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German Pages 246 [257] Year 2002
Dominic Kaegi / Enno Rudolph (Hg.)
Cassirer – Heidegger 70 Jahre Davoser Disputation
Meiner
CASSIR ER-FORSCHUNGEN
CASSIR ER-FORSCHUNGEN
Band 9
FELIX MEINER VER LAG HAMBURG
Dominic Kaegi / Enno Rudolp (Hg.)
Cassirer - Heidegger 70 Jahre Davoser Disputation
FELIX MEINER VER LAG HAMBURG
Ramyond Klibansky gewidmet
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1581-9 ISBN eBook: 978-3-7873-3575-6
© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2002. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. www.meiner.de
VORWORT
In seinen JUngst erschienenen Memoiren bezeichnet Raymond Klibansky, dem der vorliegende Band gewidmet ist, die Begegnung zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger im Jahre 1929 in Davos als ein Ereignis, »bei dem es im gewissen Sinne um die Zukunft der deutschen Philosophie ging«.! Klibansky, dessen Distanz zu den kompromisslosen Fundamentalisten in der Ahnengalerie der deutschen Philosophie eher noch größer ist als die seines langjährigen Freundes und Gesprächspartners Ernst Cassirer, kann gleichwohl weder als CassirerSchüler noch als Cassirer-Anhänger bezeichnet werden und ist in diesem Sinne eher als unparteiischer Beobachter anzusehen. Weder teilte Klibansky Cassirers tendenzielle Identifizierung der Geistesgeschichte mit Kulturgeschichte, noch gar die Heideggersche Reduktion der Geschichte auf Geschick; weder teilte er die Cassirersche Neigung, die philologisch gesicherte Erforschung und Texttradition durch Ideengeschichte zu ersetzen, noch gar Heideggers Methode der »destruktiven« Aneignung als Form der Traditionskritik, wie sie auch gerade den Umgang mit den Texten der griechischen Philosophie betraf. Von Heideggers berühmt gewordener Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? berichtet er: »Ich war über die Mischung von wirklicher und scheinbarer Tiefe und über die Ungeniertheit verblüfft, mit der er am Ende dem griechischen Text des Phaidros von Platon Gewalt antat, um seine These über >Philosophie und Existenz< zu untermauern.«2 Diese Beurteilung unterscheidet sich nicht wesentlich von derjenigen, die uns Hans Blumenberg im Blick auf die Davoser Debatte hinterlassen hat.3 Blumenberg erinnert daran, dass die Davoser Disputation 400 Jahre zuvor einen historischen Vorläufer hatte - die Marbuger Disputation zwischen Luther und Zwingli über die Realpräsenz Jesu im Abendmahl. Man sehe, so Blumenberg, »wie die von Heidegger und Cassirer verwendeten Begriffe« - Sein oder Sinn, Substanz oder Funktion, Wirklichkeit oder Bedeutung- »ihre alte Antithetik endogen reproduzieren, als ginge es um ein und dasselbe, seit der >Realismus< der Inkarnation und Passion 1 Raymond Klibansky, Erinnerung an ein Jahrhundert. Gespräche mit Georges Leroux. Frankfurt/M. 2001, 44. 2 A.a.O., 92 3 Hans Blumenberg, Affinitäten und Dominanzen, in : Ders., Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß, Stuttgart 1997, 161-168.
VI
Vorwort
des Logos seine Jahrhunderte dauernde Abwehr gegen den >Doketismus< der Gnosis definitiv- gleich definitorisch- gewonnen hatte- wäre nicht das Rezidiv des Abendmahlsstreits gekommen, fast unerkannt als Reprise jener frühen >Bewahrung< Gottes vor der Unreinheit der Verweltlichung durch den platonischen Hilfsbegriff der >Erscheinungreine< Vernunft vermag, was sie leisten soll und leisten kann. Der Purist verbietet jede Kontaminierung mit der Doxa, erst recht deren Nobilitierung, der Symbolist sieht Reinheit gerade im Spektrum der Bedeutungsvielfalt der Ideen angemessen repräsentiert. Nicht selten wird uns von der Davoser Disputation das Bild einer Arena vermittelt, in der zwei Fürsten des Geistes wie Turniergegner aufeinander stießen, obwohl Anlass des Ereignisses - die Davoser Hochschulkurse- und das Dokument der Disputation, das von Otto Friedrich Bollnow und Joachim Ritter verfasste Protokoll,s keineswegs belegen, dass der >Olympier< und der neue Stern am Philosopenhimmel für eine Redeschlacht gerüstet angereist waren. Das Protokoll der Davoser Debatte ist in jedem Fall mit Vorsicht zu genießen, denn wenngleich autorisiert, darf es nur als authentisches Zeugnis für den Verlauf einer öffentlichen Sitzung, nicht aber als angemessenes Diagramm der philosophischen Programme der beiden Gesprächspartner bewertet werden. Die Stimmung, die der Protokolltext vermittelt, lässt im übrigen auf eine missmutig akzeptierte U nausweichlichkeit schließen, in die sich beide Gesprächspartner gefügt hatten, und hinterlässt beim Leser den Eindruck, es handele sich um einen Test auf die Vorurteile, welche die beiden Philosophen sich wechselseitig voneinander längst gebildet hatten. An den Bildern, die beide voneinander hatten, scheint die Disputation nicht sehr viel geändert zu haben. Heidegger ließ vernehmen, die Begegnung habe ihm nichts Neues gebracht,6 und Toni Cassirer macht in ihren Erinnerungen deutlich, wie fremd ihr und Ernst Cassirer die Begegnung gewesen sei.7 A.a.O., 165. 5 Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger, in: Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. Gesamtausgabe Bd. 3, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt/M. 1991,271-296. 6 Martin Heidegger I Elisabeth Blochmann: Briefwechsel1918-1969. Hg. von J. W. Storck, Marbach 1989, 29 f. 7 Toni Cassirer: Mein Leben mit Ernst Cassirer, Bildesheim 1981, 165 ff. 4
Vorwort
VII
Wir würden das Protokolldokument heute wahrscheinlich als ebenso unbedeutendes wie unvollständiges Papier bewerten, wäre da nicht die intensivere und die extensivere wechselseitige Kritik, die die beiden Philosophen andernorts aneinander übten und die detailliert illustriert, was wir heute mehr denn je vermuten: Hier wurde ein Paradigmenkonflikt der europäischen Philosophie, aber auch der geistigen Kulturgestaltung ausgetragen. Diese Feststellung bestätigt die eingangs zitierte Bemerkung Raymond Klibanskys. Hinzu kommt, dass die politische Entwicklung, die diesen Paradigmenkonflikt vier Jahre später gewaltsam zugunsten des einen und zuungunsten des anderen entschied, Ereignis und Dokument in ein Licht gerückt hat, das abzublenden bedeuten würde, unhistarisch zu lesen und zu urteilen. Die Entscheidung der Deutschen für Hitler und den politischen Totalitarismus war ausdrücklich eine Entscheidung gegen Programme und Orientierungen, die in der Cassirerschen Philosophie mit positiven Werten besetzt sind: Autonomie des Menschen und Humanität der Kultur. Die weiteren Biographien der beiden Disputanten sind bekannt und gehören zur deutschen Kulturgeschichte. Alles, was Cassirer von nun an schrieb, schrieb er von außerhalb Deutschlands im Blick auf Deutschland, und mehr und mehr wurde auf diese Weise das scheinbar so akademisch und politisch unambitiöse Programm einer Kritik der Kultur in ein politisches Projekt verwandelt. Dies im Einzelnen zu dechiffrieren bleibt aktueller Auftrag an die Cassirer-Interpretation, wohingegen Heidegger die Identifizierung seiner Philosophie mit der Politik des faschistischen Neuanfangs ausdrücklich selbst herstellte und verkündigte. Klibansky erinnert daran, dass Heidegger sich in einem Aufruf mit folgenden Worten an die deutschen Studenten wandte: »Nicht Lehrsätze und >Ideen< seien die Regel Eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz.«S Klibansky fährt fort: »Niemals zuvor war das Wirkliche mit einem Machthaber identifiziert worden. Niemals hat sich philosophisches Denken in einem solchen Maße prostituiert!«9 Sowohl die erwähnten ausführlicheren literarischen Dokumente wechselseitiger Rezensionen der Davoser Disputanten wie auch diese politische Dimensionierung textualisieren das Ereignis von Davos auf eine ebenso schwer übersehbare wie komplexe Weise. Aus diesem Grunde bleibt Davos für das Verständnis der deutschen Kulturgeschichte und ihrer politischen Bedeutung im 20. Jahrhundert schlüsselhaft. Es ist selten, dass sich die Kontingenz historischer Ereignisse nachträglich als ver8 Martin Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 19101976. Gesamtausgabe Bd. 16, hg. von H. Heidegger, Frankfurt/M. 2000, 184. 9 Klibansky, Erinnerung an ein Jahrhundert, a.a.O., 93.
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Vorwort
blüffende Bestätigung einer Entwicklungstendenz erweist, wie sie in diesem Falle vom Applaus für Heideggers Radikalismus- offenbar schon in Davos zu vernehmen- zu Heideggers eigenem Applaus für den Radikalismus Hitlerdeutschlands führte. Davos wird nicht überinterpretiert, wenn man die Auseinandersetzung zwischen Heidegger und Cassirer vor dem Horizont dieses Vorganges diskutiert. Sie steht vor diesem Horizont, und dieser Sachverhalt ist nicht das Resultat historiographischer Willkür. Die hier veröffentlichten Beiträge gehen zurück auf ein von der Internationalen Ernst-Cassirer-Gesellschaft veranstaltetes Symposion »70 Jahre Davoser Disputation«, das im September 1999 an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg stattfand. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Thyssen-Stiftung ist für großzügige finanzielle Unterstützung zu danken. Die Herstellung der Druckvorlagen besorgte Frau Eveline Busch-Ratsch (Heidelberg). Ohne ihre Kompetenz und ihr geduldiges Engagement wäre die Fertigstellung dieses Bandes nicht möglich gewesen. Luzern, im Oktober 2001
Die Herausgeber
INHALT
I. POSITIONEN
Wolfgang Röd Transzendentalphilosophie oder Ontologie? Überlegungen zu Grundfragen der Davoser Disputation . . . . . . . .
1
Gabriel Motzkin The Ideal of Reason and the Task of Philosophy: Cassirer and Heidegger at Davos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
Enno Rudolph Freiheit oder Schicksal? Cassirer und Heidegger in Davos
36
Oswald Schwemmer Ereignis und Form. Zwei Denkmotive in der Davoser Disputation zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer . . . . . . . . . . . . . . .
48
II. THEMEN Dominic Kaegi Davos und davor - Zur Auseinandersetzung zwischen Heidegger und Cassirer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
Birgit Recki Der Tod, die Moral, die Kultur
106
Peter A. Schmid Endlichkeit und Angst. Heidegger und Cassirer 1929 in Davos . .
130
X
Inhalt
Dorothea Frede Die Einheit des Seins. Heidegger in Davos Kritische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
156
Volker Gerhardt Der Rest ist Warten. Von Heidegger führt kein Weg in die Zukunft
183
III. KONTEXTE Reiner Wiehl »Vertauschte Fronten«. Franz Rosenzweigs Stellungnahme zur Davoser Disputation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Massimo Ferrari Paul Natorp- >The MissingLink< in der Davoser Debatte . . . . . .
215
]ohn Michael Krois Warum fand keine Davoser Debatte zwischen Cassirer und Heidegger statt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
I. POSITIONEN
Wolfgang Röd (lnnsbruck)
Transzendentalphilosophie oder Ontologie? Überlegungen zu Grundfragen der Davoser Disputation Philosophische Kontroversen haben wiederholt zur Klärung gegensätzlicher Positionen beigetragen, wie eine Reihe berühmter Beispiele zeigt man denke nur an die in Form von Objektionen und Responsionen geführte Auseinandersetzung mit Problemen, die Descartes in den M editationen erörtert hatte. So ist auch die Auseinandersetzung zwischen Cassirer und Heidegger in Davos in verschiedener Hinsicht erhellend, und dasselbe läßt sich von der Kontroverse sagen, die Cassirer 1907 mit Anhängern der Friessehen Schule führte, denen er nicht ohne Schärfe vorwarf, Kantische und neukantianische Auffassungen verzerrt dargestellt zu haben.t Die Auseinandersetzung zwischen Cassirer und Heidegger in Davos2 unterscheidet sich von den erwähnten Kontroversen dadurch, daß sie nicht literarisch, sondern in Form von Rede und Gegenrede ausgetragen wurde. Sie wirkt daher unmittelbarer, obwohl wegen der Kürze der verfügbaren Zeit nicht auf alle Fragen ausführlich eingegangen werden konnte. Das Protokoll über die Disputation3 ist dennoch ein wichtiges, ja ein faszinierendes Dokument, weil es nicht nur die damaligen Auf1 Cassirer (1906), Replik hierauf von Kurt Grelling: Das gute, klare Recht der Freunde der anthropologischen Vernunftkritik In: Abhandlungen der Fries'sehen Schule, N.F., Band II. Göttingen 1907; vgl. auch Gerhard Hessenberg: Kritik und System in Mathematik und Philosophie, in derselben Reihe, Band II. Göttingen 1907, und Otto Meyerhof: Der Streit um die psychologische Vernunftkritik. Die Fries'sehe Schule und ihre Gegner. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, Jg. 31, N.F. VI. Leipzig 1907. Erwiderung von Cassirer: Zur Frage nach der Methode der Erkenntniskritik Eine Entgegnung, im selben Band dieser Zeitschrift. 2 Zu dieser Begegnung siehe Karlfried Gründer (1988) sowie Kurt Wuchterl (1997), 135 ff.: Von der Davoser Disputation über das »neue Denken« zu Heideggers Rektoratsaffäre. 3 Das von J. Ritter und 0. F. Bollnow angefertigte Protokoll gibt die Ausführungen der Diskutierenden nicht wortwörtlich wieder. Es ist abgedruckt in: Heidegger (1991), 274-296.
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Röd · Transzendentalphilosophie oder Ontologie?
fassungen Cassirers und Heideggers in nuce enthält, sondern auch ahnen läßt, in welche Richtungen sich ihr Denken weiterentwickelte. Gleichzeitig spiegelt es gewisse für die damalige Situation der Philosophie charakteristische Tendenzen wider. Der Anstoß zur Debatte ging von Problemen der Kaut-Interpretation aus; es blieb aber nicht bei einer Auseinandersetzung mit Auslegungsfragen: auch Fragen nach Prinzipien und Methoden der Philosophie im allgemeinen wurden in die Erörterung einbezogen. Daß die systematischen Probleme immer wieder mit Kants Auffassungen in Verbindung gebracht wurden, hängt damit zusammen, daß Heideggers vorangegangene Vorträge »Kants Kritik der reinen Vernunft und die Aufgabe einer Grundlegung der Metaphysik« zum Thema hatten. In der anschließenden Debatte erörterten Cassirer und Heidegger, wie Kant das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft sah, wie er die Beziehung zwischen Anschauung und Verstand bestimmte und wie er die Idee des Unendlichen auffaßte; sie nahmen aber diese historischen Fragen zum Anlaß, das Wesen der Philosophie, das Problem der Allgemeingültigkeit der Erkenntnis, die Beziehung von Endlichem und Unendlichem, von Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstand zu diskutieren, wobei Konvergenzen und Divergenzen, nicht nur in speziellen Fragen, sondern in der Auffassung des Charakters der Philosophie, insbesondere der Metaphysik, zutage traten. Zugleich wurden Voraussetzungen sichtbar, von denen Heidegger und Cassirer ausgingen. Die Davoser Disputation ist sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Hinsicht bemerkenswert: Ihre inhaltliche Bedeutung beruht auf den Problemen, die in ihrem Mittelpunkt standen, denn diese spielten im philosophischen Denken der damaligen Zeit eine entscheidende Rolle; der Form nach beeindruckt sie dadurch, daß die Gesprächspartner darauf verzichteten, irgendwelche außerphilosophischen Motive ins Spiel zu bringen. In der Rückschau mag es naheliegend erscheinen, die in der Disputation eingenommenen Positionen mit der politischen Einstellung der Gesprächspartner in Verbindung zu bringen und auf deren später zutage getretene Konsequenzen zu blicken; in Davos war von solchen Dingen nicht einmal andeutungsweise die Rede; die Auseinandersetzung hatte rein philosophische Form.
I. Kant in der Philosophie der zwanziger Jahre Die Disputation wurde mit der Frage nach dem Charakter des Neukantianismus und nach dessen Verhältnis zur Kamischen Philosophie eröffnet. Zu dieser Frage Stellung zu nehmen, mochte zunächst aus per-
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sönlichen Gründen als wichtig empfunden werden: Heidegger hatte das neukantianische Denken im allgemeinen sowie die neukantianische Kant-Interpretation im besonderen angegriffen, und dabei konnte wohl der Eindruck entstehen, als richte sich seine Kritik auch gegen Cassirer, der ja vom Neukantianismus ausgegangen war. Cassirer legte Wert darauf, nicht als typischer Neukantianer betrachtet zu werden. Tatsächlich hatte er sich 1929 von der für den Macburger Neukantianismus charakteristischen Denkweise, vielleicht sogar vom genuinen Kritizismus im allgemeinen, in wichtigen Punkten bereits entfernt. Daher konnte ihn der gegen das neukantianische Kant-Verständnis gerichtete Vorwurf der Verengung der Philosophie auf Erkenntnistheorie nicht treffen. Früher hatte er allerdings in typisch neukantianischer Weise über Kants Philosophie geurteilt: »Den wesentlichen Inhalt der Kamischen Lehre bildet nicht das Ich, noch sein Verhältnis zu den äußeren Gegenständen, sondern worauf sie sich in erster Linie bezieht, das ist die Gesetzlichkeit und die logische Struktur der Erfahrung« 4 hatte er mehr als zwanzig Jahre vorher geschrieben. Inzwischen hatte er diesen Standpunkt längst aufgegeben, weshalb ihmdarangelegen war, seinen Abstand vom Neukantianismus deutlich zu machen. Als Heidegger betonte, Kant sei es nicht in erster Linie um die Lösung des Erkenntnisproblems und schon gar nicht um die Lösung des Problems der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gegangen, stimmte er ohne weiteres zu. Daß sowohl Cassirer als auch Heidegger die Erörterung der Kamischen Philosophie und ihrer Deutung im Neukantianismus als vordringlich betrachteten, erklärt sich aber vor allem aus der damaligen Situation der deutschen Philosophie. Der im letzten Drittel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts höchst einflußreiche Kantianismus bzw. Kritizismus im allgemeinen wurde inzwischen von verschiedenen Seiten her in Frage gestellt, und diese Entwicklung wurde begreiflicherweise aufmerksam registriert und diskutiert. Daher war die Frage des angemessenen Kant-Verständnisses durchaus aktuell. Die Kritik an der neukantianischen Kam-Interpretation und am Neukantianismus selbst kam von den verschiedensten Seiten - von Vertretern des Positivismus und des erkenntnistheoretischen Realismus, des Hegelianismus, der Lebensphilosophie und einer erneuerten Metaphysik. Die Neoidealisten lehnten den vermeintlichen Subjektivismus Kants ab und forderten, in der von Hegel gewiesenen Richtung über die Kritische Philosophie hinauszugehen. Selbst bei den führenden Macburger Neukantianern ist der Einfluß Hegels zu erkennen. Bei Cohen und N atorp, die ursprünglich ihre Aufgabe in der Feststellung des zeit4
Cassirer (1971), 662.
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los gültigen Gehalts der Kamischen Philosophie erblickt hatten, machten sich in ihrer späteren Zeit hegelianisierende Auffassungen bemerkbar.s Auch Cassirer zeigte sich gelegentlich aufgeschlossen gegenüber Hegel, zum Beispiel wenn er sich zur Lehre vom objektiven Geist bekannte und diesen als etwas Absolutes charakterisierte. In Entwürfen, die kurz vor der Davoser Veranstaltung entstanden sein dürften, bekannte er sich zur Hegeischen Auffassung der Idee.6 Angegriffen wurde der Kantianismus auch von der Gegenseite, nämlich von Vertretern des Empirismus: G. E. Moore und B. Russell wandten sich gegen den Kautischen Idealismus und stellten ihm eine realistische Auffassung gegenüber. Die Neopositivisten hielten Kants Philosophie unter anderem deshalb für hinfällig, weil sie die Annahme synthetischer Urteile a priori verwarfen. Von einem anderen Standpunkt aus bestritt Franz Brentano, daß es synthetische Urteile a priori gebe, und lehnte daher den Kantianismus ab.7 Zu einem Gegner des Kritischen Idealismus war auch der vom Kamianismus herkommende Nicolai Hartmann geworden, der zwar mit Kant ein Apriori annahm, den Kantianischen Idealismus aber zurückwies, weil er glaubte, daß synthetische Urteile a priori objektive Zusammenhänge ausdrückten.S Den transzendentalen Idealismus lehnte er ab, weil er überzeugt war, daß sich mit den Mitteln der Analyse des Erkenntnisphänomens die Richtigkeit der realistischen Metaphysik zeigen lasse. Von einer Vernichtung der Metaphysik bzw. der Ontologie durch Kant kann seiner Ansicht nach nicht die Rede sein; wenn Kam als Zerstörer der Metaphysik dargestellt wird, liege ein Mißverständnis vor.9 Angesichts der Aufwertung, die metaphysische Auffassungen erfuhren, konnte von einer »Auferstehung der Metaphysik« gesprochen werden.tO Der Hinwendung zur Metaphysik entsprachen Bemühungen, auch in der Kamischen Philosophie metaphysische Aspekte aufzuzeigen. So 5 Paul Natorp (1958) hat sich unmißverständlich zugunsten der Hegeischen Dialektik ausgesprochen. H. Cohen faßte die Ethik als Theorie auf, mit deren Hilfe das Faktum der Rechtswissenschaft begreiflich gemacht werden kann. Dies konnte er tun, weil er mit Hege! Kants Unterscheidung von moralischer und rechtlicher Verpflichtung ablehnte. Vgl. hierzu Manfred Pascher (1992}. 6 Cassirer (1995}, 222. In bezugauf die Einheit der Idee, die er realistisch (und nicht »averroistisch«) auffaßte, notierte er (etwa 1928): »hier stellen wir uns auf den Boden Hegels«. 7 Siehe Fr. Brentano (1925}, 22 f. 8 N. Hartmann (1957}, 285 ff. 9 N. Hartmann (1957}, 343. Andere Vertreter des ontologischen Denkens in der damaligen Zeit waren G. Jacoby: Allgemeine Ontologie der Wirklichkeit, I, Halle 1925, und H. Driesch: Wirklichkeitslehre, Leipzig 1917. 10 P. Wust: Die Auferstehung der Metaphysik, Leipzig 1920.
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schrieb Nicolai Hartmann Kant eine realistische Ontologie zu.t 1 Heidegger stand also nicht allein, wenn er einerseits dem Neukantianismus eine ontologische Philosophie entgegensetzte und andererseits bei Kant eine Ontologie entdecken zu können glaubte.12 Von diesem Standpunkt aus stellt sich die Rückkehr zur Metaphysik als Rückwendung zu ontologischen Fragen dar. In anderer Weise betrachtete Max Wundt Kant als einen Metaphysiker: Er erblickte in der Grundlegung einer Lehre von der übersinnlichen Wirklichkeit das eigentliche Anliegen Kants.13 Ähnlich sah Cassirer in Kant den Vertreter einer Metaphysik des Reichs der Freiheit bzw. der die Endlichkeit transzendierenden Ideen im allgemeinen. Auch die Vertreter der Lebensphilosophie opponierten gegen den Neukantianismus. Sie warfen den Neukantianern vor, mit ihrer Auffassung des Ich der Lebendigkeit des erkennenden, verstehenden, handelnden Menschen nicht gerecht zu werden. In den Adern des erkenntnistheoretischen Subjekts fließe, wie Dilthey meinte, kein echtes Blut.14 Das Ich wird in der Lebensphilosophie nicht, wie von den Marburger Neukantianern, als bloßer Grenzbegriff betrachtet, sondern als lebendiges, geschichtlich bedingtes Selbst. Die Tendenz, den formalen Begriff des Ich, der sich bei den Neukantianern findet, durch einen konkreteren zu ersetzen, findet sich im übrigen nicht nur in der Lebensphilosophie; auch Husserl faßte das Ich als Grund gegenstandskonstitutiver Akte und später als lebendiges Ich in einer erlebten Welt auf, und Wittgenstein, der zunächst, wie die Marburger Neukantianer, im Ich einen Grenzbegriff gesehen hatte, ging später vom beobachtbaren Verhalten des Menschen aus. Heideggers Auffassung des menschlichen Daseins ist durch eine ähnliche Ablehnung des transzendentalen Konstrukts des Subjekts charakterisiert. Daß die Auffassung des Ich als eines im systematischen Zusammenhang konstruierten Begriffs vielfach aufgegeben wurde, heißt 11 N. Hartmann (1958), 340. 12 Heidegger hat nicht übersehen, daß Kant für die Transzendentalphilosophie »den stolzen Namen einer Ontologie« nicht in Anspruch genommen hat, aber er meinte, daß er das nur im Hinblick auf die überlieferte Ontologie getan habe. Wenn man die Ontologie mit der »Wesensstruktur der Endlichkeit« in Verbindung bringt, dann ist sie gerechtfertigt, wie ihr auch Kant einen Platz innerhalb der Metaphysik zugewiesen habe. Siehe Heidegger (1991), 124 f. 13 M. Wundt: Kant als Metaphysiker. Stuttgart 1924. 14 W. Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften I, XVIII: »In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen, in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis[ ... ] zugrundezulegen.«
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freilich nicht, daß sie unhaltbar war; sie ist nach wie vor möglich, obwohl es eine Tatsache ist, daß sie nach dem ersten Weltkrieg immer weniger Vertreter fand. Angesichts der durch die genannten Tendenzen charakterisierten Situation ist es verständlich, daß in der Davoser Disputation Kant ständiger Bezugspunkt der Überlegungen war.
I/. Erkenntnistheorie und Theorie der Erfahrung
Vor dem Hintergrund der skizzierten Situation ist es verständlich, daß Heidegger die Disputation von 1929 mit der Feststellung eröffnete, daß die Kritische Philosophie nicht auf Erkenntnistheorie, schon gar nicht auf eine Theorie der naturwissenschaftlichen Erkenntnis eingeschränkt werden dürfe, und daß Cassirer dieser Ansicht zustimmte. Die Behauptung, daß der Neukantianismus die Philosophie auf Erkenntnistheorie reduziert habe, hätte jedoch eine kritische Erörterung verdient. Die neukantianische Philosophie ist nämlich nicht Erkenntnistheorie in der üblichen Bedeutung des Wortes. Die Erkenntnistheorie im herkömmlichen Sinne geht von der Voraussetzung aus, daß uns unmittelbar immer nur Vorstellungsinhalte gegeben seien und daß wir uns auf eine Wirklichkeit jenseits der Vorstellungen, sofern das überhaupt möglich ist, nur mittelbar beziehen könnten. Unter dieser Voraussetzung stellt sich die Frage, woran man erkennen könne, daß manchen Vorstellungen reale Gegenstände entsprechen. Die Antwort wird im Rahmen einer Theorie des Ursprungs der Vorstellungen gegeben. Weder Kant noch die Marburger Neukantianer waren dieser Fragestellung verpflichtet. Ihnen ging es vielmehr - um Cohens Ausdruck zu gebrauchen - um eine Theorie der Erfahrung,15 das heißt, sie suchten begreiflich zu machen, unter welchen Bedingungen es überhaupt Gegenstände für uns geben kann. Die so verstandene Theorie der Erfahrung ist fundamentaler als die Erkenntnistheorie, weil sie nicht Kriterien des Gegenstandsbezugs von Vorstellungen und Urteilen, sondern die Gegenständlichkeit als solche betrifft.t6 Während der Vorwurf, daß die Neukantianer die Philosophie auf Erkenntnistheorie reduziert hätten, verfehlt ist, läßt sich die Ansicht, sie
15 Hermann Cohen: Kants Theorie der Erfahrung. Berlin 1871 (Werke, Band I. Hrsg. vom Hermann-Cohen-Archiv Zürich. Hildesheim 1976.) 16 In seiner Besprechung von Heideggers Kant-Buch sprach Cassirer von Kants Theorie der Erfahrung, zu der er Kants Lehre vom Schematismus rechnete, die daher nicht ontologisch zu verstehen sei (Cassirer (1931), 18.
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hätten das Erkenntnisproblem auf das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis eingeschränkt, nicht von der Hand weisen. So vertrat Natorp die Ansicht, daß die Philosophie vor allem auf das Faktum der Wissenschaft zu reflektieren habe,17 und Riehl, den Heidegger als typischen Neukantianer betrachtete, definierte den Kritizismus als »Theorie der Wissenschaft«. 18 Auch Cassirer stand dieser Auffassung ursprünglich nahe, wie zum Beispiel die Bemerkung in seinem Werk über das Erkenntnisproblern zeigt, erst in der exakten Wissenschaft erhalte die Einheit des Erkenntnisbegriffs ihre wahrhafte Erfüllung und Bewährung.19 Wird die Theorie der Erfahrung mit der Erkenntnistheorie im herkömmlichen Sinn verwechselt, dann kann man die Transzendentalphilosophie nicht angemessen verstehen, nämlich als Theorie der Erfahrung. Kant ging es nicht um die Lösung erkenntnistheoretischer Probleme, sondern um Metaphysik als Lehre von den höchsten Prinzipien, die er allerdings nicht mehr als evidente Sätze auffaßte, sondern als Sätze, die angenommen werden müssen, wenn die Erfahrung von Gegenständen als möglich begriffen werden soll. Dabei kommt es nicht auf die Einsichtigkeit dieser Sätze an, sondern allein auf ihre Funktion innerhalb der Theorie der Erfahrung. Kant hat die so verstandene Prinzipientheorie in den Prolegomena als Metaphysik vorgestellt, »die als Wissenschaft wird auftreten können«. Das Wesen dieser Art von Metaphysik wird verdunkelt, wenn man den Kritizismus als Erkenntnistheorie auffaßt. Vom Standpunkt der Transzendentalphilosophie aus hätte Heideggers Kennzeichnung des Kritizismus als Erkenntnistheorie zurückgewiesen werden müssen. Cassirer hat das nicht getan, obwohl er sich zur »Kantischen Fragestellung des Transzendentalen«20 bekannte, die er jedoch nicht mehr nur in bezugauf die mathematische Naturwissenschaft, sondern auch in bezug auf Sprache und Kunst zur Geltung bringen wollte.
17 Natorp (1923}, 10: »Nur an dem schon vorliegenden >Faktum< der Wissenschaft kann die Logik die Gesetze des Wissenschaffens selbst aufweisen, denn nur an ihm kann sie die Gesetze, von denen sie spricht, in ihrer Wirksamkeit beobachten[ ... ] «. 18 Riehl (1876}, 1. 19 Cassirer (1971}, 11. 20 Cassirer I Heidegger (1991}, 294.
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III. Anschauung und Verstand Cassirer äußerte sich zustimmend zu Heideggers Auffassung der Rolle, die die Einbildungskraft in Kants Philosophie spielt.21 Obwohl diese Frage sehr speziell zu sein scheint, hat die Art, in der sie beantwortet wird, allgemeine Konsequenzen. Heideggers These, daß die Einbildungskraft die verborgene gemeinsame Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand als den beiden Stämmen des menschlichen Erkenntnisvermögens sei, läuft nämlich darauf hinaus, die nicht-rationale Komponente der Erfahrung auf Kosten der rationalen aufzuwerten, und zwar nicht nur im Hinblick auf Kant, sondern auch in systematischer Hinsicht. Ein Kantianer hätte allen Grund gehabt, dieser Auffassung zu widersprechen. Daher ist es überraschend, daß Cassirer in diesem Punkte Heidegger ohne Vorbehalt zustimmte, so wie er auch Heideggers Deutung des transzendentalen Schematismus billigte, ja nachdrücklich lobte.22 Dabei hatte er sich früher in einer Weise über dieses Lehrstück der Kautischen Transzendentalen Analytik geäußert, die mit Heideggers Ansicht nicht in Einklang zu bringen ist. In dem Werk über das Erkenntnisproblern hatte er nämlich gemeint, daß der Schematismus psychologisch zu deuten sei,23 Weil mit psychologischen Mitteln die Geltung der reinen Begriffe nicht gerechtfertigt werden kann, sah Cassirer im Schematismus nur eine Erläuterung und Ergänzung der transzendentalen Deduktion der Kategorien.24 Er hob aber auch hervor, daß der Schematismus reine Anschauung und reine Begriffe vereinige, »indem er beide [... ] auf ihre gemeinsame logische Wurzel zurückführt«25; er soll zeigen, daß in der Anschauung wie im begrifflichen Denken Regeln zur Geltung kommen, die gedanklich erzeugt werden und daher nicht völlig ungleichartig sind.26 Wenn Cassirer 1929 die gemeinsame Wurzel noch, wie zwei Jahrzehnte früher, als logisch betrachtete und der Ansicht war, daß die Erfahrung wesentlich vom Verstand abhänge, dann konnte er Heideggers Versuch, dieser Wurzel den rationalen Charakter abzusprechen, nicht billi2t A.a.O., 275 f. 22 Zustimmend äußert sich Cassirer auch in der Rezension zu Heideggers Kant-Buch; siehe Cassirer (1931), 8. 23 Cassirer (1971a), 713: Das eigentliche Thema der Lehre vom Schematismus »ist die Frage nach der psychologischen Möglichkeit des Allgemeinbegriffs«. Die logische Möglichkeit bleibt von dieser Lehre unberührt, doch stellt sie eine unentbehrliche Ergänzung der transzendentalen Deduktion dar. 24 A.a.O., 713 f. In Kants Leben und Lehre wird Kants Lehre vom Schematismus wenig Beachtung geschenkt. 25 A.a.O., 715. 26 A.a.O., 715 f.
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gen. In bezug auf Kant urteilte Cassirer zweifellos richtiger als Heidegger: Ohne Rekognition im Begriffe kann es keine anschaulichen Gegenstände, ja nicht einmal die Vorstellungen von Raum und Zeit geben,27 Seine systematische Auffassung steht im Einklang mit dieser Kant-Deutung; ihr zufolge kann nämlich von Tatsachen nur im Zusammenhang von Urteilen gesprochen werden. Begriffe haben niemals unabhängig von einem gedanklichen Kontext Bedeutung. In diesem Sinne heißt es in dem Band Zur Logik der Kulturwissenschaften: »Es gibt keine >nackten< Fakta [... ] Jede Konstatierung von Tatsachen ist nur in einem bestimmten Urteils-Zusammenhang möglich.«28 Auch Heideggers Deutung des Kautischen Hinweises auf eine mögliche gemeinsame Wurzel von Anschauung und Verstand hängt mit Voraussetzungen systematischer Art zusammen; hinter ihr steht jene Auffassung des Verstehens, die in Sein und Zeit vorgetragen wird. Die Welt, so heißt es dort, erschließt sich in der Befindlichkeit.29 Befindlichkeit und Verstehen gelten als gleich ursprünglich, und da die Befindlichkeit nicht rationalen Charakter hat, gilt dasselbe für das Verstehen. Das ursprüngliche Verstehen liegt dem rationalen Denken wie der Anschauung zugrunde, die »beide schon entfernte Derivate des Verstehens sind«.30 In diesem Sinne legte Heidegger auch in seinem KantBuch stärksten Nachdruck auf die anschauliche Komponente der Erkenntnis. Man müsse sich gleichsam einhämmern: »Erkennen ist primär Anschauen«.3 1 Zwar leugnete er nicht, daß nach Kant der Verstand in der Erfahrung eine unentbehrliche Rolle spiele, aber er sprach ihm die Selbständigkeit ab; er hielt ihn, wie die Anschauung, für abhängig von der Einbildungskraft. Worauf es Heidegger ankam, ist deutlich zu sehen: Es ging ihm um die Überwindung einer Metaphysik, in deren Mittelpunkt die Idee des Logos steht.32 In der Zusammenfassung seiner Davoser Vorträge für eine lokale Zeitung schrieb er, Kant habe mit der Lehre von der Einbildungskraft den Ansatz der Philosophie in der Vernunft gesprengt.33 Allerdings fand er, daß Kant diese Tendenz nicht konsequent zur Geltung gebracht habe, sondern vor ihren Konsequenzen zurückgeschreckt sei. 27 A.a.O., 716. 28 Cassirer {1980), 17. 29 Heidegger (1993), 139; vgl. 134. Ontisch entspricht dem ontologischen Titel der Befindlichkeit die Stimmung, von der Heidegger erklärt: »Wir müssen [... ] ontologisch grundsätzlich die primäre Entdeckung der Welt der >bloßen Stimmung< überlassen« (138). 30 A.a.O., 147. 31 Heidegger {1991), 21. 32 Cassirer I Heidegger (1991), 288. 33 Heidegger {1991), 273.
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Wie Cassirer zur Frage nach einer gemeinsamen Wurzel von Anschauung und Denken Stellung nahm, geht aus dem dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen hervor. Dort betonte er, daß die Frage nach einer möglichen gemeinsamen Wurzel der beiden Stämme der Erkenntnis unter den Bedingungen der entwickelten Kamischen Philosophie verfehlt sei. Kant habe das Problem des Verhältnisses von Anschauung und Denken in der Analytik des reinen Verstandes auf eine neue Grundlage gestellt, indem er Sinnlichkeit und Verstand nicht mehr verschiedenen Schichten des Subjekts zuordnete. Damit sei die Frage nach deren gemeinsamer Wurzel hinfällig geworden. Die Verbindung von Sinnlichkeit und Verstand ergibt sich nicht durch Rückgang zu einer Instanz außerhalb dieser Vermögen, sondern sie ist im Schoße der Erkenntnis selbst zu finden, nämlich in der synthetischen Einheit der Apperzeption.J4 Der Gegensatz zu der von Heidegger vertretenen Auffassung ist offensichtlich. Bedenkt man, daß der dritte Band seines Hauptwerkes kurz nach der Davoser Veranstaltung erschien, dann ist es bedauerlich, daß Cassirer die dort vertretene Ansicht nicht in der Disputation zur Geltung brachte. In der Besprechung von Heideggers Kant-Buch kam er jedoch auf die Frage nach dem Verhältnis von Anschauung und Verstand bei Kant zurück. Er betonte, daß der schöpferische Charakter des Verstandes anerkannt werden müsse35 und meinte, daß Heidegger die Rolle des Schematismus in der Kantischen Philosophie überbewertet habe: Der Schematismus stehe zwar im Mittelpunkt der Transzendentalen Analytik, nicht jedoch im Mittelpunkt der Kamischen Philosophie als ganzer.J6 In der Ethik spielt der Schematismus keine Rolle; Vernunftideen können nicht schematisiert werden. Hinter den gegensätzlichen Kant-Deutungen Cassirers und Heideggers stehen systematische Differenzen, zum Beispiel unterschiedliche Auffassungen des Verstandes. Der Unterschied tritt in aller Deutlichkeit zutage, wenn Cassirer die Beziehung zwischen dem Begriff der Substanz bzw. der Kategorien im allgemeinen und dem Verstand hervorhebt, während Heidegger meinte, daß die Vorstellung von etwas Substantiellem der Struktur der Zeit entnommen werden könne. Es gibt einen Horizont von Gegenwart, Künftigkeit und Gewesenheit, in dem »allererst so etwas wie 34 Cassirer (1990), 11. Ebenso meinte er, daß Materie und Form bei Kant nicht mehr Seinspotenzen, sondern »Bedeutungsdifferenzen« seien (13). Auch wenn Cassirer betont, daß Kants Analyse zur »Urschicht des Intellekts« (16), zu den Begriffen a priori als festem Fundament, führe, vertritt er eine Auffassung, die mit Heideggers Ansicht nicht zu vereinbaren ist. 35 Cassirer (1931 ), 10 f. 36 A.a.O., 17 f.
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die Beständigkeit der Substanz sich konstituiert«37, Dies entspricht der Auffassung, die Heidegger im Kant-Buch vertrat: Da die Zeit als solche unwandelbar bleibt, bietet sie »den reinen Anblick von so etwas wie Bleiben überhaupt«38. Analoges scheint für andere Kategorien gelten zu müssen, doch hat sich Heidegger auf das Beispiel der Substantialität beschränkt. 39 Der Unterschied der Auffassungen kommt auch zum Vorschein, wenn Heidegger zu zeigen versuchte, daß die Kategorien unabhängig vom Verstand, nämlich aus der Anschauung der Zeit, zu gewinnen seien, während Cassirer vom Primat des Verstandes in der Erfahrung ausging und daran erinnerte, daß nach Kant nicht einmal die Zeiterfahrung unabhängig vom Verstand möglich ist. Wenn er sich in Davos Heideggers Auffassung der Einbildungskraft gegenüber aufgeschlossen zeigte, muß er über die angedeuteten Unterschiede hinweggesehen und sich auf andere Aspekte konzentriert haben. Das Motiv, das ihn dazu veranlaßte, könnte der Wunsch gewesen sein, in Heideggers Ansicht Gedanken seiner Philosophie der symbolischen Formen wiederzufinden. Deshalb unterstrich er auch, daß es Kant nicht auf die Synthesis als solche, sondern auf die Synthesis mittels eines Bildes angekommen sei,40 zumal er in der Lehre von der synthesis speciosa eine Vorstufe seiner Konzeption der symbolischen Formen gesehen haben dürfte. Diese Vermutung wird dadurch gestützt, daß er in der Rezension von Heideggers Kant-Buch die dort entwickelte Interpretation als besonders wichtig bezeichnete und auf seine eigene Auffassung der produktiven Einbildungskraft bezog.41
37 Cassirer I Heidegger {1991), 282. 38 Heidegger {1991), 107. Vgl. ebd.: »Nun ist die Zeit als reine Jetztfolge jederzeit jetzt. In jedem Jetzt ist es jetzt. Die Zeit zeigt so die Ständigkeit ihrer selbst.« 39 Dennis A. Lynch {1990), 360-370, hat auf diesen Aspekt aufmerksam gemacht und gezeigt, daß Heidegger versuchte, die reinen Begriffe aus Zügen der Zeit herauszuentwickeln, während Cassirer gemeint habe, daß die Charaktere der Zeit, nämlich Dauer, Sukzession, Gleichzeitigkeit nur in Abhängigkeit von den Kategorien der Substantialität, der Kausalität und der Wechselwirkung erfahren würden (vgl. a.a.O., 363). Für Heidegger gelte: »Time, not the activity of the understanding, grounds our knowing-relation to the world« {364). Die entscheidende Differenz besteht darin, »that Cassirer privileged the pure concepts of the understanding over space and time, while Heidegger took the opposite position« {364). 40 Cassirer I Heidegger {1991), 276 f. 41 In der erwähnten Rezension in den Kant-Studien wird Heideggers Darstellung der Rolle der Einbildungskraft bei Kant außerordentliche Kraft, Schärfe und Klarheit bescheinigt (Cassirer (1931), 8); zugleich weist Cassirer auf seine Auffassung in der Philosophie der symbolischen Formen, Band III, hin {9, Anm.). Nach Cassirer {1995), 29, ist die Einbildungskraft »gewissermaßen das einigende ideelle Band«, das die verschiedenen Formwelten verbindet. Das entspricht nicht
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Hätte er die Konsequenzen von Heideggers Auffassung berücksichtigt, hätte er sie wohl nicht so uneingeschränkt akzeptiert. Man muß es bedauern, daß er in diesem Punkte einlenkte, denn Heideggers Auffassung ist anfechtbar. Sie ist historisch bedenklich, da Kant die Erfahrung bzw. die Erkenntnis von Dingen nicht auf ein Vermögen unterhalb des Verstandes beziehen wollte; und sie ist in systematischer Hinsicht fragwürdig, weil es keine vom Verstand unabhängige Anschauung der Dinge gibt.
IV. Endlichkeit und Unendlichkeit Für Cassirer und Heidegger war die Erörterung des Verhältnisses von Anschauung und Verstand sowie der Funktion der Einbildungskraft auch deshalb wichtig, weil sich in ihrem Rahmen die Frage stellte, ob und in welchem Sinne es möglich sei, die Grenzen der Endlichkeit zu transzendieren. Hier tritt eine weitere systematische Differenz zutage. Heidegger erblickte in der Anschauungsabhängigkeit der Erkenntnis bzw. in deren Abhängigkeit von der Einbildungskraft ein Indiz der Endlichkeit des menschlichen Daseins, die sich seiner Ansicht nach nicht in Richtung auf ein Unendliches und Absolutes überschreiten läßt; da es keine ewigen Wahrheiten gibt, ist die Erkenntnis stets relativ auf das geschichtliche Dasein. Cassirer wies demgegenüber auf die N otwendigkeit und Allgemeingültigkeit der Wahrheit und auf die Unbedingtheit der Moral hin. Der erkennende und moralisch entscheidende Mensch kann über die Endlichkeit hinausgehen und Zugang zum Reich der Wahrheit - dem objektiven Geist - und zum Reich der Freiheit finden. Besonders nachdrücklich unterstrich Cassirer die Unbedingtheit der Moral; er war überzeugt, daß »im Ethischen [ ... ] ein Punkt erreicht [wird], der nicht mehr relativ ist auf die Endlichkeit des erkennenden Wesens«. In der Ethik wird »ein Absolutes gesetzt« 42. Weil die Ideen der Ethik, vor allem die Freiheitsidee, nicht mehr auf Schemata der Einbildungskraft angewiesen sind, sind sie nicht auf den Bereich möglicher Erfahrung eingeschränkt: »Das Sittliche als solches führt über die Welt der Erscheinungen hinaus«43, wie Cassirer sagte. Dabei bezog er mehr der Auffassung Kants, wie Cassirer auch den Kantischen Begriff der Vernunft durch einen anderen ersetzt hat; nach Oswald Schwemmer (1997), 25, hat Cassirer unter Berufung auf das Verhältnis von Kategorien und Anschauung bei Kant das Verhältnis von Geist bzw. Vernunft und Sinnlichkeit als Charakteristikum des Schöpferischen aufgefaßt. 42 Cassirer I Heidegger (1991), 276. 43 Ebd.
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sich auf Kant, brachte aber offenbar auch seine eigene Überzeugung zum Ausdruck. Die Lehre vom objektiven Geist hatte für Cassirer größte Bedeutung, weil nur sie ihm die Möglichkeit zu bieten schien, Heideggers Relativismus zu vermeiden. In dieser Lehre erblickte er die entscheidende Differenz zwischen seiner und Heideggers Auffassung, wie nicht nur in Davos zum Ausdruck kam, sondern auch aus Cassirers Nachlaß hervorgeht.44 Der ontologische Status des objektiven Geistes bleibt dabei unerörtert. Die Frage, ob eine vom menschlichen Geist unabhängige oder eine von ihm erzeugte geistige Wirklichkeit gemeint sei, drängt sich jedoch bei der Lektüre des Davoser Protokolls geradezu auf. Cassirer glaubte an die Möglichkeit, die Endlichkeit zu transzendieren, und zwar durch »das Medium der Form«; der Mensch müsse »die Metabasis haben, die ihn von der Unmittelbarkeit seiner Existenz hineinführt in die Region der reinen Form«45. Ob er dabei an eine ansichseiende ideale Wirklichkeit dachte, vergleichbar der »Region der ewigen Wahrheiten«, von der Leibniz sprach,46 ist nicht klar, obwohl die Ähnlichkeit der Ausdrücke an einen Zusammenhang denken läßt. Auf eine selbständige geistige Wirklichkeit scheint auch das Schiller-Zitat hinzuweisen, durch das Cassirer seine Auffassung illustrierte: »Aus dem Kelche dieses Geisterreiches strömt ihm die Unendlichkeit«47. Die Unendlichkeit des Geisterreiches wird von Schiller- wie von Hegel, der dieselben Verse am Ende der Phänomenologie des Geistes anführt- auf das Absolute bezogen, das sich in einem geistigen Reich manifestiert und in ihm seine Unendlichkeit erblickt.48 Wenn Cassirer versicherte, daß er mit »Unendlichkeit« nicht eine »realistische«, sondern eine immanente Unendlichkeit meine,49 scheint er 44 Siehe Cassirer (1995), 220 (etwa 1928), wo im Hinblick auf die Heidegger zugeschriebenen Ansicht, die »Hingabe an das Allgemeine« sei Verfallen bzw. Wegblicken vom eigentlichen Dasein, bemerkt wird: »Hier wesendich scheidet sich sein Weg von dem unseren[...] Wir fassen das Allgemeine nicht als bloßes >Manobjektiven Geist< und objektive Kultur.« Der objektive Geist, namendich in Form der Sprache, geht für Cassirer nicht in der Alltäglichkeit auf und unter, sondern er besteht in der Form überpersönlichen Sinnes; dafür habe Heideggers Philosophie kein Organ. 45 Cassirer I Heidegger (1991), 286. 46 Leibniz: Nouveaux essais sur l'entendement humain, Buch IV, Kap. XI,§ 14; Philosophische Schriften, hg. von C. J. Gerhardt, Berlin 1875-1890, Bd. V, 429: »la n!gion des verites eternelles«. 47 Ebd. 48 Siehe Schillers Gedicht Die Freundschaft, letzte Strophe: »Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches, I Aus dem Kelch des ganzen Seelenreiches I Schäumt ihm- die Unendlichkeit.« Vgl. Schiller: Philosophische Briefe. Theosophie des Julius, Abschn. >GottVernunft< ist höchst ungeeignet, die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen.[ ... ) Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren.«
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behandelt. Ob Heidegger im Frühjahr 1929 schon eine Revision seiner transzendental-ontologischen Einstellung vor Augen hatte, muß offen bleiben; möglich ist es, denn wenig später, nämlich im Wintersemester 1929/30, erklärte er: »[... ] die Transzendentalphilosophie muß fallen«8s. Auf die damalige Phase seiner Entwicklung zurückblickend, hat er in den Beiträgen zur Philosophie festgestellt, daß er auch die temporale Auslegung des Seins aufgeben mußte, um die Wahrheit des Seins sichtbar zu machen.86 Indem er darauf verzichtete, den Anfang mit dem menschlichen Dasein zu machen, entzog er dem Relativismus-Vorwurf, den Cassirer erhoben hatte, den Boden. Allerdings setzte er dem Subjektivismus nicht, wie es Cassirer getan hatte, die Annahme eines objektiven Geistes, sondern die Lehre vom Sein in radikaler Differenz gegenüber dem Seienden entgegen. Sowohl Heidegger als auch Cassirer haben sich somit von ihren ursprünglichen Positionen entfernt: Cassirer war von der transzendentalen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erfahrung ausgegangen und zur Frage nach den Formen der Kultur und ihrem Grund im menschlichen Vermögen der Symbolerzeugung geführt worden; Heidegger hatte die Frage »Was ist der Mensch?«, um die sein Denken zunächst kreiste und auf die er antwortete: ein seinsverstehendes Wesen, durch die Frage nach dem Sein bzw. nach der geschichtlichen Wahrheit des Seins ersetzt. Es ist bemerkenswert, daß Heidegger damit eine Position bezog, die nicht mehr dem von Cassirer erhobenen Vorwurf des Relativismus ausgesetzt war; und ebenso bemerkenswert ist es, daß Cassirer, indem er nach dem Menschen als einem Symbole schaffenden Wesen fragte, jene Kamische Frage aufnahm, die Heidegger in seiner Kam-Interpretation hervorgehoben hatte. Beide haben ihren ursprünglichen Standpunkt revidiert, wie schon der Gedankenaustausch von 1929 erkennen läßt. Beide waren im Begriffe, die transzendentale Denkweise hinter sich zu lassen, von der sich die Mehrheit der deutschen Philosophen damals abwandte. Was Cassirer und Heidegger in Davos sagten, läßt ahnen, in welche Richtung sich ihr Denken weiterentwickeln sollte, und blickt man auf ihre Veröffentlichungen und Vorlesungen der letzten dreißiger Jahre, dann wird der durch die Hinweise in der Disputation erweckte Eindruck bestätigt: Cassirer ging von der Transzendentalphilosophie zu einer Phi85 Heidegger (1983), 522. 86 Heidegger (1989), 450 f. Vgl. Rainer Thurnher (1997) insbes. 31 ff. Thurnher konstatiert: »Die Kantvorlesung des Wintersemesters 1927/28 zeigt ihn [sc. Heidegger] noch ganz im Bann des transzendental-horizontalen Schemas. Die darauffolgenden Vorlesungen lassen deutlich das Bemühen erkennen, sich diesem zu entwinden[ ... ] « (32).
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losophie über, die »Deutung, Interpretation, Verständnis der Phänomene« - vor allem der kulturellen Phänomene - sein will;87 Heidegger wollte die Transzendentalphilosophie bzw. die Ontologie, wie er sie verstanden hatte, auch die Fundamentalontologie, ablösen »durch ein vom Sein selbst ereignetes und darum dem Sein höriges Denken«88- ein Denken, das man in einem nicht abwertend gemeinten Sinn als mystisch bezeichnen kann. Sich von der transzendentalphilosophischen Betrachtungsweise abzuwenden heißt aber nicht, sie zu überwinden, wie auch die von Kant gestellten Fragen im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts nicht vergessen, sondern unter den für die Entwicklung des modernen Denkens maßgeblichen Bedingungen in neuer Weise zu beantworten gesucht wurden.
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Gabrief Motzkin (]erusalem) The Ideal of Reason and the Task of Philosophy: Cassirer and Heidegger at Davos In the years since the Second World War, the discussion at Davos has been taken to be emblematic for the confrontation between pre-First World War and post-First World War philosophy. In our days, this debate, allegedly between a philosophy of knowledge and a philosophy of existence, has reawakened, perhaps because of the historical return to certain characteristics of the pre-World War II political context. That this debate between epistemology and ontology should have moral consequences may not be surprising from the point of view of ontology, of a philosophy of existence, but it is surprising from the point of view of epistemology, of a philosophy of knowledge. Yet those who then and now have taken up the cause of the philosophy of existence make their moral claim by denying the claims of ethics. Ontology has moral consequences; these moral consequences can only be grasped by neglecting any pre-existential philosophy of value. In contrast, those who have taken the position of the philosophy of knowledge have always found it difficult to respond, for they have always been divided, unlike the existentialists, about the relation between knowledge and ethics. Their dilemma goes to the heart of the related debate about the moral consequences of Enlightenment, more specifically of whether a moral world-view based on rationalism is viable, a central debate in German philosophy since the Enlightenment. There is an advantage in emphasizing, in contrast, empiricism as the basic stance of Enlightenment humanism: from a dialectical point of view, the advantage of empiricism is that its dialectical opposite is rationalism, while unfortunately the dialectical opposite of rationalism is not empiricism but irrationalism. In our time, this contrast between rationalism and irrationalism has been feit to such a degree that after World War II there were voices such as Popper's, or from a very different point of view, in our day Sloterdijk, who accuse rationalism itself of being au fond irrational. 1 This argument of the basic irrationality of rationalism is the more extreme of several anti-rationalisms. A more moderate anti-rationalism simply accuses rationalism of lacking a sufficient foundation. This more moderate irrationalism takes the position that rationalism, since it is itself insufficiently founded in human experience, cannot provide a sufficient 1
Popper (1945); Sloterdijk (1999).
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basis for culture. However, this moderate anti-rationalism is undecided on the issue of the origin of rationalism, of what the foundation for rationalism might be, whether rationalism derives from culture or from a pre-cultural decision. Heidegger was in our sense a moderate anti-rationalist, but his account of the motivation for rationalism was immoderate: he discerned the origin of rationalism in fear, in the fear of the world that stems from the anxiety for one's own existence. The fear is authentic, mastering the fear through self-repression is not. On the basis of such seemingly anthropological explanations, Heidegger has often been interpreted as a thinker of human autonomy. In what follows, I shall assert that he was much more concerned with the autonomy of philosophy, of what he termed metaphysics. The argument for the autonomy of philosophy has usually been based on the adoption of a rationalist position regarding consciousness, whereas the argument for the autonomy of man, for his freedom, has no such necessary grounding in rationalism. As we shall see, one can maintain the autonomy of man from an irrationalist perspective, but it is quite difficult to assert the autonomy of philosophy from such an irrationalist perspective. In one sense, this notion, the notion that philosophical freedom is primary and prior to philosophical reason, was Heidegger's position. In contrast to Cassirer, for whom freedom was an ideal, a terminus ad quem, viewed under the rubric of arrival, for Heidegger freedom was an origin, a terminus a quo, viewed from its point of departure. Thus Cassirer viewed the ideal through its past, and Heidegger, following Cohen, the origin in its future. One argument at Davos was about the autonomy of philosophy. The debate turned on whether the autonomy of philosophy implies or presupposes man's autonomy, or whether the autonomy of philosophy first makes human autonomy possible. What is the meaning of the allegedly liberating effect that philosophy can have on human beings? In this debate, Cassirer was accused both of rationalism and of denying the autonomy of philosophy. Heidegger could appear as the debate's winner because, in such a debate, he who maintains the autonomy of philosophy has a built-in advantage, given the aprioristic bias of the structure of philosophical argument, just as he who maintains the general superiority of aprioricism to empiricism has the same kind of built-in advantage. Now Heidegger used this structural advantage for what could be considered an anti-philosophical position from a rationalist point of view, but nonetheless, he did use the argument of autonomy, reattributing it to the question of Being. In terms of the structure of the argument, that makes no difference, although it makes all the difference in terms of the content.
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There was a contextual reason why the autonomy of philosophy was such a central issue at the time. In the period from 1880 to 1930, philosophy had spawned many new disciplines, notably psychology and sociology. This question of the autonomy of philosophy was both a question of the self-justification of the philosophical enterprise and the location of philosophy vis-a-vis its daughter disciplines. To what degree should philosophy become a psychology or a sociology? Would the rationalityclaims of philosophy be satisfied by embedding that rationality is psychological or sociological rationality? The issue for the first generation of neo-Kantians had been the relation of philosophy to natural science, and, to a lesser degree, to historical science. That last issue survived as a consequence of Dilthey's impact on philosophers. The issue for a second generationwas philosophy's uncertain relation to social science, and philosophy's take on the unstable relation between social science and cultural science. Enlistment in the anti-psychological front could either predispose one to a socially-interpreted cultural science, or it could stimulate the reformulation of the traditonal claim of philosophical autonomy, Heidegger's position. But the attempt to found a Kulturwissenschaft should also be seen in this disciplinary context: those who tended in the direction of locating philosophy in its relations to culture needed to decide whether a philosophically-inspired Kulturwissenschaft should become an independent discipline or remain within philosophy. In the event, Kulturwissenschaft never developed into an independent discipline, perhaps because the institutional context for such developments changed radically after 1933 (although those disciplines such as psychology which had already set out on their quest for independence found the Nazi context a favourable one).2 The effect of these developments was that rationalism, instead of serving as a basis for an argument for the autonomy of philosophy, was construed as a common attitude linking philosophy to other disciplines, thus linking philosophy to other approaches to the interpretation of human experience, approaches that have their own rationale. This idea that a latent scientific rationalism is correlative to a latent rational structure in the object of investigation was shared by all the new human sciences: their point of departure was that there is no difference in this regard between history and nature. But any rationalism which adduces a common rationality in different regions of being shares this assumption. Any rationalism that takes account of society or history construes rationalism in this manner. But what the new disciplines overlooked is that they did
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Cf. Geuter (1984).
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not sufficiently reflect on the philosophical discipline from which they had emerged and their links to it. That was not Cassirer's problem; he certainly had reflected on the philosophical tradition. He too however viewed the problern of the origin of philosophy as the problern of an origin within culture. One implication of Cassirer's position is that philosophy is linked more to culture than to life. On this issue, Heidegger could not be further away from Cassirer: any genuine questioning of Being must both go beyond culture and must have originated before culture. It is rather culture that derives from taking up a given metaphysical position. For Heidegger, this metaphysical position is linked to universal questions of existence that cannot be approached from the perspective of a given culture. There are two questions here: first, what is the character of the link between rationalism and the autonomy of philosophy? Second, is autonomy cultural or existential - can there be an autonomy of a reflective pursuit which does not presuppose its situatedness in a given culture? Yet if rationalism is a cultural form, how can it be linked to autonomy? Can there be a coherent notion of autonomy that has a positive evaluation of its own cultural embeddedness? Or is not rather the question of the autonomy of philosophy a question that must be posed in such a way that philosophy is emancipated from culture? And if philosophy is emancipated from culture must not then the origin of this potentiality for emancipation precede culture? Cassirer was at a disadvantage despite his position being in a way the more mature one: the implication of his argument was that Heidegger was basically infantile. Since the existence of culture is a given, transcending culture can never mean retrospective transcendence: the Iiberation of the future cannot imply the Iiberation of the past - a utopian yearning that informs many of the more radical irrationalisms. Thus the question of autonomy can only be posed as a question of the cultural conditions for autonomy, of the possibility of autonomy within culture. Hence the paradox that informs Cassirer's work isthat of the cultural origins of universalism. The description and analysis of these cultural origins should neither be isolated, by treating this issue as a purely historical one, from the contemporary pursuit of autonomy and universalism, nor should the inclusion of the historical perspective be applied as a tool for relativizing universalism: the point is to show how man finds hirnself through culture. In nub that is the program of Enlightenment: progress to universality through culture. Since many of the attacks of humanism have claimed that humanism has a false idea of human being, or indeed that humanism is anti-human, it may be a legitimate question whether a humanism must put man in the
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center of its doctrine, strange as that may seem. Or one can refine the question to ask in what sense does a given humanism put man at its center. Many analyses of humanism have compared different humanisms' different ideas of man, but the function of man in a given humanism should also be queried. Maybe humanism requires more an idea of reason than an idea of man, and then only as a second step is reason then applied to or attributed to man. The idea of man as a rational animal can be construed in two different ways. This ambiguity is reflected in the attacks on humanism. In our century there have been two philosophical attacks on humanism: one critique which we are embarrassed to admit is a natural-scientific one, which makes of man a biological organism; and another critique which has a mathematical-logical origin, which advocates the investigation of the conditions of mind without reference to any natural Iimitation on mind such as inhering to a given species. Each of these positions has claimed the anti-humanism of the other position, and also sometimes claimed the anti-humanism of traditional humanism. The candid attack on humanism has issued more often from biologism than from formalism. Indeed, Cassirer thought that formalism and humanism could be reconciled. One great cultural misunderstanding running right through our century has been that the scientific challenge and the mathematical challenge to a cultural humanism are identical. On the contrary. They are ultimately opposed. This destructive misunderstanding was only possible because both formalism and biologism strove to dissolve the precious equilibrium of mind and body that Enlightenment humanism had presupposed. Heidegger managed to take both positions, to use one position in order to justify the other. Beginning with a formalist critique of epistemology on the basis of logic and mathematics in order to show the impossibility of the epistemological position, he used that formalist critique to advance his own biologism. No one else has managed to combine both positions, even in the negative and destructive way undertaken by Heidegger. Cassirer failed to make a convincing argument in favour of humanism: his language is redolent of an out-moded idealism which has no contemporary adherents: few of those who would currently defend Enlightenment humanism are also German Idealists. But Cassirer's question about the conditions for the viability of humanism has not disappeared because he was unable to make the argument. Can there be an Enlightenment humanism that does not put the concept of man at its center? Can there be a metaphysical humanism, something like Kant? The attack of humanism has shown that the link between the philosophical assumptions of humanism and the concept of man is not a necessary one, while the defence has not yet shown under which conceptions of man some-
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thing like an Enlightenment humanism would be optimal. The critique of Enlightenment has had terrible consequences. After World War II there were thinkers who viewed the Enlightenment and its humanism as being responsible for the terror that had swept through their lives. Such an attitude can even be found in Lacoue-Labarthe's and Sloterdijk's notorious formulation that humanism is responsible for Nazism.3 Such a critique is only possible on the basis of the negative evaluation of Enlightenment that itself follows from a biologistically-tinged attack on universalism. The Enlightenment has been attacked for the divorce of its values from the conditions of life, and it has also been attacked for consequently imposing a terror and repression on humans and on their being because of its hostility to life. Such an attack is only possible when the Enlightenment is viewed as adopting a rationalist view of consciousness and of values, a characterisation which cannot apply to either France or England. So then the question shifts to a question of the implications of rationalism, not of humanism, for culture. In turn, that question can be too lightly turned into a question of scientific rather than humanistic rationality. lt is only because of the participatory idea that rationalism means the same in different domains that the rationalism of totalitarianism can then be perceived as a rationalism in the same sense as was meant by reason in the Enlightenment. More importantly, that rationalism, the latent rationalism inherent in things, cannot be the basis for autonomy. This then was Cassirer's dilemma: he required two different concepts of reason, but he could not explain how they were linked. The gap between Heidegger's declaration of the autonomy of philosophy and Cassirer's ideal of the autonomy of man was evident at Davos. Heidegger rejected neo-Kantianism because of its minimalism: He described the origin of neo-Kantianism in the following manner: »Die Genesis ist die Verlegenheit der Philosophie, was ihr eigentlich noch bleibt im Ganzen der Erkenntnis.«4 lt was against this position that he based the autonomy of philosophy on a more primordial aspect of Being than knowledge. Cassirer agreed with Heidegger, in contrast to Cohen, that knowledge is not an end in itself, but he viewed philosophy not in terms of its ground, but rather in terms of its goal, and that goal of philosophy, of knowledge, and of culture, is freedom. Asking »Wie ist Freiheit möglich?«, he replied: »Es handelt sich um den Übergang zum mundus intelligibilis.«S He conceived of freedom as the mechanism of tran3 Lacoue-Labarthe (1987); Lacoue-Labarthe I Nancy (1991), Sloterdijk (1999). 4 Cassirer I Heidegger (1991), 274. s Ibid., 276.
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scending, replacing Iove and intellect in neo-Platonism and salvation in Christianity with freedom. In contrast, for Heidegger freedom was not freedom for, but freedom from, Iiberation (>>Befreiung«).6 Freedom, however, could never mean the Iiberation from finitude. The issue was rather one of Iiberation from culture, of metaphysics as the instrument of the Iiberation from culture, a position with a family resemblance to Plato's, that cultural anarchism and cultural nihilism that has sometimes infected radical conservatisms. But Heidegger, in cantrast to Plato, emphasized the impossibility of Iiberation from the body: »Auch diese Transzendenz bleibt noch innerhalb der Geschöpflichkeit und Endlichkeit.«7 Liberation could not mean Iiberation of the soul. The question of finitude, however, raised another issue, namely the question of the relation of finitude to infinity. lt was a cardinal issue for Cassirer because he believed that freedom is the mechanism for entrance into the domain of the infinite, whereas Heidegger, while conceding the possibility of an infinite understanding, refused to liberate that infinity from the finitude which denumerates and defines it. This issue was so cardinal because autonomy for Cassirer could only be meaningful in relation to an infinite set of possibilities, whereas for Heidegger that autonomy must be an autonomy of the finite in relation to the infinite. Both were in accord that the issue between them was the possible application of the ideas of infinity to human existence. While Cassirer discerned something new in modern ideas of infinity, his notion of the application of infinity to culture and existence derived from the philosophical tradition. In contrast, Heidegger believed that the modern ideas of infinity were outgrowths of Classical ideas of essence and substance, but his notion of the meaning of infinity for human existence was radically different from anything he could have found in the tradition. For Cassirer, the infinite was a form, whereas for Heidegger the infinite was itself limited, pointing to a middle realm between finitude and whatever lay beyond it. Emil Lask had posited an objective world which is torn apart by subjectivity and reconstituted as a quasitranscendent realm of sense or meaning.s Heidegger remapped this scheme as a realm of human existence, a beyond that is nothing, and a middle quasi-transcendent realm of action. At Davos he said: »Dieses Dazwischen ist das Wesen der praktischen Vernunft.kultiviert< genannt werden darf, ist ein Endzustand. »Kultur« ist bei Kant eine säkulareschatologische und in diesem Sinne zwar geschichtsstiftende, selbst aber ungeschichtliche Idee, eine causa finalis.28 Die entsprechenden Gegenthesen Cassirers lassen sich wie folgt reformulieren: - Für Cassirer ist das Subjekt der geschichtsstiftenden Freiheit des Menschen nicht die Gattung, sondern das vernunftbegabte Individuum. Er richtet sich damit gegen eine der Kamischen Philosophie ebenso wie der späteren idealistischen Philosophie inhärente Tendenz zur Entmündigung des Individuums gegenüber den Ansprüchen einer intersubjektiven Vernunft.29 - Die Kautische Subordination des individuellen Handlungssubjekts unter das moral-konstituierende Vernunftwesen wird bei Cassirer exakt umgekehrt: Die Folge ist, dass es zur Ausbildung einer Theorie normativer Handlungsorientierung bei Cassirer nicht kommt. Cassirer setzt vielmehr auf die faktische Moralität einer die Freiheitsspielräume erweiternden kulturellen Komplexität. - Und schließlich tritt an die Stelle der a-historischen Verwendung eines finalistischen Kulturbegriffs, wie er sich bei Kant findet, ein histo26 Zur folgenden Aufzählung vgl. Rudolph (1999). 27 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Zweiter Satz. (AA VIII, 15 f.). 28 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft,§ 83 (AA V, 391 ff.). 29 Vgl. dazu Cassirers Kritik an Hegels Staatsphilosophie, in: Cassirer (1985), 356 f.
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rischer Kulturbegriff: Kultur als »Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen«3o. Cassirers These von der befreienden Botschaft der Kopernikanischen Wende Kants - gegen die Heidegger seine Griechen verteidigt- ist unter Voraussetzung der Entscheidung zu verstehen, dass er die Philosophie der symbolischen Formen als eine praktische Philosophie der Formerzeugung konzipiert.Jl Wenn er an der Kopernikanischen Wende die Errungenschaft feiert, dass nun der Gegenstand sich nach dem Subjekt und nicht länger das Subjekt sich nach dem Gegenstand zu richten hätte32, dann meint er nicht nur den Primat des Apriori vor dem gegebenen Mannigfaltigen - diesen Kantischen Gemeinplatz zu repetieren bedürfte es keiner neuen Philosophie und keiner Disputation -, sondern vor allem den Primat der Bedeutungsschöpfung durch den Prozess der Objektivation vor der Abhängigkeit vom gegebenen Material. Cassirer ist - gemessen an Heidegger - ein unzeitgemäßer Freiheitsidealist. Er projiziert die Kantische Lehre von der Spontaneität des Verstandes im theoretischen Sinne auf die praktische Freiheit, beschreitet damit einen anderen Weg als Kant, der den praktischen Freiheitsbegriff auf die Spontaneität im theoretischen Verstand projiziert. Immer wieder ist es diese Transformation des theoretischen Vernunftkritizismus in einen praktischen Kulturkritizismus, die mit dem rigiden Fatalismus Heideggers unversöhnlich kollidiert. Entsprechend polemisch rekapituliert Heidegger in Davos seine Lehre von der Angst und dem Tod aus Sein und Zeit dogmatisch. Im Rahmen dieser Rekapitulation erweist sich die im Kontext ausdrücklich an Cassirer gerichtete Frage als rhetorisch: ob die Philosophie die Aufgabe habe, freiwerden zu lassen von der Angst, oder ob sie den Menschen radikal der Angst auszuliefern habe. Heidegger hat die Frage für sich längst entschieden: »Die Philosophie hat den Menschen soweit freiwerden zu lassen, soweit er nur frei werden kann.«33 Die Alternative ist evident: Heidegger will den Menschen frei werden lassen >für< die Endlichkeit des Daseins; Cassirer will den Menschen frei werden lassen >von< der Endlichkeit des Daseins. Derart kontrastiert wirkt Heideggers Position prima vista realistischer, diejenige Cassirers altmodisch und utopisch. Heideggers Befreiung ist die einer verständigen Ergebenheit in die Schickung des ultimativen Seins zum Tode. Gerade die Angst fördert diese Ergebenheit, weil sie sensibi30 Cassirer (1990a), 345. 31 Vgl. Cassirer (1988), 11 f. 32 In der Davoser Disputation stellt Cassirer diese Errungenschaft der kopernikanischen Wende ausdrücklich gegen Heideggers Rückgang auf die Griechen, vgl. Cassirer I Heidegger (1991), 295 f.; vgl. auch Cassirer (1957), 278. 33 Cassirer I Heidegger (1991), 287.
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lisiert, und so das Dasein >eigentlich< existieren lässt. Freiheit als Quelle für Handlungen, Werke oder Produkte, die geschaffen werden, ohne ihren Sinn durch den Tod der schöpferischen Akteure zu verlieren, hat in dieser meditativen Askese ebenso wenig Platz, wie der Gedanke einer diese Freiheit symbolisierenden, und d. h. auch historisch tendenziell stabilisierenden Kultur. Insofern Cassirer allerdings allein unter der Bedingung einer zur Kultur gestalteten Geschichte eine Chance für die Erhaltung der Freiheit sieht, könnte wiederum er sich als der konsequentere Realist erweisen, da in dieser Konditionierung ein pessimistischer Vorbehalt liegt, der seinen humanistischen Optimismus von 1933 an zunehmend überlagerte. Die Differenz zwischen Cassirer und Heidegger lässt sich damit auf den schlüssigen Gegensatz bringen, dass Cassirer die Einheit der drei Freiheiten Kants- die theoretische (als reines Vermögen), die praktische (als selbstverpflichteter Wille) und die spielerische (des ästhetischen Selbstgefühls)- in der formschaffenden Freiheit zusammenzufassen versucht, während Heidegger auch den letzten Spielraum menschlicher Freiheit - den der dezisionistisch errungenen »Freiheit zum Tode« unter Schicksalsvorbehalt stellt. Entsprechend heißt es in Davos, dass es die Philosophie sei, »die den Menschen über sich selbst hinaus und in das Ganze des Seienden zurückzuführen hat, um ihm da beiallseiner Freiheit die Nichtigkeit seines Daseins offenbar zu machen [ ... ]«.34 Heidegger hat diese Sätze später in modifizierter Form bekräftigt- sowohl 1933 als auch nach 1945. In der Rektoratsrede beschwört er die »Macht des Anfangs«, des »anfänglichen Fragens«, für die Zukunft.35 Der eschatologische Fundamentalismus von Sein und Zeit und der >destruktive< Urteilsspruch über alle traditionellen Ontologien werden im Ethos der entschlossenen und souveränen Selbstübernahme zusammengehalten. »Selbst«: dies ist der Name für das erste und fundamentale Seiende, das wir je sind. An die Souveränitätsfigur von Sein und Zeit erinnert der Schlussappell der Rektoratsrede nahezu direkt: »Wir wollen uns selbst. Denn die junge und jüngste Kraft des Volkes, die über uns schon hinweggreift, hat darüber bereits entschieden.«36 Es ist auffällig, wie analog dieses »Hinweggreifen« komponiert ist im Vergleich zu jener Bemerkung vom »Anfang«, der in »unsere Zukunft eingefallen« sei, und den Heidegger in dieser Rede energisch beschwört.37 34 A.a.O., 291. 35 Heidegger (1990), 11. 36 A.a.O., 19. 37 A.a.O., 13.
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Solche Sätze bleiben freilich hohl und trivial, solange man sie von ihrem Kontext isoliert. 38 Sie erweisen ihre kulturhistorische Repräsentativität, wenn man sie dem Kontext zuordnet, aus dem sie sich rechtfertigen- eine historiographische Aufgabe, die dazu nötigt, den Kontext als verbindlichen Text zu akzeptieren.
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Vgl. Rudolph (1991), 86 ff.
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- (1998) (Hg.): Die Renaissance als erste Aufklärung. 3 Bde., Tübingen. - (1999): Symbol und Geschichte. Cassirers Kritik der Geschichtsphilosophie, in: H.-D. Kittsteiner (Hg.): Geschichtszeichen. Köln, 137-151.
Oswald Schwemmer (Berlin) Ereignis und Form. Zwei Denkmotive in der Davoser Disputation zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer'r Die Davoser Disputation zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer hat viele Kommentare auf sich gezogen und insbesondere immer wieder zu einer Antwort auf die Frage gereizt, wer denn als »Sieger« aus dieser Disputation hervorgegangen ist. Bekanntlich gab es für die damaligen Teilnehmer eine einhellige und eindeutige Antwort: Das neue Denken Heideggers hat dem althergebrachten und in den Augen der Zuhörer auch veralteten Neukantianismus Cassirers seine Grenzen überdeutlich aufgezeigt. Der gern zitierte Mehlstaub, den der damalige Cassirer-Mime Emmanuel Levinas aus seiner Perücke und aus seinen Hosen rieseln ließ, sollte eindrücklich das Unzeitgemäße der Cassirerschen Philosophie in einem Bild einfangen, das die Bildungs- und Kulturphilosophie eines Neukantianers zu belächeln erlaubte.' Die Versuchung liegt nahe, die Sieger-Frage noch einmal zu stellen und sie- mit den historischen Erfahrungen insbesondere des Nationalsozialismus im Rücken und der Suche nach einer Orientierung im vielfach angesagten »Kampf der Kulturen« vor Augen - radikal anders zu beantworten. Tatsächlich führt der Versuch einer Neubewertung der Davoser Disputation wahrscheinlich schnell dazu, die Frage nach einem Sieger und einem Besiegten aufzugeben und statt dessen nach den gedanklichen Motiven zu forschen, an die wir trotz der polemischen oder apologetischen Einordnungen Heideggers und Cassirers anknüpfen können. Mir scheint, dass wir eine solche Erforschung noch vor uns haben und dass noch längst nicht geklärt ist, welche zukunftsfähigen Motive wir aus den philosophischen Konzeptionen der beiden Kontrahenten herauslösen können. Mit Absicht rede ich vom »Herauslösen« der Motive. Ist es doch die Festigkeit der Kontexte, in die die beiden philosophischen Entwürfe eingeordnet werden oder sich selbst einordnen, welche deren aktive und weiterführende Rezeption in vielfacher Weise erschwert. Bei Heidegger * Der Text stellt die überarbeitete Version eines Beitrages dar, der in der abschließenden Podiumsdiskussion auf den Verlauf der Tagung zu reagieren versuchte. 1 Vgl. dazu den vorläufigen Bericht, den Gründer (1988) von diesem Ereignis in seinem Beitrag Cassirer und Heidegger in Davos 1929 gibt. Die Szene, auf die ich mich beziehe, wird kurz auf S. 300 dargestellt.
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mögen es vor allem der heroische oder auch elitäre Solipsismus und die damit verbundene Diffamierung der Kulturgeschichte als Verfallsgeschichte sein, die den von ihm selbst betonten Kontext liefern, in dessen Rahmen sich sein Denken zugleich als einzigartig und in sich abgeschlossen vorstellt. Bei Cassirer hingegen lädt die Loyalität seiner philosophischen Stilistik dazu ein, ihn überhaupt nicht als einen selbstständigen Denker wahrzunehmen, sondern in ihm lediglich einen Interpreten oder Vertreter des Neukantianismus und damit einen zwar prominenten und gelehrten, im übrigen aber wenig originären Schulphilosophen zu sehen, den man nur unter höchsten Anstrengungen und mit geradezu verfälschenden Umdeutungen für Gegenwartsfragen fruchtbar machen kann. Löst man diese beiden Kontexte, die man in der Tat einer persönlichen Stilistik der philosophischen Selbstdarstellung zurechnen kann, auf und verhält sich in dieser Weise eklektisch, so lassen sich bei beiden Denkern Grundmotive unserer geistigen Traditionen finden, die man - je nach der Perspektive, in der man sie in den Blick nimmt - als einander entgegengesetzt oder einander ergänzend und jedenfalls in einer lebendigen Spannung zueinander verstehen kann. Das Aufbrechen der Kontexte ist für Heidegger längst versucht worden. Für Cassirer steht es noch weitgehend aus. Für Heidegger scheint mir die Ablösung von seinen Kontexten besonders gelungen, die in den das »Ereignis« umkreisenden Versuchen und Entwürfen von Jean-Fran~ois Lyotard, aber auch in den gleichsam nachbarschaftliehen Werken von Emmanuel Levinas und Jacques Derrida unternommen worden ist. Ernst Cassirer hingegen muss man vor allem aus seiner neukantianischen Stilistik und, wie mir scheint, Missinterpretation herauslösen, um die Motive verdeutlichen zu können, die eine Wiederaufnahme der Davoser Disputation im Sinne ihrer Weiterführung lohnend machen. Beginnen wir bei Heidegger. In der Gegenüberstellung zu Cassirer lassen sich zwei ambivalente Motive namhaft machen. Das erste, das Heidegger selbst unter dem eher akademischen Titel der Endlichkeit präsentiert, ist das Verbleiben im Ereignis. Mit diesem Denkmotiv fügt sich Heidegger übrigens in eine Tradition ein, die dem 20. Jahrhundert vor allem durch Henri Bergson2 lebendig erhalten und in einer provokativen Radikalität mitgegeben worden ist.
2 Dass Heidegger Bergson durchaus zur Kenntnis genommen hat, zeigen seine Hinweise z. B. in Heidegger (1993), 18,26 und 432 f. (Anm.). Heidegger nutzt diese kurzen Hinweise allerdings nur, um sich vom Zeitverständnis Bergsons abzusetzen. Welche Rolle Henri Bergson in der Philosophie des 20. Jahrhunderts tatsächlich spielt, wird in künftigen Untersuchungen noch herauszufinden sein. Vgl. jetzt dazu die bahnbrechende Arbeit von Mirjana Vrhunc (2002). Für Ernst
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Heideggers Aufnahme dieses Motivs ist nicht weniger radikal. Sie ist in gewissem Sinne sogar eine Steigerung der Bergsansehen Kritik an der Verräumlichung, die mit einer jeglichen Verbegrifflichung3 von Bewusstseins-, Handlungs- und Lebensereignissen verbunden sei. Heideggers Kritik lässt sich reformulieren als eine umfassende Kritik am Übergang vom Ereignis zur Form. Denn wenn ich, auf welche Weise auch immer, die Darstellung eines Ereignisses versuche, bewege ich mich aus dem Ereignis selbst hinaus und schaffe statt dessen eine neue Realität, eine neue Art von Wirklichkeit, die in sich anders strukturiert ist als die Ereignis-Wirklichkeit. Diese neue Wirklichkeit der Darstellung besitzt vor allem nicht den Ereignischarakter, den Charakter des Auftretens und Verschwindens, des Übergehensund sich in sich selbst Veränderns- also den besonderen Charakter, der in der Philosophie Heideggers unter dem Titel der Zeitlichkeit thematisiert worden ist. Die Darstellung ist als solche ein Selbes, auf das ich mich immer wieder beziehen kann. Und von dieser ihrer eigenen Identität aus versucht sie, im Bezug auf das durch sie dargestellte Ereignis auch diesem Ereignis eine Identität zuzuweisen. Die so entstehenden Identitätszuweisungen bilden ein Netz von Verweisungen, in dem sich die Welt für uns ordnet, in dem sie überschaubar wird, in dem wir unser Handeln planen und unserem Leiden seinen Ort geben können. Wir geben dadurch der Welt ihre Form und formen zugleich damit uns selbst zu den Wesen, die eine Identität- eine kollektive und individuelle Identität- ausbilden und einander zusprechen. Die neue Wirklichkeit der Darstellungen können wir so auch als die Wirklichkeit der Form charakterisieren. Die Form ist das, was über die Ereignisse und ihre innere Zeitlichkeit hinausreicht, die als das immer wieder Identifizierbare eine bleibende Identität gewinnt und in diesem Sinne die Endlichkeit unserer in den Ereignissen unseres Lebens im wörtlichen Sinne ablaufenden Existenz überwindet. Heidegger besteht darauf, dass wir diesen Schritt vom Ereignis zur Form ins Auge fassen und dabei sehen, wie wir uns aus der Wirklichkeit unserer zeitlichen Existenz hinausstehlen. Wir haben uns dann zurückzuwenden auf das Geschehen unserer Existenz, auf unser Dasein als »das Cassirer ist Henri Bergsou übrigens einer der zentralen Autoren, mit denen er sich auseinandersetzt. So ist im sogenannten »vierten Band« der Philosophie der symbolischen Formen Bergsou der Autor, der mit 52 mal am meisten erwähnt wird. Allerdings geht es dabei zumeist um eine Kritik des Bergsousehen Verständnisses der Intuition. 3 Auch wenn Bergson an manchen Stellen pauschal von Versprachlichung und sogar von Symbolisierung überhaupt spricht, zeigen doch seine Hinweise auf die Kunst und nicht zuletzt auch seine eigenen philosophischen Darstellungen, daß er de facto an bestimmte Formen der begrifflichen Verallgemeinerung, die mit einer Homogenisierung des begrifflich Dargestellten verbunden sind, denkt.
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eigentliche Grundgeschehen, in dem das Existieren des Menschen und damit alle Problematik der Existenz selbst wesentlich wird«. 4 Erst dann können wir die Aufgabe der Philosophie erfüllen, nämlich »aus dem faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes« - also die Begriffe, die Bilder oder sonstige Formen der Darstellungen - »benutzt, gewissermaßen den Menschen zurückzuwerfen in die Härte seines Schicksals.«s Die Radikalität, mit der Heidegger hier das Reich der Formen als den »faulen Aspekt eines Menschen« diffamiert, zeigt auf der einen Seite eine Hellsichtigkeit für die Differenz aller Formen zur Wirklichkeit der Ereignisse und für die Beruhigung, die durch dieses Reich der Formen der unruhigen Seele des Menschen zuteil wird - eine Beruhigung, die die Kultur oder eben »die Werke des Geistes« als eine kollektive Gedankenlosigkeit, als Symptome des bloßen »Man«, sehen lässt. Auf der anderen Seite aber wird damit Kulturkritik zu einem Pauschalunternehmen, das keinerlei Differenzierungen mehr in Bezug auf gelungene oder misslungene, angemessene oder unangemessene Formen benötigt. Es ist dies eine Kritik an der Kultur schon als solcher, die bloße Behauptung der Differenz ohne Differenzierungen. Eine solche Kritik lässt sich jederzeit und überall und damit gegen jedermann richten, der sich überhaupt um einen Aufbau von Wissen und Verstehen, eine Ausbildung des Könnens, eine Abwägung des Urteilens bemüht. Seine philosophische Schärfe gewinnt dieser kritische Gestus alleine durch den ausdrücklichen Selbstbezug auf seine Radikalität. Denn mit ihm lässt sich jederzeit sagen, all die anderen Bemühungen der anderen seien nicht radikal genug. Nicht zuletzt die rhetorische Wucht, die solch radikalen Anwürfen zu eigen ist, mag viele Leser Heideggers mitgerissen und überzeugt haben - eben auch in Davos. Es ist dies eine Rhetorik des »nur dies und nichts anderes«. Nichts anderes kann gelten, weil es nicht radikal genug gedacht ist. Radikal ist eben nur dies, was Heidegger mit dem Anspruch seiner Radikalität vorträgt. Man kann Heideggers Kritik allerdings aus dieser mangelnden Bestimmtheit, in der sie zum reinen Gestus zu verkommen droht, hinausführen und ihr z. B. jene Bestimmtheit verleihen, die Lyotard ihr zukommen lässt. Macht Lyotard doch darauf aufmerksam, dass es sehr wohl einen allgemeinen Charakterzug gibt, den das Formdenken schon als solches aufweist. Es ist dies der Zug zu einer sich selbst abschließenden Totalität, zum Systemdenken. Dieses Denken beruft sich auf seine innere Folgerichtigkeit und auf die Vollständigkeit seiner Folgerungs4
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Cassirer I Heidegger (1991), 289. A.a.O., 291.
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möglichkeiten. Für ein solches Denken ist etwas wahr oder überzeugend schon dann, wenn es sich innerhalb der Folgerungsmöglichkeiten des Systems zwingend ergibt - also, wie die traditionelle Formulierung lauten könnte, aus begrifflichen oder logischen Gründen wahr ist. Ein solches, wie Cassirer sagen würde, »metaphysisches«6 System erzeugt seine Begründungen intern und besteht zugleich darauf, dass die Momente, die ihm extern bleiben, keine Wahrheit beanspruchen können. Dieser behaupteten und praktizierten Ausschließlichkeit wegen nennt Lyotard ein solches System eine Totalität. Und weil diese Totalität sich durch ihr Begründungsdenken definiert, spricht er von einer logischen Totalität und ihren Legitimationen. Dem Formdenken wird diese Totalitarisierung angelastet, weil mit dem Übergang vom Ereignis zur Form in der sprachlichen oder überhaupt symbolischen Darstellung des Ereignisses allseitige Verknüpfungen und Verknüpfungsformen ausgebildet werden, die jedes dargestellte Ereignis von vornherein in einen bestimmten Verknüpfungs- oder, wie Lyotard sagt, Verkettungszusammenhang zwingen. Ein solcher Verkettungszusammenhang fesselt den Blick dadurch, dass er alles als etwas im System, in seiner Totalität, zeigt. Der in die Totalität der Verkettungszusammenhänge hineingezwungene Blick sieht aber nicht mehr nach außen. Wahrheit wird eine innere Angelegenheit, in die man niemand sich einmischen lässt. Wahrheit wird zum Eigentum desjenigen, der das System beherrscht. Dies ist die auf den Nationalsozialismus hin artikulierte Fortführung einer Kritik des Formdenkens, das sich auf Heidegger berufen kann, wenn man Heideggers Totalitätsanspruch aufbricht. Ein zweites Motiv, das aus dem Heideggerschen Kontext herauszulösen sich lohnt, wird von Heidegger mit der Kautischen Rede von der »exhibitio originaria« in Verbindung gebracht. Diese »exhibitio«, die Kant im Zusammenhang mit der »Einbildungskraft des Schematismus« erwähnt, wird von Heidegger in ihrer Bedeutung ausgeweitet als die »Üri6 Vgl. dazu die Bemerkung Cassirers über die Philosophie, die sich angesichts der Erwartung, als »höchste Einheitsinstanz« unseres Wissens wie überhaupt unserer geistigen Orientierungen aufzutreten, zu einer »dogmatischen Metaphysik« entwickelt: »Aber die dogmatischen Systeme der Metaphysik befriedigen diese Erwartung und Forderung nur unvollkommen. Denn sie selbst stehen zumeist noch mitten in dem Kampfe [... ], sie vertreten trotz aller begrifflichen Universalität, nach der sie streben, nur eine Seite des Gegensatzes, statt diesen selbst in seiner ganzen Weite und Tiefe zu begreifen und zu vermitteln. Denn sie selbst sind zumeist nichts anderes als metaphysische Hypothesen eines bestimmten logischen oder ästhetischen oder religiösen Prinzips. Je mehr sie sich in die abstrakte Allgemeinheit dieses Prinzips einschließen, um so mehr schließen sie sich damit gegen einzelne Seiten der geistigen Kultur und gegen die konkrete Totalität ihrer Formen ab.« (Ernst Cassirer (1988), 14.)
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ginalität [ ... ] des freien Sichgebens, worin eine Angewiesenheit auf ein Hinnehmen liegt«. Es ist dieses Sichgeben und Hinnehmen, das Heidegger betont. Darin zeigt sich für ihn die Endlichkeit des Menschen: »Der Mensch ist nie unendlich und absolut im Schaffen des Seienden selbst, sondern er ist unendlich im Sinne des Verstehens des Seins.«7 Und dieses Verstehen des Seins ist im Sinne eines Sichgebens und Hinnehmens zu lesen. Mit diesem Aspekt des Endlichkeitsmotivs stellt sich Heidegger gegen die philosophische Tradition, in der die Welt- und Selbsterzeugung bzw. die Welt- und Selbstsetzung das, was den Menschen als geistiges Wesen ausmacht, zuinnerst bestimmt. Hier ist nicht nur an Fichte zu denken. Die neuzeitliche Philosophie, soweit sie die menschliche Existenzform zu begreifen versucht, lässt sich insgesamt- vom cogitans sum Descartes' angefangen über die idealistische Subjektphilosophie bis hin zur Philosophie der »freien Persönlichkeit« bei Ernst Cassirer - als eine Philosophie verstehen, in der die Selbstgestaltung, die Selbstsetzung sowohl die besondere Möglichkeit dieser Existenzform charakterisiert als auch deren Aufgabe und Ziel vorgibt. Cassirer bringt es auf die Formel: »Sie [die freie Persönlichkeit] ist nur dadurch Form, daß sie sich selbst ihre Form gibt.«B Und selbst da, wo- wie in der Substanzphilosophie- nicht die menschliche Existenzform, sondern der Seinscharakter aller Dinge das Thema der philosophischen Frage vorgibt, ist der Gedanke der Selbstsetzung als ein Grundmotiv unserer philosophischen Tradition zu finden. Der bis auf die Stoa zurückgehende Lehrsatz Spinozas, nach der die »wirkliche Wesenheit des Dinges selbst« (ispsius rei actualis essentia) in dem »conatus« besteht, »quo unaquaeque res in suo esse perseverari conatur«9, bringt dieses Motiv in eine einprägsame Formel. Heideggers Punkt lässt sich- in einer ebenfalls formelhaften Weisedurch die Unterscheidung zum Ausdruck bringen, dass wir unserem eigentlichen Seinkönnen nicht dadurch gerecht werden, dass wir uns, in welcher Form auch immer, selbst setzen, sondern nur dadurch, dass wir uns dem Anderen unserer selbst aussetzen. Dabei ist allerdings auch zu sehen, dass dieses Andere im Kontext der Heideggerschen Philosophie nicht der Andere ist, sondern das Andere. Heidegger entwirft nicht eine auf den anderen Menschen bezogene Philosophie, keine Philosophie der Selbstwerdung angesichts des anderen Menschen, dessen Anspruch mir
Cassirer I Heidegger (1991), 280. Cassirer: Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie (1939), in: Cassirer (1993), 231-261, 249. 9 Spinoza: Ethik, Teil III, Prop. 7; Opera, hg. von C. Gebhardt, Bd. II, Heidelberg 1925. 7 8
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schon, wie dies vor allem Emmanuel Levinas hervorhebt,10 in seiner Existenz und seinem Antlitz entgegentritt. Er selbst belässt das Andere, dem ich mich auszusetzen habe, in der Unbestimmtheit des Ereignisses, insofern dieses mich überhaupt aus der Alltäglichkeit des In-der-Welt-Seins heraushebt. Auch hier wäre der Heideggersche Kontext wieder aufzulösen und für eine Philosophie der menschlichen Andersheit, der konkreten Begegnung mit dem anderen Menschen - und zwar durchaus in der Alltäglichkeit unserer Lebenszusammenhänge - zu öffnen. Das grundlegende Motiv Heideggers, dass nämlich eine Selbstwerdung nicht als Selbstsetzung, sondern als ein sich selbst der Andersheit des Anderen Aussetzen zu begreifen und alleine zu erreichen ist, bleibt gleichwohl ein zentraler Punkt gegenüber Cassirer. Denn tatsächlich kann man Cassirers Philosophie insgesamt als eine Philosophie der Form und der Formung- der Formwerdung, der Formgebung und der Selbstformung- charakterisieren.ll Cassirer selbst gibt denn auch auf die Frage Heideggers in Davos, welchen Weg der Mensch zur Unendlichkeit habe und wie die Art sei, wie der Mensch an der Unendlichkeit teilhaben kann, eine entschiedene Antwort: »Nicht anders als durch das Medium der Form. Das ist die Funktion der Form, daß der Mensch, indem er sein Dasein in Form verwandelt, d.h. indem er alles, was Erlebnis in ihm ist, nun umsetzen muß in irgend eine objektive Gestalt, in der er sich so objektiviert, daß er damit radikal von der Endlichkeit des Ausgangspunktes zwar nicht frei wird (denn dieses ist ja noch bezogen auf seine eigene Endlichkeit), aber indem es aus der Endlichkeit erwächst, führt es die Endlichkeit in etwas Neues. Und das ist die immanente Unendlichkeit. Der Mensch kann nicht den Sprung machen von seiner eigenen Endlichkeit in eine realistische Unendlichkeit. Er kann aber und muß die Metabasis haben, die ihn von der Unmittelbarkeit seiner Existenz hineinführt in die Region der reinen Form. Und seine Unendlichkeit besitzt er lediglich in dieser Form.«12 Aber auch hier sind Kontexte aufzulösen- allerdings eher Kontexte, in die Cassirer hineingerückt wird und die er selbst in seinem Denken nicht - oder eben nur durch seine sprachliche Assimilation an sie - entwickelt hat. Hier denke ich, wie gesagt, vor allem an den Kontext des Neukantianismus, der die Rezeption der Cassirerschen Philosophie als einer eigenständigen Konzeption bisher wohl am stärksten behindert hat. Trotz seiner sprachlichen Nähe zu Formulierungen und Formeln der Kantischen 10 Vgl. dazu auch Paul Ricceur (1996). Eine intensive Auseinandersetzung mit Emmanuel Levinas findet sich dort 403-409. 11 Diese Charakterisierung habe ich zum Leitmotiv meines Cassirer-Buches gewählt, vgl. Schwemmer (1997). 12 Cassirer I Heidegger (1991), 286.
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und Neukantianischen Philosophie sollte man Cassirer weder als Neukantianer noch als Kantianer lesen. Eine aufmerksame Lektüre der Cassirerschen Philosophie hat sich deren eigene Kontexte zu erschließen und insbesondere die Bedeutungsverschiebungen wahrzunehmen, die sich darin ergeben. Ich nenne nur vier Punkte. Für Cassirer ist es nicht ein universell identisches, ein überall und jederzeit in jedem Erkenntnisprozess identisches, transzendentales Subjekt, das unsere Erkenntnis konstituiert und deren Objektivität garantiert. Unsere Erkenntnis entwickelt sich für ihn vielmehr in den historischen Bemühungen der Individuen, die ihrerseits in ihren symbolischen Welten leben und denken. Die Universalität von Erkenntnis ist dabei durchaus ein Ziel - aber eines, das zu erreichen nicht garantiert ist und das sich im übrigen nur der individuellen Anstrengung, nämlich der Arbeit an der Sache und der Auseinandersetzung mit den anderen Erkenntnissen anderer, verdanken kann. Universalität als Ziel, Individualität als Weg - dies wäre eine Formel, die Cassirers Sicht prägnant fassen könnte. Cassirer selbst sagt: »Das Allgemeine, das sich uns im Bereich der Kultur, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion, in der Philosophie enthüllt, ist daher stets zugleich individuell und universell. Denn in dieser Sphäre läßt sich das Universelle nicht anders als in der Tat der Individuen anschauen, weil es nur in ihr seine Aktualisierung, seine eigentliche Verwirklichung finden kann.«t3 Ein zweiter Punkt betrifft eine benachbarte Frage, nämlich die nach der Einheit der Vernunft. Tatsächlich bieten die entsprechenden Äußerungen Cassirers ein verwirrendes Bild: Auf der einen Seite betont Cassirer unmissverständlich, dass jede geistige Grundfunktion »eine selbständige Energie des Geistes in sich [schließt], durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte >BedeutungWirklichenModalität< der geistigen Auffassung und der geistigen Formung dar.« Jede dieser »Modalitäten« erweist sich »als ein eigentümliches Organ des Weltver13 14
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Auf der anderen Seite hat Cassirer aber ebenso deutlich »auf ein allgemeines Problem hingewiesen: auf die Aufgabe nämlich einer allgemeinen Systematik der symbolischen Formen.SichtigkeitGestalten< herausheben.[ ... ] Alle diese Gebilde erscheinen gleichsam noch dem lebendigen, sich ständig erneuernden Prozeß des Bewußtseins unmittelbar angehörig: und doch herrscht in ihnen zugleich das geistige Bestreben, in diesem Prozeß bestimmte Halt- und Ruhepunkte zu gewinnen. So bewahrt in ihnen das Bewußtsein den Charakter des stetigen Fließens; - aber es verfließt dennoch nicht ins Unbestimmte, sondern gliedert sich selbst um feste Form- und Bedeutungsmittelpunkte.« 28 Cassirer (1987), 43. 29 Cassirer (1988), 22. 30 Vgl. dazu den Essay Georg Simmels: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. (1911), in: Simmel (1996), 385-416. Cassirer äußert sich zu diesem Aufsatz Simmels in: Cassirer (1980), 103-127. 31 Cassirer (1990), 46.
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Formulierung: »Als der Grundzug alles menschlichen Daseins erscheint es, daß der Mensch in der Fülle der äußeren Eindrücke nicht einfach aufgeht, sondern daß er diese Fülle bändigt, indem er ihr eine bestimmte Form aufprägt, die letzten Endes aus ihm selbst, aus dem denkenden, fühlenden, wollenden Subjekt herstammt.«32 Diese Formbildung nimmt eine, wie Cassirer sagt, »Richtung auf das Unendliche«33, kommt nie zu einem Ende und hält uns damit in einer geistigen Lebensbewegung, die nie abgeschlossen wird und sich nie gegenüber dem Neuen abschließt. Es ist diese Unendlichkeit, die Cassirer in seiner Berufung auf die »immanente Unendlichkeit« des Menschen34 Heidegger entgegenhält und deren Bewegung durch Heideggers Philosophie für Cassirer abgebrochen wird. Dabei ist diese Unendlichkeit für Cassirer nicht im Sinne einer immer weiter fortgeführten Selbstermächtigung oder Selbststeigerung (in welcher Form auch immer) zu verstehen: Vielmehr schließt »diese Richtung auf das Unendliche[ ... ] zugleich eine strenge Selbstbegrenzung in sich. Denn alle Form verlangt ein bestimmtes Maß und ist in ihrer reinen Erscheinung an dasselbe gebunden. Das Leben kann rein aus sich heraus, als bloßes frei dahinströmendes Leben, keine Form erzeugen; es muß sich zusammenfassen und sich gewissermaßen in einen bestimmten Punkt zusammennehmen, um der Form teilhaftig zu werden.«35 Was Cassirer hier einigermaßen abstrakt und formelhaft zum Ausdruck bringt, führt uns zu dem in meinen Augen tiefsten Motiv seines Denkens überhaupt und damit auch zu der entscheidenden Differenz zu Heidegger. Die Selbstbegrenzung, von der Cassirer redet, ist auf der einen Seite ein inneres Moment der Selbstgestaltung und gehört in diesem Sinne zum Begriffsfeld der Selbstsetzung, gegen das Heidegger auf das freie Sichgeben und Hinnehmen als den Weg zum eigentlichen Seinkönnen hinweist. Auf der anderen Seite gründet die Selbstbegrenzung im Verhältnis der Personen zueinander und in den wechselseitigen Ansprüchen, die in und mit diesem Verhältnis entstehen. Diese zweite Seite ist es, auf die es hier ankommt. Cassirer bezeichnet es in der Davoser Disputation selbst als seinen entscheidenden Punkt - und übrigens als das gemeinsame Zentrum in den gegensätzlichen Positionen von Martin Heidegger und ihm selbst -, dass in der »Welt des objektiven Geistes«, also der Welt der Formen, die der Mensch geschaffen hat und in der er sein geistiges Leben führt, eine 32 Cassirer (1993), 247. 33 A.a.O., 248. 34 Cassirer I Heidegger (1991), 286. 35 Ebd.
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»Brücke von Individuum zu Individuum geschlagen ist. [... ]Vom Dasein aus spinnt sich der Faden, der durch das Medium eines solchen objektiven Geistes uns wieder mit anderem Dasein verknüpft. Und ich meine, es gibt keinen anderen Weg von Dasein zu Dasein als durch diese Welt der Formen.«36 Im Rahmen der Disputation spricht Cassirer von diesem Weg lediglich als dem Weg des Sichverstehens. In seinem philosophischen Gesamtkonzept aber37 ist das Sichverstehen eingebunden in den grundlegenderen Zusammenhang, nämlich in den Zusammenhang des Verhältnisses, in dem wir als Personen zueinander stehen und in dem wir einander begegnen. Auch dieses Personenverhältnis wird über das Reich der Formen vermittelt. Indem wir etwas zum Ausdruck bringen, präsentieren wir uns in diesem Ausdruck den anderen gegenüber. Das, was wir als Personen anderen gegenüber sind, ist das, was wir ihnen gegenüber zum Ausdruck gebracht haben. Allgemein formuliert Cassirer es als »Grundregel, die alle Entwicklung des Geistes beherrscht: daß der Geist erst in seiner Äußerung zu seiner wahrhaften und vollkommenen Innerlichkeit gelangt. Die Form, die sich das Innere gibt, bestimmt auch rückwirkend sein Wesen und seinen Gehalt.«38 Die Beziehung auf andere, die in dieser Grundregel nicht thematisiert wird, bringt eine zusätzliche Dimension ins Spiel. Es ist dies die Dimension des Versprechens, in der sich Moral und Recht entwickeln. Weil die Formen, in denen wir uns präsentieren, unser Sein für andere sind, sind sie auch das, woran andere sich alleine halten können, wenn sie sich auf uns beziehen. Mit unseren Präsentationsformen stellen wir uns auf der einen Seite den anderen vor, geben wir uns auf der anderen Seite ihnen aber auch preis. Was wir einmal gesagt oder getan haben, bleibt ein Teil unseres Seins für andere, auch wenn es vergeben oder vergessen werden sollte. Mit unseren Präsentationsformen sagen wir, wer wir sind. In diesem Sinne sind diese Präsentationsformen ein Versprechen, dass wir das sind, was wir zum Ausdruck gebracht haben, und dass wir daher auch als 36 A.a.O., 292 f. 37 Die drei Bände seiner Philosophie der symbolischen Formen {1923, 1925, 1929) sind zum Zeitpunkt der Disputation geschrieben und erschienen, dazu auch Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance {1928). Teile seiner Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie sind ebenfalls geschrieben oder konzipiert, wenn auch noch nicht veröffentlicht. Vgl. hier vor allem die unter dem Titel Zur Metaphysik der symbolischen Formen 1928 geschriebenen Texte »Geist« und »Leben« und Das Symbolproblem als Grundlage der philosophischen Anthropologie (in: Cassirer {1995), 3-1 09) und den Aufsatz »Geist« und »Leben« in der Philosophie der Gegenwart {1930); jetzt in: Cassirer {1993a) 3260.
38 Cassirer {1987), 235.
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diejenigen, als die wir uns zum Ausdruck gebracht haben, in Anspruch genommen werden können.39 Mit diesem Wechselverhältnis von Versprechen und Anspruch ist eine Beziehung zwischen Personen gegeben, die letztlich in unserem Personsein als solchem gründet. Denn nur, weil wir Personen sind und nicht Dinge, können wir etwas versprechen und können wir aneinander Ansprüche stellen. Cassirer zitiert hier Nietzsche: »Nietzsche [ ... ] hat einmal gesagt, die rechte Erklärung des Menschen sei die, daß der Mensch ein Tier sei, das versprechen kann.«40 Schon in unserem Personsein als solchem gegründet, gehört diese Beziehung zur Form unserer personalen Existenz, ist sie ein Formverhältnis zwischen Personen. Damit ist nicht gemeint, dass dieses Verhältnis immer und überall, wo Menschen aufeinander treffen, verwirklicht ist. Gemeint ist vielmehr, dass wir dieses Verhältnis verwirklichen müssen, wenn wir unser Menschsein als ein Personsein verstehen und leben wollen. Die Erkenntnis dieses Zusammenhangs begründet für Cassirer sowohl unsere moralischen Einsichten als auch unsere rechtlichen Normen. Diese Erkenntnis können wir gewinnen, wenn wir sehen, dass die Formen, die wir unserem Leben geben, die Ausdrucks- oder Präsentationsformen von Personen gegenüber Personen sind und dass wir unser Personsein nur- bis zur Ausbildung einer >>freien Persönlichkeit« - entwickeln können, wenn und insofern wir unserem Leben eine Form geben. So sieht Cassirer denn auch als den höchsten Imperativ im Reiche der Moral den »Imperativ der reinen Form«41. Fügt man Cassirers Rede von der Selbstbegrenzung in dieses Formverständnis ein, das letztlich in den Formverhältnissen zwischen Personen gründet, dann löst sie ihre einseitige Zuordnung zur Haltung des sich selbst Setzens gegenüber der Haltung des sich selbst Aussetzens. Die Selbstbegrenzung wie die Selbstgestaltung überhaupt sind beides, Formen der Selbstpreisgabe und damit des sich Aussetzens und Formen des Selbstgewinns und auch der Selbsthabe, die in der Dichotomie von Setzen und Aussetzen der Seite der Setzung zugeteilt werden. Es zeigt sich hier aber, dass zumindest für Cassirer diese Dichotomie die Einseitigkeit 39 Vgl. dazu die ausführlichere Darstellung in Schwemmer (1997), 153 ff. 40 Cassirer (1932), 22. Cassirer spielt hier auf Nietzsches Schrift Zur Genealogie der Moral an. Dort heißt es am Anfang der zweiten Abhandlung »>SchuldSchlechtes Gewissen< und Verwandtes«: »Ein Tier heranzuzüchten, das versprechen darf - ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat? ist es nicht das eigentliche Problem vom Menschen?« (Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hg. von Kar! Schlechta. Zweiter Band. München 71973, 799). 41 Cassirer (1995), 192.
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bedeutet, die zu überwinden ist. Die Selbstgestaltung, die in den Formverhältnissen zwischen Personen geleistet und gelebt wird, kann als (versprechende) Setzung seiner selbst nur im sich Aussetzen gegenüber den (Ansprüchen der) anderen gelingen, und das sich Aussetzen kann nur dort zu einer Begegnung zwischen Personen werden, wo die Setzungen in der Präsentation dieser Personen vollzogen sind. Schließlich wird damit auch ein Weg sichtbar, Ereignis und Form zusammen zu denken. Ist doch für Cassirer gerade die Formung - die Formung des eigenen Handelns, des eigenen Ausdrucks, der eigenen Werke und des eigenen Lebens- das Ereignis, in dem alleine die Formverhältnisse zwischen Personen ihre Wirklichkeit gewinnen - und zwar ein Ereignis in einem Sinne, in dem auch Jean-Fran~ois Lyotard und mehr noch Emmanuel Levinas von ihm reden könnten. Dass diese Zusammenführung Heideggerscher und Cassirerscher Motive keine glättende Einebnung radikaler Positionen und in diesem Sinne ein fauler Kompromiss ist, zeigt der nochmalige Blick auf die Formverhältnisse zwischen Personen, auf das Verhältnis von Versprechen und Ansprüchen und auf die Arbeit und Anstrengung, die die Formleistungen erfordern, über die alleine diese Versprechen und Ansprüche entstehen können. Die Formverhältnisse zwischen Personen sind der Ausdruck einer Strenge, die sich das Gesagte und Getane nicht ausreden, sich daran messen und in Anspruch nehmen lässt, daran aber auch selbst misst und in Anspruch nimmt. Diese Strenge ist im übrigen nicht mit einer Starrheit zu verwechseln, mit der man ein für allemal in seinen Ansprüchen an dem einmal Gesagten und Getanen festhält. Sie lässt sich als ein Prinzip verstehen in dem Sinne, dass der mit dem Personsein verbundene Charakter des Versprechens und der darauf bezogenen Ansprüche - die man unter den traditionellen Begriffen der Würde auf der einen und der Achtung auf der anderen Seite fassen könnte - niemals übergangen werden darf. Diese Strenge ist durchaus verträglich mit der Anerkennung, ja mit der Erwartung, dass jeder Mensch immer neue Möglichkeiten hat, sich zu verändern. Denn auch dies bedeutet ja Personsein, dass mit diesem Sein ein Seinkönnen gemeint ist, welches sich in der Freiheit der eigenen Lebensführung entfaltet. So ist denn auch innerhalb dieser Strenge sehr wohl eine Vergebung nicht nur möglich, sondern sie findet in ihr sogar erst ihren Sinn als Ausdruck der Anerkennung des Personseins der Menschen, die als Personen fehlen und bereuen, sich gleich bleiben und sich verändern können. Cassirer selbst liefert in seinem Text Über Basisphänomene, der in diesem Zusammenhang der entscheidende der bislang veröffentlichten Texte ist, einen Hinweis für ein Verständnis der Formverhältnisse zwischen Personen in diesem offenen Sinne, der auch die Vergebung und über-
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hauptdie Veränderung in der Schätzung einer Person und in dem Verhalten ihr gegenüber mit einschließt. So sieht Cassirer die Existenz des Menschen in drei »Stufen« zu einem geistigen Leben herausgefordert - Heidegger würde hier von einem Gerufensein reden können -, das erst dann, wenn es alle Stufen durchschritten hat, seine Ganzheit finden kann. Die erste Stufe ist mit dem Urphänomen des Ich benannt als dem auf sich selbst gewendeten Bewusstsein, wie es in der Bewusstseinsphilosophie von Descartes bis Fichte thematisiert worden ist. Die zweite Stufe wird mit der Wendung »nach aussen, gegen andere« erreicht: »Dem Urphaenomen des Ich tritt das Urphaenomen der Liebe zur Seite [... ]: das erkennt andere Wesen >neben< sich, >ausser< sich [... ] an und setzt sich zu ihnen in ein tätiges Verhältnis [ ... ] In diesem Bezug auf andere gewinnt der Mensch die erste Klarheit über sich selbst«.42 Auf der dritten Stufe schließlich findet die Objektivierung des Lebens im Werk statt: »Wie werden wir andern kenntlich? Nicht durch uns selbst, nicht durch das, was wir leben oder sind, sondern nur durch [... ] das >WerkVon hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus< - in diesem Fall der Philosophiegeschichte- >und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesenIndividuum quand memeGelehrten-Bougeoisradikal< proklamierten Denken reichen die Wurzeln des 18. Jahrhunderts nicht tief genug. Aber vor dem 18. Jahrhundert liegt kein jüdisches Abendland, liegt vielmehr das Mittelalter des Gettos. Ein Rückgang auf die Griechen, wo er von Juden ver13 Bollnow (1977), 28; der (im Kontext der Davoser Disputation wie es scheint unvermeidliche) Rekurs auf Goethe passt in diesem Fall, der Kanonade von Valmy, denkbar schlecht zu einer Veranstaltung, die der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland dienen sollte (vgl. Gründer (1988), 291 f.). 14 Rosenzweig (1984), 237.- Rosenzweig nimmt Cassirer explizit von der Kritik an der »Schule« aus. 15 Blumenberg (2000), 78. 16 Habermas (1981), 52.
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sucht wurde, hat so immer etwas Kraftloses behalten - Kraft barg allein die Tiefe der eigenen Tradition, die Kabbala.«17 Kabbala oder Assimilation: Sollte das die Alternative gewesen sein? Vor dem 18. Jahrhundert mag kein »jüdisches Abendland« liegen, aber vor dem 18. Jahrhundert liegt die Renaissance und mit der Renaissance beginnt für Cassirer »die Moderne, ( ... ] als Erneuerung und Transformation des Platonismus«18, Sicher: Davos hatte eine eminent politische Dimension, eine politische Dimension jedoch, die sich nicht in Schablonen wie Goethe-Kultur und Anti-Humanismus auflösen lässt - ganz abgesehen davon, dass solche Schablonen die Anfeindungen verharmlosen, denen Cassirer von Seiten der real existierenden Goethe-Kultur ausgesetzt war. Aus den Ressentiments, die seine Reden zur Verfassungsfeier von 1928 und 193019 in der akademischen Öffentlichkeit freisetzen, wäre mehr über das Ende der humanistischen Epoche in Deutschland zu lernen als aus der gesamten Davoser Disputation. Sicher ist auch, dass sich die Kontroverse zwischen Heidegger und Cassirer nach 1933 (oder genauer: nach 1945) anders darstellt, und was die biographische Rollenverteilung20 angeht, sind unsere Sympathien klar; sie wären es auch ohne die Davoser Disputation. Eben deshalb braucht man Cassirer nicht postum vor Heidegger in Schutz zu nehmen. Für die Ehrenrettung Cassirers, käme es darauf an, sorgt der Zeitenabstand. Prononcierte Apologien reproduzieren nur das Bild, in dem Davos vor 70 Jahren aufgenommen wurde: als eine Art historisches Urteil über Cassirers Kulturphilosophie. Irreführend an diesem Bild ist zum einen, dass es die tatsächlichen Kräfteverhältnisse umgewichtet. Sein und Zeit bedeutete keine Herausforderung für Cassirer. Für Cassirer stand Heidegger in die Tradition der Lebensphilosophie, und in dieser Tradition zählten andere: Bergson,
17 A.a.O., 53 f. 18 Paetzold (1995), 103, vgl. Krois (1998).- Zur Bedeutung der Renaissancephilosophie für Cassirers Kritik an Heidegger Rudolph (1994), 221 ff. und Rudolph (1992). 19 Cassirer (1995b) und Cassirer (1991); vgl. Vogel (1997). 20 Vgl. Cristaudo (1991), 475 ff. Zur Diskussion um den politischen Heidegger vgl. Wolgast (1994). - Cassirer selbst hat im übrigen keine direkte Verbindung zwischen Heideggers Philosophie und dem Nationalsozialismus gesehen: »I do not mean to say that the cultural pessimism of Spengler or that works like Heidegger's Sein und Zeit were, to any large degree, responsible for the development of the political ideas in Germany. The ideology of National Socialism has not been made by philosophic thinkers. [... ] Butthereis an indirect connection between that general course of ideas that we can study in the case of Spengler and Heidegger and German political and sociallife in the period after the First World War.« (Cassirer (1979), 229 f. vgl. auch Cassirer (1985) 383 f.).
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Simmel, Scheler.2t Heidegger seinerseits hat die Auseinandersetzung mit Cassirer gesucht.22 Das belegen die Marburger Vorlesungen, das belegt Sein und Zeit, die Rezension zum zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen und die geplante Erwiderung auf den dritten; man kann sogar erwägen, ob nicht Heideggers Kambuch als ganzes »gegen Cassirer geschrieben wurde«23, so wie die nachgeholte Analyse der »Grundsätze« in Die Frage nach dem Ding noch Jahre später auf Cassirers Kritik reagiert.24 Vor allem aber: Es ist nicht richtig, dass Heidegger von einer bestimmten Position aus, sei es des Dezisionismus, sei es eines neuen Denkens, gegen Cassirer argumentierte. In der Sache gehört die Davoser Disputation zu Heideggers Krise nach Sein und Zeit, als »alles ins Rutschen«25 kam. Heidegger experimentiert, Ende der zwanziger Jahre, mit einem Programm, das sich von Sein und Zeit durch die Aufwertung der Anthropologie und vom Spätwerk durch einen affirmatives Verständnis der Metaphysik unterscheidet; beide Aspekte zusammenführen sollte die »gewandelte« Konzeption der Fundamentalontologie als (eines Teils der) »Metaphysik des Daseins«. Was die Phase zwischen Sein und Zeit und dem Kantbuch, also noch vor der von Heidegger auf den Wahrheitsvortrag datierten Kehre26, prägt, ist der Versuch, die in Sein und Zeit auf den dritten Teil verschobene Idee der wissenschaftli-
21 Wenig überzeugend wirkt daher Liptons Kritik, »even in the wake of his debate with Heidegger, Cassirer never seriously questioned the grounds of his own philosophy. When Heidegger's radically new views on Kant and the nature of human reason were published in 1927, instead of re-evaluating his own thoughts on the subject, Cassirer merely reiterated his position in relation to Heidegger's. In a vital sense Cassirer sharply seperated his discussions with Heidegger from a possible rethinking of Kant's basic ideas.« Selbst wenn Heideggers »radically new views on Kant«, die im wesentlichen idealistische Motive variieren (vgl. Henrich {1955), zum Zeitpunkt der Davoser Debatte publiziert gewesen wären: Es gab für Cassirer schlicht keinen Anlass, die »Grundlagen seiner eigenen Philosophie« Heidegger wegen zu revidieren. Ihm das anzulasten, ist ein wirkungsgeschichtlicher Fehlschluss. 22 Nach einer mündlichen Mitteilung Gadamers hielt Heidegger Cassirer damals sogar für »den einzigen, auf den öffentlich zu reagieren sich noch lohnte«. 23 Graeser {1994), 198, Anm. 4. 24 Vgl. Heidegger {1984), 127; Cassirer {1931), 19: »Die Ausführung und Durchführung der Kantischen Lehre vom Schematismus ist erst in dem Abschnitt über die synthetischen Grundsätze zu finden - ein Abschnitt, den Heidegger in seiner Interpretation nirgends herangezogen und berücksichtigt hat.«Einen vollständigen Uberblick über die »Pre-« und »Post-Davos Exchangesand Developments« zwischen Heidegger und Cassirer gibt Jackson {1992), 23 ff. 25 So Heidegger in einem Brief an Gadamer von 1930, vgl. Gadamer {1995), 74. Zur Krise des phänomenologischen Philosophiebegriffs vgl. Pöggeler (1989), 266 ff. 26 Vgl. Heidegger {1996 ), 328.
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chen Phänomenologie27 kurzzuschließen mit den Eigentlichkeitsanalysen, deren primär methodischer Sinn einer »Freilegung des ursprünglichen Seins des Daseins«28 nun mit dem Gehalt der Philosophie zusammenfällt. Während Sein und Zeit einmündet in die Kontrastierung eines uneigentlichen, »vulgären« Zeitverständnisses des alltäglichen Daseins gegenüber der originären Zeitlichkeit eigentlichen Daseins, erscheint jetzt das Philosophieren selbst als der Austrag der Zeitlichkeit und damit der Endlichkeit, die im alltäglichen Dasein verborgen bleibt.29 Das Kantbuch deutet so die Alltäglichkeit als ein »Niederhalten« der Endlichkeit, die Angst wird von einer »ausgezeichneten«30 zur »entscheidenden Grundbefindlichkeit«3t, weil sie die Alltäglichkeit des Daseins in der Konfrontation mit »dem Nichts« durchbricht. Ein solches Durchbrechen soll nach Heidegger die Metaphysik konstituieren, die sich dann als ein »Geschehen im Dasein selbst«32 vollzieht. Mit der Identifikation von Philosophie und eigentlichem Dasein übertragen sich die Charakteristika der Angst, die Erfahrung des »Nichts« und der »Un-heimlichkeit« auf das Philosophieren, das in der Konsequenz zwar zur »Aufrüttelung« und zu einem Medium der Verwandlung des Daseins wird, zugleich aber den Anschluss an das alltägliche Dasein verliert -und »alltäglich« ist das Dasein »gerade dann, wenn [es] sich in einer hochentwickelten und differenzierten Kultur bewegt«33. Durch diesen Anschlussverlust stößt das Philosophieren gleichsam ins Leere. Als »Geschehenlassen der Transzendenz« reduziert es sich auf einen »Akt der Befreiung«, der nur noch sich selbst bezeugt; in scheinbarem Kontrast zur Anerkenntnis der Endlichkeit gewinnt es elitäre Züge, aus denen sich seine »unkontrollierbare und schlechthin unöffentliche Führerschaft« speist. »Führerschaft bedeutet aber hier: das Verfügen über höhere und reichere Möglichkeiten menschlicher Existenz.«34 Es ist dieser Elitarismus, gegen den Cassirers Kulturphilosophie opponiert, und insofern kritisiert Cassirer an Heidegger »nicht die Nobilitierung der Endlichkeit, sondern die Ideologisierung der Verzeitlichung des Daseins«.35 Wenn Heidegger der Philosophie der Kultur vorhält, sie sei in ihrem Universalistischen Anspruch Surrogat da27 Vgl. Heidegger (1993 ), 357. 28 A.a.O., 311. 29 Vgl. Figal (1992a), 50 f. 30 Heidegger (1993), 188. 31 Heidegger (1991), 237. 32 A.a.O., 242, vgl. Heidegger (1996), 122. 33 Heidegger (1993), 50 f. 34 Heidegger (1996b), 7 f. 35 Philosophie und Politik. Die Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger in der Retrospektive, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2/1992, 290-312, 303.
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für, »daß wir uns selbst zu unbedeutend geworden sind«36, betreibt er nicht nur den Rückzug aufs Appellative. Er überspielt zudem, dass einer einseitig an der Erfahrung der »metaphysischen StörungFundamentalontologie< zu einer >Gegenmacht< gegen die Entbergung der Wahrheit geworden, die sich aus der Zeitkritik immer neue Kräfte bis hin zur manichäischen Dualisierung holte, bis am Ende nur das Sein selbst sein Geschick der Verborgenheit werden konnte«:» Warten (auf die geschichtliche Epiphanie) einerseits, [ ... ] >Brechen, nicht Biegen!< andererseits - das sollte der unbehobene Widerspruch bleiben, dem Cassirer wohl das Symbolische abgelesen hätte.«39 Blumenbergs Diagnose für die gesamte Spätphilosophie, trifft zumindest die Krise von 1929. Auch in ihrer massivsten Form, wenn von der »Aufgabe der PhilosophieIndividuum quand meme< [ ... ]des >letzten Cohenseiend< meinen, sondern was es überhaupt heißt, mit Worten oder sprachlichen Ausdrücke etwas zu »meinen«. Plato führt die Frage nach dem Sein zurück auf die Frage »nach der Möglichkeit des Bedeutens schlechthin. Man kann sagen, daß der eigentliche Anfang der originalen Platonischen Lehre darin besteht, daß sich ihm das Verhältnis des Seinsproblems und des Bedeutungsproblems verschiebt: daß ihm das Bedeutungsproblem zur eigentlichen apx~, zum Anfangspunkt des Philosophierens wird, während der Begriff des Seins nur als ein abgeleitetes Resultat, als Folgerung aus diesem Anfang erscheint«48 - abgeleitet aus der der Seinsfrage vorgeschalteten Reflexion auf die Bedingungen sprachlicher Verständigung. Weil »für Platon das Sprachproblem und das Bedeutungsproblem innerlich zusammengehören,[ ... ] ist auch das Sein, auf das seine philosophische Frage abzielt, ursprünglich kein anderes als eben jenes Sein, das sich in der Form des Gesprächs expliziert und das sich in gar keiner anderen Form offenbaren kann. [ ... ] Nicht wie die Dinge in Raum und Zeit möglich, noch aus welchen Ursachen sie entstanden sind, fragt daher Platon, sondern aus welchen Quellen das Verständnis, die Verständigung über die Dinge hervorgeht. Welche Voraussetzung liegt darin beschlossen, daß ich das Wort eines anderen >verstehe