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German Pages 258 [257] Year 2018
Dominic Kaegi / Enno Rudolph (Hg.)
Cassirer - Heidegger 70 Jahre Davoser Disputation
Meiner
CASSIRE R-FORSCH UNGEN
CASSIRER-FORSCHUNGEN
Band 9
FELIX MEINER VERLAG HAtvlBURG
Dominic Kaegi / Enno Rudolp (Hg.)
Cassirer - Heidegger 70 Jahre Davoser D isputation
FELIX MEINER VER LAG HAMBURG
Ramyond K libansky gewidmet
Bibliograph ische In fo rmation der Deutschen Nationalbibliothek
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VORWORT
In seinen 1ungst erschien.enen Memoiren bezeichnen Raymond Klibansky, dem der vorliegende Band gewidmet ist, die Begegnung zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidcgger im Jahre 1929 in Davos als ein Ereignis, »bei dem es im gewissen Sinne um die Zukunft der deutschen Philosophie ging«.I Klibansky, dessen Distanz .zu den kompromisslosen Fundamencaliste:n in der Ahnengalerie der deutSchen Philosophie eher noch größer ist als die seines langjährigen Freundes und Gesprächspartners Ernst Cassirer, kann gleichwohl weder als CassirerSchüler noch als Cassirer-Anhänger bezeichnet werden und ist in diesem Sinne eher als unparteiischer Beobachter anzusehen. Weder teilte Klibansky Cassirers tendenzielle Identifizierung der Geistesgeschichte mit Kulturgeschichte, noch gar die Heideggersche Reduktion der Geschichte auf Geschick; weder teilte er die Cassirersche Neigung, die philologisch gesicherte Erforschung und Texttradition durch Ideengeschichte zu ersetzen, noch gar Heideggers Methode der »destruktiven« Aneignung als Form der Traditionskritik, wie sie auch gerade den Umgang mit den Tex• ten der griechischen Philosophie betraf. Von Heideggers berühmt gewordener Antrinsvorlesung Was ist Metaphysik? berichtet er: ,. Ich war über die Mischung von wirklicher und scheinbarer Tiefe und über die Ungeniertheit verblüfft, mit der er am Ende dem griechischen Text des Phaidros von Platon Gewalt antat, um seine These über ,Philosophie und Existenz< zu untermauern.«2 Diese Beurteilung unterscheidet sich nicht wesentlich von derjenigen, die uns Hans Blumenberg im Blick auf die Davoser Debatte hinterlassen hat) Blumenberg erinnert daran, dass die Davoser Disputation 400 Jahre zuvor einen historischen Vorläufer hatte - die Marbuger Disputation zwischen Luther und Zwingli über die Realpräsenz Jesu im Abendmahl. Man sehe, so Blumenberg, »wie die von Heidegger und Cassirer verwendeten Begriffe« - Sein oder Sinn, Substanz oder Funktion, Wirklichkeit oder Bedeutung - »ihre alte Antithetik endogen reproduzieren, als ginge es um ein und dasselbe, seit der ,Realismus< der Inkarnation und Passion 1 Raymond
Klibansky, Erinnerung an ein Jahrhundert. Gespräche mit Georges Leroux. Frankfurt/M. 2001, 44. 2 A.a.O., 92 J Hans Blumenberg, Affinitäten und Dominanz.en, in : Ders., Ein mögliches Selbstverständn.is. Aus dem Nachlaß, Sruugart 1997, 161- 168.
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Vorwort
des Logos seine Jahrhu nderte dauernde Abwehr gegen den >Doketismus< der Gnosis definitiv - gleich definitorisch - gewonnen hatte - wäre nicht das Rezidiv des Abendmahlsstreits gekommen, fast unerkannt als Reprise jener frühen •Bewahrung< Gottes vor der Unreinheit der Verweltlichung durch den platonischen Hilfsbegriff der ,ErscheinungGott>Metaphysik« Verschiedenes: Beidegger dachte an Ontologie, Cassirer meinte das Transzendieren des Bereichs der Erscheinungen. Die Seinsfrage steht nach Beidegger nicht nur im Mittelpunkt der Kantischen Philosophie, in der es um »eine Theorie des Seins überhaupt«66 gehen soll, sondern sie muß zur leitenden Frage des Philosophierens überhaupt gemacht werden. Cassirer stimmte Beidegger in bezug auf die Bedeutung der Seinsfrage zu, so daß es auf den ersten Blick scheinen könnte, als gehe er auch in diesem Punkte auf Heideggers Auffassung ein. Allerdings forderte er, die Seinsfrage im Licht der »kopernikanischen Wende« zu erörtern,6 7 und meinte, damit in Gegensatz zu Beidegger zu treten. Man kann aber bezweifeln, daß dies auf einen wesentlichen Unterschied hinausläuft. Im Interesse der Klärung muß man sich Beideggers Auffassung vergegenwärtigen. Da aus dem Protokoll der Disputation nicht deutlich hervorgeht, was Heidegger unter »Ontologie« verstand, muß man die entsprechenden Ausführungen in seinem Kant-Buch berücksichtigen. Dort wird zwischen ontischer Erkenntnis - der Erkenntnis von Seiendem - und ontologischer Erkenntnis - der Erkenntnis des vorher entworfenen Plans eines Seinsbereichs unterschieden. Von »Ontologie« ist dabei in einem ähnlichen Sinn die Rede wie bei Busserl, nach dessen Ansicht jede Tatsachenwissenschaft »wesentliche theoretische Fundamente in eidetischen Ontologien« hat.68 Wenn Beidegger von dem Seinsplan sprach, durch den die Seinsverfassung der Gegenstände der Naturwissenschaft bestimmt wird, liegt es nahe, an eine »regionale Ontologie« im Sinne Busserls zu denken. 69 Letzten Endes geht die Gegenüberstellung von ontischer und ontologische Betrachtungsweise auf Kants Unterscheidung zwischen der Erkenntnis von Gegenständen und der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit solcher Erkenntnis zurück.7° So wie nach Kant die Erfahrung von Gegenständen nur be-
64 Cassirer / Heidegger (1991 ), 275. 65 A.a.O., 276. 66 A.a.O., 278. 67 A.a.O., 293. 68 Husserl (1976), 24. Vgl. die Bemerkung a.a.O., 28, Anm. 3, über die verän-
derte Situation der Philosophie, die es möglich mache, die lange Zeit als anstößig geltende Bezeichnung »Ontologie« wieder zu gebrauchen. 69 A.a.O., 23 ff. 70 Von Bedingungen der Möglichkeit ist bei Heidegger wiederholt die Rede, z.B. (1993), 351, wo von der Zeitlichkeit als Bedingung der Möglichkeit des In-
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greiflich gemacht werden kann, wenn sie auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit bezogen wird, so geht nach Heidegger der Gegenstandserkenntnis (der ontischen Erkenntnis) die »ontologische Erkenntnis«, d. h. das »Verstehen der Seinsverfassung« eines Gegenstandsbereichs, voraus.7 1 Cassirer äußerte sich ähnlich, wenn er erklärte, daß der Frage nach der Bestimmtheit von Gegenständen »eine Frage vorausgeht nach der Seinskonstitution einer Gegenständlichkeit überhaupt«72. Bevor die Frage, wie dieser oder jener Gegenstand zu bestimmen sei, gestellt werden könne, müsse nach den Bedingungen gefragt werden, unter denen Gegenständlichkeit als solche konstituiert wird.73 Was als wirklich zu gelten hat, hängt von den Bedingungen ab, unter denen etwas als Gegenstand erfahren werden kann.74 Der Abstand, der die Auffassungen Cassirers und Heideggers trennt, scheint also nicht groß zu sein. Steckt vielleicht in Cassirers Äußerung, er habe in Heidegger einen Neukantianer gefunden,75 ein Körnchen Wahrheit? Ist vielleicht der scheinbare Gegensatz der Standpunkte nur ein Unterschied der Terminologie? Tatsächlich könnte man das Gemeinsame der verglichenen Positionen in der Annahme erblicken, daß Gegenstände von Deutungen abhängig sind. Da diese Annahme erstmals von Kant deutlich formuliert wurde, läßt sich sowohl Cassirers als auch Heideggers Denkweise auf Kant zurückführen. Dennoch unterscheiden sich die Standpunkte in inhaltlicher Hinsicht deutlich: Heidegger meinte Deutungen, an denen der Verstand nicht (oder nicht wesentlich) beteiligt ist, und sprach in diesem Sinne von einem »Verstehen« des Seinsentwurfs; Cassirer erblickte in Seinsentwürfen dagegen Erzeugnisse des Geistes (d. h. des Verstandes bzw. der Vernunft) und betonte, daß die Grundbegriffe und Grundsätze, mit deren Hilfe die Erkenntnis von Gegenständen als möglich begriffen werden kann, vom Geist geschaffen sind. Vom Standpunkt der Fundamentalontologie aus geht es um Strukturen des (menschlichen) Daseins, die sich in der phänomenologischen Betrachtung zeigen; in diesem Sinne ist die Metaphysik, sofern sie es mit dem Verstehen von Daseinsstrukturen zu der-Welt-seins die Rede ist, oder 365, wo der Zeit-Horizont als Bedingung der Möglichkeit der Welt bezeichnet wird. 71 Heidegger (1991 ), 13. 72 Cassirer / Heidegger (1991), 294. 73 Siehe ebd. 74 In anderem Zusammenhang hat Cassirer dies durch ein Beispiel konkretisiert: Wenn nach Max Planck existiert, was man messen kann, dann mag das vom Standpunkt des Physikers aus als hinreichend erscheinen; die Theorie der Erkenntnis muß dagegen nach den Bedingungen der Messbarkeit fragen. Siehe Cassirer (1957), 10. 75 Cassirer / Heidegger {1991), 274.
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tun hat, »Metaphysik des Daseins«76. Die Metaphysik im Sinne Cassirers ist dagegen eine Theorie der Gegenstandskonstitution.77
VI. Die Abkehr von der Transzendentalphilosophie D ie Disputation kreiste um die Frage, was Transzendentalphilosophie sei. Cassirer und Heidegger waren von der transzendentalen Denkweise beeinflußt; man muß jedoch fragen, in welchem Sinne sie 1929 noch transzendentalphilosophisch dachten. Cassirer hat sich in Davos ausdrücklich zur transzendentalen Fragestellung bekannt, und auch bei Heidegger ist es nicht abwegig, sein Denken mit Aspekten der Transzendentalphilosophie in Verbindung zu bringen, wie oben zu zeigen gesucht wurde und wie sich z. B. bei seiner Auffassung der Ontologie zeigt, auf die er in Davos hinwies und die im Kant-Buch ausgeführt ist. Trotzdem ist es bei beiden fraglich, ob sie noch der genuin transzendentalen Betrachtungsweise verpflichtet waren. Für die Transzendentalphilosophie ist die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung im allgemeinen oder von bestimmten Erfahrungsarten charakteristisch. Sowohl Cassirer als auch Heidegger haben diese Frage aufgenommen, aber die Art, in der sie sie beantworteten, ist nicht mehr die Art der Transzendentalphilosophie. Heidegger wollte nicht innerhalb eines vom Subjekt entworfenen theoretischen Rahmens begreiflich machen, wie Erfahrung von Gegenständen möglich ist, sondern die Strukturen von Seinsbereichen enthüllen; Cassirer versicherte zwar, in der Art Cohens von einem Faktum auszugehen und nach dessen Bedingungen der Möglichkeit zu fragen, aber wenn er die Sprache 76 77
A.a.O., 288. Cassirer hat den eigentlichen Grund des Gegensatzes der Positionen an anderer Stelle finden zu können gemeint, nämlich darin, daß Heidegger vom Sein einer Substanz, er selbst aber vom Sein funktioneller Bestimmungen ausgegangen sei (a.a.O., 294). Daß H eidegger das Sein einer Substanz vorausgesetzt habe, wird man aber bezweifein müssen; doch selbst wenn er es getan hätte, wäre der von Cassirer als wesentlich bezeichnete Unterschied nur von sekundärer Bedeutung. Außer den bereits erwähnten Differenzen ist ein Unterschied bemerkenswert, der nicht sogleich in die Augen fällt, nichtsdestoweniger aber wichtig ist. Heidegger dachte sozusagen monistisch. Ihm schwebte eine allgemeine Ontologie vor, deren Aufgabe es sein sollte, aus der Idee des Seins heraus die Mannigfaltigkeit der Seinsweisen zu bestimmen (295). Cassirer dachte dagegen pluralistisch: er betonte die Verschiedenheit der Seinsstrukturen (294); zwar leugnete er die Einheit der geistigen Welt nicht, aber er konzentrierte sich eher auf die den verschiedenen symbolischen Formen entsprechenden Welten, als daß er die Aufmerksamkeit auf das gerichtet hätte, was allen Welten gemeinsam ist und ihnen zugrunde liegt.
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als Faktum bezeichnete, nach deren Möglichkeit gefragt werden soll/8 dann handelt es sich nicht mehr um die Frage nach Bedingungen der Möglichkeit im Sinne der Transzendentalphilosophie. Cohen hatte das Faktum der Wissenschaft als eines Systems von Sätzen mit dem Anspruch objektiver Gültigkeit vor Augen, und von diesem Anspruch kann gefragt werden, unter welchen Bedingungen er sich als möglich begreifen läßt. Bei der Sprache läßt sich eine analoge Frage nicht stellen. Wenn Cassirer fragt: »Wie kommt es, wie ist es denkbar, daß wir uns von Dasein zu Dasein in diesem Medium [sc. der Sprache] verständigen können?«79, dann kann zwar nach Bedingungen der Verständigung, nicht aber nach Bedingungen der Möglichkeit von Sprache im genuinen transzendentalphilosophischen Sinne gefragt werden. Das gilt auch dann, wenn man auf den Anteil der Sprache an der Objektivierung von Wahrnehmungen achtet. Nach Cassirer werden Wahrnehmungen »gegenständlich«, wenn es »der Energie der Sprache gelingt, das dumpfe und ungeschiedene Chaos von einfachen Zuständlichkeiten zu lichten, zu unterscheiden, zu organisieren«s0 • Die Sprache bewirkt, daß an die Stelle der unmittelbaren Eindrücke Bedeutungen treten, die im Gegensatz zu den flüchtigen Eindrücken bleibend und konstant sind.81 Die sprachlich gedeutete Welt ist eine gemeinsame Welt, in der die Einzelnen untereinander verbunden sind. Über Sprache zu verfügen ist demnach eine Bedingung dafür, daß eine klar gegliederte Wirklichkeit intersubjektiv erfahren werden kann. Um eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung im Kantischen Sinne handelt es sich aber nicht.8 2 Cassirer hatte recht, wenn er darauf insistierte, daß die transzendentale Frage nicht nur in bezug auf die naturwissenschaftliche Erfahrung, sondern auch in bezug auf die Erfahrung von Dingen im allgemeinen, auf die Erfahrung sittlicher Verpflichtung oder auf die Erfahrung schöner und zweckmäßiger Zusammenhänge zu stellen ist. Immer muß jedoch das 7s
A.a.O., 295.
79 Ebd. so Cassirer (1980), 14 f. St A.a.O., 15. 82 Nach Kant hängt z. B. die Erfahrung der Unumkehrbarkeit der Zeitrichtung vom Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität als Bedingung der Möglichkeit ab. Es ist eine Tatsache, dass wir den Zeit-Pfeil als unumkehrbar erfahren, und diese Tatsache läßt sich nach Kant nur als möglich begreifen, wenn man das Geschehen als kausal determiniert betrachtet. Die Tatsache, daß Eindrücke durch die Verbindung mit sprachlichen Ausdrücken objektiviert werden, ist von anderer Art, und es gibt auch keine allgemeinen Prinzipien von der Art des Kausalitätsprinzips, die diese Tatsache als möglich begreifen lassen. Cassirer sprach von der Entwicklung des Gegenstandsbewußtseins und wies auf die Rolle hin, die die Sprache dabei spielt; seine Betrachtungsweise ist genetisch, nicht transzendental.
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Faktum, nach dessen Möglichkeitsbedirngungen gefragt wird, eine mit dem Anspruch objektiver Gültigkeit verbundene Erfahrung sein. Deshalb kann auch nach Bedingungen der Möglichkeit der mythischen Erfahrung gefragt werden, wenn man voraussetzt, daß es eine für den Mythus spezifische Erfahrungsweise gibt. Die transzendentale Frage lässt sich aber nicht in bezug auf die Sprache oder auf die Technik stellen. Das dürfte Heidegger gemeint haben, als er in seiner Besprechung des zweiten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen bezweifelte, daß sich die Kritik der Vernunft zu einer »Kritik der Kultur« erweitern lasse.83 Cassirers Philosophie der zwanziger Jahre ist nicht so sehr eine verallgemeinerte Transzendentalphilosophie, als vielmehr eine D eutungstheorie, der zufolge das, was im Alltag, in der Wissenschaft, im Mythus, in der Kunst erfahren wird, durch Deutungen mit Hilfe von Symbolen bedingt und daher durchtränkt von Bedeutungen ist. Dabei läßt die Konzentration auf die Frage nach dem Menschen, der Zeichen erzeugt, verwendet und versteht, die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung in den Hintergrund treten. Wenn Cassirer forderte, den Menschen nicht mehr in erster Linie als animal rationale, sondern als animal symbolicum zu betrachten,84 dann kann dies als Hinweis auf die Abkehr von der ursprünglichen transzendentalen Betrachtungsweise verstanden werden. Cassirers Betrachtungsweise ist wichtig und fruchtbar; wenn bezweifelt wird, daß sie die Bezeichnung »transzendental« verdiene, soll das keine Abwertung bedeuten. Blickt man von diesen allgemeinen Überlegungen wieder zurück auf die Davoser Disputation, dann läßt sich besser verstehen, warum Cassirer nicht widersprach, wo von einem Vertreter der Transzendentalphilosophie Widerspruch zu erwarten gewesen wäre. Hätte Cassirer noch entschieden auf dem Boden der Transzendentalphilosophie gestanden, dann hätte er Heideggers Deutung des Schematismus und der Einbildungskraft entgegentreten müssen. Sein Einlenken dürfte nicht in erster Linie Ausfluß einer besonders konzilianten Einstellung, sondern Folge einer sich vollziehenden oder teilweise schon vollzogenen Einstellungsänderung gewesen sein. So wie sich Cassirer von der genuinen transzendentalen Denkweise entfernte, so distanzierte sich Heidegger von einer Ontologie, die Seins~ entwürfe als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung von Seienden Heidegger (1991 a), 264 f. Cassirer (1990a), 40: »Der Begriff>Vernunft< ist höchst ungeeignet, die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen.[ ... ) Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren.« 83 84
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behandelt. Ob Heidegger im Frühjahr 1929 schon eine Revision seiner transzendental-ontologischen Einstellung vor Augen hatte, muß offen bleiben; möglich ist es, denn wenig später, nämlich im Wintersemester 1929/30, erklärte er: »[...] die Transzendentalphilosophie muß fallen«85. Auf die damalige Phase seiner Entwicklung zurückblickend, hat er in den Beiträgen zur Philosophie festgestellt, daß er auch die temporale Auslegung des Seins aufgeben mußte, um die Wahrheit des Seins sichtbar zu machen.86 Indem er darauf verzichtete, den Anfang mit dem menschlichen Dasein zu machen, entzog er dem Relativismus-Vorwurf, den Cassirer erhoben hatte, den Boden. Allerdings setzte er dem Subjektivismus nicht, wie es Cassirer getan hatte, die Annahme eines objektiven Geistes, sondern die Lehre vom Sein in radikaler Differenz gegenüber dem Seienden entgegen. Sowohl Heidegger als auch Cassirer haben sich somit von ihren ursprünglichen Positionen entfernt: Cassirer war von der transzendentalen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erfahrung ausgegangen und zur Frage nach den Formen der Kultur und ihrem Grund im menschlichen Vermögen der Symbolerzeugung geführt worden; Heidegger hatte die Frage » Was ist der Mensch?«, um die sein Denken zunächst kreiste und auf die er antwortete: ein seinsverstehendes Wesen, durch die Frage nach dem Sein bzw. nach der geschichtlichen Wahrheit des Seins ersetzt. Es ist bemerkenswert, daß Heidegger damit eine Position bezog, die nicht mehr dem von Cassirer erhobenen Vorwurf des Relativismus ausgesetzt war; und ebenso bemerkenswert ist es, daß Cassirer, indem er nach dem Menschen als einem Symbole schaffenden Wesen fragte, jene Kantische Frage aufnahm, die Heidegger in seiner Kant-Interpretation hervorgehoben hatte. Beide haben ihren ursprünglichen Standpunkt revidiert, wie schon der Gedankenaustausch von 1929 erkennen läßt. Beide waren im Begriffe, die transzendentale Denkweise hinter sich zu lassen, von der sich die Mehrheit der deutschen Philosophen damals abwandte. Was Cassirer und Heidegger in Davos sagten, läßt ahnen, in welche Richtung sich ihr Denken weiterentwickeln sollte, und blickt man auf ihre Veröffentlichungen und Vorlesungen der letzten dreißiger Jahre, dann wird der durch die Hinweise in der Disputation erweckte Eindruck bestätigt: Cassirer ging von der Transzendentalphilosophie zu einer Phi85 Heidegger (1983), 522. 86 Heidegger (1989), 450 f. Vgl. Rainer Thurnher (1997) insbes. 31 ff. Thurnher konstatiert: »Die Kantvorlesung des Wintersemesters 1927/28 zeigt ihn [sc. Heidegger] noch ganz im Bann des transzendental-horizontalen Schemas. Die darauffolgenden Vorlesungen lassen deutlich das Bemühen erkennen, sich diesem zu entwinden[ ... ] « (32).
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losophie über, die »Deutung, Interpretation, Verständnis der Phänomene« - vor allem der kulturellen Phänomene - sein will;87 Heidegger wollte die Transzendentalphilosophie bzw. die Ontologie, wie er sie verstanden hatte, auch die Fundamentalontologie, ablösen »durch ein vom Sein selbst ereignetes und darum dem Sein höriges Denken«88 - ein Denken, das man in einem nicht abwertend gemeinten Sinn als mystisch bezeichnen kann. Sich von der transzendentalphilosophischen Betrachtungsweise abzuwenden heißt aber nicht, sie zu überwinden, wie auch die von Kant gestellten Fragen im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts nicht vergessen, sondern unter den für die Entwicklung des modernen Denkens maßgeblichen Bedingungen in neuer Weise zu beantworten gesucht wurden.
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Gabriel Motzkin (Jerusalem)
The Ideal of Reason and the Task of Philosophy: Cassirer and Heidegger at Davos In the years since the Second World War, the discussion at Davos has been taken to be emblematic for the confrontation between pre-First World War and post-First World War philosophy. In our days, this debate, allegedly between a philosophy of knowledge and a philosophy of existence, has reawakened, perhaps because of the historical return to certain characteristics of the pre-World War II political context. That this debate between epistemology and ontology should have moral consequences may not be surprising from the point of view of ontology, of a philosophy of existence, but it is surprising from the point of view of epistemology, of a philosophy of knowledge. Yet those who then and now have taken up the cause of the philosophy of existence make their moral claim by denying the claims of ethics. Ontology has moral consequences; these moral consequences can only be grasped by neglecting any pre-existential philosophy of value. In contrast, those who have taken the position of the philosophy of knowledge have always found it difficult to respond, for they have always been divided, unlike the existentialists, about the relation between knowledge and ethics. Their dilemma goes to the heart of the related debate about the moral consequences of Enlightenment, more specifically of whether a moral world-view based on rationalism is viable, a central debate in German philosophy since the Enlightenment. There is an advantage in emphasizing, in contrast, empiricism as the basic stance of Enlightenment humanism: from a dialectical point of view, the advantage of empiricism is that its dialectical opposite is rationalism, while unfortunately the dialectical opposite of rationalism is not empiricism but irrationalism. In our time, this contrast between rationalism and irrationalism has been feit to such a degree that after World War II there were voices such as Popper's, or from a very different point of view, in our day Sloterdijk, who accuse rationalism itself of being aufond irrational. 1 This argument of ehe basic irrationality of rationalism is the more extreme of several anti-rationalisms. A more moderate anti-rationalism simply accuses rationalism of lacking a sufficient foundation. This more moderate irrationalism takes the position that rationalism, since it is itself insufficiently founded in human experience, cannot provide a sufficient 1
Popper (1945); Sloterdijk (1999).
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basis for culture. However, this moderate anti-rationalism is undecided on the issue of the origin of rationalism, of what the foundation for rationalism might be, whether rationalism derives from culture or from a pre-cultural decision. Heidegger was in our sense a moderate anti-rationalist, but bis account of the motivation for rationalism was immoderate: he discerned the origin of rationalism in fear, in the fear of the world that stems from the anxiety for one's own existence. The fear is authemic, mastering the fear through self-repression is not. On the basis of such seemingly anthropological explanations, Heidegger has often been interpreted as a thinker of human autonomy. In what follows, I shall assert that he was much more concerned with the autonomy of philosophy, of what he termed metaphysics. The argument for the autonomy of philosophy has usually been based on ehe adoption of a rationalist position regarding consciousness, whereas the argument for ehe autonomy of man, for his freedom, has no such necessary grounding in rationalism. As we shall see, one can maintain ehe autonomy of man from an irrationalist perspective, but it is quite difficult to assert ehe autonomy of philosophy from such an irrationalist perspective. In one sense, this notion, ehe notion that philosophical freedom is primary and prior to philosophical reason, was Heidegger's position. In contrast to Cassirer, for whom freedom was an ideal, a tenninus ad quem, viewed under the rubric of arrival, for Heidegger freedom was an origin, a terminus a quo, viewed from its point of departure. Thus Cassirer viewed the ideal through its past, and Heidegger> following Cohen, the origin in its future. One argument at Davos was about ehe autonomy of philosophy. The debate turned on whether the autonomy of philosophy implies or presupposes man's autonomy, or whether the autonomy of philosophy first makes human autonomy possible. What is the meaning of the allegedly liberating effect that philosophy can have on human beings? In this debate, Cassirer was accused both of rationalism and of denying the autonomy of philosophy. Heidegger could appear as the debate's winner because, in such a debate, he who maintains the autonomy of philosophy has a built-in advantage, given the aprioristic bias of ehe structure of philosophical argument, just as he who maintains ehe general superiority of aprioricism to empiricism has the same kind of built-in advantage. Now Heidegger used this structural advantage for what could be considered an anti-philosophical position from a rationalist point of view, but nonetheless, he did use the argument of autonomy, reattributing it to the question of Being. In terms of the structure of the argumem, that makes no difference, although it makes all the difference in terms of ehe content.
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Motzkin · The Ideal of Reason
There was a contextual reason why the autonomy of philosophy was such a central issue at the time. In the period from 1880 to 1930, philosophy had spawned many new disciplines, notably psychology and sociology. This question of the autonomy of philosophy was both a question of the self-justification of the philosophical enterprise and ehe location of philosophy vis-a-vis its daughter disciplines. To what degree should philosophy become a psychology or a sociology? Would the rationalityclaims of philosophy be satisfied by embedding that rationality is psychological or sociological rationality? The issue for the first generation of neo-Kantians had been the relation of philosophy to natural science, and, to a lesser degree, to historical science. That last issue survived as a consequence of Dilthey's impact on philosophers. The issue for a second generation was philosophy's uncertain relation to social science, and philosophy's take on the unstable relation between social science and culrural science. Enlistment in the anti-psychological front could either predispose one to a socially-interpreted cultural science, or it could stimulate the reformulation of the traditonal claim of philosophical autonomy, Heidegger's position. But the attempt to found a Kulturwissenschaft should also be seen in this disciplinary context: those who tended in the direction of locating philosophy in its relations to culture needed to decide whether a philosophically-inspired Kulturwissenschaft should become an independent discipline or remain within philosophy. In the event, Kulturwissenschaft never developed into an independent discipline, perhaps because the ins1tirutional context for such developments changed radically after 1933 (although those disciplines such as psychology which had already set out on their quest for independence found the Nazi context a favourable one).2 The effect of these developments was that rationalism, instead of serving as a basis for an argument for the autonomy of philosophy, was construed as a common attitude linking philosophy to other disciplines, thus linking philosophy to other approaches to ehe interpretation of human experience, approaches that have their own rationale. This idea that a latent scientific rationalism is correlative to a latent rational strucrure in ehe object of investigation was shared by all the new human sciences: their point of departure was that there is no difference in this regard between history and nature. But any rationalism which adduces a common rationality in different regions of being shares this assumption. Any rationalism that takes account of society or history construes rationalism in this manner. But what the new disciplines overlooked is that they did
2
Cf. Geuter (1984).
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not sufficiently reflect on the philosophical discipline from which they had emerged and their links to it. That was not Cassirer's problem; he certainly had reflected on the philosophical tradition. He too however viewed the problem of the origin of philosophy as the problem of an origin within culture. One implication of Cassirer's position is that philosophy is linked more to culture than to life. On this issue, Heidegger could not be further away from Cassirer: any genuine questioning of Being must both go beyond culture and must have originated before culture. lt is rather culture that derives from taking up a given metaphysical position. For Heidegger, this metaphysical position is linked to universal questions of existence that cannot be approached from the perspective of a given culture. There are two questions here: first, what is the character of the link between rationalism and the autonomy of philosophy? Second, is autonomy cultural or existential - can there be an autonomy of a reflective pursuit which does not presuppose its situatedness in a given culture? Yet if rationalism is a cultural form, how can it be linked to autonomy? Can there be a coherent notion of autonomy that has a positive evaluation of its own cultural embeddedness? Or is not rather the question of the autonomy of philosophy a question that must be posed in such a way that philosophy is emancipated from culture? And if philosophy is emancipated from culture must not then the origin of this potentiality for emancipation precede culture? Cassirer was at a disadvantage despite his position being in a way the more mature one: the implication of his argument was that Heidegger was basically infantile. Since the existence of culture is a given, transcending culrure can never mean retrospective transcendence: the liberation of the future cannot imply the liberation of the past - a utopian yearning that informs many of the more radical irrationalisms. Thus the question of autonomy can only be posed as a question of the cultural conditions for autonomy, of the possibility of autonomy within culture. Hence the paradox that informs Cassirer's work is that of the cultural origins of universalism. The description and analysis of these cultural origins should neither be isolated, by treating this issue as a purely historical one, from the contemporary pursuit of autonomy and universalism, nor should the
inclusion of the historical perspective be applied as a tool for relativizing universalism: the point is to show how man finds himself through culture. In nub that is the program of Enlightenment: progress to universality through culture. Since many of the attacks of humanism have claimed that humanism has a false idea of human being, or indeed that humanism is anti-human, it may be a legitimate question whether a humanism must put man in the
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center of its doctrine, strange as that may seem. Or one can refine the question to ask in what sense does a given humanism put man at its center. Many analyses of humanism have compared different humanisms' different ideas of man, but the function of man in a given humanism should also be queried. Maybe humanism requires more an idea of reason than an idea of man, and then only as a second step is reason then applied to or attributed to man. The idea of man as a rational animal can be construed in two different ways. This ambiguity is reflected in the attacks on humanism. In our century there have been two philosophical attacks on humanism: one critique which we are embarrassed to admit is a natural-sciemific one, which makes of man a biological organism; and another critique which has a mathematical-logical origin, which advocates the investigation of the conditions of mind without reference to any natural limitation on mind such as inhering to a given species. Each of these positions has claimed the anti-humanism of the other position, and also sometimes claimed the anti-humanism of traditional humanism. The candid attack on humanism has issued more often from biologism than from formalism. Indeed, Cassirer thought that formalism and humanism could be reconciled. One greac cultural misunderstanding running right through our cemury has been that ehe scientific challenge and ehe mathematical challenge eo a cultural humanism are identical. On the contrary. They are ultimately opposed. This deseructive misunderstanding was only possible because both formalism and biologism strove to dissolve the precious equilibrium of mind and body that Enlightenment humanism had presupposed. Heidegger managed to take both posieions, eo use one position in order to justify ehe other. Beginning with a formalist crieique of epistemology on the basis of logic and mathematics in order to show the impossibility of the epistemological position, he used that formalist critique to advance his own biologism. No one eise has managed to combine both positions, even in ehe negative and destructive way undertaken by Heidegger. Cassirer failed to make a convincing argument in favour of humanism: his language is redolem of an out-moded idealism which has no contemporary adherents: few of those who would currently defend Enlightenment humanism are also German Idealises. But Cassirer's question
about the conditions for the viability of humanism has not disappeared because he was unable to make the argument. Can there be an Enlightenment humanism rhat does not put the concept of man at its center? Can there be a metaphysical humanism, something like Kant? The attack of humanism has shown that ehe link between the philosophical assumptions of humanism and ehe concept of man is not a necessary one, while ehe defence has not yet shown under which conceptions of man some-
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thing like an Enlightenment humanism would be optimal. The critique of Enlightenmem has had terrible consequences. After World War II there were thinkers who viewed the Enlightenmem and its humanism as being responsible for the terror that had swept through their lives. Such an attitude can even be found in Lacoue-Labarthe's and Sloterdijk's notorious formulation that humanism is responsible for Nazism.3 Such a critique is only possible on the basis of the negative evaluation of Enlightenment that itself follows from a biologistically-tinged attack on universalism. The Enlightenment has been attacked for the divorce of its values from the conditions of life, and it has also been attacked for consequently imposing a terror and repression on humans and on their being because of its hostility to life. Such an attack is only possible when the Enlightenment is viewed as adopting a rationalist view of consciousness and of values, a characterisation which cannot apply to either France or England. So then the question shifts to a question of the implications of rationalism, not of humanism, for culture. In turn, that question can be too lightly turned into a question of scientific rather than humanistic rationality. lt is only because of the participatory idea that rationalism means the same in different domains that the rationalism of totalitarianism can then be perceived as a rationalism in the same sense as was meant by reason in the Enlightenmem. More importandy, that rationalism, the latent rationalism inherent in things, cannot be the basis for autonomy. This then was Cassirer's dilemma: he required two different concepts of reason, but he could not explain how they were linked. The gap between Heidegger's declaration of the autonomy of philosophy and Cassirer's ideal of the autonomy of man was evident at Davos. Heidegger rejected neo-Kantianism because of its minimalism: He described the origin of neo-Kantianism in the following manner: »Die Genesis ist die Verlegenheit der Philosophie, was ihr eigentlich noch bleibt im Ganzen der Erkenntnis.« 4 lt was against this position that he based the autonomy of philosophy on a more primordial aspect of Being than knowledge. Cassirer agreed with Heidegger, in contrast to Cohen, that knowledge is not an end in itself, but he viewed philosophy not in terms of its ground, but rather in terms of its goal, and that goal of phi-
losophy, of knowledge, and of culture, is freedom. Asking » Wie ist Freiheit möglich?«, he replied: »Es handelt sich um den Übergang zum mundus imelligibilis.«S He conceived of freedom as the mechanism of tran3 Lacoue-Labarthe (1987); Lacoue-Labarthe / Nancy (1991), Sloterdijk (1999). 4 Cassirer / Heidegger (1991), 274. s Ibid., 276.
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scending, replacing love and intellect in neo-Platonism and salvation in Christianity wich freedom. In comrast, for Heidegger freedorn was not freedom for, but freedom from, liberation (»Befreiung«).6 Freedom, however, could never mean the liberation from finitude. The issue was rather one of liberation from culture, of metaphysics as the instrument of the liberation frorn culture, a position with a family resemblance eo Plato's, that cultural anarchisrn. and culrural nihilisrn that has sometirnes infected radical conservatisms. But Heidegger, in contrast to Plato, emphasized the impossibility of liberation from the body: »Auch diese Transzendenz bleibt noch innerhalb der Geschöpflichkeit und Endlichkeit.« 7 Liberation could not mean liberation of the soul. The question of finirude, however, raised anocher issue, namely the question of the relation of finitude to infinity. lt was a cardinal issue for Cassirer because he believed that freedom is the mechanisrn for entrance into the domain of the infinite, whereas Heidegger, while conceding the possibility of an infinite understanding, refused to liberate that infinity from the finirude which denumerates and defines it. This issue was so cardinal because autonomy for Cassirer could only be meaningful in relation to an infinite set of possibilicies, whereas for Heidegger that autonomy must be an autonomy of the finite in relation to the infinite. Both were in accord that the issue between them was the possible application of ehe ideas of infinity to human existence. While Cassirer discerned something new in modern ideas of infinity, his notion of the application of infinicy eo culrure and exiscence derived from the philosophical tradition. In contrast, Heidegger believed that ehe modern ideas of infinity were outgrowths of Classical ideas of essence and substance, but his notion of ehe meaning of infinity for human existence was radically different from anything he could have found in the tradition. For Cassirer, the infinite was a form, whereas for Heidegger the infinite was itself limited, pointing to a middle realm between finitude and whatever lay beyond it. Emil Lask had posited an objective world which is torn apart by subjectivity and reconstituted as a quasitranscendent realrn of sense or meaning. 8 Heidegger remapped this scheme as a realm of human existence, a beyond that is nothing, and a middle quasi-transcendem realm of action. At Davos he said: »Dieses Dazwischen ist das Wesen der praktischen Vernunft.«9 Embedded within existence, ehe issue of quasitranscendence is not how meaning is created from the broken Cf. ibid. 285. Ibid., 279. 8 Cf. Lask (1912). 9 Cassirer / Heidegger (1991), 279. For Cassirer the »Dazwischen« would be language. 6 7
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shards of a primordial world, but rather how meaning is related back to its origin. He said: » Ich glaube, man geht fehl in der Auffassung der Kantischen Ethik, wenn man zuvor darauf orientiert ist, wonach das sittliche Handeln sich richtet, und zu wenig sieht die innere Funktion des Gesetzes selbst für das Dasein.« 10 lt is the function of the ethical quasitranscendent for human existence which should be exhibited, and not its purpose, for the aim of human existence cannot be beyond itself. Robbing Kantian ethics of its goal-orientedness, he returns to the question of the origin of ethical practice. While he accepts the possible infinity of our understanding, he believes that is infinity is embedded in human finitude. Therefore this infinity is a contingent infinity: if Dasein did not exist, there would be no truth.1 1 For both Cassirer and Heidegger autonomy precedes infinity, but it is the possibility of infinity that guarantees autonomy for Cassirer, whereas infinity cannot guarantee autonomy for Heidegger: autonomy makes it possible to entertain the contemplation of a contingent infinity, one which can never become necessary or even a transcendent Ought or »Sollen«. In turn, the consequence of this contingency of what freedom can achieve means that »Freiheit nur ist und sein kann in der Befreiung«. 12 The process or act replaces the goal. The basic model is one of a futureoriented origin. Autonomy is to be sought in the origin. Cassirer responded by viewing the infinite as an objectification of spirit, one which he terms an immanent infinity. There was no disagreement between them on the limitations of infinity: man cannot make God. But Heidegger did not believe in the possibiliey of objeceification: ehe ethical could not be a form. Since the ethical could not be a form, ehere was no point in pursuing a philosophy of culture. Cassirer grasped Heidegger's critique of his notion of form. He characterized Heidegger's conception of ehe world of form as one which is a privative or negative domain, a region thae obtains ies definieion only in relation to the finite. Heidegger had already elaborated this privative conception of the infinite in his Habilitationsschrift.1 3 He, Cassirer, prefers viewing the infinite as the totality of the finite rather than as its privation.14 Thus he completely rejeceed Heidegger's privative logic, a manner of thinking closer to Cohen's logic than Cassirer's philosophy of symbolic forms. Therefore Cassirer could even believe that the progress of freedom could diminish basic anxiety, a position diametrically opposed 10
Ibid. Ibid., 281. 12 Ibid., 285. 13 Cf. H eidegger (1978), 189 ff. 14 Cassirer / Heidegger (1991), 286. 11
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to Heidegger's. His conception of freedom was correlative to his idea of objectification; in both cases, the goal of subjectivity is to transcend itself. That goal may remain an immanent goal, but it is that transcendence-inimmanence which makes the quest for truth into a cultural form. Cassirer however ignored Heidegger's earlier characterisation of the difference between linguistic and substantive privation: the linguistic use of privation signifies something positive, as in the case of unconcealedness (»Unverborgenheit«). When this privaeive language is applied eo human beings, ie signifies in relaeion to human beings much the same that it had in negative theology, namely that subjectivity has always already gone beyond itself. Maybe that transcendence is only virtual, but it is nonetheless constieutive. Therefore the ,question of return, of » Wiederholung«, of self-return, is the cardinal question. Hence what I have called the autonomy of philosophy is more important than the autonomy of the subject, because it is ehe autonomy of metaphysics from other forms of knowledge that makes ie possible eo grasp ehe possibility of return. The crime of humanism had been its quest for transcendence. Rationality is a derivative form of thought. A true humanism would be meta-rational and would be more an archeology than a science of culture. Thae archeology could not be retrospective, as was most of Cassirer's work, because there can be no human Olympus which can designate itself as ehe terminus ad quem. Human existence can only be a terminus a quo, even though it is a terminus. I wish to add that I am not happy with this conclusion. I believe that Heidegger is much the more magnificent of the two, but I am hugely unhappy wich this dusty view of human nature, for it ultimately makes freedom meaningless, and can easily lead to fantasies of control. The will to power was not subverted by Nietzsche and his followers, even while they claim that all they have undertaken is a critique of the will to power. lt was rather liberated from the absolute and benevolent fantasy of an infinitely lawful world. The question is raeher whether the concept of law can exist without the concept of infinity. Subversive anarchism is the attractive mode of the modern age, but it expresses itself not as an asceticism of secession from the public order, but rather as an excess of chaotic power-claims, power-claims which are no less vicious because they are
informed by ehe rhetoric and emotion of the yearning for anarchy.
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Bibliography Cassirer, Ernst / Heidegger, Martin (1991 ): Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger, in: Heidegger (1991), 274-296. Heidegger, Martin (1978): Die Kategorien und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1916), in: Frühe Schriften. Gesamtausgabe Bd. 1, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt/M. - (1991 ): Kant und das Problem der Metaphysik (1929), Gesamtausgabe Bd. 3, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt/M. Geuter, Ulfried (1984): Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. Lacoue-Labarthe, Philippe (1987): La fiction du politique: Heidegger, l'art et la politique, Paris. - / Nancy, Jean-Luc (1991): Le mythe nazi, La Tour d'Aiques. Lask, Emil (1912): Die Lehre vom Urteil, Tübingen. Popper, Karl (1945): The Open Society and lts Enemies, London. Sloterdijk, Peter (1999): Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den »Humanismus«, Frankfurt/M.
Enno Rudolph (Luzern)
Freiheit oder Schicksal? Cassirer und Heidegger in Davos
Historische Ereignisse können im Verlaufe der Zeit eine politische Bedeutung erlangen, deren Dimension die beteiligten Akteure ebenso wie die Geschichtsschreiber oftmals erst später erkennen können. Die entscheidende Frage, ob solche Ereignisse retrospektiv als anfänglich zwar unerkannte aber signifikante Indizien für dramatische Entwicklungen in der Folgezeit bewertet werden dürfen, wird nicht selten rasch verdrängt oder verworfen. Auch das Davoser Streitgespräch zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger, dem mancher Beobachter eine Schlüsselrolle für die europäische Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert zuspricht, ist ein Kandidat für eine solche Fragestellung. Äußerlich betrachtet scheint es, als wäre das international beachtete Gespräch über die Behandlung eines Themas von scheinbar ausschließlich akademischem Interesse - nämlich Kants philosophischer Kritizismus und seine Theorie der Endlichkeit des Subjekts - nicht hinausgelangt. Hinzukommt, dass Teilnehmerberichten zufolge die Gesprächsatmosphäre durchaus irenisch und von wechselseitigem Respekt der beiden Disputanten gekennzeichnet gewesen sein muss. Im Nachhinein haben wir das Protokoll dieses Disputs 1 allerdings unter Berücksichtigung der nachfolgenden Werkgeschichte der beiden Autoren als einen »Text« zu beachten, dessen Synopse dokumentiert, dass beide Philosophen ihren damaligen Standpunkt anlässlich der unmittelbaren Konfrontation mit der Gegenposition schärfer zu konturieren begannen. Offensichtlich ist, dass beide über die Bedeutung der zentralen Rolle der »produktiven Einbildungskraft« für Kants Vernunftbegriff weniger uneins waren als vielmehr über deren Bewertung: Heidegger sieht sie als das die Dualität der Erkenntniskräfte - Denken und Anschauung - vereinigende Vermögen und als verborgene Ursache der Temporalisierung der Erkenntnisprozesse des Subjekts. Cassirer deutet sie als das Vermögen, kraft dessen das Subjekt die Formen generiert, mit denen es die Welt sowohl erkennt als auch gestaltet. Die Interpretationen unterscheiden sich markant, bilden aber noch keine Gegensätze. Dieser Befund aktualisiert die fällige Aufgabe, den Bericht des Protokolls sowohl im erweiterten
Kontext wechselseitiger Rezensionen, sodann des Gesamtwerkes als auch des biographischen Kontextes des Lebensweges der beiden Autoren zu verorten, um den konzeptuellen Kern des Dissenses zu ermitteln. Zu 1 Cassirer
/ Heidegger (1991).
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den Dokumenten, die als unmittelbare Kommentare zum Protokoll herauszuziehen sind, zählen: Heideggers Rezension über den zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen, die Monographie Kant und das Problem der Metaphysik- möglicherweise aus dem Bedürfnis heraus entstanden, seine Kant-Deutung schärfer gegen Cassirer abzugrenzen, als es ihm in Davos gelungen war-, Cassirers Rezension dieser Abhandlung in den Kant-Studien aus dem Jahre 19312, aber auch die nachgelassenen Notizen zu einer Kritik an Heidegger unter dem Titel »Geist und Leben«3. Alle Texte belegen auf unterschiedliche Weise, wie unvermittelbar die Standpunkte und wie unversöhnlich die Haltungen der beiden Repräsentanten des philosophischen Paradigmenstreits bereits waren, bevor der Disput seine politische Konkretisierung erfuhr.
I. In Davos »Die Unterscheidung der Standpunkte ist die Wurzel der philosophischen Arbeit.« 4 Mit dieser Feststellung beendet Heidegger in Davos die gemeinsame Debatte mit Cassirer. Überhaupt ist es Heidegger, der geradezu insistent auf der Gegensätzlichkeit der Standpunkte beharrt, nachdrücklicher als Cassirer. Cassirer, der programmatische Vermittler, erscheint im Vergleich dazu integrierender. Die Gegensätze seien - so vermerkt er am Ende des Gesprächs - zwar klar hervorgetreten. Gleichwohl fragt er rhetorisch nach dem gemeinsamen Zentrum im offenkundigen Gegensatz selbst: es gebe so etwas wie »die« Sprache. Sie bilde einen gemeinsamen Boden. Sie stifte Einheit »über der Unendlichkeit der verschiedenen Sprechweisen« 5• Von Heidegger, dem Sprachontologen, ist keine Antwort darauf überliefert, als dulde die Einheit der Sprache keine Verschiedenheit der Rede. Unmittelbar zuvor hatte der Diskussionsleiter resümierend festgestellt, dass die beiden Disputanten eine gänzlich verschiedene Sprache sprechen. Heidegger sekundierte ihm mit der apodiktischen Feststellung, dass die Schlüsselvokabel seiner Philosophie - »Dasein« - sich nicht in einen Begriff Cassirers übersetzen ließe.6 Die durch Friedrich Schleiermacher in die Hermeneutik eingeführte Tugend, stets einen untilgbaren Rest an Nichtverstehen einzuräumen und zu respektieren, wird in Davos einem extremen Gültigkeitstest ausgesetzt.
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Vgl. Heidegger (1991a) und (1991) sowie Cassirer (1931). Vgl. Cassirer (1995), 219 ff. 4 Cassirer / Heidegger (1991), 296. 5 Cassirer / Heidegger (1991), 292 f. 6 Vgl. Cassirer / Heidegger (1991), 289. 3
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Nicht allein das Protokoll der Davoser Disputation, sondern ebenso eindrücklich die erwähnten Rezensionen, die die beiden Philosophen einander gewidmet haben, sprechen dafür, dass Heidegger mit seiner Beharrung auf der Verständigungsdifferenz die Situation realistisch einschätzte. Bereits ein Jahr zuvor hatte er nicht ohne Polemik zu verstehen gegeben, warum er Cassirers kulturgenealogischen Ansatz für insuffizient halte - vorgeführt anhand einer vernichtenden Kritik des zweiten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen: Cassirer - so der zentrale Vorwurf - taste den Mythos deskriptiv von außen ab; er enthülle nicht die Seinsweise des Mythischen? Kurz: sein Geschäft sei das eines deskriptiven Geisteswissenschaftlers, nicht das eines analysierenden Philosophen. Wie wir wissen, trug Heidegger in seinen Davoser Vorträgen im wesentlichen diejenige Interpretation der Kritik der reinen Vernunft vor, die er noch im selben Jahr unter dem Titel Kant und das Problem der Metaphysik veröffentlichte, und die Cassirer seinerseits dann im Jahre 1931 sehr viel energischer kritisiene8 als in Davos. Der Kernvorwurf gegen Heidegger liest sich retrospektiv wie ein nachgereichter Kommentar zur Davoser Debatte. Cassirer moniert, dass in Heideggers KantInterpretation der kritizistische Unterschied zwischen phaenomena und noumena verwischt werde. Alles Sein gehöre nunmehr der Zeit und damit der Endlichkeit an. »Damit ist einer der Grundpfeiler beseitigt, auf dem Kants gesamtes Gedankengebäude beruht und ohne den es zusammenstürzen muss. Kant vertritt nirgends einen derartigen Monismus (der Einbildungskraft), sondern er beharrt auf einem entschlossenen und radikalen Dualismus, auf dem Dualismus der sinnlichen und der intelligiblen Welt.«9 Diese Argumentation Cassirers ist geschickt- geschickter als diejenige in Davos. So nämlich verteidigt er nicht nur Kants transzendentalistischen Dualismus gegen Heideggers reduktiven Monismus, sondern zugleich und vor allem sich selbst gegen den Vorwurf des orthodoxen Neukantianismus. Denn es ist dieser Dualismus, den Cassirer andernorts als den crucial point der Kantischen Philosophie bezeichnet, 10 und den er seinerseits allenthalben systematisch zu unterlaufen sucht. Bereits vor Davos kritisierte Cassirer Kants methodischen Dualismus, indem er für eine dynamische Interdependenz zwischen der Endlichkeit (des Menschen) und der Unendlichkeit (der Geschichte), wie er sie gegen Vgl. Heidegger (1928), vgl. dazu Graeser (1994), 198, Anm. 4. 8 Vgl. Cassirer (1931 ). 9 Cassirer (1931), 16. 10 Vgl. Cassirer (1990), 10 ff. 7
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Heideggers einseitige und reduktive These einer von Kant bereits vertretenen ultimativen Endlichkeit des Daseins ausspielt, plädierte.11 Heidegger bestreitet freilich nicht, dass es sinnvoll sei, von einem Transzendieren der Endlichkeit zu reden, aber er verwendet den Begriff der Transzendenz gänzlich anders als Cassirer: Transzendenz bei Heidegger ist selbst ein Index der Endlichkeit des Menschen. Damit repetiert er lediglich die These von Sein und Zeit, der Mensch sei ein Seiendes, »das sich in der Unverborgenheit von Seiendem« 12 halte, und in dieser Offenheit liege seine »Transzendenz«. In dieser philosophischen Programmatik - das Dasein in seiner Offenheit für das Seiende zu deuten - wähnt Heidegger sich mit Kant verbunden: Kant habe - so urteilt er mit »aneignendem« Gestus-eine »Theorie des Seins« gesucht, eine allgemeine Ontologie, die der Ontologie der Natur als Gegenstand der Naturwissenschaft noch vorausliege. Diese Deutung richtet sich - wie sich aus dem Kontext unschwer schließen lässt - unmittelbar gegen den kardinalen Irrtum der Neukantianer, die Kant als einen Theoretiker der mathematischen Naturwissenschaft lesen - und so verstanden offenbar beide, Cassirer und Heidegger, Cohen als den Autor von Kants Theorie der Erfahrung.13 Die aus Cassirers Position abzuleitende Frage an Heidegger stellt sich umso dringlicher: Wo findet sich bei ihm, der mit kantischen Argumenten das Prinzip der Endlichkeit (des Verstandes) aktualisiert, eine Berücksichtigung der dialektischen Vernunft und damit des Kontrapunkts zur neukantianisch weithin vertretenen Reduktion des kantischen Kritizismus auf die Grenzbestimmung des Verstandes? Cassirer kann sich hier legitimerweise auf die Autorität der Texte berufen. Kant habe die transzendentale Analytik der Kritik der reinen Vernunft, die die Endlichkeit des menschlichen Subjekts begründet, nicht allein geschrieben, um das Subjekt auf die Unhintergehbarkeit seiner Endlichkeit festzulegen, sondern um dadurch dem Thema der Unendlichkeit einen angemessenen Platz im System anzuweisen. Dieser Platz finde sich freilich nicht mehr im Rahmen einer spekulativen Metaphysik, welche das Thema der Unendlichkeit in Form von Unsterblichkeitsbeweisen oder Gottesbeweisen behandelt, sie finde sich vielmehr in einer praktischen Philosophie der Freiheit. Erst mit dieser Zielsetzung, die an Kants These vom Primat der Vgl. Cassirer (1988), 9 ff. Heidegger (1991), 281. 13 Vgl. Cassirers Stellungnahme zu Cohen in der Davoser Disputation (Cassirer / Heidegger (1991), 294 f.) und Heideggers Kritik an Cohen (und Natorp) in Heidegger (1995 ), 66 ff., sowie den Beitrag von Krois in diesem Band. Zur Diskussion über Cassirers Lagerzugehörigkeit zum Neukantianismus vgl. Graeser (1994), 197, Anm. 2. tt
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praktischen Vernunft anknüpft, sei das Projekt der Kritik der Vernunft im Sinne Kants vollständig beschrieben. Während Heidegger sich Kants Theorie der Endlichkeit zur philosophischen Legitimation des Projektes einer Ontologie der esoterischen Endlichkeit des menschlichen Daseins aneignet, macht Cassirer ihn zum Zeugen der Entdeckung eines originären Konzepts geschichtsstiftender Handlungsfreiheit. Auch die methodische Differenz zwischen Heidegger und Cassirer tritt auf diese Weise exemplarisch zutage: Heidegger »destruiert« Kants Kritizismus im authentischen Sinne seiner eigens entwickelten Methode der Traditionskritik. Derzufolge bedeutet Destruktion »Aneignung« 14• Gemäß dieser Methode projiziert Heidegger auf die Verfallsgeschichte philosophischer »Seinsvergessenheit« eine mit Aristoteles beginnende Entwicklung, die über mehrere Zwischenstationen (zu denen Kant zählt) im eigenen ontologischen Fundamentalismus kulminiert. Heidegger findet die von ihm als Ursprungs- und Wesensfrage der Philosophie zurückgewonnene Frage nach dem Sinn von Sein bei seinen »Vorläufern« in unterschiedlich ausdrücklicher Weise vorbereitet, wenngleich diese ebenso unterschiedlich eklatant an ihr gescheitert sind. Genealogie des philosophischen Scheiterns - so auch ließe sich die von Heidegger entwickelte Destruktionsmethode charakterisieren. Kant gehört neben Aristoteles freilich zu den besonders privilegierten Gescheiterten. Er - so wird Heidegger nach Davos exegetisch begründen15 - war der Antwort auf die philosophische Leitfrage nach dem Sinn von Sein durch seine Theorie von der Einbildungskraft besonders nahe. Der Sinn von Sein liegt in der Temporalität des Seienden.
II. Nach Davos Im Interesse an der Rolle der Einbildungskraft verbinden sich zwar die Schwerpunkte der Kant-Deutungen Cassirers und Heideggers, hier unterscheiden sie sich allerdings auch grundlegend. Cassirer interpretiert die Produktivität der Einbildungskraft als Symbol der Freiheit des Subjekts. Sie vermittelt dem Erkennen seine formschaffende Kompetenz; sie ermöglicht die theoretische Autonomisierung des Subjekts. Heidegger dagegen opfert diesen Freiheitsbegriff - Freiheit mit Kant verstanden als Vermögen autonomer Gesetzgebung - einem ontologischen FatalisVgl. Heidegger (1993), § 6. Vgl. Heidegger (1991), 243 ff., bereits in Sein und Zeit hatte Heidegger Kant »als den Ersten und Einzigen« gewürdigt, »der sich eine Strecke untersuchenden Weges in der Richtung auf die Dimension der Temporalität bewegte«, Heidegger (1993), 23. 14 15
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mus, indem er die Freiheit auf ihre Bedeutung als erfahrenes Geschick reduziert. In der Davoser Disputation bringt Heidegger dieses in Sein und Zeit bereits entwickelte Freiheitsverständnist6 noch einmal unmissverständlich und mit unverhohlener Polemik gegen Cassirer gerichtet auf den Begriff. Er, Heidegger, denke Freiheit nicht als Handlungsfreiheit, oder Gestaltungsfreiheit, oder gar als Quelle der Kulturschöpfung, sondern als »Befreiung«: der Sinn dieser Befreiung liege nicht eigentlich darin, freizuwerden für die gestaltenden Bilder unseres Bewusstseins, für das Reich der Form, »sondern frei zu werden für die Endlichkeit des Daseins« 17. Auch Cassirer beansprucht ohne Frage als ein Philosoph der Endlichkeit des Subjekts zu gelten, ein Kritiker traditioneller U nendlichkeitsmetaphysik also, und damit bezieht er eine Position, durch die er sich mehr mit einer historisch früheren Aufklärungsphase, - derjenigen der italienischen Renaissance und ihrer epochalen Apologie einer autarken Immanenz - als mit der Aufklärung Kants und des 18. Jahrhunderts verwandt fühlte. 18 Der Unterschied zwischen Heidegger und Cassirer liegt hier in den Konsequenzen, die beide aus ihrem Plädoyer für die Endlichkeit der menschlichen Existenz ziehen. Heidegger vertritt einen strikt theoretischen, d. h. keineswegs handlungsbegründenden Freiheitsbegriff. Freiheit verwirklicht sich als (Sich-)Verstehen des Daseins in seiner Endlichkeit. Endlichkeit ist qualifiziert durch den Tod. Die Ultimativität des Todes aber wird bewältigt durch die Deutung, die der Mensch ihm zukommen lässt: als Grenze der Möglichkeiten seiner Existenz - Heidegger spricht vom Tod als »äußerste Möglichkeit«19 -, soll der Tod zugleich als der ultimative Horizont dieser Möglichkeiten verstanden werden. Freiheit als entschlossene Fügung in die Transparenz der Existenz des Daseins für den Tod - auch so ließe sich demonstrieren, wie bei Heidegger Freiheitspathos und existentieller Fatalismus eine eigentümliche Symbiose eingehen, und vor welchem Hintergrund er am Ende der Davoser Disputation mit merklichem Ressentiment gegen den Luxus einer Lust der Philosophie an der Kultur seinerseits der Philosophie die Pflicht auferlegt, den Menschen auf die »Härte seines Schicksals«20 zurückzuwer-
fen. Die Parallele zur politischen Destruktion des modernen Autonomiebegriffs, wie Heidegger sie später in seiner berüchtigten Rektoratsrede vom Mai 1933 vortrug, ist offensichtlich: »Sich selbst das Gesetz geben, 16 Vgl. Heidegger (1993), 384 f. 17 Cassirer / Heidegger (1991), 289. 1s Vgl. Rudolph (1998). 19 Heidegger (1993 ), 250. 20 Cassirer / Heidegger (1991 ), 291.
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ist höchste Freiheit. Die vielbesungene >akademische Freiheit< wird aus der deutschen Universität verstoßen; denn diese Freiheit war unecht, weil nur verneinend. Sie bedeutete vorwiegend Unbekümmertheit, Beliebigkeit der Absichten und Neigungen, Ungebundenheit im Tun und Lassen. Der Begriff der Freiheit des deutschen Studenten wird jetzt zu seiner Wahrheit zurückgebracht. Aus ihr entfalten sich künftig Bindung und Dienst der deutschen Studentenschaft.«21 Der Kontext der Rektoratsrede macht deutlich, mit welcher Konsequenz Heidegger die Idee der Autonomie zerstört: Es geht nicht mehr um die Autonomie der Vernunft gegenüber sich selbst, sondern. um den Dienst des Daseins - jetzt ausdrücklich als das »volklich-staatliche Dasein«, als Dasein »der Volksgenossen«22 -gegenüber der Wahrheit. Und Wahrheit- nach Sein und Zeit die »Unverborgenheit« des Seienden - erschließt sich nun dadurch, dass die Wissenschaft als »das fragende Standhalten inmitten des sich ständig verbergenden Seienden im Ganzen« 23 gilt. Jacques Derrida hat dieser Stelle einen angemessenen Kommentar zukommen lassen: »Man kann nicht einfach sagen, daß Heidegger in der Rektoratsrede ein Risiko eingeht. Wenn deren Programm diabolische Züge annimmt, so deshalb, weil es - nichts dabei ist dem Zufall zuzuschreiben - das Schlimmste in sich vereint, kapitalisiert, zwei Übel zugleich: es bürgt für den Nazismus und enthält einen Gestus, der noch ein metaphysischer Gestus ist.«24 Es ist diese geradezu fanatische Schicksalsergebenheit, gegen die Cassirer sich bereits in Davos konsequent verwahrt, deren politische Dimension er freilich erst später erkannte, dann aber auch deutlich beim Namen nannte, wenn er in Der Mythus des Staates über Heideggers Philosophie das Fazit zieht, dass sie »als geschmeidiges Instrument in der Hand der politischen Führer gebraucht werden«25 konnte. Cassirer vertritt im Gegensatz dazu einen poietischen Freiheitsbegriff. Kants These vom Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen Vernunft schreibt er fort: die Philosophie der symbolischen Formen präsentiert sich als eine praktische Philosophie der Kultur am Leitfaden einer Formgeschichte der Kultur. Mit dieser Fortschreibung entfernt sich Cassirer bewusst von Kant: Kant konnte die »unendliche Aufgabe« der Vernunft, als die er Freiheit definierte, nur in einer dualistischen Konstellation zur Endlichkeit der Vernunft selbst stehen lassen. Dies bewertet Cassirer als ein
Rudiment des metaphysischen Erbes, das Kant hatte überwinden wollen. Cassirer wäre also zwar insoweit Kantianer, als er an diese metaphysik21 Heidegger (1990), 15. 22 A.a.O., 16, 18. Vgl. Habermas (1992), 63 f. 23 Heidegger (1990), 12. 24 Derrida (1992), 50. 25
Cassirer (1985), 384.
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kritische Absicht systematisch anschließt, um aber dann nach einem Freiheitsbegriff zu suchen, der den Dualismus zwischen Freiheit als unendlicher Aufgabe der Vernunft auf der einen Seite und der faktischen Endlichkeit unseres Daseins auf der anderen Seite hinter sich lässt. Er bindet den Freiheitsbegriff nicht an das transzendentale Wesen des Menschen, sondern an die leibseelische Personalität des Individuums. Der Gegensatz zwischen Kant und Cassirer im Blick auf die Detranszendentalisierung des Subjekts ließe sich wie folgt thetisch fixieren26: - Nach Kant erreicht der Mensch seine Bestimmung vollständig nur als »Gattung«27, nicht als Individuum. - Dieser Gattungsbestimmung entspricht der Mensch allein durch kompromisslose Achtung vor einem moralischen Gesetz, das die Vernunft zwar autonom formuliert, das aber der Disziplinierung der Bedürfnisse und Geltungsansprüche des Individuums im Interesse der Erhaltung der Gattung dient. Die Vernunft ist nicht individuell; nur ihre Träger sind es. - Ein Zustand, der in uneingeschränktem Maße >kultiviert< genannt werden darf, ist ein Endzustand. »Kultur« ist bei Kant eine säkulareschatologische und in diesem Sinne zwar geschichtsstiftende, selbst aber ungeschichtliche Idee, eine causa finalis. 28 Die entsprechenden Gegenthesen Cassirers lassen sich wie folgt reformulieren: - Für Cassirer ist das Subjekt der geschichtsstiftenden Freiheit des Menschen nicht die Gattung, sondern das vernunftbegabte Individuum. Er richtet sich damit gegen eine der Kantischen Philosophie ebenso wie der späteren idealistischen Philosophie inhärente Tendenz zur Entmündigung des Individuums gegenüber den Ansprüchen einer intersubjektiven Vernunft. 29 - Die Kantische Subordination des individuellen Handlungssubjekts unter das moral-konstituierende Vernunftwesen wird bei Cassirer exakt umgekehrt: Die Folge ist, dass es zur Ausbildung einer Theorie normativer Handlungsorientierung bei Cassirer nicht kommt. Cassirer setzt vielmehr auf die faktische Moralität einer die Freiheitsspielräume erweiternden kulturellen Komplexität. - Und schließlich tritt an die Stelle der a-historischen Verwendung
eines finalistischen Kulturbegriffs, wie er sich bei Kant findet, ein histo26 Zur folgenden Aufzählung vgl. Rudolph (1999). 27 Kant, Idee zu einer allgemeinen Gesch,ichte in weltbürgerlicher Absicht. Zweiter Satz. (AA VIII, 15 f.). 28 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft,§ 83 (AA V, 391 ff.). 29 Vgl. dazu Cassirers Kritik an Hegels Staatsphilosophie, in: Cassirer (1985), 356 f.
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rischer Kulturbegriff: Kultur als »Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen«30, Cassirers These von der befreienden Botschaft der Kopernikanischen Wende Kants - gegen die Heidegger seine Griechen verteidigt - ist unter Voraussetzung der Entscheidung zu verstehen, dass er die Philosophie der symbolischen Formen als eine praktische Philosophie der Formerzeugung konzipiert.31 Wenn er an der Kopernikanischen Wende die Errungenschaft feiert, dass nun der Gegenstand sich nach dem Subjekt und nicht länger das Subjekt sich nach dem Gegenstand zu richten hätte32, dann meint er nicht nur den Primat des Apriori vor dem gegebenen Mannigfaltigen - diesen Kantischen Gemeinplatz zu repetieren bedürfte es keiner neuen Philosophie und keiner Disputation -, sondern vor allem den Primat der Bedeutungsschöpfung durch den Prozess der Objektivation vor der Abhängigkeit vom gegebenen Material. Cassirer ist - gemessen an Heidegger - ein unzeitgemäßer Freiheitsidealist. Er projiziert die Kantische Lehre von der Spontaneität des Verstandes im theoretischen Sinne auf die praktische Freiheit, beschreitet damit einen anderen Weg als Kant, der den praktischen Freiheitsbegriff auf die Spontaneität im theoretischen Verstand projiziert. Immer wieder ist es diese Transformation des theoretischen Vernunftkritizismus in einen praktischen Kulrurkritizismus, die mit dem rigiden Fatalismus Heideggers unversöhnlich kollidiert. Entsprechend polemisch rekapituliert Heidegger in Davos seine Lehre von der Angst und dem Tod aus Sein und Zeit dogmatisch. Im Rahmen dieser Rekapitulation erweist sich die im Kontext ausdrücklich an Cassirer gerichtete Frage als rhetorisch: ob die Philosophie die Aufgabe habe, freiwerden zu lassen von der Angst, oder ob sie den Menschen radikal der Angst auszuliefern habe. Heidegger hat die Frage für sich längst entschieden: »Die Philosophie hat den Menschen soweit freiwerden zu lassen, soweit er nur frei werden kann.«33 Die Alternative ist evident: Heidegger will den Menschen frei werden lassen für< die Endlichkeit des Daseins; Cassirer will den Menschen frei werden lassen >von< der Endlichkeit des Daseins. Derart kontrastiert wirkt H eideggers Position prima vista realistischer, diejenige Cassirers altmodisch und utopisch. Heideggers Befreiung ist die einer verständigen Ergebenheit in die Schickung des ultimativen Seins
zum Tode. Gerade die Angst fördert diese Ergebenheit, weil sie sensibi30 Cassirer (1990a), 345. 31 Vgl. Cassirer (1988), 11 f. 32
In der Davoser Disputation stellt Cassirer diese Errungenschaft der kopernikanischen Wende ausdrücklich gegen Heideggers Rückgang auf die Griechen, vgl. Cassirer / Heidegger (1991), 295 f.; vgl. auch Cassirer (1957), 278. 33 Cassirer / Heidegger (1991 ). 287.
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lisiert, und so das Dasein ,eigentlich< existieren lässt. Freiheit als Quelle für Handlungen, Werke oder Produkte, die geschaffen werden, ohne ihren Sinn durch den Tod der schöpferischen Akteure zu verlieren, hat in dieser meditativen Askese ebenso wenig Platz, wie der Gedanke einer d iese Freiheit symbolisierenden, und d. h. auch historisch tendenziell stabilisierenden Kultur. Insofern Cassirer allerdings allein unter der Bedingung einer zur Kultur gestalteten Geschichte eine Chance für die Erhaltung der Freiheit sieht, könnte wiederum er sich als der konsequentere Realist erweisen, da in dieser Konditionierung ein pessimistischer Vorbehalt liegt, der seinen humanistischen Optimismus von 1933 an zunehmend überlagerte. Die Differenz zwischen Cassirer und Heidegger lässt sich damit auf den schlüssigen Gegensatz bringen, dass Cassirer die Einheit der drei Freiheiten Kants - die theoretische (als reines Vermögen), die praktische (als selbstverpflichteter Wille) und die spielerische (des ästhetischen Selbstgefühls)- in der formschaffenden Freiheit zusammenzufassen versucht, während Heidegger auch den letzten Spielraum menschlicher Freiheit - den der dezisionistisch errungenen »Freiheit zum Tode« unter Schicksalsvorbehalt stellt. Entsprechend heißt es in Davos, dass es die Philosophie sei, »die den Menschen über sich selbst hinaus und in das Ganze des Seienden zurückzuführen hat, um ihm da bei all seiner Freiheit die Nichtigkeit seines Daseins offenbar zu machen [ ... ]«.34 Heidegger hat diese Sätze später in modifizierter Form bekräftigt - sowohl 1933 als auch nach 1945. In der Rektoratsrede beschwört er die »Macht des Anfangs«, des »anfänglichen Fragens«, für die Zukunft.35 Der eschatologische Fundamentalismus von Sein und Zeit und der >destruktive< Urteilsspruch über alle traditionellen Ontologien werden im Ethos der entschlossenen und souveränen Selbstübernahme zusammengehalten. »Selbst«: dies ist der Name für das erste und fundamentale Seiende, das wir je sind. An die Souveränitätsfigur von Sein und Zeit erinnert der Schlussappell der Rektoratsrede nahezu direkt: » Wir wollen uns selbst. Denn die junge und jüngste Kraft des Volkes, die über uns schon hinweggreift, hat darüber bereits entschieden.«36 Es ist auffällig, wie analog dieses »Hinweggreifen« komponiert ist im Vergleich zu jener Bemerkung vom »Anfang«, der in »unsere Zukunft
eingefallen« sei, und den Heidegger in dieser Rede energisch beschwört.37 A.a.O., 291 . Heidegger (1990), 11. A.a.O., 19. 37 A.a.O., 13. 34
35 36
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Solche Sätze bleiben freilich hohl und trivial, solange man sie von ihrem Kontext isoliert. 38 Sie erweisen ihre kulturhistorische Repräsentativität, wenn man sie dem Kontext zuordnet, aus dem sie sich rechtfertigen - eine historiographische Aufgabe, die dazu nötigt, den Kontext als verbindlichen Text zu akzeptieren.
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38
Vgl. Rudolph (1991), 86 ff.
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- (1998) (Hg.): Die Renaissance als erste Aufklärung. 3 Bde., Tübingen. - (1999): Symbol und Geschichte. Cassirers Kritik der Geschichtsphilosophie, in: H.-D. Kittsteiner (Hg.): Geschichtszeichen. Köln, 137-151.
Oswald Schwemmer (Berlin) Ereignis und Form. Zwei Denkmotive in der Davoser Disputation zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer:~ Die Davoser Disputation zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer
hat viele Kommentare auf sich gezogen und insbesondere immer wieder zu einer Antwort auf die Frage gereizt, wer denn als »Sieger« aus dieser Disputation hervorgegangen ist. Bekanntlich gab es für die damaligen Teilnehmer eine einhellige und eindeutige Antwort: Das neue Denken Heideggers hat dem althergebrachten und in den Augen der Zuhörer auch veralteten Neukantianismus Cassirers seine Grenzen überdeutlich aufgezeigt. Der gern zitierte Mehlstaub, den der damalige Cassirer-Mime Emmanuel Levinas aus seiner Perücke und aus seinen Hosen rieseln ließ, sollte eindrücklich das Unzeitgemäße der Cassirerschen Philosophie in einem Bild einfangen, das die Bildungs- und Kulturphilosophie eines Neukantianers zu belächeln erlaubte.! Die Versuchung liegt nahe, die Sieger-Frage noch einmal zu stellen und sie - mit den historischen Erfahrungen insbesondere des Nationalsozialismus im Rücken und der Suche nach einer Orientierung im vielfach angesagten »Kampf der Kulturen« vor Augen - radikal anders zu beantworten. Tatsächlich führt der Versuch einer Neubewertung der Davoser Disputation wahrscheinlich schnell dazu, die Frage nach einem Sieger und einem Besiegten aufzugeben und statt dessen nach den gedanklichen Motiven zu forschen, an die wir trotz der polemischen oder apologetischen Einordnungen Heideggers und Cassirers anknüpfen können. Mir scheint, dass wir eine solche Erforschung noch vor uns haben und dass noch längst nicht geklärt ist, welche zukunftsfähigen Motive wir aus den philosophischen Konzeptionen der beiden Kontrahenten herauslösen können. Mit Absicht rede ich vom »Herauslösen« der Motive. Ist es doch die Festigkeit der Kontexte, in die die beiden philosophischen Entwürfe eingeordnet werden oder sich selbst einordnen, welche deren aktive und
weiterführende Rezeption in vielfacher Weise erschwert. Bei Heidegger '' Der Text stellt die überarbeitete Version eines Beitrages dar, der in der abschließenden Podiumsdiskussion auf den Verlauf der Tagung zu reagieren versuchte. 1 Vgl. dazu den vorläufigen Beriicht, den Gründer (1988) von diesem Ereignis in seinem Beitrag Cassirer und Heidegger in Davos 1929 gibt. Die Szene, auf die ich mich beziehe, wird kurz auf S. 300 dargestellt.
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mögen es vor allem der heroische oder auch elitäre Solipsismus und die damit verbundene Diffamierung der Kulturgeschichte als Verfallsgeschichte sein, die den von ihm selbst betonten Kontext liefern, in dessen Rahmen sich sein Denken zugleich als einzigartig und in sich abgeschlossen vorstellt. Bei Cassirer hingegen lädt die Loyalität seiner philosophischen Stilistik dazu ein, ihn überhaupt nicht als einen selbstständigen Denker wahrzunehmen, sondern in ihm lediglich einen Interpreten oder Vertreter des Neukantianismus und damit einen zwar prominenten und gelehrten, im übrigen aber wenig originären Schulphilosophen zu sehen, den man nur unter höchsten Anstrengungen und mit geradezu verfälschenden Umdeutungen für Gegenwartsfragen fruchtbar machen kann. Löst man diese beiden Kontexte, die man in der Tat einer persönlichen Stilistik der philosophischen Selbstdarstellung zurechnen kann, auf und verhält sich in dieser Weise eklektisch, so lassen sich bei beiden Denkern Grundmotive unserer geistigen Traditionen finden, die man - je nach der Perspektive, in der man sie in den Blick nimmt - als einander entgegengesetzt oder einander ergänzend und jedenfalls in einer lebendigen Spannung zueinander verstehen kann. Das Aufbrechen der Kontexte ist für Heidegger längst versucht worden. Für Cassirer steht es noch weitgehend aus. Für Heidegger scheint mir die Ablösung von seinen Kontexten besonders gelungen, die in den das »Ereignis« umkreisenden Versuchen und Entwürfen von Jean-Fran~ois Lyotard, aber auch in den gleichsam nachbarschaftlichen Werken von Emmanuel Levinas und Jacques Derrida unternommen worden ist. Ernst Cassirer hingegen muss man vor allem aus seiner neukantianischen Stilistik und, wie mir scheint, Missinterpretation herauslösen, um die Motive verdeutlichen zu können, die eine Wiederaufnahme der Davoser Disputation im Sinne ihrer Weiterführung lohnend machen. Beginnen wir bei Heidegger. In der Gegenüberstellung zu Cassirer lassen sich zwei ambivalente Motive namhaft machen. Das erste, das Heidegger selbst unter dem eher akademischen Titel der Endlichkeit präsentiert, ist das Verbleiben im Ereignis. Mit diesem Denkmotiv fügt sich Heidegger übrigens in eine Tradition ein, die dem 20. Jahrhundert vor allem durch Henri Bergson2 lebendig erhalten und in einer provokativen Radikalität mitgegeben worden ist.
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Dass Heidegger Bergson durchaus zur Kenntnis genommen hat, zeigen seine Hinweise z. B. in Heidegger (1993), 18, 26 und 432 f. (Anm.). Heidegger nutzt diese kurzen Hinweise allerdings nur, um sich vom Zeitverständnis Bergsons abzusetzen. Welche Rolle Henri Bergson in der Philosophie des 20. Jahrhunderts tatsächlich spielt, wird in künftigen Untersuchungen noch herauszufinden sein. Vgl. jetzt dazu die bahnbrechende Arbeit von Mirjana Vrhunc (2002). Für Ernst
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Heideggers Aufnahme dieses Motivs ist nicht weniger radikal. Sie ist in gewissem Sinne sogar eine Steigerung der Bergsonschen Kritik an der Verräumlichung, die mit einer jeglichen Verbegrifflichung3 von Bewusstseins-, Handlungs- und Lebensereignissen verbunden sei. Heideggers Kritik lässt sich reformulieren als eine umfassende Kritik am Übergang vom Ereignis zur Form. Denn wenn ich, auf welche Weise auch immer, die Darstellung eines Ereignisses versuche, bewege ich mich aus dem Ereignis selbst hinaus und schaffe statt dessen eine neue Realität, eine neue Art von Wirklichkeit, die in sich anders strukturiert ist als die Ereignis-Wirklichkeit. Diese neue Wirklichkeit der Darstellung besitzt vor allem nicht den Ereignischarakter, den Charakter des Auftretens und Verschwindens, des Übergehens und sich in sich selbst Veränderns - also den besonderen Charakter, der in der Philosophie Heideggers unter dem Titel der Zeitlichkeit thematisiert worden ist. Die Darstellung ist als solche ein Selbes, auf das ich mich immer wieder beziehen kann. Und von dieser ihrer eigenen Identität aus versucht sie, im Bezug auf das durch sie dargestellte Ereignis auch diesem Ereignis eine Identität zuzuweisen. Die so entstehenden Identitätszuweisungen bilden ein Netz von Verweisungen, in dem sich die Welt für uns ordnet, in dem sie überschaubar wird, in dem wir unser Handeln planen und unserem Leiden seinen Ort geben können. Wir geben dadurch der Welt ihre Form und formen zugleich damit uns selbst zu den Wesen, die eine Identität - eine kollektive und individuelle Identität - ausbilden und einander zusprechen. Die neue Wirklichkeit der Darstellungen können wir so auch als die Wirklichkeit der Form charakterisieren. Die Form ist das, was über die Ereignisse und ihre innere Zeitlichkeit hinausreicht, die als das immer wieder Identifizierbare eine bleibende Identität gewinnt und in diesem Sinne die Endlichkeit unserer in den Ereignissen unseres Lebens im wörtlichen Sinne ablaufenden Existenz überwindet. Heidegger besteht darauf, dass wir diesen Schritt vom Ereignis zur Form ins Auge fassen und dabei sehen, wie wir uns aus der Wirklichkeit unserer zeitlichen Existenz hinausstehlen. Wir haben uns dann zurückzuwenden auf das Geschehen unserer Existenz, auf unser Dasein als »das Cassirer ist Henri Bergson übrigens einer der zentralen Autoren, mit denen er sich auseinandersetzt. So ist im sogenannten »vierten Band« der Philosophie der symbolischen Formen Bergson der Autor, der mit 52 mal am meisten erwähnt wird. Allerdings geht es dabei zumeist um eine Kritik des Bergsonschen Verständnisses der Intuition. 3 Auch wenn Bergson an manchen Stellen pauschal von Versprachlichung und sogar von Symbolisierung überhaupt spricht, zeigen doch seine Hinweise auf die Kunst und nicht zuletzt auch seine eigenen philosophischen Darstellungen, daß er de facto an bestimmte Formen der begrifflichen Verallgemeinerung, die mit einer Homogenisierung des begrifflich Dargestellten verbunden sind, denkt.
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eigentliche Grundgeschehen, in dem das Existieren des Menschen und damit alle Problematik der Existenz selbst wesentlich wird«. 4 Erst dann können wir die Aufgabe der Philosophie erfüllen, nämlich »aus dem faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes« - also die Begriffe, die Bilder oder sonstige Formen der Darstellungen - »benutzt, gewissermaßen den Menschen zurückzuwerfen in die Härte seines Schicksals. «S Die Radikalität, mit der Heidegger hier das Reich der Formen als den »faulen Aspekt eines Menschen« diffamiert, zeigt auf der einen Seite eine Hellsichtigkeit für die Differenz aller Formen zur Wirklichkeit der Ereignisse und für die Beruhigung, die durch dieses Reich der Formen der unruhigen Seele des Menschen zuteil wird - eine Beruhigung, die die Kultur oder eben »die Werke des Geistes« als eine kollektive Gedankenlosigkeit, als Symptome des bloßen »Man«, sehen lässt. Auf der anderen Seite aber wird damit Kulturkritik zu einem Pauschalunternehmen, das keinerlei Differenzierungen mehr in Bezug auf gelungene oder misslungene, angemessene oder unangemessene Formen benötigt. Es ist dies eine Kritik an der Kultur schon als solcher, die bloße Behauptung der Differenz ohne Differenzierungen. Eine solche Kritik lässt sich jederzeit und überall und damit gegen jedermann richten, der sich überhaupt um einen Aufbau von Wissen und Verstehen, eine Ausbildung des Könnens, eine Abwägung des Urteilens bemüht. Seine philosophische Schärfe gewinnt dieser kritische Gestus alleine durch den ausdrücklichen Selbstbezug auf seine Radikalität. Denn mit ihm lässt sich jederzeit sagen, all die anderen Bemühungen der anderen seien nicht radikal genug. Nicht zuletzt die rhetorische Wucht, die solch radikalen Anwürfen zu eigen ist, mag viele Leser Heideggers mitgerissen und überzeugt haben - eben auch in Davos. Es ist dies eine Rhetorik des »nur dies und nichts anderes«. Nichts anderes kann gelten, weil es nicht radikal genug gedacht ist. Radikal ist eben nur dies, was Heidegger mit dem Anspruch seiner Radikalität vorträgt. Man kann Heideggers Kritik allerdings aus dieser mangelnden Bestimmtheit, in der sie zum reinen Gestus zu verkommen droht, hinausführen und ihr z. B. jene Bestimmtheit verleihen, die Lyotard ihr zukommen lässt. Macht Lyotard doch darauf aufmerksam, dass es sehr wohl einen allgemeinen Charakterzug gibt, den das Formdenken schon als solches aufweist. Es ist dies der Zug zu einer sich selbst abschließenden Totalität, zum Systemdenken. Dieses Denken beruft sich auf seine innere Folgerichtigkeit und auf die Vollständigkeit seiner Folgerungs4
Cassirer / Heidegger (1991), 289. s A.a.O., 291.
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möglichkeiten. Für ein solches Denken ist etwas wahr oder überzeugend schon dann, wenn es sich innerhalb der Folgerungsmöglichkeiten des Systems zwingend ergibt - also, wie die traditionelle Formulierung lauten könnte, aus begrifflichen oder logischen Gründen wahr ist. Ein solches, wie Cassirer sagen würde, »metaphysisches«6 System erzeugt seine Begründungen intern und besteht zugleich darauf, dass die Momente, die ihm extern bleiben, keine Wahrheit beanspruchen können. Dieser behaupteten und praktizierten Ausschließlichkeit wegen nennt Lyotard ein solches System eine Totalität. Und weil diese Totalität sich durch ihr Begründungsdenken definiert, spricht er von einer logischen Totalität und ihren Legitimationen. Dem Formdenken wird diese Totalitarisierung angelastet, weil mit dem Übergang vom Ereignis zur Form in der sprachlichen oder überhaupt symbolischen Darstellung des Ereignisses allseitige Verknüpfungen und Verknüpfungsformen ausgebildet werden, die jedes dargestellte Ereignis von vornherein in einen bestimmten Verknüpfungs- oder, wie Lyotard sagt, Verkettungszusammenhang zwingen. Ein solcher Verkettungszusammenhang fesselt den Blick dadurch, dass er alles als etwas im System, in seiner Totalität, zeigt. Der in die Totalität der Verkettungszusammenhänge hineingezwungene Blick sieht aber nicht mehr nach außen. Wahrheit wird eine innere Angelegenheit, in die man niemand sich einmischen lässt. Wahrheit wird zum Eigentum desjenigen, der das System beherrscht. Dies ist die auf den Nationalsozialismus hin artikulierte Fortführung einer Kritik des Formdenkens, das sich auf Heidegger berufen kann, wenn man Heideggers Totalitätsanspruch aufbricht. Ein zweites Motiv, das aus dem Heideggerschen Kontext herauszulösen sich lohnt, wird von Heidegger mit der Kantischen Rede von der »exhibitio originaria« in Verbindung gebracht. Diese »exhibitio«, die Kant im Zusammenhang mit der »Einbildungskraft des Schematismus« erwähnt, wird von Heidegger in ihrer Bedeutung ausgeweitet als die »Ori6
Vgl. dazu die Bemerkung Cassirers über die Philosophie, die sich angesichts der Erwartung, als »höchste Einheitsinstanz« unseres Wissens wie überhaupt unserer geistigen Orientierungen aufzutreten, zu einer »dogmatischen Metaphysik« entwickelt: »Aber die dogmatischen Systeme der Metaphysik befriedigen diese Erwartung und Forderung nur unvollkommen. Denn sie selbst stehen zumeist noch mitten in dem Kampfe [ ... ], sie vertreten trotz aller begrifflichen Universalität, nach der sie streben, nur eine Seite des Gegensatzes, statt diesen selbst in seiner ganzen Weite und Tiefe zu begreifen und zu vermitteln. Denn sie selbst sind zumeist nichts anderes als metaphysische Hypothesen eines bestimmten logischen oder ästhetischen oder religiösen Prinzips. Je mehr sie sich in die abstrakte Allgemeinheit dieses Prinzips einschließen, um so mehr schließen sie sich damit gegen einzelne Seiten der geistigen Kultur und gegen die konkrete Totalität ihrer Formen ab.« (Ernst Cassirer (1988), 14.)
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ginalität [... ] des freien Sichgebens, worin eine Angewiesenheit auf ein Hinnehmen liegt«. Es ist dieses Sichgeben und Hinnehmen, das Heidegger betont. Darin zeigt sich für ihn die Endlichkeit des Menschen: >>Der Mensch ist nie unendlich und absolut im Schaffen des Seienden selbst, sondern er ist unendlich im Sinne des Verstehens des Seins.« 7 Und dieses Verstehen des Seins ist im Sinne eines Sichgebens und Hinnehmens zu lesen. Mit diesem Aspekt des Endlichkeitsmotivs stellt sich Heidegger gegen die philosophische Tradition, in der die Welt- und Selbsterzeugung bzw. die Welt- und Selbstsetzung das, was den Menschen als geistiges Wesen ausmacht, zuinnerst bestimmt. Hier ist nicht nur an Fichte zu denken. Die neuzeitliche Philosophie, soweit sie die menschliche Existenzform zu begreifen versucht, lässt sich insgesamt - vom cogitans sum Descartes' angefangen über die idealistische Subjektphilosophie bis hin zur Philosophie der »freien Persönlichkeit« bei Ernst Cassirer - als eine Philosophie verstehen, in der die Selbstgestaltung, die Selbstsetzung sowohl die besondere Möglichkeit dieser Existenzform charakterisiert als auch deren Aufgabe und Ziel vorgibt. Cassirer bringt es auf die Formel: »Sie [die freie Persönlichkeit] ist nur dadurch Form, daß sie sich selbst ihre Form gibt.« 8 Und selbst da, wo - wie in der Substanzphilosophie - nicht die menschliche Existenzform, sondern der Seinscharakter aller Dinge das Thema der philosophischen Frage vorgibt, ist der Gedanke der Selbstsetzung als ein Grundmotiv unserer philosophischen Tradition zu finden. Der bis auf die Stoa zurückgehende Lehrsatz Spinozas, nach der die »wirkliche Wesenheit des Dinges selbst« (ispsius rei actualis essentia) in dem »conatus« besteht, »quo unaquaeque res in suo esse perseverari conatur«9, bringt dieses Motiv in eine einprägsame Formel. Heideggers Punkt lässt sich - in einer ebenfalls formelhaften Weise durch die Unterscheidung zum Ausdruck bringen, dass wir unserem eigentlichen Seinkönnen nicht dadurch gerecht werden, dass wir uns, in welcher Form auch immer, selbst setzen, sondern nur dadurch, dass wir uns dem Anderen unserer selbst aussetzen. Dabei ist allerdings auch zu sehen, dass dieses Andere im Kontext der Heideggerschen Philosophie nicht der Andere ist, sondern das Andere. Heidegger entwirft nicht eine auf den anderen Menschen bezogene Philosophie, keine Philosophie der Selbstwerdung angesichts des anderen Menschen, dessen Anspruch mir
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Cassirer / Heidegger (1991), 280. Cassirer: Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie (1939), in: Cassirer (1993), 231-261, 249. 9 Spinoza: Ethik, Teil III, Prop. 7; Opera, hg. von C. Gebhardt, Bd. II, Heidelberg 1925.
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schon, wie dies vor allem Emmanuel Levinas hervorhebt, 10 in seiner Existenz und seinem Antlitz entgegentritt. Er selbst belässt das Andere, dem ich mich auszusetzen habe, in der Unbestimmtheit des Ereignisses, insofern dieses mich überhaupt aus der Alltäglichkeit des In-der-Welt-Seins heraushebt. Auch hier wäre der Heideggersche Kontext wieder aufzulösen und für eine Philosophie der menschlichen Andersheit, der konkreten Begegnung mit dem anderen Menschen - und zwar durchaus in der Alltäglichkeit unserer Lebenszusammenhänge - zu öffnen. Das grundlegende Motiv Heideggers, dass nämlich eine Selbstwerdung nicht als Selbstsetzung, sondern als ein sich selbst der Andersheit des Anderen Aussetzen zu begreifen und alleine zu erreichen ist, bleibt gleichwohl ein zentraler Punkt gegenüber Cassirer. Denn tatsächlich kann man Cassirers Philosophie insgesamt als eine Philosophie der Form und der Formung - der Formwerdung, der Formgebung und der Selbstformung - charakterisieren. 11 Cassirer selbst gibt denn auch auf die Frage Heideggers in Davos, welchen Weg der Mensch zur Unendlichkeit habe und wie die Art sei, wie der Mensch an der Unendlichkeit teilhaben kann, eine entschiedene Antwort: »Nicht anders als durch das Medium der Form. Das ist die Funktion der Form, daß der Mensch, indem er sein Dasein in Form verwandelt, d.h. indem er alles, was Erlebnis in ihm ist, nun umsetzen muß in irgend eine objektive Gestalt, in der er sich so objektiviert, daß er damit radikal von der Endlichkeit des Ausgangspunktes zwar nicht frei wird (denn dieses ist ja noch bezogen auf seine eigene Endlichkeit), aber indem es aus der Endlichkeit erwächst, führt es die Endlichkeit in etwas Neues. Und das ist die immanente Unendlichkeit. Der Mensch kann nicht den Sprung machen von seiner eigenen Endlichkeit in eine realistische Unendlichkeit. Er kann aber und muß die Metabasis haben, die ihn von der Unmittelbarkeit seiner Existenz hineinführt in die Region der reinen Form. Und seine Unendlichkeit besitzt er lediglich in dieser Form.« 12 Aber auch hier sind Kontexte aufzulösen - allerdings eher Kontexte, in die Cassirer hineingerückt wird und die er selbst in seinem Denken nicht - oder eben nur durch seine sprachliche Assimilation an sie - entwickelt hat. Hier denke ich, wie gesagt, vor allem an den Kontext des Neukantianismus, der die Rezeption der Cassirerschen Philosophie als einer eigenständigen Konzeption bisher wohl am stärksten behindert hat. Trotz sei~ ner sprachlichen Nähe zu Formulierungen und Formeln der Kantischen lO Vgl. dazu auch Paul Ricceur (1996). Eine intensive Auseinandersetzung mit Emmanuel Levinas findet sich dort 403-409. 11 Diese Charakterisierung habe ich zum Leitmotiv meines Cassirer-Buches gewählt, vgl. Schwemmer (1997). t2 Cassirer / Heidegger (1991 ),. 286.
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und Neukantianischen Philosophie sollte man Cassirer weder als Neukantianer noch als Kantianer lesen. Eine aufmerksame Lektüre der Cassirerschen Philosophie hat sich deren eigene Kontexte zu erschließen und insbesondere die Bedeutungsverschiebungen wahrzunehmen, die sich darin ergeben. Ich nenne nur vier Punkte. Für Cassirer ist es nicht ein universell identisches, ein überall und jederzeit in jedem Erkenntnisprozess identisches, transzendentales Subjekt, das unsere Erkenntnis konstituiert und deren Objektivität garantiert. Unsere Erkenntnis entwickelt sich für ihn vielmehr in den historischen Bemühungen der Individuen, die ihrerseits in ihren symbolischen Welten leben und denken. Die Universalität von Erkenntnis ist dabei durchaus ein Ziel - aber eines, das zu erreichen nicht garantiert ist und das sich im übrigen nur der individuellen Anstrengung, nämlich der Arbeit an der Sache und der Auseinandersetzung mit den anderen Erkenntnissen anderer, verdanken kann. Universalität als Ziel, Individualität als Weg - dies wäre eine Formel, die Cassirers Sicht prägnant fassen könnte. Cassirer selbst sagt: »Das Allgemeine, das sich uns im Bereich der Kultur, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion, in der Philosophie enthüllt, ist daher stets zugleich individuell und universell. Denn in dieser Sphäre läßt sich das Universelle nicht anders als in der Tat der Individuen anschauen, weil es nur in ihr seine Aktualisierung, seine eigentliche Verwirklichung finden kann.«13 Ein zweiter Punkt betrifft eine benachbarte Frage, nämlich die nach der Einheit der Vernunft. Tatsächlich bieten die entsprechenden Äußerungen Cassirers ein verwirrendes Bild: Auf der einen Seite betont Cassirer unmissverständlich, dass jede geistige Grundfunktion »eine selbständige Energie des Geistes in sich [schließt], durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte >BedeutungWirklichen