Rede relativ wenig auf die Dreyfus-Affäre ein, aber seine Argumentationslinie brachte die Frage auf den Punkt, wie wichtig der Fall für zukünftige jüdische Selbstverteidigungsstrategien sein könnte. Weil war nicht die einzige Person, die die Dreyfus-Affäre erneut aufgriff. In einem Leitartikel der C. V.-Zeitung (Nachfolgerin von Im deutschen Reich) im selben Monat argumentierte L. Steinfeld, die Bedeutung des Dreyfus-Falls habe wenig mit Antisemitismus zu tun. Stattdessen handle es sich um einen grundlegenderen Gegensatz zwischen Macht und Recht. „Dass es sich […] um den Fall des jüdischen Hauptmanns Dreyfus drehte,“ schrieb Steinfeld, „war fast nur eine Zufälligkeit.“34 Juraprofessor Gustav Radbruch, ehemaliger Justizminister und Hauptkritiker des deutschen Gerichtswesens, sah die Dreyfus-Affäre als Ausdruck einer Entfaltung des „lebhaften und reizbaren Rechtsgefühl[s]“ der französischen Nation. Radbruch wendete die übliche Wertung, die man französischen Gefühlen und deutscher Rationalität zuschrieb, faktisch um. Anstatt den „fanatischen“ französischen Antisemitismus hervorzuheben, pries er die Leidenschaft der
32 Ebd., 354. 33 Über kommunistische Anwälte und das Gericht als Theater: Henning Grunwald, From Courtroom to Revolutionary Stage: Performance and Ideology in Weimar Political Trials. Oxford 2012. 34 CVZ 23, 10.06.1927, 325.
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Dreyfusards und bedauerte, dass in Deutschland „ein Kampf um Recht und Gerechtigkeit die Nation so in der Tiefe“ nie erschüttert hat.35 In ähnlicher Weise zelebrierte das Theaterstück Dreyfus von Hans Rehfisch und Wilhelm Herzog, 1929 in Berlin uraufgeführt und in zahlreichen Städten Deutschlands gespielt, Zolas Heroismus angesichts unerbittlichen Militarismus. Trotz der jüdischen Abstammung beider Dramatiker wurden die deutlichen antisemitischen Bezüge bestenfalls in den Hintergrund gedrängt. Das Drama wurde von Kritikern, darunter viele jüdische, in führenden deutschen Zeitungen mit Begeisterung aufgenommen.36 Auch Radbruch war begeistert von der Produktion, die er in Heidelberg sah. In einem Brief an seine Frau erklärte er, dass die nächtlichen Aufführungen „das Publikum zur Selbstreflexion als Bürger drängten“. Der Applaus zu „bestimmten Punkten der Aufführung“ bewies Radbruch, dass die Botschaft des Stücks erfolgreich vermittelt werde.37 Radbruch schrieb das Vorwort zu Walter Steinthals 1930 erschienenem Buch Dreyfus, dem ersten größeren Werk in deutscher Sprache seit der Jahrhundertwende, das sich wieder der Dreyfus-Affäre annahm. Steinthal war zum Rabbiner ausgebildet worden, bevor er unter der Leitung von Max Harden Journalist wurde. Als Redakteur der viel gelesenen Berliner Tageszeitung 12-Uhr Blatt perfektionierte er einen rasanten Stil. Angesichts der wachsenden Stärke der Ultranationalisten in Deutschland trat Steinthal der Liga für Menschenrechte bei, einer europaweiten Gruppe von Schriftstellern und Wissenschaftlern. Die Liga beauftragte Steinthals Arbeit über Dreyfus, die 1930 als erste von vier DreyfusAdaptionen veröffentlicht wurde. Obwohl Steinthals Text lebhafte Details zum französischen Antisemitismus enthielt, fasste Radbruch den Fall als einen Kampf zwischen Befürwortern der Gerechtigkeit und „säbelrasselnden“ Verteidigern der Staatsräson zusammen. Tatsächlich erwähnt Radbruch im Vorwort weder Juden noch Antisemitismus.38 Das einflussreichste der neuen deutschen Werke zu Dreyfus war jenes von Bruno Weil, das ebenfalls im Jahre 1930 publiziert wurde. 39 Weil erlangte durch 35 Gustav Radbruch, Vorwort, in: Walter Steinthal, Dreyfus. Berlin 1930, 6–7; Gustav Radbruch, Staatsbürgerliche Erziehung (1924), in: Ders., Gesamtausgabe, 20 Bde., hrsg. von Arthur Kaufmann. Heidelberg 1987–2003, hier Bd. 13: Politische Schriften aus der Weimarer Zeit II, 242. 36 Hans Rehfisch/Wilhelm Herzog, Die Affäre Dreyfus. Schauspiel in 5 Akten. Berlin 1929; Zur Rezeption siehe Hans-Peter Bayerdörfer, Jewish Self-Presentation and the „Jewish Question“ on the German Stage from 1900 to 1930, in: Edna Nahshon (Hrsg.), Jewish Theatre. A Global View. Leiden 2009, 153–173, hier 167. 37 Gustav Radbruch, An Lydia Radbruch (02.02.1930), in: Gesamtausgabe (wie Anm. 35), Bd. 18: Briefe II (1919–1949), 94–95. 38 Radbruch, Vorwort, in: Gesamtausgabe (wie Anm. 35), 6–7. 39 Bruno Weil, Der Prozess des Hauptmanns Dreyfus. Berlin 1930.
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eine Folge von öffentlichen Vorträgen, die von der C. V.-Zeitung gefördert wurden und über die im Nachhinein dort berichtet wurde, den Ruf eines Experten für die Affäre. Die Veranstaltungen umfassten einen Vortrag für jüdische Wissenschaftler an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, einen ausverkauften öffentlichen Vortrag an der Singakademie in Berlin und einen Auftritt in Paris, an dem die Familie Dreyfus teilnahm.40 Weils Arbeit diente nicht nur als Grundlage für Richard Oswalds Verfilmung, sondern verkaufte sich auch als Buch gut (wöchentliche Werbung und ständige Erwähnung in der C. V.-Zeitung taten ihr Übriges), wurde umfassend rezensiert und löste eine breite Diskussion aus. Weils eigener Hintergrund qualifizierte ihn besonders, sich der Dreyfus-Thematik anzunehmen. Er wuchs wie Dreyfus im Elsass auf, studierte und praktizierte Jura in Straßburg und schloss sich einer jüdischen Studentenverbindung an, die im Kampf gegen Antisemitismus aktiv war. 1905, im Alter von 22 Jahren, veröffentlichte er eine Studie über Antisemitismus. Später gehörte er zu jenen Anwälten, die elsässische Zivilisten und Soldaten in der berüchtigten ZabernAffäre vertraten. Nach seinem Dienst im Ersten Weltkrieg ließ sich Weil in Berlin nieder, wo er ein gefragter Spezialist für internationales Recht wurde. In der Weimarer Republik wurde er zum führenden Anwalt des Centralvereins und zum Prozessanwalt in zahlreichen hochrangigen Fällen, in denen es um antisemitische Beleidigung und Diskriminierung ging.41 Trotz Weils intensiver, lebenslanger Beschäftigung mit der Bekämpfung des Antisemitismus vernachlässigt er in seiner mehr als 200 Seiten umfassenden Deutung der Dreyfus-Affäre das Thema der antijüdischen Vorurteile fast bis zur Bedeutungslosigkeit. Weil erwähnte den Antisemitismus nur in einer parallelen Aufstellung von Juden neben Protestanten, Freimaurern, Atheisten und sogar Deutschen, die angeblich auch als Gegenstand des Anti-Dreyfusardschen Zornes galten. Kurz gesagt, Weil hat dem Antisemitismus kein besonderes Gewicht beigemessen: Er war nur ein Faktor unter vielen. Selbst bei der Schilderung der pogromartigen Situation in Frankreich nach dem Freispruch Esterhazys schreibt Weil, der Prozess habe eine Verunglimpfungskampagne gegen Juden und Protestanten ausgelöst. Weil verweist auf die virulent antisemitische katholische Zeitschrift Le Croix, in der es heißt, Juden und Protestanten seien gleichermaßen gefürchtet und verabscheut worden.42 40 Siehe CVZ 7, 14.02.1930. 41 Siehe LBIJMB, AR 7108 / MF 516 Bruno Weil Collection, Box 1, Folder 17: Statements Regarding the Torres Book, ca. 1948, nicht datiert; Inbal Steinitz, Der Kampf jüdischer Anwälte gegen den Antisemitismus. Die strafrechtliche Rechtsschutzarbeit des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (1893–1933). Berlin 2008. 42 Weil, Prozess (wie Anm. 39), 94–95, 104–106.
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Weils Buch machte zwar erneut auf die Dreyfus-Affäre aufmerksam, manifestierte allerdings eine merkwürdige Auffassung bezüglich der daraus zu ziehenden Lehren. In einem namentlich nicht gezeichneten Artikel in der C. V.Zeitung wurde verkündet, das Buch zeige: „die Rolle der Juden in Deutschland unserer Tage spielen die Protestanten im Frankreich der Dreyfus-Zeit.“ Das Buch wurde gelobt, weil es „wichtige Waffen für unseren Kampf liefert.“ Die genaue Definition der „Waffen“ aber erfolgte im Artikel nicht. Weiterhin wurde ausgeführt, diese Geschichte könne die Völkisch-Evangelischen in Deutschland zumindest „nachdenklich“ machen. Deutsche Juden sollten erkennen, dass ihre Situation nicht nur ähnlich war, sondern „fotografisch treu“ zu der Erfahrung anderer Minderheiten, einschließlich der deutschen Katholiken zur Zeit des Kulturkampfes. Der Artikel erinnert an einen Bericht über eine Rede Weils, in der er den Antisemitismus in Frankreich für ausgelöscht erklärte, sobald „die Unschuld des Hauptmanns völlig bewiesen und die ganzen Intrigen entschleiert worden waren.“ Die Implikation schien klar: Deutsche Juden sollen kämpfen, jedoch nicht als Juden gegen den Antisemitismus, sondern als Staatsbürger gegen Lügen und Ungerechtigkeit.43 Wenig überraschend spiegelt sich das Herunterspielen antisemitischer Tendenzen in der Dreyfus-Affäre, wie auch bei Weil erkennbar, in Oswalds Film wider. Oswald, der ebenfalls Jude war, hatte sich während und nach dem Krieg einen Namen gemacht und sogenannte ‚Aufklärungsfilme‘ zu Themen wie Abtreibung, Homosexualität und Massenarmut gedreht. Der Hass, den er gegen den Militarismus hegte, ist auch in seiner Verfilmung des Hauptmann von Köpenick erkennbar, seinem letzten Film in Deutschland. In Oswalds Dreyfus, wie in Rehfischs und Herzogs Stück, ist Zola der wahre Held. Er ist humorvoll und leidenschaftlich und doch methodisch und didaktisch. Seine Hauptleidenschaft gilt der Vernunft. Für einen Romanautor zeigt er überraschend wenig Interesse an Menschen. So ist weder eine Empathie Dreyfus gegenüber spürbar noch eine besondere Sorge um den fälschlicherweise beschuldigten jüdischen Offizier erkennbar. Er scheint besessen davon, die Wahrheit zu beweisen: die Unschuld von Dreyfus, die Lügen der Offiziere. Währenddessen sind Oswalds Bösewichte die reaktionären Eliten: steife, selbstsüchtige, selbstzufriedene Offiziere, die sich hauptsächlich mit Status und Anstand befassen. Nur einmal, während sie die Liste der möglichen Spione unter den Generalstabsoffizieren überprüfen, wird Dreyfus’ Jüdisch-Sein auch nur erwähnt. Drumont und die Ultramontanen fehlen. Die Massen sind im Film kontinuierlich präsent, aber sie werden nicht als die antisemitischen Menschenmengen früherer Berichte der Dreyfus-Affäre dargestellt. Die Massen sind leichtgläu43 CVZ 16, 18.04.1930, 209–210; und CVZ 3, 17.01.1930, 28.
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big, ein wenig flüchtig und vor allem unbeständig, aber sie sind ungefährlich und dazu bereit, Zolas Fall anzuhören. Am Ende des Films, als der ausgesprochen langweilig und bürgerlich wirkende Dreyfus wieder mit seiner Familie vereint ist, steht fest, dass die Rechtsstaatlichkeit triumphiert und alles in Ordnung ist, solange tapfere Männer gegen Rückständigkeit und Vernunftlosigkeit aufstehen. Folgt man der Interpretation der Redakteurin der C. V.-Zeitung, Margarete Edelheim, liegt die politische Wirkung des Films gerade in der Darstellung von Tragödie und Erneuerung. Das Publikum fühle sich in das lange und intensive Leid der Familie ein, das sich aus einer vorurteilsbedingten Rechtsverletzung ergebe, meint Edelheim. Der engagierte Gerechtigkeitssinn der Helden, die für diese Familie und „für die Idee der Wahrheit“ kämpfen, müsse „auf den kühlsten Zuschauer veredelnd wirken“. Das Happy End bot eine sinnvolle Inspiration: ein Versprechen, dass Aktivismus im Rahmen eines universellen Kampfes für die Wahrheit letztendlich erfolgreich sein würde.44 Warum widmeten sich die Journalisten der C. V.-Zeitung in der späten Weimarer Republik der Dreyfus-Affäre, ohne die Themen Juden, Judenheit und Antisemitismus in der Geschichte zu berücksichtigen und zu analysieren? In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft schreibt Hannah Arendt: Dreyfus nämlich war nur zu retten und auch nur würdig gerettet zu werden, wenn man der Komplizität eines korrupten Parlaments, der Verderbtheit einer in sich zerfallenden Gesellschaft, dem Machthunger des Klerus das jakobinische Prinzip der Nation, die auf den Menschenrechten basiert und das republikanische Prinzip des öffentlichen Lebens, in welchem der Fall eines Bürgers der Fall aller Bürger ist, entgegenhielt.45
Arendt, die nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als jede andere versuchte, die Dreyfus-Affäre als antisemitisches Ereignis zu verstehen, glaubte dennoch, dass der Kampf gegen Justizirrtümer auf dem Gebiet der universellen Prinzipien der Menschenrechte fortgesetzt werden müsse. Man könnte mutmaßen, dass Arendt bei einem Buch oder einem Film, die bei der Erforschung der Ursprünge der Vorwürfe gegen Dreyfus gänzlich versagt hätten, verwirrt oder entsetzt hätte sein können. Gleichzeitig hätte sie sicherlich den Reiz nachvollziehen können, die Bedeutung des Falles Dreyfus auf das Wesentlichste beschränken zu wollen: auf jenen Kern, den Weil als „uns alle bewegende Schicksalsfrage … ob ein Mensch zu Recht oder zu Unrecht verurteilt worden ist“ bezeichnete. Indem sie die ‚Judenfrage‘ aus der Dreyfus-Geschichte strichen, wollten die deutsch-jüdischen 44 CVZ 34, 22.08.1930, 447. 45 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 3 Bde. Frankfurt 1975–1980, hier Bd. 1: Antisemitismus, 180 f.
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Autoren ein breites Bündnis unter Befürwortern der Rechtsstaatlichkeit fördern. Nach dem Vorbild der Dreyfusards musste man Juden nicht mögen oder akzeptieren, um Teil dieser Brüderbande zu sein. Es war eine rechtliche Strategie in einer Zeit, in der sich die Rechtssicherheit jedoch immer mehr auflöste.
Simon Sax
Das Büro Wilhelmstraße: neue Quellen, neue Perspektiven Die Studien von Arnold Paucker und Leonidas E. Hill beleuchten ausführlich die Entstehung, die Aktivitäten und das jähe Ende des Büros Wilhelmstraße (B. W.),1 jener Organisationseinheit des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.), die 1929–1933 verdeckt den kommunikativen Abwehrkampf gegen die NSDAP intensivierte. Warum, so ließe sich fragen, sollte eine erneute Beschäftigung mit diesem Thema erfolgen? Zunächst kann auf neue Quellen Bezug genommen werden.2 Sie zeichnen ein genaueres Bild des „Rückzuggefechts“, das – in den Worten Arnold Pauckers – „die deutsche Judenheit ehrenvoll gekämpft hat.“3 Besonders mit einem kommunikationswissenschaftlich geleiteten Blick auf den Untersuchungsgegenstand gelingt so eine Betrachtung, die zwar nicht den Anspruch einer Neubewertung verfolgt, die aber vorhandenes Wissen vertieft und systematisiert. Sodann kann die Geschichte des Büros Wilhelmstraße einen Beitrag zur Frage nach der Integration der deutsch-jüdischen (Teil-)Öffentlichkeiten in die deutschen (Teil-)Öffentlichkeiten leisten.4
1 Walter Gyßling, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 und Der Anti-Nazi: Handbuch im Kampf gegen die NSDAP, hrsg. von Leonidas E. Hill. Bremen 2003; Leonidas E. Hill, Walter Gyssling, the Centralverein and the Büro Wilhelmstraße, 1929–1933, in: Leo Baeck Institute Year Book 38, 1993, 193–208; Arnold Paucker, Der jüdische Abwehrkampf gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Hamburg 1968; siehe auch Jürgen Matthäus, Pillen gegen Erdbeben. Antisemitismusabwehr des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens vor 1933, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 12, 2003, 307–327. 2 Siehe zu einigen dieser Quellen Simon Sax, Flugschriften des Bundes Deutscher Aufbau. Kommunikate aus dem jüdischen Abwehrkampf 1929–1933, in: Medaon 13,25, 2019. https:// www.medaon.de/de/artikel/flugschriften-des-bundes-deutscher-aufbau-kommunikate-ausdem-juedischen-abwehrkampf-1929-1933/ (01.06.2020). 3 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 144. 4 Siehe allgemein zu dieser Frage Michael Nagel, Ghetto-Presse oder integriert in das allgemeine Pressewesen? Die deutsch-jüdischen Zeitschriften und Zeitungen 1755–1943, in: Susanne Marten-Finnis/Michael Nagel (Hrsg.), Die PRESSA. Internationale Presseausstellung Köln 1928 und der jüdische Beitrag zum modernen Journalismus, Bd. 1. (Die jüdische Presse – Kommunikationsgeschichte im Europäischen Raum, 12.) Bremen 2012, 293–314. https://doi.org/10.1515/9783110675535-010
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Eine kommunikationswissenschaftliche Heuristik Was die demokratischen Kräfte der Weimarer Republik als ‚Demagogie‘ von rechts fassten, wird gegenwärtig oft als rechtsextreme Hassrede verstanden. Die propagandistischen Antworten des Büros Wilhelmstraße – ‚Propaganda‘ verwendeten die Zeitgenossen bis zum Ende der NS-Diktatur weniger pejorativ –5 würde man heute als Gegenbotschaften bezeichnen. Die jeweils zweitgenannten Begriffe sind auch im Diskurs der heutigen Kommunikationswissenschaft virulent. Eines ihrer basalen Konzepte nach 1945, die Lasswell-Formel, soll zur Strukturierung der Ausführungen über das Büro Wilhelmstraße herangezogen werden. Sie dient hier explizit nur als Heuristik. Dazu ein kurzer Exkurs: Harold D. Lasswell (1902–1978) zählt zu den Begründern der Kommunikationswissenschaft. Die besagte Formel formulierte er 1948 im Aufsatz „The Structure and Function of Communication in Society“: Wer [Kommunikator] – sagt was [Medieninhalt] – in welchem Kanal [Medium] – zu wem [Rezipient] – mit welchem Effekt [Medienwirkung]? Vor allem der lineare Charakter der Formel, das einseitige Verhältnis zwischen ‚Sender‘ und ‚Rezipient‘, die suggerierte Passivität des Letzteren, insgesamt die implizierte – von Lasswell keineswegs intendierte –6 Reduktion des komplexen sozialen Prozesses Kommunikation auf fünf Fragepronomen gilt längst als überholt.7 Dennoch bietet die Lasswell-Formel vor allem der Kommunikationsgeschichtsschreibung eine hilfreiche Heuristik, die erlaubt, „fünf Felder zu nennen, denen sich Quellenspeicher, Archive, Archivteile und spezifische Quellengruppen zuordnen lassen“.8 Insbesondere, so soll an dieser Stelle argumentiert werden, eignet sie sich als Heuristik der Kommunikationsgeschichtsschreibung, wenn man die fünf Fragepronomen um weitere aus anderen Varianten dieser Formel ergänzt:9 Der US-amerikanische Leseforscher Douglas Waples (1893–1978) begriff Leser als aktiv handelnde Rezipienten und fragte schon 1942: Who – communicates what – by what medium – to whom – under 5 Thymian Bussemer, Propaganda. Theoretisches Konzept und geschichtliche Bedeutung, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 2013, dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.239.v1 (03.03.2020), hier 3–7. 6 Klaus Merten, Vom Nutzen der Lasswell-Formel – oder Ideologie in der Kommunikationsforschung, in: Rundfunk und Fernsehen 22, 1974, 143–165, hier 158–160. 7 Siehe zu diesen Ausführungen über die Lasswell-Formel Markus Arens, Lasswell-Formel, in: Uwe Sander/Friederike von Gross/Kai-Uwe Hugger (Hrsg.), Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden 2008, 198–203; Hellmut Geißner, Lasswell-Formel, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5. Tübingen 2001, 31–38; Merten, Vom Nutzen (wie Anm. 6). 8 Edgar Lersch/Rudolf Stöber, Quellenüberlieferung und Quellenrecherche, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 7, 2005, 208–230, hier 217. 9 Siehe zu verschiedenen Varianten der Lasswell-Formel Geißner, Lasswell-Formel (wie Anm. 7), 35–36; Merten, Vom Nutzen (wie Anm. 6), 144.
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what conditions – with what effect?10 Mit dem „zusätzliche[n] Element ‚under what conditions‘ […] bezog Waples die Bedeutung der Kommunikationssituation und damit den gesellschaftlichen Kontext systematisch in das Verständnis von Kommunikation ein“ –11 eine Selbstverständlichkeit in historischen Arbeiten. Schließlich schlug Richard Braddock 1958 im Journal of Communication die Ergänzung der Lasswell-Formel um die Frage What purpose? vor. Sie zielt auf die Motive der Kommunikatoren, darauf, welche Reaktionen sie vom Publikum erhoffen.12 Für die vorliegende Beschäftigung mit dem Büro Wilhelmstraße lässt sich What purpose? als Frage nach der (langfristigen) diskursiven Formierung von Motiven, Rezipienten-Bildern und kommunikativen Handlungsabsichten der Mitglieder des C. V. fassen.
What purpose? – Blick in den C. V.-Diskurs um kommunikative Abwehr Zwar firmierte bereits im Kaiserreich das kommunikative, auf die Vernunft zielende Einwirken auf Nichtjuden (z. B. durch Vorträge und Flugschriften) im C. V. als „Apologetik“,13 doch unter den Vorzeichen der durch die Massenmedien geprägten Demokratie von Weimar nahmen innerhalb des C. V. Diskussionen um seine Medienstrategie an Fahrt auf.14 Alfred Wiener berichtete 1926: „Auf der Tagesordnung mindestens jeder fünften Hauptsitzung des C. V. nach dem Weltkriege war verzeichnet: Zeitungsfrage.“15 Weithin bekannt ist der von Avraham Barkai an prominenter Stelle zitierte Ausspruch von Eugen Fuchs, wonach in der Weimarer Republik „der Antisemitismus […] nicht mehr so sehr in den Erlassen der Bürokratie als im Lärm der Presse und der Gasse leben“ werde, man „ihm dort entgegenzutreten“ habe.16 Die ‚lärmende‘ Presse deutet auf die inner10 Arnulf Kutsch, Leseinteresse und Lektüre. Zu den Anfängen der empirischen Lese(r)forschung. (Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 35.) Bremen 2008, 185; Merten, Vom Nutzen (wie Anm. 6), 147–149. 11 Kutsch, Leseinteresse und Lektüre (wie Anm. 10), 184. 12 Richard Braddock, An Extension of the „Lasswell Formula“, in: Journal of Communication 8, 1958, 88–93, hier 92–93. 13 Avraham Barkai, „Wehr dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893–1938. München 2002, 35–48. 14 Siehe z. B. ebd., 185–204. 15 Alfred Wiener, Die „C. V.-Zeitung“, in: C. V.-Zeitung 5, 05.03.1926, 114–115, hier 114. 16 Eugen Fuchs zit. nach Barkai, Wehr dich (wie Anm. 13), 101; siehe auch Isabel Enzenbach, „Kennwort: Gummi“ – Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens im Kampf um den öffentlichen Raum von 1893 bis zum Ende der Weimarer Republik, in: Christina von
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halb des C. V. lange dominante Position zur Frage nach dem Zweck kommunikativer Maßnahmen hin: die „Beeinflussung der geistigen Eliten“17 qua gelehrsamer Lektüre und Appellen an die Vernunft18 – ein Betätigungsfeld, auf dem zwar antisemitischer Presselärm in wohlgesetzten Worten widerlegt und demaskiert, entsprechende Periodika verbreitet, möglicherweise auch journalistische Eliten erreicht wurden, auf dem aber die zu jener Zeit gemeinhin imaginierten ‚Massen‘ und deren Medien eine untergeordnete Rolle spielten. Im Sinne dieser rationalen Tradition vertrat beispielsweise C. V.-Direktor und DDP-Mitglied Ludwig Holländer19 die Vorstellung eines lediglich schlecht informierten, dabei aber sonst vorurteilsfreien, vernünftigen, für kohärente Argumente empfänglichen Rezipienten. Diesem Paradigma folgend forderte er im März 1926 unter der Überschrift „Aufklärung und immer wieder Aufklärung“, Lehrvortragende müssten mit den „seelischen Zuständen“ der jeweiligen Zielgruppe (für Holländer „jüdische“ oder „nichtjüdische Hörer“) vertraut sein und ansonsten „strengste Sachlichkeit […] und eine außerordentliche Leidenschaftslosigkeit“ walten lassen.20 In derselben Ausgabe der C. V.-Zeitung formulierte Alfred Wiener als Anspruch des Blattes: „Wir dulden keine Schimpfereien. Wir halten den persönlichen Kampf aus unserer Zeitung unbedingt fern. Wir wollen kein völkisches Radaublatt nachahmen.“21 Im April 1929 erfuhren dann die Leser der C. V.-Zeitung in einem Leitartikel, dass „von mancher Seite der Wunsch geäußert“ worden sei, „auch der Centralverein müßte seine Methoden“ im Angesicht nationalsozialistischer Agitationsarbeit „ändern“. Dem hielt der Leitartikler Ludwig Holländer entgegen: „Wo Unwahrheiten verbreitet werden, muß man Wahrheiten an ihre Stelle zu setzen versuchen.“22 So veranschlagte man für die Überzeugungsarbeit an den nicht-jüdischen Mitbürgern mitunter „Jahrzehnte“.23 Der rational-aufklärende Ansatz mag den C. V.-Diskurs dominiert haben, doch es gab seit der Gründung des Vereins „gegenläufige Diskussionen, eine kritische Reflexion medialer und struktureller Dilemmata im Kampf um Öffentlich-
Braun (Hrsg.), Was war deutsches Judentum? 1870–1933. (Europäisch-jüdische Studien Beiträge, 24.) Berlin/München/Boston 2015, 203–220, hier 212. 17 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 31, 52. 18 Ebd., 52–53; Barkai, Wehr dich (wie Anm. 13), 185–191. 19 Barkai, Wehr dich (wie Anm. 13), 157. 20 Ludwig Holländer, Aufklärung und immer wieder Aufklärung, in: C. V.-Zeitung 5, 05.03.1926, 112–113. 21 Alfred Wiener, Die C. V.-Zeitung (wie Anm. 15), 114. 22 Ludwig Holländer, „Veraltete“ Methoden, in: C. V.-Zeitung 8, 19.04.1929, 197–198, hier 198. 23 Felix Goldmann zit. nach Miriam K. Sarnecki, Doppelte Ungleichzeitigkeit. Die C. V.-Zeitung von 1925 bis 1933 – Zeitzeugnis eines Pionierprojekts postkolonialer Akkulturation. Gießen 2018, 77.
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keit sowie Versuche, alternative Kommunikationsstrategien zu entwickeln.“24 Der C. V.-Funktionär Artur Schweriner etwa wollte 1924 eine „Massenwirkung im politischen Kampfe“ – so die Überschrift seines Artikels in der C. V.-Zeitung – erzielen; er strebte danach, „die Massen aufzuklären, […] nicht zu verführen“, doch wandte er sich von dem Bild eines rein rationalen Rezipienten ab. Demgemäß forderte Schweriner: „Es soll nur der ein Flugblatt schreiben […], der in dem Volk und mit ihm lebt. Wer’s nicht fühlt, wird es nie erjagen.“25 Dem Zweck, schnelle propagandistische Erfolge in der öffentlichen Auseinandersetzung zu erzielen, verhalf der 1927 zum stellvertretenden Syndikus des C. V. berufene Hans Reichmann endgültig zum Durchbruch, zumindest fällt „der erkennbare Richtungswechsel der Abwehrarbeit des C. V. […] auf die vornehmlich politischpropagandistische Front […] mit Reichmanns Amtsantritt zusammen“.26 Reichmann war es, der gemeinsam mit Alfred Wiener im Laufe des Jahres 1929 eine Spendensammlung unter Warenhausbesitzern zwecks Unterstützung der Abwehrarbeit begleitete. Die von der NSDAP als „Warehäusler“ diffamierten Betroffenen hatten erhebliche Summen aufgebracht – geknüpft an die Bedingung, der C. V. solle mit den dadurch finanzierten, die Intensität der bisherigen Abwehrarbeit übersteigenden Unternehmungen nicht in Verbindung gebracht werden können. In der Folge bezogen die Mitarbeiter des Büros Wilhelmstraße unter der Leitung Hans Reichmanns Ende 1929 ihre in einiger Entfernung vom Sitz des C. V. gelegenen Räumlichkeiten im Berliner Regierungsviertel.27 Dort betrieben sie ein halbwegs getarnt operierendes Dokumentations- und Propagandabüro, dessen Aktivitäten sich gegen die NSDAP richteten – die dort produzierten Kommunikate erschienen unter den Tarnnamen „Deutscher Volksgemeinschaftsdienst“, „Ausschuß für Volksaufklärung“ und „Bund Deutscher Aufbau“.28 Als Theorie-Stichwortgeber für das Büro Wilhelmstraße fungierten 1932 der Mikrobiologe und Propagandatheoretiker Sergej Tschachotin sowie der
24 Enzenbach, Kennwort Gummi (wie Anm. 16), 211. 25 Artur Schweriner, Massenwirkung im politischen Kampfe, in: C. V.-Zeitung 3, 17.01.1924, 17–18, hier 17. Zur politischen Orientierung Schweriners: Er trat zu Beginn der 1920er Jahre von der DDP in die SPD über, siehe Jürgen Hartmann/Dietmar Simon, Artur Schweriner (1882–1941) – Eine Projektskizze, in: Rosenland 3, 2006, 31–38, hier 33; siehe auch Jürgen Hartmann/Dietmar Simon, Ein unentwegter jüdischer Kämpfer. Artur Schweriner und sein „verpfuschtes Leben“, in: Medaon 13, 25, 2019. https://www.medaon.de/de/artikel/ein-unentwegter-juedischer-kaempfer-artur-schweriner-und-sein-verpfuschtes-leben/ (01.06.2020). 26 Barkai, Wehr dich (wie Anm. 13), 166. 27 Vgl. zur Gründung des B. W. Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1), 103–105; Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 110–114. 28 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 113–114.
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Reichstagsabgeordnete Carlo Mierendorff (beide SPD).29 Ihre „Haupterkenntnis lautet[e]: Heute spielt bei der Mehrzahl der Menschen im politischen Kampf das Gefühlsmäßige eine größere Rolle als das Denkmäßige, das kühl Abwägende, das rein logische.“30 Tschachotin und Mierendorff koordinierten die politische Kommunikation der Eisernen Front und trieben so die Drei-Pfeil-Kampagne voran. 1931 gegründet, schlossen sich in der Eisernen Front die SPD, der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB), Arbeitersportler und das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold (jener auf die Verteidigung der Republik fokussierte ‚Bund der republikanischen Kriegsteilnehmer‘)31 zusammen; ihre Gegnerschaft galt zuvorderst der Harzburger Front, insbesondere der NSDAP.32
Die Kommunikatoren aus der Wilhelmstraße: vier Skizzen Als Mitarbeiter des Büros Wilhelmstraße seien genannt: Hans Reichmann als eigentlicher Leiter, Walter Gyssling33 als Archivar, Adolf Rubinstein als Hilfsarchivar, Max Brunzlow als Titular-Chef. Bisweilen beschäftigte das Büro auch den
29 Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1), 116, 128–139; Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 122– 124; Leo Baeck Institute New York (LBINY), ME 1230: Hans Reichmann, Mein Leben in Deutschland, 66–67. 30 Sergej Tschachotin/Carlo Mierendorff, Grundlagen und Formen politischer Propaganda. Magdeburg 1932, 4. 31 Siehe zum Reichsbanner zuletzt Marcel Böhles, Im Gleichschritt für die Republik. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Südwesten, 1924 bis 1933. (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen. Schriftenreihe A: Darstellungen, 62.) Essen 2016; Sebastian Elsbach, Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik. (Weimarer Schriften zur Republik, 10.) Stuttgart 2019. 32 Siehe zur Eisernen Front und zur Drei-Pfeil-Kampagne etwa Richard Albrecht, Symbolkrieg in Deutschland 1932: Sergej Tschachotin und der ‚Symbolkrieg‘ der drei Pfeile gegen den Nationalsozialismus als Episode im Abwehrkampf der Arbeiterbewegung gegen den Faschismus in Deutschland, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 22, 1986, 498–533; Stefanie Averbeck-Lietz, Die Polit-Kampagne „Drei Pfeile gegen Hakenkreuz“ 1932 und ihr Autor Serge Tchakhotine, in: Carsten Reinemann/Rudolf Stöber (Hrsg.), Wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft. Festschrift für Jürgen Wilke. Köln 2010, 143–161. 33 Walter Gyssling taucht in der Literatur und in den Quellen sowohl als „Gyssling“ als auch als „Gyßling“ auf. Hier wird die Schreibweise „Gyssling“ genutzt, die er als Unterschrift verwendete.
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Journalisten Heinz Eisgruber und den Zeichner Fritz Wolff.34 Adolf Rubinstein erinnerte sich zudem, dass ein Lehrer namens Fedder gelegentlich als Beobachter nationalsozialistischer Veranstaltungen eingesetzt worden sei; als weitere Hilfskraft im Archiv nennt er einen Herrn Gumpert.35 Wer waren diese Kommunikatoren aus der Wilhelmstraße? Nachstehend versuchen vier biographische Skizzen des engeren Kreises der B. W.-Mitarbeiter, also von Reichmann, Gyssling, Brunzlow und Rubinstein, Antworten zu geben. Dabei wird den beiden letztgenannten Mitarbeitern deutlich mehr Platz eingeräumt; zu ihnen liegen bislang keine biographischen Forschungen vor.
Max Brunzlow Der pensionierte Polizeioffizier und Oberstleutnant a. D., ein Nichtjude, fungierte, so Arnold Paucker, als „Titular-Chef“ des Büros Wilhelmstraße. Das Mitglied der DDP habe auch den Mietvertrag für die Räumlichkeiten jenseits der Emser Straße geschlossen und „sei schon viele Jahre mit dem C. V. verbunden“ gewesen.36 Diese Verbundenheit bezeugen verschiedene Artikel für die Periodika des Vereins,37 in denen er das Ethos des moralisch gradlinigen Kriegsteilnehmers gegen antisemitische Übergriffe auf die Ehre und die Leistungen deutsch-jüdischer Soldaten im Ersten Weltkrieg ins Feld führte. Er bezeichnete sich als „Offizier der alten Schule“, für den „Gerechtigkeit und Fürsorge für die Untergebenen stets eine entscheidende Rolle gespielt“ habe.38 Mehrfach zitierte er in diesem Zusammenhang die „Einführungsorder Wilhelms I. zur Verordnung über die Ehrengerichte der Offiziere“, in der es hieß: „Denn einen Offizier, der imstande ist, die Ehre eines Kameraden in frevelhafter Weise zu verletzen, werde ich ebensowenig in meinem Heere dulden, wie einen Offizier, welcher seine Ehre nicht zu wahren weiß.“39 Zielte dieser Ausspruch ursprünglich auf das Duellwesen im
34 Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1), 106, 110; Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 114. Laut Gyssling arbeitete im B. W. auch eine Sekretärin, deren Namen er leider nicht nennt. 35 LBINY, AR 5225: Adolf Stone, In Defense of Jewish Resistors, Bl. 1–2. 36 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 114, 277. 37 Max Brunzlow, Württembergische jüdische Helden, in: C. V.-Zeitung 5, 01.10.1926, 523; Ders., Drückeberger, in: C. V.-Zeitung 7, 27.04.1928, 226 & C. V.-Zeitung Monatsausgabe, April 1928, 37; Ders., Die Unvergessenen, in: C. V.-Zeitung 8, 22.02.1929, 95; Ders., A. Eckstein: Haben die Juden in Bayern ein Heimatrecht, in: Der Morgen 5, April 1929, 97; Ders., An meine alten Kameraden, in: C. V.-Zeitung Sondernummer Thüringen, Mai 1930, 44. 38 Brunzlow, An meine alten Kameraden (wie Anm. 37). 39 Ebd.; Brunzlow, A. Eckstein (wie Anm. 37).
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Kaiserreich ab,40 so interpretierte Brunzlow ihn explizit mit Blick auf die Ehre der jüdischen Soldaten im Ersten Weltkrieg. Er schilderte eigene Erfahrungen mit Untergebenen, die trotz seiner Fürsprache nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Judentum nicht in den Offiziersstand befördert worden seien.41 Außerdem wies Max Brunzlow den 1916 durch die Judenzählung im Heer befeuerten Vorwurf der ‚Drückebergerei‘ zurück. Beispielhaft ist seine Besprechung der Broschüre Jüdische Frontsoldaten aus Württemberg und Hohenzollern (Gustav Feldmann), veröffentlicht 1926 in der C. V.-Zeitung. Darin appellierte Brunzlow an das Rechtsempfinden seiner Zeitgenossen: Wenn, wie auf Seite 7 der Schrift zusammenstellend angegeben, von nicht einmal 11 000 jüdischen Einwohnern 1674 tatsächlich in der Front gestanden haben, wenn von diesen 270 (16 Prozent) gefallen, 533 (fast 32 Prozent) verwundet sind, dann sollten rechtlich denkende Menschen nicht anstehen, wenigstens den im Weltkrieg im Felde gestandenen jüdischen Soldaten gerade so wie denen anderer Konfessionen dieselbe Würdigung und Dankbarkeit für ihr Wirken um das Vaterland zuzuerkennen.
Dabei betonte Brunzlow, er verfolge mit der Besprechung nicht die „Absicht, den jüdischen Kriegsteilnehmern vor denen anderer Glaubensbekenntnisse besondere Hochachtung entgegenzubringen.“ Vielmehr habe ihn das mangelnde Engagement des Gros der ehemaligen Offiziere, „ihre jüdischen ehemaligen Untergebenen gegen ungerechte Verunglimpfungen in Schutz zu nehmen“, zum Handeln getrieben.42 Auszüge dieser in der C. V.-Zeitung veröffentlichten Besprechung erschienen im August 1927 dann auch im Berliner Tageblatt unter der Überschrift „Württembergische Gefallenenehrung“. Diesmal gab die Schändung von Gedenksteinen auf jüdischen Friedhöfen Brunzlow Anlass, für seine jüdischen Kameraden einzutreten. Er forderte in Mosses liberalem Leitmedium „die Oeffentlichkeit zu einer Kritik“ auf, „ob es sich mit Menschenwürde vereinbaren läßt, an Grabmälern eine sinnlose Wut auszulassen, […] nur weil [die Gefallenen, Anm. d. Verf.] zufällig Juden von Geburt sind.“43 40 Thomas Stamm-Kuhlmann, Militärische Prinzenerziehung und monarchischer Oberbefehl in Preußen 1744–1918, in: Martin Wrede (Hrsg.), Die Inszenierung der heroischen Monarchie. Frühneuzeitliches Königtum zwischen ritterlichem Erbe und militärischer Herausforderung. (Historische Zeitschrift, Beih. 62.) München 2014, 438–467, hier 451. 41 Brunzlow, Drückeberger (wie Anm. 37). 42 Brunzlow, Helden (wie Anm. 37); auch abgedruckt in: Gemeindezeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs 3, 16.10.1926, 298–299. 43 Max Brunzlow, Württembergische Gefallenenehrung, in: Berliner Tageblatt 56, 20.08.1927. Rosenthal schreibt Max Brunzlow die Autorschaft des Artikels „Warum schweigen die Offiziere?“ zu, der ebenfalls 1927 im Berliner Tageblatt erschienen sei, siehe Jacob Rosenthal, „Die Ehre des jüdischen Soldaten“ – Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen. (Campus Judaica, 24.) Frankfurt a. M./New York 2007, 153.
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Über die Mitarbeit Max Brunzlows im Büro Wilhelmstraße heißt es in den Erinnerungen Adolf Rubinsteins: „It was chaired by […] Brunzlow. But the actual work was done by […] Hans Reichmann.“44 Im Impressum einer vom Büro Wilhelmstraße verantworteten Wahlzeitung wird Max Brunzlow 1930 dann auch als Vorsitzender, Herausgeber und Verleger des als Tarnkonstrukt fungierenden Bundes Deutscher Aufbau genannt.45 Bis 1935 taucht er im Berliner Adreßbuch auf,46 dann verlieren sich die Spuren von einem der wenigen „hochgestellten Offiziere im Ruhestand“, die „die antisemitische Hetze gegen die Juden im Weltkrieg in aller Öffentlichkeit“ zurückwiesen.47
Hans Reichmann Der in Hohensalza (Posen) geborene Hans Reichmann48 (1900–1964) erwarb als Sohn eines Apothekers 1918 das Abitur, danach wurde er kurzzeitig eingezogen. In der Jugendzeit nährte u. a. die Lektüre liberaler und sozialdemokratischer Zeitungen sein politisches Interesse. Reichmann schloss das Studium der Rechtswissenschaft 1924 mit dem Dr. iur. ab. Während der Studienzeit war er Mitglied des Kartell-Convents deutscher Studenten jüdischen Glaubens (K. C.) und Geschäftsführer des oberschlesischen C. V.-Landesverbands. Nach einem kurzen Zwischenspiel als Rechtsanwalt wechselte er 1927 in die Berliner C. V.-Zentrale, dort bekleidete er den Posten des stellvertretenden Syndikus und leitete das Rechtsschutzdezernat. Als Gründungsmitglied und Leiter des Büros Wilhelmstraße hatte der Reichsbannermann Reichmann ab 1929 maßgeblichen Anteil 44 Stone, In Defense (wie Anm. 35), Bl. 1. 45 Deutsches Historisches Museum, Berlin (DHM), Do 62/1032: Deutschland erwache; DHM, Do 70/451: Deutschland erwache. 46 Berliner Adreßbuch 1935. Unter Benutzung amtlicher Quellen. Erster Bd. Berlin 1935, online unter: digital.zlb.de/viewer/image/34115495_1935/317/ (03.03.2020). 47 Rosenthal, Ehre des jüdischen Soldaten (wie Anm. 43), 151. 48 Vgl. zu dieser biographischen Skizze Reichmanns: Barkai, Wehr dich (wie Anm. 13), 166; Marie Ch. Behrendt, Die Öffentlichkeitsarbeit des Council of Jews from Germany in deutschjüdischen Nachkriegsperiodika. Ein quellenkritischer Beitrag, in: Susanne Marten Finnis/Michael Nagel (Hrsg.), „Scheuerstellen“ – Zur Transkulturalität jüdischer Periodika. (Schriftenreihe wissenschaftliche Abhandlungen des Leo Baeck Instituts.) Tübingen (in Druckvorbereitung); Sarnecki, Doppelte Ungleichzeitigkeit (wie Anm. 23), 277; Michael Wildt, Reichmann, Hans, in: Neue Deutsche Biographie 21, 2003, 319–320; Reichmann, Mein Leben in Deutschland (wie Anm. 29); vgl. zudem Council of Jews from Germany (Hrsg.), Zum Gedenken an Hans Reichmann. London 1964; Hans Reichmann, Deutscher Bürger und verfolgter Jude. Novemberpogrom und KZ Sachsenhausen 1937 bis 1939, bearb. von Michael Wildt. (Biographische Quellen zur Zeitgeschichte, 21.) München 1998.
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am kommunikativen Abwehrkampf gegen die NSDAP. Ab 1933 arbeitete er gemeinsam mit Alfred Hirschberg als geschäftsführender Syndikus des C. V. und verlagerte den Schwerpunkt seines Schaffens auf die juristisch-wirtschaftliche Beratung der bedrohten jüdischen Bevölkerung. Dabei kooperierte er mit der Reichsvertretung der Deutschen Juden, an deren Gründung er beteiligt war. In der Folge des Novemberpogroms 1938 internierten die Nationalsozialisten Hans Reichmann im KZ Sachsenhausen, er kam unter der Bedingung der Ausreise frei und verließ Deutschland im April 1939 gemeinsam mit seiner Frau Eva Reichmann. Im Londoner Exil engagierte er sich in leitender Funktion in der United Restitution Organisation (URO) und im Council of Jews from Germany, sein Betätigungsfeld in diesen Organisationen erstreckte sich auch auf das Gebiet der Öffentlichkeitsarbeit.
Walter Gyssling Als Spross einer protestantisch-bürgerlichen Familie aus München trat Walter Gyssling49 (1903–1980) freiwillig dem Kadettenkorps bei, wandte sich jedoch im Zuge der Novemberrevolution vom Militär ab und wurde während seiner Studienzeit Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG). 1923 musste Gyssling das Studium der Rechtswissenschaften und der Nationalökonomie aufgeben – die Inflation hatte das Familienvermögen aufgezehrt. Bald nach Abbruch des Studiums volontierte er bei der Allgemeinen Zeitung in München. Es folgte der Wechsel zum Süddeutschen Zeitungsdienst, einem Korrespondenzbüro. Im Januar 1928 verpflichtete sich Gyssling als Chefredakteur bei den Regensburger Neuesten Nachrichten. Die Anstellung in der Oberpfalz war nur von kurzer Dauer. Walter Gyssling ging nach Berlin und arbeitete ab Mitte 1928 für den C. V. Nach Recherchereisen durch das Reich wurde er 1929 mit dem Aufbau eines Archivs für das Büro Wilhelmstraße beauftragt. Darüber hinaus war er dort in die Produktion der Kommunikate involviert und bekämpfte als reisender Vertreter des C. V. sowie als Diskussionsredner auf Versammlungen Antisemiten. Um 1929/30 trat er dem Reichsbanner und der SPD bei. Im März 1933 flüchtete der junge Journalist nach Basel, bis 1939 arbeitete er als Korrespondent für Schwei49 Vgl. zu der biographischen Skizze Gysslings: Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1); Hill, Walter Gyssling (wie Anm. 1); Werner Röder/Herbert A. Strauss (Hrsg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. I: Politik, Wirtschaft, öffentliches Leben. München u. a. 1980, 257–258; Simon Sax/Sebastian Elsbach, Der militante Journalist und Archivar Walter Gyssling, in: Sebastian Elsbach/Marcel Böhles/Andreas Braune (Hrsg.), Die demokratische Persönlichkeit in der Weimarer Republik. (Weimarer Schriften zur Republik.) Stuttgart 2020 (in Druckvorbereitung).
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zer Zeitungen in Paris und engagierte sich im Verband deutscher Journalisten in der Emigration. Ende 1939 als ‚feindlicher Ausländer‘ von französischer Seite interniert, gelang ihm durch die familiär vererbte eidgenössische Staatsbürgerschaft Anfang 1940 die Ausreise in die Schweiz. Nach 1945 arbeitete Walter Gyssling weiterhin als Journalist, zunächst noch einmal in Paris, dann aber in der Eidgenossenschaft, wo er zu einem angesehenen Ballettkritiker avancierte und sich in der Freidenkerbewegung engagierte.
Adolf Rubinstein Der Kaufmannssohn Adolf Rubinstein wurde 1910 im ostpreußischen Bodschwingken geboren und erhielt 1928 sein Reifezeugnis vom Staatlichen Gymnasium in Lötzen. Er nahm das „Studium der Philologie (Geschichte, Deutsch, Erdkunde, Philosophie)“ auf, besuchte zunächst die Albertus-Universität in Königsberg, dann die Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und schließlich die Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin.50 Während seiner ersten Semester in Königsberg zählte er zu den Mitgliedern einer Verbindung, die dem K. C. angehörte.51 In München saß Rubinstein dann im Vorstand des „auf dem Boden dieser [der Weimarer, Anm. d. Verf.] Verfassung“ stehenden Republikanischen Studentenkartells.52 An der LMU hörte er u. a. Geopolitik beim „Apologet[en] der Lebensraum-Ideologie“53 Karl Haushofer.54 Im Sommersemester 1931 wechselte er an die Berliner Universität, „vom Wintersemester 1931 bis zum Sommersemester 1935“, so schrieb Adolf Rubinstein, war er „teils beurlaubter Student, teils berufstätig.“ 55 Zunächst zur Berufstätigkeit: Schon Anfang 1931 befasste sich Adolf Rubinstein in der C. V.-Zeitung mit dem „Aufklärungskampf“ in deutschen Kleinstäd-
50 Adolf Rubinstein, Die Deutsch-Freisinnige Partei bis zu ihrem Auseinanderbruch (1884– 1893). Berlin 1935, 3. Die genannte Fächerkombination des ‚philologischen‘ Studiums lässt vermuten, dass es sich dabei um ein Studium handelte, das auf das Lehramt an höheren Schulen zielte. 51 Friburgia, Königsberg, in: K. C. -Mitteilungen, 05.07.1928, 56; Friburgia, Königsberg, in: K. C. -Mitteilungen, 25.06.1929, 49–50. 52 Das Republikanische Studentenkartell, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, 6, 15.06.1930, 192. 53 Dan Diner, „Grundbuch des Planeten“ – Zur Geopolitik Karl Haushofers, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 32, 1984, 1–28, hier 26. 54 Adolf Stone, Geopolitics as Haushofer Taught It, in: Journal of Geography 52, 1953, 167–171, hier 167. 55 Rubinstein, Die Deutsch-Freisinnige Partei (wie Anm. 50), 3.
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ten.56 Im Büro Wilhelmstraße arbeitete er dann seit dem Sommer 1931 als Hilfsarchivar.57 Dort las er vor allem Zeitungen und markierte solche Artikel, die der Zeitungsausschnittsammlung des büroeigenen Archivs hinzugefügt werden sollten.58 Zu jener Zeit war er auch Mitglied des Reichsbanners, dem sich die „meisten jungen Juden“ Ende der 1920er Jahre angeschlossen hätten.59 Die ‚Beurlaubung‘ indes beschönigt, dass die Friedrich-Wilhelms-Universität Adolf Rubinstein im Frühjahr 1933 auf Grund „[m]arxistischer Aktivitäten“ exmatrikulierte.60 Die Universität Köln machte 1934 keine Anstalten, den von der Berliner Universität verbannten Studenten aufzunehmen.61 Dass er 1935 mit einer Arbeit über „Die Deutsch-Freisinnige Partei bis zu ihrem Auseinanderbruch (1883– 1893)“ in Basel promoviert werden konnte, ist dem Umstand zu verdanken, dass der konservative Historiker Gerhard Ritter 1934/35 einen Lehrstuhl in Basel vertrat und seine dortige Position nutzte, um „in Deutschland bereits diskriminierten Historikern zu helfen“.62 Seine Dissertationsschrift legt nahe, dass sich Rubinstein politisch linksliberal verortete.63 Nach der Liquidierung des Büros Wilhelmstraße leitete Adolf Rubinstein im C. V. das „Greuel-Dezernat, in dem alle Ausschreitungen, etc. aufgenommen wurden.“64 Unter den neuen Herren im Land sei diese Stelle 1933, so schreibt Rubinstein, von jüdischen Menschen „geflutet“ worden, Berichte über Misshandlungen häuften sich; aus der Anfangszeit im Dezernat blieb ihm die nachstehende Schilderung in Erinnerung: „The first report of a Jewish storeowner by the name of Goldstein in Koenigsberg beaten to death came to me. What was 56 Adolf Rubinstein, In der Front des Aufklärungskampfes, in: C. V.-Zeitung 10, 09.01.1931, 16–17. 57 Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1), 104; Stone, In Defense (wie Anm. 35), Bl. 1. 58 Stone, In Defense (wie Anm. 35), Bl. 1. 59 Ebd., Bl. 3. 60 Béla Bodo, The Role of Antisemitism in the Expulsion of non-Aryan Students, in: Yad Vashem Studies 30, 2002, 189–227, hier 201; Stone, In Defense (wie Anm. 35), Bl. 1. 61 Bodo, Expulsion of non-Aryan Students (wie Anm. 60), 201. 62 Michael Matthiesen, Verlorene Identität. Der Historiker Arnold Berney und seine Freiburger Kollegen 1923–1938. Göttingen 1998, 79. 63 Siehe z. B. Rubinstein, Die Deutsch-Freisinnige Partei (wie Anm. 50), 110. 64 Adolf Rubinstein legte seine Erinnerungen an das B. W. und das Gräuel-Dezernat einerseits in einem vermutlich von Artur Schweriner aufgezeichneten siebenseitigen maschinenschriftlichen Dokument nieder, siehe Stone, In Defense (wie Anm. 35); andererseits heißt es darin auf der siebten Seite, dass er noch während seiner C. V.-Zeit in Amsterdam in der Wiener Library seine Erinnerungen diktiert habe. Rubinstein glaubte, der Bericht sei unter einem Pseudonym veröffentlich worden. Auch Alfred Wiener erinnerte sich an einen zweiwöchigen Besuch Rubinsteins in Amsterdam, fragte sich jedoch 1959, wo die Aufzeichnungen abgeblieben waren, siehe Wiener Library, London (WL), 3000/9/1/1340 Correspondence with Stone, Bl. 1; daraus auch das mit dieser Fußnote gekennzeichnete Zitat.
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then so gruesomely new was that this man was not only beaten to bloody pulp but that salt and pepper was poored [sic] into the open wounds.“65 1937 flüchtete Adolf Rubinstein aus Deutschland; als US-Soldat kehrte er in das Land seiner Herkunft zurück und wirkte als Anti-Nazi-Experte im Hauptquartier der 3. USArmee.66 In den USA nannte er sich fortan Adolf Stone, dort fand er zu seiner im Studium angestrebten Lehrtätigkeit zurück, er unterrichtete Geographie am Long Beach City College (Kalifornien).67
Die Kommunikate des Büros Wilhelmstraße Bevor die Inhalte und Kanäle der Kommunikate aus dem Büro Wilhelmstraße in den Vordergrund rücken, sei zunächst ein Blick auf deren Quellengrundlage geworfen: Walter Gyssling und Adolf Rubinstein ordneten das gesammelte Material über die NSDAP im B. W.-Archiv fünf Abteilungen zu:68 Abteilung 1: „Stellung der NSDAP zu sämtlichen Fragen des öffentlichen Lebens im nationalen und internationalen Ausmaß“; Abteilung 2: „Verhältnis der Nationalsozialisten zu den anderen deutschen Parteien und Massenorganisationen“; Abteilung 3: „Antisemitische Agitation der Nationalsozialisten“; Abteilung 4: „Exzesse, Rohheitsakte und kriminelle Anschläge“ durch Nazis; Abteilung 5: „Material über den gegen die Nationalsozialisten geführten Kampf“; außerdem: ein „Personalarchiv über sämtliche Führer und Unterführer“ der NS-Bewegung.69 Über den Umfang des Anfang 1933 makulierten Archivs (‚belastendes‘ Material musste aus naheliegenden Gründen aus den Regalen des C. V. verschwinden)70 existieren unterschiedliche Angaben. Laut Walter Gyssling umfasste die 65 Stone, In Defense (wie Anm. 35), Bl. 4. 66 Ebd., Bl. 7. 67 Stone, Geopolitics (wie Anm. 54), 167; Correspondence with Stone (wie Anm. 64), Bl. 4. 68 Vgl. zu den Ausführungen über die Struktur und den Umfang des Archivs des B. W. Hill, Walter Gyssling (wie Anm. 1), 201; Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 117. 69 Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1), 105–106. 70 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 126. Paucker bezieht sich auf eine Aussage aus Alfred Hirschberg, Die CV-Jahre von Hans Reichmann, in: Council of Jews from Germany, Zum Gedenken an Hans Reichmann (wie Anm. 48), 27–34, hier 30: „Als der 30. Januar 1933 kam und vor allem nach der Haussuchung in der Emserstraße und dem Empfang bei Göring das Anti-NaziMaterial vernichtet werden mußte, wurde die ‚Wilhelmstraße‘ in Ballen gepackt und ging auf Reisen. Friedrich Borchardt erzählte, wie nach einigen vergeblichen Bemühungen, die gefährlichen Pakete loszuwerden, er schließlich die vielen Zentner Papier in den Hof einer Papierfabrik in München bringen und dort stehenließ, und wie der erschrockene Besitzer dann aus Gründen der Selbsterhaltung dieses unwiederbringliche Material in Pulp verwandelte.“ Adolf Rubinstein schrieb zum Verschwinden des B. W.-Archivs: „How did those files disappear? I am
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Sammlung 1933 „rund 500 000 einzelne Archivstücke, Zeitungsausschnitte, Broschüren, Berichte usw.“71 Folgt man Hans Reichmann, so „zählte [es] 200 000 Nummern“.72 Ungeachtet dieser Differenz zeugt noch heute der Anti-Nazi, ein Handbuch im Kampf gegen die NSDAP, wie es im Untertitel heißt, von dem umfangreichen Wissen, das sein Herausgeber Gyssling und das Büro Wilhelmstraße ansammelten. Bis zur vierten Auflage 1932 wuchs diese Handreichung für antinazistische Diskussionsredner auf 180 Seiten an.73 Zählt man in dieser von Leonidas E. Hill edierten Ausgabe des Anti-Nazi74 die als Quellen genutzten Periodika, so erfährt man, dass ca. 110 verschiedene Presseerzeugnisse rund 330-mal zitiert wurden. Das deckt sich mit der Aussage Adolf Rubinsteins: Seine Aufgabe in der Wilhelmstraße sei es gewesen, täglich 100 Zeitungen zu lesen und alle Abschnitte über Aktivitäten und Mitglieder der NSDAP zu markieren.75 Mit Blick auf die Zitationshäufigkeiten einzelner Periodika im Anti-Nazi lässt sich festhalten: Walter Gyssling griff am häufigsten auf den Völkischen Beobachter zurück, gefolgt vom Angriff, dem sozialdemokratischen Vorwärts, der konservativen katholischen Zeitung Bayerischer Kurier und der wiederum sozialdemokratischen Münchener Post (siehe Abb. 1). Dass hier die Quellen des Anti-Nazis ausgewertet werden können, ist auf den Anspruch des Herausgebers zurückzuführen, die „Richtigkeit des gesamten Materials“ zu gewährleisten; die Broschüre sollte „nur Quellenvermittler“ sein, der Rednern für kurze Auftritte in NS-Versammlungen argumentatives Rüstzeug zwecks Widerlegung „unwahrhaftige[r] Agitation“ an die Hand gab – es kam „in erster Linie […] darauf an, den NS die heuchlerische Maske vom Gesicht zu reißen.“76 Die in diesem Aufsatz dargelegten unterschiedlichen Standpunkte zur kommunikativen Abwehr im C. V.-Diskurs müssen demnach als Idealtypen verstanden werden: Der Anti-Nazi zielte zwar auf schnelle Erfolge im kommunikativen Schlagabtausch, gab dabei jedoch einen apologetischen, auf Wahrheitsgehalten beruhenden Ansatz keineswegs auf.
certain that we loaded them on trucks. I was under the impression that they disappeared in the printing plant of Arnold Stein. There was only a rumor that some of the loads reached Switzerland. But to my knowledge no one has ever seen these folders after 1933.“ Siehe Stone, In Defense (wie Anm. 35), Bl. 2. 71 Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1), 106. 72 Hans Reichmann, Der drohende Sturm, in: Hans Tramer (Hrsg.), In zwei Welten. Siegfried Moses zum fünfundsiebzigsten Geburtstag. Tel Aviv 1962, 556–577, hier 567. 73 Leonidas E. Hill, Walter Gyssling (1903–1980) – Ein deutscher Demokrat und Gegner des Nationalsozialismus, in: Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1), 11–59, hier 43. 74 Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1), 227–478. 75 Stone, In Defense (wie Anm. 35), Bl. 2. 76 Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1), 232–233.
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Abb. 1: Wortwolken der im Anti-Nazi am häufigsten als Zitationsquellen verwendeten Periodika, Darstellung mit (links) und ohne (rechts) den am häufigsten zitierten Völkischen Beobachter, eigene Darstellung via Voyant Tools.
Mit dem Anti-Nazi ist bereits eines der kommunikativen Erzeugnisse aus der Wilhelmstraße genannt. Insbesondere in Wahlkämpfen habe das Büro außerdem „Millionen Flugblätter, Plakate und Anklebezettel gedruckt“.77 Arnold Paucker kommt gar zu der Einschätzung, „daß der größte Teil der Flugblätter, Handbücher, Plakate und Handzettel der Anti-Naziorganisationen [u. a. Gewerkschaften und republikanische Parteien, Anm. d. Verf.] auf die vorbereitende Arbeit des Büros Wilhelmstraße zurückging.“78 Statt nun auf Auflagezahlen einzugehen, sei hier vielmehr auf die Vielfalt der vom C. V. und insbesondere seiner getarnten Außenstelle genutzten Kommunikationskanäle aufmerksam gemacht: Schon früh hatte der C. V. auf periodische Mittel der produzierten Medienkommunikation gesetzt, zunächst mit der Monatsschrift Im deutschen Reich (1895–1922),79
77 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 117; so auch Reichmann, Der drohende Sturm (wie Anm. 72), 567. 78 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 118. 79 Dominic Bitzer, Im deutschen Reich. Das publizistische Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Diss. phil. Aachen 2013.
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dann vor allem mit der C. V.-Zeitung (1922–1938; Monatsausgabe 1926–1933)80 und dem Morgen (1925–1938).81 Das Büro Wilhelmstraße fungierte einerseits als Zulieferer für Periodika und Pressedienste des Centralvereins82 und kooperierte ab Ende 1930 laut Hans Reichmann auch mit dem Sozialdemokratischen Pressedienst,83 andererseits veröffentlichte es selbstständig ein solches Pressezirkular, den Deutschen Volksgemeinschaftsdienst.84 Schließlich ist die Wochenzeitung Alarm zu nennen – sie war zwar kein direktes Erzeugnis aus der Wilhelmstraße, wurde aber von seinen Mitarbeitern beliefert.85 Als Schriftleiter fungierte der bereits genannte ehemalige C. V.-Funktionär Artur Schweriner.86 Als aperiodische Mittel der produzierten Medienkommunikation sind die Plakate, Klebezettel,87 Flugblätter und Flugschriften zu nennen88 – insbesondere in Wahlzeiten entwickelte das Büro Wilhelmstraße auf diesem Gebiet eine hohe Aktivität.89 Die zahlreichen Buchveröffentlichungen des C. V.-eigenen Philo-Verlags hat Susanne Urban-Fahr erforscht.90 Auch dem neuen Medium Rundfunk ließ der C. V. – mit Blick auf dessen Potential zur Distribution antisemitischer Propaganda – Beachtung zukommen;91 einmal (und darum aperiodisch) stellte sich C. V.-Direktor 80 Sarnecki, Doppelte Ungleichzeitigkeit (wie Anm. 23); siehe zur Monatsausgabe Nagel in diesem Band. 81 Susanne Urban-Fahr, Der Philo-Verlag 1919–1938. Abwehr und Selbstbehauptung. (HASKALA. Wissenschaftliche Abhandlung, 21.) Hildesheim/Zürich/New York 2001, 152–161; siehe auch Bargmann und Schütze in diesem Band. 82 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 57, 117. Unter ‚Pressedienst‘ ist eine von einer Pressestelle periodisch herausgegebene Sammlung von Artikeln zu verstehen, die wiederum Medienredaktionen adressiert. Siehe zum C. V.-Pressedienst Wiener Library, MF Doc 55/46–1794. Daneben dienten dem C. V. auch Pressekonferenzen – direkte Kommunikationssituationen, die periodische Mittel der produzierten Medienkommunikation adressieren – als Mittel der Unterrichtung, siehe Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 44, 57, 116. 83 Ebd., 117–118. 84 Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1), 107, 139, 194; Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 117. 85 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 120–122. 86 Hartmann/Simon, Artur Schweriner (wie Anm. 25), 33–34; Hartmann/Simon, Jüdischer Kämpfer (wie Anm. 25), 4. 87 Enzenbach, Kennwort Gummi (wie Anm. 16). 88 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 53–54, 80, 113, 206–210. 89 Ebd., 117; Sax, Flugschriften (wie Anm. 2). 90 Urban-Fahr, Philo-Verlag (wie Anm. 81). Kein Buch aus dem Philo-Verlag war Bruno Weil, Der Prozess des Hauptmanns Dreyfus. Berlin 1930. Jedoch zeichnete mit Weil ein Mitglied des C. V.-Hauptvorstands als Autor verantwortlich. Das sei an dieser Stelle erwähnt, weil eine Drehbuchadaption des Buchs 1930 verfilmt wurde, siehe Barkai, Wehr dich (wie Anm. 13), 159–160; Fred Gehler, 1930 Dreyfus, in: Günther Dahlke/Günther Karl (Hrsg.), Deutsche Spielfilme von den Anfängen bis 1933. Ein Filmführer. Berlin 1988, 226–227; siehe auch Rosenblum in diesem Band. 91 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 55, 175.
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Ludwig Holländer als Diskutant im Rundfunk zur Verfügung.92 Das Büro Wilhelmstraße arbeitete mit Mitteln der direkten Kommunikation. Sowohl in diese Kategorie als auch in die zuvor genannte Kategorie der aperiodischen Mittel der produzierten Medienkommunikation lässt sich als Hybrid der Anti-Nazi einordnen. Zwar als Schriftstück verbreitet, sollte er dennoch antinazistischen Diskussionsrednern als praktische Handreichung dienen (mit der Broschüre Anti-Anti93 verfügte der C. V. schon vor der Gründung des B. W. über Erfahrungen mit solchen hybriden Kommunikaten). Als genuine Mittel der direkten Kommunikation können die Aufklärungsversammlungen, Protest- und Wahlkundgebungen des C. V. genannt werden.94 Vereinzelt traten Vereinsmitglieder und B. W.-Mitarbeiter als Diskutanten in prorepublikanischen wie nationalsozialistischen Versammlungen auf.95 Bislang fanden die Flugschriften des Büros Wilhelmstraße wenig Beachtung in der Forschung,96 darum seien nachfolgend vier Flugschriften, die unter dem Tarnnamen „Bund Deutscher Aufbau“ verteilt wurden, genauer betrachtet: Die Flugschriften Geheim-Dokumente97 und Deutschland erwache!98 fanden im Wahlkampf zur Reichstagswahl am 14. September 1930 Verbreitung.99 Zwar hatte die NSDAP bei der Reichstagswahl 1928 nur 2,6 Prozent der Wählerstimmen erhalten, jedoch vergrößerten sich bei den darauffolgenden Landtagswahlen die Stimmanteile für die Nationalsozialisten, z. B. in Sachsen 1929 (5 Prozent),100 1930 (14,4 Prozent) und Thüringen 1929 (11,3 Prozent), dort stellten sie mit Wilhelm Frick im Januar 1930 den ersten nationalsozialistischen Minister.101 Dem 92 Alfred Wiener, Das Rundfunk-Zwiegespräch Stapel–Holländer, in: C. V.-Zeitung 6, 03.06.1932, 236–237. 93 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 48–49; Urban-Fahr, Philo-Verlag (wie Anm. 81), 144– 146. 94 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 52–53, 80, 101–102, 191. 95 Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1), 108–119; Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 55, 98; Schweriner, Massenwirkung (wie Anm. 25). 96 Sax, Flugschriften (wie Anm. 2). Einzelne Textausschnitte in den Absätzen über die Flugschriften des Bundes Deutscher Aufbau wurden bereits ebd. veröffentlicht. 97 DHM, Do 60/313: Geheim-Dokumente; DHM, Do 87/155: Geheim-Dokumente; Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS), J 150/411: Geheim-Dokumente. 98 DHM, Do 62/1032: Deutschland erwache; DHM, Do 70/451: Deutschland erwache. 99 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 183–184. 100 Hans Reichmann beobachtete im „Herbst 1929 […] mit grosser Aufmerksamkeit Kommunalwahlen im Freistaat Sachen, die […] ein Gradmesser für die Wirksamkeit der Nazi-Propaganda zu sein schienen.“ Siehe Reichmann, Mein Leben in Deutschland (wie Anm. 29), 58. 101 Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobson (Hrsg.), Die Weimarer Republik 1918–1933. Politik – Wirtschaft. (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte, 22.) Düsseldorf 1987, 630–631, 649; Valentin Schröder, Weimarer Republik 1918–1933. Landtagswahlen Freistaat Sachen. 2015, www.wahlen-in-deutschland.de/wlSachsen.htm (03.03.2020); Ders.,
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öffentlichen Bedeutungszuwachs der NS-Bewegung trug das jeweils erste Blatt der beiden Flugschriften überdeutlich Rechnung. Die Briefsammlung GeheimDokumente zeigt unübersehbar das Hakenkreuz auf dem Deckblatt (siehe Abb. 2). Die Wahlzeitung102 mit dem zunächst an das Sturmlied der SA erinnernden Titel Deutschland erwache! machte auf der Titelseite mit einem photographischen Porträt Hitlers auf. Für die Leser war auf den ersten Blick nicht ersichtlich, dass es sich um anti-nationalsozialistische Publikationen handelte – laut Walter Gyssling gehörte es zum kommunikationsstrategischen Repertoire des Büros Wilhelmstraße, die Leser im ersten Moment Glauben zu machen, sie hielten ein NS-Propagandaerzeugnis in den Händen.103 Auf der zweiten Seite der Geheim-Dokumente wurden die Leser aufgefordert: „Diese Dokumente müssen Sie zu Hause in aller Ruhe studieren! Sie werden darin sensationelle Enthüllungen finden!“ Bei den „sensationellen Enthüllungen“ handelt es sich um Briefe von Persönlichkeiten aus der nationalsozialistischen und völkischen Bewegung, die die NSDAP, insbesondere Hitler, diskreditierten. Der Antisemit Arthur Dinter berichtete in einem Brief von 1929, er sei „genau darüber unterrichtet, dass weder Hitler noch die Parteileitung überhaupt irgend einen Plan“ hätten, „wonach einmal regiert werden soll.“ Der damals populäre ehemalige Offizier der kaiserlichen Marine Hellmuth von Mücke urteilte in einem Brief vom August 1929 über die NSDAP: „Nicht die Könner sind obenauf, sondern die Schwätzer.“ Die Herausgeber aus der Wilhelmstraße mahnten: „Lasst euch von alten Nationalsozialisten warnen! […] Keine Stimme für Liste 9!“ Über dem Hitler-Porträt in Deutschland erwache! prangt die Schlagzeile „Der Ruf nach dem starken Mann“. Der dazugehörige, sich bis auf die zweite Seite erstreckende Leitartikel eines Dr. Johannes Schmitz greift zunächst antiparlamentarische Ressentiments und Forderungen nach einer Diktatur auf, die er im Zuge der Weltwirtschaftskrise „in Gasthäusern und auf den Straßen, auf den Eisenbahnen, vor den Stempelstellen“ hörte. Dann dekonstruiert der Artikel die Befähigung Hitlers als „Retter in der Not“ und vermerkt: „Mit einem starken Mann ist uns heute nicht mehr gedient. Dafür sind die Aufgaben zu groß und schwierig.“ Insgesamt zeichnet sich die achtseitige Wahlzeitung durch große Textanteile aus. Sie brachte Artikel aus den Sparten Wirtschaft und Politik, appellative Texte an die Wähler („Deutsche Männer und Frauen!“), Zitatensammlungen und eine Kurzgeschichte. Ein ganzseitiger Artikel „Korruption – KorrupWeimarer Republik 1918–1933. Landtagswahlen Freistaat Thüringen. 2015, www.wahlen-indeutschland.de/wlThueringen.htm (03.03.2020). 102 Wahlzeitungen erwecken äußerlich und/oder inhaltlich den Anschein der Periodizität, erscheinen aber faktisch nur zu Wahlzeiten und können somit den Flugschriften zugerechnet werden. 103 Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1), 110.
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tion. Die Skandale und das System“ widmete sich der Betätigung rechtsextremer Größen auf diesem Feld. Teils adressieren die verschiedenen Artikel schon in ihren Überschriften unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen (Jungwähler, Arbeiter, Bauern, Beamte). Die Geheim-Dokumente und Deutschland erwache! waren geeignet, der Glaubwürdigkeit der NSDAP zu schaden; u. a. widerlegten diese Flugschriften Nationalsozialisten, wiesen ihnen kriminelle und moralisch fragwürdige Verstrickungen nach, griffen teils massiv nationalsozialistische Ästhetik und Deutungen („starker Mann“; „Korruption“) auf und an. Ungefähr anderthalb Jahre nach dem ‚Erdrutsch‘ der Septemberwahl präsentierte sich die Wahlzeitung Deutschland erwacht!104 anlässlich des Wahlkampfs zur preußischen Landtagswahl am 24. April 1932 in anderer Gestalt (siehe Abb. 3). Während Deutschland erwache! (1930) die „Bekämpfung der Lüge, der Korruption und des Terrors im politischen Leben“ im Untertitel des Zeitungskopfs trug, fanden die Leser von Deutschland erwacht! (1932) dort die Parole „Für Ordnung und Recht – Für Vaterland und Freiheit“. Und vergleicht man die visuellen Elemente, so beinhaltet Deutschland erwache! (acht Seiten) drei Photographien und eine Karikatur, Deutschland erwacht! (vier Seiten) sieben Karikaturen.105 In der letztgenannten Flugschrift von 1932 dominieren kürzere Texte. Dort findet sich der einprägsame Aufruf: „Nicht der Nazi laut Geschrei, Die Vernunft nur macht uns frei!“ ebenso wie eine Karikatur zu den Boxheimer Dokumenten106 und eine Demaskierung nationalsozialistischer Ideologie: Die Überschrift eines Artikels auf der ersten Seite stellte die Frage „Was bietet das Dritte Reich?“ In dicken Lettern benennt dieser Text dann unterschiedliche Adressaten (Bürger, Arbeiter, Bauern, Beamte, Frauen, Lehrer, Geistliche) und lieferte jeder Gruppe Zitate nationalsozialistischer Politiker und Publizistik. Zur geplanten Rolle der Frau im nationalsozialistischen Volkskörper wird aus Gottfried Feders Flamme zitiert, sie habe „Magd 104 Bundesarchiv, Berlin (BArch), NS26/2015: Deutschland erwacht; DHM, Do2 2005/3622: Deutschland erwacht. 105 Ungeachtet der hier genannten Unterschiede zwischen Deutschland erwache! (1930) und Deutschland erwacht! (1932) gab es auch inhaltliche Kontinuitäten. Mit der Flugschrift Ganz was Neues (1929) existiert überdies ein Beispiel aus der Anfangszeit des B. W., in dem in großem Umfang Karikaturen genutzt wurden, siehe Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 164; Sax, Flugschriften (wie Anm. 2). 106 Die Boxheimer Dokumente wurden im Sommer 1931 vom NSDAP-Mitglied und Amtsrichter Werner Best verfasst und beinhalteten eine „Sammlung von Richtlinien und Maßnahmen, die im Falle eines kommunistischen Putschversuchs und der nachfolgenden nat.soz. Machtübernahme von führenden hessischen Nationalsozialisten diskutiert […] worden waren. Zu den vorgesehenen Maßnahmen gehörten u. a. […] die Beseitigung politischer Gegner.“ Jürgen Matthäus, Boxheimer Dokumente, in: Wolfgang Benz/Hermann Graml/Hermann Weiß (Hrsg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus. München 2001, 400.
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und Dienerin“ zu sein. Eine inhaltlich faktenreiche ganzseitige Bilanz („Das soll Politik sein | Das ist Politik“) stellt die konstruktive parlamentarische Arbeit der demokratischen Parteien in Preußen der nationalsozialistischen Parlamentsarbeit gegenüber. Unter der Unterschrift „Lügen! Lügen! Lügen!“ wiederum erfuhr der Leser neunmal, was „erlogen“ und was „wahr“ ist. Erlogen sei beispielsweise: „Daß die Nationalsozialisten Deutschland sittlich erneuern wollen.“ Wahr sei: „Daß ihr SA-Führer Röhm Knaben schändet, daß ihr ehemaliger Reichstagskandidat Holtz wegen Sittlichkeitsverbrechen verurteilt wurde […].“107 Walter Gyssling, der im Impressum von Deutschland erwacht! als Herausgeber verantwortlich zeichnete, war sich der derben Sprache bewusst, derer er sich beim Verfassen von Kommunikaten für das Büro Wilhelmstraße bediente. In einem Brief an den Schriftleiter des ADGB-Organs Die Arbeit, Lothar Erdmann, entschuldigte er sich dafür, dass er ihm einen Artikel nicht liefern konnte: Er habe sich in einen „ganz niederträchtigen Wahlflugblattstil hineingeschrieben“.108
Abb. 2: Geheim-Dokumente, Flugschrift des Bundes Deutscher Aufbau aus dem Wahlkampf zur Reichstagswahl im September 1930, HStAS, J 150 / 411. 107 In diesem Fall werden Fakten und tendenziöse Darstellung vermischt; Kurt Tucholsky hatte sich bekanntermaßen an anderer Stelle dagegen ausgesprochen, die sexuelle Orientierung Röhms als Argument gegen die Nazis ins Feld zu führen: „Gegen Hitler und seine Leute ist jedes Mittel gut genug. Wer so schonungslos mit andern umgeht, hat keinen Anspruch auf Schonung […]. Aber das da geht zu weit […]. Seine Veranlagung widerlegt den Mann [Röhm, Anm. d. Verf.] gar nicht.“ Siehe Ignaz Wrobel [d. i. Kurt Tucholsky], Röhm, in: Die Weltbühne 28, 26.04.1932, 641. 108 BArch, NS26/936: Walter Gyssling an Lothar Erdmann, 11.07.1932. Zur Korrespondenz von Erdmann und Gyssling siehe Ilse Fischer, Versöhnung von Nation und Sozialismus. Lothar Erdmann (1888–1939): Ein „leidenschaftlicher Individualist“ in der Gewerkschaftsspitze. Biographie und Auszüge aus den Tagebüchern. (Archiv für Sozialgeschichte, Beih. 23.) Bonn 2004, 170.
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Abb 3: Deutschland erwacht! Wahlzeitung des Bundes Deutscher Aufbau aus dem preußischen Landtagswahlkampf im April 1932, BArch, NS26/2015.
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Die drei bislang genannten Flugschriften können eindeutig dem Büro Wilhelmstraße zugeordnet werden.109 Im Fall von Wie lange noch?110 – dem letzten Beispiel – gestaltet sich die Zuschreibung der Urheberschaft auf den ersten Blick schwieriger. Einerseits wird dort als „für den Inhalt verantwortlich: Richard Küter“ genannt, vermutlich jener Richard Küter, der seinerzeit als Gausekretär des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold für Berlin und Brandenburg arbeitete.111 Andererseits ist auf derselben Seite neben einem Appell gegen die NSDAP zu lesen: „BUND DEUTSCHER AUFBAU“. Auf den zweiten Blick bietet sich aber ein Bild, das einen Zusammenhang mit dem Büro Wilhelmstraße plausibel erscheinen lässt. Denn Wie lange noch? untermauert lediglich bisherige Erkenntnisse zur engen Zusammenarbeit des Büros mit dem Reichsbanner –112 wie bereits beschrieben wurde, waren Reichmann, Gyssling und Rubinstein Reichsbannermitglieder.113 Im Vergleich zu den bisher besprochenen Flugschriften bot die Broschüre Wie lange noch? dem Publikum im Wahlkampf zur Reichstagswahl am 31. Juli 1932 einen minimalistischen Anblick. Die erste Seite ziert lediglich die Leitfrage „Wie lange noch?“ Die folgenden drei typographisch ansprechend gestalteten Seiten füllt ein Frage-Antwort-Schema, das sich insgesamt dreimal wiederholt; Beispiel: „Wie lange noch wollen die Nationalsozialisten glauben machen, daß sie eine Arbeiterpartei sind? […] Warum legen sie nicht […] öffentlich Rechenschaft über Herkunft und Verwendung ihrer Parteigelder ab? […] Weil sonst die Öffentlichkeit erfahren würde, dass die NSDAP von Fürsten und Industriellen ausgehalten wird. […]“.
109 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 164, 183–184; Sax, Flugschriften (wie Anm. 2), 2–3. 110 DHM, Do 59/172.1: Wie lange noch. 111 Kurzmeldungen über den Aufbau der Organisation, in: Sozialistische Mitteilungen. News for German Socialists in England, 1945, 20–21, hier 21. 112 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 97, 257. Die Zusammenarbeit und Verflechtungen zwischen C. V. und Reichsbanner hat zuletzt Sebastian Elsbach in seiner umfangreichen Dissertation über das Reichsbanner beleuchtet. Daraus sei allgemein zum Anteil jüdischer Mitglieder im Reichsbanner zitiert: „Während abgesehen von Paul Crohn (SPD) keine jüdischen Mitglieder des Reichsvorstands [des Reichsbanners, Anm. d. Verf.] bekannt sind, fühlten sich mehrere Mitglieder des Reichsausschusses der jüdischen Religion zugehörig oder besaßen einen jüdischen Familienhintergrund. Dies sind insgesamt 16 von 179 Mitgliedern […].“ Siehe Elsbach, Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold (wie Anm. 31), 242–243. 113 An dieser Stelle sei erwähnt, dass sich Adolf Rubinstein an einen Besuch Otto Hörsings, Bundesvorsitzender des Reichsbanners, im B. W. erinnerte, siehe Stone, In Defense (wie Anm. 35), Bl. 2.
Das Büro Wilhelmstraße: neue Quellen, neue Perspektiven
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Die nicht zu beantwortende Frage nach der kommunikativen Wirkung Zur Wirkung der strategischen Kommunikationsmaßnahmen des Büros Wilhelmstraße vermerkt Arnold Paucker, die Mitarbeiter hätten „innerhalb der ihnen gezogenen Grenzen Beträchtliches geleistet“ – trotzdem „alle Bemühungen zum Scheitern verurteilt waren.“114 Jürgen Matthäus stellt fest (und damit ließe sich die Diskussion der kommunikativen Wirkung füglich schließen), diese Unlösbarkeit „hatte nichts mit […] der C. V.-Taktik im Abwehrkampf, aber alles mit der fehlenden Bereitschaft der deutschen Gesellschaft und insbesondere ihrer Eliten zu tun, sich auf die Botschaft republikanischer Organisationen einzulassen.“115 Das Reichsbanner zählte zu ebenjenen Organisationen, die wie der C. V. die Demokratie von Weimar verteidigten. Beider Zusammenarbeit erstreckte sich auch auf das Gebiet der Produktion und Distribution von Anti-NS-Publikation.116 Klebezettel, Flugschriften und -blätter des Büros Wilhelmstraße wurden vor allem von Reichsbannerleuten verteilt.117 Nimmt man nun an, dass diese Kommunikate die in den Quellen genannten sehr hohen Auflagezahlen (Reichmann: „viele Millionen“; Gyssling: „ganze Tonnen“) erzielten,118 so ist doch festzuhalten, dass das Büro – in Anbetracht seiner personellen Ausstattung – erstaunliche Erfolge auf dem Gebiet der Verbreitung seiner Materialen erzielte (auch wenn man nur einen Bruchteil dieser Auflagezahlen veranschlagt). Aber damit ist noch keine Aussage über die Wahrnehmung durch die Rezipienten getroffen. Die Frage nach der Wirkung der Kommunikate aus der Wilhelmstraße im engeren Sinne kann eigentlich nicht beantwortet werden. Hier zeigt sich ein generelles Problem der historischen Medienwirkungsforschung: Umfragen unter Rezipienten existieren für die Weimarer Zeit kaum.119 Das ist auch der Grund, warum über die Adressaten der Kommunikate in diesem Aufsatz – abgesehen von vereinzelten Schlaglichtern auf der Grundlage von Medieninhalten – nicht geschrieben werden kann. Was die Wirkung angeht, so bleiben noch die subjek114 Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 128. 115 Matthäus, Pillen gegen Erdbeben (wie Anm. 1), 326. 116 Elsbach, Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold (wie Anm. 31), 394–400; siehe zu dieser Kooperation auch Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 97, 257. 117 Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1), 110, 134; Paucker, Abwehrkampf (wie Anm. 1), 117; Reichmann, Der drohende Sturm (wie Anm. 72), 567. 118 Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1), 110; Reichmann, Der drohende Sturm (wie Anm. 72), 567. 119 Frank Bösch, Zeitungsberichte im Alltagsgespräch. Mediennutzung, Medienwirkung und Kommunikation im Kaiserreich, in: Publizistik 49, 2004, 319–336, hier 319.
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tiven (nicht verallgemeinerbaren) Einschätzungen der Kommunikatoren aus dem Büro Wilhelmstraße. Adolf Rubinstein bekannte: „I was always proud when I saw our material quoted in newspapers and our posters displayed on billboards. We might have inadvertetly [sic] used the swastika symbol too often in our counter propaganda.“120 Ähnlich bewertete Walter Gyssling ein B. W.-Plakat, das den gestikulierenden Hitler zeigte, als „Gratisreklame“ für die NSDAP.121 Jenseits solcher vereinzelter Einschätzungen ex post (derer es auch positive in Gysslings Aufzeichnungen gibt) blickte er in der Gesamtschau selbstkritisch auf die eigenen Bemühungen zurück: Die Propagandaaktionen des „Büros Wilhelmstraße“ lagen oft nicht richtig, wie gesagt vor allem in seinen beiden ersten Jahren [bevor es die theoretischen Impulse Sergej Tschachotins und Carlo Mierendorffs aufnahm, Anm. d. Verf.]. Sie waren zu rational, appellierten zu einseitig an die Vernunft, fanden meist nicht den Weg zum Gefühl der Massen […]. Die maßgebenden Mitarbeiter des „Büros Wilhelmstraße“ konnten eben auch nicht über den Schatten ihrer eigenen starken Verhaftung im rationalen Denken springen.122
Auch Hans Reichmann hob das Dilemma der „Gegner des Nationalsozialismus“ hervor, die „wesensmässig der Ratio verschrieben“ gewesen seien und auch bei Kompromissbereitschaft „nur schwer zu einer Methodik“ griffen, „die auf dem ‚Bankrott der Vernunft‘ beruhte.“ Er machte jedoch auch auf eine wichtige Einschränkung aufmerksam: Der Ansatz Tschachotins und Mierendorffs entstand 1932 während einer „Krisenzeit“.123 Es lässt sich argumentieren, dass diesem Denken eine Zukunftserwartung inhärent war, die letztlich doch wieder auf rationale Formen der politischen Kommunikation baute, denn Sergej Tschachotin wandte sich mit seinem Tun gegen einen „Faschismus“, der auf „die Degradierung des Menschen zu einer Art Automaten“ und „des menschlichen Denkens zu einem Mittel der psychologischen Gewalt“ baute, „im Vorhinein determiniert […], reguliert durch eine kleine Pseudo-Elite“.124 Neben der teilweise geringen Berücksichtigung ‚gefühlsmäßiger‘ Kommunikation bemängelte Walter Gyssling im Rückblick: Das Büro Wilhelmstraße
120 Stone, In Defense (wie Anm. 35), Bl. 2. 121 Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1), 110. 122 Ebd., 154. 123 Reichmann, Der drohende Sturm (wie Anm. 72), 569. 124 Tschachotin zit. nach Stefanie Averbeck-Lietz, Persuasive Kommunikation und Behaviorismus. Serge Tchakhotines vergessenes Buch über NS-Propaganda von 1939, in: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.), Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln 2017, blexkom.halemverlag.de/tchakhotine/ (03.03.2020).
Das Büro Wilhelmstraße: neue Quellen, neue Perspektiven
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war auf Grund seiner Struktur, der Kreise, die es trugen, überparteilich und daher von Anfang an in den großen politischen Fragen mit der Hypothek der Neutralität belastet. […] Seiner Propaganda war damit der Stempel des Negativen aufgeprägt. Ein Nein gegen den Nationalsozialismus, ein sehr wohlbegründetes Nein, aber keine Antwort auf die Tagesfragen, welche die Massen wirklich interessierten […].125
Auch wenn positive Gegenbotschaften möglicherweise fehlten: Es bleibt das Narrativ des in großer kommunikativer Vielfalt geführten Abwehrkampfs, genauso wie die Erinnerung an das Büro Wilhelmstraße als einen halbwegs klandestin agierenden C. V.-Akteur. Gemäß diesem Leitgedanken der Tarnung transzendierte er nicht primär die Grenzen zwischen deutsch-jüdischen (Teil)Öffentlichkeiten und nicht-jüdischen (Teil-)Öffentlichkeiten, sondern trat vielmehr als Akteur einer pro-republikanischen (Teil-)Öffentlichkeit auf.
125 Gyßling, Mein Leben (wie Anm. 1), 155–156.
Jürgen Matthäus
Zwischen Anpassung und Risikobereitschaft: Der Centralverein nach der NS-‚Machtergreifung‘ Identität und Krise In seiner 2002 erschienenen, nach wie vor unverzichtbaren Gesamtdarstellung zum CV rückt Avraham Barkai ein bis in die 1980er Jahre verbreitetes Geschichtsbild zurecht: Nicht Interessengruppe eines wie auch immer definierten ‚Assimilantentums‘ sei der Verein gewesen, sondern Kampforganisation gegen Entrechtung und Katalysator eines neuen jüdischen Selbstbewusstseins im Deutschland der Jahrhundertwende. Dass der CV nach dem Ersten Weltkrieg mit seiner Abwehrarbeit gegen Antisemitismus scheiterte, war der Erosion zivilgesellschaftlicher Werte und demokratischer Strukturen geschuldet, die die Diskriminierung der Juden vorantrieb und den Weg zum Holocaust ebnete. Doch nach innen hatte der Verein nachhaltigen Erfolg: Aus der Rückschau konstatiert Barkai, dass der CV „in der deutschen Judenheit viel mehr das Bewusstsein ihres ‚Judentums‘ als das ihres ‚Deutschtums‘ vertiefte“.1 Die Betonung jüdischer Identitätsstiftung durch den CV sollte jedoch nicht dazu führen, seine vielfältigen, ex post nur schwer wahrnehmbaren Affinitäten zur mentalen Disposition der nichtjüdisch-deutschen Bevölkerungsmehrheit auszublenden. Es finden sich in der Geschichte des Vereins deutliche Hinweise darauf, wie stark die von ihm vermittelten Bewusstseinsinhalte mit für die jüdische Minderheit charakteristischer Brechung das in der deutschen Gesellschaft vorherrschende Meinungsspektrum spiegelten: entweder als ihr scheinbar deckungsgleiches Abbild, wie etwa in Gestalt der Reaktion auf den Kriegsausbruch 1914 und in der Hoffnung auf emanzipatorischen Fortschritt, oder als negative Projektion erhöhten Anpassungsdrucks, die sich in dem Bestreben artikulierte, antisemitischen Sentiments keine neuen Angriffsflächen zu bieten und sich stattdessen in sogenannter ‚Einkehr‘, ‚innerer Mission‘ oder abwiegelnder Rhetorik zu üben. Die Reaktion des CV auf den Machtantritt Hitlers und die Umwälzungen der ersten Regierungsphase reflektiert diese Mischung aus defensiver Adaption und 1 Avraham Barkai, „Wehr Dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893–1938. München 2002, 43. https://doi.org/10.1515/9783110675535-011
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kritischer Distanz. Am 1. Januar 1934 blickte der Vorsitzende Julius Brodnitz in einem Kalendereintrag auf das vergangene Jahr zurück: „Ein Jahr voll Sorgen und ein Ausblick voll Sorgen! […] Wir wollen das Hoffen nicht aufgeben.“2 Besorgnis und Hoffnung artikulierten sich in diesen Monaten jenseits des Privaten in den öffentlichen Stellungnahmen des Vereins wie auch in der praktischen Vereinsarbeit. Die Spannbreite und Vielfalt dieser Arbeit darzustellen, ist hier nicht der Raum; sie kann in den Grundzügen als bekannt gelten: CV-Zentrale, Landesverbände und Ortsgruppen bemühten sich um Beruhigung der Mitglieder, protestierten gegen Maßnahmen und Symbole der Entrechtung im NSDeutschland, kompensierten das Wegbrechen ihrer Verbindungen in der deutschen Gesellschaft mittels Intensivierung ihrer Beratungs- und Rechtsschutzarbeit und arbeiteten verstärkt mit anderen jüdischen Organisationen zusammen, was auf zentraler Ebene zur Gründung der Reichsvertretung der Deutschen Juden Mitte September führte.3 Aber dieses Resümee sagt wenig aus über die Unwägbarkeiten des CV-Engagements und noch weniger über die deutschjüdische Lebenswirklichkeit in Zeiten gesamtgesellschaftlicher Umwälzung. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stand der CV unter dem Verdacht, zu lange verfehlte Hoffnungen auf eine Eindämmung judenfeindlicher Maßnahmen genährt und statt Förderung massenhafter Auswanderung zu stark auf abwartende Beschwichtigung gesetzt zu haben.4 Diese Sicht verkennt die reale, in Zeitzeugenberichten und anderen Quellen hinreichend dokumentierte Situation in mehrfacher Hinsicht: Erstens war die Gewaltspirale der NS-‚Judenpolitik‘, noch mehr ihre Kulminierung im Genozid, bis 1939 nicht vorhersehbar; zweitens bemühte sich der CV spätestens seit 1935 aktiv darum, mittels Umschulung, Beratung und Zuspruch sowie organisationsübergreifender Koordination die Auswanderungschancen deutscher Juden, besonders der Jugend, zu erhöhen; und drittens war selbst zionistischen Funktionären klar, dass nicht alle Juden ihre 2 United States Holocaust Memorial Museum Archiv, Washington D. C. (USHMM), Acc. 2008.189.1 Brodnitz papers: Terminkalender-Eintrag Julius Brodnitz, 01.01.1934. 3 Siehe Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 1), 300–307; Otto Dov Kulka, Deutsches Judentum unter dem Nationalsozialismus. (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, 54.) Tübingen 1997. 4 Siehe Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 1), 373–375. Im Schatten des Holocaust und angesichts rascher Nachkriegsveränderungen, die kaum Raum ließen für angemessene Reflexionen über die Komplexitäten des Handelns von NS-Verfolgten, erschien selbst ehemaligen CV-Führern die deutschjüdische Organisationsgeschichte im Dritten Reich bis Ende der 1960er Jahre als zu kontrovers, um von ihnen kritisch aufgearbeitet zu werden; siehe Jürgen Matthäus, Between Fragmented Memory and ‚Real History‘: The LBI’s Perception of Jewish Self-Defence, 1955– 1970, in: Christhard Hoffmann (Hrsg.), Preserving the Legacy of German Jewry: A History of the Leo Baeck Institute, 1955–2005. (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, 70.) London 2005, 375–408.
Zwischen Anpassung und Risikobereitschaft
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Heimat in der Galut verlassen wollten oder konnten – auch deshalb, weil sich mit der Verschärfung der ‚Judenpolitik‘ im Reich die Türen potenzieller Zielländer einschließlich des britischen Mandatsgebiets Palästina weiter schlossen.5 Kritik am CV entzündete sich besonders an seiner Haltung zu Beginn des NS-Regimes.6 Gerade der Protest von Ende März 1933 gegen die von der CV-Zeitung so genannte „zügellose Greuelpropaganda […] gegen Deutschland in der Welt“7 schien nach 1945 angesichts des Wissens um den Holocaust das Verdikt realitätsfernen Wunschdenkens und abstruser Anbiederei der Vereinsleitung zu bestätigen. Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass derartige öffentliche Verlautbarungen auch von anderen Gruppen im deutschen Judentum bis hin zu den Zionisten überliefert sind. Es sei hier nur an eine Proklamation der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) vom Juni 1933 erinnert, die der Überzeugung Ausdruck gab, „daß die deutsche Regierung bei der Lösung des Judenproblems in ihrem Sinne volles Verständnis für eine mit den Staatsinteressen im Einklang stehende offene und klare jüdische Haltung haben“ werde.8 Und dass die zionistische Organisation auch offiziell mit dem NS-Regime zusammenarbeitete, belegen das Ha’avara-Abkommen vom Sommer 1933 sowie weitere Absprachen zur Auswanderungsförderung während des Zweiten Weltkriegs zum Austausch von Internierten. Hans Mommsen konstatiert mit Blick auf das Verhältnis zwischen zionistischer Organisation und dem NS-Regime „für beide Seiten eine negative Identität der Ziele“, ein Befund, den die neuere Forschung auf dichter Quellenbasis bestätigt hat.9 Ein eingehender Vergleich zwischen den Reaktionen zionistischer und nichtzionistischer deutschjüdischer Organisationen auf die NS-Herrschaft steht weiterhin aus. Mit Blick auf einen Teil der CV-Mitglieder lässt sich eine Affinität zu NS-Zielen für einige Aspekte deutschnationaler Programmatik feststellen, be5 Aus der älteren Literatur mit CV-Bezug siehe Klaus Herrmann, Das Dritte Reich und die Deutsch-Jüdischen Organisationen. Köln 1969; Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt 1990, 189–193. 6 Siehe Matthäus, Between Fragmented Memory (wie Anm. 4), 377–379; Hilberg, Vernichtung (wie Anm. 5), 53–55. 7 Die neue Regierung, in: C. V.-Zeitung, 02.02.1933; ähnlich: Wir 565,000 deutsche Juden legen feierliche Verwahrung ein, in: C. V.-Zeitung, 30.03.1933. 8 Äußerung der Zionistischen Vereinigung für Deutschland zur Stellung der Juden im neuen deutschen Staat, 21.06.1933, abgedruckt in: Hans Tramer (Hrsg.), In Zwei Welten. Siegfried Moses zum 75. Geburtstag. Tel Aviv 1962, 120–123. 9 Hans Mommsen, Hannah Arendt und der Prozess gegen Adolf Eichmann [Vorwort], in: Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 1986. Siehe auch Francis Nicosia, Zionism and Anti-Semitism in Nazi Germany. Cambridge 2008; ders. (Hrsg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus 1933–1941. (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, 77.) Tübingen 2018.
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sonders für Forderungen nach Revision der Versailler Friedensbedingungen, wie sie auch in der DDP und SPD Anklang fanden. Doch derartige Forderungen evozierten am rechten Rand des deutschjüdischen Organisationsspektrums, im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten und im Verband nationaldeutscher Juden, deutlich stärkere Zustimmung.10 In den chaotischen ersten Wochen des neuen Regimes sahen sich diese Organisationen bestätigt, ohne orientierungsbedürftigen Juden eine realistische Alternative zum CV bieten zu können. Es spricht für die geschickte Mitgliederarbeit des CV, aber auch für seine wichtige Rolle als Gesinnungsverein, Solidaritätsverband und Interessenvertretung, dass ihm trotz des Drucks von innen und außen die Mehrheit seiner Anhänger treu blieb. Barkai rät in seinem Buch, die fragwürdigen CV-Stellungnahmen zur NS-Außenpolitik und zur sogenannten ‚Greuelpropaganda‘ im Ausland „im Kontext der allgemeinen Verwirrung und der noch nicht abgeschlossenen internen Neuorientierung des CV in seinem Verhältnis zum neuen deutschen Staat“ zu verstehen.11 Doch gab es in dieser Konstellation noch andere Faktoren, denen Historiker größere Aufmerksamkeit schenken sollten, als sie es bisher getan haben? Und aus welchen Quellen lässt sich neben der Vereinspresse schöpfen, um der Krisenerfahrung deutscher Juden in der Frühphase der NS-Herrschaft gerecht zu werden? Vor 15 Jahren bot das Erscheinen von Barkais wegweisendem Buch Anlass für die Erwartung, „dass sich aus dem CV-Archiv über rein organisationsgeschichtliche Aspekte der Vereinstätigkeit hinaus einzigartige Erkenntnisse zum Verfolgungsalltag und zur jüdischen Selbstbehauptung bis zur ‚Kristallnacht‘ gewinnen lassen“.12 Seitdem hat die Forschung zahlreiche alltagsgeschichtliche Studien zur jüdischen Geschichte während der NS-Zeit vorgelegt, doch neben Veröffentlichungen, die die Publikations- und Rechtschutzarbeit des CV in den Blick nehmen,13 gibt es bis heute weder Einzelstudien noch eine Gesamtdarstellung, die sich dem Verein in den letzten fünf Jahren seiner Existenz aus sozialge10 Siehe Michael Berger, Sei stark und tapfer! Juden in Deutschen und Österreichisch-Ungarischen Armeen im Ersten Weltkrieg. Jüdische Frontkämpferbünde in der Weimarer und der Republik Deutschösterreich. Marburg 2016; Matthias Hambrock, Die Etablierung der Außenseiter. Der Verband Nationaldeutscher Juden 1921–1935. Köln 2003. 11 Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 1), 293 f. 12 Jürgen Matthäus, Pillen gegen Erdbeben. Antisemitismusabwehr des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens vor 1933, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 12, 2003, 307–327. 13 Siehe Johann Nicolai, „Seid mutig und aufrecht!“ Das Ende des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1933–1938. Berlin 2016; siehe auch die Rezension von Wilma Schütze in: H-Soz-Kult, 25.07.2017, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-25659 (22.06.2020). Von den knapp 240 Mikrofilmen im USHMM-Archiv aus dem Moskauer CV-Bestand weist Nicolai in seiner Bibliographie 11 Filme (aus dem Jerusalemer CAHJP) mit insgesamt 26 Akten nach.
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schichtlicher Perspektive auf breiter empirischer Basis widmen14 – und dies, obwohl die Moskauer CV-Akten seit geraumer Zeit auch in Jerusalem, London und Washington D. C. mit relativ geringem Aufwand, noch dazu im Umfeld zusätzlichen Materials einsehbar sind.15 Die in diesem Band versammelten Beiträge könnten angesichts ihrer Themenvielfalt wichtige Akzente in Richtung vertiefter sozialgeschichtlicher Studien setzen. Denn jenseits begrenzter Einblicke in die Führungsoligarchie wissen wir über die Binnenstruktur der Organisation – etwa die Zusammenarbeit zwischen Zentrale und nachgeordneten Vereinsinstanzen, geschlechterspezifische Merkmale oder Gruppennetzwerke – nach wie vor recht wenig; gleiches gilt für die Interaktion des Vereins mit Behörden, Verbänden und nichtjüdischen Gruppen in regionalem und örtlichem Kontext, auch und gerade mit Blick auf die CVGeschichte der NS-Zeit bis 1938. Die Annahme, dass der CV mehr und mehr in der Reichsvertretung aufzugehen schien, mag zutreffen, hilft aber nicht weiter, denn auch zu diesem Dachverband fehlt es an fundierten Darstellungen, wie sie für die Reichsvereinigung die grundlegende Arbeit von Beate Meyer bietet.16
Konzilianz und Konspiration Die vereinsinterne Situation zum Beginn des Jahres 1933 kennzeichneten tiefgreifende, durch den Machtantritt Hitlers massiv verstärkte Verwerfungen. Nach Ansicht von Barkai zeugen Mitgliederkorrespondenz und Versammlungsberichte im CV-Archiv „von dem unsicheren Schwanken der Führung zwischen dem Druck deutschnational orientierter [Mitglieder] auf dem einen und mit dem Zionismus sympathisierender Mitglieder auf dem anderen Pol“.17 Diese binäre Konstellation erfasst jedoch nur einen Teil der historischen Wirklichkeit: Hinzu kam die fluide, in ihrer Komplexität zumal von außen kaum überschaubare politische Konstellation in der Frühphase des NS-Regimes. Dass die ‚Judenfrage‘ ein zentraler Teil der NS-Bewegung bleiben würde, stellte schon das NS-Parteiprogramm sicher, aber was das jenseits der seit den 1920er Jahren vertrauten Er-
14 Siehe https://centralverein.net/ressourcen/bibliographie/ (22.06.2020). 15 Siehe https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn611132 (22.06.2020). 16 Beate Meyer, Tödliche Gratwanderung. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zwischen Hoffnung, Zwang, Selbstbehauptung und Verstrickung (1939–1945). (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, 38.) Göttingen 2011. 17 Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 1), 288.
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scheinungen Radau-Antisemitismus und Segregations-Propaganda für die deutschjüdische Zukunft konkret hieß, konnten auch Insider nicht beantworten.18 Ebenso wenig konnten sie wissen, welche Teile der deutschen Eliten bereit waren, sich der CV-Sache noch oder vielleicht sogar wieder anzunehmen. Die rasche Zerschlagung der staatstragenden Weimarer Parteien einschließlich der gemäßigten politischen Linken, der sich der Verein ohnehin erst seit Ende der 1920er Jahre stärker zugewandt hatte,19 machte die Suche nach Verbündeten in konservativen Kreisen unverzichtbar. In dem aus der Krise erwachsenden Bemühen um alternative Strukturen, die Halt und Hilfe bieten konnten, hatte auch die intensivierte, bislang erst teilweise untersuchte Zusammenarbeit mit der ZVfD ihre Wurzeln und mit ihr die Reichsvertretung als lagerübergreifende ‚Einheitsfront‘, wie sie zuvor zwar vielfach gefordert, aber nicht realisiert worden war. Damit erklärt sich zumindest teilweise die CV-Stellungnahme zum Auslandsboykott und der Umstand, dass zionistische Interventionen im anfänglichen Bemühen um – wie es in einer Eingabe der ZVfD vom Juni 1933 hieß – „eine wirkliche, den deutschen Staat befriedigende Lösung der Judenfrage“ aus der Rückschau nicht weniger irritierend wirken mögen.20 Was retrospektiv problematisch erscheint, mochten Zeitgenossen anders, weniger problematisch sehen. Noch ein anderer Aspekt spielte eine wichtige, bislang zu wenig erforschte Rolle: Hatte die Radikalisierung der Massen zu Zeiten der Präsidialkabinette die CV-Führung zu einer heimlichen Förderung aktiver Mobilisierungspropanda in Gestalt des ‚Büros Wilhelmstraße‘ bewegt,21 so bewirkte der Machtantritt der NS-Bewegung und der damit verbundene Schub staatlich geförderter Gewalt, dass der CV stärker als zuvor inoffizielle Kanäle innerhalb Deutschlands und konspirative Verbindungen ins Ausland zur Informationsbeschaffung und -weiterleitung nutzte und ausbaute. Wir wissen zu dieser Art Geheimarbeit nur sehr wenig;22 es kann kaum überraschen, dass das Mos18 Siehe Hilberg, Vernichtung (wie Anm. 5), 36–55; Saul Friedlander, Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung, 1933–1939. München 1998. 19 Siehe Leonidas E. Hill (Hrsg.), Walter Gyßling. Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Bremen 2003, 24–27. 20 Siehe Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 1), 281 f.; „Äußerung der ZVfD zur Stellung der Juden im neuen deutschen Staat“, 21.06.1933, abgedruckt in Nicosia, Dokumente zur Geschichte (wie Anm. 9), 57–61, hier 58. Weiter heißt es dort: „Wir glauben, dass gerade das neue Deutschland durch einen kühnen Entschluss in der Behandlung der Judenfrage einen entscheidenden Schritt zur Überwindung eines Problems tun kann, das in Wahrheit von den meisten europäischen Völkern behandelt werden muss, auch von solchen, die in ihrer außenpolitischen Stellungnahme heute die Existenz eines solchen Problems in ihrer eigenen Mitte leugnen.“ (59) 21 Siehe Hill, Walter Gyßling (wie Anm. 19). 22 Zum breiteren Kontext: Frank Bajohr/Christoph Strupp (Hrsg.), Fremde Blicke auf das „Dritte Reich“. Berichte ausländischer Diplomaten über Herrschaft und Gesellschaft in Deutschland
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kauer CV-Archiv so gut wie keine Hinweise liefert, denn die Vereinsfunktionäre waren sich spätestens seit den Beschlagnahmungen und Verhaftungen des Frühjahrs 1933 der Gefahr durch NSDAP und Überwachungsstaat bewusst.23 Nachkriegs-Aussagen ehemaliger Beteiligter sind überschattet vom Wissen um die ‚Endlösung‘ und können selten durch andere Quellen hinreichend kontextualisiert werden. Private Aufzeichnungen aus der NS-Zeit bieten hier ein wichtiges Korrektiv, wie anhand einiger Briefe und Notizen im Folgenden etwas näher beleuchtet werden soll. Zunächst ein Beispiel zum Frühjahrsboykott: Aus dem Terminkalender von Julius Brodnitz erfahren wir, dass am 3. März 1933 der preußische Ministerpräsident Göring einige jüdische Repräsentanten zu einer, wie Brodnitz es nannte, „Rücksprache“ in sein Büro einberief. Aus den knappen Einträgen im Kalender des CV-Vorsitzenden erscheint der Gastgeber als konziliant: „Beruhigende Erklärungen. Bedauern über die Haussuchung beim C. V. ausgedrückt“, hieß es dort. Schon in den nächsten Wochen verschärfte sich der Ton, als die NSDAP nach den ersten Presseberichten über Misshandlungen und Morde im Reich Stimmung machte gegen sogenannte ‚Greuelpropaganda‘ im Ausland und zum Boykott jüdischer Betriebe in Deutschland aufwiegelte. Brodnitz notierte zahlreiche Besprechungen im Berliner CV und am 25. März 1933, einem Samstag, ein neues Treffen jüdischer Spitzenfunktionäre mit Göring, doch mehr als den Umstand, dass es sich um eine „fast einstündige Rücksprache“ handelte, erfährt man aus dem Terminkalender nicht.24 Wesentlich ausdrucksstärker ist dagegen eine Notiz von Brodnitz, die er den Nachkriegs-Angaben seines Sohns Friedrich zufolge im Frühjahr 1934 auf einer Reise mit seiner Frau Hedwig (1878–1938) ins damals noch sichere Amsterdam machte.25 Von Görings „Diktatorenhaltung“ und „befehlsmäßigem“ Ton ist dort die Rede, aber auch von den Maßnahmen, mit denen die deutschjüdischen Organisationen den drohenden Boykott im Reich abzuwenden hofften. Später fügte Julius Brodnitz hinzu:
1933–1945. Göttingen 2011; Jürgen Matthäus, Predicting the Holocaust: Jewish Organizations Report from Geneva on the Emergence of the „Final Solution“, 1939–1942. (Documenting Life and Destruction: Holocaust Sources in Context.) Lanham 2018. 23 Laut Hill, Walter Gyßling (wie Anm. 19), 27, wurden die potentiell inkriminierenden Akten des ‚Büros Wilhelmstraße‘ von Mitarbeitern unmittelbar nach Hitlers Machtantritt aus Berlin entfernt und kurz darauf vernichtet. 24 USHMM, Acc. 2008.189.1 Brodnitz papers: Kopie der Kalendereinträge von Julius Brodnitz 03.03., 30.03.1933. Ich danke Michael Brodnitz, dem Enkel von Julius Brodnitz, für diese und andere Dokumente der Familie sowie für über die Jahre zahlreiche ergiebige Gespräche. 25 Siehe Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 1), 278 f.
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Erste Unterredung Göring ohne Anwesenheit eines Dritten. Zweite Unterredung im Stehen, so dass ich bitte, mich setzen zu dürfen, worauf für alle Stühle gesetzt wurden. [Max] Naumann [VndJ, Anm. J. M.] überrascht, dass auch [Kurt] Blumenfeld [ZVfD, Anm. J. M.] eingeladen war, wollte zunächst weggehen, blieb aber. Vor der Unterredung unangenehme Rücksprache bei und mit Jacob [sic] Goldschmidt, der gegen unseren energischen Widerspruch (von mir u. [Alfred] Wiener) erklärte, Sprecher könne nur Naumann sein. C. V. hätte sich diskreditiert.26
Die Abwendung des Boykotts im Reich gelang bekanntlich nicht, doch waren Brodnitz und seine Mitstreiter keineswegs bereit, dem NS-Regime außenpolitisch zu Hilfe zu kommen und ihren Kampf um das Recht in Deutschland aufzugeben. Stattdessen pflegten sie parallel zu konzilianten öffentlichen Stellungnahmen Kontakte ins Ausland und schufen so wichtige Nachrichtenkanäle, durch die bis in die erste Kriegshälfte hinein Informationen über NS-Maßnahmen gegen Juden und andere Regimefeinde in den Westen flossen. Nach der gemeinsamen Unterredung Ende März 1933 reisten Vertreter des CV und der ZVfD in Gestalt von Ludwig Tietz, Martin Rosenblüth und Richard Lichtheim gemeinsam nach London und intervenierten bei den Führern der dortigen jüdischen Organisationen – offiziell und der an das NS-Regime gerichteten Verlautbarung zufolge, um sie vom Boykott deutscher Waren abzubringen; in Wirklichkeit jedoch, wie Barkai vermutet, um die Spitzen des organisierten britischen und amerikanischen Judentums in der Beibehaltung der Boykottbewegung zu bestärken und ihnen die wahre Lage im Reich zu schildern, wie es in einem internen zionistischen Bericht heißt, unter „Vermeidung von Übertreibungen in Bezug auf Greueltaten“.27 Die Sorge der deutschjüdischen Funktionäre um den negativen Effekt hyperbolischer Verzerrung war berechtigt, denn trotz im Ausland publizierter erschütternder Erlebnisberichte vom NS-Terror in den Konzentrationslagern und auf deutschen Straßen war die Informationslage jenseits der deutschen Grenzen alles andere als solide; Friedrich Brodnitz sprach später von „Übertreibungen 26 USHMM, Acc. 2008.189.1 Brodnitz papers: Kopie von Notizen von Julius Brodnitz, Dokument 1 (11 handschr. S., zusammen mit Dokument 2 lt. Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 1), 445 f. Anm. 33, von Julius Brodnitz im April 1934 seiner Frau diktiert; im August 1953 von Friedrich Brodnitz an Alfred Wiener in London gesandt), Amsterdam 28.04.1934, 10 (im Orig.: 9). Ein Hinweis auf die Notiz findet sich auch in Leo Baeck Institute, New York (LBINY), ME 163: Ernst Herzfeld, „Meine letzten Jahre in Deutschland 1933–1938“, 1. http://search.cjh.org/permalink/ f/lopb94/CJH_ALEPH000327535 (22.06.2020). Im Gespräch bestätigte mir Michael Brodnitz Anfang 2007, die Notizen entsprächen der Handschrift seiner Großmutter Hedwig Brodnitz. 27 Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 1), 279–282; Schreiben von Berl Locker, Londoner Büro der Zionistischen Weltorganisation, an Jewish Agency Executive Jerusalem, 04.04.1933, abgedruckt in Nicosia, Dokumente zur Geschichte (wie Anm. 9), 46–48, hier 47.
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durch Winkelblätter“.28 Je mehr die Goebbelsche Propagandamaschinerie auf Touren kam und je dichter die polizeistaatliche Überwachung wurde, umso schwieriger gestaltete sich die Beschaffung verlässlicher Nachrichten über die Zustände im Reich im Allgemeinen und Maßnahmen gegen Juden im Besonderen. Überzogene oder erfundene Meldungen von Massenmorden und anderen Ausschreitungen gegen Juden weckten in England und den USA nicht nur Erinnerungen an die eigene, in der Zwischenkriegszeit desavouierte ‚atrocity propaganda‘ aus dem Weltkrieg; sie lieferten darüber hinaus der NS-Propaganda unfreiwillig Munition im Kampf gegen antideutsche ‚Lügenhetze‘.29
Ein „Nachrichtenbüro illegaler Art“ Verdeckte Bemühungen von CV-Funktionären gegenüber freundlich gesinnten regimenahen Deutschen wurden angesichts deren zunehmender Selbstgleichschaltung oder Marginalisierung ab 1934 immer erfolgloser. Damit gewann der Transfer ins Ausland von Informationen über die Verbrechen des Regimes und seinen Rückhalt in der Bevölkerung an Bedeutung, zum einen zur Unterrichtung befreundeter Organisationen, zum anderen als Grundlage für die Beeinflussung der öffentlichen und politischen Meinung. Naturgemäß war der involvierte Personenkreis klein und relativ hoch in der Organisationshierarchie angesiedelt; den Beteiligten war klar, dass sich Erfolg nur dann einstellen würde, wenn bereits vorhandene Kontakte genutzt und neue geknüpft werden konnten. Nachdem Mitte 1933 durch das Ausscheiden von Alfred Wiener und Ludwig Holländer mit Alfred Hirschberg und Friedrich Brodnitz Vertreter der jüngeren, aktivistischeren Generation in die CV-Leitung aufrückten, bot sich hier ein wichtiges Arbeitsfeld.30 Organisationsübergreifende Zusammenarbeit zwischen CV und ZVfD beim geheimen Informationstransfer trug dazu bei, Kooperation in anderen Bereichen – vor allem bei der Auswanderungsförderung und Umschulung – zu fördern. Dabei näherte sich nicht nur der CV an die ZVfD an, sondern es gab auch eine umgekehrte Bewegung, indem die Zionisten im Rahmen der Reichsvertre-
28 USHMM, Acc. 2008.189.1 Brodnitz papers: Notiz Friedrich Brodnitz, Dokument 2 (2 masch. S.), ohne Datum (ca. 1934), 1. 29 Siehe Bajohr/Strupp, Fremde Blicke (wie Anm. 22), 82–84; Matthäus, Predicting the Holocaust (wie Anm. 22), 32 f. 30 Siehe Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 1), 166–170; Hill, Walter Gyßling (wie Anm. 19), 8 f.
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tung und darüber hinaus stärker die Beibehaltung jüdischer Rechte im Reich sowie die Auswanderungsvorbereitung in andere Zielländer unterstützten.31 Das sichtbarste Beispiel konspirativen Informationstransfers nach 1933 bildete der Abtransport der Aktensammlung Alfred Wieners zunächst nach Amsterdam, vor Kriegsbeginn nach London.32 Dieses zunächst Jewish Central Information Office, später Wiener Library benannte Nachrichtenbüro bemühte sich nach Kräften, bei den Kriegsgegnern Deutschlands das Wissen um die NS-Gewaltpolitik zu intensivieren. Auch hier gab es im Krieg Kooperation mit zionistischen Kreisen, besonders den Büros des Jüdischen Weltkongresses und der Jewish Agency in Genf, geleitet von Gerhart Riegner bzw. Richard Lichtheim – beide sollten eine entscheidende Rolle dabei spielen, den genozidalen Vollzug der ‚Endlösung‘ öffentlich zu machen und es ist kein Zufall, dass sowohl Riegner als auch Lichtheim bis weit in den Krieg im Rahmen des Möglichen Kontakte zu den in Deutschland verbliebenen deutschjüdischen Funktionären pflegten.33 Bleibt schon zu diesem Kapitel Vieles im Dunklen, so gilt dies noch mehr für die Unterrichtung ausländischer Diplomaten, die im Laufe der Zeit mit immer größeren Risiken verbunden war. Aber auch nach dem Krieg äußerten sich wenige der deutschjüdischen Beteiligten zu ihren gewagten, angesichts des Holocaust scheinbar insignifikanten Bemühungen. Der amerikanische Historiker Richard Breitman veröffentlichte kürzlich eine Studie über den amerikanischen Konsul in Berlin Raymond Geist – vielleicht der bestinformierte Auslandsvertreter im Reich mit guten Kontakten zum Regime, einschließlich zu Werner Best, dem zweiten Mann im Berliner Gestapo-Hauptquartier nach Heydrich und späteren Mitorganisator des SS-ReichssicherheitsHauptamts. Breitman verdeutlicht, dass Geist sein Wissen schon früh zu großen Teilen von Friedrich Brodnitz, dem Sohn des CV-Vorsitzenden, bezog.34 Brodnitz machte nach dem Krieg einige allgemeine Angaben zu seiner ebenso wichtigen wie risikoreichen Informationsarbeit, auf deren Basis er mit Hilfe Geists Mitte 1937 in die USA auswanderte.35 Doch für die Frühphase des Regimes lassen Brie31 Siehe als Beispiel den Bericht der Zionistischen Weltorganisation (WZO) zur Lage der deutschen Juden vom 03.06.1935 sowie die zionistische Stellungnahme zur jüdischen Auswanderung vom Oktober 1935; beide in Kulka, Deutsches Judentum (wie Anm. 3), 214–217, 254–262. 32 Siehe Ben Barkow, Alfred Wiener and the Making of the Holocaust Library. London 1997. 33 Siehe Matthäus, Predicting the Holocaust (wie Anm. 22). 34 Siehe Richard Breitman, The Berlin Mission: The American Who Resisted Nazi Germany from Within. New York 2019, 76, 109 f. 35 LBINY, AR 25385 The oral history collection of the Research Foundation for Jewish Immigration, New York, 1971–1981, Box 2: Interview Friedrich Brodnitz mit Herbert A. Strauss und Joan Lessing, 21.06.1977, 23 f. http://search.cjh.org/permalink/f/1o7aamh/cjh_digitool1356009 (22.06.2020).
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fe von Friedrich Brodnitz an seinen Bruder Heinz und seine Schwägerin Susanne Brodnitz in Palästina keinen Zweifel an seiner konspirativen Tätigkeit neben seiner Rolle als CV-Jugendfunktionär. Hier ein Auszug aus einem Brief, den Brodnitz im September 1934 aus seinem Italienurlaub und damit frei von Befürchtungen schrieb, die Gestapo könnte mitlesen. Die Einblicke, die er bietet, sind ebenso subjektiv wie aufschlussreich: [E]ine Arbeit des Nachrichtenbüros illegaler Art ist immer mehr ausgebaut, eine sehr interessante, aber auch verdammt gefährliche Angelegenheit. In den wirklich führenden englischen und holländischen jüdischen Kreisen weiss man ja, was wir führenden Deutschen Juden so Alles riskiert haben, um unseren jüdischen Krieg mit Deutschland zu führen. Bei Euch drüben [in Palästina] hat man davon keine Ahnung, hält sich an ein paar äusserliche Tatsachen und dekretiert, wir seien eine würdelose Gesellschaft. – Ich bin jetzt alle 4 Wochen für 2–3 Tage in Amsterdam, wo [Alfred] Wiener jetzt sein Nachrichtenbüro (eine gut aufgezogene Greuelzentrale) aufgemacht hat. Neben einer Reihe von Aussprachen diktiere ich dort jedesmal einen Sammelbericht über die Lage in Deutschland, der einem kleinen Kreise führender Juden in der Welt zugeht, von denen keiner weiss, wer der so erstaunlich informierte Autor ist. Neuerdings stehe ich auch mit dem Berliner Vertreter der London Times sehr gut. Der amerikanische Konsul, mein Freund [Raymond] Geist, sagte mir neulich, man solle ihn nur, im Falle, dass ich einmal hochgehe, sofort alarmieren. Er würde mich, falls es brenzlich würde, überall sofort herausholen. Ein Visum nach den [Vereinigten] Staaten kann ich jederzeit in einer halben Stunde haben.36
Im Kontext dieser Kontakte gesehen erscheint die auf den ersten Blick ephemere Episode der CV-Reaktion auf die ausländische Boykottbewegung und ihre Skandalisierung durch das NS-Regime vom Frühjahr 1933 als Teil eines komplexeren, über organisationsspezifische Grenzen in der deutschjüdischen Führungsschicht hinausweisenden Verhaltensmusters. Konstitutiv dafür waren neben vordergründigen Beschwichtigungsgesten gegenüber dem Regime bereits jene widerständigen Elemente, von denen einige in Gestalt klandestinen Informationstransfers trotz verschärften Terrors bis in den Krieg weiterwirkten. Die von der Gestapo-kontrollierten Reichsvereinigung geübte „Strategie der Kooperation“, wie Beate Meyer sie nennt,37 erscheint angesichts dieser riskant-konspirativen Dimension, wie sie die Tätigkeit einiger deutschjüdischer Funktionäre schon früh kennzeichnet, in einem anderen Licht.
36 USHMM, Acc. 2008.189.1 Brodnitz papers: Brief von Friedrich Brodnitz, Lussinpiccolo (Italien, jetzt Mali Lošinj, Kroatien) an Heinz und Susanne Brodnitz (in Tel Aviv), 08.09.1934, 2. 37 Meyer, Gratwanderung (wie Anm. 16), 428.
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Ein Brief aus der „belagerten Festung“ Teil der Konstellation in der frühen NS-Zeit war das fehlende Verständnis im Ausland, mit dem sich die deutschen Juden konfrontiert sahen. Bot die Lage im Reich schon den Betroffenen eine verwirrende Mischung verschiedener, teilweise widersprüchlicher Informationen, Erfahrungen und Eindrücke, so zeichneten die jenseits der Landesgrenzen öffentlich verfügbaren Nachrichten ein bestenfalls partielles Bild, das – auch dort, wo es klare Konturen und ein dominantes Thema aufwies – der Realität in Deutschland einschließlich des Verhaltens der deutschen Juden nur bedingt entsprach. Persönliche Kontakte ins Ausland konnten korrigierend wirken, doch hatten die meisten deutschen Juden dazu immer weniger Möglichkeiten. Selbst in der jüdischen Heimstätte in Palästina erzeugten Alltagssorgen unter der britischen Mandatsverwaltung, die Mühen zionistischer Siedlungsarbeit und brüchige Kommunikationsverbindungen ein bestenfalls nebelhaftes Bewusstsein der Lage im Reich.38 Friedrich Brodnitz gehörte zum kleinen Kreis der CV-Funktionäre, die nicht nur die Situation der deutschen Juden überschauen, sondern in begrenztem Umfang auch mit Diplomaten verkehren und Auslandsreisen unternehmen konnten. Wenn er frei und ungezwungen zur Feder greifen konnte, drückte er seine Frustration ebenso aus wie seinen Stolz über das Erreichte. Zur Hilfs- und Auswanderungsarbeit und ihrer Rezeption im Yishuw schrieb Friedrich Brodnitz in einem langen Brief vom September 1934 aus Italien an seine Verwandten in Palästina: Wir haben die Erfahrung machen müssen, dass das, was die deutschen Juden im Aufbau dieses riesigen Hilfswerks in einem knappen Jahre geleistet haben, drüben sehr wenig bekannt ist. Man weiss bei Euch davon weniger als in den europäischen Judenheiten, selbst als in Amerika, weil diejenigen, die Eure öffentliche Meinung machen, davon nur ungern Kenntnis nehmen wollen.
Nicht nur die Leistungen der deutschen Juden seit 1933, auch die Herausforderungen der Zukunft seien einzigartig: Wir stehen doch heute vor der Tatsache, dass die Auswanderung im Grossen gesehen, keine Lösung des Problems der deutschen Juden bringt (wobei ich die Frage nach der Rettung des Judentums im Gegensatz zu der der Juden ganz offen lasse). Alles in Allem sind seit Beginn der Revolution 60 000 Juden hinausgegangen, von denen Palästina etwa 8 000 aufgenommen hat. Die Bedeutung Pal.[ästinas] wird dadurch in keiner Weise gerin-
38 Siehe Dina Porat, The Blue and the Yellow Stars of David: The Zionist Leadership in Palestine and the Holocaust, 1939–1945. Cambridge 1990.
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ger, und ein grosser Teil von dem, was wir hier tun, z. B. fast die gesamte Berufsumschichtung, kommt Pal. zugute.
Auswanderung, so Brodnitz weiter, ändere allerdings nichts an der Tatsache, dass der bei weitem grösste Teil der deutschen Juden sein Leben in Deutschland auf irgend eine Weise fortführen muss. Das haben Engländer, Holländer und der besonnenere Teil der Amerikaner auch begriffen, nur der radikal-zionistische Kreis in Amerika und der grösste Teil des Jischuw in Pal. will das nicht zur Kenntnis nehmen. Man stellt sich dort die Lösung der deutschen Judenfrage so vor, dass die Jugend nach Möglichkeit ganz auswandern soll, und der Rest soll in Schönheit sterben, um für den Rest des Weltjudentums die Ehre des Judentums zu retten. So geht es natürlich nicht.
Brodnitz zufolge machten sich die Juden in Palästina und in den USA zu wenig bewusst, dass es inkonsequent sei „in gleichem Atem den unmittelbar bevorstehenden Untergang des Hitlerismus zu prophezeien (im Gegensatz zu unseren Anschauungen) und auf der anderen Seite von den deutschen Juden einen selbstaufopfernden Heroismus zu verlangen, der keinem nützen würde.“ Unzulänglichkeiten aufseiten der deutschen Juden bei der Anpassung an radikal veränderte Zustände sah Brodnitz durchaus, doch fiel seine Bilanz aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen weitgehend positiv aus: Als Ganzes genommen, haben die deutschen Juden sich durchaus würdig und gut gehalten. Ich habe in der ersten Hälfte dieses Jahres in 18 deutschen Städten gesprochen, und habe im Ganzen ein durchaus erfreuliches Bild vorgefunden. Ich kann im Gegenteil nur sagen, dass der Heroismus, mit dem nicht nur fast die gesamte Jugend sich auf ein neues Leben umgestellt hat, sondern dass auch die Würde und Selbstbesinnung zum Jüdischen, die ein grosser Teil der älteren Generation den Ereignissen gegenüber aufgebracht hat, der Rückhalt für unsere Arbeit war. Dinge wie das Telegramm der Reichsvertretung in der Ritualmordnummerangelegenheit des Stürmer an Hitler haben im ausserdeutschen Europa grösstes Aufsehen erregt als eine Manifestation des Mutes der deutschen Juden.39 Mein Freund Geist (der amerikan. Konsul) sagte damals zu mir: ich ziehe den Hut vor Ihnen. Die Juden haben als einzige in Deutschland Männerwürde bewahrt und gezeigt (damals war der Streit mit den christlichen Konfessionen noch nicht im Gange)[.] Wir haben in gleicher Weise bei jeder dieser Gelegenheiten vor der Öffentlichkeit protestiert, selbst nach der Göbbelsrede im Sportpalast in einem Brief der Reichsvertretung an ihn selbst.40
Statt auf randständige Funktionäre wie Naumann hörte Brodnitz auf „die kleinen Juden“ in der Provinz mit ihrer „wirklich heroischen Ruhe und Würde“, die „einem Ideal zuliebe schwerstes auf sich zu nehmen bereit“ seien. Am Ende seines Briefes betonte Brodnitz die Unvorhersehbarkeit der Zukunft, die überzoge39 Siehe Kulka, Deutsches Judentum (wie Anm. 3), 139–141. 40 Siehe ebd., 139, Anm. 7.
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nen Optimismus ebenso illusorisch mache wie vorschnelles Urteilen: „Wie die Rechnung aufgehen wird, weiss keiner von uns. Ich wende mich immer gegen die, die glauben, dass alles wieder so werden wird, wie es war. Aber ebenso falsch erscheint es mir, nach den Erfahrungen eines Jahres Entscheidendes über die Zukunftsmöglichkeiten einer halben Million Menschen auszusagen.“41 Zum unverzichtbaren Kontext einer sozialgeschichtlich orientierten Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus gehören die Maßnahmen des Regimes, seiner Funktionäre und Profiteure. Bei Machtantritt Hitlers wusste keine Organisation im Deutschen Reich besser als der CV, mit welcher Art Partei man es nun zu tun bekommen würde; die Frage war, wie sich die Mehrheitsbevölkerung und ihre Eliten gegenüber der forcierten Spaltung der Gesellschaft in ‚Volksgenossen‘ und ‚Volksschädlinge‘ verhalten würden. Wir kennen die Antwort; 1933 und noch Jahre danach kannte man sie nicht. Die Orientierungslosigkeit des Vereins, sein Schwanken zwischen Hoffen und Hoffnungslosigkeit, Aktionismus und Attentismus reflektiert nicht nur die mentale Situation der deutschen Juden, sondern auch die chaotische Widersprüchlichkeit der NSJudenpolitik, die bis zu den Nürnberger Gesetzen selbst in der CV-Führung die Erwartung nährte, die Diskriminierungsdynamik werde sich über kurz oder lang erschöpfen. Anzeichen dafür, ja selbst für den Niedergang des gesamten Regimes, gab es, und die Lesart dieser Signale unterschied sich je nach Perspektive und verfügbaren Informationen. Der Brief von Friedrich Brodnitz vom September 1934 zeigt beispielhaft, wie unsicher die Zukunftsaussichten waren: Die ganze Entwicklung ist im Augenblick so offen, dass ich nicht leicht eine Linie angeben kann. Die Ereignisse des 30.7. [sogenannter ‚Röhm-Putsch‘, Anm. J. M.] haben eine gewisse Erleichterung für die Juden insoweit gebracht, als die Judenfrage in den Hintergrund trat. Auch in der immer geschlosseneren Abwehrstellung des Auslandes spielt die Judenfrage gar keine Rolle mehr gegenüber den anderen fundamentalen Rechts- und politischen Fragen. Ich glaube allerdings, dass dieser Ruhezustand nur scheinbar ist. Wenn die politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten sich in immer grösserem Masse häufen werden, wird man den Antisemitismus wieder für die Innendemagogie brauchen. Die Frage, ob sich das System halten wird, ist nicht eindeutig [zu beantworten]. Von einem schnellen Sturz kann keine Rede sein. Es ist möglich, dass die Schwierigkeiten eine Änderung erzwingen werden. Zwar ist die Unzufriedenheit weiter Kreise gross und wird immer grösser, aber einstweilen ist noch kein Machtfaktor zu erblicken, der dann die Macht übernehmen könnte. Wenn man nur, wie Ihr [in Palästina], eine Presse zweiten Ranges liest, die täglich das Ende prophezeit, dann wird man schon deshalb Manches an der Haltung der deutschen Juden nicht richtig sehen können. Ein radikaler Sturz der Nazis würde im Augenblick nur das Chaos bringen und jede Änderung des Regimes durch Evolution würde an der Judenfrage nichts Wesentliches ändern. Was der Winter bringen wird, weiss kei41 Brief von Friedrich Brodnitz, Lussinpiccolo, 08.09.1934 (wie Anm. 36), 2 f.
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ner von uns. Ohne einschneidende Vorgänge wird es bestimmt nicht abgehen, bei denen Juden auch wieder die Leidtragenden sein können. Das Mindeste ist, dass wir alle wie in einer belagerten Festung leben werden, schon wegen des Rohmaterialmangels.42
Der hier vorgestellte Brodnitz-Nachlass bietet Anreiz zum intensivierten Quellenstudium jenseits öffentlicher Verlautbarungen, um zu einer integrierten Betrachtung der CV-Geschichte zu gelangen. Erst aus der Zusammenschau von Verfolger- und Verfolgtengeschichte, von öffentlichen, privaten und klandestinen Reaktionen der von der NS-Politik Betroffenen auf der Basis interdisziplinär relevanter Fragestellungen erschließt sich die Lebenswirklichkeit nicht nur der deutschen Juden vor dem Holocaust, sondern auch anderer Opfergruppen der NS-Herrschaft. Das kann helfen, neues Licht auf die Spezifizität jüdischer Verfolgungserfahrung zu werfen. Als Erklärungsformel für die Persistenz jüdischer Hoffnung im Angesicht der Bedrohung verweist Jean Améry in unausgesprochener Anlehnung an Raul Hilberg auf „die seit zwei Jahrtausenden erstarrte Gewohnheit des schweigenden Erduldens“ innerhalb des Judentums.43 Doch nicht weniger relevant war die konkrete, unvorhersehbaren Veränderungen unterworfene Situation, mit der sich die deutschen Juden konfrontiert sahen, und die die Vielfalt und Komplexität ihres Denken und Handelns bedingte. Diese Vielfalt kritisch und quellengesättigt aufzuarbeiten bietet die CV-Geschichte weiterhin reichlichen Anlass. Gerade die Frage, welche Risiken Vereinsfunktionäre unterhalb jener Führungsebene, auf der Friedrich Brodnitz agierte, Tag für Tag im ganzen Land in ihrer Auseinandersetzung mit den Folgen der NS-Politik eingingen, wäre eingehendere Untersuchung wert.
42 Ebd., 2. 43 Jean Améry, Im Warteraum des Todes (1969), in: Jean Amery, Werke, Bd. 7: Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte, hrsg. von Stephan Steiner. Stuttgart 2005, 466. Zu Hilbergs Interpretation jüdischen Verhaltens siehe Olof Bortz, „I wanted to know how this deed was done“: Raul Hilberg, the Holocaust and History. Stockholm 2017, 127–140.
Marie Ch. Behrendt
Kein Epilog. Das organisationskulturelle Erbe des Central-Vereins in der Emigration Ein Strauß roter und weißer Frühblüher zierte die Postkarte, die Ernst G. Lowenthal am Abend des 30. März 1953 in seiner Bad Godesberger Wohnung vorfand.1 Anlässlich des 60. Gründungsjubiläums des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens grüßte der englische Zweig emigrierter Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen den einstigen Kollegen: „We are celebrating […] and are thinking of all the friends who once upon a time shared our work and our ideals“, hieß es auf der Adressseite. Mehr als 30 Personen hatten sich Ende Februar in London zu einem Empfang zusammengefunden und unterschrieben den postalischen Gruß, unter ihnen die ehemaligen Verbandsleute Eva und Hans Reichmann, der ehemalige Central-Verein-Jugendsekretär und Rechtsberater Werner und seine Frau Susi Rosenstock, die Rabbiner Max Eschelbacher und Arthur Loewenstamm, die Anwälte Fritz Goldschmidt und Bruno Woyda und die Germanistin Alice Apt.2 Freundschaftsbekundungen wie diese gaben dem letzten stellvertretenden Chefredakteur der C.-V.-Zeitung Ernst Lowenthal, der seit 1946 zwischen Deutschland und Großbritannien pendelte, ein Gefühl von Nähe und Beständigkeit. „Es ist selten, schön und erstaunlich, wie unser alter Kreis zusammenhält – quer durch die ganze Welt“,3 schrieb er 1953 seinen Freunden Alfred und Eva Hirschberg ins weit entfernte Brasilien. Auch dort gedachte man des Jubiläums des Central-Vereins. In dem von Hirschberg in São Paulo herausgegebenen deutsch-jüdischen Wochenblatt Crônica Israelita berichtete Werner Rosenstock, der mittlerweile in der deutsch-jüdischen Selbsthilfe in Großbritannien tätig war, von dessen Reise nach London. Nach 13 Jahren der transatlantischen Trennung stattete der letzte Chefredakteur der C.-V.-Zeitung Alfred Hirschberg dem jüdischen Organisationsleben Londons einen Besuch ab. Das Treffen trug sich im Februar 1953 zu, u. a. in den Räumlichkeiten der Wiener Library und der Association of Jewish Refugees und glich „einer Dezernentenbesprechung ehema1 Ernst Gottfried Lowenthal schrieb seinen Nachnamen vor seiner Einbürgerung in Großbritannien im Jahr 1946 „Löwenthal“. 2 Details zur Feierlichkeit vgl. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (SBB-PK), Nl. 266, Nr. 13: div. an E. G. Lowenthal, London, 26. März 1953; sowie Ignaz Maybaum, GermanJewish Citizen’s Union, in: Jewish Chronicle, 03.04.1953, 10. 3 SBB-PK, Nl. 266, Nr. 258: E. G. Lowenthal an Eva und Alfred Hirschberg, Bad Godesberg, 16. Sept. 1954. https://doi.org/10.1515/9783110675535-012
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liger Kollegen aus der Emser Strasse“, wie Rosenstock später in dem besagten Artikel schrieb.4 „Our movement […] never will die, but will revive again and again from the ashes, as our movement is eternal“,5 hatte es elf Jahre zuvor in einer humoristischen Londoner Bierzeitung der C.-V.-Zeitung anlässlich Kurt Alexanders Geburtstag im Jahr 1942 geheißen. Der ehemalige Vizevorsitzende des CentralVereins habe seinen Freundeskreis durch „Vereinssitzungen mit Würstchen, Kartoffelsalat und unvermeidlichem Bier“ geführt, hieß es dort auf Englisch, und seine Kollegen und Kolleginnen prophezeiten, dass er auch zukünftig mit „Stift und Zigarre“ für „unsere Vorstellung vom Judentum“ kämpfen würde.6 Behielten Alexanders Gratulanten und Gratulantinnen Recht? Was blieb nach erzwungener Emigration, Massenmord und den Umwälzungen jüdischen Lebens in der Nachkriegsphase der 1950er und 1960er Jahre über vom organisatorischen Werk und den liberalen Idealen der einstmals „wichtigste[n] deutschjüdischen politischen Organisation“7, dem Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens? Die Frage nach der Wirkungsgeschichte des Central-Vereins ist ebenso banal wie nicht gestellt: Weder die Geschichtsschreibung zum Verein noch die deutsch-jüdische Emigrationsforschung ist dem Erbe des größten deutsch-jüdischen Interessenverbandes außerhalb Deutschlands nachgegangen.8 Dabei fordert gerade die Nachkriegszeit dazu auf, die Organisation über den viel zitierten „Abwehr- und Gesinnungsverein“ hinaus auch in ihrer materiellen Form jüdischer Vergemeinschaftung, nämlich als elaborierten Protagonisten jüdischer organisationaler Arbeit bürgerlicher Prägung zu betrachten. In der Darstellung der sich global abspielenden Nachkriegsgeschichte des Central-Vereins konzentriert sich der vorliegende Beitrag daher auf die Organisationskultur des Vereins. 4 Werner Rosenstock, Wiedersehen mit einem Freunde, in: Crônica Israelita, 31.03.1953. Sofern nicht anders gekennzeichnet, sind biographische Daten inkl. Vereinsmitgliedschaften entnommen aus: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, München, und von der Research Foundation for Jewish Immigration, New York. 3 Bde. München 1980–1983. 5 SBB-PK, Nl. 266, Nr. 59: „C. V.-Zeitung“ [Schreibmaschinentyposkript], London, 13. Aug. 1942. 6 Ebd. 7 Michael Brenner, Central-Verein, in: Dan Diner (Hrsg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 1. Stuttgart 2011, 480–484. 8 Vgl. einen ersten Versuch der Autorin auf dem Workshop „Der Centralverein als Teil des deutsch-jüdischen Kultursystems?“, 7.–8. Dez. 2016, Universität Frankfurt a. M. Eine erste Veröffentlichung auf diesem Gebiet ist Johann Nicolai, „Fahrt nach Fernost“ – Der Fluchtweg des deutsch-jüdischen Journalisten Fritz Friedländer von Berlin über Shanghai nach Australien, in: Medaon 13,25, 2019. www.medaon.de/pdf/medaon_25_nicolai.pdf (01.06.2020).
Kein Epilog
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Wenn an dieser Stelle vom Central-Verein als Organisation die Rede ist, soll ausgerechnet dies vom Weg einer institutionsgeschichtlichen Erforschung des Vereins abbiegen. Organisational will hier verstanden werden als Strukturmerkmal des Central-Vereins, der in den fast 50 Jahren seines Bestehens zu einer Art Behörde für jüdische Selbsthilfe angewachsen war. Der Aufsatz zielt daher nicht nur auf die Emigrationsgeschichte des Vereins ab, sondern will auch einen Beitrag zur Reflexion der Bedeutung formaler Organisation im deutsch-jüdischen Leben vor 1938 leisten. In der Soziologie werden Organisationen über das Vorhandensein eines spezifischen Ziels, bestimmter Strukturen zur Umsetzung dieser Ziele, Arbeitsteilungen und Hierarchien, Optimierungsprozesse und ein eigenes Set an Wissen, Normen, Werten und Überzeugungen charakterisiert.9 Während in der Forschung häufig die Ziele der Organisationen und der Erfolg oder Misserfolg ihrer Erfüllung im Fokus stehen, ist die breitere Frage nach der Kultur formaler Organisation für die Geschichte des Central-Vereins nach seiner zwangsweisen Auflösung sinnhaft. So wird nicht nur zu zeigen sein, dass im Umfeld des Vereins überhaupt immer wieder bestimmte organisationale Formen gewählt wurden, sondern auch wie seine Mitarbeitenden als Tragende und Gestaltende des Wissens über zielführende Arbeitsweisen die Bedeutung ihrer Organisation bewerteten.10 Um dies zu erreichen, greift die vorliegende Darstellung auf retrospektives Material aus dem Nachlass Ernst Lowenthals sowie auf Veröffentlichungen in der Presse und dem deutsch-jüdischen Vereinsmilieu der 1950er Jahre zurück. Besonders aktiv waren ehemalige Mitglieder des Central-Vereins in London. Nicht nur stellte Großbritannien eines der wichtigsten Zufluchtsländer deutscher Juden und Jüdinnen dar. Hierhin rettete sich auch – teilweise in Form der Transmigration – ein Großteil der letzten Führungsriege des Central-Vereins. Funktionäre und Funktionärinnen wie Alfred Wiener, Eva Reichmann und Kurt Alexander pflegten nicht einfach bestehende Netzwerke, sondern arbeiteten in der neuen Umgebung in den von ihnen und ihrem Kollegenkreis neu geschaffenen Institutionen in der Wiener Library, der Association of Jewish Refugees, des United Restitution Organisation und ab 1956 im Leo Baeck Institut unter ähnlichen Hierarchien, teilten sich dieselben Räumlichkeiten und hatten durch 9 Zum Organisationsbegriff vgl. Karina Becker/Ullrich Brinkmann, Organisation, in: Johannes Kopp/Anja Steinbach (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie. Wiesbaden 2016, 262–270, hier 262 f.; sowie Lutz von Rosenstiel, Organisationsanalyse, in: Uwe Flick/Ernst von Kardoff/Ines Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek 2000, 224–238, hier 225. 10 Zur Relevanz individueller Wahrnehmung vgl. Rosenstiel, Organisationsanalyse (wie Anm. 9), 226; sowie Petra Hiller, Organisationswissen. Eine wissenssoziologische Neubeschreibung der Organisation. Wiesbaden 2005, insb. 25 (Organisationskultur).
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Freund- und Nachbarschaft täglich Gelegenheit zum gegenseitigen Austausch. Wenn der vorliegende Beitrag immer wieder auf diesen englischen Kreis ehemaliger Mitglieder des Central-Vereins zurückkommt, ist dies sicherlich dieser geschlossenen Migrationssituation zu verdanken. Dass es sich beim deutsch-jüdischen Organisationszentrum London um ein besonders herausragendes Beispiel, nicht aber um eine Ausnahme handelte, werden im Laufe des Beitrags Beispiele aus den USA, Deutschland und Brasilien zeigen.
Organisation jüdischen Lebens vor 1938 Der in der Blütezeit jüdischer Vereinsgründungen im Jahr 1893 geschaffene Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens war in vielerlei Hinsicht typisch für die deutsche Vereinslandschaft.11 Stellte das deutsche Vereinswesen den „Kristallisationskern politischer Emanzipationsansprüche“ (Wolfgang Hardtwig) dar, wählten auch die jüdischen Gründer des Central-Vereins die Vereinsform, um ihr Ziel von einer starken Verbindung deutscher Gesinnung und echter jüdischer Emanzipation zu verwirklichen.12 Wie zahlreiche Vereine des 19. Jahrhunderts war die Gründung des Central-Vereins die Reaktion auf eine Krise. Die Wahlerfolge antisemitischer Parteien in den frühen 1890er Jahren motivierten seine jüdischen Schöpfer, ihre seit der Reichsgründung gewonnene rechtliche Gleichstellung selbstbewusst zu verteidigen13 und in Konkurrenz zu den etablierten jüdischen Gemeinden gegen Antisemitismus „aus dem Geiste der gebildeten Mehrzahl heraus“14 vorzugehen. Konzentrierte sich der Verein anfänglich auf die Bekämpfung des Antisemitismus mit juristischen Mitteln, entwickelte er im Laufe der Jahre eine umfassende Öffentlichkeitsarbeit. Diese zielte bald nicht mehr nur auf die Aufklärung gegen Judenhass, sondern wollte 11 Zum deutschen Vereinswesen vgl. Wolfgang Hardtwig, Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1789–1948, in: Otto Dann (Hrsg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. (HZ Beihefte, 9.) München 1984, 11–50, hier 34; Klaus Tenfelde, Die Entfaltung des Vereinswesens während der Industriellen Revolution in Deutschland (1850–1873), in: ebd., 55–114, hier 62. Zum Central-Verein als Teil einer „jüdischen Organisationsrenaissance“ (Peter Pulzer) vgl. Yaakov Borut, The CV’s Role in the Development of a Jewish Sphere in Germany, in: Medaon 13,25, 2019, 2. www.medaon.de/pdf/ medaon_25_borut.pdf (01.06.2020). 12 Hardtwig, Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens (wie Anm. 11), 23. 13 Zur Gründungsgeschichte vgl. Avraham Barkai, „Wehr dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893–1938. München 2002, Kap. I. 14 [Raphael Löwenfeld], Schutzjuden oder Staatsbürger?. Berlin 1893, 14.
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auch nach innen das jüdische Selbstverständnis der deutschen Judenheit stärken. Nach 1933 erweiterte der Central-Verein seine Beratungstätigkeiten in rechtlichen Fragen sowie in der Berufsumstrukturierung. Zeitgenössischen Routinen entsprechend, erfolgte die Willensbildung im Central-Verein auf der Grundlage von Statuten, Gremien, formalen Abläufen und unterstützt durch eine organisationsinterne Presse.15 Im Laufe seines Bestehens entwickelte der Verein ein professionelles und reichsweit ausgebautes Netzwerk von Büros und Einzelpersonen, was ihm in der zionistischen Presse die durchaus nicht negativ gemeinte Bezeichnung „Beamten- und Vereins-Apparat“ einbrachte.16 Zwischen 1920 und 1938 funktionierte der Verein über eine Arbeitsteilung zwischen Zentrum und Peripherie. Die Berliner Hauptgeschäftsstelle galt zwar als tonangebend, sie hing gleichzeitig aber von der Zuarbeit der 15 weiteren Geschäftsstellen in deutschen Städten sowie von den 23 Landesverbänden und 634 Ortsgruppen ab.17 Gestützt auf die Basis verfügte Berlin über einen weit ausgebauten Informationsdienst und war in der Lage, effizient Publikationen zu verteilen oder Veranstaltungen zu planen.18 Sachkosten, Miete und Personalaufwendungen für seine 100 bis 120 im Hauptbüro sowie in Landesund Ortsverbänden Angestellten finanzierte der Verein über Mitgliedsbeiträge, Spenden und Erbschaften.19 Im späten Central-Verein pflegte man nach Außen das Image eines effizient arbeitenden Büros. Eine noch im Jahr 1936 vom Fotografen Herbert Sonnenfeld angefertigte Fotostrecke der Berliner Zentrale des Central-Vereins in der Emser Straße lichtet Mitarbeitende des Vereins im Umfeld von Bibliotheken, Karteien, Schreibmaschinen und Telefonen ab und inszeniert ihn somit als ein modernes Unternehmen mit zeitgemäßer Kommunikationstechnik, Aufschreibe- und Ordnungssystemen.20 Freilich muss die visuelle Betonung von Organisation, Struk15 Hierzu Tenfelde, Die Entfaltung des Vereinswesens (wie Anm. 11), 92, 96 und 111. 16 Vgl. o. A., Innerjüdische Wandlungen. Zur außerordentlichen Hauptversammlung des „Central-Vereins“, in: Jüdische Rundschau 40,84, 18.10.1935, 1 f., hier 2. 17 Ausdruck des hohen Maßes an Struktur sind auch die 25 Dezernate, in welche die Berliner Zentrale ihre Aufgaben unterteilte. Vgl. Arnold Paucker, Der jüdische Abwehrkampf gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Hamburg 1969, 45. Zur Diskussion um die Arbeitsteilung zwischen Peripherie und Zentrum vgl. Abraham Margaliot, Remarks on the Political and Ideological Development of the Centralverein Before 1914, in: Leo Baeck Institute Yearbook (LBIYB) 33, 1988, 101–106. 18 Zur Struktur und zum Mitarbeiterstab vgl. Paucker, Der jüdische Abwehrkampf (wie Anm. 17), 45. 19 Zur Finanzierung vgl. Barkai, Wehr dich (wie Anm. 13), 124 f., 472 f. (Anm. 27). 20 Vgl. Jüdisches Museum Berlin (JMB), Fotografische Sammlung. Herbert Sonnenfeld: FOT 88/500/119/009 bis 031. http://objekte.jmberlin.de/object/jmb-obj-149923 und http://objekte. jmberlin.de/object/jmb-obj-150029 (20.01.2020).
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tur und Geschäftigkeit vor dem Hintergrund interpretiert werden, dass diese in einer Zeit staatlicher Willkür und gebrochener Biografien aufgenommenen Bilder den jüdischen Betrachtenden möglicherweise Gefühle des Chaos und Kontrollverlusts nehmen sollten.21 Organisation war jedoch nicht nur ein Mittel zum Zwecke der Kontrolle und Sicherheit. Organisiertheit galt in den späten Kreisen des Central-Vereins als Wert an sich und die Fähigkeit, sich organisieren zu können, gehörte zum Kanon der dem deutschen Judentum zugeschriebenen Wesensmerkmale.22 Der – zugegebenermaßen nicht eindeutig dem Central-Verein zuzuordnende – Berliner Gemeinderabbiner Ignaz Maybaum etwa äußerte sich im Jahr 1934 in der vereinsnahen Zeitschrift Der Morgen unter dem Titel „Organisation der Diaspora“ zur Neugestaltung jüdischen Lebens in der Welt, nachdem das deutsche Judentum durch den Nationalsozialismus seine führende Rolle in der jüdischen Welt verloren habe. Laut Maybaum sei es die „Aufgabe der Stunde“, die Diaspora bewusst zur Gemeinschaft zu organisieren und hier könne man von den deutschen Juden lernen, denn: „Das Judentum Deutschlands war bis jetzt die am besten durchorganisierte Einheit, die das Judentum überhaupt besaß.“23 Nicht theologisch begründet, aber ähnlich in seiner Charakterisierung äußerte sich mehr als 15 Jahre später Ernst G. Lowenthal, der 1929 in den Mitarbeiterstab des Berliner Büros des Central-Vereins eingetreten war und Ende der 1940er Jahre für jüdische Hilfsorganisationen im besetzten Deutschland arbeitete. Für die Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland in Düsseldorf reflektierte Lo21 Johann Nicolai jedenfalls hat in seiner Monografie zur letzten Phase des Central-Vereins hinsichtlich des Ausbaus der juristisch-wirtschaftlichen Beratungsarbeit nach 1933 herausgestellt, wie der Verein vermied, bei den Ratsuchenden den Anschein von Massenbetrieb zu erwecken und so dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Zermürbung entgegenzuwirken. Vgl. Johann Nicolai, „Seid mutig und aufrecht!“ Das Ende des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1933–1938. Berlin 2016, 54, Anm. 153; sowie Theresia Ziehe, Fotografische Zeitzeugnisse: Zur Geschichte der Sammlung Herbert Sonnenfeld, in: Blogerim, 29.04.2014. www.jmberlin.de/blog/2014/09/fotografische-zeitzeugnisse-zur-geschichte-dersammlung-herbert-sonnenfeld (20.01.2020). 22 Vgl. Max Gruenewald, The Forgotten German Jew, in: Kurt Grossmann (Hrsg.), Ten Years American Federation of Jews from Central Europe, inc., 1941–1951. New York 1952, 16–19, hier 18. World Jewish Congress President Nahum Goldmann soll auf einer Jubiläums-Veranstaltung der deutsch-jüdischen Wochenzeitung Aufbau in den USA gesagt haben: „The traditional German-Jewish capacity for organisation could help to overcome the over-organised chaos of American-Jewish life.“ Bezeichnenderweise war es diese Aussage, die AJR Information in einer kurzen Meldung besonders hervorhob. Vgl. „Aufbau“ Jubilee, in: AJR Information XV, Januar 1960, 8. 23 Ignaz Maybaum, Organisation der Diaspora, in: Der Morgen 12,3, 1936, 101–109, hier 106. Zu Maybaums Nähe zum Central-Verein vgl. Jacob Boas, Countering Nazi Defamation. German Jews and the Jewish Tradition, 1933–1938, in: LBIYB 34, 1989, 205–226, hier 211.
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wenthal im Jahr 1949 über den deutsch-jüdischen Beitrag zum internationalen jüdischen Organisationswesen. Assimilation habe in Deutschland „immer eine positiv-jüdische Note bewahrt und eine bemerkenswerte geistige und organisatorische Stufe erreicht“, so der Funktionär. Als sei jüdisches Leben vorrangig organisiertes Leben, zählte Lowenthal zu den drei wichtigsten Eigenschaften des deutschen Judentums „das in Deutschland geprägte moderne Wissen vom Judentum […], die planmässige, gesamtverantwortliche Wohlfahrtspflege, und, nicht zuletzt, die Organisierungsfähigkeit, die in der Schaffung der Einheitsgemeinde und dem Auf- und Ausbau der jüdisch-religiösen und jüdisch-politischen Vereinigungen ihren sichtbarsten Ausdruck fand.“24 Eher scherzhaft blickte Hans Reichmann 1962 auf die deutsch-jüdische Ordnungsliebe zurück: „[H]ere is one characteristic of the German-Jewish group at which good-humoured fun is often poked; that is their typical German tendency to organise, even to over-organise. One should accept this general criticism as justified“.25
Fachleute „jüdischer Arbeit“ Innerhalb der jüdischen Organisationsstruktur Deutschlands betrachteten sich die Mitarbeitenden des Central-Vereins als Expertengruppe „jüdischer Arbeit“, wie es im Fachjargon hieß.26 Implizit konzipierte dieser Begriff jüdisches Leben überhaupt als organisationale Arbeit und brachte sowohl die Tätigkeit des Organisierens an sich, ihren Ort als auch eine Tugend zum Ausdruck. Das Selbstbild des Facharbeiters prägte die überwiegend männlichen Funktionäre des CentralVereins auch noch nach ihrer erzwungenen Emigration. Einem Großteil des Ber-
24 SBB-PK, Nl. 266, Nr. 3: Ernst G. Lowenthal, [Typoskript] Traditionstreue und Gesamtverantwortungsbewusstsein. Der jüdisch-organisatorische Beitrag aus Deutschland, 8. Aug. 1949. Zur Einheitsgemeinde vgl. auch Walter Breslauer, Vergleichende Bemerkungen zur Gestaltung des jüdischen Organisationslebens in Deutschland und England, in: Hans Tramer (Hrsg.), In Zwei Welten. Siegfried Moses zum fünfundsiebzigsten Geburtstag. Tel Aviv 1962, 87–96. 25 Hans Reichmann, Bearers of a Proud Tradition. The Jews from Germany and Austria, in: AJR Information XVII, Oktober 1962, 3. 26 Vgl. Alfred Hirschberg, Planung jüdischen Lebens, in: C.-V.-Zeitung, 26.09.1935, 1 f., in der Hirschberg vom fachlichen Können der Funktionäre spricht. Zum Begriff der „jüdischen Arbeit“ vgl. z. B. Alfred Hirschberg, 1936, in: C.-V.-Zeitung, 03.01.1936, 1; Manfred Swarensky, [Rede], Berlin, 16. Febr. 1938, Ausschnitte zitiert in: Nicolai, Seid mutig und aufrecht (wie Anm. 21), 275; Steven S. Schwarzschild, Selbstbetrachtungen bei einem Wendepunkt, in: Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 14.04.1950; Rosenstock, Wiedersehen (wie Anm. 4).
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liner Mitarbeiterstabs gelang bis 1939 die Flucht aus Deutschland.27 In ihren Aufnahmeländern angelangt und dort sofort selbst Hilfesuchende in einem ihnen noch unvertrauten jüdischen Organisationswesen, blickten Männer wie Alfred Hirschberg, Hans Reichmann und Kurt Alexander auf ihre neuen Umgebungen zuweilen mit dem Auge des deutsch-jüdischen Funktionärs. Den ehemaligen Central-Vereins-Syndikus Alfred Hirschberg zog es nach einer Odyssee von Sachsenhausen über Paris und London endgültig nach São Paulo. Als Hirschberg London im Jahr 1940 in Richtung Brasilien den Rücken kehrte, hinterließ er seinem Bekanntenkreis einen verbitterten Abschiedsbrief. In dem fünfseitigen Schreiben rechnete Hirschberg mit der britischen Internierungspolitik gegen deutsche „refugees“ ab, von der u. a. Hans Reichmann und Werner Rosenstock betroffen waren. Auch zur britischen Behördenkultur äußerte sich Hirschberg negativ. Über das Bloomsbury House in London, in dem sich die wichtigsten britischen Anlaufstellen für deutsch-jüdische Geflüchtete befanden, schrieb er in seinem bekanntermaßen mit Pathos aufgeladenem Stil: „[D]er Geist des Hauses war schlecht und unjüdisch von Grund auf. Und noch schlechter als der Geist war die organisatorische Gestaltung. […] [B]lutiger Dilettantismus tobte sich aus, wo man die besten Fachleute und fähigsten Organisatoren hätte einsetzen müssen.“28 Mit den „besten Fachleuten“ meinte Hirschberg keine anderen als seine deutsch-jüdischen Kollegen und Kolleginnen. An die britische Behörde legte er als Maßstab organisationalen Arbeitens den nicht namentlich erwähnten, aber doch implizierten Central-Verein an: „Mein engster Kreis, alles Menschen von bewährter organisatorischer Erfahrung, das beste jüdische Organisationsteam, das unbestrittenermaßen […] in Deutschland bestanden hat, bot unzählige Male seine ehrenamtliche Mitarbeit an. Bis auf unbedeutende gelegentliche Dinge liess man uns ausserhalb“.29 Die Selbstwahrnehmung als „jüdischer Facharbeiter“30 teilte auch Ernst G. Lowenthal. Der ehemalige Büroleiter und letzte stellvertretende Chefredakteur der C.-V.-Zeitung arbeitete nach seiner Emigration nach London zwischen 1939 und 1946 im Bloomsbury House.31 Lowenthal nahm sich Zeit seines Lebens als ein in Deutschland geschulter Fachmann wahr. Noch 40 Jahre nach seiner Aus27 Den in Deutschland verbliebenen und ermordeten Kollegen und Kolleginnen widmete der Council of Jews from Germany den Band: Bewährung im Untergang. Ein Gedenkbuch, hrsg. v. Ernst G. Lowenthal. Stuttgart 1965. 28 SBB-PK, Nl. 266, Nr. 257: Alfred Hirschberg an div. u. a. E. G. Lowenthal, London, 13. Aug. 1940, Bl. 3. 29 Ebd., Bl. 4. 30 Ebd., Nr. 258: Alfred Hirschberg an E. G. Lowenthal, S. Paulo, 6. Jan. 1948. 31 Zur Biografie Lowenthals vgl. Marie Ch. Behrendt, Nach der Flucht aus Deutschland. Mobile Formen deutsch-jüdischer Remigration am Beispiel der Biografie Ernst G. Lowenthals, in: Lisa
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wanderung beschrieb er 1986 – wie einst Hirschberg im Jahr 1940 – das englische Bloomsbury House aus der Perspektive des Besserwissenden: Als ein Mann, der aus Presse und Information […] kam, machte ich mir natürlich Gedanken darüber, wie manches besser oder einfacher organisiert werden könnte […]. Ich erhielt sogar die Erlaubnis, den „card room“ zu besichtigen […] das war die Registratur, in der die vielen Tausend Akten in Metallschränken aufbewahrt wurden […]. Aber dann, etwa Ende Mai 1939, als ich das Garantie-Department erlebte, hielt mich dessen Vorstand fest, weil er glaubte, ich könnte ihm bei dem Betrieb helfen.32
Ganz Bürokrat beschrieb Lowenthal im Verlauf seines Zeitzeugenberichts detailreich die verschiedenen Abteilungen des Hauses, den Zustand der Büroausstattung sowie die verwendeten Stempel, Farben und das Material der Mappen und Karteikarten. In seinem Briefwechsel mit Alfred und Eva Hirschberg in den 1940er und 1950er Jahren wies Lowenthal dem Central-Verein die Bedeutung einer Schule des Lebens zu, die ihn auf seine späteren Tätigkeiten vorbereitete.33 Deutlich formulierte auch Alfred Hirschberg eine Kontinuität zwischen jüdischer Arbeit in Deutschland und jüdischer Arbeit in der Emigration. Als er Anfang 1941 seine neue Stelle als Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde São Paulos und Herausgeber der deutsch-portugiesischen Gemeindezeitung Crônica Israelita antrat, schrieb er an Lowenthal: „It seems to me as if my whole life and work before was but the preparation for the task now before me. […] [T]here are many dozens of people who know me being formerly chairman of local groups of our former organisation. Some time I am inclined to think I were at Emserstr.“34
Klein/Ann-Kathrin Hübner/Meike Munser-Kiefer (Hrsg.), Nach der Flucht. Interdisziplinäre Perspektiven eines Netzwerks von Hochschulen und Zivilgesellschaft. Regensburg 2020, 142–152. 32 Ernst G. Lowenthal, Bloomsbury House. Flüchtlingsarbeit in London 1939 bis 1946. Aus persönlichen Erinnerungen, in: Ursula Büttner (Hrsg.), Verfolgung – Exil – Belasteter Neubeginn. (Das Unrechtsregime. Internationale Forschung des Nationalsozialismus, 2.) Hamburg 1986, 268–308, hier 274; und SBB-PK, Nl. 266, Nr. 287: E. G. Lowenthal an F. Goldschmidt, Hamburg, 8. Aug. 1951. 33 Zum Central-Verein als Ausbildungsstätte vgl. SBB-PK, Nl. 266, Nr. 258: Ernst G. Lowenthal an A. Hirschberg, 6. April 1956; sowie Wiener Library, London, RJ1(a)2: WDR Zeitzeichen. 100 [Hundert] Jahre „Centralverein“, interview with Lowenthal Feb. 1993 in Berlin, Tape 129 B, 24:28min. 34 SBB-PK, Nl. 266, Nr. 257: Alfred Hirschberg an Ilse und E. G. Lowenthal, S. Paulo, 24. Jan. 1941.
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Organisatorischer Neuanfang in der Emigration Die Selbstwahrnehmung der ehemaligen Central-Vereins-Mitarbeitenden als Fachleute führte in der Praxis dazu, dass sie sich nach ihrer Flucht sofort wieder an die „jüdische Arbeit“ machten. Vor allem im Fall derjenigen Personen, die ebenso im Deutschen Reich wie auch nach ihrer Auswanderung hauptberuflich im Organisationswesen tätig waren, ist die Bedeutung fortgesetzter jüdisch-organisationaler Arbeit als Brotverdienst nicht zu übersehen. Dass ehemalige Funktionäre und Funktionärinnen nach dem erzwungenen Bruch in der Emigration nach beruflicher Kontinuität strebten, führte dann strukturell dazu, dass die im Central-Verein gepflegte Organisationskultur auch außerhalb Deutschlands, in einer neuen Epoche jüdischen Lebens ihre Wirksamkeit entfaltete.35 So gründeten sich in jedem Land, das eine größere Zahl deutscher Juden und Jüdinnen aufnahm, Interessenvertreterorganisationen für die Geflüchteten aus Deutschland. Nicht selten waren ehemalige Mitarbeitende des Central-Vereins an der Initiative und Verwaltung dieser Verbände beteiligt. Die früheren Vereins-Mitglieder Werner Rosenstock, Kurt Alexander, Ernst G. Lowenthal und Eugen Mittwoch begründeten die politische Interessenvertretung Association of Jewish Refugees (London) gemeinsam mit den zionistischen Mitgliedern der Reichsvertretung Salomon Adler-Rudel und Adolf Michaelis. Der ehemalige Leiter des Rechtsschutzdezernats im Central-Verein Hans Reichmann und der ehemalige Rechtsberater Fritz Goldschmidt waren ebenfalls Gründungsmitglieder der Association of Jewish Refugees. Sie bauten 1948 gemeinsam mit Kurt Alexander die United Restitution Organisation auf. Der einstige stellvertretende Direktor des Central-Vereins Alfred Wiener führte sein anti-antisemitisches Dokumentationsprojekt erst in den Niederlanden und ab 1940 in London in Form der Wiener Library fort. Für die Wiener Library als Archivarin arbeitete die kulturpolitische Referentin des Central-Verein Eva Reichmann und als Chefbibliothekarin die ehemalige Verwaltungsangestellte der Reichsvertretung Ilse Wolff. Der frühere Herausgeber des Central-Verein-Organs Im deutschen Reich Kurt Alexander gründete nach seiner Umsiedlung in die USA im Jahr 1949 eine Zweigstelle der United Restitution Organisation in New York. Dort schloss er sich der American Federation of Jews from Central Europe an. Anders als die Association of Jewish Refugees, die wie der Central-Verein zentralistisch über ein 35 Zur Bedeutung beruflicher Kontinuität vgl. Marie Ch. Behrendt, Sorge und Status. Geschlechterperspektiven deutsch-jüdischer Rückwanderung nach 1945 am Beispiel von Ilse und Ernst G. Lowenthal, in: Kristina Schulz/Wiebke von Bernstorff/Heike Klapdor (Hrsg.), Grenzüberschreitungen: Migrantinnen und Migranten als Akteure im 20. Jahrhundert. München 2019, 86–97.
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Büro in der Hauptstadt und mehrere Ortsgruppen und Vertrauenspersonen strukturiert war, versammelte die American Federation unter ihrem Dach deutsch-jüdische Clubs und Assoziationen, die sich in den USA selbstständig formiert hatten. Gründer der American Federation war u. a. das ehemalige Hauptvorstandsmitglied Rudolf Callmann. Für die American Federation waren außerdem die ehemaligen aktiven Central-Vereins-Mitglieder Friedrich Brodnitz und Hugo Hahn tätig. Einen der letzten Syndizi des Central-Vereins Alfred Hirschberg verschlug es nach Brasilien, wo er in São Paulo die Geschäfte der zum Großteil aus deutschjüdischen Emigrierten bestehenden jüdischen Gemeinde führte. Darüber hinaus war Hirschberg führend in der CENTRA assoziiert, einem Dachverband, der die Interessen deutscher Juden und Jüdinnen in Südamerika vertrat. Die ehemalige Chefredakteurin der C.-V.-Zeitung Margarete Edelheim-Mühsam arbeitete nach 1938 für diverse US-amerikanische jüdische Organisationen, war ab 1955 für die Öffentlichkeitsarbeit des Leo Baeck Institutes zuständig und gab das Bulletin LBI News heraus.36 Strenggenommen waren die in den Emigrationsländern gegründeten Selbsthilfeorganisationen aus der Struktur der Reichsvertretung hervorgegangen. Ihre Leitungen setzten sich sowohl aus ehemaligen Mitgliedern des Central-Vereins wie auch aus Zionisten und Orthodoxen zusammen. Tatsächlich bezogen sich die Emigrantenorganisationen in ihren Selbstverständnissen direkt auf die Reichsvertretung, an deren „Leistungsfähigkeit“ und „Geiste des guten Willens“ man sich in den USA und Großbritannien ein Beispiel nehmen wollte.37 Wie schon im Fall der Reichsvertretung waren es allerdings vor allem Angehörige des Central-Vereins, die nach der Auswanderung die Initiative für die Gründung deutsch-jüdischer Organisationen ergriffen hatten und ihre Agenden inhaltlich prägten.38 Wenn auch offiziell weltanschaulich unabhängig, standen American Federation und Association of Jewish Refugees den Werten des Central-Vereins ideologisch sehr nahe.39 Die Argumentation des Central-Vereins hatte sich im 36 Marion Rowekamp, Margarete Muehsam-Edelheim, 1891–1975, in: Jewish Women’s Archive, Jewish Women. A Comprehensive Historical Encyclopedia. 27.02.2009. https://jwa.org/encyclopedia/article/muehsam-edelheim-margarete (18.01.2020). 37 Rudolf Callmann, Zum Gedaechtnis, in: Grossmann, Ten Years American Federation (wie Anm. 22), 6–8; sowie SBB-PK, Nl. 266, Nr. 261: o. A., [Typoskript] The Refugees Liason Group, [London], 31. März 1940. 38 Zur Dominanz des Central-Vereins in der Reichsvertretung vgl. Herbert A. Strauss, Jewish Autonomy within the Limits of National Socialist Policy. The Communities and the Reichsvertretung, in: Arnold Paucker (Hrsg.), Die Juden im Nationalsozialistischen Deutschland 1933– 1943. Tübingen 1986, 125–152, hier 133. 39 Parallelen zum Central-Verein haben auch Anthony Grenville bezüglich des Organisationsstils in der Association of Jewish Refugees und Ruth Nattermann hinsichtlich der Geschichts-
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Laufe der nationalsozialistischen Herrschaft zunehmend darauf konzentriert, nicht deutsch-jüdische Existenz, sondern überhaupt eine selbstbewusste Diaspora zu verteidigen.40 American Federation und Association of Jewish Refugees machten sich genau für diese Form jüdischen Daseins stark, wenn sie eine Integrationspolitik der deutschen Judenheit forcierten, die auf die Gewinnung von Staatsbürgerschaft sowie auf eine dauerhafte Existenz in den Aufnahmeländern zielte und auf gute Zusammenarbeit mit den jeweiligen Regierungen setzte. Darüber hinaus verschrieben sich die Organisationen der Wahrung und Erinnerung deutsch-jüdischer Werte und Traditionen, worunter man insbesondere die positive Erinnerung an die Geschichte des deutschen Judentums begriff.41 Auch in der konkreten Gestaltung neuer Projekte diente der Central-Verein nach 1939 direkt oder indirekt als Vorbild. Alfred Hirschberg etwa blätterte als Inspiration für seine brasilianische Zeitung immer wieder auch durch alte Ausgaben der C.-V.-Zeitung.42 Im Oktober 1945 gründete er den Universo-Verlag, der eine Lücke auf dem brasilianischen Buchmarkt mit jüdischer Apologetik füllen sollte. Hirschberg verstand dieses Projekt explizit als Nachfolge des Philo-Verlags, doch änderte er „den Namen aus bestimmten Gründen“, wie er seinem Freund Lowenthal vielsagend schrieb.43 Eine Neuauflage erfuhr das 1934 u. a. vom Vertriebsleiter der C.-V.-Zeitung Hans Oppenheimer herausgegebene PhiloLexikon. Es erschien 1967 unter seiner redaktionellen Betreuung von den USA aus als Lexikon des Judentums bei Bertelsmann.44 Gestalterische und inhaltliche Ähnlichkeiten sind des Weiteren zwischen der C.-V.-Zeitung und dem Vereinsorgan der Association of Jewish Refugees AJR Information festzustellen. Das maßgeblich durch den letzten stellvertretenden Chefredakteur der C.-V.-Zeitung Ernst Lowenthal sowie durch Kurt Alexander und Werner Rosenstock beeinflusste Monatsblatt machte nicht nur in der Verwendung des Vereins-Akronyms Anleihen bei der C.-V.-Zeitung. Auch Rubriken wie „The Association at Work“45 hatten mit der Überschrift „Der Centralverein an der Arbeit“ eine wörtliche Entpolitik des LBI London bemerkt. Vgl. Ruth Nattermann, Deutsch-jüdische Geschichtsschreibung nach der Schoah. Die Gründungs- und Frühgeschichte des Leo Baeck Instituts. Essen 2004, 224; und Anthony Grenville, The Association of Jewish Refugees, in: ders./Andrea Reiter (Hrsg.), ‚I didn’t want to float; I wanted to belong to something‘. Refugee Organizations in Britain 1933–1945. (Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies, 10.) London 2008, 89–111, hier 89 f. 40 Vgl. Nicolai, Seid mutig und aufrecht (wie Anm. 21), 173, 206, 275 und 281. 41 Vgl. Nattermann, Deutsch-jüdische Geschichtsschreibung (wie Anm. 39). 42 SBB-PK, Nl. 266, Nr. 259: E. u. A. Hirschberg an [E. G. Lowenthal], S. Paulo, 21. Jan. 1965. 43 Ebd., Nr. 257: A. Hirschberg an E. G. Lowenthal, S. Paolo, 10. Okt. 1945. 44 John F. Oppenheimer/Emanuel Bin Gorion (Hrsg.), Lexikon des Judentums. Gütersloh 1967. 45 Vgl. AJR Information II, März 1947, 39, später dann AJR at Work; sowie AJR Information XV, Januar 1960, 11.
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sprechung in der C.-V.-Zeitung.46 Inhaltlich wiederholten sich in AJR Information Themen und journalistische Stilformen, die sich bereits durch die Seiten der C.-V.-Zeitung gezogen hatten. So etwa das Motiv „des jüdischen Beitrags zur deutschen Kultur“, Jubiläumsartikel für die politische und kulturelle Elite deutschsprachiger Juden und Jüdinnen oder Sonderbeilagen an historischen Anniversarien. Dasselbe gilt auch für die Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Düsseldorf, deren Kulturressort Ernst G. Lowenthal als freier Mitarbeiter und Ansprechpartner sein Gepräge verlieh.47
Das geistige Erbe des Central-Vereins Auf die Kehrseite des jüdischen Organisationstalents machten Raul Hilberg und Hannah Arendt in den 1950er und 1960er Jahren aufmerksam. Nach Hilberg hatte sich die kooperierende jüdische Gemeindebürokratie im Deutschen Reich zum Werkzeug der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie machen lassen.48 In Arendts von Zeitgenossen kontrovers diskutiertem Buch Eichmann in Jerusalem heißt es diesbezüglich: But the whole truth was that there existed Jewish community organizations […]. Wherever Jews lived, there were recognized Jewish leaders, and this leadership, almost without exception, cooperated in one way or another, for one reason or another, with the Nazis. The whole truth was that if the Jewish people had really been unorganized and leaderless, there would have been chaos and plenty of misery but the total number of victims would hardly have been between four and a half and six million people.49
Arendt und Hilberg erwähnten in ihren Darstellungen u. a. Leo Baeck und kritisierten dessen Rolle als Vertreter der Reichsvereinigung, einer ihrer Analyse nach selbstgeschaffenen jüdischen Verwaltungsmaschine, die vom nationalsozialistischen Regime zur Kontrolle und letztlich Vernichtung der jüdischen Gemeinde genutzt wurde.50 Diese medienwirksame Kritik an einer der prominentesten Figuren des deutschen Judentums provozierte empörte Reaktionen, nicht nur unter den ehemaligen Verbandsleuten des Central-Vereins. Eine un46 Vgl. C.-V.-Zeitung, 15.11.1929, 5 f. 47 Zur Präsenz dieses Themas in der Presse des Central-Vereins vgl. Dominic Bitzer, Im deutschen Reich. Das publizistische Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Diss. Phil. Aachen 2013, 184. 48 Raul Hilberg, The Destruction of the European Jews. London 1961, 122 f. 49 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil (1963). London 2006, 125. 50 Hilberg, The Destruction (wie Anm. 48), 125.
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aufgeregte Antwort verfasste der Historiker und letzte Emigrationsbeauftragte der Reichsvertretung Hanns Reissner für die Londoner Zeitschrift AJR Information, in der er die Haltung der jüdischen Gemeindeführung – und damit seine eigene – mit dem Argument rechtfertigte: „we tried to conduct an orderly dignified process of liquidation“.51 Nicht erst seit Arendts Kritik an der Reichsvertretung und an den Judenräten setzten sich Verbandsfunktionäre selbstkritisch mit der eigenen Verantwortung an der Möglichmachung der großen Katastrophe auseinander. Schon im Jahr 1953 fasste Hans Reichmann anlässlich des 80. Geburtstags Leo Baecks die Geschichte des Central-Vereins in einem Aufsatz zusammen und reflektierte darin über die Mitschuld der Verbandsfunktionäre an den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands. Reichmann warf die Frage auf, ob sich „die Männer des Centralvereins in tragische Schuld [verstrickten], weil sie sich noch nach dem Ausbruch der nationalsozialistischen Revolution vermassen, das Unheil aufzuhalten“. Nicht von seinen liberalen Überzeugungen abrückend, aber selbstkritisch bejahte Reichmann die Verantwortung: Gewiss, auf den Männern des Centralvereins ruht eine tragische Schuld. Sie glaubten, weil sie Juden waren, an ewige unverletzbare Werte. Sie vertrauten auf den Sieg der Gerechtigkeit, sie hofften, dass Menschlichkeit und freiheitliches Streben sich als stärker erweisen würden als die Macht des Terrors […]. Der Centralverein und das deutsche Judentum zahlten für diesen Glauben mit dem Untergang.52
Ebenfalls in Frageform, aber ohne Antwort widmete sich Reichmann der Zukunft der vom Central-Verein vertretenden Ideale: „Sollen in Zukunft Juden nicht mehr als integrierende Bestandteile der Völker und gleichzeitig als selbstbewusste Juden leben? Sind die Ideen der Demokratie, der Freiheit und des Rechts durch den Triumph ‚widerlegt‘, den die Kräfte der Barbarei von 1933– 1945 in Deutschland und anderwärts feiern konnten?“53 Weniger zögerlich beantwortete diese Fragen im selben Jahr Ignaz Maybaum. Der meinungsstarke Rabbiner gehörte zu einer Reihe dem Central-Verein nahestehenden Persönlichkeiten, die anlässlich des Gründungsjubiläums des Vereins Artikel in jüdischen und nichtjüdischen Zeitungen in Großbritannien und der Bundesrepublik lancierten. Als ob eine regelrechte Gedenkkampagne 51 H. G. Reissner, Jewish Resistance under the Nazis. Opportunities and Limitations, in: AJR Information XVII, Juni 1962, 1. Siehe auch Friedrich Brodnitz, Die Reichsvertretung der deutschen Juden, in: Tramer, In Zwei Welten (wie Anm. 24), 106–113, hier 107 f. 52 Hans Reichmann, Der Centralverein deutscher Staatsbuerger juedischen Glaubens, in: Council for the Protection of the Rights and Interests of Jews from Germany (Hrsg.), Festschrift zum 80. Geburtstag von Leo Baeck am 23. Mai 1953. London 1953, 63–75, hier 75. 53 Ebd.
Kein Epilog
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geplant wurde, erschienen Beiträge in AJR Information (London), Jewish Chronicle (London), Neue Zeitung (München), Frankfurter Rundschau, Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland (Düsseldorf), Rheinischer Merkur sowie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 54 Ihre Autoren würdigten die Leistungen des Central-Vereins in seinem Kampf für die volle Emanzipation, die Bewahrung jüdischer Tradition und die Abwehrversuche gegen den Nationalsozialismus. Der Rabbiner Ignaz Maybaum ging sogar so weit, die Arbeit des Central-Vereins vor den anglo-jüdischen Lesern und Leserinnen des Jewish Chronicle zum Vorbild für zeitgenössische jüdische Politik zu erklären. Der „moderne Jude“ wolle ein Staatsbürger sein, so Maybaum. Seit der Gründung des jüdischen Staates zerbrächen sich israelische Rechtgelehrte und Theologen die Köpfe darüber, wie das Dilemma zwischen „Staatsbürgerschaft und Judentum“ gelöst werden könne.55 In einer Zeit, in der die Diaspora-Idee als „tot“ 56 und der Central-Verein als gescheitert galten, verteidigte Maybaum das Existenzrecht von Juden und Jüdinnen außerhalb Israels unter Rückgriff auf ebendiesen Verein: The C. V. movement can be understood and appreciated in Anglo-Jewry to-day for one simple reason. If the Balfour Declaration can be called the magna Carta to Zionism, Jewry of the Diaspora also wants and also needs its Balfour Declaration solemnly declaring that the Jew is in all the places of civilisation by right and not by sufferance. For that other Balfour Declaration the leaders of the ‚C. V.‘ fought their battle.57
Dieser Abstecher in die Ideengeschichte der 1950er Jahre verdeutlicht, wie ehemalige Funktionäre nicht nur um eine Rehabilitierung des Vereins bemüht waren, sondern auch beabsichtigten, ihre jüdische Arbeit im Geiste einer selbst-
54 H[ermann] Berlak, A Chapter of Our History. 60th Anniversary of the C. V., in: AJR Information XIII, März 1953, 5; Ernst G. Lowenthal, Es war nicht umsonst. Um das Recht des jüdischen Menschen / Zur 60. Wiederkehr der Gründung des Centralvereins, in: Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 20.03.1953; ders., Ein Vorkämpfer des inneren Friedens. Vor 60 Jahren wurde der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ gegründet, in: Neue Zeitung, 26.03.1953; Max Eschelbach [sic], Deutschtum und Judentum. Der „Centralverein“ in Kaiserreich und Republik, in: Rheinischer Merkur, Ostern 1953, 2; Alfred Wiener, Der Central-Verein. Zum sechzigsten Jahrestag seiner Gründung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.03.1953, 2; ders., Der Centralverein, in: The Synagouge Review, April 1953; Bruno Weil, Im Kampf gegen Antisemitismus, in: Frankfurter Rundschau, 02.04.1953. 55 Maybaum, German-Jewish Citizen’s Union (wie Anm. 2); als Reaktion darauf M[oritz] Fleischmann, German Jewish Citizen’s Union. Protest Against Revival, in: Jewish Chronicle, 24.04.1953, 21. 56 Max Gruenewald, Das Ende der Diaspora-Idee. Ein Rückblick auf Atlantic City, in: Aufbau 10,50, 15.12.1944, 13 und 16. 57 Maybaum, German-Jewish Citizen’s Union (wie Anm. 2), 10.
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bewussten Diaspora und einer mit allen staatsbürgerlichen Rechten ausgestatteten jüdischen Bevölkerung fortzuführen.58 Die Wirkungsgeschichte des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens zeigt, dass es sich bei den in der Emigration gegründeten deutsch-jüdischen Organisationen nicht um blanke Neugründungen handelte. Als Tragende einer vom Central-Verein geprägten Organisationskultur verließen sich die ehemaligen deutsch-jüdischen Verbandsfunktionäre und -funktionärinnen in ihren Emigrationsländern nicht auf bereits bestehende jüdische Strukturen. Sie griffen auf das Mittel formaler Organisation zurück, um jüdischen Geflüchteten aus Deutschland selbstverwaltet die Integration zu erleichtern. Sie hielten in der Zerstreuung ihre in Deutschland geknüpften Freundschaften und kollegialen Beziehungen aufrecht und ermöglichten den geschaffenen deutschjüdischen Kultureinrichtungen und Interessenvertretungen, sich weltweit zu vernetzen. Auf diese Weise transferierten sich politische Wertorientierungen, Hierarchien und Arbeitsweisen ins Ausland. Der berufliche Werdegang ehemaliger Mitarbeitender des Central-Vereins nach 1938 stellt vor dem Hintergrund ihrer Arbeitsethik, ihres Verständnisses formaler Organisation als jüdische Tugend, ihres Selbstbildes als Facharbeiter und ihres Strebens nach Weiterführung dieser Werte die den Umständen entsprechende Fortsetzung deutsch-jüdischer Organisationskultur in der Emigration dar.
58 Für eine frühe Rechtfertigung der Politik des Central-Vereins unter dem Nationalsozialismus vgl. Germania Judaica, Köln, D2 [Kopie aus Yad VaShem]: Alfred Wiener, Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Its Meaning and Activities [Vervielfältigter Bericht, Anfang 1945 vor Kriegsende in New York abgefasst]. Ich danke Rebekka Denz für diesen Hinweis.
Presse
Kerstin Schoor
„Unser Haus brennt…“ – Der Topos vom ‚Haus‘ im Kontext der Emanzipations- und Abwehrdiskurse in der C. V.-Zeitung von 1922 bis 1938 Avraham Barkai erinnert in seiner Darstellung der Geschichte des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) an eine verbreitete Metapher in der deutschsprachigen Presse der 1890er Jahre. Sie begleitete die immer drängender werdenden Forderungen nach einer Abwehr antisemitischer Angriffe auf die jüdische Bevölkerung in Deutschland und verweist rückblickend zugleich eindrucksvoll auf eine der wesentlichen Motivationen für die Gründung des Centralvereins selbst: „Unser Haus brennt“, hieß es damals. „Die Wand unseres Wohnhauses ist schon heiß, wollen wir warten, bis das Feuer hell-lodernd brennt?“1 Im Fragegestus ist der Metapher vom brennenden (Wohn-)Haus die Aufforderung an seine Bewohner verbunden, die existentielle Bedrohung ihres Hauses zu erkennen und dadurch eine bislang passive Haltung dieser Gefahr gegenüber zu überdenken. Der Topos vom ‚Haus‘ erscheint dabei bereits in seinen mehrfachen semantischen Dimensionen: in der Formulierung vom „Wohnhaus“, als einer gebauten Behausung menschlichen Lebens in ihrem – zumindest in der bürgerlichen Gesellschaft – durchaus privaten Charakter. Als ein sozietärer Raum in seiner je historisch gesellschaftlichen Konkretion, fassbar im vorangestellten pluralen Possessivpronomen „unser“, der der Privatheit bürgerlichen Wohnens einen öffentlichen Raum zur Seite stellt, im Sinne eines „System[s] räumlicher Organisation vielschichtiger und komplexer Bereiche des Lebens menschlicher Gemeinschaften“.2 Und schließlich als metaphorischer Ausdruck, der im übertragenen Sinne an die Entwicklung von Abwehrstrategien appelliert und damit inhaltlich bereits die spätere zentrale konzeptionelle Ausrichtung des Centralvereins auf die Dokumentation und Abwehr antisemitischer Angriffe auf die jüdische Bevölkerung in Deutschland vorwegnimmt.
1 Zit. nach: Avraham Barkai, „Wehr Dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893–1938. München 2002, 22; 383 (hier Anm. 14). Vgl. dazu auch: Jacob Borut, The Rise of Jewish Defence Agitation in Germany, 1890–1895. A Pre-History of the C. V.?, in: Leo Baeck Institute Yearbook (LBIYB) 36, 1991, 59–96. 2 Lothar Kühne, Haus und Landschaft. Aufsätze. Dresden 1985, 9–46, hier 23. (Erstpublikation des gleichnamigen Aufsatzes in: Weimarer Beiträge 20,10, 1974, 62–94). https://doi.org/10.1515/9783110675535-013
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Ob im manifest-materialen Sinne praktizierter Häuslichkeit und Lebensweise oder in einer metaphorischen Dimension des Topos wird das ‚Haus‘ bereits seit Längerem in den verschiedensten Disziplinen intensiv im Kontext der Entwicklung und Transformation gesellschaftlicher Beziehungen in unterschiedlichen historischen Perioden bzw. im Blick auf die Formierung personaler wie nationaler Identitäten untersucht. So verwies der amerikanische Psychologe Marc Fried schon 1963 darauf, in welchem Maße „a sense of spatial identity is fundamental to human functioning“.3 Darauf basierende Konzepte räumlicher Identität gewannen in den letzten Jahrzehnten nicht nur in den Sozialwissenschaften zunehmend an Aufmerksamkeit.4 Anthropologische Arbeiten wie sozialgeschichtliche Untersuchungen zum Alltagsleben in modernen Gesellschaften interessieren sich für Konzepte und Erfahrungen vom ‚Haus‘ „as a key element in the ‚lived space‘ of the modern era.“5 Kunst- wie literaturwissenschaftliche Untersuchungen verfolgten dessen Spuren in künstlerisch-ästhetischen wie literarischen Entwicklungen.6 In Analysen von Flucht- und Migrationsbewegungen 3 Marc Fried, Grieving for a Lost Home: Psychological Costs of Relocation, in: Leonard J. Duhl (Hrsg.), The Urban Condition: People and Policy in the Metropolis. New York 1963, 156. 4 Vgl. u. a. Harold M. Proshansky/Abbe K. Fabian/Robert Kaminoff, Place-Identity: Physical World Socialization of the Self, in: Journal of Environmental Psychology 3,1, 1983, 57–83; Mary Douglas, The Idea of a Home: A Kind of Space, in: Social Research 58,1, 1991, 287–307; Arijit Sen/Lisa Silverman (Hrsg.), Making Place, Space and Embodiment in the City. Bloomington 2014; Judith Flanders, The Making of Home: The 500-Year Story of How Our Houses Became Our Homes. New York 2014; Guy Miron, The Home Experience of German Jews under the Nazi Regime, in: Past & Present 243,1, 2019, 175–212. 5 Miron, The Home Experience of German Jews under the Nazi Regime (wie Anm. 4), 176 f. Bei Miron findet sich zudem eine ausführlichere Zusammenfassung zum Forschungsstand. Ihm danke ich zudem zahlreiche produktive Anregungen für die vorliegende Untersuchung. Verwiesen sei darüber hinaus auf: Joachim Schlör, „Take Down Mezuzahs, Remove Name-Plates“: The Emigration of Objects from Germany to Palestine, in: Simon J. Bronner (Hrsg.), Jewishness: Expression, Identity, and Representation. (Jewish Cultural Studies, 1.) Oxford/Portland 2008, 133–150; Julia Brauch/Anna Lipphardt/Alexandra Nocke (Hrsg.), Jewish Topographies: Visions of Space, Traditions of Place. Burlington VT 2008; Barbara E. Mann, Space and Place in Jewish Studies. New Brunswick/New Jersey/London 2012; Paolo Giaccaria/Claudio Minca (Hrsg.), Hitler’s Geographies: The Spatialities of the Third Reich. Chicago 2016; Simone Lässig/Miriam Rürup (Hrsg.), Space and Spatiality in Modern German Jewish History. New York/Oxford 2017. 6 Vgl. u. a. Kathy Mezei/Chiara Briganti, Reading the House: A Literary Perspective, in: Signs 27,3, 2002, 837–846; Colin Painter (Hrsg.), Contemporary Art and the Home. Oxford 2002; Brigitta Schmidt-Lauber, Gemütlichkeit: Eine kulturwissenschaftliche Annäherung. Frankfurt a. M. 2003; Kerstin Schoor, Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto: Deutsch-jüdische literarische Kultur in Berlin zwischen 1933 und 1945. Göttingen 2010; Nacim Ghanbhari, Das Haus: Eine deutsche Literaturgeschichte 1850–1926. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 128.) Berlin/Boston 2011; Marcus Twellmann, Das deutsche Bürgerhaus. Zum ökonomisch Imaginären in Gustav Freytags ‚Soll und Haben‘, in: Deutsche Vierteljahres-
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steht eine Thematisierung des ‚Hauses‘ als „highly fluid and a contested side of human existence that reflects and reifies identities and values“7 häufig methodisch zentral, wenn es um die Untersuchung von Verlusterfahrungen und damit einhergehender Emotionen, von Erinnerungen oder von lebensgeschichtlichen Neuanfängen in anderen kulturellen Räumen geht. Historikerinnen und Historiker des deutschen Judentums analysieren Darstellungen und Konzeptionen vom ‚Haus‘ bereits seit Längerem im Kontext jüdischer Emanzipations- und Integrationsbemühungen in die deutsche Gesellschaft und im weiteren Kontext von Moderne und Nationalismus,8 in die sich partiell auch die folgende literaturwissenschaftliche Untersuchung integriert. Auch diese geht davon aus, dass das Haus als solches nicht lediglich baulich und in seinen materialen Aspekten zu fassen ist. Ungeachtet von den mit der Moderne einhergehenden Prozessen einer Vereinzelung und tendenziellen Anonymisierung des (städtischen) Hauses und seiner Bewohner, hat es immer auch Versuche gegeben, einzelne Häuser als gemeinschaftsstiftende öffentliche Gebäude zu errichten, über die je nach den obwaltenden gesellschaftlichen Verhältnissen die Herrschenden wie die Beherrschten ihre sozialen Rollen der Macht und der Assoziation inszenierten und genossen: religiös, politisch und ästhetisch. Dazu zählen in erster Linie Kirchen als ‚Haus Gottes‘ für ‚alle‘, Rathäuser als Häuser der ‚Bürgervertreter‘ und Kultureinrichtungen aller Art und in differenzierter sozialer Funktion.9
In diesem Sinne erscheint daher auch der Topos vom ‚Haus‘ durch eine Dialektik von Privatem und Öffentlichem geprägt und kann zu einem Kristallisationspunkt werden, in dem sich die widersprüchliche soziale wie gesellschaftliche
schrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 87/3, 2013, 356–385; Thomas Wegmann, Über das Haus. Prologomena zur Literaturgeschichte einer affektiven Immobilie, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 26,1, 2016, 40–60; Gali Drucker Bar-Am, May the Makom Comfort you – Place, Holocaust and Remembrance and the Creation of a National Identity in the Israeli Yiddish Press 1948–1961, in: Yad Vashem Studies 42,2, 2014,155–195. 7 Tiina Peil, Home, in: Nigel Thrift, Rob Kitchin (Hrsg.), International Encyclopedia of Human Geography. Amsterdam 2009, 180–184, hier 180. 8 Vgl. u. a. Marion A. Kaplan, The Making of the Jewish Middle Class: Women, Family and Identity in Imperial Germany. New York/Oxford 1991; Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum: Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert. Göttingen 2004; Moritz Föllmer, Das Apartment, in: Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hrsg.), Orte der Moderne: Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2005, 325–334; Nancy R. Reagin, Sweeping the German Nation: Domesticity and National Identity in Germany, 1870–1945. Cambridge 2007. 9 Bruno Flierl, Haus, in: Wolfgang Fritz Haug/Frigga Haug/Peter Jehle u. a. (Hrsg.), HistorischKritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 5. Berlin 2001, 1182.
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Entwicklung einer Zeit im Umbruch ein Bewusstsein gibt. Die Veränderungen in den sozial-räumlichen Beziehungen zwischen Individuum und Gemeinschaft innerhalb des Hauses sowie nach außen in die bürgerliche Gesellschaft können damit zugleich die Etappen verdeutlichen, in denen sich im Hinblick auf Bevölkerungsminderheiten Prozesse von Emanzipation und Integration, Abwehr, Ausgrenzung oder Vertreibung vollzogen und noch immer vollziehen. Die folgenden Beobachtungen zum Topos des ‚Hauses‘ in der ab Mai 1922 als Wochenschrift erscheinenden C. V.-Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum verstehen sich vor diesem Hintergrund nicht ausschließlich als Beitrag zu bislang vorliegenden Analysen der Zeitschrift.10 Für den Zeitraum von 1922 bis zum Verbot der Zeitung in Nazi-Deutschland im November 1938 fragen sie zugleich exemplarisch nach dem wissenschaftlichen Potential der thematischen Fokussierung eines – häufig quer zu den politischen Leitartikeln liegenden – publizistischen Nebenschauplatzes für die Betrachtung der Geschichte des Centralvereins selbst bzw. auch des von ihm vertretenen Teils einer weitgehend akkulturierten bürgerlichen Bevölkerungsminderheit deutscher Juden. Auf der Basis punktueller Auswertungen der Jahrgänge 1922, 1929/30, 1933, 1935 und 1938 der C. V.-Zeitung11 soll diese Geschichte weiter befragt und differenziert werden. Unterschieden von historisch oder sozialgeschichtlich ausgerichteten Untersuchungen, die sich – wie beispielsweise Guy Mirons Studie The Home Experience of German Jews under the Nazi Regime (2019) – für die Alltagsgeschichte des deutschen Judentums mit der Frage nach „their changing perceptions of home corresponded with their struggles to redefine their personal agency“12 interessieren und dazu die unterschiedlichsten Quellen und auch unveröffentlichte Texte (Tagebücher, Briefe u. ä.) betrachten, kann die folgende Untersuchung eines öffentlich agierenden Publikationsorgans dazu nur punktuelle Anregungen liefern. Es sind hier vor allem die öffentlichen Diskurse innerhalb eines spezifischen, C. V.-nahen Adressatenkreises, die aus einer veränderten Perspektive weiter differenziert werden können. Dennoch verweisen auch die Beiträge der C. V.-Zeitung (nicht zuletzt im Feuilleton, in Annoncen oder Werbetexten) im Blick auf häusliche Erfahrungen durchaus auch auf Erkenntnisse zum Alltagsleben deutscher Juden in der Weimarer Republik sowie über deren sich wandeln10 Vgl. u. a. Reiner Bernstein, Zwischen Emanzipation und Antisemitismus. Die Publizistik der deutschen Juden am Beispiel der C. V.-Zeitung, Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1924–1933. Diss. Berlin 1969; Katrin Diehl, Die jüdische Presse im Dritten Reich. Zwischen Selbstbehauptung und Fremdbestimmung. Tübingen 1997. 11 Die zeitlichen Einschnitte folgen Zäsuren, die in den vorliegenden Forschungen zur Geschichte des Centralvereins bereits thematisch wurden, vgl. dazu auch die ausführliche Bibliografie bei Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 1), 478–488. 12 Miron, The Home Experience of German Jews under the Nazi Regime (wie Anm. 4), 79.
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des Selbstverständnis in Nazi-Deutschland angesichts zunehmender Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben, existentieller Not und Verfolgung.
Zwischen Akkulturationsbestrebungen und Abwehr des Antisemitismus: Der Topos vom ‚Haus‘ in der ersten Hälfte der 1920er Jahre Die Berichterstattung in der C. V.-Zeitung fokussiert vom ersten Jahrgang 1922 an – und darin übereinstimmend mit den allgemeinen Aktivitäten des Centralvereins – vor allem Häuser, die dem Prozess der Vereinzelung und tendenziellen Anonymisierung des modernen bürgerlichen Subjekts als gemeinschaftsstiftende öffentliche Gebäude zur Beförderung der Emanzipationsbewegung der jüdischen Bevölkerungsteile in die bürgerliche Gesellschaft einerseits, oder dem Abwehrkampf gegen deren antisemitische Tendenzen andererseits, materiell wie symbolisch zur Seite standen. Die erste Nummer der C. V.-Zeitung vom 4. Mai 1922 verstärkt in diesem Sinne die programmatisch-sachlichen Äußerungen zur Neubegründung der Zeitung als Wochenschrift unter dem sprechenden Titel „Auf neuen Wegen zu alten Zielen“ von Dr. Julius Brodnitz, dem Vorsitzenden des Centralvereins, durch einen emotional gefärbten, autobiografischen Bericht von Dr. Eugen Fuchs (1856– 1923). Darin verschränkt der einstige Mitbegründer und „führende Ideologe“13 der Gründungsjahre des Vereins in seiner Erinnerung an das Berliner Vereinshaus in der Wilhelmstraße Nr. 117 dieses Haus – real wie symbolisch – mit seinem persönlichen Eintreten in die jüdische Bewegung einerseits wie andererseits mit dem offiziellen Gründungsdatum des Vereins am 26. März 1893: „[S]cheu“ habe er sich zunächst umgesehen, als er das Haus betrat. „Denn damals lag es noch so, dass man sich vor seinen christlichen Freunden genierte, an einer derartigen Versammlung teilzunehmen.“ Als einer der damaligen Redner „die Juden ermahnte, sich zu bessern, um sich so der Gleichberechtigung würdig zu machen“, habe es ihm, so Fuchs, jedoch zunächst „das Blut zu Kopf“ getrieben. Er habe sich zu Wort gemeldet und sich dagegen gewehrt, die Begründung eines „Abwehrvereins“ damit beginnen zu sollen, dass „sie sich bessern müss-
13 Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 1), 24.
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ten“. Er habe dies als „Ghettostandpunkt“ abgelehnt. Schließlich habe er einen „Magenkrampf“ bekommen und die Versammlung „in übelster Verfassung“ verlassen.14 Fuchs wurde – nicht zuletzt infolge seiner damaligen Wortmeldung – schließlich am 29. Juni 1893 in der Berliner Singakademie gemeinsam mit dem späteren Leiter des Schillertheaters, Dr. Raphael Löwenfeld (1854–1910), und dem ersten Vorsitzenden des Centralvereins, dem Mediziner Dr. Martin Mendelsohn (1860–1920), in den Vorstand des neu begründeten Vereins gewählt, der sich der Abwehr des Antisemitismus widmen sollte. Er begleitet den Verein in den folgenden 23 Jahren im Vorstand. Seine Erinnerungen beschreiben zunächst auf persönlich-emotionaler Ebene zentrale innerjüdische Konflikte, die die Gründung des Vereins im Vorfeld geprägt hatten. Diese nahmen ihren Ausgang wesentlich in der Befürchtung wichtiger jüdischer Honoratioren, „jede politisch-propagandistische Aktivität eigenständiger jüdischer Organisationen würde die eben erst erlangte Emanzipation gefährden“,15 gegen die sich seit Ende der 1880er Jahre in praktischen wie publizistischen Initiativen jüdischer Aktivisten immer stärker „Forderungen nach einer aktiven öffentlichen Gegenpropaganda anstelle des ängstlich-vorsichtigen Antichambrierens“ geäußert hatten.16 Dass Fuchs 29 Jahre später in der C. V.-Zeitung seine Entscheidung für den Eintritt in den Centralverein gerade an den Ort bindet, an dem er seine Überzeugung damals zwar offen formuliert hatte, den er jedoch in elender Verfassung nach einem Streitgespräch verließ, beschreibt auf übertragener Ebene zugleich die sich in den folgenden Jahrzehnten verändernden Machtstrukturen innerhalb des liberalen Judentums im Umkreis des C. V.: Das Haus in der Wilhelmstrasse wird zum Sitz eben jenes Vereins, für dessen konzeptionelle Ausrichtung Fuchs und andere damals gestritten hatten und dessen Geschicke er nun als Vorstandsmitglied konzeptionell mitbestimmte. Seine Erinnerungen an diesen Tag können sachlich-argumentierend wie persönlich-emotional (und darin Brodnitz’ Sachbericht überschreitend) als Versuch der Befestigung einer Narration von der historischen Initiationssituation des Centralvereins im Kontext des Emanzipationsprojektes überhaupt betrachtet werden. Diese wird im Artikel in einer Verschränkung autobiografischen Erlebens mit zentralen Elementen der Geschichte des Centralvereins inszeniert und – symbolisch für dessen Geschichte – an das spätere Vereinshaus als einen Raum gebunden, in dem 14 Aus der Jugend des Central-Vereins. Erinnerungen von Geh. Justizrat Doktor Eugen Fuchs, in: C. V.-Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum, Berlin, 1,1, 04.05.1922, 2 [Hervorhebungen K.S.]. 15 Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 1), 20. 16 Sie wurden u. a. in den Arbeiten von Jacob Borut aus den 1990er Jahren oder in Barkais Buch „Wehr Dich!“ (beide wie Anm. 1) beschrieben.
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nun die Ansichten von Fuchs und seinen damaligen Mitstreitern ihre Verwirklichung fanden. Dem kollektiven Gedächtnis einer jüdischen Leserschaft werden 29 Jahre später auf diesem Wege interne politische Aushandlungsprozesse und Machtstrukturen innerhalb der liberalen Teile des deutschen Judentums eingeschrieben, die schließlich im Gründungsprozess des Centralvereins und seiner konzeptionellen Ausrichtung eine Antwort gefunden hatten. Dass sich derart machtpolitisch bestimmte Aushandlungen in Zeitungsberichten und -debatten nicht selten an die Schilderung öffentlicher Gebäude wie Orte binden, zeigen verschiedene Berichte in der C. V.-Zeitung der ersten Hälfte der 1920er Jahre über reale Ausgrenzungen wie Hausverbote, in denen nicht zuletzt auch der von Avraham Barkai für die 1920er Jahre beschriebene „Zweifrontenkrieg des C. V.“ gegen den rechtsextremen ‚Verband nationaldeutscher Juden (VndJ)‘ auf der einen Seite17 und gegen die Zionisten auf der anderen fassbar wird. So erhält am 2. Mai 1922 der Vorsitzende des Verbandes nationaldeutscher Juden für eine vom C. V. initiierte Versammlung des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten im Herrenhaus Hausverbot, was die sich anschließende Berichterstattung über diesen Vorgang in der C. V.-Zeitung zum Anlass nimmt, die defensiv-apologetische oder – im Gegenteil – zunehmend distanzierte Haltung einzelner C. V.-Mitglieder von rechtsextremen nationalen und völkischen Ideologien zu thematisieren.18 Die private häusliche Existenz der jüdischen Bevölkerungsteile wird in derartigen öffentlichen Auseinandersetzungen überhaupt nur dann thematisch, wenn ein Ungenügen an ihr artikuliert wird, – also etwa bei einer als mangelhaft empfundenen häuslichen Erziehung der Jugend angesichts einer zunehmend aggressiver werdenden antisemitischen Umwelt. Und auch hier beklagt beispielsweise das im Mai 1922 von den Herausgebern veröffentlichte „Mahnwort an die CV-Eltern. Jüdische Jugend muss in jüdische Jugendvereine“19 erneut eher das Fehlen öffentlicher Bildungsstätten, in denen ein Nachwuchs herangebildet werden konnte, „der sowohl im Deutschtum wie im Judentum gleichmäßig fest verankert“ sei.20 Sucht man dagegen in den Seiten der C. V.-Zeitung bis in die Mitte der 1920er Jahre nach Beschreibungen des privaten jüdischen Hauses, d. h. von Er17 Vgl. Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 1), 138. 18 Vgl. dazu: Eine Antwort an Herrn Dr. Max Naumann vom Schriftsteller und Vorstandsmitglied des C. V., Dr. Paul Nathan, in: C. V.-Zeitung 1,3, 18.05.1922, 38. 19 Jüdische Jugend muss in jüdische Jugendvereine. Ein Mahnwort an die C. V.-Eltern, in: C. V.-Zeitung 1,1, 04.05.1922, 10. 20 Ebd. Zu diesem Befund eines bis in die Mitte der 1920er Jahre immer wieder artikulierten Mangels an ‚eigenen‘ Jugendhäusern musste man sich zudem – angesichts bestehender zionistischer Jugendverbände – mit dem elterlichen Vorwurf auseinandersetzten: „Mein Kind wird durch den Jugendverein dem Elternhause entfremdet“. Ebd.
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fahrungen einer spezifisch jüdischen häuslichen Lebensweise in der noch jungen Weimarer Republik, wird man auf den ersten Blick geradezu mit einer publizistischen Leerstelle konfrontiert. Der Lektürebefund verweist hier für die C. V.Zeitung in der ersten Hälfte der 1920er Jahre noch einmal auf die Ausrichtung des Publikationsorgans auf einen weitgehend bürgerlichen Adressatenkreis. Seine Leser behaupteten eine selbstverständliche gesellschaftliche Akzeptanz als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens. Haus und Familie waren der Ort, so Marion Kaplan, „an dem versucht wurde ‚schicklich‘ zu leben – das heißt, der Ort, an dem die deutlichste Verbürgerlichung stattfand“.21 Guy Miron greift diesen Gedanken 2019 in seinem Artikel über „The Home Experience Of German Jews under the Nazi-Regime“ erneut auf, wenn er resümiert: Historical research has shown that the integration of Jews in German society was predominantly a matter of their entry into the bourgeois class. By becoming a subgroup of the German bourgeoisie, German Jews adopted the fundamental characteristics – the habitus – of their social class. This process was also expressed in the formation and daily functioning of the Jewish households and the development of bourgeois domesticity predominantly among the urban upper middle class.22
Obgleich vorliegende Forschungen zu Mitgliedsentwicklungen im Centralverein spätestens ab 1928/29 durchaus darauf verweisen, dass dessen jüngere Aktivisten „weniger in der bürgerlichen Tradition des C. V. verwurzelt waren“ und daher im „intern-jüdischen Bereich angesichts der ‚Wandlung der sozialen Struktur‘ des deutschen Judentums den ‚C. V.‘ vom Bürgerverein in eine Volksbewegung umwandeln wollten“ und „für engere Kontakte mit der Arbeiterschaft“ plädierten,23 bestätigen Untersuchungen zum Topos vom ‚Haus‘ in der C. V.-Zeitung diese Entwicklungen für die erste Hälfte der 1920er Jahre noch nicht: Dass Darstellungen und Bilder des privaten Hauses in der C. V.-Zeitung dieser Jahre als eine thematische Leerstelle erscheinen bzw. weitgehend in die Werbe- und Annoncenseiten der Zeitung verdrängt waren, begründete sich nicht zuletzt in der gesellschaftlich proklamierten Auffassung von einer ‚Privatheit‘ bürgerlicher Existenz. Diese fand gerade in der thematischen Aussparung ihrer Verwirklichung gewissermaßen eine adäquate inhaltliche Entsprechung. Annoncen – wie die im Mai 1922 angekündigte Neuausgabe von Alexander Kochs (bereits 21 Marion A. Kaplan, Jüdisches Bürgertum: Frau, Familie und Identität im Kaiserreich. Hamburg 1997, 18. 22 Miron, The Home Experience of German Jews under the Nazi Regime (wie Anm. 4), 176. Es sollte dabei allerdings nicht aus dem Blick geraten, dass eine methodische Gleichsetzung von Staatsbürgertum und Bürgertum im Gegenzug auch eine Nivellierung spezifischer Erkenntnisse über das Bürgertum impliziert, die aus diesem Blickwinkel unkenntlich werden können. 23 Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 1), 195.
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1917 erstveröffentlichtem) Handbuch neuzeitlicher Wohnungskultur: Das vornehm-bürgerliche Heim24 – propagieren zudem vor allem die Ausgestaltung des Hauses im Sinne einer so verstandenen ‚bürgerlichen‘ Lebensweise und unterscheiden sich darin tatsächlich kaum von anderen bürgerlich-liberalen deutschen Zeitungen der Zeit. Galt der Verleger Alexander Koch noch um die Jahrhundertwende mit seinen Dekorationsvorschlägen als führender Vertreter moderner Ideen, waren diese avantgardistischen Positionen in den 1920er Jahren bereits auf das Weimarer Bauhaus übergegangen. Die am Geschmack des gebildeten Bürgertums orientierten Bücher Kochs repräsentierten daher 1922 bereits – charakteristisch auch für die programmatische Ausrichtung der C. V.-Zeitung selbst – die konservative Lebensweise einer deutschen (Mehrheits-)Gesellschaft, der sich viele Mitglieder des Centralvereins auch ihrem Selbstverständnis nach zugehörig fühlten. Die Untersuchung bestätigt in diesem Sinne noch einmal frühe Forschungen zur C. V.-Zeitung, wie jene Reiner Bernsteins aus den späten 1960er Jahren u. a., nach denen Deutschtum und Judentum in der C. V.-Zeitung programmatisch als eine doppelt bestimmte Einheit begriffen und Unterschiede zur deutschen Gesellschaft lediglich im Religiösen gesehen wurden.25 Über die Existenz und konkrete Beschaffenheit des ‚jüdischen Hauses‘ und der konkreten Lebensweise seiner Bewohner erfährt man – in diesem Sinne folgerichtig – in der Berichterstattung der C. V.-Zeitung von 1922 zunächst kaum etwas Spezifisches. Sie wird nur am Rande thematisch, beispielsweise in Werbungen für den Bücherkauf, die mit dem allgemein bleibenden Zusatz versehen werden: „Dieses Buch gehört in jedes jüdische Haus“. Publizistisch reflektiert wird dessen konkrete Erscheinungsform jedoch zunächst nicht bzw. nur in abstrakter Bezugnahme, wenn es um die Abwehr antisemitischer Anfeindungen geht. In diesem Geiste veröffentlichte der bei Paderborn geborene Dichter, Reformpädagoge und wichtige Sprecher der Emanzipation, Jakob Loewenberg, bereits in der dritten Nummer der C. V.-Zeitung vom 18. Mai 1922 einen didaktisch argumentierenden Dichtergruß. Unter dem Titel Meinem Jungen beschreibt der ästhetisch eher anspruchslose Text in seinen ersten Zeilen dabei nicht das Innere des Hauses und seine Beziehungen zwischen den Bewohnern, sondern den (metaphorisch zu lesenden) Weg eines Jungen aus dem Haus heraus in dessen feindliche, äußere Umgebung: Mein Junge spielt zum erstenmal allein Heut vor der Tür im hellen Sonnenschein. […] Und wie er kühn sein Reich durchwandern will, 24 C. V.-Zeitung 1,4, 26.05.1922. 25 Vgl. Bernstein, Zwischen Emanzipation und Antisemitismus (wie Anm. 10), 86.
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Da schreit’s ‚hepp, hepp!‘ ihm nach, verhöhnend, schrill.
In den drei Strophen werden schließlich, balladenhaft und im einfachen Paarreim, die besorgte Perspektive eines Elternteils des Jungen auf dessen weitere Entwicklung sowie die mangelnde Vorbereitung des Jugendlichen auf die Situation äußerer Bedrohung durch die Normen humanistischer Erziehung im Elternhaus didaktisch entfaltet. Noch kennt er nicht das Wort, doch in dem Ton Spürt er bestürzt des Hasses Stimme schon.
Das Gedicht endet schließlich mit der kämpferischen Aufforderung an den Sohn – und impliziten Wendung an den (erziehenden oder auch jugendlichen) Leser: Sei fest, sei stolz, und eins noch lass dich lehren: Dich wehren, Jung, dich wehren! 26
Programmatisch für die C. V.-Zeitung und den Centralverein selbst, wird damit im dichterisch dargestellten Eintritt eines im Emanzipationsprozess befindlichen Subjekts aus der häuslichen Sphäre einer von humanistischen Erziehungsidealen geprägten Familie in eine antisemitische gesellschaftliche Umgebung die für den Verband zentrale Haltung der Abwehr erneut entwickelt bzw. in den frühen 1920er Jahren noch einmal als Haltung befestigt.
Semantische Transformationen: Wandlungen eines kulturellen Topos in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre Angesichts der sich häufenden antisemitischen Attacken auf die jüdische Bevölkerung in Deutschland verweisen jedoch bereits in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre Darstellungen und Bilder vom ‚Haus‘ in der C. V.-Zeitung auf die zunehmend segregativen Entwicklungstendenzen im Akkulturationsprozess. Sie werden in den Seiten der Zeitschrift u. a. in nachhaltigen lebenspraktischen Irritationen der Idee vom Aufgehen jüdischer Einrichtungen in denen der deutschen Mehrheitsgesellschaft fassbar. Die publizistische Aufmerksamkeit richtete sich nun verstärkt auch auf interne Belange eines sich als jüdisch artikulierenden Be26 Ein Dichtergruß, Aus der Sammlung „Aus jüdischer Seele“, in: C. V.-Zeitung 1,3, 18.05.1922, 43.
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völkerungsteils und seiner potentiellen Perspektiven als einer jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Hier unterläuft der Lektürebefund gewissermaßen zentrale programmatische Äußerungen des Centralvereins. Das zeigt umgekehrt auch ein sprunghaftes Anwachsen von Berichten über öffentliche Einrichtungen und Häuser, wie beispielsweise über „Antisemitische Töchterheime“,27 „Bayerische Sommerfrischen!“,28 einzelne Cafés, Gasthäuser, Ausflugslokale, Badeund Kurorte, Warenhäuser, Banken oder kleinere Läden, die sich – gegen bürgerliches Recht – dem ursprünglichen Konzept christlich-jüdischen Zusammenlebens im öffentlichen Raum aus antisemitischen Gründen verschlossen. Dokumentieren die C. V.-Berichte zunächst vor allem das von Avraham Barkai für diese Jahre beschriebene, wachsende Bemühen des Verbandes, die Rechtssicherheit der jüdischen Bevölkerung in Deutschland im Kampf gegen die antisemitischen Ausgrenzungen aufrechtzuerhalten,29 verweisen sie darüber hinaus auf eine damit einhergehende transitorische Phase im Emanzipationsprozess. Sie werden im Topos des ‚Hauses‘ in semantischen Verschiebungen sichtbar, bei denen Beschreibungen privaten bürgerlichen Wohnens oder christlich-jüdischen Zusammenlebens im öffentlichen Raum verstärkt hinter Darstellungen von Häusern zurücktreten, in denen die deutsch-jüdische Bevölkerung im öffentlichen Leben der Weimarer Republik bereits dezidiert ausgegrenzt wurde. Dies belegen nicht zuletzt die vom Centralverein bereits vor dem Krieg begonnenen, nun aber zunehmend aktiver geführten Listen von Häusern des öffentlichen Lebens, die sich als „judenfrei“ anpriesen oder in denen deren Betreiber, Kunden oder Besucher „unter sich bleiben wollten“.30 Im Gegenzug berichtet die Zeitung Ende der 1920er Jahre kaum noch von Häusern, in denen deutschchristliche Gemeinschaftsprojekte angesiedelt waren. Artikel, wie beispielsweise noch vom April 1922 über die Jacobson-Schule in Seesen,31 die auch christlichen Schülern offenstand und deren philanthropisch-humanistisches Erziehungskonzept darauf ausgerichtet war, traditionell separierte Bildungsformen wie jegliche religiösen und nationalen Schranken zwischen den Schülern aufzuheben, sind am Ende der 1920er Jahre in den Seiten der Zeitung kaum mehr auffindbar. Dagegen wandte sich die Berichterstattung in der Spätphase der Weimarer Republik verstärkt Häusern und Bildungseinrichtungen zu, die spezifisch auf die Belange jüdischen Lebens in Deutschland ausgerichtet waren. So im Januar 1929 27 C. V.-Zeitung 1,2, 11.05.1922, 30 f. 28 C. V.-Zeitung 1,4, 26.05.1922, 49. 29 Vgl. Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 1), 185. 30 Vgl. dazu ebd. 177 f. 31 Vgl. C. V.-Zeitung 1,4, 26.05.1922, 54 f. Dazu ausführlicher: Mordechai Eliav, Jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung und Emanzipation. Münster u. a. 2001, 124– 131.
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anläßlich der Eröffnung der Schule der Jugend, eines Jugendhauses in der Berliner Johannesstraße,32 das für alle jüdischen Richtungen sowie die Jugend beider Geschlechter offenstand und eine „systematische Fortbildung auf jüdischen Wissensgebieten“33 ermöglichen sollte. So begleitete auch Hermann Gerson seinen Bericht über die Erfüllung der „Wünsche der Jugend, die nach einem Jugendhaus in Berlin drängen“ mit der publizistisch nachdrücklich artikulierten „Hoffnung, dass hier mancher findet, was das jüdische Haus oft heute nicht mehr bietet: Ein Milieu von jüdischer Selbstverständlichkeit.“34 Ein derartiges Milieu sollte künftig – das waren nicht nur Gersons Erwartungen – eine Jugend prägen, die befähigt sein sollte „Antworten [zu] geben aus der Erkenntnis der heutigen persönlichen Situation als einer jüdisch bedingten“. Das Haus sollte in diesem Geiste „der Bildung einer lebendig verbundenen Gemeinde den Weg bereiten“.35 Diese, im Topos des ‚Hauses‘ für die späten 1920er Jahre erkennbare und sich angesichts wachsender antisemitischer Anfeindungen verstärkende, Rückbindung der Berichterstattung in der C. V.-Zeitung an Orte jüdischer Identität erscheint bereits als Symptom einer schweren Krise des Emanzipationsprojektes, die sich seit der Reichsgründung bis in die Jahre der Weimarer Republik zunehmend verstärkt hatte. Schon in der Emanzipationsdebatte im 18. Jahrhundert war es dem preußischen Staat bei der Frage um die ‚bürgerliche Verbesserung‘ der Juden natürlich nie um eine Bewahrung jüdischer Identität gegangen. Unter dem Einfluss aufklärerischen Denkens hatte er vielmehr in den 1870er Jahren die Bereitschaft zu einer aufgeklärt-etatistischen Politik der Judenemanzipation entwickelt, die auf der Basis staatlicher Gesetzgebung und Erziehung die vollständige Gleichberechtigung des Juden als deutschem Staatsbürger (nicht aber als Juden) gewährleisten sollte. Die potentielle Einlösung dieses Programms, für die auch die Bemühungen des Abwehrkampfes im Centralverein einstanden, beförderten in den 1920er Jahren zugleich selbst in Teilen der C. V.- nahen Kreise 32 Die C. V.-Zeitung vom 18.01.1929 enthält einige Berichte anlässlich der Fertigstellung der Schule der Jugend, für die von der Synagoge Lützowstraße einige Räume zur Verfügung gestellt worden waren und deren Sekretär Moritz Spitzer war. 33 A. W., „Die Schule der Jugend“. Wünsche und Hoffnungen der Jungen, in: C. V.-Zeitung 8,3, 18.01.1929, 49. 34 Hermann Gerson, Der Wille zur Erkenntnis, in: ebd., 50: „Mit einer Versammlung, die am Montag den 21. Januar in Brüdervereinshaus in Berlin unter der Leitung von Doktor Ludwig Tietz stattfand, trat die Schule zum ersten Mal an die breite Öffentlichkeit, dabei hielt unter anderem Doktor Max Mayer einen Vortrag ‚Über das Bildungsproblem der jüdischen Jugend‘. Er schilderte die verschiedenen Stätten jüdischen Lebens und forderte eine Vertretung des jüdischen Lebens in Deutschland zur Schaffung einer Keimzelle für jüdisch-geistiges Leben – unter freudiger Bejahung unserer Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis.“ 35 Ebd.
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zunehmende Verlustängste um Teile ihrer jüdischen Identität. Sie fanden in den Seiten der C. V.-Zeitung im Tops des ‚Hauses‘ größere thematische Aufmerksamkeit. Partiell dokumentieren sie sogar eine gewisse Öffnung selbst zu zionistischen Projekten – in einer Zeit, in der die publizistischen Leitartikel der Zeitung eher durch eine bemerkenswerte Schärfe der Ablehnung des Zionismus gekennzeichnet waren, den man als Gefahr der Errungenschaften eines mehr als 100jährigen Emanzipationskampfes ansah – oder waren von einem Patriotismus gezeichnet, der nicht selten nationalistische Töne anschlug. 1930 war es jedoch schließlich vor allem der überwältigende Wahlerfolg der Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen, der die Berichterstattung fast vollständig dominierte. Er war von besonders heftigen Ausbrüchen gegen Juden begleitet und wurde daher umfassend dokumentiert und besprochen. Mit dem Anwachsen antisemitischer Attacken von außen verstärkte sich jedoch nicht nur das Bemühen um die Dokumentation und Abwehr dieser Angriffe, sondern zugleich eine im Topos des ‚Hauses‘ fassbare Hinwendung zu den Entwicklungen einer jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, die nun immer häufiger auch die ihr eigenen Orte beschrieb.
Erzwungener Rückzug aus dem öffentlichen Raum: Das ‚Haus‘ im Kontext der Selbstverständigungsprozesse deutscher Juden nach 1933 Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933, den damit einhergehenden Massenemigrationen sowie der Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung aus dem öffentlichen Leben, hatte schließlich – weit tiefgreifender als Walter Benjamin noch 1929 vermuten mochte – dem „Wohnen im alten Sinne, dem die Geborgenheit an erster Stelle stand, die Stunde geschlagen“.36 Der Niedergang des bürgerlich-jüdischen Hauses in der NS-Zeit – im Verlust der Wohnung oder des Hauses auf dem Weg ins Exil, in dem in existenzieller Not begründeten Wechsel der Wohnung innerhalb Deutschlands oder einer Umsiedlung in die sogenannten ‚Judenhäuser‘ und schließlich durch die Deportationen in die Vernichtungslager – wurde in historischen Untersuchungen zu jüdischem
36 Walter Benjamin, Die Wiederkehr des Flaneurs, in: Ders., Gesammelte Schriften. Werkausgabe, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 12 Bde. Frankfurt a. M. 1991, hier Bd. 3, 196.
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Leben nach 1933 im NS-Deutschland bereits verschiedentlich thematisiert.37 Er dokumentiert die staatlich legitimierte Ausgrenzung und Verfolgung einer als fremd deklarierten Bevölkerungsgruppe im eigenen Land und fand als solcher auch im Topos des ‚Hauses‘ in der C. V.-Zeitung erkennbaren Niederschlag. Zunächst verschärfte sich unter den Bedingungen einer faschistischen Diktatur ein ohnehin bestehender Kontrast zwischen ‚Haus‘ und ‚Stadt‘, wie er von der Forschung bereits seit Längerem im Blick auf Entfremdungserfahrungen in der Moderne thematisiert wird. „Bleibt lieber zu Hause“, hatte die deutsche Neustettiner Kreiszeitung in diesem Sinne einen drohend an die jüdische Bevölkerung gerichteten Artikel betitelt, den die C. V.-Zeitung im März 1935 kommentarlos nachdruckte.38 Zahlreiche Artikel in der C. V.-Zeitung illustrieren eine Situation damaligen Wohnens, die der zionistische Rabbiner Joachim Prinz im April 1935 in einer Rede „Das Leben ohne Nachbarn“ offen als Antithese zum Ghetto draußen benennt: Wenn sich unsere Haustür hinter uns schließt, kommen wir aus dem Ghetto und gehen in unser Heim. […] Das Ghetto, das ist die ‚Welt‘. Draußen ist das Ghetto für uns. Auf den Märkten, auf der Landstraße, in den Gasthäusern, überall ist das Ghetto. Es hat ein Zeichen. Das Zeichen heißt: nachbarlos. Des Juden Los ist: nachbarlos zu sein.39
„[…] [M]any Jews tended to avoid public spaces and chose to turn inward“, rekonstruiert Guy Miron 2019 aus historischer Perspektive. „Home therefore became, at least, for a certain period, the positive and safe pole in contrast to the city.“40 Auch zahlreiche Beiträge in der C. V.-Zeitung schildern das Haus als eine Art letzten (vermeintlich) realen wie ideellen Schutzraum gegen äußere Verfolgungen. Erzählungen wie „Der Wundertäter“, eine im Januar 1935 im 2. Beiblatt der C. V.-Zeitung veröffentlichte Fabel über die Relativität der Enge eines kleinen Hauses, das ein Schneider von seinen Vorfahren geerbt und über dessen begrenzten Raum er sich zunächst bei einem Wundertäter beklagt hatte,41 flankieren dabei mit der sich in ihnen formulierenden Lehre ‚sich einzurichten‘ durch37 Vgl. Saul Friedländer, Nazi Germany and the Jews, Bd. 1: The years of Persecution 1933– 1939. New York 1997; Marion A. Kaplan, Between Dignity and Despair: Jewish Life in Nazi Germany. New York/Oxford 1998; Trude Maurer, From Everyday Life to a State of Emergency: Jews in Weimar and Nazi Germany, in: Marion Kaplan (Hrsg.), Jewish Daily Life in Germany 1618– 1945. New York/Oxford 2005, 271–373; Miron, The Home Experience of German Jews under the Nazi Regime (wie Anm. 4) u. a. 38 C. V.-Zeitung 14,10, 07.03.1935, 2. Beiblatt. 39 Joachim Prinz, Das Leben ohne Nachbarn. Versuch einer ersten Analyse, in: Jüdische Rundschau, Berlin, 31/32, 17.04.1935, 3. 40 Miron, The Home Experience of German Jews under the Nazi Regime (wie Anm. 4), 183. 41 M. A., Der Wundertäter, in: C. V.-Zeitung 14,4, 24.01.1935, 2. Beiblatt.
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aus affirmativ Haltungen wie jene des seit 1933 amtierenden Chefredakteurs der C. V.-Zeitung, Alfred Hirschberg, von dem Barkai schreibt, er habe noch Ende 1934 die Ansicht vertreten, man müsse der deutsch-jüdischen Gegenwart nicht mit „kopfloser Panik“ (also Auswanderung), sondern mit Vertrauen in die Führung und die deutsch-jüdische Zukunft begegnen.42 Die publizistischen Beiträge der C. V.-Zeitung vermitteln allerdings im Topos des ‚Hauses‘ bereits seit 1933 ein durchaus differenzierteres Bild. Im Kontext der Selbstverständigungsprozesse deutscher Juden in jenen Jahren verweist Mirons Äußerung zugleich auf die Pole, zwischen denen sich auch die publizistischen Diskurse zum Topos des ‚Hauses‘ zwangsläufig bewegten: Auf der einen Seite bestand – wie in allen totalitären Systemen – die erste Forderung nationalsozialistischer Zensur in einer Tabuisierung jeder Form politischen Widerspruchs gegen das herrschende System und seine Politik. Unter dieses unausgesprochene Verdikt fiel die Thematisierung nationalsozialistischer Verfolgungen der jüdischen Bevölkerung ebenso wie jeder Verweis auf die politischen Gegner des Nationalsozialismus. Selbst ein kommentarloser Abdruck antisemitischer Artikel aus der deutschen Presse, wie jener aus der Neustettiner Kreiszeitung oder zahlreiche in der C. V.-Zeitung noch etwa bis zum Frühjahr 1935 abgedruckte Beiträge „Aus den Gerichtssälen“43 oder anderen deutschen Einrichtungen, die – da eine offene Abwehr seit 1933 praktisch unmöglich war – als letzte Zeugnisse eines öffentlichen Bestrebens des Centralvereins um eine Dokumentation und Abwehr des Antisemitismus gelten können, wurde im Frühjahr 1935 verboten. Bilder, wie die Metapher vom ‚brennenden Haus‘ aus der Gründungsgeschichte des Centralvereins, verschwanden im Laufe der Jahre 1933/34 aus den Seiten der Zeitung. Sie konnten schließlich nur noch als Aufforderung gelesen werden, das Land zu verlassen, oder wurden zu Elementen verdeckten Schreibens gegen das Nazi-Regime.44 Auf der anderen Seite verweist Mirons Beschreibung der zeitgenössischen Wahrnehmung des Hauses als ein „positive and safe pole in contrast to the city“45 bereits auf den durch die äußeren Ausgrenzungsprozesse erzwungenen Rückzug der jüdischen Bevölkerung aus dem öffentlichen Raum an Orte einer ausschließlich dem deutschen Judentum zugänglichen Teilöffentlichkeit: auf die Synagoge, auf spezifische kulturelle Einrichtungen des deutschen Judentums jener Jahre oder auch auf das private jüdische Haus. Ihm kam nicht nur die Funktion einer „Antithese zum Ghetto“, sondern zugleich eine wichtige Auf42 Zit. nach: Avraham Barkai, Hoffnung und Untergang. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Hamburg 1998, 139. 43 C. V.-Zeitung 12,1, 05.01.1933, 5. 44 Vgl. zu parallelen Entwicklungen in literarischen Texten der Zeit: Schoor, Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto (wie Anm. 6), Kap. 4: Die Stadt als Un-Ort. 45 Miron, The Home Experience of German Jews under the Nazi Regime (wie Anm. 4), 183.
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gabe bei der Neubegründung einer jüdischen Gemeinschaft zu. Wurde daher in der Publizistik der C. V.-Zeitung der Topos vom ‚Haus‘ durchaus mit Vorstellungen von einem – dem öffentlichen Raum und einer feindlichen Außenwelt entgegengesetzten – vermeintlich ‚sicheren‘ Ort verbunden, verlagerte sich dieser Kontrast im Rückblick jedoch bereits erkennbar in das Innere des Hauses selbst. So führten der Ausschluss aus dem offiziellen deutschen Kulturbetrieb und der Aufbau eines zunehmend ghettoisierten jüdischen kulturellen Lebens bereits seit dem Sommer 1933 dazu, dass Konzerte, Lesungen u. a. kulturelle Veranstaltungen in dafür separierten Häusern stattfanden oder sogar in private Häuser verlegt werden mussten. Fast symbolischen Charakter dafür trug die Eröffnung des Kulturbundes deutscher Juden am 10. August 1933 in der damals völlig überfüllten Synagoge in der Prinzregentenstraße in Berlin-Wilmersdorf. Hatte die C. V.-Zeitung 1922 vom Beschluss über deren Bau als einem wichtigen Gebäude liberalen jüdischen Gemeindelebens zumindest kurz berichtet,46 ging deren Eröffnung nach achtjähriger Bauzeit am 16. September 1930 in den C. V.-Berichterstattungen über antisemitische Ausschreitungen im Umkreis der Wahlen fast vollständig unter. Über die Eröffnung des Kulturbundes 1933 berichtete man nun ausführlich. Die Synagoge fungierte seit 1933 nicht mehr nur als religiöser Ort des liberalen deutschen Judentums. Sie wurde zu einem wichtigen Ort kulturellen Lebens deutscher Juden im NS-Deutschland. In ihr beschwor der neue Dramaturg des Kulturbundes, Julius Bab, seine nun ausschließlich jüdischen Zuhörer und Zuhörerinnen, die er programmatisch als „Schüler der Kant und Goethe“47 ansprach: „Aber ob Ghetto oder nicht, das ist keine Frage der äußeren Form, sondern des inneren Gehalts“. In dem illusionären Glauben an die Überlegenheit der Kultur gegenüber der Politik noch ungebrochen bürgerlich-humanistischen Traditionen verpflichtet, wollte Bab im Kulturbund gegen ein drohendes kulturelles Ghetto einen „Ort lebendigen Geistes“ schaffen, einen Ort, „wo sich auch weiterhin jüdisches Wesen mit deutschem und europäischem zu freier, fruchtbarer Arbeit findet. Ein Ort jenes Geistes, an dessen schließlich überwindende Kraft wir glauben.“48 Er hoffte, durch das in der Dichtung gestaltete Ideal menschlicher Vernunft, die Zuschauer nicht nur als Individuen zu stabilisieren, sondern im reflexiven Diskurs – gegen äußere Ausgrenzungsversuche – eine kollektive Identität deutscher und jüdischer Prägung bewahren zu können. Gegen ein drohendes kulturelles Ghetto, gegen die Ausgrenzung aus dem deutschen Kulturbetrieb und die staatliche Verabschiedung von Toleranz und Humanität setzte er 46 Synagogenbauten in Berlin, in: C. V.-Zeitung 1,3, 18.05.1922, 42. 47 Julius Bab, Rede für den Kulturbund Deutscher Juden, in: C. V.-Zeitung 12,32, 10.08.1933, 6. 48 Ebd., 6.
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damit in der Synagoge zugleich ein klares Widerwort gegen zentrale Prämissen nationalsozialistischer Kulturpolitik: im Beharren auf einer Zugehörigkeit zu humanistischen deutschen und europäischen kulturellen Traditionen, in denen er das deutsch-jüdische Kulturerbe aufgehoben sah, und das für ihn den gegenwärtigen politischen Entwicklungen geistig entgegenstand. Das Haus, in dem er diese Rede hielt, war jedoch kein deutsches Theater mehr, sondern eine jüdische Synagoge, die die 1933 unmittelbar einsetzende Verdrängung jüdischer Intellektueller und Künstler wie ihres jüdischen Publikums auch örtlich bereits eindrucksvoll bezeichnete. In den folgenden Monaten und Jahren erwies sich auch die Vorstellung vom ‚privaten jüdischen Haus‘ als einem sicheren Ort bald als eine tragische Illusion. Deutlicher noch als in anderen historischen Perioden wird im Topos des ‚Hauses‘ nach 1933 nicht allein ein sich verschärfender Kontrast zwischen ‚Haus‘ und ‚Stadt‘ fassbar. Dieser verlagert sich vielmehr in den Beiträgen der C. V.-Zeitung häufig ins Innere des Hauses selbst, im Sinne einer sich in ihm entfaltenden dialektischen Verschränkung von privatem und öffentlichem Leben, die seit den 1930er Jahren zudem die wachsende Sorge um Bestand und Zukunft der jüdischen Gemeinschaft immer mit transportiert. Unter den publizistischen Beschreibungen des ‚jüdischen Hauses‘ finden sich zahlreiche warnende Stimmen, die die Vertreibung aus der eigenen Wohnung oder den Zustand der Nachbarlosigkeit als Verlust und existentielle Gefährdung ausweisen, bzw. die im Topos des ‚Hauses‘ die Möglichkeit fanden, den realen Alltag der jüdischen Bevölkerung von Ausgrenzung und Verfolgung verdeckt zu beschreiben.49 „Umzug“ lautet in diesem Sinne der Titel einer kleinen, in der C. V.-Zeitung am 4. April 1935 abgedruckten Geschichte, die mit dem Kürzel G. H. gezeichnet war und hinter der sich vermutlich der bereits im holländischen Exil lebende, deutsch-jüdische Schriftsteller Georg Hermann verbarg. Der Text beschreibt die erste Nacht in einer neuen Wohnung, von der ein Sprichwort sagt, sie sei etwas ganz Besonderes. In der Geschichte jedoch liegen die neuen Mieter wach in ihren Betten, „bedroht von der fremden, nächtlichen Finsternis“, in der ihnen eine „kleine graue Gedankengestalt“ beim Übergang zum Schlaf hämisch ihre Referenz erweist: nun, meine Liebe, Sie sind umgezogen, verbessert haben Sie sich gerade nicht, die Wohnung ist kleiner geworden, man muss bescheidener werden, man muss viel abschreiben,
49 Dabei fallen Konzeptionen vom ‚Haus‘ auf der einen, mit den hier nicht ausdrücklich thematisierten Vorstellungen von ‚Heimat‘ auf der anderen Seite partiell bereits auseinander. Vgl. dazu: Jacob Boas, The Shrinking World of German Jewry, 1933–1938, in: LBIYB 31,1, 1986, 241– 266.
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viel aufgeben… sagen Sie, wo steht denn eigentlich Ihr Flügel, haben Sie ihn wirklich verkauft? 50
Die Stimme wird als mild beschrieben, aber sie ist gefährlicher, denn sie hat Mitleid mit einem selbst: ‚du, Arme, du hattest dir alles viel schöner gedacht, du wolltest deine Kräfte besser nutzen, als sie für die zermürbenden Sorgen des Alltags, des täglichen Existierens zu verbrauchen. Für Essen und Trinken, für Wohnen und Kleidung. Täglich von neuem den Kampf aufzunehmen, wie erbärmlich ist das, was bleibt dann vom Leben übrig. […] Es ist nicht allein der Flügel, der dir fehlen wird, es fehlen noch die anderen Flügel, die Flügelschwingen, die du in diesen engen Räumen nicht entfalten kannst.51
Für die Protagonistin heißt es nun, „Abschied zu nehmen, […] von den tausend Erinnerungen, die sie mitgebracht hat, von dem Flügel, von Plänen, von der alten Wohnung.“ Ihre einzig verbliebene Hoffnung reduziert sich schließlich auf die eher verzweifelt anmutende Feststellung, „daß sich das Leben von Wohnungswänden weder erweitern noch einengen lässt. Sie reichen immer nur bis zur Decke, niemals bis zum Himmel.“52 Ergänzte der damalige Leser nun in Gedanken die vom Erzähler (ausgesparte) Passage des Sprichwortes, musste die scheinbar unspektakuläre Erzählung für ihn zwangsläufig in einem Desaster enden. Denn den Träumen der ersten Nacht in einer neuen Wohnung wird ja nicht nur Besonderes zugeschrieben, sondern es wird behauptet, dass diese Träume wahr werden. Der Traum der ersten Nacht ist in der Erzählung jedoch ein Alptraum, der von der Protagonistin an dessen Ende in einem starken morgendlichen Kaffee ertränkt werden muss. Die lebenspraktischen wie existentiellen Dimensionen dieser Geschichte mussten einem zeitgenössischen jüdischen Leser dabei ebenso wenig erklärt werden, wie deren unterschwelliges Bedrohungsszenario. Im Gegensatz zu derartigen Bildern der Bedrohung im zeitgenössischen Topos des ‚Hauses‘, die als Teil damaliger Bemühungen angesehen werden können, die Lage der jüdischen Bevölkerung unter den Augen der Zensur verdeckt zu beschreiben, nimmt die noch in Deutschland lebende Schriftstellerin und Reformpädagogin Meta Samson die veränderte soziale Lage der jüdischen Bevölkerung zum Anlass, ihre bereits in den 1920er Jahren entwickelten kulturkritischen und reformpädagogischen Ansichten in der C. V.-Zeitung weiterzudenken.53 Ihre 50 G. H., Umzug, in: C. V.-Zeitung 14,14, 04.04.1935, 1. Beiblatt. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Meta Samson, „Wer“ macht „was“? Die Eignungsfrage im Haushalt, in: C. V.-Zeitung 15,22, 27.05.1936, Beiblatt: Das Blatt der Jüdischen Frau; Dies., Barometer der Leistung. Ermüdungs-
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sieben Artikel zum Thema Haushaltsrationalisierung, die zwischen Januar 1936 und März 1938 im C. V.-Beiblatt der Jüdischen Frau erschienen sind, bleiben dabei in der Zeitung eine zwar eindrucksvolle, thematisch aber eher singuläre Erscheinung. Die Autorin stellt darin weniger die vom NS-Staat politisch aufgekündigte Emanzipation in ihren katastrophalen existentiellen Folgen für die jüdische Bevölkerung in Deutschland zentral. Sie sieht vielmehr in der damit einhergehenden Krise des deutschen Judentums und dem Verlust seiner bürgerlichen Rechte auch die Chance für eine kulturkritische Revision und Neuorientierung – im Blick auf den hierarchischen Zustand der bürgerlich-jüdischen Familie und deren Kindererziehung, auf die Stellung der ‚neuen jüdischen Frau‘ in den 1930er Jahren sowie auf die damit einhergehenden, spezifischen Ansichten vom bürgerlichen Haus und Haushalt vor dem Hintergrund technischer wie geistiger Entwicklungen der Moderne, des Taylorismus, moderner Kindererziehung oder der Frauenemanzipation im 20. Jahrhundert. Gerade unter Einbeziehung der sich seit 1933 real verändernden Wohnsituation deutscher Juden, der Berufsumschichtungen und damit einhergehender Änderungen der Familienstrukturen kann Meta Samson ihre Vorstellungen von einer antiautoritären Erziehung der Kinder und von der gleichberechtigten Stellung der Frau auch in der existentiellen Notsituation der 1930er Jahre in der C. V.-Zeitung eindrucksvoll weiterentwickeln.54
erscheinungen im Haushalt, in: C. V.-Zeitung 15,34, 20.08.1936, Beiblatt: Das Blatt der Jüdischen Frau; Dies., Das Kleid als Spiegel des Bewusstseins, in: C. V.-Zeitung 15,43, 22.10.1936, Beiblatt: Das Blatt der Jüdischen Frau; Dies., Ein wichtiger Frauenberuf: Die Friseuse, in: C. V.Zeitung 15,51, 17.12.1936, Beiblatt: Das Blatt der Jüdischen Frau; Dies., Tinte, Feder und Kartei im Haushalt, in: C. V.-Zeitung 16,7, 18.02.1937, Beiblatt: Das Blatt der Jüdischen Frau; Dies., Zweckmässigkeit in der Kinderstube, in: C. V.-Zeitung 16,15, 15.04.1937, Beiblatt: Das Blatt der Jüdischen Frau; Dies., Romantik in der Küche. Unsere Liebe zum Hausgerät, in: C. V.-Zeitung 17,11, 17.03.1938, Beiblatt: Das Blatt der Jüdischen Frau, 11; Dies., Mehr „Aufbauen“, weniger „Erziehen!“, in: C. V.-Zeitung 13,35, 30.08.1934, Beiblatt: Erziehung, Eltern, Schule. 54 Vgl. dazu ausführlicher: Eva Beineke, „Dem Leben abgelauscht“ – Das journalistische und literarische Werk Meta Samsons der Jahre 1933 bis 1938 im Spannungsfeld von Neubestimmung und Abschied. MA-Arbeit Frankfurt (Oder) 2018.
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„Eine Stadt steht in Flammen“ – Widerständiges Schreiben, Exil und frühe Memorialkultur im Topos des ‚Hauses‘ am Ende der 1930er Jahre Auch in Meta Samsons Artikeln in der C. V.-Zeitung der 1930er Jahre wird jedoch sichtbar, dass der Topos vom ‚Haus‘ in den späten 1930er Jahren unterschiedliche semantische Transformationen erfährt, die überindividuellen Charakter tragen. Gemeinsam ist ihnen eine grundlegende und existentielle Irritation vertrauter Häuslichkeit. Dem bürgerlichen ‚Haus‘ der 1920er Jahre und seinen öffentlichen Repräsentationen traten in der C. V.-Zeitung seit den beginnenden 1930er Jahren zunehmend Beschreibungen des ‚jüdischen Hauses‘ zur Seite, die sich nach 1933 zudem um Bilder spezifisch jüdischer Tradition, wie das der Laubhütte, erweitern. Spätestens seit Mitte der 1930er Jahre verbanden sie sich zudem immer häufiger mit dem Thema der Auswanderung und des Exils. So benannte Meta Samson am 20. Oktober 1938 ihren letzten, in der C. V.-Zeitung veröffentlichten Artikel: „…nun können sie einpacken!“.55 Hierin erfährt der noch 1934 von der Autorin als überflüssig bezeichnete, materielle bürgerliche Ballast häuslichen Besitzes bereits vier Jahre später eine ideell-emotionale Aufwertung, als das im Text beschriebene Paar in seiner Wohnung bei den Emigrationsvorbereitungen darüber in Streit gerät, welche Gegenstände aussortiert und welche mit nach Australien genommen werden sollen: Auf einmal merkt Marianne, sie wählen ja gar nicht unter Dingen; sie wählen unter Erinnerungen. Es ist viel ernster alles, als sie gedacht hat, wenn man schon jetzt sortieren muß, da man noch nicht abgeschlossen hat. Schon jetzt wissen, wieviel das eine Gefühl wiegt, wieviel das andere.56
„Die in den frühen Texten programmatisch formulierte Kritik an der bürgerlichen Lebensweise, die den ‚Apparat der Häuslichkeit‘ als Hindernis eines ‚gemeinsamen starken Lebensinhalt[s]‘ begriff, weicht einer Perspektive,“ schreibt Eva Beineke zutreffend, „die die emotionale Belastung der Verlusterfahrung ins Zentrum stellt.“57 Die Texte tragen hier im Topos des ‚Hauses‘ bereits erkennbare Züge eines beginnenden Exils und werden zum Teil einer frühen Memorialkultur des deutschen Judentums in der Zeit der NS-Herrschaft. Die C. V.-Zeitung wird – wie alle jüdischen Zeitungen und Zeitschriften in Nazi-Deutschland – im November 1938 endgültig verboten. 55 In: C. V.-Zeitung 17,42, 20.10.1938, Beiblatt: Das Blatt der Jüdischen Frau, 14. 56 Ebd. 57 Beineke, Dem Leben abgelauscht (wie Anm. 54), 111 f.
„Unser Haus brennt…“
249
Inmitten der zweiten großen Fluchtwelle der jüdischen Bevölkerung aus Deutschland wird die den Lesern vertraute Metapher vom ‚brennenden Haus‘, die die Gründung des Centralvereins begleitet hatte, schließlich ein letztes Mal verdeckt thematisch. Ein anonym bleibender Verfasser (vermutlich Leo Hirsch)58 schreibt sie den anklagenden Eingangssätzen seiner Besprechung des amerikanischen Fox-Films Chicago ein, mit dessen Vorführung die Filmbühne des Jüdischen Kulturbundes in Berlin am 28. Dezember 1938 eröffnet worden war. Sie erschien am 30. Dezember 1938 in der einzigen einem jüdischen Leser in NaziDeutschland noch zugestellten Zeitschrift, dem Jüdischen Nachrichtenblatt, das von staatlicher Seite aus vor allem die sich verschärfenden Verordnungen gegen die Juden unter diesen publik machen sollte. Heute kann die Rezension in ihrer kaum verdeckten Bildsprache als Zeugnis des publizistischen jüdischen Widerstands im NS-Deutschland gelesen werden. Sie reihte sich in die damals weltweiten Proteste gegen die deutschen Pogrome vom 9./10. November 1938 ein, wenn es darin in unverkennbarer Anspielung auf die damaligen Ereignisse hieß: Eine Stadt steht in Flammen und die Feuerwehr schaut untätig zu. Alle Schläuche sind angelegt, die Leitern sind ausgerichtet, die Spritzen stehen in Bereitschaft, aber keine Hand rührt sich, sie zu bedienen. Die Männer harren des Kommandos, aber kein Kommandowort wird laut. Erst als die Stadt, die über 500 Morgen sich ausdehnte, niedergebrannt ist und in Schutt und Asche liegt, ergeht ein Befehl. Die Feuerwehr fährt nach Hause. Böswillige Erfindung? Ein häßliches Märchen? Nein. Die Wahrheit. Und in Hollywood hat sie sich zugetragen. – Diese Zeit zwischen 1850 und 1871 sollen wir jetzt noch einmal erleben. Nicht im Buch und damit nur in Phantasie, sondern als Augen- und Ohrenzeugen.59
58 Da die Berichterstattung über Kulturbundaufführungen im Allgemeinen in Leo Hirschs Ressort überging und sein erster Artikel im Jüdischen Nachrichtenblatt bereits erschienen war, ist dessen Autorschaft wahrscheinlich. Bereits in den 1920er Jahren galt Hirsch zudem als versierter Filmkritiker und als einer der besten Kenner des russischen Films. Auch zeichnete Hirsch am 10.01.1939 als Verfasser der zweiten sowie der darauffolgenden Berichte über die Premieren der Filmbühne. Der Artikel über die Chicago-Film-Premiere zeigt zudem charakteristische stilistische Eigenarten der Schreibweise des Autors. 59 [ohne Verf.], Die Eröffnung der Filmbühne. Chicago, in: Jüdisches Nachrichtenblatt, Berlin, 11, 30.12.1938, 3.
Michael Nagel
Die Monatsausgabe der C. V.-Zeitung: Ein Bindeglied zwischen jüdischer und allgemeiner Öffentlichkeit? Die C. V.-Zeitung, bedeutsamste Publikation des Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.), sprach über ihren gesamten Erscheinungszeitraum (1922–1938) hinweg neben jüdischen Lesern, als ihrem primären Zielpublikum, auch die interessierte nichtjüdische Öffentlichkeit an. Dies gilt insbesondere für ihre Monatsausgabe „für nichtjüdische Haushaltungen“1, die zwischen 1925 und 1933 eine Auflage von ca. 50 000 bis 60 000 Exemplaren erreichte (Sondernummern zu den Wahlen bis zu 250 0002). Mehr noch als im Hauptblatt zeigt sich hier das Bestreben, die Allgemeinheit über das Judentum zu unterrichten und die Vorurteile und Anfeindungen, denen es ausgesetzt war, zu entkräften. Dabei wirkten nicht selten nichtjüdische Autoren mit. In der Adressierung auch eines nichtjüdischen Publikums stehen die C. V.-Zeitung und ihre Monatsausgabe in einer Tradition ihrer Vorgängerin, der Allgemeinen Zeitung des Judenthums (1837–1922), und der deutsch-jüdischen Presse des 18. bis 20. Jahrhunderts insgesamt: Diese verstand sich nicht als abgesondert, in einem publizistischen Ghetto befindlich, sondern als Teil des allgemeinen Pressewesens, beachtet gegebenenfalls auch von nichtjüdischen Interessenten. Diese Vorgeschichte soll zunächst kurz umrissen werden, bevor es um die Monatsausgabe geht. Zu dieser soll insbesondere gefragt werden, ob sie als ein Bindeglied zwischen der zeitgenössischen jüdischen und der allgemeinen Öffentlichkeit anzusehen ist.
1 Central-Verein-Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum. Organ des Central-Vereins Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens e. V., Monatsausgabe. Der Zusatz zur Adressierung stammt von Alfred Wiener, Mehr Kleinarbeit! Keine großen Worte! Aus dem am 15. Dezember 1929 erstatteten Geschäftsbericht, in: C. V. Zeitung, 03.01.1930, 2, 4, hier 2. 2 Arnold Paucker, Der jüdische Abwehrkampf gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Hamburg 1968, 51. https://doi.org/10.1515/9783110675535-014
252 Michael Nagel
Deutsch-jüdische Periodika und die allgemeine Öffentlichkeit vor 1925 Die deutsch-jüdische Presse wurde auch außerhalb des Judentums wahrgenommen, wenn auch vielleicht nicht von Anfang an, also seit ihrem Beginn um 1755 mit Mendelssohns kurzlebiger hebräisch-sprachiger Berliner Zeitschrift קהלת מוסר [Kohelet Mussar, dt.: Prediger der Sitten]3, so doch seit dem 1783 in Königsberg begründeten [ המאםףHa Meassef, dt.: Der Sammler]. Dieses Blatt sah sich als Sprachrohr und Versammlungspunkt der jüdischen Aufklärer in Deutschland, der Maskilim.4 Die Intention, auch Nichtjuden zu erreichen, zeigt sich in einer deutschen Beilage. Eine positive Besprechung erschien 1789 im Magazin für die biblisch-orientalische Litteratur und gesammte Philologie (Königsberg und Leipzig, bei Hartung). Der Herausgeber Johann Gottfried Hasse, Professor der Theologie an der Königsberger Universität, urteilt zum Jahrgang 1788 des Ha Meassef: „Im Ganzen sind die Abhandlungen sehr gut […] Sie zeugen deutlich von der redlichen Absicht der Herren Verfasser und müssen jüdischen Lesern sehr willkommen seyn. Besonders empfehlen sie sich durch die Reinigkeit der deutschen (eine wahre Seltenheit bey Juden) sowol als hebräischen Schreibart.“5 Trotz ihrer überwiegend für ein jüdisches Publikum gedachten Inhalte, die für christliche Leser insgesamt von geringem Interesse seien, sollten diese doch zumindest erfahren, dass das Judentum nun erstmalig über eine eigene Monatsschrift verfüge. Durchgehend in deutscher Sprache gedruckt, und deshalb zugänglicher auch für nichtjüdische Leser, erschien 1806–1848 die von dem Dessauer jüdischen Schulleiter David Fränkel herausgegebene Sulamith, im Untertitel: eine 3 Jacob Toury, Die Anfänge des jüdischen Zeitungswesens in Deutschland, in: Leo Baeck Institute Bulletin 38, 1967, 93–123; Michael Nagel, Zur Journalistik der frühen Haskala, in: Susanne Marten-Finnis/Markus Winkler (Hrsg.), Die jüdische Presse im europäischen Kontext 1686– 1990. Bremen 2006, 27–42; von den Beiträgen insbesondere zu Mendelssohns Zeitschrift sei hier nur genannt Moshe Pelli, Kohelet musar, in: Dan Diner (Hrsg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, 7 Bde., Stuttgart/Weimar 2011–2017, hier Bd. 3, 379–381. 4 Von den Publikationen zu dieser Zeitschrift sei hier lediglich genannt Dirk Sadowski, HaMe’assef, in: Ebd., Bd. 2, 532–534. 5 [Johann Gottfried Hasse], Ueber die Aufklärung der jüdischen Nation, zufolge der jüdischen Monatsschrift der Sammler, Königsberg und Berlin 1788, in: Magazin für die biblisch-orientalische Litteratur und gesammte Philologie, 1. T., 3. Abschn. 1789, 193–208, hier 201. Der nichtgezeichnete Beitrag stammt, wie aus dem Inhalt erkennbar, von dem Herausgeber selber, der einleitend zu seiner Besprechung des Ha Meassef von den positiven Erfahrungen mit zahlreichen aufgeklärten Mitgliedern der Königsberger jüdischen Gemeinde berichtet, wie er sie in seinem Amt als Professor der morgenländischen Sprachen an der lokalen Universität hätte machen können.
Die Monatsausgabe der C. V.-Zeitung
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Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation, welche u. a. die Inhalte und das erzieherische Anliegen des Ha Meassef weiterführte. Eine ausführliche lobende Besprechung bringt 1808, als damals führendes deutsches Rezensionsorgan, die Neue Leipziger Literaturzeitung6, wobei besonders die Öffnung gegenüber einem weiteren Publikum Anerkennung findet: Sulamith würde auch Beiträge von Nichtjuden bringen, ein Beweis, „[…] dass in dieser Zeitschrift jener furchtbare Particularismus nicht herrsche, welcher bisher ganz vorzüglich die grössere Annäherung der Juden an ihre Schutznationen verhindert hat.“7 Dass deutsch-jüdische Periodika auch interessierte christliche Leser fanden, geht aus einem Artikel im Rheinisch-Westfälischen Anzeiger von 1822 hervor. Der in Rostock lehrende Hebraist Anton Theodor Hartmann begrüßt hier die Bildungsinitiativen der jüdischen Reformbewegung insgesamt und dabei auch deren Publizistik: Überschauet man die seit mehreren Jahrzehenden in Deutschland erschienenen jüdischen Zeitschriften mit unbefangenem Blicke, so muß man freudig gestehen, daß unter den Edlen dieses Volks ein schöner Wetteifer, in wissenschaftlichen Kenntnissen fortzuschreiten, die größere geistige Bildung der Christen sich anzueignen und durch freiere Ansichten auf ihre Glaubensgenossen lehrreich zu wirken, in neuern Zeiten sich zu regen und thätige Mitarbeiter hervorzurufen angefangen.8
Schauen wir, als letztes Beispiel der Offenheit deutsch-jüdischer Periodika für ein allgemeines Publikum vor 1925, auf die bereits erwähnte Allgemeine Zeitung des Judenthums, Vorläuferin der C. V.-Zeitung und wichtigstes Organ des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert. In seiner Ankündigung des 1837 begonnenen Blattes äußerte der Gründer und bis zu seinem Tode 1889 als Redakteur tätige Rabbiner, Lehrer und Publizist Ludwig Philippson, seine neue Zeitung werde „[…] dem jüdischen und nichtjüdischen Publikum […] dargeboten.“ 9 Wahrnehmung seitens nichtjüdischer Periodika, Mitarbeit von christlichen Autoren, Adressierung eines allgemeinen Publikums – die deutsch-jüdische 6 Neue Leipziger Literaturzeitung, 18.02.1808, 293–295 (Rez. Sulamith, Hefte 1–11), hier 293. 7 Ebd., 294. 8 Anton Theodor Hartmann, Judenbildung. In Beziehung auf die Versuche des Hrn. Dr. Wolfers, in: Rheinisch-Westfälischer Anzeiger 26, 1822, 600–603. Für den freundlichen Hinweis danke ich Astrid Blome. 9 Prospectus, zit. nach Willehad Paul Eckert, Ludwig Philippson und seine Allgemeine Zeitung des Judenthums in den Jahren 1848/49. Die Revolution im Spiegel der Zeitung, in: Studia Austriaca 1, 1974, 112–125, hier 114. Unter den Beiträgen zur Allgemeinen Zeitung des Judenthums sei hier lediglich genannt Michael Nagel, Allgemeine Zeitung des Judenthums, in: Diner, Enzyklopädie (wie Anm. 3), Bd. 1, 39–42.
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Presse wirkte nicht in einem Ghetto. Gleichwohl wird sie dem Gros des allgemeinen Publikums bis in die Weimarer Zeit wohl fremd geblieben sein. Der Zionist Max Bodenheimer beklagte anlässlich der großen internationalen Presse-Ausstellung „Pressa“ in Köln 1928: „Es ist ein tragisches Mißgeschick für diese z. T. vorzüglich geleitete Presse, nicht über den Kreis der jüdischen Bevölkerung hinauszudringen, so daß die Umwelt kaum etwas von den Sorgen und Idealen der Judenheit aus dem Mund ihrer berufenen Vertreter erfährt.“10 Nun war Bodenheimer nicht schwerpunktmäßig im Bereich der deutsch-jüdischen Publizistik tätig, denn sonst wäre ihm die Existenz der bereits seit drei Jahren erscheinenden Monatsausgabe der C. V.-Zeitung nicht entgangen. Von dieser soll, nach dem kurzen historischen Rückblick, nun die Rede sein.
Die Monatsausgabe der C. V.-Zeitung: Ein Bindeglied zwischen jüdischer und allgemeiner Öffentlichkeit? Neben einer knappen Beschreibung der Monatsausgabe soll eingangs kurz auf das Verhältnis von ‚jüdischer‘ und ‚allgemeiner‘ Öffentlichkeit eingegangen werden. Zunächst zur Monatsausgabe: Dass die vermutlich im Juli 1925 begonnene, bis zum Februar 1933 fortgeführte Monatsausgabe als eigenständige Zeitschrift anzusehen ist, und nicht nur als ‚digest‘ der C. V.-Zeitung, betont, nach Avraham Barkai in seinem Standardwerk zum C. V.11, insbesondere Sabine Steinhoff in ihrer ausgezeichneten, 2004 an der Universität Köln eingereichten Magisterarbeit.12 Zum einen richte sie sich explizit vor allem an Nichtjuden, damit an eine andere Leserschaft als das Hauptblatt – das auch, aber weniger vom nichtjüdischen Publikum gelesen wurde –, zum anderen enthalte sie, so insbesondere Steinhoff, zahlreiche Originalbeiträge, die nicht zuvor dort erschienen waren.
10 Max Bodenheimer, Die Jüdische Presse, in: Internationale Presse-Ausstellung Köln 1928 (Hrsg.), Pressa. Kulturschau am Rhein. Berlin 1928, 125–128, hier 128. 11 Avraham Barkai, „Wehr Dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893–1938. München 2002, insbes. 187 f. 12 Sabine Steinhoff, „Haben wir alles getan, was wir konnten…?“ Die Monatsausgabe der CVZeitung „für das nichtjüdische Haus“ in der Spannung zwischen Aufklärung und Abwehrkampf. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Köln 2004. Diese Arbeit bereicherte die Forschung substantiell, erstmals wird hier beispielsweise der Erscheinungszeitraum richtig erkannt.
Die Monatsausgabe der C. V.-Zeitung
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Auch die von der C. V.-Zeitung für die Monatsausgabe übernommenen Artikel seien vielfach redaktionell überarbeitet worden.13 Sodann, in knappster Form, einige Stichworte zum Begriffspaar ‚jüdische‘ und ‚allgemeine‘ Öffentlichkeit; eine gründlichere Diskussion ist an dieser Stelle nicht angestrebt: 1902 hatte der Arzt, Publizist und bedeutende Gesundheitspolitiker Julius Moses in der ersten Nummer der damals von ihm begonnenen Zeitung General-Anzeiger für die gesamten Interessen des Judentums festgestellt: „Das Judentum ist ein Teil des Ganzen, des gesamten Kulturlebens der gesitteten Menschheit. Als solches soll es beleuchtet und dargestellt werden.“14 Eine andere Betrachtungsweise erscheint, damals wie heute, vernünftigerweise nicht möglich, will man nicht in jenen „furchtbaren Particularismus“, sprich die Scheidung von ‚Deutschen‘ und ‚Juden‘ zurückverfallen, den der aufklärerisch gesinnte Rezensent der Neuen Leipziger Literaturzeitung 1808 so hoffnungsvoll für überwunden halten konnte. Mithin ist das deutsche Judentum, spätestens seit dem Beginn seiner Akkulturation in die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft, selbst Teil der allgemeinen Öffentlichkeit. Die deutsch-jüdische Presse grenzte sich nicht gegenüber christlichen Lesern ab, entsprechend wurde sie von ihren jüdischen Lesern auch niemals als ausschließliches Informationsmittel, sondern stets in Ergänzung zur universell berichtenden und kommentierenden allgemeinen Presse gelesen. Demgemäß ist das im Titel artikulierte Anliegen des vorliegenden Beitrages als Frage zu verstehen danach, ob und ggf. wie die Monatsausgabe eine Verbindung zwischen dem jüdischen und dem nichtjüdischen Teil der allgemeinen Öffentlichkeit hergestellt hat. Drei Teilfragen ergeben sich hieraus: 1. Welche Inhalte bietet die Monatsausgabe ihren Adressaten, explizit also nichtjüdischen Lesern? Insbesondere: Haben diese Inhalte, wie es ja der deutsch-jüdischen Publizistik seit der Aufklärung sonst zu eigen ist, stets einen direkten jüdischen Bezug? 13 Dies zeigt die verdienstvolle Analyse sämtlicher 2004 verfügbarer Nummern der Monatsausgabe im Anhang der Arbeit von Sabine Steinhoff (wie Anm. 12). Sie bezeichnet die eigens für die Monatsausgabe geschriebenen Artikel als „Exklusivbeiträge“. 14 Julius Moses, Die jüdische Presse, in: General-Anzeiger für die gesamten Interessen des Judentums 1, 1902. Diese programmatische Einführung in Anliegen und Gehalt des neuen Blattes zeichnete der Herausgeber mit dem Pseudonym „verus“. Zu Julius Moses, seiner Publikationstätigkeit im Bereich der deutsch-jüdischen Presse und seiner späteren politischen Laufbahn vgl. etwa Kurt Nemitz, Von „Heißspornen“ und „Brauseköpfen“. Julius Moses, der „Generalanzeiger für die gesamten Interessen des Judentums“ (1902–1910) und der „Schlemiel“ (1903–1906), in: Michael Nagel (Hrsg.), Zwischen Selbstbehauptung und Verfolgung. Deutsch-jüdische Zeitungen und Zeitschriften von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus. Hildesheim/Zürich/New York 2002, 233–252; Holger Böning, Julius Moses, Volksarzt und Prophet des Schreckens. Ein jüdisches Leben in Deutschland. Bremen 2016.
256 Michael Nagel
2. 3.
Welche nichtjüdischen Autoren veröffentlichen in der Monatsausgabe, zu welchen Themen, mit welchen Intentionen? Wie wird die Monatsausgabe vom nichtjüdischen Publikum wahrgenommen?
Zur Bearbeitung dieser drei Teilfragen wurden die ad hoc verfügbaren, d. h. über compact memory lesbaren Nummern der Monatsausgabe15 durchgesehen. Aus Raum- bzw. Zeitgründen können nicht sämtliche der für die Fragestellung als relevant erachteten Beiträge – insgesamt sind es 75 – nun vorgestellt werden, gleichwohl bildet die hier getroffene Auswahl Tendenzen ab, wie sie für das gesamte Korpus erkennbar sind – pars pro toto.
Zum jüdischen Bezug der Beiträge Warnungen vor dem Nationalsozialismus Viele Artikel zeigen keinen direkten jüdischen Bezug, sondern bringen aktuelle bzw. zeitgeschichtliche Meldungen und Anmerkungen, die dann oft krisenhafte Momente der Weimarer Republik thematisieren. Dabei wird insbesondere vor dem zusehends erstarkenden Nationalsozialismus gewarnt, vor allem indem die Absichten und Methoden dieser Partei und das Verhalten ihrer Gefolgsleute dargestellt, nicht selten aus spezieller Detailkenntnis regelrecht enthüllt werden. Hierzu einige Beispiele: „Für das deutsche Weimar“ ist der prominent ganzseitig auf Seite eins der Juli-Ausgabe 1926 beginnende ausführliche Bericht über die beunruhigenden Begleitumstände des am 4. Juli beendeten Parteitages der NSDAP an diesem Ort betitelt. Beklagt und detailreich belegt wird das enthemmt-brutale Auftreten der angereisten, sich für die Dauer der Versammlung qua Faustrecht als Herren der Stadt gerierenden Nazis. Die Rede ist hier nur von „[…] Anpöbeleien, die nicht den Juden galten“16; die Berichte beziehen sich alleine auf den äußerst aggressiven Terror der Nazis gegenüber SPD-Leuten, Reichsbannermitgliedern und vor allem der lokalen Polizei. In warnendem Tenor werden auch in den folgenden Jahrgängen Methoden und Absichten der Nationalsozialisten aufgedeckt. „Schwere nationalsozialisti15 Das verdienstvolle Portal Compact Memory zeigt erst die Ausgaben ab 1926 an. Nach ZDB befinden sich die Juni-Nr. 1925 in der UB Eichstätt und die Nr. 4 von 1925 in der Stadtbibliothek Mönchengladbach. 16 Monatsausgabe (wie Anm. 1), Juli 1926, 50.
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sche Ausschreitungen in Bremen und Oppenheim“ sind in der September-Ausgabe 1928 dokumentiert.17 Im Beitrag „Der Nationalsozialismus in Bayern“18 wird im Detail, wiederum investigativ recherchiert, vom Wirken der NS-Presse dort berichtet und von Aufmärschen, Feiern und Vortragsveranstaltungen der Partei. Der Artikel „Die Nationalsozialisten regieren Coburg. Und was sie leisteten“ schildert im Oktober 1929 in Form unkommentierter Zitate aus dem lokalen deutschnationalen Blatt Der Kompaß19 die Korruptheit, die Unterschlagungen und Betrügereien der in die Stadtregierung gewählten NSDAP-Leute und die Haltlosigkeit und Nichterfüllung ihrer zuvor gemachten Wahlversprechen.20 Beobachtet werden auch die teilweise illegalen und getarnten, dabei aber mehr oder weniger erfolgreichen Versuche der Nationalsozialisten zur Unterwanderung gesellschaftlicher Institutionen und Organisationen. Die DezemberNummer 1929 bringt, auch hier wieder offensichtlich als Ergebnis eingehender Recherche, die Darstellung „Hitler-Jugend. Ihre ‚Arbeit‘ an den höheren Schulen. – Der Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände lehnt ihre Aufnahme ab“. Trotz eines Erlasses des preußischen Unterrichtsministers vom 4. August 1922, der es Schülern verbot, republikfeindlichen, klassen- und konfessionshetzerischen Vereinen anzugehören, würden die Nazis an den Schulen Aufbauarbeit betreiben, indem sie dort Jugendvereine mit harmlos klingenden Namen gründeten. Berichtet wird von Fällen, in denen einzelne Schulleiter hier gegengesteuert hätten.21 Im März 1930 geht es um „Zellenbildung. Wie die NSDAP in Betriebe, Aemter und Kasernen eindringt“.22 Seit dem Vorjahr würden die Nazis, nach kommunistischem Vorbild, straff und vertikal geführte Betriebszellen in Firmen und Institutionen einrichten. Bei der letzten Betriebsratswahl der BVG (der Berliner Verkehrsbetriebe) hätten sie 1 400 Stimmen erhalten. Unterwandert werde auch 17 Ebd., September 1928, 78 f. 18 Ebd., Oktober 1928, 93. Mit Detailkenntnis werden hier die Tätigkeit der dortigen NS-Presse und das persönliche Wirken von Nationalsozialisten in der Öffentlichkeit dargestellt: Reden, Aufmärsche, Feiern etc. 19 Der Kompaß. Coburgische Landeszeitung für vaterländische und deutschnationale Belange, Coburg 1929–1930. 20 Monatsausgabe (wie Anm. 1), Oktober 1929, 68 f. In Coburg hatten die Nationalsozialisten bekanntlich bereits ab Juni 1929, damit früher als in anderen deutschen Städten, eine Mehrheit im Stadtrat. Der frühe Erfolg der Partei lag u. a. an der Unterstützung durch das dortige Herzogshaus. 21 Ebd., Dezember 1929, 83. 22 Ebd., März 1930, 17 f. Hinsichtlich der Betriebe heißt es hier: „Gewiss braucht man die Gefahr nicht zu überschätzen, denn der deutsche Arbeiter ist durch die jahrzehntelange Erziehungsarbeit der Gewerkschaften in seiner Masse wirtschaftlich und politisch aufgeklärt genug, um den Phrasen der Nationalsozialisten widerstehen zu können.“ (ebd., 18).
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die preußische Schutzpolizei, die bisher als republiktreu gelte, ebenso die Reichswehr, „[…] wie Verhaftungen in Ulm und in Kassel beweisen“.23
Warnungen vor der Skandal- und völkischen Presse Neben der politischen Praxis der Nationalsozialisten galt das Augenmerk der Monatsbeilage auch ihrer Presse und Propaganda, wobei hier ebenfalls relativ wenig von Jüdischem bzw. Judenfeindlichem die Rede ist (außer wenn es um den ausschließlich in dieses Horn stoßenden Stürmer geht). Bei der kritischen Darstellung hetzerisch-lügenhafter NS-Blätter und -Artikel wird in der Regel an die Urteilsfähigkeit und den Geschmack eines als hinreichend gebildet erachteten nichtjüdischen Publikums appelliert. Der erste Beitrag dieser Art vom November 1926 trägt den langen Titel „Vom ‚Skandal der Skandalblätter‘ – Ein merkwürdiger Vorkämpfer – Skandal und Portemonnaie – Hauptsache: Die aufreizende Ueberschrift – Ecke Leipziger und Friedrich-Strasse – Wird es besser?“24 Die reißerischen Titel derartiger Blätter würden gelegentlich auch Verständige neugierig machen und zum Kauf bewegen; am besten könne man sie jedoch durch Ignorieren, also ökonomisch, bekämpfen, denn sie seien kaum aus Überzeugung, vielmehr aus Geschäftssinn verfasst und in Umlauf gebracht. Es folgt ein längeres Zitat hierzu aus einer aktuellen Zeitung: Der Durchschnittsleser ist […] geneigt zu glauben, was er schwarz auf weiß gedruckt sieht. Wenn er vollends merkt, daß die tollsten Lügen und Entstellungen solcher Winkelblätter in die Welt hinausgehen, ohne daß irgendwo in der Oeffentlichkeit laut dagegen Einspruch erhoben wird, wird dieser Glaube für ihn zur Gewißheit, und es ist dann nur noch ein kleiner Schritt bis zu dem Gedanken, die Tagespresse unterdrücke absichtlich gewisse Vorkommnisse, sobald sie für die Angehörigen der ‚besseren Stände‘ peinlich seien. Diesen Verdacht müssen die ernsthaften Tagesblätter schon im Keim ersticken und überall eine überparteiliche ‚Front der Anständigkeit‘ bilden, die nicht rastet noch ruht, bis das letzte Schandblatt der allgemeinen Verachtung verfällt und an dem Boykott der innerlich sauberen Menschen zugrunde geht. Die verantwortlichen Stellen des Staates, und namentlich die Volksvertreter, sollten sich aber einmal ernstlich überlegen, ob im Kampf gegen die unlautere Skandalpresse nicht doch neue gesetzgeberische Wege beschritten wer-
23 Angesprochen wird hier der im September und Oktober d. J. vor dem Leipziger Reichsgericht abgehaltene Prozess gegen drei Leutnants eines Regimentes in Ulm wegen Werbung für den Nationalsozialismus in der Truppe, der mit Urteilen zu jeweils 18 Monaten Festungshaft wegen Hochverrats endete. Im Zusammenhang der Prüfung, ob die NSDAP verfassungsfeindlich sei, wurde als Zeuge im September auch Hitler vernommen. 24 Monatsausgabe (wie Anm. 1), November 1926, 83 f.
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den können, die dem Ziele der Sauberhaltung des öffentlichen Lebens dienen, ohne das kostbare Gut einer wohlverstandenen Pressefreiheit zu gefährden.25
Stammt dieses zeitlos aktuelle Zitat aus einem liberalen, allenfalls konservativen Blatt? Verblüffenderweise nicht: Die Monatsausgabe hat es, wie sie angibt, dem Deutschen Tageblatt entnommen, dem „offizielle[n] Organ der Berliner Völkischen“,26 welches „[…] unter der Maske einer strengen Sachlichkeit – die den naiven Leser am meisten besticht – mehr und wirksameres Gift verspritzt […]“27 als viele andere dieser Art. „Welche Ironie also, daß gerade dieses Blatt einen Artikel über den Skandal der Skandalblätter schreibt!“28 Im Oktober 1928 bringt die Monatsausgabe die unkommentierte Zusammenstellung „Aus völkischen Zeitungen. Zwanzig Überschriften. Auch ein Beitrag zur deutschen Literatur- und Sittengeschichte“.29 An Absurdität sind, aus heutiger und vielleicht auch damaliger Warte, die hier zusammengetragenen durchweg aggressiv antisemitischen Titel nicht zu überbieten. Einige Beispiele: „Der Mord im Schwarzwald (Entblößt, beraubt und geschächtet) (‚Der Stürmer‘, Nr. 27, Juli 1928)“; „Der Vater heiratet seine Tochter und der Bruder seine Schwester (So etwas ist nur bei Juden möglich) (‚Der Stürmer‘, Nr. 35, August 1928)“; „Der Judenfluch über Schillers Gebeine (‚Deutsche Wochenschau‘, Nr. 33, August 1928)“; „Jude – Arzt – Mädchenschänder. Die Leporelloliste des jüdischen Wüstlings (‚Berliner Arbeiterzeitung‘, Nr. 26, Juni 1928)“; „Christusmörder in Schwandorf (‚Der Stürmer‘, Nr. 15, April 1928).“30 Ähnlich heißt es dann im Juni 1929: „Nutznießer der Lüsternheit. Gegen den ‚Stürmer‘ und seine Gesinnungsverwandten“. Hier wird der pornographischpikante Stil von Streichers Hetzblatt als profitables Geschäftsmodell erkannt, einschließlich der stets damit verbundenen scheinheiligen Entrüstung und des vorgeblichen Zieles einer Bewahrung der ‚arischen Reinheit‘.31 Die Monatsausgabe klärte ihre nichtjüdischen Leser eindringlich, ausführlich und kenntnisreich über nationalsozialistische Umtriebe auf, und sie vermochte die lügenhafte Propaganda der NSDAP stichhaltig zu entlarven. Vermutlich kann man ihr diesbezüglich eine Sonderstellung in der Weimarer Presselandschaft seit 1925 zuschreiben. Dabei werden jüdische Deutsche, also die 25 Ebd., 83. 26 Das deutsche Tageblatt. Kampfblatt der deutsch-völkischen Freiheitsbewegung. Großdeutsche Warte, Berlin 1921–1929[?]. 27 Monatsausgabe (wie Anm. 1), November 1926, 83. 28 Ebd. 29 Ebd., Oktober 1928, 93. 30 Alle ebd. 31 Ebd., Juli 1929, 47 f.
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hauptsächlich Angegriffenen, in den entsprechenden Artikeln allenfalls am Rande, oft gar nicht erwähnt, so dass sich die nichtjüdische Leserschaft hier vor allem angesprochen fühlen konnte.
Welche nichtjüdischen Autoren veröffentlichen in der Monatsausgabe, zu welchen Themen, mit welchen Intentionen? Nichtjüdische Autoren Die Positionierung der Monatsausgabe in der allgemeinen Öffentlichkeit zeigt sich auch an der bemerkenswerten Beteiligung nichtjüdischer Autorinnen und Autoren. Maß ihnen die Redaktion eine besondere Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft zu? Sie konnten die Leser, so war vielleicht die Überlegung, eher zur Identifizierung einladen als jüdische Publizisten, die ‚in eigener Sache‘ argumentierten. Man fühlt sich hier an eine Feststellung von Moses Mendelssohn erinnert, der 1786 betont hatte, der Kampf gegen judenfeindliche Unterstellungen müsse von wohlmeinenden Christen ausgetragen werden. Er hatte damals die Mitwirkung an dem Zeitschriftenprojekt eines christlichen Gelehrten für die Belange der Juden mit der Begründung abgelehnt: „Juden müssen sich also gar nicht einmischen, um die großmüthige Absicht [also den Kampf gegen antijüdische Vorurteile, Anm. M. N.] zu befördern. Sobald dies geschiehet, sobald muß sie auch gemißdeutet und übel ausgelegt werden.“32 Andererseits passen die Beiträge von nichtjüdischer Seite nicht zu dem früheren Grundsatz des C. V., die Verteidigung gegen Judenfeinde offensiv und öffentlich in die eigene Hand zu nehmen und nicht anderen zu überlassen. Wegen des aggressiven Antisemitismus der Weimarer Zeit musste die Redaktion von diesem Grundsatz offensichtlich abrücken. Was waren es für Nichtjuden, die in der Monatsausgabe schrieben? Den Berufsbezeichnungen, militärischen und zivilen Titeln nach, die bei den Namen stehen, sind es selten herausragend prominente Persönlichkeiten, sondern vielfach bürgerliche Akademiker, also Verwaltungsleute, Pfarrer, Lehrer, darunter 32 Zit. nach Michael Nagel, Judenbibliothek. Zum Besten jüdischer und christlicher Armen (1786/1787). Ein jüdisch-christliches Zeitschriftenprojekt für Toleranz und Emanzipation, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 1, 1999, 87–112, das Zitat 97, Nachweis von Mendelssohns diesbezüglicher Korrespondenz 109.
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auch solche im Ruhestand, Schriftsteller und Journalisten, gegenwärtige und frühere Politiker vor allem aus SPD und DDP, und wiederholt frühere, seltenerweise auch aktive Offiziere. Thomas Mann ist der damals wie heute bekannteste Verfasser; er gestattete einen Abdruck seiner 1930 in Berlin gegen den Nationalsozialismus gehaltenen Rede „Appell an die Vernunft“ in der Oktober-Nummer.33 Walter von Molo, nach 1945 dann Gegner Thomas Manns im Streit um die ‚Innere Emigration‘ deutscher Schriftsteller seit 1933, beklagt im September 1928 die weitverbreitete Schändung jüdischer Friedhöfe.34 Eine Ausnahme als Nichtakademiker ist im Juli 1928 der Handwerker A. Deuber aus Breslau mit seinem auf den 29. April d. J. datierten Schreiben an die Redaktion „Warum ich nicht Antisemit bin“ (nämlich aufgrund vielfach positiver persönlicher Erfahrungen mit Juden seit der Schülerzeit), eingeleitet durch die Bemerkung der Schriftleitung: „Ein einfacher christlicher Handwerker aus Breslau sandte uns unaufgefordert nachstehenden Brief.“35 Der Einsender kommentiert sein Schreiben gegen die Dummheit und Lebensfremdheit antisemitischer Vorurteile abschließend mit der Bemerkung: „Zur Beruhigung der erregten Gemüter: Unaufgefordert von irgend einem reichen Juden habe ich meine Gedanken hier niedergelegt.“36 Nicht alle der Einsender wollten sich zu ihrer Verbindung mit dem deutschjüdischen Blatt bekennen. Von den Zuschriften der im Januar 1930 begonnenen Rubrik „Unsere Leser schreiben“ sind manche gar nicht, andere nur mit Initialen gezeichnet, gut die Hälfte allerdings mit Namen, Ort und ggf. auch Profession. Im September 1931 stellt sich unter dem Titel „Lebenserfahrungen. Christliche Leser unserer Zeitung schreiben uns“ ein Einsender vor als „Ein Polizeibeamter“.
Die Anliegen der nichtjüdischen Beiträger Viele Beiträge der Redaktion selbst oder von jüdischen Autoren wenden sich, wie bereits bemerkt, allgemeinen gesellschaftlich-politischen Gegenwartsfragen zu und zeigen dabei keinen, oder kaum einen, jüdischen Bezug. Den nichtjüdi-
33 Monatsausgabe (wie Anm. 1), Oktober 1930, zuvor in der C. V.-Zeitung am 24.10.1930 ebenfalls als Teilabdruck. 34 Walter von Molo, Tollwut / 60 Friedhofsschändungen in Deutschland, in: Monatsausgabe (wie Anm. 1), September 1928. 35 Ebd., Juli 1928, 70. 36 Ebd.
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schen Einsendern dagegen geht es stets um Jüdisches, nämlich um die Widerlegung judenfeindlicher Unterstellungen.37 Ein Beispiel: Zu den nichtjüdischen Autoren der Monatsausgabe zählen, wie gesagt, Offiziere des Ersten Weltkriegs. Ihre Beiträge richten sich in der Regel gegen den seit der ‚Judenzählung‘ 1916 virulenten, in der Weimarer Epoche zum antisemitischen Repertoire gehörigen Vorwurf der jüdischen ‚Drückebergerei‘ im Ersten Weltkrieg. Max Brunzlow, Oberstleutnant a. D., (dann Polizeioffizier?38), Mitglied der DDP und Leiter des ‚Büros Wilhelmstraße‘ seit dessen Gründung im Spätsommer 1929, berichtet in der April-Nummer 1928 von hervorragend qualifizierten jüdischen Offiziersanwärtern, die trotz seiner Befürwortung als zuständiger Bataillonskommandeur vom mehrheitlich judenfeindlichen Offizierskorps nicht zur Beförderung zugelassen wurden. Brunzlow war kein Unbekannter, bereits 1927 hatte er im Berliner Tageblatt unter dem Titel „Warum schweigen die Offiziere“ auf die Schändung jüdischer Soldatengräber hingewiesen.39 In der Mai-Nummer 1930 der Monatsausgabe macht er unter dem Titel „An meine alten Kameraden“ auf den überdurchschnittlichen Einsatz jüdischer Soldaten und Offiziere im letzten Krieg aufmerksam, der gleichwohl von vielen seiner damaligen Kameraden geleugnet werde. Diese wahrheitswidrige Herabsetzung der jüdischen Mitkämpfer erklärt er als ehrlos und erinnert an einen 1874 ergangenen Befehl Wilhelms I. an das deutsche Offizierskorps, die Ehre von Kameraden dürfe nie verletzt, die eigene müsse stets gewahrt werden.40 Die meisten nichtjüdischen Beiträger aus dem zivilen Bereich berichten von selbst erfahrener jüdischer Hilfsbereitschaft und uneigennütziger Unterstützung in schwierigen Lebenslagen und wollen so den Unterstellungen von ‚jüdischer Gier‘ und ‚jüdischem Geiz‘ begegnen.41 In der Mai/Juni-Ausgabe 1932 beklagen allerdings drei anonyme Einsender in der Rubrik „Unsere Leser schreiben“ – zwei davon zeichnen mit Initialen, einer mit „veritas“ –, es sei ihnen nicht ge37 Diese Unterstellungen können, recht betrachtet, nicht als etwas ‚Jüdisches‘ verstanden werden, sondern charakterisieren den Zustand der Gesellschaft, aus der sie hervorgehen. Andererseits sind Juden hier die Leidtragenden, und von persönlichen positiven Begegnungen mit ihnen ist in den fraglichen Beiträgen stets die Rede. 38 So bei Paucker, Der jüdische Abwehrkampf (wie Anm. 2), 114; hier wird Brunzlow als „Titularchef“ angesehen. Vgl. auch Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 11), 199, wo Oberstleutnant a. D. Brunzlow, vermutlich im Anschluss an Paucker, als „ehemaliger Polizei-Oberleutnant“ bezeichnet wird. Max Brunzlow war nomineller Leiter des seit 1929 arbeitenden ‚Büros Wilhelmstraße‘ zur qualifizierten Gegenpropaganda bzw. Abwehrarbeit gegen den NS. 39 Vgl. Jacob Rosenthal, „Die Ehre des jüdischen Soldaten“. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen. Frankfurt a. M./New York 2007, 153. Der Verfasser gibt hier keinen präzisen Literaturhinweis. 40 Vgl. Monatsausgabe (wie Anm. 1), Mai 1930, 44. 41 Vgl. Unsere Leser schreiben, in: ebd., Januar 1930 sowie März 1930.
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lungen, mit solchen wahrheitsgemäßen Erzählungen selbst erfahrener jüdischer Unterstützung antisemitische Vorurteile in ihrem Bekanntenkreis ins Wanken zu bringen.42
Wie wurde die Monatsausgabe in der Öffentlichkeit bzw. von ihren Lesern wahrgenommen? Diese Frage lässt sich hier, mit der Beschränkung auf die Monatsausgabe als wesentliche Quelle, nur punktuell und wenig zuverlässig beantworten, aber sie soll doch zumindest angesprochen werden. Zu Überlegungen des C. V. bezüglich der Leserschaft der Monatsausgabe wird Simon Sax aus relevanten Quellen in absehbarer Zeit mehr und Genaueres beitragen können.43 Welche Rolle spielte die Monatsausgabe in der Öffentlichkeit? Eine recht geringe, wenn man auf die Zahlen blickt. Der allgemeinen Presse war zumindest ihre Existenz bekannt, denn die C. V.-Zeitung ging damals an etwa 700 Zeitungsredaktionen und die Monatsausgabe höchstwahrscheinlich ebenfalls. Hier gab es, wie gleich auszuführen ist, durchaus Reaktionen. An einzelne, von den Landesverbänden und Ortsgruppen des C. V. ausgewählte Empfänger wurden 1927 ca. 52 000 Exemplare versandt. Die Reaktion dieser relativ wenigen Bezieher – falls man sie so bezeichnen kann – war, nach Arnold Paucker, „äußerst bescheiden.“44 In Württemberg äußerten auf eine Anfrage der Redaktion hin weniger als zehn Prozent der Angeschriebenen ihr Interesse, die Monatsausgabe weiterhin zu beziehen.45 Für den C. V. kam diese geringe Resonanz wohl nicht unvermutet, denn bereits 1921–1924 hatte er mit dem mühsamen Vertrieb seiner Aufklärungsbroschüren ähnliche Erfahrungen machen müssen.46 Hier soll und kann jedoch nicht der Versuch angestellt werden, der Akzeptanz und Wirkung der Monatsausgabe quantitativ nachzuspüren. Vielmehr geht 42 Unsere Leser schreiben, in: ebd., Mai/Juni 1932. 43 Simon Sax, Zur Leserschaft der Monatsausgabe der C. V.-Zeitung nach 1930, in: Susanne Marten-Finnis/Michael Nagel (Hrsg.), The Historical German Jewish Press as Interface. Platform, Mouthpiece, and Sources of Current Research Programmes / Die historische deutsch-jüdische Presse als Schnittstelle. Forum einer Minderheit, Sprachrohr nach außen, Gegenstand und Quellenfundus der aktuellen Forschung (im Druck). 44 Paucker, Der jüdische Abwehrkampf (wie Anm. 2), 51. 45 Vgl. ebd.; Arnold Paucker schreibt von „sieben Prozent der Lehrer und zehn Prozent der Beamten“ unter den Empfängern, die weiterhin Interesse hätten. 46 Barkai, Wehr Dich (wie Anm. 11), 188 „[…] das Interesse des Publikums […] muß […] erst geweckt werden,“ stellte der Tätigkeitsbericht des C. V. für 1921–1924 fest.
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es um ihre Qualität, ihre Gestaltung als Blatt für eine allgemeine Öffentlichkeit. Dass sie hier in der Tat Beachtung erfuhr, belegen Attacken seitens der völkischen Presse: Im Februar 1929 begann in der Monatsausgabe, unregelmäßig fortgeführt, die Rubrik „Weisst Du das?“ mit Richtigstellungen antisemitischer Anschuldigungen, inhaltlich und zum Teil textgetreu übernommen aus dem spätestens seit 1924 erschienenen, relativ erfolgreichen Anti-Anti des C. V.47 Sehr bald hatte die völkische Nationale Volkszeitung aus Hof48 diese Richtigstellungen in ihrem Sinne, das heißt durch neue lügnerische Gegenbehauptungen, ‚widerlegt‘. Hierauf antwortete wiederum die Monatsausgabe in ihrer April-Ausgabe. Unter der Überschrift „Wir sagen dazu“ zeigt sie, in sachlichem Ton, die Haltlosigkeit der erneuerten antisemitischen Unterstellungen und führt im Anschluss die Rubrik weiter. Eine ähnliche Fehde wurde ab dem Februar 1931 über mehrere Nummern mit dem Völkischen Beobachter ausgetragen.49 Dass manche der Leser sich mit Beiträgen beteiligten, wurde erwähnt. Darüber hinaus gab es Zuschriften an die Redaktion, in denen es offensichtlich auch um Anliegen und Zielgruppe des Blattes ging. Hierzu äußert sich die Schriftleitung in der Augustnummer 1927: An unsere Leser! Wiederholt sind bei unseren Landesverbänden und in der Schriftleitung Zuschriften von Empfängern der ‚Monatsausgabe‘ oder anderer Aufklärungsliteratur eingegangen, in denen die Briefschreiber sich gegen den Verdacht des Antisemitismus wehren. Es ist ein Missverständnis, in der Zusendung der ‚C. V.-Zeitung‘ [gemeint ist hier die Monatsausgabe, Anm. M. N.] und anderer Aufklärungsschriften den Vorwurf des Antisemitismus erblicken zu wollen. Wir senden grundsätzlich niemandem, der uns als Judenfeind bekannt ist, unser Material; denn diese Leute wollen ja nicht belehrt werden. Wir wenden uns vielmehr nur an solche Mitbürger, bei denen wir voraussetzen dürfen, dass
47 Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (Hrsg.), Anti-Anti [manche Aufl. mit Zusatz: Blätter zur Abwehr]. Tatsachen zur Judenfrage. Berlin 1923 [oder bereits 1920?]; 7 Aufl. bis 1933, insges. ca. 33 000. Dies war eine von Ausgabe zu Ausgabe erweiterte Lose-BlattSammlung zur Argumentationshilfe in Versammlungen und Diskussionen; die Ausgabe von 1923 zählte 58 Blätter bzw. Stichworte, die 6. Aufl., 24.–26. Tsd., o. J., 79 Stichworte, von denen viele bis zu vier Blätter umfassten. Zur angeblich ‚jüdischen‘ Freimaurerei heißt es in der Monatsausgabe Februar 1929: „Freimaurer waren nicht nur Lessing, Herder, Wieland und Goethe, sondern sämtliche preußischen Könige seit Friedrich dem Großen“ (ebd., 11), wortwörtlich ebenso im Anti-Anti, 6. Aufl. [o. J.], Bl. 21 „Freimaurerei und Judentum“. 48 Nationale Volks-Zeitung. Einzige nationalsozialistische Tageszeitung Mitteldeutschlands, Hof 1928–1929 [mind.]. 49 Monatsausgabe (wie Anm. 1), Februar 1931, „Nachwort der Schriftleitung“: Hier beginnt eine über mehrere Nummern fortgeführte Pressefehde zwischen der Monatsausgabe und dem Völkischen Beobachter um die nationale Zugehörigkeit der jüdischen Deutschen; der VB führt dabei als ‚Argument‘ u. a. aktuelle Verlautbarungen zionistischer Organisationen an.
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sie den guten Willen und die Vorurteilslosigkeit besitzen, um auch unsere Gründe und Beweise kennenzulernen.50
Es ist schwer zu sagen, wie erfolgreich dieses Konzept war. Zur Verbindung mit der Leserschaft äußert sich die Schriftleitung nochmals ausführlicher in einem optimistischen programmatischen Leitartikel der Mai/Juni-Nummer 1932 mit dem Titel „Was will diese Zeitung?“: Viele Zuschriften aus dem Kreis der Empfänger zeigen uns, daß diese stetige Verbindung mit einem nichtjüdischen Leserkreis ihren Zweck erreicht. Es kann uns zur Genugtuung gereichen, daß in diesen Zuschriften vielfach der objektive, sachliche Ton der Zeitung gerühmt und damit unsere ehrliche Absicht anerkannt wird. Es ist kein Ton, der demagogisch auf die Massen wirkt, aber schließlich ist gerade in erregten Zeiten das wichtigste, sich an einen Kern wohlwollender, anständiger Menschen halten zu können. Wir rechnen auch mit künftigen Zeiten, in denen die gute deutsche Bildung und Tradition wieder stärkeren Einfluß im Volk gewinnen wird als jetzt.51
Resumée Die deutsch-jüdische Presse beschränkte sich seit ihrem Beginn nicht auf den jüdischen Teil der Bevölkerung, sondern sie war, wie jede Presse, Teil der allgemeinen Publizistik. In besonderem Maße gilt dies für die Monatsausgabe, die sich in Inhalten, Stil und Leseransprache an bürgerlich-gebildete Vertreter vor allem der nichtjüdischen Öffentlichkeit wandte. Die Redaktion konnte, wohl mit Recht, annehmen, dass zumindest einem Teil dieser von den Landesverbänden des C. V. ausgewählten Leserschaft die ungezügelte Aggressivität und primitive, verlogene Argumentation der Nationalsozialisten zuwider war. So trat die Monatsausgabe nicht nur als Verteidigerin des maßlos attackierten deutschen Judentums, sondern auch als Anwältin dieses nichtjüdischen Publikums und der gefährdeten Gesellschaft insgesamt auf. Sie war das Sprachrohr eines – wenn auch vergleichsweise kleinen – Teiles der republikanisch-demokratisch gesonnenen allgemeinen Öffentlichkeit, damit als jüdisches Blatt auch ein Bindeglied zwischen jüdischer und nichtjüdischer Öffentlichkeit. Hans Reichmann52 erklärte in der Dezember-Nummer 1932 in einem längeren Leitartikel mit der Überschrift „Dem inneren Frieden. Deutsche ‚und‘ Juden“, welche Nichtjuden der C. V. erreichen und zum Nachdenken bewegen wol50 Monatsausgabe (wie Anm. 1), August 1927, 63. 51 Ebd., Mai/Juni 1932, 25. 52 Hans Reichmann war zu dieser Zeit bekanntlich Syndikus des C. V., engagiert im Reichsbanner und eigentlicher – nicht nomineller – Leiter des ‚Büros Wilhelmstraße‘.
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le, nämlich nicht die relativ wenigen „gewerbsmäßigen Demagogen“, auch nicht die – vorgeblich – wissenschaftlich argumentierenden Antisemiten, sondern die Mehrheit derjenigen, denen Antisemitismus und Judentum bisher noch gleichgültig sei. Diesen möchte er klarmachen, dass es bei der Auseinandersetzung eigentlich gar nicht „[…] um das eine Prozent deutscher Volksangehöriger geht, das jüdischen Bekenntnisses und jüdischer Abstammung ist. Es geht um viel mehr: um die menschliche und Geistesfreiheit, um das Recht und die Wahrung des deutschen Ansehens gegen den Vorwurf der Barbarei und um den inneren Frieden im deutschen Volke.“53
53 Hans Reichmann, Dem inneren Frieden. Deutsche ‚und‘ Juden, in: Monatsausgabe (wie Anm. 1), Dezember 1932, 73–76, hier 74. In Titel wie Inhalt bezieht Reichmann sich hier sowohl auf Jakob Wassermanns 1921 erschienene Autobiographie Mein Weg als Deutscher und Jude als auch auf die aktuelle Notverordnung der Reichsregierung zur „Erhaltung des inneren Friedens“.
Tobias Bargmann
Eine C. V.-Zeitschrift? Der Morgen (1925–1938) im Spannungsfeld von C. V.Nähe und publizistischer Eigenständigkeit Einleitung In den Forschungen zum Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) ist ein Kapitel bislang auffallend wenig untersucht worden, das zu den wichtigsten kulturpolitischen Projekten des deutschsprachigen Judentums der 1920er und 1930er Jahre gezählt werden darf. Über einen Zeitraum von anderthalb Jahrzehnten förderte der C. V. ein publizistisches Forum, das sich als ein zentrales Organ des deutschen Judentums verstand und damit in einer gewissen programmatischen Konkurrenz zum Verein stand. So wollte dieses Forum „frei von jeder jüdisch-politischen Bindung“1 zur Einigung des deutschen Judentums beitragen und sich dabei von niemandem vereinnahmen lassen. „Die Ztschr. [Zeitschrift; Anm. T. B.] muss, muss, muss unabhängig bleiben, um unparteiisch zu sein. Sonst stirbt sie vor der Geburt“2, forderte Margarete Goldstein schon vor deren Gründung und formulierte damit einen Anspruch, der über den gesamten Erscheinungszeitraum leitmotivisch blieb. Die Rede ist von der Kulturzeitschrift Der Morgen, deren äußere Umrisse sich wie folgt zusammenfassen lassen: Gegründet von dem Darmstädter Philosophen und Kultursoziologen Julius Goldstein, erschienen ab April 1925 als Zweimonatsschrift im Philo-Verlag, nach Goldsteins Tod im Jahr 1929 von dessen Ehefrau Margarete und dem Offenbacher Rabbiner Max Dienemann weitergeführt; ab Oktober 1933 in einem neuen Format (als Monatsschrift der deutschen Juden) und mit einem neuen Schriftleiter-Duo, Eva Reichmann-Jungmann und Hans Bach, fortgesetzt; fünfeinhalb Jahre unter den Bedingungen des NS-Regimes bestanden; schließlich dem Verbot aller bis dato erscheinenden jüdischen Periodika im Nachgang des Novemberpogroms 1938 zum Opfer gefallen: Emigration der Beteiligten, im Exil keinerlei Fortsetzung.
1 Werbung „Der ‚Morgen‘ plant im zehnten Jahr“ / „6 Monate ist der ‚Morgen‘ Monatsschrift“, in: Der Morgen. Monatsschrift der deutschen Juden 9,9, 1934, 499–502. 2 Leo Baeck Institute, New York/Berlin (LBI), Julius and Margarete Goldstein Collection, AR 7167 (MF 720), Box 3, Folder 14: Margarete an Julius Goldstein, Schreiben vom 17. Januar 1925. https://doi.org/10.1515/9783110675535-015
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Auf ein paar schlichte Zahlen gebracht: dreizehneinhalb Jahrgänge, 112 Hefte mit teilweise mehr als 100 Seiten, rund 8 000 Seiten Gesamtumfang, über fünfhundert Autorinnen und Autoren, bis zu 3 550 Abonnenten, die Leserschaft mutmaßlich deutlich zahlreicher. Kurzum: Hinsichtlich Erscheinungsdauer, Umfang und Beteiligung, aber auch nach Ambition und Prestige handelt es sich um das größte Zeitschriftenprojekt innerhalb des deutschsprachigen Judentums jener Jahre und ein Organ, dessen „Orientierungsfunktion“ (Gert Mattenklott) sich durchaus mit der von Martin Bubers Zeitschrift Der Jude (1916–1928) vergleichen lässt.3 Umso bemerkenswerter ist, dass der Morgen in den Forschungen zur jüdischen Presse und Kultur der 1920er und 1930er Jahre bisher ein Schattendasein geführt hat. Während große Teile des publizistischen Umfelds mittlerweile (monographisch) erschlossen sind – zu nennen sind hier neben den einschlägigen Arbeiten zur jüdischen Presse4 etwa Martin Bubers Zeitschrift Der Jude5, das C. V.-Vereinsblatt Im deutschen Reich6 und die C. V.-Zeitung7, aber auch der Phi3 Gert Mattenklott, Juden in NS-Deutschland. ‚Der Morgen‘ 1933–1938, in: Kerstin Schoor (Hrsg.), Zwischen Rassenhass und Identitätssuche. Deutsch-jüdische literarische Kultur im nationalsozialistischen Deutschland. Göttingen 2010, 77–88, hier 79. 4 Vgl. Margaret T. Edelheim-Muehsam, The Jewish Press in Germany, in: Leo Baeck Institute Yearbook (LBIYB) 1,1, 1956, 163–176; Jacob Boas, The Jews of Germany. Self-Perceptions in the Nazi Era as Reflected in the German Jewish Press 1933–1938. Diss. Riverside (USA), 1977; Gert Mattenklott, Spuren eines gemeinsamen Weges. Deutsch-jüdische Zeitschriftenkultur 1910– 1933, in: Merkur 42,2, 1988, 570–581; Herbert Freeden, Die jüdische Presse im Dritten Reich. Eine Veröffentlichung des Leo Baeck Instituts. Frankfurt am Main 1987; Katrin Diehl, Die jüdische Presse im Dritten Reich. Zwischen Selbstbehauptung und Fremdbestimmung. Tübingen 1997; Claudia S. Mohr, Die Kultur- und Literaturdebatte der jüdischen Periodika 1933–1938 im nationalsozialistischen Deutschland. Diss. Münster (Westfalen), 2000; Gabriel Eikenberg, Der Mythos deutscher Kultur im Spiegel jüdischer Presse in Deutschland und Österreich von 1918 bis 1938. (Haskala, 40.) Hildesheim/Zürich/New York 2010. 5 Silvia Cresti, Aporien der jüdischen Identität. Literatur und Judentum in der Zeitschrift ‚Der Jude‘ von Martin Buber, in: Wolfgang Benz/Arnold Paucker/Peter G. J. Pulzer (Hrsg.), Jüdisches Leben in der Weimarer Republik. Tübingen 1998, 253–267; Eleonore Lappin, ‚Der Jude‘ 1916– 1928. Jüdische Moderne zwischen Universalismus und Partikularismus. (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, 62.) Tübingen 2000; Dies., Fakten und Propaganda in der zionistischen Presse am Beispiel der Monatsschrift ‚Der Jude‘, in: Susanne Marten-Finnis/Markus Bauer (Hrsg.), Die jüdische Presse. Forschungsmethoden – Erfahrungen – Ergebnisse. (Presse und Geschichte, 28.) Bremen 2007, 159–177. 6 Dominic Bitzer, ‚Im deutschen Reich‘. Das publizistische Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Diss. Aachen 2013. 7 Reiner Bernstein, Zwischen Emanzipation und Antisemitismus. Die Publizistik der deutschen Juden am Beispiel der ‚C. V.-Zeitung‘, Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, 1924–1933. Diss. Berlin 1969; Stephan Meyer, Deutsche Juden zwischen sprachgeprägter Kulturnation und rassischer Staatsfundierung. Analyse der ‚Central-Verein-
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lo-Verlag8 und der Centralverein9 – gibt es zum Morgen weiterhin nur wenige, vor allem punktuelle Vorarbeiten.10 Noch immer ist Gert Mattenklotts kurzer Aufsatz aus dem Jahr 2010 der bisher einzige Versuch, die publizistische Rolle der Zeitschrift als Ganzes zu erfassen.11 An der ersten Monographie zum Morgen arbeitet der Verfasser im Rahmen seines Promotionsvorhabens (Arbeitstitel „Der Morgen (1925–1938). Ein geistiges Forum des deutschen Judentums“). Ein wesentlicher Aspekt der Zeitschriftengeschichte ist das Verhältnis von Morgen und Centralverein. Dieses ist in der nunmehr doch recht umfangreich gewordenen Forschung zum C. V. entweder überhaupt nicht oder nur recht einsilbig beantwortet worden. Wenn Susanne Urban-Fahr in ihrer Studie über den Philo-Verlag etwa von einer „Einbindung des Morgen in eine jüdische Organisation“12 spricht (gemeint ist der C. V.), bleibt weitgehend fraglich, worin diese genau bestanden hat: Nur in der Tatsache, dass die Zeitschrift im vereinseigenen Zeitung‘ 1922–1938. Magisterarbeit Köln 2002; Miriam K. Sarnecki, Doppelte Ungleichzeitigkeit. Die ‚C. V.-Zeitung‘ von 1925 bis 1933 – Zeitzeugnis eines Pionierprojekts postkolonialer Akkulturation. Gießen 2018. 8 Helmuth F. Braun, Der Philo Verlag 1919–1938. Ein Berliner Verlag für jüdische Abwehr- und Aufklärungsliteratur, in: Berlinische Notizen 4, 1987, 90–103; Susanne Urban-Fahr, Der PhiloVerlag 1919–1938. Abwehr und Selbstbehauptung. (Haskala, 21.) Hildesheim/Zürich/ New York 2001. 9 Avraham Barkai, „Wehr dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893–1938. München 2002; Christian Dietrich, Verweigerte Anerkennung. Selbstbestimmungsdebatten im ‚Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens‘ vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin 2014; Johann Nicolai, „Seid mutig und aufrecht!“ Das Ende des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1933–1938. (Potsdamer jüdische Studien, 1.) Berlin 2016; Rebekka Denz, Bürgerlich, jüdisch, weiblich. Frauen im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) 1918–1938. (Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne, 16.) Berlin 2020 [im Druck]. 10 Freeden, Die jüdische Presse im Dritten Reich (wie Anm. 4), 150–158; Harald Flasdick, Literaturkritik in jüdischen Periodika der Weimarer Republik. Diss. Wuppertal 1988, 134–210; Diehl, Die jüdische Presse im Dritten Reich (wie Anm. 4), 19; Sarah Fraiman, The Transformation of Jewish Consciousness in Nazi Germany as Reflected in the German Jewish Journal ‚Der Morgen‘, 1925–1938, in: Modern Judaism 20,1, 2000, 41–59; Mohr, Die Kultur- und Literaturdebatte der jüdischen Periodika 1933–1938 (wie Anm. 4), 22–24; Urban-Fahr, Der Philo-Verlag 1919–1938 (wie Anm. 8), 152–161, 254–260; Kerstin Schoor, Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto. Deutsch-jüdische literarische Kultur in Berlin zwischen 1933 und 1945. Göttingen 2010; Nadine Kern, Widerständiges Erzählen von Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft im nationalsozialistischen Deutschland. Mala Laasers Erzählung „Die unruhigen Tage …“ (1937) und Herbert Friedenthals Novelle „Salomon Maimon“ (1938). Masterarbeit Frankfurt/Oder 2018; Wilma Schütze, Eva Reichmann und die Kulturzeitschrift ‚Der Morgen‘. Deutsch-jüdische Debatten 1932–1935. Masterarbeit Berlin 2018. 11 Gert Mattenklott, Juden in NS-Deutschland (wie Anm. 3). 12 Urban-Fahr, Der Philo-Verlag 1919–1938 (wie Anm. 8), 157.
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Verlag erschien, oder auch in personeller, finanzieller oder programmatischer Hinsicht? Letzteres legt zumindest Avraham Barkai nahe, wenn er den Morgen und die Monatsausgabe der C. V.-Zeitung als jene „Mittel der C. V.-Arbeit“ bezeichnet, „die auf tiefere Wirkung angelegt waren“.13 Inwiefern sich beide Periodika programmatisch unterschieden, bleibt jedoch offen. Harald Flasdick wiederum hält allein schon durch die Person Julius Goldstein eine „enge Einbindung in den Centralverein“14 für gegeben, ohne jedoch Goldsteins ambivalente Rolle im C. V. näher zu beleuchten. Herbert Freeden schließlich sieht den Morgen erst ab 1933 „verlegerisch in die Nähe des Centralvereins […] gerückt“.15 Andere einschlägige Publikationen aus dem Kontext des C. V. widmen sich dieser Frage gar nicht erst.16 Dieser Aufsatz soll einen ersten Schritt dazu leisten, das Verhältnis von C. V. und Morgen in seiner Vielschichtigkeit und zeitlichen Entwicklung zu erfassen. Ein wesentliches Merkmal tritt dabei besonders heraus: Zeit seines Bestehens war der Morgen in erster Linie ein eigenständiges Organ und keine bloße Vereinszeitschrift. Als ein Forum, das sich am Geistesleben orientierte und so die Trennlinien innerhalb der innerjüdischen Gemeinschaft (z. B. im Hinblick auf die Palästina-Frage) zu überwinden suchte, übte der Morgen eine besondere Funktion im politischen Vorfeld des Vereins aus und unterschied sich damit gleichermaßen von der C. V.-Zeitung wie von den übrigen Veröffentlichungen des Philo-Verlags. Diese These soll im Folgenden anhand von zwei Abschnitten aus der Geschichte des Morgen erwiesen werden, in denen das Verhältnis zum C. V. besonders deutlich wird: den Umständen der Gründung durch Julius Goldstein in den Jahren 1923 bis 1925 sowie der Berufung von Eva Reichmann-Jungmann zur Hauptschriftleiterin im Zuge der großen Umstellung vom Herbst 1933.
13 Barkai, Wehr dich (wie Anm. 9), 188. 14 Flasdick, Literaturkritik in jüdischen Periodika der Weimarer Republik (wie Anm. 10), 135. 15 Freeden, Die jüdische Presse im Dritten Reich (wie Anm. 4), 151. 16 Vgl. Bernstein, Zwischen Emanzipation und Antisemitismus (wie Anm. 7); Mohr, Die Kulturund Literaturdebatte der jüdischen Periodika 1933–1938 (wie Anm. 4); Nicolai, Seid mutig und aufrecht (wie Anm. 9); Sarnecki, Doppelte Ungleichzeitigkeit (wie Anm. 7).
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Publizistische Leerstelle und individuelles Vorhaben: die Gründung des Morgen durch Julius Goldstein Obwohl Margarete Edelheim, ehemalige stellvertretende Herausgeberin der C. V.-Zeitung, bereits 1956 darauf hinwies, dass der Morgen von Julius Goldstein unter der ‚Schirmherrschaft‘ des Centralvereins gegründet worden sei, hat sich (mit Ausnahme einer beiläufigen Bemerkung bei Avraham Barkai) bislang kein einziger Forschungsbeitrag mit den näheren Umständen der Gründung beschäftigt.17 Dabei liegen die Quellen dazu seit Jahrzehnten offen und zeigen ein Beziehungsgeflecht, das kaum brisanter sein könnte. Im Mai 1922 appellierte nämlich kein geringerer als Franz Rosenzweig an die C. V.-Führung, ein Nachfolgeorgan für die im Vormonat eingestellte Zeitschrift Im deutschen Reich (1895–1922) zu schaffen. In einem Schreiben an Hugo Sonnenfeld kritisiert Rosenzweig die Entscheidung des Vereinsvorstands, sich auf die tagespolitische Auseinandersetzung (durch die neugegründete C. V.-Zeitung) zu beschränken und entgegen der öffentlichen Ankündigung von Ludwig Holländer18 auf eine zusätzliche Zeitschrift zu verzichten. Rosenzweig schreibt am 10. Mai 1922: Erst auf Grund jener ganz freien Zeitschrift, die als ein jüdisches „Hochland“ die Achtung und Aufmerksamkeit auch der innerjüdischen Gegner des C. V. erringen muß (so wie jetzt der Nichtzionist, ich z. B. oder Eduard Strauß, es sich zur Ehre anrechnet, am „Juden“ mitarbeiten zu dürfen), wird jene Kleinarbeit das geistige Gewicht erhalten, das ihr bisher – wir wollen uns nichts vormachen – fehlt. Freiheit des Redakteurs ist daher die erste Voraussetzung. Der C. V. darf sich keine Zensur über die Zeitschrift vorbehalten, sondern muß seine Handlungen selbst der Zensur der Zeitschrift unterwerfen. Dazu gehört Mut. Und den hat man bisher nur im zionistischen Lager aufgebracht. Werden auch wir einen „Buber“ ertragen können?19
Rosenzweigs Weckruf ist in mehrfacher Hinsicht hochinteressant. Unter anderem fällt darin zum ersten Mal der Begriff des ‚jüdischen‘ Hochland, das fortan
17 Edelheim-Muehsam, The Jewish Press in Germany (wie Anm. 4), 171; Barkai, Wehr dich (wie Anm. 9), 420. 18 Vgl. Ludwig Holländer, Nun, zu guter letzt…, in: Im deutschen Reich (IdR) 28,3/4, 1922, 49– 51, hier 51. 19 Franz Rosenzweig an Hugo Sonnenfeld, Schreiben vom 10. Mai 1922, in: Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften I: Briefe und Tagebücher, Bd. 2: 1918–1929, hrsg. v. Rachel Rosenzweig/Edith Rosenzweig-Scheinmann. Haag 1979, 780 f.
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zum wichtigsten Leitbild für den Morgen avancierte.20 Gemeint war, ein Pendant zu der gleichnamigen katholischen Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst zu schaffen, die Carl Muth im Jahr 1903 gegründet und seitdem zur führenden Zeitschrift innerhalb des deutschsprachigen Katholizismus gemacht hatte. Im Kontext des Schreibens stehen Hochland (wie auch das zweite genannte Vorbild, Bubers Zeitschrift Der Jude) für publizistische Foren, die sich ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiös-weltanschaulichen Gemeinschaft (hier: Katholizismus, dort: Zionismus) eine Unabhängigkeit bewahrt haben und auch Andersdenkenden offenstehen. Rosenzweigs Schreiben verfehlte seine Wirkung nicht. So erwog der Vereinsvorstand nun offenbar eine Konstellation, die Franz Rosenzweig und Eduard Strauß als Herausgeber, Julius Goldstein als Redakteur sowie Henry Rothschild und den C. V. als Finanziers vorsah.21 Dieser Plan zerschlug sich allerdings, da der Verein auf einer engeren Anbindung insistierte. Rosenzweigs Bemerkung gegenüber Martin Buber in diesem Zusammenhang zeigt jedoch, dass Julius Goldstein gestärkt aus dieser Entwicklung hervorging: „Die Goldsteinsche Zeitschrift, von der ich Ihnen erzählte, scheint nun doch eine Angelegenheit […] ‚im Verein‘ zu werden und also ohne mich und Strauß.“22 Tatsächlich hatte sich Julius Goldstein bereits ein Jahr zuvor im C. V. mit der Idee einer Zeitschrift hervorgetan. Auf der Hauptversammlung des Vereins am 20./21. November 1921 hatte er in einem Grundsatzreferat angeregt, zusätzlich zu der geplanten C. V.-Zeitung „eine Zeitschrift vornehmen Stils zu schaffen, die jenseits der Tagespolitik die bewegenden Fragen der Zeit im Sinne einer Versöhnung von Deutschtum und Judentum behandle.“23 In den Überlegungen des C. V. zur Weiterentwicklung des publizistischen Programms spielte Goldstein spätestens ab dem Mai 1923 eine zentrale Rolle. Ein Jahr nach Rosenzweigs Weckruf fassten Ludwig Holländer und Alfred Wiener den Plan, mit Julius Goldstein als Herausgeber eine vierseitige, monatlich erscheinende „Literarische Beilage zur C. V.-Zeitung“ zu gründen, die entweder
20 Vgl. Franz Rosenzweig an Ernst Simon, Schreiben vom 11. Juni 1925, in: ebd., 1043; Tagebucheintrag vom 8. März 1925, in: Uwe Zuber (Hrsg.), Julius Goldstein. Der jüdische Philosoph in seinen Tagebüchern. 1873–1929. Hamburg – Jena – Darmstadt. (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, 22.) Wiesbaden 2008, 197; Alfred Hirschberg, Ludwig Hollaender, Director of the C. V., in: LBIYB 7,1, 1962, 39–74, hier 55. 21 Tagebucheintrag vom 28. Mai 1922, in: Zuber, Julius Goldstein (wie Anm. 20), 166. 22 Franz Rosenzweig an Martin Buber, Schreiben vom 20. Juni 1922, in: Franz Rosenzweig, Gesammelte Schriften I (wie Anm. 19), 796. 23 Hauptversammlung des Centralvereins am 20. und 21. November 1921, in: IdR 28,1/2, 1922, 1–28, hier 20.
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„Der Leuchter“ oder „Das Licht“ heißen sollte.24 Allerdings fand dieser Plan aufgrund der wirtschaftlichen Zusatzbelastung im Hauptvorstand des C. V. keine Mehrheit.25 Erst auf äußeren Druck änderte sich diese Situation: Bei der Hauptversammlung im April 1924 erhielt ein Antrag des Breslauer Rabbiners Albert Lewkowitz eine überraschende Mehrheit. Dessen Antrag sah vor, die C. V.-Zeitung durch eine Monatsschrift zu ergänzen, „die den Kulturgehalt des Judentums zur Darstellung bringt und geeignet ist, ein lebendiges jüdisches Bewußtsein in unseren Reihen zu erzeugen.“26 Düpiert durch dieses Votum sagte der Vorsitzende Julius Brodnitz seine Unterstützung zu. Wenige Monate später, im November 1924, notierte Julius Goldstein in seinem Tagebuch: „Die Zeitschrift ist beschlossen.“27 Im folgenden März schließlich: „Am 1ten April erscheint eine Zweimonatsschrift von mir: Der Morgen. Philo Verlag. Will versuchen, das jüdische Hochland zu schaffen.“28 Drei Jahre nach Rosenzweigs Weckruf stand dessen Kernforderung also vor der Erfüllung. Von Julius Goldsteins Berufung zum Herausgeber ging nämlich in doppelter Hinsicht ein Signal der Eigenständigkeit aus. Zum einen war Goldstein ein Gründer mit gewissem Sendungsbewusstsein. An der Idee, mit einer Kulturzeitschrift ins „Geistesleben der Gegenwart“ einzugreifen, hatte er über Jahrzehnte gearbeitet und bereits zwei eigene Gründungsversuche unternommen (einen davon im Kontext des Eucken-Bundes 1914).29 Als ehemaliger Schriftleiter der Darmstädter Zeitung (1920) hatte er zudem seine journalistische Erfahrung im Wesentlichen außerhalb des C. V. erworben. Zum anderen war Goldsteins Rolle innerhalb des C. V. die eines Freigeistes: Er gehörte nicht zur Redaktion der C. V.-Zeitung und hatte auch nie ein Funktionärsamt im Verein inne, nahm aber regelmäßig als Gast an Hauptvorstandssitzungen und Generalversammlungen teil.30 Obwohl nur einfaches C. V.-Mitglied, genoss er großes Ansehen in höchsten Kreisen: Friedrich Brodnitz bezeichnete 24 Microfilm at Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem (CAHJP), CV Collection, HM2/8733, 1701, Nr. 1: Alfred Wiener, Aktennotiz vom 17. Mai 1923 (Anlage eines Aktenstücks „Literarische Beilage zur C. V.-Zeitung“); Ebd., Nr. 4: Alfred Wiener an Julius Goldstein, Schreiben vom 18. Mai 1923. 25 Vgl. ebd., Nr. 6: Alfred Wiener an Julius Goldstein, Schreiben vom 7. Juni 1923. 26 Die Hauptversammlung des Centralvereins, in: C. V.-Zeitung, 01.05.1924, 243–249, hier 247. 27 Tagebucheintrag vom 22. November 1924, in: Zuber, Julius Goldstein (wie Anm. 20), 195. 28 Tagebucheintrag vom 8. März 1925, in: ebd., 197. 29 Vgl. Tagebucheinträge für die Ferien 14. Juli–14. August 1893, in: ebd., 14; Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB), Nachlass Rudolf Eucken I,9, G235–236, hier G235: Gretel (Margarete) Goldstein an Rudolf Eucken, Schreiben vom 20. März 1914. 30 Vgl. Sitzung unseres Hauptvorstandes, in: C. V.-Zeitung, 02.11.1922, 307; Tagebucheintrag vom 10. Mai 1923, in: Zuber, Julius Goldstein (wie Anm. 20), 175.
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ihn als „das geistige Gewissen unseres Kreises“, Arnold Paucker als „geistigen Mentor“ der C. V.-Führung.31 Diese Wertschätzung lag nicht nur in seinen zahlreichen Schriften zur Widerlegung der Rassenlehre begründet, die der C. V. (wie im Falle von Rasse und Politik, 1921) auch zur Abwehrarbeit nutzte. Vielmehr ging von Goldsteins neoidealistischer Geistesphilosophie ein neuer Impuls für den in die Krise geratenen jüdischen Emanzipationsgedanken aus. Sein Bekenntnis zur „geeinten Zwienatur“ des deutschen Juden verband akkulturiertes Denken mit jüdischer Erneuerungsbewegung.32 Die Wiederentdeckung des eigenen Judentums, vor allem der Religion, war für ihn die Voraussetzung, um gleichberechtigt neben Protestanten und Katholiken am deutschen Geistesleben teilhaben zu können. Insofern inspirierte Goldstein diejenigen, die für die Entwicklung des C. V. zum Gesinnungsverein standen, wohl noch stärker als die Strategen der Abwehrarbeit. So wie die Berufung Julius Goldsteins als Vorzeichen für die Eigenständigkeit der Zeitschrift gelesen werden kann, so gilt dies erst recht für den eigentlichen Gründungsakt. Die Wahl des neutralen Namens Der Morgen, die Herausgeberschaft durch Julius Goldstein (und nicht den C. V.), der Sitz der Redaktion in Darmstadt (und nicht in Berlin), die starke Beteiligung nichtjüdischer Autoren (40 % in der Vorschau auf das erste Heft, später immerhin ein Viertel)33 sowie sporadisch auch die von Zionisten, sind nur einige Indizien dieser Haltung. Der C. V. kam im Morgen unter Julius Goldstein dagegen so gut wie gar nicht vor. Mit Ausnahme von Alfred Wiener, der im Dezember 1926 über Moses Mendelssohn schrieb, findet sich bis 1929 kein einziger Beitrag eines hauptamtlichen oder führenden C. V.-Funktionärs.34 Die programmatischen Grundlagen dafür hatte Goldstein in seinem Gründungsprospekt vom April 1925 festgeschrieben, der deutliche Parallelen zum Hochland-Programm aufwies.35 Goldstein erklärte darin, die Zeitschrift solle der 31 Friedrich Brodnitz, Die C. V.-Zeitung, ein Spiegel der Zeit, in: C. V.-Zeitung, 27.05.1932 (Sondernummer „Zehn Jahre C. V.-Zeitung“), 213–215, hier 214; Arnold Paucker, Der jüdische Abwehrkampf gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus in den letzten Jahren der Weimarer Republik. (Hamburger Beiträge zur Zeitgeschichte, 4.) Hamburg 1969, 32. 32 Julius Goldstein, Deutsche Volks-Idee und Deutsch-Völkische Idee. Eine soziologische Erörterung der Völkischen Denkart. Berlin 1927, 70; rezipiert etwa bei Friedrich Brodnitz/Kurt Cohn/Ludwig Tietz, Der Central-Verein der Zukunft. Eine Denkschrift zur Hauptversammlung 1928 des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens e. V. Berlin 1928, 12. 33 Vgl. Julius Goldstein, Der Morgen. Zweimonatsschrift. Prospekt-Beilage zum ersten Heft, in: Der Morgen 1,1, 1925, o. P.; Margarete (Gretel) Goldstein, Der Morgen. Zweimonatsschrift. Prospekt-Beilage zum sechsten Jahrgang (1930/31), in: Der Morgen 6,1, 1930, o. P.; die anderen Zahlen beruhen auf Auszählungen des Verfassers [T. B.] im Rahmen seiner Dissertation. 34 Vgl. Alfred Wiener, Zur Würdigung der geschichtlichen Bedeutung Moses Mendelssohns, in: Der Morgen 2,5, 1926, 514–522.
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tagespolitischen Arbeit und dem Meinungsstreit fernstehen und sich den universell-religiösen Fragen widmen. Diese Position behielt der Morgen unter seiner Ägide fast immer bei. Die einzige größere Ausnahme hierzu bestätigt gewissermaßen die Regel: Nach der gescheiterten Debatte zwischen Benno Jacob, Wilhelm Michel, Hans Kohn und Robert Weltsch über „Zionistische Politik“ (Dezember 1927 / Februar 1928)36 kehrte Julius Goldstein zu seiner üblichen Haltung zurück, den Zionismus nicht zu behandeln – so wie es die Zeitschrift auch mit anderen politisch aufgeladenen Themen handhabte, etwa der Orthodoxie oder dem Kommunismus, die ebenfalls ausgeklammert wurden. In dieser Ausrichtung, als ein weitgehend eigenständiges, geistiges Forum, wirkte der Morgen weit über den Centralverein hinaus – und wurde dafür vom C. V. in verschiedener Weise unterstützt: so zahlte der Verein dem Ehepaar Goldstein 350.- RM pro Monat und glich auch das strukturelle Defizit in Höhe von ca. 6 000 RM aus, das die Zeitschrift durch ihre geringe Auflage und rabattierte Abonnements einfuhr.37 Die C. V.-Zeitung besprach regelmäßig neue Hefte; der C. V. rief seine Ortsvereine zur Abonnentenwerbung auf und die Ausgaben wurden vom Verein auch an nichtjüdische Multiplikatoren als Freiexemplare verschickt.38 Die Rezeption des Morgen innerhalb der C. V.-Zeitung und durch Vorstandsmitglieder zeigen dabei, in welcher Hinsicht die Zeitschrift für den Verein am meisten von Bedeutung war: als Medium des Austausches mit nichtjüdischen Kreisen. So ließ die C. V.-Zeitung in den knapp zwei Dutzend Besprechungen zum Morgen bis 1933 besonders häufig Autoren zu Wort kommen, die sich um das interreligiöse Gespräch verdient gemacht hatten (exemplarisch: Max Diene35 Vgl. Julius Goldstein, Der Morgen. Zweimonatsschrift (wie Anm. 33). 36 Benno Jacob/Wilhelm Michel, Prinzipielle Bemerkungen zu einer zionistischen Schrift, in: Der Morgen 3,5, 1927, 527–540; Robert Weltsch, Eine grammatische Frage, in: Jüdische Rundschau, 03.01.1928, 1; Hans Kohn/Robert Weltsch/Wilhelm Michel, Prinzipielle Bemerkungen zu einer zionistischen Schrift. Mit einem Vorwort des Herausgebers, in: Der Morgen 3,6, 1928, 653– 661; Robert Weltsch, Über Wert und Unwert der Assimilation. Eine Diskussion im ‚Morgen‘, in: Jüdische Rundschau, 14.02.1928, 92; Ernst Simon, Rabbiner Dr. B. Jacob. Ein Beitrag zur Psychologie der Assimilation, in: Jüdische Rundschau, 17.02.1928, 99; Benno Jacob, Zionistische Polemik. Ein Beitrag zur Psychologie des roten Tuches, in: C. V.-Zeitung, 09.03.1928, 132; Martin Buber, Lebensfrömmigkeit (Aus einem Briefe). Mit einer Vorbemerkung des Herausgebers Robert Weltsch, in: Der Jude 10, 1928, 1 („Sonderheft zu Martin Bubers fünfzigstem Geburtstag“), 154–157. 37 CAHJP, CV Collection, HM2/8736, 1766, Nr. 26: „Der Morgen“, Memorandum von Lucia Jacoby an Ludwig Holländer, Schreiben vom 27. Mai 1930. 38 Geschäftsbericht erstattet von Dr. Alfred Wiener, Syndikus des C. V. (Unsere Hauptversammlung. Der Verlauf der Tagung. Erster Verhandlungstag), in: C. V.-Zeitung, 17.02.1928, 95 f., hier 96.
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mann) oder nichtjüdisch waren (Erik Nölting, Robert Arnold Fritzsche, Heinrich Frick)39. Ebenso lobte Heinrich Stern, Mitglied des C. V.-Vorstandes, den Morgen in der C. V.-Zeitung vom 29. Juni 1928 als eine „Brücke“, „die von deutschjüdischem Geistesleben hinüberführt zum gesamtdeutschen“ und hob in diesem Zusammenhang „die starke Beteiligung von Nichtjuden“ hervor.40 Der Tod Julius Goldsteins im Juni 1929 bedeutete in vielerlei Hinsicht eine Zäsur für den Morgen. Durch den Wegfall der Gründungsfigur drohte das bis dato stabile Beziehungsgefüge zum C. V. in Schieflage zu geraten. Franz Rosenzweig sah sich in einem seiner letzten Briefe erneut zu einer Intervention bemüßigt: Darin spricht er sich gegen eine mögliche Verlegung der Morgen-Redaktion nach Berlin aus, weil „sein ‚südwestdeutscher‘ Charakter, der seine Unabhängigkeit von der in Berlin lokalisierten politischen Leitung und damit seine Geistigkeit gewissermaßen in einem anschaulichen Symbol ausdrückt, ihm genommen würde.“41 Tatsächlich finden sich in den Jahren nach Goldsteins Tod Anzeichen für eine Machtverschiebung zum C. V. – auch wenn die Zeitschrift nach außen hin weiterhin eigenständig blieb. Erstens wurde Margarete Goldstein, die im C. V. weitaus weniger Rückhalt genoss als ihr Ehemann, nur unter Vorbehalt zur Nachfolgerin ernannt.42 Zweitens kündigte Ludwig Holländer im Frühjahr 1930 Kürzungen beim Morgen an und kritisierte vermeintlich überhöhte Abrechnungen von Margarete Goldstein.43 Drittens appellierte Alfred Wiener nach den Reichstagswahlen 1930, dass sich der Morgen wieder stärker dem Austausch mit nichtjüdischen Autoren widmen möge: „Man fürchtet, daß der Morgen nach und nach eine innerjüdische Angelegenheit werde, indem er sich allzu sehr mit jüdischen Dingen beschäftigt und die frühere Linie, eine Tribüne für alle drei Konfessionen zu sein und damit auf die Umwelt zu wirken, zu verlassen
39 Max Dienemann, Das Dezemberheft des ‚Morgen‘, in: C. V.-Zeitung, 24.12.1925, 811; Ders., Das Februarheft des ‚Morgen‘. Der erste Jahrgang abgeschlossen, in: C. V.-Zeitung, 26.01.1926, 102; Erik Nölting, Das zweite Heft des Morgen, in: C. V.-Zeitung, 12.06.1925, 418; Robert Arnold Fritzsche, Die ‚Christliche Welt‘ über den ‚Morgen‘, in: C. V.-Zeitung, 04.03.1927, 116; Heinrich Frick, Der ‚Morgen‘ verbindet die Religionen. An die Verwalter des geistigen Erbes!, in: C. V.Zeitung, 19.06.1929, 382; Ders., Goldsteins Werk, der ‚Morgen‘, verbindet die Religionen, in: C. V.-Zeitung – Monatsausgabe, Juli/August 1929, 55. 40 Heinrich Stern, Drei Jahre ‚Morgen‘, in: C. V.-Zeitung, 29.06.1928, 373 f., hier 374. 41 Franz Rosenzweig an Ludwig Holländer, Schreiben vom 2. November 1929, in: Franz Rosenzweig, Gesammelte Schriften I (wie Anm. 19), 1231 f., hier 1231. 42 CAHJP, CV Collection, HM2/8736, 1757, Nr. 5 f.: Ludwig Holländer an Otto Driesen, Schreiben vom 25. März 1930. 43 CAHJP, CV Collection, HM2/8736, 1766, Nr. 25: Ludwig Holländer an Julius Brodnitz, Bruno Weil und Rudolf Geiger, Schreiben vom 2. Juni 1930.
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scheint.“44 Viertens kamen nun auch durchaus häufiger C. V.-Funktionäre zu Wort: Alfred Wiener (Dezember 1929), Lise Leibholz (August 1929), Eva Reichmann-Jungmann (ab Oktober 1931), bis hin zum C. V.-Vorsitzenden Julius Brodnitz (Dezember 1931) sowie den beiden Vereinsdirektoren Ludwig Holländer (Oktober 1932) und Alfred Hirschberg (April 1933). Margarete Goldsteins Umzug nach Berlin (Frühjahr 1932) in die Nähe der C. V.-Zentrale lässt sich insofern durchaus als Ausdruck eines verschobenen Machtgefüges lesen, das im Folgejahr schließlich offenkundig wurde: Im Spätsommer 1933 wurden Margarete Goldstein und Max Dienemann durch den C. V.Vorsitzenden Julius Brodnitz ihrer Ämter beim Morgen enthoben.45
Gewahrte Eigenständigkeit: Eva ReichmannJungmann und die Umstellung des Morgen im Herbst 1933 Auf den ersten Blick betrachtet erscheint der Schriftleiterwechsel vom Spätsommer 1933 als eine Vereinnahmung durch den Centralverein: Mit der Kulturreferentin Eva Reichmann-Jungmann wurde eine führende Vertreterin des C. V. zur Hauptschriftleiterin berufen; der neue Sitz der Redaktion lag nun im Nebengebäude der C. V.-Zentrale (Emser Str. 42), nämlich in der Pariser Str. 44; die C. V.Zeitung forcierte ihre Werbemaßnahmen für die umgestaltete Monatsschrift und besprach nun so gut wie jede Ausgabe (während es davor nur etwa jede dritte war); und in den Heften des Morgen kamen C. V.-er nunmehr deutlich häufiger vor: Im Oktoberheft 1933 Friedrich Brodnitz, im Dezember 1933 Friedrich Borchardt mit seinem Nachruf auf Ludwig Tietz, sowie in den Leitartikeln bis zum Sommer 1934 gleich dreimal Alfred Hirschberg (unter dem Kürzel A. H.) sowie auch Hans Reichmann (unter dem Kürzel H. Rn.).46 Bei genauerem Hinsehen löst sich dieser Eindruck jedoch weitgehend auf: Erstens bildete der stellvertretende Schriftleiter Hans Bach ein Gegengewicht zu 44 Ebd., Nr. 18–20: Alfred Wiener an Margarete Goldstein, Schreiben vom 27. Oktober 1930. 45 Vorwort zum ‚Morgen‘, in: C. V.-Zeitung, 28.09.1933, 1. 46 Friedrich Brodnitz, Zentralausschuss der deutschen Juden für Hilfe und Aufbau, in: Der Morgen 9,4, 1933, 276–279; ders., Dem Freunde, in: Der Morgen 9,6, 1933, 338; A. H. [Alfred Hirschberg], Restauration oder Renaissance?, in: Der Morgen 9,7, 1934, 389–391; ders., Zwei Grundsteine der Gemeinschaft, in: Der Morgen 9,9, 1934, 485–487; H. Rn. [Hans Reichmann], Nach einem Jahr, in: Der Morgen 10,1, 1934, 1–3; A. H. [Alfred Hirschberg], Grenzen der Normalisierung, in: Der Morgen 10,5, 1934, 197–199.
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Reichmann-Jungmann: Denn Bach war ohne C. V.-Amt und hatte sich als Philologe und politischer Essayist schon vor seiner Zeit beim Morgen deutlich unabhängig gezeigt. Zweitens behielten die neuen Schriftleiter den Namen der Zeitschrift bei und rekurrierten (auf dem Titelblatt des Morgen wie auch in ihren ersten programmatischen Worten) weiterhin auf den Gründungsherausgeber Julius Goldstein. Im Oktoberheft 1933 heißt es: Diese Zeitschrift soll, in neuem Gewande und unter neuer Leitung, unverändert, wie ihr Begründer es aussprach, „dem geistigen Schicksal des deutschen Judentums dienen“. […] Wir wollen auch, in voller Wahrung der persönlichen Freiheit unserer Mitarbeiter, keine Mosaikarbeit von Ansichten und Meinungen liefern, sondern eine einheitliche Linie wahren: über den Problemen des Tages, über den Parteien stehend das reinere Leben des Geistes verfolgen, in dem die eigentlichen Entscheidungen fallen.47
Die Bezüge zu Goldsteins Gründungsprospekt sind überdeutlich, insbesondere was die Distanz zur Tagespolitik, die Überparteilichkeit der Zeitschrift und deren Charakter als ein unter der Chiffre des Geistes versammeltes ‚Forum‘ anbelangt. Die Ankündigung, dass „keine Richtung des Judentums“ ausgeschlossen bleiben solle, signalisierte drittens eine Offenheit gegenüber dem Zionismus, die sich bis dato zumindest vom Mainstream des Centralvereins klar abhob. So kamen schon im ersten Heft der neuen Schriftleitung (Oktober 1933) zwei prominente Anhänger des Zionismus zu Wort: In „Biblischer Humanismus“ führte Martin Buber jene Überlegungen fort, die er zuvor auf dem XVI. Zionistenkongress (1929) und in der Jüdischen Rundschau angestellt hatte;48 Bertha BadtStrauß würdigte den moldauisch-amerikanischen Rabbiner Solomon Schechter als einen frühen Fürsprecher des Zionismus, der die zionistische Idee „als die stärkste Kraft zur Bekämpfung der Glaubenszersetzung und Assimilation“ gewertet habe.49 Und auch Friedrich Brodnitz, der sich als einer der ersten Nichtzionisten für das Palästina-Werk eingesetzt hatte und dem Initiativkomitee der Jewish Agency angehörte, befand in seinem Artikel, dass die Unterstützung der Palästinawanderung im Budget der Wanderungsfürsorge „selbstverständlich“ „einen besonderen Raum“ einnehme.50 Diese Signale wurden innerhalb der jüdischen Presse durchaus als eine Distanzierung von C. V.-Positionen wahrgenommen. So übte die bis dato wohlwollend eingestellte, stark akkulturierte Jüdisch-Liberale Zeitung am 10. Oktober 1933 scharfe Kritik an der neuen Schriftleitung: „[…] bisher hatte der ‚Morgen‘, 47 Disziplin, in: Der Morgen 9,4, 1933, 233–236, hier 236. 48 Martin Buber, Biblischer Humanismus, in: ebd., 241–245, hier 241. 49 Bertha Badt-Strauß, Salomon Schechter. Forscher und Führer, in: ebd., 274–276, hier 276. 50 Friedrich Brodnitz, Zentralausschuss der deutschen Juden für Hilfe und Aufbau (wie Anm. 46), 279.
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der bekanntlich im ‚Philo-Verlag‘ des Centralvereins erscheint, eine eindeutig deutschjüdische Richtung, was ihm im Verein mit seinem hohen Niveau überall in deutschjüdischen Kreisen Freunde eintrug. Es ist bemerkenswert, daß der Centralverein nun auch in dem ihm angegliederten Verlag, die seit Jahrzehnten innegehaltene Linie verläßt.“51 Dagegen begrüßte die Jüdische Rundschau die Neuausrichtung ausdrücklich. Unter dem Titel „‚Der Morgen‘ in neuer Gestalt“ stand dort am 5. Dezember 1933: An der Zeitschrift, die bekanntlich im Sinne ihres Begründers auf der Linie der extremen Assimilation eingestellt war, sind die Stürme der Zeit bekanntlich nicht spurlos vorüber gegangen. Schon aus den drei vorliegenden Heften ist deutlich, daß sie sich auf eine mehr positiv-jüdische Richtung umgestellt hat. Unter den Mitarbeitern des ersten Hefts sind zu nennen: Leo Baeck, Martin Buber, Hans Reissner [sic], Bertha Badt-Strauß, Friedrich Brodnitz, Fritz Friedländer [erst im November-Heft 1933; Anm. T. B.] u. a. Es sind also Persönlichkeiten aus allen jüdisch-politischen Lagern. Vom zionistischen Standpunkt aus sind gegen die Haltung vieler Aufsätze Einwendungen zu erheben. Aber es ist im Gegensatz zu früher ein Boden geschaffen, auf dem eine Diskussion möglich ist. So wird die Zeitschrift in ihrem heutigen Gewande auch den zionistischen Lesern zweifellos manches Wertvolle und Lesenswertes bringen.52
Mit Blick auf die häufige Kritik der Jüdischen Rundschau vor und nach 1933 ist diese positive Besprechung überaus bemerkenswert, zumal die Kontroversen mit dem C. V. ungeachtet der allgemeinen Tendenzen zur Zusammenarbeit innerhalb der jüdischen Gemeinschaft auch bis ins Jahr 1935 reichten.53 Die Umgestaltung des Morgen im Spätsommer 1933 und die Berufung von Eva Reichmann-Jungmann förderten die Eigenständigkeit des Morgen insofern eher, als dass sie ihr einen Abbruch taten. Während sich die C. V.-Zeitung durchaus regelmäßig in die ideologische Auseinandersetzung begab (auch Eva Reichmann-Jungmann selbst mit ihrer Kritik an der Berliner Zionistischen Vereinigung vom 14. März 1935),54 positionierte sich die Monatsschrift integrativ. Als Ort einer überparteilichen Auseinandersetzung bot die Zeitschrift auch jenen zionistischen Stimmen Raum, die in der C. V.-Zeitung nicht vertretbar waren: wie Martin Buber, Ludwig Strauß, Josef Kastein, Else Lasker-Schüler, allesamt
51 ‚Der Morgen‘, in: Jüdisch-liberale Zeitung, 10.10.1933, o. P. 52 ‚Der Morgen‘ in neuer Gestalt, in: Jüdische Rundschau, 05.12.1933, 906. 53 Innerjüdische Polemik? Mahnung zur Besonnenheit, in: Jüdische Rundschau, 19.03.1935, 2. 54 Eva Reichmann-Jungmann, Irrwege jüdischer Politik – Führung oder Verführung?, in: C. V.Zeitung, 14.03.1935, 1.
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ohne einen einzigen Beitrag in der C. V.-Zeitung, oder auch Bertha Badt-Strauß, die dort nur ein einziges Mal (1935) publizierte.55 In seiner Offenheit gegenüber zionistischen Autoren stand der Morgen insofern vor allem dem progressiven C. V.-Flügel nahe, der den Palästina-Aufbau und eine umfassende Wiederentdeckung des Jüdischen schon vor 1933 gefordert hatte und im Blatt durch Eva Reichmann-Jungmann, Alfred Hirschberg, Friedrich Brodnitz und Ludwig Tietz repräsentiert wurde. Die personelle, redaktionelle, finanzielle und organisatorische Verschränkung des Morgen mit dem Centralverein, die sich für die Jahre bis 1938 rekonstruieren lässt, darf insofern nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zeitschrift unter der dritten Schriftleitergeneration in ihrer Vorfeldfunktion noch gestärkt wurde. Als überparteiliches Forum und Organ der innerjüdischen Einigung war der Morgen zu jedem Zeitpunkt mehr als eine C. V.-Zeitschrift, die ihr indirekter Vorläufer Im deutschen Reich bis 1922 gewesen war.
55 Vgl. Bertha Badt-Strauß, Rahel Levins Heimkehr. Eine „Rettung“, in: C. V.-Zeitung, 28.02.1935, 2. Beiblatt, o. P.
Über die Autorinnen und Autoren Tobias Bargmann absolvierte sein 1. Staatsexamen Lehramt für Gymnasien an der Freien Universität Berlin und war im Rahmen seines Promotionsstudiums zunächst an der FU Berlin und am Moses Mendelssohn Zentrum für europäischjüdische Studien in Potsdam angesiedelt. Heute ist er Doktorand von Prof. Dr. Kerstin Schoor (Europa Universität Viadrina Frankfurt/Oder) und Prof. Dr. Irmela von der Lühe (FU Berlin). In seiner Promotionsschrift widmet er sich dem Thema „Der Morgen (1925–1938). Ein geistiges Forum des deutschen Judentums“. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der deutsch-jüdischen Literatur und Kultur im 20. Jahrhundert Marie Ch. Behrendt studierte Jüdische Studien, Spanische Philologie und Geschlechterforschung in Potsdam, Berlin und Southampton (UK). Derzeit arbeitet sie ihrer Promotionsschrift im Bereich Geschichte an der Universität Potsdam über Kontinuitäten und Brüche im zerstreuten deutschen Judentum der 1950er Jahre. Ihre Forschungsfragen knüpfen aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive an aktuelle Probleme der Migrationsforschung sowie der Kommunikationswissenschaft an. Marie Behrendt forscht außerdem zur jüdischen Geschichte sowie der Geschichte von Antisemitismus und Nationalismus in der deutschen Ostseeküstenregion im langen 19. Jahrhundert. Ausgewählte Veröffentlichungen: Sorge und Status. Geschlechterperspektiven deutsch-jüdischer Rückwanderung nach 1945 am Beispiel von Ilse und Ernst G. Lowenthal, in: Kristina Schulz/Wiebke von Bernstorff/Heike Klapdor (Hrsg.), Grenzüberschreitungen: Migrantinnen und Migranten als Akteure im 20. Jahrhundert. München 2019, 86–97; Nach der Flucht aus Deutschland. Mobile Formen deutsch-jüdischer Remigration am Beispiel der Biografie Ernst G. Lowenthals, in: Lisa Klein/AnnKathrin Hübner/Meike Munser-Kiefer (Hrsg.), Nach der Flucht. Interdisziplinäre Perspektiven eines Netzwerks von Hochschulen und Zivilgesellschaft. Regensburg 2020, 142–152. Rebekka Denz ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur für Judaistik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und des Israel Jacobson Netzwerks. Gemeinsam mit Tilmann Gempp-Friedrich ist sie Gründerin und Redakteurin von Centralverein.net. Ausgewählte Veröffentlichungen: „Treue Freundin[nen] des Palästina-Aufbaus“? Positionen von CVerinnen gegenüber der zionistischen Idee in den 1930er Jahren, in: Lisa Sophie Gebhard, David Hamann (Hrsg.), Deutschsprachige Zionismen. Verfechter, Kritiker und Gegner, Organisationen und Medien (1890–1938). Berlin 2019, 93–107; Der Centralverein in Bayern – ein
282 Über die Autorinnen und Autoren
Werkstattbericht, in: Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 13 (2019), 25. http://www.medaon.de/pdf/medaon_25_denz.pdf (01.06.2020); Werkstattbericht: Genisot in Franken (gemeinsam mit Gabi Rudolf), in: Dies./Dies. (Hrsg.), Genisa-Blätter II. Potsdam 2017, 7–14. https://publishup.uni-potsdam.de/frontdoor/index/index/docId/10253 (01.06.2020). Tilmann Gempp-Friedrich ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Martin Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie der Goethe-Universität Frankfurt und forscht am LOEWE-Forschungsschwerpunkts „Religiöse Positionierung. Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten“ über die Positionierungen des Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in der Weimarer Republik. Gemeinsam mit Rebekka Denz ist er Gründer und Redakteur des Forschungsnetzwerkes Centralverein.net. Zuletzt erschienen: Gemeinsame Brüche. Centralverein und Zionistische Vereinigung vor dem Ersten Weltkrieg, in: Lisa Sophie Gebhard, David Hamann (Hrsg.), Deutschsprachige Zionismen. Verfechter, Kritiker und Gegner, Organisationen und Medien (1890–1938). Berlin 2019, 59–74; Einführung zum Schwerpunkt (zusammen mit Rebekka Denz), in: Rebekka Denz, Tilmann Gempp-Friedrich (Hrsg.): Deutsch-jüdische Geschichte im Spiegel des Centralvereins, Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 13 (2019), 25. https:// www.medaon.de/de/artikel/einleitung-zum-schwerpunkt-deutsch-juedischegeschichte-im-spiegel-des-centralvereins/ (01.06.2020). Martin Herholz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Jüdische Studien (WWU Münster). Jüngst erschienen: „Eine Verletzung des Bürgfriedens“. Die Kontroverse zwischen dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und der Ortsgruppe des Stahlhelms auf Norderney in den Jahren 1924–1926, in: Lisa Andryszak/Christiane Bramkamp (Hrsg.), Jüdisches Leben auf Norderney. Präsenz, Vielfalt und Ausgrenzung. Berlin 2014, 126–149; „Wer die Jugend hat, hat die Zukunft“. Die Jugendpolitik des Centralvereins in den Jahren 1933 bis 1936, in: Regina Grundmann/Bernd J. Hartmann/Daniel Siemens (Hrsg.), „Was soll aus uns werden?“ Zur Geschichte des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens im nationalsozialistischen Deutschland. Berlin 2020, 155–194. Jürgen Matthäus ist Historiker und Leiter der Forschungsabteilung am Jack, Joseph and Morton Mandel Center for Advanced Holocaust Studies des United States Holocaust Memorial Museum, Washington, DC. Zu seinen neueren Veröffentlichungen gehören (Hrsg. mit Thomas Pegelow Kaplan) Beyond „Ordinary Men“: Christopher Browning and Holocaust Historiography. Paderborn 2019;
Über die Autorinnen und Autoren
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Predicting the Holocaust: Jewish Organizations Report from Geneva on the Emergence of the „Final Solution“, 1939–1942. Lanham MD 2018; (mit Frank Bajohr), Alfred Rosenberg. Das Tagebuch von 1934 bis 1944. Frankfurt 2015. Michael Nagel ist ehemaliger Mitarbeiter des Instituts Deutsche Presseforschung, Universität Bremen. Zurzeit ist er an diesem Institut im Rahmen des DFG-Projektes „Bibliographisch-biographisches Handbuch der historischen deutsch-jüdischen Presse von der Aufklärung (1755) bis zum Nationalsozialismus (1943)“ tätig. Zu seinen Publikationen in Auswahl zählen: 1933 as a Watershed? Form and Function of the German-Jewish Press Before and After the Nazi Takeover [Hebr.] (Yad Vashem, The International Institute for Holocaust Research: Jewish Press in Nazi Germany. Texts and Research, 1). Jerusalem 2015; (Hrsg. mit Eleonore Lappin) Deutsch-jüdische Presse und jüdische Geschichte: Dokumente, Darstellungen, Wechselbeziehungen / The German Jewish Press and Jewish History: Documents, Representations, Interrelations, (Die jüdische Presse – Kommunikationsgeschichte im europäischen Raum / The European Jewish Press – Studies in History and Language, 6, 7), Bde. / Vols. 1, 2. Bremen 2008; (Hrsg. mit Susanne Marten-Finnis), Die PRESSA. Internationale Presseausstellung Köln 1928 und der jüdische Beitrag zum modernen Journalismus / The PRESSA. International Press Exhibition Cologne 1928 and the Jewish Contribution to Modern Journalism (Die jüdische Presse – Kommunikationsgeschichte im europäischen Raum / The European Jewish Press – Studies in History and Language, 12), Bd / Vol 1. Bremen 2012, 293–314. Eva Rohland unterrichtet Geschichte, Psychologie und Deutsch an den Privaten Kant-Schulen in Berlin. Von 2013 bis 2018 war sie u. a. als Lehrkraft für besondere Aufgaben am Arbeitsbereich der Fachdidaktik Geschichte an der Freien Universität Berlin beschäftigt und ist weiterhin im Bereich der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften in Berlin und Brandenburg tätig, u. a. an der Universität Potsdam. Ausgewählte Veröffentlichungen: Nachwuchsworkshop „Der Centralverein als Teil des deutsch-jüdischen Kultursystems“, in: PaRDeS 23, 2017, 202– 206; (Hrsg.mit Aubrey Pomerance/Joachim Schlör), Heinemann Stern. Jüdische Jugend im Umbruch. Briefe nach Berlin und Rio de Janeiro 1937–1953. Berlin 2019. Warren Rosenblum ist Professor für Geschichte und Inhaber des Chairs History, Politics & International Relations Department an der Webster University St Louis, Missouri. Zuletzt veröffentlicht: Serene Justitia and the Passions of the Public Sphere, in: InterDisciplines. Journal of History and Sociology 6, no. 2 (2015); Welfare and Justice: The Battle over Gerichtshilfe in the Weimar Republic, in Ri-
284 Über die Autorinnen und Autoren
chard Wetzell (Hrsg.), Crime and Criminal Justice in Modern Germany, New York 2014; Jews, Justice, and the Power of ‚Sensation‘ in the Weimar Republic, in: Leo Baeck Institute Year Book 58 (2013), 35–52. Simon Sax studierte Politik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Bremen. Dort arbeitet er momentan als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI) und befasst sich mit einem Dissertationsprojekt über den Journalisten Walter Gyssling sowie den kommunikativen Abwehrkampf des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Zuletzt erschienen: Biographien in der Kommunikationsgeschichte. Ein Plädoyer für einen unterschätzten Weg historisch-systematischer Kommunikationswissenschaft (gemeinsam mit Erik Koenen), in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 21, 2019, 16–23; Flugschriften des Bundes Deutscher Aufbau. Kommunikate aus dem jüdischen Abwehrkampf 1929–1933, in: Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 13 (25), 2019, 1–6, https://www.medaon.de/de/artikel/flugschriftendes-bundes-deutscher-aufbau-kommunikate-aus-dem-juedischen-abwehrkampf-1929-1933/ (30.11.2019); Wahlempfehlungen in der deutsch-jüdischen Presse vor den Reichstagswahlen im September 1930 und Juli 1932. Eine Versicherheitlichungsanalyse, in: Elsbach, Sebastian/Noak, Ronny/Braune, Andreas (Hrsg.), Konsens und Konflikt. Demokratische Transformation in der Weimarer und Bonner Republik. Stuttgart 2019, 209–227. Kerstin Schoor ist seit 2012 Inhaberin des Axel Springer-Lehrstuhls für deutschjüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Exil und Migration an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), seit 2014 Mitglied im Direktorium des Selma Stern Zentrums für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg sowie Stellv. Vorsitzende der Gesellschaft für Exilforschung. Sie veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zu kulturellen und literarischen Entwicklungen deutscher Juden im 19. und 20. Jahrhundert, mit einem Schwerpunkt im NS-Deutschland. Ausgewählte Veröffentlichungen: Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto. Deutschjüdische literarische Kultur in Berlin zwischen 1933 und 1945. Göttingen 2010; Deutsch-jüdische Literatur im nationalsozialistischen Deutschland, in: Handbuch der deutsch-jüdischen Literatur. Hrsg. von Hans Otto Horch. Berlin [u. a.] 2015, 164–188; The Crisis of Enlightenment: Cultural and Literary Discourses on Traditions of German Culture within Jewish Cultural Circles in National Socialist Germany, in: The Leo Baeck Institute Year Book London 2020, https://doi.org/ 10.1093/leobaeck/ybaa001 (01.06.2020).
Über die Autorinnen und Autoren
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Wilma Schütze hat Jüdische Studien an der Universität Potsdam studiert, danach den Master Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin gemacht (Abschluss 2018); anschließend arbeitete sie für das DFG-Projekt „Digitales Archiv jüdischer Autorinnen und Autoren in Berlin 1933–1945“ (Europa Universität Viadrina, Frankfurt Oder) und ist seit Juni 2020 wissenschaftliche Volontärin für das elektronische Archiv im Stadtarchiv Leipzig. Veröffentlichung: Rezension zu: Nicolai, Johann, „Seid mutig und aufrecht!“. Das Ende des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1933–1938. Berlin 2016, in: H-Soz-Kult, 25.07.2017. www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb25659 (25.07.2020). Jonathan Voges ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Deutsche und Europäische Zeitgeschichte an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover. Er arbeitet derzeit an einer Habilitation zur intellektuellen Zusammenarbeit im Rahmen des Völkerbundes. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Konsumgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, die Geschichte des Luxus im transepochalen Vergleich und die deutsch-jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert. Ausgewählte Veröffentlichungen: „Selbst ist der Mann.“ Do-ityourself und Heimwerken in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1950er Jahren. Göttingen 2017; Internationale Experten in eigener Sache? Der Völkerbund und die Organisation der geistigen Zusammenarbeit in der Zwischenkriegszeit, in: Felix Selgert (Hrsg.), Externe Experten in Politik und Wirtschaft. Berlin 2020, 223–443; Zusammen mit Kirsten Bergemann und Frank Ehrhardt, Zwischen Erfolg und Ablehnung. Jüdische Braunschweiger und ihr Engagement in der Gesellschaft. Braunschweig 2013. Christian Wiese ist seit 2010 Inhaber der Martin Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt, seit 2017 Sprecher des hessischen Exzellenzprojekt „Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten“. Zu seinen Publikationen zählen u. a. die Monographien Challenging Colonial Discourse: Jewish Studies and Protestant Theology in Wilhelmine Germany. Leiden/Boston 2005 und The Life and Thought of Hans Jonas: Jewish Dimensions. Waltham 2007. Jüngst erschienen ist seine zweibändige Edition von Martin Buber, Schriften zur biblischen Religion, (Bd. 13 I/II der Martin-Buber-Werkausgabe). Gütersloh 2019.
Register Adam, Margarete 73–75, 78 Adler, Hans G. 115, 116 Adler-Rudel, Salomon 220 Alexander, Kurt 68, 212–213, 218, 220, 222 Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund (ADGB) 174, 188 Allgemeiner Rabbiner-Verband in Deutschland 39, 104 Alliance Israélite Universelle 44 American Federation of Jews from Central Europe 220–222 Améry, Jean 209 Apt, Alice 211 Arendt, Hannah 167, 223–224 Association of Jewish Refugees 211, 213, 220–222 Auerbach, Baruch 49 Bab, Julius 244 Bach, Hans 71–72, 267, 277–278 Badt-Strauß, Bertha 278–280 Baeck, Leo 55, 58, 59, 61, 69, 90, 99, 102, 109–111, 223–224, 279 Bamberger, Fritz 59 Bargmann, Tobias 9, 79, 146, 184 Barkai, Avraham 2, 10, 33–34, 36, 38, 40– 46, 51, 53, 56–58, 61, 63–64, 68, 76, 82, 94, 108, 159, 171, 172, 173, 177, 184, 195, 196, 198–199, 202, 203, 210, 214–215, 229, 232–234, 235, 236, 239, 243, 254, 262–263, 269, 270–271 Baron, Isidor und Friederike 30 Barth, Karl 57 Beer, Georg 115 Beer, [?] 20 Behrendt, Marie Ch. 8, 177, 218, 220 Beineke, Eva 247, 248 Benjamin, Walter 241 Bergwerk, Klara 29 Bergwerk, Max 29–31 Bernays, Jacob 71 Bernfeld, Simon 101, 102, 118 Bernstein, Reiner 232, 237, 268, 270 Best, Werner 187, 204 Blüher, Hans 58, 62 Blumenfeld, Kurt 202 https://doi.org/10.1515/9783110675535-017
Bodenheimer, Max 254 Borchardt, Friedrich 181, 277 Braddock, Richard 171 Brann, Markus 116–117, 118 Braunschweiger, David 21 Breitman, Richard 204 Brodnitz, Friedrich 5, 201–209, 221, 224, 273, 274, 277–280 Brodnitz, Hedwig, geb. Herzfeld 201, 202 Brodnitz, Julius 5, 66, 51, 126, 129–130, 162, 196, 201–202, 205, 209, 233–234, 273, 276–277 Brodnitz, Susanne 205 Brunner, Constantin 76–77 Brunzlow, Max 174–177, 262 Buber, Martin 43, 81, 268, 271–272, 275, 278–279 Bund deutsch-jüdischer Jugend (B. d. j. J.) 64, 66–69 B’nai B’rith 103, 104, 126–127 Cahnmann, Werner 65 Callmann, Rudolf 221 Cassirer, Ernst 73 CENTRA 221 Chamberlain, Houston Stewart 100, 135, 145–146 Chibbat Zion 41 Clemenceau, Georges 157 Cohen, Hermann 47, 90, 106–109, 116 Cohn, Hermann 19 Council of Jews from Germany 178 Crohn, Paul 161, 190 Deissmann, Adolf 57 Delitzsch, Franz 91 Denz, Rebekka 7, 226, 269 Deuber, A. 261 Deutsch jüdische Jugendgemeinschaft (DJJG) 64, 66 Deutsch-Freisinnige Partei (DFP) 180 Deutsch-Israelitischer Gemeindebund 93 Deutsche Demokratische Partei (DDP) 14, 23–24, 172–173, 175, 198, 261–262 Deutsche Friedensgesellschaft (DFG) 178 Deutscher Vortrupp, Gefolgschaft deutscher Juden (D. V.) 55, 64–69
288 Register Deutschnationale Volkspartei (DNVP) 21, 25, 60 Dezember-Komitee 93 Dienemann, Max 80, 267, 276–277 Dinter, Arthur 186 Dormitzer, Else 134 Dreyfus, Alfred 7, 153–157, 159–161, 163–167 Dreyfus, Mathieu 160 Driesen, Otto 276 Drumont, Eduard 156, 166 Ebert, Friedrich 161 Edelheim, Margarete 167, 271 Edelheim-Muehsam, Margaret T. 268, 271 Edelheim-Mühsam, Margarete 221 Eisgruber, Heinz 175 Elbogen, Ismar 102, 105, 106, 119, 120 Elperin, Samuel 28 Erdmann, Lothar 188 Eschelbacher, Ernestine 125, 126 Eschelbacher, Joseph 100–101, 102, 103, 126 Eschelbacher, Max 84, 211, 225 Esterhazy, Ferdinand Siehe WalsinEsterházy, Ferdinand 287 Eucken, Rudolf 273 Eyck, Erich 162 Fedder, [?] 175 Feder, Gottfried 187 Feldmann, Gustav 176 Feuchtwang, David 118, 119 Feuchtwanger, Ludwig 62 Fischer, Eugen 144 Flasdick, Harald 269, 270 Fränkel, David 252 Freeden, Herbert 79, 268–269, 270 Freier, Recha 83 Frick, Heinrich 146, 276 Frick, Wilhelm 185 Fried, Marc 230 Friedländer, David 34 Friedländer, Fritz 279 Friedrich II., Preußen, König 264 Fritsch, Theodor 112–119 Fritzsche, Robert Arnold 276 Fromer, Jakob 104–107 Fuchs, Eugen 38, 42, 43,44, 94, 96–97, 98, 119, 126–127, 138, 140, 171, 233–235 Fuld, Ludwig 156
Galliner, Julius [?] 51 Geiger, Abraham 90–91, 276 Geismar, Otto 36 Geist, Raymond 204–205, 207 Gempp-Friedrich, Tilmann 7 Gerhard, Ute 121 Gerson, Hermann 240 Gobineau, Arthur de 135, 146 Gödde-Baumann, Beate 157 Goebbels, Joseph 81, 203, 207 Goethe, Johann Wolfgang von 244, 264 Gogarten, Friedrich 57 Goldmann, Christina 2, 126–127, 133 Goldmann, Felix 40, 61, 108, 172 Goldmann, Markus 28, 216 Goldschmidt, Fritz 211, 219, 220 Goldschmidt, Jakob 202 Goldschmidt, Salomon 42 Goldstein, Julius 79–80, 145–150, 267, 270– 276, 278 Goldstein, Margarete 80, 267, 273, 274, 276– 277 Goldstein, Moritz 42 Göring, Hermann 181, 201–202 Gradenwitz, Hirsch 39 Graetz, Heinrich 90 Graupe, Heinz 57–59 Grenville, Anthony 221–222 Güdemann, Moritz 100, 116–118 Gumbel, Emil 161 Gumpert, [?] 175 Günther, Hans F. K. 144 Gutmann, Josef 49 Guttmann, Eduard 161 Gyßling, Walter 78, 169, 173, 174–175, 178– 179, 180, 181–182, 184–185, 186, 188, 190–192, 193, 200–201, 203 Gyssling, Walter Siehe Gyßling, Walter 287 Haas, Ludwig 21 Haas, Rudolf 161–162 Hahn, Hugo 61, 63, 67, 69, 221 Harden, Maximilian 105, 164 Hardtwig, Wolfgang 214 Harnack, Adolf von 98 Harris, Ruth 155, 156, 160 Hartmann, Anton Theodor 253 Hartmann, Eduard von 100
Register
Hasse, Johann Gottfried 252 Haushofer, Karl 179 Heine, Heinrich 48 Heinsohn, Kirsten 71 Herder, Johann Gottfried 264 Herholz, Martin 6 Hermann, Georg 245 Herzfeld, Ernst 51, 202 Herzl, Theodor 156 Herzog, Wilhelm 164, 166 Heydrich, Reinhard 204 Hilberg, Raul 197, 200, 209, 223 Hildesheimer, Hirsch 159 Hill, Leonidas E. 169, 178, 181, 182 Hirsch, Leo 249 Hirsch, Samuel 90 Hirschberg, Alfred 35, 52, 56–57, 59–62, 64–65, 66, 67–69, 178, 181, 203, 211, 217, 218–219, 221–222, 243, 272, 277, 280 Hirschberg, Eva 211, 219 Hitler, Adolf 186, 188, 192, 195, 199, 201, 207–208, 258 Hoffmann, David Zwi 115 Holländer, Ludwig 19, 21, 72–73, 82, 150, 159, 172, 185, 203, 271–272, 275, 276–277 Holtz, Emil 188 Holzmann, Michael 49 Hörsing, Otto 161, 190 Horwitz, Aron 49 Horwitz, Maximilian 124, 125 Ilberg, Werner 28 Itzig, Isaak Daniel 34 Jacob, Benno 90, 275 Jacoby, Lucia 72, 275 Jesus von Nazareth 98 Jewish Agency 204, 278 Jewish Agency Executive (Jerusalem) 202 Jüdischer Frauenbund (J.F.B.) 125–127 Jüdischer Hilfsverein 44 Jüdischer Kulturbund 35 Jüdischer Lehrerverband in Preußen 36, 48 Jüdischer Weltkongress 204 Jungmann, Adolf 73 Jungmann, Agnes 73 Kameraden, deutsch-jüdischer Wanderbund 71 Kant, Immanuel 244
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Kaplan, Marion A. 128, 231, 236, 242 Karpeles, Gustav 92–93 Kartell-Convent deutscher Studenten jüdischen Glaubens (K. C.) 177, 179 Kastein, Josef 279 Keren Hajessod 82 Kinder- und Jugend-Alijah 82, 83 Kittel, Rudolf 115–117, 119 Koch, Alexander 236–237 Kohler, Josef 110 Kohn, Hans 158, 275 Kühl, Stefan 4, 144 Kulturbund deutscher Juden 244, 249 Küter, Richard 190 Laborie, Fernand 160 Lagarde, Paul de 100 Lange, Bruno 140–142 Lasker-Schüler, Else 279 Lasswell, Harold D. 170 Lazare, Bernard 158 Lazarus, Moritz 93 Le Goff, Jacques 14 Leibholz, Lise 277 Lelewer, Hermann 20 Lenz, Fritz 144 Leo Baeck Institut 213 Lessing, Gotthold Ephraim 264 Lessing, Theodor 48 Levy, Alphonse 156–157 Lewkowitz, Albert 273 Liberale Jugendgruppen (Ili) 64 Lichtheim, Richard 202, 204 Liebknecht, Karl 45 Locker, Berl 202 Loewe, Heinrich 41 Loewenberg, Jakob 237 Loewenstamm, Arthur 211 Löwenfeld, Raphael 214, 234 Löwenstein, Leo 64 Lowenthal, Ernst G. 35, 49, 125–127, 211, 213, 216–220, 222–223, 225 Lowenthal, Ilse 219 Luhmann, Niklas 15 Luxemburg, Rosa 45 Mann, Thomas 261 Mattenklott, Gert 79, 268–269
290 Register Matthäus, Jürgen 7, 10, 169, 187, 191, 196– 198, 201, 203–204 May, Henriette 125, 129 Maybaum, Ignaz 55, 59–60, 63, 69, 211, 216, 224–225 Meinhold, Johannes 115 Meißner, Stefan 57 Mendelsohn, Martin 234 Mendelssohn, Moses 48, 90, 252, 260, 274 Meyer, Beate 199, 205 Michaelis, Adolf 220 Michel, Wilhelm 275 Mierendorff, Carlo 174, 192 Miron, Guy 230, 232, 236, 242–243 Mittwoch, Eugen 220 Molo, Walter von 261 Mommsen, Hans 197 Moses, Julius 106, 255 Mosse, Rudolf 176 Mücke, Hellmuth von 186 Mugdan, Otto 127–128 Müller, Karl von 25–26 Muth, Carl 272 Nagel, Michael 8, 169, 184, 252–253, 260 Nathan, Paul 21, 72 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) 24, 73–74, 78, 169, 173– 174, 178, 181–182, 185–187, 190, 192, 201 Nattermann, Ruth 221–222 Naumann, Max 202, 207 Nicolai, Johann 3, 69, 85, 198, 212, 216–217, 222, 269–270 Nöldeke, Theodor 105–107 Nölting, Erik 276 Oerter, Sepp 24 Oppenheimer, Hans 222 Ostjüdischer Verein (Braunschweig) 27–29 Oswald, Richard 153–154, 165–166 Pappenheim, Bertha 128 Paucker, Arnold 3, 23, 93–94, 96–97, 169, 172–174, 175, 181, 182, 184–185, 187, 190, 191, 215, 251, 262–, 263, 274 Peukert, Detlev 4 Philippson, Ludwig 253 Picard, Jacob 81 Picquart, Marie-Georges 153, 157, 160 Pinsker, Leon 41, 50
Prinz, Joachim 242 Pulzer, Peter 214 Radbruch, Gustav 163–164 Radbruch, Lydia 164 Rade, Martin 57 Rathenau, Walther 24–26, 140 Regensburger, Norbert 6, 13–32 Regensburger, Resi 19, 32 Rehfisch, Hans 164, 166 Reichmann, Eva 6, 71–79, 81–86, 178, 211, 213, 220, 267, 270, 277–280 Reichmann, Hans 57–58, 71, 78, 79, 80, 86, 173–175, 177–178, 182, 183, 184, 185, 190– 192, 211, 217–218, 220, 224, 265, 266, 277 Reichmann-Jungmann, Eva Siehe Reichmann, Eva 267 Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold 174, 178, 180, 190–191 Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) 64–65, 68, 198, 235 Reichsverband der jüdischen Lehrervereine 36 Reichsvereinigung der Juden in Deutschland 199, 205 Reichsvertretung der Deutschen Juden 2, 126, 178, 196, 199–200, 204, 207, 220– 221, 224 Reissner, Hanns 224, 279 Renan, Ernest 141, 146 Republikanisches Studentenkartell 179 Rieger, Paul 95, 131 Riegner, Gerhart 204 Ring. Bund deutsch-jüdischer Jugend 64 Ring. Bund jüdischer Jugend 64 Ritter, Gerhard 180 Rohland, Eva 6, 34–35 Röhm, Ernst 188, 208 Rosenblum, Warren 7, 161–162, 184 Rosenblüth, Martin 202 Rosenhain, Bruno 28 Rosenstock, Susi 211 Rosenstock, Werner 211–212, 217, 218, 220, 222 Rosenthal, Jacob 139, 176–177, 262 Rosenzweig, Franz 59, 271–273, 276 Rothschild, Henry 272
Register
Rubinstein, Adolf 174–175, 177, 179–182, 190, 192 Sabatzky, Kurt 162 Samson, Meta 246–248 Samter, Nathan 104 Sandherr, Jean 155 Sax, Simon 7, 169, 178, 184–185, 187, 190, 263 Schechter, Solomon 278 Schlör, Joachim 35, 230 Schmitz, Johannes 186 Schoeps, Hans-Joachim 6, 55–69 Schoeps, Julius 156–157 Scholem, Gershom 62 Schoor, Kerstin 8, 230, 243, 269 Schorsch, Ismar 91, 93–94, 96, 97, 102 Schreiner, Martin Mordechai 89–90, 99, 100, 120 Schütze, Wilma 6, 184, 198, 269 Schwarz, Adolf 115 Schwarz, Minna 127–128 Schwarzes Fähnlein 64 Schweriner, Artur 173, 180, 184, 185 Sobotker, Martin 66 Sombart, Werner 42 Sonnenfeld, Herbert 215 Sonnenfeld, Hugo 271 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 24, 121, 123, 133, 173–174, 178, 190, 198, 256, 261 Spinoza, Baruch 53 Spitzer, Moritz 240 Stapel, Wilhelm 148 Stein, Arnold 182 Steinfeld, L. 163 Steinheim, Salomon Ludwig 59 Steinhoff, Sabine 254, 255 Steinthal, Chajim Heymann 91–92 Steinthal, Walter 164 Stern, Heinemann 6, 33–53, 39–40, 42–51 Stern, Heinrich 34, 276 Stern, Jaques 162 Stern, Johanna 53 Stern, Margarete 51 Stoecker, Adolf 91 Stone, Adolf Siehe Rubinstein, Adolf 287 Strack, Hermann L. 91
291
Strauß, Eduard 271–272 Strauß, Ludwig 279 Streicher, Julius 259 Sturmabteilung (SA) 186, 188 Susmann, Margarete 77, 81 Thon, Osias 41 Tietz, Ludwig 5, 60, 202, 240, 274, 277, 280 Tiling, Magda von 60 Treitschke, Heinrich von 91 Tschachotin, Sergej 173–174, 192 Tucholsky, Kurt 188 Twellmann, Marcus 230 Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) 4 United Restitution Organisation (URO) 178, 213, 220 Urban-Fahr, Susanne 3, 59, 79, 81, 184, 185, 269 Verband der deutschen Juden (VdJ) 95–96, 99, 101–102, 108, 109, 111, 116, 138, 139 Verband der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur 93 Verband nationaldeutscher Juden (VndJ) 198, 202, 235 Verein zur Abwehr des Antisemitismus 145 Vereinigung traditionell gesetzestreuer Rabbiner Deutschlands 39 Voges, Jonathan 6, 13 Volkov, Shulamit 1, 28, 97 Volksverein für das katholische Deutschland 122 Walsin-Esterházy, Ferdinand 155, 165 Waples, Douglas 170–171 Wassermann, Jakob 47, 266 Watermann, Daniel 132 Weil, Bruno 140, 153–154, 163–167, 184, 225, 276 Weltsch, Robert 275 Wessely, Hartwig 34 Wieland, Christoph Martin 264 Wiener, Alfred 19, 33–37, 51–53, 159, 162, 171–173, 180, 202–205, 211, 213, 220, 225–226, 272, 273, 274, 275, 276–277 Wiese, Christian 7, 91, 98, 104, 109–110, 112 Wildt, Michael 71, 139, 177 Wilhelm I., Deutsches Reich, Kaiser 175, 262 Wilhelm II., Deutsches Reich, Kaiser 136
292 Register Wilson, Woodrow 140 Wiltenburg, Joy 158 Wolff, Fritz 175 Wolff, Ilse 220 Wolff, Theodor 156 Woyda, Bruno 211 Ziegler, Ignaz 101
Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD) 41, 143, 197, 200, 202–203 Zionistische Weltorganisation (WZO) 84, 202, 204 Zola, Émile 153, 157, 160, 164, 166–167 Zunz, Leopold 49, 90