Carl Schmitt: Denker im Widerstreit: Werk - Wirkung - Aktualität 9783495813485, 9783495488973


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Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität
Gliederung
Detaillierte Gliederung
Teil I: Positionsnahmen
I. Der Apologet als Mineur. Carl Schmitts agonale Ideengeschichte
1. Ideengeschichte und Geistesgeschichte
2. Schmitts ideenpolitische Auffassung der Begriffe
3. Geistesgeschichte als »Politische Theologie«
4. Schmitts ideengeschichtliche Studien
5. Dekonstruktives Verfahren
II. Der Bürger als Picaro. Die antibürgerliche Selbstdarstellung Carl Schmitts im Tagebuch
1. Antiargumente
2. Basisfunktion Kalender
3. Editionspolitische Weichenstellungen
4. Selbstdarstellung des Bürgers als Picaro
III. Phänomenologie der »demokratischen Legitimität«
1. Textfassungen
2. Dialektik der Legitimität
3. »Unmittelbare Demokratie« als antiliberale Alternative?
4. Phänomenologie der »demokratischen Legitimität«?
IV. Carl Schmitt und Hegel. Romantikkritik und bürgerliche Verfassung
1. Antimarxistische Hegelstrategie
2. Romantikkritik: vom »subjektiven Idealismus« zum »subjektiven Okkasionalismus«
3. Bürgerliches Individuum und bürgerliche Verfassung
V. Vom Staatsrat zum Führerrat? Carl Schmitts Staatsrat-Projekt von 1933
1. Zur offenen Lage von 1933
2. Von Göring zu Hitler? Auf der Suche nach dem »Zugang zum Machthaber«
3. Die institutionelle Alternative des Staatsrats
VI. »Die Waffen sind das Wesen der Kämpfer selbst«. Form und Sinn des Krieges nach Carl Schmitt
1.
2.
3.
Teil II: Selbstbespiegelungen
VII. René Königs Machiavelli-Identifikation
1.
2.
3.
VIII. Utopiker der Intellektuellenherrschaft: Karl Mannheim und Carl Schmitt
1. Carl Schmitts »Antwort« an Mannheim
2. Ekstatiker der »gegenwärtigen Konstellation«
3. Warum erwartete Schmitt von Mannheim »Verständnis«?
IX. Das Lachen der Besiegten. Carl Schmitt und Gelimer
1. Der Topos vom Besiegten
2. Die Anekdote von Gelimers Lachen
3. Gelimer und Belisar
X. Carl Schmitts Hamlet-Stilisierung
Teil III: Wechselwirkungen
XI. »Steine als Geschenk«. Ernst Rudolf Hubers verfassungstheoretische Revision von Schmitts »Dezisionismus«
1. Konstitutionalismus ohne »Verfassungsidee«?
2. Der Bonner Schüler
3. Huber als Ahnherr der Dezisionismus-Kritik
4. Die Spannung der »Gestalten«
5. Hubers »völkische Verfassung«
6. Rückblick auf Schmitt
XII. Anthropologische Fundamentierung? Arnold Gehlens objektivistische Wendung der Sozialphilosophie
1. Zur Theorie des »objektiven Geistes«
2. Anthropologischer Unterbau?
3. Institutionalismus von Schmitt zu Gehlen
4. Genealogische Ethos-Analyse als Sozialphilosophie?
5. Schlussbemerkung: Gehlens anti-individualistische Wende der Sozialphilosophie
XIII. Das Odium des Nehmens. Carl Schmitts Antwort auf Joachim Ritter
1. Philosophisches Interesse am Hegelianismus
2. Von der Metaphysik zur Politik?
3. Adressat Geschichtslehrer
4. Appellativer Sinn der Europäisierungsthese
5. Koalition gegen Ernst Jünger
6. Antikolonialismus als europäische Intellektuellenideologie
7. Spanische Antwort von 1962: Kalter Krieg als Wirtschaftskrieg um Entwicklungshilfe
8. Schluss: letzte Antwort auf den »Nomos der Erde« mit und gegen Ritter
XIV. Carl Schmitts Hobbes-Bild nach 1945
1. Nachkriegshobbes
2. Reformatorische Deutung
3. Erste Gegendeutungen
XV. Hexenmeister und Zauberlehrling in neuer Gesellschaft. Rüdiger Altmann und Carl Schmitt
1. Vom »Kronjuristen« zum Gesellschaftssatiriker
2. Der Titel Die neue Gesellschaft
3. Die Vollendung der Zeitkritik im ironischen Spottgedicht
4. Lyrik des Hexenmeisters
5. Status Quo und Vision des Wohlfahrtsstaates
6. Diskurspolitik eines Publizisten
XVI. Carl Schmitts Schmähgedicht auf Theodor W. Adorno
1.
2.
XVII. Politische Theologie oder Staatskirchenrecht? Der engagierte Laie in der Nähe und Differenz zu Carl Schmitt
1. Einleitung
2. Carl Schmitts Entkoppelung von Politischer Theologie und Staatskirchenrecht
3. Staatskirchenrechtliche Rezeption durch Bonner Schüler
4. Böckenfördes Rückwendung zur »Politischen Theologie«
5. Schluss
XVIII. Ernst-Wolfgang Böckenfördes dogmatischer Durchbruch in Heidelberg
1. Der Heidelberger »Maßnahme«-Diskurs nach Carl Schmitt
2. Die individuelle Freiheit als Heidelberger Antwort
3. Begründung des Hochschulwechsels
4. Schluss
XIX. Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt: Reinhart Koselleck
1. Kosellecks Umgang mit Schmitt
2. Kosellecks geschichtstheoretische Kritik
3. Begriffsgeschichte als Begriffspolitik
XX. Nemo contra theologum nisi theologus ipse. Carl Schmitts Antwort auf Erik Peterson
1. Biographische Annäherung: Dissens über Judentum
2. Kooperative Interessen
3. Petersons eschatologischer Ansatz
4. Handexemplare und Marginalien im Schmitt-Nachlass
5. Letzte Kontakte nach 1945
6. Schmitts »Substanz-Analyse« von Petersons Legende
7. Letzte Erledigungen nach 1970: in Richtung auf eine Politische Theologie III?
XXI. »Die dritte Religion des Deutschen«. Carl Schmitts Kanonpolitik, Hans Blumenberg und der lange Weg zu Goethe
1. Gegenkanon
2. Der Picaro des Bürgerkriegs bei Goethe
3. Späte Wendung zu Goethe?
4. Blumenbergs Erneuerung der »Erledigungsthese« in der Arbeit am Mythos
5. Schmitts Glossen im Handexemplar
Teil IV: Aktualisierungsskizzen
XXII. Carl Schmitts Aktualität. Sondierung eines globalen Phänomens
1. Selbsthistorisierung und systematische Stichworte
2. Präsenz in der Diskussion
3. Systemform des Rechts
4. Das doppelte Register des Ausnahme- und des Normalzustands
5. Umwertung Carl Schmitts: für einen Primat der Liberalität
XXIII. Zur Aktualität Carl Schmitts (2016).
XXIV. Weltkonflikte mit Carl Schmitt (2015/16)
1. Selektive Aktualisierung
2. Freund-Feind-Theorie deskriptiv und normativ
3. Aktualisierung der Theorie des Partisanen
4. Großraum und Revanchismus: Russland und die Ukraine
5. Europäisierung der Souveränität
6. Zur Rolle Deutschlands in Europa
Nachweise der Erstveröffentlichungen
Teil I
Teil II
Teil III
Teil IV
Siglen der wichtigsten Werke Carl Schmitts
Briefwechsel
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Carl Schmitt: Denker im Widerstreit: Werk - Wirkung - Aktualität
 9783495813485, 9783495488973

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Reinhard Mehring

Carl Schmitt: Denker im Widerstreit Werk – Wirkung – Aktualität

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495813485

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B

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Carl Schmitt (1888–1985) ist als Theoretiker des Ausnahmezustands heute wieder ein Autor der Stunde: Kein anderer Jurist des 20. Jahrhunderts analysierte die Erosionen und Transformationen liberaldemokratischer Verfassungen in präsidiale, autoritäre und diktatorische Regimes so scharfsinnig und wirkmächtig. Er war zwar ein gefährlicher Mineur der Weimarer Verfassung und »Kronjurist« des Nationalsozialismus, wirkte aber auch nach 1945 noch als brillanter Kopf und ingeniöser Anreger. Die folgende Sammlung bündelt einige – meist stark überarbeitete – neuere Studien zum Werk, zur Wirkung und Aktualität auf der Grundlage des Nachlasses und der zahlreichen neueren Editionen. Sie erschließt die Entwicklungsgeschichte des Werkes, Schmitts ausgeprägte Selbstdeutungen sowie die intensiven Korrespondenzen und Auseinandersetzungen mit engen Weggefährten und Schülern: mit Ernst Rudolf Huber, Arnold Gehlen, Joachim Ritter, Reinhart Koselleck, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Hans Blumenberg und anderen mehr. Die Sammlung endet mit drei Studien zur Aktualität Carl Schmitts in der »außergewöhnlichen Situation« (Kanzlerin Merkel) unserer Tage.

Der Autor: Reinhard Mehring ist Professor für Politikwissenschaft und deren Didaktik an der PH Heidelberg. Er publizierte neben anderen Monographien auch zahlreiche Schriften zu Carl Schmitt, u. a.: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, Beck-Verlag, München 2009; Carl Schmitt zur Einführung, Junius-Verlag, 5. Aufl. Hamburg 2017.

https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Reinhard Mehring Carl Schmitt: Denker im Widerstreit

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Reinhard Mehring

Carl Schmitt: Denker im Widerstreit Werk – Wirkung – Aktualität

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Carl Schmitt © Carl-Schmitt-Gesellschaft e. V. Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48897-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81348-5

https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität

Die Optik des Ausnahmezustands ist heute in Kerneuropa weit verbreitet. Mancherlei Krisen-Komposita lassen sich dafür listen: Terrorismus, Eurokrise, Finanzkrise und Bankenkrise, Flüchtlingskrise, Brexit-Begehren und anderes mehr. Carl Schmitt (1888–1985) erscheint da wieder einmal als ein Autor der Stunde: als Theoretiker des Ausnahmezustands und der Erosionen und Transformationen liberaldemokratischer Verfassungen in präsidiale, autoritäre und diktatorische Regimes. Er gilt zwar als »gefährlicher Geist«, war aber auch ein brillanter Kopf und ingeniöser Anreger. Die folgende Sammlung bündelt einige – teils stark überarbeitete, erweiterte und gekürzte – neuere Studien zum Werk und zur Wirkungsgeschichte. Solche Aufsatzsammlungen sind ein heikles Genre. Carl Schmitt hat dazu in unterschiedlichen Lagen seines Werkes zwei starke Muster publiziert; beide verfolgten politische Tendenzen: Die Sammlung Positionen und Begriffe, unmittelbar vor Kriegsausbruch auf den 20. August 1939 datiert, dokumentierte mit nationalsozialistischem Vorzeichen einen positionell entschiedenen, kontinuierlichen Kampf mit Weimar – Genf – Versailles. 1 Die Sammlung Verfassungsrechtliche Aufsätze, von 1958, bezeichnete sich als »Dokumente zum Schicksal der Weimarer Verfassung« (VRA 7) und Materialien zu einer Verfassungslehre. Deren apologetische Tendenz kam schon in der Widmung an den »letzten preußischen Finanzminister« Johannes Popitz zum Ausdruck, den Schmitt mit seinem Todesdatum als Widerstandskämpfer und Opfer des Nationalsozialismus erinnerte, ohne dessen vorgängige Option für Hitler zu erwähnen. Während die Sammlung von 1940 die nationalsozialistische Tendenz von Schmitts »Positionen und Begriffen« herausstellte, betonte die Sammlung von 1958 ein Ringen um den Erhalt der »Substanz« der Weimarer VerDazu prägnant vgl. Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1989

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Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität

fassung. Im Vorwort der Positionen und Begriffe problematisierte Schmitt selbst die heikle Form gebündelter Wiederveröffentlichungen. Dort schreibt er: »Nach langer Arbeit in meinem Fach kenne ich viele Vorreden aller Art. Darunter sind manche, in denen der Autor versucht, nahe- oder fern liegende Bedenken vorwegzunehmen und allen möglichen törichten oder bösartigen Unterstellungen durch gute und ehrliche Worte zuvorzukommen. Solche Autoren hoffen, einer spezifischen Berufsgefahr, den ›Geschossen der Verleumdung‹, den ›tela calumniae‹, zu entgehen. Aber auch den Besten und Klügsten unter ihnen ist das nicht gelungen. Darum will ich mich nicht damit aufhalten. Doch grüße ich jeden echten Gegner, und vor keinem weiche ich aus, der sich mir auf dem Wege der wissenschaftlichen Wahrheit stellt. Möge also jeder nach seinem Sinn sich dieses bequemen Zugangs zu meinen Reden und Aufsätzen bedienen. ›Willkommen, gut und bös!‹« (PB 5)

Solche starken Worte rechtfertigen nicht die folgende schlichte Sammlung überarbeiteter Aufsätze, obgleich auch Schmitt-Forschung eigentümlich politisiert ist, sondern sie erklären nur die Rede vom »Denker im Widerstreit«. Sie ist zwar so geläufig, dass sie auf Anhieb fast abgeschmackt klingt, bezeichnet aber die Linie und Richtung der folgenden Studien doch treffend: Rezeptionsgeschichten, die nicht eingleisig und unproblematisch sein konnten, sondern fruchtbare Prozesse intellektueller Auseinandersetzungen und Transformationen wurden. Auch Schmitt lag aber mit sich selbst oft im Streit. Den ständigen Fluss seiner Positionen und Begriffe sprach er selbst im Vorwort von 1940 unter Berufung auf Heraklit an. Die Diskurse, die hier rekonstruiert werden, haben auch sein Denken verändert. Auch Schmitt hat von den Auseinandersetzungen seiner Schüler gelernt. Die folgenden ersten Teile versammeln Studien zur Entwicklungsgeschichte und Selbstdeutung des Werkes. Die letzten beiden beschreiben intellektuell anspruchsvolle Wirkungsgeschichten sowie rohe Aktualisierungen. Erörtert werden hier nur intellektuell bedeutsame Diskurse und Transformationen. Man kann andere Wirkungsgeschichten schreiben und Schmitt in die Geschichte des Öffentlichen Rechts, Rechtsintellektualismus und europäischen Faschismus oder auch des antiliberalen und extremistischen Denkens der Zwischenkriegszeit stellen. Das alles ist interessant und geschieht auch. Mein Fokus ist enger und philologisch strikter: Die Studien erschließen den Quellenbestand, der seit den 90er Jahren durch die Öffnung des Nachlasses und zahl8 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität

reiche neuere Editionen gegeben ist. Diese konzentrierte Arbeit an den Primärquellen vernachlässigt die Verweise auf die Sekundärliteratur etwas, die ich aber extensiv rezensiert habe. Mir stellt sich die Forschungsdynamik 2 in vereinfachter Linie etwa folgendermaßen dar: Karl Löwiths These 3 vom »okkasionellen« Opportunismus und Dezisionismus wirkte nach 1945 stark: insbesondere auf die Pionierarbeiten von Christian v. Krockow 4 und Hasso Hofmann. 5 Hofmann nahm Schmitts Werk dabei von der Legitimitätsfrage her erneut auch als rechtsphilosophische Problemgeschichte ernst. Ingeborg Maus 6 kritisierte es dann demokratietheoretisch. Nach Schmitts Tod, 1985, begann parallel zur Öffnung des Nachlasses und andauernden editorischen Ausweitung des Quellenbestands ein globaler und interdisziplinärer Hype um Schmitt als »geisteswissenschaftlicher« Meisterdenker des 20. Jahrhunderts. Vereinfachenden dogmatischen Rekonstruktionen der »Politischen Theologie« 7 – oft oberhalb und jenseits konfessioneller Fragen 8 angesiedelt – stellte Helmut QuaDer »deutsche« Fokus ergibt sich schon durch das Kriterium der Quellenarbeit am Nachlass Carl Schmitts im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. Abteilung Rheinland. Standort Duisburg (früher Düsseldorf). 3 Karl Löwith, Politischer Dezisionismus, in: Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 9 (1935), 101–123 4 Christian von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt und Martin Heidegger, Stuttgart 1958; neuere geistesgeschichtliche Einordnung von Taubes angeregt: Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989 5 Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Neuwied 1964 6 Ingeborg Maus, Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus. Zur sozialen Funktion und politischen Wirkung Carl Schmitts, München 1976; Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Berlin 2011 7 Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und Der Begriff des Politischen. Zu einem Dialog unter Abwesenden, Stuttgart 1988; Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, Stuttgart 1994 8 Starke Relativierung von Schmitts »Katholizismus« schon bei Manfred Dahlheimer, Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus 1888–1936, Paderborn 1998; vgl. Mathias Eichhorn, ›Es wird regiert!‹ Der Staat im Denken Karl Barths und Carl Schmitts, Berlin 1994; Ruth Groh, Arbeit an der Heillosigkeit der Welt. Zur politischtheologischen Mythologie und Anthropologie Carl Schmitts, Frankfurt 1998; fruchtbar ist auch die Frage nach Schmitts Verhältnis zum orthodoxen Christentum: dazu etwa Dimitrios Kisoudis, Politische Theologie in der griechisch-orthodoxen Kirche, Marburg 2007 2

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Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität

ritsch 9 dabei die fruchtbare These von einer »vierfachen« und konfligierenden Prägung – durch Katholizismus und Ästhetizismus, Nationalismus und Etatismus – entgegen. Bernd Rüthers 10 profilierte Schmitt als »Kronjurist« innerhalb der polykratischen NS-Jurisprudenz. Der Antisemitismus, im vollen Umfang erst durch die Publikation des Glossariums 1991 bekannt geworden, wurde dann zu einem zentralen Aspekt. 11 Michael Stolleis 12 publizierte seine umfassende Historisierung des öffentlichen Rechts, die die zentrale Rolle und starke Wirkungsgeschichte Schmitts bestätigte. Mit der Öffnung des Nachlasses stellte sich die Frage nach der Akteursperspektive neu. Schmitts politisch-praktischer und interventionistischer Auffassung seines Werkes, seinem Primat der Teilnehmerperspektive folgend, kam diese Entdeckung des Akteurs einem umstürzenden Perzeptionswandel gleich: Schmitt erschien nun primär als Akteur. Seit den 90er Jahren wurde hier vor allem die Apologie des Präsidialsystems diskutiert: Diente sie dem Erhalt der »Substanz« Weimars und der Abwehr des Nationalsozialismus? Stimmte Schmitts Mythos vom »Aufhalter«? Die Pionierarbeit von Andreas Koenen 13 betonte die Orientierung an der Kanzlerschaft Franz v. Papens; andere sahen Schmitt mehr als Anwalt Kurt v. Schleichers. 14 Nach Publikation der Tagebücher lässt sich heute deutlicher zwischen dem advokatorischen Engagement und dem politischen Wollen unterscheiden. Die Akteursrolle im Nationalsozialismus vor und nach 1936

Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1989 Bernd Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1988; Carl Schmitt im Dritten Reich. Wissenschaft als Zeitgeist-Verstärkung?, München 1989 11 Dazu vgl. Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt 2000 12 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Dritter Band: 1914–1945, München 1999; Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Vierter Band: 1945–1990, München 2012; vgl. auch Anna-Maria v. Lösch, Der nackte Geist. Die juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, Tübingen 1999 13 Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitts. Sein Aufstieg zum ›Kronjuristen des Dritten Reiches‹, Darmstadt 1995 14 So Lutz Berthold, Carl Schmitt und der Staatsnotstandsplan am Ende der Weimarer Republik, Berlin 1999; Gabriel Seiberth, Anwalt des Reiches. Carl Schmitt und der Prozess ›Preußen contra Reich‹ vor dem Staatsgerichtshof, Berlin 2001; vgl. auch Dirk Blasius, Carl Schmitt und der 30. Januar 1933. Studien zu Carl Schmitt, Frankfurt 2009; ders., Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich, Göttingen 2001 9

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Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität

ist aber in vielen Fragen – schon aufgrund der schwierigen Quellenlage – noch nicht tiefenscharf ausgeleuchtet. Dirk van Laak 15 präsentierte die »liberale« und akademische Wirkungsgeschichte Schmitts in der »frühen« Bundesrepublik erstmals auf der Grundlage des Nachlasses; er zeigte die Netzwerkarbeit eindrucksvoll vor. Meine vorliegenden Studien knüpfen hier an und rekonstruieren den akademischen Output eingehender. Selbst Schmitts labyrinthischer Nachlass ist nicht unerschöpflich: Das Werk liegt heute in den Schriften, Tagebüchern und Korrespondenzen einigermaßen übersichtlich und vollständig vor. Zwar sind einige wichtige Korrespondenzen – etwa mit Nachkriegsschülern wie Koselleck, Schnur und Böckenförde – noch nicht publiziert; seit Schmitts Tod 1985 hat sich die Quellenlage aber geradezu vervielfacht. Die Forschung ist damit inzwischen von dogmatischen Rekonstruktionen zur tiefenscharfen – mit Schmitt gesprochen: »konkreten« – Historisierung des Werkes fortgeschritten. 16 Es zeichnet sich heute deshalb auch eine Rückwendung zur theoretischen Auseinandersetzung 17 und – mit Agamben und Mouffe etwas freischwebenden – politischen Aktualisierung 18 ab. Vor der Aktualisierung steht aber die strikte Historisierung Schmitts als Autor der »Zwischenkriegszeit« oder des »zweiten dreißigjährigen Krieges«, wie gelegentlich betont wird. Schmitt wollte kein transhistorischer »Klassiker« sein und historisierte mit dem Staatsbegriff noch die Kernposition seines »Etatismus«. Mit seinem exzentrischen Leben und Werk ist er uns heute denkbar fern und fremd. Die Originalität und Schärfe, Radikalität und Klarheit seines Denkens aber erkannten selbst seine stärksten Gegner und Antipoden an. Er beeindruckte seine Mitwelt und wirkte als akademischer Lehrer nachhaltig. Meiner Einführung und his-

Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993; vgl. auch Timo Frasch, Zwischen Selbstinszenierung und Rezeption. Carl Schmitts Ort in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2006; Jan Werner Müller, Ein gefährlicher Geist. Carl Schmitts Wirkung in Europa, Darmstadt 2007 16 Dazu als Zwischenfazit Verf., Rekonstruktion und Historisierung. Zur neueren Carl Schmitt-Forschung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001), 1000– 1011 17 Dazu etwa Volker Neumann, Carl Schmitt als Jurist, Tübingen 2015 18 Rüdiger Voigt, Denken in Widersprüchen. Carl Schmitt wider den Zeitgeist, Baden-Baden 2015 15

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Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität

torisch-biographischen Gesamteinschätzung stelle ich deshalb die folgende Sammlung wirkungsgeschichtlicher Studien zur Seite. 19 Seit nun schon drei Jahrzehnten bin ich an der Edition und Interpretation, Kontextualisierung und Historisierung des Quellenbestandes intensiv beteiligt. Zahlreiche Weggefährten, Schüler und Kritiker sind mir dabei begegnet: so Ernst Rudolf Huber, Ernst-Wolfgang Böckenförde und Hermann Lübbe, Hasso Hofmann, Bernd Rüthers, Ingeborg Maus und Michael Stolleis. Wilhelm Hennis und Hasso Hofmann, Hans Boldt und Herfried Münkler verdanke ich die nähere akademische Förderung meiner Schmitt-Studien. Fast alle folgenden Texte entstanden nach Anfragen als Vorträge oder Aufsätze. Schon deshalb wären weitere Anreger zu nennen. Oft war ich auch zu Vorträgen unterwegs und konnte mich – von New York bis Tokio – von der globalen Wirkung Schmitts überzeugen. Von den vielen Gesprächspartnern, mit denen ich häufiger über Schmitt sprach, nenne ich hier aber nur Dirk van Laak für die frühen 90er Jahre und Ernst Hüsmert und Gerd Giesler für die 2000er Jahre. Wenn ich meine fortdauernde und beharrliche Auseinandersetzung mit Carl Schmitt rechtfertigen soll, so tue ich es, trotz der Inkongruenz des Vergleichs, gerne mit Worten von 1856, von Karl Rosenkranz: »Ich bin mir in meiner Sympathie einer sehr sachlichen Nüchternheit bewusst, die nicht geneigt ist, im Dunst von Illusionen zu schwelgen. Meine Begeisterung gehört nicht zu jener weichlichen Art, die nur im Jauchzen dumpfen Erstaunens sich gefällt und von der Macht und Schönheit ihres Gegenstandes nicht sowohl erbauet, als berauscht wird. Ich fürchte mich nicht, Flecken in meiner Sonne zu entdecken.« 20

An spekulativen Filiationen und kühnen Theorierekursen herrscht kein Mangel. Die vorliegende Sammlung will Schmitt-Forschung dagegen historisch-philologisch rekonstruktiv, exakt und eng fassen. Sie führt an die Schwelle theoretischer Fragen, ohne sich vom Buchstaben zu lösen und systematische Geltungsansprüche zu stellen. Der Leser sollte für diese speziellen Forschungen mit Schmitts Werk Für meine Gesamtsicht: Carl Schmitt zur Einführung, 1992, 5. überarb. Aufl. Hamburg 2017; Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009; Kriegstechniker des Begriffs. Biographische Studien zu Carl Schmitt, Tübingen 2014; im Text wird auf weitere Arbeiten verwiesen. 20 Karl Rosenkranz, Goethe und seine Werke, 2. Aufl. Königsberg 1856, VIII (Vorwort) 19

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Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität

und dessen Kontexten schon einigermaßen vertraut sein, auch wenn die folgenden Studien um der Lesbarkeit willen von manchem Detailverweis entlastet wurden. Heidelberg, im Oktober 2016

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Gliederung

Teil I: Positionen I. Der Apologet als Mineur. Carl Schmitts agonale Ideengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

II. Der Bürger als Picaro. Die antibürgerliche Selbstdarstellung Carl Schmitts im Tagebuch . . . . . . . . . . . .

44

III. Phänomenologie der »demokratischen Legitimität«. Schmitts Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923/26) . . . . . . . . . . . . . . .

57

IV. Carl Schmitt und Hegel. Romantikkritik und bürgerliche Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

V. Vom Staatsrat zum Führerrat? Carl Schmitts StaatsratProjekt von 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

VI. »Die Waffen sind das Wesen der Kämpfer selbst«. Form und Sinn des Krieges nach Carl Schmitt . . . . . .

98

Teil II: Selbstbespiegelungen VII. René Königs Machiavelli-Identifikation

. . . . . . . . . 109

VIII. Utopiker der Intellektuellenherrschaft: Karl Mannheim und Carl Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

IX. Das Lachen der Besiegten. Carl Schmitt und Gelimer . .

130 15

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Gliederung

X. Carl Schmitts Hamlet-Stilisierung . . . . . . . . . . . .

139

Teil III: Wechselwirkungen XI. »Steine als Geschenk«. Ernst Rudolf Hubers verfassungstheoretische Revision von Schmitts »Dezisionismus« . .

151

XII. Anthropologische Fundamentierung? Arnold Gehlens objektivistische Wendung der Sozialphilosophie . . . .

182

XIII. Das Odium des Nehmens. Carl Schmitts Antwort auf Joachim Ritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201

XIV. Carl Schmitts Hobbes-Bild nach 1945

. . . . . . . . . 225

XV. Hexenmeister und Zauberlehrling in neuer Gesellschaft. Rüdiger Altmann und Carl Schmitt . . . . . . . . . . .

238

XVI. Carl Schmitts Schmähgedicht auf Theodor W. Adorno .

256

XVII. Politische Theologie oder Staatskirchenrecht? Der engagierte Laie in der Nähe und Differenz zu Carl Schmitt . .

265

XVIII. Ernst-Wolfgang Böckenfördes dogmatischer Durchbruch in Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

XIX. Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt: Reinhart Koselleck .

293

XX. Nemo contra theologum nisi theologus ipse. Carl Schmitts Antwort auf Erik Peterson . . . . . . . .

311

XXI. »Die dritte Religion der Deutschen«. Carl Schmitts Kanonpolitik, Hans Blumenberg und der lange Weg zu Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

337

16 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Gliederung

Teil IV: Aktualisierungsskizzen XXII. Carl Schmitts Aktualität. Sondierung eines globalen Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

353

XXIII. Zur Aktualität Carl Schmitts (2016). Interview von Timo Frasch mit Reinhard Mehring . . . .

373

XXIV. Weltkonflikte mit Carl Schmitt (2015/16) . . . . . . . .

385

Nachweise der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . .

407

Siglen der wichtigsten Werke Schmitts . . . . . . . . . . . . .

410

17 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Detaillierte Gliederung

Teil I: Positionen I. Der Apologet als Mineur. Carl Schmitts agonale Ideengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ideengeschichte und Geistesgeschichte . . . . . 2. Schmitts ideenpolitische Auffassung der Begriffe 3. Geistesgeschichte als »Politische Theologie« . . 4. Schmitts ideengeschichtliche Studien . . . . . . 5. Dekonstruktives Verfahren . . . . . . . . . . .

. . . . . .

27 27 29 35 37 39

II. Der Bürger als Picaro. Die antibürgerliche Selbstdarstellung Carl Schmitts im Tagebuch . . . . . 1. Antiargumente . . . . . . . . . . . . . . 2. Basisfunktion Kalender . . . . . . . . . . 3. Editionspolitische Weichenstellungen . . 4. Selbstdarstellung des Bürgers als Picaro .

. . . . .

44 45 48 50 54

. . . . .

. . . . .

. . . . .

III. Phänomenologie der »demokratischen Legitimität«. Schmitts Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923/26) . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dialektik der Legitimität . . . . . . . . . . . . . 3. »Unmittelbare Demokratie« als antiliberale Alternative? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Phänomenologie der »demokratischen Legitimität«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57 57 60 64 65

19 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Detaillierte Gliederung

IV. Carl Schmitt und Hegel. Romantikkritik und bürgerliche Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Antimarxistische Hegelstrategie . . . . . . . . . 2. Romantikkritik: vom »subjektiven Idealismus« zum »subjektiven Okkasionalismus« . . . . . . . 3. Bürgerliches Individuum und bürgerliche Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Vom Staatsrat zum Führerrat? Carl Schmitts StaatsratProjekt von 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur offenen Lage von 1933 . . . . . . . . . . . 2. Von Göring zu Hitler? Auf der Suche nach dem »Zugang zum Machthaber« . . . . . . . . . . 3. Die institutionelle Alternative des Staatsrats . .

70 70 71 75

. .

80 80

. .

83 90

VI. »Die Waffen sind das Wesen der Kämpfer selbst«. Form und Sinn des Krieges nach Carl Schmitt . . . . . .

98

Teil II: Selbstbespiegelungen VII. René Königs Machiavelli-Identifikation

. . . . . . . . . 109

VIII. Utopiker der Intellektuellenherrschaft: Karl Mannheim und Carl Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Carl Schmitts »Antwort« an Mannheim . . . . 2. Ekstatiker der »gegenwärtigen Konstellation« . 3. Warum erwartete Schmitt von Mannheim »Verständnis«? . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Das Lachen der Besiegten. Carl Schmitt und Gelimer 1. Der Topos vom Besiegten . . . . . . . . . . 2. Die Anekdote von Gelimers Lachen . . . . . 3. Gelimer und Belisar . . . . . . . . . . . . .

. 128 . . . .

130 130 131 134

X. Carl Schmitts Hamlet-Stilisierung . . . . . . . . . . . .

139

20 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

. . . .

. 119 . 119 . 124

Detaillierte Gliederung

Teil III: Wechselwirkungen XI. »Steine als Geschenk«. Ernst Rudolf Hubers verfassungstheoretische Revision von Schmitts »Dezisionismus« . . 1. Konstitutionalismus ohne »Verfassungsidee«? . . 2. Der Bonner Schüler . . . . . . . . . . . . . . . 3. Huber als Ahnherr der Dezisionismus-Kritik . . . 4. Die Spannung der »Gestalten« . . . . . . . . . . 5. Hubers »völkische Verfassung« . . . . . . . . . 6. Rückblick auf Schmitt . . . . . . . . . . . . . . XII. Anthropologische Fundamentierung? Arnold Gehlens objektivistische Wendung der Sozialphilosophie . . . . 1. Zur Theorie des »objektiven Geistes« . . . . . . 2. Anthropologischer Unterbau? . . . . . . . . . . 3. Institutionalismus von Schmitt zu Gehlen . . . . 4. Genealogische Ethos-Analyse als Sozialphilosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schlussbemerkung: Gehlens anti-universalistische Wende der Sozialphilosophie . . . . . . . . . . . XIII. Das Odium des Nehmens. Carl Schmitts Antwort auf Joachim Ritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Philosophisches Interesse am Hegelianismus . . . 2. Von der Metaphysik zur Politik? . . . . . . . . . 3. Adressat Geschichtslehrer . . . . . . . . . . . . 4. Appellativer Sinn der Europäisierungsthese . . . 5. Koalition gegen Ernst Jünger . . . . . . . . . . . 6. Antikolonialismus als europäische Intellektuellenideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Spanische Antwort von 1962: Kalter Krieg als Wirtschaftskrieg um Entwicklungshilfe . . . . . 8. Schluss: letzte Antwort auf den »Nomos der Erde« mit und gegen Ritter . . . . . . . . . . . . . . .

151 151 156 160 165 170 174

182 183 189 194 195 198

201 201 205 208 210 213 217 219 222

21 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Detaillierte Gliederung

XIV. Carl Schmitts Hobbes-Bild nach 1945 . . 1. Nachkriegshobbes . . . . . . . . . 2. Reformatorische Deutung . . . . . 3. Erste Gegendeutungen . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

XV. Hexenmeister und Zauberlehrling in neuer Gesellschaft. Rüdiger Altmann und Carl Schmitt . . . . . . . . . . . 1. Vom »Kronjuristen« zum Gesellschaftssatiriker . 2. Der Titel Die neue Gesellschaft . . . . . . . . . . 3. Die Vollendung der Zeitkritik im ironischen Spottgedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Lyrik des Hexenmeisters . . . . . . . . . . . . . 5. Status quo und Vision des Wohlfahrtsstaates . . . 6. Diskurspolitik eines Publizisten . . . . . . . . . XVI. Carl Schmitts Schmähgedicht auf Theodor W. Adorno . XVII. Politische Theologie oder Staatskirchenrecht? Der engagierte Laie in der Nähe und Differenz zu Carl Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Carl Schmitts Entkoppelung von Politischer Theologie und Staatskirchenrecht . . . . . . . 3. Staatskirchenrechtliche Rezeption durch Bonner Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Böckenfördes Rückwendung zur »Politischen Theologie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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238 239 240 242 246 251 254 256

. 265 . 265 . 266 . 273 . 274 . 280

XVIII. Ernst-Wolfgang Böckenfördes dogmatischer Durchbruch in Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Heidelberger« Maßnahme«-Diskurs nach Carl Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die individuelle Freiheit als Heidelberger Antwort 3. Begründung des Hochschulwechsels . . . . . . . 4. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

225 225 230 233

281 282 284 289 290

Detaillierte Gliederung

XIX. Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt: Reinhart Koselleck 1. Kosellecks Umgang mit Schmitt . . . . . . . . 2. Kosellecks geschichtstheoretische Kritik . . . . 3. Begriffsgeschichte als Begriffspolitik . . . . . . XX. Nemo contra theologum nisi theologus ipse. Carl Schmitts Antwort auf Erik Peterson . . . . . . . 1. Biographische Annäherung: Dissens über Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kooperative Interessen . . . . . . . . . . . . . 3. Petersons eschatologischer Ansatz . . . . . . . 4. Handexemplare und Marginalien im SchmittNachlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Letzte Kontakte nach 1945 . . . . . . . . . . . 6. Schmitts »Substanz-Analyse« von Petersons Legende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Letzte Erledigungen nach 1970: in Richtung auf eine Politische Theologie III? . . . . . . . . . .

. . . .

293 293 296 307

. 311 . 312 . 314 . 317 . 323 . 327 . 328 . 333

XXI. »Die dritte Religion der Deutschen«. Carl Schmitts Kanonpolitik, Hans Blumenberg und der lange Weg zu Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gegenkanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Picaro des Bürgerkriegs bei Goethe . . . . . 3. Späte Wendung zu Goethe? . . . . . . . . . . . 4. Blumenbergs Erneuerung der »Erledigungsthese« in der Arbeit am Mythos . . . . . . . . . . . . . 5. Schmitts Glossen im Handexemplar . . . . . . .

337 337 338 340 344 348

Teil IV: Aktualisierungsskizzen XXII. Carl Schmitts Aktualität. Sondierung eines globalen Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Selbsthistorisierung und systematische Stichworte 2. Präsenz in der Diskussion . . . . . . . . . . . . 3. Systemform des Rechts . . . . . . . . . . . . .

353 353 357 363

23 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Detaillierte Gliederung

4. 5.

Das doppelte Register des Ausnahme- und des Normalzustands . . . . . . . . . . . . . . . . . Umwertung Carl Schmitts: für einen Primat der Liberalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXIII. Zur Aktualität Carl Schmitts (2016). Interview von Timo Frasch mit Reinhard Mehring . . . . . . . . . . . XXIV. Weltkonflikte mit Carl Schmitt (2015/16) . . . . . . . 1. Selektive Aktualisierung . . . . . . . . . . . . 2. Freund-Feind-Theorie deskriptiv und normativ 3. Aktualisierung der Theorie des Partisanen . . . 4. Großraum und Revanchismus: Russland und die Ukraine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Europäisierung der Souveränität . . . . . . . . 6. Zur Rolle Deutschlands in Europa . . . . . . .

. . . .

367 370

373 385 385 386 387

. 393 . 396 . 402

Nachweise der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . .

407

Siglen der wichtigsten Werke Schmitts . . . . . . . . . . . . .

410

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Teil I: Positionsnahmen

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I. Der Apologet als Mineur. Carl Schmitts agonale Ideengeschichte 1

Schmitt konzipierte seine Positionen und Begriffe als thetische Antworten auf eine gegebene Lage, die er für die Zwischenkriegszeit durch die Stichworte »Versailles«, »Genf« und »Weimar« kennzeichnete. Alle spezifisch politischen Begriffe verstand er dabei grundsätzlich als »polemische« Begriffe. Daraus folgte eine Absage an ein historistisches Objektivitätsideal und ein Bekenntnis zur Tendenzgeschichtsschreibung: zu einer politisch-polemischen Form der Ideengeschichtsschreibung, die hier im dekonstruktiven Verfahren elementar charakterisiert wird.

1.

Ideengeschichte und Geistesgeschichte

Das Wort »Ideengeschichte« hat einen idealistischen Klang. Die ältere Form der Ideengeschichtsschreibung, von der Schmitt sich abstieß, entstand nach Hegel im Historismus des 19. Jahrhunderts. Leopold von Ranke skizzierte seine Ideenlehre 1836 in seinem politischen Lehrgespräch über Die großen Mächte. Dort unterschied er zwischen den »Formen« und dem »Geist« einer Verfassung; er meinte, dass die Formen nur »ein zweites, untergeordnetes Element« sind; ursprünglich sei »das Ideen eigentümliche geistige Dasein des individuellen Staates, sein Prinzip.« 2 Durch diesen »Geist« habe jeder Staat sein individuelles »Leben«. Ranke findet diese »moralische Energie« vor allem in den großen europäischen Nationen verkörpert, die zur Nationalstaatsbildung tendieren und ihre Potentiale mehr oder weniger Der – bisher nur in brasilianischer Übersetzung publizierte – Text wurde am 17. Dezember 2012 im Kolloquium von Prof. Dr. Gerald Raulet an der Pariser Universität Sorbonne und am 8. Januar 2013 im Kolloquium von Prof. Dr. Karsten Fischer an der LMU-München vorgetragen. 2 Leopold von Ranke, Die großen Mächte. Politisches Gespräch, hrsg. Theodor Schieder, Göttingen 1955, 54 1

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I. · Carl Schmitts agonale Ideengeschichte

kongruent realisieren: »Individualitäten, eine der andern analog, – aber wesentlich abhängig voneinander. […] geistige Wesenheiten, originale Schöpfungen des Menschengeistes, – man darf sagen, Gedanken Gottes.« 3 Rankes Lehrgespräch verteidigte das »monarchische Prinzip« gegen demokratische Konsequenzen. Auch seine kontemplative Emphase war hier ein Stück Politik: Orientierung an der restaurierten Allianz der großen europäischen Monarchien nach 1815. Ranke zählt zu den Begründern der Historischen Schule und modernen Historiographie. Für die weitere Entwicklung wurde Wilhelm Dilthey besonders prägend. Grob gesagt vermittelte er Ranke und Schleiermacher mit Hegel und spannte die protestantische »Unmittelbarkeit« des Individuums zu Gott in eine starke Meistererzählung vom Gang der »Geistesgeschichte« ein. Seine Metaphysikgeschichte war politisch grundiert. Dilthey meinte, dass die Entdeckung und Entwicklung des »organischen Systems« der Geisteswissenschaften im Rahmen der preußischen Geschichte erfolgte, und betrachtete den Aufbruch Preußens, seinen riskanten Aufstieg zur europäischen Großmacht, als den Erfahrungsboden, der mit den preußischen Reformen und der Berliner Universität den deutschen Idealismus und Historismus des »organischen Systems« ermöglichte. Seine großangelegte politische Geistesgeschichte und Weltanschauungslehre war an der Berliner Universität ein philosophisches Pendant zu Heinrich von Treitschkes Nationalgeschichte. Die Projekte einer »borussischen« Nationalgeschichte von der deutschen Sendung Preußens und der philosophischen Geistesgeschichte Diltheys gehören zusammen. Der Historismus wird aber oft einseitig nur als rein fachhistorisches Projekt betrachtet. 4 Die metaphysikgeschichtlichen Motive von Diltheys Geistesgeschichte gingen in Heideggers »Seinsgeschichte« unter. 5 In der Zwischenkriegszeit wurde deshalb insbesondere der Berliner Historiker Friedrich Meinecke zum letzten Erben und Apologeten des Historismus, der das Erbe des Historismus gegen die nationalsozialistische TendenzEbd., 61 Klassische Darstellungen: Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Tübingen 1922; ders., Der Historismus und seine Überwindung, Berlin 1924; Erich Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 2. Aufl. 1930; Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, München 1936 5 Dazu Martin Heidegger, Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschauung, in: ders., Vorträge Teil I: 1915–1932. Heidegger-Gesamtausgabe Bd. 80.1, Frankfurt 2016, 103–157 3 4

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Schmitts ideenpolitische Auffassung der Begriffe

geschichtsschreibung stellte. Diese Geschichte des Historismus wirkte über den Epochenbruch der Zwischenkriegszeit hinaus. In der Historiographie des Historismus siegte Meinecke über Dilthey und Troeltsch; die initialen philosophischen Motive wurden seither kaum noch vernommen. Damit wurde der Historismus auf ein geschichtswissenschaftliches Projekt verengt und in die Geschichtswissenschaft abgeschoben. Der Historismus vertrat anfänglich aber keinen engen geschichtswissenschaftlichen Positivismus: Er war eine »Weltanschauung« mit starken religiösen, politischen und philosophischen Motiven. Man sollte also nicht nur an Goethe und Ranke, Treitschke und Meinecke denken, sondern auch an Hegel und Dilthey, Ernst Troeltsch, Eduard Spranger und Werner Jaeger, um zu sehen, wovon Schmitt sich abstieß.

2.

Schmitts ideenpolitische Auffassung der Begriffe 6

Schmitt hielt sich nicht lange mit methodologischen Vorüberlegungen auf, sondern erläuterte seine Methodik in der Anwendung. Seine erste größere ideengeschichtliche Monographie brachte die politische Romantik auf eine »metaphysische Formel« (PR 22) und definierte die »Struktur des romantischen Geistes« als »subjektivierten Okkasionalismus.« (PR 23) Schmitt nahm die politische Romantik als »geistige Bewegung metaphysisch und moralisch ernst« (PR 7) und kritisierte sie als aktuelle Tendenz. Seit seiner Dissertation Über Schuld und Schuldarten unterschied er scharf zwischen einem bloß »terminologischen« und einem »systematischen« Vorgehen. Für einen Autor seines Rangs schrieb er überraschend viele Rezensionen. Am Beginn der Weimarer Republik verstrickte er sich dabei in hitzige Rezensionsfehden. Seine Klinge forderte stets scharfe Begrifflichkeiten und genaue politische Kontextualisierung ein. Mit der Rezeption seiner Schriften war er nie zufrieden. So machte er die »MeineckeClique« und »Spann-Bande« für die angeblich mangelnde Beachtung seiner Politischen Romantik verantwortlich und publizierte 1926 einen scharfen Verriss von Meineckes Idee der Staatsraison, den er

Auszug aus dem Aufsatz: Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt, in: Hans Joas u. Peter Vogt (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt 2010, 138–168, hier: 142–149

6

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I. · Carl Schmitts agonale Ideengeschichte

»mit einem höflichen Brief« (TB 11. 9. 1926) persönlich übersandte. 7 Dieser Meinecke-Verriss ist ein Muster seiner begrifflichen Forderungen. Schmitt nahm ihn deshalb auch in seine Sammlung Positionen und Begriffe auf. Schmitt bemängelt hier zunächst, dass Meineckes »Mosaik der tausend Nuancen« »jedem Versuch einer Kritik« zuvorkomme (PB 45). Jede begriffliche Festlegung sei sorgfältig vermieden. Der »Verzicht auf den Begriff« bedeute aber nicht nur einen »Verzicht auf jede Spannung dialektischer Entwicklung«, sondern auch »auf eine strenge Architektur überhaupt«. Deshalb zerfalle die Studie in eine »Reihe von Essays und Portraits«. Schmitt führt aus, wie ein »moralischer Dualismus« an die Stelle der alten Idee der Staatsraison tritt; er abstrahiert ein Spektrum polarer Begriffe, deren organisierende moralische »Grundanschauung« Meinecke nicht präzise formuliert habe. Dessen »geistige Eigenart« sei durch das »Bild von der Pendelschwingung« (PB 49) annähernd erfasst: Meinecke pendele zwischen seinen Begriffen hin und her. Schmitt charakterisiert ihn damit als »liberalen« Romantiker. Die begrifflichen Defizite macht er vor allem an der Rede vom »Tragischen« fest. Schmitt schreibt dazu: »›Tragisch‹ ist keine Kategorie, die, wenn man einmal ein moralisches Gebot ernst nimmt, die letzte Antwort auf einen Konflikt geben könnte. Das Wort ist höchstens ein Ausdruck der inneren Problematik dieses moralischen Gebotes selbst, eine Umschreibung tiefen Bedauerns und der Erschütterung, die aus der historischen Einsicht in die Ohnmacht des Gebotes oder in die Unvermeidlichkeit der Durchbrechung entsteht, aber es kann nicht der überzeugende Schluss eines Werkes sein, in welchem das Problem der Staatsräson von der moralischen Seite gestellt wird. Ein solches Wort bedeutet, dass das Buch kein letztes Wort hat. Eine nur historische Schilderung braucht allerdings auch kein letztes Wort zu haben. Anders aber ein Werk, das nun einmal den Standpunkt des Moralgebotes anerkannt hat.« (PB 50 f.)

Wer ein »allgemeines Moralgesetz« akzeptiert, kann keine »Durchbrechung« billigen, sondern muss moralische Defizite und Verfehlungen einklagen. Meinecke schlage zwar eine moralistische Tonart an, führe sie aber nicht konsequent durch. Dass er von »Tragik« statt

Meineckes überraschend freundliche Antwort vom 25. September 1926 ist abgedruckt in: Friedrich Meinecke, Neue Briefe und Dokumente, hrsg. Gisela Bock u. Gerhard A. Ritter, München 2012, 287, vgl. 319 f.

7

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Schmitts ideenpolitische Auffassung der Begriffe

von Verfehlung spricht, hält Schmitt für moralisch inkonsequent und politisch symptomatisch. Schmitt deutet eine alternative Auffassung der Staatsräson an, akzeptiert einen Unterschied zwischen der »alten«, absolutistischen Staatsräson und der Gegenwart und will die »neue« Staatsräson vom »Gegensatz von normalen und abnormen Fällen« (PB 46) und der »Annahme der abnormen Situation« (PB 47) her aufgefasst wissen. Von dieser Souveränitätslehre her ergebe sich eine spezifisch politische Betrachtungsweise, die zu einer wahrhaft historischen gehöre. In der Meinecke-Rezension spielt Schmitt also seine Souveränitätslehre gegen die Romantik aus. Er betrachtet Meineckes »Moralismus« und »Dualismus« als Hemmnis, zu einer politischen Sicht der Geschichte durchzudringen. Seine Kritik ist systematisch treffend: Die geläufige Unterscheidung »moralischer« und »politischer« Betrachtungsweisen scheint wirklich nur sinnvoll, wenn Moral und Politik nicht als symmetrische Gegenbegriffe, sondern als Begriffe unterschiedlicher Ordnung betrachtet werden. Moral bezieht sich auf die Wertung von Verhalten als gut oder böse, Politik dagegen auf die strategische Durchsetzung moralischer Überzeugungen. Politik ist nicht an sich gut oder böse. Nicht Politik überhaupt, sondern nur eine bestimmte Politik lässt sich moralisch qualifizieren. Moralische Betrachtungsweisen können deshalb nicht an die Stelle politischer treten. Wichtiger ist hier aber die überraschende These, dass Meineckes unpolitischer Dualismus zu einer unhistorischen Betrachtungsweise führte. Schmitt schreibt dazu am Ende seiner Besprechung: »Wenn er [Meinecke] trotzdem versuchte, die Idee der Staatsräson auch noch im 19. und sogar noch im 20. Jahrhundert als Mittelpunkt seiner Darstellung beizubehalten, so war ihm das nur möglich, weil er den Begriff zu einer ganz allgemeinen Vorstellung von Machtstreben, Machtpolitik und dergleichen erweiterte und ihn einem ebenso allgemeinen Moralgebot gegenüberstellte. Höchst auffällig, ja widerspruchsvoll. Denn nicht nur das Spezifische des Begriffes geht verloren – das hat den Verfasser ex professo niemals interessiert –, sondern gerade das, was der Historiker gegenüber dem generellen Moralismus früherer Jahrhunderte sonst immer betont und was die Überlegenheit der neueren deutschen Geschichtsschreibung ausmacht. So rächt sich der verachtete Begriff. Wenn wir ins Allgemeine gehen und von den historischen Besonderheiten absehen, dann ist nämlich die ›gereinigte‹ oder ›wahrhaft weise‹ Staatsräson schließlich nichts anderes, als die ›gute‹ Staatsräson, die schon im 16. und 17. Jahrhundert einer schlechten, cattiva ragione di stato entgegengesetzt wurde.« (PB 52)

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I. · Carl Schmitts agonale Ideengeschichte

Schmitt führt also in seiner Meinecke-Besprechung an einem Hauptvertreter der alten, noch mit Ranke verbundenen Ideengeschichtsschreibung seine Forderung nach einer historisch-politisch »konkreten« Betrachtungsweise für sein Thema, die Staatsräson bzw. Souveränität, vor. Er verbindet den Nachweis von Meineckes unhistorischer Befangenheit in Moralismen mit einem Anspruch auf scharfe Begrifflichkeiten und historisch-politische Kontextualisierung und schreibt seine programmatische Kritik in der Gewissheit, über eine überlegene Methodik zu verfügen. Schmitts Methodik ist formelhaft bekannt: »Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.« (PT 49) »Jeder politische Begriff ist ein polemischer Begriff.« (HP 5; vgl. BP 31) Schmitt spricht von einer »Soziologie von Begriffen«, die das »metaphysische Bild« einer Epoche suche. Er bietet dafür eine synchrone und eine diachrone Lesart an: In synchroner Lesart spricht er von »Strukturidentität«: »Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form einer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet. Die Feststellung einer solchen Identität ist die Soziologie des Souveränitätsbegriffes.« (PT 59 f.) In diachroner Lesart spricht Schmitt von einem Prozess der »Neutralisierungen und Entpolitisierungen« (BP 79–95). Er legt die Entwicklungsdynamik dieses Prozesses politisch aus und betrachtet die Dynamik der »Neutralisierung« als notwendig scheiternden Versuch, den Frieden stabiler Deutungen durch Flucht in vermeintlich »unpolitische« Sachgebiete zu erreichen. Eine dauerhafte Stabilität kollektiver »Lebens- und Weltanschauungen« (Dilthey) gibt es nach Schmitt nicht. Weil alle Orientierungssysteme bestimmte Träger haben, sind sie umkämpft und instabil. Jede Politik der Wahrheit entzündet Konflikte. Schmitt spricht von politischer Theologie, Geistesgeschichte und Metaphysik ziemlich lax und undifferenziert. Zwar deutet er eine Eigenart metaphysikgeschichtlicher Betrachtung in der Schrift über Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus an. Das Verhältnis von politischer Geschichte und Metaphysikgeschichte bleibt aber unklar. Von der synchronen und systematischen Variante her gelesen besagt Schmitts »Politische Theologie« etwa Folgendes: Zentrale oder »prägnante« juristische Begriffe haben weltanschauliche oder metaphysische Hintergrundannahmen. So ist der neuzeitliche Souveränitätsbegriff nur im Horizont der vorherrschenden Metaphysik begründet und verständlich. Politische und juristische 32 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Schmitts ideenpolitische Auffassung der Begriffe

Begriffe haben einen metaphysischen Index und sind philosophisch lesbar, weil die politischen Formen, die solche Begriffe reflektieren, nur innerhalb einer (weltanschaulich) im Ganzen gedeuteten Welt »prägnant«, sinnvoll und stabil sind. Weil Schmitt eine solche hermeneutische These oder »Weltanschauungslehre«, wenn auch sehr allgemein und undifferenziert, vertritt, hält er einen utopischen Standpunkt jenseits aller Weltanschauungen für unmöglich. Er beansprucht deshalb auch keine weltanschaulich neutrale Beobachterposition, sondern positioniert sich innerhalb des analytisch sondierten Terrains. Schon seine an Hobbes exemplifizierte These vom Zusammenhang von Personalismus und Dezisionismus konnte ihn davon überzeugen, dass die rechtsphilosophische Option für den Dezisionismus ein personalistisches Weltbild impliziert. Die »begriffssoziologische« Beobachtung politischer Theologie drängte ihn zu einer politisch-theologischen Parteinahme, wie der Gedankengang der Programmschrift von 1922 deutlich zeigt. In machtanalytischer Lesart betrachtet Schmitt den politischen Diskurs im Zusammenhang der Absichten seiner Träger. In diesem Rahmen betont er die polemische Profilierung von Bedeutungen. In metaphysik- oder geistesgeschichtlicher Lesart fragt er verstehendsoziologisch nach dem »Glauben«, den solche Diskurse bei ihren Trägern finden. Er scheint der Auffassung zu sein, dass sich Bedeutungen im polemischen Gebrauch, durch freund-feindliche Gegensätze, derart profilieren, dass sie bestimmte Bedeutungen fixieren, die sich als handlungsleitende normative Überzeugungen pragmatisch bewähren. »Prägnante« »metaphysische« Begriffe im Sinne Schmitts wären demnach politisch fixierte Begriffe, mit denen sich ihre Träger moralisch identifizieren. Schmitt verbindet die Frage nach der Fügsamkeit, nach dem »Glauben«, den »Prinzipien« und »Begriffe« finden, mit deren politischer Funktion, Ordnung zu schaffen, indem sie Freund und Feind unterscheiden. Nur diejenigen Begriffe scheinen ihm glaubwürdig, die relative Ordnung schaffen. Solche pragmatischen Ordnungs- bzw. Pazifizierungsleistungen von Begriffen sind aber nur von relativer Dauer. Indem Begriffe Freund und Feind polarisieren, profilieren sie mit der Ordnung zugleich deren Gegner; sie schärfen die »Kritik« und tragen so den Keim der Zerstörung in sich. Schmitts diverse Rekonstruktionen der Weimarer Verfassung führen diese Ambivalenz der Begriffe, ihre Assoziations- und Dissoziationskraft, eindringlich vor. In der Geistesgeschichtlichen Lage 33 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

I. · Carl Schmitts agonale Ideengeschichte

ebenso wie in der Verfassungslehre, im Hüter der Verfassung und, besonders deutlich, in Legalität und Legitimität rekonstruiert Schmitt die Weimarer Verfassung idealtypisch unter Hinweis auf tödliche Inkonsequenzen und Sollbruchstellen im Gefüge. Der begriffliche Anspruch dieser Schriften ist allenthalben greifbar: Schmitt entwickelt den »Begriff der Verfassung«, den »Begriff des Politischen«, »Prinzipien des Parlamentarismus«, einen Idealtypus vom Weimarer »Gesetzgebungsstaat« und stellt die Frage nach dem »Hüter« der Verfassung. Später verweist er auf Bismarcks Bitte um »Indemnität« oder auf die Gewährung der Glaubensfreiheit als »Todeskeim« und Bruchstelle von Staat und Verfassung. Er spielt nicht eigentlich Verfassungswirklichkeit gegen Verfassungsrecht aus, sondern zeigt vielmehr, dass politische Bewegungen Widersprüche und Inkonsequenzen entfalten, die im Verfassungsgefüge angelegt sind. Mit Max Weber gesprochen, weist er darauf hin, dass Idealtypen als Handlungsmodelle normativ-praktische Effekte zeitigen. Das gilt auch für die juristische Kritik: Auch deren systematische Rekonstruktionen sind ein Politikum. Prägnante begriffliche Analysen formulieren demnach als rationale Rekonstruktionen politischer Formen normative Orientierungen von Akteuren und können deshalb auch einen prognostischen Gehalt haben. Diese Pfad- oder Weichenstellung prägnanter politischer Analysen und Begrifflichkeiten meint Schmitt mit seiner Rede vom »Begriffs-Realismus«. Die politische Betrachtung der Diskurse, der Sinn für die Bedeutung einer Herrschaft über die politische Semantik, zeigt sich im Werk durchgängig. »Der Sieger schreibt die Geschichte« (ECS 25), schreibt Schmitt seinen Lesern ins Stammbuch, um sie daran zu erinnern, dass auch der Besiegte im Kampf gegen die »geistige Unterwerfung« bisweilen siegreich sein kann. Entpuppt er vor 1933 Versailles als Machtbedingung von Weimar und Genf, so geht er seit 1933 bei der »geistigen Eroberung« des Vokabulars in die nationalsozialistische Offensive. Immer wieder schärft er die Bedeutung dieses ideenpolitischen Kampfes um Positionen und Begriffe ein. Bald nimmt er die ideenpolitische Auseinandersetzung um »Grundworte«, wie »Rechtsstaat« und »Recht«, auch etymologisch auf. Im selben Maße, wie er die Träger seiner Politik schwinden sieht, verlegt er seine politischen Absichten auf die hermeneutische Bewahrung ihrer Verständnisvoraussetzungen. Formelhaft proklamiert er – in NomosNahme-Name – einen »Zusammenhang von Nahme und Name«

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Geistesgeschichte als »Politische Theologie«

(SGN 584 f.), wonach Recht mit der Durchsetzung echter Namen und Begriffe verknüpft sei. Ins Glossarium notiert er die Devise: »Begreife den Machthaber, der nach Dir greift; setze seinen Griffen keine Gegengriffe gleichen Niveaus entgegen; erprobe lieber an seinen Bewegungen Deine Kraft zu Begriffen. Auch nach Deinen Begriffen wird er greifen. Doch laß ihn nur greifen. Er wird sich in die Pfoten schneiden.« (GL 109)

3.

Geistesgeschichte als »Politische Theologie«

In einer kleinen Rezension forderte Schmitt 1925 starke historiographische Linienführungen: »Ob man eine Geschichte politischer Ideen in der Form einer Galerie von ›Persönlichkeiten‹ oder als eine begriffliche, dogmen- oder ideengeschichtliche Entwicklung darstellen soll, ist heute wohl keine Frage mehr. Die Methode der Porträtierung erscheint uns heute als ziemlich veraltet und Residuum eines vergangenen Liberalismus.« 8 Das zielte auch gegen den Historismus. Schmitt lobte die Hegelianer für ihren »Glauben« an eine »dialektische Entwicklung der Begriffe«, las die Entwicklungsdynamik aber politisch. Jederzeit betonte er den strategischen, politischen und präsentistisch auf bestimmte Lagen und Bedürfnisse der Gegenwart zugeschnittenen Umgang mit der Geschichte. Programmatisch sprach er das nach 1933 besonders prägnant in einem kurzen Aufsatz über »neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte« aus. 9 Seine Broschüre Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches vom Frühjahr 1934 realisierte dieses tendenzhistorische Programm. Der Berliner Kollege Fritz Hartung 10 verteidigte damals dagegen die historistischen Standards. So gibt es wenigstens zwei führende Berliner Carl Schmitt, Rezension von Charles Vaughan, Studies in the history of political philosophy before and after Rousseau, London 1925, in: Deutsche Literaturzeitung 46 (1925), 2086–2090, hier: 2088 9 Carl Schmitt, Über die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte, 1936 (PB 229– 234); dazu vgl. Ewald Grothe, Verfassungsgeschichte als »politische Wissenschaft«. Carl Schmitt »über die neuen Aufgaben« und die Deutung der deutschen Verfassungsgeschichte im Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 29 (2007), 66–87 10 Fritz Hartung, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches, in: Historische Zeitschrift 151 (1935), 528–544; dazu vgl. Hans-Christof Kraus, Soldatenstaat oder Verfassungsstaat? Zur Kontroverse zwischen Carl Schmitt und Fritz Hartung über den preußisch-deutschen Konstitutionalismus (1934/35), in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 45 (1999), 275–310 8

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Vertreter des Historismus, mit denen Schmitt in den 20er und 30er Jahren in Kontroversen geriet: Friedrich Meinecke und Fritz Hartung. Stets betrachtete Schmitt die intellektuelle Auseinandersetzung als eine Form des Kampfes. Programmatisch vertrat er eine politische Ideengeschichtsschreibung, die die Geschichte in starken Linien deutete und offensive Geschichtspolitik betrieb. Alle politischen Begriffe sind polemische Begriffe, meinte er. Alle politischen Positionen müssen in agonalen, freund-feindlichen Konstellationen gelesen werden. So sind seine ideengeschichtlichen Statements bewusst so perspektivisch und pointiert formuliert, dass sie sich eigentlich erst im agonalen Kontext in ihrem »konkreten« Sinn angemessen verstehen lassen. Deshalb ist Schmitt auch ein Pionier der Diskursanalyse. Seine ideengeschichtlichen Interventionen sollten in ihrem perspektivischen Feld, ihrem Adressaten, ihrer Rhetorik und Wirkung gelesen werden. Schmitt wollte nicht entkontextualisierend als »Klassiker« gelesen werden und keine transhistorischen Botschaften vermitteln. Dabei verstand er sich primär als Jurist. Seine Verfassungslehre bezeichnete er aber als eine »Politische Theologie«. Er las bestimmte Herausforderungen irgendwie »theologisch« und antwortete politisch. Schmitt adressierte sein Werk präsentistisch an die Mitwelt. Die »Ideengeschichte« als solche interessierte ihn nicht. Wenn er aber von »geistesgeschichtlicher Lage« und »Politischer Theologie« sprach, klingen noch Hintergrundmotive des Berliner Historismus an. Der Titel der Geistesgeschichte war ja durch die Dilthey- und die Meinecke-Schule besetzt. Eine theologische Lesart muss zwar nicht religiös gebunden sein; Schmitt vertrat mit seiner »Theologie« aber auch religiöse Ansprüche. Dabei trennte er kaum zwischen den Geltungsansprüchen von Philosophie und Theologie: Beide las er als konfessionellen Diskurs. Vor allem suchte er mit der »Theologie« den Schritt aus der neutralen Beobachtung in die konfessionelle Teilnahme, aus der Theorie in die Praxis. Diltheys metaphysikgeschichtlicher Horizont ist dabei nicht gänzlich verlassen. So klingt Diltheys Unterscheidung zwischen einem »organischen« und einem »natürlichen« System der Geistesgeschichte in der durchgängigen Unterscheidung zwischen einem »organischen« und einem positivistisch-»normativistischen« Staatsdenken an. 11 Schmitt steht dem »organischen« Staatsdenken buchDazu aber auch Erich Kaufmann, Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips, Leipzig 1906

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Schmitts ideengeschichtliche Studien

stäblich zwar immer wieder vorbehaltlich gegenüber; andererseits zog er die »organische« Staatslehre aber der neueren Traditionslinie des »normativistischen« und »positivistischen« Staatsrechtsdenkens eindeutig vor. Während Dilthey einen Übergang vom »natürlichen System« der Aufklärung zum »organischen System« des preußischdeutschen Idealismus und Historismus konstatierte, ging Schmitt von einer Hegemonie des positivistisch-normativistischen Staatsrechtsdenkens aus und argumentierte für dessen Überwindung durch Rückgang auf die ältere Traditionslinie. Hobbes, Hegel und Lorenz von Stein wurden ihm dabei zu strategischen Argumenten im Kampf gegen den positivistischen und normativistischen Zug zur Emanzipation des Rechtsdenkens aus allen metajuristischen Bezügen und Perspektiven. Systematisch vertrat er aber weder Hobbes noch Hegel; sein geschichtliches Denken schloss die Restauration irgendeiner Klassik eigentlich aus.

4.

Schmitts ideengeschichtliche Studien

Schmitts erste größere geistesgeschichtliche Monographie, die Studie zur Politischen Romantik, klärte den Anti-Individualismus geistesgeschichtlich. Mit dieser Studie positionierte Schmitt sich am Beginn der Weimarer Republik zur katholischen Publizistik seiner Zeit. Innerhalb dieser Publizistik distanzierte er sich vom Mainstream des katholischen Naturrechts. Er neigte starken Trennungen von Religion, Moral und Recht zu, lehnte alle dogmatischen und neuscholastischen Synthesen ab, die sich einem Primat Roms oder der Zentrumspartei zuordnen ließen, und rezipierte die religiös vagabundierende Publizistik im breiten Strom des existentialisierenden Christentums nach Kierkegaard, dem französischen Renouveau catholique und der Action français. Nach der Romantikkritik arbeitete er die neuzeitlichen Staats- und Souveränitätstheorien von Machiavelli bis Rousseau durch. Seine Monographie Die Diktatur zielte auf den begriffsgeschichtlichen Befund eines Übergangs von der »kommissarischen« zur »souveränen« Diktatur. Erstmals beschrieb Schmitt hier die verfassungsgeschichtliche Wendung zum Exekutivstaat, die für sein weiteres Verfassungsdenken leitend bleibt. Schon 1921 ist seine politische Ideengeschichte der Neuzeit deshalb auch in den Grundlinien entwickelt. Hier vor allem wollte er die Standards einer verfassungsgeschichtlich akzentuierten Ideengeschichtsschreibung prägnant er37 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

I. · Carl Schmitts agonale Ideengeschichte

füllen. Danach griff er nur noch selektiv zu. Schon in seiner Münchner und Bonner Zeit lehrte Schmitt zwar die neuzeitlichen Klassiker politischer Theorie. Niemals aber machte er sich die umfassende Beschreibung der politischen Ideengeschichte zur vordringlichen Aufgabe. Romantikkritik und Etatismus führten Schmitt am Beginn der Weimarer Republik in die Reihen der Gegenrevolution. Seine frühe Skizze zur Entwicklung der gegenrevolutionären Staatstheorie – »von der Legitimität zur Diktatur« – ergänzte er dabei durch autobiographisch grundierte Aufsätze zu Donoso Cortés. Sein schlankes Buch Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, von 1938, ist dann alles andere als eine umfassende Hobbes-Darstellung vom »Leben und Werk« oder eine eingehende Analyse des »kontraktualistischen Arguments« oder der naturrechtlichen Philosophie. Die Philosophie von Hobbes kommt in diesem Hobbes-Buch kaum vor. 12 Stattdessen erörtert Schmitt, laut Untertitel, den »Sinn und Fehlschlag« des politischen Leviathan-Symbols. In antisemitischer Zuspitzung entwickelt Schmitt hier die pointierte These, dass der genuine »Sinn« des Leviathan-Symbols, die Konstruktion politischer Totalität, durch die liberale Rezeptions- und Auslegungsgeschichte gleichsam pervertiert worden sei. Hobbes sei es nicht wirklich gelungen, seinen mythopolitischen Ansatz in die rationale Konstruktion des Verfassungsstaats zu integrieren; Spinoza habe die »große Einbruchstelle« erkannt und zum Angelpunkt der Zähmung des Leviathan gemacht, die eine jüdische »Front« dann strategisch konsequent aufriss. Als »Sinn« des Symbols rekonstruiert Schmitt einerseits die biblische Herkunft und religiöse Bedeutung und andererseits den aktuellen mythopolitischen Einsatz des »Symbols« als propagandistisches Mittel zur Rekonstruktion eines »totalen Staates«. Kein Rechtsstaat hat die Macht über die Gewissen, meint Schmitt: Mit der Legalität formiert sich der moralische Gewissensvorbehalt. Diese neuzeitliche Trennung von Moral und Recht will Schmitt mit den Mittel des politischen Mythos und propagandistischen Einsatz des Leviathan-Symbols kassieren: Das Schreckbild vom Leviathan soll die Bürger in der Furcht vor einem »totalen Staat« halten. Diesen propagandistischen Mehrwert des Mythos, im Leviathan-Symbol kondensiert, gelte es für den Nationalsozialismus zu nutzen. Dazu Verf., Carl Schmitt, Leo Strauss, Thomas Hobbes und die Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch 112 (2005), 378–392

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Dekonstruktives Verfahren

Schmitts polemische Verzerrungen müssen hier nicht ausgeführt werden. Es kann genügen, dass das Leviathan-Buch von 1938, Schmitts einzige klassikerzentrierte Monographie, das Zentrum von Hobbes’ Selbstverständnis, Hobbes’ Philosophie, auffällig und ostentativ ignoriert und stattdessen eine mythopolitische Aktualisierung vorschlägt, die Schmitt durch eine äußerst problematische und nur andeutend ausgearbeitete religionsgeschichtliche Lesart stützt. Das konfessionelle Szenario vom weltgeschichtlichen Kampf zwischen Judentum und Christentum und das antisemitische Zerrund Schreckbild vom »jüdischen Geist« müssen hier nicht ausbuchstabiert werden, um Schmitts Absage an jeden ideengeschichtlichen Historismus und Objektivismus und seinen politisch-polemischen Umgang mit der »Geistesgeschichte« zu sehen.

5.

Dekonstruktives Verfahren

Schon in seiner Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen zitierte Schmitt – nach Harnacks SohmKritik – die Wendung Goethes, eine Idee trete »immer als fremder Gast in die Erscheinung« (WdS 76). Später entwickelte er daraus gewichtige Überlegungen zum exzentrischen oder »voraussetzungslosen Vollstrecker«: 1948 schrieb er in sein Glossarium: »Die Idee bemächtigt sich eines Individuums und tritt dadurch immer als fremder Gast in die Erscheinung. Der fremde Gast war Adolf [Hitler]. Er war fremd bis zur Karikatur.« (GL 114) In vielen Varianten thematisierte und problematisierte Schmitt die Relation zwischen »Idee« und »Wirklichkeit«. Bei Goethe hieß es wörtlich: »Eine jede Idee tritt als ein fremder Gast in die Erscheinung, und wie sie sich zu realisieren beginnt, ist sie kaum von Phantasie und Phantasterei zu unterscheiden.« 13

Goethe meinte aber auch: »Jede große Idee, sobald sie in die Erscheinung tritt, wirkt tyrannisch; daher die Vorteile, die sie hervorbringt, sich nur allzu bald in Nachteile verwandeln. Man kann deshalb eine jede Institution verteidigen und rühmen,

Johann Wolfgang v. Goethe, Maximen und Reflexionen, in: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. Erich Trunz, München 1981, Bd. XII, 439

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I. · Carl Schmitts agonale Ideengeschichte

wenn man an ihre Anfänge erinnert und darzutun weiß, dass alles, was von ihr im Anfange gegolten, auch jetzt noch gelte.« 14

Eine solche konservative Strategie positiver Rückbindung an Anfänge suchte Schmitt nicht. Er erzählte negative Perversionsgeschichten vom Abfall oder der Entfremdung von ursprünglichen Konzepten. Die Verfallslogik der politischen Ideen und »Systeme« beschrieb er dabei in dekonstruktiver Absicht. Schmitt vertrat einen starken Historismus, Systematizismus, Idealismus und Personalismus der Geistesgeschichtsschreibung. Seine Personalisierung der Geistesgeschichte und Zuschreibung aller politischen Ideen und Formen an Autoren und nomothetische Gründer ist dabei sachlich nicht zwingend: Autoren sind keine Originalgenies und vertreten oft nur mehr oder weniger geläufige Vorstellungen. Die Wirkungsgeschichte eines Autors hängt von einer ganzen Reihe kontingenter Faktoren ab. Schmitt personalisierte die Geistesgeschichte aber nicht zuletzt strategisch. Einerseits war er wirklich der Auffassung, dass es starke Autoren der Geistes- und Verfassungsgeschichte gab, die geschichtsmächtige Positionen und Begriffe formulierten; andererseits schätzte er die Personalisierung als ein einfaches rhetorisches Mittel im Kampf. Die personalisierende Zuspitzung ermöglichte ihm freund-feindliche Profilierungen, Demagogie und Propaganda. Spätestens seit der Politischen Romantik finden sich bei Schmitt starke Personalisierungen: 1919 demontierte er die Romantik exemplarisch am Beispiel Adam Müllers. Er erweiterte das Personal seiner Geistesgeschichte dann immer mehr und arbeitete die »Stadien« und Etappen der Verfallsgeschichte rekonstruktiv immer deutlicher aus. Schmitt entwickelte einen antibürgerlichen, antiliberalen und elitären Gegenkanon und baute Autoren gezielt als Gegner auf. So setzte er Lorenz von Stein und Bruno Bauer 15 als Hegelianer um 1848 gegen Karl Marx; Donoso Cortés repräsentierte ihm ein bestimmtes Stadium katholischer Gegenrevolution und Opposition gegen die Dominanz des Hegelianismus im Vormärz. Den Rechtspositivismus 16

Johann Wolfgang v. Goethe, Maximen und Reflexionen, Bd. XII, 381 f. Dazu Verf., »Autor vor allem der ›Judenfrage‹ von 1843«. Carl Schmitts Bruno Bauer, in: Klaus-Michael Kodalle / Tilman Reitz (Hg.), Bruno Bauer. Ein ›Partisan des Weltgeistes‹ ?, Würzburg 2010, 335–350 16 Dazu Verf., »Die Austreibung des Heidelberger Geistes«. Carl Schmitt und der Heidelberger Rechtspositivismus, in: Kriegstechniker des Begriffs, Tübingen 2014, 47–72 14 15

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Dekonstruktives Verfahren

konfrontierte er mit dem »Ernstfall« des Ausnahmezustands. Anschütz’ Kapitulationserklärung machte er dabei an dem Satz fest: »Das Staatsrecht hört hier auf.« 17 Kelsens »Relativismus« betrachtete er als eine betrügerische Kulisse des »jüdischen Geistes«. Schmitt dekonstruierte Hitler in privaten Aufzeichnungen, bei dessen exzentrischer Herkunft und Biographie ansetzend, als einen »falschen Demetrius« 18 und las Thomas Mann von Wälsungenblut her. 19 Seine letzten dekonstruktiven Minen zündete er im Spätwerk mit seinen Vereinnahmungen von Walter Benjamin 20 und Hugo Ball gegen die paradigmatische Rezeption der marxistischen politischen Ökonomie in der neuen Linken. Seine letzte Monographie Politische Theologie II richtete sich gegen alte Weggefährten und Freunde: gegen die Theologen Erik Peterson und Hans Barion. Weitere dekonstruktive Angelpunkte ließen sich finden. Dabei verlegte Schmitt die freund-feindlichen Gegensätze gelegentlich auch in einen Autor selbst. So spielte er den mythopolitischen Hobbes gegen den Philosophen aus. Ähnlich sah er die Fronten des Links- und Rechtshegelianismus in einem »Doppelgesicht« 21 Hegels inauguriert. Mit seiner nationalsozialistischen Entscheidung wechselte Schmitt 1933 von der Dekonstruktion in die Apologie über. Parallel findet sich ein Bemühen, missliebige »Einbruchstellen« zu verdecken. Das apologetische Bemühen markiert aber nun seinerseits verräterische Angelpunkte der Dekonstruktion. So schlagen Schmitts Apologien leicht in Dekonstruktionen um: Der Apologet wird zum Mineur wider Willen. Die Personalisierung der Fronten ist ein Stück politisch-theologischer Entlarvung und Aufklärung. Schmitts Schlüsselerfahrung ist hier das Verhältnis von Versailles und Genf: Den Genfer Völkerbund betrachtete er als eine rechtliche Verklärung und Legitimierung des Status quo von Versailles. Schon 1925 fand er dafür die prägnante Formulierung, dass dem »Unrecht der Fremdherrschaft« mit der LeGerhard Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. 1919, 906; zitiert Schmitt PT 22 18 Dazu Verf., Friedrich Schillers »Demetrius«. Ein später Baustein zu Carl Schmitts Hitler-Bild, in: Kriegstechniker des Begriffs, Tübingen 2014, 111–136 19 Dazu Verf., Der »Gross-Verwerter«: Carl Schmitts Geburtstagsmappe für Thomas Mann, in: Das »Problem der Humanität«. Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn 2003, 119–130 20 Dazu Verf., »Geist ist das Vermögen, Diktatur auszuüben«. Carl Schmitts Marginalien zu Walter Benjamin, in: Kriegstechniker des Begriffs, Tübingen 2014, 137–162 21 Nach Julius Löwenstein, Hegels Staatsidee. Ihr Doppelgesicht und ihr Einfluss im 19. Jahrhundert, Berlin 1927 17

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gitimitätsfassade des Völkerbundes der »Betrug der Anonymität« (FP 36) hinzugefügt wurde. Fortan wollte Schmitt die Machthaber hinter den Diskursen namhaft machen und die Souveräne oder Herren des Diskurses deutlich benennen. Schmitt kritisierte die Verwechselung von Macht mit Recht, Legalität mit Legitimität. Seine Suche nach Urhebern kaprizierte sich im Zuge antisemitischer Radikalisierung dabei verstärkt auf ein verschwörungstheoretisches Szenario von den Frontlinien und »Masken« des »jüdischen Geistes«. Seine politisch-theologische Konstruktion und Profilierung der Geistesgeschichte muss heute von dieser antisemitischen Paranoia befreit und auf sachliche Studien zur religiösen und konfessionspolitischen Grundierung intellektueller Diskurse und Debatten zurückgeführt werden. Dann lässt sich der Diskurspartisan als ein Pionier dekonstruktiver Verfahren schätzen. Sein Verfahren ließe sich mit dem weiten Feld des neueren Dekonstruktivismus vergleichen. Es mangelt in der Literatur auch nicht an solchen Brückenschlägen und Crossovers zwischen dem Rechtsund dem Linksintellektualismus Weimars, der Prämoderne und Postmoderne, Schmitt und Benjamin, Derrida oder Foucault. Sie sind oft anregend und fruchtbar. Dabei war Schmitt aber ein dekonstruktiver Systemdenker. Er forderte nicht nur scharfe Begrifflichkeiten, sondern auch konsequente Systemkonstruktionen. Liberalismus und Demokratie waren ihm keine bloßen Stichworte, sondern ganze Verfassungsgefüge und Systemansprüche. Die Arbeit am Begriff zielte auf die Dekonstruktion des Systems. Ein System steht und fällt mit der Konsequenz seiner Realisation. Dieser starke Konnex von Idee, Begriff und System ist heute selten. Schmitt glaubte zwar niemals wirklich an die Chance stabiler Systeme. Als Jurist wollte er diesen idealistischen Anspruch aber doch nicht ganz aufgeben. Erst nach 1945 warf er mit der Epoche der Staatlichkeit auch sein juristisches Systemdenken ab. Gerade als Systemdenker war er Dekonstrukteur. Schon das unterscheidet ihn wohl vom neueren Dekonstruktivismus. Zusammenfassende Thesen 1.

Schmitt lehnte die positivistische, objektivistische und antiquarische, liberale und relativistische Doxographie des Historismus ab. Er intendierte keine umfassenden Beschreibungen vom »Leben und Werk« irgendeines »Klassikers«.

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Dekonstruktives Verfahren

2.

Schmitt verstand sich primär nicht als Ideenhistoriker. Er betrachtete die Ideen aber idealistisch als geschichtsmächtige Weichensteller und betrieb Ideengeschichte als Teil der Verfassungsgeschichte. 3. Schmitt kehrte unter anderen politisch-theologischen Vorzeichen zur älteren »Geistesgeschichte« nach Hegel und Dilthey zurück. Anders als die nationalliberale Geistesgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts vertrat er seinen Nationalismus antiliberal. Eine klare Trennung von Philosophie und Theologie findet sich bei ihm nicht. 4. Schmitt rezipierte ideengeschichtliche Autoren nicht als transhistorische »Klassiker« in systematischer Absicht. Schon deshalb ist er auch nicht – als »Hobbesianer« oder »Hegelianer« o. ä. – durch einen Referenzautor charakterisierbar. 5. Schmitts selektiver Umgang mit »Klassikern« ist autobiographisch und politisch-theologisch grundiert. Die autobiographischen Identifikationen (mit Donoso Cortés, Thomas Hobbes, Bruno Bauer, Tocqueville, Savigny, Raoul Salan, Eusebius u. a.) betreffen primär keine Doktrin, sondern eine politisch-theologische Frontlinie und Konstellation. 6. Schmitts perspektivischer Umgang mit »Klassikern« muss deshalb verfassungsgeschichtlich und politisch-theologisch »konkret« aus dem jeweiligen Kontext verstanden und rekonstruiert werden. 7. Schmitts starke Personalisierung der Geistesgeschichte hat sachliche und strategische Gründe. 8. Schmitt formulierte einen geistesgeschichtlichen Gegenkanon. 9. Schmitt identifizierte die politisch-theologischen Frontlinien in nomothetischen Autoren. 10. Schmitt suchte bei den feindlichen Autoren gezielt nach dekonstruktiven Angelpunkten und Einbruchstellen. 11. Der starke Konnex von Idee, Begriff und System und der dekonstruktivistische Systemanspruch unterscheiden ihn vom neueren postmodernen Dekonstruktivismus.

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II. Der Bürger als Picaro. Die antibürgerliche Selbstdarstellung Carl Schmitts im Tagebuch 1

»Lieber Leser, vielleicht bist du ein / verkommenes Subjekt, vielleicht treibst du dich / in Bordellen herum und liest die Frankfurter Zeitung. Vielleicht hältst du Gerhart Hauptmann für einen großen Dichter / und Rainer Maria Rilke für ein Genie. / Sei unbesorgt. Ich liebe dich.« (TB 1921/24, 549) Solche Sätze sind kaum jemandem sonst zuzutrauen als Carl Schmitt. Er schrieb oder schmierte sie 1924 in stenographisch verschlüsselte Tagebücher, die er niemals zur Veröffentlichung bestimmte. Vielleicht hätte ihn die posthume Edition dennoch nicht gewundert. Denn er wusste ja: »Ich kümmere mich nicht um den kommenden Tag, mir gehört die Zukunft. Zwischen dem kommenden Tag und der Zukunft ist ein großer Unterschied.« (TB 1921/24, 413) Das Eingangszitat deutet schon an: Schmitt war ein ziemlich extremer, komplizierter und auch widersprüchlicher Typ. Er war ein politischer Romantiker, der die Romantik hasste, ein Soldat, der den »Militarismus« fürchtete, ein Etatist, der den Begriff des Politischen vom Staatsbegriff entkoppelte, ein Liberalismuskritiker, der libertär lebte und liberaler Toleranz bedurfte, ein Plebiszitärdemokrat, der die Massen scheute, ein Antisemit, der sich gerne mit jüdischen Intellektuellen unterhielt, ein erklärter Katholik, der kaum eine Häresie ausließ, ein passionierter Diarist, der das Tagebuchschreiben verpönte und manches mehr. Schmitt warf sich dabei nicht nur faktisch in die Kontingenz des Alltags hinein, sondern dramatisierte seinen Alltag auch autobiographisch als Ausnahmezustand. 2 Das Tagebuch führte den autobiographischen Komplementärbeweis für die Wirklichkeit

Der Text wurde als Vortrag am 12. Juli 2014 auf der Tagung Selbstreflexion und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts an der Universität Bochum vorgetragen. 2 Dazu vgl. Verf., Ein Leben im Ausnahmezustand, in: Kriegstechniker des Begriffs, Tübingen 2014, 1–29 1

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Antiargumente

des Ausnahmezustands. Der folgende Text sammelt einige Argumente Schmitts gegen das Tagebuchschreiben und stellt seine komplexe Tagebuchpraxis dann in einigen Aspekten vor.

1.

Antiargumente

Schmitt führte beinah sein Leben lang Tagebücher und lehnte solche individualistische, bürgerlich-romantische Selbstbespiegelungen doch mit religiöser Emphase energisch ab. 1918 publizierte er, in der exquisiten Zeitschrift Summa des befreundeten Literaturkritikers Franz Blei – hier nach dem Wiederabdruck in den Tagebüchern zitiert –, eine »geschichtsphilosophische« Satire auf den »Buribunken« als fiktiven Prototypus des modernen Menschen, der vor dem wirklichen Leben in autobiographische Geschichten flüchtet. Schmitt parodiert die Geschichte der Autobiographie von Don Juan und Leporello ausgehend; er spottet über die »Unzulänglichkeit der Leporelloschen Registerführung« und konstruiert weitere fiktive Buribunken. Als eigentlicher »Held«, der den Idealtypus erfüllt, tritt dabei ein gewisser Schnekke auf, den Schmitt früher als koautorschaftliche Romanfigur geplant hatte: »Er ist nichts mehr als Tagebuchführer, er lebt für das Tagebuch« (TB 1915/19, 464 f.) und organisiert die »buribunkische Innerlichkeit« als bürokratische Registratur der Totalität aller Tagebücher. Sein »Reich des Buribunkentums« ist eine Behörde wie das Münchner Stellvertretende Generalkommando, in dem Schmitt bis 1919 als Soldat arbeitete, wie ein schwarzes Gemälde aus einem Roman Franz Kafkas. Die »Pflicht zum Tagebuch« ist das Gebot. Das Reich der Buribunken organisiert einen »Willen zur Macht über die Geschichte« (TB 1915/19, 469) und ersetzt das wirkliche Leben durch mehr oder weniger fiktive Aufzeichnungen. Die Individualität des Tagebuchautors erlischt in der organisierten Totalität des Archivs als »Standpunkt des Absoluten« (TB 1915/19, 471). Schmitt verteidigt die zeitlichen Ekstasen der Gegenwart und Zukunft gegen diese leer laufende Historie. Er variiert Nietzsches unzeitgemäße Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben und beleuchtet die sterile Ausflucht vor den Kontingenzen des Lebens in ihren metaphysischen Prämissen. Seine subtilen Überlegungen formulieren einen religiösen Einspruch gegen die egozentrische Selbstbespiegelung im Tagebuch. Nach dem Buribunken-Essay setzt Schmitt sein Tagebuchschrei45 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

II · Die antibürgerliche Selbstdarstellung Carl Schmitts im Tagebuch

ben deshalb auch wahrscheinlich für einige Zeit ab. »Carl Schmitt hielt sich an seinen Vorsatz, kein Tagebuch zu führen, bis 1921. Danach finden sich in seinem Nachlass datierte Notizzettel, die sich Mitte 1922 zu täglichen Notierungen verdichten und schließlich wieder zu einer Folge regelrechter Tagebücher werden.« 3 Seit den frühen 20er Jahren sind seine Tagebücher bis 1934 dann einigermaßen lückenlos erhalten. Nach dem 30. Juni 1934 verzichtete er einige Zeit, vielleicht aus politischer Vorsicht, auf Notizen. Für die Kriegsjahre und erste Nachkriegszeit 1945 in Berlin finden sich dann erneut stenographisch verfasste und bisher nicht dechiffrierte Tagebücher. Schmitt wurde im Herbst 1945 verhaftet und in einem Berliner Camp interniert, nach seiner Freilassung im Herbst 1946 im Frühjahr 1947 einige Wochen im Zusammenhang der Nürnberger Prozesse inhaftiert, verhört und im Mai 1947 freigelassen. Im August 1947 nahm er das Tagebuch in der Form eines »Glossariums« wieder auf und führte dann ziemlich kontinuierlich weitere Sorten von Aufzeichnungen. Damals entfremdete er sich von seinem Berliner Weggefährten und Freund Ernst Jünger. Im Glossarium formulierte er deshalb seine Kritik am Tagebuch auch primär gegen Jünger. 4 Im April 1948 notiert Schmitt drei Bedenken: allzumenschlicher Intimismus, Häresie und mangelnde reflexive Deutung der »Rohmaterialien«. Schmitt formuliert das wortgewaltig: »Es ist zuviel von privaten Dingen die Rede, zuviel Burgunder, zuviel Orchideen, zuviel Doktoressen, zu sybaritisch 5 und auch zuviele Lagebesprechungen. Gefahr der Erwähnung sybaritischenBefindens und kleiner Begegnungen; es schwimmt ein Schuss Pepysmus 6 mit, zur persönlichen Freude oder Entrüstung des Lesers, je nach dem Vorurteil, wie er der Person Jüngers gegenübersteht.« (GL 98) Schmitt nennt das Verdikt des »Intimismus« eine »allzu billige Kritik«. Als »ernsthaftere Kritik« lässt er dagegen »Bedenken gegen fromme und christGerd Giesler und Ernst Hüsmert, Vorwort zu: Carl Schmitt, Tagebücher 1915–1919, Berlin 2005, VIII 4 Dazu vgl. Helmuth Kiesel, ›Fruktifizierung des eigenen Briefwechsels‹. Zu einem Vorwurf Carl Schmitts an Ernst Jünger, in: Detlev Schöttker (Hg.), Adressat Nachwelt. Briefkultur und Ruhmesbildung, München 2008, 209–216 5 Nach der antiken Stadt Sybaris sprichwörtlich für schwelgendes Luxusleben, hier wohl: »genüsslich« 6 Samuel Pepys (1633–1703), Parlamentsabgeordneter, Verfasser posthum veröffentlichter stenographischer Tagebücher intimem und zeitdiagnostischem Inhalts, vielbändig auch auf Deutsch erschienen 3

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Antiargumente

liche Stellen insbesondere bei der Bibellektüre« gelten: »Es ist schwer, hier den Stil zu finden«. Als Gefahren führt er auf: auf der einen Seite »Heuchelei, Bigotterie, Bondieuserie, 7 Sakristei- und Bibel-Routine, auf der anderen Seite […] Kritiker-Ironie, Parodie und Aufklärung mit allen Worten und Wendungen dieser Sphäre« (GL 98). Der »Memoiren-Charakter dieser Tagebücher«, so sein dritter Einwand gegen Jünger, sei nicht gelungen: »Diese Tagebücher sind keine Memoiren; sie sind nichts als Materia prima, Rohmaterialien eines Buches; buchhändlerisch-publizistische Verwertung des noch nicht Geformten! Photokopie der Palimpseste, statt echter Editionen.« (GL 99) Dieser dritte und letzte Einwand des Rohmaterialismus richtet sich nur gegen Jüngers Strahlungen, soweit dieses Werk überhaupt Memoirenliteratur sein wollte. Tagebücher sind keine Memoiren. Insoweit trifft der Einwand die eigene Praxis nicht. Nach einer gescheiterten Begegnung vom November 1949 polemisiert Schmitt ziemlich hemmungslos gegen den literarischen »Verwerter«. 8 So notiert er am 20. Dezember 1949 in sein Glossarium: »Immer wieder setzt Jüngers Verwertungsmethode in Erstaunen. Die Nachwelt und der Nachruhm werden mit einkalkuliert. Tagebücher, die für bisherige Begriffe nur der Nachwelt zugänglich sein konnten, werden zu Lebzeiten aller Beteiligten literarisch vom Autor selbst verwertet, als normale Buchpublikationen.« (GL 216) Jünger heißt nun »der Brief- und Traum- und Tagebuch-Verwerter« (GL 217). Der Einwand richtet sich gegen den Seitenblick auf die literarische Verwertung und Nachwelt: »Es ist mit Ernst Jünger wie mit vielen berühmten Figuren, die auf der Bühne der literarischen oder künstlerischen Öffentlichkeit stehen. Sie konzentrieren alle ihre Kräfte auf ihr öffentliches Auftreten, das nennen sie: auf ihre Arbeit. Sie sammeln sich für die Momente ihres öffentlichen Berufes, auch wenn das die Momente am Schreibtisch sind. Sie vergeuden sich nicht im Privaten, in keinem Gespräch und keiner nicht unmittelbar verwertbaren Unterhaltung. Sie treiben eine wohlbegründete Ökonomie ihrer Kräfte und Strahlungen und lassen nichts verkommen. Sie sind Verwerter alles irgendwie Verwertbaren, ohne sich zu entäußern. Infolgedessen liegt ihre Präsenz restlos in ihrem öffentlichen Werk. Ihre Existenz geht in der Öffentlichkeit restlos auf.« (GL 212)

Religiöser Schnickschnack Dazu Verf., Don Capisco und sein Soldat. Carl Schmitt und Ernst Jünger, in ders., Kriegstechniker des Begriffs, Tübingen 2014, 153–172

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In der Auseinandersetzung mit Jünger formuliert Schmitt implizit einige normative Kriterien für die eigene Tagebuchpraxis: Tagebücher sollen privat bleiben und nicht auf Öffentlichkeit schielen. Sie sollen weder der Vergangenheit noch der Zukunft dienen, sondern Gegenwart erfassen. Tagebücher entstehen oft übermüdet und beiläufig. Schon das knappe Zeitbudget verleitet zu allzu flüchtigen und phrasenhaft verschliffenen Eintragungen im additiven und parataktischen Telegrammstil. Auch knappste Notate fungieren aber pragmatisch als Sätze. Schmitts Telegrammstil beschränkte sich nicht auf die Fakten, sondern ergänzte affektive Eindrücke und Evaluationen. Viele Begebenheiten werden mit »Angst« oder »Ekel« registriert. Sein Tagebuch ist deshalb mehr Erlebnis- als Ereignisprotokoll. Was Tagebuchaufzeichnungen in der flüchtigen Notiz einfangen sollen, ist die »konkrete« Gegenwart und »Aktualität«. Sie dienen nicht der romantischen Selbstbespiegelung, sollen keine Bruchstücke autobiographischer Konfessionen sein, keine schöne Literatur, kein Vorlauf in antizipierte Memoiren. Man sollte sie im Deutungsanspruch niedrig hängen, flüchtiger nehmen als etwa das, was Schmitt in seinem autobiographischen Bekenntnisbüchlein Ex Captivitate Salus im Untertitel »Erfahrungen der Zeit« nennt. Schmitts Erfahrungsauslegung ist hochstufig reflektiert und coram publico verfasst. Gedeutete Erfahrung ist aber keine zentrale Aufgabe und Funktion der Tagebücher. Deutungen stiften Werke, Tagebücher aber sind keine Werke, sondern rein private Zeugnisse. Diese Aufgabenteilung und -trennung ist allerdings nicht leicht zu erreichen und durchzuhalten. Der protokollarische Präsentismus des kalendarischen Tagebuches widerspricht schon den literarischen Ambitionen des Autors. Literarisch zielen Tagebücher wenigstens auf den Autor als Leser: Er will sich mit seinem Tagebuch nicht langweilen und mit der Fixierung des flüchtigen Moments autobiographische Orientierungen ermöglichen. Auch Tagebücher sind ein Stück Literatur, und der ingeniöse Autor schielte mit seiner ganzen Exzentrik und Extravaganz nach literarischem Publikum.

2.

Basisfunktion Kalender

Schmitt las gelegentlich in seinen Tagebüchern, notierte Relektüren. Ein spätes Zeitzeugengespräch führte er auf Grundlage seiner Tagebücher. Sein Schlüsselwort für diese Tagebuchfunktion ist der Ka48 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Basisfunktion Kalender

lender: »Das ist gut, wenn man da Tagebücher führt, das ist wirklich schön. […] Also ich kann Ihnen sagen, es gibt nur geschriebene Geschichte, und das hängt am Kalender. Ohne Kalender keine Geschichte.« 9 Im Gespräch nutzte Schmitt den Kalender zur Verschiebung der Fragestellung. Die Warum-Frage – »›Warum haben Sie bei Hitler mitgemacht‹« – übersetzte er in eine kalendarische Wann-Frage: »Ich will mal versuchen, die Frage so zu beantworten, dass ich erst die Chronologie klarstelle. Es geht einfach nicht ohne Kalender.« 10 Parallel zum Tagebuch führte Schmitt Taschenkalender. Schon deshalb war sein Tagebuch nicht nur Kalender. Der Kalender im äußerlichen Sinne der Addition von Namen, Orten und Daten ist kein Tagebuch im eminenten Sinne der »konkreten« Erfassung der Gegenwart. Wahrnehmung ist immer selektiv und evaluativ. Von den faktischen Ereignissen zu hochstufigen autobiographischen Erfahrungen ist es aber ein langer Weg. Der kalendarische Protokollsatz des Tagebuchs nennt nicht nur Ort, Zeit und Begebenheit, sondern auch den Modus der Erfassung. »X getroffen, widerlich«, lautet der typische Erinnerungskern für rückblickende Betrachtungen. Im Gespräch findet sich Schmitts vielleicht wichtigste Selbsterklärung seiner Praxis: »Ich habe ja ein exakt geführtes Tagebuch, kein romantisches und psychologisches, sondern ein rein chronistisch-kalendarisches Tagebuch, und das ist für mich eine sehr starke Stütze, namentlich jetzt im Alter. Es war aber auch schon immer eine Stütze. Wenn Dinge über mich behauptet werden, konnte ich sie doch, soweit es sich um Daten und einige Fakten handelte, exakt, absolut zuverlässig (soweit es menschliche Zuverlässigkeit gibt) kontrollieren. Und so habe ich an Hand dieses Tagebuches diese Zeit schnell noch einmal überflogen, was eine schwere Anstrengung für mich ist – es ist stenographiert, einiges ist mit Bleistift stenographiert, weil ich das jeden Abend machte, um exakt zu bleiben bei dem Kalender, bei dem Kalender und bei den Daten usw. Ich bin auch kein Samuel Pepys oder so was. Die Art Tagebuch ist es auch nicht. Es ist ein Tagebuch, dessen psychologische Erklärung wieder ein Problem für sich ist. Es gibt ja verschiedene Arten von Tagebüchern. Aber ich kann es vorzeigen, es ist als Dokument so einwandfrei, wie es nur irgendwie ein Dokument ist, wobei ich amtliche und nichtamtliche Dokumente nicht unterscheide. Das gibt mir die Sicherheit, mit der ich hier antworten kann.« 11

»Solange das Imperium da ist«. Carl Schmitt im Gespräch 1971, hrsg. Frank Hertweck / Dimitrios Kisoudis, Berlin 2010, 44 10 »Solange das Imperium da ist«, 86 11 »Solange das Imperium da ist«, 88 9

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II · Die antibürgerliche Selbstdarstellung Carl Schmitts im Tagebuch

3.

Editionspolitische Weichenstellungen

Schmitt adressierte sich nicht als »Klassiker« an eine ferne Nachwelt, sondern an seine Mitwelt. Er hinterließ deshalb bei seinem Tod 1985 auch keinen detaillierten Masterplan zum Umgang mit seinem Nachlass. Heidegger adressierte sich – mit Nietzsche – an den »künftigen Menschen«, organisierte seit den späten 30er Jahren den Umgang mit seinem Nachlass selbst und fusionierte so Selbstinterpretation und Nachlasseditionspolitik. 12 Schmitt entwickelte ebenfalls starke Selbstdeutungen seiner Rolle und seines Werkes, setzte sie aber nicht detailliert in Nachlasseditionspolitik um. Er äußerte sich nicht autoritativ über die posthumen editorischen Aufgaben und Schritte. Weil auch Schmitts einzige Tochter Anima 1983 bereits verstorben war, musste ohne die Familie posthum über die Nachlasspolitik und Editionsstrategie entschieden werden. Schmitt hatte Ende der 70er Jahre zunächst Ernst-Wolfgang Böckenförde zum Nachlassverwalter eingesetzt. Er änderte diese Verfügung aber Anfang der 80er Jahre und ernannte einen älteren Schüler, Joseph H. Kaiser, zum ersten Verwalter des wissenschaftlichen Nachlasses. Kaiser verfolgte zunächst eine eher restriktive Nachlasspolitik, unterstützte aber die erste Nachlassedition des Nachkriegstagebuchs Glossarium. Anfang der 90er Jahre scheiterten Bemühungen von Reinhart Koselleck, Wolfgang J. Mommsen und Lutz Niethammer, eine öffentlich geförderte Gesamtausgabe zu organisieren. Helmut Quaritsch, 13 ein juristischer Schmitt-Schüler, publizierte dann zwei wichtige unveröffentlichte Texte der frühen Nachkriegszeit. Nach dem Tod Kaisers (1998) wurde dessen Schüler Jürgen Becker Nachlassverwalter und pflegte fortan eine liberale Nachlasspolitik, die keine restriktiven Einschränkungen mehr machte. Gerd Giesler (* 1940) und Ernst Hüsmert (* 1928), einst Plettenberger Nachbarskinder, übernahmen die Initiative und organisierten und realisierten diverse Editionen der Tagebücher und Korrespondenzen, Schriften und weiterer Texte. Diese umfassende Erschlie-

Dazu Verf., Heideggers ›große Politik‹. Die semantische Revolution der Gesamtausgabe, Tübingen 2016 13 Helmut Quaritsch (Hg.), Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz ›Nullum crimen, nulla poena sine lege‹, Berlin 1994; Antworten in Nürnberg, Berlin 2000; dazu vgl. Hans-Christof Kraus, Helmut Quaritsch (1930–2011), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte GA 131 (2014), 749–807 12

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Editionspolitische Weichenstellungen

ßung hat das Bild von Schmitt sehr verändert und die Historisierung vorangetrieben. Die Edition der Tagebücher begann wenige Jahre nach Schmitts Tod mit der Publikation des Glossariums, das im Untertitel Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951 heißt. Der Herausgeber Eberhard vom Medem war nach 1933 ein enger Berliner Mitarbeiter Schmitts gewesen. Die Publikation war 1991 sensationell, dokumentierte sie doch erstmals Schmitts geistesgeschichtlich ebenso gelehrte wie polemisch vergiftete Dämonologie. 14 Der fortdauernde Antisemitismus wurde unabweisbar. Die Edition war fehlerhaft und mit dem Abschluss von 1951 auch nicht zwingend. 2015 erschien eine erweiterte, korrigierte und kommentierte Neuausgabe. 15 Das Glossarium war in Langschrift verfasst und evtl. von Schmitt selbst zur Veröffentlichung vorgesehen. Mit seinen letzten Aufzeichnungen taufte Schmitt die Bundesrepublik auf »den Namen Kafkanien« (GL 376) und verkündete: »Das Gelächter Gelimers hört nicht auf.« (GL 380) Das letzte Buch des Glossariums trägt den Untertitel: Gelimer Bd. V (GL 400). Vielleicht erwog Schmitt die Publikation unter dem Titel »Gelimers Gelächter«. Nachlassinterpretationspolitisch überzeugte das Glossarium die Schmitt-Kreise jedenfalls schon in der fehlerhaften Edition von 1991 »trotz anfänglicher Bedenken« von einer vollständigen »Drucklegung sämtlicher Passagen« 16 und einer liberalen und offenen Nachlasspolitik. Es wurde klar, dass Schmitt durch die Publikation seiner privaten Zeugnisse, Obsessionen und Konfessionen auch gewinnen konnte. Dies betrifft einerseits die politische Diskussion und Skandalisierung und andererseits seine Historisierung als relevante Gestalt der Zeitgeschichte und individuum ineffabile. Es wurde deutlich, dass dieser Typ tatsächlich merkwürdig fremd und interessant war. Das Glossarium war lesbar verfasst. Wohl alle anderen Tagebücher und Taschenkalender sind dagegen in idiomatischer Gabelsberger Stenoschrift geschrieben. Schmitts Kurzschrift stellt besondere Anforderungen an die Entzifferung; nur der professionelle Stenograph Hans Gebhardt (1925–2013) vermochte sie zu lesen,

Dazu schon Verf., Carl Schmitts Dämonologie – nach dem Glossarium, in: Rechtstheorie 23 (1992), 258–271 15 Dazu meine Besprechung: Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958. Neuausgabe, hrsg. Gerd Giesler / Martin Tielke, Berlin 2015, in: Philosophischer Literaturanzeiger 68 (2015), 354–361 16 Ernst Hüsmert, Vorwort zu: Carl Schmitt Tagebücher 1912–1915, Berlin 2003, X 14

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sämtliche Transkriptionen der Tagebücher von 1912 bis 1934 stammen bis heute von ihm. Die vorläufigen Transkriptionen der Jahre 1925 bis 1929 sind noch nicht ediert. Es ist heute noch kaum abzusehen, wann weitere Quellen – so etwa die Taschenkalender und Tagebücher der NS-Kriegsjahre – erscheinen können. Die »Buribunkologie« des Werkes steht auch eigentlich erst am Anfang. Wir wissen noch erstaunlich wenig über Schmitts Umgang mit seinem Tagebuch und seine Praxis des Schreibens. 1971 stellte Schmitt rückblickend, wie oben zitiert, den chronistisch-kalendarischen Kern und die Funktion als Erinnerungsstütze und Beweismaterial in der amtlichen Selbstverteidigung heraus und grenzte das positivistisch-exakte Tagebuch vom »romantischen« und »psychologischen« Tagebuch ab. Das positivistische Protokoll peinlicher Intimitäten ist erstaunlich. Schmitt meinte dazu selbst: »Es ist ein Tagebuch, dessen psychologische Erklärung wieder ein Problem für sich ist.« Es findet sich keine romantische Psychologie ausschweifend leer laufender Reflexionen auf Beziehungsfragen, aber eine Manie des Protokoll- und Bekenntniszwanges, Ressentiments und der Selbsterhöhung, Selbstanklage und Selbsterniedrigung. Die Tagebücher der frühen 20er Jahre stellte Schmitt unter den Titel Der Schatten Gottes und legte damit eine religiöse Deutung nahe. Die Herausgeber sprechen von »Introspektionen« und »Obsessionen« und schreiben: »›Der Schatten Gottes‹ hebt sich mit seiner freieren, assoziativen Anlage von dem teilweise parallel geführten ›strengen‹ Tagebuch ab. […] Die Herausgeber sind davon überzeugt, dass der Gedanke des Schatten Gottes über dem Gesamt der Introspektionen, der Tagebücher und der Brief(entwürfe)e des gewählten Zeitraums steht.« 17 Die Rede vom Schatten Gottes geht auf die Psalmen zurück. Schmitt notiert: »Der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand, dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts.« (TB 1921/24, 405) »Gott wirft einen Schatten, weil er eine Substanz hat« (TB 1921/24, 456). »Der Schatten ist der Beweis einer Substanz« (TB 1921/24, 457). Schmitt betont den christlichen Schatten über dem Eros und stellt seine Passion exzentrisch gebildet in Traditionen der Liebespoesie. Man könnte von einer autobiographischen Selbstdeutung der Liebe als Thema der Jahre 1921 bis

Gerd Giesler, Ernst Hüsmert, Wolfgang Spindler, Vorwort zu: Carl Schmitt, Der Schatten Gottes, Berlin 2014, VI

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Editionspolitische Weichenstellungen

1924 sprechen: Schmitt erfährt sich von Frauen abhängig, dem »Schicksal« hingegeben und doch im »Examen« der Bewährung seiner Liebe. Zeigten die frühen Tagebücher der Jahre 1912 bis 1915 vor allem die Anfänge des Ehedramas um Carita Dorotič, wird der Leser nun ein intimer Zeuge der Trennung. In den frühen 20er Jahren, dem Entstehungsraum der Programmschriften Politische Theologie und Römischer Katholizismus und politische Form, entwickeln seine Tagebücher eine Theologie der Passion vom »Schatten Gottes«: Schmitt reflektiert seine erotischen Abhängigkeiten und Liebesstafette des Übergangs von seiner ersten Frau über die irisch-australische Romanistikstudentin Kathleen Murray und das Intermezzo der Affäre mit einer Münchner Ärztin bis hin zum vermeintlich sicheren Hafen der Verlobung mit Duschka Todorovič, die allerdings damals bereits lebensgefährlich an Tuberkulose erkrankt ist und Schmitt in neue Katastrophen und Eskapaden werfen wird. Die Tagebücher reflektieren die politische Krisenzeit der Jahre 1921 bis 1924 also als Passage zur späteren Ehefrau, der Schmitt erstmals im Januar 1923 als Übersetzerin persönlicher Informationen zur betrügerischen Identität seiner ersten Frau begegnet. Datierte er seine satirische Geschichte des Tagebuchs von Don Juan ausgehend, so erfährt sich der christlich geprägte Don Juan, der novellistisch gespiegelte »treue Zigeuner«, bald als verzweifelter Othello. Die publizierten Tagebücher 1930 bis 1934 setzen das journal intime und die Praxis des Paralleltagebuches fort, in denen Schmitt neben aphoristischen Gedankensplittern und Vorüberlegungen zu wissenschaftlichen Publikationen nicht zuletzt zahlreiche fragmentarische Briefentwürfe einzeichnet. Das Glossarium ersetzt das journal intime dann durch ambitionierte »geistesgeschichtliche« Ausführungen und Erklärungen der eigenen Lage als »Besiegter« von 1945. Publizierte Schmitt mit Ex Captivitate Salus eine autoritative und konfessionelle Selbsterklärung seines nationalsozialistischen Falles, so wandte er sich nun verstärkt der politischen Gegenwartsdeutung im geistesgeschichtlichen Rahmen zu. Dieser Wandel in den Aufgaben, Funktionen und Formen des Tagebuch hing auch mit der veränderten Lebenslage zusammen: Schmitt war seit 1945 aus der politischen Öffentlichkeit ausgeschlossen. Er hatte seine Professur verloren, hatte bis zur Gründung der Bundesrepublik Publikationsverbot und konnte auch später nicht mehr ohne Widerstand in der akademischen Öffentlichkeit agieren. Seine frühere Trennung zwischen dem publiken Juristenwerk und intimen Aufzeichnungen fiel 53 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

II · Die antibürgerliche Selbstdarstellung Carl Schmitts im Tagebuch

damit fort und das Tagebuch übernahm juristisch-politische Funktionen des Werkes. Es mutierte vom journal intime zum zeitdiagnostischen Kommentar und Glossarium. Der alte Schmitt führte dann über viele Jahre weitere tagebuchartige Aufzeichnungen. Die literarische Formgeschichte seiner Tagebuchpraxis ist hier nicht zu schreiben. Wichtig ist aber, dass es über die protokollarische Kernfunktion der Tagebücher hinaus eine solche Formgeschichte gab, Literarisierungen und literarische Experimente, mit denen Schmitt den eigenen Vorbehalten gegen das Tagebuch und Wandlungen seiner privaten und öffentlichen Rolle begegnete. In diesem Sinne wurde sein »Antiburibunkentum buribunkisch«.

4.

Selbstdarstellung des Bürgers als Picaro

Es wurde gesagt, dass die Tagebucheditionen das Bild von Schmitt erheblich veränderten. Erste naheliegende Rezeptionsinteressen sind politisch und historisch. Fragen betreffen etwa die Akteursrolle als politischer Denker und rechtstechnischer Berater vor und nach 1933. Interessant sind hier die verschiedenen Kreise, in denen Schmitt sich bewegte: einige politische Prominenz, Hochschulkollegen, publizistische Netze der »konservativen Revolution« und des neuen Nationalismus. Zentrale Personen seines Lebens sind in den Schriften gar nicht oder nur marginal erwähnt und tauchen erst im Tagebuch auf: außer den Ehefrauen und Geliebten etwa Fritz van Calker, Ludwig Feuchtwanger, die Familie Eisler 18 und Franz Blei. Standardfragen der Forschung betreffen das Verhältnis zum Nationalsozialismus, die Datierung seines Fahnenwechsels, Fragen nach Kontinuität und Wandel, Antisemitismus und ähnliches mehr. Eine besondere Akteursnähe zu Kanzler Schleicher lässt sich heute schwerlich weiter behaupten. Die Tagebücher belegen ein engeres Verhältnis zu Franz von Papen und scheinen auch eine schärfere Trennung zwischen der Rolle als Rechtsberater und seiner politischen Haltung zu erzwingen. Der politische Akteur stimmte mit dem juristischen Gutachter nicht immer überein. So finden sich schon vor 1933 einige Sympathien für nationalsozialistische Politik, auch wenn Schmitt nicht vor dem 30. Januar 1933 für den Nationalsozialismus optierte. Ein unlängst Dazu Verf., Die Hamburger Verlegerfamilie Eisler und Carl Schmitt, Plettenberger Miniaturen Heft 2, Plettenberg 2009

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Selbstdarstellung des Bürgers als Picaro

publizierter Vortrag vom 23. Februar 1933 19 ist eine interessante Quelle für den Übergang nach dem 30. Januar: Schmitt distanziert sich darin bereits eindeutig von Papen und Schleicher. Sein Auftritt vor dem Leipziger Staatsgerichtshof in der Sache »Preußen contra Reich« war der Höhepunkt seiner verfassungspolitischen Wirksamkeit. Größeren Einfluss hatte er nur für wenige Monate nach dem Preußenschlag unter Papen. Diese Rolle muss man relativ sehen: Verglichen mit anderen Berliner Staatsrechtslehrern, wie Heinrich Triepel oder Erich Kaufmann, dürfte sein Einfluss jenseits dieser Prozessverteidigung eher geringer gewesen sein. Zweifellos sind die Tagebücher für sein Akteurshandeln und die politische Atmosphäre Berlins vor 1933 interessant; Schmitt verkehrte aber nicht ständig in führenden politischen Kreisen. Quellenwert haben die Tagebücher auch für andere Fragen: für die Entstehungsbedingungen und -kontexte der Publikationen beispielsweise und die kollegialen Auseinandersetzungen im Weimarer Richtungs- und Positivismusstreit der Zunft. Auch die Auseinandersetzungen im rheinischen katholischen Milieu spiegeln sich in den Tagebüchern. Weitere kultur- und mentalitätsgeschichtliche Fragen, bis hin zur Sexualpraxis, lassen sich stellen. Nicht zufällig datierte Schmitt die Geschichte des Buribunken seit Don Juan. Der Schatten Gottes schreitet von Don Juan zu Othello als Paradigma des Liebhabers. Zwischen diesen Polen lebt Schmitt im Tagebuch und interpretiert sein Leben immer wieder als Kampf: »Der Grundaffekt meines Lebens: Das Leben ist ein Kampf, gewiss, aber ein Kampf in einer Arena vor Zuschauern, besonders vor weiblichen Zuschauern, die Trophäen bereit halten; das Gefühl des Torero, des Gladiators. / Die andere Auffassung vom Leben als Kampf: Der Kampf des Raubritters, des Freibeuters, des Piraten, des Landsknechts.« (TB 1921/24, 482) Der Picaro ist ein Glücksritter des Augenblicks im Ausnahmezustand. Simplicius Simplicissimus ist in der deutschen Literatur, an den spanischen Schelmenroman anknüpfend, seine paradigmatische Gestalt. Schmitts Tagebücher haben ihre zeitdiagnostische Bedeutung in der kritischen Einsicht in den Konnex zwischen der »picarischen« Existenz und politischen Krisenlage. Im Ausnahmezustand lebt der Abenteurer als Glücksritter des Augenblicks. Schon Goethe bemerkte da-

Dazu Thomas Marschler (Hg.), Carl Schmitt, Bund, Staat und Reich. Vortrag in Berlin vom 22. Februar 1933, in: Schmittiana II N.F. (2014), 21–41

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II · Die antibürgerliche Selbstdarstellung Carl Schmitts im Tagebuch

zu: »Jede Revolution geht auf Naturzustand hinaus, Gesetz- und Schamlosigkeit. (Picarden, Wiedertäufer, Sansculotten.)« 20 Schmitt wünschte kein Bürger zu sein. Auch seine Tagebücher sind, trotz ihrer protokollarischen Authentizität, literarische Stücke antibürgerlicher Selbstdarstellung und Selbstdemonstration. Sie führen einen Komplementärbeweis für die politische Theorie vom Ausnahmezustand; seine Theorie hat hier ihren »existentiellen« Erfahrungsgrund und biographischen Ursprung. Vielleicht lässt sich sagen, dass diese Tagebücher eine eigene Differenz von Alltäglichem und Außeralltäglichem konstruieren und ein antibürgerliches Leben gezielt stilisieren. Thomas Mann konnte in seinen Tagebüchern eingehend über Hausmädchenprobleme räsonieren; auch tagespolitische Fragen nahmen bei ihm einen breiteren Raum ein. Schmitts Rhetorik und Ökonomie des Tagebuches war eine andere. Man könnte von einer antibürgerlichen Dramatik des Selbstprotokolls sprechen. In diesem Sinne lesen sich seine Tagebücher komplementär zum fachlichen Werk. Das Tagebuch ist eine Arena der antibürgerlichen Selbstdarstellung des Intellektuellen im 20. Jahrhundert. Es ist auch ein agonales Forum der Selbstqualifizierung in der Konkurrenz mit anderen antibürgerlichen Prätendenten: Wem gelang die Emanzipation vom Bürgertum bis in private Intimitäten hinein? Wer sprang aus der bürgerlichen Sozialisation heraus und politisierte das Private? Schmitt sieht seine Tagebuchpraxis in der Konkurrenz mit Ernst Jünger: Der Kriegsheld und prototypische »Soldat« war verspießerter Bürgerlichkeit zwar eigentlich unverdächtig. In der Konkurrenz der Tagebücher überführt Schmitt seinen alten Freund aber der bourgeoisen Selbstbespiegelung. Seine Tagebücher buhlen um den Selbstbeweis antibürgerlicher Konsequenz. Schmitt wollte Kontingenz und Ausnahmezustand als Existential erweisen und die Möglichkeiten und Grenzen antibürgerlicher Lebensführung erkunden. In der romantischen Form des Tagebuches führte er den autobiographischen Komplementärbeweis für seine Theorie. Dieser zerrissene Typus des antibürgerlichen Professors war in der Weimarer Krisenzeit gar nicht so selten.

Johann Wolfgang v. Goethe, Maximen und Reflexionen, hrsg. Max Hecker, Weimar 1907, 203; zu den Metamorphosen des Typus nach Hobbes vorzüglich jetzt Dieter Thomä, Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016

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III. Phänomenologie der »demokratischen Legitimität« Schmitts Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923/1926)

1.

Textfassungen

Die Broschüre Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (GLP) gehört in eine Reihe knapper Programmschriften zur Ausarbeitung der Weimarer Verfassungslehre. Der Text erschien zunächst im August 1923 in einer Festgabe der Bonner Fakultät für den emeritierten Zivilrechtler Ernst Zitelmann und Ende Oktober dann als selbständige Broschüre im Hausverlag Duncker & Humblot. 1 1926 publizierte Schmitt ihn in einer – hier zitierten – erweiterten Fassung: um eine »Vorbemerkung« ergänzt, die vom »Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie« handelt und damit ans erste Kapitel »Demokratie und Parlamentarismus« anknüpft. Die Vorbemerkung war als Vorabdruck zunächst in der Zeitschrift Hochland erschienen und wurde von Schmitt später, ebenso wie das letzte Kapitel, auch in seine Sammlung Positionen und Begriffe aufgenommen. Eine dritte Auflage erschien 1961, und 1985, in Schmitts Todesjahr, folgte bereits eine sechste Auflage der Schrift, die heute in zahlreiche Sprachen übersetzt ist und weltweit wirkt. Sie wird vor allem als »klassische« Kritik des »klassischen« Parlamentarismus rezipiert. Dabei wird zwischen den Fassungen von 1923 und 1926 meist nicht genau unterschieden und holistisch vom Gesamtwerk her gedeutet. Die Parlamentarismuskritik ist 1923 aber erst ein Auftakt zur Liberalismuskritik. 2 Die Schrift markiert im Krisenjahr 1923 einen Übergang vom Schmitts stilistische Korrekturen lassen sich anhand der Handexemplare gut nachvollziehen: Der Sonderdruck aus der Zitelmann-Festgabe (RW 265–28267) war – schwarze Tintenkorrekturen – offenbar eine Vorfassung des Korrekturexemplars für den Satz. 2 Dazu Verf., Liberale Demokratie als Paradoxon? Carl Schmitts Beisetzung des klassischen Liberalismus, in: Ewald Grothe / Ulrich Sieg (Hg.), Liberalismus als Feindbild, Göttingen 2014, 203–227 1

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III. · Phänomenologie der »demokratischen Legitimität«

früheren Themenfeld der Diktatur zur juristischen Analyse der Weimarer Verfassung. Sie gliedert sich in eine knappe Vorbemerkung und vier Kapitel. Während die letzten beiden an frühere Schriften anknüpfen, weisen die ersten beiden auf spätere Arbeiten voraus. Dabei wurde oft ein Zusammenhang zwischen der Schrift Politische Romantik (1919/1925) und der Prinzipienanalyse des Parlamentarismus gesehen: Schmitt denunzierte die parlamentarische Debatte als ein romantisches »unendliches« Gespräch, das niemals zur Entscheidung gelangt. Wirklich neu ist nicht zuletzt der Demokratiebegriff, den Schmitt im ersten Kapitel gegen das parlamentarische Repräsentationskonzept ausspielt. An diesem »Begriff der modernen Demokratie« entzündete sich auch sogleich eine Debatte, 3 auf die Schmitt 1926 einging. Das letzte Kapitel der Schrift druckte er unter dem Titel »Die politische Theorie des Mythus« dann als eröffnenden Beitrag seiner Sammlung Positionen und Begriffe (1940) wieder ab, die einen siegreichen Dreifrontenkampf mit nationalsozialistischem Akzent dokumentierte. Schmitt datierte den Beginn seines Kampfes mit »Weimar – Genf – Versailles« also rückblickend auf das Jahr 1923 mit dem Erscheinen seiner Parlamentarismusschrift. Dabei betonte er die positive Funktion seines Demokratiebegriffs als »politische Theorie des Mythus«. Schmitt schrieb seinen »Aufsatz zu Zitelmann« und »über Parlamentarismus«, wie das Tagebuch belegt, in kürzester Zeit fast beiläufig am Beginn des Sommersemesters. Er sagte seinen Beitrag dem Bonner Kollegen Ernst Landsberg zwar bereits im November 1922 zu, begann aber mit der Niederschrift eigentlich erst, als die Deadline gerade abgelaufen war. Privat stand er damals zwischen drei bis vier Frauen. Die Broschüre Römischer Katholizismus und politische Form war gerade erschienen. Schmitt war damals erst seit einem Jahr in Bonn und bemühte sich um gute kollegiale Kontakte. Er hatte engen Umgang mit Landsberg, dem Organisator der Festgabe, und auch Erich Kaufmann, und suchte den Kontakt mit seinem Amtsvorgänger Rudolf Smend und anderen Kollegen in der Juristischen Fakultät. Darüber hinaus pflegte er engen Umgang mit dem Theologen Wilhelm Neuss und dem Musikwissenschaftler Arnold Schmitz, dem er lebenslang verbunden blieb. Er betreute erste Promotionen. Seine Bonner Wirksamkeit formierte sich damals gerade erst: Schmitt hatte Dazu Richard Thoma, Zur Ideologie des Parlamentarismus und der Diktatur, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 53 (1925), 212–217

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Textfassungen

noch nicht einmal eine feste Wohnung; privat war er nicht gebunden, der baldige Streit und Bruch mit Kaufmann zeichnete sich noch kaum ab; der Theologe Erik Peterson und die Meisterschüler, die mit der Bonner Zeit eng verbunden werden (Waldemar Gurian, Werner Becker, Ernst Forsthoff, Ernst Rudolf Huber, Werner Weber, Otto Kirchheimer u. a.), sind noch nicht da. Als Verfassungsjurist ist Schmitt damals noch nicht hervorgetreten. Auch seine extensive Deutung der Diktaturbefugnisse des Reichspräsidenten liegt noch nicht vor. Er hat sich mit seiner Schrift Politische Theologie aber bereits in die Reihen der »Gegenrevolution« hineingeschrieben, weshalb die nachträgliche Datierung seines »Kampfes« auf das Krisenjahr 1923 etwas verwundert. Kommunistische Alternativen zur Weimarer Republik scheinen damals zwar gerade niedergeschlagen zu sein, doch die Folgen von »Versailles« eskalieren. Die Inflation beschleunigt sich zur Hyperinflation; im Januar 1923 erfolgt der Einmarsch französischer und belgischer Truppen in das Ruhrgebiet und die politische Zukunft des Rheinlandes ist unklar. Der Lektor und Verleger Feuchtwanger nimmt die Schrift begeistert auf; sie habe »das schwere Panzerhemd« des akademischen Apparates abgeworfen und wirke »wie David mit der Schleuder« (CSLF 35). Schmitt liest im August 1923 Geschichte und Klassenbewusstsein von Georg Lukács und erwägt eine »Vorbemerkung über die Bücher von Lukács und Ric[arda] Huch« (CSLF 37). Gemeint ist Huchs Buch Michael Bakunin und die Anarchie von 1923. In der Vorbemerkung hätte er sich also zum Marxismus und Anarchismus geäußert und die »Sonderausgabe« noch stärker in die antiparlamentarische Gegenwart geführt. Schmitt schreibt dann aber erst für die zweite Auflage seine längere Vorbemerkung »über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie« von 1926. Im September 1923 nimmt er mit den letzten Fahnenkorrekturen noch »viele schöne Verbesserungen« (TB 1921/24, 243) vor, die aber rein stilistisch sind. Seine Broschüre erscheint dann wenige Tage vor Hitlers Marsch auf die Feldherrenhalle. Der Sieg des »nationalen Mythus« (GLP 89) über den Bolschewismus, den die Schrift mit Berufung auf Mussolini am Ende zu beschwören scheint, steht damals noch aus. Festgabe und Sonderausgabe sind nicht ganz textidentisch. »Wichtige Korrekturen« (TB 1921/24, 244), von denen das Tagebuch spricht, gibt es – jenseits der Erweiterungen von 1926 – aber eigentlich nicht. Eine Analyse der Schrift muss die verschiedenen Fassungen und 59 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

III. · Phänomenologie der »demokratischen Legitimität«

Kontexte, einzelne Kapitel und die Verknüpfung zu einer Gesamtaussage unterscheiden. Die Liberalismuskritik tritt eigentlich erst mit der Vorbemerkung von 1926 und dem Begriff des Politischen von 1927 deutlicher hervor. Zentrale Begriffe sind nicht nur Parlamentarismus und Demokratie, sondern auch Rationalismus und Irrationalismus, Diktatur, Dialektik und Gewaltanwendung.

2.

Dialektik der Legitimität

Schmitts Broschüre ist ein Essay: keine monographische Abhandlung, die ein eng begrenztes Thema erschöpfend behandelte, sondern eine meinungsstarke, thetische, vielschichtige und assoziative Skizze, die eine Fülle von Beobachtungen und Aspekten rhetorisch prägnant hinwirft. Landläufig wird sie als »geistesgeschichtliche Todeserklärung« des Parlamentarismus aufgefasst. In der knappen Einleitung betont Schmitt, seine »Untersuchung« wolle »den letzten Kern der Institution des modernen Parlaments« (GLP 30) treffen: den »Boden« des »Glaubens« an die moralischen und geistigen »Prinzipien«. Der Gedankengang und Gesamtzusammenhang der Schrift erschließt sich aber erst dann, wenn die Todeserklärung des Parlamentarismus lediglich als Teilziel der Schrift verstanden wird. Schmitt erörtert auch die »Gegenpositionen« 4 des Marxismus, Bolschewismus und Fascismus; er unterscheidet zwischen dem »Apparat« oder »Betrieb« und der kollektiven »Evidenz«, den »Prinzipien« und der »Idee« der Institution und spricht dafür terminologisch von »Legitimität«. Der WeberSchüler übersetzt Max Webers herrschaftssoziologischen und deskriptiven Legitimitätsbegriff dabei in einen differenzierten juristischen Gebrauch: Es gibt kollektive Überzeugungen von der Form legitimer Herrschaft; jede Verfassung positiviert solche Legitimitätsgrundlagen. Ganz grundsätzlich unterscheidet Schmitt als Jurist, abweichend von Webers Legitimitätstypologie, zwischen »dynastischer« und »demokratischer« Legitimität: Der Wiener Kongress habe 1815 zwar die dynastische Legitimität restauriert; die demokratische Legitimität sei damals aber bereits längst auf dem Vormarsch gewesen. Schmitt zielt insgesamt auf eine Kritik der »demokratischen Legitimität«. Der Schlüsselsatz seiner Schrift lautet: »Die Entwicklung Dazu vgl. Hans Rothfels, Rezension von GLP in: Historische Zeitschrift 142 (1930), 316–319, hier: 317

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von 1815 bis 1918 lässt sich darstellen als die Entwicklung eines Legitimitätsbegriffs: von der dynastischen zur demokratischen Legitimität.« (GLP 39) Ihr Titel könnte deshalb sachlich treffender lauten: »Die geistesgeschichtliche Lage der demokratischen Legitimität«. Die Rede von »Geistesgeschichte« war damals in Deutschland durch Dilthey und dessen Schule verbreitet. Diltheys Konzept wurde allerdings gerade auf einen historisch-philologischen Positivismus eingeschränkt. Dagegen hielt Schmitt noch an einem religiösen Nimbus des »Geistes« fest. Zum Fernziel seines Essays schreibt er deshalb auch: »Eine wissenschaftliche Betrachtung der Demokratie wird sich auf ein besonderes Gebiet begeben müssen, das ich als politische Theologie bezeichnet habe.« (GLP 41) Es muss hier dahingestellt bleiben, ob er tatsächlich eine starke politisch-theologische Kritik der demokratischen Legitimität entwickelte. Das ist aber buchstäblich über die Parlamentarismuskritik hinaus sein Anspruch. Das erste Kapitel »Demokratie und Parlamentarismus« konstatiert einen »Siegeszug der Demokratie« (GLP 30): Die demokratische Legitimität habe als »polemischer Begriff« gegen die herrschenden Monarchien ihre »Evidenz« (GLP 32) gefunden und sich in verschiedenen Formen realisiert. Die demokratische Legitimität sei inzwischen fast »allgemein anerkannt« (GLP 39); ihr – von Rousseau klar formulierter – »Kern« sei die »Behauptung einer Identität von Gesetz und Volkswillen« (GLP 35). Schmitt gibt diesem Befund eine analytische Wendung: Wenn fast alle modernen politischen Bewegungen die demokratische Parole für sich reklamieren und eine »Reihe von Identitäten« (GLP 35) beanspruchen, sei die Demokratierhetorik auf ihre propagandistischen Techniken der »Identifikation« zu hinterfragen. »Weder juristisch noch politisch noch soziologisch handelt es sich um etwas real Gleiches, sondern um Identifikationen.« (GLP 35). Kein Volkswille sei real konsensuell; jeder »Generalwille« sei fingiert und propagandistisch erkauft. »Es scheint also das Schicksal der Demokratie zu sein, sich im Problem der Willensbildung selbst aufzuheben.« (GLP 37) Demokratie tendiere zur »Volkserziehung« und Erziehungsdiktatur: zur »Suspension der Demokratie im Namen der wahren, erst noch zu schaffenden Demokratie.« (GLP 37) Schmitt nennt die Levellers, Jakobiner und den zeitgenössischen Bolschewismus als Beispiele. Seine Schrift kritisiert in den folgenden Kapiteln nicht nur den liberalen Parlamentarismus, sondern auch das marxistische Diktaturkonzept und den Syndikalismus, Bolschewismus und Fascismus als aktuelle Varianten diktatorischer Suspension demokra61 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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tischer Legitimität. Die Diktatur erscheint als Wirklichkeit der demokratischen Verheißung. Die Schrift könnte deshalb auch heißen: »Diktatur als Wirklichkeit der Demokratie«. Das zweite Kapitel erörtert »Öffentlichkeit und Diskussion« (GLP 61) in gelehrten ideengeschichtlichen Ausführungen als »Die Prinzipien des Parlamentarismus«. Gegen die arkane Kabinettspolitik der Monarchien habe der Parlamentarismus die öffentliche Debatte gesetzt. Von Klassikern des Liberalismus – Guizot, Bolinbroke, Montesquieu, Hegel, v. Mohl u. a. – abstrahiert Schmitt das »metaphysische System« (GLP 45) des Liberalismus: den balancierten Rechtsstaat, der Exekutive und Legislative, Maßnahme und Gesetz klar unterscheidet und auch das Parlament selbst als »in sich« differenzierte Parteienlandschaft auffasst. Schmitt spricht 1923 von einem »relativen Rationalismus«: von parlamentarischen und diskursiven Verfahren der Entscheidungsfindung, die im deutschen Liberalismus seit Hegel und v. Mohl in eine »Lehre von der organischen Vermittlung« (GLP 58) politischer Gegensätze umgebildet wurden. Der klassische Liberalismus und Parlamentarismus lebte, so Schmitt, in der konstitutionellen Monarchie vom Gegensatz von Legislative und Exekutive. Mit der »Beteiligung der Volksvertretung an der Regierung« (GLP 62) sei aber die klassische Balancierung von Macht und Recht, Befehl und Gesetz, Exekutive und Legislative entfallen und das Plenum des Parlaments zur »Fassade« (GLP 62) verkommen. Der demokratische Parteienstaat entwickelte neue Formen der »Arkanpraxis«. Schmitt bestreitet nicht die zivilisierende (moderierende und balancierende) Kraft politischer Öffentlichkeit und Diskussion, aber er bezweifelt, dass diese Prinzipien jenseits des konstitutionellen Dualismus von monarchischer Exekutive und parlamentarischer Legislative im Parlament noch ihre eigentliche Stätte haben. Schon mit Condorcet, einem Autor der Französischen Revolution, datiert er eine Aufhebung der liberalen Gewaltenbalancierung und Wendung zum »absoluten Rationalismus«. Argumentiert Schmitt im zweiten Kapitel ideengeschichtlich differenziert, so gibt das dritte Kapitel »Die Diktatur im marxistischen Denken« eine freihändige ingeniöse Skizze der marxistischen Umschrift von Hegels Geschichtsphilosophie: Schon die Französische Revolution schritt mit den Jakobinern und Napoleon zur Diktatur; Hegel begriff Napoleon als »welthistorischen Heroen«; Marx gab dem Sozialismus dann die geschichtsphilosophischen Weihen des Hegelianismus: »Die Wissenschaftlichkeit des Marxistischen Sozialis62 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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mus beruht also auf dem Prinzip der Hegelschen Geschichtsphilosophie.« (GLP 68) Der Geschichtsphilosoph erklärte sich zur Avantgarde und zum »Vortrupp des Weltgeistes« (GLP 70): Marx ersetzte den welthistorischen Heroen durch die »Klasse« und erhob den Bourgeois zur »welthistorischen Figur«. Schmitt pointiert, dass Marx die »Zukunftsgesellschaft« (GLP 74) nur negativ als Ende des Kapitalismus bestimmen konnte: Die welthistorische Negation endete im abstrakten »Fieber« (GLP 76) der apokalyptischen Entscheidungsschlacht. Mit Lenin und Trotzki sei dieser Moment aus marxistischer Sicht gegenwärtig gekommen. In kühnen und komplexen Argumentationen lässt das vierte und letzte Kapitel »Irrationalistische Theorien unmittelbarer Gewaltanwendung als Gegner des Parlamentarismus« dann den Anarchismus über den Marxismus und den italienischen Fascismus über den Bolschewismus siegen. Schmitt beruft sich auf den anarchosyndikalistischen Lebensphilosophen Georges Sorel, dessen Réflexions sur la violence er damals in die deutsche Debatte einführte. Einleitend stellt er die Frage, »warum gerade in Russland« (GLP 78) der Marxismus siegte. Seine Antwort ist überraschend: Über den rationalistischen Marxismus hinaus habe der Bolschewismus auch revolutionäre und irrationalistische Kräfte des Anarchismus und Nationalismus aufgenommen. Proudhon und Bakunin hatten 1848 schon den anarchistischen und syndikalistischen Mythos vom Generalstreik geschmiedet. Schmitt spiegelt die Lage nach 1918 in der kleinen Parallele von 1848: 5 Nicht die Diktatur der Intellektuellen, sondern die »schöpferische Gewalt« (GLP 84) der unmittelbaren Aktion habe die Massen zur »Entscheidungsschlacht« (GLP 81) begeistert. Erst als der Marxismus sich in Moskau mit dem russischen Nationalismus und »Hass« (GLP 87) auf die westliche Zivilisation verband, wurde er militant und siegreich. Überall sei der Nationalismus eigentlich stärker als der Marxismus, meint Schmitt; das habe Mussolini verstanden und ausgesprochen. Starke politische Bilder und Mythen – von existentiellen Feinden und Entscheidungsschlachten – triumphierten gegenwärtig als »Grundlage einer neuen Autorität« (GLP 89) über den liberalen Parlamentarismus. Dazu vgl. Verf., Politische Theologie des Anarchismus. Fritz Mauthner und Gustav Landauer im Visier Carl Schmitts, in: Gerald Hartung (Hg.), An den Grenzen der Sprachkritik. Fritz Mauthners Beiträge zur Sprach- und Kulturtheorie, Würzburg 2013, Fritz Mauthner, Würzburg 2013, 85–111

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III. · Phänomenologie der »demokratischen Legitimität«

3.

»Unmittelbare Demokratie« als antiliberale Alternative?

Schmitts Schrift wirkte sogleich in die verschiedensten Richtungen akademisch anregend. Die Ausführungen zum Marxismus, Bolschewismus und Fascismus traten dabei nach 1923, im Interim der Konsolidierung der Weimarer Republik, aber zunächst hinter die Rezeption des Demokratiebegriffs und der Parlamentarismuskritik etwas zurück. Schmitt führte sie in den 20er Jahren auch kaum aus und hielt sich mit näheren Ausführungen zum italienischen Fascismus zurück. In Vorträgen äußerte er sich aber zu aktuellen Fragen des Weimarer Parlamentarismus und suchte zu zeigen, »dass der deutsche Parlamentarismus keine einzige der Voraussetzungen erfüllt, die das englische System zum Musterbeispiel machen«. 6 In der Vorbemerkung zur zweiten Auflage von 1926 geht er auf die Kritik des Heidelberger Staatsrechtlers Richard Thoma näher ein: Thoma verwies u. a. mit Max Weber auf die elitensoziologische Rechtfertigung des Parlamentarismus als »Auslese-Instrument« und »Mittel der politischen Führerauslese« (GLP 8); Schmitt bezweifelt dieses Argument, zumal er auf Lenin, Trotzki und Mussolini verwiesen hatte, und liest es als indirekte Bestätigung des verlorenen Glaubens an das Parlament als exklusiven und privilegierten Ort öffentlicher Debatten und Persuasion auch des politischen Gegners: als »Schauplatz eines Umschaltungsprozesses […] vom egoistischen Partei- zum verantwortlichen Staatswillen«, wie Schmitt es im Hüter der Verfassung (HdV 88 f.) formulierte. Max Weber hatte – 1919 in Politik als Beruf – bereits, an Robert Michels anknüpfend, den »Einzug der plebiszitären Demokratie« und maschinen- oder betriebsförmigen Organisation in den alten Parlamentarismus beschrieben; Schmitt markiert nun ebenfalls einen scharfen Schnitt zwischen dem liberalen Parlamentarismus und pluralistischen Parteienstaat. Seine Vorbemerkung von 1926 erneuert aber nicht nur das prinzipielle Argument, sondern entwickelt den Demokratiebegriff auch mit Rekurs auf Rousseau 7 weiter: Hatte Schmitt 1923 den Fokus zunächst von der Demokratierhetorik auf die kritische Analyse der poDazu etwa die eingehenden Berichte über Vorträge vom 29. Januar und 5. Februar 1926 in der Recklinghäuser Zeitung vom 1. und 8. Februar 1926, die Dr. Matthias Kordes in der Vestischen Zeitschrift der Vereine für Orts und Heimatkunde Bd. 108 kommentiert publizieren wird. 7 Dazu Verf., Vordenker der souveränen Diktatur? Das antiliberale Rousseau-Bild und Carl Schmitt, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2012, 129–144 6

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litischen Mittel und Techniken der »Volkserziehung« verschoben, so tritt er nun stärker aus der Beobachterperspektive heraus und unterscheidet zwischen der liberalen und universalistischen »Menschheitsdemokratie«, die er ablehnt, und der politischen Konstruktion einer »substanziellen« Gleichheit und Homogenität, einer Kraft zur »Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen« (GLP 14). Schmitt betont nun, seinen Begriff des Politischen (1927) antizipierend, dass jede demokratische Identität auch das »Korrelat einer Ungleichheit« (GLP 18) habe und schon Rousseau an die »Einmütigkeit« (GLP 20) einer indisponiblen nationalen Homogenität und Substanz dachte. Anders als die liberale »Menschheitsdemokratie« realisierten Bolschewismus und Fascismus die Möglichkeit einer antiliberalen und »unmittelbaren Demokratie« (GLP 22): einer »modernen Massendemokratie«, in der das Volk vital und politisch in der »Sphäre der Publizität« existierte. Den nationalistischen Grundzug seines Verfassungsdenkens expliziert Schmitt damals, außer im Begriff des Politischen, vor allem in seinen völkerrechtlichen Schriften. Beginnend mit der Broschüre Volksentscheid und Volksbegehren (1927) übersetzt er seine Kategorien dann aber so subtil in eine verfassungsrechtliche Darstellung der Weimarer Republik, dass der starke Hinweis auf die antiliberalen Alternativen des Bolschewismus und des Fascismus einige Zeit aus dem Fokus verschwand. Nach 1945 wurde die Brücke von 1923 zu 1933 geschlagen und Schmitt immer wieder eine vorgängige Option für den »totalen Führerstaat« 8 unterstellt. Es lässt sich auch schwer bestreiten, dass er den Caesarismus einer antiliberalen und diktatorischen Demokratie durchgängig vertrat. Für Hitler optierte er aber letztlich erst 1933.

4.

Phänomenologie der »demokratischen Legitimität«?

Man kann die Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (GLP) zunächst im Kontext betrachten: in der Zeit- und Entstehungsgeschichte als Antwort auf aktuelle Diskussio-

Dazu vgl. Jürgen Fijalkowski. Ideologische Komponenten in der politischen Philosophie Carl Schmitts, Köln 1958

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nen und Zeitgenossen: etwa auf Max Weber, Moritz Julius Bonn, 9 Rudolf Smend, 10 Erich Kaufmann und auch Hans Kelsen. 11 Man muss sie auch im Rahmen von Schmitts Gesamtwerk lesen: Hier ist besonders die Broschüre Legalität und Legitimität von 1932 als Pendant interessant: Sie diagnostizierte den »Gegensatz« von Liberalismus und Demokratie systematisch als interne Spannung und widersprüchliche Struktur der Weimarer Verfassung selbst; Schmitt war der Auffassung, dass solche »Dualismen« Konfliktdynamiken entzündeten und einen Verfassungswandel in Richtung auf neue Antworten anstießen. Eine eingehende Diskussion der Schrift im Gesamtzusammenhang des Werkes ist hier nicht möglich. Schon für sich genommen wirft sie mit ihrer Überfülle an Aspekten und starken Thesen zahlreiche Fragen auf. Eine ideengeschichtliche Betrachtung etwa kann Schmitts Referenzkanon prüfen und die Sicht der liberalen »Klassiker« oder das Rousseau-, Marx- oder Sorel-Bild diskutieren. Von solchen historisch-philologischen Fragen ist der starke Idealtyp vom »Liberalismus als konsequentes, umfassendes, metaphysisches System« (GLP 45) zu unterscheiden: Selbst wenn die Klassikerexegesen schief, schwach oder spärlich sein sollten, könnte die idealtypische Rekonstruktion der liberalistischen »Metaphysik« anregend und treffend sein. Dabei ist die Systematik des »bürgerlichen Rechtsstaats«, wie sie die Verfassungslehre (1928) ausführt, 1923 noch nicht ganz entwickelt. Die Unterscheidung zwischen dem frühen Liberalismus (vor 1789) und dem späteren »organischen« Liberalismus seit der deutschen Romantik, Hegel und v. Mohl wirkte anregend. Schmitts antiliberale und nationalistische Auslegung von Rousseaus volonté générale ist strittig. 12 Die Auffassung von Marx als Geschichtsphilosoph und Hegelianer dürfte unproblematischer sein. Die kühnen Ausführungen zum Bolschewismus und Fascismus werfen eine Reihe Dazu Jens Hacke (Hg), Briefwechsel Moritz Julius Bonn – Carl Schmitt 1919–1932, in: Schmittiana III N.F. (2016), 233–251 10 Dazu Rudolf Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform« (1923), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 1955, 68–88 11 Dazu Verf., Antipodische Polemik: Zur Kontroverse zwischen Hans Kelsen und Carl Schmitt, in: Manfred Walther (Hg.), »Religion und Politik«. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes, Baden-Baden 2004, 265–272; von der Option für Kelsen her kritisch eindrucksvoll: Volker Neumann, Carl Schmitt als Jurist, Tübingen 2015 12 Dazu etwa Ingeborg Maus, Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Berlin 2011 9

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Phänomenologie der »demokratischen Legitimität«?

weiterer Fragen auf: Schmitt betrachtete diese Bewegungen als komplexe Strömungen, in denen Motive und Energien des Marxismus, Anarchismus und Nationalismus in unterschiedlicher Weise wirksam wurden, und er unterstellte ihnen eine irrationalistische »Philosophie konkreten Lebens« (GLP 76), die Sorel prototypisch erfasst habe. Schmitt entfernte sich damit vom Selbstverständnis der Bewegungen und entwickelte eine eigene starke und spekulative Deutung. In seine Auffassung von »Moskau« ging eine zeittypische Slawophilie (nach Tolstoi und Dostojewski) ein, die auch eine intime Note hatte: Schmitt liierte sich damals mit einer orthodoxen Serbokroatin und optierte überhaupt »terran«, kontinental und osteuropäisch gegen den angelsächsischen Raum. Schmitt zitierte Sorel und Mussolini für seine Einschätzung, »dass die Energie des Nationalen größer ist als die des Klassenkampfmythos« (GLP 88). Am Ende spielte er Mussolini gegen den liberalen Parlamentarismus wie den Bolschewismus aus. Die apodiktische Setzung der »Prinzipien des Parlamentarismus« wurde vielfach diskutiert. Leo Wittmayer 13 kritisierte sie in scharfem Ton als Themaverfehlung: Schmitt habe die Grundlagen des aktuellen Parlamentarismus gar nicht erörtert. Rudolf Smend sprach treffend von »Begriffsrealismus«: Die ursprüngliche Ideologie sei »nur ein Moment der Integration«; der Glaube an die ausschließliche Bedeutung der Ideologie sei »Rationalismus oder (wie bei C. Schmitt) Begriffsrealismus.« 14 Smend meinte einen Kurzschluss von Wort und Sache: Eine Institution muss nicht mit ihrer initialen Idee fallen, wie die Ehe nicht mit der Liebe. Es ist auch zwischen der politikwissenschaftlichen Diagnose eines »Strukturwandels« (vom liberalen Parlamentarismus zum »Parteienstaat« der »Massendemokratie«) und einer normativen und philosophischen Diskussion der Prinzipien zu unterscheiden. Mit der Institution des Parlamentarismus fällt auch nach Schmitt aber nicht zwingend der Glaube an die zivilisierende und pazifizierende Kraft öffentlicher Debatten und politische Öffentlichkeiten. Deshalb ließe sich das heutige komplexere Verhältnis des Parlamentarismus zu den pluralen Öffentlichkeiten auch mit Schmitt systematisch bejahen. Als Alternative zum politiLeo Wittmayer, Rezension von Schmitt 1923, in: Archiv des öffentlichen Rechts 47 (1925), 231–233 14 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 1955, 119–276. hier: 153 13

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III. · Phänomenologie der »demokratischen Legitimität«

schen Rationalismus und Idealismus des öffentlichen Diskurses betonte Schmitt zwar den Schritt in die »unmittelbare Gewaltanwendung«; gelegentlich bekannte er sich aber auch ausdrücklich zu den Prinzipien rationaler Politik. In der Vorbemerkung von 1926 betonte er gegen falsche Missverständnisse: »Dass der Glaube an Öffentlichkeit und Diskussion heute als etwas Veraltetes erscheint, ist auch meine Befürchtung.« (GLP 6) Schon deshalb lässt sich die Schrift nicht auf ein Bekenntnis zu den »irrationalistischen Theorien unmittelbarer Gewaltanwendung« und Option für Mussolini (evtl. gar als Deckname für Hitler) festlegen. Die parlamentarische Debatte funktioniert nur im Kontext demokratischer Öffentlichkeiten, und die zivilisierende Kraft des politischen Diskurses ist nicht exklusiv an die Form des Parlaments gebunden. Allerdings argumentierte Schmitt »geistesgeschichtlich«. Seine Form der Geistesgeschichte ähnelt dabei mehr dem Typus des Hegelianismus als der kultur- und literaturwissenschaftlich akzentuierten Geistesgeschichtsschreibung Diltheys, die sich um 1900 von der starken »dialektischen« Konstruktion eines eigenlogischen »absoluten Geistes« der Hegelianer absetzte. Schmitt kennt zwar keine eigenlogisch zwingende Dialektik, keinen dialektischen Determinismus; auch seine Skizze scheint jedoch zu charakterisieren, was Schmitt über Marx’ Verhältnis zu »Hegels Geschichtsdialektik« schreibt. Auch seine Broschüre zeigt: »Die dialektische Konstruktion steigender Bewusstheit zwingt den konstruierenden Denker, sich selbst mit seinem Denken als die Spitze der Entwicklung zu denken.« (GLP 73) Der Leser identifiziert Schmitts Hermeneutik des Fascismus deshalb auch allzu leicht mit einer Parteinahme. Dabei sollte er aber nicht überlesen, was Schmitt über Hegels Geschichtsphilosophie auch schreibt: »Wenn die Weltgeschichte das Weltgericht ist, so ist sie ein Prozess ohne letzte Instanz und ohne definitives disjunktives Urteil.« (GLP 69) Schmitt skizziert eine eigenartige Phänomenologie der »demokratischen Legitimität«. Nicht zufällig zitiert er (GLP 74) gerade die Phänomenologie des Geistes, das philosophische Werk, das er, neben Hobbes’ Leviathan, wohl am meisten bewunderte. Wenn die Broschüre eine letzte Instanz kennt, heißt sie buchstäblich nicht »Schmitt«, sondern »Evidenz«, »Glauben« oder »Legitimität«. Schmitt skizziert einige Formen und Stufen der demokratischen Legitimität und argumentiert als Hermeneut des kollektiven Glaubens an politische Ideen und Institutionen. Ideen schaffen sich zwar ihre Institutionen, meint er, aber sie wandeln sich auch. Schmitt be68 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Phänomenologie der »demokratischen Legitimität«?

hauptet nicht, dass ein »absoluter Rationalismus« sich mit logischer Notwendigkeit aus einem »relativen Rationalismus« entwickelte und dann irgendwie in einen Irrationalismus unmittelbarer Gewaltanwendung umschlug; er zeigt, dass hohe Erwartungen vom parlamentarischen Betrieb enttäuscht wurden und neue Bewegungen entstanden, die in der Abgrenzung noch den Prinzipien und Formen, Ideen und Institutionen negativ verbunden blieben, von denen sie sich absetzten. Den italienischen Fascismus betrachtete er dabei als aktuelle »gegenrevolutionäre« Antwort auf den Bolschewismus. Er entwickelte einen Typus hermeneutischer Bewegungsgeschichtsschreibung, der die politische Bewegung von den kollektiven »Ideen« und »Evidenzen« her schrieb. Seine personalisierende, an »Klassikern« orientierte Legitimitätsgeschichte verfassungbildender Bewegungen scheint allerdings eine politisch nicht uninteressierte systematische Präferenz für reine Formen und »unmittelbare« Demokratie zu vertreten, weshalb Schmitt 1933 auch den Namen Adolf Hitlers einschrieb, wo 1923 Mussolini stand. Das dialektische Feuerwerk seiner Schrift ist anregend, gedankenreich und anstößig. Eine Wirkungsgeschichte der kleinen Broschüre müsste Epochen, Kontinente und Bände umfassen. Man sollte die Schrift jedenfalls nicht auf eine idealistische Parlamentarismuskritik verkürzen, die »klassische« Prinzipien gegen den aktualen Betrieb ausspielte.

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IV. Carl Schmitt und Hegel. Romantikkritik und bürgerliche Verfassung 1

Hegel und Carl Schmitt sind heute zwei global player der deutschen Geisteswissenschaft. Beide polemisierten gegen die romantische Subjektivität. Während Hegel aber das »Prinzip der subjektiven Freiheit« in seinem System der Sittlichkeit systematisch berechtigte, argumentierte Schmitt durchgängig antiindividualistisch und antiliberal. Verglichen mit Schmitt erscheint Hegel deshalb auch als der modernere Autor.

1.

Antimarxistische Hegelstrategie

Schmitt war Jurist. Er war kein Philosoph und wollte das nicht sein. Als Jurist teilte er zwar mit der Philosophie den normativen Anspruch. Hinter seine politische Begründung der Rechtsgeltung durch »positive« »Grundentscheidungen« ging er aber nicht zurück. Intensive Lektüre von Platon und Aristoteles, Kant oder Nietzsche ist nicht bezeugt. 2 Sie werden in Schmitts Werk auch kaum je erwähnt. Zwar las Schmitt mit starken persönlichen Identifikationen immer wieder Thomas Hobbes. Sein Hobbes-Buch von 1938 ignorierte dessen SysAm 16. September 2010 auf dem 28. Internationalen Hegel-Kongress in Sarajevo vorgetragen 2 Schmitt hatte breite Kenntnisse der patristischen und scholastischen Literatur, des gesamten Naturrechtsdiskurses, der frühneuzeitlichen Philosophie und vieler anderer Autoren. Er hatte auch genaue Kenntnisse von Hegel und dem Hegelianismus. Platon und Aristoteles, Kant und Nietzsche spielen aber in seinem Werk fast keinerlei Rolle. Der junge Schmitt setzte sich intensiv mit dem zeitgenössischen Neukantianismus auseinander. In seinen Straßburger Qualifikationsarbeiten distanzierte er sich vom Marburger Neukantianismus. Erst viel später, in der Tyrannei der Werte, grenzte er sich auch von der südwestdeutschen Wertphilosophie ab. Schmitt las den philosophischen Diskurs als konfessionellen Diskurs in junghegelianischer Tradition primär theologie- und religionsgeschichtlich und verwarf das rationalistische Projekt philosophischer Vernunftautonomie insgesamt. 1

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Vom »subjektiven Idealismus« zum »subjektiven Okkasionalismus«

temphilosophie aber auffällig. Sein wichtigster philosophischer Referenzautor war Hegel. Schmitt zitierte ihn schon in seiner Habilitationsschrift an zentralen Stellen. Er ließ sich von der Romantikkritik intensiv anregen und spielte Hegel dann konsequent gegen die marxistische Rezeption und »Hegel-Nahme« aus. Schmitt war zwar kein Hegelianer: Gegen die marxistische Vereinnahmung berief er sich aber systematisch und konsequent auf Hegel. Seit 1923 führte er diesen Kampf namentlich mit Georg Lukács. Wichtige Stationen seiner antimarxistischen Hegelstrategie sind: Ausführungen zur Politisierung der Hegelschen Dialektik durch die marxistische Diktaturtheorie (GLP 63 ff.), einige Skizzen zur Aufhebung des politischen Dualismus von Staat und Gesellschaft nach Hegel (HP 13 ff.), ein Radiovortrag von 1931, Hegels 100. Todesjahr, über »Hegel und Marx«, 3 das Lob von Hegels »konkretem Ordnungsdenken« (DARD 37 ff.), die Autorisierung der Dialektik von »Land und Meer« durch Hegel (SGN 543), die Ablehnung linkshegelianischer und humanistischer Verkehrungen von Hegels Christologie im Schlusswerk »Politische Theologie II« (PT II 121 f.). Den Kampf gegen die junghegelianische und marxistische »Hegel-Nahme«, Vereinnehmung und Monopolisierung der Hegel-Deutung, führte Schmitt dabei auch mit Lorenz von Stein und Bruno Bauer. Konsequent lehnte er den Jungund Linkshegelianismus ab und bekämpfte diese Deutungstraditionen auch als politische Bewegungen. Eine akademisch ausgewogene und umfassende Hegel-Interpretation wollte er aber niemals entwickeln und hatte mit den Rechtshegelianern seiner Zeit auch keinen Kontakt.

2.

Romantikkritik: vom »subjektiven Idealismus« zum »subjektiven Okkasionalismus«

Mit seinen ersten Monographien entwickelt Schmitt eine anti-individualistische Rechts- und Staatstheorie. Schon in seiner Dissertation Über Schuld und Schuldarten trennt er Moral und Recht. Die Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen limitiert dann den Individualismus auf apokalyptische »Zeiten der Unmittelbarkeit«. Schmitt konfrontiert eine satirische Abrechnung mit dem modernen Individualismus dann mit einer »scholasti3

Carl Schmitt, Hegel und Marx, in: Marx-Engels-Jahrbuch 2004, 219–227

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schen Erwägung« zur Ordnung der Kirche. Parallel schreibt er 1917/ 18 sein erstes größeres Buch Politische Romantik. In die Endphase des Ersten Weltkriegs hinein korrigiert er die Fahnen. Anfang 1919 erscheint das Buch, dessen Entstehung in die biographisch dunkelste Zeit fällt. Weshalb Schmitt dieses Buch, zwischen Münchner Heeresverwaltung und Straßburger Universität pendelnd, eigentlich schrieb, ist unklar. Für die gängigen Erwartungen an einen werdenden Staatsrechtslehrer war es einigermaßen exzentrisch. Zwar arbeitete Schmitt damals bereits an seiner Begriffsgeschichte der Diktatur; er wollte aber auch seine Individualismuskritik zu einem geistesgeschichtlichen Abschluss bringen. Weder Hegel noch Kierkegaard werden im Buch zwar als romantikkritische Vorgänger eingehender dargestellt; Schmitt bezieht sich mehr auf die französische Romantikforschung; die Anregung durch Hegel und hegelianisierende Autoren wie Ruge und Haym ist aber ganz unübersehbar. 4 Schmitt kritisiert die politische Romantik exemplarisch insbesondere am Beispiel Adam Müllers. Novalis und Friedrich Schlegel zieht er nur ergänzend heran. Zwei Müller-Kapitel umklammern zwei Kapitel zur »Struktur des romantischen Geistes«. Schmitt übernimmt einige polemische Topoi von Hegels Romantikkritik. Hegel konzentrierte sich in seiner Romantikkritik aber auf Friedrich Schlegel und führte die romantische Auslegung moderner Subjektivität philosophiegeschichtlich auf den »subjektiven Idealismus« seines Berliner Vorgängers Johann Gottlieb Fichte zurück; Schmitt disloziert diese philosophiegeschichtliche Herleitung, wenn er die Romantik nicht von Kant und Fichte, sondern von Descartes und Malebranche herleitet. Er verwirft mit der Romantik nicht nur Kant und die Folgen, sondern auch den neuzeitlichen Rationalismus insgesamt. Schmitt betrachtet die Romantik als eine pseudokonservative »Reaktion gegen den modernen Rationalismus«, die die »höchste Realität« der alten Metaphysik, das vorreflexive Sein Gottes, durch moderne Ideen von »Volk« und »Geschichte« ersetzte. Zum Okkasionalismus sagt er in der Politischen Romantik aber philosophisch eigentlich nicht viel. An die Zeitschrift für öffentliches Recht, das Organ der Kelsen-Schule, schreibt er damals, einen Beitrag kommentierend, dass der okkasionalistische »Parallelismus« nicht als Wechselwirkung auszulegen sei, sondern dass »der Lösungsversuch des eiDas sah schon Karl-Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt 1989, 284–311

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Vom »subjektiven Idealismus« zum »subjektiven Okkasionalismus«

gentlichen Occasionalismus mir gerade darin zu bestehen scheint, dass jedes Moment jeder der beiden parallelen Reihen [des Staates als historisch-politische und als juristische Erscheinung] zur occasio für die allein wesentliche dritte, höhere Kraft (bei den historischen Occasionalisten: Gott) wird, in deren umfassender und alleiniger Wirksamkeit der Gegensatz und die Parallelität in Nichts verschwindet.« 5 Schmitt verweist auf den transzendenten »Gott«. Wo Hegel von einer Subjektivierung des transzendentalen Idealismus spricht, findet er eine Subjektivierung des Okkasionalismus. Die Folgen beschreibt er ähnlich wie Hegel: Er kritisiert den Typus des Romantikers moralistisch als eitlen, ästhetizistischen Bourgeois. Der Schwenk von Kant und Fichte zu Descartes und Malebranche hat erhebliche Konsequenzen für den Status der Untersuchung. Während Hegels Ansatz als philosophiegeschichtlicher Befund nicht unzutreffend ist, dürfte die Wendung zu Malebranche eine historisch merkwürdige Fremdzuschreibung sein: Die Romantiker haben Kant und Fichte gelesen; Malebranche aber haben sie kaum gekannt. Methodisch wechselt Schmitt damit aus der philosophiehistorischen Studie in einen Essay über. Dem Essay ist eine externe Fremdzuschreibung erlaubt; er darf den Okkasionalismus zum Anlass einer eigenen Definition nehmen, die nicht mit den Selbstbeschreibungen der Romantiker identisch ist und verwechselt werden darf. Viele weitere Eigenheiten, Fehler und Verzerrungen ließen sich monieren: Das Adam Müller-Bild ist offenbar ungerecht. Wichtige politische Romantiker wie Franz von Baader und Joseph Görres kommen nicht vor. Schmitt diskutiert Müllers freundschaftliche Zusammenarbeit mit Heinrich von Kleist nicht und ignoriert so das Verhältnis von Preußentum und Romantik. Schmitt kritisiert die Modernität der Romantik auch ganz einseitig und verbucht die konservativen Motive und Bemühungen auf das Konto des politischen Opportunismus. Den offenkundigen Beitrag der Romantik zur Nationalisierung des Verfassungsdenkens erörtert er auch nicht und geht so an der romantischen Entdeckung eines weiteren Begriffs vom Nationalstaat vorbei. Wenn Schmitt dagegen die Romantiker als politische Opportunisten entlarvt, liest sich sein Buch wie eine vorweggenommene Maschinenschriftl. Brief (Durchschlag) Schmitts vom 9. Oktober 1919 wohl an Hans Kelsen als Herausgeber der Zeitschrift für öffentliches Recht (RW 265–13588). Der Brief ist auch deshalb interessant, weil er Schmitts frühe Anregung in der geistesgeschichtlichen oder politisch-theologischen Sicht durch die Kelsen-Schule belegt.

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Selbstinquisition: Was für Müller fraglich ist, trifft auf seine eigene politische Biographie zu. Der Name Adams Müllers ließe sich im Buch deshalb durch Carl Schmitt ersetzen. Als eine solche Selbstentlarvung des politischen Romantikers haben frühe Kritiker das Buch sogleich gelesen: Johannes Kirschwang und Waldemar Gurian, Karl Löwith und Gottfried Salomon richteten das Charakterbild vom politischen Opportunisten gegen Schmitt selbst. 6 Schmitt führt die katholische Gegenrevolution und vorrationalistische Metaphysik gegen die Romantik ins Feld. Gegen die katholisierende Tendenz der Romantik scheint er eine Disjunktion von Katholizismus und Romantik aufzumachen. Sein Essay richtet sich damit primär an die innerkatholische Diskussion. Mit dem polemischen Besen der Romantikkritik sondiert er – auch in der frühen Korrespondenz mit Gurian 7 – das katholische Terrain. Seiner Mitwelt macht er die Romantik zum Prüfstein. Dabei distanziert er sich von der romantischen Fassung katholischer Soziallehre und katholischen Naturrechts. Sein Buch traf 1919/25 in die Selbstverständigungsdebatten des damaligen Katholizismus und Konservatismus hinein und war heftig umstritten. Erich Pryzwara 8 las eine Disjunktion von »Augustinismus und Romantik« heraus. Eine solche »katholische« Auffassung der Romantikkritik war Schmitt zwar nicht unlieb, im Werk und Leben zeigte er sich aber nicht als treuer Katholik. Die Trennung von »Geist« und »Sein« scheidet seine Grundstellung von Hegels Philosophie des »absoluten Idealismus«, eine scholastische und dogmatische Identifizierung seiner »Theologie« ist kaum möglich. Johannes Kirschweng, Der Romantiker Carl Schmitt, in: Rhein-Mainische Volkszeitung Nr. 16 vom 21. Januar 1926; Wiederabdruck in: Schmittiana I N.F. (2011), 108–110; Waldemar Gurian (Paul Müller), Entscheidung und Ordnung. Zu den Schriften von Carl Schmitt, in: Schweizerische Rundschau 34 (1934/35), 566–576; Karl Löwith, Politischer Dezisionismus, in: Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 9 (1935), 101–123; Gottfried Salomon, Staatsrecht in Deutschland, in: Emil J. Gumbel (Hrsg.), Freie Wissenschaft. Ein Sammelbuch aus der deutschen Emigration, Strasbourg 1938, 174–189 7 Dazu Ellen Thümmler u. Reinhard Mehring (Hg.), »Und erwähnen Sie die Negerplastik«. Waldemar Gurian-Carl Schmitt. Briefwechsel 1924–1932, in: Schmittiana I N.F. (2011), 59–111; vgl. auch Schmitts negative Rezension von Paul Kluckhohn, Persönlichkeit und Gemeinschaft. Studien zur Staatsauffassung der deutschen Romantik, Halle 1925, in: Deutsche Literaturzeitung 47 (1926), Sp. 1061–1063 8 Erich Pryzwara, Augustinismus und Romantik, in: Stimmen der Zeit 109 (1925), 470–472 6

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Bürgerliches Individuum und bürgerliche Verfassung

3.

Bürgerliches Individuum und bürgerliche Verfassung

Schmitt dachte über Gott und Staat anders als Hegel. In seiner Verfassungsgeschichte von der Zähmung des Leviathan oder Konstitutionalisierung des Staates war er zwar niemandem näher als Hegel: Hegel steht in seiner wissenschaftsgeschichtlichen Linie der Staatslehre für die klare Unterscheidung von Staat und Gesellschaft und einen Anfang »organischen« Staatsdenkens, der dem »mechanistischen« Staatsdenken des kontraktualistischen Naturrechts und der rechtspositivistischen Linie nach 1848 überlegen sei. Nimmt man Schmitts schematische Darstellungen aber ganz ernst, so stand er der neuzeitlichen Trennung von Staat und Kirche und dem modernen Konstitutionalisierungs- und Demokratisierungsprozess insgesamt ablehnend gegenüber. Vor 1933 artikulierte er seine radikale Konstitutionalismuskritik freilich nicht in aller Offenheit, sondern beschränkte sich auf eine strategische Dekonstruktion der liberalen Elemente des Verfassungsstaates zugunsten eines plebiszitärdemokratisch legitimierten Caesarismus. Was Schmitt mit Hegel verbindet, ist ein weites Verfassungsverständnis im Rahmen politischer Theologie. Schmitt ist aber kein Denker der Synthese und »Aufhebung«, sondern der polemischen Konfrontation, des Konflikts, Ausnahmezustands und der diktatorischen Entscheidung. Anders als Hegel beschreibt er die Weltgeschichte nicht als einen Fortschrittsprozess, in dem verfassungsgeschichtliche Errungenschaften bewahrt sind. So betrachtet er auch den Protestantismus nicht als »Fortschritt« gegenüber dem Katholizismus, obgleich Schmitt mit Hegel einig war, den Staat gegenüber den »besonderen Kirchen« als »das Allgemeine« (GPR § 270; VII, 428) und »das Wissende« (GPR § 270; VII, 425) 9 anzusehen. Schmitt bejaht den modernen Individualismus nicht aus der moralischen Perspektive des individuellen Autonomieanspruchs als normativ unterhintergehbares Postulat und rechtliche Forderung an den Staat. Anders als Hegel will er »Legalität« und »Moralität« nicht im Staat bewahren. Er reduziert das »System der Sittlichkeit« auf eine Spannung von Staat und Gesellschaft, ohne die Funktion der Familie analog Hegel zu thematisieren. Hegels systematische Überlegungen zur familiären Sozialisation und Versittlichung der Individuen nimmt er nicht auf. Die positive Aufgabe und Rolle der Familie bei der sittlichen Einbindung und Bil9

Hegel wird hier zitiert nach der Theorie-Werkausgabe, Frankfurt 1970

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dung der Individuen sieht er nicht. Im »anthropologischen Glaubensbekenntnis« folgt er mehr Hobbes als Hegel. Hegels Ansicht, dass das Prinzip der Familie im sittlichen Staat reflektiert und bewahrt sei, steht er fern. Schmitt kennt überhaupt keinen »sittlichen Staat« im Sinne Hegels. Während Hegel den moralischen Standpunkt des Individuums systematisch berechtigt und die Moralität im sittlichen Staat respektiert wissen möchte, trennt Schmitt zwischen Moral und Politik und setzt den »absoluten« Staat gegen die politische Virulenz moralischer Selbstansprüche der Individuen ins Recht. So kritisiert er auch die liberalen Momente von Hobbes’ Leviathan. Er war vor 1945 auch nicht rechtsdogmatisch gezwungen, staats- und völkerrechtlich vom Primat der Grundrechte des Individuums auszugehen. Aus der antiindividualistischen Ausgangsstellung resultiert ein Anti-Liberalismus und weitreichender Anti-Positivismus und -Legalismus. Auch hier erscheint Hegel »moderner«. Betrachten wird dies kurz am Verfassungsbegriff: Schmitt unterscheidet in seiner systematischen Verfassungslehre vor allem zwischen der »absoluten« und der »positiven« Verfassung eines Staates. Als positive Rechtsverfassung bezeichnet er die Summe der politischen Grundentscheidungen einer politischen »Einheit«, des Volkes als Nation. Die »absolute« Verfassung nennt er die Summe aller Bedingungen und Voraussetzungen der Legalität. Er spricht auch von der geschichtlichen »Substanz« einer positiven Rechtsverfassung und nähert sich damit Hegels Terminologie und Betrachtungsweise an. Hegels Philosophie des »absoluten« Geistes formuliert geistesgeschichtliche Voraussetzungen der Verfassungsgeschichte. Formelhaft spricht sie von Korrespondenzen zwischen der »Reformation« der Geister und »Revolution« der Verfassung. Schmitt zitiert Hegel hier wiederholt und betont mit seiner vieldeutigen »Politischen Theologie« selbst soziokulturelle Voraussetzungen von Rechtsgeltung. Er nimmt diese Fragen aber mehr von Weber und Kelsen her auf. Schmitt konstatiert einen neuzeitlichen Säkularisierungsprozess, den Wandel von Transzendenz- zu »Immanenzvorstellungen«, und betrachtet die konfessionelle Prägung als unhintergehbare Sinnressource und Handlungsdisposition. Kelsen band die Möglichkeit der Demokratie an den weltanschaulichen Relativismus. 10 Schmitt Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 2. Aufl. 1929, 118; vgl. ders., Staatsform und Weltanschauung, Tübingen 1933

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Bürgerliches Individuum und bürgerliche Verfassung

stimmt dieser Analyse zu: Auch er meint, dass der weltanschauliche Relativismus zur liberalen Demokratie neigt. Dagegen optiert er aber für Theismus und Personalismus. Er glaubt, dass die politische Autorität nur im Rahmen eines theistisch-personalistischen Weltbildes gesichert ist. Zivilpolitisch argumentiert Schmitt für die offensive Verteidigung des Theismus und Personalismus als Voraussetzung staatlicher Autorität: Um der Autorität willen bejaht er das personalistische und theistische Weltbild. Er entwickelt diese Überlegungen aber nicht philosophisch vom Personalismus ausgehend, sondern setzt sie apodiktisch als politisches Postulat. Trotz seiner Romantikkritik hätte er den Personalismus deshalb zum Ausgangspunkt einer christlichen Staatslehre nehmen können, die die staatliche Autorität sichert. Er hätte sich damit auch im Einklang mit zeitgenössischen katholischen Philosophen (wie Max Scheler) befunden. Sein juristischer Ausgangspunkt und sein politischer Antiliberalismus verboten ihm aber wohl eine solche Konsequenz. Anders als Hegel entwickelte Schmitt keine Staatsphilosophie, die das Individuum in seiner Moralität (Glaubens- und Gewissensfreiheit) zum Ausgangspunkt nimmt und relativ berechtigt. Es lassen sich dennoch einige Übereinstimmungen mit Hegels Staat finden: Hegel betrachtete den Staat emphatisch als »Organismus« (GPR § 269). Als organische oder »politische Verfassung« (GPR § 269) begriff er die »Totalität« der Institutionen oder »Gewalten« in ihrer systemisch funktionalen »Idealität« (GPR § 272). Der systemische Idealismus der Gewalten fordert nach Hegel die konstitutionelle Monarchie: Der Monarch verkörpert die »Souveränität« und »Persönlichkeit« des Staates. Hegel lehnte deshalb die revolutionäre Volkssouveränität ab, die Schmitt emphatisch betonte, und rechtfertigte Residuen extrakonstitutioneller Souveränität, so das Begnadigungsrecht des Monarchen. Seine Verteidigung der dynastischen Legitimität wurde schon von vielen Zeitgenossen, nicht nur im Linkshegelianismus, als konservativer Opportunismus abgelehnt. Das Verhältnis von Verfassung und Verfassungswirklichkeit ist auch bei Hegel dehnbar. Manche Ausführungen erscheinen systematisch nicht zwingend. Schmitt legt Hegels »Wirklichkeit der sittlichen Idee« auf einen »Beamtenstaat« fest. 11 Von der Verfassungslage nach 1815 abstrahiert, ist Das betont zutreffend Wolfgang Schild, »An diesem 30. Januar (1933) ist ›Hegel gestorben‹. Anmerkungen zu einer These Carl Schmitts, in: Transzendentale Konzepte in aktuellen Bezügen, hrsg. Hans-Dieter Klein u. Rudolf Langthaler, Würzburg

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IV. · Carl Schmitt und Hegel

Hegels weiter Begriff vom staatlichen »Organismus« aber Schmitt nicht ganz fremd. Die Betonung der »Souveränität«, »Idealität« und »Persönlichkeit« des Staates entspricht auch seiner Auffassung. Schmitt machte diese Kriterien aber nicht an der »konstitutionellen Monarchie« fest. Die »dynastische Legitimität« der Monarchen hatte seiner Auffassung nach 1918 ausgespielt. Schmitt war kein Monarchist, wünschte sich die Hohenzollern, Habsburger oder Wittelsbacher nicht zurück. Er betrachtete die verfassungsförmige Bindung des souveränen Staatshandelns auch als politisches Risiko und Problem. Mit Hegel könnte man sagen, dass er die Souveränität und Idealität der Verfassung gegen deren legalistische Bindung ins unbeschränkte Recht setzte. Schmitt optierte bekanntlich für eine extensive politische Auslegung der Verfassung, im äußersten Konflikt auch gegen die Legalität und für die Legitimität der Grundentscheidungen, und stellte die Verfassung stärker zur Disposition der politischen Führung. Vielleicht stand Hegel einer solchen Auffassung nicht ganz fern. Vielleicht weisen beispielsweise seine umstrittenen Überlegungen zur Souveränität des zwischenstaatlichen Staatshandelns 12 in diese Richtung. So lehnte auch Hegel den Universalismus von Kants Friedensschrift ab. Schmitt sah den Funktionsmodus der Legalität aber insgesamt eindeutig negativer: Er unterschied Liberalismus und Demokratie, baute die liberalen Bestandteile zugunsten der Führerdemokratie ab, identifizierte den Volkswillen im Führerwillen. Als Fazit des kleinen Vergleichs lässt sich sagen: Hegel argumentiert als Staatsphilosoph deutlich moderner, indem er die Moralität des Individuums im Staat berechtigt und dem Funktionsmodus des Rechts eine stärkere Bindungskraft einräumt. Das zeigt sich schon in seiner Romantikkritik. Schon hier setzt er seine Bedenken gegen einen bourgeois entgleisten Individualismus weniger apodiktisch an. Systematisch berechtigt er Typen gelingender Individualität gegen die »bösen« Romantiker. Seine Unterscheidung zwischen der abstrakten Moralität und dem wirklichen, ins System der Sittlichkeit einsozialisierten Individuum ist systematisch interessant: sowohl in den Überlegungen zur Sozialisation des Individuums als auch in der An2010, 37–55; zu Hegels beamtenstaatlicher Konstruktion einer mäßigenden politischen Mitte jetzt Herfried Münkler, Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, Berlin 2010, 101 ff. 12 Zur Kritik etwa Vittorio Hösle, Hegels System, Hamburg 1988, Bd. II, 579 ff.

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Bürgerliches Individuum und bürgerliche Verfassung

erkennung seiner eigenlogischen Moralität. Schmitt bringt Staat und Individuum dagegen niemals in eine Systematik. Seine Biographie dementierte jedoch den Anti-Individualismus, Anti-Liberalismus und Anti-Konstitutionalismus seines Verfassungsdenkens: Seinen theoretischen Anti-Individualismus konnte er nicht wirklich leben. Hegel fand aus seiner Romantikkritik heraus zu einer Berechtigung des Individuums. Schmitt dagegen sah zwar die Notwendigkeit einer systematischen Begründung des Personalismus, verwies sie aber in den Bereich des »Mythos« und gelangte nicht zu einer tragenden Verhältnisbestimmung von Mensch und Staat. Der radikale Anti-Individualismus seines Staatsdenkens ist heute, im Zeitalter der Menschenrechte, juristisch nicht mehr anschlussfähig. Einige seiner Schüler, so Ernst-Wolfgang Böckenförde, 13 unternahmen deshalb nach 1949 auch bald den Versuch, Schmitt mit Hegel, genauer: mit Joachim Ritters Hegel-Deutung, liberal zu rezipieren und die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Individuums zum Angelpunkt einer Transformation seiner Verfassungstheorie zu machen. Hegel führte seine ablehnende Sicht des romantischen Typus nicht zu einer radikalen Verwerfung des modernen Individuums. Seine politische Anerkennung des modernen Individuums hatte aber philosophische und religiöse Gründe, die Schmitt nicht teilte: die Anerkennung des Individuums als »Geist« mit der Lehre von der »Identität der göttlichen und menschlichen Natur«. Schmitt sah diesen christologischen Differenzpunkt und schrieb deshalb auch die Romantikkritik um.

Dazu vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, Berlin 1978; ders., Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt 2006, 115–142

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V. Vom Staatsrat zum Führerrat? Carl Schmitts Staatsrat-Projekt von 1933 1

1.

Zur offenen Lage von 1933

Carl Schmitt war auf den auf Lebenszeit verliehenen Titel des Staatsrats stolz und ließ sich auch nach 1945 noch gerne als Staatsrat anschreiben und ansprechen. 1951 notierte er in sein Glossarium: »Für drei Dinge danke ich Gott: Erstens, dass ich ein Mensch bin und kein Tier. Zweitens, dass ich ein Mann bin und keine Frau. Drittens, dass ich preußischer Staatsrat bin und kein Nobelpreisträger.« (GL 252) 2 Vor 1945 nahm er gerne Privilegien des Staatsrats in Anspruch. Das Amt war für ihn aber nicht nur Pomp und Staatsoper. Bei seinem Sturz und Fall in der NS-Ämterkarriere schützten ihn der Titel und die Protektion Görings auch gegen einen drohenden Totalabsturz und Verlust etwa des Berliner Lehrstuhls. 3 Hier soll nicht weiter interessieren, was Titel und Amt für Der vorliegende Text dokumentiert einen Vortrag, der am 19. November 2015 auf Einladung von Helmuth Lethen im Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz in Wien gehalten wurde. Die Tagung hieß: »Das brillante Quartett des Preussischen Staatsrats 1933–1945. Carl Schmitt, Ferdinand Sauerbruch, Gustaf Gründgens, Wilhelm Furtwängler«. 2 Zur Geschichte des Staatsrats vgl. Hans Schneider, Der preußische Staatsrat 1817– 1918, München 1952; Joachim Lilla, Der Preußische Staatsrat 1921–1933. Ein biographisches Handbuch. Mit einer Dokumentation der im ›Dritten Reich‹ berufenen Staatsräte, Düsseldorf 2005; zu Görings Staatsrat zeitgenössisch vgl. Ernst-Ewald Kunckel, Der preußische Staatsrat. Görings Arbeit am Neubau des Reiches, Berlin 1933; Adolf W. Remé, Der preußische Staatsrat, Berlin 1935; die Literatur zu Carl Schmitt ist uferlos. Starke Identifikationen seiner verfassungspolitischen Zielen mit dem »Zähmungskonzept« Schleichers oder auch einem katholisch-autoritären Staatsmodell (Papens) sind inzwischen durch den Fortgang der Quelleneditionen weitgehend ad acta. Schmitts rechtspolitische Interventionen in der formierenden Phase des Nationalsozialismus sind aber noch kaum detailliert erforscht. Zur Situierung vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 3, München 1999; Horst Dreier, Staatsrecht in Demokratie und Diktatur, Tübingen 2016 3 Das Schutzversprechen gehörte zur persönlichen Rechtsstellung aller Staatsräte 1

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Zur offenen Lage von 1933

Schmitt 1936 oder nach 1945 bedeuteten, sondern welche Perspektiven er mit der Institution in der formativen Phase des Nationalsozialismus verband. Es wäre bei der dunklen Quellenlage für die späteren Jahre nach 1934 schon äußerst schwierig, auch nur ein ungefähres Bild von Schmitts Göring-Bild zu bekommen. Für die Historisierung seines Staatsrat-Projekts im formativen Jahr 1933 ist die relativ offene Gesamtlage zu bedenken und eine Über- wie Unterschätzung der strategischen Ausgangslage zu vermeiden. Schmitt betrachtete die nationalsozialistische Machtergreifung als eine »legale Revolution« und sah die revolutionäre Bedeutung der Ereignisse. Er wusste, dass die institutionellen Verhältnisse von Staat, Bewegung und Volk, um im Titel seiner Programmschrift von 1933 zu sprechen, zur Disposition standen und der »totale Staat« neue Machtzentren ausbilden würde. Bereits vor seinem Eintritt in die NSDAP wurde Schmitt Anfang April 1933 durch Franz von Papen und Johannes Popitz als rechtstechnischer Berater für die Ausarbeitung des »Reichsstatthaltergesetzes« zur politischen »Gleichschaltung« der Länder herangezogen. Durch seine extensive Auslegung der Diktaturbefugnisse des Reichspräsidenten, Apologie des Präsidialsystems und Verteidigung des »Preußenschlages« war er als profilierter Staatsrechtsprofessor damals wie wenige sonst für den Nationalsozialismus interessant geworden. Er konnte deshalb anfangs begründet hoffen, im Nationalsozialismus als »Kronjurist« eine exponierte Rolle zu spielen. Zwar wurde ihm die Rolle des »Kronjuristen« – insbesondere durch den nationalistischen Konkurrenten Otto Koellreutter – bald bestritten. Die Gegnerschaft einer SS-Jurisprudenz, die seine NS-Karriere Ende 1936 dann zu Fall brachte, gab es aber noch nicht. Und die fortdauernde Bedeutung des Reichsjustizministeriums unter Franz Gürtner war noch nicht absehbar. Schmitt durfte also auf eine größere Karriere als »Kronjurist« hoffen. Sein verfassungspolitisches Denken war dabei seit den Anfängen der Weimarer Republik schon mit den Stichworten von »Diktatur« und »Gegenrevolution« verbunden. Sondiert man seine Wirksamkeit im Nationalsozialismus, so las-

und wurde mit der Ernennungsurkunde Göring schon förmlich zugesichert. In der Ernennungsurkunde heißt es: »Zugleich sichere ich Ihnen meinen besonderen Schutz zu.« (zitiert nach: Remé, Der preußische Staatsrat, 1935, 41) Mit diesem förmlichen Schutzversprechen intervenierte Göring Ende 1936 nach Angriffen auf Schmitt im Schwarzen Corps.

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V. · Carl Schmitts Staatsrat-Projekt von 1933

sen sich bis Ende 1936 eine juristisch-institutionelle und eine antisemitische Sinngebung unterscheiden. Die juristisch-institutionelle Sinngebung endete mit dem sog. »Röhm-Putsch« vom 30. Juni 1934. Zwar rechtfertigte Schmitt diese publiken Staatsmorde bekanntlich mit seinem Artikel Der Führer schützt das Recht; damals markierte er aber auch einen Perspektivenwechsel; er bezweifelte fortan die Verfassungsfähigkeit des Nationalsozialismus und wechselte aus dem Register des Normalzustands in die Optik des Ausnahmezustands. In dieser Optik stellte er seine apologetische Strategie um und ging zu einer antisemitischen Rechtfertigung bzw. Sinngebung des Nationalsozialismus über. Dieser offensive Sprung in die antisemitische Rechtfertigung ist sein zweiter und eigentlicher »Sündenfall«, wenn solche Kategorien erlaubt und geboten sind. Zwar äußerte Schmitt sich auch 1933 schon massiv antisemitisch, und die diskriminierenden Kosten seiner damaligen Interventionen sind keinesfalls zu bagatellisieren; dennoch gibt es nach dem 30. Juni 1934 einen qualitativen Sprung. Zwischen beiden Rechtfertigungsstrategien ist deutlich zu unterscheiden. Dabei ist Schmitts verfassungspolitisches Projekt einer juristisch-institutionellen Sinngebung nicht mit einer »etatistischen« Strategie der Verteidigung der überlieferten staatlichen Formen gegen die revolutionäre Partei kurzzuschließen. Sein verfassungspolitisches Wollen wurde zwar immer wieder »etatistisch« gedeutet. Es ist aber weiter zu fragen, welchen Souveränitätskern er eigentlich verteidigte. Schmitt pflegte nach 1945 seinen Mythos vom »Aufhalter« nicht zuletzt durch seine Staatsrat-Legende; sie besagte, dass er ein »etatistischer Aufhalter« war, der anfangs mit einem Zähmungskonzept strategisch auf Göring setzte und nach dem 30. Juni 1934 den Versuch einer institutionell-etatistischen Sinn- und Verfassungsstiftung aufgab. Diese Legende propagierte Schmitt nach 1945 mündlich wie schriftlich vielfach. In seinem Handexemplar 4 des Werkes Der Hüter der Verfassung stellte der uralte Schmitt 1978/79 den Staatsrat in die Tradition des Verfassungsschutzes seit den Ephoren und pflegte so erneut die Legende vom »Aufhalter«. Zutreffend ist hier, dass er den 30. Juni 1934 sogleich als Einschnitt verstand. Hitler verachtete Juristen und Schmitt war kein altgedienter Parteigenosse. Dass er den »Zugang zum Machthaber« finden könnte, war damals im Frühjahr 1933 keineswegs ausgemacht. Schmitt war allerdings davon über4

RW 265–28063; dazu in Schmittiana III N.F. (2016), 320–322

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Von Göring zu Hitler? Auf der Suche nach dem »Zugang zum Machthaber«

zeugt, dass auch die »nationale Revolution« rechtstechnischen Beistand brauchte. Der »Funktionsmodus« der Legalität schien ihm im modernen Staat unentbehrlich. Schmitt träumte aber nicht von einem Immediatzugang zu Hitler, sondern setzte zunächst auf Göring und das Staatsrat-Projekt als erstes und wichtigstes Trittbrett für seine NS-Karriere. Man sollte deshalb genauer betrachten, was er eigentlich mit Göring und der Institution des preußischen Staatsrats verband. Dabei ist zwischen der Person und dem Amt zu unterscheiden: Was erwartete Schmitt von Göring und was von der Institution des Staatsrats? Dazu folgen zwei Thesen, die in zwei Teilen erläutert werden: Hermann Göring war zwar Schmitts erster, aber nicht sein einziger nationalsozialistischer Mentor. In der »Polykratie der Paladine« (Hans Boldt) war Schmitt fast jeder Umgang Recht, um im System an Einfluss und an Einsichten zu gewinnen. Strategisch setzte er auf die Institution des Staatsrats als eine Form des »Zugangs zum Machthaber« und hoffte auf reichspolitische Perspektiven des Amtes.

2.

Von Göring zu Hitler? Auf der Suche nach dem »Zugang zum Machthaber«

Für Schmitts Kontakte und Umgang mit Nazi-Größen seien zunächst ausführlicher die wichtigsten apologetischen Selbstaussagen in Nürnberger Untersuchungshaft vom Frühjahr 1947 zitiert. Schmitt erklärt hier mit den ersten Absätzen seiner ersten Stellungnahme ungefragt: »Ich habe niemals in meinem Leben auch nur ein Wort mit Hitler gesprochen. Ich bin ihm auch in den 12 Jahren seiner politischen Macht niemals vorgestellt worden und habe ihm niemals die Hand gegeben. Ich habe auch niemals den Versuch dazu gemacht oder den Wunsch danach empfunden und niemals jemand in dieser Hinsicht bemüht. Ebenso habe ich Hitler, Göbbels, Rosenberg, Hess, Bohle und die meisten anderen Männer des Regimes niemals gesprochen oder mich darum bemüht, sie zu sprechen. Bei keinem habe ich auch nur eine Sekunde antichambriert. Göring habe ich seit 1936 nicht mehr gesprochen; ich habe mich auch nicht darum bemüht, ihn zu sehen oder zu sprechen. Ribbentrop habe ich ein einziges Mal 1936 gesehen und einige belanglose Worte mit ihm gewechselt. Sonst habe ich ihn nie gesprochen und auch nicht um eine Besprechung gebeten. Frank habe ich seit meiner öffentlichen Diffamierung vom Dezember 1936 nur noch einige Male gesehen, zwei- oder dreimal in den Jahren 1937/38 in Angelegenheiten der Akademie für Deutsches Recht, einmal mit Richard

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V. · Carl Schmitts Staatsrat-Projekt von 1933

Strauss zusammen und zweimal während des Krieges bei zufälligen, durch Frau Frank veranlassten Besuchen«. (AN 69)

Zu seiner Rolle als Staatsrat schreibt Schmitt in seiner zweiten Stellungnahme: »Ich war seit Gründung des preußischen Staatsrats (Juli 1933) Mitglied und hatte anfangs großes Interesse an dieser Institution. Ich sah hier, mit meinem Freunde Popitz, große Arbeitsmöglichkeiten und hoffte, dort könnte sich eine Stätte sachlicher Erörterung von Verwaltungsfragen und damit ein Gegengewicht gegen den Parteibetrieb bilden. Aber die Einrichtung litt von Anfang an an dem inneren Zwiespalt, der mit der problematischen Persönlichkeit Görings zusammenhing. Auf der einen Seite war der Staatsrat von Popitz und einigen anderen, darunter auch von mir, als Träger einer durch spezifische Sachlichkeit und Sachkunde qualifizierten Arbeit gedacht; auf der anderen Seite musste er in den Händen Görings zu einem leeren Prunkstück werden. Ich persönlich habe an dem Preußischen Gemeindegesetz vom Dezember 1933 mitgearbeitet und sehe darin keine Mitwirkung an der Vorbereitung eines Angriffskrieges.« (AN 86)

Zuvor hatte Schmitt zur Institution des Staatsrats ausgeführt: »Seine Tätigkeit bezog sich auf sachliche Fragen der preußischen Verwaltung und Organisation. Seine Hauptleistung waren die preußischen Kommunalgesetze vom Dezember 1933 (Gemeindegesetz und Gemeindefinanzgesetz). Auch diese Tätigkeit hat schon im Frühjahr 1936 ihr Ende gefunden. Seit dieser Zeit ist der preußische Staatsrat nicht mehr einberufen worden. […] Die Gründe für dieses schnelle Absinken einer scheinbar glanzvollen inaugurierten Institution sind mannigfacher Natur. Der nächstliegende ist, dass Preußen kein Staat mehr war, sondern nur ein Verwaltungskomplex, und ein Preußischer Staatsrat infolgedessen auf die Dauer nicht mehr hätte sein können als ein Verwaltungsorgan. Das trifft ohne Zweifel zu. Aber in einem politischen System wie dem Hitlers ist die ganz persönliche Haltung und Einstellung von Hitler selbst das allein Entscheidende. Darum wirkte sich die Tatsache, dass Hitler in auffälliger Weise der feierlichen Eröffnung des Preußischen Staatsrats im September 1933 fernblieb, von Anfang an in den Augen der Partei als eine Degradierung aus. Göring hatte im Grunde nur Hausmacht- und Repräsentationsinteressen an der Einrichtung. Die wirkliche Arbeit hing an dem preußischen Finanzminister Prof. Dr. Johannes Popitz.« (AN 85 f.)

In seinen Nürnberger Stellungnahmen macht Schmitt zu apologetischem Zweck weitere wichtige Aussagen, die die Forschung bis heute nicht hinreichend berücksichtigt. So betont er für die Jahre bis 1936 die größere Rolle Hans Franks als nationalsozialistischer Mentor. Von dieser Mentorschaft schweigt er in späteren Selbstaussagen fast voll84 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Von Göring zu Hitler? Auf der Suche nach dem »Zugang zum Machthaber«

ständig. Seine Staatsrat-Legende hatte vor allem die Funktion, von Frank auf Göring abzulenken und das nationalsozialistische Engagement so im Kern auf das Jahr 1933 zu begrenzen. Die Nürnberger Antworten sind im Kern erhellend. Die Aussagen sind verlässlich. Unüberhörbar ist freilich Schmitts apologetisches Interesse, das sachliche Interesse an der Institution gegen die Person Görings auszuspielen und die geringe und eher unpolitische verwaltungspraktische Bedeutung des Staatsrats zu betonen. Schmitt verweist für seine Mitarbeit auf seine Beziehung zu Popitz. 5 Dieses Freundschaftsargument spielt in seiner Selbstdarstellung seines NS-Engagements insgesamt eine erhebliche Rolle. Deutlich klingt aber auch an, dass weitergehende Hoffnungen und Erwartungen durch Hitler und die Haltung der Partei enttäuscht wurden. Das ist ernst zu nehmen. Es ist also zwischen der rückblickenden Beleuchtung der Person Görings und der Institution und den hohen Erwartungen und Hoffnungen von 1933 zu unterscheiden. Hier ist festzustellen: Schmitt verband mit der Institution anfänglich weitergehende Hoffnungen und Erwartungen; er setzte für seinen Aufstieg im Nationalsozialismus zunächst auf die Person Görings und beobachtete hier schon früh eine Differenz zu Hitler. Das lässt sich aus den Tagebüchern einigermaßen belegen. Schmitts Sprung in den Nationalsozialismus ist hier nicht eingehend darzustellen. 6 Anhand seiner Tagebucheintragungen und einiger Vorträge und Publikationen ist er für die entscheidenden Wochen nach dem 30. Januar 1933 aber einigermaßen nachvollziehbar: Schmitt sah sein Engagement zwar in einer gewissen Konsequenz und Linie des Engagements für Papen: des »Preußenschlags« und der Revision des Leipziger Staatsgerichtshofurteils, das er als persönliche Niederlage empfunden hatte. 7 Ein Vortrag vom 22. Februar 1933 distanziert sich zwar bereits vom »Experiment Schleicher-Papen«. 8 Erst mit dem Ermächtigungsgesetz vom 23./24. März ent-

Zur Person vgl. Anne C. Nagel, Johannes Popitz. Görings Finanzminister und Verschwörer gegen Hitler, Köln 2015. 6 Dazu Verf., Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009, 304 ff. 7 Dazu vgl. Carl Schmitt, Ein Jahr deutsche Politik. Rückblick vom 20. Juli 1932. Von Papen über Schleicher zum ersten deutschen Volkskanzler Adolf Hitler, in: Westdeutscher Beobachter 9 (1933), Nr. 176 vom 23. Juli 1933 8 Carl Schmitt, Bund, Staat und Reich. Vortrag in Berlin am 22. Februar 1933, hrsg. Thomas Marschler, in: Schmittiana 2 N.F. (2014), 21–51, hier: 39 5

85 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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schied Schmitt sich jedoch definitiv für den Nationalsozialismus und erst Ende April 1933 trat er in die Partei ein. Die Zeit nach dem 30. Januar bringt für Schmitt zunächst einen Abschied von Berlin und Wechsel nach Köln. Schon deshalb ist er in sehr ambivalenter und gedrückter Stimmung. Er trifft häufig Ernst Jünger und andere Vertreter der »konservativen Revolution« und erörtert die Übergangslage nicht zuletzt antisemitisch. Ein klares Bekenntnis zu Hitler findet sich in den Tagebuchaufzeichnungen dieser Wochen noch nicht. Reichstagsbrand und Märzwahlen scheint Schmitt beiläufig aufzunehmen und mehr die juristische Schlüsselbedeutung des Ermächtigungsgesetzes zu sehen. Am Tag der Verabschiedung, am 23. März, verabredet Schmitt seinen knappen Kommentar zum »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« für die Deutsche Juristen-Zeitung, den er am nächsten Tag bereits diktiert und der wenige Tage später erscheint. An diesem 23. März trifft er, laut Tagebuch, auch Ernst Jünger und berät sich mit Carl Bilfinger und Eugen Ott über den Aufsatz. Nach dem Diktat bespricht er sich am 24. März dann auch mit Edgar J. Jung, einem Berater Papens, der am 30. Juni 1934 dann von der SS ermordet wurde. Schmitts kurzer Aufsatz für die Juristen-Zeitung argumentiert mit »Staatsnotrecht« und spricht von einer »nationalen Revolution«. 9 Sehr deutlich erkennt er das Ermächtigungsgesetz bereits als revolutionären »Wendepunkt von verfassungsgeschichtlicher Bedeutung«. Schmitt stellt die außerordentlichen Besonderheiten und Befugnisse der Reichsregierung heraus, wirft aber auch die Frage nach der »Identität der gegenwärtigen Regierung« auf und knüpft sie über Hitler hinaus an eine »Reihe anderer Merkmale«, zu denen er neben dem »Vertrauen des Reichspräsidenten« auch die »Mitarbeit von Fachministern« – wie Popitz – zählt. 10 Eine »Ersetzung durch reine Parteileute« schwächt seiner Auffassung nach die »nationale« Legitimität dieser »legalen Revolution«. Schmitt scheint hier also noch für Popitz und Papen zu argumentieren. Am 26. März reist er dann nach Weimar und hält einen Vortrag über »Das Staatsnotrecht im modernen Verfassungsleben«, der – laut Mitschrift – den »Sprung« der »nationalen Revolution« über die »Grenze der Legalität« eingehender mit Rekurs auf ein »politisches Carl Schmitt, Das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich, in: Deutsche Juristen-Zeitung 38 (1933), Sp. 455–458 10 Schmitt, Das Gesetz zur Behebung der Not, 457 9

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Von Göring zu Hitler? Auf der Suche nach dem »Zugang zum Machthaber«

Staatsnotrecht« 11 begründet. Popitz nimmt ebenfalls an der Tagung teil. Dessen Vortrag findet Schmitt aber »nicht interessant« (TB 1930/34, 274). Mit Popitz zusammen besucht er das Goethe-Haus und Grab Goethes. Für das Goethejahr 1932 war damals ein Erweiterungsbau geplant gewesen, der Haus und Museum trennen sollte. Infolge der Wirtschaftskrise scheiterte er aber an der Finanzierung und so fanden Popitz und Schmitt im März 1933 wahrscheinlich noch den Bauzaun von 1932 am Goethehaus vor, auf dem ein Witzbold mit breitem Pinsel unübersehbar geschrieben hatte: »Hier horstet nun der Pleite-Geier: Finanzministers Goethe-Feier«. 12 Den Finanzminister Popitz dürfte das peinlich berührt haben, zumal Preußen Mitte des 19. Jahrhunderts schon, in Parallelaktion zur Reichsgründung, zunächst aber noch großdeutsch mit Österreich verbunden, den Goethe-Kult als »National-Stiftung« vorangetrieben hatte. Erst der Nationalsozialismus realisierte dann den Erweiterungsbau. Hans Wahl, dem damaligen Direktor des Goethe-Museums, gelang es dabei, über Hans Frank, Hitler für das Vorhaben zu gewinnen. 13 Frank wandte sich im April 1934 erfolgreich an Hitler persönlich. Bereits 1935 wurde der Bau dann von Göbbels feierlich eröffnet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Frank, nach Göring Schmitts zweiter und letztlich wichtigster NS-Mentor, damals auch mit seinem Rechtsexperten über das Vorhaben gesprochen hat. Im März 1933 jedoch empfindet Schmitt, anders als Popitz, die »Pilgerfahrt« zu Goethe deutlich als eine »Art Reaktion«: »zur Fürstengruft mit dem Grab Goethes, peinliche Sache. Der tolerante Bürger neben den Fürstengräbern« (TB 1930/34, 275). Anders als Popitz profiliert Schmitt die »nationale Revolution« im März 1933 bereits gegen Goethes liberalen Kompromiss mit der Adelsgesellschaft und verortet die »nationale Revolution« nicht mehr im Neuhumanismus des Weimarer Bündnisses. Am gleichen Tag noch, am 29. März 1933, trifft er in Jena deshalb auch den nationalsozialistischen Scharfmacher Otto Koellreutter und diskutiert die Zukunft der Staatsrechtslehrervereinigung. Schmitt reist dann nach München und berät weitere Schritte seiner nationalsozialistischen Karriere. Zurück in Berlin

Carl Schmitt, Das Staatsnotrecht im modernen Verfassungsleben, in: Deutsche Richterzeitung 25 (1933), 254–255 12 Foto mit Aufschrift abgebildet bei Paul Kahl, Die Erfindung des Dichterhauses. Das Goethe-Nationalmuseum in Weimar. Eine Kulturgeschichte, Göttingen 2015, 162 13 Dazu Kahl, Die Erfindung des Dichterhauses, 168 ff. 11

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rückt ihm nun auch Papen fern: »Papen meint, das letzte Ziel sei die Reichsmonarchie.« (TB 1930/34, 276) Die »nationale Revolution« verbindet Schmitt jetzt bereits enger mit dem Nationalsozialismus. Schon vor 1933 finden sich in Schmitts Tagebüchern nur wenige positive Erwähnungen Görings. Am 31. März erhält er in München, zwischen den Berufungsverhandlungen, dann aber das erwünschte »Telegramm aus München« (TB 1930/34, 276), das Schmitt als rechtstechnischen Berater in die Kommission zur Ausarbeitung des Reichsstatthaltergesetzes beruft. In dieser Kommission begegnet Schmitt erstmals nun »große Politik« aus der Nähe. Das Tagebuch notiert für den 3. April: »Um 4 Uhr holte Popitz mich ab, wir fuhren zum Reichsministerium des Innern. Wieder diese scheußliche Atmosphäre. Frick, Staatssekretär Pfundtner, Papen, Popitz, nachher kam Göring. Erst aussichtslos. Der Bürokrat hatte Bedenken, schlechter Eindruck, feige und schurkisch. Göring dagegen schwungvoll. Schmiss die Sache in einigen Minuten: der Reichskanzler, nicht der Reichspräsident, ist Staatspräsident Deutschlands. Großartig. Wir waren berauscht. Schnell einen neuen Entwurf diktiert und dann noch eine Stunde herumgelaufen, sehr erleichtert. Göring merkwürdig, aber nicht unsympathisch, […] vielleicht der richtige Typus für diese Zeit.« (TB 1930/34, 277 f.)

Dieser erste starke Eindruck von Göring bleibt für Schmitts Engagement wichtig. In den folgenden Tagen sind aber keine weiteren Begegnungen mit Göring im Tagebuch verzeichnet. Am 4. April notiert Schmitt: »Fortsetzung der Beratung mit Papen, Popitz, Neumann […]. Unser Plan, den Reichskanzler zum geborenen Staatspräsidenten zu machen, ging nicht durch. Dafür wurde er Statthalter Preußens. Mir gleichgültig. Ich war deprimiert, diktierte aber den neuen Entwurf und sprach noch einmal mit Papen, der ganz entzückend war, mir versprach, dass ich dieser Tage zu einer gemeinsamen Beratung mit Hitler eingeladen würde. Sehr aufgeregt und erhaben weggegangen.« (TB 1930/34, 278)

Diese transkribierten Notate sind vorsichtig zu lesen. Wichtig ist aber der »starke Eindruck von Göring« und die reichspolitische Ambition: Hitler hätte demnach, nach Görings Entwurf und mit Schmitts emphatischer Zustimmung, schon im April 1933 Hindenburg entmachtet und als Staatspräsident beerbt. Nicht zuletzt Papen scheint das verhindert zu haben, der den deprimierten Schmitt im Gegenzug mit dem Versprechen einer persönlichen Begegnung mit Hitler kompensiert. Daraus wird aber zwei Tage später, am 6. April, nur ein 88 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Von Göring zu Hitler? Auf der Suche nach dem »Zugang zum Machthaber«

»Presseempfang« und eine zwiespältige Wahrnehmung Hitlers: »Im Taxi zu Popitz zum Presseempfang, sah Hitler und Goebbels. Sah beide genau. Hitler wie der gierige Stier in der Arena. Erschüttert von diesem Blick.« (TB 1930/34, 279) Diese erste Wahrnehmung Hitlers als »gieriger« und geblendeter Stier hat Schmitt rückblickend näher ausgeführt. 14 Wichtig ist hier, dass sich damals schon eine differente Wahrnehmung von Göring und Hitler abzeichnet und dass die Kooperation mit Göring zunächst nicht im föderalistischen Zeichen Preußens, sondern im Zeichen einer unitarischen Stärkung des Führerstaates stand. Diese reichspolitischen Hoffnungen auf Göring kommen in der Programmschrift Staat, Bewegung, Volk dann in einer zentralen Referenzstelle zum Ausdruck. Gegen Ende der Schrift fordert Schmitt hier die »Einrichtung eines Führerrates«. Diese Forderung ist sein vielleicht wichtigster institutioneller Vorschlag überhaupt. Er schreibt: »Zu dem neuen, für den nationalsozialistischen Staat artbestimmenden Führergedanken gehört als natürliche Ergänzung die Einrichtung eines Führerrats. Dieser steht dem Führer mit Rat, Anregung und Gutachten zur Seite; er unterstützt und fördert ihn, hält ihn mit der Gefolgschaft und dem Volk in lebendiger Verbindung, aber er kann dem Führer keine Verantwortung abnehmen […] Führer und Führerrat […] haben in dem Preußischen Staatsrat, dem großen konstruktiven Werk des preußischen Ministerpräsidenten Göring, die erste anschauliche und vorbildliche Gestalt gefunden.« (SBV 35 f.)

Anfang April 1933 lernt Schmitt in der Arbeit am Reichsstatthaltergesetz also wichtige Nazi-Politiker kennen. Damals wechselt er aber an die Kölner Universität. 15 In Köln lernt er schnell einige lokale Größen des dortigen Nationalsozialismus näher kennen: so den Gauleiter Josef Grohé und Staatskommissar Peter Winkelnkemper. Die Parteizeitung Westdeutscher Beobachter steht ihm zur Verfügung. Das Kölner Semester ist ein Probelauf auf seine Ambitionen und Rolle des »Kronjuristen«. Schmitt ist nun ständig mit propagandistischen Vorträgen unterwegs und betreibt auch Berufungsverhandlungen in Heidelberg, München und Berlin. Er ist aber nicht in Berlin vor Ort und begegnet Göring vor der Eröffnung des Staatsrats vielleicht überhaupt nicht wieder. Die Kölner NS-Größen sind für ihn zugänglicher 14 15

Dazu Verf., Kriegstechniker des Begriffs, 2014, 112–114 Dazu Verf., Kriegstechniker des Begriffs, 2014, 73–98

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als die Berliner. Auch deshalb ist zu beachten, dass außer Berliner Bekannten wie Popitz auch die Gauleiter Grohé und Terboven Mitglieder des Staatsrats waren, denen Schmitt in Köln begegnete. Wahrscheinlich verdankte er seine Ernennung zum Staatsrat aber der Vermittlung von Popitz; es ist keineswegs sicher, dass Göring selbst initiativ wurde und an eine Ernennung dachte. Die Tagebuchnotizen vom April deuten nicht auf näheren Umgang hin.

3.

Die institutionelle Alternative des Staatsrats

Schmitt hat den nationalsozialistischen »Führerstaat« früh schon als charismatisch-personalistisch integriertes System wahrgenommen, das die Rolle der Institutionen gegenüber den allmächtigen »Führern« relativierte. Er destruierte selbst den Rechtscode und Legalitätsmodus. Dennoch war ihm als Jurist, verglichen etwa mit Heidegger, 16 die Rolle der Institutionen und bürokratischen Verwaltung klar. In seinen damaligen Schriften argumentierte er selten mit dem Namen der nationalsozialistischen Akteure. Die Namen Hitlers oder Görings fallen in seinen Schriften vergleichsweise selten. Aus den Publikationen lässt sich ein differenziertes Hitler- oder Göring-Bild kaum ablesen. Schmitt wäre als Jurist und politischer Denker auch nicht sonderlich ernst zu nehmen, wenn er alle politischen Fragen restlos personalisiert hätte. Bis zum 30. Juni 1934 lässt sich aber vom Versuch einer juristisch-institutionellen Sinngebung sprechen. Schmitt glaubte damals noch an die staatsbildende Kraft und Verfassungsfähigkeit des Nationalsozialismus. Über die Rolle des »Hüters der Verfassung« hinaus wollte er dabei auch gesetzgeberisch wirken. Bekanntlich wollte Heidegger, nach einem Wort von Karl Jaspers, der »Führer des Führers« werden. Seine ideologische Umstellung auf postmetaphysisch »anderes Denken« interessierte den Nationalsozialismus aber nicht. Gleichwohl wünschte Heidegger im Herbst 1933 »an Hitler heranzukommen« (Heidegger am 19. September 1933 an Elisabeth Blochmann, in: Martin Heidegger-Gesamtausgabe Bd. XVI, 168) und erwartete bei seinen Berufungsgesprächen in Berlin eine Art Immediatzugang zum »Führer«. Als nicht einmal der Minister ihn zu den Verhandlungen empfängt, sondern nur ein Staatssekretär, und Staatsrat Schmitt ihm im Luxushotel Kaiserhof vorführt, wie man den Glanz der Macht zelebriert, warf Heidegger das Handtuch und verzog sich in die Schwarzwälder Ecke (dazu: Verf., Kriegstechniker des Begriffs, 2014, 99–109). Schmitt wusste als Jurist dagegen um die Rolle der Institutionen und die bürokratische Verfahrenstechnik und suchte den Zugang über den Vorhof des Führers und die Polykratie der Paladine.

16

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Vor 1933 war Schmitt ein scharfer Kritiker des Parlamentarismus und des »Parteienstaates«. An der »geistesgeschichtlichen Lage« des Parlamentarismus kritisierte er vor 1933 vor allem die Absorption des liberalen Repräsentationskonzepts durch die parteienstaatliche Organisation. Schon vor 1933 konstatierte er eine »Wendung zum totalen Staat«. 1931 schrieb er: »Der Unterschied zwischen einem parlamentarischen Parteienstaat mit freien, das heißt nicht festorganisierten Parteien und einem pluralistischen Parteienstaat mit festorganisierten Gebilden als den Trägern der staatlichen Willensbildung kann größer sein als der von Monarchie und Republik oder irgendeiner andern Staatsform […] So wird das Parlament aus dem Schauplatz einer einheitsbildenden, freien Verhandlung freier Volksvertreter, aus dem Transformator parteiischer Interessen in einen überparteiischen Willen, zu einem Schauplatz pluralistischer Aufteilung der organisierten gesellschaftlichen Mächte.« (VRA 155 f.)

Vor dem 30. Januar 1933 verfasste Schmitt auch einen Artikel über die Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland, der grell zeichnet: »Näher gesehen, haben wir heute in Deutschland überhaupt keinen totalen Staat, sondern eine Mehrzahl totaler Parteien, die jede in sich die Totalität zu verwirklichen suchen« (VRA 362) »Es ist in der Sache geradezu eine phantastische Option zwischen fünf untereinander völlig unvereinbaren, völlig entgegengesetzten, in ihrem Nebeneinander sinnlosen, aber jedes in sich geschlossenen und in sich totalen Systemen mit fünf entgegengesetzten Weltanschauungen, Staatsformen und Wirtschaftssystemen« (VRA. 364).

Schmitt meint damals plastisch, man habe »zwischen Moskau, Rom, Wittenberg, Genf und Braunem Haus und ähnlichen inkompatiblen Freund-Feind-Alternativen« (VRA 364) zu wählen. Das überdreht rhetorisch: Eine Option zwischen Rom, Wittenberg und Genf stand in der Weimarer Parteienlandschaft nicht zur Wahl. Faktisch bestand auch nicht wirklich die Gefahr, dass Deutschland Moskau würde. Berlin drohte aber zum Braunen Haus zu werden. Schmitts damaliger Artikel wirkt weniger als Warnung vor der Machtergreifung totalitärer Parteien denn als antipluralistischer Sprung in den Einparteienstaat. Der Kritiker des Parteienstaats brauchte dafür allerdings ein alternatives Modell. Die verfassungspolitischen Debatten des Weimarer Laboratoriums hatten vor 1933 mehrere Alternativen diskutiert. Eine war der »Ständestaat«. Schmitts Schrift Der Hüter der Verfas91 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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sung erörterte nicht nur die Alternative Reichspräsident oder Staatsgerichtshof; sie nennt auch die Debatten um eine »Wirtschaftsverfassung«, Ansätze zu einem »Expertenstaat« (HdV 104) und die Suche nach »neutralen Größen«. In seinem nachgelassenen Handexemplar schrieb Schmitt die Institution des Staatsrats rückblickend in die Tradition der Ephoren hinein. Seine exorbitante Fußnote zum »Ephorat im Lacedämonischen Staat« (HdV 7) steht im Hüter der Verfassung paradigmatisch für die Suche nach alternativen Institutionen des Verfassungsschutzes. Schmitt stellt die Frage damals ähnlich formal und abstrakt wie den Begriff des Politischen. Entkoppelt er mit seinem Freund-Feind-Kriterium die Identifikation der »maßgebenden« politischen Subjekte von der klassischen Staatslehre und identifiziert er anschließend etwa Piraten und Partisanen, aber auch andere Picaros des 20. Jahrhunderts, als politische »Gestalten«, so weitet er am Ende der Weimarer Republik auch die Frage nach potentiellen »Hütern« der Verfassung aus. Verfassungsschutz und Verfassunggebung sind in Krisenzeiten kaum unterscheidbar; Krisen verlangen nach neuen Antworten, die semantisch kreativ oder pragmatisch als Verfassungsschutz verkauft werden. Dirk Blasius schreibt in seinem Buch über Schmitt als Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich: »Popitz war der geistige Vater des ›Gesetzes über den Staatsrat‹«. 17 Blasius betont Schmitts engagierte Rolle als »Kommentator des nationalsozialistischen Führerstaates« 18 und geht selbstverständlich von dessen reichspolitischen Ambitionen aus. Im Leipziger Staatsgerichtshofprozess hatte Schmitt die »Ehre und Dignität Preußens« (PB 184) beschworen. Er selbst optierte aber unitarisch für das Reich gegen die Eigenstaatlichkeit der Länder. Nachdem die Länder gleichgeschaltet waren, stellte sich gerade für Preußen die Frage einer Neuordnung des Verhältnisses von Politik und Verwaltung. Nach dem Reichsstatthaltergesetz lag deshalb die Neubegründung eines Staatsrats nahe. Man könnte die Institution als ein politisch kastriertes, auf Beratungsfunktionen zurechtgestutztes Schattenkabinett bezeichnen. Nach 1806 war seine Geschichte in Preußen wechselvoll. Schmitt konnte 1933 durchaus die Hoffnung hegen, plötzlich in einen Raum gelangt zu sein, der an der SchnittDirk Blasius, Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich, 2001, 86; vgl. ders., Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930–1933, Göttingen 2005; Carl Schmitt und der 30. Januar 1933. Studien zu Carl Schmitt, Frankfurt 2009 18 Blasius, Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat, 93. 17

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stelle von Politik und Verwaltung hohe Kontakte und Einfluss versprach. Zutreffend betont Blasius Schmitts reichspolitischen Ehrgeiz in der Rolle des Staatsrats: Der preußische Staatsrat suchte den Zugang zu »Hitlers Reich«; es gelang ihm allerdings schon 1933 nicht, näheren Umgang mit Göring zu finden. Seine Ernennung zum Staatsrat quittierte Schmitt im Westdeutschen Beobachter am 16. Juli 1933 umgehend mit dem Artikel Die Bedeutung des neuen Staatsrats 19. Staatsrat Schmitt feiert hier buchstäblich den Kölner Gauleiter Grohé als Staatsrat, dessen Konterfei im Zentrum des Artikels im Bilde prangt. Der Artikel bezeichnet den Staatsrat als »Hilfsorgan« der »Staatsführung« und listet die Zusammensetzung aus Vertretern der »drei Organisationsreihen« Staat, Partei und den »übrigen Sphären des öffentlichen Lebens« auf. Er unterscheidet den Staatsrat von der »öffentlichen Diskussion« des Parlamentarismus und betont die Einwirkungsmöglichkeiten Hitlers: »Er kann auch jederzeit die Einberufung des Preußischen Staatsrats verlangen, im Staatsrat jederzeit erscheinen und das Wort nehmen«. Rückblickend betonte Schmitt in Nürnberg, dass Hitler dies nicht tat. Offenbar hoffte er 1933 zunächst auf eine reichspolitische Ausstrahlungskraft und Bedeutung des Staatsrats. Von wichtigen kommunalen und föderalen Gestaltungsmöglichkeiten spricht er in seinem frühen Artikel nicht. Er konzipiert Preußen nicht als föderalistische Pfründe eines NS-Paladins und Territorialfürsten. Vielmehr betont schon das Reichsstatthaltergesetz die besonders enge Verknüpfung von Preußen mit dem Reich. Im Kommentar zum Reichsstatthaltergesetz schreibt Schmitt dazu im April 1933: »In Preußen übt der Reichskanzler die Befugnisse des Reichstatthalters aus. […] Gerade dadurch, dass es in Preußen keinen besonderen Reichsstatthalter gibt, treten die engere Verbindung von Reich und Preußen, die Überwindung des alten komplizierten und gefährlichen ›Dualismus‹ und die Stellung Preußens als der ›Hausmacht‹ des Reichs noch klarer und deutlicher hervor.« 20

Schmitt hoffte also, dass Hitler im Staatsrat präsent sein würde und sich daraus Perspektiven ergeben würden. Es ist zu beachten, dass er im Artikel vom 16. Juli 1933 nicht von der faktischen Macht, sondern Carl Schmitt, Die Bedeutung des neuen Staatsrates, in: Westdeutscher Beobachter (Euskirchener Zeitung) Nr. 169 vom 16. Juli 1933, 1. 20 Carl Schmitt, Das Reichsstatthaltergesetz, München 1933, 19; Ernst Rudolf Huber (CSHU 449) weist in einer Besprechung darauf hin. 19

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von der potentiellen »Bedeutung des neuen Staatsrates« spricht, die am Interesse und Engagement Hitlers hing. Dabei wehrt er eingangs die Parallele zum »großen faschistischen Rat« Mussolinis ab, der »mehr ein Organ der faschistischen Partei« sei. 21 Er betont in seinem Artikel, dass der Staatsrat, im Unterschied zum parlamentarischen System, ein rein beratendes und nichtöffentliches »Staatsorgan« sei. Sein Schlüsselsatz und Hoffnungsanker lautet im Artikel: »Ein guter Berater kann bei einer guten Führung wesentliche Einflussmöglichkeiten haben« 22. Nicht alle Staatsräte waren damals effektiv im Staatsrat engagiert. Gerade die hohen Parteifunktionäre, so die Gauleiter, hatten jenseits dieses Gremiums noch ganz andere Möglichkeiten der Einflussnahme. Schmitt gehörte im Staatsrat zur dritten Gruppe der Vertreter des »öffentlichen Lebens« jenseits der Partei, die die Einflussmöglichkeiten des Amtes effektiv nutzen wollten. Sein Ehrgeiz zielte dabei über die sporadische Arbeit der Institution hinaus auf den Zugang zum Machthaber. Man kann die Staatsräte wahrscheinlich an einer Hand aufzählen, die nur mit diesen Zugangsmöglichkeiten, jenseits anderer Einflussmöglichkeiten, hohe Ambitionen verbanden. Richard Strauss, Ferdinand Sauerbruch oder Gustav Gründgens beispielsweise wollten das Amt vermutlich nicht, wie Schmitt, als Entrebillet für den näheren Zugang zum Gestaltungsraum des Machthabers nutzen. Es ist deshalb besonders zu beachten, dass Schmitt schon im Juli 1933 nicht die faktische Macht der Institution, sondern deren potentielle »Bedeutung« mit Blick auf Hitler betonte. Dass Hitler oder Göring wirklich sachliche und expertokratische Beratung durch »neutrale Größen« suchten und sich staatsethisch dem Wohle des Ganzen verpflichtet fühlten, konnte er allerdings – nach seiner Parteienkritik und Wahrnehmung der NS-Akteure – nicht ernsthaft annehmen. Er musste eigentlich schon im Frühjahr 1933 verstanden haben, dass Hitler wie Göring beratungsresistent waren und Deutschland in ein Braunes Haus verwandeln wollten, das in Trümmern und Ruinen endete. Ich glaube nicht, dass Schmitt sich über die Institution des Staatsrats größere Illusionen machte und mit den letzten Relikten Der im Dezember 1922 begründete Große Faschistische Rat (Gran Consiglio Del Fascismo) hatte eine weit größere Machtfülle in Partei und Staat. Das zeigte sich nicht zuletzt in der Absetzung Mussolinis am 24. Juli 1943. 22 Schmitt, Die Bedeutung des neuen Staatsrates, 1 21

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und Gestaltungsräumen in Preußen ein ambitioniertes Projekt verband. Schließlich hatte er selbst am Reichsstatthaltergesetz mitgewirkt und den deutschen Föderalismus nach Kräften begraben. Ein Brief Ernst Jüngers vom 17. August 1933 bezieht sich auf ein Gespräch über den Staatsrat: Jünger weist Schmitt auf ein Buch über den französischen Staatsrat Napoleons hin und betont, dass dieser Staatsrat als »zivile Einrichtung […] bereits ein reines Arbeitsinstrument« (JS 16) war. Jünger tröstet Schmitt schon im August 1933, vor der feierlichen Eröffnung des Staatsrats, über die relative Ohnmacht hinweg. Darüber dürften beide gesprochen haben. Die Parallele Napoleon-Hitler klingt an, die Schmitt gerne bemühte. Schmitt befasste sich später auch gelegentlich mit der Geschichte der Institution. Er regte Studien von Gueydan de Roussell und Hans Schneider 23 mit an und spiegelte sich 1943/44 in Friedrich Carl v. Savigny, dem Begründer der Historischen Rechtsschule und konservativen Lehrer vom »Volksgeist«: der »Unglücksfigur«, die später als Präsident des preußischen Staatsrats für eine »Vereinfachung und Beschleunigung der Gesetzgebung« (VRA 418) optierte. Die bald überholten preußischen Kommunalgesetze vom Dezember 1933, an denen Schmitt mitwirkte, erinnerte er später nicht nachhaltig als sein preußisches Projekt vom Jahre 1933. Spätestens am 1. Februar 1934 begrub er alle preußischen Ambitionen. In der Berliner Ausgabe des Völkischen Beobachters kommentierte er das Gesetz über den Neubau des Reiches vom 30. Januar 1934, 24 zum Jahrestag der Machtergreifung, dahin, dass alle Verfassungsfragen der Länder beseitigt seien und sich nur noch Fragen der »Verwaltungsorganisation« stellten. Alle Hoheitsrechte der Länder seien auf das Reich übergegangen. Alle Reichsstatthalter seien fortan der Dienstaufsicht des Innenministeriums unterstellt. Die Staatsräte seien nur noch ein »Ausfluss der Hoheitsrechte des Reiches« (TB 1930/34, 477). Die Neuregelung zeige, »wie wohlüberlegt die Konstruktion des Reichsstatthalter-Gesetzes« war: Preußen werde, anders als die anderen Länder, durch den »Reichskanzler unmittelbar oder durch den Preußischen Ministerpräsidenten« (TB 1930/34, 478) verHans Schneider (Der preußische Staatsrat, 1952, 1) verweist auf Gueydan de Roussel und betont, dass der französische Staatsrat für Preußen nicht »vorbildlich« war (48–50). Schneider stand schon vor 1945 in enger Verbindung mit Schmitt. 24 Carl Schmitt, Das neue Verfassungsgesetz, in: Völkischer Beobachter. Berliner Ausgabe. Ausgabe A vom 1. Februar 1934, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: TB 1930/34, 476–479. 23

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V. · Carl Schmitts Staatsrat-Projekt von 1933

waltet, der nur dem Kanzler und nicht dem Innenministerium unterstellt ist. Der preußische Staatsrat kann sich damit nun eigentlich als unmittelbarer »Ausfluss der Hoheitsrechte des Reiches« oder als deutscher Staatsrat verstehen. Vielleicht sah er die Institution schon 1933 als bloße strategische Leiter oder als ein Karrieresprungbrett an, das nach dem Absprung zerfallen mochte. Der Staatsrat trat dann als Totengräber Preußens an und der Titel wurde ihm, neudeutsch gesagt, gleichsam als Abwrackprämie verliehen. Es ging ihm nicht primär um Preußen, sondern um das Reich. Da er den »Stier« Hitler von Anfang an, seit dem April 1933, als wenig emphatisch und zugänglich betrachtete, setzte er seine Hoffnungen – gegen den »Bürokraten« Frick – zunächst mehr auf Göring, der ihn als Politiker aber dann auch bald enttäuschte. Vor der Eröffnung des Staatsrats gab es am 15. September zwar ein »Frühstück bei Göring« (TB 1930/34, 303), das aber nicht als intime Privataudienz vorzustellen ist. Am 16. September folgte die zeremonielle und pompöse Eröffnung des Staatsrats in Berlin und Potsdam. Schmitt erwähnte am 31. Dezember noch ein freundliches Dankestelegramm (TB 1930/34, 315) Görings, das vermutlich an alle Staatsräte ging, und schickte ein Geburtstagstelegramm. Das war es 1933 aber auch schon. Engere persönliche Begegnungen mit Göring hätte er vermutlich im Tagebuch erwähnt. Mit seiner Ernennung zum Staatsrat verband er im Juli 1933 wahrscheinlich größere Hoffnungen auf engere politische Kontakte, die dann aber schon im Spätsommer einigermaßen enttäuscht waren. Rückblickend meinte Schmitt dazu: »Es war ja alles sehr schwierig, ich konnte von Köln aus diese Kontakte ja auf die Dauer nicht aufrechterhalten.« 25 Ende Juli begegnete er in Köln erstmals Hans Frank, der plötzlich als zugänglichere Alternative, zweitbeste Fahrt und Reserveticket erschien und dann bis Ende 1936 sein wichtigster nationalsozialistischer Mentor, Umgang und Zugang zur NS-Elite wurde. Vom baldigen Scheitern der Option für Göring her muss man die klare Option für Hans Frank sehen. Dabei wusste Schmitt, dass Frank in der nationalsozialistischen Polykratie bei weitem nicht die exponierte Stellung Görings hatte. Der Zugang zu Hitler rückte schon im Herbst 1933 in einige Ferne. Die verfassungspolitische Forderung nach einem »Füh-

Frank Hertweck / Dimitros Kisoudis (Hg.), »Solange das Imperium da ist«. Carl Schmitt im Gespräch 1971, 2010, 107.

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Die institutionelle Alternative des Staatsrats

rerrat« war da im Dezember 1933 in Staat, Bewegung, Volk schon fast ein Notschrei. Zusammengefasst ist also zu sagen: Schmitt suchte 1933 die Nähe zu NS-Spitzenpolitikern; er wollte als Rechtsberater gesetzgeberisch oder nomothetisch wirken und rechnete zwar mit einer relativen Ohnmacht des preußischen Staatsrat, hoffte aber auf eine Ausstrahlungswirkung und prototypische reichspolitische Bedeutung der Institution. So wollte er über Göring an Hitler herankommen. Ende 1933 wusste er aber bereits um das Scheitern seiner großen Ambitionen. Noch 1935 konnte es jedoch in einer zeitgenössischen Darstellung unter Berufung auf Göring immerhin noch heißen: »Nachdem der Weimarer Reichsrat inzwischen beseitigt ist, ist die Bahn frei, den Preußischen Staatsrat ins Reich zu übernehmen und ihn […] im Zuge der kommenden Reichsreform zu einem Deutschen Reichsrat auszubauen.« 26 Das war wohl die anfängliche Hoffnung Schmitts an der Seite von Popitz und im Pakt mit Göring.

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Remé, Der preußische Staatsrat, 1935, 43.

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VI. »Die Waffen sind das Wesen der Kämpfer selbst«. Form und Sinn des Krieges nach Carl Schmitt

1. »Kriegstheorie« ist ein Sammelbegriff für sehr unterschiedliche Gesichtspunkte. Ihre »Klassiker« kommen aus verschiedenen Institutionen und Fächern und an der Universität ist sie unter diesem Titel nicht etabliert. Es gibt sie als empirische Wissenschaft vom militärischen Handeln vielleicht nur in militärischen Einrichtungen. So wirkte Carl von Clausewitz, der moderne »Klassiker«, als Direktor der Allgemeinen Kriegsschule (Kriegsakademie) in Berlin. Kriegstheorie ist ein Arcanwissen, dessen neueste Varianten hinter militärische Mauern verschlossen werden. Hier gilt vielleicht der Schlusssatz von »Don Capiscos [Carl Schmitts elitentheoretischem] Handorakel«: »Elite sind diejenigen, deren Soziologie keiner zu schreiben wagt.« (GL 137) Nach 1900 war der Krieg in Deutschland vor allem ein Thema der Historiker. Nach Versailles wurde die »Kriegsschuldfrage« zu ihrem zentralen Thema. Schmitt schrieb keine umfassende Geschichte der Kriegskunst oder des Verhältnisses von Heer und Staat, 1 Staatskunst und Kriegshandwerk, 2 sondern beschäftigte sich mit dem Krieg aus der Perspektive des Juristen: mit dem Bürgerkrieg, Staatenkrieg, Partisanenkrieg. Das Problem des Krieges ist in seinem Werk allgegenwärtig. Schmitts staatsrechtliches Zentralthema aber war die Diktatur. Dieser Grenzfall von Politik und Recht begegnete ihm schon während des Ersten Weltkriegs als Soldat in der HeeresOtto Hintze, Staatsverfassung und Heeresverfassung, in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen, 2. erw. Aufl. Göttingen 1962, 52–83; Fritz Hartung, Staatsverfassung und Heeresverfassung, in: ders., Volk und Staat in der deutschen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, Leipzig 1940, 28–40; Ernst Rudolf Huber, Heer und Staat in der deutschen Geschichte, Hamburg 1938 2 Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des »Militarismus« in Deutschland, 4 Bde., München 1954/1968 1

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verwaltung und die Optik des »Ausnahmezustands« und das Pathos des »Ernstfalls« durchtönten dann sein Werk. Sein Begriff des Politischen schien »Feindschaft« und Krieg geradezu herbeizurufen. Schmitt emanzipierte »das Politische« vom Staatsbegriff und vertrat einen weiten, institutionell nicht festgelegten Begriff, der Feindschaft und Krieg auch als »existentielle« Kreatoren neuer politischer Subjekte und Einheiten ansah. 3 Seine nationalistische Botschaft richtete sich primär gegen den Liberalismus und Universalismus: »Menschheit« sei »kein politischer Begriff«; »Kriege im Namen der Menschheit« hätten deshalb regelmäßig »einen besonders intensiven politischen Sinn« (BP 55). Schmitt selbst lehnte den Vorwurf des »Bellizismus« aber ab und verstand sich nach 1945 verstärkt als Anwalt des neuzeitlich-klassischen Völkerrechts, der »Souveränität« der Einzelstaaten, des jus belli und kriegsrechtlich »gehegten« Kriegs. Deshalb berief er sich auch auf Clausewitz. So sehr ihn pazifistische Moralisierungen auch degoutierten, scheute er den Krieg doch moralisch und religiös. Mancher Interpret mag es nicht glauben: Schmitt lehnte die »Ideen von 1914« und den preußischen »Militarismus« im Ersten Weltkrieg massiv ab und auch die »Entfesselung« des Zweiten Weltkriegs seit dem Russlandfeldzug und Kriegseintritt der USA sah er apokalyptisch. Schmitt war ein Theoretiker der Verhältnisbestimmung von Politik und Recht. Rechtssoziologisch betrachtete er ein Minimum an Effektivität als essentielles Kriterium des Rechts. Deshalb perspektivierte er den juristischen »Sinn« des Krieges auch von der politischen Machtanalyse her.

2. Schmitt datierte seinen »Kampf« mit Versailles, Genf und Weimar ab 1923. In Bonn und Berlin las er regelmäßig über Völkerrecht. Seine Flugschrift Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik unterscheidet 1925 zwischen dem »Unrecht der Fremdherrschaft« und dem »Betrug der Anonymität« (FP 36). Das Stichwort »Versailles« steht Zur Unterscheidung zwischen einer »instrumentellen« und einer »existentiellen« Auffassung vgl. Herfried Münkler, Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, Weilerswist 2003, 113 ff.; vgl. ders., Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist 2006; Niederwerfen oder Ermatten? Vom Kampf der Intellektuellen um die Hegemonie, in: Idee. Zeitschrift für Ideengeschichte 4 (2009), Heft 3, 5–16.

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dabei für die »Fremdherrschaft«, »Genf« aber für die Gefahr einer »geistigen Unterwerfung« unter das Recht der Sieger qua rechtlicher Legitimierung und Anerkennung des imperialen Status quo.4 Genf legitimiert Versailles, meinte Schmitt; die Legalität von Versailles sollte aber nicht mit der Legitimität verwechselt werden: Das System der Sieger ist nicht legitim. Erst die Anerkennung der Fremdherrschaft und liberalen Ideologie macht die Rheinlande zu einem bloßen »Objekt« internationaler Politik. Schmitt betrachtet völkerrechtliche Institute als Instrumente im Kampf. Er fragt politisch: Wie sind die Machtverhältnisse? Wer ist Souverän des Völkerrechts? Wer ist Herr des Verfahrens? Wie setzt er das Recht strategisch ein? Der Sieger bestimmt das Vokabular, schreibt Schmitt seinen Hörern ins Stammbuch. Nicht nur zentrale Stichworte, sondern die ganze Semantik und Systematik des Rechts könne als Instrument »indirekter« Herrschaft dienen. Schmitt analysiert das positive Recht als ein Machtmittel des »modernen Imperialismus« und als effiziente Kriegsökonomie. Die Legalität ist ziemlich effektiv und billig. Sieger suchen eine günstige Relation von Aufwand und Ertrag und gehen deshalb zu Formen »indirekter« Herrschaft über. Die Intellektuellen kämpfen hier an einer semantischen Front. Schmitts erste Einsicht in den Formwandel des Krieges gilt diesem Übergang von offenen und direkten zu indirekten Formen imperialer Herrschaft. Die Herrschaft über die Semantik des Rechts betrachtet er als politische Ressource und Waffe im Kampf. Formelhaft verkürzt gilt sein Kampf deshalb »Genf« als Instrument von »Versailles«. Seine zahlreichen Analysen zum »Sinnwandel« des Genfer Völkerbundes führen die Formdiagnose und die Sinnanalyse vor 1933 aber noch nicht eng zusammen. Schmitt löst den Konnex von Form und Sinn, Feindschaft und Krieg, auch niemals in eine eindeutige kausale und zeitliche Priorität auf. Er sagt nicht, dass der Krieg stets der Feindschaft vorausgeht oder die Feindschaft dem Krieg; er formuliert also auch keinen strikten Primat der Technik – oder genauer: der Zur politischen Betrachtung des Völkerrechts vgl. auch einige von Schmitt als Erstgutachter betreute Promotionen: Mitchell Benedict Caroll, Die wirtschaftlichen Forderungen in Friedensverträgen, Diss. Bonn 1923; Felix Schneider, Die deutschen Kolonien unter den Mandaten des Versailler Friedensvertrages, Diss. Bonn 1925; Johann Heinrich Wilckens, Die Entwicklung des Abrüstungsbegriffs, Diss. Bonn 1928; Hans Wolters, Der Rechtsbegriff Soldat, Diss. Berlin 1938; Gholamreza Bahrami, Kapitulationen. Ein Beitrag zur Lehre vom ›ius inter potestas‹, Diss. Berlin 1941; Ferdinand Friedensburg, Der Kriegsschauplatz, Diss. Berlin 1944

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Militärtechnikgeschichte – vor den »Sinngebungen« und Rechtfertigungen von Kriegen durch politische Feinderklärungen und juristische Argumentationen. Da er seine Positionen und Begriffe aber als Waffen versteht, vertritt er grundsätzlich die Möglichkeit, dass juristisch-politische »Sinngebungen« Kriege herbeirufen, verursachen oder auslösen könnten. Die Sprache ist ihm kein harmloses Werkzeug, sondern eine Form des Handelns und Waffe im Kampf. Schmitt sieht Deutschland nach 1918 allerdings weniger in der Rolle des Akteurs und Aggressors denn als reaktives Opfer und bloßes »Objekt«. Vehement fordert er die »Selbstbehauptung« der deutschen »Nation« gegen die Sieger des Ersten Weltkriegs. Schmitt sieht sich in der defensiven Rolle, an das »Grundrecht« zur politischen Selbstbestimmung erinnern zu müssen. So sehr er deshalb auch Feindschaften auf die Gefahr möglicher Kriege mobilisiert, so deutlich ist ihm der Primat der Politik und die Souveränität humaner Verfügungsmacht ein Problem. Viele Formulierungen gehen deshalb in Richtung einer Dominanz entgleister Kräfte und eines Selbstlaufs der Technik. Das lehrte ihn auch der Erste Weltkrieg. 1938 schreibt er: »Man sagt mit einer oft wiederholten Redewendung, dass die europäischen Völker im Sommer 1914 ›in den Krieg hineingetaumelt‹ sind. In Wirklichkeit sind sie allmählich in die Totalität des Krieges hineingeglitten […]. Hier entstand also die Totalität des Krieges nicht aus einer vorangehenden, totalen Feindschaft, vielmehr wuchs die Totalität der Feindschaft aus einem allmählich total werdenden Krieg. Die Beendigung eines solchen Krieges war notwendigerweise kein ›Vertrag‹ und kein ›Frieden‹ und erst recht kein ›Friedensvertrag‹ im völkerrechtlichen Sinne, sondern ein Verdammungsurteil der Sieger über den Besiegten. Dieser wird umso mehr nachträglich zum Feind gestempelt, je mehr er der Besiegte ist.« (PB 244 f.; BP 102 f.)

Grundsätzlich meint Schmitt damals auch: »Im Kriege steckt der Kern der Dinge. Von der Art des totalen Krieges her bestimmen sich Art und Gestalt der Totalität des Staates; von der besonderen Art der entscheidenden Waffen her bestimmt sich die besondere Art und Gestalt der Totalität des Krieges. Der totale Krieg aber erhält seinen Sinn durch den totalen Feind.« (PB 236) Feindschaft erscheint so als eine nachträgliche Legitimation kriegerischer Tendenzen, die von der Kriegstechnik ausgehen. Der Militarismus der Waffen wird zum bestimmenden Faktor. Das Völkerrecht sucht reaktiv »einen Feind zu konstruieren und dadurch einem sonst sinnlosen Krieg einen Sinn zu geben.« (PB 245) Die grundsätzliche Verhältnisbestimmung lautet deshalb: »Der Krieg hat seinen Sinn in der Feindschaft.« (TP 63) Die 101 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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Formel ist leicht doppelbödig: Schmitt problematisiert den »wirklichen Feind«. Zwar unterstellt er die wirkliche Feindschaft der deutschen »Nation« zu Genf und Versailles. Dabei sieht er aber bereits Grenzen nationalistischer Sinngebung von Feindschaft und Krieg. Nicht erst im Gespräch mit Jünger gewärtigt er, dass der Heroismus des Kampfes durch die moderne Kriegstechnik gleichsam torpediert wird und die »totale Mobilmachung« nicht in der persönlichen Identifikation aufgeht. Als Apologet des Präsidialsystems findet Schmitt schon vor 1933 Zugang zu militärischen Kreisen. Sympathisiert er in der Weimarer Endzeit mit einer – caesaristisch durch den Reichspräsidenten legitimierten – kommissarischen Militärdiktatur, argumentiert er im Nationalsozialismus bis 1934 mehr für eine Rekonstruktion des (ursprünglich preußischen) Beamten- und Militärstaates gegen die permanente Revolution des nationalsozialistischen »Bewegungsstaates«. Schmitt wünscht den »Sieg des Bürgers über den Soldaten« (SZZR) rückgängig zu machen. Sein »Ordnungsdenken« bleibt aber wenig »konkret«. Erst nach 1936 beschreibt er den Konnex von Kriegsgeschichte und Kriegsrecht eingehender. Dabei beobachtet er vor allem zwei langfristige Tendenzen: die Wendung zu einem »diskriminierenden« Kriegsbegriff (WdK), der mit dem Krieg auch die politische Ordnung von Freundschaft und Feindschaft ächtet, sowie die Tendenz zu einem poststaatlich-universalen, weltstaatlichen Völkerrecht (VGO). Der »Universalismus« führt nach Schmitts Auffassung zu einer »Entthronung« der einzelstaatlichen Souveränität, Abkehr vom jus belli und Diskriminierung einzelstaatlich begrenzter Kriege. Schmitt diskutiert hier vor allem das Recht zum Krieg, weniger das Recht im Krieg und nach dem Krieg. Dabei argumentiert er mit den dekonstruktiven Mitteln immanenter Kritik; er schreibt Perversionsgeschichten: Geschichten vom »Sinn«- und »Bedeutungswandel« ursprünglich defensiver, rechtlich »hegender« Konzepte. 5 Rechtswissenschaftlich identifiziert er Gründer und Verfälscher. Dabei renationalisiert und rekonfessionalisiert er die Ahnengalerie und ge-

Lothar Gruchmann, Nationalsozialistische Großraumordnung. Die Konstruktion einer deutschen Monroe-Doktrin, Stuttgart 1962; Mathias Schmoeckel, Die Großraumtheorie. Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerrechtswissenschaft im Dritten Reich, insbesondere der Kriegszeit, Berlin 1994; Michael Stolleis, Geschichte des öfffentlichen Rechts. Bd. III, München 1999, 380 ff.

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langt zu einer starken nationalistischen Fassung der Völkerrechtsund Kriegsrechtsgeschichte. Deutschland ist ihm hier erneut vor allem »Objekt«. Schmitt unterscheidet das französisch-kontinentale vom angelsächsischen Völkerrechtsdenken und codiert den »Sinnwandel« auch antisemitisch. Mit seiner Schrift Land und Meer polarisiert er die Mentalitäten der Völkerrechtssysteme weiter zum »Ausdruck verschiedener Welten und entgegengesetzter rechtlicher Überzeugungen« (LM 87): Während der kontinentale Landkrieg noch »Hegungen« kannte, sei das angelsächsische, vom Seekrieg her gebildete Kriegs- und Völkerrechtsdenken schärfer diskriminierend. Schmitt schreibt der »westlichen Hemisphäre« die Entgrenzung des Krieges und des Völkerrechts zu. Den Luftkrieg erkennt er als eine »Raumrevolution« von umwälzender militärischer und mentalitätsgeschichtlicher Bedeutung. Die Lufthoheit entscheidet über den Ausgang des Zweiten Weltkriegs, meint Schmitt 1942 schon sehr deutlich. Nach 1945 arbeitet er seine Sicht in seinem Buch Der Nomos der Erde aus, seiner großen Summe vom Aufstieg und Fall des neuzeitlich-klassischen, nichtdiskriminierenden Völkerrechts. Im Schlussteil führt er den »Krieg der modernen Vernichtungsmittel« hier auf einen »Sinnwandel« des Kriegs und der völkerrechtlichen Anerkennung unter der Hegemonie der USA zurück. Im Ergebnis konstatiert er eine Wiederkehr der diskriminierenden Ideologie vom »gerechten Krieg«. Schmitt schreibt die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff also einer angelsächsischen Hegemonie zu. Von der deutschen Kriegsschuld schweigt er weitgehend. In seiner Theorie des Partisanen kommt er dem deutschen Anteil am Zweiten Weltkrieg aber 1963 etwas näher. Schmitt stellt hier den Partisanen als neuen, irregulären Akteur »außerhalb jeder Hegung« ins Zentrum; er betont ein »Missverhältnis« (TP 38 ff.) von Preußentum und Partisanentum und wirft Fragen nach der deutschen Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg auf. Dabei erkennt er eine »nationale« Legitimität des Partisanenkriegs an. Er sieht aber, dass die Motive sich wandeln: an die Stelle des »defensiv-autochthonen Verteidigers der Heimat« (TP 35) tritt nach 1945 der terroristische Weltrevolutionär. Verstärkt greift Schmitt hier technikgeschichtliche Aspekte auf. Er visioniert den neuen Typus des technisch aufgerüsteten »Industrie-Partisanen« (TP 81) und fürchtet eine Tyrannei der Technik über den Menschen. Die neuen Waffen fordern automatisierte Handlungsabläufe und legitimierende Feindschaften. »Absolute« Vernich103 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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tungsmittel lassen sich nur durch einen »absoluten Feind« rechtfertigen: »Die letzte Gefahr liegt also nicht einmal in dem Vorhandensein der Vernichtungsmittel und einer praemeditierenden Bosheit der Menschen. Sie besteht in der Unentrinnbarkeit eines moralischen Zwanges. Die Menschen, die jene Mittel gegen andere Menschen anwenden, sehen sich gezwungen, diese anderen Menschen, d. h. ihre Opfer und Objekte, auch moralisch zu vernichten. Sie müssen die Gegenseite als ganzes für verbrecherisch und unmenschlich erklären, für einen totalen Unwert. Sonst sind sie eben selber Verbrecher und Unmenschen.« (TP 95)

Schmitt zitiert dafür an wichtigen Stellen den Philosophen Hegel: »Die Waffen sind das Wesen der Kämpfer selbst.« (TP 94, vgl. NE 299) Hegel schreibt in der Phänomenologie des Geistes – im Abschnitt »Die Tugend und der Weltlauf« – wörtlich: »Denn die Waffen sind nichts anderes als das Wesen der Kämpfer selbst«. Hegel hätte seine Formel wohl einen »spekulativen Satz« genannt: einen Satz, der nicht informativ ist, sondern einen Begriff lediglich analytisch expliziert. Die Waffen wären demnach mit dem menschlichen Wesen des Kämpfers bereits »gesetzt«. Schmitt dagegen kennt ein geschichtliches »Wesen«, einen »Wesenswandel« und Wesensverlust des Menschen. Wenn die Waffen den Habitus bestimmen, beherrscht die Technik den Menschen, wie Frankensteins Monster seinen Erfinder oder der Besen den Zauberlehrling. Wenn die Technik das »Wesen« definiert, ist alle Sinngebung eine Rechtfertigung des Sinnlosen. Schmitt dekonstruiert so am Ende sein Projekt einer nationalistischen und etatistischen Repolitisierung. Zuletzt erinnert er deshalb beinahe nostalgisch an Clausewitz als politischen Denker, der das politische Denken von der Kriegswissenschaft her rekonstruierte.

3. Kriegstheorie ist Theorie des Krieges. Der Krieg definiert sich gegen bloße Gewalt normativ als politisches Mittel und Form menschlichen Handelns. Kriegstheorie betrachtet militärisches Handeln also als Mittel der Politik. Solches Handeln greift über bloße Kriegshandlungen hinaus und umfasst auch präventive und pazifizierende Maßnahmen. Die Kriegstheorie hat deshalb ein weites Feld. Schmitt begrenzt es auf juristische Antworten. Er ist kein Kriegsphilosoph, der anthropologische und ethische Voraussetzungen und Konsequenzen von 104 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

VI. · Form und Sinn des Krieges nach Carl Schmitt

Kriegshandlungen thematisierte, aber auch kein empirischer Kriegswissenschaftler, der eine umfassende Beschreibung des militärischen Handelns in seinen Voraussetzungen, Akteuren, Mitteln, Strategien und Folgen intendierte. Seine juristische Perspektive hat in normativer wie empirischer Hinsicht klare Grenzen: Es fehlen die philosophische Normbegründung und die umfassende empirische Beschreibung. Positiv gesagt zerredet Schmitt die Normbegründung nicht in uferlosen Diskursen und fokussiert die sozialwissenschaftliche Beschreibung praktisch lösungsorientiert. Schmitt ist ein Zeuge des »Weltbürgerkriegs« und Übergangs aus nationalstaatlichen und nationalistischen Zeiten in supranationale Verhältnisse. Er beantwortet die Tendenz zur Entstaatlichung und Privatisierung des Krieges mit dem Projekt einer Repolitisierung und formuliert dabei einen Konnex von Kriegsgeschichte und Kriegsrechtsgeschichte. Seinen juristischen Fokus legt er auf Konsequenzen des Sinnwandels: Kriege verändern die Rechtslage. Man muss die Lage sehen, um ihr Recht zu erkennen. Das neuzeitlich-klassische Völkerrecht betrachtet er polemisch. 6 Diese Antwort befriedigt ihn aber eigentlich selbst nicht. Denn er betont immer wieder, dass institutionelle Lösungen auf spezifische Herausforderungen und Fragen antworten und eine geschichtliche Antwort »nur einmal wahr« ist. Schmitt spricht vom »Ende der Epoche der Staatlichkeit«, einzelstaatlicher Souveränität und des nichtdiskriminierenden jus belli, sieht aber keine normative Basis jenseits des Rechts auf »Selbstbehauptung« einer politischen Einheit. Dieses Recht stellt er nicht weiter in Frage. Dabei lehnt er die Gleichsetzung von Macht und Recht ab. Sein Begriff des Politischen löst das Recht auf Selbstbehauptung aus der etatistischen Perspektive heraus. In globalisierten Verhältnissen kann die einzelstaatliche Souveränität nicht mehr das normative Fundament geben. Schmitt bietet aber keine Alternative mehr an. Sein ganzes Werk basiert auf einer starken Disjunktion von Politik und Moral und rein politischen Analyse moralischer Ansprüche in der Politik. Niemals diskutiert es die Moral der Politik. Deshalb kann es schon das eigene Pathos der »Selbstbehauptung« nicht begründen.

Dagegen Jürgen Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt 1996, 192–236; ders., Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?, in: ders., Der gespaltene Westen. Kleine Politische Schriften X, Frankfurt 2004, 113–193.

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Teil II: Selbstbespiegelungen

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VII. René Königs Machiavelli-Identifikation

Die Langfassung des folgenden Textes war Herfried Münkler gewidmet und unterschied alte und neue Intellektuelle typologisch. Oft wird Münkler in die »realistische« und machtanalytische Linie des politischen Denkens gestellt und als ein Erbe von Machiavelli und Schmitt betrachtet. In einem gelegentlichen autobiographischen Text schrieb er zu seiner Dissertationsentscheidung: 1 Machiavelli war im Frankfurter Umkreis Iring Fetschers »noch frei«: »Die Stellungen waren nach wie vor durch Hans Freyer und René König abgesteckt, und beide hatten ihre Machiavelli-Bücher im Hinblick auf Mussolini und Hitler sowie die Positionierung der damaligen Intellektuellen zu ihnen geschrieben. Das konnte und sollte, meinte ich, nicht das letzte Wort zu Machiavelli sein.« 2 Diese beiläufige These wird hier für René König untersucht. Dabei wird die These vertreten, dass Königs Machiavelli-Portrait sich zeitgenössisch »konkret« nicht zuletzt gegen Carl Schmitt richtete und eine Schmitt-Kritik im historischen Spiegel der Machivalli-Kritik formulierte. Freyer 3 meinte mit seinem »politischen Abenteurer« vor allem Hitler; König 4 dagegen münzte sein Machiavelli-Buch auf Schmitt. Er übertrug Löwiths 5 charakterologische Kritik von 1935 in sein Machiavelli-Bild und betrachtete Schmitt als Prototyp des machiavellistisch-opportunistischen, karrieristischen Intellektuellen. Dazu vgl. Herfried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt 1982 2 Herfried Münkler, Danksagung. Einige Überlegungen zur Bedeutung des Schreibens fürs Denken, in: Hans T. Siepe (Hg.), Gesellschaften der Moderne. Dr. MeyerStruckmann-Preis 2009, Düsseldorf 2010, 43–63, hier: 60 3 Hans Freyer, Machiavelli, Leipzig 1938 4 Hier zitiert nach der Erstauflage: René König, Niccolo Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende, Zürich 1941 (M) 5 Karl Löwith, Politischer Dezisionismus, in: Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 9 (1935), 101–123 1

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VII. · René Königs Machiavelli-Identifikation

1. René König (1906–1992) wuchs u. a. in Paris, Halle und Danzig auf. Ab 1925 studierte er Philosophie und Ethnologie und promovierte 1930 bei Max Dessoir, Spranger und Alfred Vierkandt in Berlin. Nach seiner Dissertation lebte er mit längerem Aufenthalt in Paris weiter in Berlin und arbeitete an einer Habilitationsschrift. »Im Herbst 1932 praktisch abgeschlossen«, 6 wurde eine Berliner Habilitation mit der nationalsozialistischen Machtergreifung aber unmöglich. König schrieb nun seinen Abgesang auf das »Wesen der deutschen Universität«, 7 arbeitete einige Zeit für den u. a. von Wolfgang Frommel 8 begründeten Verlag Die Runde und lektorierte hier u. a. Löwiths Nietzsche-Buch. 9 In seinen Erinnerungen spricht er für die Jahre 1935/36 von einer freundschaftlichen und engen Zusammenarbeit mit Löwith. 10 Wolfgang Köhler riet zur Emigration. König überarbeitete die Habilitationsschrift, wechselte nach Zürich und habilitierte sich dort 1937/38. 11 Einer seiner Züricher Schüler wurde Jacob Taubes. 12 Akademisch war König aber vor allem in der Berliner Philosophie sozialisiert. Die erste Fassung seiner Habilitationsschrift ist nicht erhalten. Im Vorwort zur späten Veröffentlichung gibt König einige Hinweise zur Abfassung: Zunächst stand demnach die Auseinandersetzung mit Durkheim im Vordergrund. Durch die nationalsozialistische Erfahrung und Selbstbesinnung auf das »Wesen« der Berliner Universität kam dann die »Auseinandersetzung mit der historisch-existentialistischen Soziologie und der Existentialontologie von Martin Heidegger«

René König, Leben im Widerspruch, in: ders., Autobiographische Schriften. René König Schriften (RKS) Bd. XVIII, Opladen 1999, 89 7 René König, Vom Wesen der deutschen Universität, Berlin 1935, in: ders., RKS II, Opladen 2000, dort auch das Vorwort von 1969 zum Neudruck, 15 ff. 8 Dazu René König, Autobiographische Schriften RKS XVIII, 323 ff.; zu Frommel vgl. Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009; zu Königs Georginischer Prägung und Konzessionen an den Nationalsozialismus vgl. Hans Peter Turn, Nachwort RSK II, 243 ff. 9 Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Berlin 1935 10 König, Autobiographische Schriften RKS XVIII, 96 f., vgl. 323 ff. 11 König, Autobiographische Schriften RKS XVIII, 329 12 König, Autobiographische Schriften RKS XVIII, 123, 399 f. 6

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VII. · René Königs Machiavelli-Identifikation

hinzu. 13 König deutet an, dass hinter der Auseinandersetzung mit den »Existentialisten« auch die »Diltheyaner« standen. Die Habilitationsschrift arbeitete also die Berliner Prägung ab. Er schrieb sein Machiavellibuch (M) dann im Frühjahr 1940 im Auge des Orkans zwischen dem nationalsozialistischen Polen- und Frankreichfeldzug. Rückblickend betonte er die Parallele zwischen Machiavellis »Roman des sterbenden Italien« und der Lage Westeuropas von 1940. König suchte die Parallele von Machiavellis »Krisenanalyse einer Zeitenwende« auch um des Vertriebes im NS-Deutschland willen. Sein Buch gehört in eine Reihe negativer Stigmatisierungen Schmitts aus der Emigration. 14 Einleitend grenzt König sich von Hans Freyer und der älteren Einordnung Machiavellis in den Diskurs über Machtstaat und Staatsraison ab. 15 Er betrachtet Machiavelli nicht mehr als politischen Realisten, sondern als Ästhetizisten, schreibt die »Krisenanalyse einer Zeitenwende« als »innere Biographie« oder Krisenbiographie Machiavellis und kritisiert den Renaissancehumanismus insgesamt als ästhetizistisches Krisenphänomen. Dabei unterscheidet er verschiedene Typen des Humanismus: den »wurzellos«-literarischen Typus (Petrarca), den »bodenständigen«, frühkapitalistisch-geschäftssinnigen Bürgerhumanismus (Alberti) und den »politischen Humanismus« (Machiavelli). Machiavelli erscheint zwar als Prototyp des politischen Humanisten und publizistischer Bruder des Condottiere (Cesare Borgia). Der politische Humanist ist als Humanist aber auch ein Ästhetizist. König deutet ihn als politischen Ästhetizisten oder Ästheten zweiter oder metaphysischer Ordnung. Den literarischen Humanismus Petrarcas identifiziert er dabei polemisch in den Kategorien von Schmitts Romantikkritik (M 120, 133). Ottmann schreibt dazu treffend: »In Anlehnung an Schmitts Kritik der Romantik, die dieser als ›ästhetischen Occasionalismus‹ und als Flucht vor der Entscheidung gedeutet hatte, macht er aus Machiavelli einen ästhetizis-

René König, Kritik der historisch-existentialistischen Soziologie. Ein Beitrag zur Begründung einer objektiven Soziologie, München 1975, Vorwort, 12 14 Alfons Söllner, »Kronjurist des Dritten Reiches«. Das Bild Carl Schmitts in den Schriften der Emigranten, in: Jahrbuch für Extremismusforschung 1 (1992), 191–213 15 Dazu vgl. René König (pseudonym: Paul Kern), Rezension zu Hans Freyer, Machiavelli, Leipzig 1938, in: Maß und Wert 2 (1939), 848–854; vgl. Herfried Münkler, Einleitung, in: Niccolò Machiavelli, Politische Schriften, Frankfurt 1990, 46 13

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VII. · René Königs Machiavelli-Identifikation

tischen Occasionalisten.« 16 Machiavellis »Flucht« in den Ästhetizismus deutet König als eine Reaktion auf Exil und Emigration und spricht hier 1940, damals selbst in der Schweizer Emigration lebend, sogar von einem »Emigrantenressentiment« (M 331, vgl. 113). Seine ästhetizistische Deutung der »inneren Biographie« Machiavellis hat vor allem zwei Probleme zu lösen: Sie muss das Verhältnis der Discorsi zum Principe klären und den Principe als »Kunstwerk« erweisen. König betrachtet das »Bild einer freischwebenden Republik als Maßstab« (M 226) im »Hinblick auf die Krise«: als »umgekehrte Utopie« (280), »fiktiver Maßstab« (M 245) und »Einleitung« zum Principe; den Principe aber deutet er als eine Flucht aus dem politischen Realismus in die idealisierende Verzeichnung und »Überhöhung« des neuen Fürsten zum »Bild« und zur »Gestalt«. Königs Rede vom »Kunstwerk« ist etwas doppeldeutig: Sie meint nicht nur die literarische Formung, sondern auch den Methodenwandel von der politischen Analyse zum idealisierten »Bild« und ikonologischen Argument. König attestiert Machiavelli ein »gestörtes Wirklichkeitsbewusstsein« (M 305) und setzt mit Giucciardini am Ende ein Ethos der »Mitte« und »Form« (M 246 f.) gegen die »dilemmatische« »Kontrastdialektik«. Anklänge an Schlüsselworte des Georgekreises sind nicht zufällig: König bewegte sich auch als Lektor des Runde-Verlages in diesen Kreisen. Er nimmt 1940 also eine politische Selbstkritik des Georgekreises vor. Nicht weniger wichtig sind aber die Debatten der Berliner Universitätsphilosophie, aus denen König kam: Als Schüler Dessoirs war er ein Enkelschüler Diltheys; Dessoir war Diltheys ältester Schüler in der Berliner Philosophie, Sohn des Hofschauspielers Ludwig Dessoir, ein Ästhetiker 17 und Psychologe mit okkulten Interessen. 18 Königs Unterscheidung zwischen einem literarischen und einem »politischen Humanismus« nimmt einen zentralen Diskussionspunkt der Berliner Universität der Zwischenkriegszeit auf. Insbesondere Werner Jaeger vertrat dort die »Gegenwärtigkeit« der Griechen als »dritten« und »politischen Humanismus« und richtete sich gegen eine ästhetische Engführung der Geistesgeschichte und des Humanismus,

Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens Bd. III/1, Stuttgart 2006, 53 f. 17 Max Dessoir, Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Stuttgart 1906 18 Dazu nur Max Dessoir, Vom Jenseits der Seele, Stuttgart 1917; Buch der Erinnerung, Stuttgart 1946 16

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die schon Dilthey selbst, der Weggefährte Treitschkes, nie gewollt hatte. Wolfgang Frommel, ein George-Schüler, publizierte damals (unter dem Namen Lothar Helbing) das Buch Der dritte Humanismus im Verlag Die Runde. 19 König stellt diese Debatten nun mit Nietzsche unter das Verdikt des »Ästhetizismus«. Dabei klingt ein Generalverdikt an, das Löwith 1935 gegen Schmitt gerichtet hatte: Löwith kehrte den Vorwurf des romantischen Ästhetizismus, Okkasionalismus und Opportunismus gegen Schmitt. Diese Wendung war in den 20er Jahren schon als Topos verbreitet. So schrieb Johannes Kirschweng aus Bonner Bekanntschaft: »Wir halten ihn [Schmitt] in der Tat für einen ganz hervorragenden Romantiker im Sinne seiner eigenen Definition«; wer einmal die »Legende Carl Schmitts« schreiben werde, dürfe »das Judaskapitel nicht auslassen«. Auf dieser Anklagebank säße Schmitt auch als »Verräter seiner selbst«. 20 Auch andere Rezensenten schrieben vor 1933 schon, dass »Schmitt – dank seiner eigenen Definition – der allervorzüglichste Romantiker ist«. 21 Schmitt antwortete 1933 mit seiner Polemik gegen Die deutschen Intellektuellen; 22 er mobilisierte das »Schimpfwort« für die jüdischen Emigranten und verriet damit auch seine Weimarer Gefährten. Der Bonner Schüler Waldemar Gurian strengte dann in zahlreichen Artikeln den Prozess »Carl Schmitt gegen Carl Schmitt« an. Königs Charakterbild Machiavellis ist zweifellos von der Auseinandersetzung mit Schmitt angeregt. Schon in seiner Habilitationsschrift setzte König sich auch ausdrücklich mit Schmitts Begriff des Politischen auseinander. Unter Verweis auf die philosophische Kritik von Helmut Kuhn und Karl Löwith nennt er Schmitts Begriffsschrift in einem »Exkurs über das Problem der politischen Existenz« zwar die »bedeutsamste Kategorialbestimmung«, die »das Politische in

Lothar Helbing, Der dritte Humanismus, Berlin 1932 Johannes Kirschweng, Der Romantiker Carl Schmitt, in: Rhein-Mainische-Volkszeitung Nr. 16 vom 21. Januar 1926, 1; Wiederabdruck Schmittiana I N.F. (2011), 110 21 Johannes Sauter, Antiromantik oder Unromantik?, in: Wiener Reichspost Nr. 68 vom 7. März 1926, 22; Wiederabdruck Schmittiana I N.F. (2011), 111 22 Carl Schmitt, Die deutschen Intellektuellen, in: Westdeutscher Beobachter 9 (1933), Nr. 126 vom 31. Mai 1933, 1 f.; vgl. dazu Thomas Blanke, Carl Schmitt. Ein intellektueller Antiintellektueller, in: Thomas Jung (Hg.), Fliegende Fische. Eine Soziologie des Intellektuellen in 20 Portraits, Frankfurt 2009, 250–268 19 20

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letzter Zeit gefunden hat«, 23 betrachtet sie aber als »Ausdruck des vollendeten Nihilismus«. 24 König liest die Priorisierung des Feindbegriffs als seins- und selbstvergessene Orientierung an einem »Fürjemand-sein«, das die Substanz einer »Freundschaft« und »Gemeinschaft« verstellt. Ausführlich zitiert er Kuhn und Löwith (Fiala) und spricht vom »Abgrund eines ›ästhetischen Dekadenz-Immoralismus‹«, von »welthistorischer Gefahr« und vom »reinsten Ausdruck des allgemeinen europäischen Krisenzustandes«. 25 In seiner FreyerBesprechung schlägt er den Bogen dann explizit: »Selbst wenn über der Staatsgründung des Cesare Borgia ein dunkler, diabolischer und verführerischer Glanz von Verbrechen und Räuberromantik liegt, der allerdings nur für ein zutiefst unweises und auch unreifes, ästhetisch-freischwebendes Denken gefährlich werden kann. Solch Fin de siècleund Dekadenz-Immoralismus liegt jedoch einem großen Teil der gegenwärtigen deutschen Spekulation über den Staat zugrunde (Carl Schmitt), wo er sich paart mit dem schneidigen Rodomontieren blitzender Aperçus der spät erweckten Romantiker (Ernst Jünger)«. 26

Im Machiavellibuch münzt König Schmitts Romantikkritik wörtlich auf Petrarca. Ausdrücklich erwähnt er später (1984) im Nachwort zur Taschenbuch-Neuausgabe 27 – neben der Freyer-Besprechung – aber auch seine Besprechung von Schmitts Leviathan-Buch als Vorarbeit; sie erschien 1939/40, zur Zeit des Machiavelli-Buches, in Thomas Manns Exilzeitschrift Maß und Wert. 28 Königs Besprechung konzentrierte sich auf die politische Mythologie des Leviathan-Buches und den »lächerliche[n] Popanz der jüdischen Zerstörungssucht«. 29 Sie spricht von »Nihilismus«, »dialektische[r] Rabulistik« und »SchauRené König, Kritik der historisch-existentialistischen Soziologie, München 1975, 138 24 König, Kritik der historisch-existentialistischen Soziologie, 139 25 König, Kritik der historisch-existentialistischen Soziologie, 142 26 König, Rezension zu Freyer, Maß und Wert 2 (1939), 848–854, hier: 852 27 René König, Über die Entstehung dieses Buches. Nachwort für die Taschenbuchausgabe, in: ders., Machiavelli, Frankfurt 1984, 353–360, hier: 360 28 René König, Besprechung von Carl Schmitt, Der Leviathan, 1938, in: Maß und Wert 3 (1939/40), 673–679 29 Später schrieb König Schmitts antisemitische Version von der Avantgarde des Liberalismus positiv um: René König, Die Freiheit der Distanz. Der Beitrag des Judentums zur Soziologie, in: Der Monat 13 (1961), 70–76; Schmitt las diesen Beitrag aufmerksam; dazu vgl. Frank Hertweck / Dimitrios Kisoudis (Hg.), »Solange das Imperium da ist«. Carl Schmitt im Gespräch mit Klaus Figge und Dieter Groh 1971, Berlin 2010, 163 23

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kelspiel«, verweist auf die Parallele zu Machiavelli und evoziert am Ende den »wahren Staat« gegen Schmitts »Surrogate des Geistes«. Später nennt König Schmitt den »wohl charakterlosesten und geistig unredlichsten Vertreter des orientierungslosen deutschen Bürgertums der zwanziger Jahre«. 30 Wahrscheinlich trägt sein MachiavelliBild von 1940 also bewusst Züge eines polemischen Schmitt-Portraits.

2. Schon in den 20er Jahren hatte Schmitt sich mit Machiavelli identifiziert (SGN 102–106). Nach seinem Sturz in der NS-Ämterhierarchie Ende 1936 war seine Wendung zum »Symbol« und »Mythos« ein politisches Signal. Nach 1945 parallelisierte er seine Plettenberger Lage als »Outlaw« und »Sündenbock« gezielt mit Machiavellis San Casciano. Die Identifikation mit Machiavelli war aber schon ein Topos der frühen Kritik. Schon Gurian betrachtete Schmitt als gänzlich amoralischen Wendehals, »Nihilisten« und »Zyniker«. Auch andere Weggefährten sahen es so. Franz Neumann beschrieb den »totalen Staat« in den seitenberichtigten Kategorien Schmitts. Gerhard Ritter 31 war in seiner Unterscheidung von »Machtstaat und Utopie« ebenfalls von Schmitt angeregt. Auch er betrachtete die »Dämonie der Macht«, die ältere Kritik am deutschen »Machtstaatsgedanken« weiterführend, in der Fokussierung auf Schmitt. Nach 1945 wurde es dann gängig, eine Linie von Machiavelli zu Hitler zu ziehen und den Machtstaatsgedanken als »modernen Machiavellismus« 32 zu kritisieren. Der reife Schluss dieser Linie sind Dolf Sternbergers Drei Wurzeln der Politik. 33 Auch hier figuriert Schmitt als Inbegriff des intellektuellen Machiavellisten, der die nationalsozialistische Eschatologik in seinen zynischen Dienst nahm. Königs Machiavellibuch ist eine wichtige Schaltstelle der Übersetzung des älteren Romantikvorwurfs René König, Zur Soziologie der zwanziger Jahre, in: Die Zeit ohne Eigenschaften. Eine Bilanz der zwanziger Jahre, hrsg. Leonhard Reinisch, Stuttgart 1961, 82–118, hier: 113 31 Gerhard Ritter, Machtstaat und Utopie. Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavelli und Morus, München 1940; dazu auch Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, 125 ff. 32 Erwin Faul, Der moderne Machiavellismus, Köln 1961 33 Dolf Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt 1978 30

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in das Machiavellismusverdikt. Seine Pointe liegt dabei auf der Überbietung: Der Machiavellist erscheint als Romantiker zweiter oder metaphysischer Stufe. Diese Form einer »inneren Biographie« ist als »Krisenanalyse« nicht ganz unproblematisch. Das zentrale Argument, dass Machiavelli aus dem politischen Realismus in den Mythos flüchten ließ, ist auch nicht sonderlich stark. König müsste deutlicher zwischen Krisenanalyse und Rezeptur unterscheiden. Auch seine abschließenden Worte zur »Form« der »Mitte« und zum Gegenspieler Giucciardini bleiben etwas blass. Das Machiavelli-Buch liebäugelt noch mit einer unausgeführten platonischen Alternative und einem starken Begriff von der »Form« des Menschen und dem »wahren Staat«. König steckt hier noch in den humanistischen Debatten der Berliner Zeit. Er erwägt damals auch noch die neoklassische Alternative, wie sie nach 1945 die »Rehabilitierung« politischer Philosophie bestimmte, 34 entscheidet sich dann aber für die soziologische Objektivierung. Sein Machiavellibuch wählt noch die Form philosophischer Dekonstruktion der »inneren Biographie«. König meint: Machiavelli gab nicht nur die falsche politische Antwort: das »Gift« der Diktatur, das zu verschreiben er mutig genug war; er reagierte in der Krise seines Lebens, aus »Emigrantenressentiment«, auch als Autor falsch, indem er sich in der »Gestalt« vergriff. König interessierte die humane Problematik und innere Krise Machiavellis. Sie war ihm letztlich weniger ein politisches als ein moralisches Problem: eine Frage humaner Antwort. Diese »Krisenanalyse« folgte noch den philosophischen Fragen nach dem »politischen Humanismus«. Es war eine Selbstkritik des Berliner Humanismus.

3. König schrieb sein Buch in schwierigen Zeiten als sozial und politisch ungesicherter Intellektueller und Emigrant. Für den Humanismus verwandte er geläufige Negativstereotype von den »wurzellosen« und »freischwebenden« Intellektuellen. Er zitierte den Intellektuellen als »Schimpfwort« (Dietz Bering) herbei, um sich vom »EmigrantenKritische Bestandsaufnahme jetzt bei Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens Bd. IV/1: Der Totalitarismus und seine Überwindung, Stuttgart 2010, 408–511

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ressentiment« abzusetzen und so auch die nationalsozialistische Zensur zu überlisten. Selten bleibt Hintersinn aber verborgen. Was der Zensor nicht bemerkt, wird auch der Leser schwerlich sehen. Esoterisches Schreiben ist oft nur eine literarisch verspielte Form der Selbstbehauptung. Voegelin schrieb Leo Strauss zur Übersendung von Persecution and the Art of Writing: »Ist nicht das, was als Camouflage eines Philosophen erscheinen mag, schon das schlechte Gewissen des ›modernen‹ Menschen, der es nicht ganz wagt, die Schurkerei herauszusagen, die er eigentlich vorhat; und sie darum nicht vor anderen, sondern auch vor sich selbst, durch den reichlichen Gebrauch von konventionellem Vokabular verdeckt?« 35

Indirekte Schreibweisen sind Formen der Literarisierung. Wissenschaftliche Prosa zielt unter Publizitäts- und Wahrhaftigkeitszwang dagegen auf eine Einheit von Verfasser, Autor und Erzähler; der Verfasser soll positionell greifbar und verantwortlich sein. Faktisch ist der wissenschaftliche Diskurs aber ein strategischer Raum, in dem Autoren im semantischen Feld um Deutungshoheiten streiten. Politische Esoterik ist da eine literarische Ermattungsstrategie. Autoren lieben Masken und verstecken sich hinter Protagonisten. Die deutsche Geisteswissenschaft personalisiert klassikerorientiert. Manche betrachten ihren Umgang mit »Klassikern« dabei als mehr oder weniger verschämtes Gipfelgespräch der Meisterdenker. Auch die Demut selbstloser Exegese neigt zum Hochmut der Klassikeridentifikation. Die Autormaske dient aber auch der didaktischen Vereinfachung und Zuspitzung, Polarisierung und Polemisierung in der publizistischen Agenda. Ethnologisch betrachtet gehört sie zum religiösen Kult (magische Bezwingung der Wirklichkeit, Partizipation an göttlicher Macht, Vergegenwärtigung der Ahnen, rituelle Beschwörung kollektiver Identität u. ä.). Anthropologisch betrachtet stabilisiert sie personale Identitäten und soziale Performanz. Carl Schmitt inszenierte die Geistesgeschichte als virtuosen Maskentanz. Die Reihe seiner Autorenmasken ist lang: Er identifizierte sich »okkasionell« mit literarischen Figuren wie Julien Sorel, Othello, Hamlet und Benito Cereno, spiegelte sich in Machiavelli, Hobbes, Donoso Cortés, Bruno Bauer und anderen Autoren um 1848. Seine Identifikationsautoren nannte er »Freunde« und »Brüder« Voegelin am 13. April 1953 an Leo Strauss, in: Glaube und Wissen. Der Briefwechsel zwischen Eric Voegelin und Leo Strauss von 1934 bis 1964, hrsg. Peter J. Opitz, München 2010, 112 f.

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(ECS 63 f.). Seinem Publikum wollte er dabei in autobiographischer Spiegelung auch den »unbekannten« Autor nahe bringen. So meinte er 1929: »In seinem privaten Wesen hat Donoso etwas im besten Sinne Liberales, ist er sogar besser und wesenhafter liberal als seine humanitär moralisierenden Gegner« (PB 120). Ähnliches sagte Schmitt über Machiavelli: »Bei ihm ist die Humanität noch nicht zur Sentimentalität geworden.« (SGN 104) Grundsätzlich meinte er: »Der Feind ist unsre eigne Frage als Gestalt.« (ECS 90) Machiavelli beschrieb sein Verhältnis zu den römischen Klassikern in einem berühmten Brief vom 10. Dezember 1513 an Francesco Vettori: »Wenn der Abend kommt, kehre ich nach Hause zurück und gehe in mein Arbeitszimmer. An der Schwelle werfe ich die Bauerntracht ab, voll Schmutz und Kot, ich lege prächtige Hofgewänder an und, angemessen bekleidet, begebe ich mich in die Säulenhallen der großen Alten. Freundlich von ihnen aufgenommen, nähre ich mich da mit der Speise, die allein die meine ist, für die ich geboren ward. Da hält mich die Scham nicht zurück, mit ihnen zu sprechen, sie um den Grund ihrer Handlungen zu fragen, und ihre Menschlichkeit macht, dass sie mir antworten. Vier Stunden lang fühle ich keinen Kummer, vergesse alle Leiden, fürchte nicht die Armut, es schreckt mich nicht der Tod; ganz versetze ich mich in sie.« 36

Mit seinem Machiavelli-Buch ist König das annähernd gelungen. Vielleicht hätte Schmitt die Identifikation sogar gefallen und geschmeichelt.

Machiavelli am 10. Dezember 1513 an Francesco Vittori, in: ders., Politische Schriften, hrsg. Herfried Münkler, Frankfurt1990, 434

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VIII. Utopiker der Intellektuellenherrschaft: Karl Mannheim und Carl Schmitt 1

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Carl Schmitts »Antwort« an Mannheim

Karl Mannheim wurde 1893 in Budapest geboren. 1911 begann er dort sein Studium. Er studierte dann weiter in Heidelberg, Freiburg und Paris und promovierte 1918 in Budapest. Dort lehrte er kurz an der Universität und beteiligte sich dann zusammen mit Georg Lukács an der ungarischen Revolution, weshalb er nach deren Niederschlagung 1919 auch emigrieren musste. Er ging nach Wien, Freiburg und erneut nach Heidelberg. Frühe Eindrücke vom dortigen intellektuellen Leben formulierte er 1921/22 in Briefen aus Heidelberg, die er in ungarischer Sprache publizierte. 2 Sie betonen das dezentrale kulturelle Leben im föderalen Deutschland, die Suche nach intellektueller Orientierung und »Propheten« im Nachkriegsdeutschland und konfrontieren die Heidelberger Alternativen Max Weber und Stefan George, wie sie Weber selbst stilisierte. Mannheim habilitierte sich 1926 mit Unterstützung von Alfred Weber, Carl Brinckmann und Emil Lederer 3 und wurde 1930 als Nachfolger von Franz Oppenheim Der Text wurde am 29. Oktober 2011 auf einer von Tilmann Reitz organisierten Tagung der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft für Philosophie vorgetragen. Er ist David Kettler dankbar gewidmet. Karl Mannheim wird in folgenden Ausgaben zitiert: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, hrsg. David Kettler u. Volker Meja, Frankfurt 1984; Ideologie und Utopie, 1929, Frankfurt 7. Aufl. 1985 (Kürzel: IU); Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, Darmstadt 1958; Diagnose unserer Zeit. Gedanken eines Soziologen, Zürich 1951; Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hrsg. Kurt H. Wolff, Neuwied 1964. 2 Deutsche Übersetzung in: Eva Karádi u. Erzsébet Vezér, Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis, Frankfurt 1985, 73–91; hier nach der englischen Übersetzung in: David Kettler u. Colin Loader (Hg.), Karl Mannheim, Sociology as Political Education, New Brunswick 2001, 79–97 3 Zur Biographie vgl. David Kettler, Marxismus und Kultur. Mannheim und Lukács in der ungarischen Revolution 1918/1919, Neuwied 1967; Thomas Jung, Die Seinsgebundenheit des Denkens. Karl Mannheim und die Grundlegung einer Denksozio1

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VIII. · Utopiker der Intellektuellenherrschaft: Karl Mannheim und Carl Schmitt

Ordinarius für Soziologie in Frankfurt; 4 1933 entlassen, emigrierte er nach England, arbeitete dort an der London School of Economics, wurde englischer Staatsbürger und wechselte 1941 als Lecturer an das Institute für Education der Universität London. 1945 wurde er dort Professor. 1947 verstarb er in London. Die Heidelberger Atmosphäre der Zwischenkriegszeit wurde vielfach beschrieben. Edgar Salin erinnerte an die »Soziologischen Diskussionsabende« bei Alfred Weber, »an denen stets viele der geistig regsten Hochschul-Lehrer und -Hörer teilnahmen«: »Hier war der Turnierplatz, wo die Freunde die geistigen Waffen übten und schärften, die sie dann auf dem schwierigsten Kampffeld gebrauchen mussten, – im Kampf mit Max Weber.« 5 Diese Heidelberger Jahre wurden auch für Mannheim prägend. 1929 löste sein Buch Ideologie und Utopie (IU) dann als Pionierschrift der Begründung »politischer« Wissenschaft heftige Kontroversen aus. Aus diesen Jahren datieren wenige Begegnungen mit Schmitt. Wenn Schmitts Interesse an Mannheim auch eher peripher war, gibt es doch ein überraschendes Kapitel in der 1950 erschienenen Exkulpationsschrift Ex Captivitate Salus, das nähere Betrachtung lohnt. »Antwortende Bemerkungen zu einem Rundfunkvortrag von Karl Mannheim« überschrieben, ist es auf den »Winter 1945/46« datiert. Mannheim sprach damals mehrere »Talks to Germany« im Londoner Rundfunk. Sehr wahrscheinlich antwortete Schmitt aber nicht auf eine Radioübertragung, sondern auf die auszugsweise Veröffentlichung der Rede über »Die Rolle der Universitäten«. Sie erschien zur Jahreswende 1945/46 im vierten Heft der Monatsschrift Neue Auslese, einer vom »Alliierten Informationsdienst« herausgegebenen Art Reeducations-Reader’s-Digest, der ausgewählte Artikel publizierte. 6 logie, Bielefeld 2007; knappe Gesamtdarstellung der intellektuellen Entwicklung mit eingehender Berücksichtigung der Londoner Zeit bei David Kettler u. Volker Meja, Politisches Wissen. Studien zu Karl Mannheim, Frankfurt 1989 4 Zur damaligen Frankfurter Soziologie vgl. Peter Gastmann/Jens Koolway, ›Der Tag war da: so stand der Stein‹. C. H. Becker und die Frankfurter Soziologie der Zwischenkriegszeit, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 5 (2011), 17–32 5 Edgar Salin, Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, 2. Aufl. München 1954, 107 6 Karl Mannheim, Die Rolle der Universitäten. Aus einer deutschen Sendung des Londoner Rundfunks, in: Neue Auslese. Aus dem Schrifttum der Gegenwart. Eine Monatszeitschrift 1 (1945/46), 49–53; weitere Titel von Mannheims Rundfunkansprachen waren: Die Zukunft der Erwachsenenbildung; Das Problem der Neuerziehung; Wie ist Neuerziehung möglich? Freundliche Mitteilung von David Kettler und

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Carl Schmitts »Antwort« an Mannheim

Schmitt zitiert wörtlich aus dieser Veröffentlichung. Vom Ende September 1945 bis Anfang Oktober 1946 war er damals nach persönlicher Intervention Karl Löwensteins in einem Berliner Lager interniert. Er las den Auszug also wahrscheinlich in der Lagerhaft. Mannheim spricht in seiner Rede u. a. von einer nötigen »Entpolitisierung« der Wissenschaft: Das »Überpolitische« sei nur durch eine freie und offene Diskussion der »Streitfragen« zu gewinnen. Mannheim fordert den »Geist der Toleranz«: »Es kommt dabei nicht nur auf eine passive Duldung des Gegners an, sondern die Voraussetzung hierfür ist eine fundamentale Neugierde, die jeden Menschen, jede andere Gruppe oder Partei in ihrer Andersheit ergreifen möchte.« 7 Schmitt zitiert aus diesem Passus, greift die deutliche Kritik am »arroganten Nationalismus« und der »seelischen Versklavung« der Universitäten aber nur indirekt auf und betont in seiner Antwort, dass eine »totale« nazistische Vereinnahmung der Universitäten nicht gelungen sei. Im Text spricht er Mannheim sogar persönlich an. 8 Wörtlich greift er aber nur dessen Aussage auf, dass die Neugierde eine elementare »Voraussetzung der wissenschaftlichen Freiheit« sei; Schmitt zitiert: Neugierde für eine »Person in ihrem Anderssein« (ECS 13). Seine Rede vom »Anderssein« hatte seit 1933 als »Andersartigkeit« einen antisemitischen Beiklang. Schmitt antwortet mit Mannheim bewusst einem Juden und mehrfach geflüchteten Emigranten. Im Büchlein Ex Captivitate Salus schließen seine antwortenden Bemerkungen an eine scharfe Distanzierung von Eduard Spranger an, den man als Vertreter des Weimarer akademischen Establishments und Repräsentanten der »inneren Emigration« bezeichnen kann. Mit Spranger stand Schmitt einige Jahre in engerer persönlicher Verbindung. Schmitt antwortet also der inneren und der

Volker Meja (Mail David Kettlers vom 10. 4. 2011); Heft 4 eröffnet mit einem Gedicht Dietrich Bonhoeffers »Zum neuen Jahr« (1945), sodass Heft 4 vermutlich zum Jahreswechsel erschien. Das entspricht Schmitts Datierung seiner Antwort auf den »Winter 1945/46«. Weitere Beiträger zu Heft 4 waren u. a. Martin Beheim-Schwarzbach und Lewis Mumford. Das Heft endet mit einem Nachruf auf Hugo Sinzheimer, der im September 1945 verstarb. 7 Karl Mannheim, Die Rolle der Universitäten, in: Neue Auslese 1 (1945/46), 49–53, hier: 52 8 ECS 16: »Der Geist hat seinen Stolz, seine Taktik, seine unveräußerliche Freiheit und, verzeihen Sie, sogar seinen Schutzengel.« Schmitts christlicher Bezug auf einen »Schutzengel« spielt indirekt auf Mannheims Judentum an. Ansonsten zitiert Schmitt Mannheim nur in der dritten Person.

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VIII. · Utopiker der Intellektuellenherrschaft: Karl Mannheim und Carl Schmitt

äußeren Emigration, bevor er seine Sicht seines nationalsozialistischen »Falles« entwickelt. Die Antwort an Mannheim ist ein vergangenheitspolitischer Schlüsseltext; Mannheim gegenüber formuliert Schmitt vor allem zwei starke Behauptungen: Er betont zunächst, dass es im Nationalsozialismus wissenschaftliche Produktivität gab; dann beansprucht er, wenigstens für sein Hobbes-Buch von 1938, dass seine Wissenschaft esoterisch oppositionell war. Schmitt führt aus, dass auch der Nationalsozialismus keine vollständige, hundertprozentige »Totalität« schaffen konnte und der akademische »Geist« auch »in den Fängen des Leviathan«, wie Schmitt schreibt, seine »Krypten und Katakomben« (ECS 16) fand. Solche Grenzen der Gleichschaltung gab es gewiss. Schon Goethe und Schiller spotteten in ihren Zahmen Xenien über die asymmetrischen Waffen im Verhältnis der Intellektuellen zum Staat. Unter der Überschrift »Der Leviathan und die Epigramme« schrieben sie: »Fürchterlich bist du [der Leviathan] im Kampf, nur brauchst du etwas viel Wasser, / Aber versuch es einmal, Fisch! In den Lüften mit uns.« 9

Eine solche intellektuelle Distanz hat Schmitt im Nationalsozialismus zwar schwerlich gesucht, nach 1945 betont er nun aber, dass sich die deutsche Innerlichkeit der totalen Gleichschaltung widersetzt habe und sein Hobbes-Buch als ein Jüngers Marmorklippen vergleichbares Dokument der Mentalreservation zu lesen sei. 10 Melvilles NovellenXenien 1796. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs, hrsg. Erich Schmidt u. Bernhard Suphan, Weimar 1893, 93. 10 Schmitt schreibt: »Im Sommer 1938 erschien in Deutschland ein Buch, in dem es heißt: ›Wenn in einem Lande nur noch die von der staatlichen Macht organisierte Öffentlichkeit gilt, dann begibt sich die Seele eines Volkes auf den geheimnisvollen Weg, der nach Innen führt; dann wächst die Gegenkraft des Schweigens und der Stille.‹« (ECS 21) Schmitts Selbstzitat ist, wie in der Forschung bekannt, sehr fehlerhaft. Tatsächlich schrieb Schmitt 1938: »Wenn aber wirklich die öffentliche Macht nur noch öffentlich sein will, wenn Staat und Bekenntnis den innerlichen Glauben ins Private abdrängen, dann begibt sich die Seele eines Volkes auf den ›geheimnisvollen Weg‹, der nach innen führt. Dann wächst die Gegenkraft des Schweigens und der Stille.« (L 94). Schmitts Selbstzitat ist also nur im zweiten Teil wörtlich korrekt. Der erste Teil ist auch deshalb falsch zitiert, weil Schmitt 1938 die Selbstbegrenzung der öffentlichen Macht und den Weg »ins Private« kritisierte. Sein Versuch einer mythopolitischen Rekonstruktion des »totalen Staates« richtete sich gegen die Formierung einer »inneren Emigration« oder oppositionellen Innerlichkeit, die Schmitt nachträg9

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Carl Schmitts »Antwort« an Mannheim

held Benito Cereno, eine Identifikationsfigur Schmitts, sei das »Symbol für die Lage der Intelligenz im Nationalsozialismus« (ECS 21 f.) gewesen. Benito Cereno, der Kapitän eines Piratenschiffes, entpuppte sich am Ende der Novelle als Geisel der Besatzung. Das antwortet Schmitt im Winter 1945/46 ausgerechnet Karl Mannheim, zu dem er niemals eine engere Beziehung hatte. Warum Mannheim? Warum gibt er ihm gegenüber nach 1945 seine erste und wichtigste »soziologische« Erklärung seines nationalsozialistischen »Falles« ab? Ein Grund ist die zufällige Entstehung des Textes unter schwierigen Bedingungen. Sicher aber hätte er nicht jeden Radiovortrag oder jeden Text zur Lage der nationalsozialistischen Intellektuellen mit einer solchen Selbsterklärung beantwortet. Für Schmitt war es wichtig, dass Mannheim ein Emigrant und Jude war, mit dem sich das Stichwort von der »Wissenssoziologie« verband und den er vor 1933 persönlich gekannt hatte. Schmitt schreibt: »Ich will versuchen, diese antwortenden Bemerkungen an Karl Mannheim gelangen zu lassen. Unter den Soziologen war so oft und so viel von ›Verstehen‹ die Rede, dass es gut wäre, dieses Verstehen auch einmal in einer verzweifelten Situation zu erproben und nicht nur in der Atmosphäre gutorganisierter Soziologenkongresse. Ich erinnere mich mancher guter Gespräche mit Karl Mannheim. Vielleicht versteht er es, dass mich die wissenschaftliche Neugier zu allen Zeiten und auch heute nicht weniger plagt als ihn, und dass die Lautsprecher von heute für mich ebenso wenig eine Instanz sind wie die Lautsprecher von gestern. Vor allem aber wird er meine Anknüpfung an seine Formel von der wissenschaftlichen Neugierde nicht als einen Appell an den Sieger missverstehen.« (ECS 23)

Hier wäre manches zurechtzurücken, angefangen bei der Gleichsetzung der Systeme vor und nach 1945: Schmitt betont das Curiositaslich 1945 für sich in Anspruch nahm. Wenn das fehlerhafte Selbstzitat und apologetische Gedächtnis 1945/46 durch die Lagerhaft auch einigermaßen erklärlich ist, stellt sich doch die Frage, weshalb Schmitt das Zitat 1950 für die Veröffentlichung nicht korrigierte. Vier Gründe liegen nahe: 1. Schmitt lag in Plettenberg kein Exemplar seines Hobbes-Buches von 1938 vor, um das Zitat zu korrigieren; 2. er dachte versehentlich nicht an eine Prüfung des Zitats; 3. er wollte nicht in die Authentizität des Lagertextes von 1945/46 eingreifen; 4. er ließ das Zitat vergangenheitspolitisch absichtlich fehlerhaft stehen, um seine Position von 1938 zu verfälschen. Der erste Grund scheidet aus: Schmitt hatte 1950 Zugang zum Hobbes-Buch. Ein Respekt vor der Authentizität des Textes ist möglich, hätte aber andere Lösungen wie einen Fußnotenzusatz erlaubt, wie Schmitt ihn in der Mannheim-Antwort auch machte (ECS 23). Eine Nachlässigkeit ist nicht ganz auszuschließen. Auch dafür aber ist der Autor verantwortlich.

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VIII. · Utopiker der Intellektuellenherrschaft: Karl Mannheim und Carl Schmitt

Argument 11 als Motiv seines nationalsozialistischen Engagements. Das war gewiss ein Grund, aber wohl nicht der entscheidende. Er spielt das »Verstehen« in das objektive, wissenssoziologische Verstehen der »verstehenden« Soziologie der Schule Webers hinüber und appelliert so an die verbindende akademische Ausgangslage. Er wehrt das naheliegende Verständnis ab, er appelliere an einen »Sieger«, erbete Protektion. Tatsächlich aber erwartete Schmitt von manchen Weggefährten, die er 1933 verraten hatte, nach 1945 Unterstützung. Eines der erwähnten »guten Gespräche« fand vielleicht am Rande eines Soziologenkongresses statt. Viele waren es nicht. Nur ein Brief Mannheims vom 4. Februar 1927 ist im Nachlass erhalten. 12 Mannheim entschuldigt sich darin nach einer Beschwerde Schmitts bei Lederer, die Politische Romantik nicht ordentlich zitiert zu haben. Am 6. Februar 1929 notiert Schmitt einen Besuch ins Tagebuch: »Mannheim beschwätzte mich.« Ein letztes Gespräch registriert er von einer Abendbegegnung bei Werner Sombart am 14. Mai 1931 in Berlin: »scheußlicher, elender Ostjude, schämte mich, im Ernst mit ihm gesprochen zu haben« (TB 1930/34, 109). Die Spuren Mannheims in Werk und Nachlass sind spärlich. Ein Widmungsexemplar der Monographie Die Gegenwartsaufgaben der Soziologie von 1932 hat Schmitt nachweislich besessen. Ein mit »Empfehlungen« gewidmeter Sonderdruck des Handbuchartikels »Wissenssoziologie« von 1931 13 ist bis in die Literaturangaben hinein durchgearbeitet. »Begriff des Politischen fehlt!«, steht dazu doppelt unterstrichen auf den Umschlag. Dem persönlichen Bezug auf Mannheim entsprach vor 1933 also kein engeres Verhältnis. Mannheim konnte sich nach 1945 aber gegen Schmitts publizistische Vereinnahmung nicht mehr wehren. Er verstarb 1947 in London.

2.

Ekstatiker der »gegenwärtigen Konstellation«

Wie Schmitt andeutet, gehen verwandte Problemstellungen auf die Lage der »verstehenden« Soziologie nach Max Weber zurück. Mann-

Verf., Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009, 312 (»Neugier ist legitim! Was da kommt, will ich aus der Nähe sehen!«) 12 Nachlass Carl Schmitt. Sammlung Tommissen RW 579–225 13 Karl Mannheim, Wissenssoziologie, in: Alfred Vierkandt (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, 659–680 (Nachlass Carl Schmitt RW 265–27145) 11

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Ekstatiker der »gegenwärtigen Konstellation«

heim wandte seine »Wissenssoziologie« dabei zunächst auf den Konservatismus an. Das beschäftigte auch Schmitt. Mannheim zitiert zwei frühe Schriften: die Politische Romantik und Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. Die Politische Theologie erwähnt er nicht, obgleich sie ein einschlägiges Kapitel »Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution« enthielt. Die Habilitationsschrift untersucht mit den Mittel der »Wissenssoziologie« die Entstehung des »Historismus« an der Genese des modernen Konservatismus. Die Themenwahl war sicher auch strategisch motiviert. 14 Was Mannheim besonders interessierte, war eine differenzierte Analyse des Basis-Überbau-Verhältnisses, 15 wie es durch Webers Marxismuskritik aufgegeben war. Die Entstehung des modernen Konservatismus war hier ein wichtiges Beispiel. Ähnlich wie Schmitt fragt Mannheim aber »soziologisch« nicht allzu konkret nach den Trägern und Akteuren; indem er Webers Stichwort vom »Rationalismus« aufnahm, geht er auf die Weltanschauungsfragen zurück und analysiert die »seinsgebundenen« und »seinsverbundenen« »Denkstile« und »Denkstandorte«. Ähnlich wie Schmitt und andere Romantikforscher betrachtet er den romantischen »Irrationalismus« dabei als eine Gegenbewegung zum liberalen und naturrechtlichen »Rationalismus«. Er stellt Möser, Adam Müller und Savigny ins Zentrum und betrachtet den modernen Konservatismus als ein »Reflexivwerden des Traditionalismus«: 16 als spezifisch modernes Phänomen. Den »Altkonservatismus« setzt er von einem neueren Konservatismus ab, für den etwa die sog. »konservative Revolution« der Weimarer Republik stand. Mannheim bricht eine allzu enge, auch bei Schmitt zu findende Fixierung auf 1789 auf, indem er den Erfahrungssprung zwischen Möser und Müller, Haller und Savigny betont. Er sieht auch, dass Savigny das »Irrationale« und das »Leben« anders und umfassender konzipierte als Müller, und markiert nicht nur einen einfachen Umbruch von Möser zu Müller, sondern betrachtet die Romantik als eine große reflexive und intellektuelle Bewegung, entwickelt aber keine geschlossene Geschichte der Romantik und des Rechtsintellektualis-

Zu Mannheims Einsatz bei der Historismusdiskussion eingehend Reinhard Laube, Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus, Göttingen 2004 15 Mannheim, Konservatismus, 52 16 Mannheim, Konservatismus, 111 14

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VIII. · Utopiker der Intellektuellenherrschaft: Karl Mannheim und Carl Schmitt

mus bis zur Gegenwart, sondern bricht mit Hegel abrupt und unvollendet ab. Ähnlich wie Schmitt meint auch Mannheim, dass die Romantiker als ungesicherte Intellektuelle typische »Rechtfertigungsdenker« und Ideologen waren, die zum politischen Opportunismus neigten. Wie Schmitt betrachtet er dabei Adam Müller als Prototyp des politischen Romantikers. Ganz anders als Schmitt nimmt er Müller aber als Intellektuellen ernst. Mannheim sympathisiert damals, von Lukács angeregt, als liberaler Denker mit der »sozialistischen« Antwort; Schmitt suchte dagegen Mitte der 20er Jahre noch den Anschluss seiner gegenrevolutionären »Theologie« an die Katholizismusdiskussion. Ein Stichwort schon zeigt Nähen beider Ansätze: Mannheims Rede von der »Seinsgebundenheit« und »Seinsverbundenheit« des Denkens. 17 Mannheims bekanntes Buch Ideologie und Utopie (IU) von 1929 knüpft eng an die Konservatismusstudie an. Mannheim übernimmt hier vom Konservatismus, seiner Beschreibung folgend, die Annahme eines »kollektiven Unbewussten« (IU 30 ff.) und irrationalen »Lebens«. Er bekennt sich zu einem »situationsgebundenen« Teilnehmerstandpunkt und einer »essayistisch-experimentierenden Denkhaltung« sowie einem »totalen«, wertfreien Ideologiebegriff und »Relativismus«. Die idealtypische Beschreibung von Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus ergänzt er nun um den »Fascismus« und folgt dabei ausdrücklich auch Schmitts Parlamentarismusschrift. Mannheim übersetzt die Dialektik von Rationalismus und Irrationalismus anschließend an Marx, Lenin und Schmitt in eine Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis und bezieht sich auch auf Sorels Lehre vom Mythos. Wie Schmitt unterscheidet er zwischen dem marxistischen und dem fascistischen Primat der Praxis, zieht aber eine andere Konsequenz, die Schmitt interessierte: Er gibt dem »sozial freischwebenden Intellektuellen« positiv eine Chance, eine parteiübergreifende perspektivische Überschau zu entwickeln.

Dazu grundsätzlich vgl. Thomas Jung, Die Seinsgebundenheit des Denkens. Karl Mannheim und die Grundlegung einer Denksoziologie, Bielefeld 2007; zur weiteren Methodisierung der »Wissenssoziologie« vgl. Amalia Barboza, Karl Mannheim, Konstanz 2009; von der »seinsmäßigen Negierung eines anderen Seins« spricht Schmitt im Begriff des Politischen in vielen Varianten. In Staat, Bewegung, Volk spricht Schmitt 1933 für die »Artgleichheit« auch explizit von der »Wahrheit der Seinsgebundenheit alles menschlichen Denkens« (SBV 45).

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Ekstatiker der »gegenwärtigen Konstellation«

Deshalb spricht er auch von einem »Gegenbegriff« (IU 101) zu Schmitts »Begriff des Politischen«: Der »Geist« transzendiert die soziale Lage; die Intellektuellen sind in der Lage, plurale Perspektiven zu übernehmen und ihren Horizont zu erweitern. Sie sind nach Mannheim nicht die Avantgarde einer Partei, etwa der Arbeiterklasse, sondern eine Avantgarde der relativierenden Synthese. Ihre »Mission« liegt in der Bildung einer parteiübergreifenden »Plattform« politischen Wissens und politischer Wissenschaft im »politischen Feld«. Sie sollen sich nicht auf einen Beobachterposten zurückziehen, sondern einseitige Parteistandpunkte relativieren und ein überparteiliches Wissen institutionalisieren, »Übersicht« und »konkrete Orientierung« (IU 152) geben. Mannheim denkt hier mit John Dewey auch an neue Formen kooperativen demokratischen Lernens. Die titelgebende Unterscheidung von »Ideologie« und »Utopie« ist vielleicht der wichtigste Ertrag der Schrift: Denken ist nicht »falsch«; Utopien sind möglich. Idealtypen konstruieren nach Weber »objektive Möglichkeiten«. Wirklichkeitstranszendente Ideologien können als Utopien wirksam werden. Die Utopien von heute sind die »Wirklichkeiten von morgen« (IU 177). Die Realitätsgehalte der Utopien sind kontingent: Was Utopien zu Ideologien macht, hängt von der Entwicklung der Realität ab. Mannheim skizziert vier Gestalten des utopischen Bewusstseins: die Wiedertäufer, liberal-humanitäre Geschichtsphilosophien, Konservatismus und Sozialismus. Den Konservatismus beschreibt er als ein »Bedingungsbewusstsein«, von dem der Sozialismus lernte. Die »gegenwärtige Konstellation« sieht er in einer Alternative: »Verabschiedung« aller Utopien zugunsten einer neuen »Sachlichkeit« oder »Wetterleuchten« »freischwebender Geistigkeit« und neue Utopien durch »die wenigen Geistigen« (IU 221) einer intellektuellen Avantgarde. Mannheim rechnet sich zur neuen Elite der Intellektuellen, die sich nicht als Parvenues in verbrauchten Ideologien einrichten wollen, sondern eine neue »Mission« über die bloße Zusammenschau hinaus übernehmen. Der Zeitgeistdiagnostiker wird zur Avantgarde des kommenden »Gestaltenwandels«. Solche Überlegungen sind schon am Ende der Konservatismusstudie angedeutet, wo Mannheim vom »irreduziblen Plus« der »schöpferischen Genialität« (IU 223) spricht.

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VIII. · Utopiker der Intellektuellenherrschaft: Karl Mannheim und Carl Schmitt

3.

Warum erwartete Schmitt von Mannheim »Verständnis«?

Mannheim entwickelte vor 1933 also eine Geschichte des Konservatismus und der Intellektuellen, die sich von Schmitts Ansatz vor allem durch die Absage an die politische Parteilichkeit und die Suche nach liberaler Distanz und »Synthese« unterschied. Damit ist deutlicher, weshalb Schmitt aus der Kenntnis der frühen Schriften einiges »Verständnis« erwarten konnte. Er antwortete 1945/46 auf die auszugsweise Veröffentlichung von Mannheims Radioansprache deshalb auch mit der Erklärung, dass dem Nationalsozialismus eine »totale« Gleichschaltung nicht gelungen sei. Diese Aussage ist nicht ganz abwegig: Selbst während des Krieges waren seriöse Publikationen (etwa von Alfred Weber oder Meinecke) noch möglich. Schmitts Verweis auf sein Leviathanbuch ist hier allerdings ganz unpassend. Was Mannheim 1945 aber über die »Neugierde« und die »gemeinsame Verarbeitung [der Streitfragen] im Geiste der Toleranz« sagte, dachte und schrieb er schon vor 1933. Das wusste Schmitt, und so ist seine Antwort an Mannheim sachlich nicht falsch. Mannheims Vision einer elitären und ekstatischen Elite konnte er auch zustimmen. In ähnliche Richtung argumentierte er 1929 schon in seiner Rede über das »Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen«, die von der »Wiedergeburt« einer »neuen Elite« (BP 93) aus Armut und Askese sprach. 18 Direkte Anregungen durch Mannheims Programmschrift sind nicht unwahrscheinlich. Schmitt konstatiert 1929 vier »Stufen« und »säkulare Schritte« des europäischen »Geistes in der Neuzeit: Sie entsprechen den vier Jahrhunderten und gehen vom Theologischen zum Metaphysischen, von dort zum Humanitär-Moralischen und schließlich zum Ökonomischen.« (BP 80) Als letztes Stadium erscheint der magische »Glaube an die Technik« (BP 84). Schmitt benennt intellektuelle Träger, »Eliten« und eine »Pluralität« des »Clerc-Typus« (BP 86). 19 Er profiliert eine politische Geistesgeschichtsschreibung und argumentiert gegen alle neuzeitlichen Neutralisierungs- und Entpolitisierungserwartungen. Dazu vgl. Henning Ottmann, »Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen«. Carl Schmitts Theorie der Neuzeit, in: Reinhard Mehring (Hg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003, 156– 169; Schmitt Lob der mönchischen Askese ist vielleicht angeregt von Hugo Ball, Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben, München 1923 19 Schmitts Rede vom »Clerc« wohl nach Julien Benda, La Trahison des clercs, Paris 1928 18

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Warum erwartete Schmitt von Mannheim »Verständnis«?

Jede intellektuelle Umbesetzung und Flucht in ein neues »Zentralgebiet«, jede Hoffnung auf ein »neutrales« Terrain ist nach Schmitts Begriff des Politischen eine Illusion: Neutralisierungen führen nur zu neuen Politisierungen. Die Hoffnung der Intellektuellen auf eine »neutrale« Sphäre und pazifizierende Funktion ist chimärisch und bewirkt neue Ideologien und Verschleierungen. Damit ist seine erstaunliche Erwartung von 1945, sein »Fall« könne bei Mannheim Verständnis finden, einigermaßen geklärt: Schmitt bezog sich mit seiner Erwartung nicht nur auf Mannheims Radiovortrag, sondern auch auf die Gespräche und Schriften vor 1933. Er ging von ähnlichen Problemstellungen aus und vertrat einen ähnlichen Irrationalismus der Teilnahme am »Leben«. Dabei betrachtete er sich ebenfalls als intellektuelle Avantgarde. Der Text, mit dem er Mannheim besonders nahe stand, ist seine Rede über das »Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen«. Sie skizziert eine alternative politische Intellektuellensoziologie. 1931 sprach Mannheim denn auch im Handbuchartikel »Wissenssoziologie«, den er Schmitt schickte, für die Intellektuellen von einer »Neutralisierung« und »Lösung« von der Seinsgebundenheit. Offenbar rezipierte er Schmitts Rede und sah Nähen zu seiner Auffassung der intellektuellen Eliten. Max Weber hatte in der Einleitung zur Religionssoziologie wichtige Stichworte zur Lage der Intellektuellen und deren Bedürfnis nach Lösungen der »Inkongruenz von Schicksal und Verdienst« 20 gegeben. Nach Weber lassen sich im apokalyptischen Klima der Zwischenkriegszeit eine ganze Reihe verwandter Träger des Ordens vom »utopischen Bewusstsein« nennen. Mit Mannheims Utopiebegriff setzte Schmitt sich denn auch nach 1945 erneut auseinander. In seinem »System Plettenberg« entstanden dann bedeutende Arbeiten zu »Utopie und Eschatologie«.

Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1920, Bd. I, 246 f.

20

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IX. Das Lachen der Besiegten. Carl Schmitt und Gelimer

1.

Der Topos vom Besiegten

Im Kampf gegen die Siegerhistorie gab Carl Schmitt nach 1945 die Losung aus, dass die Besiegten die besseren Historiker seien. Er verstand sich dabei als einer der »großen Jasager von 1933« (GL 145) und »Besiegten« von 1945: »Wie harmlos waren die, die beim Aufbruch 1933 in Deutschland geistige Morgenluft witterten, im Vergleich zu denen, die 1945 an Deutschland geistig Rache nahmen, weil sie nichts gewittert und angeblich alles vorausgesehen haben«, notierte er ernstlich in sein Glossarium (GL 164). Formelhaft meinte er nach 1945: »Erobern kann nur derjenige, der seine Beute besser kennt als sie sich selbst.« (ECS 18, 37) Oft verwies er auf seine frühe katholische Defensive im Kulturkampf. Im amerikanischen Internierungslager eröffnete er im August 1946 einen Essay über die Geschichtsschreibung mit den Sätzen: »Ein Spruch, den ich in meiner Jugend oft gehört habe, liegt mir noch heute im Ohr: Der Sieger schreibt die Geschichte.« (ECS 25) Sein Gegenbeispiel ist Tocqueville, der seine politische Niederlage in einen Triumph der Geschichtsschreibung ummünzte und die »säkulare Prognose« stellte, »dass die Menschheit den Weg zur Zentralisierung und Demokratisierung, den sie seit langem geht, unweigerlich und unwiderstehlich weitergehen wird.« (ECS 28) »Tocqueville war ein Besiegter«, schreibt Schmitt: »In ihm sammelten sich alle Arten von Niederlagen« (ECS 30). Er war als Aristokrat, Liberaler, Franzose und auch als Christ besiegt. »Als Christ […] erlag er dem wissenschaftlichen Agnostizismus des Zeitalters. Darum ist er nicht das geworden, wozu er mehr als jeder andere prädestiniert schien: ein christlicher Epimetheus. Ihm fehlte der heilsgeschichtliche Halt, der seine geschichtliche Idee von Europa vor der Verzweiflung bewahrte. Europa war ohne die Idee eines Katechon verloren. Tocqueville kannte keinen Katechon. […] So wurde er ein Besiegter, der seine Niederlage akzep130 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Die Anekdote von Gelimers Lachen

tierte.« (ECS 31) Das tat Schmitt nicht, und deshalb suchte er immer wieder die »große Parallele« der Gegenwart zur urchristlichen Spätantike. Eine große Portion Ressentiment und ein gutes Stück HerrKnecht-Dialektik ging in seine These ein, dass die Besiegten die besseren Historiker sind. Koselleck bestätigte später die These aber für die Geschichte der Geschichtswissenschaften; er betonte einen Zusammenhang von »Erfahrungswandel und Methodenwechsel« und exemplizierte die Wendung von der Geschichte der Sieger zur Historie der Besiegten für einige antike und neuzeitliche Autoren. Er verwies auf Niebuhr und Humboldt, Tocqueville und Marx und stellte abschließend die Frage, »ob Max Weber nicht auch zu den politisch und existentiell Besiegten gehört.« 1 Koselleck hatte andere politische Erfahrungen und Motive als Schmitt. Zweifellos war auch er aber in seiner Geschichte der Besiegten vom Plettenberger Mineur angeregt.

2.

Die Anekdote von Gelimers Lachen

Die Souveräne des Diskurses schreiben selbstgewisse Wälzer, Lehrbücher und kathedrale Werke. Die Besiegtenrhetorik ist dagegen dekonstruktiv und subversiv. Die sokratische Form der Anekdote ist ein Splitter Besiegtenrhetorik. Der alte Schmitt übersetzte seinen Topos von der Besiegtenhistorie in die historische Anekdote von Gelimers Lachen. Am 29. September 1958 schrieb er an Armin Mohler: »Jaspers, Ihr Heimatgenosse aus Basel, sprach in seiner gestrigen Predigt in der Paulskirche 2 von einem ›grimmigen Lachen‹, das einem Deutschen bleibt. Das ist wohl das Gelächter Gelimers?« (BS 254) Jaspers sagte damals in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels: »Wo Deutsche in optimistischen Fiktionen leben oder in dumpfer Angst oder in der gedankenlosen Ruhe eines materiell sich scheinbar stets verbessernden Daseins, da ist kein Ansatz für deutsches Selbstbewusstsein und für staatliches Verantwortungsbewusstsein. Solcher Ansatz liegt noch eher in

Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Studie (1988), in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt 2000, 27–77, hier: 76 2 Karl Jaspers, Wahrheit, Freiheit und Friede. Rede vom 28. September 1958 in der Paulskirche zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, München 1958 1

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IX. · Das Lachen der Besiegten. Carl Schmitt und Gelimer

der deutschen Verzweiflung, die sich so verquer äußert, im Zorn und im grimmigen Lachen, die die Liebe verbergen, weil der Gegenstand der Liebe, den sie doch in sich tragen, verloren scheint.« 3

Schmitt hätte Jaspers hier eigentlich zustimmen können. Er tat es nicht, weil er Jaspers’ Alternative zur »verlorenen« Vaterlandsliebe nicht vertreten wollte. Stattdessen ironisierte er den Ingrimm durch eine historische Parallele: Gemeint ist ein Lachen des besiegten Vandalenkönigs Gelimer, das der spätantike Historiker Prokopios von Caesarea (Prokop) überlieferte. Auf die Anekdote war Schmitt schon einige Jahre zuvor gestoßen. Im Juli 1958 las er dann, bei der Tochter Anima in Spanien zu Besuch, ein Buch über Gelimer. 4 Seitdem zitierte er Gelimers Gelächter in verschiedenen Zusammenhängen. Ins Glossarium schrieb er damals: »Uns bleibt wohl nichts als das Gelächter Gelimers.« (GL 371) Mit seinen letzten Aufzeichnungen taufte Schmitt die Bundesrepublik auf »den Namen Kafkanien« (GL 376) und verkündete: »Das Gelächter Gelimers hört nicht auf.« (GL 380) Das letzte Buch des Glossariums, seit 1955 geführt, trägt den Untertitel: Gelimer Bd. V (GL 400). Demnach hat Schmitt sein gesamtes Glossarium nachträglich nach Gelimers Gelächter benannt. Von Jaspers verlegte er den Vergleich aber auf Max Weber. 1959 schrieb er in einer Buchanzeige zur Neuausgabe von Webers politischen Schriften: »Man wird fragen, wo diese 28 verschiedenen Aufsätze ihren eigentlichen Schwerpunkt haben, ob sie in erster Linie Material zur Geschichte der Bismarckschen und zur Vorgeschichte der Weimarer Verfassung sind, oder in der Hauptsache Betrachtungen zur Soziologie und politischen Wissenschaft der modernen Demokratie, oder aber vor allem Dokumente zur Biographie des großen Gelehrten und leidenschaftlichen Politikers, dessen Temperament so heftig durchbricht, dass der heutige Leser einmal – in dem Aufsatz über Deutschland unter den europäischen Weltmächten (S. 171/72) – schon fast einen Ansatz zum Gelächter Gelimers heraushören kann.« 5

Die Stelle verweist auf Bismarcks »Verhandlungen über den Eintritt Bayerns in das Deutsche Reich«. Weber zitiert Bismarck: »›Wenn ein

Karl Jaspers, Wahrheit, Freiheit und Friede, in: ders., Wahrheit und Leben. Ausgewählte Schriften, Zürich o. J., 521–534, hier: 532 4 Christian Courtois, Les Vandales et l’Afrique, Paris 1955 5 Carl Schmitt, Rezension von Max Weber, Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1958, in: Das historisch-politische Buch 7 (1959), 53 3

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Die Anekdote von Gelimers Lachen

Freund seine Hand in meine gelegt hat, so werde ich sie doch nicht zerquetschen‹«. Vermutlich meint Schmitt diese Stelle; er kontrastiert Webers Orientierung an Bismarck mit der traumatischen Sicht von Versailles, spielt auf politische Friedensenttäuschungen an und münzt den Vergleich auf die Gegenwart, ohne dass eine klare Polemik gegen die europäische Einbindung der Bundesrepublik herauszulesen wäre. Er meint seinen Vergleich mit Weber und Gelimer ganz allgemein und pauschal. Bald kontrastiert er Gelimers Lachen mit dem Lächeln des steinernen Propheten Daniel. 6 An Forsthoff schreibt er im Juni 1960: »Aus dem Portico de la Gloria der Kathedrale in Santiago; dieser Prophet Daniel scheint mir eine Antwort zu geben auf das Gelächter Gelimers (534); jedenfalls sagt er mir heute mehr und Wichtigeres, als mir und meiner Generation vor 50 Jahren der Bamberger Reiter sagte.« (EFCS 161) Schmitt spielt hier auf die nationalistische Rezeption des Bamberger Reiters an und setzt die religiöse Verkündigung über das nationalistische Credo. Immer wieder sprach er vom lächelnden Daniel. Als »Besiegter von 1945« identifizierte er sich nun mit dem »überlegenen Lächeln« der Portikusfigur der Kathedrale von Santiago de Compostella und verschickte seine »mimische Symbolgeste« (Bredekamp) gerne als Bildpostkarte im Kreis. Schmitt neigte zu symbolischen Gesten. Die Umstellung der Selbstbeschreibung vom sardonischen Lachen auf ein gelöstes Lächeln ließe sich als Zeichen persönlicher »Vergangenheitsbewältigung« deuten: Der späte Schmitt entsagte so dem Ingrimm und Ressentiment des Besiegten. Solche ikonischen Gesten sind aber reflektierte Botschaften; man wird sie nicht einfach als authentische Expressionen verstehen dürfen. Eher wäre von einer gezielten Pathosformel zu sprechen: Schmitt signalisierte einen psychodynamischen Befindlichkeitswechsel, pflegte die Gelimer-Anekdote und -Identifikation aber auch weiter und verschickte Fotokopien der klassischen Referenzstelle von Gelimers Lachen: Prokopios von Caesarea aus dessen Geschichte der Gotenkriege.

Dazu jetzt eingehend Horst Bredekamp, Der Behemoth. Metamorphosen des AntiLeviathan, Berlin 2016, 73 ff.

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IX. · Das Lachen der Besiegten. Carl Schmitt und Gelimer

3.

Gelimer und Belisar

Gelimer war seit 530 der letzte, leicht illegitime Vandalenkönig in Karthago. Die Vandalen beherrschten damals fast 100 Jahre lang Nordafrika. Am Beginn des 5. Jahrhunderts waren sie im Zuge der Völkerwanderung zunächst nach Gallien eingedrungen, zogen nach Spanien und setzten 429 unter ihrem großen König und Feldherrn Geiserich in die römische Provinz Africa über. 439 eroberten sie Kathago. Von dort aus etablierten sie ein Reich, unternahmen Beutezüge ins Mittelmeer und plünderten im Jahr 455 unter Geiserich sogar Rom. Damit teilte sich die Macht im Mittelmeer zwischen dem Vandalenreich und Ostrom. Für einige Zeit kam es unter Geiserich zu einem Friedensvertrag mit Ostrom. Nach dessen Tod brach der Machtkampf zwischen Karthago und Byzanz wieder auf. Dem Untergang des Imperiums in der Völkerwanderung stemmte sich insbesondere der oströmische Kaiser Justinian I. (um 482–565) entgegen, der seit 528 in Byzanz caesaropapistisch regierte und eine Rückeroberung oder renovatio imperii anstrebte. Justinian musste das Römische Reich vor allem gegen das mächtige persische Sassanidenreich sichern. Er erstrebte aber auch eine Reetablierung im Westen und einen Sieg über die Vandalen in Nordafrika. Die Flanke des Balkan (Awaren) brachte er nicht unter Kontrolle. Als orthodoxer Christ bekämpfte er das arianische Christentum, dem auch die Vandalen anhingen; er erbaute u. a. die Hagia Sophia und das Katharinenkloster auf dem Sinai und schloss die platonische Akademie in Athen und den Isis-Tempel in Philae. Die Religionspolitik Justinians führte zu einer umfassenden Sakralisierung des Lebens. Der Byzantinismus prägte sich aus. Unter seiner Regierung wurde der Corpus Iuris Civilis redaktioniert, mit dem »zeitloses Römertum in die letzte folgenreiche Gestalt eintrat«. 7 An der Ostgrenze des Reiches suchte Justinian Frieden mit den Persern, um die Rückeroberung des Imperiums im Westen massiv voranzutreiben. Sein Feldherr Belisar (485–565) schritt zum Krieg gegen Gelimer. Alexander Demandt schreibt: »Bei Decimum, einer südlichen Vorstadt des heutigen Tunis, stießen die Heere am 13. September 533 aufeinander. Die Byzantiner ergriffen schon die Flucht, da verlor Gelimer über den Tod seines Bruders Ammatas die Fassung. Nun griff Belisar nochmals an, und die Vandalen wurden geworSo Franz Wieacker, Corpus juris, in: ders., Vom Römischen Recht. Wirklichkeit und Überlieferung, Leipzig 1944, 154

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Gelimer und Belisar

fen. Nachdem auch die Flotte nachgekommen war, zog Belisar in Karthago ein. Gelimer sammelte seine Leute in Bulla Regia und gewann auch Mauren für seine Sache. Die vandalische Expeditionsarmee kehrte aus Sardinien zurück, und mit ihr zog Gelimer in Richtung Karthago.«8

Doch Belisar siegte erneut. Gelimer verschanzte sich daraufhin mit den Resten seiner Armee in einer numidischen Bergfestung. »Belisar stellte ihm nicht nur Begnadigung, sondern auch die Erhebung in den Principat in Aussicht, falls er in den Dienst des Kaisers träte. Gelimer hingegen forderte von den Herulern, die ihn belagerten, nur ein Brot, weil ihn hungere, einen Schwamm, um seine Tränen zu trocknen, und eine Leier, um sein Unglück zu besiegen. Anfang 534 musste er sich ergeben, wurde von Belisar nach Byzanz gebracht und mit seinen Verwandten in Galatien angesiedelt. Justinian hätte ihm auch jetzt noch den Patriciat verliehen, wenn er sich zur Orthodoxie bekehrt hätte.« 9

Gelimers Behandlung durch Belisar und Justinian war also recht milde. Das Vandalenreich wurde dem oströmischen Reich einverleibt und Karthago wurde oströmisch. Belisar kämpfte dann weiter siegreich für die Rückeroberung des Imperiums, besetzte Sizilien, Neapel und Rom. Justinians »katechontischer« Versuch, das Imperium Romanum auf dem Weg der Rückeroberung wiederherzustellen, war also mit Belisar und Narses zwischenzeitig sehr erfolgreich. Belisar ereilte aber »das Geschick, das allen bedeutenden Feldherrn der Spätantike drohte. Er wurde 562 zum dritten Male einer Verschwörung verdächtigt, in Haft genommen und starb im März 565. Seine Güter wurden vom Kaiser eingezogen. Der spätere Volksroman über Belisar hat den Sturz des Generals dramatisiert. Vom Kaiser geblendet, hätte Belisar sich sein Brot in den Straßen Konstantinopels erbetteln müssen.« 10

In der barocken Malerei der absolutistischen Neuzeit wurde dieses Sinnbild vom Ende des Feldherrn oft gemalt. Belisars Ende war demnach nicht weniger schmählich als dasjenige Gelimers. Der oströmische Historiker Prokopios von Caesarea (um 500– 562), ein gelehrter Diplomat und Berater Belisars, wahrscheinlich oströmischer Christ, überlieferte die Geschichte von Belisar und Gelimer als Teil der Kaisergeschichte Justinians. Außer acht schon von Alexander Demandt, Geschichte der Spätantike. Das Römische Reich von Diocletian bis Justinian, München 1998, 171; zu Justinian jetzt auch Lutz Berger, Die Entstehung des Islam, München 2016, 45 ff., 65 f. 9 Demandt, Geschichte der Spätantike, 171 10 Demandt, Geschichte der Spätantike, 175 8

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IX. · Das Lachen der Besiegten. Carl Schmitt und Gelimer

Hugo Grotius aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzten »Büchern über den Krieg« (die Perserkriege, Vandalenkriege und Gotenkriege Justinians) sind von Prokopios noch die Anekdota oder Geheimgeschichten (Historia Arcana) vom skandalösen und verworfenen Leben und Charakter Justinians und seiner Frau Theodora sowie die »Bauten« (De Aedificiis), eine panegyrische Lobrede auf Justinians Wirken überliefert. Prokopios wurde das Widerspiel der Geheimgeschichten und Elogen auf Justinian immer wieder vorgeworfen, obgleich sich Kriegsgeschichte, Herrscherlob und Skandalbiographie nicht unbedingt widersprechen müssen. Apologie und Dekonstruktion gehen in der Herr-Knecht-Dialektik oft Hand in Hand. Prokopios war aber ein echter Zeuge mit historiographischem Abstand, kein unkritischer Apologet der Reichspolitik Justinians. Schmitt zitiert Gelimers Lachen aus Prokops Vandalenkriegen (Buch IV.7). Geschichtspolitisch wirksam und populär wurde dieses Bild von den Vandalenkriegen und letzten Schlachten des Imperiums aber um 1900 durch Felix Dahn (1834–1912). Dahn war ein veritabler Rechtshistoriker, Ordinarius in Würzburg, Königsberg und Breslau. Schon in seiner umfangreichen, Theodor Mommsen gewidmeten Prokopios-Monographie 11 von 1865 verwies er die »quellenmäßige Erforschung des deutschen Staatslebens und Staatsrechts« auf die »erschöpfende Kenntnis ihres Anfangs« 12 und erforschte die Institute des römischen Rechts, wie Mommsen, auch um kritischer Einsichten in das aktuale deutsche Staatsleben willen. Preußen stand damals vor der kleindeutschen Entscheidung gegen Österreich, und das wilhelminische Reich war noch nicht gegründet. Prokopios war für Dahn der »wichtigste Gewährsmann« der Geschichte der Germanen; er folgte dem Römer aber nicht in die Reichsapologie und skeptische Diagnose des kommenden Untergangs, machte sich vielmehr explizit zum »Richter« seiner »Weltanschauung« und kritisierte, dass Prokopios seine Sorge und seinen »Schmerz« um das »sinkende Römerthum« nicht »im religiösen Glauben zu überwinden« 13 vermochte. Dahn warf die historische Parallele zum spätantiken Untergang Roms seit den 70er Jahren dann mit nationalistischem Pathos und protestantischem Abstand geschichtspolitisch in das neue Reich und Klima Dazu vgl. Felix Dahn, Procopius von Caesarea. Ein Beitrag zur Historiographie der Völkerwanderung und des sinkenden Römertums, Berlin 1865 12 Dahn, Procopios von Caesarea, 3 13 Dahn, Procopios von Caesarea, 10 11

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Gelimer und Belisar

des Wilhelminismus. Auch sein »Kampf um Rom« (1876), ein Kampf gegen Rom, Markstein protestantisch-nationalistischer Verwertung des Germanendiskurses, 14 zehrte von Prokop. Dahn betrachtete die Endkämpfe des Imperiums aus der Perspektive des Untergangs der Goten. Seit den frühen 1880er Jahren publizierte er nicht weniger als dreizehn »kleine Romane aus der Völkerwanderung«. Als dritter Band dieser Reihe erschien Gelimer 1885. Dessen Leben hatte Dahn einige Jahre zuvor schon in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek mit wissenschaftlichem Anspruch skizziert. In der ADB schrieb Dahn über Gelimer: »Als er gefangen in Karthago eingeführt wurde, brach er in schallendes Gelächter aus: man hielt es für ein Zeichen des Wahnsinnes. Seine Freunde aber erklärten es als das bittere Hohnlachen über die Eitelkeit aller menschlichen Dinge, dass er, von königlichem Blut und selbst ein König, solchen Umschlag des Glücks erfahren. In dem glänzenden Triumph Belisar’s zu Byzanz wurde auch G. im Purpurmantel mit seinen Gesippen gefangen aufgeführt. Als er bei dem Eintritt in das Hypodrom den Kaiser auf hohem Thron sah und die ganze Tiefe des eigenen Falls erkannte, da weinte und klagte er nicht, sondern rief immer wieder den Spruch Salomon’s: ›Eitelkeit der Eitelkeiten. Alles ist eitel.‹ Vor dem Thron legte er den Purpur ab und warf sich vor Justinian zur Erde. Er erhielt mit seinen Verwandten reiche Güter in Galatien, aber nicht den versprochenen Patriciat, weil er sich weigerte, aus dem Arianismus zum Katholizismus überzutreten.« 15

Prokop trennt hier deutlich zwischen der Gefangennahme Gelimers am Berg Papua, dem Lachen vor Belisar nahe Karthago und der religiösen Klage vor Justinian beim Triumphzug Belisars in Byzanz. Prokop charakterisiert Gelimer etwas verzeichnend aus der Sicht Belisars als »schwächlichen Phantasten«, »schicksalsgebeugten Dulder« und »gefühlsbetonten Skeptiker«. 16 Als Chronist schildert er Gelimers Lachen. In der von Schmitt verwandten englischen Übersetzung heißt es: »And it happened that Belisarius was staying for a time in the suburb of the city which they call Aclas. Accordingly Gelimer came before him in that place, laughing with such laughter as was neither moderate nor the kind one could conceal, and some of those who were looking at him suspected Dazu ausführlich Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, 147, 197, 200 ff. 15 Felix Dahn, Stichwortartikel Gelimer, in: ADB 8 (1878), 539–543, hier: 542 f. 16 So Otto Veh, Einführung, in: Prokop, Vandalenkriege, München 1971, 380, 381 und 417 14

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IX. · Das Lachen der Besiegten. Carl Schmitt und Gelimer

that by reason of the extremity of his affiction he had changed entirely from his natural state an that, already beside himself, he was laughing for no reason. But his friends would have it that the man was in his sound mind, and that because he had been born in a royal family, and had ascended the throne, and had been clothed with great power and immense wealth from childhood even to old age, and then being driven to flight and plunged into great fear had undergone the sufferings on Papua, and now had come as a captive, having in his way had experience of all the gifts of fortune, both good and evil, for that reason, they believed, he thought that man’s lot was worthy of nothing else than much laughter.«

Der Chronist bemerkt zur Bedeutung dieses Lachens nüchtern: »Now concerning this laughter of Gelimer’s, let each one speak according to his judgment, both enemy and friend.« 17 Erst Dahn gibt Gelimers Lachen in seinem historischen Roman eine dramatische und interpretative Schlüsselbedeutung, indem er seinen Roman, anders als Prokopios’ Bericht, mit der Frage nach der Bedeutung des Lachens enden lässt. Dahns historischer Roman über den edlen König und Helden Gelimer, vom Feldherrn Belisar und Verrat des katholischen Bischofs von Karthago besiegt, endet mit dem »gellenden Lachen« und der »Verzweiflung« oder »Frömmigkeit« Gelimers vor Belisar, ohne sein weiteres Schicksal – den Einzug als Gefangener in Byzanz, die Szene vor Justinian oder sein späteres Leben in der Verbannung – zu erzählen. »›Ist nun dies das letzte Wort des Christentums?‹«, fragt der IchErzähler am Ende des Romans. Und Belisar antwortet: »›Nein, das ist Wahnsinn‹ […] An Bord! Und zum Triumphzug – nach Byzanz!« 18 Dahn sucht hier eher einen ironischen und religionspolitischen als einen nationalistischen Schluss. Gegen Prokopios sucht er den christlichen Sinn. Vielleicht übernahm Schmitt seine Gelimer-Anekdote von Dahm. Sie passte jedenfalls in sein Geschichtsbild von der »großen Parallele« zwischen der Gegenwart und urchristlichen Spätantike. Ein echter Märtyrer war Gelimer zwar nicht. Auch sein relativ unspektakuläres Ende im Exil eignete sich aber zur Identifikation, lebte Schmitt doch nach 1945 noch 40 Jahre als Privatier in seiner Plettenberger Heimat. Der Verdammung des Vandalismus setzte er seine anekdotische Rehabilitierung des letzten Vandalenkönigs entgegen. History of The Wars IV, 7, hrsg. Henry B. Dewing u. Glenvielle Downey, London 1916, Bd. II, 269 18 Felix Dahn, Gelimer. Historischer Roman aus der Völkerwanderung, 1885, in: Werke Bd. IX, Leipzig 1898, 328 17

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X. Carl Schmitts Hamlet-Stilisierung

Carl Schmitt gibt reichlich Stoff für einen veritablen Schelmenroman. Er bietet so ziemlich alles, was man sich hier wünschen kann: Theorie und Praxis, Aufstieg und Fall, falsche Gräfinnen, exzentrische Freunde, subtilen Eros und krasse Sexualität, hohe Politik, Schurken und Verbrecher, gefährliches Spiel, Intrige und Sturz, Überleben, Verhaftung und Verdammnis, legendären Ruhm. Andererseits ist der Roman dieses Lebens heikel und vermint. Kann der Biograph seinem schwarzen Helden in seiner Andersartigkeit gerecht werden? In einem Radiointerview meinte Schmitt am 1. Februar 1933, einen Tag nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler: »Meine Arbeit erhält ihren Sinn dadurch, dass ich nichts anderes bin als ein Organ dieses substanzhaften Rechtes des konkreten Volkes, dem ich angehöre.« 1 Er suche »die Verbundenheit mit dem eigenen Volke, die Teilhabe, die Partizipation bis in die äußersten, sublimsten Spitzen geistigen Lebens hinein«. 2 Franz Blei, bis 1933 ein enger Freund, erinnert Schmitt 1930 noch wie den geflügelten Amor von Caravaggio als ein »in jedem Nerv gespanntes, von eindringlichen Augen überleuchtetes Gesicht, der Mund wie mit dem Lächeln eines Knaben geladen« 3. Bald wird er ihm dann als Verräter erscheinen: »Wie konnte dieser römische, rheinländische, gänzlich unromantische Katholik, der die klassische Schrift ›Römischer Katholizismus und politische Form‹ geschrieben hat, dem Leviathan Staat unterliegen? Wie dieser Gegner der politischen Romantik einem politischen Sensationsroman des geängstigten Kleinbürgers?« 4 »Der in der ›Diktatur‹ den Satz schrieb: ›Unter dem Vorwand, die Ordnung wieder herzustellen, wird eine grenzenlose Gewalt ausgeübt, und was früher Freiheit genannt wurde, heisst jetzt AufCarl Schmitt, Ein Rundfunkgespräch vom 1. Februar 1933, in: Piet Tommissen, Over en in zake Carl Schmitt, Brussel 1975, 113–119, hier: 115 2 Schmitt, Ein Rundfunkgespräch, 117 3 Franz Blei, Erzählung eines Lebens, Leipzig 1930, 494 4 Franz Blei, Zeitgenössische Bildnisse, Amsterdam 1940, 20 f. 1

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X. · Carl Schmitts Hamlet-Stilisierung

ruhr‹, der kann nicht mit gutem geistigem Gewissen heute den Satz schreiben von ›der Artgleichheit des in sich einigen deutschen Volkes‹«. 5

Waldemar Gurian sah es ähnlich. Auch er betrachtete Schmitt im Nationalsozialismus als zynischen Spieler. Nach der Führerapotheose zum 30. Juni 1934, dem Artikel Der Führer schützt das Recht, schrieb er: »Man kann annehmen, dass der Kronjurist des III. Reiches seiner ganzen Vergangenheit nach den Nationalsozialismus nicht ernst nimmt, sondern nur als Mittel für persönliche Zwecke benutzt.« 6 Ähnlich äußerte sich Gottfried Salomon 7 1938. Das geläufigste »Urwort« über Schmitt ist der »okkasionelle Dezisionismus«. Gemeint war der opportunistische Wendehals, der sein Fähnlein strategisch nach dem Wind ausrichtete. Löwith zog es von Schmitts Romantikkritik ab und münzte es um; er wählte 1935 die Strategie »Carl Schmitt gegen Carl Schmitt«, ließ Schmitt über seine eigenen Begriffe und eigene Vergangenheit stolpern. Für eine Festgabe an Ernst Jünger gab Schmitt im November 1954 folgende Autorangaben: »C. S. geb. 1888 in Plettenberg (Westfalen), studierte in Berlin, München und Strassburg, habilitierte sich 1916 in Strassburg, verlor infolge des Ausgangs des ersten Weltkriegs seine Dozentur; von 1921–1945 ordentlicher Professor des öffentlichen Rechts in Greifswald, Bonn, Köln und Berlin; 8 1933 Preußischer Staatsrat; verlor 1945 infolge des Ausgangs des zweiten Weltkriegs seinen Lehrstuhl und lebt seit 1947 in Plettenberg (Westfalen). Drei Hauptwerke: Die Diktatur 1921; Verfassungslehre 1928 (Neudruck 1954); Der Nomos der Erde 1950.« (BS 183)

Blei, Zeitgenössische Bildnisse, 29 Waldemar Gurian, Carl Schmitt, der Kronjurist des III. Reiches, in: Deutsche Briefe 1934–1938. Ein Blatt der katholischen Emigration, Bd. I, Mainz 1969, 52–54, hier: 54; auch Helmut Quaritsch, Schmitt noch eng verbunden, hat für den erstaunlichen »Niveauverlust« des Werkes im Nationalsozialismus vor allem zwei Überlegungen: »Der ideologische Konvertit Schmitt meinte alle anderen Juristen in ›Führertreue‹ und Antisemitismus übertreffen zu müssen. Oder er legte in seine Bekenntnisse bewusst so viel byzantinische Übertreibung hinein, dass sie bei näherer Betrachtung den Adepten als Narrenjubel und Nonsens-Proskynese erkennbar wurden […] Ein solches Spiel im Spiel, getrieben bis zu einer ›Parodie von sich selbst‹, ist Carl Schmitt zuzutrauen.« (Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1989, 101) 7 Gottfried Salomon, Staatsrecht in Deutschland, in: Emil Julius Gumbel (Hg.), Freie Wissenschaft. Ein Sammelbuch aus der deutschen Emigration, Strasbourg 1938, 174– 189 8 Seine hauptamtliche Münchner Dozentur an der Handelshochschule 1919 bis 1921 galt formal nicht als Professur. 5 6

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»Ich denke das genügt«, fügte er seinem Brief an Mohler hinzu; »die 3 Bücher können Sie streichen. Doch finde ich ihre Erwähnung nicht schlecht. Die Identität mit dem Schicksal Deutschlands, die Einheit von wissenschaftlichem Beruf und Schicksal wird deutlich genug in diesen Daten.« (BS 183) Als Mohler eine Kürzung der biographischen Angaben wünscht, antwortet Schmitt: »Schließlich genügt: C. S. geb. 1888, weißer Rabe, der auf keiner schwarzen Liste fehlt.« (BS 186) Er sieht sich als »Unglücksrabe« und Sündenbock und knüpft eine verführerische Legende von seiner »Identität mit dem Schicksal Deutschlands«. Schmitt spiegelte sein bewegtes Leben ständig in Literatur. Schon früh sah er sich als Don Quijote 9 und Don Juan. Bald erlebte er sich als Othello. Er setzte seinem Werk weitere autobiographische Masken auf und verdeckte seine Positionen in geistesgeschichtlichen Spiegelungen. So ergriff er 1922 die gegenrevolutionäre Maske des Donoso Cortés und hielt sie fest. Er spiegelte seine Sicht und Rolle seit den frühen 30er Jahren dann verstärkt in Autoren der »kleinen« historischen Parallele um 1848: Lorenz von Stein, Bruno Bauer, Savigny, Tocqueville. Seine bekanntesten Identifikationen sind Machiavelli und Hobbes. Nach 1945 identifizierte er sich aber auch mit dem Vandalenkönig Gelimer und dem caesaropapistischen Kirchenhistoriker Eusebius. Summarisch solidarisierte er sich mit den Picaros und Partisanen der Neuzeit. Schmitt spiegelte sich seit den frühen 40er Jahren auch in Hermann Melvilles Novellengestalt Benito Cereno und betonte so eine Doppeldeutigkeit seiner Rolle im Nationalsozialismus: Cereno, der von außen als Kapitän eines Piratenschiffs erscheint, ist in Wahrheit die Geisel seiner Besatzung. »Pirat ist nach einer alten Auffassung immer das Schiff als Ganzes«, schreibt Schmitt 1945 dazu in seinem Rechtsgutachten über Das Verbrechen des Angriffskriegs: »Jeder, der auf dem Piratenschiff vorgefunden wird, wird als Pirat behandelt, wenn es nicht offensichtlich ist, dass er sich dort als Gefangener oder sonstwie als Opfer der Piraten aufhielt.« (VA 63) Begeistert schreibt er Ernst Jünger 1941 (JS 114 f., 118, 129) von seiner Entdeckung des »Situations-Symbols«. Mehrfach erwähnen beide die Novellengestalt im Briefwechsel. Jünger »verwertete« die Parallele dann 1947 in sei-

Carl Schmitt, Don Quijote und das Publikum, in: Die Rheinlande 12 (1912), 348– 350

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nem Reisebericht Atlantische Fahrt, 10 zu einem Zeitpunkt, als Schmitt noch von einer Anklage im Rahmen der Nürnberger Prozesse bedroht war und in Untersuchungshaft saß. Jünger veranlasste die Sendung eines Widmungsexemplars über Heinrich Gremmels. 11 Gremmels besuchte den inzwischen entlassenen Schmitt im Juli 1947 12 und übergab die Londoner Erstauflage der Atlantischen Fahrt. Die Widmung lautet: »Für Carl Schmitt, / Invitation au Voyage, / Ernst Jünger / Kirchhorst, / 12. 6. 1947.« Schmitts autobiographische Identifikationen sind im Werk mehr oder weniger exoterisch und esoterisch angedeutet und ausbuchstabiert. Manche sind aus seinen Publikationen gänzlich herausgehalten und allenfalls in Briefwechseln erwähnt. Vor allem zwei Identifikationen hat Schmitt in seinen Schriften aber eingehender umrissen: Donoso Cortés und Hamlet. Während der spanische Gegenrevolutionär dabei von der Mitwelt stets als Autorenmaske gelesen wurde, wurden Schmitts Hamlet-Studien selten als autobiographische Spiegelungen verstanden. Das Shakespeare-Büchlein Hamlet oder Hekuba wurde als merkwürdiges Seitenwerk und Pausenspiel vernachlässigt, obgleich es Schmitts eigenständigstes Projekt der 50er Jahre und seine wichtigste autobiographische Spiegelung seiner Rolle im Nationalsozialismus ist. Die Hamlet-Identifikation geht aus älteren Shakespeare-Identifikationen und der Beschäftigung mit Schillers Demetrius-Fragment hervor. 13 Das Hamlet-Büchlein handelt vom Schicksal des Katholizismus und »göttlichen Rechts des Königtums« (»dynastische Legitimität«), bearbeitet aber auch die eigene nationalsozialistische Erfahrung. Zwei echte »Einbrüche« der Geschichte hebt Schmitt hervor, die Shakespeare seinem Publikum dichterisch vorstellt: Shakespeare tabuisierte die Schuld der Königin und hamletiErnst Jünger, Atlantische Fahrt, London 1947, 68 (Erwähnung auf den 2. Dezember 1936 datiert); dazu vgl. den Kommentar von Detlev Schöttker zur Neuausgabe Stuttgart 2013, 103 f.; Schmitt bestand auf seiner allegorischen Interpretation auch gegenüber der historisch-philologischen Rekonstruktion des zeitgenössischen Kontextes, wie jetzt ein interessanter Briefwechsel eingehend zeigt: Martin Tielke (Hg.), Carl Schmitts Briefwechsel mit Marianne Kesting, in: Schmittiana III N.F. (2016), 251–316 11 JS 205; Handexemplar RW 265–22249; Gremmels war als »Leiter der Londoner Publikationsabteilung des ›Weltbundes der Christlichen Vereine‹« für den Zaunkönig-Verlag und die Publikation verantwortlich (dazu Schöttker, Nachwort Neuausgabe Stuttgart 2013, 193 ff.). 12 Dazu die Briefe Gremmels vom 10. und 21. 7. 1947 an Schmitt (RW 579, 116) 13 Dazu Verf., Friedrich Schillers »Demetrius«. Ein später Baustein zu Carl Schmitts Hitler-Bild, in: Kriegstechniker des Begriffs, Tübingen 2014, 111–136 10

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sierte den Rächer. Schmitt vergleicht die Öffentlichkeit des Dramas mit dem »Berliner Publikum des Jahres 1934« in der »damaligen Röhm-Affäre« 14 und deutet an, dass seine damaligen Artikel für eine »gemeinsame Öffentlichkeit« bestimmt waren, »nicht für irgendein neutrales oder fremdes Publikum und auch nicht für die Nachwelt geschrieben, sondern für die Mitwelt«, die das »durchsichtige incognito« (HH 39) durchschaute. In literarischer Spiegelung der eigenen Rolle im Nationalsozialismus erklärte er so, weshalb er, gewisse Tabus respektierend, überhaupt publizierte, und warum er keine konservative Kritik der Ereignisse schrieb, die im durchsichtigen Inkognito möglich gewesen wäre. Schmitt spricht von einer »Unvereinbarkeit von Tragik und freier Erfindung«: Anders als die antiken Tragiker ging Shakespeare nicht vom gemeinsamen Boden des Mythos aus, sondern schuf aus der dichterischen Erfassung der Zeitgeschichte einen neuen Mythos. Damit lehnt Schmitt auch Walter Benjamins scharfe Unterscheidung zwischen Trauerspiel und Tragödie ab. Benjamin schickte sein Trauerspiel-Buch 15 einst mit kurzem Dankesbrief. Mit Benjamins spätem Ruhm in der Bundesrepublik wird Schmitt diese Referenz zunehmend interessant. Er lehnt es aber ab, dass Benjamins scharfe Unterscheidung von antiker Tragödie und christlichem Trauerspiel das Politische aus dem christlichen Raum exkludiert: Nicht das Verhältnis zum Christentum, sondern die zeitgeschichtliche Substanz, der »Einbruch der Zeit ins Spiel«, erhebe das Spiel zur Tragödie. Schmitt liest Hamlet als »Situations-Symbol« und Modell politischer Kommunikation und Öffentlichkeit. Sein Hamlet-Essay trifft an die Stelle einer Melville-Studie, einer größeren Schiller-Arbeit, die Schmitt gelegentlich auch erwog, oder eines großen Buches über Shakespeare in der elisabethanischen Zeit, dem »Heldenzeitalter der maritimen Existenz«. Die offenste Spiegelung seiner Rolle als Hamlet hat Schmitt aber niemals publiziert. Am 21. Januar 1957 hielt er in Aachen einen Vortrag über Shakespeares Hamlet als mythische Figur der Gegenwart. 16 Wenige Tage zuvor war er Kojève in Düsseldorf begegnet und bald

Carl Schmitt, Vorwort, in: Lilian Winstanley, Hamlet. Sohn der Maria Stuart, Pfullingen 1952, 7–25, hier: 12 15 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Berlin 1928 16 Einladung des Aussen-Instituts der RWTH v. 8. Oktober 1956 (RW 265–557; dazu JS 320) 14

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danach referierte er im Ritter-Kolloquium in Münster über den gegenwärtigen »Nomos der Erde«. Ein zweiseitiges Einleitungstyposkript und eine ausführliche Vortragsdisposition 17 sind zum Aachener Vortrag erhalten; Schmitt spricht über Hamlet als »mythische Figur des europäischen Intellektuellen«, den das »Missverhältnis von Denken und Tun, die Lähmung durch Reflexion und Selbstbetrachtung« kennzeichne. Dabei interessiert ihn auch die mediale Perspektive: Das »Zeitalter der Massendemokratie« bedürfe einer »Art von ErsatzMythen« für das Massenpublikum. »Die Tagespublizistik bedarf ihrer und verwandelt echte Mythen in Slogans«. »Hamlet« werde da zum Disqualifikationstitel. Schmitt geht auf die Suez-Krise vom Herbst 1956 ein und greift das Beispiel des jüngsten amerikanischen Wahlkampfes auf. Bewusst nennt er aktuelle Beispiele, um den Vortrag nicht zu autobiographisch auf die eigene Rolle im Nationalsozialismus zu beziehen. Wenn er beiläufig aber auch auf Reichskanzler Brüning als »hamletische Figur« verweist, pflegt er Legenden vom eigenen Werk und Wirken, die erst durch die neuere Quellenlage zerstört sind: Schmitt war zwar ein Apologet des Präsidialsystems, niemals aber ein Anwalt Brünings. Brüning hatte Schmitts Avancen vielmehr abgelehnt. Und auch die starke Rede vom »Missverhältnis von Denken und Tun« trifft die Akteursrolle bis 1936 wohl kaum: Schmitts Politik war nicht gerade durch reflexive Hemmungen und Handlungslähmungen gekennzeichnet. Seine relative Ohnmacht und sein Sturz im Nationalsozialismus hatten eher andere Gründe. Schon die Selbstbeschreibung als »Intellektueller« kommt einem nachträglichen Rollenwechsel gleich, den Schmitt sonst stets zurückwies: Er verstand sich als Jurist, betonte seinen Akteurs- und Teilnahmestandpunkt und wollte kein »freischwebender« Intellektueller sein. Juden und Emigranten stigmatisierte er höhnisch als Die deutschen Intellektuellen. Am 31. Mai 1933 schrieb er in der Parteizeitschrift Westdeutscher Beobachter in einem seiner aggressivsten Hetzartikel: »Es gibt keinen einzigen großen Gelehrten, den man ernsthaft als einen Intellektuellen definieren könnte. In dem Wort liegt nun einmal etwas Herabsetzendes.« Und den Emigranten der ersten Stunde rief er als Schlusssatz nach: »Aus Deutschland sind sie

Vortragsdisposition RW 265–20313; Typoskript und Disposition RW 265–20311; umfangreiche Exzerpte und Materialsammlungen zur Hamlet-Deutung in RW 265– 21087

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ausgespieen für alle Zeiten.« 18 Wenn Schmitt sich nun 1957 in den Mythos vom europäischen Intellektuellen hineinschreibt und mit Hamlet identifiziert, lenkt er exkulpativ von der eigenen historischen Rolle ab. Sein Vortrag über »Hamlet als Mythos des Intellektuellen« geht historisch vor. Es sind zwei Dispositionen erhalten, die einander ergänzen, aber auch widersprechen. Die eine differenziert die Geschichte im 19. Jahrhundert ausführlicher, die andere, stärker stenographisch gehalten, schlägt einen weiteren Bogen bis in die Gegenwart. Die Linienführung des Exposés ist in Langschrift verfasst, an die stenographische Kommentare anschließen, die hier nicht berücksichtigt wurden. Im Kern zeigen beide Gliederungsentwürfe übereinstimmend, dass Schmitt über die Entwicklung des Hamlet-Mythos von der Aufklärung bis zur Gegenwart sprach, wobei er sich auf die Geschichte des »bürgerlichen« Intellektuellenmythos konzentrierte und besonders die deutsche und die französische Entwicklung berücksichtigte. Schmitt beginnt, dem Exposé folgend, im 18. Jahrhundert mit der Aufklärung, wobei er von Voltaire, Diderot und Rousseau auf Descartes, Hobbes und Spinoza zurückgeht und Goethes Werke als »Übergang« vom 18. ins 19. Jahrhundert auffasst. Im 19. Jahrhundert erörtert er die politische Romantik, Schlegel und romantische Hamlet-Deutungen und geht dann zur »politischen Aktualisierung Hamlets durch die liberale bürgerliche Revolution von 1848« über: zu den »Jungdeutschen« Heine, Börne, Freiligrath sowie Gervinus 19 als »wichtigstem Beitrag«. Anschließend erörtert er eine »Entpolitisierung« nach 1848, Abkehr von der »Situation« und Wendung zum »allegorischen Symbol«, die Schmitt auch an der Ablösung des Faust-Mythos durch den Hamlet-Mythos festmacht. Im nächsten Schritt beschäftigt ihn ein »Lösungsakt des bürgerlichen HamletMythos« seit dem Ersten Weltkrieg. Schmitt geht auf Hofmannsthal und auf den Literaturkritiker Julius Bab ein, 20 den er persönlich kannte, sowie auf die Psychoanalyse, wobei er den »Hamlet-Komplex« mit dem »Ödipus-Komplex« vergleicht. Er erörtert dann eine »Identitäts-

Carl Schmitt, Die deutschen Intellektuellen, in: Westdeutscher Beobachter 9 (1933), vom 31. Mai 1933, 1 f., hier: 2 19 Georg Gottfried Gervinus, Shakespeare, 4 Bde., Leipzig 1849/50 20 Julius Bab, Fortinbras oder der Kampf des 19. Jahrhunderts mit dem Geiste der Romantik, Sechs Reden, 2. Aufl. Berlin 1921 18

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krise Europas« insbesondere bei Paul Valery: »Europa ist Hamlet«, die durch eine »Identitätskrise der Westlichen Welt« abgelöst werde. Im zweiten, evtl. älteren Steno-Entwurf thematisiert Schmitt auch die Dreyfuß-Affäre vor 1914. Der Entwurf schreibt die Geschichte nach 1918 näher aus: Er geht vom »Sieg des marxistischen Kommunismus in Russland« und von der Sowjetunion aus und analysiert dann die »scharfe Trennung von bürgerlichen und marxistischen Intellektuellen«. Schmitt unterscheidet zwei Linien: die marxistische und die bürgerliche »Position«. Er kritisiert zunächst den marxistischen Intellektuellen als Träger des »Fortschritts«: Lenin als »Urbild« und Bert Brecht als weiteres »Dokument«. Dann geht er zu den »bürgerlichen Ländern« über und analysiert die Entwicklung des »Hamlet-Bildes« in Deutschland, England und den USA. Zuletzt erörtert er den »heutigen Weltzustand« und »Nomos der Erde. Die Intellektuellen seien heute »eingepasst«. »Ihr alter Mythos ist zu Ende«, konstatiert Schmitt und bezieht sich auf die Kritik von Raymond Aron. 21 »Ich sprach von Hamlet als einem geschichtlichen Mythos«, meint er abschließend. Damals schreibt er eine – zum Geburtstag am 11. Juli 1956 ins Glossarium (GL 349) verzeichnete – »Hieroglyphe der Westlichen Welt« gerne in Widmungsexemplare hinein. Sie nennt Deutschland, Europa, die ganze Welt Hamlet. Schmitts Vortragsdisposition ist eine Vorgabe für eine Biographie: Carl Schmitt als Hamlet in der Geschichte des bürgerlichen Intellektuellen, in der Spannung von »Geist und Macht«. Der Vortrag analysiert gewissermaßen die Situation, für die Hamlet das »Symbol« wurde. Schmitt spricht erneut vom Sinn und Schicksal oder Fehlschlag eines Symbols: diesmal des Intellektuellen. Einiges schreibt er damals auch in die Glossen seiner Verfassungsrechtlichen Aufsätze hinein: insbesondere die Rolle der Intellektuellen beim Schritt von der Legitimität zur Legalität und der Politisierung der Legalität zur »vergifteten Waffe« (VRA 450). Schmitt betrachtet sich erneut als »Gegenrevolutionär«, deutet die Gegenrevolution aber nun als gescheiterte »bürgerliche« Antwort auf die marxistische Herausforderung. Schmitt sieht sich nach 1945 nicht nur im Nationalsozialismus gescheitert. Auch über sein »Comeback« als Autor ist er unzufrieden. Die Resonanz seines Hamlet-Büchleins enttäuscht ihn. Im Hause des Raymond Aron, Opium für Intellektuelle oder Die Sucht nach Weltanschauung, Köln 1957

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Verlegers Diederichs eröffnet er am 12. Juni 1956 22 zum Erscheinen des Bändchens deshalb einen Diskussionsabend mit einer motzigen Erklärung: »Was habe ich getan?« Er analysiert die negative Aufnahme seiner Schrift und findet die Antwort im »Tabu des autonomen Kunstwerks«, an dem er gerüttelt habe. Schmitts – auf Anfrage Tommissens 23 – 1957 publizierte Erklärung lenkt in hermeneutische Fragen ab. Die wahre Esoterik der Schrift liegt aber in der zeitgeschichtlichen Spiegelung, die Schmitt sucht: der Parallele zur eigenen Lage. Die Hamlet-Deutung markiert einen Abschluss esoterischer Rechenschaft vom Nationalsozialismus. Jünger bemerkt dazu leicht ironisch: »Ich glaube, dass bei Ihnen immer Nebenabsichten vermutet werden, auch wenn Sie über ein Glas Wasser schreiben. Wer hat, dem wird gegeben, und sie bekommen noch Scharfsinn zugelegt.« (JS 308)

Dazu Diederichs zustimmender Brief vom 2. Juni 1956 an Schmitt (RW 265– 16998); Diederichs rechnet mit 40/50 Hörern. 23 Tommissens Bitte vom 22. August 1952 um einen Beitrag für die Zeitschrift Dietsland-Europa (RW 265–16162); Schmitt verteilt von Hamlet oder Hekuba über 100 Exemplare und auch das Exposé fast 100 Mal. Beides leitet er beispielsweise auch Jacob Taubes zu; Andreas Höfele (Der Einburch der Zeit: Carl Schmitt liest Hamlet, München 2014) bestätigt die autobiographische Lesart, wenn er Schmitts historische (Winstanley-) These zurückweist und Schmitts »Hamlet-Mythos« als Fortsetzung seiner Katechon-Spekulationen deutet. Zur Stellung im rechtsintellektuellen Hamlet-Diskurs jetzt Andreas Höfele, No Hamlets. German Shakespeare from Nietzsche to Carl Schmidt, Oxford 2016. 22

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Teil III: Wechselwirkungen

Zwei Jahrzehnte kostest du mir, zehn Jahre verlohr ich Dich zu begreifen und zehn, mich zu befreyen von dir. 1

Xenien 1796. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs, hrsg. Erich Schmidt / Bernhard Suphan, Weimar 1893, 43

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XI. »Steine als Geschenk«. Ernst Rudolf Hubers verfassungstheoretische Revision von Schmitts »Dezisionismus«

1.

Konstitutionalismus ohne »Verfassungsidee«?

Die Steuerungskompetenz der Politik scheint heute so eng begrenzt zu sein, dass mancher zweifelt, ob die politischen Kräfte und Konflikte überhaupt noch zu zügeln sind und politische Ordnung qua Verfassung möglich ist. Die alte Frage des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, ob wir in »guter« Verfassung sind, im Mai 1989 beim Staatsakt zur Feier von 40 Jahren Grundgesetz gestellt, erscheint heute fast schief. Das nationale Gemeinschaftspathos eines kollektiven Habitus oder einer Mentalität ist fraglich und Recht und Verfassung, heute stark internationalisiert, werden von den Akteuren in kurzatmigem Krisenmanagement extensiv gedehnt. Die Ansprüche an Antworten und Lösungen werden ermäßigt und schon das »muddling through« 1 erscheint als »realistische« Lösung und nachhaltiges Ergebnis. Am 24. August 2015 erklärte die Bundeskanzlerin an der Seite des französischen Staatspräsidenten Hollande, nach fremdenfeindlichen Ausschreitungen, zur Flüchtlingsfrage: »Es gibt Momente in der europäischen Geschichte, wo wir vor außergewöhnlichen Situationen stehen. Heute ist das so eine außergewöhnliche Situation, aber eine außergewöhnliche Situation, die anhalten wird, so lange die Krisen nicht gelöst sind. Wir sollten nicht warten und nicht nur Tag für Tag versuchen, diese Situation zu handhaben. Wir müssen uns organisieren und unsere Politik absprechen. Das schlagen Deutschland und Frankreich vor.« 2 Merkels Worte wurden oft aufgegriffen und Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Frankfurt 2014, 221 www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/08/ 2015-08-24-pressestatements-merkel-hollande.html; Frankreich erklärte nach den Anschlägen vom November förmlich den Ausnahmezustand, der zuletzt nach dem schweren Anschlag vom 14. Juli 2016 (am Nationalfeiertag) verlängert wurde und aktual gilt.

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kritisiert. Nach den Pariser Terroranschlägen vom 13. November 2015 erneuerte Merkel ihre Worte dennoch, indem sie sich beim Staatsakt für den verstorbenen Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt, am 23. November, mit dem Krisenmanager der Hamburger Sturmflut von 1961 identifizierte. Sie bestätigte dabei Metaphern von Dammbruch und Flut und schob rechtsstaatliche Bedenken beiseite, die man schon in der Erklärung vom August vermisst hatte; sie begrüßte, dass Schmidt handelte, obgleich er »verfassungsrechtlich nicht dazu befugt« war, die Bundeswehr zu Hilfe zu rufen. Emphatisch meinte sie: »Damit lebte er [Schmidt] vor, dass außergewöhnliche Situationen außergewöhnliche Maßnahmen erfordern. Und er lebte vor, was es bedeutet, in einer solchen Situation Verantwortung zu übernehmen.« 3 Merkel beantwortete ihr Diktum von der »außergewöhnlichen Situation« in der Bundespressekonferenz vom 31. August 2015 mit ihrer mehr oder wenigen spontan improvisierten Schaffensphrase »Wir schaffen das!«, die zu einem Schibboleth wurde, an dem sich die Debatten und Geister scheiden. Wer schafft hier was? Am 7. September 2016 verkündigte die Kanzlerin im Deutschen Bundestag erneut prophetisch: »Deutschland wird Deutschland bleiben!« Wenn das keine Tautologie oder Plattitüde bezeichnet, ist es offenbar falsch. Hohle Phrasen verselbständigen sich in der politischen Agenda aber leicht zu Eigentoren. Nach verlorenen Landtagswahlen hat Merkel ihre Schaffensphrase am 19. September 2016 denn auch als »Endlosschleife« öffentlich bedauert. Nach dem Anschlag vom 19. Dezember 2016 in Berlin fordert sie nun einen »starken Staat«. Namhafte Juristen äußerten in letzter Zeit immer wieder ernste Sorgen über den Umgang der europäischen Politik mit der Rechtsund Verfassungsstaatlichkeit. So schreibt heute, 2016, der amtierende Präsident des Bundesverfassungsgerichts: »Die Krise scheint die neue Normallage der Politik […] Indes: Eine Ordnung kann nicht dauerhaft im Modus der Krise operieren. Gesellschaft ist nur dort möglich, wo Regel und Ausnahme als solche erkennbar sind.« 4 Vosskuhle plädiert hier, politisch zurückhaltend, nur vage für eine »Verfassung der Mitte« und »Dogmatik der Verhältnismäßigkeit«. Vielleicht brauchen wir heute erneut einen weiten Verfassungswww.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Rede/2015/11/2015-11-23-merkel-staatsaktes-helmut-schmidt.html 4 Andreas Vosskuhle, Die Verfassung der Mitte. Themenheft 101 der Siemens-Stiftung, München 2016, hier: 7, 9 3

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begriff, der die Frage nach den »verfassungbildenden Kräften« im Bewusstsein des prekären Guten stellt. Hoffentlich sehen wir diese Frage dann nicht mehr allzu eilfertig im dogmatischen Bewusstsein überlegener Antworten und Lösungen und halten auch unsere »normativistischen« Vorurteile, Optionen und Wünsche zurück. Bei solcher Verfassungssuche und solchem »Ordnungsdenken« wäre Ernst Rudolf Huber dann vielleicht eine Alternative zu Carl Schmitt. Hubers jugendbewegten Glauben an die deutsche »Nation« und die Kraft der konstitutionellen Bewegung teilen wir aber nicht mehr. Sein starker verfassungstheoretischer Idealismus, wonach »Ideen« als eigendynamische Kräfte und »Gestalten« Verfassung machen, ist uns fremd geworden. Unser Schlusswerk hieße nicht »Nationalstaat und Verfassungsstaat«. Wie könnte ein Titel lauten, der die Dynamik der neueren konstitutionellen Bewegung in Such- und Zielbegriffe einfängt? Die verfassungsbildende Kraft von »Volk« und »Nation« war Hubers jugendbewegte Hoffnung. Die »Kontinuität des deutschen Verfassungsstaates« musste ihm nach 1918 und 1945 aber aus der Perspektive des »Verfassungsnotstandes« fragwürdig sein. Sein Spätwerk fundiert den Verfassungsstaat deshalb auch terminologisch in der »Kulturverfassung«. 5 Sein Verhältnis zur Nationalkultur war synoptisch und holistisch, entelechistisch und harmonistisch. Huber verstand Nationalkultur als die Geschichte der Selbstauslegung der Einheit und Ganzheit eines Volkes. 1903 geboren, prägte ihn, anders als Schmitt oder Heidegger, nicht mehr der expressionistische Aufbruch zur »klassischen« Avantgarde. Er hatte kein polemisches Verhältnis zur Nationalkultur und spielte Hölderlin nicht als Dichter des 20. Jahrhunderts gegen den »bürgerlichen« Neuhumanismus Goethes aus. Bei der Wiedereröffnung der »Reichsuniversität« Straßburg pries er Herders Durchbruch zum »gesamtdeutschen« Volksbewusstsein und Hegels »Gleichsetzung von Volk und Staat«. Die »totale« Verstaatlichung des Volkes habe zwar ihre »Gefahren«, die europäische Durchsetzung dieses Volksstaats sei aber gerade »im deutschen Elsass« wieder aufzunehmen. 6 Parallel dazu schrieb Huber am 7. Dezember 1941 an Schmitt über die elsässischen Studenten: »Die junDazu Ernst Rudolf Huber, Bewahrung und Wandlung. Studien zur deutschen Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Berlin 1975 6 Ernst Rudolf Huber, Aufstieg und Entfaltung des deutschen Volksbewusstseins, Leipzig 1942 5

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gen Leute wissen nichts von deutscher Geschichte, nichts von deutscher Literatur, nichts von der deutschen politischen Entwicklung der letzten 25 Jahre – und es fehlen deshalb alle Assoziationen, auf die das Kolleg angewiesen ist.« (CSHU 296) Die briefliche Aussage revoziert den Festvortrag: An einen neuen Aufstieg und eine neue Entfaltung deutschen Volksbewusstseins im besetzten Elsass konnte Huber nach seiner brieflichen Feststellung eigentlich selbst kaum glauben. Die nationalistische und »völkische« Phrase musste ihm unglaubwürdig sein. Mehrfach deutet Schmitt in der Korrespondenz an, dass ihm gerade die »Aufsätze über Goethe und ähnliches ziemlich fremd geblieben« (CSHU 332) seien. Der Unterschied der Temperamente lässt sich schon im Verhältnis zur Nationalkultur sehen: illusionistischer Holist hier und Spalter dort. In den verfassungstheoretischen Kategorien hieße das: Ordnungssucher hier und polemischer Dezisionist dort. Huber erscheint uns heute als politischer Romantiker und Idealist. Die nationalistische Einheitsrhetorik scheint seine verfassungstheoretischen Einsichten völlig zu überblenden. Als Jurist analysierte er immer im Raum der Antwort. Offenbar setzte er auf den Nationalsozialismus als Antwort. Das »Büßerwerk« seiner monumentalen Verfassungsgeschichte wurde zwar als vorsichtige Verteidigung der konstitutionellen Monarchie gelesen. Die Huber-Debatte der 70er Jahre, von Hans Boldt 7 mit initiiert und von Böckenförde dokumentiert, 8 bezog sich aber nur auf die ersten Bände. Die letzten haben, soweit ich sehe, keine größeren Debatten mehr angestoßen. Huber schloss 1984 mit dem Untergang Weimars, den er ein halbes Jahrhundert zuvor, »nach dem Fehlschlag von 1932« (CSHU 564), leidenschaftlich begrüßt und beschleunigt hatte. Sicher optierte er mit seinem Spätwerk nicht für die konstitutionelle Monarchie als Alternative zur parlamentarischen Demokratie. Sein Werk zeigt eine Suchbewegung der Spannung von Verfassungsidee und Verfassungswirklichkeit, »Volk« und Verfassung. Die breite Klaviatur der Verfassungssemantik und großen Worte Hans Boldt, Verfassungskonflikt und Verfassungshistorie. Eine Auseinandersetzung mit Ernst Rudolf Huber, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert, Berlin 1975, 75–102; ders. Rezension: Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), 252–271; vgl. auch ders., Einführung in die Verfassungsgeschichte, Düsseldorf 1984 8 Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1914), 2. Aufl. Königstein 1981 7

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und Formeln lotete niemand sonst so wortreich aus. Kein anderer hat aber den Prozess der Konstitutionalisierung auch so differenziert beschrieben. Hubers Werk harrt heute in seinen Fragen und Antworten noch der detaillierten Wiederentdeckung. Die Apologie des Nationalsozialismus ist dabei undiskutabel: Niemand musste sich als Jurist derart aus dem Fenster lehnen, wie Schmitt und Huber es taten. Auch hätte Huber sich in die Verfassungsgeschichte oder beredtes Schweigen zurückziehen können. Die Weihen des Verfassungsbegriffes, die er dem Behemoth überzog, waren peinlich und fatal. Man sollte die damaligen »Rechtfertigungen des Unrechts« aber nicht unterkomplex als »Vereinheitlichung von Recht und Moral« 9 kategorisieren. Wenigstens zwischen Moral, Politik und Recht wäre zu unterscheiden. Statt von »Moralisierung« wäre in erster Annäherung auch besser von »Politisierung« zu sprechen, und die Strategien und Formen der Politisierung des Rechts wären differenziert zu betrachten. Juristen pflegen nicht die Sprache der Moral, sondern orientieren sich an der Legalität. Dabei unterstellen sie die Legitimität des Rechtssystems im Ganzen gegenüber Inkonsequenzen und Unregelmäßigkeiten im Detail. Das Ethos des Juristen 10 besteht gerade in der Selbstrelativierung und Distanzierung der eigenen moralischen Urteile und Intuitionen zugunsten der kollektiven »Sittlichkeit« und Verrechtlichung normativer Standpunkte. Moralische Disqualifizierungen juristischen Handelns sind deshalb heikel. Solange Rechtswissenschaftler als – mehr oder weniger extensive – Ausleger der Legalität sprechen, ist ihr Urteil als Rechtsurteil gegen moralische Vorhaltungen immunisiert. Juristen fügen sich der Legitimität und Legalität. Und die Legitimität der Legalität liegt dabei bisweilen nicht so einfach, dass Recht und Moral eindeutig zu unterscheiden wären. Huber war kein Politiker, sondern Jurist. Er vertrat allerdings eine dezidiert politische Verfassungslehre und ein Recht auf Revolution. Wo Schmitt Liberalismus und Demokratie antithetisch spannte und einem plebiszitär legitimierten Caesarismus zuneigte, fügte er den »Nationalismus« 11 als politische Idee hinzu. Den älteren NatioSo Herlinde Pauder-Studer, Einleitung, in: dies / Julian Fink (Hg.), Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken des Nationalsozialismus in Originaltexten, Frankfurt 2014, 15–135, hier: 134; vgl. auch Christoph Möllers, Ernst Rudolf Hubers letzte Fußnote. Die normative Ordnung des Nationalsozialismus und die Grenzen der Kulturgeschichte, in: Idee. Zeitschrift für Ideengeschichte (2016), Heft 1, 47–64 10 Dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Vom Ethos des Juristen, Berlin 2011 11 Ernst Rudolf Huber, Vom Sinn der Verfassung, Hamburg 1935 9

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nalliberalismus rechtfertigte er dezidiert nationalistisch. 12 Er argumentierte aber vergleichsweise unpolemisch mit starken Linien und Begriffen. »Verfassungsideen« sind hermeneutische Konstrukte, Ziel- und Sinnbestimmungen ex post von der nachträglichen Rekonstruktion her. Der Holismus der Einheitsbehauptung und die nationalistische Emphase hat das Verfassungsdenken lange kontaminiert. Welcher Idee und Ordnung des »Reiches« Huber genau zuneigte und welchen Kreisen er sich vor und nach 1945 eigentlich verbunden fühlte, lässt sich im Gebirge des Werkes oft nur schwer sagen. Seine elegant geschwungene Prosa hat etwas Elegisches. Huber war ein jugendbewegter Nationalist aus der »Generation des Unbedingten«. Als Meisterschüler Schmitts war er auch dessen Zauberlehrling: Vor 1933 schon suchte er Schmitt verfassungstheoretisch besser zu verstehen als dieser sich selbst. Dabei warf er eine zentrale Forschungsfrage auf: die Frage nach dem Verhältnis von Entscheidung und Ordnung. Seine frühe Revision von Schmitts »Dezisionismus« blieb für sein weiteres Verfassungsdenken leitend, wie hier gezeigt werden soll.

2.

Der Bonner Schüler

Huber wurde 1903 in Oberstein geboren, das damals als Exklave des Großherzogtums Oldenburg staatsrechtlich zur preußischen Rheinprovinz gehörte. Der dortige Bergbau lieferte auch Kristalle und Edelsteine. Als Huber seine Dissertation abschließt, bittet Schmitt ihn um den Ankauf von Edelsteinen, die Huber umgehend »als Geschenk« (CSHU 51) besorgt und die Schmitt, trotz anfänglicher Weigerung, letztlich 13 annimmt. Diese fragwürdige Gabe ist wie ein anfängliches Symbol der Beziehung. Hubers Verhältnis zu Schmitt war höchst ambivalent. Einerseits sah er sich immer als Schmitts Schüler an und andererseits sah er doch nicht nur manche charakterliche Makel, sondern empfand dessen Politisierung des Verfassungsdenkens auch als Verhängnis. Huber sah in Schmitt den Quartiermacher seines fa-

Für die nationalistische Verteidigung des Nationalliberalismus etwa Ernst Rudolf Huber, Friedrich Christoph Dahlmann und die deutsche Verfassungsbewegung, Hamburg 1937 13 Dazu Schmitts Brief vom 28. 3. 1931 (CSHU 79): »Einen der schönen Amethyste […], den Sie mir einmal schenkten, habe ich verloren.« 12

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Der Bonner Schüler

talen nationalsozialistischen Engagements, ohne seine Schuld ganz auf den Lehrer abschieben zu wollen. Der harte Stein der Verstrickung blieb ihm unverdaulich. Eine ganze »Kette von Missverständnissen« kommt im Briefwechsel zur Sprache. Immer wieder versichert Huber auch seine Loyalität. Nach 1945 suchte er mit Schmitt zwar erneut das Gespräch und pflegte seit den 50er Jahren mehr pflichtschuldig und gelegentlich die Korrespondenz; die Wiederbegegnung nach 1945 mied er aber, auch wenn er sich immer wieder zu seinem prägenden Lehrer bekannte. Seit dem Sommersemester 1924 studierte Huber in Bonn und ab dem Wintersemester 1924/25 nahm er an Schmitts Seminar teil. Anfang 1926 legte er sein Erstes Staatsexamen ab und schloss noch im gleichen Jahr, parallel zum Referendariat, seine Dissertation ab. Schmitts Gutachten vom November 1926 schätzt bereits den Stil der »musterhaften Sachlichkeit und der ruhigen Sicherheit, mit der ein besonders schwieriges und delikates Thema behandelt ist« (CSHU 395). Nach seinem Zweiten Staatsexamen wurde Huber im Herbst 1930 Assistent von Heinrich Göppert in Bonn und habilitierte sich dort 1931. Parallel zu seinen staatskirchenrechtlichen und wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Arbeiten begann er damals seine verfassungstheoretische Auseinandersetzung mit Schmitts Schriften, warf sich in die nationalistischen Kreise der »Konservativen Revolution« und publizierte zahlreiche pseudonyme Artikel und Rezensionen in deren Organen. Schmitt war 1928 an die Berliner Handelshochschule gewechselt. Huber schrieb ihm am 20. Oktober 1931, »wie sehr ich gerade in diesen Jahren, in denen ich äußerlich von Ihnen getrennt war, Ihr Schüler geworden bin.« (CSHU 93) Schon in den ersten verfassungstheoretischen Arbeiten trat er aber auch selbstständig auf. Er bezog sich stärker auf Hegel und betonte nachträglich auch den starken Einfluss von Rudolf Smend und Erich Kaufmann auf seine Theoriebildung. 14 Huber gehörte der Jugendbewegung an und bekannte sich auch nach 1945 noch zur »bündischen« Bewegung. Er war Protestant und rezipierte die theologischen Debatten intensiv, vertrat aber einen starken Primat des Nationalismus. Schülerschaft bestimmt sich zunächst nach formalen Kriterien der Zugehörigkeit zum Seminar, des Abschlusses von QualifikationsDazu Ernst Rudolf Huber, Verfassungswirklichkeit und Verfassungswert im Staatsdenken der Weimarer Zeit, in: Arbeiten zur Rechtsgeschichte. FS Schmelzeisen, Stuttgart 1980, 126–141

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arbeiten und einem Mitarbeiterstatus. Die »Schmitt-Schule« ist von Anfang an heterogen. In erster Annäherung lassen sich vier Generationen unterscheiden: Bonner Schüler, Berliner Schüler vor und nach 1933 sowie bundesrepublikanische Schüler. Das lässt sich weiter differenzieren. Die »bundesrepublikanischen« Schüler standen nicht mehr in einem formalen Schülerverhältnis. Formale Schüler müssen keine Schmittianer oder Schmittisten sein. »Schmittisten« nehmen einzelne Anregungen auf und schmücken ihre Schriften mit Schmitt; »Schmittianer« gehen aufs Ganze und rezipieren das Verfassungsdenken im ganzen Assoziationsraum und Kontext »Politischer Theologie«. Epigonale Anschlüsse machen noch nicht den »Schmittianer«. Niemand kann heute auch ernstlich dem Radikalismus und der Esoterik Schmitts folgen. Bedeutende Schüler folgen nicht sklavisch. Schmitt erkannte Niveau und wusste zwischen originären Schülern, Epigonen und bloßen Wiederkäuern zu unterscheiden. Huber promovierte zwar nicht mit der Bestnote; spätestens seit 1931 wusste Schmitt aber um das außerordentliche Niveau und den Charakter Hubers. So ermutigte er ihn auch zu »kritischen Äußerungen« (CSHU 83). Und auch Huber meinte gegenüber Schmitt: »Ich habe immer gefunden, dass sich in der Fähigkeit zum Streitgespräch die echte Gemeinschaft am sichersten und lautersten bewährt. Deshalb meine ich auch immer noch, dass Ihre treuesten Freunde diejenigen waren, die es auf sich nahmen, Ihnen mit Widerspruch zu begegnen.« (CSHU 333)

Für Schmitt galt die Trennung von Promotion und Habilitation. Schüler sollten sich als Habilitanden anderswo bewähren. Erst nach 1933 habilitierte er einige überraschende Kandidaten. Nicht alle Promovenden und Habilitanden waren enge Schüler. Gerade in Bonn betreute er einige Arbeiten mehr betriebsbedingt. Mit einigen seiner Doktoranden stand er aber im engen persönlichen Gespräch. Langjährige Mitarbeiter waren Ernst Friesenhahn, Karl Lohmann und der NS-Aktivist Herbert Gutjahr. Schmitt pflegte auch freundschaftliche Kontakte mit »linken« Schülern wie Otto Kirchheimer, neigte aber zunächst mehr den katholischen und dann den nationalistischen Kreisen zu. Viele seiner Beziehungen entwickelten sich negativ. Die politischen Zäsuren von 1930 und 1933 waren auch Bruchlinien persönlicher Beziehungen. 1933 brach Schmitt alle seine Kontakte mit »linken« und »jüdischen« Freunden und Bekannten ab. Sein radikales Engagement führte dann zu weiteren Verwerfungen. Enge Bonner Schüler – wie Friesenhahn, Becker, Forsthoff und auch Huber – bra158 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Der Bonner Schüler

chen nach 1933 für einige Zeit oder gänzlich mit Schmitt. Nach 1933 wählte Schmitt seine Doktoranden auch nach politischen Kriterien aus. Seine nationalsozialistischen Schüler konnten in der Bundesrepublik dann keine akademische Karriere mehr machen. Nur die frühen Bonner Schüler repräsentieren die juristische »Schmitt-Schule« im formalen Sinn. Huber konnte dabei, wie Grothe 15 gezeigt hat, nach seiner nationalsozialistischen Belastung erst spät wieder auf einen randständigen Lehrstuhl zurückkehren und arbeitete nach 1945 primär wirtschaftsrechtlich und verfassungshistorisch. Er gehörte nicht zu den ältesten Bonner Schülern (wie Bernhard Braubach, Alois Zimmer, Hermann Reiners oder Werner Becker) und trat erst nach seinem Staatsexamen, ab 1926 etwa, mit der Arbeit an seiner Dissertation in näheren Kontakt. Als er in Bonn ankommt, ist Schmitt dort inzwischen eingelebt. Er hat die Trennung von seiner ersten Frau Carita Dorotić vollzogen, seine Affäre mit Kathleen Murray verwunden und ist bereits mit seiner späteren Frau Duschka Todorović liiert, die Huber als aktive Seminarteilnehmerin erinnert. Seine erste Ehe ist annuliert, die Parlamentarismuskritik publiziert, die katholische, nicht zuletzt scheidungstechnisch gehisste Flagge heruntergefahren und der Weg in die Ausarbeitung der Verfassungslehre ist gebahnt. Damals tritt Schmitt aus dem katholischen Milieu und Selbstverständnis heraus. Der enge Umgang mit Wilhelm Neuss bricht ab und Erik Peterson wird sein engster theologischer Gesprächspartner. Als Huber 1924 in Bonn ankommt, lernt er Schmitt nicht mehr in dessen Übergangsphase, sondern in der Konzentration auf die Ausarbeitung seiner Verfassungstheorie kennen. Dass Schmitt sein römisch-katholisches Credo damals bereits zurückgenommen hatte, war für die staatskirchenrechtliche Dissertation des Protestanten vermutlich nicht unwichtig. Erst nach Schmitts Bruch mit der Kirche war ihm die nüchterne Behandlung staatskirchenrechtlicher Fragen eigentlich möglich. Die Bonner Zeit waren relativ »goldene« Jahre der Stabilisierung der Weimarer Republik nach der Hyperinflation Ewald Grothe, Über den Umgang mit Zeitenwenden. Der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber und seine Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart 1933 und 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), 216–235; ders., »Strengste Zurückhaltung und unbedingter Takt«. Der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber und die NS-Vergangenheit, in: Eva Schumann (Hg.), Kontinuitäten und Zäsuren. Rechtswissenschaft und Justiz im ›Dritten Reich‹ und in der Nachkriegszeit, Göttingen, 327–348

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von 1923. Vor 1924 war Schmitt von »katholischen« Fragen präokkupiert; 1927 stellte er dann die Pflege der Schülerbeziehungen hinter die rasante Abfassung seiner Verfassungslehre etwas zurück. Huber erlebte den gereiften Bonner Lehrer, der sich auf das juristische Kerngeschäft der Ausarbeitung seiner Verfassungstheorie konzentrierte. Friesenhahn wurde damals Schmitts Assistent. Im Rückblick erwähnt Huber auch den Umgang mit Werner Weber und Ernst Forsthoff. Wahrscheinlich war Schmitt gerade in diesen Jahren als Verfassungstheoretiker besonders anregend. Nach der Promotion und seinem Referendariat wechselte Huber dann, auf Schmitts Vermittlung hin, ins Wirtschaftsverwaltungsrecht über und warf sich in die publizistische Bewegung der »konservativen Revolution«. Er reflektierte dabei auch auf verfassungstheoretische Grundbegriffe und führte seine Überlegungen in seine erste große Auseinandersetzung mit Schmitts Verfassungslehre zusammen. Seine Bibliographie weist damals auch kleinere Rezensionen und Artikel zum Protestantismus und Nationalismus aus: Huber publizierte über »Geschichte und Dogma«, »Kirche und Theologie«, »Religion und Politik«, über »Protestantismus und Sozialismus« und beobachtete 1931 bereits, nach den Septemberwahlen von 1930, die Reaktionen diverser politischer Richtungen auf den dramatischen Stimmenzuwachs des Nationalsozialismus. 16 Schmitt bezog ihn dann in seine staatsrechtliche Ausdeutung des »Preußenschlages« ein und organisierte dafür im Vorfeld des Leipziger Staatsgerichtshofprozesses auch ein Honorar. Es steht außer Zweifel, dass Huber trotz seiner intellektuellen Eigenständigkeit und des spannungsvollen Verhältnisses nach formalen wie sachlichen Kriterien als enger Schüler zu bezeichnen ist.

3.

Huber als Ahnherr der Dezisionismus-Kritik

Ich beschränke mich hier auf die verfassungstheoretische Debatte und vernachlässige die verfassungspolitischen, verfassungsrechtDazu vgl. Ernst Rudolf Huber (pseudonyme Artikel), Nationalsozialismus und kirchliche Publizistik, in: Der Ring 4 (1931), 567–568; Sozialistische Deutung und Kritik des Nationalsozialismus, in: Der Ring 4 (1931), 568–569; Sozialrevolutionärer Nationalismus, in: Der Ring 4 (1931), 569; Reich Gottes-Marxismus-Nationalsozialismus, in: Der Ring 4 (1931), 921; vgl. auch Hubers Kritik an der preußischen Weigerung, Nationalsozialisten zu verbeamten: Die politische Freiheit der Beamten, in: Deutsches Volkstum 14 (1932), 418–419

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Huber als Ahnherr der Dezisionismus-Kritik

lichen und verfassungsgeschichtlichen Anknüpfungen und Auseinandersetzungen. Ich erörtere also nicht Hubers Mitarbeit bei der Ausdeutung des Präsidialsystems und des Leipziger Prozesses 17 oder die rechtsdogmatischen Differenzen in der Apologie des Nationalsozialismus. Ich vergleiche nicht die Kollaboration, kläre Hubers Stellung zwischen Schmitt und »Kieler Schule« nicht und erörtere auch die eindringlichen reflexiven Auseinandersetzungen im Spiegel der Verfassungsgeschichte nicht: die abweichende Deutung des Konstitutionalismus, wie sie mit Heer und Staat hervortritt und schon vor 1945 in bedeutenden Briefen gespiegelt ist. Ich vertrete die These, dass Huber der erste und wichtigste verfassungstheoretische Kritiker von Schmitts »Dezisionismus« war und Schmitt seine idealtypische Polarisierung des »Normativismus« und »Dezisionismus«, 1922 in der Politischen Theologie programmatisch formuliert, unter dem Eindruck von Hubers früher Kritik um die Kategorie des »Ordnungs- und Gestaltungsdenkens« erweiterte. Es soll hier weiter gezeigt werden, dass Huber seine Dezisionismus-Kritik in seine eigene Verfassungstheorie und Verfassungslehre von der »völkischen Verfassung« übersetzte und die Verhältnisbestimmung von »Dezisionismus« und »Ordnungsdenken« auch nach 1945 in der rückblickenden »Vergangenheitsbewältigung« und Formulierung der persönlichen Spannungen und »Wesensverschiedenheiten« (CSHU 332) leitend blieb. Terminologisch hielt Huber an seiner verfassungstheoretischen Revision des »Dezisionismus« fest. Diese Übersetzung der verfassungstheoretischen Kategorien in die nationalsozialistische Verfassungsdogmatik wird hier aber nur angedeutet. Die Übersetzungsthese behauptet nicht, dass Hubers nationalsozialistische Auslegung zwingend war. Die verfassungstheoretischen Kategorien sind für sich genommen abstrakt und politisch neutral. Die Debatte um »Dezisionismus« und »Ordnungsdenken« verdient deshalb auch theoretisches Interesse jenseits der verfassungspolitischen Kontexte und Konsequenzen, die Schmitt und Huber sahen. Eine systematische Diskussion dieser Kategorien ist hier im Rahmen eines HuberAufsatzes aber nicht beabsichtigt. Aus Sicht der Schmitt-Forschung lassen sich »geisteswissenschaftliche« und »juristische« Rezeptionsstränge unterscheiden. Ernst Rudolf Huber, Reichsgewalt und Staatsgerichtshof, Oldenburg 1932; zum »bedenklichen« Ausgang des Prozesses dann (pseudonym) ders, Das Urteil des Staatsgerichtshofs, in: Deutsches Volkstum 14 (1932), 985–986

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Schmitts Werk wurde spätestens seit Erscheinen der Politischen Romantik stark diskutiert. Schmitts Romantikdeutung wurde dabei aus Sicht des Mehrheitskatholizismus stark kritisiert und sein »katholisches« und »theologisches« Selbstverständnis war von Anfang an umstritten. Markiert Hugo Balls Hochland-Essay 18 den Auftakt der »geisteswissenschaftlichen« Debatten um Schmitts »Politische Theologie«, so eröffnete Hubers Kritik die verfassungstheoretische Debatte um Schmitts Werk. Mit der Broschürefassung des Begriffs des Politischen verschob sich die Debatte dann in die Richtung philosophischer Rezeptionen. Viele Topoi späterer Kritik finden sich schon vor 1933. Die Dezisionismus-Kritik wird dabei auch heute noch als ein Kern kritischer Auseinandersetzung mit Schmitts Werk verstanden. Hubers verfassungstheoretischer Auftakt blieb deshalb wegweisend. Auch heute noch muss eine systematische Rezeption die grundsätzlichen Fragen nach »Dezisionismus« und »Ordnungsdenken« klären. Auch Balls Essay lässt sich in diese Debatten stellen, las Ball die Apologie der »politischen Form« des Katholizismus doch als Schmitts Selbstrevision des Dezisionismus. In Balls Lesart hatte Schmitt schon 1923 mit der Kirche die Antwort gefunden und den Schritt zurück aus der Dezision in die Autorität der Form gefunden. So lasen es auch andere »katholische« Schüler, wie Waldemar Gurian. Schmitts Bruch mit der Kirche erzwang dann aber eine neue Lesart des Verhältnisses von Entscheidung und Ordnung. Huber löste die Debatte aus ihrer »theologischen« Bedeutungsdimension und abstrahierte und emanzipierte sie von ihrer starken Verbindung mit konfessionellen Fragen. Er autonomisierte den verfassungstheoretischen Schmitt-Diskurs, trennte ihn von den initialen religiösen und theologischen Fragen und mied auch philosophische Bezüge. Mit seiner nationalistischen Rezeption belastete er dabei die verfassungstheoretische Rezeption allerdings erneut und politisierte sie in problematischer Weise. Verfassungstheorie, Verfassungspolitik und Verfassungsrecht waren schon bei Schmitt nicht streng getrennt. Schmitt verstand Jurisprudenz als eine praktische Wissenschaft, die er aus der Teilnehmerperspektive eines »nationalistisch« gebundenen Akteurs betrieb. Den Gegensatz von Teilnehmer- und Beobachterperspektive profilierte er dabei nicht zuletzt gegen Kelsen. Huber folgte seinem Lehrer in allen diesen Fragen: sowohl in der Emanzipation der Verfassungstheorie von starken konfessionellen, theologischen und 18

Hugo Ball, Carl Schmitts Politische Theologie, in: Hochland 21 (1924), 263–285

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Huber als Ahnherr der Dezisionismus-Kritik

philosophischen Explikationen als auch in der verfassungspolitischen Kontamination. Als Ahnherr der verfassungstheoretischen Dezisionismus-Kritik vertrat Huber also eine bestimmte Variante. Wirkungsgeschichtlich wurden andere einflussreicher. Die Schmitt-Forschung bezog sich stärker auf die polemischen Darstellungen seit Helmut Kuhn, Waldemar Gurian und Karl Löwith. 19 Gurian vertrat dabei die »katholische« Kritik, Kuhn und Löwith betonten einen starken Konnex von Dezisionismus und Existentialismus und suchten durch Schmitt hindurch nicht zuletzt Heidegger zu treffen. 20 Sie vertraten einen Konnex von Dezisionismus und Existentialismus sowie eine Komplementarität wechselseitiger Ergänzung und Erhellung von Heideggers »Existentialismus« und Schmitts Verfassungstheorie. Dabei lasen sie Schmitts Theorie politisch und verstanden das nationalsozialistische Engagement als eine nahe liegende, wenn auch nicht zwingende Konsequenz. Neben dem Konnex von Dezisionismus und Existentialismus und der Komplementarität von Schmitt und Heidegger betonten sie also auch eine Identität von Theorie und Praxis und eine Affinität zwischen der politischen Verfassungslehre und dem nationalsozialistischen Engagement. Dabei muss hier nicht weiter interessieren, dass Kuhn stärker als Löwith auf Sokrates und Platon als philosophische Alternative zum zeitgenössischen Existentialismus (Heideggers) verwies. Kuhn publizierte seine Kritik im April 1933; Löwith antwortete mit seiner Besprechungsabhandlung, ebenso wie Gurian, bereits auf Schmitts nationalsozialistische Entscheidung. Löwith formulierte deshalb eine Helmut Kuhn, Politik, existenzphilosophisch verstanden. Eine Auseinandersetzung mit Carl Schmitts ›Der Begriff des Politischen‹, in: Kant-Studien 38 (1933), 190–196; Waldemar Gurian, Entscheidung und Ordnung. Zu den Schriften von Carl Schmitt, in: Schweizerische Rundschau 34 (1934), 566–576; Karl Löwith, Der Okkasionelle Dezisionismus von C. Schmitt, in: ders., Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 1960, 93–126; einige weitere Auseinandersetzungen wären zu nennen, so etwa wichtige Besprechungen der Verfassungslehre durch Otto Hintze (HZ 139, 1929, 562–568), Fritz Hartung (ZgStW 82, 1929, 225–239), Karl Larenz (BldPh 5, 1931, 159–162) und Erich Voegelin (ZöR 11, 1931, 89–109), Otto Kirchheimers Einwand des »Begriffsrealismus« (ASwSp 68, 1932/33, 457–487), Leo Strauss’ »liberale« Deutung des Begriffs des Politischen (ASwSp 67, 1932, 732–749) oder auch Aurel Kolnais (ZgStW 94, 1933, 1–38) Vorwurf eines bellizistischen »Primats der Außenpolitik« und der Ziellosigkeit. 20 Dazu ausführlicher Verf., Formalismus, Dezisionismus, Nihilismus. Jüdische Heidegger-Schüler als Schmitt-Kritiker, in: ders., Heideggers ›große Politik‹. Die semantische Revolution der Gesamtausgabe, Tübingen 2016, 93–117 19

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starke Variante der Affinitätsthese: Er übernahm die ältere polemische Strategie, die Romantikkritik gegen Schmitt zu wenden, und betrachtete den dezisionistischen »Okkasionalismus« als politischen Opportunismus. Im Kern seines Arguments betonte er also keine starke ideologische oder weltanschauliche Affinität, sondern sah die Affinität eher moralisch in einer Art konstitutionellen Charakterlosigkeit begründet. Ähnlich argumentierten auch Gurian sowie der einflussreiche nationalsozialistische Rivale Otto Koellreutter. Schmitts Selbsthistorisierung des Entscheidungs- und Ordnungsdenkens wurde damals auch in nationalsozialistischen Schülerarbeiten rezipiert; Günther Krauß 21 und Hans Krupa 22 skizzierten eine Entwicklungsgeschichte des Werkes und einen Schritt vom »Dezisionismus« zum »Ordnungsdenken«, der weiteres Öl in das Feuer des Opportunismusverdachtes goss. Gurian, Löwith und Koellreutter wollten damals, aus konträren politischen Interessen, Schmitts nationalsozialistische Karriere stoppen und stürzen. Nachweislich wurde der massive Opportunismusvorwurf aus der Emigration von den nationalsozialistischen Rivalen für Schmitts Akte, Fall und Sturz verwendet. Auch ideologische Differenzen wurden bemüht. Wichtig ist hier, dass bereits Ende 1936, bei Schmitts Sturz, verschiedene Varianten der Dezisionismuskritik vorlagen, die in diverse Auslegungsrichtungen gingen. Die weitere Schmitt-Forschung rezipierte aber nicht alle Pfade gleich intensiv. Der historische Befund dürfte vielmehr zeigen, dass fast ausschließlich Löwiths Variante – zunächst wohl bei René König – zündete. Insbesondere an Löwith knüpften nach 1945 dann die wegweisenden und wirkmächtigen Darstellungen von Christian von Krockow 23 und Hasso Hofmann 24 an. In der frühen Auseinandersetzung wurde Schmitts Bekenntnis zum »Dezisionismus« mit Etatismus und Formalismus, Hobbesianismus, Existentialismus, okkasionalistischem Opportunismus und Nihilismus eng verbunden. Die Debatten tendierten zu starken Bejahungen Günther Krauß, Zum Neubau deutscher Staatslehre. Die Forschungen Carl Schmitts, in: Jugend und Recht 10 (1936), 252–253 22 Hans Krupa, Carl Schmitts Theorie des ›Politischen‹, Leipzig 1937 23 Christian von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt und Martin Heidegger, Stuttgart 1958 24 Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der Politischen Philosophie Carl Schmitts, Neuwied 1964; vgl. dazu Verf., Der menschenrechtliche Einwand. Hasso Hofmanns Antwort auf Carl Schmitt, in: Der Staat 47 (2008), 241–257 21

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und suggestiven Identifikationen. Schmitt wurde als normblinder Dezisionist, Formalist und Nihilist verstanden, der einem politischen Opportunismus auf der Basis eines Hobbesianischen Existentialismus zuneigte. Was das im Einzelnen heißen kann, muss hier nicht ausgeführt werden.

4.

Die Spannung der »Gestalten«

Nach Hubers Zweitem Staatsexamen intensivierte sich 1930 erneut der Kontakt. Huber liest die Fahnen des Hüters der Verfassung Korrektur, schreibt eine pseudonyme Rezension und schließt unter dem Titel Verfassung und Verfassungswirklichkeit bei Carl Schmitt 25 eine erste Gesamtwürdigung des verfassungstheoretischen Ansatzes an. Er verzichtet dabei auf ein längeres Referat der Beschreibung der Verfassungslage und schreibt an Schmitt: »Ich will vielmehr untersuchen, in welchem Sinn solche verfassungspolitischen Entwicklungserscheinungen überhaupt Gegenstand einer ›Verfassungstheorie‹ sein können. Dazu bedarf es einer Auseinandersetzung mit dem ›positiven Verfassungsbegriff‹, der Ihrer Verfassungslehre zugrunde liegt. Ich hoffe zeigen zu können, dass Gegenstand einer wirklichen Verfassungslehre (wie Sie sie begründet und systematisch aufgebaut haben) gerade die Spannung ist, die zwischen der ›geltenden‹ Verfassung und den ›Erscheinungen der Verfassungswirklichkeit‹ besteht, dass also weder eine statische noch eine rein dynamische Betrachtung, ebenso weder eine rein normative noch eine existentielle Betrachtung zu einer wirklichen Verfassungstheorie führt.« (CSHU 80)

Huber bezeichnet damit präzise seine Fragestellung und seinen Stand zwischen Schmitt und Smend, Hans Kelsen und Hans Freyer und schreibt bereits offen, dass er »Bedenken gegen die Definition der Verfassung als ›Entscheidung‹« (CSHU 81) habe. Huber verliert sich in seiner Rezensionsabhandlung nicht in Einzelheiten, sondern fragt nach dem Fortschritt des Hüters der Verfassung über die Verfassungslehre hinaus. Was bedeutet die Analyse der »konkreten Verfassungslage« geltungstheoretisch oder rechtsphilosophisch für den Ansatz der Verfassungslehre? Huber findet hier Ernst Rudolf Huber, Verfassung und Verfassungswirklichkeit bei Carl Schmitt, in: Blätter für Deutsche Philosophie 5 (1931/32), 302–315; hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: ders., Bewahrung und Wandlung, Berlin 1975, 18–36 (BW)

25

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eine wichtige Präzisierung des Verhältnisses von »absoluter« und »positiver« Verfassung. Dabei schreckt er nicht davor zurück, Schmitts Ansatz zu präzisieren: Lässt sich »dezisionistisch« von einer »positiven« Verfassungsentscheidung sprechen, wenn eine Verfassung »absolut« gegeben ist? Die »absolute« Verfassung steht nicht zur vollen Disposition der Verfassungsgebung. Ein »Minimum unmittelbar gegebener Form« (BW 23) ist stets vorausgesetzt. Huber zieht die Konsequenz, man müsse »darauf verzichten, die ›bewusste Gestaltung‹ durch den Träger der verfassunggebenden Gewalt als ihre entscheidende Grundlage anzusehen.« (BW 25) Terminologisch schlägt er vor, den Begriff der »Entscheidung« durch »Gestaltung« zu ersetzen. »Verfassungsgebung ist vielmehr bewusste Gesamtgestaltung« (BW 22), »Verfassungsgestaltung«. Damit führt er die terminologische Differenzierung zwischen dem »Dezisionismus« und dem konkreten »Ordnungs- und Gestaltungsdenken« ein, die Schmitt 1934 als wesentliche Weiterentwicklung seiner Politischen Theologie exponieren wird. Der damals inflationär gebrauchte, vom George-Kreis stark besetzte Gestaltbegriff bleibt für Huber zentral. So publiziert er 1934 eine Broschüre über Die Gestalt des deutschen Sozialismus. 1937 schreibt er: »Im Begriff der ›Gestalt‹ ist der Gegensatz von dynamischer Kraft und statischer Form zu einer neuen Ganzheit verbunden.« 26 Schmitt registrierte die »Meinungsverschiedenheit über den Gestalt-Begriff« (CSHU 173); Huber verweist für seine Auffassung auf Hegel. 1931 bereits zieht er aus seiner Revision des »Dezisionismus« noch eine Konsequenz: Er hält den Streit zwischen einer »statischen« und einer »dynamischen« Verfassungstheorie, wie Schmitt ihn als Differenzpunkt zu Smend profilierte, für ein Scheingefecht. Die säuberliche Trennung zwischen »Dezision« und »Integration«, wie sie die Frontlager der Schulen nach 1945 bestimmte, 27 sei falsch. Die Verfassung sei als Herrschaftsordnung ein »Faktum, das aus sich selbst Geltung beanspruchen kann« (BW 27) und eine Dynamik des Werdens ordnet. Schmitt habe diese »Spannung zwischen unmittelbarer realer Gegebenheit und normativer Geltung« (BW 29) erkannt. Damit wahre er den Unterschied »zwischen einer [genuin juristischen]

Ernst Rudolf Huber, Verfassung, Hamburg 1937, 69 Dazu Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, München 2004

26 27

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Verfassungstheorie und einer politischen Soziologie« (BW 27). Eine juristische Verfassungslehre beschreibt Verfassungszustände, die legitimerweise »aus sich selbst Geltung beanspruchen« (BW 27) dürfen. Nicht jeder Verfassungszustand verdient Geltung. Hubers verfassungstheoretische Lesart, dass Schmitts Geltungslehre einen »absoluten« Begriff der Verfassung impliziert, der, im Unterschied zur soziologischen Zustandsbeschreibung, in sich dynamisch ist und die Spannung von Verfassungswirklichkeit und Verfassungsgeltung positiv qualifiziert, ist anregend und wohl auch zutreffend. Huber stellt klar, dass Schmitts »positiver« Verfassungsbegriff »absolute« Voraussetzungen hat und eine »dynamische« Spannung und normative Perspektive auf den Verfassungswandel berechtigt. Anknüpfend an Schmitts negative Beschreibungen der konkreten Verfassungslage und Tendenzen von »Polykratie« und »Föderalismus«, sieht er sich deshalb auch gezwungen, die Entwicklungen normativ zu bewerten und negative Entwicklungstendenzen von positiven abzuscheiden. Hubers Kriterium scheint die staatliche »Einheit« zu sein: Dynamische Entwicklungen sind nur dann normativ berechtigt, wenn sie der »Einheit« dienen. Huber erörtert die normativen Kriterien der Wertung von legitimen und illegitimen Entwicklungsdynamiken aber nicht näher, sondern führt stattdessen die Rede von »Herrschaft« und »politischer Idee« ein: »Nur die Herrschaft ist ein Faktum, das aus sich selbst Geltung beanspruchen kann.« (BW 27) »Die konkrete Herrschaft ist durch eine tragende politische Idee legitimiert und besitzt eben dadurch den Anspruch auf dauernde Geltung.« (BW 28) Dieser normativ aufgeladene Begriff von »Herrschaft« knüpft weder an Max Webers beschreibende Herrschaftssoziologie noch an Schmitts Terminologie an. Huber scheint die »Herrschaft« auch zu personalisieren und an bestimmte Eliten zu denken, die »tragende politische« Ideen vertreten. Ein Stück jungrevolutionärer Elitismus scheint in seine Diktion einzubrechen. Nach dem »Preußenschlag« vom 20. Juli 1932 erinnert Huber dann an die protestantische »Obrigkeit«. 28 Es bleibt aber offen, inwieweit seine Konzeption von Eliteherrschaft durch die Verfassung selbst gedeckt war. Wenn neuere Verfassungstendenzen, wie parteienstaatliche »Polykratie«, negativ Pseudonym: Obrigkeit und Volk, in: Deutsches Volkstum 14 (1932), 682–684; vgl. auch ders., Die Deutsche Nation, in: Deutsches Volkstum 14 (1932), 564–571; Huber setzt hier die deutsche »Herrschaft« vom französischen Nationsverständnis ab.

28

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zu werten sind, muss die politisch legitimierte »Herrschaft« das Recht zur selektiven Weiterentwicklung der Verfassung haben. Huber legt deshalb bereits Schmitts Schrift Der Hüter der Verfassung als forcierte Legitimierung einer Tendenz zum »totalen Staat« aus. Seine Besprechungsabhandlung klärt nicht nur die verfassungstheoretische Verhältnisbestimmung von »positiver« und »absoluter« Verfassung und deutet Schmitts »dezisionistische« Statik in ein dynamisches Konzept vom Verfassungswandel um, sondern politisiert die Legitimierung des Verfassungswandels auch über Schmitt hinaus in »jungkonservative« Richtung. Eine Machtübernahme der Deutungshegemonie durch nationalistische Ideologen klingt an. Mit der Diagnose einer »Wendung zum totalen Staat« habe auch Schmitt zwar eigentlich bereits im Präsidialsystem die Konsequenz gezogen, dass die Spannung zwischen Verfassungslage und Verfassungsrecht, »absoluter« und »positiver« Verfassung, delegitimierende Konsequenzen haben kann, bis hin zu dem Punkt, wo die konkrete Verfassungslage eine alternative »politische Idee« gebärt und eine »neue Verfassung im Werden« (BW 30) ist, die das geltende Verfassungsrecht im Kern der Verfassungsentscheidung trifft. Dann sei ein »Antrieb« gegeben, der eine neue »Zuordnung von Herrschaft und Volk« erforderlich mache (BW 35 f.). Solche umwälzenden Konsequenzen habe Schmitt aber nicht offen gezogen, sondern vor allem nur das Instrumentarium für die Einsicht geschärft, wie das positive Verfassungsrecht von der »politischen Idee« einer konkreten Verfassungslage dynamisch fortgetragen wird. Huber formuliert nicht ganz eindeutig, wo er den Rahmen Schmitts und Rubikon des Verfassungsrechts überschreitet. Zweifellos ist seine extensive Deutung politisch interessiert; sie hält aber auch die Eigenart systematischer verfassungstheoretischer Fragen und den Unterschied zwischen Verfassungstheorie und Verfassungspolitik immer wieder fest. So schreibt Huber zum Befund normativer Spannung zwischen »Verfassungszustand und Verfassungsgeltung«: »In dieser Feststellung verfassungsrechtlicher Spannungszustände ist, so scheint mir, eine Erkenntnis von allgemeiner verfassungstheoretischer Bedeutung enthalten. Es enthüllt sich hier nämlich, dass überhaupt die Spannung zwischen entgegengesetzten Prinzipien und Kräften der eigentliche politische Antrieb ist, aus dem sich die nationale Einheit entfaltet.« (BW 35)

Huber nennt hier noch einmal sein Kriterium der »nationalen Einheit« und grenzt es von der »liberalen Unterscheidung von Staat und 168 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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Gesellschaft« ab.29 Seine anschließende, stärker referierende Rezension von Legalität und Legitimität liest Schmitts Schrift als Feststellung eines gravierenden Verfassungswandels. 30 Huber bindet das Widerstandsrecht damals an die »Idee des Rechts« 31 zurück und billigt den Verfassungsnotstand, Johannes Heckel rezensierend, nur für den Fall einer »Entscheidungsunfähigkeit des Volkes«. 32 Schmitt wurde damals von seinen jungen Adepten rechts überholt. 33 Rückblickend äußerte Huber im abschließenden siebten Band seiner Verfassungsgeschichte einige Selbstkritik am politischen Radikalismus und Dünkel seiner damaligen nationalistischen Kreise. Liest man die Besprechungsabhandlung des gerade 28jährigen Autors in ihrer verfassungstheoretischen Stärke, so stellt sie das Licht heraus, das vom Hüter der Verfassung auf den Ansatz der Verfassungslehre fällt: Es betrifft das Verhältnis des »absoluten« zum »positiven« Verfassungsbegriff. Am 19. Oktober 1931 schreibt Schmitt deshalb auch zu Hubers Darstellung: »Besonders dankbar bin ich Ihnen auch für die Richtigstellung der oft geradezu kindischen Missdeutungen des ›Dezisionismus‹.« (CSHU 91) Er bezieht sich damit auf die »dynamische« Umdeutung des »politischen Dezisionismus«. Huber versucht damit bereits zwischen Schmitt und Smend zu vermitteln und Schmitts normativen Dezisionismus mit Smends Integrationsgedanken zu dynamisieren. Die Besprechungsabhandlung meidet die Erwähnung anderer Autoren aber und nennt Smend nur beiläufig abgrenzend. Später wird Huber immer wieder betonen, dass seine eigenständige Rezeption und Weiterentwicklung von Smend und auch Erich Kaufmann mit beeinflusst war. Beide lernte er schon vor 1933 kennen. Nach Smends Entscheidung gegen das Präsidialsystem trennten ihn allerdings 1931 bereits zitationspolitische Motive von starken Referenzen an die »Integrationslehre«. Dabei ließ sich diese Lehre bekanntlich auch nationalistisch adaptieren, und Hubers Begriff der »Herrschaft« scheint auch von Smends Faktor der »perDazu vgl. auch (pseudonym) Ernst Rudolf Huber, Staat und Gesellschaft. Bemerkungen zu Hans Freyers ›Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft‹, in: Deutsches Volkstum 14 (1932), 299–305 (mit Berufung auf Schmitt) 30 (Pseudonym): Verfassung und Legalität, in: Deutsches Volkstum 14 (1932), 733– 737 31 (Pseudonym): Das Volk als Hüter der Verfassung, in: Deutsches Volkstum 14 (1932), 807–808 32 (Pseudonym): Verfassungsnotstand, in: Deutsches Volkstum 14 (1932), 983–984 33 Das zeigt Stefan Breuer, Carl Schmitt im Kontext, Berlin 2012 29

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sönlichen Integration« 34 angeregt zu sein. Erst ab 1937 intensiviert sich aber die Beziehung zu Smend. 35 Erst nach 1933 wird Huber seinen Ansatz verstärkt wissenschaftsgeschichtlich situieren und sich dabei in die Tradition der »gesamten Staatswissenschaften« seit Hegel und Lorenz von Stein stellen. 36 Die Referenz an Hegel ist dabei auch eine Stellvertretung für »Smend« und ein Differenzpunkt gegenüber Schmitt.

5.

Hubers »völkische Verfassung«

1933 wird Huber nach Kiel berufen und er gehört dann bald zu den exponiertesten nationalsozialistischen Staatsrechtslehrern. Auch als Mitherausgeber der traditionsreichen Zeitschrift für die gesamten Staatswissenschaften hat er eine zentrale Stellung im Fach inne. Sogleich macht er sich an die Ausarbeitung einer eigenen Verfassungslehre. Seine Kieler Rede Vom Sinn der Verfassung kann als deren erste Ankündigung betrachtet werden. Verfassungstheoretisch grundlegend ist dann die Broschüre Wesen und Inhalt der politischen Verfassung (WI), 37 die im Spätsommer 1935, einige Wochen vor den Nürnberger Rassegesetzen, in Schmitts Reihe Der deutsche Staat der Gegenwart erscheint. Huber knüpft hier an die Resultate seiner BeRudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 1955, 142 ff. 35 Etwa 25 Briefe Hubers sind im Nachlass Smend (Cod Ms R. Smend A 389 und C 16) erhalten. Zwar schickte Huber Smend schon vor 1933 seine frühen Monographien, fand seine Broschüre zum Leipziger Prozess aber dann von Triepel, Kaufmann und Smend abgelehnt. Am 16. November 1937 bittet Huber Smend um Mitarbeit an der ZgStW. Er vermittelt Smend 1939 dann eine Vertretung in Leipzig und empfiehlt ihn als seinen Nachfolger. Er erlangt eine Zusage Smends für Hubers »Kriegseinsatz« in der »Aktion Rittersbusch«, die Smend aber nicht einlöst. 1947 versucht Huber Smend dann sein nationalsozialistisches Engagement zu erklären. 1955 dankt er Smend für die Unterstützung bei der Reintegration in die Staatsrechtslehrervereinigung und die Zusendung von Smends »Staatsrechtlichen Abhandlungen«. Nachdem Huber von Wilhelmshafen an die Universität Göttingen wechseln konnte, kommt es dann – anders als bei Schmitt – in den 60er Jahren zu mehreren freundlichen Besuchen. Huber schreibt Smend auch, ähnlich wie an Schmitt, mehrere große, rückblickend dankende Geburtstagsbriefe sowie einen Nachruf (Rudolf Smend, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 1976, Göttingen 1977, 105– 121). 36 Ernst Rudolf Huber, Die deutsche Staatswissenschaft, in: ZgStW 95 (1935), 1–65 37 Ernst Rudolf Huber, Wesen und Inhalt der politischen Verfassung, Hamburg 1935 34

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Hubers »völkische Verfassung«

sprechungsabhandlung von 1931 an und macht dies auch durch zahlreiche Verweise deutlich. Politisch betrachtet er Schmitt nun als Vordenker des Nationalsozialismus. Er skizziert die Entwicklung des Verfassungsbegriffs, erklärt Smends »dynamische« Konzeption in längeren Ausführungen für »unhaltbar« (WI 25) und zieht die terminologische Konsequenz, die Spannung von »absoluter« und »positiver« Verfassung in einen »politischen Verfassungsbegriff« (WI 6) aufzuheben, der die »völkische Einheit und Ganzheit« herausstreicht und das Volk als »Wesen und Inhalt« (WI 46) der politischen Verfassung auffasst. Die »völkische Verfassung« begreift er dabei von einer knappen Rekapitulation seiner Revision von Schmitts »Dezisionismus« ausgehend: Die »Entscheidung ergibt sich nicht aus dem Nichts« (WI 40), formuliert er nun griffig; »sie ist nicht der Anfang des Rechts und der Verfassung, sondern sie bedarf selbst der Ordnung, aus der sie Richtung, Sinn und Wert erhält. Daher muss der dezisionistische Verfassungsbegriff heute stark umgebildet und fortgestaltet werden, um in das völkische Denken eingehen zu können.« (WI 40) Die Verfassung sei »nicht Entscheidung, sondern Ordnung« (WI 42) Stärker als Schmitt betont Huber die »Art und Idee des Volkes« (WI 52) als Legitimitätskriterium der Verfassung. Koellreutters Schmitt-Kritik weist er zwar ausdrücklich zurück, betont aber andererseits ebenfalls den Primat des »Volksbegriffs« gegen Schmitt. Sein »völkisches« Vokabular klingt sehr forciert. Ausführungen zum »Werden und Vergehen der Verfassung« sprechen nun Klartext über 1931 hinaus: Huber kritisiert Schmitts Anknüpfung an das französische Drehbuch und Vokabular vom »pouvoir constituant« und stellt die Frage nach dem »Träger« des Verfassungswandels und der revolutionären Änderung der Verfassung bis hin zum »Verfassungsumsturz«. »Nicht jedes politische Sein besitzt Verbindlichkeit« (WI 70), meint er nun. Er kennt eine »Legitimität neuen ungeschriebenen Rechts« (WI 71) und verteidigt das Recht der Revolution: »Gibt es ein Recht zur Revolution?«, fragt er. Nicht im alten ständischen Sinne natürlich. »Aber es gibt ein Widerstandsrecht des Volkes, ein unentziehbares Recht zur Revolution, wenn die Verfassung aufhört, die wirkliche Ordnung der völkischen Einheit und Ganzheit zu sein« (WI 77). Deshalb skizziert Huber den Aufbau der »Einheit und Ganzheit des Volkes« abschließend auch von der revolutionären »Führung« und »Bewegung« her. Die Broschüre Wesen und Inhalt der politischen Verfassung ba171 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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siert verfassungstheoretisch weitgehend auf den Befunden von 1931. Sie ist aber das Mittelstück der Übersetzung der Schmitt-Kritik in den Gegenentwurf eines dogmatischen Lehrbuchs von der nationalsozialistischen Verfassung. Zentrale Einwände sind hier sehr deutlich: Schmitts »Dezisionismus« muss vom Grundbegriff der »völkischen Verfassung« bzw. »Volksordnung« her revidiert werden; dynamische Aspekte bis hin zur Anerkennung eines »Rechts zur Revolution« müssen terminologisch stärker berücksichtigt werden; revolutionäre Gründungsgewalt ist legitim; nur eine »konservative Revolution« ist aber legitim, die vom Vorrang des »Volkes« ausgeht und die Ordnung des Volkes realisiert. Noch 1942 meinte Huber hier: »Aber Revolution bedeutet uns nicht Umsturz und Zerstörung, sondern Wiederherstellung und Erneuerung, Reinigung und Festigung deutschen Wesens.« 38 Hubers »Recht der Revolution« klang 1931 schon in der Anerkennung einer »Herrschaft« an, die sich durch eine »politische Idee« legitimiert. Als diese Idee tritt 1935 nun die »völkische Verfassung« deutlich hervor, wobei Huber deren diskriminierende Kosten nur dezent und abstrakt mit einigen Verweisen auf Schmitts FreundFeind-Unterscheidung andeutet. In zahlreichen verfassungsrechtlichen Stellungnahmen und in der komprimierten Darstellung des Lehrbuchs Verfassung ist die »naturhafte« und rassistische Auslegung des Volksbegriffs dann aber voll präsent. Dass Hubers »Liebe zum eigenen Volkstum notwendig zur Achtung fremden Volkstums« führt, ändert daran nichts: »Diese Anerkennung und Achtung fremden Volkstums ist ein politischer Grundsatz der völkischen Weltanschauung und daher auch ein rechtlicher Grundsatz der völkischen Verfassung.« 39 Dass Huber solche Sätze 1937, nach der Nürnberger Rassegesetzgebung, schreibt, erscheint uns heute geradezu obszön. Das Lehrbuch der Verfassung nimmt die Stichworte von der »völkischen Verfassung« und vom »politischen Begriff« des Volkes wieder auf und betont den revolutionären Charakter des Nationalsozialismus. Die »ungeschriebene« neue Grundordnung datiert Huber dabei vom »Staatsakt von Potsdam«, dem Schaubündnis mit den alten Eliten, als erstem »Verfassungsakt des neuen Reiches« her. Grundsätze

Ernst Rudolf Huber, Aufstieg und Entfaltung des deutschen Volksbewusstseins, Leipzig 1942, 24 39 Ernst Rudolf Huber, Verfassung, Hamburg 1937, 81 38

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Hubers »völkische Verfassung«

der völkischen Verfassung seien die »Prinzipien der völkischen Einheit und Ganzheit, der Bewegung und der Führung«: »Mit der Tatsache der Revolution hat sich ohne weiteres dieser neue Verfassungskern durchgesetzt.« 40 Man mag kaum glauben, dass Huber ernsthaft bejaht, was er sachlich beschreibt. Die verschiedenen Rechtsstellungen im Reichsbürgerrecht etwa, die er 1941 in Bau und Gefüge des Reiches auflistet, 41 missverstehen wir heute von starken Gleichheitsvermutungen und Gleichbehandlungsintuitionen her leicht als leise Kritik. Performativ gibt es aber am apologetischen Gesamtsinn der Ausführungen keinen Zweifel. Jede verfassungsrechtsdogmatische Publikation schloss eine Gesamtbejahung des Nationalsozialismus funktional ein. Manche briefliche Äußerungen relativieren und korrigieren zwar eine starke apologetische Lesart. Es ist auch zu konzedieren, dass die briefliche Korrespondenz unter Zensurbedingungen und mit Rücksicht auf den Adressaten zurückhaltend sein musste. Es ist Huber zuzugestehen, dass er spätestens seit 1942 mit vielen Zügen der »Reichsgewalt« 42 nicht mehr ganz einverstanden war und seinen nationalsozialistischen Aktivismus bereute. Mit der sich abzeichnenden Kriegsniederlage zog er sich aus der vollmundigen Apologie zurück und pries den »Volksbegriff« nurmehr in ideenhistorischen Studien. Sein Engagement wird dadurch aber nicht wesentlich besser, dass es nicht alle Diskriminierungskosten der »völkischen Verfassung« voll mittragen wollte. Die Diskriminierungslogik des »völkischen« Homogenitätswahns von »Einheit und Ganzheit« musste ihm hinreichend bewusst gewesen sein. Im Wintersemester 1944/45 problematisierte er in einem eindrucksvollen Vortrag denn auch die Legalität des nationalsozialistischen »Führernotrechts« mutig und offen. 43

Ernst Rudolf Huber, Verfassung, Hamburg 1937, 48 Ernst Rudolf Huber, Bau und Gefüge des Reiches, Hamburg 1941, 30 f. 42 Für eine solche skeptische und kritische Lesart bes. Ernst Rudolf Huber, Reichsgewalt und Reichsführung im Kriege, in: ZgStW 101 (1940/41), 530–579; aggressiv nationalsozialistisch dagegen noch Hubers negative Besprechung von Gerhard Ritter, Machtstaat und Utopie, in: ZgStW 102 (1941/42), 168–176 43 Dazu Verf. / Ewald Grothe (Hg.), Das ›Problem des geheimen Gesetzes‹ und die Grenze des ›Führernotrechts‹. Erstveröffentlichung von Ernst Rudolf Hubers Vortrag ›Gesetz und Maßnahme‹ aus dem Wintersemester 1944/45, in: Der Staat 55 (2016), 69–96 40 41

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XI. · Ernst Rudolf Hubers verfassungstheoretische Revision

6.

Rückblick auf Schmitt

Das spannungsvolle Verhältnis zwischen Huber und Schmitt ist aus der Korrespondenz nicht ganz zu erhellen. Huber und Schmitt deuteten ihre »Wesensverschiedenheiten« aber selbst immer wieder an. Gewiss war der höfliche, zurückhaltende und sachliche Huber über Schmitts Führergebaren und Gefolgschaftsforderung, seinen diskriminierenden Stil und massiven Antisemitismus Mitte der 30er Jahre nachhaltig verstimmt. Anfang 1936 brach er den Kontakt für über zwei Jahre ab. Sein Kontaktabbruch fällt in die Zeit aggressivster antisemitischer Ausfälle Schmitts. Erst im Frühjahr 1938 nahm er die Beziehung anlässlich von Schmitts 50. Geburtstag unter veränderten Umständen wieder auf. Huber ist nun der Autor des Lehrbuchs von der nationalsozialistischen Verfassung, Schmitts Ämterehrgeiz ist verklungen und seine weitere Rolle im Nationalsozialismus ist offen. Ende 1939 erscheint die Sammlung der Positionen und Begriffe, deren Endredaktion Schmitt mit Kriegsbeginn datierte. Huber erhält sie im Januar 1940 und antwortet mit Worten der »Freundschaft und Verbundenheit«. Er beabsichtigt damals aber nicht sogleich, einen »Aufsatz« oder eine Besprechungsabhandlung zu schreiben. Erst nach weiteren Treffen und Gesprächen schreibt er, wohl im Sommer 1940, seine zweite große »Auseinandersetzung mit Carl Schmitt«. 44 Die Korrekturfahnen schickt er am 2. November 1940 an Schmitt und spricht von »Bemühungen um eine fachliche Auseinandersetzung« und »einen eigenen Standpunkt« (CSHU 273). Seine umfangreiche Besprechungsabhandlung, um die Jahreswende erschienen, ist damals auch eine Versöhnungsbemühung nach den »Zeiten des Schweigens« (CSHU 263). Sachlich knüpft sie an die erste Auseinandersetzung an: Hatte Huber 1931 den Primat vorausgesetzter »Ordnung« in Schmitts »Dezisionismus« herausgebracht, prüft er nun an der Dokumentation des Entwicklungsgangs, ob seine verfassungstheoretische These zutraf und der Weg des Dezisionisten als Suche nach Ordnung rekonstruierbar ist. Hubers Grundfrage lautet also nun: War Schmitt tatsächlich ein Ordnungsdenker? Er nimmt die frühere Debatte wieder auf, indem er hinter der dezisionistischen »Situationsgebundenheit« von Schmitts Positionen und Begriffen Stufen des Ernst Rudolf Huber, ›Positionen und Begriffe‹. Eine Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, in: ZgStW 101 (1941), 1–44; hier zitiert nach dem Wiederabdruck im Briefwechsel Huber-Schmitt.

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Rückblick auf Schmitt

»Ordnungsdenkens« findet, und verteidigt Schmitts Weg gegen den geläufigen Okkasionalismus- und Opportunismusvorwurf, der Ende 1936 bei Hans Frank zum Sturz Schmitts verwendet worden war. Huber entkräftet den Einwand aus zeitlichem Abstand, nachdem die politische Auseinandersetzung verstummt, Schmitts Verbleib an der Berliner Universität gesichert und sein neues Prestige als Völkerrechtler begründet war. Hubers Wiederanknüpfung an die Verhältnisbestimmung von Entscheidungs- und Ordnungsdenken zeigt sich innerhalb der Besprechungsabhandlung schon in eigenen Abschnitten zu Hobbes und Hegel. Huber erörtert Schmitts »Auseinandersetzung mit Hobbes« und seine »Kritik an Hegel« ziemlich ausführlich. Schmitt nannte Hobbes und Hegel als Hauptvertreter des Dezisionismus und des »konkreten Ordnungs- und Gemeinschaftsdenkens«. Hegel war auch ein wichtiger Referenzautor für Huber. Das Verhältnis zu Hegel war also ein Indikator von »Ordnungsdenken«. Huber liest Schmitts Leviathan-Buch zutreffend als Distanzierung von Hobbes, von der »Brüchigkeit der Gesamtkonstruktion« des absolutistisch-bürokratischen Staates, konstatiert aber auch »eine letzte und unüberwindliche Reserve gegenüber Hegel und seiner Staatsphilosophie«: »Gerade die Wende des Jahres 1933, die in vielem so stark zu einer Hegel-Renaissance geführt hat, hat Schmitt zu immer stärkerem Protest gegen Hegel veranlasst.« (CSHU 457) Hubers einleitende Ausführungen zu den »rechtstheoretischen Grundlagen« signalisieren also Zweifel, dass Schmitt tatsächlich den vollen Durchbruch zum »Ordnungsdenken« gefunden hat. Der Prüfstein Hegel war zwar von Schmitt her nicht abwegig, aber nur begrenzt tauglich und ließ sich überdies gegen Huber selbst wenden. 45 Aus Hubers Sicht konnte ein gründlicher Ein persönlicher Hinweis sei hier erlaubt: Der Prüfstein Hegel war auch der Türöffner für ein persönliches Gespräch mit Huber, das ich im Frühjahr 1988 führen konnte. Am 25. Januar 1988 schrieb ich Huber im Rahmen meines Dissertationsprojektes über Schmitt und Hegel an, dass ich »meinte festgestellt zu haben, dass Carl Schmitt sich in seinem politischen Denken konsequent auf Hegel beruft, um den marxistischen Atheismus und die Revolution ideell zu besiegen. Ich verstehe auch Ihre eigene Arbeit als Fortsetzung dieses Versuches.« Huber antwortete am 3. Februar 1988: »Zu einer Unterhaltung bin ich gern bereit. Ich muß allerdings vorweg bemerken, dass ich, nach den Anhaltspunkten, die ich aus dem persönlichen Umgang mit Schmitt besitze, dazu neige, ihn für einen Nicht-Hegelianer zu halten.« Heute sehe ich genauer, weshalb Huber überhaupt antwortete: Das Hegel-Thema war seiner Einschätzung nach für Schmitt-Forschungen keineswegs unwichtig; es war der einfachste Prüfstein auf »Ordnungsdenken«.

45

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XI. · Ernst Rudolf Hubers verfassungstheoretische Revision

Vergleich für die Klärung von Schmitts Verfassungslehre jedoch hilfreich sein. Eine neuhegelianische Schmitt-Kritik betraf dabei nicht nur den Buchstaben der Texte, sondern auch und vor allem die Beschreibung der Verfassungslage. Lorenz von Stein schien hier für eine solche Aktualisierung Hegels vorbildlich. Hubers Besprechungsabhandlung rekonstruiert Schmitts »Grundbegriffe der Staatstheorie« von den polemischen Antipositionen her und erörtert den »Neubau der Völkerrechtstheorie«. Huber bezieht dabei auch neuere monographische Schriften ein: das Leviathan-Buch sowie Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff und Völkerrechtliche Großraumordnung. Interessant ist auch seine Berücksichtigung von Schmitts Separatveröffentlichung 46 von Lorenz von Steins Aufsatz Zur preußischen Verfassungsfrage. Mit Lorenz von Stein stellen Schmitt und Huber die Verfassungsfrage für die Lage von 1940 und sprechen über »Verfassungsfähigkeit« und »Verfassungsunfähigkeit«. Huber markiert seine Differenz in der Wertung des deutschen Konstitutionalismus, den er, anders als Schmitt, vom Parlamentarismus deutlich unterscheidet, und liest Schmitts jüngste völkerrechtliche Schriften als Versuch, Macht und Recht erneut zu unterscheiden und die Großraumordnung als neue politische Ordnung vom alten »Imperialismus« abzusetzen. Auch im Kriegsgeschehen suchten Schmitts völkerrechtliche Schriften den Punkt der »Verwandlung der Machtlage in den Rechtszustand« (CSHU 484). Schmitt erwies sich damit, nach Hubers Rekonstruktion, gerade in seinen jüngsten Schriften erneut als ein Ordnungsdenker, der Rechtsverhältnisse identifizieren und von bloßen Machtlagen absetzen will. Schmitt dankt umgehend für das »Meisterstück an klärender, erhellender Darlegung« (CSHU 275). Das »Wort ›Auseinandersetzung‹ ist durchaus passend«, meint er, »ohne falschen Nebensinn, denn sie haben sich mit mir auseinanderzusetzen, weil wir sehr verschieden sind und Sie Ihre ruhige und unauffällige Eigenart mir gegenüber sehr wirksam zu behaupten wissen.« (CSHU 275) Schmitt versteht auch die Ausführungen zu Hobbes und Hegel in diese Richtung; sie würden ihn »zwingen, noch einmal Stellung zu nehmen.« Beide bejahen damals das Kriegsgeschehen noch, hoffen auf eine deutsche Hegemonie in Europa und Stabilisierung der Lage. Erst im September 1941, nach Beginn des Russlandfeldzugs, fragt Huber, 46

Lorenz von Stein, Zur preußischen Verfassungsfrage, Berlin 1940

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Rückblick auf Schmitt

»wie weit unser personalistisch-dynamisches System von Ordnung und Institution und damit von ›Verfassung‹ entfernt ist« (CSHU 288). Im November 1941 meint er dann: »Die letzten Jahre haben uns die Fragwürdigkeit der totalen Verstaatlichung des Individuums, die durch die völkischen Ideologien nur notdürftig verdeckt wird, sehr deutlich werden lassen« (CSHU 293). Huber erörtert die Lage nun als Verhältnisbestimmung von Reich, Staat und Volk. 47 Einerseits trägt er nun selbst Bedenken gegen die starke Identifizierung von Volk und Staat und die »Verstaatlichung« des Volkes, wie sie den Homogenitätstraum des Nationalstaats kennzeichnete; andererseits konstatiert er den Verlust staatlicher Standards im Großraum des Reiches. Der nationalstaatliche Identitätstraum war mit dem Kriegsgeschehen ausgeträumt. Die Expansion des Reiches führte zu neuen komplexen Verhältnissen von Reich, Staat und Volk. Das nationalsozialistische Reich eroberte fremde Völker und beherrschte sie nicht mehr in den überlieferten Formen neuzeitlicher Staatlichkeit. Schmitt und Huber beurteilen die »Verstaatlichung« von Volk und Reich nun ambivalent: Einerseits entpuppte der totale Staat sich als Leviathan; andererseits wirkten viele verworfene verfassungsstaatliche Hegungen doch zivilisierend. Huber und Schmitt sehen die Reichseinheit nun in nationalsozialistische Polykratie und Refeudalisierung zerfallen, weshalb der Reichszerfall der frühen Neuzeit ihnen auch ein verfassungsgeschichtlicher Spiegel wird. Huber schreibt nun endlich offen: »Aber man fragt sich doch oft, ob alles von unserer Seite geschehen ist, um dieses und andere Missverständnisse auszuschließen und ob wir nicht durch allzu schnelle und glatte Parolen die Verantwortung für eine Fehlentscheidung tragen, die wir in ihren ersten Ansätzen gefördert haben, ohne ihre Tendenz und Dynamik ganz zu übersehen.« (CSHU 304)

Unter Zensurbedingungen sind das deutliche Worte. Huber will nun »den Weg vom Bürger, vom Arbeiter, vom Soldaten wieder zum Menschen finden.« (CSHU 311) Die erhaltene Korrespondenz bricht im April 1944 ab. Die Nachkriegskorrespondenz setzt Anfang 1947 dann wieder ein und ist bis Ende 1950 sehr dicht, verstummt dann aber bis auf pietätvolle Rückerinnerungen fast vollständig. Dabei beErnst Rudolf Huber, Reich, Volk und Staat in der Reichsrechtswissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts, in: ZgStW 102 (1942), 593–627; ders., Lessing, Klopstock, Möser und die Wendung vom aufgeklärten zum historisch-individuellen Volksbegriff, in: ZgStW 104 (1944), 121–159

47

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XI. · Ernst Rudolf Hubers verfassungstheoretische Revision

ginnt sie zunächst vertraulich. Huber schreibt »aus dem Exil in das Exil« (CSHU 323). Schon Mitte 1948 zeigen sich aber erneut die alten »Wesensverschiedenheiten« und »Grenzen des gegenseitigen Verstehens«. Huber meint: »Ich glaube, die Dinge etwas anders als Sie zu sehen, und was ich dazu zu sagen hätte, würde eine Art Streitgespräch sein […] Ich meine allerdings auch, dass es notwendig ist, das in Nürnberg zusammengetragene Tatsachenmaterial voll in sich aufzunehmen und so wenigstens nachträglich ganz zu realisieren, was das ›Dritte Reich‹ als Vernichtungssystem effektiv bedeutet hat. Für den, der Akten zu lesen versteht, gibt es keine erschütterndere Dokumentation als den aktenmäßigen Niederschlag des Terrorismus.« (CSHU 333 f.)

Schmitt meint dazu: »Das Thema eines echten ›Streitgesprächs‹, das sich immer deutlicher ausprägt, betrifft aber mehr zwei ›Gestalten‹ rechtswissenschaftlicher Geistigkeit, als einzelne, isolierbare Fragestellungen. Das ist sehr aufregend, jedenfalls für mich, als den älteren. Doch müsste es eben ein Gespräch und nicht nur ein durch viele Hindernisse gestörter Briefwechsel sein.« (CSHU 337)

Schmitt nimmt die alten Fragen um Dezisionismus und Ordnungsdenken hier leicht ironisch mit Hubers Gestaltbegriff auf und entmoralisiert und entpolitisiert damit schon ein Stück weit die Auseinandersetzung; er fragt hinter die Fakten auf die Auffassungsweisen zurück und erklärt die Differenzen zur mehr oder weniger unverantwortlichen Charakterfrage. Die »Problematik des modernen Terrors« möchte er etwas anders diskutieren als Huber; er möchte mehr vom Nachkriegsterror des »säkularisierten Puritaner-Moralismus« sprechen. Hubers neuerlichem Engagement in Restformen der bündischen Bewegung begegnet Schmitt damals mit spitzen Zweifeln an der modernen »Massen-Demokratie«. Er richtet sich erneut gegen Hubers nationalistisches Vertrauen auf das »Volk« und meint: »Hitlers Macht hatte alle Legalität und sogar die demokratische Legitimität auf ihrer Seite […] Im Deutschland des Hitler-Regimes gab es aber nicht einmal den Schatten einer Gegen-Regierung!« (CSHU 341)

Huber teilt damals Schmitts negative Sicht der Nachkriegsentwicklung zwar noch recht weitgehend und sieht die Nürnberger Prozesse und den Umgang mit den nationalsozialistisch belasteten Professoren überwiegend negativ; er konfrontiert Schmitt aber auch mit den alten Differenzpunkten. So schreibt er 1950: 178 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Rückblick auf Schmitt

»Seit der Existentialismus eine makabre Modesache geworden ist, ist es misslich geworden, davon zu reden. Doch frage ich mich zuweilen, ob Ihre Art der Rechts- und Staatslehre nicht im Grunde ein Ausdruck existentialistischer Rechtsphilosophie ist. Die Argumentation von der Grenz-Situation her, das Durchstoßen durch die normativen Fiktionen zur Substanz des Daseins, das Wissen um existentielle Konflikte und um den Sinn existentieller Entscheidungen scheint mir mehr als nur einen Gleichklang des Vokabulars anzudeuten.« (CSHU 357 f.)

Huber wärmt hier die alte Dezisionismuskritik mit positivem Akzent wieder auf und behauptet erneut einen starken Konnex von Dezisionismus und Existentialismus. Deutlich verstimmt und verärgert ist Schmitt dann über Hubers eingehenden Brief vom Juni 1950 zum Erscheinen der Broschüre Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft; es war Schmitts erste selbständige Publikation nach 1945, eigentlich seit Land und Meer von 1942: Huber liest den »meisterlichen Essay« als neuerliche »Polemik gegen den Gesetzesbegriff«: »Bei aller Polemik gegen die legalitäre Instrumentalisierung darf dann wohl auch nicht vergessen werden, dass in dieser Endphase der Dekomposition nicht nur das ›Gesetz‹, sondern auch das ›Naturrecht‹ zu einem Werkzeug der Willkür, der Diskriminierung und des Terrors wird. Die Berufung auf ›konkrete Ordnung‹, auf ›gesundes Rechts- und Volksempfinden‹, auf irrationale Energien, auf Natur oder Vernunft, auf Gerechtigkeit und Menschlichkeit, auf christliches Naturrecht und auf göttliches Rechtsgebot wird so gut wie das Gesetz zu einer Waffe der planmäßigen Diskriminierung, Entrechtung und Vernichtung. So wird die Dekomposition erst vollendet, indem sich zur offenen Brutalität pseudo-legalitärer Setzungen das Gift pseudo-legitimer Beteuerungen gesellt, immer unter dem Beistand einer beflissenen Jurisprudenz. Es fragt sich, wo es in einem solchen Zustand noch ein Asyl des unverfälschten Rechtsbewusstseins geben kann.« (CSHU 365 f.)

Schmitt sieht die dilemmatische Lage der Rechtswissenschaft »zwischen Theologie und Technik« zwar ähnlich, verbittet sich aber Anspielungen auf seine Rolle. Huber notiert im nächsten Brief denn auch »eine gewisse Entfremdung«. So gespannt stand das Verhältnis schon Mitte der dreißiger Jahre, weshalb es sich nicht mehr einrenkt. Der Briefwechsel strandet in pietätvollen Erinnerungen an die Weimarer Zeit. Huber trifft seinen verehrten Lehrer nach Kriegsende in vierzig Jahren niemals wieder. Er gratuliert zum 65. und 70. Geburtstag und erinnert verspätet zum 75. Geburtstag an die »Tradition«, die Schmitt im »Reich des Geistes« (CSHU 379) gestiftet habe. Danach verstummt er fast völlig. 1976 fühlt Schmitt sich von Bemerkungen 179 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XI. · Ernst Rudolf Hubers verfassungstheoretische Revision

Hubers angegriffen. Es ärgert ihn, dass ihm der dritte Band der Verfassungsgeschichte die »Spitzmarke ›ultrakonservativ‹ angehängt« hatte. Schmitt appelliert gegenüber Huber an Amnestie und Indemnität und wünscht die Konfliktstrategie des beredten Schweigens. Huber schickt ihm weiter seine Publikationen. Die letzte Sendung von 1981, mit einem Aufsatz zum Richtungsstreit, der Smend gegen Schmitt lobt, nennt Schmitt am Briefrand dann »vergiftet«. Das Band knüpfte sich nach 1950 eigentlich niemals mehr ganz. Es lässt sich heute nur mutmaßen, weshalb nach 1945 keine persönliche Begegnung und Erneuerung der alten Bindung erfolgte. Für die diskrete Formulierung der persönlichen Differenzen griffen beide im Briefwechsel auf die typologische Unterscheidung des Dezisionismus und des Ordnungsdenkens zurück. Diese säuberliche Trennung der »Gestalten« war eine Beschwichtigungsformel, betonten beide doch das Ordnungsdenken als Grund des Dezisionismus. Huber konfrontierte Schmitt nach 1945 in der Korrespondenz mit ethisch-politischen Fragen zur nationalsozialistischen Zeit; Schmitt wehrte die briefliche Erörterung solcher Fragen ab; Huber mied aber die persönliche Wiederbegegnung. Zweifellos war die Erinnerungsarbeit für beide schmerzlich. Hubers energischer und konfrontativer Part war Schmitt dabei suspekt. Er empfand einen Schuss Rechthaberei und Überlegenheitsdünkel im Geständnis- und Wahrhaftigkeitspathos. Seiner Auffassung nach bedurfte er keiner Hinweise auf den Missbrauch von Legalität und Legitimität. Schmitt fühlte sich zur Rede gestellt und inkriminiert. Frühzeitig hatte er die Verfassungsfrage im Nationalsozialismus anders als Huber beantwortet; nach dem 30. Juni 1934 schon zweifelte er an der Verfassungsfähigkeit und wechselte aus der Rhetorik der Normalisierung in das Register des Ausnahmezustandes über. Er suspendierte 1934 bereits die Rhetorik des Normalzustandes, die Rede von Rechtsstaat und Verfassung, stellte seine Apologie auf eine antisemitische Sinngebung um und agierte immer hemmungsloser polemisch. Damals begann Huber erst den Schleier seiner Verfassungslehre über den Leviathan zu ziehen. Schmitt fand diese rosarote Tünche in ihrer Eigenart nicht weniger problematisch als seine Tinte des Ausnahmezustandes. Vermutlich meinte er, dass Hubers Selbstkritik sich in neue Illusionen verfing und mit ihrer Wahrhaftigkeitspose aufs hohe moralische Ross setzte. Huber stellte seinen ganzen Versuch rückblickend als Konsequenz der Option von 1933 dar. Die Weihen der Verfassungslehre 180 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Rückblick auf Schmitt

setzten eine permanente Bejahung der Frage der »Verfassungsfähigkeit« des Nationalsozialismus voraus. Schmitt hätte entgegnet, dass diese positive Entscheidung nach 1934 illusorisch war. Hubers rückblickende monumentale Verfassungsgeschichte endet mit dem »Untergang der Weimarer Republik«. 48 Huber spricht von einer »Machtübergabe« an die »totalitäre Herrschaft«, 49 wo er einst 1933 eine neue Verfassungsbemühung hatte entdecken wollen. Nachträglich stimmt er also dem Einwand zu, dass es irrig war, auf die Verfassungsfähigkeit des Nationalsozialismus zu bauen und eine Verfassung zu suchen. Allerdings weist er die »Verfassungsverantwortung« letztlich der deutschen Nation zu und spricht für die Alternative vom Januar 1933 – diktatorische Notstandsverfassung oder Machtübergabe an Hitler – von einer »fast ausweglosen« und »tragischen« Lage. Die »tragische Fragwürdigkeit der um die Jahreswende 1932/33 gegebenen Gesamtumstände«, schreibt Huber, schließt es aus, »von ›Schuld‹ im Sinn der ethischen Verantwortlichkeit« 50 zu sprechen. Nicht »Schuld«, sondern »Tragik« steht als letztes Wort auch zum eigenen Fall. Vieles wäre zu diesen Streitfragen zu sagen. Huber suchte nach 1945 jedenfalls die Aussprache über die politischen und moralischen Irrtümer und Verfehlungen. Kein anderer enger Weggefährte stellte Schmitt so zur Rede. Schmitt verweigerte seinem Schüler die Antwort auch nicht völlig, wollte aber nach 1945 nicht Hubers »Sündenbock« sein. So sehr Huber in der Korrespondenz mit Schmitt moralisch gewinnt, wird man diese Reserve auch verstehen.

Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. VII: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, Stuttgart 1984, 1255 ff.; Hubers spätere Quellensammlung endet ebenfalls 1933; seine erste Quellensammlung berücksichtigt allerdings auch die Nachkriegszeit: Ernst Rudolf Huber (Hg.), Deutsche Verfassungsdokumente der Gegenwart, Tübingen 1951 49 Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VII, 1281 50 Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VII, 1280 48

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XII. Anthropologische Fundamentierung? Arnold Gehlens objektivistische Wendung der Sozialphilosophie

Carl Schmitt und Arnold Gehlen werden als nationalsozialistische Rechtsintellektuelle und Institutionalisten oft miteinander kooptiert. Rekonstruktionen eines verwandten oder gemeinsamen Projekts finden sich schon früh. So zog Gerhard Lehmann 1943, in seiner Vorgeschichte und Geschichte der nationalsozialistischen Philosophie, eine Linie von Schmitt zu Gehlen. Zunächst markierte er mit Schmitt eine politische Wendung und »Korrektur« 1 der Existenzphilosophie: Mit seiner »Um- und Neuzentrierung des Politischen« 2 habe Schmitt die ältere »Staatszentrierung« überwunden; Gehlen habe dann die Konsequenz einer Umstellung der Staatsphilosophie »in Richtung einer politischen Anthropologie« 3 gezogen. So wird der politische Existentialismus heute noch häufig rekonstruiert: Man kanonisiert Heidegger, Schmitt und Gehlen als mehr oder weniger problematische Klassiker und Väter des »politischen Existentialismus« und kümmert sich nicht weiter um biographische Bezüge. Schmitt und Gehlen repräsentieren dann primär unterschiedliche Stadien in der Geschichte des deutschen Rechtsintellektualismus. Schmitt lernte Gehlen aber schon recht früh über Hans Freyer kennen. Es wäre auch naiv, die Beziehung nur vom akademischen Austausch und von intellektuellen Anregungen her zu rekonstruieren. Vielmehr stehen beide in komplexen politischen Vernetzungen. Eine umfassendere Konstellationsanalyse muss wenigstens Hans Freyer und Helmut Schelsky mit einbeziehen. Freyer war der LeipziGerhard Lehmann, Die deutsche Philosophie der Gegenwart, Stuttgart 1943, 498 Lehmann, Die deutsche Philosophie, 494 3 Lehmann, Die deutsche Philosophie, 504; Lehmann schließt seine Darstellung der Position Gehlens direkt an Schmitt an; er optiert gegen Koellreutter für Schmitt und rekonstruiert dann die nationalsozialistischen Hofideologen Rosenberg, Krieck, Baeumler und Heyse als »Ausdruck der nationalsozialistischen Bewegung«. Man wird dies auch als Versuch der Ausgrenzung nationalsozialistischer Hofideologie aus der reinen Theoriegeschichte lesen müssen. 1 2

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Zur Theorie des »objektiven Geistes«

ger Lehrer, Schelsky wurde Gehlens Assistent. Der Leipziger Philosoph Hugo Fischer gehört ebenfalls in diese Konstellation; Schmitt lernte ihn über Ernst Jünger kennen. Fischer war als Schüler von Felix Krüger der Herausgeber und Redakteur der Blätter für deutsche Philosophie. Jünger hatte in den 20er Jahren einige Zeit in Leipzig gelebt und war mit Fischer befreundet. Die Beziehung zwischen Schmitt und Gehlen ist vom Stichwort und Projekt »Philosophische Anthropologie« her kaum zu schreiben. Andere Aspekte sind für die Anfänge wichtiger: die nationalistischen Kreise in Berlin und Leipzig. Der philosophische Brennpunkt von Schmitts Interesse lag besonders bei der Debatte um Thomas Hobbes. Gehlen springt mit seinem Werk aus diesen Leipziger Anfängen heraus und steht für eine paradigmatische Umstellung des Rechtsintellektualismus und ein späteres Stadium des deutschen Nationalismus und Konservatismus. In dieser Umstellung und Modernisierung des Konservatismus liegt vermutlich ein Teil seiner Bedeutung und auch Distanz zu Schmitt. Schmitt verhandelte dies unter dem Stichwort der »Hegel-Linie«. Schon vor 1933 begann er mit der Konstruktion einer »anderen Hegel-Linie«, die sich gegen die Deutungshegemonie des Marxismus richtete, und schrieb Hans Freyer in diese Linie hinein. Die Konstellation SchmittGehlen wird deshalb hier von Freyer ausgehend kartiert.

1.

Zur Theorie des »objektiven Geistes«

Schmitt kommunizierte sehr universitär und stand vor und nach 1933 mit zahlreichen Juristen und Theologen, Historikern, Nationalökonomen und Soziologen im Gespräch. 4 Loser waren seine Kontakte in die Weimarer Universitätsphilosophie. Nur mit Hans Pichler und Eduard Spranger verkehrte und korrespondierte er näher. Öfters begegnete er Paul Ludwig Landsberg, dem Sohn seines Bonner Kollegen Ernst Landsberg. Berührungen mit Hans Lipps, Helmuth Plessner oder Leo Strauss waren dagegen eher peripher. Hobbes und Hegel interessierten Schmitt als »Klassiker« besonders intensiv. Die nationalistische Deutsche Philosophische Gesellschaft, die Kant-Gesellschaft und die Hobbes-Gesellschaft waren Foren gelegentlicher Vorträge. Erst mit der Veröffentlichung des Begriffs des Politischen Dazu meine Editionen in Schmittiana II N.F. (2014), 119–199 und Schmittiana III N. F. (2016), 23–118

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XII. · Arnold Gehlens objektivistische Wendung der Sozialphilosophie

begann die philosophische Auseinandersetzung mit Schmitts Werk dabei eigentlich. Leo Strauss, Helmut Kuhn, Herbert Marcuse und Karl Löwith schrieben philosophische Auseinandersetzungen. Diese »jüdischen« Heideggerschüler sahen Schmitt im Horizont des philosophischen Existentialismus, lasen Schmitt und Heidegger komplementär und versuchten deren Irrtümer und Irrwege wechselseitig zu erhellen. 1933 und 1945 gruppierte sich Schmitts akademisches Netz dann dramatisch um. Nur wenige Beziehungen blieben über die Zäsuren hinweg relativ ungebrochen und unverändert. Schmitt machte nun die Haltung zu den »Siegern von 1945« zu einem Prüfstein der Beziehungen. Engere Kontakte zerbrachen daran, losere ließen sich über die nationalsozialistischen Hypotheken und vergangenheitspolitischen Fragen hinweg halten und verschwiegen retten. Schmitt suchte seine Kontakte nach 1945 zwar nicht nur in den Netzwerken der Altnazis, nahm im Gespräch mit älteren Weggefährten aber selbstverständlich auch einen nationalsozialistischen Restkonsens und geteilte Überzeugungen vom »Unrecht« der alliierten Reeducation und bundesrepublikanischen Vergangenheitspolitik in Anspruch. Mit Freyer und Gehlen blieb er auch über den Umbruch von 1945 hinweg im Kontakt. Schmitt begegnete Freyer spätestens 1929 auf einer Tagung der Kant-Gesellschaft in Halle. Ein näheres Verhältnis datiert dann seit Freyers wiederholten Einladungen nach Ungarn. Schmitt machte seine positive Wertschätzung nach 1945 durch eine Rezension sowie einen Zeitungsartikel vom 25. Juli 1957 zum 70. Geburtstag publik. 5 Keinem anderen Weggefährten und Generationsgenossen widmete er eine solche Ehrung. Sein Geburtstagsgruß ist sachlich gewichtig: Schmitt stellt Freyer als »Europäer« ans Ende einer Linie Hegel-Dilthey-Freyer und schreibt ihm das Verdienst zu, die »erste Antwort« auf den Zweiten Weltkrieg gegeben zu haben. Er verknüpft diese Antwort mit dem eigenen Werk, wenn er Freyers »Aufhalter« in seine geschichtstheologischen Spekulationen vom »Aufhalter« hineinzieht und eine Parallele zur politischen Rolle im Nationalsozialismus zeichnet. Er erinnert an den Tyrannendiskurs und schlägt eine Brücke zu Platon in Syrakus, um sich mit Freyer zusammen in der Rolle des weisen Philosophen gegenüber dem Tyrannen zu sehen. Der Geburtstagsartikel ist nicht zuletzt eine Selbstapologie. Das gilt auch Carl Schmitt, Die andere Hegel-Linie. Hans Freyer zum 70. Geburtstag, in: Christ und Welt Nr. 30 vom 25. Juli 1957, 2 (bisher nirgendwo sonst abgedruckt)

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Zur Theorie des »objektiven Geistes«

für die Betonung der Feindschaft: »Ein Denker, der so exponiert in einer Linie steht, die mit Hegel beginnt, 6 hat sich intensivster Feindschaft zu versehen«, meint Schmitt: »Denn eine andere Linie, die ebenfalls mit Hegel beginnt, endet mit Lenin und Stalin, und diese Linie beansprucht für sich ein Monopol der Hegel-Deutung«. Schon vor 1933 betrachtete Schmitt den geschichtsphilosophischen Kampf um die »Sinndeutung« der Gegenwart als einen Kampf um Hegel und die »Hegel-Nahme«. Lukacs empfand er dabei als seinen stärksten Gegenspieler. Schon 1923 las er Geschichte und Klassenbewusstsein. Im Begriff des Politischen stellt er erstmals die »Frage, wie lange der Geist Hegels wirklich in Berlin residiert hat.« (BP 50) Er konstatiert einen Abbruch der Berliner »Aktualität Hegels« mit Friedrich Julius Stahl, »während Hegel über Karl Marx zu Lenin und nach Moskau wanderte« und gegenwärtig bei Lukács »am stärksten lebendig« sei. Damals beginnt Schmitt seinen Deutungskampf um Hegel. Verstärkt deutet er nun sein Gesamtwerk als eine Antwort auf den Marxismus. In seiner Programmschrift Staat, Bewegung, Volk schreibt er, dass Hegels Staat mit dem 30. Januar 1933 »gestorben« sei. Das wurde als politisches Signal sogleich intensiv vernommen. Während Marcuse beispielsweise die Wendung gegen den Marxismus heraushörte, las Heidegger es im Hegel-Seminar des Wintersemester 1934/35 empört als Absage an die rechtsphilosophische Apologie des Nationalsozialismus. 7 In seinem Bericht von einer Privataudienz bei Mussolini 8 markierte Schmitt mit der Frage nach der »Aktualität« Hegels die Verhältnisbestimmung von Partei und Staat. Hegel hatte die »Wirklichkeit der sittlichen Idee« im Primat des Staates verankert. Während der Nationalsozialismus mehr auf die »Bewegung« setzte, propagierte Mussolini den »Staat«. Staat, Bewegung, Volk wirft die Frage nach dem Primat zu einem Zeitpunkt auf, als Schmitt noch eindeutig als Apologet des Nationalsozialismus auftritt. Die verfassungsgeschichtliche Programmschrift Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches thematisiert die damaligen Auseinandersetzungen um Staat und Revolution, im Frühjahr Schmitt verweist häufiger auf Joachim Ritter, Hegel und die Französische Revolution, Köln 1957 7 Dazu vgl. Herbert Marcuse, Rez. Schmitt, Begriff des Politischen, 1933, in: Zeitschrift für Sozialforschung 3 (1934), 102–103; Heidegger in HGA 86, 85, 606; dazu Verf., Heideggers ›große Politik‹, 2016, 104 ff. 8 Carl Schmitt, Faschistische und nationalsozialistische Rechtswissenschaft, in: Deutsche Juristen-Zeitung 41 (1936), Sp. 337–341 6

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1934, vielleicht mit leisen Bedenken gegen den Primat der Revolution und für den Erhalt »etatistischer« Formen. Nach 1945 kehrt Schmitt seinem Kampf um die »Hegel-Nahme« und »Aktualität« Hegels dann im Zeichen des Kalten Krieges wieder gegen den Marxismus. Der Neuausgabe von Land und Meer fügt er 1981 noch eine Nachbemerkung an, die seine Ausführungen als »Anfang eines Versuches« bezeichnen, § 247 von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts gegen die marxistische Auslegung Hegels »zur Entfaltung« (LM 109) zu bringen. Schmitt konstruiert zwei Hegel-Linien im Weltbürgerkrieg: Als Gegenmacht des Stalinismus erscheinen Europa und der »europäische Geist«. Schmitt positioniert sich so in vorderster Front des Weltbürgerkrieges um Hegel. Lukács 9 trat damals auch tatsächlich gegen Dilthey und dessen »theologische« Sicht des jungen Hegel an. 10 Wenn Schmitt Hans Freyer als Statthalter und Stellvertreter in die Lücke des eigenen Namens und »andere Hegel-Linie« hineinschreibt, kann er sich etwa auf dessen Theorie des objektiven Geistes und Theorie des gegenwärtigen Zeitalters beziehen. 11 Ausdrücklich nennt er Freyers Konzept vom »sekundären System«. Damit bezeichnete Freyer 1955 in seiner – im Titel auf Fichte anspielenden – Theorie des gegenwärtigen Zeitalters ein idealisiertes »Modell« vom »industriellen System« und der »modernen Sozialstruktur« als Form der »Entfremdung«. 12 Freyer richtete sich ausdrücklich gegen Marx’ Konzept von der Entfremdung des »Proletariats« im industriellen System. Er verwies auf die »Gleichzeitigkeit des Nicht-Gleichzeitigen« 13 und die konservativen Ressourcen der »Zeitschichten« (Reinhart Koselleck) und formulierte Topoi des neueren bundesrepublikanischen Konservatismus. Schmitts Einordnung Freyers in die »andere Hegel-Linie« ist also nicht unbegründet. Die Engführung eines Weltbürgerkriegstheorems mit einer Rezeptionsgeschichte Hegels ist aber Georg Lukács, Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie, Zürich 1948 10 Wilhelm Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. IV, Leipzig 1921, 1–187; vgl. Hermann Nohl, Hegels theologische Jugendschriften, Tübingen 1907 11 Hans Freyer, Theorie des objektiven Geistes, 2. Aufl. Leipzig 1928; Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie, Leipzig 1930; Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955 12 So etwa Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, 89 13 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, 7 9

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Zur Theorie des »objektiven Geistes«

sachlich problematisch. 14 Welches Kontinuitätsband sollte die »andere Hegel-Linie« von Dilthey zu Freyer und Schmitt genau charakterisieren? Sollte sie durch theologische, philosophische oder politische Überzeugungen geeint sein? Wirkte Diltheys Hegel-Interpretation überhaupt in die Sozialwissenschaften? Diltheys Werk rezipierte Schmitt zwar nur peripher; DiltheySchülern wie Spranger stand er distanziert gegenüber und den kulturprotestantischen Hegelianismus lehnte er ab; Schmitt lehnte aber auch den juristischen und rechtsphilosophischen Rechts-Hegelianismus der Zwischenkriegszeit ab. Das zeigt sich sowohl in seinem Unverhältnis zu Karl Larenz als auch in seinem Desinteresse gegenüber Hubers Versuchen, die Verfassungstheorie mit Hegel (und Smend) zu dynamisieren und an die »gesamten Staatswissenschaften« anzuschließen. Schmitt gehörte buchstäblich nicht in die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Hegelianismus nach Dilthey oder Julius Binder. Sicher gehörte er zwar irgendwie in die »idealistische« Tradition; Schlüsselbegriffe von Hegels Philosophie des »Geistes« mied er aber. So sprach er, anders als Freyer, nicht terminologisch vom »objektiven Geist«. Eine Linie Hegel-Dilthey-Schmitt ist sehr fragwürdig. Als philosophiegeschichtliche These lässt sie sich kaum halten und als politisch-theologische Aussage ist sie noch problematischer. Sinnvoll ist dagegen eine Linie Hegel-Dilthey-Freyer, auch wenn sie Freyers Hegelrezeption aus philosophiegeschichtlicher Sicht zu viel Ehre gibt. Diltheys großangelegte Geistesgeschichte und Weltanschauungslehre trägt nun zweifellos einige Züge konservativer Traditionsbewahrung. Dilthey war aber nicht Gadamer. Dilthey historisierte – unter ausdrücklicher Berufung auf Comte – die antike »Metaphysik« und stellte sich emphatisch in die »organische« Geisteswissenschaft des protestantisch-preußischen Idealismus und der Berliner Historischen Schule. Dabei hielt er starke philosophische Ansprüche fest. Seine »Geisteswissenschaft« war keine rein historisch-philologische und positivistische Disziplin. Diltheys Weltanschauungslehre verstand sich dezidiert als »Philosophie der Philosophie« und betrachtete die Philosophie nicht nur »von außen«. Dilthey betrieb Philosophie Dazu vgl. Hubert Kiesewetter, Von Hegel zu Hitler. Eine Analyse der Hegelschen Machtstaatsideologie und der politischen Wirkungsgeschichte des Rechtshegelianismus, Hamburg 1974; Henning Ottmann, Individuum und Gemeinschaft bei Hegel. Hegel im Spiegel der Interpretationen, Berlin 1977

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XII. · Arnold Gehlens objektivistische Wendung der Sozialphilosophie

nicht aus der Beobachterperspektive und vertrat keinen strengen »historischen Relativismus«, sondern suchte eine »Überwindung des Relativismus«. 15 Windelband und Troeltsch, Weber, Jaspers und viele andere übernahmen dann diese Aufgabe. Dieser – oft übersehene – systematische Anspruch ist in Diltheys »Philosophie der Philosophie«, seiner späten Weltanschauungslehre, am besten greifbar. Autoren wie Georg Simmel und Karl Jaspers haben das auch sogleich erkannt. Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen von 1919, 16 stark auf Heidegger wirkend, ist nicht zuletzt eine Antwort auf Dilthey und Weber. Webers Religionssoziologie hatte eine Typologie der wenigen rational möglichen Weltanschauungsoptionen aus sinnverstehender Beobachterperspektive entworfen. Jaspers ging mit seiner geisteswissenschaftlich »verstehenden« Psychologie der Weltanschauungen philosophisch weiter. Damit ging er auf Dilthey zurück. Die Überzeugung vom pluralen und antinomischen Charakter weniger rational vertretbarer Weltanschauungen war Dilthey schon in seinem Berliner Lehrer Trendelenburg begegnet. Dilthey schrieb Hegels philosophische Geschichte des »absoluten« Geistes mit Trendelenburgs antinomischem Pluralismus der Systeme in seine Weltanschauungslehre um. Weber und Jaspers (später auch Gehlen) gingen anschließend ebenfalls von einer begrenzten Anzahl möglicher Weltanschauungen aus. Dilthey unterschied hier vor allem den »Naturalismus«, »Idealismus der Freiheit« und »objektiven Idealismus«. Dabei neigte er mit Hegel und Goethe dem »objektiven Idealismus« zu. Dieser »objektive Idealismus« unterschied sich sehr von Freyers Theorie des objektiven Geistes. Schmitt lehnte zwar den »Pluralismus« und »Polytheismus« (Max Weber) der Weltanschauungen jederzeit ab, bestritt aber nicht das Faktum, sondern er bekämpfte es politisch-theologisch. Der Kampf implizierte die Anerkennung gegebener und sinnvoll möglicher Pluralität. Einen »absoluten Geist« setzte Schmitt nicht als objektives Datum voraus. Was besagt dies nun für seine »andere Hegel-Linie«? Diese Linie ist kein streng philologischer Befund, sondern nur eine vage und lose »geisteswissenschaftliche« Ausrichtung der Sozialwissenschaften. Ohne Dilthey kein Freyer. Auch Spranger sah es so und zählte Freyer Vittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie. Rückblick auf den deutschen Geist, München 2013, 235 f. 16 Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919 15

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Anthropologischer Unterbau?

zu den »Nachfolgern Diltheys«. 17 Aus philosophiegeschichtlicher Sicht hätten andere Autoren allerdings eher Anspruch auf Hegelund Dilthey-Nachfolge. Einen profilierten sozialphilosophischen Hegelianismus vertrat vor 1933 beispielsweise Theodor Litt, 18 an den sich die Verfassungstheorie Smends anschloss. Auch Spranger 19 oder Nicolai Hartmann 20 wären zu nennen. Sinnvollerweise kann Schmitt mit seiner »anderen« Linie eigentlich nur den Anspruch auf eine philosophische Theorie des »objektiven Geistes« meinen. Der Schlüsselakzent liegt hier auf der Theorie des »objektiven Geistes«, einer Kultur- und Sozialphilosophie, die kulturelle Werke als »Objektivationen« menschlicher Tätigkeit und Schöpfungskraft ansieht. Das Subjekt des »Geistes« ist das menschliche Individuum, das mit seiner Energie und Kraft des »Geistes« in einem Prozess der Zivilisation oder Geschichte des »objektiven Geistes« steht, den der »subjektive« Geist auch in seinen unhintergehbaren »absoluten« Voraussetzungen und Formen reflektiert.

2.

Anthropologischer Unterbau?

Das Projekt der Philosophischen Anthropologie war eine Haupttendenz der Philosophie der Zwischenkriegszeit. Der Darwinismus hatte die Mensch-Tier-Differenz fundamental in Frage gestellt. Das Projekt der philosophischen Anthropologie antwortete auf diese Herausforderung und betonte die Mensch-Tier-Differenz, Andersartigkeit und »Exzentrizität« des Menschen, erneut als Abwehrgefecht der humanen und philosophischen Freiheitspräsupposition. Franz Kafka kassierte die Differenz dagegen literarisch. 21 Wissenschaftsgeschichtlich anregend waren damals erste empirische Studien zur VerhaltensforEduard Spranger, Grundfragen der Psychologie, 1957, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. IV, Tübingen 1974, 94–125, hier: 118 18 Theodor Litt, Individuum und Gemeinschaft. Grundfragen der sozialen Theorie und Ethik, Leipzig 1919; ders., Hegel. Versuch einer kritischen Erneuerung, Heidelberg 1953 19 Dazu etwa Eduard Spranger, Objektiver Geist, 1934, in: Grundlagen der Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften Bd. VI, Tübingen 1980, 184–200 20 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, Berlin 1933 21 Franz Kafka wählte die literarische Perspektive der »Verwandlung« des Menschen in tierische Lebensformen und erhob das Tier zum Paradigma existentieller Defizienz des Menschen gegenüber seinen humanen Potentialen. Kafkas Tiere wählen dabei – 17

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XII. · Arnold Gehlens objektivistische Wendung der Sozialphilosophie

schung und Intelligenz der höheren Primaten (Wolfgang Köhler). Das Projekt einer philosophischen Anthropologie diente der Empirisierung, Modernisierung, Aktualisierung und Verteidigung der »exzentrischen« Sonderstellung und Freiheit des Menschen. Schmitt kannte die wichtigsten Hauptvertreter des »Projekts« allesamt persönlich: Max Scheler, Paul Ludwig Landsberg, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen. Gelegentlich begegnete er Hans Lipps und auch Erich Rothacker, der dem Projekt mitunter zugeordnet wird. 22 In näherer Beziehung über einen längeren Zeitraum hinweg stand er aber nur mit Gehlen. Gehlen betrachtete den Menschen mit Nietzsche als ein »nicht festgestelltes« Tier und polykompetentes Mängelwesen. Nach 1945 wandte er sich verstärkt der sozialphilosophischen Kritik der Bundesrepublik zu. In den 50er Jahren begegnete er Schmitt wiederholt. Die – nicht vollständig erschlossene – Korrespondenz umfasst die Jahre 1937 bis 1962. Die Erwartung liegt nahe, dass Schmitt sein »anthropologisches Glaubensbekenntnis« mit Gehlens Anthropologie irgendwie empirisierte, naturalisierte und soziobiologisch präzisierte. »Anthropologische« Fragen stehen aber in der Korrespondenz ganz im Hintergrund. Überhaupt waren Schmitt und Gehlen beide keine forschen Naturalisten und Biologisten. Gehlens Anthropologie wird vielmehr als Kulturalismus kritisiert. 23 Schmitt wie Gehlen gehen beide von der weltoffenen Freiheit des naturalistisch »nicht festgestellten« Tieres Mensch aus. Schmitt setzt die neuere Abgrenzung und Grenzbestimmung der philosophischen Anthropologie voraus. Auf eine biologistische oder ethologische Betrachtung des Menschen lässt er sich nicht ein. Die politische Betrachtung trennt er von der biologischen ab: Für ihn ist der Mensch selbstverständlich kein Tier. im Bericht für eine Akademie – als »Mängelwesen« in der Alternative »Zoologischer Garten oder Varieté« das Humanexperiment des Varietés. 22 Dazu vgl. Erich Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, Leipzig 1938; vgl. Verf., Nationalsozialistische Erfahrung und begriffsgeschichtliche Revision. Der Briefwechsel zwischen Erich Rothacker und Carl Schmitt 1933–1960, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 63 (2015), 727–741 23 Mit guten Gründen Henning Ottmann, Gehlens Anthropologie als kulturalistische Theorie, in: Helmut Klages u. Helmut Quaritsch (Hg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens, Berlin 1994, 469–481; ähnlich auch Herbert Schnädelbach, Nachwort zu: Arnold Gehlen, Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Reinbek 1986, 267–277, hier: 269 (»extrem kulturalistisches ›Bild vom Menschen‹«); vgl. Johannes Weiß, Weltverlust und Subjektivität. Zur Kritik der Institutionenlehre Arnold Gehlens, Freiburg 1971

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Anthropologischer Unterbau?

Schmitt glaubte an die menschliche »Freiheit« und strebte – vor und nach 1933 – niemals eine starke Naturalisierung und Animalisierung des Menschen an. Sein »anthropologisches Glaubensbekenntnis« war als analytische Voraussetzung der Herrschaftsbedürftigkeit des Menschen für diverse fundierende Theorieangebote offen. 24 Schmitt hatte kein Interesse an einer Einschränkung der Anschlussfähigkeit seiner Theorie an diverse Fundierungstheorien. Sicher zielte er nicht auf eine starke Empirisierung und Naturalisierung seines anthropologischen Credos. Eine sachliche Nähe zwischen Hobbes und Gehlen genügte ihm als anthropologischer Unterbau völlig. Am 8. Juli 1931 sprach er auf Einladung der Philosophischen Gesellschaft in Leipzig über seinen Begriff des Politischen. Alfred Baeumler, Felix Krüger und Freyer waren beim Vortrag anwesend. Vielleicht saß auch der Leipziger Privatdozent Gehlen damals im Publikum. Die erhaltene Korrespondenz 25 beginnt aber erst 1937 mit Schmitts Sendung seines Aufsatzes über den Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes. 26 Schmitt zitierte später eigentlich nur Gehlens Fichte-Buch (FP 900) 27 und schätzte ein religionsgeschichtliches Interesse, das die späteren Schriften dann aber enttäuschten. Schmitt blieb bei seiner »theologischen« Letztauffassung, während Gehlen auf »Anthropologie« umstellte und so für ein späteres Stadium des Rechtsintellektualismus paradigmatisch wurde. Dennoch schickte Schmitt ihm auch in den nächsten Jahren regelmäßig Bücher und Schriften. Am 21. Januar 1938 sprach er »in der von Prof. Arnold Gehlen geleiteten Philosophischen Gesellschaft in Leipzig« (L 5) über Hobbes’ Leviathan. Einen besseren Auftakt konnte die Beziehung kaum haben. Gehlen wechselte dann aber nach Königsberg. Anknüpfend an Schmitts Publikation über Lorenz von Stein erörterte er in So schon sehr klar Udo Tietz, Anthropologischer Ansatz politischer Theorien. Die Freund-Feind-Distinktion von Carl Schmitt und das animal rationale, in: Reinhard Mehring (Hg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003, 123–138 25 Diese Korrespondenz habe ich vor einigen Jahren bereits anhand der Briefe Gehlens vorgestellt. Inzwischen wurden mir wenige Briefe Schmitts an Gehlen aus dem Marbacher Nachlass Gehlens zugänglich. Dazu Verf., Enttäuschende Entwicklung? Arnold Gehlens Briefe an Carl Schmitt, in: Berliner Debatte Initial 18 (2007), 105–112 26 Dazu die Replik von Helmut Schelsky, Die Totalität des Staates bei Hobbes, in: ARSp 31 (1938), 176–193; vgl. ders., Thomas Hobbes. Eine politische Lehre, Berlin 1981 27 Arnold Gehlen, Deutschtum und Christentum bei Fichte, Berlin 1935 24

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XII. · Arnold Gehlens objektivistische Wendung der Sozialphilosophie

einem langen Brief vom 20. September 1940 das Verhältnis des deutschen Idealismus zum Christentum und zur »›deutschen Bewegung‹« und stellte Fichte dabei über Hegel. Die Wirkungen des Idealismus erklärte er für einen »Drehschwindel« (RW 265–4673), der die Religion säkularisierte und so ein überholtes Deutungsschema konservierte. Schmitts Aufsätze der frühen 40er Jahre über »staatliche Souveränität« und die Funktionselite der »Legisten« machten ihm aber einen starken Eindruck und wirken bis ins Spätwerk nach. Schmitt schickte Gehlen noch Land und Meer. Von 1943 bis 1947 gibt es dann eine Lücke in der erhaltenen Korrespondenz. Am 1. April 1948 nimmt Gehlen die Korrespondenz mit der Absicht wieder auf, an die frühere »Bekanntschaft« anzuknüpfen. Er erklärt seine »Befriedigung«, »dass das Erdbeben den Seismographen nicht zerschlug« (RW 265–4677). Gehlens starke Formulierung amnestiert die Schuldfrage gleich doppelt: Die Weltgeschichte erscheint als »Erdbeben« und Schmitt als »Seismograph«. Gehlen formuliert aber dann doch auch ein Interesse an der Erörterung von Schuldfragen, wenn er weiter schreibt: »Die Unterhaltungen zwischen Ihnen und Herrn [Robert] Kempner gehört zu haben, würde ich viel geben, umsomehr, da ich als Philosoph bereits eine berühmte Unterhaltung versäumte, die zwischen Spinoza und Leibniz.« Schmitts Nürnberger Untersuchungshaft rückt hier in den Rang eines klassischen Disputs. Gehlen suspendiert unangenehme Fragen nicht gänzlich, sondern deutet nur an, dass er Schmitt gegenüber aus Interesse am Gespräch auf moralisch-politische Beschuldigungen verzichtet. Am 21. April 1948 kritisiert er mit Bezug auf Legalität und Legitimität das aktuelle »Fehlen jeglicher Legitimitätsgrundlage«, »nachdem die plebiszitäre Legitimität vom N-S-mus kompromittiert wurde« (RW 265–4678). Schmitts monographische Publikationen von 1950 liest Gehlen interessiert. In diesen Jahren ist die Beziehung recht intensiv: Das früher asymmetrische Verhältnis zum »Staatsrat« ist nun ausgeglichen; beide teilen die politische Sicht der NS-Belastungen nach 1945. Schmitt ist inzwischen aus dem universitären System ausgeschieden, Gehlen an der Verwaltungs-Akademie Speyer noch nicht voll etabliert. Legitimitätsfragen der frühen Bundesrepublik tragen das Gespräch. Gehlen kritisiert damals den »Planismus« und »Sozialterror« der Industriegesellschaft (RW 265–4685). Die erste Hamlet-Publikation von 1952 nimmt er interessiert auf. Mitte März 1953 kommt es zu einer näheren Begegnung in Plettenberg. Am 65. Geburtstag Schmitts nimmt Gehlen dann aber im Juli 1953 nicht teil. Im April 192 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Anthropologischer Unterbau?

1956 wünscht er eingehende Äußerungen über Urmensch und Spätkultur. Die »maliziöse und giftige Kritik von Habermas in der Frankfurter Allg.« 28 findet er damals »ganz passend, man kann seine Distanz zu dieser Art Kultur, wie sie dort propagiert wird, nicht deutlich genug betont wünschen.« (RW 265–4693) Gehlen kommt es »nur noch auf das Urteil Weniger an, darunter das Ihre«. Das aber scheint auszubleiben. Stattdessen gibt es eine Verstimmung: Gehlen scheint im Streit mit Johannes Winckelmann eine Parteinahme zu erwarten; Schmitt stand Winckelmann aber persönlich näher. Sachlich betrifft der Streit den Unterschied zwischen einem herrschaftssoziologischen und einem genuin juristischen Legitimitätsbegriff. Schmitt sieht Gehlen hier mit Weber auf der Seite der empirisch beschreibenden Herrschaftssoziologie und stellt sich dagegen an die Seite Winckelmanns. Gehlens letzter im Nachlass erhaltener Brief datiert vom 11. Juli 1956, Schmitts 58. Geburtstag. Das Verhältnis ist damals zwar noch nicht zerbrochen; beide begegnen sich 1957 auch auf Freyers 70. Geburtstag wieder; starke positive Referenzen an Gehlens Werk finden sich in den Schriften aber nirgendwo. Gehlen zitiert Schmitt nur spärlich; anders als Freyer ist er auch an keiner Festschrift beteiligt. Anfang der 60er Jahre klingt das Verhältnis ruhig aus. Eine letzte Karte vom »Palmsonntag 1962« gratuliert zur »neuen Verortung« an der RWTH-Aachen. Als Gehlen räumlich näher kommt, ist das Verhältnis schon fast eingeschlafen. Ein intensives persönliches und sachliches Verhältnis haben beide eigentlich nie gehabt. Gehlens »Philosophie« ist für Schmitt systematisch nicht wichtig. Starke Referenzen an Philosophen mied er insgesamt. Das Interesse an Gehlen ist eher zeitdiagnostisch und politisch. Dabei spricht Schmitt Gehlen auch als »Besiegten von 1945« an. Schmitt las Gehlen vor allem als Sozialphilosophen, dessen Philosophie ein polemisches Potential bereitstellte. Gehlens Spätwerke profilieren polemische Antithesen und Gegenbegriffe. Eine atavistische Moral vom Urmenschen spielte Gehlen aber nicht ernstlich gegen die spätkulturelle »Hypermoral« der frühen Bundesrepublik aus. Seine Spätphilosophie war mehr polemisch gemeint. Das gefiel Schmitt, auch wenn er als Jurist den moralphilosophischen Kritikmodus nicht brauchte. Dazu Jürgen Habermas, Der Zerfall der Institutionen, in: FAZ vom 7. April 1956; Wiederabdruck in ders., Philosophisch-politische Profile, 3. Aufl. Frankfurt 1984, 101–106

28

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XII. · Arnold Gehlens objektivistische Wendung der Sozialphilosophie

3.

Institutionalismus von Schmitt zu Gehlen

Gehlens philosophische Anthropologie war für Schmitt nicht sonderlich wichtig. Größer scheinen die Nähen in der Institutionenlehre. Vor 1933 sprach Schmitt bereits von »institutionellen Garantien« und »Institutionsgarantien« und meinte das Beamtentum und die »neutralen Größen« des Staates überhaupt. Nach 1933 propagierte er ein »konkretes Ordnungsdenken«, das er auch als »Theorie der Institutionen« (DARD 18. 38 f.) bezeichnete. Gehlens »Philosophie der Institutionen« macht zwar keine starke Referenz an Schmitt. Dessen Verfassungslehre wurde aber für die Entstehung eines bundesrepublikanischen »Institutionalismus« wichtig. 29 Buchstäblich nimmt Gehlen den Institutionalismus in der neueren Fassung der Verwaltungslehre Forsthoffs postmetaphysisch und säkular ernüchtert auf. Gehlen weitet den Begriff der Institutionen aber philosophisch aus und überdehnt ihn geradezu zu einem Synonym für kulturelle Werke überhaupt. Das schwächt den Objektivismus des Institutionenappells und stärkt die Verfügungsmacht der »Subjektivität«. Der Ausweitung des Institutionenbegriffs korrespondiert deshalb auch eine kompensatorische Dramatisierung der Subjektivismuskritik, über das Niveau an Individualismusschelte hinaus, wie sie Schmitt etwa in der Politischen Romantik formulierte. Vittorio Hösle schreibt in seinem Rückblick auf den deutschen Geist, dass Gehlen »die Würde des Menschen darin sah, sich von einer Institution konsumieren zu lassen«. 30 Der Institutionalismus zielte auf eine politische Entschärfung des Subjektivismusproblems durch den »entlastenden« Hinweis auf strukturelle »Hintergrunderfüllungen« und Prädeterminationen vor jeder Individualitätskultur. Heidegger hatte die individualistische Beschreibung des Menschen in Sein und Zeit durch die »Sorge« um das endliche »Dasein« ersetzt. Bei Forsthoff tritt die »Daseinsvorsorge«, 1938 erstmals formuliert, 31 dann explizit an die Stelle der suspendierten »bürgerMichael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. IV: 1945– 1990, München 2012, 211 ff.; vgl. Florian Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit, Berlin 2011 30 Vittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie. Rückblick auf den deutschen Geist, München 2013, 277; kurze Einordnung Gehlens auch bei Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, 285 ff. 31 Ernst Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, Berlin 1938 29

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Genealogische Ethos-Analyse als Sozialphilosophie?

lichen« Grundrechte. Karl Jaspers 32 sprach in seiner Broschüre über Die geistesgeschichtliche Lage der Zeit noch von der »Massenordnung in Daseinsfürsorge«. Forsthoffs semantischer Shift von der personalen und caritativen »Fürsorge« zur strukturellen und entpersönlichten »Vorsorge« markiert einen epochalen Bruch. 33 Seine »Daseinsvorsorge« meint einen infrastrukturellen Leistungsstandard des Staates, der vom konkreten Rechtsanspruch des Individuums semantisch entkoppelt ist. Institutionen sind transpersonal und unpersönlich. Der Begriff der Institution ratifiziert die Wendung vom »bürgerlichen Rechtsstaat« zum »totalen« Wirtschafts- und Verwaltungsstaat der Industriegesellschaft. Gehlen erklärt das bürgerliche Individuum nicht zum normativen Maßstab, Grund und Zweck der Gesellschaft. Stattdessen spielt er den kollektiv gebundenen »Urmenschen« gegen die »Spätkultur« aus. Schmitts »konkretes Ordnungsdenken« ist hier zwar ein Vorgänger, Forsthoffs Werk repräsentiert dann aber die Tabula rasa einer entindividualisierenden Verwaltungslehre, die Gehlen für seine polemische Beschreibung der »Spätkultur« gebrauchte. Von Schmitt über Forsthoff zu Gehlen kommt es so zu erheblichen Umbildungen des Institutionalismus. Wie steht es aber um diejenige Institution, die für Schmitts Institutionalismus zentral war? Wie steht es um Gehlens Staatsbegriff? Ist hier ein spezifischer Einfluss Schmitts erkennbar?

4.

Genealogische Ethos-Analyse als Sozialphilosophie?

Schon Urmensch und Spätkultur, diese »Philosophie der Institutionen«, ist als polemische Konfrontation des »Urmenschen« mit der Spätkultur des »Zeitalters der Subjektivität« eine Streitschrift. Mehr noch ist Moral und Hypermoral (MH) 34 eine polemische Streitschrift. Anthropologische Forschung im anspruchsvollen Sinne findet sich hier nicht mehr. Auch eine philosophische Ethik, im Untertitel versprochen, wird analytisch kaum geboten. Akademisch erscheint die Schrift geradezu fahrlässig. Im Vorwort verweist Gehlen selbst auf seinen ausgiebigen oder ausufernden »Gebrauch« von Zitaten. Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1931, 25 ff. Dazu vgl. Michael Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland. Ein Grundriss, Stuttgart 2003 34 Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt 1969 32 33

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XII. · Arnold Gehlens objektivistische Wendung der Sozialphilosophie

Ziemlich wahllos reichert er sein Werk mit kontingenten Lesefrüchten an. Es liest sich über weite Strecken wie der umgestürzte Zettelkasten eines launigen Politschwadroneurs. Statt des Gegenbildes vom »Urmenschen« finden sich nun Antike-Rekurse, die Spätkultur wird am Zerrbild der Bundesrepublik verhandelt. Moral und Hypermoral ist ein hypertropher Essay. Will man ihn in seiner Stärke nehmen und seinen thematischen Kern genauer erfassen, muss man sich von deontologischen Erwartungen lösen und den Text in der Nachfolge von Nietzsches Genealogie der Moral als eine Ethos-Analyse oder Moralsoziologie lesen. Gehlen bietet eine Kritik des »Humanitarismus«. Dafür zitiert er Antisthenes und Zenon eingangs ohne philologischen Anspruch als antike Autoren des Humanitarismus. Gehlen konstatiert einen Konnex von Kosmopolitismus und Humanitarismus sowie eine Allianz zwischen Humanitarismus und »Eudaimonismus«. Er zitiert Lesefrüchte herbei, ohne seine starken Thesen wirklich auszuführen. Dünn belegt sind etwa die ethnologischen und anthropologischen Thesen zum Ursprung des »Ethos der Gegenseitigkeit« 35 in der Familie und zur Spannung von »Familienethos« oder »Sippenethos« und »Staatsethos«. Als »Moralhypertrophie« betrachtet Gehlen die Übertragung eines Familienethos auf das Staatsethos. Er nimmt ältere Diskussionen um die Eigenart einer »politischen Ethik« auf 36 und macht das Christentum und den neueren Protestantismus (Karl Barth) für die spätkulturelle Hypermoral besonders verantwortlich. Seine »pluralistische Ethik« betont die konfligierenden Ansprüche von Familie, Kirche und Staat und konzentriert sich auf die Spannung von Familie und Staat. Das Kapitel »Staat« verteidigt das »Eigenethos des Staates« (MH 104), ein »Institutions-Ethos«, als »Machtethos« gegen das »Humanitätsethos« (MH 114). Hier beruft Gehlen sich auf die verfassungsgeschichtliche Sicht von Schmitt und dessen Schule. Dabei liest er Forsthoffs »Daseinsvorsorge« als etatistische Kritik am Wandel der Staatsaufgaben. Was er seiner Konfrontation von Moral und Hypermoral an beiläufigen politischen Konnotationen beimischt, ist teils unqualifiziert und ärgerlich. Am Ende verteidigt er die »Sprach-

Dazu schon Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Bonn 1956, 50 ff. 36 Dazu auch Hans Freyer, Antäus. Grundlegung einer Ethik des bewussten Lebens, Jena 1922; Preußentum und Aufklärung und andere Studien zu Ethik und Politik, Weinheim 1986; Machiavelli, Leipzig 1938 35

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Genealogische Ethos-Analyse als Sozialphilosophie?

losigkeit« seiner pointillistischen Impressionen gegen die bundesrepublikanische »Lüge« (MH 185) geschichtspolitischer Verabsolutierung der deutschen Kriegsschuld. Gehlen verklärt seine »Sprachlosigkeit« zum Diktat der Sieger. Sein Kapitel »Staat« ist offenbar von der verfassungsgeschichtlichen Sicht der Schmitt-Schule geprägt. Gehlen zitiert Schmitt, Forsthoff, Böckenförde und Roman Schnur. An diese Autoren anschließend betrachtet er den Staat als Vorgang der »Säkularisation« und »Neutralisierung« und deutet das »Humanitätsethos« als Säkularisat. Die Staatsaufgaben spitzt er polemisch auf die einfache Alternative zwischen »Leviathan« und »Milchkuh« zu. Das obligate Zitat (MH 110) lautet: »So nimmt der Leviathan mehr und mehr die Züge einer Milchkuh an«. Entweder bietet der Staat Sicherheit, oder er überfordert sich durch humanitär motivierte und wohlfahrtstaatliche Daseinsvorsorge. Dass der Zuwachs an Staatsaufgaben und die Entstehung des Sozialstaats auf die »soziale Frage« antwortete und einen Klassenausgleich und sozialen Frieden bot, scheint Gehlen nicht zu bedenken. Seine Entstehung des neuzeitlichen Staates referiert das verfassungsgeschichtliche Bild der Schmitt-Schule insgesamt nur sehr oberflächlich. Philosophisch vertritt Gehlen eine anti-universalistische Moral. Sein »Ethos der Gegenseitigkeit« beruft sich auf den Ethnologen Marcel Mauss und den Ethologen Konrad Lorenz. Eingehende empirische Belege zur Moral der Familie – familiensoziologisch bleibt seine »Familie« vage – und Hypermoral des humanitär entfesselten Staatsethos fehlen aber. Gehlen bleibt weitgehend in der pauschalen und polemischen Konfrontation stecken. Seine Moralsoziologie in politischer Absicht ist essayistische Polemik mit philosophischer Schlüsselattitüde. Schmitt begab sich (jenseits seiner Parteiartikel) nicht auf dieses Niveau. Als Jurist mied er auch starke anthropologische und moralsoziologische Aussagen. Zwar findet sich bei ihm auch ein ausgesprochener Anti-Individualismus und Anti-Universalismus, Anti-Eudaimonismus und Anti-Humanitarismus. Niemals aber spielte er ein Familienethos systematisch und normativ gegen das Staatsethos aus. Von Hegels Trias Familie – bürgerliche Gesellschaft – Staat blieb nur ein Dualismus von Staat und Gesellschaft übrig. Eine solche Verkürzung des Systems der Sittlichkeit findet sich damals überraschend häufig. Auch der Rechtshegelianismus war familienvergessen und konnte deshalb die »versöhnende« Funktion des Staates, Hegels Wiederkehr des Familienprinzips der Liebe im Staat, nicht wirklich sehen. 197 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XII. · Arnold Gehlens objektivistische Wendung der Sozialphilosophie

Schmitt ging von der normativen Kraft der politischen Einheit bzw. vom Rechtsetzungsmonopol des Staates aus. Eine Spannung von Staatsethos und Humanitarismus kannte er zwar auch; er schrieb sie aber nicht auf das Konto der hypertrophen Familie des Christentums, sondern primär auf die Rechnung des Liberalismus. Der Liberalismus »denaturierte«, laut Begriff des Politischen, alle politischen Begriffe und löste sie in die »Polarität« von Wirtschaft und Ethik (BP 68 ff.) auf. Eine Moralsoziologie der »Gesellschaft« schrieb Schmitt nicht und machte das Christentum auch nicht pauschal für Humanitarismus und Pazifismus verantwortlich. Mit Hobbes betonte er vielmehr die Gefahr religiöser Konfliktverschärfungen in Richtung des konfessionellen Bürgerkriegs. Selbstredend sind Schmitt und Gehlen sich in vielen Fragen politisch einig. Gehlens Anthropologie und Ethik hat Schmitt aber nicht geteilt.

5.

Schlussbemerkung: Gehlens anti-individualistische Wende der Sozialphilosophie

Gehlens Philosophie hat in Schmitts Werk keine tieferen Spuren hinterlassen. Eine Wirkung Schmitts auf Gehlen dagegen lässt sich kaum bestreiten. Sie zeigt sich insbesondere im Institutionalismus und im Staatsbegriff. Die stärksten Wirkungen liefen aber eher indirekt über einige Schüler. Viele Übereinstimmungen finden sich zwar in der Intellektuellenschelte und Subjektivismuskritik. Das sind aber Topoi des Rechtsintellektualismus. Versucht man dennoch substanzielle problemgeschichtliche Verwandtschaften festzustellen und Gehlen etwa in die »andere Hegel-Linie« oder die von Schmitt markierte Allianz hineinzuschreiben, so muss man die disziplinären Differenzen und Rhetoriken mit bedenken. Moral und Hypermoral ist als Moralsoziologie in polemischer Absicht ärgerlich. Jürgen Habermas nannte die Schrift treffend ein »Satyrspiel« auf den solideren »gegenaufklärerischen Institutionalismus«, 37 den Urmensch und Spätkultur immerhin gebracht habe. Moral und Hypermoral ist für Gehlens Gesamtwerk trotz solcher Einwände aber systematisch wichtig, weil es den sozialphilosophischen Anspruch durch eine »Ethik« begründet. In der – ihrerseits problematischen – philosophischen BegründungsJürgen Habermas, Nachgeahmte Substantialität (1970), in: ders., Politisch-philosophische Profile, Frankfurt 1981, 107–126, hier: 107

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Schlussbemerkung

arbeit liegt Gehlens spezifischer Beitrag zum neueren Konservatismus über Freyer hinaus. Die »andere Hegel-Linie« ist durch eine rechts- und sozialwissenschaftliche Wendung zum »objektiven Geist« und »sekundären System« gekennzeichnet. Auch bei Gehlen findet sich diese Wendung zur diagnostischen und kritischen Analyse der Spätkultur. Was er mit Freyer und Schmitt teilt, ist vor allem der Anti-Individualismus und Objektivismus. Von Hegel zu Dilthey war die Sozialphilosophie des 19. Jahrhunderts individualistisch. Wo Hegel vom »subjektiven Geist« sprach, betonte Dilthey das unergründliche »Rätsel« und »Leben« des Individuums. Plessner knüpfte mit seinem Ansatz beim Menschen als »offene Frage« 38 daran an. Bei Dilthey findet sich bereits eine positivistische und objektivistische Wendung der Sozialphilosophie. So spricht Dilthey – im Aufbau der geschichtlichen Welt – gerne vom Individuum als »Kreuzungspunkt« 39 der »Kultursysteme«. Die individualistische Linie der Sozialphilosophie endet dann nach Dilthey bei Simmel, Litt und Jaspers. Damals wird die »andere HegelLinie« objektivistisch. Sie droht mit dem Individuum ihre sozialphilosophische Basis zu verlieren und zum soziologischen Funktionalismus zu mutieren. Gehlen repräsentiert dagegen den Neuansatz einer anti-individualistischen Sozialphilosophie. Wie Schmitt argumentiert auch er anti-universalistisch. Seine normativistische Basis ist aber vergleichsweise schwach. Moral und Hypermoral bietet eigentlich nur eine Ethos-Analyse konfligierender Systemimperative. Wenn Gehlens Werk mit einer – unbefriedigend formulierten – Spannung von »Familienethos« und »Staatsethos« schließt, ist der sozialphilosophische Anspruch im Kern der ethischen Grundlegung eigentlich gescheitert. Gehlens Werk wird so zur zeitkritischen Moralistik und Essayistik. Der »Institutionalismus« wandert dann zu den beschreibenden Soziologen einerseits und den Historikern andererseits ab, die – wie etwa Koselleck – die Spannung von Individuum und Gesellschaft als Verschränkung von Struktur- und Ereignisgeschichte analysieren und das »Zeitalter der Subjektivität« in den Zeitschichten und langen Bögen der Strukturgeschichte entspannter sehen. Gehlens Sozialphilosophie scheitert an der polemischen Basis des anfänglichen »Ethos«. Mit Hegel ist gegen dieses Ende der antiHelmuth Plessner, Macht und menschliche Natur, Berlin 1931 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften Bd. VII, Stuttgart 2. Aufl. 1958, 135, 278 u. ö.

38 39

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XII. · Arnold Gehlens objektivistische Wendung der Sozialphilosophie

individualistischen Sozialphilosophie zu sagen: »Das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit.« 40

Georg W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Theorie-Werkausgabe, Frankfurt 1970, Bd. VII, 233

40

200 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XIII. Das Odium des Nehmens. Carl Schmitts Antwort auf Joachim Ritter

1.

Philosophisches Interesse am Hegelianismus

Carl Schmitt hatte lange ein relativ distanziertes Verhältnis zur etablierten Universitätsphilosophie. Dabei rückte er sie als konfessionellen Diskurs in die Nähe der Theologie. In Aufzeichnungen der frühen 20er Jahre schreibt er: »Die Philosophie und Wissenschaft waren die Mägde der Theologie; o wären sie es doch! Heute sind sie nur Schuhputzer. Etwas Ökonomisches.« (TB 1921/24, 502) Seine spätere Kritik an der Wertphilosophie scheint hier schon anzuklingen. Von den Ordinarien stand er bis 1933 nur mit Eduard Spranger in näherem Kontakt, nach 1933 dann mit dem nationalsozialistisch exponierten Rechtsphilosophen Carl August Emge, der aber ein direkter Berliner Kollege in der juristischen Fakultät war. Nach 1945 ist Joachim Ritter dann der dritte deutsche Universitätsphilosoph, dem Schmitt näher begegnete. Für jede politische Epoche seines Werkes lässt sich also immerhin ein fachphilosophischer Gesprächspartner nennen. Was die großen Alternativen der »Klassiker« angeht, ist die Antwort noch einfacher und eindeutiger: Nur Hegel und den Hegelianismus hat Schmitt durchgängig rezipiert, nur die »Hegel-Nahme« war ihm ein ständiges Thema. Als anti-individualistischer Rechtsausleger stellte Schmitt sich dabei gegen den Linkshegelianismus in eine »andere Hegel-Linie«. Platon und Aristoteles, Augustinus und Thomas, Kant oder Nietzsche spielten dagegen fast gar keine Rolle. Nur Hobbes kommt als philosophischer Klassiker ansonsten noch in Betracht. Er erscheint im Werk auch deutlich exponierter als Hegel, widmete Schmitt ihm doch mehrere Aufsätze, Rezensionen und eine Monographie; Schmitt ignorierte aber gerade in seinem Hobbes-Buch von 1938 den spezifisch philosophischen und »naturrechtlichen« Ansatz auffällig. Seine Hobbes-Rezeption hatte nicht zuletzt das politische Ziel, den »kontraktualistischen« und liberalen Ansatz zu eskamotieren und Hobbes mythenpolitisch zu aktualisieren. Häufig stellte 201 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XIII. · Carl Schmitts Antwort auf Joachim Ritter

Schmitt Hegel über Hobbes. In frühen Aufzeichnungen heißt es auch: »Hobbes steht dem Leviathan doch noch von außen gegenüber; bei Hegel wird der Leviat.[han] immanent.« (TB 1921/24, 504) Spätestens seit den zwanziger Jahren wird man von detaillierten Hegel-Kenntnissen ausgehen dürfen. Dabei kannte Schmitt auch den Systemphilosophen genau; er scheint aber am Jenaer Hegel der Phänomenologie des Geistes besonders interessiert gewesen zu sein. Auffällig ist eine Diskrepanz zwischen systematischen Interessen, signifikanten Hinweisen und dem bewussten Verzicht auf eine eingehende Thematisierung. Schmitt mied auch Kontakte zum Weimarer Rechtshegelianismus und wollte keinesfalls als Rechtshegelianer erscheinen. Hegels Konzept vom »absoluten Geist« lehnte er vermutlich auch aus religiösen Gründen ab. Stets ließ er sich aber vom spekulativen Esprit anregen. Sein Interesse an Hegel tritt dabei nach 1945 auch in der Form einer pseudonymen Heidegger- und Hegelparodie hervor: der »Ballade vom reinen Sein«, die Schmitt in seinen Kreisen kursieren ließ und unter dem Titel Die Sub-Stanz und das Sub-Jekt pseudonym und anonym publizierte. 1 Sie parodiert Hegels Beisetzung der Substanzphilosophie Spinozas sowie Heideggers »Schritt zurück« hinter die abendländische Metaphysik. Vor Erscheinen von Ritters Abhandlung über Hegel und die Französische Revolution variiert und persifliert Schmitt hier schon das Revolutionsthema mit Hegel. Nach seinem Münsteraner Vortrag im Ritter-Kolloquium verlas er diesen Text. Schmitts publizistisches Comeback stand nach 1945 zunächst im Zeichen des Abschlusses und der Veröffentlichung älterer Werke, vor allem des Nomos der Erde. In den frühen 50er Jahren beschäftigte er sich intensiv mit Shakespeare-Studien. 1956 erschien Hamlet oder Hekuba. Danach nahm Schmitt sein Hegel-Thema verstärkt wieder auf. Damals suchte er auch erneut das Gespräch mit Philosophen. 1947 war Kojèves Introduction à la lecture de Hegel erschienen, 1948 Lukács’ Der junge Hegel. 2 Erst nach Schmitts Münsteraner Vortrag folgte Ritters knappe Studie über Hegel und die Französische Revolution. Eine eingehendere Konstellationsanalyse des Gesprächs mit Ritter kann von Schmitts langem Kampf um die »Hegel-Nahme« kaum absehen. Gerade die erste initiale Begeg-

Wiederabdruck u. a. in: BS 192–198; GDS 16–21 Alexandre Kojève, Introduction à la lecture de Hegel, Paris 1947; Georg Lukács, Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Oekonomie, Zürich 1948

1 2

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Philosophisches Interesse am Hegelianismus

nung von 1957 steht im Zeichen des Kampfes um Hegel und eine »andere Hegel-Linie«. Die Korrespondenz mit Kojève 3 beginnt nach der Lektüre der Introduction von Seiten Schmitts am 9. Mai 1955 – für einen Russen der 10. Jahrestag der deutschen Kapitulation – mit der Sendung seines Beitrags zur Jünger-Festschrift und dem Hinweis auf den eigenen »Anspruch« einer Hegel-Nahme, »für den ich auf der heutigen Erde keinen anderen kompetenten Schiedsrichter anerkenne als Sie, Herr Kojève«. 4 Schmitt findet damals bei Kojève die Frage nach »Hegels Gott-Nahme« gestellt und hofft auf Kojève als politisch-theologischen Gesprächspartner. »Wer kann diese Erkenntnis der Gott-Nahme heute verstehen?«, notiert er in sein Glossarium: »Keiner unserer heutigen Staats- und GesellschaftsChristen. Kein zolibatärer Bürokrat – der wird nur bösartig, wenn er davon hört – und kein Pharisäer. Ich muss also wohl auf einen Juden warten. Vielleicht Jacob Taubes; vielleicht Kojève.« (GL 313)

Schmitts Neugier und Interesse mündet dann in eine Vortragseinladung. Am 16. Januar 1957 spricht Kojève auf Vermittlung von Schmitt in Düsseldorf über den »Kolonialismus aus europäischer Sicht« 5 und es kommt anschließend zu einem längeren Gespräch. Schmitt notiert davon begeisterte Eindrücke in sein Glossarium (GL 354 ff.) und berichtet Nicolaus Sombart darüber brieflich eingehend. 6 Nach dieser Begegnung erlosch die Korrespondenz aber aus ungeklärten Motiven bald. Schmitts Bemühungen um Kojève kulminieren deshalb in der Begegnung vom 16. Januar. Wenige Tage später, am 21. Januar, spricht er dann in Aachen über den »Mythos« des europäischen Intellektuellen und am 25. Januar schickt er sein Vortragsthema nach Münster. Erst nach Kojèves Vortrag legt er also sein Münsteraner Thema definitiv fest. Am 9. März erfolgt dann der Vortrag im Ritter-Kolloquium. Ritter steht damals am Übergang von seinen Aristoteles-Publikationen zu den späteren Hegel-Publikationen.

Dazu vgl. Piet Tommissen (Hg.), Der Briefwechsel Kojève-Schmitt, in: Schmittiana 6 (1998), 100–124; vgl. auch Martin Meyer, Ende der Geschichte? München 1993 4 Schmitt am 9. Mai 1955 an Kojève, in: Der Briefwechsel Kojève-Schmitt, in: Schmittiana 6 (1998), 100–124, hier: 101 5 Abdruck des Textes in: Schmittiana 6 (1998), 126–140 6 Carl Schmitt am 3. Februar 1957 an Nicolaus Sombart, in: Martin Tielke (Hg.), Sombart und Schmitt, Berlin 2015, 97 f. 3

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XIII. · Carl Schmitts Antwort auf Joachim Ritter

Gerade die frühe Abhandlung über Hegel und die französische Revolution interessiert Schmitt nachhaltig. Der folgende Beitrag schreibt keine umfassende Konstellationsanalyse von Schmitts Hegel-Diskursen nach 1945. Er analysiert nur den Auftakt des Gesprächs und beschränkt sich auf den Europäisierungsaufsatz und Schmitts alternative Antwort. Die Hegel-Publikationen von Ritter lagen damals noch nicht vor. Schon durch Kojève waren Europäisierungsthema und Hegel-Nahme für Schmitt aber miteinander verbunden. Und auch Ritter betrachtete die Europäisierung mit Hegel. Einen vorläufigen Abschluss finden die damaligen Hegel-Diskurse in dem knappen Artikel Die andere Hegel-Linie 7 vom Juli 1957 sowie einigen Marginalien zu den Verfassungsrechtlichen Aufsätzen. Wenn Schmitt seine Überlegungen zu einer »anderen Hegel-Linie« damals mit einer Würdigung von Hans Freyer verbindet, lassen sich für »Freyer« getrost auch die Namen von Kojève, Ritter oder Schmitt einsetzen. Zwar steht Freyer in großzügiger Auslegung für eine undogmatische und alternative, nicht-marxistische Hegel-Deutung nach Dilthey; zwar findet Schmitt bei Freyer auch das Thema der Europäisierung oder »Weltgeschichte Europas« sowie ein konservatives Konzept vom »Aufhalter«; zwar konstruiert Schmitt mit Freyer auch ein Verhältnis zum deutschen Widerstand gegen Hitler; Schmitts »anderer Hegel« war aber kaum von Dilthey und weniger noch von Freyer inspiriert. Kojève und Ritter standen ihm im Hegel-Bild näher. Deshalb versäumt Schmitt im Freyer-Artikel auch nicht den Hinweis auf den Tyrannis-Dialog zwischen Kojève und Strauss. »Die andere Hegel-Linie« vereinnahmt politisch großzügig und philosophisch unscharf. Schmitt sucht die »Aktualität« Hegels hier jenseits eines philologisch strikten und doktrinären Hegelianismus. Seine politische Mobilisierung hat dennoch einigermaßen erkennbare Vorlieben und Konturen: Schmitt folgt dem »liberalen« Hegel-Bild Ritters 8 letztlich nicht und sucht die »Aktualität« Hegels mehr bei Kojève. Seine eigene »Hegel-Nahme« blieb systematisch unausgeführt. Trotz späterer Andeutungen bleibt es bei Schmitts Diktum von 1958:

Carl Schmitt, Die andere Hegel-Linie. Hans Freyer zum 70. Geburtstag, in: Christ und Welt Jg. 10 Nr. 30 vom 25. Juli 1957 8 Zur Einordnung vgl. Henning Ottmann, Individuum und Gemeinschaft bei Hegel. Hegel im Spiegel der Interpretationen, Berlin 1977; vgl. ders., Der Geist der Geisteswissenschaften, in: Synthesis Philosophica 49 (2010), 101–107 7

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Von der Metaphysik zur Politik?

»Schon meiner Dissertation ›Über Schuld und Schuldarten‹ von 1910 hatte Karl Binding mit vollem Recht entgegengehalten, dass ihr die Auseinandersetzung mit dem Hegelianischen Strafrecht fehlt. In den folgenden Jahrzehnten bin ich den bedeutenden hegelianischen Rechtsphilosophen meiner Zeit, Julius Binder und Karl Larenz, eine Erwiderung auf ihre Argumente schuldig geblieben. An dieser Stelle kann ich das große Versäumnis nicht nachholen.« (VRA 428)

2.

Von der Metaphysik zur Politik?

Jenseits des monumentalen Wörterbuchs ist Ritter als Philosoph vor allem durch seine beiden Aufsatzsammlungen von 1969 und 1974 bekannt. Das Frühwerk vor 1945 9 dokumentiert die Sammlung von 1974 mit zwei Studien und betont so Kontinuitäten. Zweifellos fußt Ritters schlanke und schlichte Darstellung der Einheit der abendländischen Metaphysik – von Aristoteles zu Hegel – auf einem komplexeren Wissen. 10 Die Wirkungsmacht seiner Sicht beruhte aber nicht zuletzt auf dem doppelten Fundament der Aristoteles- und der Hegel-Studien. Dabei scheint das Werk von Aristoteles zu Hegel zu schreiten. Die philosophiegeschichtliche Stellung dieses Doppelbaus ist in erster Annäherung durch das alternative Verhältnis zur HeideggerSchule profiliert. Als Schüler Cassirers hatte Ritter Heidegger schon auf der berühmten Davoser Tagung erlebt; er war zwar beeindruckt, stellte Heideggers Destruktion der abendländischen Metaphysik aber eine eigene Rekonstruktion von Aristoteles und Hegel positiv entgegen. Heidegger knüpfte für seine Destruktion an den doppelten Enden von Platon und Nietzsche an und spielte das »anfängliche« und »andere Denken« der Vorsokratik gegen den abendländischen Dazu Jens Thiel, Akademische »Zinnsoldaten«? Karrieren deutscher Geisteswissenschaftler zwischen Beruf und Berufung (1933/1945), in: Rüdiger vom Bruch u. a. (Hg.), Kontinuitäen und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, 167–194; knappe intellektuelle Biographie mit umfassender Bibliographie bei Mark Schweda, Entzweiung und Kompensation. Joachim Ritters Theorie der modernen Welt, Freiburg 2013; vgl. ders., Joachim Ritter und die Ritter-Schule zur Einführung, Hamburg 2015 10 Dazu Joachim Ritter, Docta Ignorantia. Die Theorie des Nichtwissens bei Nicolaus Cusanus, Leipzig 1927; ders., Mundus intelligibilis. Eine Untersuchung zur Aufnahme und Umwandlung der neuplatonischen Ontologie bei Augustinus, Frankfurt 1937 9

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XIII. · Carl Schmitts Antwort auf Joachim Ritter

Platonismus und – wie Heidegger meinte – »Nihilismus« aus. Ritter mied diese Enden und konzentrierte sich mit Aristoteles und Hegel auf zwei unstrittige Klassiker und Hauptvertreter der abendländischen Metaphysik. Eine zentrale Frage betrifft das Verhältnis von Ritters Funktionsbestimmung und Begriff der »Geisteswissenschaften« zur abendländischen »Metaphysik«. Verabschiedete er die philosophische Tradition der Metaphysik zugunsten einer philologischen und begriffsgeschichtlichen »Geisteswissenschaft«, der er eine politische und »kompensative« Rolle zuwies? Vertrat auch Ritter, weniger polemisch, eine Variante der These vom »Ende der Philosophie«? Ich will diese Frage hier nicht entscheiden, meine aber, dass die Forschung diese zentrale Frage oft nicht hinreichend bedenkt: Kennt Ritter postmetaphysische Philosophie? Fundierte er die »modernen« Geisteswissenschaften in einer Philosophie? Oder vertrat er ein systematisch schwaches und politisch um so ambitionierteres Konzept von der Traditionsbewahrung durch bildungspolitische Praktik der Geisteswissenschaften? Was genau besagt der berühmte Titel »Metaphysik und Politik« eigentlich? Ich neige hier der Auffassung zu, dass Ritter, anders als die Heidegger-Schule, die Geschichte der Philosophie mit Hegel im Wesentlichen abschloss, weil er die »Möglichkeiten« oder den Begriff vom Menschen substantiell vollendet fand. Ritter identifizierte Philosophie nicht mit den modernen Geisteswissenschaften. Vielmehr war er der Auffassung, dass die metaphysische Aufgabe der Philosophie durch Hegel vollendet wurde und heute nur noch kompensatorische ideenpolitische Erinnerung bleibt. Ritters Anliegen zeigt sich in Metaphysik und Politik (MP) 11 schon in der einleitenden Studie Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles. Die »Natur« des Menschen ist es nach Aristoteles, meint Ritter, individuelle Lebenskonzepte formulieren und realisieren zu können. Die Polis war der geschichtliche Ort, wo diese Frage nach dem »Seinkönnen« des einzelnen Menschen aufkam und Chancen zur Verwirklichung erhielt. Aristoteles’ Einsicht, dass der »Mensch als Mensch« Subjekt des Rechts und des Staates sei, wurde jedoch seit der Französischen Revolution darauf reduziert, dass der private Mensch in seiner Bedürftigkeit, das Subjekt der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, auch Zweck des Staates sei. Ritter Joachim Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt 1969 (MP)

11

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Von der Metaphysik zur Politik?

pointiert die Konsequenzen in seinen Studien zu Hegel. Mit großer Entschiedenheit betont er, dass es Hegel um den »gegenwärtigen Vollzug der Metaphysik« (MP 190) ging. Gegenüber der Gefahr einer geschichtlichen »Entzweiung« von »Herkunft und Zukunft« (MP 211 ff., 335, 338, 351) suchte Hegel die Kontinuität der Geschichte zu wahren, indem er die »Gesellschaftstheorie« der Revolution philosophisch rezipierte und durch eine Lehre vom Staat ergänzte, die eine ethische Theorie der Institutionen wiederentdeckte (MP 291 ff.). Hegels Erinnerung des »ganzen« Menschen wurde aber bald nur noch als Restaurationsideologie wahrgenommen. Schließt Metaphysik und Politik mit einem Ausblick auf die gegenwärtige »Weltzivilisation«, so erörtert der – 1974 in Ritters Todesjahr erschienene – Band Subjektivität (S) die heutige Lage von Metaphysik und Politik. Dabei gehen nur die letzten beiden Aufsätze über die Studien zu Metaphysik und Politik hinaus. Die Aufgabe der Geisteswissenschaft in der modernen Gesellschaft, 12 1963 erstmals veröffentlicht, zeigt, dass die neuhumanistische philosophische Begründung der Universität sich seit dem Niedergang des deutschen Idealismus nicht mehr halten ließ: Die moderne Entzweiung von Herkunft und Zukunft schlug sich institutionell in einer Zweiteilung von Natur- und Geisteswissenschaften nieder. Während die Naturwissenschaften sich dem Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaft verbanden, blieb den Geisteswissenschaften nur die Aufgabe der »Kompensation« und »Korrektur« (S 131 f.) 13 der Herkunftsvergessenheit der bürgerlichen Gesellschaft. Die modernen Geisteswissenschaften entstanden »unabhängig vom Austrag theologischer und metaphysischer Fragen« (S 125 f.). Sie können die Metaphysik methodisch kaum noch vergegenwärtigen und allenfalls die Differenz zur Philosophie erinnern. Da die metaphysische Begründung aber seit Aristoteles und Hegel im Wesentlichen feststeht und die Auslegung der gegenwärtigen Wirklichkeit des Menschen nur ein Bild der Vereinseitigung liefert, kann die kritische Funktion geisteswissenschaftlicher Erinnerung an die Stelle metaphysischer Vergegenwärtigung treten. Ist die Grundlegung geleistet und das »Bild vom Menschen«

In: Joachim Ritter, Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt 1974, 105–140 Dazu schon Joachim Ritter, Über die antinomische Struktur der geisteswissenschaftlichen Geschichtsauffassung bei Dilthey (1931); Wiederabdruck in: DiltheyJahrbuch 9 (1994/95), 182–206

12 13

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XIII. · Carl Schmitts Antwort auf Joachim Ritter

festgestellt, treten ideen- und wissenschaftspolitische Aufgaben – wie das Historische Wörterbuch der Philosophie – in den Vordergrund. 14 Auch bei Ritter findet sich also eine – schon den Junghegelianern geläufige – endgeschichtliche Sicht der Philosophie, die Heidegger nach seinen universitätspolitischen Enttäuschungen in anderer Weise pflegte. Ritter akzeptierte den Übergang zur universitäts- und bildungspolitischen Intervention, weil er die philosophische Metaphysik – mit Hegel auf dem Boden der modernen Welt – vollendet fand und ihre philosophische Aktualisierung akademisch kaum noch für möglich hielt. Er transformierte damit philosophische Fragestellungen und Methoden in geistes- und sozialwissenschaftliche. Praxisorientierte Wissenschaft trat an die Stelle politisch relevanter Metaphysik.

3.

Adressat Geschichtslehrer

Ritter gilt heute als »politischer« Philosoph. Jens Hacke 15 betonte seine starke Wirkung auf die intellektuelle »Gründung« der Bundesrepublik und berücksichtigte dabei auch Schüler wie Ernst-Wolfgang Böckenförde und Hermann Lübbe. Mit zahlreichen dieser RitterSchüler stand auch Schmitt im persönlichen Kontakt. 16 Diese Schmitt-Ritter-Schüler sollen hier nicht weiter Thema sein und auch der »politische« Charakter von Ritters Wirken wird hier nicht weiter erörtert. Nimmt man Ritters Aufsatzsammlungen, so springen politische Themen nicht gerade an. Nur zwei Beiträge aus Metaphysik und Politik widmen sich ausdrücklich der »›Weltzivilisation‹«. Den Begriff der Weltzivilisation rückt Ritter dabei in Gänsefüsschen und fasst ihn vorbehaltlich. Unter diesem Titel stehen zwei Beiträge: Europäisierung als europäisches Problem von 1956 und Die große Stadt von 1960. Der letzte verweist auf die Polis und die aristotelische Dazu vgl. Hermann Lübbe, Affirmationen. Joachim Ritters Philosophie im akademischen Kontext der zweiten deutschen Demokratie, in: Ulrich Dierse (Hg.), Joachim Ritter zum Gedenken, Mainz 2004, 89–109 15 Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberal-konservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006; vgl. auch Tilman Reitz, Kreise mit schwachen Meistern. Die Frankfurter und die Münsteraner Schule bundesdeutscher Sozialphilosophie, in: Thomas Kroll / ders. (Hg.), Intellektuelle in der Bundesrepublik. Verschiebungen im politischen Feld der 1960er und 1970 Jahre, Göttingen 2013, 167–184 16 Diese »liberale« Rezeption betonte schon Hermann Lübbe, Carl Schmitt liberal rezipiert, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, 427–440 14

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Adressat Geschichtslehrer

Theorie vom Glück des »bürgerlichen Lebens«. Europäisierung als europäisches Problem formuliert demnach eine Problemanzeige, für die Die große Stadt – eher Münster als Mumbai – eine Antwort und Lösung sein könnte. Realisiert die »Europäisierung« die Weltzivilisation als »große Stadt«? Bewahrt der Verfassungsstaat das Erbe der Polis? Wir sprechen heute ständig von »Globalisierung«. Einer solchen Formulierung tritt Ritter terminologisch gleich doppelt entgegen: Er spricht von »Europäisierung« und adressiert sie als »europäisches Problem« primär an die Europäer. Der Terminus der »Globalisierung« war damals noch nicht etabliert; Ritters emphatische Betonung der »Europäisierung« scheint aber bereits eine besondere europäische Verantwortung im Globalisierungsprozess herauszustreichen. Der Text wurde als Vortrag in einem außeruniversitären Raum auf einer Tagung in Bottrop gehalten und vom »Vorstand des Landesverbandes nordrhein-westfälischer Geschichtslehrer« veröffentlicht. Die Dokumentation der Tagung erschien unter dem Titel Europäisch-asiatischer Dialog 17 und enthält neun Beiträge. Ritters Beitrag eröffnet den Band und gibt das Stichwort aus. Ein anschließender Beitrag des Münsteraner Turkologen Gerhard Jäschke erörtert den Islam in der modernen Türkei. Vermutlich waren beide Münsteraner Türkei-Beiträge aufeinander abgestimmt. Weitere Beiträge renommierter Professoren behandeln Indien, die chinesische Revolution und Südostasien. Zwei sind deutlich aus christlicher Sicht geschrieben: Ein Beitrag zum »Europäismus in der modernen Asienmission und seine Überwindung« sowie ein Beitrag zur Notwendigkeit des europäischasiatischen Dialogs. Ein Schlussbeitrag signalisiert zwar geschichtsdidaktische Anwendungen für den »Geschichtsunterricht«, ähnelt heutigen geschichtsdidaktischen Standards aber nur entfernt. Insgesamt ist ein Fortbildungslehrgang für Geschichtslehrer erkennbar, von ausgewiesenen Experten der jeweiligen Fachrichtungen verfasst, der die »Europäisierung als europäisches Problem« erörtert, indem er den Europäismus oder Eurozentrismus landeskundlich in Frage stellt. Der Sammelband erschien in einer Reihe jährlicher Fortbildungsbände. Ritters Beitrag unterscheidet sich von den anderen durch den

Europäisch-asiatischer Dialog. Vorträge gehalten auf der Tagung des Landesverbandes nordrhein-westfälischer Geschichtslehrer in Bottrop, hrsg. I. H. Pollmüller, Düsseldorf 1956

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XIII. · Carl Schmitts Antwort auf Joachim Ritter

grundlegenden und exemplarischen Ansatz einerseits und die Zurückhaltung in der Thematisierung von Islam und Christentum andererseits. Der seriöse Sammelband war insgesamt nicht an ein philosophisches Fachpublikum, sondern an Geschichtslehrer und Multiplikatoren adressiert. Das ist zweifellos auch für Ritters Argumentation wichtig.

4.

Appellativer Sinn der Europäisierungsthese

Der Beitrag Europäisierung als europäisches Problem 18 knüpft einleitend an Ernst Jüngers 19 gerade erschienenen geschichtsphilosophischen Essay Der gordische Knoten an und lehnt dessen pauschale Verteidigung der abendländischen Freiheit gegen den »asiatischen Schrecken« ab: »Abendland« und »Asien« seien durch die Annahme einer substantialistischen Herkunftseinheit verzeichnet. Ritter differenziert »Asien« und betont der substantialistischen Annahme der »Kontinuität« einer »Herkunftsgeschichte« gegenüber die allgemeine Modernisierungsbewegung und »Umwälzung«. Dann formuliert er seine These von der »Europäisierung«: »Ursprungsort« der Veränderungen sei Europa. Ritter konstatiert eine allgemeine Europäisierungsbewegung in diversen »nationalen Revolutionen« und spricht einige der Länder an, die in weiteren Beiträgen der Tagung näher behandelt sind; er exemplifiziert diesen Prozess dann für die moderne Türkei, in der er von 1953 bis 1955 gelebt hatte und aus der er gerade zurückgekehrt war. Ritter spricht deshalb auch aus der Perspektive eines »Reisenden« und beansprucht nur den Status subjektiver Beobachtungen in der Tradition von Reisebeschreibungen: keine orientalistische Expertise. Ritter hatte in Istanbul gelehrt, exemplifizierte die revolutionäre Europäisierung der Türkei aber vor allem an Ankara. Istanbul war keine revolutionäre Neugründung; die Modernisierung der Türkei war an Ankara besser zu zeigen. Ritter demonstriert an der Türkei eine Schere von Herkunft und Zukunft: »Was in die Zukunft weiterführt, hat keine Kontinuität zum geschichtlich Gewordenen. Der Fortschritt schließt seine Auflösung und seinen Unter-

Hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: Metaphysik und Politik, Frankfurt 1969, 321–340 (MP) 19 Ernst Jünger, Der gordische Knoten, Frankfurt 1953 18

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Appellativer Sinn der Europäisierungsthese

gang ein. Das Alte und das Neue beginnen im Prozess der Europäisierung auseinanderzutreten. […] Zukunft und Herkunft sind ohne Beziehung.« (MP 329)

Diese Modernisierungserfahrung reflektiert Ritter auch als positive Selbsterfahrung der Europäisierung: Die Kontrasterfahrung von Alt und Neu lässt den »Reisenden« die Errungenschaften der Moderne erneut evident werden: »Die Erfahrung der Europäisierung wird ihm so am Ende zu einer positiven Erfahrung des Europäischen selbst.« (MP 330) Der Europamüde entdeckt erneut die »Leidenschaft des Neuen« (MP 331), sieht aber auch den »Schmerz« in der »Dialektik des Fortschritts«, realisiert die »Trennung der bürgerlichen und religiösen Sphäre«, »Spannung der zwei Ordnungen« und »Spaltung des Daseins« (MP 333). Die Spannung von Staat und Religion zeigt sich neu. »Die Europäisierung erzeugt so als ihr Widerspiel eine zuweilen düstere und fanatische Reaktion« (MP 334). In diesem Kampf von Herkunft und Zukunft fragt Ritter nach der »Macht der Versöhnung und Vermittlung« (MP 335) und setzt auf »Bildung« (MP 339). Er nennt aber keine bestimmte Bildungsform, sondern erwähnt nur noch einen indischen Historiker. Er spricht für die Geschichtslehrer nicht von Philosophie, sondern grenzt sich vielmehr von Hegels geschichtsphilosophischem Ausblick auf Amerika als »Land der Zukunft« ab und setzt auf eine neue Form der Weltgeschichtsschreibung, die den klassischen Eurozentrismus hinter sich lässt. Historiker sprechen dafür heute gerne von »Globalgeschichte«. Man könnte Ritters Überlegungen nun in den Europadiskurs nach 1945 einordnen: Von »Globalisierung« wurde damals zwar noch kaum gesprochen, eine Engführung von Modernisierungs- und Europäisierungsgeschichte war aber schon problematisch und hatte Aspekte eines defensiven Abwehrdiskurses. Eine »Weltgeschichte Europas« (Hans Freyer) ging an der Dezentrierung Europas und dem konkurrierenden Narrativ der »Amerikanisierung« vorbei. Auch die moderne Wissenschaft und Technik war längst nicht mehr mit europäischer Wissenschaft und Technik identifizierbar. Eine andere Frage betrifft das Verhältnis dieser Europäisierungsdiagnose zum damaligen Türkeidiskurs. Die Römischen Verträge vom März 1957 waren noch nicht beschlossen, »Kerneuropa« formierte sich erst. Die geostrategisch zentrale Stellung der modernen Türkei innerhalb der NATO und ihre Neigung zum Projekt einer europäischen »Gemeinschaft« war aber durch den Ost-West-Konflikt bereits eine wichtige 211 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XIII. · Carl Schmitts Antwort auf Joachim Ritter

Frage. Die ersten Beitrittsversprechungen und –abkommen datieren aus den 50er Jahren. Heute liegt der Türkeidiskurs anders. Man könnte nun nach dem prognostischen Gehalt der Konfliktdiagnose fragen: Zutreffend betont Ritter die revolutionäre Gründungsgewalt Atatürks und macht sie u. a. an der Einführung der »europäischen Zeitrechnung« fest. Jeder Besucher des Atatürk-Mausoleums Anitkabir in Ankara wird von dieser revolutionären Gründungsgewalt der Modernisierungsentscheidungen berührt sein. Ritter streicht das heraus und sieht die Gefahr reaktionärer Widerstände und Regressionen. Der spätere Aufstieg Recep Erdogans (* 1954) und seiner Partei AKP wurde immer wieder als Reaktion auf den Kemalismus und Kampf der »alten«, agrarischen und islamischen Türkei gegen die rasante Modernisierung beschrieben. Heute, im Herbst 2016, ist der Kurdenkonflikt mit dem Bürgerkrieg in Syrien und dem Zerfall des Irak erneut entfesselt und die Türkei droht in Terror und Ausnahmezustand, Diktatur und Bürgerkrieg zu versinken. Innerhalb der islamischen »Welt« war die Türkei lange eine Modernisierungsavantgarde. Ritters Exemplifizierung der »Europäisierung« »Asiens« am Beispiel der Türkei ist deshalb wenig irritierend. Seine Skizze einer Dialektik von Modernisierung und Reaktion ist auch heute noch sachlich anregend. Die Differenzierung eines pauschalen Labels »Asien« ist jedoch inzwischen derart fortgeschritten, dass eine summarische Erwähnung der »Völker Asiens« (MP 323), wie sie Ritter vornimmt, kaum noch verstanden wird. Etiketten wie »Asien« oder »Orient« sind verbraucht. China und Indien, die Türkei und Ägypten werden geopolitisch nicht mehr als eine »Achse« wahrgenommen. Das betrifft nicht nur die Unterscheidung zwischen Entwicklungs- und Schwellenländern, ökonomisch-technischen Niveaus, sondern primär auch die kulturelle und religiöse Differenzierung. Die Modernisierung Chinas beschreiben wir heute nicht mehr als Europäisierung und die Türkei dient nicht mehr als Exempel für Länder wie China und Korea. Ritters Europäisierungsbegriff ist deshalb heute überholt und wird auch kaum noch verwendet. Globalisierungsgeschichten werden nicht mehr als Europäisierungsgeschichten erzählt. Die allgemeinen Formulierungen einer Schere von Herkunft und Zukunft und »Diskontinuität« der Geschichte mögen zwar noch einigermaßen tragen, klingen aber diagnostisch kaum frischer als ältere Kampfbegriffe von »Fortschritt« und »Reaktion«. Das gilt auch für eine abstrakte Beschwörung der »Bildung« als »Macht der Versöhnung und Vermitt212 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Koalition gegen Ernst Jünger

lung«. Man wüsste gerne genauer, welche Bildung eigentlich gemeint ist. Ritter exponiert das transkulturelle metaphysische Vermächtnis Europas: »Die Vernunft der Philosophie gehört von Anbeginn weder den Griechen noch den Römern für sich; wo sie in die Geschichte eingetreten ist, da wird das Menschsein des Menschen zum Subjekt und zur Substanz aller politischen Ordnung und aller Geschichte.« (MP 338)

Meint Ritter damit auch die Universalität der Menschenrechte? Seine Stichworte bleiben vage und allgemein. Wenn die Europäisierungsthese deskriptiv und diagnostisch heute deshalb auch nur noch begrenzt anzuregen vermag, bleibt doch die Rückadressierung an »die Europäer« als »europäisches Problem« appellativ wichtig: Ritter scheint die besondere Verantwortung der Europäer für die Globalisierungsprozesse anzusprechen. Zugespitzt gesagt ist sein Beitrag heute weniger historisch als politisch interessant; weniger die Europäisierungsthese als deren Adressierung an die Europäer als »europäisches Problem« ist heute noch beachtlich.

5.

Koalition gegen Ernst Jünger

Piet Tommissen publizierte 1998 – nicht ganz vollständig – den Briefwechsel Kojève-Schmitt. Er beginnt 1955 sehr intensiv und erlahmt nach dem Januar 1957 dann fast gänzlich. Das Gespräch kulminiert in der persönlichen Begegnung von 1957. Der – von Mark Schweda publizierte 20 – Briefwechsel von Joachim Ritter mit Schmitt beginnt zeitnah in den Jahren 1956/57 ebenfalls sehr dicht und endet dann 1974 mit dem Tod Ritters. Es gab mehrere persönliche Begegnungen und die Verbindung wurde auch durch gemeinsame Schüler getragen. Schmitts persönliche Beziehung zu Ritter war deshalb weit enger als der periphere Kontakt mit Kojève. Sie war auch intensiver als die früheren Philosophenkontakte zu Spranger oder Emge, so dass die Konstellation Ritter-Schmitt für die Erörterung seiner Philosophenkontakte insgesamt von zentraler Bedeutung ist. Schmitts philosophische Debatten gingen aber nicht im förmlichen Kontakt mit etablierten Universitätsphilosophen auf. Mit einigen Ritter-Schülern hat Mark Schweda (Hg.), »Die ›nicht selbstverständliche‹ Begegnung zwischen uns«: Der Briefwechsel von Joachim Ritter und Carl Schmitt im wirkungsgeschichtlichen Horizont, in: Schmittiana II N.F. (2014), 201–274

20

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XIII. · Carl Schmitts Antwort auf Joachim Ritter

Schmitt vermutlich auch intensiver »philosophiert« als mit Ritter selbst. Zu den engsten und wichtigsten Gesprächspartnern gehörte Ritter niemals. Der Gesprächsbeginn 1956/57 war dabei besonders intensiv. 20 der 60 erhaltenen Briefe fallen in diese Zeit. Aus den ersten Briefen geht deutlich hervor, dass die Auseinandersetzung mit Jünger und dem Europäisierungs-Aufsatz erste Themen waren. Schmitt eröffnet die Korrespondenz, indem er Ritter durch Winckelmann einen Sonderdruck seiner Jünger-Auseinandersetzung übergeben lässt. Auch seine Korrespondenz mit Kojève begann mit der Übersendung des Jünger-Festschriftbeitrags. Ritter erschien ihm von Anbeginn wohl als ein möglicher Koalitionär in der Absetzung vom spekulativen Großessayisten. »Europa« steht bei wichtigen Nachkriegstiteln schon im Titel: Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft, Donoso Cortés in gesamteuropäischer Interpretation, Der Nomos der Erde im Jus Publicum Europaeum. Das ist beachtlich, auch unabhängig von der Tatsache, dass Schmitt seine Teilnehmerperspektive nach 1945 sehr elastisch von »Deutschland« auf »Europa« umstellte. Mit seinem ersten Brief vom 7. Januar 1956 antwortet Ritter auf Schmitts Jünger-Kritik und kündigt die Sendung seines Europäisierungs-Vortrages an, der damals bereits »in Druck gegangen« ist. Schmitt antwortet umgehend: »Besonders begierig bin ich auf Ihre Erfahrungen mit der ›Europäisierung‹ der Türkei und Ihre Auseinandersetzung mit Ernst Jüngers Europa-Asien-Theorie.« 21 Im Juli übersendet Ritter dann den Europäisierungs-Text mit begleitendem Brief und am 6. Januar 1957 lädt er Schmitt zum Jubiläumssymposion des zehnjährigen Bestehens des Collegium Philosophicum nach Münster. Er wünscht einen Vortrag aus dem »Umkreis des ›Nomos‹«; 22 Schmitt soll die Nachmittagssitzung übernehmen, während Winckelmann am Vormittag über das »Problem des modernen Staates« spricht. Für beide Sitzungen sind je drei Stunden veranschlagt; Schmitts Thema ist von Winckelmann unabhängig. Schon in seiner Antwort vom 13. Januar verbindet Schmitt das »Thema Nomos oder Nomos der Erde« mit Ritters Aufsatz: »Das Thema Ihres Aufsatzes über Europäisierung interessiert mich auch in der türkischen Anwendung.« Bemerkenswert ist es, dass er dabei für Kojève wirbt, während er in der Korrespondenz mit Kojève von 21 22

Schmitt am 9. Februar 1956 an Ritter, in: Schmittiana II N.F. (2014), 220 Ritter am 6. Januar 1957 an Schmitt, in: Schmittiana II N.F. (2014), 227

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Koalition gegen Ernst Jünger

Ritter schweigt. Schmitt hatte Kojèves zeitnahen Vortrag in Düsseldorf »veranlasst«: »Dass Sie dabei anwesend sein könnten, wage ich allerdings nicht zu hoffen. Ich bedaure das, denn ich bin sicher, dass es sich um eine überaus lebhafte Auseinandersetzung handeln wird. Mit A. Kojève stehe ich seit 2 Jahren in Briefwechsel.« 23 Konnte er Ritter nicht zeitiger einladen? Warum antizipierte er eine ablehnende Antwort und lud Ritter nicht ergebnisoffen ein? Wollte er Ritter nicht mit Kojève bekannt machen? Wollte er gar vermeiden, dass Ritter Kojèves Thesen kannte, damit Schmitt selbst in Münster mit Kojève brillieren konnte? Eine solche Deutung wäre überzogen, das Zeitfenster war zu eng. Jedenfalls signalisiert Schmitt aber zum Auftakt des Ritter-Gesprächs sogleich sein Interesse an Kojève. Von Anfang an gibt es deshalb gleichsam ein Gespräch zu Dritt, mit einem abwesenden und interessierten Dritten, der agonal auf der Schulter sitzt. Neben Jünger ist im Gespräch mit Ritter auch Kojève als Gegenspieler von Anfang an präsent. Schmitts Antwort auf Ritter wird dann Kojèves These vom »gebenden Kolonialismus« sachlich nahe stehen. In diesen Tagen verdichten sich diverse Themen: Am 16. Januar hält Kojève seinen Düsseldorfer Vortrag über »Kolonialismus in europäischer Sicht«. Wenige Tage später spricht Schmitt in Aachen über »Hamlet als mythische Figur der Gegenwart« und am 25. Januar kündigt er für Münster »Der heutige Nomos der Erde« an. Auch dort ist die politische Rolle der Intellektuellen ein Aspekt, worauf schon der rückblickende Dankesbrief Schmitts hindeutet, der auch das Hamlet-Thema anspricht. 24 Der Korrespondenz lassen sich weitere Andeutungen entnehmen, worüber in Münster gesprochen wurde: Schmitts Vortrag antwortete primär auf Kojève und Ritter und nicht auf Winckelmann. Dessen Vortrag wurde unter dem Titel Gesellschaft und Staat in der verstehenden Soziologie Max Webers 1957 publiziert. 25 Schmitt rezensierte diese Schrift, mit Hinweis auf Münster, leicht distanziert: Er vermisst eine Klärung der »Verbindungen« zu Dilthey und Husserl sowie das »quälende Zwei-Welten-Problem – Wissenschaft und Weltanschauung –, das immer auch ein Zwei-Seelen-Problem ist«. 26 Dilthey steht hier für »Weltanschauung«, HusSchmitt am 13. Januar 1957 an Ritter, in: Schmittiana II N.F. (2014), 229 Schmitt am 14. März 1957 an Ritter, in: Schmittiana II N.F. (2014), 232 ff. 25 Johannes Winckelmann, Gesellschaft und Staat in der verstehenden Soziologie Max Webers, Berlin 1957 26 Carl Schmitt, Rezension zu: Winckelmann 1957, in: Das Historisch-politische Buch 6 (1958), 102; vgl. auch Schmitts Rezensionen von: Max Weber, Wirtschaft und Ge23 24

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XIII. · Carl Schmitts Antwort auf Joachim Ritter

serl für Wissenschaft; Schmitt wünscht mehr »Weltanschauung«, führt die »andere Hegel-Linie« damals auf Dilthey zurück. Bald wird er sich mit Winckelmann über Wolfgang Mommsens nationalistische Weber-Deutung entzweien. Schmitt stimmt Mommsen gegen Winckelmann zu und findet im Nationalismus die »Weltanschauung« Webers, die er positiv bejahen kann. An Ritters Europäisierungsaufsatz gefiel Schmitt schon die Abgrenzung von Ernst Jünger. In diesen 50er Jahren war sein Verhältnis zu Jünger sehr gespannt. Mit Gretha Jünger hatte es ein Zerwürfnis gegeben und die Korrespondenz blieb jahrelang distanziert. In diese Zerwürfnisphase hinein publizierte Schmitt in der Festschrift für Jünger, von Armin Mohler organisiert, seinen Beitrag Die geschichtliche Struktur des Gegensatzes von Ost und West, der sich einleitend ebenfalls, wie Ritters Beitrag, von Jüngers Schrift Der Gordische Knoten absetzte; der Beitrag war eine diskret formulierte Kritik. So schreibt Schmitt: »Das Denken in Polaritäten – seien es die Polaritäten Goethes, oder Schellings oder Ernst Jüngers – setzt sich von dem konkret-geschichtlichen Denken so deutlich ab, dass wir, ohne Polemik oder Eristik, der polaren Deutung das konkret-geschichtliche Bild an die Seite stellen können.« (SGN 531)

Für das »konkret-geschichtliche« Gegenbild berief Schmitt sich auf eine »Frage-Antwort-Struktur« neuerer Geschichtsphilosophen und schloss mit einem Verweis auf Hegels Rechtsphilosophie § 247: »Ich breche hier ab und überlasse es dem aufmerksamen Leser, in meinen bisherigen Ausführungen den Anfang eines Versuches zu finden, diesen § 247 in ähnlicher Weise zur Entfaltung zu bringen wie die §§ 243/246 im Marxismus zur Entfaltung gebracht worden sind.« (SGN 543 ff.)

In der Theorie des Partisanen und zuletzt 1981 noch in der Nachbemerkung zur Neuausgabe von Land und Meer – Schmitt ist fast 93 Jahre alt – erneuert er diesen »Anspruch« (TP 27). Beide Aspekte – Gegendeutung zu Jünger und Ansatz bei Hegel – klingen auch in Ritters Europäisierungsaufsatz an. Schon vor der persönlichen Begegnung konnte Schmitt das Gespräch mit Ritter deshalb als eine mögliche Alternative zum verworfenen Gespräch mit Jünger suchen. Er schickte Jünger deshalb im sellschaft, 4. Aufl. Tübingen 1956, in: Das Historisch-politische Buch 4 (1956), 195– 196; Wolfgang Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen 1959, in: Das Historisch-politische Buch 8 (1960), 180–181

216 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Antikolonialismus als europäische Intellektuellenideologie

März 1957 auch seine Münsteraner Vortragsdisposition; Jüngers Antwort wird ihn in seiner Ablehnung des undialektischen »Denkens in Polaritäten« bestätigt haben; Jünger antwortete mit einem astrologischen Schema und bemerkte dazu: »Der Anspruch der Astrologen, als Wissenschaftler anerkannt zu werden, ist eine Bewerbung um Degradation.« Jünger unterschied im großzügigen Epochenschema von je zwei Jahrtausenden Zeitalter vom Stier, Widder, der Fische und des Wassermann. Für das Jahr 2000 konstatiert er einen Übergang der Fische zum Wassermann. Die Fische assoziiert er dabei mit dem »Sohn« und den Wassermann mit dem »Heiligen Geist«. Schmitts »konkret-geschichtliche« Frage nach dem »neuen Nomos der Erde« ist hier negiert. Dennoch fragt Jünger am Ende seines Briefes: »Lässt sich das Schema annehmen?« (JS 329) Schmitt antwortet umgehend: »Ihr Schema der 2000-jährigen Weltalter ist mir seit 50 Jahren geläufig, und als Schema verdächtig, weil es in den Kreisen okkultisch-theo- und anthroposophischer Magier allzu beliebt und benutzt ist.« (JS 330) Er lehnt Jüngers Deutungsschema ab und sucht nach anderen Gesprächspartnern. Nicht nur der Jünger-Kritik und Hegel-Rezeption wegen war Joachim Ritter hier eine erste Wahl.

6.

Antikolonialismus als europäische Intellektuellenideologie

Schmitts Monographie Der Nomos der Erde endet 1950 mit der Frage nach dem neuen Nomos der Erde. Die Münsteraner Vortragsdisposition schematisiert Weiterführungen der 50er Jahre und skizziert eine »Übersicht über das konkrete Problem des heutigen Nomos der Erde«. Schmitt unterscheidet drei »Fragebereiche«. Der erste betrifft Einheit, Zweiheit oder Vielheit; seine Publikation Die Einheit der Welt beantwortet diese Frage 1952 mit der These, dass eine wirkliche oder alternativistische Pluralität durch die »Einheit« geschichtsphilosophischer Ideologie versperrt sei. Für den zweiten Fragebereich und »Aspekt der Elemente« verweist Schmitt auf seinen Beitrag zur Jünger-Festschrift. Den dritten Fragebereich kennzeichnet er nun durch das »auf Europa lastende Odium des Kolonialismus«. Bei diesem Fragebereich unterscheidet er drei Aspekte: 1. die aktuelle »Universalität dieses Odiums« im »Antikolonialismus«; 2. die europäische Herkunft seit der »antispanischen Propaganda des 16./17. Jahrhunderts«. Auch die »humanitäre Aufklärung des 18. Jahrhunderts« und die »egalitären Menschenrechte des 19. und 20. Jahrhunderts« erör217 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XIII. · Carl Schmitts Antwort auf Joachim Ritter

tert er hier als Folgen des »Antikolonialismus« und formuliert im Ergebnis: »Europa als Welt-Aggressor«. Diese gegenwärtige Klage oder Selbstkritik verbindet er namentlich mit Toynbee und scheint seine Ausführungen erneut gegen Toynbee zu richten, von dem er einst in Berlin einen Vortrag gehört hatte und mit dem er sich schon in anderen Publikationen auseinandersetzte. Schmitt will den gegenwärtigen Antikolonialismus in Münster demnach auf eine Geschichte der europäischen Selbstkritik zurückführen. Als dritten Unterpunkt formuliert er seine These: »Das Odium des Kolonialismus ist das Odium des Nehmens: es stammt aus einer tiefen Wandlung sozial- und wirtschaftsethischer Begriffe. Dieser letzte Punkt 3 ist das Thema meines heutigen Vortrages.« (JS 326) Es überrascht, dass Schmitt sich lediglich auf die Schlussthese beschränken möchte und nicht den ganzen Fragebereich als Weiterführung früherer Antwortansätze präsentierte. Denn die Schlussthese wird erst durch die Geistesgeschichte des Antikolonialismus verständlich. Vom Kolonialismus als Erscheinungsform imperialer »Nahme« sprach Schmitt schon in seinem Text Nehmen / Teilen / Weiden; Kojève knüpfte in seinem Düsseldorfer Vortrag daran an. Die »antispanische Propaganda« und Anfänge der »humanitären Aufklärung« oder des Humanitarismus erörterte schon das VitoriaKapitel des Nomos der Erde (NE 69–96). Das Schlüsselwort vom »Odium« ist eine hermetische Verunklärung. Der Sache nach spricht Schmitt in Münster von bekannten historischen Tatsachen wie Kolonialismus und Imperialismus unter ideologiegeschichtlichem Aspekt. Beim »Odium« mag Benjamins »Aura« anklingen. Man könnte auch originelle Aspekte einer »Mentalitätsgeschichte« vermuten. Als Antwort auf Ritter gelesen sind die Europäisierungsthese und der Aspekt des »europäischen Problems« aber unüberhörbar: Schmitt betont, dass die antikolonialistische »Propaganda« nicht in den europäisierten Kontinenten von Amerika, Asien und Afrika entstand, sondern dass die Europäer gleichsam als Begleitmusik zu ihrer Herrschaft auch die antieuropäische Ideologie mit exportierten. Der Antikolonialismus ist seiner Herkunft nach eine europäische Ideologie. Es sind nicht die Erniedrigten und Beleidigten, die Verdammten dieser Erde, die aus der Not ihrer Unterdrückung heraus ihre Befreiungsparolen und –propaganda formulierten, sondern die europäischen Intellektuellen sind es selbst, die zur Selbstkritik schreiten und den Anti-Kolonialismus armieren. Deshalb ist die Europäisierung auch ein »europäisches Problem«. Das »Odium 218 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Kalter Krieg als Wirtschaftskrieg um Entwicklungshilfe

des Kolonialismus« lastet nicht auf den Kolonien, sondern auf den Europäern, die sich von den Gespenstern der Selbstkritik emanzipieren sollten. Schmitt deutet an, woher das Odium europäischer Selbstkritik eigentlich stammt: »aus einer tiefen Wandlung sozial- und wirtschaftsethischer Begriffe«. Terminologisch begegnet die Rede von »sozial- und wirtschaftsethischen Begriffen« bei Schmitt sonst nicht: Er greift hier in das Vokabular der Nationalökonomie Max Webers und liefert dem Mitdiskutanten Winckelmann so eine Steilvorlage. »Wirtschaftsethik« ist ein zentraler Terminus Webers, bei Schmitt sonst nicht zu finden. Wie Schmitt aber die »tiefe Wandlung« diagnostiziert, das macht schon seine Trias »Nehmen, Teilen, Weiden« stichwortartig deutlich: Schmitt betont – ähnlich wie Kojève – den Primat der Nahme. Die ideologischen Akzente haben sich seiner Auffassung nach gegenwärtig auf das Teilen und Weiden, den konsumptiven Verbrauch verschoben. Die Konsumgesellschaft ist mit Umverteilung beschäftigt und übersieht und verleugnet den Primat der Nahme. Gegen die marxistische Ideologie von der Umverteilung setzt Schmitt seinen »anderen Hegel«. Gegen Lukács und die marxistische »Hegel-Nahme« erscheint ihm dabei Kojève wichtiger als Ritter. Kojève sprach in Düsseldorf vom »gebenden« Kolonialismus.

7.

Spanische Antwort von 1962: Kalter Krieg als Wirtschaftskrieg um Entwicklungshilfe

Fünf Jahre später, im März 1962, hält Schmitt in Spanien einen Vortrag über Die Ordnung der Welt nach dem zweiten Weltkrieg, der den Münsteraner Vortrag weiterführt. Schmitt setzt nun direkt beim Antikolonialismus ein und skizziert einige Stadien des »Kalten Krieges«. In voller Übereinstimmung mit dem Vortrag von 1957 sagt er nun zum Anti-Kolonialismus der »anti-europäischen Propaganda«: »Seine Geschichte stellt sich uns dar als Geschichte von Propaganda-Kampagnen, die leider als inner-europäische Kampagnen begannen. Am Beginn steht die anti-spanische Propaganda Frankreichs und Englands, die leyenda negro des XVI. und XVII. Jahrhunderts: diese Propaganda nahm während der humanistischen Aufklärung des XVIII. Jahrhunderts zu, sie verallgemeinerte sich und zuletzt ist ganz Europa als Welt-Aggressor eingestuft und auf die Anklagebank gesetzt worden, so in der geschichtlichen Vision des Beraters der UNO, Arnold Toynbee.« (SGN 594)

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XIII. · Carl Schmitts Antwort auf Joachim Ritter

Das entspricht bis hin zur Identifizierung Toynbees der Vortragsdisposition von 1957. Doch was schreibt Schmitt nun zum »Odium des Nehmens«? Das Wort kommt nur noch beiläufig vor. Er schreibt nur knapp: »Es scheint, dass die von den nicht europäischen Völkern unternommenen Eroberungen, Landnahmen und Suppressionen nicht mit dem Odium des Anti-Kolonialismus behaftet sind.« (SGN 595)

Schmitt spricht 1962 in Spanien nicht mehr auratisch vom »Odium«, sondern von Ideologie: vom »revolutionären Krieg« und Missbrauch der »klassischen Begriffe des Völkerrechts«; er scheint in Übereinstimmung mit früheren Schriften erneut den »klassischen Kriegsbegriff« zu vertreten und unterscheidet in seinem materialen Hauptteil »drei Stadien des kalten Krieges«: Das »monistische« Stadium der Allianz von Roosevelt und Stalin gegen Hitler sei dabei inzwischen zerfallen und das bipolare Stadium gegenwärtig durch einen Kampf um weitere Staaten oder eine Formierung der Großräume gekennzeichnet. Schmitts zentrale These zu dieser bipolaren Konkurrenz um »neutrale« Dritte ist es nun, dass die Entwicklungshilfe das neue Machtmittel im Kalten Krieg sei. Er schreibt: »Wenn Sie mich nun jetzt, in diesem Sinne des Terminus ›Nomos‹ fragen, was heute der Nomos der Erde sei, kann ich Ihnen klar antworten: es ist die Teilung der Erde in industriell entwickelte und weniger entwickelte Zonen, verbunden mit der unmittelbar folgenden Frage nach demjenigen, der sie nimmt. Diese Verteilung ist heute die wirkliche Verfassung der Erde. Ihr großes Ursprungs-Dokument ist der Artikel 4 der Truman-Doktrin vom 20. Januar 1949, die ausdrücklich diese Verteilung statuiert und die mit aller Feierlichkeit die industrielle Entwicklung der Erde als Vorhaben und als Ziel der Vereinigten Staaten proklamiert.« (SGN 605)

Der Kalte Krieg wird demnach als Wirtschaftskrieg mit den Mitteln der Entwicklungshilfe geführt. Die Großmächte verteilen in ihrer Konkurrenz um Einflusszonen und Dritte; die Entwicklungsländer nehmen gerne und spielen die Geberländer dabei gegeneinander aus. Schmitt nennt Indien den »radikalsten Champion des anti-europäischen Antikolonialismus« (SGN 606); er kommt aber auch auf die Europäische Wirtschafts-Gemeinschaft zu sprechen, und man ist heute versucht, Osterweiterung und Finanzkrise, »Transferunion«, Griechenland und die Ukraine als Beispiele zu ergänzen. Schmitts Pointe liegt auf der politischen Ausnutzung der Entwicklungshilfe durch die Nehmerländer. 220 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Kalter Krieg als Wirtschaftskrieg um Entwicklungshilfe

Die Kontinuität zur früheren Problemübersicht zeigt sich schon in der Nennung der Truman-Doktrin. Schon 1957 begann Schmitt seine Übersicht mit der These: »Heutiger Nomos der Erde ist der Art. 4 der Truman-Doktrin vom 20. Januar 1949; Einteilung der Erde in industriell-entwickelte und unterentwickelte Gebiete«. Schmitt sagte vermutlich schon damals in Münster auch bereits ziemlich eindeutig, wie die Welt auf die »Europäisierung als europäisches Problem« antwortete: Die Antwort des Kalten Krieges war die Entwicklungshilfe. Europa und die »westliche Hemisphäre« emanzipieren sich vom Odium des Kolonialismus durch den Übergang von direkten zu indirekten Formen der Herrschaft. Entwicklungshilfe ist ein Machtmittel indirekter Herrschaft: Die Herrschaft wird nicht mehr im Kolonialherrn sichtbar. Es herrscht die wirtschaftliche Abhängigkeit von Entwicklungshilfe. Schmitt betont dabei eine Dialektik der Abhängigkeiten: Indem die Großmächte von Strategien des Nehmens zu Strategien des Teilens und Verteilens übergehen, geraten sie als Geber in Abhängigkeiten von den Nehmerländern. Diesem Machtwechsel entspricht ein Umschlag des bipolaren in ein pluralistisches Stadium der Großräume und des kalten Krieges. Die Nehmerländer profitieren von der Konkurrenz der Geber und übernehmen mit der politischen Prämie auf den Empfang von Wirtschaftshilfe auch Akteursmacht. Entwicklungshilfe wird damit zu einer eigenartigen Hilfe zur Selbsthilfe. Das Machtmittel der Entwicklungshilfe wechselt seine Farbe: Die Geber übergeben mit der Hilfe auch Macht an die Nehmer und die Nehmerländer kassieren über die ökonomischen Hilfen hinaus noch den politischen Mehrwert der Gabe. Das ist Schmitts Antwort auf das »Odium des Nehmens«. Jenseits schwieriger Rekonstruktionen des Vortrags von 1957 lässt sie sich dem Vortrag von 1962 im Kern relativ eindeutig entnehmen. Vermutlich hat Schmitt seine machtanalytische Antwort auf Ritters Europäisierungsaufsatz aber schon in Münster deutlich formuliert und dabei auch Kojèves Überlegungen zum »gebenden« Kolonialismus aufgenommen, die sich ihrerseits auf Schmitts Nehmen / Teilen / Weiden bezogen. Vieles ließe sich entgegnen. Wichtig ist aber vor allem, wie genau Schmitt auf Ritters Beschreibung der »Europäisierung als europäisches Problem« antwortete und dass er seine »konkrete« oder machtpolitische Beschreibung der Interdependenzen gegen den liberalen Hegelianismus der »Vermittlung und Versöhnung« qua »Bildung« setzte. Anders als Ritter betrachtete er die »Bildung« als normativistischen oder ideologischen Reflex der Machtbeziehungen. 221 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XIII. · Carl Schmitts Antwort auf Joachim Ritter

Seiner Auffassung nach ging Ritters Deutung an den fundamentalen Machtverhältnissen vorbei. Ritters Schriften werden denn auch von Schmitt kaum zitiert. »Die UNO konstituiert nichts« (SGN 593), schreibt er und wiederholt damit seine »realistische« Betrachtung des Völkerbundes aus der Zwischenkriegszeit. Damals führte er Weimar und Genf auf das factum brutum von Versailles zurück; nun betrachtet er die Truman-Doktrin als Kern der NATO und der UNO. Seine Antwort ist ebenso anregend wie einseitig. Schmitt analysiert den politischen Einsatz der UNO, Menschenrechte und Entwicklungshilfe nicht detailliert. Die Politik von Geben und Nehmen ist in ihren Intentionen, Strategien und kurz- und mittelfristigen Folgen auch nicht einfach zu beschreiben. Seiner politischen Dialektik der »Antwort« ist eine komplexere Dialektik der »Vernetzung« entgegenzusetzen, in der intentionales Handeln und contraintentionale Folgen, Unübersichtlichkeiten und relative Ohnmacht auf allen Seiten zu finden sind.

8.

Schluss: letzte Antwort auf den »Nomos der Erde« mit und gegen Ritter

Schmitts dritte und letzte Antwort auf die Frage nach dem neuen Nomos der Erde, seine ausführlichste Analyse der »Stadien« des Kalten Krieges, wächst also aus der Auseinandersetzung mit Kojève und Ritters Europäisierungs-Aufsatz hervor. In den letzten kryptischen Publikationen ist das zwar wenig explizit; die Verfassungsrechtlichen Aufsätze enden aber mit Ausführungen zu Kojève: »In einem Vortrag vom 18. Januar prägte Alexandre Kojève im Hinblick auf den neuen Nomos der Erde […] den Ausdruck ›gebender Kapitalismus‹. Damit sollte gesagt werden, dass der moderne, fordistisch aufgeklärte Kapitalismus, der auf die Steigerung der Kaufkraft der Industriearbeiter und industrielle Entwicklung der industriell unterentwickelten Gebiete bedacht ist, etwas wesentlich anderes bedeutet, als der nur nehmende Kapitalismus, den Karl Marx im Auge hatte. Es wurde Kojève erwidert, dass kein Mensch geben kann, ohne irgendwie genommen zu haben. Nur ein Gott, der die Welt aus dem Nichts erschafft, kann geben ohne zu nehmen, und auch er nur im Rahmen der von ihm aus diesem Nichts erschaffenen Welt.« (VRA 504)

Schmitt zitiert hier seine eigene briefliche Erwiderung herbei. Auch Ritter erhält in den Verfassungsrechtlichen Aufsätzen nur eine beiläufige Erwähnung; Schmitt schreibt: 222 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Schluss: letzte Antwort auf den »Nomos der Erde« mit und gegen Ritter

»Man darf sich hier durch die große Hegel-Nahme, die Georg Lukács ins Werk setzt, nicht davon ablenken lassen, dass Hegels Philosophie ein System von Vermittlungen ist. Es verbindet Herkunft und Zukunft, wie Joachim Ritter in seinem Vortrag ›Hegel und die französische Revolution‹ (Westdeutscher Verlag Köln und Opladen, 1957) sehr gut gezeigt hat.« (VRA 429)

In der Theorie des Partisanen verweist Schmitt 1963 erneut auf Ritters Abhandlung: »Nach den Freiheitskriegen dominierte in Preußen die Philosophie Hegels. Sie versuchte eine systematische Vermittlung von Revolution und Tradition.« (TP 52)

Schmitt scheint hier der »liberalen« Deutung von Hegel als »Vermittler« zuzustimmen. Sein eigener Hegel betont aber weniger den Reformer als den katechontischen »Aufhalter«. Diesen »anderen« Hegel hat er niemals systematisch ausgeführt. Eine größere HegelStudie hat er wohl auch niemals ernsthaft geplant. Schmitt hielt sich im Rahmen seiner juristischen Profession und entsagte starken philosophischen Geltungsansprüchen. Schon deshalb blieb sein »anderer« Hegel ungeschrieben. Umso wichtiger wurde ihm aber die Hegel-Diskussion. Er suchte bei anderen, was er nicht schreiben wollte. Ritter war für ihn hier eine erste Adresse. Obwohl dessen Name im Werk buchstäblich kaum zu finden ist und auch der EuropäisierungsAufsatz nirgendwo zitiert ist, hat der Kontakt dennoch eine wichtige Spur im Werk hinterlassen. Die weitere Entwicklung der Beziehung soll hier nicht mehr betrachtet werden. Schweda hat Ritters neo-aristotelische Antwort rekonstruiert und von einer grundlegenden »Differenz im Ansatz« 27 gesprochen: Gegen Schmitts alternative Hegel-Nahme verwies Ritter erneut auf Aristoteles; Schmitts Motiv der »Selbstbehauptung« erschien ihm dabei als ein »archaisches« Politikverständnis. Ritter setzte nicht einfach einen modernen Individualismus gegen Schmitts »antiken« oder »archaischen« Gemeinschaftsprimat, sondern er konterte im Gespräch mit Schmitt dessen Hinweis auf einen »anderen Hegel« mit einer anderen Antike. Auch Schmitt hatte ja seinen Begriff des Politischen antikisiert; Schmitt bezog sich aber auf eine vorsokratische Antike und Nomos-Auslegung, während Ritter die Polis Mark Schweda, Joachim Ritters Begriff des Politischen. Carl Schmitt und das Münsteraner Collegium Philosophicum, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 4 (2010), Heft 1, 91–111, hier: 106

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XIII. · Carl Schmitts Antwort auf Joachim Ritter

mit Aristoteles liberalisierte. Vielleicht vollendete und publizierte Ritter seinen Festschriftbeitrag auch deshalb nicht, weil er sich nicht auf einen dialektischen Überbietungswettstreit einlassen wollte, wie er einst am Beginn der Beziehung mit der Absetzung von Ernst Jünger stand. Zum weiteren Gespräch wäre noch vieles zu sagen. Schweda spricht anregend davon, dass die liberale Schmitt-Rezeption einige Ritter-Schüler in Richtung eines gemäßigten »›Rechtsritterianismus‹« trieb. 28 Diese Wirkungsgeschichte der Auseinandersetzung ist heute ein akademisches Thema. Ein weiteres Thema wären die medienpolitischen Langzeitfolgen über Henning Ritter, den Sohn, der als Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über viele Jahre das öffentliche Bild mit bestimmte und, mit Schmitt zu sprechen, für eine interessierte »Propaganda« sorgte. Der vorliegende Beitrag beschränkte sich auf den Auftakt des Gespräches. Er zeigte, dass Schmitt zum liberalen Hegelianismus Ritters auf Distanz ging und einen »anderen Hegel« vertrat.

28

Schweda, Joachim Ritters Begriff des Politischen, 110

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XIV. Carl Schmitts Hobbes-Bild nach 1945

1.

Nachkriegshobbes

Schmitt gilt als herausragender Hobbes-Forscher. 1 Schon in seiner Münchener Zeit liest er über Hobbes als neuzeitlichen Souveränitätstheoretiker und Vater des modernen »Einheitsstaates«. In der Monographie über Die Diktatur tritt Hobbes eingangs gegen das feudale »Gerechtigkeitsnaturrecht« (D 24, 118) mit der These auf, dass es »außerhalb des Staates kein Recht gibt und der Wert des Staats gerade darin liegt, dass er das Recht schafft, indem er den Streit um das Recht entscheidet« (D 22). Schmitt gebraucht bereits spätere Schlüsselformulierungen: »Die im Gesetz liegende Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren.« (D 23) Umgehend erklärt er Hobbes zum »klassischen« Vertreter des juristischen »Dezisionismus«; später relativiert er den Dezisionismus durch sein »konkretes Ordnungsdenken«, Hobbes durch Hegel. In den Wirren Weimars entdeckt er Hobbes als Klassiker des politischen Denkens erneut. Als ihm sein Lektor einmal schreibt: »Die alten Meister Machiavelli und Bodin, Hobbes und Burke […] werden fatal lebendig« (CSLF 44), antwortet Schmitt im November 1923: »Einige Kapitel des Leviathan sind einfach so aktuell wie ein Artikel von Radek.« (CSLF 45) Doch nur Machiavelli, dessen Werke er sich 1926 zur Hochzeit schenkte, feiert er damals zum 400. Todestag in einem kleinen Artikel. Mit Ferdinand Tönnies steht er damals in gelegentlichem Kontakt. Dessen »rationalistischer« Deutung stellt er später seine mythopolitische Rezeption des Leviathan-Symbols entgegen. Früh betreut er die Hobbes-Dissertation seines Bonner Schülers Werner Becker. 2 Übersicht bei Reinhard Stumpf, Hobbes im deutschen Sprachraum. Eine Bibliographie, in: Reinhart Koselleck u. Roman Schnur (Hg.), Hobbes-Forschungen, Berlin 1969, 287–300 2 Werner Becker, Die politische Systematik der Staatslehren des Thomas Hobbes, 1

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XIV. · Carl Schmitts Hobbes-Bild nach 1945

Später fördert er die Hobbes-Studien von Leo Strauss und wird von Strauss im Gegenzug mit Hobbes in die Reihe klassischer Staatstheoretiker gestellt. Mit Cay v. Brockdorff und der Hobbes-Gesellschaft pflegt Schmitt Kontakt. Schelsky schreibt seine Hobbes-Habilitation im kritischen Gespräch mit Schmitt. 3 Nach dem Sturz in der nationalsozialistischen Ämterleiter revidiert Schmitt sein Konzept vom »totalen« Staat mit Hobbes: Als sein erster Aufsatz über den Staat des Mechanismus bei Hobbes und Descartes im August 1937 erscheint, hat er das »Gefühl, dass die eigentliche Erörterung« des »Totalitätsproblems« gerade erst einsetzt; 4 Hobbes sei eigentlich auf der ganzen Linie gescheitert: die individualistische Absicht (der Begründung einer »Relation von Schutz und Gehorsam«) an der Mechanisierung der Vertragskonstruktion und die totalitäre Konsequenz an der ironischen Behandlung des mythischen Bildes. Immerhin stelle Hobbes der rationalistischen und individualistischen Begrenzung der Macht des Staates eine mythopolitische Revitalisierung gegenüber. Sein Leviathan sei ein zwiespältiges und doppeldeutiges Zeugnis einer Zeitenwende. Schmitt zielt auf eine Begründung politischer Totalität durch »Mythisierung«: Was er von Hobbes vor allem konstruktiv aufnimmt, ist der Ansatz zum politischen Mythos. Aber gerade hier sei Hobbes gescheitert. Schmitt sucht deshalb mit seiner Hobbes-Monographie von 1938 den »Sinn« des Leviathan-Symbols gegen den »Fehlschlag« von Hobbes zu rekonstruieren. Seine Studie konzentriert sich ganz auf den Versuch mythopolitischer Rekonstruktion politischer Einheit. Schmitt schließt das Buch pünktlich zu seinem 50. Geburtstag ab und verschickt es im Kreis. Die Geburtstagsgratulationen sind deshalb oft mit Äußerungen zum Hobbes-Buch verbunden. Das Bündel Briefe zum Hobbes-Buch versammelt das ganze Spektrum möglicher Äußerungen im Nationalsozialismus. Das Büchlein geht von der Kritik am »mechanistischen« Ansatz zur genaueren Prüfung der Leistungskraft des Symbols über. Im Ergebnis sieht Schmitt den Versuch Köln 1928; erhellend auch ders., Briefe an Carl Schmitt, hrsg. Piet Tommissen, Berlin 1998 3 Dazu das nachträgliche Vorwort in Helmut Schelsky, Thomas Hobbes. Eine politische Lehre, Berlin 1981; Schelsky schickte Schmitt das Buch Ende 1981 »als ein spätes Zeichen meiner Dankbarkeit« und als »ein Lebewohl« (RW 265–28253) 4 Brief vom 19. Juli 1937 an Jünger (JS 66); dazu vgl. auch Otto Koellreutter, Leviathan und totaler Staat, in: Reichsverwaltungsblatt 59 (1938), 803–807; Paul Ritterbusch, Der totale Staat bei Thomas Hobbes, Kiel 1938

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Nachkriegshobbes

als gescheitert an, die liberalen Grenzen staatlicher Macht durch politische Mythologie zu überspielen und eine effektive »politische Einheit« zu stiften. Seine Hobbes-Studien sind keine liberale Mentalreservation; sie sind eine kritische Diagnose, dass die mythische Begründung des »totalen« Staates gescheitert sei. Dafür macht Schmitt den Einfluss des Judentums mit verantwortlich. Er sucht ein neues Niveau der Verwissenschaftlichung seines Antisemitismus und legt 1938 seine gewichtigste Analyse des »Sinns und Fehlschlags« eines Staates vor. Nach 1945 identifiziert er sich dann mit Hobbes als »Sündenbock«. Im Juni 1945 schickt er eine Warnung vor dem »esoterischen« Charakter des Leviathan-Buchs an Ernst Jünger, die nahe legen soll, dass sein Hobbes-Buch die Entfesselung des nationalsozialistischen »Leviathan« esoterisch beschrieb. Im Sommer 1946 schreibt er, im Berliner Internierungscamp, dazu ein Kapitel über die »Zwischenlage« der frühneuzeitlichen Klassiker, das Hobbes als »großen Einsamen«, »Aufklärer und Agnostiker« (ECS 66 f.) identifikatorisch feiert. Als Herbert Gremmels ihm dann sein »Büchlein ›Der Leviathan und die totale Demobilmachung‹« 5 schickt, meint Schmitt verärgert: »Wie kommen Sie dazu, einen solchen Namen auf Ihr Titelblatt zu schreiben? […] Ihr Leviathan ist ein Kaninchen, und Ihr Staat ein Schrebergarten, der dem Morgenthau-Plan entspricht. Warum also beschwören Sie einen magischen Namen?« 6 Ende 1948 sucht er mit Norberto Bobbio über Editionsfragen ins Gespräch zu kommen. Er rezensiert Bobbios Ausgabe von De Cive und fragt nach den »Figuren auf dem Frontispiz«. 7 Am 21. Mai 1949 schreibt er Bobbio beiläufig: »Es wäre übrigens an der Zeit, einmal über Hobbes’ Stellung im Rahmen der lutherischen Gedanken zu sprechen.« 8 Er erkundigt sich nach der italienischen Semantik von »Staat«: »Ich empfinde immer mehr, dass ›Staat‹ ein zeitgebundenes Wort ist; es gilt nur von Hobbes bis Hegel.« 9 Bobbio nimmt Schmitts erste Nachkriegspublikationen dann aber nicht zustimmend auf. Für Donoso Cortés hat er »wenig Herbert Gremmels, Der Leviathan und die totale Demobilmachung, Wuppertal 1948 6 Christian Gremmels (Hg.), Carl Schmitt – Heinrich Gremmels. Briefe 1938–1956, in: Schmittiana 7 (2001), 51–109, hier: 79 7 Carl Schmitt in: Universitas 4 (1949), 330 und 511 8 Brief Schmitts vom 21. Mai 1949 an Noberto Bobbio, in: Piet Tommissen, In Sachen Carl Schmitt, Wien 1987, 113–155, hier: 124 9 Schmitt am 3. Juli 1949 an Bobbio, In Sachen Carl Schmitt, 126 5

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Sympathie«. Als Schmitt ihn dann zu einer »300-Jahrfeier« zum Erscheinen des Leviathan einlädt, antwortet der offen: »Hobbes ist vielleicht der größte, gewiss der scharfsinnigste Theoretiker des modernen Staates. Aber wohin hat heute diese ›Logik‹ des modernen Staates geführt, die Hobbes so gut analysiert, versteht und rekonstruiert? Befinden wir uns nicht im Kampf mit diesem menschenverschlingenden Ungeheuer […]? Wenn wir Hobbes feiern, würde das heute nicht bedeuten, dass wir nicht nur seine Diagnose anerkennen, sondern auch seine Lösung gutheißen? Dass wir den Leviathan nicht als Warnung, sondern als Modell akzeptieren? Und dass wir daher darauf verzichten, den Mythos und die Realität des modernen Staates zu bekämpfen?« 10

Bobbio will nicht feiern, was Menschen verschlingt. Am 5. April 1951 veranstaltet Schmitt in Frankfurt dennoch seine kleine Tagung »Dreihundert Jahre Leviathan« »etwas improvisiert«. Der befreundete Winckelmann meint zur Einladung: »Eine Feier von Thomas Hobbes kommt mir vor wie ein Gläs’chen Sekt auf das Wohl des Scharfrichters.« 11 An der Feier nehmen u. a. Nicolaus Sombart, Winckelmann und Alfred Andersch vom Hessischen Rundfunk teil. Schmitts kurzer Vortrag hebt in autobiographischer Spiegelung ganz auf die Ächtung als »Sündenbock« ab und sieht erste publizistische Anzeichen für eine Wiederentdeckung in Ost und West: »Es zeigt sich, dass der Osten in Hobbes ein verwertbares Potential erblickt, ein wesentliches Stück des okzidentalen Rationalismus, den er für sich einsetzt, mag es sich nun um Atomkernforschung oder um Hegels Geschichtsdialektik handelt. Im Westen zeigt sich, dass die überkommene Diffamierung der Staatslehre des Hobbes in den Erfahrungen des heutigen Bürgerkrieges von selber aufhört.« (SGN 154)

Der Text erscheint am 5. April 1951 in der Züricher Zeitung Tat. Schmitt schickt ihn u. a. an Bobbio, Oakeshott, Voegelin. 12 Sein Gespräch über die Macht denkt 1954 dann Hobbes’ »GefährlichkeitsRelation« – der Mensch ist dem Menschen gefährlich – durch. Weitere Hobbes-Studien verfasst Schmitt vorerst nicht. Intensiv nimmt er in den 50er Jahren aber an den Dissertationen von Hanno Kesting, Reinhart Koselleck und Roman Schnur Anteil. Bobbio am 4. Februar 1951 an Schmitt, In Sachen Carl Schmitt, 131 Winckelmann am 2. April 1951 an Schmitt (RW 265–18125); Dank vom 17. April 1951 »für den schönen Abend« (RW 265–18126) 12 Das geht aus der exakt datierten Empfängerliste hervor, die Schmitt für alle seine Publikationen und Texte nach 1945 führte (RW 265–19600 Bl. 17) 10 11

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Nachkriegshobbes

Im Oktober 1952 arrangiert Sombart ein Treffen in Heidelberg, bei dem Schnur erstmals »so gute Köpfe wie Kesting und Koselleck kennen« lernt und mit ihnen über »die Ideologie als Mittel zum Bürgerkrieg« spricht. 13 Schnur erwägt damals zunächst eine Dissertation über die »Legisten« 14 und arbeitet sein Legisten-Projekt nach seiner Dissertation über den »Rheinbund von 1658« dann zu einer Studie über Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts aus, die zunächst für die gescheiterte Festschrift von 1953 vorgesehen war und dann in der Festschrift von 1959 erscheint. 15 Die überarbeiteten Dissertationen von Kesting und Koselleck erscheinen damals ebenfalls. 16 Kersting liest die Geschichtsphilosophie mit Hobbes und Schmitt damals als »Waffe« im Weltbürgerkrieg; Kosellecks berühmtes Buch Kritik und Krise schreibt Schmitts Leviathan-Buch in eine Dialektik der Aufklärung und »Pathogenese« der »bürgerlichen Welt« um. Schmitt rezensiert Kosellecks Buch umgehend: »In drei Kapiteln werden drei Stadien einleuchtend: der absolutistische Staat als Antwort auf die Situation des religiösen Bürgerkrieges; die Kritik der Aufklärung als Antwort auf die Situation des absolutistischen Staates; und die Weitertreibung der Kritik zur Krise als Weg zu einem neuen Bürgerkrieg, der geschichtsphilosophisch als ›Revolution‹ konstruiert und legitimiert wurde«. 17

Seine Lesart propagiert Schmitt damals auch durch einen »esoterischen« »Hobbes-Kristall«, 18 den er im Kreis verschickt. 1963 publiziert Schnur dann ein schmales Buch über Individualismus und AbSchnur am 10. Oktober 1952 an Schmitt (RW 265–14218) Schnur am 22. Juni 1951 an Schmitt (RW 265–14194) 15 Roman Schnur, Die französischen Legisten im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts, in: Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburtstag, Berlin 1959, 179–219; Die französischen Legisten im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts, Berlin 1963 16 Hanno Kesting, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg. Deutungen der Geschichte von der Französischen Revolution bis zum Ost-West-Konflikt, Heidelberg 1959; Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 1959; vgl. auch Roman Schnur, Revolution und Weltbürgerkrieg. Studien zur Ouverture nach 1789, Berlin 1983 17 Carl Schmitt, Rezension von Koselleck, in: Das Historisch-politische Buch 7 (1959), 302; Typoskript RW 265–20028 18 Dazu Schmitts Mappe »Thomas Hobbes« mit den Skizzen zum Kristall und der Empfängerliste RW 265–20804 Bl. 75, weitere Empfängerliste mit Taubes, Willms, Portinaro in RW 265–21171 13 14

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solutismus vor Thomas Hobbes, 19 das Überlegungen zum barocken Weltbild und Manierismus aufnimmt. Schnur rekonstruiert die Ausgangslage oder Frage, auf die Hobbes antwortete, geht von einem Ordnungsverlust und von »Individualisierung« in der frühen Neuzeit aus und erörtert den »manieristischen Ordnungsversuch« des barocken Weltbilds als die metaphysische Krisenlage, die Hobbes vorfand. Böckenförde 20 publiziert damals 21 zwar keine Studien zu Hobbes, sondern orientiert sich als Ritter-Schüler enger an Hegel, steuert zur Forsthoff-Festgabe dann aber seine große Studie über »Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation« bei. Helmut Quaritsch 22 arbeitet damals seine Habilitationsschrift über Staat und Souveränität aus. Rainer Specht geht dagegen hinter die frühneuzeitliche Epochenschwelle auf die spanische Spätscholastik zurück. Die bundesdeutschen Schmitt-Schüler arbeiten also die wissenschafts- und verfassungsgeschichtliche Vertiefung weiter aus, die Schmitt nach seinem Hobbes-Buch noch in einigen Studien auf den Weg brachte.

2.

Reformatorische Deutung

Im März 1965 veröffentlicht Schmitt eine Besprechungsabhandlung, die eine Zwischenbilanz und Neujustierung der Diskussion markiert. Schmitt befasst sich mit Deutungen von Francis Campell Hood, Dietrich Braun und Hans Barion. Mit Barion ist er schon lange befreundet, mit Hood und Braun steht er damals in Korrespondenz. Darüber hinaus nimmt er zu einigen Hobbes-Publikationen aus seinem UmRoman Schnur, Individualismus und Absolutismus. Zur politischen Theorie vor Thomas Hobbes (1600–1640), Berlin 1963; Schmitt erhielt von Schnur (am 14. Juni 1962 und 7. Oktober 1962) zwei Fassungen im Typoskript. Die ältere arbeitete er mit wenigen stenographischen Bemerkungen durch (RW 265–19450). 20 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, 1967, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt 2006, 92–114; zusammenfassend dann ders., Staat – Gesellschaft – Kirche. in: Schriften zu Staat – Gesellschaft – Kirche Bd. III: Religionsfreiheit. Die Kirche in der modernen Welt, Freiburg 1990, 113–211 21 Später aber: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Sicherheit und Selbsterhaltung vor Gerechtigkeit: Der Paradigmenwechsel und Uebergang von einer naturrechtlichen zur positiv-rechtlichen Grundlegung des Rechtssystems bei Thomas Hobbes, Basel 2004 22 Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität Bd. I: Die Grundlagen, Frankfurt 1970 19

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Reformatorische Deutung

feld Stellung. In einer kleinen Rezension von Hood exponiert er vorab den Ausgangspunkt seiner Besprechungsabhandlung: die Frage oder These Hans Barions nämlich, »›dass Hobbes mit seinem mythischen Bild vom Leviathan sachlich nur die Societas-christiana-Lehre des hierokratischen Mittelalters umkehrt‹«. 23 Die Hobbes-Dissertation des Baseler Theologen und Barth-Schülers Dietrich Braun 24 gibt ihm damals den Anstoß zu einer tiefgreifenden Revision seiner Hobbes-Interpretation. Seit 1963 steht er mit Braun im brieflichen Kontakt. 25 Als er im Frühjahr 1964 die Druckfassung erhält, baut er die Braun-Besprechung zu einer Sammelbesprechung mit grundsätzlicher Stoßrichtung aus. Braun schreibt ihm am 28. Mai 1964: 26 »Erst Leviathan ist Ausdruck vollendeter Reformation.« Schmitt unterstreicht den Satz und macht seinen Titel daraus. Dieser Satz ist die Frage, auf die er antwortet, indem er Barions These prüft. Brauns politisch-theologische Kritik motiviert ihn zur Klärung seiner christlichen Deutung. Im Ergebnis vertritt er eine Gegendeutung: Braun las Hobbes’ Option gegen den Behemoth als Polemik gegen die »englischen Presbyterianer und Independenten«: »Der reformierte Theologe steht auf der Seite des Behemoth, wenn er den Autor des Leviathan als einen Zyniker zu entlarven sucht.« (L 146) Schmitt findet diese »zynische« Deutung des esoterischen Maskenspiels falsch; 27 er verweist mit Schnur – und älteren Überlegungen des Glossariums – auf den barocken Manierismus und weitet seine Kontextanalyse religionsgeschichtlich aus: Hobbes stand im Kontext der protestantischen Sektenbewegungen. Zwar argumentierte er tatsächlich »vom Individuum her«. Im Prozess der Säkularisierung und Neutralisierung vertrat er aber, anders als etwa Lessing, immer noch

Carl Schmitt, Rezension von Hood, in: Das Historisch-politische Buch 12 (1964), 202; (dazu Schmitts Brief vom 24. Mai 1965 an Hood, RW 265–13100) 24 Dietrich Braun, Der sterbliche Gott oder Leviathan gegen Behemoth. Teil 1: Erwägungen zu Ort und Funktion der Lehre von der Königsherrschaft Christi in Thomas Hobbes’ ›Leviathan‹, Zürich 1963 25 Zahlreiche lange Briefe Dietrich Brauns an Schmitt sind zwischen dem 5. Oktober 1963 und 19. Dezember 1966 erhalten (RW 265–1985/2001) 26 Dietrich Braun am 28. Mai 1964 an Schmitt (RW 265–1987) 27 Braun fühlte sich hier allerdings von Schmitt »missverstanden« (Brief vom 10. März 1965 an Schmitt, RW 265–1990). Einen lange geplanten Besuch in Plettenberg sagte Braun aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig telegraphisch am 21. September 1965 ab. Anfang November 1965 kommt es dann aber zu einem Treffen in Plettenberg. 23

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den »Kern der apostolischen Verkündigung« (L 164) und formulierte den »konkreten geschichtlichen Gegensatz von geistlicher und weltlicher Gewalt« (L 174 f.) im Interesse christlicher Frömmigkeit. Ein »totalitärer« Denker war er nicht. Schmitt zitiert Barion für die zentrale These seiner Rezensionsabhandlung, dass Hobbes in die christliche Bewegung gehört und die Reformation vollendete, indem er den »rein politischen Sinn des geistlichen Entscheidungsanspruchs« (L 167) enthüllte. Diese Emanzipation des säkularen Staates von der Kirche scheint Schmitt als Befreiung der Kirche vom Staat nun theologisch zu begrüßen. Am Ende zielt seine Abhandlung aber nur noch darauf, die »geistesgeschichtlichen« Gründe für die Verkennung von Hobbes’ »formaler« Rationalität und praktischer Philosophie zu verdeutlichen. Als Motto zitiert er Hegel: »Es ist für eine Torheit neuerer Zeit zu achten, eine Revolution ohne Reformation gemacht zu haben«. Schmitt führt seine Überlegungen zur »vollendeten Revolution« und Verhältnisbestimmung von Reformation und Revolution später noch in seiner letzten Besprechungsabhandlung über »Clausewitz als politischen Denker« vielschichtig weiter und schließt sie im Nachwort seiner Politischen Theologie II ab. Schmitt adressiert seine Besprechungsabhandlung in die alten Bonner Diskussionen zurück, wenn er sie engen Gefährten widmen will: dem protestantischen Theologen Heinrich Oberheid, dem Bonner Schüler Werner Becker und Hans Barion. Er schickt Sonderdrucke beispielsweise an Rüdiger Altmann, Piet Tommissen, KarlHeinz Ilting, Dietrich Braun, Günther Rohrmoser, Karlfried Gründer, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Theodor Maunz, Robert Hepp, Reinhart Koselleck und Helmut Quaritsch. 28 Er schickt auch an Erwin Jacobi, der 1933 aus »rassischen« Gründen seinen Lehrstuhl verlor. Jacobi hatte 1923 den zweiten Band von Sohms Kirchenrecht 29 herausgegeben, der für Schmitts Protestantismusbild und seine gesamte staatskirchenrechtliche Auffassung von zentraler Bedeutung war. Rainer Specht nimmt die Hermetik des Textes leicht ironisch auf: »Ich sage nicht, dass ich den Aufsatz verstanden habe, das lässt sich schwer kontrollieren, aber ich habe ihn mehrmals und Ihre Unterstreichungen und Empfängerverzeichnis RW 265–19600; längere Empfängerliste und Materialien dann RW 265–19958 29 Rudolph Sohm, Katholisches Kirchenrecht, München und Leipzig 1923; Anlass ist auch ein Artikel von Erwin Jacobi, Rudolf Sohm und das Kirchenrecht, in: Forschungen und Fortschritte 38 (1964), 345–347 (RW 265–20559) 28

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Erste Gegendeutungen

Anmerkungen noch öfter gelesen. Ich glaube, das eine oder andere habe ich auch verstanden.« 30

3.

Erste Gegendeutungen

Aus dem Umkreis von Schmitt entstehen nach 1965 weitere HobbesStudien: Koselleck und Roman Schnur veranstalten ein internationales Hobbes-Symposion. 31 In der Druckfassung geht Schmitt die abschließende Bibliographie »Hobbes im deutschen Sprachraum« durch und liest Reinhart Maurers 32 »Stellungnahme zu einigen Referaten des Hobbes-Kolloquiums«. Martin Jänicke 33 publiziert damals einen Aufsatz über die politische Tendenz von Schmitts Hobbes-Deutung. Bernard Willms, im Bochumer Band nicht vertretener Ritter-Schüler, revidierte im ersten Jahrgang der Zeitschrift Der Staat schon »Einige Aspekte der neueren Hobbes-Literatur« und beobachtete dann die weitere »Vermessung des Leviathan«. 34 1969 referierte er in Ebrach. 1970 publizierte er seine Monographie Die Antwort des Leviathan, die Hobbes’ »Vertragstheorie als transzendentale Theorie der Gesellschaft« explizit gegen Schmitts »mythischen Aspekt« 35 in Anschlag bringt; sie sieht Schmitts strikte Disjunktion von Philosophie und »Theologie« und liest Hobbes’ »Politische Theologie« als »Synthese« religiöser und metaphysischer Fragen. Sein Forschungsbericht Der Weg des Leviathan, als Beiheft zum Staat erschienen, strebt dann eine umfassende Bestandsaufnahme der internationalen Literatur 36 Specht am 12. September 1965 an Schmitt (RW 265–15526) Reinhart Koselleck und Roman Schnur (Hg.), Hobbes-Studien, Berlin 1969 32 Reinhart Klemens Maurer, Stellungnahme zu einigen Referaten des Hobbes-Kolloquiums, in: Reinhart Koselleck und Roman Schnur (Hg.), Hobbes-Studien, Berlin 1969, 245–258 (Handexemplar RW 265–22384) 33 Martin Jänicke, Die ›abgründige Wissenschaft‹ vom Leviathan. Zur Hobbes-Deutung im Dritten Reich, in: Zeitschrift für Politik 16 (1969), 401–415; vgl. dann KlausMichael Kodalle, Carl Schmitt und die neueste Hobbes-Literatur, in: Philosophische Rundschau 18 (1971), 116–130 34 Bernard Willms, Einige Aspekte der neueren englischen Hobbes-Literatur, in: Der Staat 1 (1962), 93–106; ders., Von der Vermessung des Leviathan. Aspekte neuerer Hobbes-Literatur, in: Der Staat 6 (1967), 75–100 u. 220–236 35 Bernard Willms, Die Antwort des Leviathan. Thomas Hobbes’ politische Theorie, Neuwied 1970, 177 36 Bernard Willms, Der Weg des Leviathan. Die Hobbes-Forschung von 1968–1978, Berlin 1979, Vorbemerkung 30 31

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an. Willms abstrahiert insbesondere vier große »Probleme«: »Methode und Politik: Das Strauss-Problem«, »Moral and ›obligation‹ : Das Warrender-Problem«, »Ökonomie und Geschichte: Das MacphersonProblem« und »Politik und Theologie: Das Schmitt-Problem«. Willms bricht so eine zu enge Fokussierung der Forschung auf den Gigantenkampf Schmitt-Strauss auf. Schmitts Problemfrage lautete 1938: Ist der »Fehlschlag« des Leviathan durch den »Sinn« des politischen Symbols restituierbar? Lässt sich ein »totaler« Staat durch politische Mythen rekonstruieren? Willms versucht den Forschungsstreit nicht autoritativ zu entscheiden, sondern sondiert nur die umfassende Literatur. Der Zwang zur problemgeschichtlichen Rekonstruktion und originären Formulierung ergibt sich schon aus der Diskrepanz zwischen Schmitts Sicht von 1938 und 1965. Die wirkungsgeschichtliche Abstraktion des »Problems« wirft die Frage nach der »vollendeten Interpretation« auf. Ist Schmitts Hobbes’ überhaupt publik? Ist die »Esoterik« seiner Interpretation entschlüsselt? Haben die Schüler den Meister verstanden? Willms’ Forschungsbericht kann als eine erste Historisierung der schmittianischen Hobbes-Diskussion und Abschluss der affirmativen Weiterführungen betrachtet werden. Schmitt nennt ihn ein »Kabinettstück ersten Ranges«. 37 Willms machte sich dann aber durch eine 68er-Arbeit über Revolution und Protest unbeliebt, 38 die Schmitt als »spätbürgerlichen« Intellektuellen kritisierte. Schmitt notiert ätzend an den Briefrand: »Wer hätte da kein Mitleid mit einem solchen Subjekt? Jeder brüllt mit Schmitt«. 39 Erst Mitte der 70er kehrt Willms reuig zu Schmitt und zum »nationalistischen« Standpunkt zurück und bittet um einen Termin: »Mein erster – und bis dato letzter Besuch in Plettenberg liegt ja nunmehr schon gut 17 Jahre zurück« 40. Schmitt nimmt Willms nationalistische Wendung nun etwas ironisch auf: »Sie, lieber Herr Willms, gehören nicht zu den Besiegten des Jahres 1945«, schreibt er 1979. 41 Martin Kriele, ebenfalls aus dem Ritter-Kreis in loser VerbinSchmitt am 18. Januar 1980 an Willms (RWN 260–390) Bernard Willms, Revolution und Protest oder Glanz und Elend des bürgerlichen Subjekts, Stuttgart 1969 39 Randnotizen Schmitts zu Willms’ Brief vom 8. Februar 1971 an Schmitt (RW 265– 18020) 40 Willms am 1. Advent 1977 an Schmitt (RW 265–18023); 1978 kommt es dann zu diesem Besuch. 41 Schmitt am 31. Januar 1979 an Willms (RWN 260–415) 37 38

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Erste Gegendeutungen

dung, formuliert den liberalen Vorbehalt gegen Schmitts Hobbes dann besonders prägnant. Im Oktober 1970 schickt er sein »Büchlein über Hobbes und die englischen Juristen« mit einer rechtfertigenden Erläuterung: »Widersprüche zu Ihren Gedanken erklären sich einfach aus der anderen Ausgangslage meiner Generation, für die die Information über das Dritte Reich das politische Grunderlebnis gewesen ist, so wie für die vorige Generation die Erlebnisse von 1914 oder von 1918/19 und die Auseinandersetzung mit der technischen Zivilisation. Glauben Sie mir bitte trotz der antithetischen Stellung in vieler Hinsicht den Ausdruck meiner Dankbarkeit und Ehrerbietung.« 42

Das schmale Buch Die Herausforderung des Verfassungsstaates 43 verwirft Schmitts Hobbes mit schmittianischen Mitteln. Kriele rekonstruiert die »Kontroverse« von Hobbes mit den englischen Juristen, für die insbesondere Edward Coke und Matthew Hale stehen. Hobbes habe das »englische Verfassungsrecht insgesamt aus den Angeln […] heben und durch die Staatsphilosophie des Thomas Hobbes […] ersetzten wollen«; er übertrug die »französische Souveränitätsdoktrin auf die englischen Verhältnisse« 44 und ersetzte das common law durch ein revolutionäres Naturrecht. »In England ging die Doktrin dem Bürgerkrieg voraus.« 45 Hobbes sei deshalb eher ein Auslöser als eine Antwort und Lösung gewesen. Kriele wirft Schmitt also eine unhistorische Verkennung der Rolle und »Lage« des Hobbes vor. Zwar habe Hobbes praktisch für die Vermeidung des Bürgerkriegs durch Unterwerfung plädiert; er zielte aber »nicht auf aufgeklärte Institutionen, sondern auf aufgeklärte Machthaber« 46 und sei im Übrigen anthropologischer Optimist gewesen. Kriele bestreitet so ziemlich alles, was im Anschluss an Schmitt vertreten wurde. Gegen Hobbes profiliert er die praktische Vernunft und Lösung des Verfassungsstaates. 47 In einer Fußnote verwahrt er Schmitt auch gegen die Kriele am 26. Oktober 1970 an Schmitt (RW 265–8459) Martin Kriele, Die Herausforderung des Verfassungsstaates. Hobbes und die englischen Juristen, Neuwied 1970; vgl. ders., Notes on the Controversy between Hobbes and English Jurists, in: Koselleck/Schnur (Hg.), Hobbes-Forschungen, Berlin 1969, 211–222; vgl. ders., Zwei Konzeptionen des modernen Staates. Hobbes und die englischen Juristen, in: Studium Generale 22 (1969), 839–848 44 Kriele, Die Herausforderung des Verfassungsstaates, 26 45 Kriele, Die Herausforderung des Verfassungsstaates, 32 46 Kriele, Die Herausforderung des Verfassungsstaates, 46 47 Vgl. dann Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, Reinbek 1975; Recht und 42 43

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XIV. · Carl Schmitts Hobbes-Bild nach 1945

»liberalen Hobbesianer«: namentlich gegen Koselleck, Schnur und Willms, die »zugleich mit Hobbes auch Schmitt liberal interpretieren wollen«. 48 Beides ginge nicht. Hobbes und Schmitt sind Absolutisten, meint Kriele, die auf politische Unterwerfung setzen, und das widerspricht der Friedenslogik des modernen Verfassungsstaates. Schärfer ließ sich die Absage kaum formulieren. Schmitt dankt umgehend für die »Zusendung einer hochinteressanten Schrift« 49 und setzt seine Replik bei Coke als »Idealbild des Verfassungsstaatlichen Juristen« an. Coke sei nur ein »dunkler Ehrenmann«, »Urtyp einer privilegierten Juristenkaste«: »Eine diskutable Doktrin des liberalen Verfassungsstaates haben erst die sogenannten Doktrinäre des 19. Jahrhundert geliefert, zu denen übrigens ein liberaler Mann wie Tocqueville gehörte.« Kriele dankt für die eingehende Kritik und verteidigt die »legendäre Parlamentssouveränität«. Auch nach diesem Disput schickt er weiter Publikationen. Am 3. Februar 1980 kommt er mit Taubes nach Plettenberg. Schmitt 50 dankt jenseits seines 90. Lebensjahres mit eingehenden Bemerkungen zu Krieles Buch Recht und praktische Vernunft; Kriele antwortet nun recht pessimistisch, nur das »Papsttum« verwahre heute die »Humanität« noch gegen die nackte »Politik der Stärke«. Die christlichen Motive der Auseinandersetzung klingen hier noch einmal deutlich an. Auch darauf antwortet Schmitt brieflich noch. Weitere Hobbes-Forschungen wären zu nennen, die von der persönlichen Begegnung und Auseinandersetzung mit Schmitt angeregt waren: einige Arbeiten von Klaus-Michael Kodalle etwa, der auch an Ebracher Seminaren teilgenommen hatte. 51 Jacob Taubes schrieb einen Hobbes-Artikel. 52 Und selbst Herfried Münkler stand nach 1980 noch in Korrespondenz mit Schmitt. Einen Abschluss der direkten Wirkungen könnte man mit der Neuausgabe des Leviathan-Buches datieren. 53 Seit den frühen 60er Jahren kam diese Frage immer praktische Vernunft, Göttingen 1979; Befreiung und politische Aufklärung. Plädoyer für die Würde des Menschen, Freiburg 1980 (diese Bücher besaß Schmitt) 48 Kriele, Die Herausforderung des Verfassungsstaates, 98 49 Schmitt am 6. November 1970 an Kriele (RWN 260–395) 50 Schmitt am 11. Februar 1980 an Kriele (RWN 265–395) 51 Klaus-Michael Kodalle, Politik als Macht und Mythos, Stuttgart 1973; Thomas Hobbes. Logik der Herrschaft und Vernunft des Friedens, München 1972 52 Jacob Taubes, Leviathan als sterblicher Gott. Zum 300. Todestag von Thomas Hobbes, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 278 vom 30. November 1979 S. 35; von Schmitt gesammelt in: RW 265–21849 53 Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehl-

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Erste Gegendeutungen

wieder auf Schmitt zu. Das Buch war so verschollen, dass Schmitt – durch seinen Berliner Schüler Hubertus Bung – 1963 eine Abschrift erhielt und als Typoskript verteilte. 54 Die Wiederveröffentlichung war 1982 noch ein Wagnis. Nach Schmitts Tod setzte dann eine breite internationale Diskussion an. Mit Schnur, Kesting und Koselleck, Kriele und Willms dürften jedoch die wichtigsten Autoren genannt sein, die in einem engeren Schülerverhältnis standen und wichtige Beiträge zur Hobbes-Diskussion der alten Bundesrepublik verfassten. Schmitts letzte Schüler historisierten den »Leviathan« verfassungshistorisch, ohne sein Symbol mythopolitisch zu aktualisieren. Die bundesrepublikanischen Schüler historisierten Schmitts Hobbes-Bild zunehmend kritisch und folgten dem absolutistischen Staatsmodell nicht, auch wenn ihnen der »Staat« ein besonderes Anliegen und Argument blieb.

schlag eines politischen Symbols. Mit einem Anhang sowie einem Nachwort des Herausgebers, Köln 1982 54 Ein gebundenes Typoskript ist erhalten: RW 265–20224; Schmitt notierte die Empfänger in die Innenseite. Karl-Heinz Ilting und Dietrich Braun erhielten 1964 von Schmitt ein Typoskript. Empfängerliste letzter gebundener Exemplare zwischen 1953 und 1980 im Handexemplar RW 265–27463; Empfängerliste der Neuausgabe von 1982 dann in Schmitts Handexemplar vom 23. Oktober 1982 (RW 265–27464)

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XV. Hexenmeister und Zauberlehrling in neuer Gesellschaft. Rüdiger Altmann und Carl Schmitt 1

Rüdiger Altmann, 1922 geboren, wurde 1941 nach dem Abitur in die Wehrmacht eingezogen und begann nach einer Kriegsverletzung ab 1943 in Berlin bei Schmitt zu studieren. Erst nach seiner Marburger Promotion über Das Problem der Repräsentation nahm er 1955 aber den Kontakt wieder auf, der sogleich eng wurde. 2 Altmann war mit dem Publizisten Johannes Gross befreundet, engagierte sich im RCDS und arbeitete an der Zeitschrift Civis der Parteijugendorganisation mit, an der sich Schmitt mit einigen pseudonymen Spottgedichten beteiligte. Ein Blick in die Korrespondenz zeigt, dass Schmitt ihn in sein »System Plettenberg« intensiv einsponn. Er lud ihn also regelmäßig zum Gespräch, nahm ihn gleichsam in den Verteiler seiner serienbriefähnlichen Glossen auf und warb um ihn als Multiplikator und Rezensent. Schmitts Spuren lassen sich in Altmanns Schriften vielfach nachweisen. Altmann äußerte sich später auch wiederholt ausdrücklich über Schmitt. Ich beschränke mich aber auf die frühen Publikationen: vor allem auf Die neue Gesellschaft und Das Erbe Adenauers, und vernachlässige neben der Marburger Zeit auch den späteren »Abschied vom Staat«, der zweifellos auch noch von Schmitt beeinflusst war.

Vortrag, am 11. Februar 2016 auf Einladung von Dr. Jörg Probst im Rahmen der Tagung Zwischen den Fronten. Rüdiger Altmann und die Politikwissenschaft an der Universität Marburg gehalten. Herrn Probst verdanke ich auch die Kenntnis der Korrespondenz zwischen Altmann und Schmitt. Der Altmann-Nachlass befindet sich in der Ebert-Stiftung in Bonn. 2 Ein erster langer Brief Altmanns vom 12. September 1955 an Schmitt ist abgedruckt in: Carl Schmitt und die Öffentlichkeit, hrsg. Kai Burkhardt, Berlin 2013, 144–147 1

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Vom »Kronjuristen« zum Gesellschaftssatiriker

1.

Vom »Kronjuristen« zum Gesellschaftssatiriker

Altmann promovierte mit einer Arbeit über den Begriff der Repräsentation. Schmitt hat diese unveröffentlichte Arbeit sicher gekannt und gelegentlich auf sie verwiesen. Das soll hier nicht weiter interessieren. Altmanns Kooperation mit Johannes Gross an der Zeitschrift Civis kann hier in den historisch-biographischen Aspekten auch nicht rekonstruiert werden. Der erste und wichtigste Ertrag der satirischen Korrespondenzen zwischen Altmann, Gross und Schmitt, dieser Folie à trois, ist das – Ende 1958 erschienene – Kooperativwerk Die neue Gesellschaft. Die konzeptionellen Anteile sind hier nicht auseinanderzudividieren. Man sollte Schmitts pseudonyme Mitwirkung aber nicht leicht nehmen. Um ihren Anspruch zu ermessen, ist seine damalige mentale und publizistische Lage mit zu bedenken: Schon der junge Schmitt publizierte mit den Schattenrissen eine kooperativ verfasste satirische Zeitkritik. Koautorschaftlich wirkte er auch an der romanistischen Dissertation seiner irisch-australischen Geliebten Kathleen Murray mit. 3 Die juristische Arbeit am Staat trat dann aber in den Vordergrund. Nach 1945 hatte Schmitt zunächst Publikationsverbot. Erst nach der Gründung der Bundesrepublik trat er 1950 erneut als Autor von gleich vier monographischen Publikationen hervor. Dieses literarische »Comeback« wurde damals in Leitmedien kritisch aufgenommen. Man betrachtete Schmitt als gefährlichen Altnazi und Wendehals. Schmitt verweigerte nach 1945 aber ostentative Reue und ein politisches Bekenntnis zur Bundesrepublik und kritisierte selbst Autoren wie Jünger und Heidegger als Wendehälse. Er verabschiedete den Staatsbegriff, die Zugehörigkeit zur Staatsrechtslehrervereinigung und die methodische Arbeit am positiv geltenden Recht, verzichtete auf alternative Berufstätigkeiten und lebte nach der Klärung seiner Versorgungsansprüche wieder in seiner Heimatstadt Plettenberg als »freier« Publizist und Rentier. Seine Frau verstarb, die einzige Tochter ging aus dem Haus und Schmitt floh aus der Isolation in sein Plettenberger »System« informeller Vernetzungen. Er suchte Kontakte mit der akademischen Jugend und fand als »charismatischer« Lehrer eine »dritte Generation« bundesrepublikanischer Schüler. Mit dem »System Plettenberg« stellte er seine ganze Rhetorik um. Er zog sich aus der juristischen Fachpublikation zurück und 3

Kathleen Murray, Taine und die englische Romantik, München 1924

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XV. · Rüdiger Altmann und Carl Schmitt

wechselte seinen Adressaten. Zwar besorgte er eine Neuauflage seiner Verfassungslehre sowie die anspruchsvoll glossierten Verfassungsrechtlichen Schriften. Größere neue Monographien publizierte er aber nicht mehr. Schmitt trat aus der juristischen Autorschaft zurück und experimentierte mit neuen Formen. Er nahm eine ziemlich umfangreiche Rezensionstätigkeit auf, betrieb Shakespeare-Studien und veröffentlichte kleine Lehrdialoge. 1954 publizierte er das Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, 1955 folgte in Christ und Welt ein »Gespräch zu dritt«, aus dem das längere »Gespräch über den neuen Raum« hervorging. Während das Gespräch über die Macht nur zwei Gesprächspartner hat – eine fragende Jugend und einen antwortenden »C. S.« –, treten im Rollendiskurs über den »Neuen Raum« namentlich ein »Altmann«, ein »Neumeyer« und ein »MacFuture« auf. Schmitt lässt seine konservative Position also durch einen »Altmann« vertreten, was wohl als ironische Referenz zu verstehen ist. Die Pointierung des »Neuen Raumes«, mit der Unterscheidung von »Neumeyer« und »MacFuture«, rückt den Erwartungshorizont der Schere von Vergangenheit und Zukunft ins Zentrum, wie sie Schmitt in zahlreichen Schriften pointierte und Koselleck dann wirkungsvoll formulierte. Der Titel Die neue Gesellschaft nimmt das auf. Schmitt wechselte in den 50er Jahren also die Rhetorik und den Adressaten. Er analysierte nicht mehr die Staatlichkeit oder gar Souveränität der Bundesrepublik, sondern gab – im Untertitel von Ex Captivitate Salus gesprochen – »Erfahrungen der Zeit« oder – mit dem Untertitel von Altmann/Gross gesprochen – »Bemerkungen zum Zeitbewusstsein«.

2.

Der Titel Die neue Gesellschaft

Schmitt beschrieb die Neuzeit vor 1933 durch eine Dialektik von Politisierung und Entpolitisierung, wonach alle Entpolitisierungsbestrebungen scheitern, weil die politische Energie sich auf immer neue »Zentralgebiete« verlegt; Theologie, Metaphysik, Moral, Kunst und Technik wurden so im Prozess der Neuzeit politisiert. In seiner Verfassungsgeschichte skizzierte Schmitt einen Übergang von der Kirche zum Staat und zur Gesellschaft. Zuletzt konstatierte er vor 1933 eine Wendung zum »totalen Staat« und zur Politisierung der Gesellschaft. In seiner Rede über Hugo Preuß führte er 1930 aus, dass die »organische Staatslehre« die staatliche Souveränität angriff und zu einer »In240 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Der Titel Die neue Gesellschaft

tegrationslehre« führte, die den Staat als »›Selbstorganisation‹« und »Selbstintegrierung der Gesellschaft« auffasste. Das erste Kapitel des Begriffs des Politischen meinte dann, dass der »totale Staat« als »Identität von Staat und Gesellschaft« zu begreifen sei. Diese Identität realisierte sich als Parteienstaat und Einparteienstaat. Solche Überlegungen führte Schmitt nach 1945 weiter: Auf den »totalen Staat« folgte im Prozess der Neuzeit die »totale Gesellschaft«. 4 Schmitt beschrieb den Zug von der Kirche über den Staat zur Gesellschaft zuletzt in seiner Hobbes-Besprechungsabhandlung von 1965 sowie in der Politischen Theologie II. Dort formulierte er ziemlich kryptisch, dass das »moderne Kirche-Staat-Gesellschaft-Problem« (PT II 23) politisch-theologisch mit der Emanzipation der Gesellschaft vom Staat bei einer revolutionären Christologie der Vergöttlichung des Menschen angekommen sei, die den säkularen Humanismus entfesselte. Den Junghegelianismus und das »neue Christentum« des SaintSimonismus betrachtete Schmitt schon früh als Auftakt zur »homohomini-homo-Eschatologie« und »hominisierenden Gesellschaft« (PT II 37), die er selbst für die rassistische Übermensch- und Untermensch-Ideologie des Nationalismus mit verantwortlich machte. Schon in den 50er Jahren setzte er seine Schüler auf diese politischtheologischen Gründe und Ursprünge der modernen Soziologie an. Sombart und Spaemann, aber auch Kesting und Koselleck schrieben dann an der Ursprungsgeschichte der emanzipierten Gesellschaft und säkularen Soziologie. Der Titel Die neue Gesellschaft klingt in diesem Kontext, in Schmitts Lesart, an Henri de Saint-Simon (1760–1825) und dessen 1825 – im Todesjahr posthum – erschienenes Werk Le Nouveau Christianisme an. Schmitts Kritik der anarchistischen »Menschheits-Gnosis« konnten Altmann/Gross damals schon in Ex Captivitate Salus nachlesen. Die Ironie des Titels ist in diesen Zusammenhängen zu lesen: Die Rede von einer »neuen Gesellschaft« ironisiert die Gesellschaft nicht nur gegenüber der untergegangenen staatlichen Souveränität, sondern kritisiert auch die religiöse Aufladung der neuen humanistischen und anarchischen Verheißungen: das Heilsversprechen der emanzipierten Gesellschaft.

Dazu von Schmitt beeinflusst vgl. Bernard Willms, Die totale Freiheit. Fichtes politische Philosophie, Köln 1967

4

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XV. · Rüdiger Altmann und Carl Schmitt

3.

Die Vollendung der Zeitkritik im ironischen Spottgedicht

Betrachten wir die Sammlung Die neue Gesellschaft (NG) etwas eingehender. 5 Sie ist 1958 im Verlag von Friedrich Vorwerk erschienen, einem Autor der »Konservativen Revolution«, den Schmitt schon vor 1933 ziemlich gut kannte. Das Buch enthält außer dem kurzen Vorwort 34 kleinere Texte, darunter fünf pseudonyme Gedichte von Schmitt und wenige weitere Gedichte. Der Schutzumschlag zeigt eine Karikatur »Der Festredner« von Charles Harrison, 1899 in der britischen Satirezeitschrift Punch erschienen: Zwei indignierte Gentleman sitzen an einer Tafel, mit einem dezent lächelnden Butler im Hintergrund. Zur Ansprache hat sich der Festredner erhoben: eine Holzfigur mit dem Kopf eines Grammophons. Unterhalb des Grammophontrichters steht eine Platte mit dampfenden Speisen, die als Eisbein, Kohl oder gar Fäkalien identifizierbar sind. Der Holzsprechermann erscheint, mit einem Wort Schmitts, als »Lautsprecher« oder »Lautverstärker«, und die unappetitlichen Speisen, auf die »Fresswelle« der 50er Jahre anspielend, könnten als Abfall des Lautsprechers oder Zeitgeistes aus dem Trichter gefallen sein. Die indignierten Gentlemen lassen sich dann als Alter Egos der Autoren Altmann und Gross verstehen, die halb aufmerksam und halb angewidert den Lautsprecher und dessen deftige Gaben betrachten. Das Vorwort bekennt sich zur »Kritik« und zur Demokratie, zur CDU sowie zur »christlichen Demokratie«. Die meisten Texte von Altmann und Gross sind mit einem Kürzel namentlich gekennzeichnet. Demnach hat Altmann etwa 20 Beiträge verfasst, auch im Umfang den weitaus größten Anteil. Die Beiträge von Gross scheinen stärker zur Satire zu neigen. Fast alle zeitkritischen Spottgedichte stammen von Schmitt. Die Sammlung enthält einige kritische Rezensionen sowie weitere Texte, die formal als Miszellen zu kennzeichnen sind. Politik und Kunst sind die wichtigsten Themen. Es finden sich Nachbetrachtungen zur Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus, »soziologische« Betrachtungen zur neuen »politischen Elite« und Funktion des Rundfunks, zur Lage der SPD und zum »Widerstand« in der DDR sowie Rezensionen zu Thomas Mann, Ernst Jünger und auch Carl Schmitt. Für die Auffassung der Bundesrepublik sind die Beiträge »Politische Elite« und »Was heißt christliche Demokratie?« besonders in5

Rüdiger Altmann / Johannes Gross, Die neue Gesellschaft, Stuttgart 1958 (NG)

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Die Vollendung der Zeitkritik im ironischen Spottgedicht

teressant. Eine elitensoziologische Auffassung der Demokratie war schon in der Weimarer Republik geläufig und findet sich auch bei Schmitt; Altmann fragt eröffnend nach den neuen Eliten der Bundesrepublik. Systematisch bekennt er sich zur »konstitutionellen« bzw. »christlichen Demokratie« und »Wertüberzeugung« als »Maß« (NG 45). Darüber mokierte sich Schmitt schon 1955, bei der ersten Publikation des Textes, in seinem Glossarium: »Schreibtafel her! Nach Friedrich Glum (Spiegel und Zerrspiegel der Philosophen) ist das Christentum für die Demokratie unentbehrlich, allerdings nur säkularisiertes Christentum, in dem sowohl Christen wie Nicht-Christen sich einrichten können. Oder Rüdiger Altmann (in Civis, Nov. 55): tatsächlich gibt es heute keine andere materiale Ethik im westlichen Kulturkreis als die christliche. Welch ein neues Christentum!« (GL 327)

Schmitt zitiert Altmanns Artikel und betrachtet dessen Konnex von Christentum und Demokratie als Gefahr für das Christentum. Terminologisch greift Altmann mit der »materialen Ethik« Scheler auf und adaptiert Smends Begriff der »Integration« ambivalent. Einerseits ironisiert er die Integration eines »Gesamt-Bewusstseins« (NG 61 f.) und andererseits fordert die Sammlung doch einen politischen Wertekonsens und klare Grundentscheidungen ein. Gross kennzeichnet Weimar deshalb auch als problematischen Zwischenzustand einer »offenen Situation« (NG 29 ff.). Die neue Gesellschaft legt die politische Grundentscheidung also anders als Schmitt aus. Allerdings verteidigt sie durchgängig die »Freiheit im Spiel«. Altmann zeigt das am Sport. Vor allem verteidigen Altmann und Gross aber das ästhetischironische Spiel der Kunst und inszenieren es auch durch die Aufnahme von Schmitts Spottgedichten sowie den Abschluss mit einigen parodischen Gedichten. Mit Schmitt könnte man von einer entpolitisierenden Flucht aus dem Ernst der Politik ins ironische Spiel der Kunst sprechen. Die neue Gesellschaft verteidigt die »Bildung« des »Intellektuellen« explizit gegen die doktrinäre Verschulung und »Organisation« (NG 135). Dahinter steht ein verbreitetes Unbehagen an der politischen »Vergangenheitsbewältigung« und »Reeducation«. Der Titel Die neue Gesellschaft war in den 50er Jahren publizistisch eigentlich an die gleichnamige SPD-Parteizeitschrift vergeben. Altmann führt in seinem längeren – titelgebenden – Beitrag (NG 48 ff.) aus, dass dieses Konkurrenzblatt Profil und Niveau verloren habe. Die SPD sei damals – vor der Godesberger Wende – überhaupt zwischen doktrinä243 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XV. · Rüdiger Altmann und Carl Schmitt

rem Marxismus und pragmatischer Sozialdemokratie noch gespalten (NG 22 ff.). Altmann und Gross übernehmen den verwässerten SPDTitel mit anderem satirischen Anspruch. Sie treten zwar auch als Soziologen auf, zielen aber mehr politikwissenschaftlich auf die Lage der »Demokratie«. Soziologische Gesellschaftsdiagnose jenseits des Staates formuliert etwa ein Beitrag über das Radio sowie der längere Beitrag über »Lager und Lage«, der in seinen Ausführungen zu den »terroristischen Zwangslagern« und im hemdsärmeligen Vergleich mit Jugendlagern problematisch ist. Die KZ-Literatur und Erinnerungsliteratur von KZ-Überlebenden war auch damals schon entwickelt. Altmann und Gross behandeln das Thema Nationalsozialismus insgesamt eher beiläufig. Zur politischen Kultur der 50er Jahre gehörten damals Meisterdenker wie Thomas Mann, Ernst Jünger und Carl Schmitt. Während Schmitt die Großschriftsteller Mann und Jünger äußerst kritisch sah, kommt Manns Krull-Roman als »Komödie des entproblematisierten Europäers« (NG 21) in Altmanns Kritik respektvoll weg, wogegen Jünger ambivalent betrachtet wird: Der von Schmitt massiv abgelehnte Heliopolis-Roman wird vehement kritisiert, während die Gläsernen Bienen positiver aufgenommen werden. Schmitts Hamlet-Studie von 1956 wird als »mythischer Archetyp des europäischen Intellektuellen« (NG 133) betrachtet. Buchstäblich erscheint Schmitt damit im Triumvirat der Meisterdenker Mann, Jünger, Schmitt, während Heidegger oder Benn fehlen. Das ShakespeareBüchlein könnte zwar Mann und Jünger gegenüber etwas leichtgewichtig wirken; Altmanns Besprechung lotet die Abgründe dieser Selbstkommentierung des nationalsozialistischen Engagements auch nicht wirklich aus; Mitte der 50er Jahre bietet sich aber gerade diese Schrift zur Kritik an. 1957 hielt Schmitt in Aachen einen Vortrag über Hamlet als Mythos des europäischen Intellektuellen, den Altmann hörte. 6 Bestimmt sprach er mit Schmitt über das ShakespeareBuch und dessen Rezension. Der Einfluss Schmitts auf die Sammlung reicht über diese Rezension hinaus und betrifft auch die Verhältnisbestimmung von Kunst und Politik und die Rolle von Ironie und Satire. Altmann erweist Schmitt auch in seinem satirischen Schlüsseltext »Die große Ent-Entung« seine Referenz. Das Wort »Ententung« findet sich beSo Schmitt am 3. Februar 1957 an Nicolas Sombart, in: Schmitt und Sombart, Berlin 2015, 97

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Die Vollendung der Zeitkritik im ironischen Spottgedicht

reits in Schmitts Ballade vom reinen Sein, deren satirischen Ansatz Altmann übersetzt. Er erwähnt Schmitt auch in der Linie ideenpolitischer Schlüsselautoren, die durch die »Ententung eines Begriffs« semantische »Konkursverfahren« (NG 87) eröffneten. Altmann führt die Linie auf: von Marx’ »Entfremdung« über Nietzsches »Entwertung«, Freuds »Entlarvung« und Webers »Entzauberung« hin zu Schmitts »Entpolitisierung«, die die politische Dynamik der semantischen Strategie der »Ententung« benennt. Altmann schreibt mit seiner Satire »Die große Ent-Entung«, an Schmitts Ballade vom reinen Sein anknüpfend, also ein Gegenstück zu Schmitts geschichtsphilosophischem Vortrag »Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen«. Er überlässt Schmitts »Entpolitisierung« aber nicht das letzte Wort, sondern nennt darüber hinaus noch die Kategorie der »Entlastung« (NG 89), die Gehlen gerade mit Urmensch und Spätkultur profiliert hatte. Als Mittel der »Entlastung« bietet Die neue Gesellschaft vor allem das ästhetische »Spiel« an. Schmitt hätte hier von einer Flucht in den Ästhetizismus gesprochen und die Perspektiven der »Entlastung« eher gering geschätzt. Auch hier folgt Altmann also nicht strikt. Dennoch ist »Die große Ent-Entung« sein bester Text. Hier findet die »Kritik« die abstrakte Form semantischer Zeitkritik und Satire. Nicht zufällig geht Schmitt im Briefwechsel gerade auf diesen Text näher ein. Hier schreibt er am 2. Mai 1956: »Ihre Notiz zum Gesamt-Denken ist sehr gut. Auch zur Ent-Entung fallen mir immer neue Beispiele ein.« Er nennt z. B. Schelskys »Ent-Ideologisierung«. Zur FAZPublikation schreibt er am 18. Januar 1958 dann allerdings: »Viele glänzende Einzeltreffer, im Ganzen aber scheint er mir nicht gelungen zu sein«. 7 Altmanns Satire bleibt gegenüber Schmitts Ballade auch epigonal; sie gewinnt nicht die satirische Klarheit und Schärfe des Spottgedichts, auf das die Sammlung Die neue Gesellschaft insgesamt tendiert. Die Sammlung unterscheidet sich von der reinen Parteizeitschrift durch die literarische Zuspitzung der »Kritik« zur satirischen Form. Diese Form erfüllt sich im Spottgedicht, in dem »die ironische Begegnung mit der Macht«, um den Titel des Jünger-Verrisses zu zitieren, visuelle konkrete Poesie wird. Das typographische Figurengedicht, mit dem die Sammlung schließt, ist relativ schlicht und epigonal. Schmitts satirisches Meisterstück, Ballade vom reinen Sein, im 7

Abdruck in: Carl Schmitt und die Öffentlichkeit, 151

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Juni 1955 erstmals in Civis erschienen, überragt dagegen alle anderen Beiträge im Umfang und Anspruch. Insgesamt übernimmt die Sammlung Die neue Gesellschaft Schmitts politisch-theologische Ironisierung des Gesellschaftsbegriffs und wird durch dessen lyrische Spottgedichte gleichsam gekrönt.

4.

Lyrik des Hexenmeisters

Nur wenige Gedichte Schmitts sind bekannt, noch weniger wurden zu Lebzeiten publiziert, nur ein einziges im eigenen Namen: Schmitt verschickte seinen Gesang des Sechzigjährigen zum Geburtstag am 11. Juli 1948 im Kreis und schloss damit sein autobiographisches Bekenntnisbuch Ex Captivitate Salus ab. Darüber hinaus publizierte er nur noch pseudonym fünf Gedichte in der Zeitschrift Civis, die alle in Die neue Gesellschaft aufgenommen sind. Schmitt schrieb weitere Gedichte, die inzwischen in einem Heft Gedichte für und von Carl Schmitt in Auswahl publiziert wurden. Das Heft enthält spöttische Personengedichte auf Rilke, Adorno, Benn, Adolf Schüle, Theodor Heuss und Ernst Jünger. Schmitt problematisierte die Form der »Reimereien«. Er sammelte seine Gedichte als »Reim-Übungen, ins Unreine notiert« und rechtfertigte sie als spontane Einfälle: »Ein Reim stellt sich ein.« (GCS 29) Das lyrische Ich angelt Reime und endet als »der Menschheit letzter Wille« beim Reim: »Niete-Elite-Schiete!« (GCS 30) Ein anderes Gedicht heißt: »Das Reimen hört von selber auf, / wer heute reimt, der schleimt sich rauf / in eine falsche Dimension«. (GCS 30) Schmitt vertritt also eine Geschichtsphilosophie des Ästhetischen, wonach das lyrische Sprechen nach 1945 »falsch« klingt. Er meint zwar nicht dogmatisch, dass »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben« einfach »barbarisch« sei; 8 auch er entsagt aber dem hohen Ton und beschränkt sich auf satirische Spottgedichte von einfachem Versbau und Metrum. Es sind Stegreifgedichte, die politische Aussagen witzig vermitteln. Für die weitere Öffentlichkeit trat Schmitt nicht als Lyriker auf und erhob keinen Anspruch auf Dichterruhm. Eine Rückwendung zu den einfachen lyrischen Formen findet sich als Antwort auf die »Revolution der modernen Lyrik« (Hugo Friedrich) nach Baudelaire und Mallarmé, Rilke und George schon bei Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, in: ders., Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt 1955, 7–31, hier: 31

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Lyrik des Hexenmeisters

Bert Brecht, der die Balladenform bevorzugte. Hannah Arendt schreibt dazu: »Denn die Ballade, deren Ursprung nicht nur das Volkslied bildet, sondern auch die endlosen Strophen der Dienstbotengesänge mit ihren gefallenen Mädchen, treulosen Liebhaberinnen und unschuldigen Kindsmörderinnen, die ins Wasser gehen oder auf dem Schafott enden, sie hat von jeher den unmittelbarsten Kontakt mit dem präliterarischen, nur in der mündlichen Tradition aufbewahrten Schatz der Volkspoesie gewahrt. Es ist die Form, in der das Volk der Unsichtbarkeit und dem Vergessenwerden zu entrinnen trachtet und gleichsam auf eigene Faust versucht, sich auch ein Stück Unsterblichkeit zu sichern.« 9

Schmitt springt einmal mehr aus dem elitären Ästhetizismus heraus und wählt den Grobianismus einfacher Formen und simpler polemisch-politischer Aussagen. Er knüpft an Traditionen der Biertischpoesie und Stegreiflyrik an, doch er wendet sie ironisch. Nur die Ballade vom reinen Sein kann eigentlich Anspruch auf lyrische Artistik machen. Die meisten anderen Gedichte sind eher Stegreiflyrik in der Nachfolge etwa von Wilhelm Busch, den Schmitt gelegentlich als »Humorist der Schadenfreude und des Neides« (GL 66) bezeichnete und dessen Biedermeierlichkeit er als »Gefühlsmaske« (GL 17) des Nihilismus verstand. Spöttisch meinte Schmitt: »Wilhelm Busch ist der deutsche Nationaldichter.« (GL 150) Ganz bewusst stellte er sich mit seinen satirischen Spottgedichten aber in diese Tradition und nahm nur mit seinem Geburtstagshymnus und der philosophischen Ballade ambitioniertere ästhetische Distanz. Der Strauss-Zyklus von vier publizierten Gedichten ergibt keinen Kranz und keine geschlossene Aussage. Drei der Gedichte (NG 60, 68, 86, 99; GCS 23 f.) lassen sich als kurze »Lieder« aber eng miteinander vergleichen. Strauss spricht aus der Wir-Perspektive eines »normalen Deutschen« (GCS 22) in einfachem Vers- und Strophenbau. Ein Gedicht ist auf den »Sedanstag« nach der Suez-Krise datiert. Der Sedanstag erinnerte an den Sieg von 1870 im Deutsch-Französischen Krieg und so an die Geburt des Zweiten Reichs aus dem Sieg über Frankreich. Er wurde 1919 zwar als Nationalfeiertag abgeschafft, aber auch später noch nationalistisch begangen. Die Suez-Krise vom Herbst 1956 bezeichnet die militärische Intervention einer Allianz aus Großbritannien, Frankreich und Israel zur Sicherung des SuezHannah Arendt, Berthold Brecht, in: dies., Menschen in finsteren Zeiten, München 1989, 243–289, hier: 276 f.

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Kanals gegen dessen Verstaatlichung durch den ägyptischen Präsidenten Nasser. »Jetzt sind wir biedere Kanalbenutzer / Und fleißige Monadenputzer« (NG 60; GCS 23), heißt es im Gedicht. Schmitt spielt auf die verlorene Souveränität an, vielleicht auch auf Israel. Die beiden anderen Gedichte, der »Neujahrsgruss 1957« und das »Lied des Neutralisten 1957«, ironisieren ebenfalls den Verlust eines selbständigen politischen Standpunkts. Weitere Deutschlandgedichte wurden vielleicht nur deshalb nicht in Civis veröffentlicht, weil sie vor der Wiederbegegnung mit Altmann im Jahr 1955 entstanden. Das quantitativ wie qualitativ gewichtigste satirische Gedicht ist aber zweifellos die Ballade vom reinen Sein (NG 112–117; GCS 16– 21), die Schmitt unter dem Titel Die Sub-Stanz und das Sub-Jekt unter dem Strauss-Pseudonym als erstes seiner Civis-Gedichte 1955 veröffentlichte. Das Gedicht ist in Metrum und Reim (Trochäus) sehr regelmäßig gebaut, durch Zwischenüberschriften gegliedert und in den Strophen etwas unregelmäßig gefügt. Zweifellos ist es formal von allen Gedichten am anspruchsvollsten und strengsten durchgestaltet. Die Ballade vom reinen Sein spielt mit philosophischen Termini: mit der Unterscheidung zwischen Substanz und Subjekt, die Hegel philosophiegeschichtlich auch auf Spinoza und religionsgeschichtlich auf den Unterschied zwischen Judentum und Christentum bezog. Die Rede vom »reinen Sein« steht am Anfang von Hegels Logik. Eine klassische Formulierung aus der Vorrede der Phänomenologie des Geistes, die Schmitt vor allem las, lautet: »Es kommt nach meiner Einsicht, welche sich nur durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muss, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.« (TWA III, 23 f.) Spinoza und das Judentum haben das Absolute, nach Hegel, nur als Substanz und nicht auch als Subjekt, Person und »Geist« begriffen. Schmitt gibt nun eine andere Darstellung der Dynamik und Dialektik von Substanz und Subjekt. Sie scheint terminologische Sprachspiele zu kritisieren, die neologistisch verfremden. Solche terminologische Bricolage hat Schmitt zwar selbst mit »dadaistischem« Einschlag immer wieder betrieben, buchstäblich scheint er aber Heideggers terminologische Jongleurspiele aufzugreifen und zu parodieren. Hegel unterschied Substanz und Subjekt nicht disjunktiv: Das Absolute sollte »eben so sehr« als Substanz wie als Subjekt begriffen werden. Der Substanzbegriff war nicht verabschiedet, Spinozas Auslegung des Absoluten nicht einfach negiert, sondern in eine andere 248 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Lyrik des Hexenmeisters

Position »aufgehoben« und »bewahrt«. Schmitts Ballade beschreibt dagegen eine »Entflechtung«. Sie erzählt nicht von einer Subjektwerdung der Substanz, einem Werden zu sich, sondern von einer »Ententung« oder Abstoßung des gemeinsamen Präfix, die Schmitt als »Ent-Subung« bezeichnet. In der freund-feindlichen Begegnung der Begriffe stoßen die Termini den verbindenden Präfix ab. Das ist kein Werk eines philosophischen Wortmagiers oder Jongleurs, wie Heidegger, sondern eine Arbeit des Begriffs oder der Seinssemantik selbst. Eingangs heißt es: Die Substanz und das Subjekt Liegen müßig hingestreckt. Die Substanz kaut an der Prosa Eines Benedikt Spinosa Das Subjekt liest nur noch Hegel Und benimmt sich wie ein Flegel Jeder hofft den jeweils Andern Mit sich selbst zu unterwandern. (NG 112; GCS 16)

Schmitt spricht hier nicht nur von philosophischen Konkurrenzen, sondern, mit Hegel, vermutlich auch vom Verhältnis von Judentum und Christentum. Trifft diese starke Deutung zu, so meint er mit der »Entflechtung«, »Ent-Subung« und »Re-Subung« auch die deutschjüdische Symbiose, die um 1800 von Goethe und Hegel im Zeichen des Spinozismusstreites und der Spinoza-Rezeption begründet wurde. Schmitt formuliert den Prozess der »Entflechtung« existentialistisch: »Plötzlich sehn sich aufgeschreckt / Die Substanz und das Subjekt« (NG 112; GCS 16). Der Blick markiert eine freund-feindliche Identifikation im Prozess des Anerkennens. Der Moment plötzlicher Identitätserkenntnis klingt an Hegel, Sartre, Schmitt und die damalige Kojève-Lektüre an; die Reaktion aber formuliert Schmitt mit Heideggers Konzept metaphysischer »Angst«: »Angst erfasst sie jetzt und Grauen / Wenn sie sich konkret beschauen« (NG 112; GCS 16). Die Wahrnehmung des verbindenden Präfix realisieren die metaphysischen Letztbegriffe mit »Hass« als »SUB-Defekt« und reagieren beide gleichzeitig und gleichermaßen mit einem »starken Stoß«. Sie reißen sich vom gemeinsamen Präfix los und streben auseinander in eine neue »Daseins-Lichtung«, wie Schmitt erneut mit Heidegger formuliert. Die Lichtung der Entflechtung stößt die Präfixe in eine neue »Unterwelt«, ein rebellisches Chaos, das sich in »massierten Trupps« 249 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XV. · Rüdiger Altmann und Carl Schmitt

als wilder »Klub« gebärdet, wie Schmitt über mehrere Strophen virtuos ausführt, und »zur Materie integriert« dionysische »Orgien« feiert. Vielleicht spielt er hier auf Anarchisten, Nietzsche und die »Panisken« der Epochenwende an, von denen Ex Captivitate Salus sprach. Die vom Präfix emanzipierten Wortstämme verfallen in der Ballade aber bald in ein »Vakuum« fehlender Identität und Dynamik. Die Revolte der neuen Materie bedroht die »müden Reinen«. Etwas unvermittelt reintegriert die »Sub-Kultur« sie am Ende doch in ihren Klub: »Der heroischen Ent-Mischung / Folgt jetzt die Total-Verwischung« (NG 116; GCS 20), die Schmitt als »großen Omnibus« bezeichnet. Es folgt ein versöhnlicher Schluss, der den »Umweg«, erneut in Anspielung auf Heidegger, als »Seins-Erhellung« (NG 117; GCS 21) rechtfertigt und die gegenwärtige Lage oder »metaphysische Grundstellung« (Heidegger) etwas unklar mit Thomas Mann, Ernst Wiechert und Jacques Maritain markiert. Schmitt hatte Maritain einst über Karl Eschweiler in Bonn persönlich kennengelernt. Mit Maritain kritisiert er jetzt die herrschende christliche Religionsphilosophie. Auch das deutet darauf hin, dass Schmitt über eine Revolutionssatire und Hegel-Parodie hinaus eine Satire des Zeitgeistes schreibt, die den Gegenwartsdiskurs nach Heidegger bezeichnet. Die Nachkriegszeit erscheint ironisch als Zeit metaphysischer Versöhnung: »Was bisher verfeindet war / Küsst sich brüderlich polar.« (NG 117; GCS 21) Stets kritisierte Schmitt die naiven politischen Selbsttäuschungen über die wahren Herrschaftsverhältnisse und Parteiungen. Sein virtuoses Gedicht soll hier nicht überdeutet werden. Als Religions- und Metaphysikgeschichte kritisiert es gleichermaßen das Streben nach »Entflechtung« wie die »Total-Verwischung« aller metaphysischen Differenzen und Identitäten. Das Spiel mit den Gegenbegriffen ist für Schmitt überaus charakteristisch, ebenso der Gedanke, dass das abgestoßene und emanzipierte Andere seine eigene Dynamik entwickelt. Altmanns gewiss geistreiche und gelungene Satire »Die große Ent-Entung« knüpft an Schmitts Ballade an, ohne deren abstrakte und allegorische Vielschichtigkeit und formale Konsequenz zu erreichen. Die Parallelen zu Goethes Ballade vom Zauberlehrling liegen auf der Hand: Wo Schmitt vom Aufstand der Präfixe erzählt, emanzipiert Goethe den Besen vom magischen Willen des Zauberlehrlings und nur der alte Hexenmeister kann den Aufstand der Dinge bei seiner Rückkehr mit souveränem Machtspruch und Zauberwort wieder fügen. Die kooperative Sammlung Die neue Ge250 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Status Quo und Vision des Wohlfahrtsstaates

sellschaft ist auch eine intellektuelle Konkurrenz: Der »alte Meister« zeigt seinen Zauberlehrlingen mit seiner Ballade und seinen Spottgedichten noch einmal, wie man Geister bannt.

5.

Status Quo und Vision des Wohlfahrtsstaates

Die Plettenberger Gespräche zielten aber von Anfang an über die satirische Gesellschaftskritik hinaus. Altmann und Gross bezogen dabei gegen Schmitt für die »christliche Demokratie« der Bundesrepublik Position und schätzten eine wertgebundene Integration und Stabilität. Schmitt äußerte sich nach 1949 nur sehr vorbehaltlich und spärlich zur Lage und Verfassung der Bundesrepublik. Das überließ er seinen Schülern. Die fortdauernde Prägung Altmanns durch Schmitt zeigt sich in dessen späteren Schriften nicht zuletzt im theoretischen Ehrgeiz und Anspruch. Wo Schmitt das Ende der »Epoche der Staatlichkeit« (BP 10) verkündete, schrieb Altmann mit seiner »späten Nachricht vom Staat« gleichsam am Abgesang. Das zeigt sich schon in seinem Büchlein Das Erbe Adenauers (EA), 10 das 1960 seinen publizistischen Ruf begründete. Es sollte nicht zu leicht genommen werden, beschränkt es sich doch nicht auf die strategische Nachfolgefrage und auch nicht auf die Analyse eines Regierungsstils, sondern zielt mit Schmitt auch über Max Weber hinaus auf sehr weitreichende theoretische Aussagen und Orientierungen. Für das CDU-Mitglied lag die Frage nach dem Erbe Adenauers 1960 nahe. Weber hatte die »Erbschaft Bismarcks« 1918 in Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland klassisch analysiert. Altmann orientiert sich an diesem hohen Muster. Sein langer Essay, von Fußnoten nicht getrübt, lässt sich in weiten Teilen als gutes Stück Politikwissenschaft lesen. Schmitt las den Text im Manuskript und schrieb am 21. März 1960 dazu lobend: 11 »Ich sehe jetzt, dass das Buch ein deutliches, wunderbar transparentes Bild gibt, ein Kabinettstück dessen, was man mit Fug und Recht ›political science‹ nennen könnte. Werden Ratschläge so honoriert[,] wie sie es verdienen, so wären Sie ein gemachter Mann als politischer Berater. Ich will Sie damit nicht etwa mit den alternden Generaldirektoren auf eine Stufe stel-

10 11

Rüdiger Altmann, Das Erbe Adenauers, Stuttgart 1960 Abdruck in: Carl Schmitt und die Öffentlichkeit, 154 f.

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XV. · Rüdiger Altmann und Carl Schmitt

len, die durch ihre berüchtigten ›Beraterverträge‹ rechtzeitig einen schönen Lebensabend sichern.«

Schmitt greift hier Altmanns Berufsziel auf und versteht den Essay als Bravourstück praktischer Wissenschaft. Altmann erörtert zunächst Adenauers Ausprägung des »Regierungsmodells« der »Kanzlerdemokratie« und dessen Auswirkungen auf den Parlamentarismus und die Parteienlandschaft. Er betont die exekutive, »gouvernementale« Schieflage der Kanzlerdemokratie, den »Sieg der Regierung über das Parlament«, was Schmitt mit anderer Tonlage für die Weimarer »Wendung« zum Exekutiv- und Verwaltungsstaat feststellte. Altmann erörtert dann die Entwicklung des Parteiensystems und die Optionen und Chancen bei kommenden Wahlen, prognostiziert eine Entwicklung zum Dreiparteiensystem und sieht Perspektiven für eine »große Koalition«. Solche politikwissenschaftliche Betrachtungen hatte Schmitt als Jurist gemieden, wie ihm eine positive Differenzierung der Parteienlandschaft überhaupt fern lag. Leider äußerte er sich in seinen Briefen 1960 nicht zur zweiten Hälfte von Altmanns Essay, die für ihn systematisch noch interessanter gewesen sein dürfte: Altmanns verfassungspolitische Betrachtung der Machtverschiebungen zwischen Exekutive und Parlament war zwar ein innovatives Stück Politikwissenschaft; die eingängige, prägnante und amüsante Beschreibung der »Kanzlerdemokratie« wurde stilbildend. Wahrscheinlich aber fand weniger Beachtung, worauf Altmanns Ehrgeiz auch ging; Die neue Gesellschaft hatte die intellektuelle Mediokrität der frühen Bundesrepublik verspottet; der zweite Teil des Essays bietet Deutschland nun nicht weniger als eine »neue Weltorientierung« und »neue Deutung seines Daseins« (EA 186) an. Diese Ausführungen zur »Zukunft des Status quo« und den aktuellen Aufgaben und Chancen der westlichen Außenpolitik in der »globalen Konkurrenz« sind näher an Schmitt, gerade am Spätwerk, und Altmann erwähnt das auch namentlich (EA 154). Altmann geht über die Analyse des politischen Systems weit hinaus, wenn er den innenpolitischen Status Quo als ein »Regime des Pluralismus« in der Organisation von »Parität« beschreibt und den »Wohlfahrtsstaat« als Errungenschaft des Kapitalismus positiv auffasst, der durch »Sozialisierung des Konsums« ein »neues Sozialsystem« schafft, das Stabilität sichert und soziale Konflikte unterhalb existentieller Eskalationsstufen hält. Altmann bejaht den kapitalistischen Wohlfahrtsstaat als innenpolitisch pazifizierendes »Sozialsys252 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Status Quo und Vision des Wohlfahrtsstaates

tem«; er vertritt eine positive Einschätzung des Wohlfahrtsstaats jenseits von Schmitts Kritik am Sozialstaat, der verteilt und umverteilt. Originell greift er in die damaligen Debatten um Sozialstaatlichkeit ein: Während Forsthoff die Vereinbarkeit des Sozialstaats mit dem liberalen Rechtsstaat problematisierte, bejaht Altmann die Sozialintegration qua »Sozialisierung des Konsums« politisch. Mit seinen außenpolitischen Folgerungen nähert er sich dann aber erneut eng an Schmitt an. Im Kapitel »Außenpolitik als globale Konkurrenz« führt er aus, dass der westliche Wohlfahrtsstaat die »Konkurrenz mit dem Kommunismus« offensiv aufnehmen sollte und jenseits des bürokratischen Elitenprojekts der EU, das Altmann hellsichtig skeptisch sieht (EA 170 ff.), die Systemkonkurrenz mit dem Kommunismus gerade in der Entwicklungspolitik zu gewinnen ist. Ganz schlicht meint Altmann: »Wir müssen den Beweis erbringen, dass wir eine höhere Entwicklungsstufe als der Kommunismus erreicht haben. Höher nicht im Alter, sondern in der Bewegung auf die neue Weltzivilisation.« (EA 161) »Wenn wir den Sowjets offensiv begegnen wollen, können wir uns nicht auf Europa beschränken – wir brauchen den Schauplatz Asien. Wir müssen die Russen zwingen, sich mit uns in den Entwicklungsländern ökonomisch und sozial zu schlagen.« (EA 181) »Die Frage ist, ob die Sowjets eine totale Konkurrenz mit dem Westen durchhalten können.« (EA 182)

Der Mauerfall 1989/90 wurde gelegentlich auf den strategischen Versuch Ronald Reagans zurückgeführt, die Sowjetunion im Wettrüsten ökonomisch zu überfordern. Einen solchen Erschöpfungstod visioniert Altmann 1960 bereits als agonale Aufgabe des Westens und »neue Weltorientierung« (EA 186). Schmitt hatte den Kampf um die Entwicklungsländer in Münster als »heutigen Nomos der Erde« bezeichnet. 1962 sprach er in Spanien eingehender über die Entwicklungshilfe und Rolle von Asien und Afrika im Ost-West-Konflikt. In der Theorie des Partisanen erörterte er dann die Rolle Chinas. Über geopolitische Fragen, Großräume und Entwicklungspolitik dachten damals viele nach. Zweifellos sind Altmanns Überlegungen zur Profilierung des westlichen Wohlfahrtsstaats in der Systemkonkurrenz originell. Ganz sicher sprach er aber mit Schmitt auch über diese Fragen und nahm dessen Überlegungen zur Kenntnis. Seine Analyse der Erbschaft Adenauers zielte über eine verfassungspolitische Analyse der Kräfteverteilungen in der Kanzlerdemokratie hinaus auf die Zukunft des »Wohlfahrtsstaats«. Altmann wollte keinen klassischen Parlamentarismus restaurieren, er ging soziologisch von der Wirk253 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XV. · Rüdiger Altmann und Carl Schmitt

lichkeit des Wohlfahrtsstaats aus und bejahte den sozialen »Austausch und Ausgleich« auch im »globalen Maßstab« (EA 162).

6.

Diskurspolitik eines Publizisten

Schmitt lobte Altmanns Buch Das Erbe Adenauers in den damaligen Korrespondenzen wiederholt. An Mohler schrieb er am 22. März 1960: »Rüdiger Altmanns Buch (Das Erbe Adenauers) wird glänzend; es soll im Mai erscheinen; er ist ein bedeutender Intellekt, dieser Altmann.« (BS 276) Die nachfolgenden Publikationen sind eigentlich nur im Kontext der damaligen Debatten und bei Berücksichtigung von Altmanns spezifischer Rolle zwischen Publizistik und Politikberatung angemessen zu würdigen. Nimmt man etwa die Essaysammlung Späte Nachricht vom Staat (SN), die 1968 erschien, so wird man heute keinem der Essays besonderes Gewicht zusprechen. Das gilt auch für Die Formierte Gesellschaft, der als Stichwort politisch wirkte. Eine starke Theorie oder eingehende Beschreibung lässt sich kaum ablesen. Altmann führt seine Charakterisierung des »Regimes des Pluralismus« und der organisierten »Parität« weiter aus. Er polemisiert in essayistischer Form, ohne konkrete Beispiele und Belege, dabei gegen den »überentwickelten Pluralismus«, dem er als »formierte Gesellschaft« einige Regularität und Stabilität zubilligt, betrachtet die Haushalts- und Wirtschaftspolitik des »Verteilerstaates« (SN 40 f., 53) eingehender 12 und sorgt sich um die »Staatsfähigkeit der manipulierten Gesellschaft« (SN 58). Soziologisch beobachtet er Korrespondenzen von Staat und Gesellschaft: »Die expandierende Daseinsvorsorge des Verwaltungsstaates und der Pluralismus der organisierten Interessen haben sich gegenseitig provoziert und ergänzt.« (SN 37) Der Begriff der Gesellschaft bleibt grundlegend; Altmann meint: »Die Gesellschaft, nicht der Staat ist in Deutschland total geworden.« (SN 49) Mit Schmitt formuliert er das auch als Verflechtung von Legalität und Legitimität: »Der demokratische Staat legitimiert sich also nicht mehr allein durch seine eigene Legalität, sondern dadurch, dass er die Gesellschaft – d. h. den gesellschaftlichen Pluralismus – legalisiert.« (SN 50) Als Festgabe für Schmitt problematisiert Altmann die Friedensrhetorik als »Aktionsbegriff« (SN 74) und schließt mit kräftigen

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Rüdiger Altmann, Späte Nachricht vom Staat. Politische Essays, Stuttgart 1968

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Diskurspolitik eines Publizisten

Worten zur innenpolitischen Feindbestimmung der »Störer« der Bundesrepublik. Auch diese Essays argumentieren noch in der Logik von Schmitts Verfassungsgeschichte. Vielfältig korrespondieren sie mit dem damaligen rechtsintellektuellen Diskurs, wobei sich auch einige Nähen zur Linken ergeben. Altmanns Späte Nachricht vom Staat klingt heute sehr abstrakt. Für sich genommen wirken die Texte heute nicht sonderlich stark. Ihre Rhetorik muss im Kontext der damaligen Diskurse, Foren und Adressaten gewürdigt werden. Altmanns Rede von »Theorie« darf dabei nicht mit starken wissenschaftlichen Theorieansprüchen gleichgesetzt werden. 13 Die Spuren Schmitts reichen jedenfalls über das Frühwerk hinaus und sind bis in die Schrift Der wilde Friede von 1987 hinein deutlich bis überdeutlich. Altmann bewegt sich weiter in Schmitts Referenzkanon und adaptiert auch die Theorie des Partisanen und andere späte Schriften. Die pluralistisch »organisierte Gesellschaft« und »Anspruchsgesellschaft« sind dabei neue Themen über Schmitt hinaus. Altmann suchte prägnante Rhetoriken für die publizistischen Kontexte, in denen er agierte. Seine Texte waren für die Mitwelt und unmittelbare Wirkung geschrieben. Sein Werk gehört deshalb heute nicht in eine Theoriegeschichte der Politikwissenschaft, sondern in eine politische Intellektuellengeschichte der alten Bundesrepublik. Dieses Werk wurde vielleicht noch nicht geschrieben.

Dazu ausdrücklich Rüdiger Altmann, Der wilde Frieden. Notizen zu einer politischen Theorie des Scheiterns, Stuttgart 1987, 9

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XVI. Carl Schmitts Schmähgedicht auf Theodor W. Adorno 1

1. Goethe hat sich für mancherlei »Schelme« interessiert. Auch er war in die Campagne gezogen und hatte die Verwüstungen der Revolutionskriege aus der Nähe gesehen und erlebt. Im Umkreis des Wilhelm Meister übersetzte er den Benvenuto Cellini sowie Rameaus Neffe. Hegel hatte seine Herr/Knecht-Dialektik nicht nur an Hobbes, sondern auch an Diderot geschärft, dessen nachgelassenes Fragment über Umwege von Goethes Jugendfreund Klinger in einer Abschrift in St. Petersburg entdeckt worden war und das 1805 in Goethes Übersetzung erschien. Rameaus Neffe, der fast zum Clochard heruntergekommene Neffe des großen Musikers, rechnet mit der Tugend der Genies ab und verachtet doch seine »Mittelmäßigkeit« und Mediokrität. Er kultiviert sein Ressentiment als Niedertracht und will seine »Schändlichkeit« zur Größe steigern. Er weiß: »Man spuckt auf einen kleinen Schelm, aber man kann einem großen Verbrecher eine Art Achtung nicht verweigern.« 2 Der »kleine Rameau« erzählt dem IchErzähler und »Philosophen« die Geschichte von einem »Renegaten«, der sich mit einem »heimlichen Juden« anfreundet und ihn dann verrät. Er führt aus: »Bis jetzt ist der Renegat nichts weiter; es ist ein verächtlicher Schuft, dem niemand gleichen möchte. Aber das Erhabene seiner Bosheit zeigt sich erst Auf Einladung von Silvio Vietta als längerer Vortrag unter dem Titel »Weltgesellschaft bei Carl Schmitt und Theodor W. Adorno« am 6. Oktober 2016 auf der Tagung Dimensionen und Perspektiven einer Weltgesellschaft? in Hildesheim vorgetragen. 2 Denis Diderot, Rameaus Neffe. Aus dem Manuskript übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Goethe, in: Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, Stuttgart o. J., Bd. XXXIV, 49–196, hier: 117; zur zentralen Bedeutung von Diderots – auf Hegel, Marx und neuere anarchistische und marxistische Autoren wirkendem – Text jetzt Dieter Thomä, Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016, 122 ff.; dazu vgl. GL 350 1

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darin, dass er selbst seinen Freund, den Israeliten, angegeben hatte, dass die Inquisition diesen bei seinem Erwachen in Empfang nahm und nach einigen Tagen ein Luftfeuerchen mit ihm anstellte; und so war der Renegat ruhiger Besitzer des Vermögens dieses verfluchten Abkömmlings derer, die unseren Herrn gekreuzigt haben.« 3

Trifft diese Geschichte auf Carl Schmitt zu? War Schmitt ein entsprungener Katholik und »Renegat«, der seine Bosheit zur Größe steigerte und vom Freundesverrat profitierte? Manche haben es so gesehen. Der Philosoph, Goethes Stimme als Übersetzer, antwortet auf Rameaus Ausführungen umgehend: »Ich weiß nicht, wovor ich mich mehr entsetzen soll: vor der Verruchtheit des Renegaten oder vor dem Ton, mit dem ihr davon sprecht.« 4 Wie soll man Schmitts antisemitische Polemiken angemessen thematisieren? Seine Worte und Taten? Wie kommentiert man auch seine fortdauernden antisemitischen Äußerungen nach 1945? Wir überschauen heute einigermaßen seinen jüdischen Bekannten- und Freundeskreis vor 1933. Die Geschichte scheint vor allem für sein Verhalten gegenüber seinem ältesten und engsten Jugendfreund Georg Eisler zuzutreffen, der nie zum Christentum konvertiert war. Bei meinen Recherchen zum Schicksal Georg Eislers 5 fand ich im August 2008 noch einen kurzen Mailkontakt zu dessen Sohn, dem bedeutenden Kunsthistoriker Colin Eisler, der im März 1931 als Carl Eisler in Hamburg geboren und nach Schmitt benannt wurde, worüber der sich im Tagebuch »sehr gerührt« (TB 1930/34, 101) zeigte. Colin Eisler antwortete umgehend und zeigte sich »horrified« bei dem Gedanken, seine Eltern könnten nur entfernt mit Schmitt verbunden werden. Er schrieb,6 Schmitt habe die frühe (»fortunately early«) Emigration in keiner Weise unterstützt, »within a few weeks of the war’s ending« aber sogleich einen Bittbrief nach New York geschickt. Eisler nannte das Anliegen einer Schmitt-Biographie im Mail »intrinsically ignominious«, eigentlich schändlich, »no matter how highly regarded his intellect is seen to be today«, und lehnte weitere Auskünfte ab. 1996 publizierte er bei DuMont ein umfangreiches und prächtig aufgemachtes Stan-

Rameaus Neffe, 120 Rameaus Neffe, 120 5 Dazu Verf., Die Hamburger Verlegerfamilie Eisler und Carl Schmitt, Plettenberger Miniaturen Heft 2, Plettenberg 2009 6 Mail Colin Eislers vom 26. August 2008 an den Verf. 3 4

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dardwerk Meisterwerke in Berlin über die Berliner Gemäldesammlungen und schrieb dann eine ergreifende Widmung, in der es heißt: »Als Jude, der in jungen Jahren aus Deutschland fliehen musste, schreibe ich dieses Buch zu Ehren des wertvollsten Schatzes, den Berlin verloren hat, zu Ehren jener Menschen, die ihrem Gewissen folgten und der Schreckensherrschaft der Nazis Widerstand leisteten. […] Zwischen 1930 und 1991 wurden zahllose Angehörige der moralischen Elite Berlins verraten, inhaftiert, ausgewiesen, ermordet oder auf andere Weise zum Schweigen gebracht. Sie fielen nicht nur den diversen Formen der Tyrannei zum Opfer, sondern auch dem Mitläufertum, der Gleichgültigkeit, der Feigheit, dem Opportunismus oder der Furcht ihrer Mitbürger.« 7

Gewiss hat Colin Eisler hier auch an seinen früheren Namenspatron gedacht. Vergegenwärtigt man sich aus den Tagebüchern nur Georg Eislers selbstlose Freundschaft und Unterstützung, so ist das Entsetzen des Sohnes über Schmitts Verhalten nur zu verständlich. Auch für die Beziehungen zu Ludwig Feuchtwanger, Moritz Bonn oder anderen ließe sich von unverzeihlichem Freundschaftsverrat sprechen. Weniger moralisch und auf den engsten Kreis der Beziehungen gesprochen, wäre über die antisemitischen Äußerungen hinausgehend, Schmitts rechtspolitische Wirksamkeit als Akteur im Nationalsozialismus detailliert zu untersuchen: seine apologetische Auslegung der Nürnberger Rassegesetze etwa oder seine Berliner Tagung Das Judentum in der Rechtswissenschaft vom Oktober 1936. Eine eingehende Studie zu Schmitts antisemitischer Diskriminierungspolitik als Akteur im Nationalsozialismus fehlt im vorliegenden Sammelband aber. Das Thema ist so gewichtig und die Quellenlage für eine tiefenscharfe umfassende Analyse so schwierig, dass dieses dunkle Thema hier herausgehalten wurde. Deshalb schien eine Vorbemerkung nötig, wenn im Folgenden ein antisemitisches Schmähgedicht analysiert wird, das die fortdauernde singuläre Polemik Schmitts auch nach 1945 exemplarisch zeigt.

2. Schmitt war 15 Jahre älter als Adorno. Adorno kommt in seinen Schriften nicht vor. Erst als Remigrant wird er in der Bundesrepublik Colin Eisler, Meisterwerke in Berlin. Die Gemälde vom Mittelalter zur Moderne, Köln 1996, VIII

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bekannt, zu einem Zeitpunkt, als Schmitt als Autor der Bundesrepublik weitgehend verstummte. Nimmt man die Reihe seiner selbständigen Publikationen, so tritt Adorno nach der grundlegenden Dialektik der Aufklärung lange vor allem als Fürsprecher der »neuen Musik« auf, genauer: der sog. Zweiten Wiener Schule, von der er einst als Schüler Alban Bergs ausgegangen war. Er analysiert also die Kultur der Gesellschaft und trennt und wertet – so in der Philosophie der neuen Musik – dabei scharf zwischen »Fortschritt« und »Reaktion«, E- und U-Musik, »Kulturindustrie« und den wenigen wahren Werken. Adorno hat dabei vor allem die Differenz zwischen seinem avantgardistischen Wien und Hollywood im Blick. Sein Thema ist die Kultur der »Gesellschaft«. Recht und Staat, Schmitts Themen, betrachtet er dagegen nicht näher, weil er die »Gesellschaft« in marxistischer Tradition vom Primat der kapitalistischen Wirtschaft her sieht. Adorno analysierte den »Spätkapitalismus« nicht eingehend; eine entwickelte politische Ökonomie mit starken ökonomischen Thesen schrieb er nicht, sondern setzte den Primat des Spätkapitalismus als transhumanes System gleichsam axiomatisch voraus. Den Einflussraum des Kapitalismus bestimmte er dabei nicht territorial, auch nicht gegenüber dem sozialistischen Lager oder sowjetischen Einflussbereich. Sehr abstrakt erscheint der »Spätkapitalismus« als ein totales, totalisierendes oder gar totalitäres »System« der »Verdinglichung«. Adorno konstatiert die Universalität und Totalität spätkapitalistischer Vergesellschaftung der Kultur. Sein Fluchtpunkt und seine Alternative war die ästhetische Erfahrung avantgardistischer Kunst. Schmitt setzte dagegen die stete Möglichkeit politischer Alternativen voraus und machte die Institutionalisierung politischen Handelns im Verfassungssystem zum zentralen Thema seines Werkes. Er identifizierte personale Akteure und betrachtete Gesellschaften als politische Interaktionssysteme. In seiner Optik geht der »Weltstaat« der »Weltgesellschaft« voraus. Adorno scheint die »Weltgesellschaft« dagegen an die Universalität des Kapitalismus zu binden. Schaut man auf die Theoriebildung, bietet sich ein Zugang über Hegel an: Adorno entwickelte seine »negative Dialektik« von Hegel her; seine Aspekte der Hegelschen Philosophie hat Schmitt gekannt. Adorno liest Hegel mit Marx; er spricht von einer »Übersetzung des Hegelschen Geistbegriffs in gesellschaftliche Arbeit« und meint: »Der Gesellschaft kommt eben das zu, was Hegel dem Geist gegenüber allen isolierten Einzelelementen der Empirie reserviert. […] Das Prinzip der

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Äquivalenz gesellschaftlicher Arbeit macht Gesellschaft im neuzeitlichen bürgerlichen Sinn zum Abstrakten und zum Allerwirklichsten, ganz wie Hegel es vom emphatischen Begriff des Begriffs lehrt.« 8

Adorno kritisiert zwar Hegels Primat des Staatsbegriffs, erkennt als Schüler von Marx aber auch die forcierte Theorie der bürgerlichen Gesellschaft an: »Nirgends ist die hegelsche Philosophie der Wahrheit über ihr eigentliches Substrat, die Gesellschaft, nähergekommen als dort, wo sie ihr gegenüber zum Aberwitz wird.« 9 Adorno setzt die Totalität der spätkapitalistischen Gesellschaft als basale Wirklichkeit und Agens einfach voraus. Der Anfang seiner Logik lautete dann: Gesellschaft, reine Gesellschaft. Das Wesen und Werden der Gesellschaft heißt »Arbeit«. Viele Adorno-Publikationen analysieren den Vorrang des Allgemeinen und der Gesellschaft gegenüber der individuellen »Natur« und den autonomen »Werken«. So endet die (posthum erschienene) Ästhetische Theorie 10 mit einem Kapitel »Gesellschaft«, das den »Doppelcharakter der Kunst« als Werk und Ware an Beispielen expliziert und die »Immanenz der Gesellschaft im Werk« (ÄT 344) als objektiven »Gehalt« und »Wahrheit« der Kunst hervorhebt, nicht als kruden »Realismus«, sondern als »Befreiung der Form« (ÄT 379) in der ästhetischen Erfahrung von »autonomen« Werken. Die ästhetische Erlösung war Schmitt zwar nicht weniger vertraut als Adorno; er setzte aber stärker auf das politische Handeln und die politische Selbstbestimmung als Chance. Schmitt hat Adorno in seinen Schriften wohl nirgendwo signifikant zitiert. Ein Blick in seine Bibliothek zeigt aber immerhin, dass er wenigstens den Versuch über Wagner in der Suhrkamp-Ausgabe von 1952 sowie die Aspekte der Hegelschen Philosophie von 1957 besessen, gelesen und durchgearbeitet hat. Eine erste Erwähnung findet sich im posthum publizierten Nachkriegs-Tagebuch Glossarium. Im Oktober 1953 kommentiert Schmitt hier die Heidegger-Kritik von Habermas 11 mit einem Adorno-Zitat aus den Minima Moralia und Theodor W. Adorno, Aspekte, in: Drei Studien zu Hegel, Frankfurt 1963, 13–65, hier: 32; wenig konkrete Begriffsbestimmung auch bei Adorno, Gesellschaft (1965), in: Soziologische Schriften I. Gesammelte Schriften Bd. VIII, 9–19 9 Ebd., 43 10 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften Bd. VII, Frankfurt 1970 (ÄT) 11 Jürgen Habermas, Mit Heidegger gegen Heidegger denken. Zur Veröffentlichung von Vorlesungen aus dem Jahre 1935, in: FAZ vom 25. Juli 1953; Wiederabdruck in ders., Philosophisch-politische Profile. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt 1981, 65–72 8

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schlägt so eine Brücke von Adorno zu Habermas. Er greift eine eigentümliche namenspolitische Spekulation von Adorno auf und spielt sie gegen Adorno und Habermas aus. Schmitt zitiert aus Adornos Glosse »Der böse Kamerad«: »›Wenn die Bürgerklasse seit unvordenklichen Tagen den Traum der wüsten Volksgemeinschaft, der Unterdrückung aller durch alle hegt, dann haben Kinder, die schon mit Vornamen Horst und Jürgen, und mit Nachnamen Bergenroth, Bojunga und Eckhardt heißen, den Traum tragiert (sic), ehe die Erwachsenen reif dazu waren, ihn zu verwirklichen.‹ Bravo! Und Jürgen Habermas war der gegebene, prädestinierte Name für das Haberfeldtreiben gegen Martin Heidegger.« (GL 304)

Schmitt spielt also Adorno gegen Habermas aus, um dessen Heideggerkritik als einen Aufstand der »bösen Kameraden« und »Kinder« gegen die Etablierten zu deuten. Ein »Haberfeldtreiben« meint ein volkstümliches rituelles Rügegericht. Schmitt rechnet Habermas, den einstigen Hitlerjungen, in einem perfiden Schlenker zur »wüsten Volksgemeinschaft« und spricht ihm gegen Heidegger denselben revolutionär-revanchistischen Impuls zu, den Heidegger 1933 mit »Volk« und »Revolution« propagierte. Schmitt exkulpiert Heidegger, indem er dessen Impuls mit Adorno auf Habermas verschiebt. Er spricht dabei auch die Namenspolitik von »Theodor Wiesengrund Adorno« an und notiert dazu später an den Rand: »Man sollte ihn fragen: Wie kommst du zu dem Vornamen Theodor?« 12 Schon das beiläufige Notat konstruiert eine antisemitische Front. Später schrieb Schmitt ein böses Spottgedicht auf Adorno, etwa um 1960, das er nicht veröffentlichte und entgegen seiner sonstigen Gepflogenheiten auch nicht im Kreis herumschickte. Es lautet: We call him Adorno Nun hören wir die Kunde Sie gibt uns einen Schock Von einem Wiesengrunde Da wohnt ein arger Schmock Er spuckt in jede Quelle Und pisst in jeden Bach Er sitzt auf jeder Welle Und rutscht in jedes Fach. Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958, hrsg. Gerd Giesler / Martin Tielke, Berlin 2015, 304; Schmitt zitiert Adorno, Minima Moralia, Frankfurt 1951, 365

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XVI. · Carl Schmitts Schmähgedicht auf Theodor W. Adorno

Man hört ihn mächtig quaken In jedem Radio Den Club der Kakerlaken Regiert er sowieso. Allüberall dazwischen In jedem Kulturverweserpferch In jeder Television Totaler Riesenzwerg (GCS 26)

Man wird der schlicht und regelmäßig gebauten Ballade das lyrische Format nicht ganz absprechen können. Für Schmitts satirische Lyrik ist es typisch. Die flüchtige Niederschrift deutet auf weinselige nächtliche Entstehung hin. Vielleicht hatte Schmitt gerade eine Radiosendung Adornos gehört. Das Gedicht ist ein Hexenmeisterstück antisemitischer Häme. Kein anderes seiner Gedichte ist derart offen antisemitisch. Jüngst wurde der romantische Wiesengrund als Romanfigur entdeckt. 13 Bei Schmitt erscheint der Wiesengrund dagegen als ein Sumpf, der die reine Quelle oder Brunnen vergiftet. Schmitt konkretisiert die Quelle als »Welle« und »Fach«, Radio und Television. Adorno erscheint als böser Geist und Grund, als Oberteufel, der den »Club der Kakerlaken« regiert, Kulturbetrieb herunterzieht und in einen »Kulturverweserpferch« verwandelt. Schmitts Feindbegriff lautet am Ende: »totaler Riesenzwerg«! So metamorph wie das ganze Gedicht, das den Namen und das Bild vom Wiesengrund konkretisiert und dabei das Vornahmekürzel, wie Schmitt 14 es 1936 gefordert hatte, als jüdische Namenspolitik stigmatisiert, so doppeldeutig ist das Wort vom »Riesenzwerg«. Zunächst meint es die Spannung von geringer Körpergröße und großer medialer Allpräsenz; es verzwergt dann aber die Größe der Kulturpräsenz sogleich wieder auf den »Kulturverweserpferch«. Für unser Thema ist wichtig, dass Schmitt hier von Totalität spricht: von einem »totalen« Riesenzwerg, der die Kultur vergiftet und mittels Kakerlaken oder Unterteufel den Kulturverweserpferch weiter herunterzieht. Schmitt, der Wagnerkenner und Leser des Versuchs über Wagner, wird dabei nicht übersehen haben, wie der Riesenzwerg in Wagners Ring hieß: Alberich. Wellgune spottet eingangs im RheinGisela von Wysocki, Wiesengrund. Roman, Berlin 2016; vgl. auch Reinhard Pabst (Hrsg.), Theodor W. Adorno. Kindheit in Amorbach, Frankfurt 2003 14 Dazu vgl. Carl Schmitt, Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist, in: Deutsche Juristen-Zeitung 41 (1936), 1193–1199 13

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gold »auf dem Grund des Rheines«: »Pfui du haariger, / höckriger Geck! / Schwarzes, schwieliges / Schwefelgezwerg!« 15 Vielleicht war Schmitt aber für den Splitter im Auge blind, der ihn selbst traf: die eigene Identifikation und Wahrnehmung als Alberich-Riesenzwerg. Erda warnt: »Weiche, Wotan, weiche! / Flieh des Ringes Fluch!« 16 Schmitt war gewiss noch einige Zentimeter kleiner als Adorno, und er wollte selber gerne über die Wellen verfügen und sein Liedchen ins Radio trällern: We call him Adorno! Aber vielleicht sah er die Alberich-Identifikation auch. Jedenfalls benannte er Adornos Versuch über Wagner im Handexemplar kurzerhand in einen Mord=Versuch an Wagner um und ergänzte: »Versuch einer Überlegenheit über Wagner = destruktives Talent, doch kein Charakter[,] so das Versuchsmodell einer moralischen Vernichtung (Rufmord)[,] bei Heine dagegen noch umgekehrt: ›kein Talent, doch ein Charakter‹, also Verhöhnung der intellektuellen Inferiorität des deutschen ›guten Kerls‹ (Atta Troll)«. 17 Heine ironisierte mit der Formel »Kein Talent, doch ein Charakter!« im Atta Troll 18 das Gesinnungspathos der Rede vom »Charakter«. Schmitt konstruiert also eine dekonstruktive Linie von Heine zu Adorno. Gegen Adornos »Rufmord« identifiziert er sich mit Wagner, dessen Polemik gegen »Das Judentum in der Musik« er ja schon 1936 mit seiner Tagung »Das Judentum in der Rechtswissenschaft« programmatisch gefolgt war. 19 Wenn er seinen Antisemitismus in die Linie Wagners stellt, so betont er dessen moderne und säkulare Genealogie und grenzt sich von einem traditionalen »Antijudaismus« ab. Schmitt sah in Adorno den totalisierenden Kulturkritiker, der sich mephistophelisch, qua linkshegelianischer »Dialektik«, jenseits akademischer Fächergrenzen für essayistisch-allzuständig erklärte und von der breiten Öffentlichkeit in seiner Medienpolitik und seinen politisch-theologischen Motiven nicht durchschaut wurde. Er polemisierte gegen Adorno als führenden VerWellgune über Alberich in: Richard Wagner, Das Rheingold, in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, hrsg. Wolfgang Golther, Berlin o. J., Bd. V, 205 16 Erda zu Wotan, in: Das Rheingold, Bd. V, 261 17 Handexemplar Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, Berlin 1952 (RW 265– 28120); Abbildung in: Schmittiana I N.F. (2011), 272 f. 18 Heinrich Heine, Atta Troll. Kaput XXIV, in: Gesammelte Werke, hrsg. Wolfgang Harich, Berlin 1951, Bd. II, 75; zu Heine positiv umwertend vgl. Jürgen Habermas, Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt 1987, 27–54 19 Dazu Verf., Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009, 372 ff. 15

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treter des »jüdischen« Geistes und »jüdischer« Politischer Theologie, der auf »Kulturverwesung« zielte. Der Verweser ist hier nicht der getreue Verwalter, sondern der diabolische Zerstörer. Den Kritiker der »Kulturindustrie« und »verwalteten Welt« betrachtete Schmitt also als strategischen Destrukteur. Es braucht nicht weiter ausgeführt zu werden, dass diese antisemitische Frontbildung auch und vor allem den Urheber charakterisiert. So kennzeichnete Rüdiger Altmann Schmitt wohl im Gespräch mitunter durch die Formel: »ein Talent, doch kein Charakter!« 20

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Persönliche Mitteilung von Bernd Rüthers an Verf.

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XVII. Politische Theologie oder Staatskirchenrecht? Der engagierte Laie in der Nähe und Differenz zu Carl Schmitt 1

1.

Einleitung

Ernst-Wolfgang Böckenförde (* 1930) hat viele akademische Prägungen und Traditionen selbständig aufgenommen und verarbeitet. Im autobiographischen Interview nennt er vor allem Franz Schnabel und Hans J. Wolff, Joachim Ritter und Carl Schmitt. 2 Darüber hinaus sind Thomas von Aquin, Hegel, Hermann Heller und viele andere »Klassiker« für sein Werk ebenfalls in teils exakt angebbaren Aspekten und Grundgedanken von zentraler Bedeutung. Eine reductio ad Carl Schmitt ist deshalb sachlich unangemessen und überdies missverständlich. Der folgende Beitrag zeigt das an einem weniger beachteten Aspekt: Zwar vertrat Böckenförde, ähnlich wie Schmitt, einen Primat »Politischer Theologie« und ein Recht des katholischen Laien auf politisches Engagement; sein Rückgang hinter das bestehende Staatskirchenrecht auf »Politische Theologie« hatte aber andere Motive: In der relativen Normallage der alten Bundesrepublik fand er seine normativ von Schmitt klar unterschiedene Position spätestens seit dem 2. Vatikanum vom Mehrheitskatholizismus grundsätzlich getragen und berechtigt; anders als Schmitt bedurfte sein integres und liberales Engagement deshalb keiner polemischen Opposition und Spannung zur katholischen Lehre und Kirche. Möllers bemerkt dazu: »Vielleicht sorgte sein Konflikt mit dem organisierten Katholizismus auch dafür, dass er als einer der produktivsten religionsrechtlichen Autoren niemals zum christlich-ökumenischen ProfessorenDer Text basiert auf einem Vortrag, der am 18. Mai 2014 auf Einladung von Dr. Hanns-Gregor Nissing im Rahmen einer Tagung des Geistlichen Zentrums des Malteserordens in Ehreshoven gehalten wurde. Die erste Druckfassung von 2014 erschien 2016 leicht erweitert auch in einem von Nissing 2016 herausgegebenen Band. 2 Dieter Gosewinkel, Biographisches Interview mit Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Frankfurt, 2011, 307–486 1

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klüngel gehörte, der die längste Zeit der Bundesrepublik die Auslegung des Religionsrechts im Sinne der inkorporierten christlichen Religionsgemeinschaften betrieben hat.« 3 Während Schmitt seine »Politische Theologie« in eine exzentrische, undogmatische und häretische Apokalyptik trieb, verblieb Böckenförde mit seinen reformistischen und innerkirchlich teils kontroversen Positionen im Rahmen der Kirche und des liberaldemokratischen Verfassungsstaats. Er öffnete seinen religionsrechtlichen Horizont aber mit dem Stichwort der »Politischen Theologie« über den gängigen staatskirchenrechtlichen Rahmen hinaus. Seine »Politische Theologie« ist deshalb auch transkonfessionell interessant.

2.

Carl Schmitts Entkoppelung von Politischer Theologie und Staatskirchenrecht

In seinem ersten Apostolischen Schreiben vom 24. November 2013, Evangelii gaudium, wünschte Papst Franziskus, am 13. März 2013 zum Papst gewählt, sich u. a. »eine arme Kirche für die Armen« und proklamierte eine »bevorzugte Option für die Armen«. »Die riesige Mehrheit der Armen ist besonders offen für den Glauben«, schrieb er und fand scharfe Worte gegen die ungerechte Verteilung von Wohlstand und Lebenschancen: »Die Ungleichverteilung der Einkünfte ist die Wurzel der sozialen Übel«. Der Papst erklärte sich gegen den ökonomischen Neoliberalismus und berief sich dagegen auf die antike Ökonomie und »angemessene Verwaltung des gemeinsamen Hauses«. Emphatisch forderte er dazu auf, sich der »Schwachen« anzunehmen. Der gezielte Regelverstoß gegen kirchliche Etikette und die urchristliche Demonstration scheint nun auch die ersten Jahre des Pontifikats zu kennzeichnen. Auf seiner Südamerikareise im Juli 2015 beispielsweise bereiste der Papst die Länder Ecuador, Bolivien und Paraguay. In Bolivien besuchte er u. a. die Gefangenenstadt Palinsola und sprach mit Vertretern indigener Völker. In Paraguay ging er in eine Jesuitenmission und predigte in einem Armenviertel gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Der Bolivianische Präsident Evo Morales schenkte ihm einen Kruzifix in Form von Hammer und SiChristoph Möllers, Römischer Konziliarismus und politische Reform. Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 80. Geburtstag, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 4 (2010), Heft 3, 107–114, hier: 109

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chel. Die päpstliche Enyklika Laudato si widmete sich dann den ökologischen Gefahren. Papst Franziskus, Mitglied des Jesuitenordens, berief sich eingangs auf Franz von Assisi und dessen Sonnengesang oder »Lob der Schöpfung«. Die »Mutter Erde« bezeichnete er als »gemeinsames Haus« und »Schwester«. Seine Namenswahl erklärte er als »Leitbild« und »Inspiration im Moment meiner Wahl« und nannte Franziskus einen »Mystiker« und »Pilger«, der auch von vielen »Nichtchristen« geliebt werde. In ersten Reaktionen wurde die detaillierte Thematisierung der ökologischen Herausforderungen als starke Neuerung und bedeutender Impuls gewürdigt. Der erste südamerikanische Papst ist zweifellos von Traditionen der »Theologie der Befreiung« mit geprägt. Erleben wir unter seinem Pontifikat ein Revival von Debatten der späten 60er und frühen 70er Jahre? Schmitts letzte Monographie Politische Theologie II, im Herbst 1970 erschienen, richtet sich eingangs gegen eine solche »linke« Aktualisierung. Anderseits verteidigte Schmitt grundsätzlich das Anliegen Politischer Theologie, die theologische Zulässigkeit einer Politik des Glaubens, gegen einen dogmatischen und unhistorischen Augustinismus und Staat-Kirche-Dualismus. Er hätte viele päpstliche Äußerungen jedoch spitz betrachtet und sich dabei auch für die Namenswahl des Papstes interessiert, las er Namen doch stets politisch; er hätte sich verwundert, dass ein Mitglied des Jesuitenordens sich ausgerechnet Franziskus nennt. Bedenkt man Schmitts ätzende Kritik am politischen Katholizismus und der Macht des Vatikan, so wird er eine zynische Deutung vertreten und die Armutsrhetorik als Camouflage gedeutet haben. Wenn ein Jesuit sich Franziskus nennt, mag er etwas verbergen. Wenn ein Papst von der Utopie einer »armen Kirche« spricht, tabuisiert er vielleicht den Blick auf den gegenwärtigen Reichtum der Kirche. Im Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber schreibt Schmitt lapidar: »Übrigens war Machiavelli […] kein Machiavellist. […] Wenn Machiavelli ein Machiavellist gewesen wäre, dann hätte er bestimmt keine Bücher geschrieben, die ihn in ein schlechtes Licht gesetzt hätten. Er hätte fromme und erbauliche Bücher veröffentlicht, am besten einen Anti-Machiavell.« (GM 28)

Und so hätte er vielleicht vermutet, dass ein Papst Franziskus sich in die lange Tradition des kirchlichen Machiavellismus einfügt, die Machtinteressen tarnt und unliebsame Positionen auf den Index setzt. Was die Einschätzung der katholischen Kirche angeht, so war 267 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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Schmitt zunächst und zumeist ein Hobbesianer. Hobbes ging davon aus, dass es weder religiöse Unmittelbarkeit noch Stellvertretung gibt. Schmitt glaubte zwar an religiöse Unmittelbarkeit und blieb deshalb Christ, bestritt der Kirche aber religiöse Gründe der Vermittlung. Hobbes erkannte den primär politischen Sinn des kirchlichen Entscheidungsanspruchs. Wer sich als Stellvertreter Gottes versteht, redet eigentlich nur politisch. Die Kirche hat eine politische Form und die Souveränität des Papstes unterscheidet sich ihrer politischen Natur nach nicht von staatlichen Urteilen. Daraus folgte für Schmitt auch: Auctoritas, non veritas facit legem. Es gibt keine wahre Politik. Zweifellos wurde Schmitt katholisch sozialisiert. Soweit wir wissen, prägte das aber schon seine Jugend nicht sonderlich. Er war kein Messdiener, verhielt sich ziemlich häretisch, wollte niemals Theologie studieren, lebte nicht streng »katholisch«. Er war kein regelmäßiger Kirchgänger und praktizierte kein Gemeindeleben. Als Rechtsphilosoph vertrat er kein katholisches Naturrecht. Den politischen Katholizismus und Vernunftrepublikanismus der Weimarer Zentrumspartei lehnte er ab. Er segelte aber im breiten Strom religiöser Apokalyptik, trennte Religiosität und Moral, entwarf spekulative heilsgeschichtliche Szenarien vom »Aufhalter« des »Antichristen« und war in wüster Melange von philosemitischen und antisemitischen Affekten schon in den 20er Jahre trotz seiner zahlreichen jüdischen Gesprächspartner ein glühender Antisemit. Eine Zeit lang wies Schmitt der katholischen Kirche vielleicht eine besondere Rolle im heilsgeschichtlichen Prozess zu. Die Frühschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen scheint einen Staat-Kirche-Dualismus zu vertreten. Allerdings betont auch diese Schrift schon im doppelten Register von Normal- und Ausnahmezustand die vorpolitische Unmittelbarkeit des religiösen Individuums vor Gott. Als religiöser Apokalyptiker bedurfte Schmitt zeitlebens nicht der institutionellen Vermittlung durch Staat und Kirche. Schon 1923 betonte er primär die »politische Form« und den politischen Charakter der Institution Kirche. 4 Nach seinem gescheiterten Prozess mit der Kirche um die Nullifizierung seiner ersten Ehe wurde er im rheinisch-katholischen Milieu zunehmend zu einer persona non grata. 1926 heiratete er seine serbisch-orthodoxe Gefährtin und war damit exkommuniziert. Damals erwog er ernstlich eine orthodoxe Wieder4

Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, Hellerau 1923

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Carl Schmitts Entkoppelung von Politischer Theologie und Staatskirchenrecht

verheiratung. Schmitt floh von Bonn nach Berlin. Dort radikalisierte er sich im Rechtsintellektualismus und warf sich dann nach dem Ermächtigungsgesetz vom März 1933 dem Nationalsozialismus und charakterlosen Prassern und Verbrechern wie Hermann Göring und Hans Frank an den Hals. Nach 1945 verweigerte er die öffentliche Selbstkritik, distanzierte sich nicht deutlich von den Verbrechen des Nationalismus – bedauernde Äußerungen über den Holocaust etwa sind nicht bekannt – und optierte niemals für die Bundesrepublik als vorzugswürdiges politisches System. Lebenslang wähnte er sich ungerecht behandelt, diffamiert und politisch verfolgt. Alle diese Aussagen sind heute ziemlich unstrittig. Weniger beachtet wird dabei aber der Befund, dass Schmitts programmatischem und unübersehbaren Bekenntnis zur »Politischen Theologie« eine erstaunliche Abstinenz und ein weitgehendes Schweigen zu staatskirchenrechtlichen oder gar kanonistischen Fragen korreliert. Es gibt keine einzige Schrift von Schmitt, die solche Fragen näher behandelte. Nur das Lehrbuch Verfassungslehre von 1928 äußert sich dazu knapp. Im Sachregister nennt es zwei Referenzstellen. Die erste steht in einem interessanten Kontext: Schmitt führt die staatskirchenrechtlichen Fragen als Beispiel für einen »dilatorischen Formelkompromiss« – die strategische Vertagung einer Entscheidung – ein. Dabei geht er von folgendem verfassungsrechtlichen Befund aus: »Staat und Kirche sind durch die Weimarer Verfassung nicht voneinander getrennt, d. h. die Kirche wird nicht als private Gesellschaft, Religion also nicht als ›Privatsache‹ behandelt. Die Forderungen des radikalen bürgerlichen Liberalismus und das Programm der Sozialdemokratie, das in diesem sogenannten kulturpolitischen Programm durchaus liberal ist, sind also nicht verwirklicht.« (VL 32 f.) Schmitt erläutert das an einzelnen Fragen und betont: »Die Frage, ob die Öffentlichkeit des Lebens in Deutschland wie bisher einen spezifisch christlichen Charakter behalten soll, wird nicht klar verneint.« (VL 33) Abschließend meint er: »Im Ganzen kann man sagen, dass nach den Bestimmungen der Weimarer Verfassung zwar der Staat von der Kirche getrennt und ferngehalten, also seines Einflusses beraubt ist, nicht aber umgekehrt die Kirche vom Staat getrennt wurde.« (VL 34) Grundsätzlich gilt Schmitt als »Dezisionist«, der dilatorische Kompromisse ablehnte. Demnach würde er klare Entscheidungen präferieren. Für ein Verbot staatlicher Leistungen an die Kirche scheint er hier aber nicht zu argumentieren. Diese Position schreibt er vielmehr in der Verfassungslehre ablehnend einem »jüdisch« klin269 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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genden Autor 5 zu und konnotiert damit schon 1928 die liberalistische und laizistische Trennungsthese als »jüdische« Religionspolitik. Andererseits scheint er die gegenwärtige Tendenz nicht zu begrüßen, dass »der Staat von der Kirche getrennt und ferngehalten« wird. Das macht er zwei Jahre später auch in seiner Kritik an der zeitgenössischen »pluralistischen« Staatstheorie deutlich. Das »eigentlich Überraschende« dieser aktuellen Debatte findet er 1930 darin, »dass Argumente und Gesichtspunkte, die sonst den Sozialphilosophen der römisch-katholischen Kirche oder anderen Kirchen oder auch religiösen Sekten dazu dienten, den Staat gegenüber der Kirche zu relativieren, nunmehr im Interesse eines gewerkschaftlichen oder syndikalistischen Sozialismus vorgebracht werden.« (PB 135, vgl. L 116 f.) Schmitt nennt Kirchen und Sekten hier sicher nicht unpolemisch in einem Atemzug und konstatiert ein Bündnis der Kirchen und Gewerkschaften gegen den Staat. Gerade die römisch-katholische Kirche beanspruche »vor- und überstaatliche Rechte« (VL 174). Diese Lehre von der »Kirche als selbständige societas perfecta neben dem Staat« (PB 137) 6 bahnte einem neuen Pluralismus den Weg. »Aus dieser eigenartigen Haltung erklärt sich jene auf den ersten Blick etwas seltsame geistesgeschichtliche Allianz von römisch-katholischer Kirche und gewerkschaftlichem Föderalismus, der bei [dem Staatstheoretiker Harold] Laski zutage tritt« (PB 137), schreibt Schmitt und kritisiert einen organisierten Linkskatholizismus, den es auch heute noch in mitunter überraschenden Allianzen gibt. Das sind vor 1933 die vielleicht wichtigsten staatskirchenrechtlichen Äußerungen. Schmitt wünschte keine strikte laizistische Trennung, aber auch keine Reservation der Kirche. Was er stattdessen wollte, machte er 1933 dann kirchenpolitisch deutlich: eine klare Entmachtung und nationalsozialistische Gleichschaltung der Kirchen. In diesen Kernaussagen ist wenig zu finden von einer säkularisationsgeschichtlichen und ziviltheologischen Option für die soziomoralischen und vorpolitischen Ressourcen des christlichen Glaubens und der kirchlichen Ordnung. Um einen Schutz der Kirche vor dem Staat scheint es nicht zu gehen. Im Nationalsozialismus agierte Schmitt

Carl Israel, Reich, Staat, Kirche. Zwei Studien zu den kirchenrechtlichen Bestimmungen der Reichsverfassung, Berlin 1926 6 Zu dieser »traditionellen« Vorstellung eingehend Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat-Gesellschaft-Kirche, in: Schriften zu Staat-Gesellschaft-Kirche Bd. III, Freiburg 1990, 117 ff. 5

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Carl Schmitts Entkoppelung von Politischer Theologie und Staatskirchenrecht

dann selbstverständlich nicht als Katholik. Nationalsozialistische Rivalen denunzierten ihn dennoch vielfach als entsprungenen Katholiken. Nach 1945 versuchte er sich einige Jahre an einer Rekatholisierung seines Werkes. Die katholische Mehrheitsöffentlichkeit empörte sich aber umgehend über den neuen katholischen Schafspelz des hobbesianischen Wolfes. Man nahm ihm seine Reue und Selbstinterpretation nicht ab und Schmitt verzichtete deshalb auch bald auf diesen verfehlten Versuch. Auch seine Politische Theologie II ist kein demütiges Bekenntnis zu einem linientreuen Katholizismus, sondern ein Frontalangriff auf den Augustinismus und die scholastische Methode. Schmitts eigene trinitarische Spekulationen im Nachwort dieses Letztwerkes dürften erneut häretische Hybris sein. Schmitt verteidigte vor und nach 1933 also nicht die Kirche und mied staatskirchenrechtliche Äußerungen. Das heißt nicht, dass er die Institution verbieten oder abschaffen wollte, aber er ordnete sie dem politischen Primat des Staates unter. Damit wird seine Perspektive »Politischer Theologie« von kirchenpolitischen und kirchenrechtlichen Fragen relativ unabhängig. Schmitt konnte seine »Politische Theologie« von der Kirche entkoppeln, weil er seit seinem Frühwerk einen religiösen und apokalyptischen Individualismus vertrat. Religiosität war ihm letztlich eine persönliche und individuelle Angelegenheit. »Stellvertreter« Gottes auf Erden verfälschen die religiöse Unmittelbarkeit zu Gott nur. Mit diesem religiösen Individualismus lässt sich Schmitt in den breiten Strom existentialistischer Religiosität nach Kierkegaard einordnen. Schmitt selbst hätte beispielsweise auf Bruno Bauer verwiesen. Die weltgeschichtliche Rolle und Bedeutung der Kirche hat für ihn in der Neuzeit eigentlich ausgespielt. Das lässt sich vermutlich auch seinem kryptischen Spätwerk Der Nomos der Erde von 1950 entnehmen, das eine neuzeitliche Umbesetzung des katholischen und christlichen Universalismus in den politisch problematischen humanistischen Interventionismus der »westlichen Hemisphäre« konstatiert. Schmitt münzte seine »Politische Theologie« nicht staatskirchenrechtlich um. In weiter säkularisationsgeschichtlicher Auslegung betonte er aber Restbestände und Ressourcen der europäischen Überlieferung im Prozess der Neuzeit. In enger Lesart formulierte er 1922 mit seiner »Politischen Theologie« vor allem einen strikten Konnex von Theismus, Personalismus und politischer Autorität und Dezision. Schmitt formulierte gleichsam eine transzendentale Logik des Rechtsdenken: Gesetze basieren auf Urteilen; Dezisionen setzen die Auto271 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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rität eines individuellen Entscheiders und also einen starken Begriff der Person voraus. Ein starker Personalismus ist aber nach Schmitt nur mit einem theistischen und christlichen Weltbild zu haben. Theismus ist eine notwendige Idee und metaphysische Voraussetzung von Personalismus und Dezisionismus. Selbst Kant hätte diesen Kern von Schmitts »Politischer Theologie« akzeptieren können. Kant geht bekanntlich vom »Faktum« des Sittengesetzes oder der Idee menschlicher »Freiheit« aus und begreift »Gott« als transzendentale Bedingung und notwendige Idee der Möglichkeit von Freiheit. Nichts anderes vertritt Schmitt im Kern seiner »Politischen Theologie«. Sein Transzendentalismus ist insbesondere der Straßburger Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen noch deutlich ablesbar. Nun will ich ihn nicht zum Kantianer oder Neukantianer erklären, sondern nur sagen, dass Schmitt seine »Politischen Theologie« nicht in ein kirchenrechtliches Konzept umsetzte, sondern in ein Rechtsdenken und eine Souveränitätslehre, die sich gegen politische Autoritätsanmaßungen der Kirchen richtete. Seine Souveränitätslehre legte er gegenrevolutionär und ab 1933 nationalsozialistisch aus. Der autoritative Entscheider wurde zum willkürherrlichen starken »Führer« und Gesetzgeber. 7 Schmitt kassierte die Gewaltenteilung und vertrat ein terroristisches Konzept vom »Leviathan« und »Führerstaat«. Es ließen sich jedoch auch andere Konsequenzen aus seinem Ansatz ziehen, und einige Schüler taten genau das. Man kann nämlich Schmitts Entkoppelung des Staatskirchenrechts von der »Politischen Theologie« revozieren und sagen, dass die Kirchen in kooperativer Arbeitsteilung mit dem Staat für die Pflege der soziomoralischen Ressourcen und Bedingungen der Möglichkeit staatlicher Autorität mit zuständig sind. Man kann auch zugeben, dass Schmitts Anliegen, politische Autorität und Entscheidungen als solche sichtbar zu machen und nicht als kirchliches »Naturrecht« zu verschleiern, der Raison der demokratischen Legitimität und des modernen Verfassungsstaates zwingend entspricht. Nur die sichtbare und öffentliche Macht ist einer demokratischen Legitimitätsentscheidung zugänglich. Erst wenn der Souverän in seiner politischen Wirklichkeit und Dezision öffentlich zur Disposition steht, gibt es einen legitimen Souverän. Legitimität braucht Souveränität. Sichtbarkeit der Macht Dazu vgl. auch Herbert Schnädelbach, Zur politischen Theologie des Monotheismus, in: ders., Religion in der modernen Welt, Frankfurt 2009, 100–120

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Staatskirchenrechtliche Rezeption durch Bonner Schüler

ist eine Bedingung der Möglichkeit ihrer Legitimierung. Diese Logik demokratischer Legitimität hat Schmitt schon in seiner Verfassungslehre gesehen.

3.

Staatskirchenrechtliche Rezeption durch Bonner Schüler

Das weite Feld teils bedeutender staatskirchenrechtlicher Publikationen der Schmitt-Schule kann hier nur angedeutet werden: Ein früher Gesprächspartner Münchner Zeit war Franz Blei, der scharfe kirchenkritische Positionen vertrat. In Bonn befreundete Schmitt sich dann zunächst mit dem katholischen Theologen und Kirchenhistoriker Wilhelm Neuss, der sich aber mit Schmitts kirchlichem Prozess distanzierte und kirchentreue Positionen vertrat. Zweifellos wirkte Schmitt dann in Bonn intensiv auf Erik Petersons Kirchenbegriff ein. Sondiert man die Reihe der Bonner Dissertationen, die Schmitt bis 1928 betreute, so sind Anton Betz – später ein bedeutender Verleger – mit einer Arbeit über die Zentrumspartei, Joseph Schlossers Arbeit über Die rechtliche Stellung der Religionsgesellschaften hinsichtlich des Religionsunterrichts (1926) sowie vor allem Ernst Rudolf Hubers Dissertation Die kirchliche Garantie der kirchlichen Vermögensrechte in der Weimarer Verfassung zu nennen (1927), deren Publikation Schmitt an den Verlag Mohr-Siebeck vermittelte. Huber legte 1930 dann eine große historische Darstellung der Verträge zwischen Staat und Kirche im Deutschen Reich nach. Nach 1945 publizierte er zusammen mit seinem Sohn Wolfgang Huber, dem späteren EKD-Ratsvorsitzenden, eine umfassende Sammlung von Dokumenten zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts. 8 Die Wendung vom Staat zur Kirche zeichnet sich schon bei einem anderen abtrünnigen Schüler und Kritiker ab: bei Waldemar Gurian, der sich Ende 1927 über die Einschätzung der indizierten Action français mit Schmitt verstritt und dann aus der Emigration heraus den Kampf um die Kirche im Anton Betz, Beiträge zur Ideengeschichte der Staats- und Finanzpolitik der deutschen Zentrumspartei von 1870–1918, Saarlouis 1924; Joseph Schlosser, Die rechtliche Stellung der Religionsgesellschaften hinsichtlich des Religionsunterrichts nach der Reichsverfassung vom 11. August 1919, Bonn 1926; Ernst Rudolf Huber, Die Garantie der kirchlichen Vermögensrechte in der Weimarer Verfassung, Tübingen 1927; ders., Verträge zwischen Staat und Kirche im Deutschen Reich, Breslau 1930; ders. u. Wolfgang Huber (Hg.), Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, 5 Bde., Berlin 1973–1995

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Dritten Reich beobachtete. 9 Gurian stellte sich gegen Schmitt auf die Seite der katholischen Kirche. Der Bonner Schüler Werner Becker optierte ebenfalls als Priester und Mönch für die Kirche. Schmitt dagegen suchte um 1933 auch durch befreundete Theologen wie Karl Eschweiler und Hans Barion 10 sowie Heinrich Oberheid an der nationalsozialistischen Gleichschaltung der Kirchen mitzuwirken. Ein umfassenderes Bild von den staatskirchenrechtlichen Arbeiten müsste auch spätere Arbeiten von Werner Weber 11 und Ernst Forsthoff 12 näher berücksichtigen, die es vor und während des Krieges verstärkt unternahmen, die Kirche als eigene Ordnung in vorsichtiger Abgrenzung vom Nationalsozialismus zu rekonstruieren. Eine solche Reservation oder gar Apologie der Kirche ist vor und nach 1933 wie 1945 bei Schmitt auch in Ansätzen nicht erkennbar. Der Befund lautete für ihn: Politische Theologie statt Kirchenrecht. Schmitt war an der Institution nicht sonderlich interessiert. Dabei konnte seine Perspektive Politischer Theologie auch und gerade zu staatskirchenrechtlichen Fragen führen. Wenigstens drei enge Bonner Schüler haben aber unter seinem Einfluss, wie angedeutet, schon vor 1945 einsetzend staatskirchenrechtliche Ansätze und Beiträge entwickelt: Huber, Weber und Forsthoff.

4.

Böckenfördes Rückwendung zur »Politischen Theologie«

Böckenförde war Schmitt seit Mitte der 50er Jahre persönlich und fachlich eng verbunden. Ebenso zweifellos entwickelte er eine liberale Waldemar Gurian, Die politischen und sozialen Ideen des französischen Katholizismus, Mönchengladbach 1929; Der Integrale Nationalismus in Frankreich. Charles Maurras und die Action Française, Frankfurt 1931; Der Bolschewismus. Einführung in Geschichte und Lehre, Freiburg 1931; Der Kampf um die Kirche im Dritten Reich, Luzern 1936 10 Dazu die vorzüglichen Monographien von Thomas Marschler, Kirchenrecht im Bannkreis Carl Schmitts. Hans Barion vor und nach 1945, Bonn 2004; Karl Eschweiler (1886–1936). Theologische Erkenntnislehre und nationalsozialistische Ideologie, Regensburg 2011 11 Werner Weber, Staatskirchenrecht. Textausgabe, München 1936; Neues Staatskirchenrecht, München 1938; Die politische Klausel in den Konkordaten. Staat und Bischofsamt, Hamburg 1939; Staat und Kirche in der Gegenwart. Rechtswissenschaftliche Beiträge aus vier Jahrzehnten, Tübingen 1978 12 Ernst Forsthoff, Recht und Sprache. Prolegomena zu einer richterlichen Hermeneutik, Halle 1940 9

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Böckenfördes Rückwendung zur »Politischen Theologie«

Rezeption und Antithese. Ganz anders als Schmitt suchte er die katholische Lebensführung in der Kirche. In seinem autobiographischen Rückblick berichtet er über seine Sozialisation: »Es war ein religiöses Leben, aber zugleich offen und ohne Kritikverbote«. 13 Die Details seiner Interventionen und Kämpfe für einen liberalen Katholizismus sind hier nicht darzustellen. Autobiographisch betont Böckenförde, dass er, 1930 geboren, den Katholizismus im Nationalsozialismus leidlich ungefährdet und selbstverständlich erlebte. Die frühe Nachkriegszeit wurde dann für seine Haltung prägend. »Man fühlte sich als Opfer und auch als Sieger«, schreibt Böckenförde. 14 Die »Renaissance des christlichen Naturrechts« führte dazu, »dass die Demokratie dem Naturrecht untergeordnet wurde«. 15 Dieser »Vorbehalt der Katholiken gegenüber der Demokratie« 16 wurde zu einer Schlüsselerfahrung. Schon die frühen, wirkmächtigen und bedeutenden Aufsätze – meist im Hochland oder den Stimmen der Zeit erschienen – kämpfen um die Anerkennung und Durchsetzung von Demokratie und Glaubensfreiheit innerhalb der Kirche. Mit dem 2. Vatikanum hatte Böckenfördes Standpunkt grundsätzlich gesiegt, weshalb er auch in der grundsätzlichen Sicht und Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat zu einem Vordenker und Anwalt der alten Bundesrepublik werden konnte. Die eindringliche Konsequenz, mit der er Schmitt liberal und demokratisch rezipierte und transformierte, 17 wird hier nur in einem Aspekt angedeutet: im Ertrag neuerlicher Entkoppelung von Politischer Theologie und Staatskirchenrecht. Während die Bonner Schüler staatskirchenrechtliche Konsequenzen zogen, nach 1945 verstärkt in Richtung einer Verteidigung der Kirchen, publizierte Böckenförde trotz eines engagierten Katholizismus überraschend wenig zum Staatskirchenrecht und bezog sich terminologisch wieder positiv auf Ernst-Wolfgang Böckenförde, Biographisches Interview mit Dieter Gosewinkel, in: ders., Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Frankfurt 2011, hier: 316 14 Böckenförde, Biographisches Interview mit Dieter Gosewinkel, 325 15 Böckenförde, Biographisches Interview mit Dieter Gosewinkel, 325 16 Böckenförde, Biographisches Interview mit Dieter Gosewinkel, 326 17 Dazu schon Verf., Zu den neu gesammelten Schriften und Studien Ernst-Wolfgang Böckenfördes, in: Archiv des öffentlichen Rechts 117 (1992), 449–473; Carl Schmitt und die Verfassungslehre unserer Tage, in: Archiv des öffentlichen Rechts 120 (1995), 177–204; Rezension von Böckenförde, Staat, Nation, Europa, Frankfurt 1999, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2001, 213–217; Rezension von Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, Tübingen 2002, in: Philosophischer Literaturanzeiger 55 (2002), 366–368 13

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XVII. · Der engagierte Laie in der Nähe und Differenz zu Carl Schmitt

»Politische Theologie«. Teilte er also Schmitts Auffassung vom Primat »Politischer Theologie«? Seine zahlreichen einschlägigen Arbeiten werden hier nicht eingehend dargestellt; es wird nur gezeigt, dass Böckenförde der Trennung von »Politischer Theologie« und Staatskirchenrecht einen anderen, spezifisch katholischen und liberalen Sinn gab, von dem her er die aktuellen religions- und kirchenpolitischen Fragen betrachtete. Publikationsstrategisch hat Böckenförde seine Schriften zu Kirche und Christentum von seinen – in mehreren Suhrkamp-Sammlungen greifbaren – juristischen Beiträgen getrennt. Er sammelte sie dreibändig unter dem Gesamttitel Schriften zu Staat-GesellschaftKirche und später erneut unter dem Titel Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. 18 Die Herder-Reihe endet mit einer gleichnamigen Schlussabhandlung Staat-Gesellschaft-Kirche von 1982, die als Herzstück der christlichen Selbstverständigung betrachtet werden kann. Böckenförde argumentiert als katholischer »Laie« und vertritt eine »Theologie der Politik« (III, 203). Möglich wurde ihm dies durch die kirchliche Anerkennung der Glaubensfreiheit seit dem 2. Vatikanum und die appellative politische Theologie von Johannes Paul II. Formelhaft spricht Böckenförde von einem epochalen Schritt vom »Recht der Wahrheit« zum »Recht der Person« (II, 46, 63, 134). Damit erhält auch der katholische »Laie« den kirchlichen Auftrag zum politischen Handeln und die »Gesellschaft« vermittelt in neuer Weise zwischen Staat und Kirche. Ein dogmatischer und alternativer Dualismus von Staat und Kirche ist überwunden und durch ein weiteres und komplexer interagierendes »Beziehungsfeld«, wie Böckenförde mit Verweis auf Schmitts Begriff des Politischen sagt, neu konstelliert. Mit der kirchlichen Berechtigung des politisch agierenden Laien durch die »Glaubensfreiheit« ändert sich für ihn, verglichen mit Schmitt, gänzlich die Lage. Der katholische Laie ist nicht mehr gezwungen, sich einseitig für Staat oder Kirche zu entscheiden und einer dieser Institutionen strikt unterzuordnen. Seine laienreligiöse »Mündigkeit« (III, 178) rückt gleichsam aus dem Ausnahmezustand heraus, in dem Schmitt sie einzig berechtigt sah. Schmitt hatte gegen Ernst-Wolfgang Böckenförde, Schriften zu Staat-Gesellschaft-Kirche, 3 Bde., Freiburg 1988–1990 (im Folgenden mit Bandangabe direkt im Haupttext zitiert); Kirche und christlicher Glaube in der Herausforderung der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957–2002, Münster 2. Aufl. 2007

18

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Böckenfördes Rückwendung zur »Politischen Theologie«

einen überspannten Gehorsamsanspruch und eine naturrechtliche Monopolisierung des politischen Handlungsauftrags durch die Kirche einst die Partei des Staates ergriffen; Böckenförde zeigt nun in weitund tiefdringenden Studien auf, wie dieser Dualismus durch die politische Emanzipation und religiöse Berechtigung der Gesellschaft wie des Individuums grundsätzlich gelöst ist. Er limitiert das »politische Mandat« der Kirche zugunsten der allgemeinen Botschaft an alle Christen und vertritt eine appellative und institutionelle politische Theologie oder Theologie der Politik (vgl. II, 150 ff.). Die christliche Botschaft richtet sich mit ihrem Umsetzungsauftrag an alle. Die appellativen Konsequenzen der Glaubensfreiheit hat gerade das Pontifikat von Johannes Paul II. deutlich herausgestellt. Systematisch betont Böckenförde immer wieder die Grenzen des abstrakten Naturrechts: Naturrecht bietet nicht mehr und nicht weniger als Orientierungen durch rechtsethische »Prinzipien«. Seine »Konkretisierung« bedarf der verantwortlichen Umsetzung durch andere Instanzen und Bereiche. Der Kirche fehlt schon die »Kompetenz« zum konkreten politischen Urteil. Naturrechtliche Prinzipien bieten »keine [direkten] Handlungsanweisungen« (II, 187) für den konkreten Einzelfall. Auch und gerade der katholische Laie, der Jurist ist, ist deshalb gefordert. Das Ethos des Juristen zielt über das Gesetz hinaus auf die verantwortliche Suche nach der konkreten Einzelfallgerechtigkeit. 19 Böckenförde agierte deshalb auch fallbezogen »konkret« und interventionistisch in zahlreichen Streitfragen, so zur naturrechtlichen Kriegslehre und zum § 218. 20 Seine zusammenfassende Überblicksdarstellung von 1982 zeigt die veränderte Lage des modernen Katholizismus: Böckenförde betont (mit Hegel) den positiven Beitrag der Kirche zur »Freisetzung der Weltlichkeit« (III, 81) und »Herausbildung der Modernen Welt« (III, 80). Die fortdauernde Spannung von Transzendenz und Immanenz, Kirche und Welt, sieht er dabei auch als Chance zur konservativen »Stabilisierung« (III, 97) der gefahrenvollen Modernisierungsdynamik an. Bei der »Umsetzung« der christlichen Botschaft spricht er von einer möglichen positiven »Zuordnung« und »Gegenläufigkeit« im arbeitsteiligen Zusammenwirken. In Übereinstimmung mit der kirchlichen Lehre betont er aber die Neutralität der Kirche in der Staatsformenfrage: Nur die Menschenrechte seien mit der »Glau19 20

Dazu vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Vom Ethos der Juristen, Berlin 2010 Dazu Böckenförde, Biographisches Interview mit Dieter Gosewinkel, 392 ff.

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XVII. · Der engagierte Laie in der Nähe und Differenz zu Carl Schmitt

bensfreiheit« gleichsam gesetzt, aber bei der Demokratie sei das anders. »Die christliche Lehre kann Demokratie nicht theologisch legitimieren.« (III, 204) Böckenförde bekennt sich zum Weimarer Kirchenkompromiss 21 und zur »Neutralitätsthese« und fordert eine »offene Neutralität« von Kirche und Staat. Schon 1982 sieht er dabei eine christliche »Minderheitsposition« (III, 197) – Diasporasituation – überraschend nüchtern und positiv. In den letzten Jahren setzt er die »balancierte Trennung« 22 und religionsfreundliche »offene Neutralität« schärfer von der »distanzierenden Neutralität« des Laizismus ab und betont auch die »Barrieren« des staatlichen Gesetzes gegenüber fundamentalistischen Übergriffen. 23 Schon mit seiner vielzitierten Formel formuliert Böckenförde eine tragische Schere der Freiheit: Die moderne Freiheit zehrt ihre »Voraussetzungen« bzw. Möglichkeitsbedingungen auf. So konstatiert er auch eine »Selbstsäkularisierung innerhalb der Kirche«. 24 Religionspolitisch äußert er sich zurückhaltend. Zum Protestantismus, Judentum oder Islam publizierte er nicht viel. Er distanzierte sich von islamkritischen Tönen einer neueren Darstellung des Verhältnisses von Christentum und säkularem Staat, 25 argumentierte aber gegen einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. 26 Für den Juristen ist es selbstverständlich, dass der moderne Staat den Rechtsgehorsam effektiv erzwingen kann, darf und muss. Der Politische Theologe weiß aber auch, dass die »Voraussetzungen« der modernen Welt für andere Kulturen und Religionen nicht erzwingbar sind und ein »Nachvollzug« 27 der Modernisierung als Pensum vielfach problematisch aussteht. Böckenförde hat es erlebt, wie seine Kirche trotz christlicher Bahnen lange um die Anerkennung der Glaubensfreiheit Ernst-Wolfgang Böckenförde, Als Christ im Amt eines Verfassungsrichters, 1999, in: Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit, 415–423, hier: 420 22 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Religion im säkularen Staat, in: Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit, 425–437, 431 23 Dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Probleme und seine Rechtfertigung im 21. Jahrhundert, in: ders., Der säkularisierte Staat (Themenheft 86 der Siemens-Stiftung), München 2007, bes. 18, 40 f. 24 Böckenförde, Der säkularisierte Staat, 27 25 Ernst Wolfgang Böckenförde, Vorwort zu: Martin Rhonheimer, Christentum und säkularer Staat. Geschichte-Gegenwart-Zukunft, Freiburg 2012, 9–13 26 Böckenförde, Europa und die Türkei (2005), in: Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Frankfurt 2011, 281–298 27 Böckenförde, Der säkularisierte Staat, 40 21

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Böckenfördes Rückwendung zur »Politischen Theologie«

ringen musste. Er ist deshalb den anderen Kulturen und Religionen gegenüber auch geduldig. Freilich gibt es begründete Zweifel am globalen Modernisierungspfad der Weltgesellschaft. Das kommende »Beziehungsfeld« wird Geschichte nicht wiederholen, die Zukunft der Weltgesellschaft wird nicht im überlieferten Sinne christlich sein. Böckenförde meidet deshalb auch konkrete religionspolitische Prognosen und verweist nur relativ pauschal auf »den Islam«. Unter dem Pontifikat von Papst Benedikt XVI. betonte er die religionsphilosophische Aufgabe einer »Reinigung des Glaubens durch die Vernunft«, 28 eine Aufgabe, der sich einige andere Kulturen und Religionen vorerst schwerlich stellen: jedenfalls nicht im Sinne alteuropäisch ausdifferenzierter und freier Wissenschaft. Böckenförde setzt neben dem Religionsunterricht heute auf »einen obligatorischen Ethikunterricht«. 29 Die Erwartungen an einen solchen Unterricht dürfen jedoch nicht überspannt werden und auch Böckenförde betrachtet die haltenden und regenerierenden Kräfte nicht allzu optimistisch. Aus der Böckenförde-Formel vom säkularistischen Abbau der Voraussetzungen ergibt sich auch die Aufgabe einer nüchternen Defizitanalyse. Im biographischen Interview meint Böckenförde: »Wenn ich noch mal Zeit hätte, wäre es die Sache wert, die permanente Vernachlässigung des staatlichen Erziehungsauftrags, der im Grundgesetz (Art. 7) für den Schulbereich ausdrücklich anerkannt ist, zu beleuchten. Die Bewusstseinsbildung, die Weitergabe und Lebendigerhaltung von Ethosbeständen, das macht sich doch alles nicht von selbst.« 30

Böckenfördes Katholizismus ruht noch im thomistischen Einklang von Glauben und Wissen. Er vertraut auf philosophische Vernunft als Korrelat des Glaubens. Eine bewahrende Vermittlung von »Ethosbeständen« ist in der multikonfessionellen Gesellschaft aber äußerst schwierig. Böckenfördes zentrale religionspolitische Frage betrifft heute, der »Neutralitätsthese« folgend, wohl weniger die Demokratiefähigkeit anderer Kulturen und Religionen als die Anerkennung der Glaubensfreiheit. Diese christliche Kernforderung ist einerseits

Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte, religionsneutrale Staat als sittliche Idee. Die Reinigung des Glaubens durch die Vernunft, in: ders., Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Frankfurt 2011, 84–93 29 Böckenförde, Biographisches Interview mit Dieter Gosewinkel, 433 30 Böckenförde, Biographisches Interview mit Dieter Gosewinkel, 432 28

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XVII. · Der engagierte Laie in der Nähe und Differenz zu Carl Schmitt

schlichter und andererseits vielleicht sogar anspruchsvoller als das Demokratisierungspostulat.

5.

Schluss

Die weitläufigen Ausführungen sollten zeigen, weshalb Böckenförde zur Perspektive »Politischer Theologie« zurückkehrte, wo ältere Bonner Schüler zum Staatskirchenrecht schritten: Mit der Glaubensfreiheit fand er sich als katholischer »Laie« zu einer umfassenden Theologie der Politik berechtigt, die den Handlungsauftrag des Christen weiter fasste und die Heilsbotschaft appellativ als Auftrag an alle verstand. Der katholische Jurist handelt in der Rolle des Verfassungsrichters politisch. Wo der politische Katholizismus in seiner institutionellen Macht durch den säkularisierten Staat depotenziert wurde, ein Prozess, den Böckenförde theologisch unbedingt bejaht, wechselt der appellativ angesprochene und »konkret« engagierte Katholik aus der Kirche in den Staat: nicht als »U-Boot« oder Agent der Kirche, sondern mit hohem Bewusstsein vom Ethos der Eigenart der säkularen Friedensordnung des staatlichen Rechts. 31 Böckenförde wurde gerade um des kirchlichen Auftrags zum politischen Handeln willen zu einem kardinalen Verfassungsjuristen und Verfassungsrichter. Die philosophische Vernunftvermutung liegt heute zwar beim »naturalistischen« Paradigma: Die zentralen metaphysischen Entscheidungen fallen heute im Feld der Naturwissenschaften. Die menschliche Freiheit ist nicht mehr unsterblich und kennt keinen persönlichen Gott. Paradigmatisch herrscht die radikale Endlichkeit des Daseins, weshalb der Kern des Christentums, und somit auch das großartige System des Katholizismus, im metaphysischen Fundament unglaubwürdig geworden sind. Doch auch wenn man letzte Gründe und Vernunftvermutungen für den Katholizismus ablehnt, lässt sich die Trennung der letzten und vorletzten Fragen bejahen und ein gewaltenbeschränkender Staat-Kirche-Dualismus zivilpolitisch begrüßen. Man kann Böckenförde deshalb weitgehend folgen, ohne seine religiösen Gründe zu teilen.

Dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Als Christ im Amt des Verfassungsrichters, in: Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit, Münster 2. Aufl. 2007, 415 ff.; Böckenförde, Biographisches Interview mit Dieter Gosewinkel, 442 ff.

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XVIII. Ernst-Wolfgang Böckenfördes dogmatischer Durchbruch in Heidelberg

Böckenförde (* 1930) feierte 2015 seinen 85. Geburtstag. Wie wenige sonst verkörpert er die »intellektuelle Gründung« und Staatsrechtslehre der alten Bundesrepublik. Er promovierte und habilitierte sich in Münster, wurde 1964 nach Heidelberg berufen und wechselte 1969 dann an die Universität Bielefeld, später nach Freiburg. Von 1983 bis 1996 war er Bundesverfassungsrichter und gestaltete damit auch den Prozess der Wiedervereinigung mit. Der folgende Text untersucht nur seine Heidelberger Jahre. 1 In einem biographischen Interview 2 deutete Böckenförde an, was alles an prägenden Erfahrungen in seine Heidelberger Zeit fiel: das Zweite Vatikanum, das den liberalen Katholiken tiefgreifend prägte, der Eintritt in die SPD, die ersten eigenen Lehrveranstaltungen, die Böckenförde mit reformistischem Elan als didaktische Herausforderung begriff, 3 sowie das Wirken als Prodekan und Dekan in stürmischer Zeit. Bei diesen vielfältigen Aufgaben und Herausforderungen verwundert es nicht, dass nur ein schmales Buch für die Heidelberger Zeit steht: eine bemerkenswert sachliche Auseinandersetzung mit der Rechtsauffassung im kommunistischen Staat. Darüber hinaus sind aber einige bedeutende Aufsätze zu nennen: Festschriftbeiträge für Joachim Ritter, Ernst Forsthoff und Adolf Arndt sowie ein abschließender Vortrag über Das Grundrecht der Gewissensfreiheit. In Heidelberg entwickelte Der vorliegende Text wurde anlässlich von Böckenfördes 85. Geburtstag am 20. Oktober 2015 auf Einladung von Klaus-Peter Schröder und der Juristischen Gesellschaft in Heidelberg vorgetragen und in einer längeren Fassung in der Juristen-Zeitung publiziert. 2 Dieter Gosewinkel, Biographisches Interview mit Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht. Aufsätze von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Frankfurt 2011, 416 ff. 3 Dazu vgl. Martin Otto, Ernst-Wolfgang Böckenförde und die Reformdiskussion des juristischen Studiums, in: ders. / Reinhard Mehring (Hrsg.), Voraussetzungen und Garantien des Staates. Ernst-Wolfgang Böckenfördes Staatsverständnis, Baden-Baden 2014, 30–45 1

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XVIII. · Ernst-Wolfgang Böckenfördes dogmatischer Durchbruch in Heidelberg

Böckenförde den dogmatischen Kern seiner liberalen Verfassungstheorie, die er in Bielefeld dann systematisch ausarbeitete. Man könnte deshalb von einem Heidelberger »Durchbruch« zur Rechtsdogmatik sprechen. Was Böckenförde zunächst als verfassungshistorische These entwickelte, die Einsicht in die liberalen Möglichkeiten der Moderne, setzte er in seiner Heidelberger Zeit in eine Grundrechtstheorie und -dogmatik um.

1.

Der Heidelberger »Maßnahme«-Diskurs nach Carl Schmitt

Vor 1933 verkörperte die Heidelberger Fakultät u. a. durch Gerhard Anschütz, Richard Thoma und Gustav Radbruch einen »rechtspositivistischen« und »liberalen« Geist; im nationalsozialistischen Gegenschlag war eine Berufung von Schmitt zwar 1933 gescheitert; Forsthoff wechselte 1943 dann aber nach Heidelberg und proklamierte später nach Auseinandersetzungen um den Erhalt seines Lehrstuhles eine berufungspolitische »Austreibung des Heidelberger Geistes« (EFCS 133) 4 aus der Fakultät. Schmitt hatte in seinem systematischen Hauptwerk Verfassungslehre politische und rechtsstaatliche Bestandteile der modernen Verfassung unterschieden und die »Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaats« der Reihe nach dekonstruiert. Das »Verteilungsprinzip« der Grundrechte und das »Organisationsprinzip« der Gewaltenteilung fundierte er dabei in einem »rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff«, der den »generellen Charakter« und die Allgemeinheit der Gesetzesnorm betonte. Der »bürgerliche Rechtstaat« steht und fällt demnach mit der »Allgemeinheit« des Gesetzes. Schmitts interessierte Diagnose der Dekomposition des »bürgerlichen Rechtsstaats« und Apologie des Präsidialsystems hing am Befund, dass die Extension der Diktaturbefugnisse des Reichspräsidenten diese Differenz verschleift. Die rechtstheoretische Analyse der Erosion der Gesetzesform gehört zu Schmitts interessantesten juristischen Leistungen. Sie ermöglichte nach 1933 auch Einsichten in die rechtsstaatliche Abnormität des Leviathan. Nicht nur die »Links-Schmittisten« Ernst Fraenkel und Franz Neumann nahmen Schmitts Diagnosen in ihren Zur »aktiven und konservativ gestimmten Berufungspolitik« von Forsthoff und Hans Schneider vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. IV, München 2012, 435 f.

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Der Heidelberger »Maßnahme«-Diskurs nach Carl Schmitt

wegweisenden Analysen des nationalsozialistischen »Doppelstaates« zum Ausgangspunkt, sondern auch Forsthoffs Wendung zur Verwaltungslehre basiert auf dem rechtstheoretischen Befund einer epochalen Wendung vom Gesetz zur Maßnahme und vom parlamentarischen Gesetzesstaat zum exekutiven Verwaltungsstaat. Im letzten Brief vor Kriegsende schreibt Huber 1944 an Schmitt: »Wir haben jetzt erlebt, was die Preisgabe des Gesetzes-Begriffs staatsrechtlich bedeutet. Autorität und Freiheit finden ihre sicherste Gewähr im Gesetz […] Im ›Kampf des Rechts gegen das Gesetz‹, den eine wohlmeinende Staatsrechtslehre vor 2 Jahrzehnten einleitete, hat sich auch das Recht selbst zerstört. Was daraus entstand, war das bürokratische Regime der Verordnung, die Diktatur der Maßnahme und die Willkür der Interpretation.« (CSHU 316)

Huber macht hier den Adressaten seines Briefes massiv für die Zerstörung der Gesetzesform mit verantwortlich, denn die »wohlmeinende Staatsrechtslehre« von 1924, die die »Diktatur der Maßnahme« einleitete, meint nichts anderes als Schmitts initialen Vortrag auf der Jenaer Staatsrechtslehrertagung über die »Diktatur des Reichspräsidenten«. Im Wintersemester 1944/45 hielt Huber damals in Forsthoffs Heidelberger Seminar einen Vortrag Gesetz und Maßnahme, 5 der die nationalsozialistische »Auflösung der Form des Gesetzes« und »Preisgabe der Gesetzesform« im »Dynamismus« und »Voluntarismus« der »Bewegung« kritisiert. Huber gibt nun offen zu, dass auch die Rechtswissenschaft »ein hohes Maß an Schuld an der Entformung unseres rechtlichen Daseins« 6 trage. Für seine »Frage nach der ›Form‹ des Gesetzes« greift er in eine NS-Debatte um »geheime Gesetze« ein. »Ein nicht verkündetes Gesetz ist kein Gesetz, weil es der unentbehrlichen Form des Gesetzes entbehrt«, 7 schreibt Huber und nennt Rechtsverordnungen eines NS-Kriegskollegiums, für die er eine »Ermächtigung unbekannten Umfangs« 8 qua Geheimerlass des Führers vermutet. Er beschränkt das Recht zu solchen geheimen Maßnahmen auf die erklärte Voraussetzung eines »Führernotrechts« und betont ausdrücklich gegen Schmitt und ReinVerf. / Ewald Grothe (Hg.), Das ›Problem des geheimen Gesetzes‹ und die Grenze des ›Führernotrechts‹. Erstveröffentlichung von Ernst Rudolf Hubers Vortrag ›Gesetz und Maßnahme‹ aus dem Wintersemester 1944/45, in: Der Staat 55 (2016), 69–96 6 Huber, Gesetz und Maßnahme, 77 7 Huber, Gesetz und Maßnahme, 82 f. 8 Huber, Gesetz und Maßnahme, 85 5

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XVIII. · Ernst-Wolfgang Böckenfördes dogmatischer Durchbruch in Heidelberg

hard Höhn, dass die Leugnung eines »Führernotrechts« das Ausnahmerecht zum Normalzustand erklärt und die Führergewalt »zur schlechthin schrankenlosen Führerallmacht steigert«. 9 In Heidelberg kennzeichnet er die Lage als abnorm. In seiner 1946/47 verfassten autobiographischen Rechenschaft schreibt er dann zutreffend: »In einer im kleineren Kreis gehaltenen, im Winter 1944/45 in Heidelberg in meinem dortigen Seminar wiederholten Rede wandte ich mich gegen die vom Hitler-Regime in den letzten Jahren entwickelte Praxis der ›Geheimen Gesetze‹, die ich als schlechthin rechtswidrig und unwirksam verwarf. Auch an der sonstigen Diktatur-Praxis Hitlers übte ich in diesem vor Professoren und Studenten gehaltenen Vortrag unverhohlene Kritik.« (CSHU 550 f.)

Es lässt sich darüber streiten, ob Schmitt und dessen Bonner Schüler jemals zum »Normalzustand« liberaler Unterscheidung von Gesetz und Maßnahme zurückstrebten. Forsthoffs »Maßnahmegesetz« akzeptierte wohl die Irreversibilität der Entwicklung. Konrad Huber, ein Sohn, nannte das Maßnahmegesetz dann eine »neue Form normaler Gesetzgebung«: »Im neunzehnten Jahrhundert war das Maßnahmegesetz ein Ausnahmegesetz; heute gehört es zum gewöhnlichen Instrumentarium des staatlichen Eingriffs.« 10 Sein Schlusssatz lautete: »Das Maßnahmegesetz ist die sozialstaatliche Form des rechtsstaatlichen Gesetzesbegriffs.« 11 Das war der Stand, den Böckenförde Mitte der 50er Jahre vorfand. Wo kann die Rekonstruktion eines liberalen Verfassungsstandards ansetzen, wenn die sozialstaatliche Vollzugsform sich gegen die Allgemeinheit des Gesetzes sperrt?

2.

Die individuelle Freiheit als Heidelberger Antwort

Böckenförde absolvierte sein juristisches Studium seit dem Wintersemester 1949/50 in Münster und schloss seine juristische Dissertation Gesetz und gesetzgebende Gewalt im Dezember 1956 ab. Die 1958 publizierte Arbeit ging von der skizzierten »Auseinanderset-

Huber, Gesetz und Maßnahme, 89 Konrad Huber, Maßnahmegesetz und Rechtsgesetz. Eine Studie zum rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff, Berlin 1963, 179; Huber definiert: »Ein Maßnahmegesetz ist jede unmittelbare Intervention in der Form des Gesetzes zur Behebung einer Störung im rechtlichen Zustand des Gemeinwesens.« (125, vgl. 168) 11 Huber, Maßnahmegesetz und Rechtsgesetz, 182 9

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Die individuelle Freiheit als Heidelberger Antwort

zung um den Gesetzesbegriff« aus. 12 Aber sie stellte nicht mehr die rechtstheoretische Problematik des Maßnahmegesetzes ins Zentrum, sondern hielt die Nachkriegswendung fest, dass Maßnahmegesetze für den intervenierenden Sozialstaat unverzichtbar sind und rechtsstaatliche Bedenken erst im Rahmen einer funktionalen Gesamtbetrachtung tragen. Parallel zu der verfassungstheoretischen Wendung des rechtstheoretischen Maßnahmediskurses, den die juristischen Qualifikationsschriften vollzogen, publizierte Böckenförde damals bedeutende Aufsätze zur Haltung der Kirche und des katholischen »Laien«. Als er 1964 als Wunschkandidat Forsthoffs nach Heidelberg berufen wurde, sind die juristischen Konsequenzen der katholischen Option aber noch nicht klar. Am Anfang steht im Oktober 1964 das »Böckenförde-Diktum«, am Ende steht ein Vortrag über Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, den Böckenförde als liberalen Kern seines Verfassungsdenkens im Oktober 1969 auf der Berner Tagung der Staatsrechtslehrervereinigung hielt. Die Jahre von 1964 bis 1969 könnte man deshalb als »dogmatischen Durchbruch« charakterisieren. Im Oktober 1964 spricht der junge Ordinarius in Forsthoffs Ebracher Seminar über Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. Dort findet sich das kursiv gedruckte, unter Juristen fast sprichwörtlich bekannte »Böckenförde-Diktum«: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.« 13 Das Diktum wird meist als Hinweis auf soziomoralische Ressourcen verstanden. Offen bleibt aber, von welcher Freiheit eigentlich die Rede ist: von der liberalen Freiheit oder der von der Kirche emanzipierten Freiheit und Souveränität des Staates, dem das Diktum eine Art Eigenleben zuschreibt. Geht Böckenförde von einem unentrinnbaren Verfallsprozess und Verschleiß der Ressourcen aus? Der oft nur formelhaft verkürzt rezipierte Vortrag entwickelt eine Frühdatierung der Säkularisierung seit dem Investiturstreit und nennt das Zeitalter der »konfessionellen Bürgerkriege« die »zweite Stufe der Säkularisation«. Damit spitzt er die Lage der Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, Berlin 1958, 7 13 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt 2006 (erw. Aufl.), 92–114, hier: 112 12

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XVIII. · Ernst-Wolfgang Böckenfördes dogmatischer Durchbruch in Heidelberg

Moderne zu. Die »Ausschaltung des Christentums« aus der Politik sei eigentlich schon mit Hobbes vollzogen. Seitdem gewährte der neuzeitliche Staat »Religionsfreiheit« nur noch in politischer Rücksicht. In dieser Lage deutete Hegel die Religionsfreiheit als Emanzipation des christlichen Glaubens von politischen Zwängen; Böckenförde vertritt eine skeptische Variante dieser positiven Sicht; er stellt »die Frage nach den bindenden Kräften von neuem und in ihrem eigentlichen Kern« und verweist auf den »Individualismus der Menschenrechte« und die »moralische Substanz des einzelnen«, 14 die nicht politisch und rechtlich erzwingbar sei, ohne die »Ordnung der Freiheit« zu zerstören. In dieser Lage affirmiert er emphatisch die späte Anerkennung der Religionsfreiheit durch das Zweite Vatikanum. Das 1967 publizierte Büchlein über Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat setzt die liberale Auffassung des Rechts als »Friedens- und Freiheitsordnung« 15 von der kommunistischen Instrumentalisierung, Politisierung und Moralisierung des Rechts ab. Nach der individuellen Grunderfahrung der Glaubensfreiheit wird die nationale Frage, nach dem Mauerbau von 1961, so zu einem Katalysator der »Grundentscheidung« in der Systemalternative. Über die liberale Option ist diese »nationale« Konnotation nicht zu übersehen. Schmitt hatte die deutsche Nation nach 1945 als politisches Subjekt eigentlich abgehakt. Von einem scharfen Nationalismus und stetigen Interesse an der »deutschen Frage«, von Solidarität mit den Deutschen im Osten gar, war bei ihm nach 1945 nur noch wenig zu finden. Nicht zufällig publizierte Böckenförde deshalb 1968 in der Festschrift für Schmitt auch einen Beitrag über Die Teilung Deutschlands und die deutsche Staatsangehörigkeit. 16 Jahre vor der neuen Ostpolitik bestritt er die »Identitätstheorie« als »juristische Lebenslüge der Bundesrepublik« 17 und wies auf deren unsolidarische und bedrohliche Folgen für die Rechtssicherheit der DDR-Bürger hin. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, 112 15 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, München 2. Aufl. 1967, 91; ähnlich auch gegenüber der Kirche ders., Kirchlicher Auftrag und politische Entscheidung, Freiburg 1973, 187 ff. 16 Dazu vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Teilung Deutschlands und die deutsche Staatsangehörigkeit, in: Hans Barion u. a. (Hg.), Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt. Bd. II, Berlin 1968, 423 ff.; zum Nationskonzept noch ders., Die Nation. Identität in Differenz, in: Staat, Nation, Europa, Frankfurt 1999, 34–58 17 Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, 99; vgl. noch ders., Rechtsstaat oder Unrechtstaat?, in: FAZ vom 12. Mai 2015: »Auch die DDR hat nicht 14

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Die individuelle Freiheit als Heidelberger Antwort

Der Vortrag Das Grundrecht der Gewissensfreiheit kann dann als Abschluss der Heidelberger Theoriebewegung gelten. Böckenförde dankt ihn den Teilnehmern seines »verfassungsrechtlichen Seminars« und meint: »Der Bericht musste dem hochschulpolitisch bewegten Jahr 1968/69 an der Universität Heidelberg abgerungen werden.« 18 Der Bericht pointiert zunächst den verfassungshistorischen »Übergang von der alten Glaubens- und Gewissensfreiheit zur Gewissensfreiheit schlechthin«: 19 also die Entkoppelung einer säkularen und religionsneutralen Auffassung von konfessionellen Traditionen, Prägungen und Zwängen. Er formuliert dann die hermeneutische Maxime der Auslegung des Grundgesetzes von der säkularen Grundentscheidung her und unterscheidet dabei bereits zwischen einer »distanzierenden« und einer »offenen Neutralität«, 20 die Glaubensfreiheit positiv und religionsfreundlich als Legitimitätsressource auslegt. Erst mit der Emanzipation des Gewissens von tradierten, juridisch befestigten Glaubensvorgaben wird das Gewissen wirklich für die individuelle Glaubensentscheidung frei. Der Glaube wird erst in modernen Zeiten zur Gewissensfrage und zum Akt der Freiheit. Böckenförde plädiert deshalb auch für »Toleranz gegenüber der allgemeinen Rechtsordnung«, Ausnahmeregelungen und »Wegen partieller Entpflichtung« im Konflikt des Staates mit echten und letzten Gewissensgeboten, die sich in ihrer Ernsthaftigkeit an der individuellen Verhaltenskonsequenz zeigen. Deshalb argumentiert er auch für eine großzügige Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung. Am

darauf verzichtet, in vielen Bereichen in der Weise des Rechts zu handeln und für ihre Bürger und Bürgerinnen Gerechtigkeit anzustreben. Entsprechend haben die ostdeutschen Bürger und Bürgerinnen in vielen Bereichen ein Leben in rechtlich-ethischer Normalität geführt, in Achtung und Befolgung bestehenden Rechts und getragen von einem darauf bezogenen Ethos.« 18 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: Staat, Verfassung, Demokratie, Frankfurt 1991, 200–263, hier: 200 19 Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 223 20 Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 227; zur scharfen Kritik an der alten »katholischen Toleranztheorie« damals vgl. Böckenförde, Die Religionsfreiheit als Aufgabe der Christen (1965), in: Kirchlicher Auftrag und politische Entscheidung, Freiburg 1973, 172–190; zur positiven und offensiven Formulierung der Aufgaben des Katholiken vgl. ders., Politisches Mandat der Kirche? (1969), in: Kirchlicher Auftrag und politische Entscheidung, 206–223; zur Revision und Aktualisierung der früheren Überlegungen noch ders., Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 2006 (SiemensThemenheft), 12 ff.

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XVIII. · Ernst-Wolfgang Böckenfördes dogmatischer Durchbruch in Heidelberg

Ende wiederholt er in leichter Variante – und ohne Kursivierung – das Diktum von 1964: »Es gehört zur Struktur des freiheitlichen Rechtsstaates, dass er von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, ohne seine Freiheitlichkeit in Frage zu stellen.« 21

Durch solche Wiederholungen hat Böckenförde die rhetorische Verselbständigung seiner Formel selbst mit initiiert. Die Wiederholung des Diktums schließt die dogmatischen Ausführungen zur Gewissensfreiheit mit dem Ebracher Säkularisierungsvortrag zusammen und der verfassungsgeschichtliche Problemaufriss von 1964 findet 1969 eine dogmatische Antwort. Das Böckenförde-Diktum steht also als Α und Ω am Anfang und Ende der Heidelberger Zeit. Böckenförde verdeutlicht jetzt die spezifisch moderne Entkoppelung des Gewissens vom tradierten Glauben ganz erheblich. Er trennt gleichsam zwischen altem und neuem Glauben und erklärt sich für eine »offene« und positive Lesart der individuellen Gewissensentscheidung. Der Kriegsdienstverweigerer, der seine Gewissenhaftigkeit durch die Konsequenz beweist, auch Nachteile in Kauf zu nehmen, wird hier zum exemplarischen Fall der modernen und autonomen »Persönlichkeit«. Böckenförde lehnt zwar die damalige »Propaganda« der APO für Kriegsdienstverweigerung als neuen Konformismus ab, appelliert am Ende aber für »Toleranz« gegenüber der individuellen Gewissensentscheidung. Dabei deutet er das Theorem vom »Normalzustand« in eine hermeneutische Auslegungsmaxime um: »Die vorliegende Interpretation der Gewissensfreiheit i. S. des Art. 4 GG geht bewusst von der im GG wie in jeder rechtsstaatlichen Verfassung vorausgesetzten Normallage aus.« 22 Der Verfassungsstaat soll den Konfessionen in »offener Neutralität« begegnen und auch dem Kriegsdienstverweigerer – im »Geheimnis der Person« – grundsätzlich staatsbürgerliche »Loyalität« 23 unterstellen. Ein fundierter Normalzustand kann sich Ausnahmen leisten und Bürger gelegentlich als individuelle Ausnahmen betrachten. Die Heidelberger Jahre schärften diesen liberalen Ansatz des Verfassungsdenkens.

Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 256, vgl. 263 Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 256 23 Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 256; zum Ethos der Einzelfallgerechtigkeit noch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Das Ethos der Juristen, Berlin 2010 21 22

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Begründung des Hochschulwechsels

3.

Begründung des Hochschulwechsels

Schon im November 1965 wurde Böckenförde in den wissenschaftlichen Beirat des Gründungsausschusses der Universität Bielefeld berufen. Im September 1968 erhielt er den Ruf an die Universität. Der Gründungsprozess ist dort aber noch nicht abgeschlossen und erst zum Wintersemester 1969/70 verlässt Böckenförde Heidelberg definitiv. Am Ende der Heidelberger Zeit ist er noch ganz in die damaligen Universitätsreformen und studentischen Unruhen eingespannt. Diese Entwicklungen sind für den Wechsel nach Bielefeld auch entscheidungsrelevant. Schon am 1. Oktober 1968 schreibt Böckenförde zur Berufung an den Heidelberger Rektor: »Die Entscheidung, die ich zu treffen haben werde, wird nicht leicht sein. So sehr ich mich durch die nunmehr 4-jährige Wirksamkeit mit der Fakultät und Universität Heidelberg verbunden fühle, so sehr bewegt mich andererseits die Frage, wieweit es an unseren alten Universitäten noch möglich ist, jenseits hochschulpolitischer Auseinandersetzungen und permanenter Reformüberlegungen noch zu intensiver wissenschaftlicher Arbeit zu kommen.« 24

Die neue, im März 1969 verabschiedete Grundordnung sah eine Viertelparität der Ordinarien und Habilitierten, Assistenten und Studenten vor. 25 Damals eskalierten Auseinandersetzungen um Werner Conze. Studentische Störaktionen u. a. gegen Hans Schneider folgten später. Im Juni 1969 teilte Böckenförde der Fakultät und dem Ministerium seinen Wechsel nach Bielefeld mit. An den Dekan der Juristischen Fakultät schrieb er: »Nach reiflicher Überlegung habe ich mich entschlossen, den Ruf an die Universität Bielefeld anzunehmen. Diese Entscheidung gegen ein Verbleiben in Heidelberg ist mir, nicht zuletzt wegen des so guten Zusammenhaltes in unserer Fakultät, den ich gerade in den letzten Jahren schätzen gelernt habe, nicht leicht gefallen.«

Zwei Gründe erklärt Böckenförde eingehend: »Einmal ist die in Bielefeld durch den jährlichen Wechsel von Forschung und Lehre gebotene Chance zu kontinuierlicher wissenschaftlicher Arbeit

Böckenförde am 1. Oktober 1968 an den Heidelberger Rektor Baldinger; PA 3330 UA Heidelberg (Personalakte Böckenförde Universitätsarchiv) 25 Dazu vgl. Nikolai Wehrs, Protest der Professoren. Der ›Bund Freiheit der Wissenschaft‹ in den 1970er Jahren, Göttingen 2014, 299 ff., dort auch weitere Literatur 24

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XVIII. · Ernst-Wolfgang Böckenfördes dogmatischer Durchbruch in Heidelberg

für mich eine berufliche Existenzfrage geworden, wenn ich weiter als Wissenschaftler tätig sein will.«

Die neue Grundordnung erschwere die Forschung: »Zum anderen lassen sich notwendige und sinnvolle Reformen des juristischen Studiengangs m. E. nur aus einer Gründungssituation, die die praktische Erprobung eines neuen Modells ermöglicht, ein Stück voranbringen. Die Bielefelder Reformpläne sind m. E. so weit gediehen, dass es lohnt, einige Jahre daran zu setzen, um sie im Wege des Experiments auf ihre Tragfähigkeit zu erproben.« 26

Gegenüber dem Baden-Württembergischen Kultusministerium formulierte Böckenförde seine Bedenken damals noch deutlicher: »Die durch das Hochschulgesetz inaugurierte Hochschulreform führt in Heidelberg zu einer Überorganisation der akademischen Selbstverwaltung, die die Abhaltung von der wissenschaftlichen Arbeit nicht verhindern, sondern vermehren wird. Sie durchbricht an einem entscheidenden Punkt das Prinzip der qualitativen Repräsentation, und sie wird den Frieden an der Universität nach meiner Überzeugung nicht bringen.« 27

Böckenförde zeigt sich also auch im Abgang noch als liberalkonservativer Reformer. Einerseits betont er die Forschungsfreiheit und andererseits den Sinn praktischer Innovationen für die Lehre. Es sind also nicht zuletzt politische Gründe, die ihn von Heidelberg weg nach Bielefeld bringen. Forsthoff meinte dazu damals im Juni 1969 gegenüber Schmitt: »Der Weggang Böckenfördes trifft die Fakultät schwer« (EFCS 286).

4.

Schluss

Es wurde eine Linie Heidelberger Thematisierungen von »Maßnahmegesetzen« nach Carl Schmitt angedeutet und Böckenfördes Neuansatz bei der Glaubens- und Gewissensfreiheit herausgestellt. In Heidelberg betrat er seinen dogmatischen Pfad. Die knappe Erinnerung dieses rechtsdogmatischen Durchbruchs zur Grundrechtstheorie kann das Gesamtwerk nicht hinreichend würdigen. Schon Böckenfördes Stellung in den Grundrechtsdebatten, mit ihrer »Kritik der Böckenförde am 2. Juni 1969 an den Dekan Weitnauer; PA 3330 UA Heidelberg Böckenförde am 4. Juni 1969 an Regierungsdirektor Dr. Kern vom Kultusministerium; PA 3330 UA Heidelberg

26 27

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Schluss

Wertbegründung des Rechts« und dem späteren energischen Einspruch gegen die rechtsdogmatische Engführung und »Neukommentierung der Menschenwürdegarantie«, 28 ist hier nicht zu diskutieren. Heute interessiert Böckenfördes großes Werk nicht nur als Antwort auf die deutsche Verfassungsgeschichte vor 1949, sondern auch und gerade als Verteidigung der liberaldemokratischen Standards in der Historisierung der »zwei Phasen« des öffentlichen Rechts und Erinnerung des Abstands zwischen der »alten« Bundesrepublik vor 1989 und den gewaltigen Transformationen seither. Die »riskante Ordnung« (Horst Dreier) 29 des freiheitlichen Verfassungsstaats stößt heute an Grenzen ihres Krisenmanagements. Böckenförde beschloss seine letzte Suhrkamp-Sammlung mit einem NZZ-Artikel von 2010 unter dem Titel: Kennt die europäische Not kein Gebot? Er kritisierte hier bereits die »Veränderung der Währungsunion in Richtung einer Transferunion« und meinte: »Was man für die getroffenen Maßnahmen anführen kann – ihre fragwürdige Zwecktauglichkeit einmal unterstellt –, ist die Maxime ›Not kennt kein Gebot‹, juristisch formuliert der Rekurs auf den Ausnahmezustand, der das Recht der Normallage suspendiert. Solche Ausnahmebefugnisse sind aber im AEUV nicht geregelt; […] Gleichwohl ist eine Ausnahmesituation tatsächlich gegeben.« 30

Die letzten Jahre dürften ihn im Rekurs auf den Ausnahmezustand und der Kritik am nonchalenten Umgang mit der Legalität eher bestätigt haben. Am 24. August 2015 erklärte die Bundeskanzlerin an der Seite des französischen Staatspräsidenten zur Flüchtlingskrise: »Es gibt Momente in der europäischen Geschichte, wo wir vor außergewöhnlichen Situationen stehen. Heute ist das so eine außergewöhnliche Situation, aber eine außergewöhnliche Situation, die anhalten wird, so lange die Krisen nicht gelöst sind. Wir sollten nicht warten und nicht nur Tag für Tag versuchen, diese Situation zu handhaben. Wir müssen uns organiDazu die Beiträge in Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt 2006, 67 ff., 379 ff. 29 Dazu vgl. Horst Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, Tübingen 2014, 459 ff. 30 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Kennt die europäische Not kein Gebot?, in: Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Berlin 2011, 299–303, hier: 300 f.; zu Böckenfördes früheren Arbeiten zum »Ausnahmezustand« vgl. Andreas Anter / Verena Frick, Der verdrängte Carl Schmitt. Ernst-Wolfgang Böckenfördes Diagnostik des Ausnahmezustandes, in: Rüdiger Voigt (Hg.), Ausnahmezustand. Carl Schmitts Lehre von der kommissarischen Diktatur, Baden-Baden 2013, 128–143 28

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XVIII. · Ernst-Wolfgang Böckenfördes dogmatischer Durchbruch in Heidelberg

sieren und unsere Politik absprechen. Das schlagen Deutschland und Frankreich vor.«

Wenige Wochen nach der gemeinsamen Erklärung und schweren Terroranschlägen in Paris erklärte Frankreich förmlich den Ausnahmezustand; er wurde mehrfach verlängert, nach einem Terroranschlag am Nationalfeiertag in Nizza gleich für ein halbes Jahr, und gilt heute noch. Im Juni 2016 optierte Großbritannien im Referendum für den Brexit. Weitere EU-Mitgliedstaaten tragen sich mit ähnlichen Absichten. Inzwischen ist der islamistische Terror auch in Deutschland angekommen. Der amtierende Präsident des Bundesverfassungsgerichts warnt: »Die Krise scheint die neue Normallage der Politik […] Indes: Eine Ordnung kann nicht dauerhaft im Modus der Krise operieren. Gesellschaft ist nur dort möglich, wo Regel und Ausnahme als solche erkennbar sind.« 31 Böckenförde hatte in den Debatten um die Notstandsgesetzgebung die Notwendigkeit einer klaren juristischen Fassung des Notstands angemahnt. Er repräsentiert nicht nur das liberaldemokratische Verfassungsdenken der alten Bundesrepublik, sondern wurde auch zu einem Akteur und Zeugen des Umbruchs von der alten zur heutigen Bundesrepublik. Auch diese Zeugenschaft verleiht dem Gesamtwerk seine hohe Repräsentanz. Deshalb sollte es doppelt nachdenklich stimmen, dass der Autor des liberaldemokratischen Normalzustands der alten Bundesrepublik heute erneut eine »Ausnahmesituation« konstatiert und ernste Bedenken gegen das EU-Krisenmanagement äußert. Die heutige Bundesrepublik ist nicht mehr die alte. Man kann nur hoffen, dass sie Autoren von seinem Rang findet.

Andreas Vosskuhle, Die Verfassung der Mitte. Themenheft 101 der Siemens-Stiftung, München 2016, hier: 7, 9

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XIX. Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt: Reinhart Koselleck 1

1.

Kosellecks Umgang mit Schmitt

Nach geläufigem Sprachgebrauch sind Ideen Einfälle und Gedanken, die sich sprachlich artikulieren. Begriffe erheben darüber hinaus als bedeutungsstabile, semantisch festgestellte Worte in Argumentationen einen Geltungsanspruch auf Wahrheit. Der Wechsel aus der Ideengeschichte oder historischen Semantik zur Begriffsgeschichte ist deshalb auch ein Wechsel der Methode. Während der Ideenhistoriker den Auftritt bestimmter Ideen in ihren Verwendungszusammenhängen nur beobachtet, expliziert der Begriffsgeschichtler den eigenen Geltungsanspruch. Wer von Begriffsgeschichte spricht, zielt über die historische Semantik hinaus auf starke Thesen. Wenn Schmitt und Koselleck sich von der historistischen Ideengeschichtsschreibung bewusst absetzen und begriffliche Ansprüche vertreten, könnten solche Überlegungen eine Rolle spielen. Sie wollten Begriffe nicht nur beobachten, sondern auch vertreten. Schmitt hatte dafür einen kernigen Titel; er sprach – 1940 – von »Positionen und Begriffen im Kampf«. Profiliert man Schmitt und Koselleck derart gegen die Ideengeschichte, so ist es eine zentrale Frage, wie es um die begrifflichen Ansprüche steht. Dabei geht es nicht nur um einen Aspekt der Wirkungsgeschichte Schmitts, sondern auch um das Licht, Der Text berücksichtigt die Korrespondenz im Duisburger Schmitt-Nachlass sowie einige Handexemplare Schmitts von Kosellecks Schriften. Weiterführung Verf., Der Sinn der Erinnerung. Zur Geschichtsethik Reinhart Kosellecks, in: Mittelweg 36 Jg. 22 (2013), Heft 1, 41–52; zitiert werden: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde. in 9 Tln, Stuttgart 1972–1997 (Kürzel: GG): Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 1959; Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979 (Kürzel: VZ); Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt 2000 (Kürzel: ZS); Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt 2006 (Kürzel: BG); Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, hrsg. Carsten Dutt, Berlin 2010

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XIX. · Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt: Reinhart Koselleck

das von der Wirkung auf Schmitts Werk zurückfällt. Es interessiert nicht nur die Frage: Wieviel Schmitt steckt in Koselleck?, sondern gleichsam auch die Frage: Wieviel Koselleck steckt in Schmitt? Nur die erste Frage wird hier aber erörtert. Koselleck hat sich niemals ausführlicher zu Schmitt geäußert. Sein Tod am 3. Februar 2006 vereitelte einen für den März 2006 geplanten Vortrag im Literaturarchiv Marbach. Sein enges Verhältnis zu Schmitt ist gleichwohl bekannt. Der eröffnende Beitrag von Vergangene Zukunft (VZ) erschien zuerst in einer Festschrift für Schmitt. Ein Beitrag »Die Verzeitlichung der Utopie« geht auf eine frühe Satire Schmitts ausführlich ein. Koselleck übersendet ihn dem fast 95-jährigen Schmitt noch mit einem letzten Brief vom 10. April 1983 (RW 265–8183). 2 Eine spätere Studie »Zur Begriffsgeschichte der Zeitutopie« schreibt Schmitt diskret in die Traditionen negativer Utopien hinein, die Koselleck an der Dialektik der Aufklärung nach Mercier und de Sade festmachte. Koselleck wollte mit Schmitt ein großes TV-Interview führen 3 und erwog in Abstimmung mit Böckenförde in den 70er Jahren auch die Herausgabe Gesammelter Schriften, der Schmitt aber nicht zustimmte. Nach Schmitts Tod engagierte er sich in einem »Gesprächskreis« für Nachlasseditionen. Schmitt rezensierte Kosellecks Dissertation Kritik und Krise. 4 Der Einfluss wird meist nur an diesem Frühwerk festgemacht, 5 obDer wahrscheinlich letzte Brief Kosellecks an Schmitt kondoliert am 20. November 1983 zum Tod der Tochter Anima. Abdruck in: Verf., ›Eine Tochter ist das ganz andere‹. Die junge Anima Schmitt (1931–1983), Plettenberger Miniaturen 5, Plettenberg 2012, 20 3 Das Fernsehinterview wurde dann vom WDR unter der Leitung von Dr. Hermann Rudolph (ohne Koselleck) geplant. Schmitt sagte zunächst zu und sagte später aus gesundheitlichen Gründen ab (dazu die Briefe von Sven Kuntze vom WDR vom 3. Januar 1979, 5. Dezember 1979 und 30. Januar 1980 (RW 265–8571/8573). 4 In: Das Historisch-politische Buch 7 (1959), 300–301; dazu Kosellecks Briefe vom 3. Juni 1959 (RW 265–8150) und vom 18. Juni 1959 (RW 265–8151). Die Briefe belegen, dass Schmitt auf eigene Initiative an Koselleck herantrat und Koselleck daraufhin mit der Redaktion abklärte, dass die Redaktion »keinen Einwand« sah, dass der Rezensent selbst prägend an der Entstehung beteiligt war. Schmitts Rezension war mit Koselleck abgestimmt. Der schrieb an Schmitt im Juni 1959: »Was das Leserpublikum der Hist.Pol.Hefte betrifft, so wäre ein Hinweis auf die Methode vielleicht ganz nützlich« (RW 265–8150; Hinweis von Niklas Olsen). Schmitt schickte zwei Entwürfe der Besprechung, wobei Koselleck sich für den zweiten entschied (Brief vom 3. Juli 1959 an Schmitt.-RW 265–8152/2). Schmitts Besprechung beschränkt sich weitgehend auf die Methodenkritik. 5 Dazu Jan-Friedrich Missfelder, Die Gegenkraft der Geschichte. Carl Schmitt, Rein2

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Kosellecks Umgang mit Schmitt

gleich er weiter reicht und auch für die »Begriffsgeschichte« und die »Theorie der historischen Zeiten« wichtig ist. Die Nähen von Kritik und Krise zu Schmitts Hobbes-Buch von 1938 sind offensichtlich. Kosellecks genuine Leistung, seine Geschichtstheorie und Konzeption der Begriffsgeschichte, wird dagegen in ihrem Verhältnis zu Schmitt seltener diskutiert. Koselleck nennt Schmitt einen seiner Lehrer. Im Gespräch mit Christof Dipper 6 meinte er zur Begriffsgeschichte: »Und schließlich war Carl Schmitt, der immer auf die politischen Folgelasten juristischer Begriffe hinwies, einer der Anreger. Er forderte mich auf, Lexika zu vergleichen, und fragte stets: was bedeutet ein Terminus zu welcher Zeit, wo und was, für wen? Und diese rigorose Fragestellung hatte er ja selber methodisch brillant in seiner Schrift über die Diktatur vorgeführt.« 7

Im Folgenden geht es um dieses Verhältnis von Kosellecks Begriffsgeschichte zu Schmitt. Die Begriffsgeschichte ist als Widerpart der Sozialgeschichte eines der wichtigsten innovativen Unternehmen der bundesdeutschen »Geisteswissenschaft«. 8 Dipper betont die anregende Spannung zwischen Kosellecks »Begriffsgeschichte« und Wehlers »Sozialgeschichte«, eine eher marginale Rolle der Sozialhistoriker Otto Brunner und Werner Conze, die Selbstständigkeit Kosellecks und den Gesamtertrag eines neuen Geschichtsbegriffs von der »Verzeitlichung der kategorialen Bedeutungsgehalte«. 9 Zusammenfassend nennt er die Begriffsgeschichte den bisher mit Abstand erfolgreichsten »Versuch, die Entstehung der Moderne im Medium der Sprache zu rekonstruieren«. 10 Er meint auch: »In den Beiträgen Kosellecks finden sich Umrisse einer Theorie der historischen Zeit, deren Hauptergebnis die in Begriffen ablesbare Beschleunigung unhart Koselleck und der Bürgerkrieg, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 58 (2006), 310–336; vgl. auch Verf., Das Politikum der Kritik. Geschichtstheorie nach Carl Schmitt, in: Neue Rundschau 111 (2000), Heft 3, 154–167 6 Christof Dipper, Die ›Geschichtlichen Grundbegriffe‹. Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten, in: Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 280–308 7 Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 187–205, hier: 187 8 Zur Historisierung pointiert Hans-Ulrich Gumbrecht, Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, München 2006; jetzt Ernst Müller / Falko Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin 2016 9 Christof Dipper, Die ›Geschichtlichen Grundbegriffe‹. Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten, in: Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 280– 308, hier: 305 10 Dipper, Die ›Geschichtlichen Grundbegriffe‹, 306

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XIX. · Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt: Reinhart Koselleck

seres Zeitempfindens ist.« 11 Dipper betrachtet das Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe damit gewissermaßen als Material zur Abstraktion der Geschichtstheorie. Die Erörterung dieses Ansatzes und Ertrags im Verhältnis zu Schmitt verspricht einen Schlüssel zur »politischen Geistesgeschichte« (Dirk van Laak) der mittleren Bundesrepublik. Diese wissenschaftshistorische Bedeutung kann hier aber nicht ausgelotet werden. Es geht hier nur um einige durch Schmitt geschärfte normative und geschichtsphilosophische Implikationen von Kosellecks Begriffsgeschichte und Geschichtstheorie.

2.

Kosellecks geschichtstheoretische Kritik

Kosellecks Gespräch mit Schmitt ist schon in frühen Briefen greifbar. Es beginnt dort am 21. Januar 1953 mit dem Paukenschlag einer ausführlichen Historismuskritik. Koselleck schreibt hier u. a.: »Die Reduktion aller geistiger Äußerungen auf die Situation setzt allen weiteren Relativierungen nach vorne und hinten, nach oben und nach unten ein absolutes Ende. Die Endlichkeit des Menschen wäre also in den Blickpunkt zu rücken, nicht in Hinblick auf das individuelle Dasein, […] sondern in Hinsicht auf den dauernden Ursprung der Geschichte: also in Hinsicht auf die Strukturen einer ›Situation‹, ohne die es so etwas wie Geschichte gar nicht gibt.« (RW 265–8131/2)

Man kann dieses Zeilen heute geradezu als Forschungskeim und Lebensthema nehmen. Der alte Koselleck hätte es kaum anders formuliert. Am 10. April 1983 (RW 265–8183) schreibt er zu Schmitts früher Satire über »Die Buribunken«: »Es klingt vielleicht pathetisch, aber was bleibt – sind Liebe und Tod, gegen die keine Utopie ankommt, und kein totalitäres System, wie auch die ›Buribunkologie‹ zu verstehen geben muss.« Programmatisch spricht er 1953 schon von »Geschichtsontologie« und grenzt sich so gegen die »Fundamentalontologie« Heideggers ab, die ihm auch in den Auslegungen seiner philosophischen Lehrer Löwith und Gadamer begegnete. Seine frühen Briefe an Schmitt sind ein Muster einer aufstrebenden freien Gelehrtenexistenz. Ausführlich berichtet Koselleck vom Stand des Promotionsverfahrens. Schon in einer frühen Rezension beruft er sich gegen die christliche Geschichtsbetrachtung auf Schmitts Sicht

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Dipper, Die ›Geschichtlichen Grundbegriffe‹, 308

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Kosellecks geschichtstheoretische Kritik

der Neuzeit als säkularisierte Epoche. 12 Koselleck ist dann einige Zeit als Lektor in England und kehrt zum Herbst 1955 als Assistent seines Doktorvaters Kühn nach Heidelberg zurück. Ständig hält er die nächsten Jahre weiter Kontakt, das gelehrte Gespräch, das kein Hauch eines persönlichen Missklangs oder streberischer Ehrgeiz- und Eifersüchteleien trübt. Kein Jünger strebt hier nach Meriten. Nur beiläufig versetzt sich Koselleck einmal in die Freund-Feind-Polarisierungen um Schmitt, wenn er etwa Dolf Sternbergers Heidelberger Antrittsrede zum »Begriff des Politischen« 13 schnell abtut. Aus einem Brief von 1961 schreibt Schmitt sich mit Schreibmaschine heraus: »Böckenfördes Aufsatz im Hochland 14 ist ausgezeichnet […]. Im Schlussteil steht eigentlich zu lesen, warum der revolutionäre Aufbruch von 1933 verspielt wurde. Weder die Partei noch die Kirche wollten einen Staat: und gerade einen Staat zu bilden war der Zwang aller Ereignisse vor 1933. […] Hitler erschöpfte seine Macht im Einfluss auf das ›Volk‹, die Kirche verwechselte ihre tatsächliche Macht mit dem vermeintlichen Einfluss auf Hitler.« (RW 265–8156)

Schmitt nimmt diese Formulierungen zustimmend auf. Koselleck skizziert hier eine problematische »etatistische« Rechtfertigung des »revolutionären Aufbruchs«. Welche politischen Nuancen die häufigen Gespräche hatten, wo Koselleck stand, geht aus der Korrespondenz kaum hervor. Ein später Brief vom 7. Januar 1976 widerspricht Schmitts verfassungsgeschichtlicher Kampfschrift Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches und vertritt in der Kontroverse um die Wertung des Wilhelminismus eher die Gegenpartei Ernst Rudolf Hubers: »Das alte Preußen als Verzögerer, nicht als Aufhalter einer säkularen Bewegung … ?« Koselleck sagt damit auch einiges über die politische Linie seines Preußen-Buches. Das Gewicht des persönlichen Gesprächs lässt sich noch dem großen Brief ablesen, den Koselleck am 2. August 1971 über Schmitts Schlusswerk Politische Theologie II schrieb. Koselleck greift hier erneut Schmitts politisch »konkrete« Methode auf, am exemplarischen Fall des Eusebius die Reinhart Koselleck, Rezension zu Herbert Butterfield, in: ARSP 41 (1955), 591– 599, hier: 594 f. 13 Dolf Sternberger, Der Begriff des Politischen, Frankfurt 1961 14 Gemeint ist: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Eine kritische Betrachtung, auch in: ders., Kirchlicher Auftrag und politische Entscheidung, Freiburg 1973, 30–65 12

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XIX. · Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt: Reinhart Koselleck

Krux des politischen Theologen zu erläutern, die auch Schmitt erlitt: die Differenz der Theologie nämlich politisch zu kassieren. Koselleck schreibt: »Die Grundfrage lautet demnach: Gibt es überhaupt eine Theologie, die bündig jener Schwelle begegnen könnte, jenseits derer politische Positionen theologisch zu bezeichnen wären? Sie lösen diese Frage auf zugunsten der jeweiligen Situationsfrage, wie sich Theologie und Politik von Epoche zu Epoche uns aufeinander zuordnen.« (RW 265–8166/2)

Kosellecks begriffsgeschichtliches Projekt steht im Briefwechsel eher am Rand. Es liegt auch in später Zeit, als Koselleck sehr eingespannt ist. Auch die 70er Jahre hindurch treffen sich beide zwar persönlich immer wieder. Schmitt steht aber nicht mehr als Motor in der Rolle des Anregers. Auch die Entstehung des Lexikons hat er aber noch kritisch begleitet. Koselleck schreibt dazu am 14. Juli 1973 an Schmitt: »Ihre Kritik am Lexikon hat mich neugierig gemacht nach weiterer Kritik. Über die Unzulänglichkeiten des Unternehmens bin ich mir völlig im Klaren, aber solche Unternehmen leben natürlich von zahlreichen Kompromissen. Bleiben wird sicher der positivistische Ertrag der Belege, die später in einem Registerband aufgeschlüsselt werden. Bleiben wird auch die Bestätigung der sog. Sattelzeit-Hypothese. Hier freilich frage ich mich, ob ich nicht besser allein Studien zur politischen Semantik der Neuzeit herausgegeben hätte, um die Arbeit hinter mich zu bringen, die nun immer noch zum größten Teil vor mir liegt.« (RW 265–8167)

Das Lexikon war für Koselleck ebenso Motor wie Bremse. Es absorbierte die Arbeitskraft und verhinderte die monographische Ausarbeitung der Geschichtstheorie, die ohne das Lexikon anderseits kaum machbar war. Die Vorüberlegungen zum Lexikon begannen früh. Koselleck verfasste die »Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit« 15 schon im Herbst 1963. Aus ihnen ging seine »Einleitung« ins Lexikon hervor. Der Titel wechselte zu »Geschichtliche Grundbegriffe«. In diesen neuen Titel gingen die Reflexion auf den Unterschied von Wort- und Begriffsgeschichte und der neue Anspruch ein. Grundbegriffe heißen »Leitbegriffe der geschichtlichen Bewegung«, eminente Begriffe, die nicht nur Geschichte haben, son-

Reinhart Koselleck, Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit, in: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), 81–99

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Kosellecks geschichtstheoretische Kritik

dern als Faktoren auch Geschichte machen und die Geschichtlichkeit neuzeitlicher Erfahrungen paradigmatisch oder grundbegrifflich bestimmen. Dieser Unterschied von Geschichte und Geschichtlichkeit, von einfachen, Sachverhalte indizierenden Begriffen und geschichtsmächtigen Grundbegriffen, ist Koselleck so wichtig wie der »Kollektivsingular« einer Geschichte (im Ganzen). Den Übergang zur Geschichtlichkeit aller Erfahrung datiert er dabei im heuristischen »Vorgriff« auf die »Sattelzeit« zwischen 1750 und 1850. Als Zweck des lexikalischen Vorhabens nennt er: »Die Auflösung der alten, die Entstehung der modernen Welt soll in der Geschichte ihrer begrifflichen Erfassung untersucht werden.« 16 Diese Begriffsgeschichte unterscheidet Koselleck von der »bloßen Wortgeschichte« ebenso wie von ungeschichtlicher »Problemgeschichte«. Als Eigenart von Begriffen hebt er mit Nietzsche hervor, »dass Begriffe veralten oder neu gebildet werden, aber als Begriffe keine Geschichte haben«. 17 Damit ist der besondere Geltungsanspruch der Begriffe im Unterschied zur historisch-politischen Semantik benannt. Mögen die Worte auch wandern, sind sie doch als Begriffe im aktualen Gebrauch und Anspruch gewissermaßen »unmittelbar zu Gott«. Als Historiker betont Koselleck den Bedeutungsbezug auf »Sachgeschichte«. Begriffe sollen Sachgeschichte angemessen erfassen. Die Sachgeschichte geht nicht in ihrer begrifflichen Erfassung auf. Die späte Sammlung Begriffsgeschichten (BG) eröffnet deshalb mit der Unterscheidung von »Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte« und führt im letzten Teil »von der Begriffsgeschichte zur begriffenen Geschichte«. Koselleck möchte Sachgeschichte begreifen. Deshalb dominiert das Selbstverständnis der »Sozialgeschichte« das Methodenbewusstsein der »Begriffsgeschichte«. Letztlich zielt Koselleck auf »Sozialgeschichte«, allerdings auf eine normativ und politisch verstandene Sozialgeschichte. Seine Überlegungen zum Verhältnis von »Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte« sind etwas kryptisch. Eine systematische Historik hat Koselleck nie geschrieben. Für unser Thema sind die Ausführungen aber hinreichend eindeutig: Der Begriffsgeschichtler ist letztlich kein Sprachwissenschaftler, sondern ein Historiker, der Begriffsgeschichte im sachgeschichtlichen InKoselleck, Richtlinien, 81; vgl. GG Bd. I, XIV Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Gegenstand und Begriff der Verfassungsgeschichtsschreibung, Berlin 1983, 7–21, hier: 15

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teresse betreibt. Ihn interessieren aber auch nicht die historischen Selbstauslegungen als solche, sondern er will durch die begriffsgeschichtliche Analyse hindurch etwas über die »Sattelzeit« erfahren. Methodisch hebt Koselleck vor allem die »Frage nach den Gegenbegriffen« hervor. Deren Berücksichtigung erleichtere es, den Begriffsgebrauch sachlich und kontextuell unter Thematisierung der sozialen Träger und ihrer polemisch-politischen Absichten zu untersuchen. Koselleck betont die »Standortbezogenheit« aller Begriffe: ihre pragmatische Feststellung in konkreten Verwendungszusammenhängen. Dieses Konzept der »Gegenbegriffe« nimmt Schmitts Lehre vom polemischen Charakter politischer Begriffsbildungen auf, wie die Studie »Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe« besonders deutlich zeigt, die Schmitts diagnostischen Ansatz am Ende vom polemischen Gebrauch unterscheidet. Koselleck schickte Schmitt den Text schon in den Druckfahnen und diskutierte ihn auch im Seminar des Antipoden Jacob Taubes. 18 Er sendet den Sonderdruck 1975 mit einem begleitenden Brief (RW 265–8170) und schlägt hier zugleich das neue Thema der Kriegerdenkmale an. Schmitt dankt Koselleck damals für die akademische Art, mit der er seine Themen in eigener Weise zur Sprache brachte. 19 Schon aus der politisch-polemischen Profilierung der Begriffe als Gegenbegriffe folgt eine normativ-praktische Aufladung, die Koselleck besonders interessiert. Immer wieder betont er, dass Begriffe nicht nur »Indikatoren« der Sachgeschichte, sondern als Grundbegriffe und »Leitbegriffe der geschichtlichen Bewegung« auch »Promotoren« und »Faktoren« sind, die eigene »Schubkraft« entzünden. Er sieht einen doppelten Status neuzeitlicher Bewegungsbegriffe, zugleich Indikatoren und Faktoren zu sein. Historisch interessiert ihn vor allem die Heraufkunft und der Gebrauch eines Grundbegriffs: der Begriff der Geschichte selbst. »Die Freilegung der ›Geschichte überhaupt‹ fiel zusammen mit der Entstehung der Geschichtsphilosophie« (GG Bd. II, 658), schreibt Koselleck im Stichwortartikel »Geschichte«. Als Historiker stellt er fest, dass die Heraufkunft der modernen Geschichtsphilosophie mit

Dazu vgl. Verf., Karl Löwith, Carl Schmitt, Jacob Taubes und das »Ende der Geschichte«, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 48 (1996), 231–248; Rezension: Jacob Taubes-Carl Schmitt. Briefwechsel, München 2012, in: ZRGG 64 (2012), 204–207 19 Briefentwurf Schmitts vom 9. März 1976 an Koselleck (RW 265–13194) 18

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Kosellecks geschichtstheoretische Kritik

der Formulierung eines neuen Geschichtsbegriffs einherging. An der Geschichtsphilosophie kritisiert er den ambivalenten Einsatz des Geschichtsbegriffs als Indikator und Faktor. Die Geschichtsphilosophie, genauer gesagt: eine bestimmte Tradition von Geschichtsphilosophie – wie schon Löwith macht Koselleck nicht hinreichend klar, dass seine historische Kritik nicht die philosophische Möglichkeit von Geschichtsphilosophie überhaupt trifft –, lud den Geschichtsbegriff normativ und futurisch auf und wurde dadurch zu einem gefährlichen Politikum, das Koselleck an den politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts erfuhr. Seine Geschichtstheorie oder »Theorie historischer Zeiten« kritisiert die futurische Aufladung und schränkt den Geschichtsbegriff auf einen analytischen Indikator ein. Koselleck lehnt Geschichtsphilosophie nicht pauschal ab; sie gab eine Antwort auf die fundamentale Frage nach dem Geschichtsbegriff. Was er allein kritisiert, ist die politisch-praktische Instrumentalisierung von Indikatoren als Promotoren von Geschichte. Koselleck präzisiert hier Ritters 20 Rede von einer »Entzweiung« von »Herkunft und Zukunft« durch sein Begriffspaar »Erfahrungsraum und Erwartungshorizont«. Grundbegriffe treten als Faktoren, »Bewegungsbegriffe« und »Kampfbegriffe« aus dem historischen »Erfahrungsraum« heraus und formulieren einen »Erwartungshorizont«. Zukunftserwartungen sind zwar pragmatisch nötig und sinnvoll; sie lassen sich aber immer weniger durch historische Argumente begründen. Die futurische Geschichtsphilosophie nahm Indikatoren für Promotoren und schloss Herkunft und Zukunft kurz. Koselleck postuliert dagegen eine Historik oder »Theorie historischer Zeiten«, die die ältere Geschichtsphilosophie durch den begriffsgeschichtlichen Nachweis der Formierung der Geschichtlichkeit aller Erfahrung und durch eine »Lehre von den Bedingungen möglicher Geschichte« (ZS 99) ersetzt. Sein großes Thema ist hier die Formierung des »Kollektivsingulars« »die« Geschichte »an und für sich« als transzendentaler Horizont aller neueren Geschichtserfahrung und Geschichtsschreibung. Er untersucht eine Wandlung im Geschichtsbegriff als »Horizont möglicher Erfahrbarkeit« von Geschichte und ersetzt die geschichtsphilosophische Frage nach dem »Sinn« der Geschichte durch eine Dazu vgl. Joachim Ritter, Metaphysik und Politik, Frankfurt 1969, 211 ff., 335, 338 f.; Odo Marquard, Zukunft und Herkunft. Bemerkungen zu Joachim Ritters Philosophie der Entzweiung, in: Politik und Kultur nach der Aufklärung. Festschrift für Hermann Lübbe zum 65. Geburtstag, Basel 1992, 96–107

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Theorie historischer Zeiten, die die »Theoriebedürftigkeit« der Geschichtswissenschaft mit dem Nachweis des neuzeitlich »beschleunigten Erfahrungswandels« beantwortet: durch eine Theorie der »Verzeitlichung der kategorialen Bedeutungsgehalte«. Dieser Frage nach der »Verzeitlichung« kommt eine besondere Bedeutung im Kreis der von Koselleck genannten vier Kriterien des Lexikons zu; sie ist fundamentaler als die sonstigen Leitfragen nach »der Demokratisierung, der Politisierung, der Ideologisierung« und der Semantik der Sattelzeit. Koselleck fragt nach den Verschiebungen im Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft unter der neuzeitlichen Erfahrung der Verzeitlichung aller Grundbegriffe. Bisher wurde gesagt: Koselleck kritisiert den geschichtsphilosophischen Kurzschluss von Herkunft und Zukunft und sucht Grundbegriffe, namentlich den Geschichtsbegriff, auf ihren analytischen Gehalt als Indikatoren einzuschränken. Doch das ist nicht der ganze Koselleck. Er sieht ja, dass Indikatoren als Kampfbegriffe verwendet werden und als Faktoren wirken. Er sieht auch, dass Menschen Begriffe brauchen. Er will nicht jeden normativ-praktischen Impetus der Begriffe tilgen, sondern einen historisch informierten kritischen Umgang lehren. Mit der scharfen Unterscheidung zwischen dem analytischen und dem normativ-praktischen Einsatz der Grundbegriffe zieht er sich nicht aus normativ-praktischen Fragen zurück und beschränkt sich nicht auf eine historische Beobachterperspektive. Das hält er schon deshalb für unmöglich, weil er, ähnlich wie Schmitt, mit seinem Konzept der Gegenbegriffe am politisch-polemischen Modus aller Begrifflichkeit festhält und die Möglichkeit einer neutralen Terminologie und Beobachterperspektive bezweifelt. Ein früher Aufsatz erörterte die »Auflösung des Topos« von der Lehrhaftigkeit der Geschichte »im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte«. Koselleck weist diese Lehrhaftigkeit nicht zurück, sondern sucht sie unter den neuzeitlichen Bedingungen der Verzeitlichung neu zu begründen. Begriffe stiften »Wiederholbarkeit«, meint Koselleck; in ihnen »ist auch die Wiederholung enthalten« (ZS 208). »Strukturgeschichten« haben deshalb ein »prognostisches Potential«; sie formulieren formale »Bedingungen möglicher Zukunft«. Koselleck setzt diese stete Möglichkeit »geschichtlicher Prognosen« – unter Berufung auf Lorenz von Stein, auf den auch Schmitt immer wieder hinwies – gegen die Auflösung des alten Topos. Der »Reflexionsbegriff« stifte überhaupt erst eine »Verfügbarkeit der Geschichte«; er eröffne »einen Handlungsraum, in dem sich die Menschen genötigt sehen, 302 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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Geschichte vorauszusehen, zu planen, hervorzubringen« (VZ 265). Koselleck unterscheidet diese Verfügbarkeit von der »Planung« oder »Machbarkeit« der Geschichte. Die Überlieferung ist ein stetes Angebot normativ-praktischer Orientierung. Die begriffliche Verfügbarkeit der Geschichte wird den Akteuren ohne ihr Zutun hermeneutisch geschenkt. Die Lehrhaftigkeit der Geschichte verlagert sich auf die fundamentale Einsicht in die Geschichtlichkeit aller Grundbegriffe und die Mahnung zu einem kritischen Umgang mit der Geschichte als Argument. Koselleck schickt Schmitt Vergangene Zukunft am 29. Februar 1979 (RW 265–8179) als »kleine Sammlung einiger Aufsätze«: »Sie enthalten Themen und Thesen, die eigentlich zu einem selbständigen Buch hätten zusammengefügt werden sollen.« Bereits diese Sammlung schließt mit Bemerkungen zur »Einseitigkeit von progressiven Interpretamenten«. Koselleck formuliert schon dort: »Die Historie kann das sich stets Wandelnde und Neue nur erkennen, wenn sie um das Herkommen weiß, in dem dauerhafte Strukturen verborgen sind.« (VZ 374) Mit der modernen Beschleunigungserfahrung entstehe das Bewusstsein von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeiten« (VZ 336). Die Sammlung Zeitschichten knüpft über zwanzig Jahre später daran an. Es lässt sich von einem Ergänzungsverhältnis beider Sammlungen sprechen: Kritisiert Vergangene Zukunft den unkritischen Einsatz von Indikatoren als Promotoren, so verteidigen die Zeitschichten den schwachen Restgehalt normativer Orientierung durch Überlieferung. Thematisiert Vergangene Zukunft den Geschichtsbegriff der Neuzeit, das »Axiom der Einmaligkeit aller Geschichte«, in seiner Eigenart als das unsagbar Andere der vergangenen Zeiten, so betonen die Zeitschichten die »Wiederholungsstrukturen« in der Neuzeit. In diesem Sinne fragt Koselleck: »Wie neu ist die Neuzeit?«; »Wieviel Schichten der überkommenen Geschichte« sind in ihr enthalten? Schien er in Vergangene Zukunft die geschichtsphilosophische Selbstauszeichnung der Neuzeit geschichtstheoretisch, qua Analyse ihrer grundbegrifflichen Semantik, zu akklamieren, so tritt mit den Zeitschichten die anthropologische Kritik der neuzeitlichen »Beschleunigung« von Geschichte deutlicher hervor, die Kritik und Krise, laut Untertitel eine »Pathogenese der modernen Welt«, schon erahnen ließ. Koselleck hält das »Modell der Krise als einer Letztentscheidung« (BG 216) angesichts der modernen Vernichtungsmittel und ökologischen Gefährdungslagen bis zuletzt auch unter Verweis 303 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XIX. · Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt: Reinhart Koselleck

auf Schmitts theologische »Katechon«-Figur noch nicht für überholt, konstatiert aber eine Inversion von Eschatologie in Utopie. Formulierte sich das religiöse Pathos früher als »Eschatologie«, so mutiert es heute in säkularer Sprache zur Utopie. Angesichts des Kalten Krieges und der marxistischen Linken bemerkt Koselleck eine Art Umschlag des »theologischen« Überschusses aus der Eschatologie in die Utopie. Stand in »theologisierten« Zeiten die kritische Limitierung des eschatologischen Pathos an, so ist es in den säkularisierten Zeiten nun der Utopieüberschuss. Am 26. Juli 1978 (RW 265–8176) schreibt Koselleck anlässlich Schmitts 90. Geburtstag: »Es gehört sicher zu den schwersten Fragen, die uns in der ganzen Geschichte gestellt wurden, wo diese Grenzlinie zwischen Utopie und Eschatologie 21 zu ziehen sei. Denn in der gläubigen Aktion unterscheiden sich die beiden Einstellungen kaum noch. Die wahre Unterscheidung liegt diesseits und jenseits der politischen Handlungseinheiten. Aber was bleibt dann? Die rationale Anerkennung des Feindes ist wohl die einzige Ein[.]ung in der Politik, die nicht utopisch sein kann. Aber taucht sie nicht erst auf, nachdem die eschatologischen Motive aus dem politischen Verhalten verdrängt worden sind?«

Koselleck plädiert hier für eine rationale Theorie der Entideologisierung und für einen analytischen Gebrauch der »Politischen Theologie« als Methode der Politikbegrenzung und kritischer Analyse ideologischer Überspannungen des Politikbegriffs. 22 Er liefert gewissermaßen eine politisch-theologische Variante von Ritters Thematisierung der Schere von »Herkunft und Zukunft«. Statt der herkunftsorientierten Eschatologie thematisiert er die zukunftsversessene Utopie. Zwischen Eschatologie und Utopie sucht er das Maß der Gegenwart. Eine leichte begriffliche Wendung, und Schmitts eschatologische Politische Theologie ist kritisch fruchtbar und begrifflich unscheinbar gemacht. Koselleck betont die permanente Anstrengung einer Sinndeutung von Geschichte in der Spannung von »Erfahrungswandel und Methodenwechsel«. Seine geschichtstheoretische Frage nach den Koselleck ist hier angeregt von Hanno Kesting, Utopie und Eschatologie. Zukunftserwartungen in der Geschichtsphilosophie, in: ARSP 40 (1954), 202–230; dazu vgl. Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, Berlin 1993, 270 ff., 224 ff. 22 Dazu programmatisch vgl. Henning Ottmann, Politische Theologie als Herrschaftskritik und Herrschaftsrelativierung, in: Manfred Walther (Hg.), Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des politisch-theologischen Komplexes, Baden-Baden 2004, 73–83 21

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»Bedingungen möglicher Geschichte« führt ihn zur Frage nach den Grenzen sinnhafter Erfahrung von Gewalt. Als Teilnehmer und Zeuge des Zweiten Weltkrieges untersucht er den Totenkult als einen Versuch, »dem gewaltsamen Tod einen Sinn abzugewinnen« (ZS 276). Einen ersten Aufsatz dazu »überreicht« er Schmitt noch persönlich am 21. September 1979, der den Sonderdruck auch intensiv durcharbeitete (RW 265–27720). Koselleck resümiert, »dass der Tod nicht mehr als Antwort, sondern nur noch als Frage verstanden wird, nicht mehr als sinnstiftend, nur noch als sinnfordernd.« (ZS 278; vgl. VZ 278 ff.) Die »absurde Geschichte« gehört heute zur »Negativitätserfahrung« (ZS 344 f.) der Epoche. Der letzte Stand der Theorie ist deshalb die Problematisierung der Erzählbarkeit erlebten Terrors: der Zweifel an der Möglichkeit, Geschichte auf den Begriff zu bringen und sich im Medium geschichtspolitischer Sinnstiftung mit der Geschichte zu versöhnen. Koselleck findet hier erneut ein ganz eigenes Thema. Dieses letzte Kapitel seines Werkes bearbeitet das »Trauma« vom »Terror« des Krieges, den Koselleck als deutscher Soldat erlebte. Eine traumatische Erfahrung zwingt zu ständigen narrativen Bearbeitungen, zum Erzählen von Geschichten, und verweist mit dem Zwang doch zugleich auf die Inkongruenz jeder Erzählung zum Erleben: auf die Sinnlosigkeit und Absurdität aller Bewältigungsversuche. Krieg und Tod lassen sich aus der Perspektive der Individuen letztlich nicht rechtfertigen; sie sind existentiell unverständlich. Jeder Versuch einer rechtfertigenden Sinngebung erweist sich dem traumatischen Leiden an der Erinnerung gegenüber als pure Ideologie. Koselleck lehnt deshalb auch jede »große« Meistererzählung als Ausflucht vor der individuellen Erfahrung ab. Deshalb verzichtet er auf geschichtspolitische Sinnstiftungen und Elogen auf die bundesrepublikanische Demokratie. Die eigene Moralität dieser Abstinenz wird im Rahmen geschichtspolitischer Üblichkeiten kaum verstanden. Die Kriegsgeneration war eine »skeptische« Generation. Sie verzichtete nach dem Terror der großen Ideologien auf neue Emphasen der Legitimierung von Politik. Das trennt sie von der jüngeren »Flakhelfergeneration« der um 1930 Geborenen, die in den 60er Jahren zu alternativen Sinngebungen aufbrachen und die neuere Staatsideologie der Bundesrepublik formulierten. Kosellecks moralische Antwort auf das Trauma des Krieges ist Skepsis gegenüber politischen Sinngebungen, das meditative »Eingedenken« der Opfer und die Insistenz auf der Sinnlosigkeit des gewaltsamen Todes. Die Absage an große Sinngebungen 305 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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ist ein Leitmotiv seines Werks. Sie begegnete Koselleck früh schon in Löwiths Kritik an den »theologischen Voraussetzungen« der universalistischen Geschichtsphilosophien und des Historismus. Und sie endet als Memento Mori des Krieges. Dieses Schlusswort scheint moralisch-politisch nun meilenweit fern von Schmitts Politischer Theologie zu sein. Dennoch gibt es auch hier kategoriale Nähen. Schmitt problematisierte das Verhältnis von Macht und Recht seit seinem Frühwerk. Stets verwies er auf die Gewalt als Grund des Rechts und die stete Möglichkeit des »Ausnahmezustand«. Er las alle Rechtfertigungen von »Todes- und Tötungsbereitschaft« politisch und verwies damit, wie Roellecke zeigte, 23 auf das unhintergehbare Faktum kontingenter Gewalt im Leben der Menschen. Diese normative Abstinenz von Schmitts »Existentialismus« und »Dezisionismus« wurde zwar oft kritisiert. Koselleck aber rezipierte sie positiv als moralische Infragestellung der Möglichkeit einer Rechtfertigung von Gewalt. Als Grund des Rechts lässt sich Gewalt nicht rechtfertigen. Sie ist schlechthin absurd und amoralisch, weshalb alle politischen Rechtfertigungsversuche letztlich scheitern. Nach dem »Zivilisationsbruch« standen die deutschen Historiker vor dem Scherbenhaufen ihres Geschichtsbildes. Nationalsozialistisch nicht belastete Historiker, wie Gerhard Ritter, suchten bestimmte Traditionen gegen pauschale Kritik zu verwahren. Selbst Schmitt, dem das Ethos der »Vergangenheitsbewältigung« oft bestritten wurde, reflektierte nach 1945 ständig auf den Nationalsozialismus und seine Rolle in ihm. Er warf sein Geschichtsbild aber nach 1945 nicht mehr grundstürzend um. Aus seiner ersten Schülergeneration repräsentiert Huber das Ethos der Revision der neueren deutschen »Verfassungsgeschichte«. Seine Geschichtsrevision lässt den eigenen Standpunkt aber bei aller Komplexität und Klarheit letztlich kaum erkennen. Der jüngere Koselleck dagegen steht nicht mehr in einer Tradition, die er verteidigen wollte. Zwar bezeichnet auch er sich, wie Schmitt, als ein »Besiegter«, der die herrschende Siegerhistorie skeptisch betrachtet. Eine seiner eindrücklichsten Studien ist diesem Problem gewidmet. Doch was wurde ihm genommen? Am ehesten wohl das Vertrauen in den »Kollektivsingular« eines vorgängigen transindividuellens Sinns »der Geschichte«. Koselleck verzichtete deshalb Dazu vgl. Gerd., Roellecke, ›Die Entscheidung über Krieg und Feind‹. Tötungs- und Todesbereitschaft, in: Verf. (Hg.), Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003, 93–110

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auf starke politische Optionen und insistierte auf der moralischen Perspektive der Opfer. So wuchs sein Werk aus der Problematik der deutschen Nachkriegshistorie heraus, angesichts der deutschen Geschichte überhaupt noch einen Stand in den Traditionen zu finden.

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Begriffsgeschichte als Begriffspolitik

Der Einfluss von Lehrern auf selbständige und bedeutende Schüler ist kaum zu fixieren. Er betrifft weniger Abhängigkeiten als Absetzbewegungen und Gegenkonzepte. Er kennzeichnet eher den Stil und Geist eines Werkes als dessen buchstäbliche »Positionen und Begriffe«. Wohl jeder aufmerksame Leser entdeckt methodische, stilistische, thematische, begriffliche und positionelle Bezüge. Koselleck teilt mit Schmitt nicht zuletzt den begrifflichen Anspruch: Beide unterscheiden Begriffe von bloßen Worten durch ihren Durchgriff auf die Epochendiagnose. Betont Schmitt mehr die Formierung von Worten zu Begriffen im Rahmen einer »Metaphysik«, »Geistesgeschichte« oder »Politischen Theologie«, so stellt Koselleck die Indikation der Sozialgeschichte stärker heraus. Beide aber sehen beide Aspekte. Schmitt ist kein reiner Geistesgeschichtler, sowenig Koselleck nur Sozialhistoriker ist. Allerdings gab Schmitt seiner Wissenschaft einen politisch-polemischen und normativ-praktischen Sinn. Das scheint mit Kosellecks begriffsgeschichtlichen und geschichtstheoretischen Absichten unvereinbar. Denn Koselleck unternahm äußerste Anstrengungen, seinen Begriffsgebrauch historisch zu kontrollieren. Betrieb Schmitt »Begriffssoziologie« als »Politische Theologie«, so subvertierte Koselleck diese Zielsetzung historisch. Deshalb ließe sich zunächst von einem prononcierten Gegenkonzept sprechen. Demnach führte Koselleck die Auseinandersetzung mit Schmitts Werk zu einer dezidierten begriffsgeschichtlichen Kritik aller Bewegungsund Kampfbegriffe. Ohne die Auseinandersetzung mit Schmitt hätte Koselleck sein Geschichtsbild kaum so konsequent von allen direkten politischen Konnotationen befreit. Sein Werk ist das hohe Muster eines geschichtlich reflektierten Begriffsgebrauchs. Mehr noch als die moderne »Sozialgeschichte«, die Koselleck aufnahm, ist Schmitts »Politische Theologie« deshalb das Kontrastprogramm. Doch es wurde schon betont, dass auch sein Werk nicht ohne praktischen Appell ist. Schon seine Lehre vom Begriff schließt dies aus, denn alle prägnanten 307 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XIX. · Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt: Reinhart Koselleck

historischen Grundbegriffe sind als »Indikatoren« zugleich »Faktoren« möglicher Geschichte. Der anthropologische Blick auf die Zeitschichten hat einen konservativen Appell. Die letzten Begriffsgeschichten argumentieren deshalb auch recht deutlich für föderale Strukturen und liberale Traditionen der »bürgerlichen Gesellschaft«, für »Aufklärung« und Bürgerlichkeit. Koselleck wertet die bürgerliche Revolution von 1848, verglichen mit Schmitt, positiv um. Er beruft sich insbesondere auf die »Gleichberechtigung« als »konkrete Zielbestimmung eines universalen Minimalkonsenses« (BG 199) und setzt in einer Studie »Feindbegriffe« auf Überwindung von Feindschaft durch sprachliche Verständigung (BG 283 f.). Anders als Schmitt zieht Koselleck sich zwar aus der Gegenwart stärker auf die »Sattelzeit« zurück, wenn er auch einige Beiträge zur neuesten Geschichte schrieb; geschichtspolitisch tritt er aber dem neuzeitlichen »Traditionsbruch« (ZS 324) mit dem Hinweis auf die anthropologische Bedeutung von »Wiederholungsstrukturen« entgegen. Die geschichtsphilosophische Frage nach dem »Sinn« der Geschichte ersetzt er nach seiner traumatischen Erfahrung der Sinnlosigkeit von Krieg und Gewalt durch die anthropologische und pragmatische Rechtfertigung permanenter »Sinngebung des Sinnlosen« qua historischer Narration. Dieser Appell des Werkes ließe sich wissenschaftsgeschichtlich mit anderen geisteswissenschaftlichen Konzeptionen nach 1945 vergleichen: mit Gadamers Idee einer »Horizontverschmelzung« im Streit um Antike und Moderne etwa oder Gehlens Hinweis auf die Bedeutung stabilisierender Institutionen. In Lübbes Terminologie rückübersetzt, könnte man von einem Konzept von »Gegenaufklärung« sprechen. Vielleicht ist Kosellecks Werk die jüngste und elaborierteste Spielart der »Kompensationstheorie«, die die Aufgaben der Geisteswissenschaften in die Aufklärung der Gegenwart über die Kosten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts setzt. Koselleck rechnet sich dieser Kompensationstheorie aber nicht zu. Davon unterscheidet ihn schon sein »anthropologischer« Anspruch. Dass Koselleck, anders als Heidegger und Gadamer, eine »Anthropologisierung« (ZS 100) anstrebt, verbindet ihn mit Löwith. Denn Löwith lehnte Heideggers Ontologie als Ideologisierung eines »ontischen« Existenzideals ab und las sie als Anthropologie. 24 Den Anschluss an Dazu schon Karl Löwith, Phänomenologische Ontologie und protestantische Theologie (1930), in: ders., Aufsätze und Vorträge 1930–1970, Stuttgart 1971, S. 9–40; vgl.

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Heidegger formuliert Koselleck prägnant: »Der Weg von der Endlichkeit des Daseins zur Zeitlichkeit der Geschichte wird von Heidegger zwar aufgewiesen, aber nicht weiter verfolgt.« (ZS 299) Thesenhaft verkürzt lässt sich sagen: Von der philosophischen Anthropologie übernimmt Koselleck die Voraussetzung narrativer Sinngebung und Rechtfertigung von Geschichte. Er führt diesen Ansatz aber historisch durch, verzeitigt alle philosophischen Ansprüche und abstrahiert nur wenige universalgeschichtliche Kategorien. Der Rekurs auf »Anthropologie«, Grenzen möglicher Kompensation von Sinnlosigkeitserfahrungen, ist nur ein normativ-kritischer Appell, der sich ähnlich bei Schmitt findet. Zwar hat sein Werk andere Erfahrungsgründe und eine eigene Integrität, es formuliert aber eine Art »Modernisierungstheorie« (Dipper) in modernitätsskeptischer Absicht. Früh schon teilte Koselleck Schmitts politische Deutung philosophischer Ansprüche als »Waffen« im »Weltbürgerkrieg«. Später unterschied er seine analytische Geschichtstheorie von der normativ-praktischen, politischappellativen Geschichtsphilosophie. Seine Auseinandersetzung mit Schmitt schärfte die begriffsgeschichtliche Kritik ideenpolitischer Zielsetzungen. Diese Reflexion normativer Ansprüche führte zu neuen Formeln und Begriffen, die eine eigene ideenpolitische Kraft entzünden. Der kompensatorische und politisch-praktische Sinn dieser Begriffsbildungen ist heute in der »Metapher« der »Zeitschichten« greifbar. Koselleck löst die Zweideutigkeit von Schmitts Werk zwischen Theorie und Praxis nicht in Richtung Begriffsgeschichte und Theorie auf, sondern bestätigt den fundamentalen Praxisbezug aller Begriffe: Begriffsgeschichte ist unvermeidlich reflektierte Begriffspolitik und umgekehrt. Je prägnanter jemand Geschichte auf den Begriff bringt, desto leichter entzündet er bedeutsame Wirkungen und Gegenbegriffe. Die begriffene Geschichte drängt zu Gegengeschichten. Mit Schmitt gesprochen, wird der »Aufhalter« zum »Beschleuniger wider Willen«. Für Koselleck ist die entwickelte Geschichtstheorie fundamental praxisbedeutsam; sie erinnert die begrifflichen Alternativen praktischer Orientierung. Der Vergleich mit Schmitt schärft den Blick für Kosellecks begriffliche Ansprüche und politische Implikationen. Im begrifflichen Anspruch liegt die eigentliche Herausforde-

auch Reinhart Koselleck, Vorwort zu: Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart 1986, IX-XV

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XIX. · Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt: Reinhart Koselleck

rung. Eine schwache Lesart der Geschichtlichen Grundbegriffe als wortgeschichtliches Lexikon und Steinbruch für Zitate lag jedenfalls gewiss nicht in Kosellecks Absicht.

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XX. Nemo contra theologum nisi theologus ipse. Carl Schmitts Antwort auf Erik Peterson

In der Festschrift für Erwin von Beckerath erinnert sich Edgar Salin rückblickend an akademische »Käuze und Bösewichter«. Salin schreibt: »Als Prototyp der Käuze will ich Erik Peterson nennen, diesen ordentlichen Professor der evangelischen Theologie in Bonn, der durch die intensive Durchforschung des Urchristentums und durch den Einfluss eines (offiziell katholischen, in Wirklichkeit urheidnischen) Freundes zum Katholizismus übertrat, die Professur aufgab, nach Rom zog, eine schöne Römerin heiratete und eine Fülle von prächtigen Büchern und Kindern produzierte. Ich gedenke mit Wehmut unsrer stillen Trinkstunden in der Bonner Weinstube und unseres letzten Wiedersehens in Basel kurz vor seinem Tod. Der Freund, der Petersons Konversion in langen Diskussionen erleichterte, war der böse Dämon von Universität und Politik in diesen Jahren, war Carl Schmitt. Er ist verdientermaßen heute verfemt; denn geistige Missetaten wie die seinen wiegen mindestens so schwer wie die Morde geborener Verbrecher. Aber geziemt es sich nicht für uns, dass wir dessen gedenken, wie oft wir uns an seinen geschliffenen Reden erfreuten, wie gern wir mit ihm diskutierten, wie er uns als einer der ganz wenigen erschien, dessen politische Bildung und dessen juristische Schärfe jedes Gespräch bereicherte und würzte? Ich stehe gewiss nicht im Verdacht, dass ich etwas zugunsten des Halbirren sagte, der 1936 die deutsche Rechtswissenschaft zerstörte, 1 oder zugunsten des eitlen Monomanen, der den großen Bodinus als seinen »Bruder im Geiste« 2 bezeichnete, – der wilde Antisemit instinktlos den Maranen … Aber gab es nach dem allzu frühen Tod von [Karl] Rothenbücher einen Staatsrechtslehrer von Rang und von der Intensität dieses politischen Chamäleons und hatten lautere Charaktere wie [Gerhard] Anschütz oder [Gustav] Radbruch das gleiche Gespür für den Umbruch der Welt? Wir ha-

Salin meint hier Carl Schmitt, Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist, in: Deutsche Juristen-Zeitung 41 (1936), 1193–1199. 2 Salin meint folgende Äußerung: »Heute bin ich [in Lagerhaft] auf mein Gedächtnis angewiesen. Aber die Gedanken und Formulierungen der beiden [Hobbes und Bodin] sind mir geläufig, wie die Denk- und Redeweise eines Bruders.« (ECS 64) 1

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XX. · Carl Schmitts Antwort auf Erik Peterson

ben uns zeitweise in den Schlingen des Dämons verfangen; aber es gebührt sich, dass wir auch zu unseren Schwächen stehen.« 3

Salin hat Schmitt in dessen Bonner Jahren recht gut gekannt. Für einen Theologen wie Peterson war die Rede vom »Dämon« auch keineswegs bloß rhetorisch. Zum Verhältnis von Peterson und Schmitt ist in den letzten Jahren schon vieles gesagt worden. 4 Die lückenhaft erhaltene Korrespondenz wurde mir durch Barbara Nichtweiß zugänglich gemacht. Ich ergänze das Bild durch weitere Tagebücher, Materialien und das Handexemplar der Politischen Theologie II, Schmitts Handexemplare von Petersons Schriften sowie die Korrespondenz mit Alfred Schindler. Auch der Briefwechsel mit Jacob Taubes und späte Bemühungen um eine Politische Theologie III berühren den Schmitt-Peterson-Komplex.

1.

Biographische Annäherung: Dissens über Judentum

In den ersten Bonner Jahren pflegte Schmitt aus der Reihe der Theologen insbesondere mit Wilhelm Neuss Umgang. Die Tagebücher belegen regelmäßige freundschaftliche Begegnungen. Die Beziehung wurde aber durch Schmitts Ehe-Skandal belastet. Schmitt hatte eine Halbweltdame mit betrügerischen Identitätsangaben geheiratet und prozessierte 1924/1925 in zwei Instanzen vergebens um die kirchliche Ungültigkeitserklärung seiner Ehe. In katholischen Kreisen war sein Ruf dadurch sehr belastet. Neuss schied auch deshalb wohl aus dem Kreis der engeren Freunde aus und Peterson übernahm gleichsam die Vakanz des theologischen Gesprächspartners. Schmitt betrachtete ihn bald als seinen »besten« Freund (CSRS 47) und überschlug sich mit begeisterten Aussagen. So schrieb er schon im Edgar Salin, in: System und Methoden in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Erwin von Beckerath zum 75. Geburtstag, Tübingen 1964, 13–17, hier: 16 f. 4 Alfred Schindler (Hg.), Monotheismus als politisches Problem? Erik Peterson und die Kritik der politischen Theologie, Gütersloh 1978; zur Gewalt des Monotheismus jetzt Jan Assmann, Gotteszorn und Apokalypse. Über den Ernstfall totaler Religionen, in: Idee. Zeitschrift für Ideengeschichte 6 (2012), Heft 3, 67–82; vgl. Barbara Nichtweiß, Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, Freiburg 1992; dies. Hg., Vom Ende der Zeit. Geschichtstheologie und Eschatologie bei Erik Peterson, Münster 2001; Michele Nicoletti, Erik Peterson und Carl Schmitt, Wiederaufnahme einer Debatte, in: Giancarlo Nicoletti (Hg.), Erik Peterson. Die theologische Präsenz eines Outsiders, Berlin 2012, 557–580 3

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Biographische Annäherung: Dissens über Judentum

Dezember 1924 an Feuchtwanger: »Hier ist ein ganz ausgezeichneter, junger protestantischer Theologe, Erik Peterson, als Gelehrter und als Mensch gleichermaßen vortrefflich, ein weißer Rabe also.« (CSLF 104 f.) Später schiebt er nach: Peterson »kennt die ersten christlichen Jahrhunderte gut, ist ein hervorragender Gelehrter (Archäologie), neben [Karl] Eschweiler der einzige Theologe, der unter meinen Bekannten diesen Namen verdient und ein ungewöhnlicher Mensch.« (CSLF 155) Er schreibt auch: »Er ist einer der wenigen großen Gelehrten, die es heute gibt und Harnack weiß wohl, was er tut, wenn er sich so um ihn bemüht.« (CSLF 162) Die Bonner Freundschaft beginnt sofort mit Petersons Ankunft im November 1924. Peterson hatte Schmitts Essay Römischer Katholizismus und politische Form gelesen und nahm deshalb vielleicht selbst den Kontakt auf. Die Beziehung wird schnell innig. Beide treffen sich häufig und sitzen im Weinhaus zusammen. Peterson wird 1926 auch Schmitts Trauzeuge. Nachdem Schmitt dann zum Sommersemester 1928 nach Berlin wechselte, trifft er ihn weiter öfters in Berlin. Seine späteren Tagebucheintragungen werden nun aber etwas ambivalent. Offenbar gab es eine Kontaktpause, denn Peterson schreibt am 3. August 1930: »Schon lange habe ich nichts mehr von Ihnen gehört und doch habe ich viel an Sie gedacht«. Am 24. Oktober teilt Peterson seine Ernennung zum Honorarprofessor mit. Erst danach kann er konvertieren. Am 24. November 1930 ruft er Schmitt an, »weil er konvertieren will. Nett unterhalten, aber er war oft peinlich, wenn er über Mann und Weib und Gott und Welt dozierte und grauenhafte Banalitäten sagte. Dabei immer große Liebe zu ihm und Gefühl der alten Knabenfreundschaft« (TB 1930/34, 60). Das Wort von der »Knabenfreundschaft« spielt auf die Bonner Junggesellenzeit an. Am 17. Dezember 1930 teilt Peterson mit, er werde »voraussichtlich in den Weihnachtstagen in die Kirche aufgenommen«. Schmitt notiert dazu ins Tagebuch: »Peterson schrieb heute, wird voraussichtlich in Rom zur katholischen Kirche übertreten; voraussichtlich. Kein angenehmer Eindruck, trotzdem tief bewegt; mein Katholizismus erwachte.« (TB 1930/34, 71) Am 7. März 1932 schlägt Peterson vor, eine gemeinsame Romreise zu machen. Vom 20. bis zum 31. März 1932 reisen beide dann tatsächlich nach Rom und sind ständig zusammen. Damals unterhalten sie sich auch über die eschatologische Rolle des Judentums. Schmitt schreibt an Peterson: »Die Juden sind heute keine Feinde mehr; menschlich gesprochen ist das ein guter Grund, sie zu ver313 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XX. · Carl Schmitts Antwort auf Erik Peterson

abscheuen; nicht einmal in Palästina wissen sie heute, wohin sie gehören« (TB 1930/34, 408). 5 Im Gespräch meint er damals: »Die Juden sehen nichts.« (TB 1930/34, 409) Diese römischen Gespräche waren für Petersons Salzburger Vorträge über Die Kirche aus Juden und Heiden sicher nicht unwichtig. An Karl Eschweiler schreibt Schmitt am 7. Mai 1933 dann: »Das Hakenkreuz ist zur Zeit die einzige Form des Kreuzes, vor der die Juden noch Angst haben. Das genügt mir auch theologisch. Es kommen jetzt die Heidenchristen an die Reihe. Die Gottesmorde der Juden werden sich wiederholen; das ist die imitatio der Juden. Was sagen Sie zu Peterson: Jude oder Heide? Er drückt sich.« (TB 1930/34, 438)

Schmitt prüfte damals die alte Bonner Beziehung nach Petersons Konversion erneut in ihrer Substanz und stellte fest, dass er politisch nicht mehr übereinstimmte und ihn das theologische Deutungsmuster auch nicht mehr ansprach. Demnach ist der Versuch der Erneuerung der Freundschaft nach 1930 fehlgeschlagen und die Beziehung schon 1932/33 grundsätzlich gebrochen. Im Sommer 1933 distanziert Peterson sich mit seinem Hochland-Aufsatz Kaiser Augustus im Urteil des antiken Christentums schon ausdrücklich von Schmitt. Das erklärt auch die Polemik von 1935, auf die Schmitt später replizierte. Zweifellos haben sich beide aber schon vor 1933 über die eschatologische Rolle des Judentums intensiv unterhalten. Sie wird einer der ersten und wichtigsten Kontroverspunkte in ihren eschatologischen Spekulationen um den »Aufhalter« gewesen sein.

2.

Kooperative Interessen

Die Bonner Freundschaft trifft in eine biographische Umbruch- und Krisensituation. Schmitt war damals bereits mit seiner späteren zweiten Frau Duschka liiert, lebte aber à la Bohème als Junggeselle und verkehrte viel in Lokalen und Restaurants. Peterson lebte damals, wie Barbara Nichtweiß 6 ausführte, ähnlich verschwenderisch. Schmitts Bruch mit der katholischen Kirche korrespondierte Petersons Abwendung von der protestantischen Kirche. Oft wurde angenommen, dass Schmitts Brief vom 6. März 1932 ist nur im Entwurf des Tagebuches erhalten. Barbara Nichtweiß, Auf Widerruf gestundete Zeit: Erik Peterson in Bonn, in: Michael Meyer-Blanck (Hg.), Erik Peterson und die Universität Bonn, Würzburg 2014, 27–59

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Kooperative Interessen

Schmitt Petersons Konversion zum Katholizismus mit verursacht habe. Buchstäblich ist das sicher falsch: Sie hatte einen langen Vorlauf und als Peterson dann 1930 konvertierte, hatte Schmitt längst mit der katholischen Kirche gebrochen. Die Korrespondenz belegt aber, dass die theologische Begründung der Kirche beide von Anfang an beschäftigte. Schmitt und Peterson befanden sich aber nicht nur mit ihren Kirchen in einer polemischen Auseinandersetzung und Abwendungsbewegung, sondern sahen sich auch in ihren Fächern als Außenseiter an. Beide richteten sich gegen das »liberale« Erbe des 19. Jahrhunderts: den Historismus und Positivismus, und entwickelten eine neue Systematik und Dogmatik. Dabei argumentierten sie thetisch-apodiktisch, definitorisch und auch polemisch. Die systematische Aufgabe war freilich divers: Während Schmitt das »System« seiner Verfassungslehre erarbeitete – die Bonner Freundschaft mit Peterson fällt in die Ausarbeitungszeit dieser Theorie –, suchte Peterson in scharfer Kritik an der »liberalen« und auch der »dialektischen« Theologie die Dogmatik zu erneuern. Petersons Bonner Antrittsrede Was ist Theologie? lässt sich als Programmschrift mit Schmitts Politischer Theologie von 1922 parallelisieren. Kinzig 7 unterschied zwischen einem »induktiven« und einem »doktrinären« Weg Petersons. Der Historismus wurde damals allgemein als problematischer Relativismus empfunden. Seine Überwindung war ein gemeinsames Anliegen von Größen wie Dilthey, Troeltsch, Jaeger und anderen. Petersons Sprung auf der Spitze des Historismus in eine neue Dogmatik und einen neuen »Glauben« hatte gewiss verschiedene Motive: Wie Meyer-Blanck 8 ausführte, war er ein sehr zeitgeistiger expressionistischer Negativismus und Überbietungsversuch Barths; es entsprach gewiss auch der Aufgabe und Rolle eines akademischen Ordinarius, feste Positionen im Fach vertreten zu sollen. Petersons Sprung in die Dogmatik traf sich mit Schmitts Programmatik und Arbeit am »System« einer politisch-theologischen Verfassungslehre. Schmitt wollte die Verfassungslehre gegen Anschütz und Kelsen als metapositives System erneuern, so wie Peterson die dogmatische Theologie gegen Harnack und Barth neu zu begründen versuchte. Vielleicht lässt sich sagen, dass Peterson die Wolfram Kinzig, Peterson als Patristiker in der Bonner Zeit, in: Peterson und die Universität Bonn, 145–180 8 Michael Meyer-Blanck, Bonn und die Petersonforschung, in: Peterson und die Universität Bonn, 7–26 7

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XX. · Carl Schmitts Antwort auf Erik Peterson

überlieferte »liberale« Synthese von Dogma und Geschichte in die Pole eines radikalen Historismus und antiquarischen Positivismus einerseits und eines dogmatischen und thetischen Neuansatzes andererseits zerriss. Er entwickelte seine Dogmatik als »polemische Position« (Meyer-Blanck). Nachdem er den Historismus in die radikale Quellenkritik und Stoffsammlung hinein getrieben hatte, sprang er gleichsam in eine neue Axiomatik und Doktrin und suchte die Geschichte von einem neuen Kirchenbegriff her zu fassen. Dieses thetische Vorgehen muss nicht vormodern und unkritisch erscheinen. Es lässt sich auch von radikalem Kritizismus, Konstruktivismus und (dogmatischem) Normativismus sprechen. Bei Schmitt liegen die Dinge ähnlich. Auch er sortierte sein Fach von starken Begriffen her neu. Nach seiner Politischen Theologie erforderte dieses Anliegen eine kooperative Arbeit: die begriffsgeschichtliche und systematische Disjunktion theologischer und politischer Begriffe. Schmitt schrieb in seiner Politischen Theologie bekanntlich: »Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.« (PT 49) »Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet.« (PT 60 f.) Peterson analysierte mehr den theologischen Gebrauch politischer Begriffe und zielte dabei über die Feststellungen von Bedeutungsverschiebungen hinaus auf die strikte Disjunktion. Wie Kelsen die Rechtslehre ideologiekritisch von »metaphysischen« Relikten purgieren wollte, erstrebte Peterson den souveränen theologischen Gebrauch und suchte den Nachweis, dass die Kirchenväter Theologie und Kirche vom römischen Herkunftskontext emanzipierten. Schmitt hatte eine Begriffsgeschichte der Diktatur erarbeitet. Material begegneten sich beide deshalb auch im Begriff der »Akklamation«. Schmitt zitierte Peterson aber nur selten, weil dessen Publikationen erst nach dem Bruch mit der Kirche erschienen. Seine erste und wichtigste Erwähnung ist eine Referenz zum Begriff der Akklamation: 9 »Eine grundlegende, in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung weit über den Rahmen ihres Sonderfaches hinausgehende Untersuchung von Erik Peterson hat für die ersten christlichen JahrhunderCarl Schmitt, Volksbegehren und Volksentscheid. Ein Beitrag zur Auslegung der Weimarer Verfassung und zur Lehre von der unmittelbaren Demokratie, Berlin 1927, 34

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Petersons eschatologischer Ansatz

te die acclamatio und ihre Formen beschrieben.« Damit holte Schmitt Peterson aus dem »Sonderfach« Theologie heraus. Die jeweiligen systematischen Aufgaben erzwangen die Kooperation im Forschungsfeld der »Politischen Theologie« geradezu. Beide konnten sich hier einander komplementär ergänzen. Wiederholt fragte Schmitt nach theologischer Literatur. Noch in den letzten Briefen zum »Leviathan« antwortete Peterson als Experte.

3.

Petersons eschatologischer Ansatz

Petersons Bonner Antrittsrede Was ist Theologie? war für Schmitt ein Gründungsdokument verbindender Interessen und Freundschaft. Peterson bringt sie aus Göttingen mit nach Bonn. Die Entstehung von Petersons kritischer Salin-Rezension scheint dann von Schmitt direkt angeregt zu sein. Der Rezension gingen kritische Vorbehalte gegen Peterson voraus: Salin schreibt am 20. Juli 1925 an Schmitt: 10 »Dies und dies allein ist echte Theologie. Aber ich frage mich und frage Peterson: wie ist dann protestantische Theologie überhaupt möglich? Ohne Offenbarung und Dogma keine Theologie – damit könnte noch Calvin sich zur Not abfinden – aber Luther? Sie verstehen mich recht: ich habe kein Interesse an der Aufrechterhaltung protestant. Theologie – aber sie ist eine Tatsache, deren Bedeutung umso stärker hervortritt[,] wenn es ein protest. Theologie ist[,] der ihr den Lebensfaden abschneidet – und wüsste daher gerne seine Antwort.«

Schmitt antwortet darauf am 26. August 1925 aus Dubrovnik: »Was Peterson betrifft, so ist er alles weniger als ein römischer Katholik. In seinem Vortrag steht nicht ein Wort, das nicht jeder anglikanische, jeder jansenistische, jeder griechisch-orthodoxe Theologe akzeptieren würde. Es ist nur für den Protestantismus interessant, dass er keinen Kirchenbegriff mehr hat und von den selbstverständlichsten Voraussetzungen einer christlichen Theologie nichts mehr weiß. Als Jurist hoffe ich, dass die protestantischen Theologen durch die Notwendigkeit, den Religionsunterricht von irgendeinem anderen Unterricht moralischen oder geschichtlichen Inhalts zu unterscheiden (welche Notwendigkeit sich aus art. 149 I der Weimarer Verfassung ergibt) zum Verständnis für die Kategorie ihrer Existenz gezwungen werden. Auch die Veränderung des Problems Staat und Kirche, die sich mit der partei-parlamentarischen Methode ergibt, wird den Menschen allmählich bewusst werden, so dass auch alte Konsistorialräte und 10

In: Schmittiana III N.F. (2016), 62

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prä-leninische Liberale begreifen, dass alles, was im alten Beamtenstaat galt, im heutigen Parteienstaat sich ändert, vor allem aber das Pathos des Verhältnisses von Staat und Kirche.«

Schmitts scharfe Worte sind einigermaßen überraschend. Hatte Peterson damals wirklich noch keinen Kirchenbegriff? 11 Sein spirituelles Bemühen um Schmitt ist jedenfalls überall sichtbar. Peterson verbürgte dem entsprungenen Katholiken seine katholische Integrität und Spiritualität. Die kritische Auseinandersetzung mit der Kirche verband beide miteinander. Das knappste Dokument verwandter dogmatischer Überlegungen ist Petersons kurze Schrift Die Kirche von 1929. Wenn sie nicht direkt Kategorien Schmitts aufnimmt, liegen jedenfalls große Übereinstimmungen vor. Was ist Theologie? trennte christliche Theologie und Dogmatik vom heidnischen »Mythos« ab. Die Kirche unterschied dann Synagoge und Ekklesia. Peterson schreibt: »Kirche gibt es nur unter der Voraussetzung, dass die Juden als das von Gott erwählte Volk nicht an den Herrn gläubig geworden sind. Zum Begriff der Kirche gehört, dass sie wesentlich Heidenkirche ist.« 12 (TT 247)

Die Abgrenzung von der Synagoge findet sich in Schmitts frühen Schriften zur »Sichtbarkeit« und »politischen Form« der Kirche zwar nicht; Peterson teilt mit Schmitt aber die scharfe eschatologische Fassung des Kirchenbegriffs. Auch Schmitt machte die »Parusieverzögerung« zum Ausgangspunkt seiner institutionellen Betrachtung der Kirche. 1917 meinte er schon zur kirchlichen Vermittlung: »Wenn der Christ der Obrigkeit gehorcht, weil sie – Grund und Grenze – von Gott ist, so gehorcht er Gott und nicht der Obrigkeit. Das ist die einzige Revolution der Weltgeschichte, die das Prädikat einer großen verdient: das Christentum hat der weltlichen Obrigkeit durch seine Anerkennung eine neue Grundlage unterschoben. Der ungeheure Vorbehalt […] wirkt auf Historiker wie eine ›eigentümliche Mischung von Radikalismus und Konservatismus‹ (Troeltsch).« 13

Schmitt unterscheidet 1917 bereits deutlich zwischen der »sichtbaren« und der »offiziellen« Kirche, betont die mögliche »InkongruDazu vgl. Erik Peterson, Ekklesia. Studien zum altchristlichen Kirchenbegriff, Würzburg 2010 12 Petersons Sammlung Theologische Traktate wird hier nach der Ausgabe von Barbara Nichtweiß zitiert: Ausgewählte Schriften Bd. I, Würzburg 1994 (Kürzel: TT) 13 Carl Schmitt, Die Sichtbarkeit der Kirche. Eine scholastische Erwägung, 1917, Wiederabdruck in: ders., Die Militärzeit 1915–1919, Berlin 2005, 445–452, hier: 447 11

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Petersons eschatologischer Ansatz

enz von konkreter und sichtbarer Kirche« 14 und rechnet mit der Möglichkeit, dass der »Antichrist Papst« wird. Eine »Religion materieller Handgreiflichkeit« lehnt er ab. Seine »scholastische Erwägung« von 1917 ist seine stärkste »theologische« Rechtsbegründung; der bekanntere Essay Römischer Katholizismus und politische Form verklärt 1923 dagegen die »politische Form« und Haltung der Kirche schon leicht ironisch im Moment des eigenen Rechtskonflikts mit der Kirche. Peterson schreibt: »Kirche gibt es nur unter der Voraussetzung, dass das Kommen Christi nicht unmittelbar bevorsteht« (TT 248). Dieser Ausstand urchristlicher »Unmittelbarkeit« ist auch für Schmitt die Voraussetzung von Kirche und Staat. Wie Peterson unterscheidet er zwischen der unmittelbaren oder »konkreten Eschatologie« und der »heidenchristlichen« Kirche. Peterson entwickelt seinen ganzen Kirchenbegriff in der Abgrenzung vom Judentum. Dabei unterscheidet er zwischen der apostolischen Kirche und Paulus. Seine scharfe Betonung der Legitimität, Rechtsnachfolge und Rechtsgestalt sprengt wohl 1929 schon den protestantischen Kirchenbegriff: »Nicht die unsichtbare Kirche ist ein Gegenstand des Glaubens, sondern nur die sichtbare Kirche« (TT 252). Das war für Schmitt als Katholik selbstverständlich. Mit Paulus betonte er später aber auch gegen Peterson das Recht auf Laientheologie: »Paulus Der Dreizehnte«, notierte Schmitt und zitierte Paulus 1 Kor. 15: »Ich bin der geringste unter den Aposteln, der ich nicht wert bin, dass ich Apostel heisse. Aber vor Gottes Gnade bin ich was ich bin.« Peterson meinte 1926 in seinen Bonner Ekklesia-Vorträgen: Paulus »gehörte nicht zu den Zwölfen und zum Kreis der Jerusalemer. Dass er als der Dreizehnte neben die zwölf Apostel zu treten wagt, bleibt, wie ich meine, solange unverständlich, als man nicht das Nebeneinander von Heiligem Recht und Kirchenrecht in der Alten Kirche erkannt hat. […] Nur als Durchbrechung der kirchenrechtlichen Ordnung existiert der paulinische Apostolat.« 15

In seiner Römer-Vorlesung nannte Peterson Paulus einen Ausnahme-Apostel: »Paulus ist nicht Apostel schlechthin, sondern als Dreizehnter Apostel in der Form der Ausnahme. Er ist gerufener Apostel,

Schmitt, Die Sichtbarkeit der Kirche, 450 Erik Peterson, Ekklesia. Studien zum altchristlichen Kirchenbegriff, Würzburg 2010, 63 f.

14 15

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zu den Zwölfen hinzugerufener Apostel.« 16 Schmitt betrachtete das als charismatische Erhöhung und Erwählung. Sein ständiger Hinweis auf Paulus will daran erinnern, dass Peterson die paulinische Unmittelbarkeit zwar selbst vertrat, seine Dogmatik jedoch andererseits in der grundlegenden Schrift Die Kirche für das Publikum mehr auf die Zwölfe bezog. 1933 führte Peterson seine Verhältnisbestimmung von Synagoge und Ekklesia durch seine Unterscheidung zwischen einem »natürlichen« und einem »pneumatischen« Volk Gottes weiter. Peterson sprach vom »eschatologischen Langmut Gottes« (TT 155): »Gott wartet immer noch auf die Bekehrung der Synagoge.« (TT 155). »Der Unglaube Israels ist temporär.« (TT 168) In eschatologischer Perspektive sei »die endgültige Bekehrung der Juden in Aussicht gestellt« (TT 166). Der »Unglaube« und »Ungehorsam« des Judentums halte zwar die Wiederkehr des Heilands und das Ende der Welt auf. Auch Israel gehörte aber zum Volk Gottes. Die »Judenchristen« sind gerettet und das »versteinerte Israel« ist im Heilsplan. Peterson wünschte die Bekehrung Israels und nahm den Antijudaismus in seine eschatologischen Spekulationen auf. Schmitts Judenfeindschaft geht über einen christlich-theologischen Antijudaismus hinaus und muss als säkularer Antisemitismus bezeichnet werden. Schmitts Haltung zum Holocaust ist nicht belegt. Sein eisernes Schweigen mag höchst problematisch und unbefriedigend sein, lässt sich aber auch als Tabuisierung eines radikal unverständlichen und unmenschlichen Geschehens deuten. Das Schweigen meidet inkongruente Worte. Ähnlich wie Peterson hätte Schmitt zwar zwischen der christlichen Gerechtigkeit aus dem Glauben und der jüdischen »Gerechtigkeit aus dem Gesetz« (TT 159) unterschieden und diverse Formen »jüdischer« Verkennung der Gerechtigkeit markiert. Gänzlich anders als Peterson sah er in der Konversion des Judentums aber kein »eschatologisches« Heil. Bei Peterson ist der jüdische »Ungehorsam« der eschatologische Aufhalter. Schmitt zielte nicht auf eine Bekehrung des Judentums; er identifizierte Juden primär nicht religiös. Schmitt dogmatisierte sein religiöses Geschichtsbild allerdings nicht und schrieb es eher kryptisch an den Rand seines Werkes. Auch seine Spekulationen zum »Aufhalter« und Verzögerer des »Antichristen« waren im doppelten Register von Normal- und Ausnahmezustand primär verfassungspolitisch disponiert. Schmitt antwortete 16

Peterson, Ekklesia, 64

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Petersons eschatologischer Ansatz

mit seinen Gesprächen auch nicht nur auf Peterson, sondern auf viele andere auch. Eine ständige Präsenz apokalyptischer Rede hätte seine juristische Rezeption geschwächt. Seine apokalyptische Deutung der Lage als Ausnahmezustand tritt in der Weimarer Endzeit und in den letzten Kriegsjahren aber markant hervor. 1932 rezipierte Schmitt den Ludus de Antichristo, ein mittelalterliches-Antichrist-Spiel, 17 zwar intensiv; er zitierte damals aber auch Vergils vierte Ekloge und Prognose von der Geburt eines neuen Weltherrschers. 1942 wechselte er für den epigrammatischen Schlussakkord seiner Publikationen von Vergil (Ab integro nascitur ordo) zu Hölderlin über und zitierte aus der späten Elegie Der Wanderer die tröstliche Botschaft der Natur: »Auch hier sind Götter und walten, / Groß ist ihr Maß.« Damit markierte er seinen Übergang aus der völkerrechtlichen in die weltgeschichtliche Betrachtung und signalisierte politischen Abschied vom Reich. In der Hellingrath-Ausgabe heißt es: »Aber du sprachst zu mir: auch hier sind Götter und walten, / Gross ist ihr Maas, doch es misst gern mit der Spanne der Mensch. / Und es trieb die Rede mich an, noch Andres zu suchen« (IV, 102). Hölderlins Wanderer kehrt vom »nördlichen Pol« in das »seelige Thal des Rheins« zurück und sucht als Fremder seine »Lieben«. Schmitt kündigt hier mit Hölderlin schon seine Rückkehr in seine westfälische Heimat an. Neben christlicher Apokalyptik zitiert er auch vorchristliche Regenerationsmythen von der Erneuerung der Welt und einer restitutio in integrum, wie sie Richard Wagner schon mit seinem Ring vertrat. 18 Auch hier legt Schmitt sich nicht auf eine Dogmatik fest. Schmitt konzentrierte sich in seiner späten Antwort auf Peterson, bekanntlich auf die Schrift von 1935, die er als polemischen Abbruch der Beziehung verstand. Der Bruch steht in der letzten Fußnote: Der Begriff der »politischen Theologie« wurde von Schmitt eingeführt, schreibt Peterson: »Seine damaligen kurzen Ausführungen waren nicht systematisch gehalten« (TT 84). Peterson meint wohl: nicht katholisch-dogmatisch gehalten. Peterson wollte »an einem konkreten Beispiel die theologische Unmöglichkeit einer ›politischen Theologie‹« erweisen. (TT 81) Seine Schrift hieße besser vielGottfried Hasenkamp, Das Spiel vom Antichrist. Mit einem Beitrag über den Ludus de Antichristo, seine Aufführung und seine Übersetzung, Münster 1932; kommentierte Neuausgabe bei Gerhard Günther, Der Antichrist. Der staufische Ludus de Antichristo, Hamburg 1970 18 Dazu vgl. Dieter Borchmeyer, Richard Wagner. Werk – Leben – Zeit, Stuttgart 2013, 202 ff. 17

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XX. · Carl Schmitts Antwort auf Erik Peterson

leicht: Der Monotheismus als christlich-theologisches Problem. Seine gelehrte Untersuchung geht begriffsgeschichtlich vor: Peterson zeigt, wie der Begriff des Monotheismus von Aristoteles zu Philo aus dem metaphysischen in den theologischen Gebrauch wechselte und in der patristischen Literatur von Origenes zu Eusebius zu einer eschatologischen Verbindung des Christentums mit dem Römischen Reich führte. »Der politische Sinn dieser Konstruktion liegt auf der Hand. Die Vereinbarkeit des christlichen Monotheismus mit dem Römischen Reich soll behauptet werden.« (TT 56) Durchgängig betont Peterson den politisch-polemischen und pädagogischen Impetus dieser Konstruktion und meint selbst, »dass es [theologisch] unmöglich ist, einfach den säkularen Monarchie-Begriff der heidnischen Theologie auf die Trinität zu übertragen, die doch eine eigene Begriffsentwicklung verlangt.« (TT 39) Im letzten Absatz seiner Studie schreibt er zusammenfassend: »Der Monotheismus als politisches Problem war aus der hellenistischen Umbildung des jüdischen Gottesglaubens hervorgegangen. Indem der Gott der Juden mit dem monarchischen Prinzip der griechischen Philosophie verschmolzen wurde, erhielt der Begriff der göttlichen Monarchie zunächst die Funktion einer politisch-theologischen Propagandaformel für die Juden. Dieser politisch-theologischer Propagandabegriff wird von der Kirche bei ihrer Ausbreitung im Römischen Reich übernommen. Er stößt dann auf einen Begriff der politischen Theologie der Heiden, wonach der göttliche Monarch wohl herrschen, aber die nationalen Götter wohl regieren müssen. Um dieser heidnischen, auf das Imperium Romanum zugeschnittenen Theologie entgegentreten zu können, wurde nun von christlicher Seite behauptet, die nationalen Götter könnten gar nicht regieren, da durch das Imperium Romanum der nationale Pluralismus aufgehoben worden sei. In diesem Sinne wurde die Pax Augusta dann als die Erfüllung der alttestamentlichen eschatologischen Weissagungen gedeutet. Doch die Lehre von der göttlichen Monarchie musste am trinitarischen Dogma und die Interpretation der Pax Augusta an der christlichen Eschatologie scheitern. Damit ist nicht nur theologisch der Monotheismus als politisches Problem erledigt und der christliche Glaube aus der Verkettung mit dem Imperium Romanum befreit worden, sondern auch grundsätzlich der Bruch mit jeder ›politischen Theologie‹ vollzogen, die die christliche Verkündigung zur Rechtfertigung einer politischen Situation missbraucht. Nur auf dem Boden des Judentums oder Heidentums kann es so etwas wie eine ›politische Theologie‹ geben. Doch die christliche Verkündigung von dem dreieinigen Gotte steht jenseits von Judentum und Heidentum, gibt es doch das Geheimnis der Dreieinigkeit nur in der Gottheit selber, aber nicht in der Kreatur. Wie denn auch der Friede, den der Christ sucht, von keinem Kaiser gewährt

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Handexemplare und Marginalien im Schmitt-Nachlass

wird, sondern allein ein Geschenk dessen ist, der ›höher ist als alle Vernunft‹«. (TT 58 f.)

Unter Berufung auf Augustinus betont Peterson die Unvereinbarkeit der kirchlichen Akkomodation und Reichspolitik mit der trinitarischen Lehre und Eschatologie. In seiner Vorbemerkung meint er aktualisierend: »Für den Christen kann es politisches Handeln immer nur unter der Voraussetzung des Glaubens an den dreieinigen Gott geben.« (TT 24) Schmitt las diese Ausführungen als persönlichen Angriff und fand sich als Reichsapologet disqualifiziert und aus dem Christentum ausgegrenzt. Peterson rührte so am Trauma der Exkommunikation.

4.

Handexemplare und Marginalien im Schmitt-Nachlass

Dutzende von Sonderdrucken und mehrere Bücher Petersons sind im Nachlass erhalten. Nicht alles scheint Schmitt gelesen zu haben. Die Widmungen beziehen sich vor allem auf die Jahre 1924 bis 1936. Danach erhielt Schmitt wohl nur noch einen Aufsatz: Das Problem des Nationalismus im alten Christentum von 1951 (RW 265–24609). Einige wichtige Handexemplare fehlen. So ist kein Exemplar der Broschüre Was ist Theologie? erhalten. Es fehlt auch das originale Handexemplar Die Kirche aus Juden und Heiden von 1933, das Schmitt wahrscheinlich noch von Peterson selbst erhielt. Im Nachlass liegt ein Exemplar der Habilitationsschrift. Das Buch über den Monotheismus als politisches Problem trägt keine Widmung. Auch die Theologischen Traktate sind nicht als Widmungsexemplar erhalten. Aus den Jahren 1933 bis 1936 finden sich aber einige Sonderdrucke mit Widmung: so auch die Hochland-Aufsätze über Die Entwicklung der protestantischen Kirche in Deutschland. Sie enthalten keine wichtigen Marginalien. Der Aufsatz Der Geist der apostolischen Kirche nach der Geheimen Offenbarung aus dem Oktoberheft 1935 des Hochland trägt die Widmung: »In Erinnerung an frühe Jahre / Ihr E. P.« Das klingt schon nach Abschied. Schmitts Anstreichungen in den Theologischen Traktaten, mit Besitzvermerk vom 20. April 1951, sind eher spärlich und unpolemisch. Schmitt hat diese Sammlung bei der Abfassung der Politischen Theologie II offenbar nicht als Arbeitsexemplar verwendet, sondern auf die ersten Ausgaben zurückgegriffen. Dafür besorgte er sich auch 323 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XX. · Carl Schmitts Antwort auf Erik Peterson

eine Erstausgabe der Schrift über Die Kirche aus Juden und Heiden. Das Monotheismus-Büchlein ist in mehreren Textstufen intensiv durchgearbeitet: Es gibt alte Anstreichungen vor 1945 und zahlreiche Tintenanstreichungen und Marginalien aus der Arbeit an der Politischen Theologie II. Das Buch von den Engeln von 1935 enthält kaum Anstreichungen. Die Broschüre Apostel und Zeuge Christi, in der Ausgabe von 1952 (RW 265–24563), beschränkt sich auf späte despektierliche Bemerkungen zu Petersons Rede von »kaiserlichen Sklaven«. »Peterson hat es mit der Sklaverei«, schreibt Schmitt dazu in den Umschlag; »weder im griechischen noch im lateinischen Text steht etwas von Sklaverei. Wie kommt er, Peterson, dazu?« Schmitt findet Peterson hier seiner begriffsgeschichtlichen Methode untreu geworden, Begriffe auf ihren rechtshistorischen Bedeutungsgehalt abzuklopfen und den theologischen Sinn vom politischen abzuschichten. Ende 1969 liest er Petersons Schriften für die Abfassung der Politischen Theologie II erneut. Er sucht damals nach einem Beitrag für den befreundeten Kanonisten Hans Barion. 19 Am 4. Juli 1969 schreibt er noch an Böckenförde: »Ich kann leider keine Pläne mehr machen. Auch der Anlauf zu einem Aufsatz über ›Politische Theologie‹, den ich im August abliefern sollte, ist gescheitert.« 20 Erst danach scheint er durch seine erneute Peterson-Lektüre den polemischen Antrieb und rettenden Einfall gefunden zu haben. In sein Tagebuch notiert er: »vom 25.–31. August [1969] mich mit Petersons Schrift 1935 politischer Monotheismus gequält; eine dreiste, unverschämte, oberflächliche Behauptung mit gelehrter Spezial-Forschung verfremdet. Empörende Frechheit. Scheussliche Erkenntnis eines Skandals; wie konnte ich mich auf einen solchen Menschen einlassen?« 21 Erst jetzt findet er in die Arbeit an der Politischen Theologie II, die wie alle Schriften Schmitts dann schnell niedergeschrieben wurde. Das Monotheismus-Buch von 1935 ist als Arbeitsexemplar (RW 265–24565) für die Politische Theologie II im Detail interessant; es enthält auch einige ältere aufschlussreiche Bemerkungen. Zur Vorbemerkung notiert Schmitt: »die alte apostolische Front«. In der PoDazu vgl. Thomas Marschler, Kirchenrecht im Bannkreis Carl Schmitts. Hans Barion vor und nach 1945, Bonn 2004; Wolfgang Hariolf Spindler, »Humanistisches Appeasement«? Hans Barions Kritik an der Staats- und Soziallehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, Berlin 2011 20 Schmitt am 4. Juli 1969 an Böckenförde (RWN 260–431) 21 Losungen 1969 (RW 265–15951, S. 91) 19

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Handexemplare und Marginalien im Schmitt-Nachlass

litischen Theologie II führt er dann aus, dass Peterson Augustinus gegen Eusebius ausspielte und die konkrete politische Situation des Reichsapologeten nicht historisierend in Rechnung stellte. Im Vorderumschlag erinnert er, dass »die Orthodoxen auf der Seite der Kaiser« standen. Besonders polemisch sind aber Schmitts Randbemerkungen in den Marginalien zur Theologie. Schmitt erwarb sein Exemplar (RW 265–24567) im Erscheinungsjahr 1956. Unter den Titel schreibt er aber: »Wiederbegegnung November 1969«. Für die Arbeit an der Politischen Theologie II las er die Marginalien also erst nach dem Monotheismus-Traktat erneut. Petersons Marginalien Existentialismus und protestantische Theologie, in der Politischen Theologie II (PT II 7) signifikant erwähnt, Kierkegaard und der Protestantismus sowie An Jakob Hegner zu seinem 70. Geburtstag las er dabei mit wütender Empörung. Die ganze Schrift nennt er eine »forensische Rechtfertigung«. Zu Petersons Bemerkung, dass Kierkegaard ein »Opfer« des Protestantismus wurde, notiert Schmitt: »et tu, Erik? Wessen Opfer wurdest du?« Schmitt spielt hier auf die These von seinem Einfluss auf Petersons Konversion an. Die ganzen Erinnerungen an die Lage der Weimarer Theologie findet er verfälschend und verlogen. »Elender Judas«, notiert er unter die Kierkegaard-Marginalie. Petersons Schweigen über die alte Freundschaft inkriminiert er am Hegner-Brief, war Hegner doch auch sein Verleger gewesen; »hier verschweigt er meinen Namen«, notiert Schmitt und resümiert am Ende des Briefes: »Armer Däubler, / armer Bernanos, / kann sich nicht wehren gegen solche Verwertung zur Selbst-Aufwertung eines pietistisch begabte[n] Picaros!« Schmitts Wort von der »pietistischen Begabung« ist spitz, aber nicht unzutreffend; die Bezeichnung als Picaro klingt abschätzig, ist aber nicht ganz böse gemeint. Als Picaro, Hochstapler und Schelm bezeichnete der alte Schmitt damals mancherlei Akteure der Zwischenkriegszeit: die Nationalsozialisten ebenso wie sich selbst. Dass er den Einschlag an politischem Ästhetizismus und Abenteurertum in Petersons Theologie herausstellt, ist durchaus treffend. Ganz ernst nimmt Schmitt diese Theologie damals nicht mehr. Was ihn aber erbost, ist ein Verschweigen und Verfälschen im Interesse der »Selbst-Aufwertung« der eigenen Haltung zur Politik. Schmitt sieht hier die verbindenden Motive und Nähen verleugnet und betrachtet Petersons Ausführungen als Freundschaftsverrat. Darauf zielt auch die Replik der Politischen Theologie II. Rekapituliert man die Handexemplare, so bestätigen sie die Kontaktzeit 1924 bis 1936 und das definitive Ende der Beziehung. Nach 325 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XX. · Carl Schmitts Antwort auf Erik Peterson

1951 bezieht Schmitt sich nur noch polemisch auf Peterson. Die Relektüre der Marginalien zur Theologie war dann ein Anstoß zur polemischen Verschärfung. Im Kontext der Arbeit an der Politischen Theologie II las er damals auch Die Kirche aus Juden und Heiden erneut. Seine Notate zielen auf begriffliche Nachfragen und Präzisierungen und fokussieren spöttisch auf Petersons Unterscheidung des »fleischlichen« und des »pneumatischen« Volkes Gottes. Zum »Blut Jesu« notiert Schmitt, wie an anderer Stelle auch: »Leon Bloy«. Petersons Antijudaismus führt er auf die (gemeinsame) Lektüre Leon Bloys zurück. Deutlich markiert er die Datierung der Schrift: Die kirchliche Imprimatur erfolgte am 21. März 1933, also am »Tag von Potsdam« und zwei Tage vor dem Ermächtigungsgesetz. Diese Schrift und die damaligen Gespräche über die eschatologische Stellung des Judentums waren zweifellos von zentraler Bedeutung für den Ausklang der Beziehung. Schmitt begegnete Peterson im April 1936 zwar in Rom erneut, einige Tage vor seiner Privataudienz bei Mussolini, empfand es aber als einen Vertrauensbruch, dass Peterson ihm seinen Umgang mit Löwith verschwieg; Löwith hatte eine scharfe Kritik von Schmitts »politischem Dezisionismus« publiziert und hörte in Rom Schmitts Vortrag incognito.22 Peterson hatte mit Schmitt bereits politisch gebrochen; er vertrat zwar einen prononcierten Antijudaismus, lehnte Schmitts Antisemitismus aber ab. Für Peterson gehörten die Juden zum eschatologischen Plan und Volk Gottes. Schmitt dagegen trennte seinen Antisemitismus von einer christlich-theologischen Perspektive ab. Bekehrung und Konversion waren für ihn kein Kriterium. Diesen Aspekt hielt er aus der Politischen Theologie II heraus. Damit wurde aber der wichtigste Kontroverspunkt um 1933, der vermutlich auch für die Abfassung der Broschüre über Die Kirche aus Juden und Christen wichtig war, in der Schlussschrift von 1970 nicht deutlich. Wir stoßen uns heute an Petersons Ausführungen zum »Unglauben« der Juden; Schmitt dagegen lehnte es ab, die Juden überhaupt zum Volk Gottes zu zählen.

22

Dazu Karl Löwith, Mein Leben vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart 1986, 86 f.

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Letzte Kontakte nach 1945

5.

Letzte Kontakte nach 1945

Das Jahr 1933 markierte keinen direkt sichtbaren Bruch in den Beziehungen. Dissonanzen und Ambivalenzen gab es schon um 1930 und bis 1935 scheint das persönliche Verhältnis doch im Kern nicht getroffen zu sein. 1935/36 äußerte Schmitt sich in seinen Schriften verstärkt antisemitisch. So affirmierte er die Nürnberger Rassegesetzgebung als »Verfassung der Freiheit«. 23 Damals deuten sich auch im Briefwechsel die Differenzen an. Die Dissertation von Günther Krauss 24 über Rudolf Sohm nimmt Peterson aber noch zustimmend auf. Sie musste ihn interessieren, ging es doch um liberale und protestantische Verzeichnungen des Kirchenrechts. 25 Schmitt schickte mit zweijähriger Verspätung auch seine Schrift Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens. Auch hier ging es um die Revision liberalistischer Hypotheken. Am 20. Juli 1936 markiert Schmitt aber erneut seine Differenz zum theologischen Antijudaismus: »Wenn Sie die Juden mit in die Kirche nehmen, können Sie auch die Schlange mit in den Begriff des Paradieses nehmen.« Schmitt bittet Peterson noch um ikonographische Hinweise zur Deutung von Behemoth und Leviathan. In Petersons Schrift Zeuge der Wahrheit finden sich damals erneut antijudaische Äußerungen und Überlegungen zur »Theologie des Antichristen« (TT 109), die Schmitt ansprechen konnten. Petersons Antwort vom 13. Juli 1938 auf die Sendung des Leviathan-Buches bringt dann aber das definitive Ende der Freundschaft. Peterson legte seine beiläufige Antwort dabei nicht intentional als Abschiedsbrief an, wie schon das knappe Format der Postkarte zeigt. Sein Schreiben ist eine flüchtige Mischung von gelehrten Detailbemerkungen und grundsätzlichen Distanzsignalen: Peterson signalisiert zunächst, dass er mit Schmitts Ausführungen zur jüdischen Deutungsgeschichte nicht einverstanden ist; im zweiten Teil seiner Karte greift er dann seine Unterscheidung von Theologie und Philosophie aus der Monotheismus-Bro-

Carl Schmitt, Die Verfassung der Freiheit, in: Deutsche Juristen-Zeitung 40 (1936), Sp. 1133–1135 24 Günther Krauß, Der Rechtsbegriff des Rechts. Eine Untersuchung des positivistischen Rechtsbegriffs im besonderen Hinblick auf das rechtswissenschaftliche Denken Rudolph Sohms, Hamburg 1936 25 Schmitts Dissertationsgutachten in: CSRS 172–175 23

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XX. · Carl Schmitts Antwort auf Erik Peterson

schüre auf, um Schmitts Hobbes-Bild anzuzweifeln. Hobbes war kein Christ und das Judentum ist verzeichnet, ließe sich Petersons Antwort zusammenfassen. Wahrscheinlich empfand Schmitt besonders den Schlusssatz als definitive Aufkündigung der Freundschaft: Die »Polemik gegen die potestas indirecta hat nur dann einen Sinn, wenn man darauf verzichtet, ein Christ zu sein, und sich für das Heidentum entschieden hat.« Das wurde Schmitt von katholischer Seite schon vor 1933 immer wieder gesagt; 1938 hatte es aus Petersons Feder im Kontext des nationalsozialistischen Engagements eine besonders schmerzliche Bedeutung. Nach Petersons Ansicht hatte Schmitt »sich für das Heidentum entschieden«. Das bestätigte ihm die HobbesDeutung. Vermutlich hat Schmitt auf Petersons Leviathan-Brief nicht mehr geantwortet. In der Korrespondenz trat eine jahrelange Pause ein. In den wenigen erhaltenen Briefen nach 1945 nimmt Peterson dann nur noch ein »caritatives« Verhältnis ein. So bietet er über Wilhelm Neuss finanzielle Hilfe an. Im Schulterschluss mit Neuss ist der katholisch-caritative Sinn der Wiederaufnahme der Korrespondenz nicht missverständlich. In Erinnerung an die alten Bonner Zeiten sorgt sich Peterson um Schmitts leibliches und geistliches Heil. Ein Brief zum 60. Geburtstag spricht vieldeutig von einer »Lektion«. Nach dem Tod von Duschka Schmitt, die der Trauzeuge aus Bonner Tagen gut kannte, ist ein weiteres Band dahin und es kommt 1951 zum definitiven Bruch. Als Christen anerkannte Peterson Schmitt aber schon 1938 wohl nicht mehr.

6.

Schmitts »Substanz-Analyse« von Petersons Legende

Es verwundert natürlich, dass Schmitt Jahrzehnte nach dem Ende der Beziehung so eingehend auf Petersons alte Schrift antwortete. Keinem anderen Weggefährten widmete er eine monographische Auseinandersetzung. Der Festschriftbeitrag für Barion führte ihn in die Bonner Debatten zurück: Damals hatte er seinen kooperativen Streit zwischen Theologie und Jurisprudenz vor allem mit Peterson ausgetragen. Das Thema »Politische Theologie« war zwar von Kelsen schon als Komplex »Staatsform und Weltanschauung« verhandelt worden. Nur bei Peterson fand Schmitt aber das produktive Niveau und die positive theologische Anknüpfung und Weiterführung, die 328 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Schmitts »Substanz-Analyse« von Petersons Legende

ihn interessierte. Die Schrift Politische Theologie II 26 ist eine vielschichtige Schrift. Es ist auch eine Aktualisierung der Perspektive politischer Theologie, ein theologisch-dogmatischer Vorschlag, eine Barion- und Blumenberg-Kritik. Am 4. November 1969 schreibt Schmitt dazu an seinen Schüler Ernst Forsthoff: »Ich, für meine Person, habe jetzt, nach unsäglichen Mühen, eine kleine Abhandlung für Barion fertig; es sind etwa drei Druckbogen oktav. Der Titel: (Die Legende von der) Erledigung jeder Politischen Theologie. Der Gedankengang bewegt sich in einer Substanz-Analyse von Petersons Abhandlung von 1935: Der Monotheismus als politisches Problem. Doch hat diese kritische Befassung mit einer theologischen Erledigung jeder Politischen Theologie […] nur den Sinn eines energischen Vorstoßes zu einer Befassung mit der modern-wissenschaftlichen Erledigung jeder Politischen Theologie (H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Suhrkamp 1966), in einer kurzen, aber sehr dichten ›Schlussbemerkung‹.« (CSEF 293 f.)

Ich betrachte hier nur die »Substanz-Analyse« Petersons und lasse alle anderen Bedeutungsschichten – Barion, Blumenberg und die 1970 aktuelle Diskussion – heraus. Schmitt nennt die Schrift eine »kathartische Operation« (PT II 11), möchte eine alte Wunde, Petersons polemischen Angriff, lösen und bestreitet dessen »Erledigungsthese«. Dazu skizziert er im »Überblick« zunächst die Krisenlage nach 1918. Er vergleicht dann Stellungnahmen Petersons von 1931 und 1935, das Buch mit einem früheren Aufsatz, 27 um deren Eigenart, Stoßrichtung und Schwäche zu konturieren. Neu sei 1935 besonders die »Verabsolutierung« der Schlussthese: also die Polemik gegen Schmitt. Diese polemische Verschärfung gehe aber auf Kosten des wissenschaftlichen Niveaus: Schmitt konstatiert eine Inkongruenz von These und Beleg und kritisiert, dass die These dem Material äußerlich und polemisch aufgepfropft sei. Schmitt führt aus, dass Peterson seiner historischen Methode untreu wurde, indem er dem Monarchiebegriff einer »französischen Formel des 19. Jahrhunderts« (PT II 53) aufsaß. Der leitende Begriff politischer Theologie sei nicht hinreichend definiert, der Monarchiebegriff viel zu weit angelegt. Carl Schmitt, Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 1970 27 Erik Peterson, Göttliche Monarchie, in: Theologische Quartalsschrift 112 (1931), 537–564; überraschend geht Schmitt nicht auf den Aufsatz Petersons ein, der namentlich von Schmitt ausgeht und in dem die Schmitt-Kritik vielleicht am Einfachsten und Deutlichsten formuliert ist: Kaiser Augustus im Urteil des antiken Christentums, in: Hochland 30 (1932/33), 289–299. 26

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Seine Ausführungen wollen Peterson in dessen historischer Leistung grundsätzlich treffen. Wichtiger noch als die Einwände gegen den Historiker sind aber die Konsequenzen für die Erledigungsthese. »Es gibt viele politische Theologien« (PT II 51), betont Schmitt mit Blick auf das Material; Petersons Schlussthese sei »allzu pauschal und unvermittelt« (PT II 63) und erlaube keine »allgemein gültigen Aussagen über die Politische Theologie im Ganzen« (PT II 67). Schmitt analysiert die Schrift in der Darstellung von »Eusebius als Prototyp Politischer Theologie« und der »Konfrontation EusebiusAugustinus«. Er liest diese Konfrontation, vermutlich zutreffend, als eine Stilisierung des Gegensatzes von Schmitt und Peterson in der historischen Parallele zum Frühchristentum. Solche Maskenspiele pflegte Schmitt in seinen Schriften zwar selbst immer wieder; hier aber betont er gegen Peterson, wie »eng begrenzt« (PT II 49) historische Parallelen eigentlich sind. Schmitt beruft sich für seine »Ehrenrettung« (PT II 70) von Eusebius gegen Peterson auf den katholischen Kirchenhistoriker Albert Ehrhard. Darin liegt eine persönliche Spitze, war Ehrhard doch ein gemeinsamer Bonner Kollege. 28 Schmitt läuft nun gleichsam von Peterson zu Ehrhard über. Seine Ausführungen zielen auf den Nachweis, dass Peterson mit einer unhistorischen Unterscheidung von »orthodox und häretisch« (PT II 79) »abstrakt« (PT II 75) operierte, um Eusebius politisch und theologisch zu disqualifizieren. Schmitt rechnet Peterson dagegen vor, was er eigentlich hätte machen sollen: Eusebius nämlich im Konzil von Nicaea verorten, orthodoxe »GegenBeispiele« (PT II 74) oder Gegenspieler genauer betrachten, orthodoxe Politik zugeben und »Laien-Freiheit für politische Theologie« (PT II 77) deutlicher einräumen. Die Kirche ist politisch und jede Orthodoxie hat ihre Politik. Sie muss die Bereiche nur auseinanderhalten und die theologischen Kernfragen rein theologisch betrachten. Grundsätzlich gibt es hier zwar keinen Dissenz: Auch Peterson bestreitet nicht, dass die Orthodoxie Politik treibt. Schmitt zielt aber genauer auf die polemische Rhetorik. Die »ad personam vorgenommene Erledigung des Prototyps« (PT II 85) bediene sich zur »Verfremdung des aktuellen Feindes von 1935« (PT II 86) des Mythos vom Caesaropapismus, der durch Jacob Burckhardt verbreitet war (PT II 86 f.). Das Verdikt lautet auf »säkularisierte Theologie« (PT II Albert Ehrhard (1862–1940), katholischer Kirchenhistoriker, seit 1892 Ordinarius in Würzburg, Wien, Freiburg, Straßburg und ab 1920 Bonn.

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Schmitts »Substanz-Analyse« von Petersons Legende

88), und der Name Heideggers, den Peterson aufruft, supplementiert nach Schmitts Lesart den eigenen Namen. Schmitt sieht sich von Peterson als Feind gestellt und als Existentialist und »säkularisierter Theologe« abgestempelt. Eine Konfrontation von Eusebius mit Augustinus findet er unhistorisch. Eine aktuelle trinitarische Spekulation müsste dagegen auf die neuzeitliche Situation nach Hobbes und Hegel antworten, wie Schmitt es im Nachwort der Politischen Theologie II selbst unternimmt. Schmitt schließt seine Auseinandersetzung mit Peterson mit der Prüfung der »Schlüssigkeit der Schlussthese«. Er scheint hier zu betonen, dass Petersons Polemik eine institutionelle Unterscheidung voraussetzt, die eine Anerkennung der juristischen Form impliziert. Wenn Peterson als Theologe Politisierungen kritisiert, muss er die juristische Form politischer Institutionen doch zugeben und damit auch den Kompetenzkonflikt zwischen Theologie und Jurisprudenz. »Für eine Besinnung auf die theologischen Möglichkeiten juristischen Denkens ist Tertullian der Prototyp« (PT II 103), schreibt Schmitt dazu. Es ist dann eine letzte polemische Volte, dass er die Schlüssigkeit Petersons auch »von der theologischen Seite her« (PT II 63) prüft. Im Nachwort entwickelt er dazu trinitarische Spekulationen mit theologischem Anspruch. Der dogmatischen Perspektive Petersons stellt Schmitt aus der Freiheit des Laien eine eigene eschatologische Spekulation entgegen. Wiederholt beruft er sich dabei auf Hobbes. Schmitt meint, dass Petersons Orientierung an Augustinus keine dogmatische Antwort auf die »homo-homini-homo-Eschatologie« der modernen »hominisierenden Gesellschaft« (PT II 37) gab. Er beantwortet die Polemik gegen Eusebius-Schmitt also mit einem Angriff auf Augustinus-Peterson. Schmitt zielt keineswegs nur auf eine Apologie seiner politischen Theologie, sondern im polemischen Gegenschlag auch gegen Petersons Orientierung an Augustinus. Er hat grundsätzliche Bedenken gegen dessen Form der Dogmengeschichtsschreibung und prätendiert eine systematische Alternative, die er aber in Andeutungen belässt. Deutlich nachvollziehbar und zustimmungsfähig will nur die »Substanz-Analyse« der Erledigungsthese sein. Dabei stellt Schmitt fest: Es gibt eine Diskrepanz von These und Beleg; Petersons polemische »Verfremdung« führt zu unhistorischen Aussagen; es gibt theologische Alternativen zu Peterson; politische Theologie ist weiterhin möglich und legitim; theologische Dogmatik muss sogar radikal geschichtlich und politisch konkret sein. 331 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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Schmitt war über den Titel seiner letzten Schrift Politische Theologie II lange unsicher und zweifelte auch, ob die Schrift einen Werkabschluss trug. Gewiss ist sie in ihrer hermetischen Verschlingung von Rückblick und Aktualisierung, Peterson-, Barion- und Blumenberg-Kritik schwer zugänglich. Dazu kommt der anspielungsreiche Fußnotenapparat voller selbstreferentieller Bezüge. Weshalb Schmitt seinem Beitrag zu einer Barion-Festschrift die Form einer polemischen Replik gab, ist nun aber wohl verständlicher: Im Gespräch mit Peterson hatte er das kooperative Profilierungsgeschäft und den Kompetenzkonflikt von Jurisprudenz und Theologie entwickelt. Peterson war nach 1933 auch sein wichtigster theologischer Kritiker. Er lehnte Schmitt nicht einfach ab, sondern kritisierte ihn im Feld seines Forschungsprogramms. Schmitts späte Antwort setzt im Zentrum des Selbstverständnisses an. Dabei geht Schmitt nicht ins Detail. Er bestreitet den Vorwurf der Reichsapologetik aber nicht, sondern wehrt sich nur gegen die theologische Disqualifizierung als »Häretiker« oder »Heide«. Schmitt bestreitet nicht sein NS-Engagement, sondern betont nur dessen Vereinbarkeit mit einem christlichen Selbstverständnis. Er übergeht den scharfen Kontroverspunkt des Antisemitismus und skizziert eine systematische Alternative. Auch sein alternatives Konzept vom »Aufhalter« deutet er an. Petersons Unterscheidung von Theologie und Philosophie (Metaphysik) nimmt er auch in philosophischer Perspektive auf und setzt sich mit den aktuellen Metaphysikkritikern Ernst Topitsch und Hans Blumenberg auseinander. Eine genaue »Substanz-Analyse« Petersons konnte wohl kaum anders als vielschichtig sein. Reduziert man die Politische Theologie II dagegen auf die persönliche Abrechnung mit dem Bonner Freund, so war die »kathartische Operation« nicht zwingend nötig. Die Beziehung war nach 1928 deutlich abgekühlt und die theologischen Differenzpunkte waren längst verhandelt. Die Politische Theologie II ist ein hohes Muster für eine autoritative clotûre des eigenen Werkes. Der Kommentar zum NS-Engagement lautet lapidar: Ich war zwar ein Reichsapologet, unterschied aber die Reiche und blieb deshalb Christ!

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Letzte Erledigungen nach 1970: in Richtung auf eine Politische Theologie III?

7.

Letzte Erledigungen nach 1970: in Richtung auf eine Politische Theologie III?

Schmitts Handexemplar der Politischen Theologie II (RW 265– 28245) enthält Hunderte teils sehr bedeutungsvolle Marginalien. Es beginnt beim Verzeichnis der Adressaten von Buchgeschenken und Widmungsformeln, die Schmitt mit den jeweiligen Adressaten verbuchte. Zum Untertitel schreibt er: »Die erledigte Legende macht dem Grossen C ein Ende«. Das betont die Stoßrichtung gegen christliche Parteien. Seine Barion-Widmung stellt er mit einem DäublerDiktum unter Vorbehalt: »Glauben lass ich mir durch keine Kirche rauben«. In den Einband schreibt er auch: »Ich hatte mit meiner Schrift / über Petersons Monotheismus / den Teufel herausgefordert. Dieser antwortet prompt aber in unerwarteten Ver-Verkleidungen und überraschenden Verstellungen; dafür steht ihm ein überreichlich [?] buntes Personal und eine unermessliche Schar von Protagonisten wie von Statisten zur Verfügung. Politische Theologie ist das Vergnügen der Seele, die unbewusst die intensivste Form politischer Wirkungslosigkeit betreibt.«

Schmitt hat den gesamten Text intensiv durchgearbeitet und viele stilistische Verbesserungen eingetragen. Dutzende Male ergänzte er den Namen Peterson, um die Polemik noch stärker zu machen. Außer Korrekturen und Glossen enthält das Handexemplar ergänzende Fußnoten und Stellungnahmen zur neueren Literatur. Nur ein Teil der Marginalien bezieht sich auf Peterson, den Schmitt im Einband einen »Bultmann-Schüler« nennt. Viele Randbemerkungen zielen auf eine Verteidigung des laientheologischen Anspruchs. »Paulus Der Dreizehnte«, schreibt Schmitt und zitiert: »1 Kor. 15, 9/10: ›Ich bin der geringste unter den Aposteln, der ich nicht wert, dass ich Apostel heisse. Aber vor Gott bin ich was ich bin.‹« Einige Bemerkungen richten sich gegen Petersons »Dogmatismus«. Eine ergänzenden Schlussbemerkung (PT II 108) spielt Hobbes gegen Peterson aus: »Der dezisionistischen Souveränität des Thomas Hobbes ist der klassische Fall einer Säkularisierung durch Aneignung einer systematisch-forcierten begrifflichen und politischen Position: der plentitudo potestatis spiritualis. Facit: Einer kritisch=wissenschaftlichen Forschung im Bultmann-Stil […] wird ein Glaube übergestülpt – crede fortius. Dem so überstülpten Glauben unterstülpt sich jetzt das aus der kritischen Analyse gewonnene Wissen Material, als Legitimierung für Zulassung zu akademisch.wissenschaftl. Diskussion«

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Schmitt zitiert hier ein Luther-Wort gegenüber Melanchton: »Pecca fortiter, sed crede fortius«. Sündige kräftig, aber glaube kräftiger. Er spielt so erneut auf Petersons Leben als Bohèmien und »Picaro« an. Das Handexemplar verschärft und vereinfacht die Polemik, die im Text selbst verschlüsselt ist. Mit dem Erscheinen der Politischen Theologie II war Schmitts »Erledigung« also noch nicht abgeschlossen. Wenigstens zwei großangelegte Auseinandersetzungen mit seiner Schrift beschäftigten ihn auch noch intensiv: die Projekte von Alfred Schindler und von Jacob Taubes. Alfred Schindler nahm den Kontakt auf und stellte Fragen, die Schmitt in einer knappen rückblickenden Selbstdarstellung des Verhältnisses zunächst für sich selber beantwortete und dann an Schindler schrieb. Für den Zerfall der Freundschaft betont er den Vertrauensbruch, dass Peterson seine Beziehung zu Karl Löwith verschwieg; er datiert das definitive Ende der Kontakte dann mit dem Tode Duschkas und nennt Petersons Desinteresse an juristischen Diskussionen. »Was hat Peterson von mir gelesen[?] Vor allem die Schrift über Römischen Katholizismus und politische Aufsätze im Hochland. Vielleicht auch noch die Politische Romantik (1919, 2. Aufl. mit neuem Vorwort 1925), jedenfalls kein einziges systematisches Buch, auch nicht Diktatur 1921, Verfassungslehre 1928, Hüter der Verfassung 1931, Nomos der Erde 1950) Auf eine exakt-juristische Erörterung juristischer Fragen reagierte er allergisch; auch in seinen Fragen eigener beamtenrechtlicher Probleme wollte er von ›diesen juristischen Dingen‹ nichts hören.«

Das sind starke Thesen, die Petersons Wissenschaft marginalisieren und eigene Originalitätsansprüche verteidigen. Schmitt antwortete Schindler zwischen dem Januar 1975 und Februar 1976 mit sorgfältig überlegten Briefen. 29 Nach Schindlers Übersendung einiger Beiträge verstummt Schmitt aber zunächst und verweist dann am 22. Januar 1976 auf den Scholz-Beitrag 30 als Grund seiner Verstimmung. Einlenkend erläutert er später noch seine Thematisierung des »Skandalons« Peterson: »Meine streng festgehaltene Methode in Pol. Theologie II – ich stelle und beantworte nur die Frage: wie verhält sich die Schluss-These zu dem vorgelegten Material der MonotheismusSchrift – bezieht ihre wissenschaftliche Legitimation von dieser Art Schmitts Briefe datieren vom 19. November 1974, 22. Januar 1975 und 8. und 22. Januar 1976. 30 Frithard Scholz, Die Theologie Carl Schmitts, in: Monotheismus als politisches Problem?, Gütersloh 1978, 149–169 29

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Letzte Erledigungen nach 1970: in Richtung auf eine Politische Theologie III?

›immanenter‹ Kritik und schärfster Isolierung des Sach-Problems.« Erneut verweist Schmitt auf den Freundschaftsbruch von 1936. Er verhält sich Schindler gegenüber reserviert, antwortet nicht zuletzt dem Sohn des geschätzten Schweizer Kollegen, 31 nennt aber instruktive Fakten und deutet seine Sicht an. Dabei wehrt er sich auch gegen eine starke Sicht von Benjamin her. Der Schindler-Sammelband 32 prüft einige wichtige Einwände Schmitts: die Inkongruenz von »These und Beleg«, Petersons dogmatische Methode und den laientheologischen Anspruch. Er ist eine echte Apologie Petersons. Schmitts Handexemplar (RW 265–28186) datiert vom 22. April 1978. Schmitt liest den Band intensiv, notiert handwerkliche Rückfragen und scheint sich besonders für die Beiträge über »Petersons theologischen Weg« und Schmitts »Theologie« zu interessieren. Taubes bemühte sich damals um eine Weiterführung des Themas. Deshalb hätte Schmitt eine Schindler-Kritik auch gerne an Taubes übergeben (JTCS 87). Nach 1970 scheint er um eine Marginalisierung der Beziehung bemüht zu sein. Dabei schuf die Politische Theologie II eigentlich erst die Gefahr, dass man Petersons Rolle im Werk überschätzen konnte. Vor der Veröffentlichung der Politischen Theologie II dachte wohl kaum jemand an eine größere Bedeutung Petersons für Schmitt. »Über Peterson wird manch einer noch den Weg nach Plettenberg finden – müssen« (JTCS 61), schreibt Taubes 1978 aus Paris nach Plettenberg. Schmitt befürchtete damals den umgekehrten Weg in Richtung Peterson. Peterson hatte einst Mythologie und Theologie getrennt. Die Erledigung der Erledigungsthese, von Schmitt als »Legende« bezeichnet, verwies über die Theologie hinaus auch auf eine erneute Auseinandersetzung mit Philosophen. Schmitt bezweifelte die dogmatische Sprache der Theologie und nahm die Auseinandersetzung mit Blumenberg wieder auf. Seine Peterson-Kritik mündete in die Auseinandersetzung mit Blumenberg und die Auseinandersetzung mit Taubes schloss daran zeitlich an. Taubes band um 1980 einige engere Schüler – so Ernst-Wolfgang Böckenförde, Hermann Lübbe, Christian Meier – in sein Projekt einer Weiterführung und Umdeutung Schmitts unter dem Stichwort einer Politische Theologie III ein. Dietrich Schindler (1890–1948), Schweizer Prof. des öffentlichen Rechts Alfred Schindler (Hg.), Monotheismus als politisches Problem? Erik Peterson und die Kritik der politischen Theologie, Gütersloh 1978 (Schmitts Handexemplar RW 265–28186)

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XX. · Carl Schmitts Antwort auf Erik Peterson

Schmitt erhielt den Sammelband Der Fürst dieser Welt später noch und nahm ihn in seinen letzten lichten Tagen zur Kenntnis. Sein Handexemplar (RW 265–27210) 33 ist »erhalten: Carl Schmitt / 25. Oktober 1983«. Seine Eintragungen dürften zu seinen letzten handschriftlichen Bemerkungen überhaupt gehören. Bis zuletzt ist Schmitt also mit dem Peterson-Komplex beschäftigt. Eine solche Transformation konnte in verschiedene Richtungen gehen: vielleicht auch in die Richtung einer »Politischen Mythologie«, wie Schmitt sie nach 1922 schon eine Zeitlang plante und für die in der Politischen Theologie II auch der Name Ernst Topitsch steht. In der vielbeschworenen Kontroverse zwischen Philosophie und Theologie rückte Schmitt gegen Petersons Dogmatik jedenfalls ein Stück weit auf die Seite der Philosophen. Gegen Peterson sah er sich aber auch als der bessere Theologe an. Nemo contra theologum nisi theologus ipse.

Jacob Taubes (Hg.), Der Fürst dieser Welt: Carl Schmitt und die Folgen, München 1983; der Taubes-Band dokumentiert auch die frühere Debatte u. a. durch einen Abdruck der Texte von Hugo Ball und Fritjof Scholz. Alfred Schindler leitete den Wiederabdruck von Scholz (S. 153–159) mit rückblickenden und »einführenden Bemerkungen« ein.

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XXI. »Die dritte Religion des Deutschen«. Carl Schmitts Kanonpolitik, Hans Blumenberg und der lange Weg zu Goethe 1

1.

Gegenkanon

Schon mit seinen ersten größeren geistesgeschichtlichen Studien konstruierte Schmitt einen antiliberalen und antibürgerlichen Gegenkanon. Rekurse auf die antiken »Klassiker« der Rechts- und Staatsphilosophie, Platon, Aristoteles und Cicero, aber auch Kant und Humboldt, Schleiermacher und Dilthey spielen fast keinerlei Rolle. Eine Idealisierung der griechischen Polis findet sich auch nicht. Systematisch bezog sich Schmitt aber vor allem auf Hobbes und Hegel. Dabei dachte er in historischen Parallelen und spiegelte die Bürgerkriegslage der Zwischenkriegszeit in der frühen Neuzeit. Darüber hinaus betonte er die »große Parallele« zur spätantiken Frühgeschichte des Christentums sowie eine kleine Parallele zur Geistesgeschichte des Vormärz vor 1848. Hier bezog er sich – gegen Marx – affirmativ auf Donoso Cortés und Lorenz von Stein, aber auch auf Bruno Bauer, Max Stirner und andere. Gegen Nietzsche und den Nietzscheanismus ging er auf ältere Vorläufer des Antiidealismus zurück. Nach 1933 entwickelte er in der rechtsintellektuellen Konkurrenz mit Heidegger auch einen alternativen Rekurs auf Homer, die Vorsokratik und den »Nomos« als historisch-systematischen Grundbegriff des Rechts. Es finden sich sogar Spuren eines alternativen Hellingrath-Kultes. Schmitt strickte seit seiner Jugend aber auch an einem literarischen Gegenkanon. Das findet sich schon in der Politischen Romantik und später als Konstruktion eines »tragisch-genialistischen« Gegenkanons nach Hölderlin und Kleist, Hebbel und Grabbe. Sein starker Originalitätsanspruch und seine konsequente Arbeit an einem nichttrivialen Gegenkanon zeigen sich selbst im Verhältnis zum GeorgeDer vorliegende Text geht auf einen am 24. September 2015 in Jena auf der Tagung Humanismus und Nihilismusgefahr. Funktionen des Humanismus-Konzeptes 1930– 1950 gehaltenen Vortrag zurück.

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XXI. · Carl Schmitts Kanonpolitik, Hans Blumenberg und Goethe

Kreis. Aus den Tagebüchern wissen wir, dass er sich seit den frühen 20er Jahren mit Shakespeare befasste und seinen späteren HamletStudien eine starke Identifikation mit Othello vorausging. Schmitt spiegelte den Bürgerkrieg und »Naturzustand« des modernen Totalitarismus aber auch im frühneuzeitlichen Schelmenroman. Die nationalsozialistischen Akteure sah er als solche Strolche, Abenteurer, Freibeuter, Landsknechte und Glücksritter und Warlords des Naturzustands der Bürger- und Bruderkriege an. 2 Schmitt griff also aus der Erfahrung der Gegenwart hinter den »bürgerlichen« Entwicklungsund Bildungsroman auf den Schelmenroman zurück. Auch hier suchte er eine erhellende Exzentrik und bezog sich vor allem auf die spanischen Anfänge des Picaroromanes. Während Heidegger den Weimarer Neuhumanismus zeitlebens ignorierte, revidierte Schmitt nach 1933 allmählich sein Verhältnis zur Weimarer Klassik und ging auch in ideenpolitischer Absicht auf einen »anderen« Schiller und einen »anderen« Goethe zu.

2.

Der Picaro des Bürgerkriegs bei Goethe

Die historische Parallele des Revolutionszeitalters zur frühen Neuzeit haben auch Schiller und Goethe gesehen. Schiller spiegelte die Gegenwart im Wallenstein. Goethes erste Revolutionssatire präsentierte mit dem Groß-Coptha 1791/92 einen »großen Schelm«. Dem Wilhelm Meister stellte Goethe dann den Benvenuto Cellini zur Seite. Der Buchausgabe seiner Übersetzung fügte er 1803 einen bemerkenswerten Anhang hinzu, in dem er die »Zustände« und Lebensbedingungen dieses »Repräsentanten« seines »Jahrhunderts« 3 schilderte. Goethe betrachtete Cellini als »Schelm« in rechtlosen Zeiten der »Selbsthilfe«, »Zeiten eines allgemeinen Kampfes« (FA I, 11, 501), wo das »Interesse des Augenblicks, persönliche Gewalt, oder Ohnmacht, Verrat, Mißtrauen, Furcht, Hoffnung« (FA I, 11, 487) das Handeln bestimmt. Auch sein Theaterfreund Wilhelm Meister hat

Ein historisches Beispiel wäre der Jagdflieger und NS-»Generalluftzeugmeister« Ernst Udet (1896–1941), der die Niederlage früh kommen sah und sich schon im November 1941 erschoss. 3 Johann Wolfgang v. Goethe: Anhang zur Lebensbeschreibung des Benvenuto Cellini, in: Goethes sämtliche Werke, hrsg. Friedmar Apel u. a., Frankfurt 1985–2013 (Frankfurter Ausgabe, im Folgenden FA). Abt. I, Bd. 11. Frankfurt 1998, 497 2

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Der Picaro des Bürgerkriegs bei Goethe

mit der Liebe zum fahrenden Volk und Kampf gegen marodierende Straßenräuber noch Züge des Schelmen genug. Die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten sowie Hermann und Dorothea schildern Flüchtlingsschicksale der Französischen Revolution: Das schöne Flüchtlingsmädchen Dorothea rettet sich in eine Vernunftehe mit Hermann, der von den Nachbarsmädchen nur ausgelacht wurde. Die »deutschen Ausgewanderten« treten unter die Diskursregel der Entpolitisierung des Gesprächs und suchen »gesellige Schonung« in »moralischen Geschichten« und allegorischen Märchen. 4 Goethes autobiographische Selbstdeutung schließt mit der Campagne in Frankreich, dem »fruchtlosen« und »unglücklichen Feldzug«, in dem Goethe wie ein Landser in den »Zelten« hauste und vom »Kanonenfieber«, sexueller Gewalt und Plünderungen berichtete. Mühsam kämpfte er gegen »Unordnung« und »Rache« für den »Burgfrieden« relativer Ordnung und für zivilen Frieden. Seine autobiographische Selbstdeutung Aus meinem Leben endete 1822 5 mit einem Ausblick auf die Revolutionsepoche, deren »Fluten uns überschwemmt, wo nicht verschlungen« hat. 1826 gab Goethe dann Kriegsmemoiren von Johann Christian Mämpel heraus. Im Vorwort schreibt er: »Unser Feldjäger ist eine von Haus aus gute Natur, mit allem, was kommt, findet er sich ab, ist gehorsam, brav, ausdauernd, gutmüthig und rechtlich, ein Bischen Plündern ausgenommen, welches er denn doch immer durch dringende Nothwendigkeit zu bevorworten weiß« (FA I, 22, 735). »Auch unseren Gesellen ergreift Napoleon […] auch er tödtete und wüstete […] ihm ist vergönnt die Eingeweide des Inquisitions-Gebäudes zu Valladolid zerstören zu helfen und den Mordpalast brennen zu sehen, nicht ohne Verdacht mit seinen Gesellen die Fackel hineingeworfen zu haben.« (FA I, 22, 737) Der biedere Feldjäger als Brandstifter: Selbst Goethe ist also Schmitts Bürgerkriegsspiegel und Rückgang hinter den »klassischen« Bildungsroman auf den Schelmenroman nicht ganz fremd.

Dazu eingehend Verf., Goethes Flüchtlinge. Poetisierung des Dramas, in: ZRGG 68 (2016), 313–333 5 Die Erstausgabe von 1822 bezeichnete die Campagne als fünften Teil von Dichtung und Wahrheit. Spätere Ausgaben verzichteten auf diesen Zusatz. 4

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3.

Späte Wendung zu Goethe?

Schmitt wäre nicht der virtuose Mineur der Geistesgeschichte gewesen, der er war, wenn er das Weimarer Bündnis von Goethe und Schiller lebenslang umgangen hätte. Anders als Heidegger ging er nach 1933 immer bewusster auf Schiller und Goethe zu. Ein Schlüsselerlebnis ist hier seine literarische Begegnung mit Max Kommerell und Schillers Demetrius-Fragment. 6 Ausdrücklich sprach er später immer wieder von einem »anderen« Goethe. In einem Vortrag vom Februar 1933 erörterte er den Übergang vom alten Reich zum Rheinbund und Untergang Napoleons noch ohne besonderen Bezug auf Goethe. 7 Damals begegnete er in den Kreisen der »konservativen Revolution« aber der »Jugend ohne Goethe« (Kommerell) und mit Hölderlin, so etwa dem Germanisten Veit Rosskopf. Nach dem Ermächtigungsgesetz besuchte Schmitt Ende März 1933 mit dem Goetheaner Johannes Popitz zusammen in Weimar das Goethe-Haus und Goethe-Grab (TB 1930/34, 274 f.). Damals empfand er das Ende des langen bürgerlichen Jahrhunderts und den revolutionären Umbruch des Nationalsozialismus intensiv. Mitte Mai 1948 registrierte er dann den »großen Schritt von Goethe zu Hölderlin«, den er im März 1933 schon emphatisch wahrgenommen hatte: »Bei ihm ist Heidegger verblieben.« (GL 115) Damals beginnt er mit der Revision seines Verhältnisses zu Goethe. Im Oktober 1949 schreibt er in einer Rezension: »Zweifellos wäre es Goethe übel ergangen, wenn er nach 1815 in ein Säuberungsverfahren hineingeraten wäre. Bestenfalls hätte man ihn als Mitläufer davonkommen lassen. Ganz besonders belastend und kaum noch entschuldbar wäre ein Hymnus aus dem Jahre 1812 gewesen, den er an ›Ihro der Kaiserin von Frankreich Majestät‹ gerichtet hatte, an die Gattin des Korsen und mittelbar an diesen selbst. Dieser Hymnus musste einen Sturm moralischer Entrüstung gegen den ›Fürstenknecht‹ entfesseln.« (SGN 478)

Schmitts spitze Deutung Goethes als Mitläufer ist ziemlich schief: Buchstäblich spricht Goethe von der Versöhnung oder Aussöhnung Napoleons mit Deutschland durch dessen Heirat mit der österreiDazu Verf., Friedrich Schillers ›Demetrius‹. Ein später Baustein zu Schmitts HitlerBild, in: Kriegstechniker des Begriffs, Tübingen 2014, 111–136 7 Carl Schmitt, Bund, Staat und Reich. Vortrag in Berlin am 22. Februar 1933, in: Schmittiana 2 N.F. (2014), 21–41, hier: 23 ff. 6

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Späte Wendung zu Goethe?

chischen Kaiserstochter: Der Zyklus Karlbader Huldigungsgedichte richtet sich an die Kaiserin von Frankreich, Napoleons Gattin, die 1811 den lange ersehnten Sohn und Thronprätendenten gebar. Goethes Gedicht huldigt Napoleon als Friedenskaiser und vergleicht ihn in der caesaristischen Nachfolge mit Alexander: »Was Tausende verwirrten, löst der Eine. / Worüber trüb Jahrhunderte gesonnen, / Er übersieht’s in hellstem Geisteslicht, / Das Kleinliche ist alles weggeronnen, / Nur Meer und Erde haben hier Gewicht.« Goethe preist die Kaiserin, Tochter des österreichischen Kaisers, als »Vermittlerin nach Götterart«: »Als Mutter, die, den Sohn im Arme, pranget, / Befördre neuen, dauernden Verein; / Sie kläre, wenn die Welt im Düstern banget, / Den Himmel auf zu ew’gem Sonnenschein! / Uns sei durch sie dies letzte Glück beschieden – / Der alles wollen kann, will auch den Frieden.« 8

Goethe dediziert der Kaiserin also eine Friedensmission; sie soll den Sohn als Friedenspfand einsetzen und Napoleon zur Friedenspolitik verleiten. Heiratspolitik, dynastische Anerkennung und legitime Thronfolge sollte den Krieg zwischen den Landmächten überflüssig machen. Goethe beantwortet seine Audienz bei Napoleon 1808 in Erfurt 1812 also auch mit einem Huldigungszyklus an die Kaiserin, als späte Gabe auch an Napoleon, der in Erfurt einst ein Theaterstück über Caesars Tod gewünscht hatte. Er weist der Gattin die epimetheische Rolle des Ausgleichs der titanischen Kraft zu. Das Motto im Nomos der Erde präludiert so bereits der späteren zentralen Rolle von Goethes »ungeheurem Spruch«. Die spätere

Johann Wolfgang v. Goethe, Ihro der Kaiserin von Frankreich Majestät (FA I, 2, 441); der Zyklus ist meist unter dem Titel »Im Namen der Bürgerschaft von Carlsbad« abgedruckt. Die Gedichte richten sich zunächst an die Kaiserin von Österreich, die Stiefmutter von Marie Luise, sodann an den österreichischen Kaiser Franz I und zuletzt an die Tochter aus erster Ehe, Marie Luise, die am 2. Juli 1812 ebenfalls nach Karlsbad kam und von Goethe lyrisch begrüßt wurde. Rekonstruktion von Goethes Verhältnis zu Napoleon bei Gustav Seibt (Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung. München 2008); Goethe sah Napoleon nicht nur in Erfurt. Sein Haus in Weimar war im Zuge der Kriege zwischen 1806 und 1813 mehrfach von Einquartierungen u. ä. betroffen. Die Friedenshoffnungen von 1812 korrigierte Goethe 1816: »Wer alles will will sich vor allem mächtig, / Indem er siegt, lehrt er die andern streiten«. Trotz seiner verstärkten Wahrnehmung der titanischen Gewalttätigkeit hielt Goethe aber an seiner anerkennenden Bewunderung Napoleons fest. Seibt folgend war es die Achtung der »Produktivität der Taten« hinter der Gewalt. Goethes »Begriff persönlicher Größe« terminierte in der Rede vom Dämonischen. Napoleons Titanismus wurde in der Faust-Gestalt geborgen, und im fortdauernden Napoleon-Kult verehrte und bewunderte Goethe Napoleon nicht nur, sondern er identifizierte sich auch mit ihm.

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Kontroverse zwischen Schmitt und Blumenberg greift auf diese Vorgeschichte, das »Motto« zum »Spruch«, aber nicht näher zurück. Vielleicht kannte Blumenberg die starke Bedeutung nicht, die Schmitt dem Huldigungsgedicht von 1812 zugewiesen hatte. Schmitt hatte Brücken zwischen Napoleon und Hitler geschlagen und sich als »Mitläufer« mit Goethe identifiziert. Solche Identifikationen – oder »Präfigurationen« – sind in der späten Kontroverse dann erneut zentral. In seinem Schlusswort zur Politischen Theologie II verteidigt Schmitt seine Perspektive der »Säkularisierung« oder »Umbesetzung« dabei gegen Blumenbergs »Legitimität der Neuzeit«; er bestreitet die Autonomisierung der theoretischen Neugier oder »Wissbegierde des Menschen« und liest Blumenbergs Profilierung der Legitimität oder Eigenständigkeit der Neuzeit theologisch als einen »gnostischen Dualismus« und Epochenbruch, der neue Feindschaften entzündete. Diese Fragen macht er an einem Deutungsstreit von Goethes Motto nemo contra deum nisi deus ipse fest. Schon die Besprechungsabhandlung Clausewitz als politischer Denker exponiert das Motto. Die Abhandlung erörtert 1967 verschiedene preußisch-deutsche Feindschaften gegen Napoleon und stellt Fichtes Hass auf Napoleon dabei Goethe und Hegel entgegen. Goethes Motto bezieht Schmitt auf die Mythisierung und »Dämonisierung« Napoleons. Schmitt schreibt: »Goethe schuf die vielerörterte Dämonisierung im 4. Buch seiner Autobiographie ›Dichtung und Wahrheit‹ und stellte sie unter das rätselhafte lateinische Motto nemo contra deum nisi deus ipse. Hegel erblickte die Größe Napoleons darin, dass er durch keinen anderen als nur durch einen von ihm selbst erzeugten Feind besiegt werden konnte.« (FP 902)

Schmitt verweist beiläufig erneut auf Goethes Hymnus von 1812, thematisiert das Verhältnis zu Napoleon aber noch nicht ausführlich, sondern beschränkt sich mehr auf die »Napoleon-Bewunderung Hegels« als Alternative zum fanatischen Nationalismus Fichtes. Schmitt scheint die eingehendere Auseinandersetzung mit Goethes Napoleonbild in der Clausewitz-Abhandlung noch bewusst zu umgehen. Schon in seiner Auseinandersetzung mit Schillers Demetrius sah er Napoleon aber in der Parallele zu Hitler. Es lässt sich deshalb behaupten, dass er eine Parallelisierung zwischen der Konstellation Napoleon-Goethe und Hitler-Schmitt vornimmt. In der Politischen Theologie II knüpft er dann erneut an die Napoleon-Hitler-Identifikation an, wenn er einleitend betont, dass das Motto »während des letzten 342 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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Krieges 1939–1945 in zahllosen nichtöffentlichen Gesprächen von Goethe-Kennern zitiert und interpretiert worden« (PT II 122) sei. Hitler erscheint damit als Prototyp des aggressiven Neuen Menschen, der »tabula rasa« macht. Der Neue Mensch des Schlussworts ist nicht jedermann, Hinz und Kunz, sondern der homo novus Roms und der Renaissance, der von Machiavelli beschworene Condottiere, Emporkömmling, Freibeuter, Glücksritter, Usurpator, Picaro. Erst mit seinem Schlusswerk Politische Theologie II gelangt Schmitts langer Weg zu Goethe zum Ziel einer abschließenden starken Deutung von Goethes Credo als »dritter Religion« der Deutschen. Schmitt verweist zur »Entzifferung« oder philologischen Klärung des Mottos dafür zunächst auf eine »christologische« Referenzstelle bei Jakob Michael Lenz. Das ist nicht unpolemisch, hatte Goethe doch mit Lenz gebrochen und davon in Dichtung und Wahrheit berichtet. Der Lenz-Beleg ist schon deshalb relativ schwach, weil kaum anzunehmen ist, dass Goethe seine Autobiographie durch Lenz erklären wollte. Verglichen etwa mit dem hohen philologischen Aufwand Sprangers 9 ist Schmitts Verfahren auch sehr thetisch. Ein abschließendes »Gegenbild« in »Gedanken-Reihen« sollte aber eine Antwort auf Blumenberg bieten. Der Zusammenhang der »christologischen« Deutung des Goethe-Mottos mit der eigenen Gedankenreihe ist auf den ersten Eindruck keineswegs klar; Schmitt präsentiert seine Gedankenreihe als Neuansatz, scheint seine Politische Theologie der Neuzeit, Gegendeutung zu Blumenberg, aber als eine »stasiologische«, konfliktdynamisch in asymmetrischen Gegenbegriffen argumentierende Auslegung des »Gott gegen Gott« zu verstehen. Gegen Blumenberg exponiert Schmitt die destruktive Kraft neuzeitlicher Autonomisierung und »Selbstermächtigung« des Menschen und spricht wortgewaltig von einem »Prozess-Progress« des neuzeitlichen und neuen Menschen. Goethes nemo contra deum nisi deus ipse setzt er ein nemo contra hominem nisi homo ipse entgegen. Hobbes’ wölfischer Naturzustand klingt an, aber auch der Prometheus-Mythos. Ernst Hüsmert übersetzt Schmitts Gegenspruch: »Er [der Neue Mensch] reißt aus dem Himmel den Blitz, neue Blitze zündet er selbst. / Er entwendet dem Gotte sein Reich, neue Bereiche gründet er

Eduard Spranger, Nemo contra deum nisi deus ipse, in: ders.: Goethe. Seine geistige Welt. Tübingen 1967, 416–439

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selbst. / Der Mensch ist dem Menschen ein Maß, das sich ändert / und keiner sein Feind, es sei denn er selbst.« 10

Positioniert Schmitt sich hier zuletzt als der »andere« Goethe? Oder schreibt er Goethe die epigrammatische Einsicht in die problematische Selbstverabsolutierung und Selbstgefährdung des Neuen Menschen zu? Blumenbergs Buch Die Legitimität der Neuzeit 11 tauft er im Handexemplar (RW 265–24714) in »Selbstlegitimierung der Neuzeit durch Neugier« um und ergänzt: »oder: / Die Legitimität der Fiktion des Noch-Nie-Dagewesenen; der nicht vor-strukturierten Komplexität; der Noch-Nie-maligkeit; der Zukunft ohne Vergangenheit; der tabula rasa ohne tabula; Erschaffung einer Neuen d. h. aus dem Nichts zu schaffenden Welt und Erschaffung auch der Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Schöpfung, nämlich das Nichts, 12 gleich mit und liefern dann den zuoberst Allmächtiger wohl aber – weil Millionen Jahre mehr spielen keine Rolle und wir genug Zeit haben, Allmächtiger Gottes, den wir aber heute schon anbeten sollen«.

Schmitt glaubte nicht an einen Allmächtiger Gottes und eine Schöpfung aus dem Nichts und setzte das Dasein Gottes der Welt voraus. In der Blumenberg-Replik schwingt dennoch viel Zustimmung und Anerkennung mit.

4.

Blumenbergs Erneuerung der »Erledigungsthese« in der Arbeit am Mythos

So eigenartig die antithetische Kritik auch war, nahm Blumenberg sie doch überaus ernst. Schon in seiner ersten Reaktion auf Schmitts Replik schreibt er, dass ihn keine andere Auseinandersetzung mit der Legitimität der Neuzeit »so innerviert« habe, »über den dort erreichten Stand hinaus zu gehen« (HBCS 105). Schon in der brieflichen Korrespondenz widerspricht er dabei Schmitts »christologischem Befund« und gibt eine »polytheistische Interpretation« (HBCS 106), die eine Brücke zur »Prometheus-Situation« und zeitgenössischen Wahrnehmung Napoleons als Prometheus schlägt. Später erneuert er seine alternative »polytheistische« Deutung und Ernst Hüsmert, Carl Schmitt in Plettenberg. In: Archivpflege in Westfalen und Lippe (1997), Heft 46 (Oktober), 3–6, hier: 6. 11 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 1966 (RW 264–24714) 12 Schmitts Notat ist schwer lesbar und wohl grammatisch nicht korrekt. 10

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Blumenbergs Erneuerung der »Erledigungsthese« in der Arbeit am Mythos

meint: »Goethes Apophthegma ergreift die Allgemeinheit der Bedeutung des Polytheismus als seine Gewaltenteilung, seine Verhinderung der absoluten Macht und jeder Religion als eines Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit von ihr.« (HBCS 133) Blumenberg antwortet auf Schmitts Kritik vor allem in zwei Schritten: Zunächst nimmt er die Bedenken gegen den Legitimitätsbegriff ernst; Schmitts Problematisierung der neuzeitlichen »Legitimität« der »Selbstermächtigung« stellt er in Säkularisierung und Selbstbehauptung 13 den Begriff der »Selbstbehauptung« entgegen und reklamiert so ein defensives Notrecht der Selbstverteidigung und Identitätsbewahrung; im ersten Schritt bestätigt er also das agonale Moment im Epochenumbruch und kehrt die Feinderklärung um: Im Prozess der Säkularisierung muss sich die Neuzeit gegen den Überhang alter Verdächtigungen und Legitimitätszweifel zur Wehr setzen. Im zweiten Schritt setzt Blumenberg in der Arbeit am Mythos (AM) 14 sich dann mit dem Goethe-Spruch auseinander, den Schmitt als zentrale Selbsterklärung der »Legitimität der Neuzeit« ansetzte. Eingehend argumentiert er nun gegen Schmitts »christologische« Auffassung, die die anthropologische Selbstauffassung des neuzeitlichen Menschen als säkularisierte Christologie las, und führt seine »polytheistische« Gegendeutung aus. Seine Antwort steht religionsphilosophisch gleichrangig neben Petersons Angriff von 1935. Blumenberg wiederholt die »Erledigungsthese« vom Standpunkt erneuter Auseinandersetzung von Polytheismus und Monotheismus. Dabei stimmt er Schmitt in der Auffassung zu, dass Goethe sein »Prometheus-Programm« (AM 597) im Prometheus-Verzicht gleichsam an Napoleon abgetreten und für sich abgelegt habe und sich nach Pandora und der Begegnung mit Napoleon mehr einer epimetheischen Selbstidentifikation verschrieb. Blumenberg zeigt eingangs, wie Goethe die Identifikation für sich entdeckte und welche Rolle sie im Spinozismusstreit spielte. Die titanischen Auseinandersetzungen zwischen Jacobi und Goethe, Lessing und Mendelssohn um das antichristliche Bekenntnis zu Spinoza erscheinen ihm gleichsam als Vorboten des »ungeheuren Spruchs«. Blumenberg führt Schmitts Ansatz dann weiter, wenn er Goethes Verhältnis zu Napoleon in der Prometheus-Identifikation erörtert: Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung. Frankfurt 1974 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos. Frankfurt 1979 (Kürzel: AM); vgl. ders., Goethe zum Beispiel, Frankfurt 1999

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»Prometheus war Napoleon, Napoleon Prometheus«, lautet die Kapitelüberschrift; die Pointe des Titels liegt in der Übergabe des Titels an Napoleon, im Prometheus-Verzicht Goethes. Zwar hielt Goethe dem »Götterblick« (AM 514) des Imperators stand, und für einen Moment erfüllte der ungeheure Spruch sich als kongeniale Begegnung des welthistorischen Heroen mit dem Dichter auf Augenhöhe; dabei bewährte Goethe seine Kraft auch in der »Verweigerung« (AM 529) von Auftragsdichtung. Der »Einbruch Napoleons« in Weimar bedeutete ihm dennoch eine »große Störung und Verstörung« (AM 537), eine Krise, die er bewältigte, indem er Napoleons Schicksal, bis hin zur »Felseninsel« (AM 543) St. Helena, Napoleons Kaukasus, mit Prometheus identifizierte und in der »Selbsterfindung« (AM 604) von seiner Jugendidentifikation Abstand nahm. Literarisch zeigt sich diese »conversio« schon in der Pandora, entwirft das Stück doch im »vollendeten Widerruf« zur Jugenddichtung eine epimetheische »Resignation des Prometheus« (AM 552). Soweit geht Blumenbergs Lesart mit Schmitt einig. Seine Lesart des »ungeheuren Spruchs« weist dann aber Schmitts »christologische« Deutung auf breiter Front zurück. Sie korrigiert Schmitt zunächst durch den unstrittigen Nachweis, dass Eckermann posthum das Motto wählte; dem Spruch hätte Goethe aber zustimmen können; Riemer verstand ihn als »Verzicht auf das Prometheische« und »Scheitern der prometheischen Selbstdefinition« (AM 574). Schmitts Lenz-Beleg sei irreführend; dagegen fänden sich bei Ovid verwandte Verse, die das mythisch-polytheistische »Strukturprinzip von Ausgleich und Gewaltenteilung« (AM 584) bestätigten. Blumenberg hält jedoch eine andere Formulierung für initial: Spinozas Forderung der Gottesliebe: qui Deum amat, sonari non potest, ut Deum ipsum contra amet. Wer Gott liebt, dem kann es nicht darum gehen, dass Gott ihn wiederum liebt. (AM 587) Damit sei Schmitts christologische Deutung definitiv widerlegt: »Vom Spinozismus her sagt der ›ungeheure Spruch‹, im sprachlichen Material Spinozas, dass nichts und niemand gegen Gott sein kann, weil dies den Widerspruch eines zweiten Gottes implizierte.« (AM 588) Goethes »Weiterarbeit am Satze des Spinoza« habe den »Gott der Metaphysik« und das Credo der »Selbstlosigkeitsforderung« ästhetisch und mythisch umgeformt: »Die Formeln, die Goethe gebraucht, sind nur polytheistisch vollziehbar, weil es weder im Spinozismus noch im Monotheismus so etwas wie ein Nachlassen vor der Absolutheit geben kann.« (AM 594) Der christologische »Eifer« (AM 601) Schmitts 346 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Blumenbergs Erneuerung der »Erledigungsthese« in der Arbeit am Mythos

sei völlig haltlos. Goethes Spruch sei weder mit Christentum noch mit Monotheismus vereinbar. Damit weist Blumenberg Schmitts Deutung insgesamt entschieden zurück; er erneuert Petersons scharfen Schnitt zwischen Christentum und Polytheismus und verweist Schmitt auf Spinoza als Gott der Philosophen. Allerdings bestätigt er die zentrale Bedeutung Napoleons für Goethe. Schmitts Verhältnis zu Hitler spricht er aber nicht an. Sollte er die Parallelisierung der Konstellation Napoleon-Goethe mit Hitler-Schmitt überlesen haben? Dass Blumenberg die politische Bedeutung solcher Parallelisierungen sah, zeigt die Nachlasspublikation Präfiguration, 15 die »ursprünglich« – laut Nachwort der Herausgeber – als Kapitel für die Arbeit am Mythos bestimmt war und dort vielleicht auf das Schmitt-Kapitel hätte folgen sollen. Als »Präfigurationen« erörtert Blumenberg mythopolitische Selbstidentifikationen Hitlers im Rückgriff auf Vorgänger wie Napoleon und Friedrich II. Detailliert beschreibt er Hitlers Griff ins mythische Arsenal und Goebbels’ propagandistische Stützung dieses »narzisstischen« Kurzschlusses von »Lebenszeit und Weltzeit«: die mythische Realitätsflucht und Verzerrung der Gegenwart im Spiegel mythischer Präfigurationen. Blumenberg zielt auf den komischen Effekt der Stützung des Mythos durch Goebbels, des letzten Jüngers des Führers. Schmitts präfigurative Spiegelung der Konstellation Hitler-Schmitt in der Konstellation Napoleon-Goethe erscheint ihm dagegen sekundär. Goebbels interessiert ihn als effektiven Jünger des Führers mehr. Blumenberg demontiert die großen Identifikationen und Präfigurationen: zuletzt Hitlers Prätention auf Friedrich-Nachfolge und neue Mirakel des Hauses Brandenburg. Herfried Münkler 16 führte solche Präfigurationen und mythopolitische Ironien breiter aus. Blumenberg stellt Schmitts »christologischem« Selbstverständnis eine mythopolitische Lesart entgegen. Er kann sich auf die theologische Kritik beschränken, weil er das Denken in historischen Parallelen und mythischen Identifikationen und Präfigurationen, das für Schmitt so kennzeichnend war, am gewichtigeren Thema Hitlers durchdenkt. Blumenberg klappt sein Visier gegenüber Schmitt allerdings selbst hier nicht ganz auf. Seine politische Kritik des mythischen Denkens hält er bis auf den Nachlass zurück. Seine AusführunAngus Nicholls / Felix Heidenreich (Hg.), Hans Blumenberg: Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos, Frankfurt 2014 16 Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009 15

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gen sind eine respektvolle und höfliche, gelehrte und konsequente Erledigung von Schmitts Replik: eine Erledigung der Erledigung von Petersons Erledigungsthese. Blumenberg führt Petersons Sache gegen Schmitt in der Arbeit am Mythos und im Abstand von über vier Jahrzehnten erneut. Schmitts Parallelisierung von Peterson mit Blumenberg war also 1970 erstaunlich hellsichtig.

5.

Schmitts Glossen im Handexemplar

Epilogisch seien einige Bemerkungen zu dem Handexemplar 17 der Arbeit am Mythos ergänzt, das Schmitt am 15. Dezember 1979 durch den Verlag geschickt bekam. Er hat es nicht ganz gelesen und ziemlich ungleichgewichtig durchgearbeitet. Seine Unterstreichungen wirken mitunter beliebig, war Schmitt damals doch bereits über 91 Jahre alt. Unter den Besitzvermerk schreibt er: »Bin ich Napoleon oder bin ich eine Laus?« 18 »Bei Goethe nicht viel Neues«, notiert er in den Einband. Den Titel variiert er gleich doppelt: »Arbeit am Goethe-Mythos oder: die dritte Religion des Deutschen«; »Arbeit am Goethe-Mythos oder: der ungeheure Spruch«. Darunter steht: »Prometheus-Rolle eines Proteus-Genies. / Abtragung des alten Ernstes; / der neue Ernst lässt nicht mit sich / spassen (Seite 685) / kennt kein[en] Sabbat«. Als Proteus-Genie bezeichnet Schmitt hier weniger Goethe als Blumenberg, worauf auch folgende Bemerkungen hindeuten: »Hier ist List im Spiel und Abtragung des alten Ernstes. Den neuen Ernst gibt es noch nicht«. Schmitt positioniert sich dagegen: »Nach wie vor setze ich dieser Arbeit am Mythos meine Arbeit an einem rechtswissenschaftlichen Begriff entgegen.« »Ungeheure Belehrung in einem ungeheuren Spruch«, wittert er im Buch und liest schon den Titel des ersten Teils als Selbstwiderlegung Blumenbergs und Bestätigung seines Ansatzes. Blumenbergs »Archaische Gewaltenteilung« kommentiert er: »sic! Politische Theologie«. Die Rede von »Gewaltenteilung« hinterfragt er: »Pluralistische Metapher? Verfassungsjuristische Allegorie? Analogie? Metaphysik«? Schmitt spießt einige semantische Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten auf und deutet die Möglichkeit an, dass auch Blumenbergs »Metaphorologie« und dekonstruktive Manier als Metaphysik, Theologie oder neue Dogmatik lesbar ist. 17 18

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. Nachlass Carl Schmitt (RW 265–27770) Dazu schon GL 279: »Bist Du Napoleon oder eine Laus?« (Eintrag vom Juli 1952).

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Schmitts Glossen im Handexemplar

Ans Ende des vierten Teiles, der die Schmitt-Auseinandersetzung bringt, notiert er (AM 605): »Goethe war der erste Goethe-Philologe (Joh.[annes] Popitz). Erfinder des Eckermann als Fortsetzer des Winckelmann«. Ähnlich wie Goethe Winckelmann und sein Jahrhundert historisierte, wurde der getreue Johann Peter Eckermann zum Protokollanten, Editor und Interpreten. Wenn Goethe sein erster Philologe war, ist die Arbeit am Goethe-Mythos auch als Goethe-Philologie zu führen. Deshalb kann Blumenbergs Arbeit die PrometheusRolle des Menschenfreundes übernehmen und den »alten Ernst« entmythologisieren. Schmitt erkennt in dieser Arbeit am Mythos einen »neuen Ernst« und neuen Dogmatismus, den er selbst als »Politische Theologie« bezeichnen würde. Auch im Handexemplar besteht er gegen Blumenberg noch auf seiner Perspektive, seine Parallelisierung der Erledigungsthesen von Peterson und Blumenberg hält er fest. Zusammengefasst könnte man also von einer Erledigung der Erledigung der Erledigung der Erledigungsthese sprechen: Peterson formulierte 1935 eine »Erledigungsthese«; Schmitt erledigte 1970 diese Erledigungsthese und bestand auf der Aktualität seiner Perspektive »Politische Theologie«; Blumenberg erledigte 1979 mit seiner polytheistischen Deutung und Arbeit am Mythos Schmitts Erledigung der Erledigungsthese Petersons; im Handexemplar erledigte der uralte Schmitt dann schlussendlich den »neuen Ernst« der Erledigung der Erledigung der Erledigungsthese. Dieser Erledigungsdruck belegt wohl, dass Schmitts »anderer« Goethe bis zuletzt ideenpolitische Motive hatte.

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Teil IV: Aktualisierungsskizzen

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XXII. Carl Schmitts Aktualität. Sondierung eines globalen Phänomens

Carl Schmitt ist heute in vielen Debatten als Theoretiker der Verbindung von Politik und Recht sehr präsent. Auch seine historisierende Verabschiedung der neuzeitlichen Epoche konstitutioneller Staatlichkeit wurde als Stichwort breit aufgenommen. Seine zügigen Formeln zum Souveränitätsbegriff und Begriff des Politischen gehören zum Inventar jedes Politikwissenschaftlers. Der Staat definiert sich durch ein stets gefährdetes »Monopol der legitimen Gewaltsamkeit« (Max Weber). Schmitt prägte die historisch wie systematisch gemeinte Gegenformel: »Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus«. Überall schlüpfen heute neue politische Subjekte aus dem staatlichen Gehäuse der Hörigkeit hervor. Der letzte Träger des »Risikos des Politischen« ist in Schmitts Werk der »Industrie-Partisan«. Schmitt sah den politischen Diskurs als ein rhetorisches Kraftfeld an und betrieb semantische Politik. So fehlt er heute auch selten in den Debatten um Staatlichkeit und Politikverflechtung nach Max Weber. Seine akademische Aktualität kann aber nicht auf einen Aspekt – wie die Unterscheidung des Begriffs des Politischen vom Staatsbegriff – festgelegt werden. Deshalb wird hier das weite Feld seiner Debattenpräsenz und systematischen Aktualität sondiert. Marginale Aspekte – wie etwa das Shakespearebild – kommen dabei nicht zur Sprache.

1.

Selbsthistorisierung und systematische Stichworte

Das erste große Schmitt-Symposion eröffnete Helmut Quaritsch 1 1986 mit tentativen Überlegungen zum Umgang mit Werk und Person. Er kritisierte die »perspektivische Verengung« auf moralisch-politische Urteile und verwies auf die anhaltende Präsenz Schmitts in Helmut Quaritsch, Über den Umgang mit Person und Werk Carl Schmitts, in: ders. (Hg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, 13–21

1

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XXII. · Carl Schmitts Aktualität. Sondierung eines globalen Phänomens

der Literatur und Diskussion. Zuletzt unterschied er »drei Lager« des Umgangs: die »Aufarbeitung« der Rolle als politischer Akteur, namentlich im Nationalsozialismus, die »Anziehungskraft« der »Verbindung von Geistesgeschichte und positivem Recht« sowie die selektive systematische Attraktivität der Politik- und Staatslehren. Quaritsch plädierte für einen nüchternen Umgang analog anderer »Klassiker« wie Bodin. Der Tagungsband erschien 1988, zum 100. Geburtstag, als Auftakt zu einer damals kaum absehbaren Flut internationaler Forschungsliteratur. Die wichtigsten Innovationen gingen dann von der »geisteswissenschaftlichen« Eroberung des Juristenwerks und der Öffnung des Nachlasses mit Editionen nachgelassener Texte, Briefwechsel und Tagebücher aus. Diese neueren Tendenzen lassen sich mit den Stichworten »Rekonstruktion und Historisierung« bezeichnen. Zunächst wurde die juristische und politische Rekonstruktion durch eine geistesgeschichtliche Gegenprobe und politisch-theologische Rekonstruktion ergänzt. Seit den frühen 90er Jahren wurden die resultierenden dogmatischen Kohärenzvermutungen dann durch die Entdeckung des historischen Akteurs auf neuer Quellenbasis überholt. Das christlich-katholische Vorurteil ist darüber weitgehend zerfallen. Die apokalyptisch-häretische Religiosität und der Antisemitismus wurden immer deutlicher. Als bedeutender Theologe oder Philosoph erscheint Schmitt heute kaum noch. Sein selektives Verhältnis zu anderen »Klassikern« (wie Hobbes, Donoso Cortés) wurde inzwischen ausgelotet und seine Rolle als historischer Akteur der Weimarer Endzeit und des Nationalsozialismus detaillierter erforscht. Um 1988 betrachteten weite Teile der Forschung Schmitt noch als einen bürgerlichen Professor, der sich als juristischer »Aufhalter« aus politischer Verantwortung und Sorge in die Politik verirrt hatte. Seit Veröffentlichung der frühen Tagebücher wird heute aber immer plastischer, wie radikal, antibürgerlich und chaotisch Schmitt dachte und lebte. Die extensive und intensive Forschung hat sein Bild stark verändert. Dabei wurden immer neue Facetten entdeckt und für interessant befunden. Die historische Forschung wird weitere Entdeckungen machen. Vielleicht ist aber langsam die Zeit gekommen, der Rekonstruktion und Historisierung eine neue Phase der theoretischen Diskussion und Aktualisierung folgen zu lassen. Vielleicht ist dabei heute der Jurist wieder an die Juristen zurückzugeben. Juristen können allerdings schwerlich transhistorisch aktuell sein. Der juristische Diskurs ist präsentistisch orientiert und hat we354 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Selbsthistorisierung und systematische Stichworte

nig Bedarf für rechtshistorische Besinnung und Klassikerpflege. Erik Wolf 2 publizierte 1939 eine Galerie der »Großen Rechtsdenker in der deutschen Geistesgeschichte«; er definierte die Juristengröße dabei durch die Artikulation eines hohen »Rechtsgedankens«. Böckenförde erinnerte an die Einzelfallgerechtigkeit als Ethos der Juristen; 3 er betonte die naturrechtliche Orientierung in der metajuristischen Suche nach Gerechtigkeit und erhob Schmitt dabei nicht zum Beispiel. Schmitt betrachtete sich rückblickend auch eher als Repräsentant einer Krisenlage, die das Gerechtigkeitsethos zwischen Legalität und Legitimität, Theologie und Technik zerrieb. Wenn er als Jurist auch kein Vorbild war, hat er seine Zeit vielleicht doch »in Gedanken gefasst« (Hegel) und die Krise der Zeit gespiegelt. Eine solche Repräsentanz garantiert aber noch keine Aktualität. Als Mommsen 4 Max Weber als nationalistischen Machtstaatstheoretiker in seine Zeit stellte und historisierte, verwies Löwenstein 5 geradezu wütend auf die »Vorprojektionen« begrifflicher Einsicht in das Zeitalter bürokratischer Herrschaft und des Staats als Betrieb. Solche Vorprojektionen nahm Schmitt für sein Werk auch in Anspruch. Er verstand sich als »Wegbereiter« und »Vorkämpfer« und verglich sich gerne mit Hobbes, dem »Lehrer einer großen politischen Erfahrung; einsam wie jeder Wegbereiter; verkannt, wie jeder, dessen politischer Gedanke sich nicht im eigenen Volk verwirklicht; ungelohnt, wie der, der ein Tor öffnet, durch das andere weitermarschieren; und doch in der unsterblichen Gemeinschaft der großen Wissenden der Zeiten, ›a sole retriever of an ancient prudence‹. Über die Jahrhunderte hinweg rufen wir ihm zu: Non jam frustra doces, Thomas Hobbes!« (L 132)

Zuletzt schrieb er gerne in Widmungsexemplare: »Jeder alte Mann wird ein König Lear!« 6 Er zitierte damit Goethe:

Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. Ein Entwicklungsbild unserer Rechtsanschauung, Tübingen 1939 3 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Vom Ethos der Juristen, Berlin 2010 4 Wolfgang Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, Tübingen 1960 5 Karl Löwenstein, Max Webers staatspolitische Auffassungen in der Sicht unserer Zeit, Frankfurt 1965 6 Werner Böckenförde, Predigt im Requiem für Carl Schmitt. Reprint zum 25. Todestag Carl Schmitts am 7. April 2010, Privatdruck des Carl Schmitt-Fördervereins Plettenberg e. V. 2

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Ein alter Mann ist stets ein King Lear! Was Hand in Hand mitwirkte, stritt, Ist längst vorbei gegangen; Was mit und an Dir liebte, litt, Hat sich wo anders angehangen; Die Jugend ist um ihretwillen hier, Es wäre törig zu verlangen: Komm, ältele du mit mir 7

Die »Vorprojektionen« und Einblicke in unsere Gegenwart sind demnach für Schmitt eher zufällig und sekundär. Die politische Welt ist in stetem Wandel. Jede Generation muss sie neu auf den Begriff bringen. Schmitt wollte kein Prophet sein und Zukunft antizipieren. Er historisierte sein Werk und adressierte sich nicht mehr offensiv mit »klassischen« Einsichten an eine ferne Nachwelt. Er sah die Auflösung des modernen Nationalstaats und suchte mit seiner Großraumlehre noch hegemoniale Reichsbildungen zu rechtfertigen. Er betrachtete die Globalisierungstendenzen dabei als ein politisches Unglück und lehnte jeden weltstaatlichen Universalismus ab. Schmitts Spätwerk trägt endgeschichtliche Züge. Dennoch braucht man nur einige Buchtitel und Stichworte zu zitieren, um seine diskursprägende Kraft und Präsenz in der Diskussion zu evozieren. Seine Theorieentwicklung geht von grundlegenden juristischen Unterscheidungen von Moral und Recht (Über Schuld und Schuldarten), Gesetz und Urteil (Gesetz und Urteil), Macht und Recht (Der Wert des Staates) aus; Schmitt historisierte dann am Beginn der Weimarer Republik die bürgerliche Mentalität und Verfassung (Politische Romantik und Die Diktatur), bestritt die Legitimität und Integrationskraft des liberalen Parlamentarismus (Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus) und mobilisierte die personalistischen Ressourcen des Christentums (Politische Theologie und Römischer Katholizismus und politische Form) gegen den liberalen Gesetzgebungsstaat. Er bekämpfte die Entmachtung der nationalen Souveränität und Legitimität des Status quo von Versailles und Genf (Die Rheinlande als Objekt, Die Kernfrage des Völkerbundes), betonte die extrakonstitutionelle politische Energie und Souveränität der Nation und mobilisierte sie in den antiliberalen und außerparlamentarischen Bewegungen der Weimarer Republik (Volksbegehren und Volksentscheid, Der Begriff des Politischen). Er systematisierte seine Zitiert nach: Goethes Sprüche in Reimen. Zahme Xenien und Invektiven, hrsg. Max Hecker, Leipzig 1908, 69

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Präsenz in der Diskussion

zentrale Unterscheidung von Liberalismus und Demokratie für eine antiliberale, präsidial dominierte Demokratie (Verfassungslehre), konstatierte eine Schere von Legalität und Legitimität und verteidigte die plebiszitär legitimierte Diktatur des Reichspräsidenten (Der Hüter der Verfassung, Legalität und Legitimität) um eines »autoritären« Umbaus willen. Nach 1933 schrieb er dem nationalsozialistischen Führerstaat eine Apologie (u. a. Staat, Bewegung, Volk). 1938 nahm er eine mythopolitische Rekonstruktion des »totalen« Staates vor (Der Leviathan). Er rechtfertigte die imperialaggressive NS-Reichsbildung (Völkerrechtliche Großraumbildung) bis zum Russlandfeldzug und Kriegseintritt der USA und konstatierte dann den Niedergang des kontinentalen Völkerrechts (Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, Land und Meer, Der Nomos der Erde). Seine wichtigste grundsätzliche Einsicht nach 1945 ist wohl die Entdeckung des Partisanen und technisch aufgerüsteten Weltterrorismus als neues politisches Problem (Theorie des Partisanen). Wichtige Thesen betreffen die Souveränitätsfrage, die Unterscheidung von Liberalismus und Demokratie und des Staatsbegriffs vom politischen Subjekt. Schmitts Diagnose der Auflösung des »bürgerlichen Rechtsstaats« ist in vielen Bemerkungen treffend und unter diversen Vorzeichen aktualisierbar. Auch seine Diagnose der Tendenz zu Großraum- und Reichsbildungen und Analyse des Übergangs vom »klassisch«-europäischen Völkerrecht zu konkurrierenden Völkerrechtsordnungen wurde in den letzten Jahren immer wieder aktualisiert. Dennoch sind seine Schriften heute in den Rechts- und Sozialwissenschaften jenseits aller politischen Belastungen nicht unproblematisch wirksam. Kaum eine Publikation ist makellos. Selbst größere, akademisch wirksame und bedeutende Schriften wie die Politische Romantik, Der Hüter der Verfassung, Der Nomos der Erde oder die Theorie des Partisanen haben gravierende Schwächen. Sachlich rund sind vielleicht nur Die Diktatur, die Verfassungslehre oder auch Legalität und Legitimität. Viele andere Texte sind in ihrer selektiven, polemischen und thetischen Zuspitzung höchst problematisch.

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Präsenz in der Diskussion

Die weltweite Wirkung und Publizität ist deshalb ein merkwürdiges Phänomen. Eine Generalerklärung verbietet sich aber offenbar, wenn 357 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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Schmitt auch in entlegene Sprachen, Länder und Kontinente übersetzt ist und diskutiert wird. Die Aktualität eines Autors hängt an seiner Wirkungsgeschichte. Positivistisch betrachtet meint sie wenig mehr als die Geschichte seines »Ruhmes«. 8 In Sachen Schmitt ist man dabei in der komfortablen Situation, die globale Resonanz schon an der Anzahl der Übersetzungen und monographischen Publikationen messen zu können. Schon vor 1933 setzte die internationale Rezeption ein. Durch die nationalsozialistische Entscheidung bekam sie aber dann starken Auftrieb. Plötzlich wurde Schmitt nicht mehr als rechtsintellektueller Bohemien und radikaler Außenseiter, sondern als Repräsentant wahrgenommen. Das Studium seiner Schriften versprach nun wesentliche Aufschlüsse über die Vorgänge in Deutschland. Sogleich intensivierte sich die Übersetzung seiner Schriften. Die internationale Resonanz ist deshalb von der Rolle des »Kronjuristen« zunächst kaum zu trennen. Das große Buch über »Schmitts Stellung und Rolle im europäischen Faschismus« ist heute noch nicht geschrieben. Weltweit wird Schmitt aber als rätselhafter »Fall« politischer Verstrickung eines hoch begabten, vielfältig interessierten Intellektuellen in den Sündenfall der deutschen Nationalgeschichte wahrgenommen. Im Rechtsintellektualismus gilt er als »Klassiker«. Der alte Schmitt hatte Etatismus und Nationalismus aber historisiert. Zwar distanzierte er sich nicht von seinen früheren Schriften und äußerte sich auch über die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht offen bedauernd. In seinen umfangreichen Briefwechseln mit Armin Mohler und HansDietrich Sander beispielsweise, Vordenkern des neueren Nationalismus, ist aber nachzulesen, dass er eine schlichte Eins-zu-eins-Übersetzung seiner Schriften in die Bundesrepublik nicht für angemessen hielt. Nach 1945 ließ sich vom nationalsozialistischen »Fall« schwerlich absehen. Heute kann man leichter zwischen den theoretischen Anregungen und ihrer politischen Anwendung trennen. Schmitt dachte von den Polen »Souveränität« und »Ausnahmezustand«, Staatszerfall und Bürgerkrieg her. Die Bürgerkriegslage am Beginn der Weimarer Republik hatte er in München erlebt. Der »Bürgerkrieg« war ihm aber auch ein Negativszenario oder Schreckmythos. Konzentriert man sich auf die theoretische Summe und Substanz des Werkes, die Weimarer Verfassungslehre, so ist Schmitt ein »Trans8

Friedrich Gundolf, Caesar. Geschichte seines Ruhms, Berlin 1924

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Präsenz in der Diskussion

formationsanalytiker«. Er interessiert dann als Kritiker des »bürgerlichen Rechtsstaats«, Analytiker der Selbstauflösung und Transformation einer liberalen und demokratischen Verfassung in das »autoritäre« Präsidialsystem und den »totalen Staat« nationalsozialistischer Diktatur. Dadurch ist er unabhängig von seinem historischen »Fall« als Autor aktuell. Denn den »autoritären« Umbau liberaler Verfassungen gibt es heute – unter Putin, Erdogan oder anderswo – immer wieder. Vielfach zeigen sich Tendenzen zu einem »präsidialen« Umbau parlamentarischer Kultur und Republik. Seine Verfassungslehre wirkte deshalb auch über das fascistische Italien und francistische Spanien hinaus stark nach Südamerika. Heute hat er selbst den Fernen Osten, Japan und China erobert. Die Diskussion ist wirklich global, unter den deutschen »geisteswissenschaftlichen« Exportschlagern wohl nur mit Kant, Nietzsche und Hegel, Weber, Heidegger oder zuletzt Jürgen Habermas vergleichbar. Die Weimarer Verfassungslehre ist der Kern der Aktualität. Die Schriften nach 1933 sind nicht in gleicher Weise akademisch beachtlich. Schmitt selbst betrachtete sie mit einiger Ironie und einigem Zynismus nicht zuletzt als politische Interventionen: als Positionen und Begriffe im Kampf. Als solche sind sie interessant. Zentrale Aspekte der Weimarer Verfassungslehre sind der weite Rahmen der »Politischen Theologie«, der Souveränitätsbegriff, die prinzipielle und systematische Beschreibung des »bürgerlichen Rechtsstaats«, das Fundament des Gesetzesbegriffs, der »republikanische«, anti-universalistische Begriff des Politischen, mit seiner Trennung von Politik und Moral, die Diagnose einer Wendung zum Exekutivstaat, die Forderung nach einem »starken« Staat über der Gesellschaft und anderes mehr. Der Begriff des Politischen ist dabei in den neueren begriffsstrategischen Polarisierungen von Liberalismus und »Republikanismus« 9 als republikanisches Konzept kollektiver Selbstbestimmung lesbar. Schon Ernst Fraenkel 10 rechnete Schmitts »identitäre« Demokratie zum illiberalen »Erbe« Rousseaus, das nach 1945 für den modernen Totalitarismus verantwortlich gemacht wurde. Von der »identitären« Demokratie rousseauistischer Prägung setzte Fraenkel die Zur begriffsstrategischen Profilierung etwa Jürgen Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt 1996, 277–292 10 Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964; vgl. Verf., Vordenker der souveränen Diktatur? Das antiliberale Rousseau-Bild und Carl Schmitt, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2012, 129–144 9

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»repräsentative« und »pluralistische« Demokratie angelsächsischer Provenienz ab, an die die Bundesrepublik anknüpfte. Das faschistische Projekt eines plebiszitär und »charismatisch« integrierten, extrakonstitutionellen »Führerstaates« ist freilich völlig obsolet. Es gibt heute keine politische Ordnung jenseits des bürokratischen Funktionsmodus des positiven Rechts. Liberalismus und Demokratie, Grundrechte und Volkssouveränität gehören »intern« 11 zusammen. Die »Legitimität« ist von der »Legalität« nicht zu trennen. Die Weimarer Verfassungslehre kann also als Transformationsanalyse sachlich aktuell sein. Was Schmitt dagegen zwischen 1933 und 1936 publizierte, verdient schwerlich fachliche Beachtung. Das nationalsozialistische Engagement führte zu einem dramatischen Niveauverlust. Schmitts polemisches Bild der Verfassungsgeschichte (Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches) mag interessante Akzente haben. Eine ernsthafte und klare verfassungspolitische Leistung findet sich aber nach 1933 nicht. 12 Schmitt hat den »Führerstaat« nicht deutlich konturiert und orientiert. Die Grundzüge seiner Konzeption vom »totalen« Staat finden sich in der Weimarer Literatur zum italienischen Fascismus, »autoritären« und »totalen« Staat teils klarer ausgeführt. Staat, Bewegung, Volk ist als Schrift wohl nicht zu retten. Allerdings konnte Schmitt sich nach 1933 verfassungspolitisch nicht offen äußern. Seit dem Sommer 1934 scheint er sein Register des Ausnahmezustandes wieder hervorgezogen und die Verfassungsfähigkeit des Nationalsozialismus negativ beurteilt zu haben. Schmitt wechselte deshalb auch die apologetische Strategie und ersetzte seine juristisch-institutionelle Sinngebung durch eine antisemitisch-apokalyptische Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Das ist ein elendes Kapitel deutscher Ideologie. Erst die Schriften nach 1936 verdienen wieder einige akademische Beachtung. Auch sie erreichen aber nicht mehr das Niveau der Weimarer Schriften. Das Hobbes-Buch von 1938 verteidigt den totalitären »Leviathan«: Schmitt will die »politische Einheit« durch das So Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt 1992; starke demokratietheoretische Kritik mit Korrekturen an Schmitts Klassikerexegesen bei Ingeborg Maus, Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Berlin 2011 12 Eine Apologie von Schmitts verfassungspolitischer Sicht der Lage 1933/34 hätte man allenfalls von Günter Maschke erwartet. Seine jüngste Edition unternimmt das aber nicht: Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, 1934, hrsg. Günter Maschke, Berlin 2011 11

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Präsenz in der Diskussion

antisemitische Schreckbild vom Leviathan restituieren. Was hier systematisch anregend sein kann, die Funktion politischer Mythen, müsste anders formuliert werden. Die Großraumlehre ist eine Apologie des »Reiches«. Ihr radikaler Anti-Universalismus ist heute, im Rahmen des universalen Menschenrechts, nicht vertretbar. 13 Die geopolitische Apologie eines deutschen »Mitteleuropa« ist politisch obsolet. Man kann Schmitts Werk als Gegengewicht zur Dominanz des »liberalen« Geschichtsbildes lesen: als Korrektur, Kompensat oder Antidot; Schmitt wollte kein »neutrales« oder gar »objektives« Geschichtsbild vermitteln, niemals war er reiner Beobachter. Seine politische Rezeption wird aber leicht steril. Allgemeine Phrasen vom »Objekt« internationaler Politik oder alliierter »Reeducation« sind heute nicht mehr informativ. Schmitts Stärke liegt in der Erkenntnis des »konkreten« Falls. Oft sieht er hier klar, oft auch verstiegen und verblendet. Von den selektiven Anregungen müssen theoretische Weiterentwicklungen unterschieden werden. Über die Systembrüche hinweg sind sie nicht leicht identifizierbar. Auch die emigrierten Schüler blieben in ihrer Sicht von Schmitt beeinflusst. Das gilt für Waldemar Gurian und Otto Kirchheimer, ferner für Franz Neumann und Ernst Fraenkel. Von den Anregungen auf Schüler ist eine schulbildende Wirkung zu unterscheiden. Wissenssoziologisch lässt sie sich an Kriterien wie akademischer Schülerschaft und Protektion, organisatorischer Zentrierung um Institutionen und Projekte oder inhaltliche Weiterführungen bestimmter Thesen und Methoden festmachen. Schmitt knüpfte Netzwerke in den publizistischen Kreisen des »neuen Nationalismus« (Stefan Breuer) vor 1933. Als Anreger wirkte er über den Kreis seiner Bonner Schüler (Huber, Friesenhahn, Forsthoff, W. Weber) hinaus auf bedeutende junge Juristen (u. a. G. Leibholz, C. J. Friedrich, U. Scheuner, W. Grewe, T. Maunz). 14 Ab 1933 ging einige Jahre lang keine akademische Karriere im öffentlichen Recht gänzlich an ihm vorbei. Die nationalsozialistischen Schüler der Berliner Zeit wurden aber in der Bundesrepublik nicht einflussreich. Scheuner, Grewe und Maunz waren schon vor 1933 akademisch sozialisiert und waren keine direkten Schüler. Zur rechtsphilosophischen Kritik des Anti-Universalismus schon Matthias Kaufmann, Recht ohne Regel? Die philosophischen Prinzipien in Carl Schmitts Staatsund Rechtslehre, Freiburg 1988 14 Dazu vgl. Stefan Breuer, Carl Schmitt im Kontext, Berlin 2012 13

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In der Bundesrepublik wirkte Schmitt akademisch erneut insbesondere über Ritter und Forsthoff. Aus der jüngeren juristischen Schülergeneration sind vor allem Schnur und Böckenförde, Quaritsch und Isensee zu nennen. Der Zwang zur selbständigen Aneignung und Fortbildung ergibt sich dabei schon aus dem Hinweis auf die fundamentale Geschichtlichkeit aller Positionen und Begriffe. Grundsätzlich betonte Schmitt, dass alle »politischen Begriffe, Vorstellungen und Worte einen polemischen Sinn« (BP 31) haben. Bei jeder Begriffsbildung lässt sich fragen, gegen wen sie sich richtet. Schmitt führte diese historisch-politische Lesart in seiner Verfassungsgeschichte vor. Die juristischen Schüler bewegen sich im Rahmen dieses Geschichtsbildes. Schmitt wirkte aber auch auf bedeutende Historiker wie Koselleck und Christian Meier. Meier 15 stellte der Diagnose vom »Ende der Epoche der Staatlichkeit« die Entstehung des Politischen bei den Griechen entgegen und maß die Gegenwart am »klassischen« Standard demokratischer »Kultur«. Koselleck nahm in Kritik und Krise eine politische Betrachtung der Kritik vor. Er meinte wie Schmitt, dass Kritik leicht in die Krise führt. Seine analytische Geschichtstheorie distanzierte sich aber vom appellativen Pathos von Schmitts Geschichtstheologie. Schmitt wirkte nach 1949 nicht als brauner Mineur der Bundesrepublik. 16 Er hat das auch nicht gewollt. Als ein verbindendes Kennzeichen der Schmitt-Schule lässt sich dennoch eine bestimmte Art politischer Geschichtsbetrachtung ausmachen. Die Schüler unterscheiden sich je nach fachlicher Identität in der Frage, ob sie ihre normativ-praktische Perspektive ausweisen und begründen. Jenseits dieser direkten oder personalen Wirkung auf bedeutende Schüler gibt es heute in der internationalen Diskussion zahlreiche beachtliche Auseinandersetzungen, Aneignungen und Fortbildungen. Einige international bekannte Großschriftsteller und Meisterdenker (so Habermas und Derrida, Agamben und Mouffe) haben über Schmitt geschrieben. Es gibt eine ungebrochene Linie und Kette rechtsintellektueller oder gar extremistischer Adepten. Durch die nationalistische Rechtsauslegung sind die Schmitt-Editionen Günter Maschkes deutlich getrübt. Münkler wurde durch Schmitt angeregt. In den letzten Jahren hat Rüdiger Voigt eine nüchterne politikwissenChristian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt 1980. Dazu schon Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993

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schaftliche Aktualisierung entwickelt. 17 Wo sich die Debatten aber von den deutschen Kontexten auf globale Tendenzen und Phänomene verschieben und die Themen der Liberalismuskritik und des »Ausnahmezustandes« nicht mehr die deutsche Geschichte betreffen, werden die Beiträge abstrakt und verlieren ihre »konkrete« politische Bedeutung und Pragmatik, auf die es Schmitt ankam. Um es deutlich zu sagen: Die transhistorische Rezeption seiner Theorien, Positionen und Begriffe hätte Schmitt nicht sonderlich interessiert. Er war ein Differenztheoretiker, dem es zunächst auf die Herausarbeitung der Eigenart und Andersartigkeit des jeweiligen »Falls« ankam. Die transhistorische Rezeption ist akademisch legitim und fruchtbar, lag aber nicht in Schmitts Absicht.

3.

Systemform des Rechts

Schmitt begann als Jurist mit einer Trennung von Moral und Recht und vertrat lebenslang anti-individualistische und anti-liberale Positionen. Unter den menschenrechtlichen Prämissen der Bundesrepublik ist das heute juristisch nicht mehr vertretbar. Die systematische Aktualität seiner Verfassungslehre ist deshalb auch strittig. Mancher rezipiert sie in polemischer oder kritischer Absicht; andere rezipieren nur Bruchstücke des Werkes oder einzelne anregende Bemerkungen und Thesen. Solche selektiven Rezeptionen sind selbstverständlich legitim. Die Anregungen geraten im akademischen Betrieb aber leicht zum Selbstläufer. So sehr Schmitt als Intellektueller jeden Einfall begrüßte, so wichtig war ihm als Jurist die akademische Identität, Professionalität und »Substanz«. Leerlaufende Betriebsamkeit verspottete er schon in seiner frühen Wissenschaftssatire Die Buribunken. Man kann sich auf das Werk intern und extern beziehen: auf dem Boden von Schmitts Theorie oder von einem anderen Theoriedesign her. Es lässt sich zwischen selektiven und extensiven Rezeptionen, modischen und sachlichen Aktualisierungen unterscheiden. Die modische Aktualität geht nicht zuletzt von der Rhetorik des Werkes aus. Die hermetische Schlüsselattitüde und Verheißung einer »esoteriDazu vgl. Rüdiger Voigt, Denken in Widersprüchen. Carl Schmitt wider den Zeitgeist, Baden-Baden 2015; Voigt wirkte darüber hinaus nicht zuletzt als Herausgeber der Reihe »Staatsverständnisse«, die einige Themenbände realisierte, die Schmitts Optik entwickeln.

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schen« Supertheorie reizt viele Leser zu exegetischen Bemühungen. Fasst man dagegen die sachliche Aktualität in den Blick, so sind einige einfache Feststellungen nicht zu vergessen: Schmitt war ein interdisziplinär denkender Jurist. Theologie und Philosophie, Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft regte er zwar vielfach an. Sein Werk hat seine fachliche Identität und »Substanz« aber vor allem in der Rechtswissenschaft. 18 Wenn Schmitt als Verfassungstheoretiker nicht mehr wirken kann, ist seine substanzielle Aktualität vorbei. Die Theoriedebatten der Weimarer Republik wurden in den letzten Jahren rechtswissenschaftsgeschichtlich eingehend diskutiert: Kelsen, Heller und Schmitt werden dabei weiterhin systematisch stark beachtet; Smends Integrationslehre wirkte eher unterströmig, Heinrich Triepel, Erich Kaufmann, Gustav Radbruch und andere wichtige Juristen der Weimarer Republik werden mehr historisch erforscht. Neumann, Kirchheimer, Fraenkel, Gurian gelten heute als wichtige Pioniere neuerer Politikwissenschaft und werden auch in ihrem Verhältnis zu Schmitt international diskutiert. Als Verfassungstheoretiker war Schmitt vor allem ein Kritiker des juristischen Positivismus und Normativismus, der in der Weimarer Republik insbesondere von Anschütz und Kelsen vertreten wurde. Gegen solche Bemühungen um eine analytische Beschreibung der Eigenart des Rechtssystems und der rechtsdogmatischen Methode bestand er auf den metajuristischen Bedingungen des Rechts und der Rechtsauslegung. Er entwickelte eine politische Verfassungslehre, die auf Rahmenbedingungen der Rechtsgeltung hinwies. Sein Hinweis auf das Faktum der Macht im Recht ist unstrittig. Kein Rechtssoziologe wird es bestreiten. Fragwürdig ist nur der weitgehende Antikonstitutionalismus: die polemische Spannung und Entgegensetzung von Recht und Gesetz, Liberalismus und Demokratie, Legalität und Legitimität. Problematisch ist das apokalyptische Pathos des Ausnahmezustands. Schmitt thematisierte aber nicht nur politische Geltungsvoraussetzungen des Rechts, sondern irgendwie auch religiöse oder »theologische« Geltungsvoraussetzungen. Historisch betrachtet ist auch das an sich relativ unproblematisch. Natürlich ist der europäische Verfassungsprozess christlich geprägt. Schmitt erforschte diese Prägung aber nicht eingehend. Verglichen mit Webers religionssoziologischen Fokus ist sein Blick geradezu schockierend eng. Schmitts Verfassungslehre bietet wenig mehr als Stichworte metajuristischer 18

Dazu wichtig Volker Neumann, Carl Schmitt als Jurist, Tübingen 2015

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Systemform des Rechts

Betrachtung. Der deskriptive Gehalt der »Politischen Theologie« ist buchstäblich mager. Schmitts »Politische Theologie« war aber nicht nur beschreibend, sondern, mit einer Formel Jan Assmanns, 19 auch »betreibend« gemeint. Schmitt mobilisierte irgendwie »christliche« Ressourcen für die »Gegenrevolution«. Dabei stand er nicht im Lager des politischen Katholizismus. Die Diskussion seiner »Katholizität« hat eher zu negativen Ergebnissen geführt. Sehr problematisch ist auch die starke staatstheoretische Lesart seiner »Politischen Theologie«: die systematische These, dass staatliche Autorität nur unter personalistischen Prämissen möglich sei, die sich nur christlich begründen lassen. Dieser strenge Konnex von Theismus, Personalismus und autoritärer Ordnung, ein polemisches Stereotyp der »Gegenrevolution«, ist in vielerlei Hinsicht nicht vertretbar: philosophisch, theologisch, juristisch, moralisch und politisch. Hans Kelsens pauschale Gegenthese zum Verhältnis von »Staatsform und Weltanschauung« steht zwar akademisch ebenfalls auf schwachen Füßen. Grundsätzlich aber hat Kelsen hier über Schmitt gesiegt. Die akademische Aktualität liegt aber nicht nur in der Thematisierung metajuristischer Voraussetzungen des Rechtsdenkens. Auch als Rechtsdenker verdient Schmitt systematische Beachtung. Theologisch vertritt er zwar die »Transzendenz« und unergründliche »Irrationalität« Gottes. Verfassungstheoretisch fordert er aber hohe Rationalitätsstandards ein. Schon Hugo Ball betrachtete ihn »als einen Rationalisten in der staatlichen, als Irrationalisten aber in der theologischen Reihe«. 20 Schmitt fordert die Idealität oder Rationalität des Rechtssystems: den Glaube an die Systemform des Rechts. Er spricht vom »Glauben« an Ideen, Begriffe und Prinzipien, rationalisiert die politischen Ideen, formuliert systematische Idealtypen, konfrontiert sie mit dem Realtypus und konstatiert interne Selbstwidersprüchlichkeiten und Inkonsequenzen im System. Die Weltanschauungskämpfe betrachtet er als Streit konfligierender Kräfte im Verfassungsgefüge. Eine Verfassung wird ihm zum Austragungsort heterogener Systemtendenzen. Schmitt fordert die Systemform des Rechts. Er diagnostiziert den Streit der politischen Ideen als Verfassungskampf im Recht

Jan Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theologie zwischen Ägypten, Israel und Europa, München 2000, 15 ff.; dazu jetzt ders., Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, Wien 2016 20 Hugo Ball, Carl Schmitts Politische Theologie, in: Hochland 21 (1924), 263–286 (276). 19

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und glaubt an interne Weichenstellungen und Entwicklungslogiken juristischer Auslegung des geltenden Rechts. Darüber hinaus fragt er nach der Verfassungsfähigkeit einer politischen Einheit. Es ist nicht nur die rhetorische Kraft und der ästhetische Reiz der Schriften, sondern auch der weite »geisteswissenschaftliche« Appell und systematische Theorierahmen, der Schmitt in der Diskussion hält. Schmitt führt die Juristen über die Grenzen ihrer Methode hinaus und bindet sie an die Geisteswissenschaften zurück. Er befriedigt so ein Bedürfnis nach »Bildung«, markiert den Unterschied zwischen einem bloßen Rechtstechniker und polyglott »gebildeten« Juristen. Sein hoher Theorieanspruch ist heute dabei auch für Juristen attraktiv, die im hyperkomplexen Rechtssystem nach Übersicht suchen und sich nicht in partieller Rechtsdogmatik verlieren wollen. Die hohen theoretischen und systematischen Ansprüche machen Schmitt als »Klassiker« attraktiv. Der Bedarf an Klassikern scheint sich heute im juristischen Diskurs auf ihn geradezu zu konzentrieren, wo die »römischen« Wurzeln verloren gehen und die Juristen nicht mehr die (lateinische) Sprache des Humanismus sprechen. Schmitts Fragen nach der systematischen Einheit des Rechtssystems stellen sich im Übergang vom National- und Verfassungsstaat zu supranationalen Ordnungen und einem kaum überschaubaren »Mehrebenensystem« globaler Politikverflechtung heute auch mehr denn je. Wo ist der Ort der Souveränität? In Berlin oder Karlsruhe? Straßburg (Europäisches Parlament), Brüssel (Europäischer Rat), Luxemburg (Europäischer Gerichtshof) oder gar Frankfurt (Europäische Zentralbank)? In New York bei der UNO? Ist das Recht noch eine systemische Einheit oder Ordnung? Gibt es eine politische Verfügungsmacht oder Legitimität des Rechts? Wer ist das tragende Subjekt? Gibt es etwa ein europäisches politisches »Volk«? Oder ist die Souveränität in Deutschland und Europa längst zum Elitenprojekt geworden? In der Theorie des Partisanen konstatiert Schmitt zuletzt eine Dialektik von Globalisierung und Individualisierung: einen Zerfall politischer Einheit in die »legale Weltrevolution« einerseits und die terroristische Delegitimierung des Individualismus durch den Partisanen andererseits. Das Werk endet 1970 in der Politischen Theologie II mit einem humanismuskritischen Szenario von der Selbstzerstörung des gottvergessenen Menschen. Diese Generalverwerfung der »Legitimität der Neuzeit« ist heute unglaubwürdig geworden und deshalb pragmatisch wenig konstruktiv.

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Das doppelte Register des Ausnahme- und des Normalzustands

4.

Das doppelte Register des Ausnahme- und des Normalzustands

Jenseits marginaler Anregungen ist die Aktualität von Schmitts Werk also in seiner Verfassungstheorie zu suchen. Sie liegt demnach in der Verhältnisbestimmung von juristischen und metajuristischen Gründen oder, in Schmitts Terminologie gesprochen: von »positiver« und »absoluter« Verfassung. Die komplexen kulturellen und soziomoralischen Voraussetzungen der Rechtsverfassung thematisiert Schmitt dabei nicht ausführlich und systematisch. Hellers Staatslehre beispielsweise ist hier akademisch klarer und eingängiger. Was die religionsgeschichtliche Prägung etwa für die deutsche Verfassungskultur bedeutet, führt Schmitt nirgendwo griffig aus. Nur eine metajuristische Voraussetzung der Rechtsgeltung scheint er tatsächlich immer wieder eingehend zu thematisieren: die Machtbedingungen und politischen Geltungsvoraussetzungen des Rechts. So beschreibt er die Abhängigkeiten der Weimarer Verfassungslage von den außenpolitischen Rahmenbedingungen und Gegebenheiten von »Versailles« und »Genf« äußerst scharf und diagnostiziert hier die ganze Zwischenkriegszeit hindurch »Wandlungen« im Recht. Er schreibt also eine deutsche Verfassungsgeschichte der Zwischenkriegszeit unter besonderen rechtspolitischen Gesichtspunkten. Die antiliberale und nationalistische Tendenz dieser Rechtsgeschichte muss hier nicht eigens erwähnt werden: Wichtiger ist der spezifische verfassungsgeschichtliche Gesichtspunkt. Auch hier hält Schmitt seine juristische Perspektive fest und argumentiert nicht als politischer Historiker oder Politikwissenschaftler. Die policy-Dimension der politischen Zwecke hält er schon kategorial mit seinem »formalen« Begriff des Politischen aus der Betrachtungsweise heraus. Aber auch die politics-Dimension der politischen Akteure und Strategien betrachtet er recht reduziert. Niemals beschreibt er beispielsweise einen Gesetzgebungsprozess bis in die Hinterzimmer der Akteure und Interessen. Schon verglichen mit Max Weber zeigt sich ein Vorrang der juristischen Betrachtung gegenüber dem politischen Denken. Niemals beschränkt sich Schmitt aber auf eine rein juristische und institutionelle Polity-Ebene. Stets fragt er hinter die institutionellen Fragen auf die politischen Bedinungen und Gründe zurück. Durchgängig denkt er dabei in der doppelten Optik des Normal- und des Ausnahmezustands und betont die »reale Möglichkeit« des Ernstfalls und Ausnahmezustands im Recht. Die Dialektik von Normal367 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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und Ausnahmezustand ist ihm ein zentrales Thema. Dabei ist nicht immer klar, wo er steht: Will er »Aufschub« durch Konstitutionalisierung einer »normalen« Verfassung? War er ein »Aufhalter« oder »Beschleuniger« des apokalyptischen Zerfalls von Rechtsverhältnissen in pure Machtlagen? Schmitt macht seine »okkasionalistische« Option von einer politisch-theologischen Gesamteinschätzung abhängig und beschwört die Gefahren eines Rückfalls in bürgerkriegsähnliche Zustände. Staatsversagen, Staatszerfall und Ausnahmezustand sind heute – als politische Krise oder ökologische Naturkatastrophe – wieder vielfach real. Die »neuen Kriege« bestätigen »anthropologischen Pessimismus«. Das Bild vom Leviathan ist aktuell. 21 Der Bürgerkrieg der Warlords ist aber kein »Naturzustand«. Auch im Bürgerkrieg handeln die Menschen komplex organisiert. Hobbes und Schmitt haben die Anthropologie und Soziologie des Bürgerkriegs nicht geschrieben. 22 Sie modellierten den »Ausnahmezustand« als Schreckensszenario. Auch heute ruft man gelegentlich nach einem Leviathan, der die Bürger in Angst und Schrecken versetzt und unter seiner Knute hält. Der Ruf nach einem »starken Staat« – jüngst bei Merkel und de Maizière – findet sich dabei nicht nur im »konservativen« Lager, denn der deutsche Konservatismus hat sich weitgehend säkularisiert und entchristlich, sozialethische Gehalte abgebaut und an den Liberalismus angepasst. Der Liberalismus verlor die Balance des bürgerrechtsliberalen und des wirtschaftsliberalen Flügels. Die sozialliberale Ära nach 1968 wurde von neo-liberalistischen Tendenzen abgelöst, die die Staatsaufgaben radikal abspeckten und privatisierten. Der allzuständig-überforderte, »quantitativ-totale« Staat wurde abgebaut. »Öffentliche Güter« wurden zunehmend liberalistisch interpretiert. Infrastrukturen wie Wasser und Strom, Post und Eisenbahn, Straßenund Wohnungsbau werden kaum noch als Staatsaufgaben angesehen. Der Staat zieht sich zurück. In dieser Lage wechselt die Rhetorik des starken Staates verstärkt ins linke Lager über. Eine »Umstellung linker Zukunftsbilder von Fortschritt auf Dekadenz und ein Wandel des politischen Selbstverständnisses der Linken« ist zu beobachten. Die

Dazu vgl. Michael Stolleis, Das Auge des Gesetzes. Geschichte einer Metapher, München 2004 22 Aktualisierungen bei Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt 2002; Ausnahmezustand, Frankfurt 2004. 21

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Das doppelte Register des Ausnahme- und des Normalzustands

Linke versteht sich verstärkt konservativ als »letztes Bollwerk gegen den Abbau des Sozialstaats«. 23 Die globale Finanzkrise von 2007/2009 machte die Notwendigkeit politischer Handlungsfähigkeit, Regulierung und Kontrolle erneut dramatisch evident. Der Neoliberalismus hat viel Kredit verspielt: Die FDP wurde deshalb auch in ihrer Funktion als Scharnierpartei und koalitionspolitischer Juniorpartner von den Grünen stark bedroht und abgelöst und das Parteiensystem erodiert weiter fluide und instabil. Von »Volksparteien« ist kaum noch die Rede. Die »Groko« ist nicht übermächtig und zerlegt sich in diversen Auseinandersetzungen und Wahlkämpfen. Nach der Zähmung des Leviathan erscheint heute die Zähmung des neoliberal entgleisten »Kapitalismus« wieder als notwendig. Auch im – rotrotgrünen? – Lager der Linken sind die Erwartungen an staatliche Regulierung und Kompensation deshalb hoch. Der Staat ist wieder der erste Adressat und Anwalt der Gerechtigkeit. Auch die radikale Linke scheint hier langsam in den Pfad der Sozialdemokratie einzuschwenken. Der Ruf nach dem »starken« Staat findet sich gegenwärtig rechts wie links. Kaum jemand bezweifelt heute die Notwendigkeit vernetzter politischer Regulierung und Handlungsfähigkeit. Ein »starker Staat« sichert die Bürger aber nicht nur; er kann Bürgerrechte auch bedrohen. Im rechtspolitischen Diskurs der Bundesrepublik findet sich Liberalismuskritik erneut im Namen der »Krise« und des »Ausnahmezustands« und die »Sicherheit« wird gegen die »Freiheit« beschworen. Das Pathos des »Ernstfalls« und »Ausnahmezustands« wirkt fort. Weltweit erhielt es nach dem 11. September 2001 Auftrieb. Die Terrorbekämpfung schob rechtsstaatliche Hegungen beiseite und der Rechtsstaat entwickelte sich zum Präventionsund Sicherheitsstaat. Die USA führten einen völkerrechtlich nicht legitimierten Krieg gegen den Irak und das Kriegsrecht wurde verletzt. Die Haftbedingungen von »Guantánamo« stehen für diesen Einbruch des »Naturzustands« in das Völkerrecht. Solche Tendenzen rechtspolitischer Relativierung des liberalen Rechtsstaats durch eine »Staatstechnik« und Rhetorik des Ausnahmezustands hat Günther Frankenberg 24 unlängst in weiten ZusamSo Herfried Münkler, Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, Berlin 2010, 53 24 Günther Frankenberg, Staatstechnik. Perspektiven auf Rechtsstaat und Ausnahmezustand, Frankfurt 2010 23

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menhängen glänzend kritisiert. Frankenberg unterscheidet verschiedene Modelle, an denen sich der Staatsdiskurs idealtypisch orientiert: die Modelle »Machiavelli«, »Hobbes«, »Locke« und »Schmitt«. In der Staatstechnik und Rhetorik des »Sicherheitsstaats« triumphiert Hobbes über John Locke. Der wirkmächtigste Vertreter eines NeoHobbesianismus sei aber Carl Schmitt. Frankenberg betrachtet ihn als Schlüsselfigur und Scharnierstelle des neueren, postliberalen Staatsdenkens: als Antwort des Leviathan auf den Konstitutionalismus. Er kritisiert die apokalyptische Dramatisierung des Ausnahmedenkens und entdeckt den »Flirt mit dem Ausnahmezustand« noch in aktuellen Kontroversen um »Feindstrafrecht«, Folterverbot und »finalen Rettungsschuss«. Frankenberg sieht eine doppelte Gefährdung des liberalen Konstitutionalismus: einerseits durch eine Extension von Ausnahmetatbeständen, andererseits durch semantische Techniken der Verschleierung fehlender rechtsstaatlicher Grundlagen. Dabei stellt er das neo-absolutistische Erbe und »ausnahmerechtliche Denken« der Gegenwart in den Horizont der breiten Wirkung Schmitts.

5.

Umwertung Carl Schmitts: für einen Primat der Liberalität

Die Frage nach Schmitts Aktualität wurde hier ziemlich limitativ beantwortet: Der Kern der Aktualität liegt jenseits einzelner Anregungen in der politischen Verfassungsbetrachtung. Die Verfassungstheorie geht dabei nicht im Begriff des Politischen auf. Das »Kriterium« der Freund-Feind-Unterscheidung, politischer Identität durch Differenz, hat die Forschung allzu stark okkupiert. Schmitts Theoriebildung setzt weit früher mit den Unterscheidungen von Moral, Politik und Recht an. Schon die Frühschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen entwickelt eine geradezu transzendentalpragmatische Verhältnisbestimmung von Macht und Recht, wonach eine politische Einheit sich als Differenz von Macht und Recht mit dem Akt ihrer Selbstkonstitution rhetorisch behauptet. Diese Position hält Schmitt in seinen weiteren Überlegungen zur Souveränität und verfassungsgebenden Gewalt fest. Er formuliert einen Konstitutionszirkel von »absoluter« und »positiver« Verfassung, politischer Ordnung und Entscheidung, Verfassung und Verfassungsrecht. Schmitt reduziert Recht nicht auf Macht und Politik nicht auf Recht; 370 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Umwertung Carl Schmitts: für einen Primat der Liberalität

seine politische Rechts- und Verfassungstheorie schließt externe normative Gesichtspunkte religiöser, moralischer oder philosophisch-naturrechtlicher Provenienz aber aus der juristischen Betrachtung von Legalität und Legitimität aus. »Silete, theologi, in numere alieno!«, hält Schmitt allen neueren Naturrechtlern entgegen. Er beschränkt seine Verfassungslehre auf einen Konnex von Politik und Recht und perspektiviert die politischen Bedingungen und Gründe der Verfassung aus der Innensicht des juristischen Teilnehmers an Legalität und Legitimität. Schmitt bindet die juristische Verfassungstheorie zwar an politische Bedingungen und Gründe zurück. Trotz seiner Rede von politischer »Theologie« hält er aber metapolitische Betrachtungsweisen aus der Normbegründung heraus. Dabei hat er einen scharfen Blick auf die systemische Eigenlogik des Rechts. Umfassende politikwissenschaftliche Beschreibungen des Verfassungsprozesses strebte er nie an. Auch die Verfassungspolitik thematisierte er nicht aus der nomothetischen Perspektive des Verfassungskonstrukteurs. Einen Verfassungsentwurf für Kanzler Papen übernahm er im Herbst 1932 nur ungern (TB 1930/34, 219 f.) und seine wichtigste rechtspolitische Arbeit im Nationalsozialismus, seine Mitwirkung am Reichsstatthaltergesetz vom April 1933, war mit dem Gesetz selbst bald überholt. Auch verfassungspolitisch dachte er primär als Jurist: unter den Voraussetzungen gegebener Legalität und Legitimität. Politikwissenschaftler betrachten Verfassungen dagegen eher instrumentell aus der Perspektive politischer Kräfteverhältnisse: relevanter Akteure, Interessen und Strategien. Schmitt dachte advokatorisch als intellektueller Abenteurer und Spieler. So interessant sein Werk für Politikwissenschaftler auch ist, es ist das Werk eines Juristen, der nicht auf dem Boden des modernen Liberalismus und Individualismus stand und nicht auf die Etablierung einer bürgerlichen Verfassungsordnung zielte. Die moralisch-politischen Grenzen seines Werkes sah schon die Mitwelt deutlich. Die alten Vorwürfe – u. a. Romantizismus, Subjektivismus, Pointillismus, Okkasionalismus, Dezisionismus, Amoralismus, Zynismus, Nihilismus – sind nicht falsch. Auch Mommsens frühe These, dass Schmitt Max Webers Konzeption des plebiszitären Führerstaates antiliberal auslegte, ist im Grundzug richtig. Schmitts Disjunktion von Liberalismus und Demokratie gilt es heute dabei neu zu überdenken. Die alte Bundesrepublik war eine liberale Demokratie. Heute beobachten wir erneut Erosionen liberaler Verfassungsstandards und Verfassungskultur. Schmitt konstatierte einen schar371 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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fen Umbruch vom bürgerlich-liberalen Staat des 19. Jahrhunderts zum plebiszitärdemokratischen, massenmedial gesteuerten Staat des 20. Jahrhunderts; er stellte sich mit geschichtsphilosophischen Überspitzungen auf den Boden der antiliberalen Demokratie, weil er ihr die Zukunft gab. Die antiliberale Demokratie aber wurde totalitär. Diese katastrophischen Erfahrungen führten nach 1945 zu einer Rehabilitierung und Restitution bürgerlich-liberaler Verfassungskultur, die im Schatten der Weltpolitik und wohlfahrtsstaatlicher Massenloyalität möglich wurde und eine zweite Chance erhielt. Diese späte Liberalität der alten Bundesrepublik ist heute vielfach bedroht. Eine Rekonstruktion des politischen Liberalismus ist heute auch gegen die moderne Massendemokratie nötig. Schmitt ist zwar kein authentischer Ausleger liberaler Prinzipien und Systematik; seine scharfe Unterscheidung von Liberalismus und Demokratie ist aber als Memento einer politischen Spannung normativ aktuell. In den älteren Kontroversen war es vor allem Dolf Sternberger, der den bürgerlichen Liberalismus gegen Schmitt profilierte. Ein solcher Kritiker fehlt heute in den Debatten um die seitenverkehrte Aktualität Carl Schmitts.

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XXIII. Zur Aktualität Carl Schmitts (2016). Interview von Timo Frasch mit Reinhard Mehring 1

TF: Gegenwärtig wird viel davon geraunt, der berühmt-berüchtigte Staatsrechtslehrer Carl Schmitt sei ein Vordenker neuer rechter und rechtsextremistischer Gruppierungen, von AfD bis Pegida. Nun ist Schmitt schon von allen möglichen Seiten rezipiert und usurpiert worden. Was halten Sie davon? RM: Sie weisen zu Recht darauf hin, dass Schmitt sehr divers rezipiert wurde. Seit seinem Tod im Jahre 1985, vor gut 30 Jahren, setzte ein richtiger Hype ein, aber Schmitt wurde immer schon intensiv gelesen und beachtet, seit den frühen zwanziger Jahren schon, und nicht nur in allen politischen Couleurs, sondern auch in verschiedenen Fächern. Dabei verstand er sich im Kern immer als Jurist. Ich denke, der heutige starke Bezug auf Schmitt hängt auch mit der Präsenz neuer Publikationen zusammen, insbesondere vieler Briefe und Tagebücher, die die ganze Radikalität und Stoßkraft seines Werkes deutlich zeigen. Ein anderer Punkt ist der Niedergang des Nimbus von Heidegger. Das Spektrum an zitierfähigen Rechtsintellektuellen ist geschrumpft. Carl Schmitt ist gewissermaßen, und so verstand er sich selbst, der letzte, der übrig blieb in der Reihe der militanten Geister, die als Ahnherren des heutigen Rechtsintellektualismus attraktiv sind. Mir scheint, seine besondere Brillanz und Schärfe, aber auch Gefährlichkeit ist in den letzten Jahren durch die neuen Publikationen eher noch deutlicher geworden, während andere Autoren verloren haben. TF: Was meinen Sie mit Niedergang des Nimbus von Heidegger?

Das Interview wurde telefonisch am 12. Mai 2016 ohne Vorabfragen geführt, stilistisch geringfügig überarbeitet und erschien stark gekürzt in der Frankfurter Allgemeine Woche Nr. 21 vom 20. Mai 2016, 26–27

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XXIII. · Zur Aktualität Carl Schmitts (2016)

RM: Ich meine vor allem die mangelnde Substanz und Prägnanz seiner politischen Analysen. Nach dem Erscheinen der Schwarzen Hefte sind die Heidegger-Kreise heute über die Ignoranz und Ahnungslosigkeit seiner politischen Vorstellungen schockiert. Insgesamt taugt im deutschen rechtsintellektuellen Milieu doch eigentlich nur noch Schmitt als scharfer Vordenker, dem man partiell folgen könnte und wollte. TF: Manche sagen, Schmitt sei vor allem ein hervorragender Aphoristiker gewesen. Wenn ich Sie aber richtig verstehe, sehen Sie bei ihm sehr wohl ein Denkgebäude, das bis heute Bestand hat? RM: Seine Theorie lässt sich sicher nicht auf Aphoristik verkürzen. Man muss freilich zwischen dem Werk und der Theorie unterscheiden. Nicht alles folgt aus der Theorie und überall muss man sorgfältig überlegen, ob man Schmitt folgen kann und will. Natürlich hat Schmitt die Schlagkraft prägnanter Formulierungen gesucht, das Wort als Waffe verstanden und sich gezielt als Stichwortgeber profiliert. Aber neben diesen okkasionalistischen, aphoristischen Schlägen, die er geführt hat, hat er doch auch ein großes Gebäude hinterlassen. Dieses Gebäude können und wollen wir heute natürlich nicht im Ganzen rezipieren, das tut auch die Neue Rechte nicht, sie nimmt sich ein paar Dinge, die sie haben will, und manches andere, etwa die Betonung des juristischen Selbstverständnisses, nimmt sie nicht. TF: Allseitige Rezeption hin oder her. Welche politische Denkrichtung ist denn am ehesten anschlussfähig an Schmitts Werk? RM: Dass er als Rechtsausleger begriffen werden muss, vor allem als Etatist, aber auch als Nationalist, daran kann es keinen Zweifel geben. Aber Schmitt war doch vor allem ein brillanter Kopf, und so kann man Teile seines Werkes, seiner Verfassungstheorie, positiv rezipieren, ohne den politisierenden Zug und die polemischen Absichten mit zu übernehmen. Man kann ein Stück weit Person und Werk trennen und Schmitt als Theoretiker würdigen, und das ist in der Bundesrepublik auch in vieler Hinsicht geschehen. Es gibt ja eine liberale und juristische Schmitt-Rezeption, und die weltweite Wirkung wäre sicher nicht erklärlich, wenn er nur ein Vertreter des deutschen Rechtsextremismus gewesen wäre.

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TF: Sie haben gesagt, Schmitt war ein brillanter Kopf. Wären ihm die Pegida-Leute nicht schlicht zu dumm gewesen, um sie als Instrumente seiner politischen Vorstellungen begreifen zu können? War es ihm egal, wer sich zum Instrument seiner Ideen machte? RM: In der Weimarer Republik hätte er sich mit diesen Leuten sicher nicht gemein machen wollen. Er war immer intellektuell elitär, hat sich vor 1933 vor allem für brillante jüdische Intellektuelle interessiert; das waren die Leute, die er als kongeniale Feinde und Gegner empfand. Im Nationalsozialismus, natürlich, machte er sich dann auch zu einem Parteigänger des Vulgarismus und der Brutalität und Bestialität, aber sicher ein Stück weit aus einem faustisch-dämonischen Interesse an der Beobachtung dieses neuen Radikalismus und Irrationalismus. Er begab sich in Nazikreise und suchte insbesondere die persönliche Nähe von Hans Frank, und in diesem Zusammenhang hat er auch politische Rituale und Mythen gepflegt, die wir als anstößig und politisch irrationalistisch betrachten und die heute sicher auch in manchen Ritualen des Rechtsextremismus mehr oder weniger direkt zitiert werden. TF: Sie haben Schmitt als elitär bezeichnet. Gerade in der bundesrepublikanischen Zeit hatte er aber doch auch einen antielitistischen Zug, richtete sich gegen die Eliten der Bundesrepublik. Sie selber haben einmal geschrieben: »Wer sich damals für Schmitt entschied, nahm an der Formierung eines Gegendiskurses zum politischen Hauptstrom teil.« Im Moment ist wieder eine enorme Skepsis gegenüber den Funktionseliten in unserem Land zu beobachten. Lässt sich da eine Parallele zu Schmitt herstellen? RM: Auf jeden Fall. Schon vor 1933 polemisierte Schmitt gegen den »Parteienstaat« und wies auch Max Webers These zurück, dass der liberale Parlamentarismus ein funktionierendes Instrument der politischen »Führerauslese« sein könnte. Liberalismus- und Parlamentarismuskritik und »antidemokratisches Denken« waren in der Weimarer Republik, der »Demokratie ohne Demokraten«, bekanntlich weit verbreitet. Schmitt war hier ein wortmächtiger und scharfsinniger Vordenker, beschränkte sich in seinen Publikationen aber weitgehend auf akademische und juristische Foren und hielt zu massiv politisierenden Rezeptionen am Ende der Weimarer Republik einigen Abstand. In den einschlägigen publizistischen Organen der »konservati375 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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ven Revolution« veröffentlichte er nur vorbehaltlich und gelegentlich. Seine Schüler waren zwar in diese bündische Zirkel und radikale Parteiungen involviert, Schmitt selbst beteiligte sich da aber eigentlich nicht offensiv. Er achtete darauf, die akademischen Formen und Adressaten einzuhalten. Aber er hat auch ein Auseinandertreten von Liberalismus und Demokratie konstatiert und festgestellt, dass der Weimarer Parlamentarismus und das Weimarer politische System nicht mehr integrativ wirkten. Populismus bezeichnet auch einen oppositionellen Austritt von Bürgergruppen aus dem politischen System. Das hat Schmitt für die Weimarer Endphase beobachtet, und er war der Meinung, dass die Diktatur nicht mit dem Säbel allein regieren kann, um es mit einem bekannten Schlagwort zu sagen. Am Ende der Weimarer Republik meinte er, dass das autoritär-diktatorische Präsidialsystem einer gewissen Massenbasis bedurfte – und so hat er der caesaristischen Diktatur in der politischen Theorie das Wort geredet und nach dem 30. Januar 1933 für den populistischen Diktator optiert. Ich sehe heute eine bedenkliche Parallele zwischen der Weimarer Endzeit und der Erschöpfung der Integrationskraft des politischen Systems und dem heutigen oppositionellen Radikalismus. Schmitt hat eine antiliberale Demokratie als Möglichkeit visioniert, die autoritär-diktatorisch geführt wird, und er stellte sich auf die Seite einer diktatorisch-autoritären Elite, die sich der Massen bediente. TF: Ich bezog mich eigentlich auf die frühe Bundesrepublik und deren Eliten. Schmitt sah sich ja in der Rolle des Verfemten, des zu Unrecht an den Rand Gedrängten und aus dem üblichen Diskurs Ausgeklammerten. Mir scheint, auch in der Neuen Rechten haben manche diese Rolle für sich entdeckt. RM: Ich würde hier eher Heidegger wiedererkennen. Natürlich gibt es bei Carl Schmitt auch ein starkes Ressentiment und solche Verfemungs- und Verfolgungsgefühle. Wir dürfen aber nicht übersehen, welche Konsequenzen er nach 1949 daraus zog. Er hat im Wesentlichen darauf verzichtet, sich zur Bundesrepublik öffentlich zu äußern. Auch seinen Spott, Hohn und Hass auf die Bundesrepublik äußerte er nur subkutan in seinem Schülerkreis. Man könnte, leicht übertreibend, vielleicht sagen, die Bundesrepublik erschien ihm noch nicht einmal satisfaktionsfähig. Das halte ich für wichtig, weil Schmitt nach 1949 ein erstaunliches Desinteresse an der Zukunft der deutschen Nation hatte. Er argumentierte überhaupt nicht mehr 376 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XXIII. · Zur Aktualität Carl Schmitts (2016)

nationalistisch, interessierte sich keinen Deut für die DDR oder das Schicksal der Ostdeutschen. Von daher sieht man schon, dass er die politische Gegenwart letztlich wohl sehr anders beurteilt hätte als die heutigen epigonalen Reprisen von nationalistisch-völkischer Emphase, wie wir sie im Rechtspopulismus sehen. TF: Wie hätte Schmitt mit seinem Begriffsinstrumentarium die Gegenwart eingeschätzt? RM: Das ist spekulativ. Schmitts Denken ist nicht imaginierbar. Er hätte sicher anders gedacht als Sie oder ich und die meisten anderen. Wahrscheinlich hätte er aber nicht zuletzt nach dem Ort der Souveränität in der jetzigen Gegenwart gefragt, und er hätte ihn nicht ohne Weiteres bei der Bundeskanzlerin Merkel identifiziert, sondern möglicherweise ganz woanders, vielleicht in der EZB. Aber das ist eine Spekulation. Jedenfalls sehe ich aktuelle Motive von Schmitts Werk, über die man genauer nachdenken sollte. Das betrifft etwa die Rolle der Legalität und des elitär-bürokratischen Rechtsbruches. Er hätte, denke ich, viele Dinge hier sehr originell gesehen und die Frage nach Legalität und Legitimität der Gegenwart anders beantwortet als weite Kreise der heutigen politischen Extremen. TF: Sie sagen, er hätte die Souveränität nicht unbedingt bei Merkel gesehen. Von Schmitt stammt der berühmte Satz: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« Nun sagt etwa die AfD, Merkel habe im September 2015, als sie die Flüchtlinge aufnahm, über den Ausnahmezustand entschieden, indem sie ihn herbeiführte. Entspricht Sie demnach nicht sogar dem Schmitt’schen Ideal? RM: Das sind Fragen, die sehr vorsichtig, juristisch und politikwissenschaftlich, analysiert werden müssten. Tatsache scheint mir, dass wir heute in einigen europäischen Ländern Erosionen des Normalzustands haben. Wir hatten in Frankreich eine formale Erklärung des Ausnahmezustands nach den Attentaten vom November 2015. Merkel sprach damals mindestens zwei Mal, in einer gemeinsamen Erklärung mit Hollande und dann beim Staatsakt für den verstorbenen Helmut Schmidt, von einer »außergewöhnlichen Situation«. Schmitt würde hier wohl eine juristische Klarstellung der Grenzen zwischen Normalzustand und Ausnahmezustand suchen. Er hätte juristisch eingefordert, dass die Tendenzen in Richtung Ausnahme377 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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zustand formalisiert werden. Aber die semantische Rede etwa von der außergewöhnlichen Situation – ich möchte das nur vorläufig sagen und nicht als starke politisierende These verstanden wissen – scheint mir heute doch auf eine Verunklärung der Differenzierung zwischen Normalzustand und Ausnahmezustand hinzuweisen. Horst Seehofer etwa, um das prominenteste Beispiel zu nennen, hat ebenfalls die juristische Eindeutigkeit eingefordert, indem er von einer »Herrschaft des Unrechts« sprach und so auf der klaren Konturierung bestand. Normalzustand oder Ausnahmezustand – ich denke, wir erleben heute eine Transformations- und Übergangsphase, die neue Praktiken und Verschleierungsstrategien hervorbringt. In der Weimarer Situation haben wir eine relativ offene Aussetzung bestimmter Grundrechte gehabt. Wir haben heute erneut Diskussionen über die Grundrechte. Wenn man den Text nicht ändern kann, sucht man Verfahrensänderungen bezüglich der Anwendung bestimmter Rechte. Das alles müsste genau analysiert werden. Es wäre naiv, hier die alte Polarität von Normal- und Ausnahmezustand in überlieferter Form einzuklagen. Schmitt hatte einen feinen Sensus für Erosionen von Rechtstaatlichkeit und Verfassungsstaatlichkeit, und er hat solche Erosionen mitunter dekonstruktiv beschleunigt, getreu der Nietzscheanischen Formel: »Was fällt, soll man stoßen.« Wir leisten uns diesen riskanten apokalyptischen Stoß heute nicht mehr, sondern rutschen ganz in die Begriffsverwirrung hinein. Das scheint Methode zu haben: Man glaubt nicht einmal mehr, dass man die Dinge noch klären kann. TF: Wären Politiker eher nach Schmitts Geschmack, die eindeutiger als Merkel zu ihrer Führerschaft stehen? Nehmen wir Erdogan oder Putin, die gar nicht erst so tun, als habe Politik etwas mit Moral zu tun. RM: In der Weimarer Republik hat Schmitt es ein Stück weit so gesehen und den autoritären, personalistischen Führer, also den Diktator, als Problemlöser propagiert. Wir haben heute in verschiedenen Ländern ähnliche Tendenzen wie am Ende der Weimarer Republik: Parlamentarisch-liberale Systeme bewegen sich schleichend oder in Schüben in die autoritär-personalistische Richtung. Ich denke, dass man Politiker wie Erdogan oder Putin, die Sie genannt haben, mit dem Schmitt’schen Instrumentarium der Weimarer Republik einigermaßen gut beschreiben kann. Ich glaube aber nicht, dass Schmitt für 378 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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die heutigen, komplexeren Verhältnisse wirklich noch eine autoritärpersonalistische Spitze eingefordert hätte. Man denke nur an die Internationalisierung und die Interdependenzen im politischen Mehrebenensystem. Die naiven Bilder und Souveränitätsfiktionen scheitern. Die politische Inkompetenz der Fiktion vom Führer als Diktator sehen wir gerade an Erdogan: Er verliert [Mai 2016] die Bodenhaftung und damit auch die politische Problemlösungskompetenz. TF: In der Präambel ihres Grundsatzprogramms stellen sich die AfDMitglieder als Liberale und Konservative vor. Dass Schmitt ein Liberaler gewesen wäre, wird sich ernsthaft nicht behaupten lassen. Aber selbst konservativ wird man ihn nicht nennen können. Wie sehen Sie das? RM: Das Etikett des Liberalen scheint mir für die AfD nicht zu passen. Da sucht man eine Konsensformel, die Sand in die Augen streuen soll. Auch das Gerede vom Konservativen scheint mir aber eher fragwürdig. Das gilt auch für Schmitt. Schmitt hat den Wilhelminismus nicht geliebt und einen traditionalen Konservatismus mit der Absage an die dynastische Legitimität nach 1918 schon sehr früh beerdigt. Er erklärte schon 1922, dass die politische Rechte die konservative Option für die Dynastien verloren hat und offen zur »Gegenrevolution« schreiten sollte. Schmitt bekannte sich offen zur »Gegenrevolution«. Das schloss eine Absage an einen restaurativen Monarchismus ein. Die Formel von der konservativen Revolution sollte man mit dem Akzent auf »Revolution« lesen. Für Schmitt gibt es keinen legitimen Traditionalismus und keine Rückkehr zu konservativen Traditionsbeständen. Er brach ja auch mit zentralen Lehrstücken des überlieferten Katholizismus, insbesondere mit dem »Naturrecht« – und ähnlich ist es heute, so vermute ich, auch in weiten Teilen der Neuen Rechten. Man merkt es etwa an der Rolle pseudoethnischer oder gar völkischer Rekurse. Das alles liegt fernab des traditionalen Konservatismus und täuscht darüber hinweg, dass diese Rechte durchaus revolutionär ist, im Sinne radikaler Systemkritik. TF: Würden Sie Schmitt denn als konservativen Revolutionär sehen? RM: Er hat immer wieder starke Semantiken der Konservation eingebaut, insbesondere das Theorem vom Katechon bzw. »Aufhalter«, das 379 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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Sie kennen. Aber andererseits hat er sich doch in wesentlichen Momenten zur neuen und revolutionären Lösung bekannt, und er argumentierte im Streit zwischen politischen Ideen immer in Richtung Revolution. Ich würde ihn schon von seiner politischen Option für den Nationalsozialismus her in die Linie der Revolution stellen, ohne damit bestreiten zu wollen, dass Schmitt in der Weimarer Republik auch eine verfassungskonforme Gesamteinschätzung seines Werkes wenigstens ermöglicht hat. TF: Der Staat ist ein ganz zentraler Pfeiler im Denken von Schmitt. Er hat gleichwohl ein »Ende der Epoche der Staatlichkeit« bedauernd diagnostiziert. Würden Sie hier eine Parallele zum heute verbreiteten Unbehagen an den Souveränitätstransfers nach Europa sehen? RM: Eine EU-skeptische Betonung nationalstaatlicher Souveränität halte ich für eine legitime Rezeption. Aber wir sollten auch nicht übersehen, dass viele Vertreter eines liberalen verfassungsstaatlichen Denkens hier, mit anderen Gründen und Argumentationen, im Effekt durchaus zustimmen. Insbesondere das Demokratieprinzip zieht der forcierten Europäisierung Grenzen. Die spezifische Färbung der Euroskepsis der Neuen Rechten, etwa der starke Antiamerikanismus, entspricht aber schon dem Bedrohungsszenario, das Schmitt in Weimar entworfen hat. Was wir bei Schmitt in seiner politischen Feindbestimmung allerdings überhaupt nicht finden, ist die Islamophobie. Das Wort Islam kommt bei ihm praktisch nicht vor. Das ist aber allein der Tatsache geschuldet, dass der politische Islam im Europa der Zwischenkriegszeit noch keine nennenswerte Rolle spielte. Man könnte für Schmitts Antisemitismus sachlich annähernd Islamophobie einsetzen, dann hätten wir eine Blaupause für die Rezeption der Feindbestimmungen in der Neuen Rechten. TF: Gerade die AfD wendet sich heute dezidiert gegen den politischen Islam. Hätte Schmitt der politische Islam aber nicht sympathisch sein müssen, weil dieser das Politische, das Schmitt heilig war, nicht verneint, sondern im Gegenteil affirmiert? RM: Das sind interessante Überlegungen, die ich nicht angemessen beantworten kann. Ich möchte aber darauf verweisen, dass Schmitt sich auf den Boden der Neuzeit bzw. der Trennung von Staat und Kirche stellte. Auch aus religiösen Motiven schien ihm die Trennung 380 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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von Politik und Religion notwendig. Deshalb argumentierte er auch gegen den politischen Katholizismus. Zwar sollte man zwischen dem Verhältnis von Politik und Religion im Christentum und Islam genau unterscheiden. In erster Annäherung würde ich aber meinen, man könnte eine Analogie zu Schmitts Opposition gegen den politischen Katholizismus ziehen. TF: Homogenitätsvorstellungen sind bei Schmitt allgegenwärtig. Diejenigen, die im Moment auf der Neuen Rechten vorherrschen, sind völkischer, jedenfalls ethnischer Natur. Welche Rolle spielt das bei Schmitt? RM: In der Theorie, jedenfalls vor 1933, nur eine sehr marginale. Seine Verfassungslehre bestimmt die Substanz der Homogenität, wie Schmitt terminologisch sagt, völlig abstrakt. Er meint, wir brauchen irgendeine Homogenität. Woher die kommt, wie sie definiert wird, da ist Verschiedenes möglich. Schmitt selbst hat sich im Rahmen seiner Politischen Theologie vor allem auf die Substanz der christlichen Überlieferung bezogen und gesagt, dass wir Kernüberzeugungen christlicher Art benötigen. Er war insbesondere der Auffassung, dass nur in einem theistischen Weltbild Personalität gedacht werden kann, die wiederum eine Voraussetzung für verantwortliche politische Entscheidungen ist. Zur ethnisch-völkischen Theoriebildung der Weimarer Republik hatte er dagegen bis 1933 fast kein Verhältnis. Als Autor wäre hier etwa Max Hildebert Böhm zu nennen, den Schmitt zwar kannte, aber nicht näher berücksichtigte. Man warf Schmitts Theoriebildung häufig eine Primärorientierung am Feind vor: Schmitt sei feindfixiert gewesen, weil er keine starke Theorie der politischen Freundschaft kannte. Ich denke, da ist etwas dran. Auch im Nationalsozialismus war für ihn der Feindmythos, insbesondere der Antisemitismus, zentraler und charakterisierender als ethnisch-rassistische Definitionen der deutschen Nation. TF: Das Bedürfnis der Selbstversicherung durch die Konstruktion eines Feindes: Erkennen Sie das heute auch in der deutschen Gesellschaft wieder? RM: Ich meine schon. Aus der deutschen Geschichte sind uns aber auch die Gefahren sehr bewusst, eine politische Identität durch Feindbilder zu profilieren. Man redet zwar erneut über die alte Frage: Was 381 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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ist deutsch? Brauchen wir eine Leitkultur? In vielen Varianten findet sich diese Frage, auch in der Verhältnisbestimmung zu den muslimischen Mitbürgern. Es gibt aber auch ein starkes zivilgesellschaftliches Bewusstsein von der Gefährlichkeit solcher Freund-FeindMobilisierungen und kollektivistischer Identitätsfiktionen, die ein Stück weit unverzichtbar sind und doch andererseits immer höchst problematisch bleiben. TF: Die AfD findet den gegenwärtigen Verfassungszustand illegitim. Sie meint, ein Großteil der Macht liege in den Händen weniger. Inwiefern passt hier die Unterscheidung Schmitts zwischen Legalität und Legitimität? RM: Die genauere Diskussion dieser Frage würde unseren Rahmen überfordern. Der Begriff der Legitimität ist bei Schmitt historisiert: Er kennt dynastische und demokratische Legitimität und einen geschichtlichen Wandel von kollektiven Legitimitätsvorstellungen. Für Schmitt ist Legitimität ein positiver Rechtsbegriff. Deshalb betont er eher die Spannung zwischen dem Begriff des Rechts und den kollektiv geltenden Legitimitätsvorstellungen. Was den genannten Fall angeht, der auf das Demokratiedefizit bestimmter Institutionen zielt, so ist es eine verbreitete und zutreffende Überzeugung, nicht nur im rechten Lager, dass es im Prozess der Europäisierung politischer Entscheidungen starke Demokratiedefizite gibt. Das wird allseits beklagt. Selbst Europaparlamentarier sprechen von Demokratiedefiziten der Europäisierung und des Europäischen Parlaments. Die klassische Demokratietheorie betonte die Spannung von direkter und repräsentativer Demokratie. Im komplexen Mehrebenensystem löst sich heute die Kette der Legitimationen und Repräsentationen immer stärker von den direkten Zustimmungsprozessen ab. Deshalb sind der oppositionelle und populistische Austritt aus dem System, die Politikverdrossenheit und die neue Mobilisierung außerparlamentarischer und systemoppositioneller Bewegungen auch nicht verwunderlich. Die außerparlamentarische Opposition und Bewegung ist kein undemokratisches Skandalon, sondern eine politisch verständliche Reaktion und ein schwer erträglicher Preis für das Eliteprojekt EU. Hier rebellieren die Bürger und Nationen gegen bürokratischen Souveränitätstransfer. So verständlich dieser Impuls auch ist, muss er doch genau beschrieben und vorsichtig debattiert werden. Das tut die Neue Rechte nicht, sie beschwört oft nur eine obsolete Fiktion von Nation, 382 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

XXIII. · Zur Aktualität Carl Schmitts (2016)

gar in völkischer Auslegung. Aber diesen Ausweg haben wir nicht mehr. Es gibt kein Zurück ins Volk. TF: Lässt sich die Forderung nach mehr Volksentscheiden auf Schmitts Demokratievorstellungen gründen? RM: Sicherlich. Die Spannung von Liberalismus und Demokratie war für Schmitt eine zentrale Grundannahme. Die Weimarer Republik hatte auch Möglichkeiten von Volksbegehren und -entscheiden eingerichtet, als quasi unmittelbares Korrektiv gegen das liberale System. Sie erlebte dann aber einen gefährlichen Missbrauch dieser Instrumente durch die politische Rechte. Die Bundesrepublik entschied sich deshalb auch bekanntlich sehr energisch für die »repräsentative« Demokratie. Die repräsentative Demokratie war lange unstrittig, aber es ist heute auch nicht verwunderlich, dass »identitäre« Alternativen wieder auf den Tisch kommen und neu debattiert werden. Die Gefahr der politischen Instrumentalisierung von Volksbegehren durch radikale Minderheiten ist auch heute gegeben. Leicht wären Fälle vorstellbar, in denen etwa die AfD solche Instrumente populistisch nutzte. Möglichkeiten des demokratischen Protestes in legalen Formen haben wir aber auch bei den Europawahlen von 2015 gesehen, die bei niedrigen Wahlbeteiligungen und hohem Protestwählerpotential zu einem massiven Anstieg des Rechtspopulismus in verschiedenen Ländern führten. Unsere heutigen komplexen Verhältnisse bieten eine breite Klaviatur der Mobilisierung von Fundamentalopposition, nicht nur das Instrument der Volksbegehren. Ich halte sie für gefährlich, sehe andererseits aber auch Demokratiedefizite im Europäisierungsprozess. TF: Lässt sich mit Schmitt eine restriktive Ausländer- und Asylpolitik begründen? Hat die Humanität in seiner Theorie einen Platz? RM: Schon in seiner Programmschrift Der Begriff des Politischen betonte Schmitt, mit seiner sogenannten Freund-Feind-Unterscheidung, dass politische »Einheiten« sich durch Abgrenzungen konstituieren und alle Inklusionen als Grenzbestimmungen auch Exklusionskosten haben. Für Schmitt gehörte die souveräne Selbstbestimmung einer politischen Einheit über Inklusion und Exklusion selbstverständlich zu den »Grundrechten« eines Staates. Schmitt propagierte Exklusionen auch aggressiv. Seine verfassungstheoretische Rechtfer383 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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tigung politischer Diskriminierungen führte ihn im Nationalsozialismus selbst zu einer Apologie der Nürnberger Rassegesetzgebung. Die Diskriminierungslogik politischer Einheitsbildung hat Schmitt massiv vertreten. Er war kein Anhänger der Menschenrechte, musste es als Jurist allerdings auch nicht sein, weil die Allgemeine Menschenrechtserklärung erst von 1948 stammt. Für die Schmitt’sche Verfassungstheorie mussten die Menschenrechte noch kein zentrales juristisches Thema sein. Seine Theorie ermöglicht deshalb auch starke Relativierungen von Menschen- und Grundrechten. Aber das wäre nicht meine Position, ich würde liberal argumentieren. TF: Finden Sie, dass die Schmitt-Rezeption sein Werk vulgarisiert? RM: Das geschieht vor allem dann, wenn man das Werk nur in politischen Stichworten rezipiert und den Fokus nicht auf die Verhältnisbestimmung von Politik und Recht setzt. Andererseits hätte Schmitt selektive Rezeptionen seiner Worte als Waffen durchaus akzeptiert. Manches von dem, was in der heutigen Neuen Rechten vertreten wird, hat er ja in der Tat vertreten. Und er war nicht harmloser, er war als radikaler Kopf gefährlich. TF: Schmitt nannte sich selbst einen »intellektuellen Abenteurer«, aus seinem Werk spricht ein Unbehagen an der Banalität des Alltäglichen. Machen Sie in der deutschen Bevölkerung heute auch Langeweile und eine neue Lust am Ausnahmezustand aus? RM: Ich kenne das intellektuelle Milieu der Neuen Rechten nicht genug, um hier ein substanzielles intellektuelles Abenteurertum zu entdecken. Die intellektuelle Neugier und Lust an der intellektuellen Freibeuterei ist uns allen hoffentlich nicht ganz abhandengekommen. Mir scheint jedoch, wir sollten die jetzigen politischen Entwicklungen und den Auftrieb des Rechtspopulismus nicht als kokette Ideenspielerei abtun. Ich denke, wir erleben heute sehr dramatische Wandlungsprozesse und müssen die Entwicklungen ernst nehmen: den Rechtspopulismus und vor allem die Gefahr, dass es wieder eine Panik im Mittelstand gibt, die die bürgerliche Mitte gefährlich nach rechts driften lässt.

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1.

Selektive Aktualisierung

Man kann Carl Schmitt historisieren, aktualisieren oder sein Kategoriensystem transformieren. Je nach Forschungsrichtung ergeben sich dann sehr unterschiedliche Resultate. So wird die Person in ihrem moralisch-politischen Profil und Charakter bei gründlicher Historisierung fremd und auch anstößig erscheinen; eine komplexe theoretische Diskussion seines Kategoriensystems dürfte erhebliche Modifikationen bringen; eine selektive Aktualisierung 2 einiger seiner Kategorien ergibt wieder anderes; zweifellos aber ist sie legitim, auch unabhängig von der Frage, wie Schmitt selbst die Verfassungslage heute analysieren würde. Gewiss würde er seine vorhandenen Kategorien nicht einfach nur anwenden, sondern auch neue entwickeln. »Eine geschichtliche Wahrheit ist nur einmal wahr« (SGN 563), sagte er gerne und betonte die Neuartigkeit der gegenwärtigen Herausforderungen und Fragen, auf die politisch und juristisch zu antworten sei. Schmitt war Jurist und Kritiker des Weimarer Rechtspositivismus. Er beschrieb den politischen Prozess also nicht umfassend in den wirkenden Kräften, Strategien und Akteuren, sondern erörterte ihn nur hinsichtlich seiner Relevanz für Legalität und Legitimität. Machen wir aus ihm also keinen sozialwissenschaftlich beobachtenden Politikwissenschaftler! Auch die soziomoralischen Ressourcen einer politischen Einheit beschrieb er nicht eingehend. Eine univerBasierend auf Vorträgen vom 19. März 2015 im Harvard-Alumni-Club Düsseldorf und am 27. September 2016 auf der Tagung Politics of Enmity: Can Nation ever be emancipatory? an der Universität Belgrad. Die Belgrader Fassung wird auch in englischer Übersetzung erscheinen. 2 Dazu jetzt anregend Rüdiger Voigt, Denken in Widersprüchen. Carl Schmitt wider den Zeitgeist, Baden-Baden 2015; historischer Überblick bei Andreas Wirsching, Demokratisierung und Globalisierung. Europa seit 1989, München 2015 1

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salhistorisch ausgreifende vergleichende Religionssoziologie etwa, wie Max Weber sie entwarf, strebte er nicht an. In seiner systematischen Verfassungslehre von 1928 terminologisierte er seine juristische Perspektivierung von Verfassungsverhältnissen und »Lagen« in der Unterscheidung zwischen einer »absoluten« und einer »positiven« Verfassung. Die »absolute« Verfassung einer politischen Einheit, den Inbegriff der Geltungsvoraussetzungen des positiven Rechts, thematisierte er aber stets nur »okkasionell« hinsichtlich ihrer jeweiligen punktuellen Relevanz für gegebene Rechtsfragen und Fälle. Schmitt war primär kein »politischer« oder gar »politikwissenschaftlicher« Autor. Er war es nur, insoweit er das Rechtssystem, Legalität und Legitimität, politisch betrachtete. Seine Fragen waren letztlich normativ. Eine breite Adaption seiner Kategorien müsste deshalb über die empirische Beschreibung hinaus auf normative Fragen zielen. Seine Optik ist hier aber nicht umfassend zu rekonstruieren. Die Person ist eines und das Werk ist ein anderer Fall. Wieder etwas anderes ist die selektive Anwendung einiger seiner Kategorien. Das soll hier ohne großen philologischen Aufwand versuchsweise geschehen.

2.

Freund-Feind-Theorie deskriptiv und normativ

Schmitt publizierte zwischen 1910 und 1982 zahlreiche Schriften. Seine Theorie kann nicht auf eine einzelne Schrift reduziert werden. Zwei Schriften geben der theoretischen Rezeption des Werkes aber zumeist den Ausgangspunkt: die Politische Theologie von 1922 mit ihrer Lehre von der »Souveränität« und der bekannten Eingangsformel: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«, sowie Der Begriff des Politischen mit ähnlich prägnanten Formeln: »Die spezifisch politische Unterscheidung […] ist die Unterscheidung von Freund und Feind.« (BP 26) 3 »Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.« (BP 20) Die Schrift Der Begriff des Politischen liegt in vier Fassungen von 1927, 1932, 1933 und 1963 vor. Die letzte Fassung von 1963 ergänzte Schmitt um ein historisierendes Vorwort, und er publizierte gleichzeitig eine Theorie des Partisanen, Zum elementaren Gedankengang der Schrift vgl. Verf., Carl Schmitt zur Einführung, Hamburg 4. Aufl. 2011, 145–156; vgl. Verf. Hg., Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003

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Aktualisierung der Theorie des Partisanen

die er als Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen bezeichnete. Ausdrücklich nannte Schmitt seine Begriffsbestimmung nur ein analytisches »Kriterium« (BP 26), keine »erschöpfende Definition« oder gar essentialistische Wesensbestimmung. Das Kriterium sollte sich in der Anwendung bewähren und politisches Handeln als solches verdeutlichen und identifizierbar machen. Schmitt gibt dem Kriterium also zunächst keine systematisch-konstruktive Bedeutung. Oft wird für sein Werk von einer »Freund-Feind-Theorie« gesprochen. Von politischer »Freundschaft« oder gar von »Frieden« und »Gerechtigkeit« redet Schmitt aber systematisch nicht. Der Primat des Feindbegriffs wurde seiner Theorie auch immer wieder zum Vorwurf gemacht: Dolf Sternberger 4 und später Derrida 5 sind zwei Vertreter dieses Einwands. In starker Lesart wird Schmitt unterstellt, er vertrete ein konstruktivistisches oder kreationistisches Konzept vom Vorrang der Feindschaft: Es wird gesagt, dass Schmitt mehr oder weniger beliebige okkasionelle Feindbestimmungen zum Zweck der politischen Einheitsbildung instrumentalisierte und er eigentlich keine stabilen politischen Identitäten kannte. Will man diese Einwände klären, muss man seine vielschichtigen Überlegungen komplexer rekonstruieren. Die Schrift Der Begriff des Politischen interventionierte im nationalistischen Diskurs der Zwischenkriegszeit; die Theorie des Partisanen antwortete dann auf die Nachkriegslage und ist heute im globalen Terrorismus nach dem 11. September 2001 besonders aktuell.

3.

Aktualisierung der Theorie des Partisanen

Schmitt unterscheidet den Begriff des Politischen vom Staatsbegriff. Er konstatiert vor 1933 zwar eine Spannung von Staat und Nation, die schon durch die territorialen Gebietsverluste nach Versailles faktisch gegeben war, legt sein Konzept politischer Einheitsbildung aber nicht auf »Nationalismus« fest. Niemals situiert er die »Legitimität« vorbehaltlos bei der staatlichen Legalität und im herrschenden System des Völkerrechts. Seine Theorie des Partisanen nimmt die UnterDolf Sternberger, Der Begriff des Politischen, Frankfurt 1961; ders., Die Politik und der Friede, Frankfurt 1986 5 Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, Frankfurt 2000 4

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scheidung zwischen dem Begriff des Politischen und dem Staatsbegriff erneut auf, indem sie die »Gestalt« des Partisanen auch unter den Gesichtspunkten von Legalität und Legitimität näher erörtert: Der Partisan ist ein substaatlicher politischer Akteur, der auf eigene Gefahr handelt: irregulär und illegal, aber nicht per se illegitim. Schmitt erörtert die Legitimität des Partisanen systematisch und rechtsphilosophisch nicht eingehend; vielmehr argumentiert er historisch und genealogisch mit einer Skizze der Entwicklung der »Gestalt«. Seine Linie datiert die Heraufkunft des Partisanen seit dem nationalistischen Widerstand gegen Napoleon, in Spanien und Preußen, und nennt den Partisanen ein »preußisches Ideal« von 1813. Auf den Zweiten Weltkrieg zurückblickend bedient die Schrift 1963 den Mythos von der »sauberen« deutschen Wehrmacht, wenn sie für die ideologische und terroristische Entfesselung der partisanischen Kriegsführung – aktuell gesprochen: der asymmetrischen Kriegsführung des globalen Terrorismus – die marxistische Linie von Lenin zu Mao Tse-tung verantwortlich macht. Wie schon vor 1933, namentlich in der Parlamentarismusbroschüre von 1923, betrachtet Schmitt den irregulären, illegalen und partisanischen Akteur primär in der Weltbürgerkriegsfront von Nationalismus vs. Marxismus. Die Legitimität des Partisanen scheint er dabei nationalistisch am »defensiven« und »tellurischen« Charakter festzumachen. Ganz grundsätzlich trennt er Legalität und Legitimität: Legalität ist ein juristisches Kriterium, Legitimität aber – nach Max Weber – die herrschaftssoziologisch tragende Kategorie. Vom Aspekt der Legitimität unterscheidet Schmitt überdies noch den systematischen Grund des Rechts. Legalität garantiert keine Legitimität: Es gibt illegitimes Recht oder gesetzliches Unrecht und politisch mögliches und auch rechtlich legitimes Widerstandshandeln gegen den Staat. In der Theorie des Partisanen kommt Schmitt, nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, der Dekolonialisierungskriege (Indochina, Algerien) und der chinesischen Revolution, nahe an unsere heutigen Probleme heran. In den jüngsten Debatten seit dem 11. September 2001 wurde seine Theorie des Partisanen deshalb auch immer wieder als besonders aktuelle Schrift genannt. Schmitt nennt hier verschiedene »Aspekte und Begriffe des letzten Stadiums«. Der »Raumaspekt« der nationalistischen Heimatverteidigung wurde dabei im Verlauf des 20. Jahrhunderts, so Schmitt, durch die ideologische Orientierung am internationalistischen Marxismus sowie durch die globalen weltpolitischen und technischen Ver388 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Aktualisierung der Theorie des Partisanen

netzungen immer diffuser und unklarer. In Deutschland ist das heute in einem formelhaften Diktum des Verteidigungsministers Peter Struck (1943–2012) als geflügeltes Wort geläufig; der Minister sagte im März 2004 zur Rechtfertigung des deutschen Afghanistaneinsatzes: »Deutschland wird nicht nur, aber auch am Hindukush [also in Afghanistan] verteidigt!« Dieses Diktum wird heute meist eher satirisch verstanden: Niemand glaubt es ernsthaft. Klare Kriterien für die Unterscheidung von Angriffs- und Verteidigungskriegen gibt es heute, in Zeiten der »humanitären Intervention«, aber auch kaum noch. Schmitt beschließt seine Theorie des Partisanen mit einer Unterscheidung zwischen dem »wirklichen« und dem »absoluten« Feind. Er nimmt dabei eine Zuschreibung an den Marxismus vor, wo er auch seine eigene antisemitische Paranoia hätte nennen können: In seinem Antisemitismus verlor Schmitt selbst die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen dem wirklichen und dem absoluten Feind; er konstruierte Phantome absoluter Feindschaft und trübte seine Wahrnehmung durch ideologische Feindbestimmungen. Diese Konstruktion absoluter Feindschaft schreibt Schmitt nachträglich einseitig Lenin zu. Er sagt: Lenin machte als »Berufsrevolutionär des Weltbürgerkrieges […] aus dem wirklichen den absoluten Feind« (TP 94). Wenn der wirkliche Feind zum absoluten Feind erklärt wird, wird ihm die Friedensfähigkeit bestritten; er wird verteufelt und zum Unmenschen erklärt. Schmitt kennt aber nicht nur die ideologische Identifikation und Diffamierung des Feindes, sondern auch eine Verurteilung des Feindes von seinen Taten und eingesetzten Mitteln her. Dafür zitiert er Hegel: »Die Waffen sind das Wesen der Kämpfer selbst.« Schmitt fügt an: »Konkret gesprochen bedeutet das: die suprakonventionelle Waffe supponiert den suprakonventionellen Menschen.« (TP 95) Schmitt spricht von der »Unentrinnbarkeit eines moralischen Zwanges«, bestimmte Typen von Feinden in einer »Logik von Wert und Unwert« für »verbrecherisch und unmenschlich« zu erklären und in einen »Abgrund der totalen Entwertung« zu stoßen, die in die Eskalationsspirale des »Vernichtungswerk[s] einer absoluten Feindschaft« (TP 96) abrutscht. Als »suprakonventionelle Waffe« wurde damals, in den 60er Jahren, vor allem die Atombombe als eine Bedrohung jeder kriegsrechtlichen Hegungen diskutiert. 6 Man könnte heute auch andere verboteDamals etwa Karl Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 1958

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ne Waffen nennen: biologische oder chemische Waffen, Cyberwar und Drohnenkrieg 7 oder die kriegstechnische Regression zu atavistischen Waffen wie Schwertern, Macheten und Äxten. Im asymmetrischen Krieg des modernen Terrorismus beobachten wir nicht nur die Verwendung moderner Technologien, sondern auch einfachste piratische Indienstnahmen komplexer Technik sowie Kombinationen von atavistischen und modernen Techniken und Praktiken. Terroristische Videos von Enthauptungen wirken ohne besondere kriegshandwerkliche Kunst; Handy und Internet eröffnen einen einfachen Zugang zu globalen Öffentlichkeiten. Schmitt spricht vom »Menschen-Typus« des »Industrie-Partisanen« (TP 81), der sich avancierter Technik bedient und in der Abstraktion und Distanzierung vom konkreten Feind noch die letzten humanen Hemmungen verliert. Wenn ein IS-Terrorist auf der Promenade von Nizza am Nationalfeiertag wahllos Passanten mit einem Lastwagen überfährt, ist eine äußerste Diskrepanz von Zivilisation und Barbarei gegeben, die als besonders unmenschlich und terroristisch empfunden wird. Dem Täter scheint es dann nur um die maximale Fallhöhe des Barbarismus zu gehen: um einen Anschlag gegen die entwickelte Zivilisation der Menschheit schlechthin. Hier wird nicht nur Frankreich getroffen, kein Feind des IS, sondern das zivilisierte Leben schlechthin. Einen solchen Täter nimmt man eigentlich nicht mehr als Mitglied einer politischen Terrororganisation mit begrenzten Zielen war, sondern als einen »absoluten Feind« der Humanität und Zivilisation. Man wird ihn vielleicht nicht einmal als »radikal böse« verteufeln, sondern ihm das humane Potential schlechthin absprechen. Er gilt dann als verrückt und gehört eigentlich nicht ins Gefängnis, sondern in die Psychiatrie. Man unterscheidet heute beim islamistischen Terror zwischen dem »nahen« und dem »fernen« Feind. In den letzten Jahren traf der Terrorismus vor allem den »nahen« Feind im Nahen und Mittleren Osten: im Irak, Afghanistan und Syrien, Jemen und anderen Staaten. Der Terror ergriff dabei nicht nur die – schon in der Frühgeschichte des Islam und Nachfolgefrage des Propheten begründeten 8 – Differenzen zwischen Sunniten und Schiiten, sondern in der Logik des Totalitarismus auch die sektiererische Dynamik der TerrororganisaZu dessen Rechtfertigung jetzt Herfried Münkler, Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2015 8 Dazu jetzt Lutz Berger, Die Entstehung des Islam, München 2016 7

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tionen selbst. Die Revolution frisst wieder einmal ihre Kinder. Auch die inner circle der Organisationen und Polykratien der Paladine sind nicht mehr sicher. Heute zerstören Terrororganisationen nicht zuletzt sich selbst. Von Al-Qaida zu ISIS und IS 9 tritt der Terrorismus dabei aus der Deckung hervor, stellt Armeen auf, proklamiert ein Kalifat und erhebt Anspruch auf mehr oder weniger reguläre Herrschaft. Die Reterritorialisierung und Etatisierung des Terrors kassiert den Mehrwert des »asymmetrischen Krieges« und bietet neue Angriffsflächen. Die Armee des Terrors ist heterogen, unprofessionell und schwach. Die Internationalisierung der Truppen durch ausländische Dschihadisten, mehr oder weniger willkommene und brauchbare Fremdenlegionäre, ist für den Zusammenhalt und die Effizienz riskant. Mit dem Terrainverlust des IS in Syrien und im Irak scheint deshalb – 2015/16 – gerade wieder der »ferne« Feind im »Westen« das primäre Ziel zu werden: Es gab schwere Anschläge in Frankreich, Belgien und anderswo. Die islamistischen Täter stammen zwar oft aus Europa: Einige waren aber als Dschihadtouristen in Syrien unterwegs und sind als »Rückkehrer« heute effektiver als im Bürgerkriegseinsatz. Zunehmend agieren ideologische Einzeltäter auch mehr oder weniger unvernetzt als »einsame Wölfe«. Die Globalisierung der Truppe verweist auf die Entgrenzung des Bürgerkriegs. Man überließe den Terror gerne der Selbstzerfleischung, würde der Bürgerkrieg nicht dauernd durch »interessierte Dritte« befeuert und revitalisiert. Solche »interessierte Dritte« sind nicht nur arabische Nachbarstaaten, wie der Iran, Saudi Arabien oder Katar, sondern auch andere Staaten und Akteure, die die Kriegsökonomie als Produzenten oder Käufer und Konsumenten von Waffen, Drogen, Kunstwerken oder Frauen in der einen oder anderen Weise in Gang halten. Der Partisan legitimiert sich am Dritten, delegitimiert aber seine Feinde bis hin zur Unmenscherklärung. Partisanen lassen sich effektiv letztlich nur nach Partisanenart bekämpfen, meinte Schmitt, und der Terrorismus drängt oder zwingt seine Opfer zum Gebrauch verwandter Mittel. Die Feinderklärung schlägt auf den Terroristen zurück und der »absolute Feind« des Terroristen wird zum Terroristen selbst. Mit solchen Unmenschen macht man kurzen Prozess. Rechtsstaatliche Formen greifen dann kaum noch. Folterpraktiken in Guantanamo, Liquidationen qua Drohneneinsatz, die »Aktion GeroniDazu jetzt Benham T. Said, Islamischer Staat, IS-Miliz, al-Quaida und die deutschen Brigaden, 2014, München 4. Aufl. 2015

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mo« der Tötung von Osama bin Laden stehen dafür: Der Al-QaidaFührer wurde verbrannt und seine Asche wurde ins Meer gestreut, um keinen Gedächtnisort für einen Märtyrerkult zu hinterlassen. Der Anspruch auf ein ordentliches Begräbnis ist aber eine elementare Errungenschaft der Zivilisation. Das Grab achtet den Menschen in seiner Differenz zum Tier oder bloßen Materie (Asche, »Staub«). Homer und Sophokles schon berichten vom Grundrecht des Feindes auf ein Grab, Achills Schändung von Hectors Leiche steht für einen ungeheuren Frevel. Die Menschenrechte wollen selbst für Terroristen gelten und gehen mit der Asche über Bord. Terroristen wollen den Rechtsstaat zur Preisgabe seiner Standards zwingen und über den exekutiven Sicherheitsstaat hinaus in einen Leviathan »absoluter Feindschaft« verwandeln. Die rechtsphilosophische Tradition weiß: Strafe darf nicht zur Rache werden. Die Maßlosigkeit des Terrors darf nicht mit gleicher Münze entgolten werden. Das Talionsprinzip der Reziprozität ist dabei schon ein zivilisierendes Maß. Rache neigt dagegen zum Exzess. »Absolute Feindschaft« zerstört das Maß der Gerechtigkeit, und diesen Triumph lassen sich die Terroristen kaum noch nehmen. Ihre Strategie ist ziemlich einfach und erfolgreich. Viele Überlegungen aus der Theorie des Partisanen lassen sich so oder ähnlich für die Analyse des gegenwärtigen Terrorismus aktualisieren. In Deutschland hat dies insbesondere Herfried Münkler in zahlreichen Publikationen zu den »neuen Kriegen« getan. 10 Ein jüngstes Beispiel ist ein Artikel in der Wochenzeitschrift Die Zeit zum Typus und »Profil der terroristischen Akteure« nach den Anschlägen von Paris, Brüssel und Nizza: Münkler konstatiert hier, dass eine klare Differenzierung zwischen »Kriegs- und Kriminalitätsparadigma« nicht mehr möglich sei und »muslimische Kleinkriminelle« den IS für die rechtfertigende Selbstaufwertung von Amoktaten nutzen und vom IS im Gegenzug für eine Terrorpolitik instrumentalisiert werden, die auf eine »Feinderklärung des Westens« und umfassende »Konfrontation zwischen Islam und Westen« zielt. Münkler zitiert ohne Namensnennung wiederholt Schmitts Hinweis auf den »interessierten Dritten« (TP 77 f.), den der Terrorist braucht, um als politischer Akteur anerkannt zu sein. Am 25. Juli 2016 schreibt er hier abschließend: »Es gibt ihn also auch in den neuen Formen des

Dazu z. B. Herfried Münkler, Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, Weilerswist 2002

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Großraum und Revanchismus: Russland und die Ukraine

Terrorismus, den ›als interessiert unterstellten Dritten‹. Aber er wird nicht mehr direkt adressiert, sondern soll durch die Reaktion des Angegriffenen erst geschaffen werden.« 11 Das ist ein jüngstes Beispiel für die Adaption von Schmitts Theorie des Partisanen.

4.

Großraum und Revanchismus: Russland und die Ukraine

Schmitt war ein Zeuge der Krise des Nationalstaats und Übergangs zu supranationalen Ordnungen. Der »klassische« Nationalstaat war dabei eigentlich niemals ein selbstverständliches und unproblematisches Ordnungsmodell. Die Rede von einer Epoche des Nationalstaats idealisiert. Wann wäre die »verspätete« Nation Deutschland je ein »klassischer« Nationalstaat gewesen? Auch die »kleindeutsche« Reichsgründung war multiethnisch und die Weimarer Republik beschnitt die Nation auf Kosten des »großdeutschen« Revanchismus. Schmitt entkoppelte den Begriff des Politischen vom Staatsbegriff, differenzierte zwischen Staat und Nation und proklamierte nach 1933 ein deutsches »Mitteleuropa«. Er stellte »Ordnung« vor Recht, »Staat« vor Nation und bejahte die kommissarisch oder plebiszitär legalisierte und legitimierte Diktatur vor weiteren anspruchsvollen, in Krisenlagen schwer zu garantierenden Verfassungsstandards. »Staatssouveränität« geht vor »Volkssouveränität«, schreibt jetzt selbst Ingeborg Maus, 12 eine starke Theoretikerin der Volkssouveränität. Als Apologet des Weimarer Präsidialsystems wurde Schmitt zu einem Cheftheoretiker autoritärer und autokratischer Systeme. Gewiss hätte er beispielsweise den Sturz der Muslimbrüder in Ägypten und die Reetablierung eines Militärregimes durch El-Sisi begrüßt. Heute gehörte er wohl zu den »Putinverstehern«. El-Sisi oder Putin sind keine »lupenreinen« Diktatoren; es sind leidlich demokratisch gewählte Autokraten, deren Stabilisierungsregimes der »Weltgemeinschaft« heute in der allgemeinen Krisenlage der Weltpolitik nicht unlieb sind. Die Entwicklung Russlands von Jelzin zu Putin er-

Herfried Münkler, Die Falle ist gestellt. In Nizza und Würzburg ist eine neue Form des Terrors sichtbar geworden: Jeder kann Opfer werden, in: Die Zeit Nr. 31 vom 25. Juli 2016 12 Ingeborg Maus, Menschenrechte, Demokratie und Frieden. Perspektiven globaler Organisation, Frankfurt 2015, 41 ff. 11

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scheint nicht nur weiten Teilen der russischen Bevölkerung – jenseits zivilgesellschaftlicher Inseln in Moskau und St. Petersburg – positiv. Das Land hat sich erst nach Jelzin ökonomisch und politisch stabilisiert. Putins Politik zielte aber vom ersten Auftakt des Tschetschenienkriegs an auch auf die Restitution und Stabilisierung des Imperiums. Mit Putin schlägt das Imperium heute zurück. Eine neue geostrategische Achse droht sich gegen Europa und die NATO zu formieren. Die Ukraine ist kein Mitglied von NATO und EU. Sie ist selbstverständlich auch kein »gewachsener« Nationalstaat mit unstrittigen territorialen Grenzen und nationalen Loyalitäten. Die demokratische Legitimität der jetzigen Regierung ist zwar ziemlich unstrittig, trotz Verfahrensbedenken beim Sturz von Janukowytsch, aber auch eine Sezession der Ostukraine hat neben starken Einwänden einige Rechtstitel für sich. Die »demokratische Legitimität« gebietet keine Interventionen des Auslands zum Zweck der Durchsetzung demokratischer Standards. Demokratieexport ist in den letzten 100 Jahren auch fast überall grandios gescheitert. Afghanistan und Irak sind nur zwei neuere Beispiele für den Missbrauch und das Scheitern internationaler Demokratisierungsregimes. »Demokratisierung« ist heute für weite Teile der Welt noch ein viel zu anspruchsvolles Ziel. Aber auch die Menschenrechte gebieten in der gegenwärtigen Lage des Ukrainekonflikts wohl keine »humanitäre Intervention«. Nichts delegitimiert die Menschenrechte und die UNO so wie ihre missbräuchliche Instrumentalisierung für andere Zwecke. Ein Konflikt mit Russland im Namen der Menschenrechte hätte katastrophale eskalierende Folgen. Westliche Ukrainepolitik ist heute vor allem Russlandpolitik, weil Russland jedes Handeln gegenüber der Ukraine als Einmischung in seine imperialen Interessen betrachtet. Der russische »Bär« empfand den Zerfall der Sowjetunion als starke Demütigung. Das atomare Russland ist keine Regionalmacht und Putins imperialer Revanchismus ist gefährlich. Deshalb muss man den Rückschlag des Imperiums unter Putin aktuell hinnehmen, auf langsamen Wandel hoffen, die Grenzen von NATO und EU sichern, Alleingänge von Grenzstaaten unterbinden und auch die geopolitischen Differenzen zwischen Europa und den USA angemessen zur Geltung bringen. Ganz grundsätzlich fragte Schmitt in seiner »Verfassungslehre des Bundes« nach den verbindenden Homogenitätsgrundlagen bündischer Strukturen und identifizierte sie 1926 in seiner Schrift Die Kernfrage des Völkerbundes in der Abgrenzung vom gemeinsamen 394 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Großraum und Revanchismus: Russland und die Ukraine

Feind Sowjetunion. In seiner »Großraumlehre« bejahte er nach 1933 hegemoniale Verhältnisse und legitimierte das nationalsozialistische Deutschland als Ordnungsmacht in Mitteleuropa. Die Nachkriegsordnung von Versailles betrachtete er als instabil, und er begrüßte die »großdeutschen« Revisionen des deutschen Revanchismus. Tatsächlich ist das territoriale System von Versailles mit dem Untergang der Sowjetunion nach 1989 auch weiter zerfallen. Die Territorialstaatsordnung des Kalten Kriegs zerbrach dabei ungefähr an den alten Fronten des Nationalismus vor 1918. Die nationalistischen Energien haben sich also als stärkerer »Mythos« erwiesen, wie Schmitt es 1923 prognostizierte. Die Tschechoslowakei und Jugoslawien, Neuschöpfungen nach Versailles, existieren heute nicht mehr. Die nationalistische Dynamik führte zu blutigen territorialen Neuordnungen und schlimmen ethnischen Vertreibungen und »Säuberungen«. Der Sprengstoff des Nationalismus und nationalstaatlichen Selbstbestimmungsanspruchs zeigte sich auch in den Sezessionsbestrebungen und Staatsbildungsprozessen nach dem Untergang der Sowjetunion. Diese Separationsprozesse sind heute noch nicht abgeschlossen. Nach dem Tschetschenienkrieg begann Russland unter Putin mit einem Rollback des Imperiums, u. a. in Georgien und der Ukraine. Dafür hat es auch alte panslawische Ideologien ausgegraben und das orthodoxe Christentum als geostrategischen Expansionstitel reanimiert. Heute – im Sommer und Herbst 2016 – zeichnen sich gefährliche Allianzen zwischen Putin und Erdogan, Russland und der Türkei ab, die die geostrategische Friedensordnung der NATO eklatant betreffen und eine starke Bedrohung des fragilen Weltfriedens werden könnten. Andererseits agieren Russland und die USA heute, im Oktober 2016, in Syrien und im Irak bei der Zerschlagung des IS auch in mehr oder weniger konzertierter Parallelaktion. Die Gefahren eines revanchistischen Imperialismus hatte Schmitt nach Versailles erlebt. Seine Schrift Völkerrechtliche Großraumordnung rechtfertigte ihn nicht nur, sondern verwies ihn auch auf einen weiten, dennoch begrenzten Machtraum. Imperien brauchen Pufferstaaten und »weiche« Grenzen. 13 NATO und EU verwandeln »weiche« Grenzen aber in »harte«.

Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft, Berlin 2005; vgl. insgesamt Ulrich Menzel, Die Ordnung der Welt, Berlin 2015

13

395 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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5.

Europäisierung der Souveränität

Schmitt äußerte sich zur Entwicklung der Europäischen Union kaum und schwieg nach 1945 – jenseits der Briefwechsel – ganz auffällig von der Lage der Nation oder der »deutschen Frage«. So finden sich fast keinerlei Aussagen über die DDR. Von strategischen Überlegungen zu einer möglichen deutschen Wiedervereinigung ist nichts zu finden. Dieses fast völlige Schweigen über die deutsche Nationalstaatlichkeit nach 1949 lässt sich eigentlich nur als ein Verdammungsurteil des »Besiegten von 1945« verstehen: Vermutlich betrachtete er die Kriegsniederlage als ein militärisches und politisches Versagen des deutschen Volkes, das er mit einer ostentativen Aufkündigung der politischen Loyalität beantwortete. Er äußerte sich nach 1945 eigentlich nicht mehr in einer Teilnehmer- und Akteursperspektive als Deutscher. Deutschland war seiner Auffassung nach, nach 1945 nicht nur ohnmächtig und besiegt, sondern auch politikunfähig, und er legte in der Konsequenz seine Nationszugehörigkeit gleichsam nieder. Nach 1949 wurde das francistische Spanien zu seiner politischen Wahlheimat. Die Bundesrepublik wurde ihm dagegen niemals zu einer Heimat, der er Loyalität schuldete. Hinter seinem Generalbefund, dass »die Epoche der Staatlichkeit« (BP 10) zu Ende gehe, steht deshalb der Satz, dass Deutschland als Nationalstaat untergegangen und damit also jede nationale und staatsbürgerliche Verpflichtung erloschen sei. Nach 1945 fragte er in seinen Publikationen nur noch sehr allgemein nach multipolaren Alternativen zur Bipolarität des Kalten Krieges und setzte weiterhin auf eine Pluralität von »Großräumen« als Alternative gegen den universalistischen Zug zur »Einheit der Welt« und »legalen Weltrevolution« der Globalisierung eines westlichen Verfassungsstandards. Er wusste zwar um die fortdauernden nationalistischen Strömungen und Unterströmungen im sowjetischen Machtbereich, sah sie aber zutreffend nicht als aktuell entscheidende Kräfte an. Den Zerfall des Ostblocks erlebte er nicht mehr. Eine differenzierte Gesamtbetrachtung des Europäisierungsprozesses im Verhältnis zu den überlieferten Nationalstaaten findet sich nirgends. Die EU war nicht mehr Schmitts Thema. Selten äußerte er sich nach 1945 auch zum europäischen Einigungsprozess. Nur das »Kerneuropa« der Römischen Verträge (1957) und die Erweiterungsrunde von 1973 nahm er noch näher zur Kenntnis. Der Nomos der Erde beschrieb die »Entortung« des alten Europa. Schmitt stellte mit dem 396 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Europäisierung der Souveränität

francistischen Spanien dann eine andere »Substanz« und einen anderen »Verfassungsstandard« gegen die »EWG«. Die Theorie des Partisanen evozierte das maoistische China als Großraum und Verfassungsalternative gegen die moderne »Einheit der Welt«. Den Beitritt der maritimen »Insel« England (zusammen mit Irland und Dänemark) in das »terrane« und kontinentale Kerneuropa musste Schmitt, seinem Homogenitätskriterium und seiner Disjunktion der »Welten« von Land und Meer folgend, 1973 eigentlich für einen unhaltbaren Zustand erachten. Die weitere EU-Politik Englands – vom FalklandKrieg und Nichtbeitritt zur Euro-Zone über die »atlantische« Orientierung an den USA nach dem 11. September 2001 bis hin zur BrexitEntscheidung von 2016 – hätte ihn wohl bestätigt. Der Beitritt Spaniens (1986) mit den Folgen von Wirtschaftsboom, Immobilienblase und Finanzkrise hätte ihn ebenfalls in seiner Disjunktion von »Europa« und EU bestärkt. Schmitt entwickelte seine »Verfassungslehre des Bundes« in der Auseinandersetzung mit dem Genfer Völkerbund. Schon in den 20er Jahren formulierte er »Kernfragen« und »Antinomien« des Bundes: 14 Er betonte eine Spannung von »Versailles« und »Genf« und problematisierte die »Homogenität« als »Kernfrage« des Bundes: Die USA instrumentalisierten »Genf« als Sieger von »Versailles«, ohne selbst Mitglied im Völkerbund werden zu wollen, und die revolutionäre Sowjetunion negierte den Verfassungsstandard Europas. In der Verfassungslehre heißt es dazu 1928: »Die Lösung der Antinomien des Bundes liegt darin, dass jeder Bund auf einer wesentlichen Voraussetzung beruht, nämlich der Homogenität jeder Bundesmitglieder, d. h. auf einer substanziellen Gleichartigkeit, welche eine konkrete, seinsmäßige Übereinstimmung der Gliedstaaten begründet und es bewirkt, dass der extreme Konfliktsfall innerhalb des Bundes nicht eintritt. Auch hier kann, wie bei der demokratischen Homogenität […] die Substanz verschiedenen Gebieten des menschlichen Lebens angehören. Es kann eine nationale, eine religiöse, eine zivilisatorische, eine soziale oder klassenmäßige oder eine andere Art Homogenität vorhanden sein. Abgesehen vom Fall der Föderation sozialistischer Sowjetrepubliken, dürfte heute die Substanz meistens in einer nationalen Gleichartigkeit der Bevölkerung liegen. Doch kommt zur Homogenität der Bevölkerung noch als weiteres Element der Homogenität die Gleichartigkeit des politischen Prinzips (Monarchie, Aristokratie oder Demokratie) hinzu.« (VL 376 f.)

14

Carl Schmitt, Die Kernfrage des Völkerbundes, Berlin 1926

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Die Homogenität lebt vom Gravitationskern einer »Substanz« oder eines »Zentralgebietes«: Demographie, Wirtschaft, Politik, Kultur und Religion. Schmitt erklärt die »nationale« Homogenität in den zwanziger Jahren noch zum Regelfall, nennt aber auch das politische Prinzip verbindender Verfassungsstandards, das heute für die EU – auch in Form der Proklamation gemeinsamer »Werte« – von großer Bedeutung ist. Der Hinweis auf die »Sowjetrepubliken« deutet schon an: Die erste elementare Kraft politischer Einheitsbildung und Mobilisierung von »Homogenität« oder Einmütigkeit ist nach dem Begriff des Politischen die Abgrenzung von einem gemeinsamen »Feind«: gegen Russland, die USA, heute wohl auch gegen die in sich heterogene muslimische Welt, bei unklarer und offener Rolle der Schwellenimperien China und Indien. Schmitts abstrakte Formulierung der Homogenitätssubstanzen nennt wirtschaftliche Prinzipien und Interessen nicht offensiv und exponiert auch die Rolle der Religion nicht. Von christlicher Abendlandrhetorik ist sie weit entfernt. Die EU hat heute, nach sieben Erweiterungsrunden, eine schwache und überdehnte »Homogenität«. Die Grenzen Europas diskutierte sie in den letzten Jahren vor allem in der Türkeifrage und heute verstärkt auch gegenüber der Ostgrenze: der Ukraine und Georgien. Ein Blick auf die Erweiterungsrunden zeigt, dass die EU zunächst und zumeist ein genuin politisches Projekt war, das wirtschaftliche Unitarisierung in den Dienst politischer Zwecke nahm. Der europäische Einigungsprozess startete als Montanunion. Im Zentrum stand nach 1945 zunächst die Pazifizierung des Deutsch-Französischen Konfliktes und der mitteleuropäischen Kernstaaten überhaupt. Gründungsmitglieder waren Deutschland und Italien einerseits und Frankreich und die Benelux-Staaten, geopolitisch betrachtet die alten Pufferstaaten, andererseits. Der Beitritt südeuropäischer Länder wie Griechenland (1981) und Spanien (1986) sollte demokratisieren und autokratische Militärdiktaturen künftig ausschließen. Die Osterweiterungen nach 1989 sicherten die Sezessionsmasse des zerfallenden Ostblocks mit revanchistischen Folgekosten. Albanien ist heute ein letzter Außenposten der Differenz zwischen dem geopolitischen Europa und der EU, superreiche Ausnahmestaaten wie Norwegen und die Schweiz ausgenommen, die die EU grenzpolitisch nicht brauchen und ihren republikanischen Stolz und Wohlstand nicht an die EU übereignen wollen. Die EU ist heute ökonomisch, politisch, konfessionell und kulturell inhomogen, zielt aber in einer leveling down-Spirale auf diverse 398 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Europäisierung der Souveränität

Homogenisierungen und Unitarisierungen. Die politischen Errungenschaften der EU wurden dabei über wohlfahrtsstaatliche Erwartungen gerne vergessen und das politische Projekt wurde mit einem ökonomischen verwechselt. Souveränitätstransfers von den einzelnen Mitgliedern auf den Bund bzw. die europäischen Institutionen gibt es auf verschiedensten Ebenen. Die deutschen Hochschulen beispielsweise erlebten den Bologna-Prozess, der die Humboldt-Tradition der »Forschungsuniversität« qua Angleichungsargument schliff. Die Logik des Bundes zielt auf die Transformation eines mehr oder weniger lockeren Staatenbundes in einen mehr oder weniger stabilen Bundesstaat. Die Vereinigten Staaten von Europa wird es nicht geben, versichert man immer wieder, doch die Staatenbunddämmerung ist in vollem Gang. Souveränitätstransfers finden sich auf diversen Ebenen. Der europäische Verfassungsprozess ist zwar auf halber Strecke geblockt; Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden (2005) führten zu Ablehnungen, woraufhin geplante Referenden in einigen Ländern abgesagt wurden, doch das Elitenprojekt der EU schreitet weiter voran. Inzwischen hat Großbritannien sich (im Juni 2016) für den »Brexit« entschieden. Die neue Ministerpräsidentin May versichert: »Brexit means Brexit!« Schottland drohte daraufhin mit einer Spaltung oder Sezession. Der amtierende Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, beantwortete die Brexit-Entscheidung umgehend mit einem programmatischen Artikel in der FAZ, 15 der als Zeugnis bürokratischer Verblendung ein bleibendes Dokument des EU-Versagens ist. Schulz schreibt im emphatischen »Wir« eines Pluralis Majestatis und rechnet fast alle Errungenschaften Europas aufs Konto der EU und Probleme auf das Sünden- und Schuldenregister der Nationalstaaten; er verzichtet auf konkrete verfassungspolitische Argumentationen und mobilisiert stattdessen europäische Wir-Gefühle, die es offenbar kaum noch gibt. Er beantwortet die »Vertrauenskrise« mit der Forderung nach »Neustart« und »Revolutionen« und wünscht eine »echte« »europäische Regierung« und »transnationale Demokratie«. Von diesem abstrakten »Traum« führt keine Brücke zu den Regierungen und Nationen der Mitgliedstaaten. Die Krise ist heute der Schrittmacher des Eingriffs. 16 EuropäiMartin Schulz, Mit Herzblut und Leidenschaft, in: FAZ Nr. 153 vom 4. Juli 2016, 6 So jetzt Andreas Wirsching, Demokratisierung und Globalisierung. Europa seit 1989, München 2015, 164 f.

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sches Krisenmanagement wirkt heute politisch spaltend und juridisch unitarisierend. Dabei ist die Verfassungsfähigkeit der überdehnten EU nicht einmal fraglich: Der gescheiterte Verfassungsprozess hat diese Frage beantwortet. Die fehlende demokratische Legitimität und Substanz des Prozesses beantwortet die »große Politik« mit einer Verlagerung des Elitenprojekts in Hinterzimmer. Dort erpressen die Kleinen die Großen, oft auch umgekehrt, und Scheckbuchdiplomatie regiert Entscheidungen. Im Europa der gestuften Geschwindigkeiten ist selbst Kerneuropa kein intakter Stabilitätskern mehr. Nicht nur mitteleuropäische Kernstaaten wie Italien und Spanien schwächeln. Auch Frankreich kriselt ökonomisch wie politisch und ist heute durch islamistischen Terror furchtbar bedroht. Michel Houellebecq publizierte mit Soumission unmittelbar vor dem Pariser Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo (im Januar 2015) den Roman der Stunde. Houellebecqs Roman von der Machtergreifung einer islamistischen Minderheitspartei schildert in den Kategorien Schmitts den paradigmatischen Fall einer »legalen Revolution«. 17 Die Macht des Bundes und Logik der Unitarisierung werden heute gerne kaschiert. Die Einzelstaaten spielen doppeltes Spiel als souveräner Nationalstaat gegenüber der Bevölkerung und als gefügiges Mitglied im Bund. Spitzenpolitiker sprechen mit gespaltener Zunge: In den nationalen Foren agieren sie demonstrativ als Anwälte nationaler Interessen und in den europäischen Institutionen fügen sie sich dem Einigungszwang des Bundes. Schmitt schreibt: Im Bund bleibt die Souveränitätsfrage stets prekär und »offen«. Der europäische Prozess ist »irreversibel«, heißt es allerorts: Einen »Entwicklungspfad« kann man nicht verlassen. Die Legitimitätsketten der Union sind heute aber so dünn, dass von demokratischen Prozessen und Entscheidungen in einem anspruchsvollen Sinn kaum noch zu sprechen ist. Das Elitenprojekt ähnelt einem exekutiven Maßnahmestaat. Selbst die Rechtsform wird im Krisenmanagement elementar verletzt, was zu massiven Einwänden und Bedenken zahlreicher Rechtswissenschaftler wie auch des Bundesverfassungsgerichts führte. Der Ort der Souveränität wechselt heute auf die europäische Ebe-

Dazu literaturwissenschaftlich Barbara Vinken, Das Vierte Reich. Houellebecq und Europas innerer Orient, in: Idee. Zeitschrift für Ideengeschichte 10 (2016), Heft 3, 53– 68; politisch: Barbara Zehnpfennig, Ein Warnschuss für den Westen: Michel Houellebecqs Roman ›Unterwerfung‹, in: Politisches Denken. Jahrbuch 25 (2016), 239–248

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Europäisierung der Souveränität

ne und aus den Parlamenten und Regierungen in die Justiz und die Währungspolitik der Europäischen Zentralbank über. Schmitt diagnostizierte vor 1933 schon Strategien der Verlagerung und Verschiebung von Entscheidungen zwischen den Verfassungsorganen. Er betrachtete die Politik dabei als »Schicksal«. Seine Rede von einem »Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen« war ironisch gemeint: Strategien der Neutralisierungen und Entpolitisierung schlagen seiner Auffassung nach nur in neue Orte und Formen der Politisierung um. Im besten Fall verschaffen sie Akteuren einige Luft und Zeit. Pragmatische »Formelkompromisse« haben meist nur »dilatorische« Effekte. Neutralisierungen und Entpolitisierungen flüchten aus den mehr oder weniger bewährten Formen, die für den Entscheidungsprozess vorgesehen waren, und schaffen neue Kampfzonen. Schmitts Paradebeispiel war in Weimar die Frage nach dem »Hüter der Verfassung«: Er kritisierte eine Instrumentalisierung und Politisierung der Verfassungsjustiz durch das Kompromissmanagement strategischer Verschiebung politischer Entscheidungen auf die Gerichte. Innenpolitisch ist der Bundesrepublik heute der »Gang nach Karlsruhe« als Strategie der Verantwortungs- und Entscheidungsverschiebung vertraut. Auf dem »Verschiebebahnhof« (Wirsching) der großen EU werden solche Weichenstellungen heute immer komplexer. Von Berlin wanderte der Ort der Souveränität zunehmend über Karlsruhe an europäische Institutionen und Gerichte ab. Wenn Scheckbuchdiplomatie das Einigungsmanagement bestimmt, wird die Währungspolitik zum Zentrum europäischer Politik. Mit der Entwicklung der Transfergemeinschaft zur »Schuldenunion« verlagert sich der Ort der Souveränität heute auch auf die EZB. Das Elitenprojekt der EU vollendet sich gleichsam in dieser Expertokratie und Technokratie. Proteste vom 18. März 2015 bei der Einweihung der ikonischen neuen EZB-Zentrale in Frankfurt, mit gehörigem Abstand in Schusslinie zum Skylinemassiv der Bankenzentrale gebaut, waren nicht nur pseudopolitische Hooligan-Randale. Die Suche nach dem europäischen Ort der Souveränität landet heute nicht zufällig vor der EZB. Der Protest stürmte allerdings nicht das Gelände und kam im Gebäude kaum an. Die Hochsicherheitszone ist sicher, aber die Straße brennt. Grundsätzlich gilt: Wenn der politische Protest keine verfassungsstaatlichen Formen mehr findet, in denen er integriert, kanalisiert und absorbiert wird, wenn die bündische Logik der Unitarisie401 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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rung, wie im Verfassungsprozess geschehen, die liberaldemokratischen Formen instrumentalisiert und finalen Zwecke unterordnet, wenn die EU also, volkspädagogisch gesprochen, ihre »Bürger nicht mehr mitnimmt«, dann muss sich niemand wundern, wenn die politische Bewegung auf die Straße geht und sich links wie rechts radikalisiert. Die Souveränitätsfrage bleibt in den »Antinomien des Bundes« immer offen, schreibt Schmitt. Besonders virulent wird sie, wenn der Prozess nicht mehr offen ist und jenseits etablierter Formen die Sprache der Gewalt herrscht. Der Integrationsprozess der EU ist heute einigermaßen erschöpft, die verfassungsstaatliche Problemverarbeitung stockt. 18 Das Konfliktmanagement hat den liberaldemokratischen Pfad vielfach verlassen und verraten. Die heutigen Verwerfungen lassen sich in der Ressourcenknappheit des globalen Wettbewerbs aber nicht mehr mit Wohlstandsversprechen und Wahlpräsenten beschwichtigen. Der moderne Verfassungsstaat droht mitsamt seiner Legalität und Legitimität auf der Strecke zu bleiben.

6.

Zur Rolle Deutschlands in Europa

In den neueren Krisen der Europäischen Union ist Deutschland unter der Kanzlerschaft Merkel in den letzten Jahren verstärkt eine schwierige Führungsrolle zugefallen. Von den Gründerstaaten von Kerneuropa muss es die Last des Motors der Europäisierung heute fast allein stemmen. An der Seite des französischen Ministerpräsidenten erklärte die Bundeskanzlerin die gegenwärtige Lage im Herbst 2015 für eine »außergewöhnliche Situation«. Nach den Pariser Anschlägen vom November 2015 hat Frankreich auch formell den Ausnahmezustand erklärt, und dieser Zustand gilt heute, nach dem Anschlag in Nizza vom 14. Juli 2016, vorerst noch. England hat sich im Juni 2016 für den Brexit entschieden. Für eine »europäische Lösung« der Flüchtlingskrise 19 und gerechte Kontingentierung der Flüchtlinge Optimistischere Sicht etwa bei Horst Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaats, Tübingen 2014 19 Dazu Verf. u. Tereza Matejcková u. Emeti Morkoyun (Hg.), Blicke auf Deutschland: Pädagogisch-politische Schlaglichter zur Flüchtlingsfrage von 2016 und 1948, Heidelberg 2016; das Plädoyer für eine optimistische Sicht der »Chancen« bei Herfried u. Marina Münkler, Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft, Berlin 2016; für eine aktive starke Rolle Deutschlands schon Herfried Münkler, Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, Hamburg 2015 18

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Zur Rolle Deutschlands in Europa

etwa findet Merkel heute nur noch wenig Unterstützung. Zunehmend ist Deutschland als »Aufhalter« des Untergangs und Motor der Europäisierung auf verlorenem Posten. Dass es heute die europäische Fahne ziemlich allein hochhält, hat nachvollziehbare Gründe: Deutschland hat nach 1945 ein besonders gebrochenes Verhältnis zum Nationalismus und zur Nationalstaatlichkeit. Es hat – in der Zweistaatlichkeit von BRD und DDR – gelernt, zwischen Staat und Nation zu unterscheiden und den Nationalismus primär als destruktiv wahrzunehmen. Die nationalistischen und rechtspopulistischen Strömungen überall in Europa werden hier deshalb auch besonders skeptisch und negativ wahrgenommen. Der Rechtsextremismus wird massiv bekämpft. Auch deshalb haben sich in Deutschland nach 1945 keine starken rechtspopulistischen Parteien nachhaltig etablieren können. Sie sind immer wieder schnell entstanden und untergegangen. Das etablierte politische System kann weiter auf diese autodestruktive Organisationsunfähigkeit des deutschen Nationalismus hoffen, die auch mit den nationalsozialistischen Hypotheken zusammenhängt: Immer wieder scheitern die Parteigründungen an ihrer sektiererischen Dynamik und am schmalen Grat überzeugender Abgrenzungen vom Nationalsozialismus und Antisemitismus. Heute scheint es der jüngsten rechtspopulistischen Partei, der AfD, ähnlich zu ergehen: Trotz enormer Wahlerfolge etablierte sie keine stabile Personal- und Parteistruktur, sondern entwickelte sich in kürzester Zeit von einer euroskeptischen zu einer rechtspopulistischen Partei und spaltete und zerstritt sich darüber. Die Kette der Wahlerfolge ist aber noch nicht gerissen. Der deutsche Nationalismus ist im Wählerpotential zwar nach wie vor keineswegs schwach; auch antisemitische Einstellungen sind weiterhin – ganz abgesehen vom wachsenden muslimischen Antisemitismus in Deutschland – nicht nur latent verbreitet. Rechtsextremistische Übergriffe und Gewaltkriminalität nahmen zwar zu, anders als etwa in Frankreich oder den Niederlanden ist der deutsche Nationalismus aber nach wie vor ziemlich organisationsunfähig. Es fehlen nicht nur starke Führungsfiguren, sondern der Rechtsextremismus ist hier nach wie vor nicht gesellschaftsfähig. Staat und Gesellschaft lehnen ihn ab und grenzen ihn effektiv aus. Nach 1945 wurde die Bundesrepublik zu einem Motor der Europäisierung. Sie vergisst aber leicht die strategischen Rahmenbedingungen ihrer Europabegeisterung: Der wirtschaftliche und politische Wiederaufstieg war nur im Rahmen der »Westbindung« möglich und 403 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

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auch die Wiedervereinigung nach dem Mauerfall erfolgte nur unter der Bedingung der starken Europäisierung. Der Untergang des Nationalstaats wurde in manchen Kreisen der Linken, auch im linken Flügel der Sozialdemokratie, dabei mitunter als eine Art gerechter Strafe für »Auschwitz« verstanden. 20 An die Stelle einer nationalistischen Sonderwegsideologie trat gleichsam die neue Sonderwegsideologie vom transnationalen »guten Europäer« und Untergang der Nationalismen in den Vereinigten Staaten von Europa. In Deutschland wurde bisher aber wohl noch nicht hinreichend verstanden, dass die Staaten der Osterweiterung nach 1989 ein anderes Verhältnis zum Nationalstaat haben: Sie erwarteten sich von der EU, neben ökonomischen Vorteilen, vor allem die Sicherung endlich errungener nationaler Eigenständigkeit gegen Russland. Die EU wurde hier mehr als eine Ermöglichung nationaler Eigenstaatlichkeit betrachtet. Nicht nur die jungen osteuropäischen Mitgliedstaaten formulieren heute in der Flüchtlingskrise ihr nationalstaatliches Selbstverständnis sehr deutlich und schließen ihre Grenzen: Appelle an europäische Solidarität verhallen heute weithin wirkungslos. Die EU war seit ihren Anfängen primär ein politisches Projekt, das wirtschaftspolitische Kooperationen und Liberalisierungen für politische Unitarisierungsprozesse einsetzte. Es wird sich zeigen, ob ihre wirtschaftlichen Liberalitäten von anderen Kooperationen und Solidaritäten abzutrennen sind. England scheint den Brexit in diese Richtung verhandeln zu wollen. Unstrittig steht die EU heute vor gravierenden Zerreißproben. Sie fordert heute einen gemeineuropäischen Verfassungsstandard und versteht Menschenrechte und Demokratie als indisponible Zugehörigkeitskriterien. Weitere Beitrittsverhandlungen mit der Türkei werden heute, im Herbst 2016, unter Verweis auf diesen Verfassungsstandard in Frage gestellt. Die präsidialen, autokratischen und wohl auch diktatorischen Transformationen unter Putin und Erdogan hätte Schmitt nach dem Drehbuch der Weimarer Endzeit vielleicht geradezu als Modellfälle für einen verfassungspolitischen Umbau von mehr oder weniger liberalen und parlamentarischen »Gesetzgebungsstaaten« in exekutive Maßnahmesysteme betrachtet. Dabei hätte er in der Alternative zwischen der heutigen Bundesrepublik und Putins Russland auch für Moskau optieren können. Wenn wir Das betonte schon Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom ›Dritten Reich‹ bis zur Wiedervereinigung, München 2000, Bd. II, 654 f.

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Zur Rolle Deutschlands in Europa

heute in Europa liberaldemokratische Verfassungsstandards gegenüber Moskau und Ankara einfordern, sollten die rechtsstaatlichen und demokratischen Defizite der heutigen EU nicht verschwiegen werden. Schmitts Schrift Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft ist beklemmend aktuell. Wahrscheinlich hätte Schmitt sich heute aber auch für die Europäisierungsmotoren EuGH 21 und EZB sowie andere EU-Einrichtungen interessiert. Gewiss hätte er nach dem gegenwärtigen Ort und Träger der Souveränität gefragt. Die üblichen Verweise auf eine fehlende europäische Öffentlichkeit und gesamteuropäische Regierung, wie EU-Parlamentspräsident Schulz sie ausdrücklich wünscht, hätten ihn dabei vermutlich weniger interessiert, denn er war ja kein liberaler Demokrat, auch wenn er ein gewisses Maß an plebiszitärer Legitimation und Zustimmung politisch für unerlässlich hielt. Gewiss hätte er die informellen und nichtöffentlichen Entscheidungszentren des EU-Elitenprojekts kritisiert und eine Art vagabundierender Souveränität konstatiert, in der die Verantwortlichkeiten nicht eindeutig und transparent geregelt sind. Deshalb hätte er vielleicht auch Parallelen mit der Lage im Kalten Krieg angenommen und gemeint: ob Bonn oder Paris, Straßburg oder Brüssel oder ob gar Athen oder Warschau: Die strukturellen Selbstblockaden der EU verschieben den Ort der Souveränität auf »interessierte Dritte«. Im entscheidenden Fall der Krise ist der Ort der Entscheidung nach wie vor in den USA lokalisiert: ob beim amerikanischen Präsidenten oder bei den Militärstrategen der NATO (die formell mit dem Nordatlantikrat in Brüssel sitzen). So war es in den letzten Jahrzehnten immer wieder: ob im Bosnien-Konflikt, in Libyen oder heute in Syrien. Schmitts komplexes Kategoriensystem und Werk lässt verschiedene Auslegungen und Aussichten auf die gegenwärtige Lage in Europa zu. Seine dramatischen Szenarien vom Ausnahmezustand und Bürgerkrieg scheinen heute aber erneut wirklich zu werden und dabei vom Mittleren und Nahen Osten her auch in Europa einzuwandern. So ist Schmitt heute wieder verflucht aktuell.

Dazu jetzt Dieter Gosewinkel, Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2016, 592 ff.

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XXIV. · Weltkonflikte mit Carl Schmitt (2015/16)

Am 65. Geburtstag wurde Schmitt 1953 in einem Sketch von seiner Tochter Anima, die die Nemesis verkörperte, mit seinen diversen intellektuellen Verdiensten vor allem als der Mann gefeiert, »der einen Walfisch fing« 22 und den Leviathan Staat auf den Begriff brachte. Die einsetzende Forschung betrachtete Schmitt dagegen überwiegend skeptisch und er ärgerte sich über die »Eselstritte« der mehr oder weniger wohlmeinenden und unberufenen Hermeneuten. So hätte er wohl auch die vorliegende Sammlung bestenfalls spöttisch betrachtet. Aus der Perspektive des mythischen Ungeheuers hätte er dazu vielleicht mit einem frühen Leviathan-Gedicht von Ferdinand Freiligrath gemeint: […] mir aber war, Als glotzt’ er halbgeschlossnen Aug’s verächtlich auf die rohe Schaar. Mir war, als rauschte zürnend mir sein purpurroth verrieselnd Blut; Als murrt’ er röchelnd in den Sturm: »O miserable Menschenbrut! O Zwerge, die den Riesen ihr bezwungen habt durch schnöde List! O Zappler auf dem Trocknen ihr, die mein Gebiet ihr meiden müßt! Schwächlinge, die das Meer ihr nur in hohlem Boot befahren könnt, Dem jämmerlichen Schalthier gleich, das nie sich von der Muschel trennt! O kahler Strand, o nüchterner! o kahl und nüchtern Treiben drauf! O nüchtern Volk! wie bebten sie, da sie vernahmen mein Geschnauf! Wie trostlos auf der Dün’ ihr Dorf mit seinen dumpfen Hütten steht! Und – bist du besser denn, als sie, der du mich sterben siehst, Poet? Ich wollt’, ich wäre, wo das Meer, und wo die Welt ein Ende nimmt; Wo krachend in der Finsterniß der Eispalast des Winters schwimmt. Ich wollt’, ein Schwertfisch wetzte dort am Eis sein Schwert, und stieße mir Das jäh gezuckte durch die Brust; so stürb’ ich wenigstens nicht hier!« […] Ferdinand Freiligrath, Leviathan 23

Abdruck in: Gerd Giesler (Hg.), Carl Schmitt und die Künste in der Plettenberger Nachkriegszeit, Plettenberg 2010, 26-28, hier: 28. 23 in: ders., Gedichte, 6. Aufl. Stuttgart 1843, 259 f. 22

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Nachweise der Erstveröffentlichungen 1

Teil I I. Brasilianische Übersetzung: A apologeta como minor. A história das ideias agonais de Carl Schmitt, in: Roberto Bueno (Hg.), Carl Schmitt hoje. Politica, direito e teologia, Sao Paulo 2015, 651–664 II. »Antiburibunkentum buribunkisch« oder: der Bürger als Picaro. Die antibürgerliche Selbstdarstellung Carl Schmitts im Tagebuch, in: Janosch Steuwer / Rüdiger Graf (Hg.), Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2015, 234–256 (stark gekürzt) III. Manfred Brocker (Hg.), Klassiker des politischen Denkens II, Berlin 2017 IV. Hegel-Jahrbuch 2013: Hegel und die Moderne. Zweiter Teil, Berlin 2013, 304–311 V. Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 37 (2015), 240–251 VI. Thomas Jäger/Rasmus Beckmann (Hg.), Handbuch Kriegstheorien, Wiesbaden 2011, 248–255

Teil II VII. Längere Fassung: Machiavelli oder Odysseus? Über alte und neue Intellektuelle, in: Harald Bluhm, Karsten Fischer, Marcus Llanque (Hg.), Ideenpolitik. Geschichtliche Konstellationen und gegenwärtige Konflikte, Berlin 2011, 545–561 VIII. Längere Fassung in: Berliner Debatte Initial 23 (2012), 67–93 IX. Idee. Zeitschrift für Ideengeschichte 6 (2012), Heft 1, 32–45 Alle Texte wurden durchgesehen und mehr oder weniger intensiv stilistisch und fachlich überarbeitet.

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Nachweise der Erstveröffentlichungen

X. Stark gekürzt und überarbeitet nach: Wie fängt man ein Chamäleon? Probleme und Wege einer Carl Schmitt-Biographie, in: Idee. Zeitschrift für Ideengeschichte 3 (2009), Heft 2, 71– 86

Teil III XI. Ewald Grothe (Hg.), Ernst Rudolf Huber. Staat-VerfassungGeschichte, Baden-Baden 2015, 21–49 XII. Unveröffentlicht XIII. Erscheint leicht verändert in: Mark Schweda / Ulrich v. Bülow (Hg.), Entzweite Moderne. Zur Aktualität Joachim Ritters und seiner Schüler, Göttingen 2017, 292–317 XIV. Längere Fassung: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 36 (2008), 518–542 XV. Unveröffentlicht XVI. Unveröffentlicht XVII. Martin Otto / Verf., (Hg.), Voraussetzungen und Garantieren des Staates. Ernst-Wolfgang Böckenfördes Staatsverständnis, Baden-Baden 2014, 90–107; erw. Fassung in: Hanns-Gregor Nissing (Hg.), Naturrecht und Kirche im säkularen Staat, Wiesbaden 2016, 141–161 XVIII. Längere Fassung in: Juristen-Zeitung 70 (2015), Heft 18, 860– 865 XIX. Längere Fassung in: Hans Joas / Peter Vogt (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt 2010, 138–168 XX. Längere Fassung in: Michael Meyer-Blanck (Hg.), Erik Peterson und die Universität Bonn, Würzburg 2014, 237–268 XXI. Andere Fassung in Matthias Löwe / Gregor Streim (Hg.), Humanismus in der ›Krise‹. Debatten und Diskurse zwischen Weimarer Republik und geteiltem Deutschland, Berlin 2017

Teil IV XXII. Maurizio Bach (Hg.), Der entmachtete Leviathan. Löst sich der souveräne Staat auf? Zeitschrift für Politik. Sonderband 5, Baden-Baden 2013, 263–279 408 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Nachweise der Erstveröffentlichungen

XXIII. Gekürzte Fassung in: Frankfurter Allgemeine Woche Nr. 21 vom 20. Mai 2016, 26–27 XXIV. Kurze und ältere Fassung in: Welttrends (2015), Heft 106/ 107, 73–77

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Siglen der wichtigsten Werke Carl Schmitts

Der Nachlass Carl Schmitts befindet sich im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. Abteilung Rheinland. Standort Duisburg. Die Tagebucheditionen werden hier nach der Jahreszählung zitiert: TB 1912/15 etc.: Carl Schmitt, Tagebücher. Oktober 1912 bis Februar 1915, hrsg. Ernst Hüsmert, Berlin 2003; Carl Schmitt, Die Militärzeit 1915 bis 1919. Tagebuch Februar bis Dezember 1915. Aufsätze und Materialien, hrsg. Ernst Hüsmert / Gerd Giesler, Berlin 2005; Carl Schmitt, Der Schatten Gottes. Introspektionen, Tagebücher und Briefe 1921–1924, hrsg. Gerd Giesler, Ernst Hüsmert u. Wolfgang H. Spindler, Berlin 2014; Carl Schmitt, Tagebuch 1930–1934, hrsg. Wolfgang Schuller, Berlin 2010 Weitere Kürzel für andere Autoren werden in den jeweiligen Kapiteln eingeführt. AN BP D

DARD DC ECS FP GCS

GL

Antworten in Nürnberg, hrsg. und kommentiert von Helmut Quaritsch, Berlin 2000 Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963 Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf (1921), 4. Aufl., Berlin 1978 Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (1934), 2. Aufl., Berlin 1993 Donoso Cortés in gesamteuropäischer Interpretation. Vier Aufsätze, Köln 1950 Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, Köln 1950 Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik, hrsg. Günter Maschke, Berlin 2005 Gedichte für und von Carl Schmitt, hrsg. Gerd Giesler, Ernst Hüsmert, Wolfgang H. Spindler, Plettenberger Miniaturen 4, Plettenberg 2011 Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947 bis 1958, erweiterte, berichtigte und kommentierte Neuausgabe, hrsg. Gerd Giesler / Martin Tielke, Berlin 2015

410 https://doi.org/10.5771/9783495813485 .

Siglen der wichtigsten Werke Carl Schmitts GLP GM GU HdV HH HP L LM N NE PB PR PT PT II RK SBV SGN SZZR TP TW VA

VL VRA WdS

Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), 2. Aufl., München und Leipzig 1926 Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Pfullingen 1954 Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis (1912), 2. Aufl., München 1969 Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931 Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Düsseldorf 1956 Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930 (jetzt auch Anhang zur 5. Aufl. HdV) Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines Symbols (1938), Köln 1982 Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung (1942), Köln 1981 Theodor Däublers ›Nordlicht‹. Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes (1916), Berlin 1991 Der Nomos der Erde im Jus Publicum Europaeum, Köln 1950 Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939, Hamburg 1940 Politische Romantik (1919), 2. Aufl., München und Leipzig 1925 Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), 3. Aufl., Berlin 1979 Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 1970 Römischer Katholizismus und politische Form (1923/25), Stuttgart 1984 Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hamburg 1933 Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, hrsg. Günter Maschke, Berlin 1995 Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, Hamburg 1934 Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963 Die Tyrannei der Werte, 3. Aufl. Berlin 2011 Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz ›Nullum crimen, nulla poena sine lege‹, hrsg. Helmut Quaritsch, Berlin 1994 Verfassungslehre, München und Leipzig 1928 Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958 Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914), Berlin 2004

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Siglen der wichtigsten Werke Carl Schmitts

Briefwechsel BS JS CSAD CSLF EFCS

GJCS HBCS

JTCS

SSA

CSRS

CSHU

Carl Schmitt. Briefwechsel mit einem seiner Schüler, hrsg. Armin Mohler, Berlin 1995 Ernst Jünger / Carl Schmitt. Briefwechsel 1930–1983, hrsg. Helmuth Kiesel, Stuttgart 1999 Carl Schmitt und Álvaro d’Ors. Briefwechsel, hrsg. Montserrat Herrero, Berlin 2004 Carl Schmitt / Ludwig Feuchtwanger. Briefwechsel 1918–1935, hrsg. Rolf Rieß, Berlin 2007 Briefwechsel Ernst Forsthoff / Carl Schmitt (1926–1974), hrsg. Dorothee Mußgnug, Reinhard Mußgnug u. Andrea Reinthal, Berlin 2007 Briefwechsel Gretha Jünger / Carl Schmitt (1934–1953), hrsg. Ingeborg Villinger u. Alexander Jaser, Berlin 2007 Hans Blumenberg / Carl Schmitt. Briefwechsel 1971–1978 und weitere Materialien, hrsg. Marcel Lepper, Alexander Schmitz, Frankfurt 2007 Jacob Taubes-Carl Schmitt. Briefwechsel mit Materialien, hrsg. Herbert Kopp-Oberstebrink / Thorsten Palzhoff / Martin Treml, München 2012 Carl Schmitt / Hans-Dietrich Sander. Werkstatt-Discorsi. Briefwechsel 1967–1981, hrsg. Erik Lehnert, Günter Maschke, Schnellroda 2008 »Auf der gefahrenvollen Straße des öffentlichen Rechts«. Briefwechsel Carl Schmitt – Rudolf Smend 1921–1961. Mit ergänzenden Materialien, hrsg. Reinhard Mehring, 2. verb. Aufl. Berlin 2012 Carl Schmitt-Ernst Rudolf Huber. Briefwechsel, hrsg. Ewald Grothe, Berlin 2014

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