Schmitt-Lektüren: Vier Versuche über Carl Schmitt [1 ed.] 9783428559121, 9783428159123

Die hier zusammengestellten Schmitt-Lektüren sind Lektüren Carl Schmitts im doppelten Sinn des Genitivus subiectivus und

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Schmitt-Lektüren: Vier Versuche über Carl Schmitt [1 ed.]
 9783428559121, 9783428159123

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 99

INO AUGSBERG

Schmitt-Lektüren Vier Versuche über Carl Schmitt

Duncker & Humblot · Berlin

INO AUGSBERG

Schmitt-Lektüren

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 99

Schmitt-Lektüren Vier Versuche über Carl Schmitt

Von

Ino Augsberg

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-15912-3 (Print) ISBN 978-3-428-55912-1 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Schmitt-Lektüren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Von einem, der auszog, das Fürchten zu lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 II. Nomos und Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 III. Recht als textuales Netzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 IV. Ein vierter Nomos der Erde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 V. Vom Netzwerk zum Rhizom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 VI. Die Ambivalenz des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Über die Grenzen des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 II. Übertragen, Übersetzen, Überschreiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 III. Metapher und Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 IV. Schmitts Sprachverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 1. Ra(um) – Reim – Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2. Nomos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3. Kein Anfang und kein Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Kreuzstiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

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Inhaltsverzeichnis II. Helsingör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 III. Karlsruhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 IV. Exit Ghost? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 V. Complexio oppositorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 VI. Chiasmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 VII. Die Wunde der Politischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

Im Namen des Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 II. „Volk“ als juristische Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 III. Der Begriff des Volkes bei Carl Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 IV. Zur Unterscheidung von populus und vulgus bei Kant und Hegel . . . 116 V. Im Namen des Namens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Drucknachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Schmitt-Lektüren Die im Folgenden zusammengestellten Schmitt-Lektüren sind Lektüren Schmitts im doppelten Sinn des Genitivus subiectivus und des Genitivus obiectivus: Es geht ihnen jeweils darum, nicht nur die Schmitt’schen Texte wieder zu lesen. Es geht darum, dabei zugleich mitzulesen, was, also welche Autoren, welche Texte, Schmitt selbst gelesen hat – und vor allem, wie er sie gelesen hat. Ich lese Schmitts Schriften nicht primär, wie man eine Spur liest, die zu einem bestimmten Ziel hinführen soll. Es geht mir weniger um die meist im Vordergrund der Auseinandersetzung stehenden inhaltlichen Aussagen und das heißt zugleich: um die Frage, inwieweit diese Aussagen auch einer gegenwärtigen, mit den Problemen einer globalisierten Gesellschaft konfrontierten Rechts- und Politikwissenschaft noch etwas Relevantes und „Anschlussfähiges“ zu bieten haben. Mich interessieren vor allem die dahinterstehenden Verfahren, mit denen sich Schmitt selbst erst seine eigenen, inhaltlich hochumstrittenen „Positionen und Begriffe“ erarbeitet. Die dergestalt auf eine spezifische Doppelsicht eingestellte Lektüre nimmt gezielt (auch) Texte von Schmitt in den Blick, die üblicherweise weniger Beachtung erfahren als die scheinbar zentralen „Hauptwerke“, etwa Der Begriff des Politischen oder die Politische Theologie. Sie interessiert sich insbesondere für jene Arbeiten, in denen Schmitt sich mit literarischen Werken auseinandersetzt. In bemerkenswertem Kontrast zu einer gegenwärtig immer noch fortdauernden und sich sogar weiter steigernden Schmitt-Konjunktur (die angesichts der bekannten politischen Problematik von Schmitt, die eine derartige Konjunktur eigentlich verbieten sollte,1 u. a. zu einem speziellen Unter-Genre geführt hat, in dem die Fortbeschäftigung mit Schmitt eigens erklärt und gerechtfertigt wird),2 1

Vgl. dazu nur Bernd Rüthers, Carl Schmitt im Dritten Reich. Wissenschaft als Zeitgeist-Verstärkung?, München 1989; Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt a. M. 2000. 2 Vgl. zur seit den 1960er Jahren einsetzenden Schmitt-Renaissance allg. näher Reinhard Mehring, Vom Umgang mit Carl Schmitt. Die Forschungsdynamik der

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bleiben diese Texte in den aktuellen Diskussionen meist ausgeblendet.3 Zu Recht ist dementsprechend über eines der frühesten Bücher von Schmitt, seine Auseinandersetzung mit Theodor Däublers Gedichtzyklus „Nordlicht“, bemerkt worden, es handele sich dabei um ein Werk, „das von der orthodoxen Schmitt-Exegese im allgemeinen eher links liegengelassen wird. Ein Jugendwerk, eine Jugendsünde, die zugegebenermaßen schwer in die Systematik eines staatswissenschaftlichen Œuvres einzuordnen ist.“4

Teilweise wird die Leerstelle der Auseinandersetzung nicht nur gesehen, sondern explizit begründet. In diesem Sinn statuiert etwa eine sich selbst als dezidiert juristisch bestimmende Sicht die Irrelevanz jener Arbeiten zumindest aus Sicht der speziell rechtswissenschaftlichen Erkenntnisinteressen.5 Entsprechende Erläuterungen, die sich auf eine notwendige Beschränkung des Lektüreprogramms beziehen, sind aber nicht auf die juristischen Fragen begrenzt. Sie finden sich ganz entsprechend auch in anderen Untersuchungskontexten, etwa in der Perspektive einer politischen Philosophie, die ausdrücklich erklärt, um zum „Zentrum“ des Schmitt’schen Denkens vorzudringen, müsse sich die Interpretation auf letzten Epoche im Rezensionsspiegel, Baden-Baden 2018. Zu den speziellen Rechtfertigungsdiskursen exemplarisch Bernhard Schlink, Why Carl Schmitt?, Constellations 2 (1996), S. 429 ff.; ähnlich Martin Loughlin, Why read Carl Schmitt?, in: Christoph Bezemek/Michael Potacs/Alexander Somek (Hrsg.), Legal Positivism, Institutionalism and Globalisation, Oxford 2018, S. 49 ff. Zum Problem ausführlich auch Jean-François Kervégan, Was tun mit Carl Schmitt?, Tübingen 2019. 3 Vgl. als eine diese Regel bestätigende, leider äußerst knappe Ausnahme Christoph Schönberger, Carl Schmitts literarische Jurisprudenz, Merkur 70 (2016), S. 89 ff. 4 So Nicolaus Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, München/Wien 1991, S. 122. Sombart fährt fort: „Dabei handelt es sich um ein für die Interpretation des Carl Schmittschen Werkes besonders wichtiges Buch“ (ebd.). Vgl. entsprechend über die „Politische Romantik“ Juliane Rebentisch, Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Berlin 2012, S. 217: „Carl Schmitts Kritik der Romantik ist in der Forschung bis heute wenig beachtet worden. Zu Unrecht, wie ich meine.“ 5 Vgl. Volker Neumann, Carl Schmitt als Jurist, Tübingen 2015, S. 1, der zu Anfang seiner umfangreichen Untersuchung den eigenen Titel kommentierend feststellt: „Der Zusatz ,als Jurist‘ ist […] eine thematische Eingrenzung. Eine Reihe von Texten wie die Schriften über Däubler und Hamlet fallen ganz aus dem Thema heraus“. Kritisch gegenüber einer solchen Abgrenzung bereits Schönberger, Carl Schmitts literarische Jurisprudenz, S. 89.

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einzelne Hauptwerke konzentrieren und andere, von dieser Konzentration ablenkende „Nebenschriften“ eher beiseitelassen.6 Eine solche Position setzt die Kenntnis jener Nebenschriften ersichtlich voraus, erachtet sie jedoch als nicht weiterführend für die eigene Fragestellung. Teilweise bleibt die Auslassung der einschlägigen Texte zur Literatur, namentlich wiederum der Analysen zu Däubler, aber auch weitgehend unbemerkt oder unreflektiert, zumindest unkommentiert, und dies erstaunlicherweise sogar bei Arbeiten, die eigentlich vorhaben, sich ausdrücklich mit dem Schmitt’schen Sprachverständnis zu beschäftigen.7 Beide Varianten der unterlassenen Auseinandersetzung mit jenen Texten lassen sich zu einem allgemeineren Befund zusammenfassen: Schmitts Insistenz auf bestimmten sprachlichen Figuren, insbesondere seine berühmt-berüchtigte Vorliebe für etymologische Argumente, bildet augenscheinlich jenen Teil seines Werks, der bei seinen heutigen Lese-

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Vgl. Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, 2. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004, S. 265: „Wer zum Zentrum des Denkens und mithin des Selbstverständnisses eines solchen Autors vordringen will, muß den Weg der Auseinandersetzung mit den für ihn zentralen Zeugnissen, mit seinen grundlegendsten und am sorgfältigsten geschriebenen Büchern, wählen. Deswegen versuchte ich, die These der Politischen Theologie in Carl Schmitt, Leo Strauss und ,Der Begriff des Politischen‘ aus der Interpretation des Begriffs des Politischen in den drei Fassungen von 1927, 1932 und 1933, in Die Lehre Carl Schmitts aus der Interpretation der Politischen Theologie von 1922, des Leviathan-Buches von 1938 und der Politischen Theologie II von 1970 zu entwickeln und zu erhärten, nicht aber aus der isolierten oder auch nur bevorzugten Betrachtung des Früh- oder Spätwerks, nicht aus Nebenschriften oder Gelegenheitsäußerungen und nicht aus Briefen.“ Zu einem entsprechenden auf das „Zentrum“ von Schmitts Denken zielenden Ansatz ferner Hasso Hofmann, Legalität gegen Legitimität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, 2. Aufl., Berlin 1992, S. 10 f. 7 Vgl. etwa Jannis Lennartz, Juristische Granatsplitter. Sprache und Argument bei Carl Schmitt in Weimar, Tübingen 2018, der zwar stärker (auch) auf die Form statt lediglich auf den Inhalt der Schmitt’schen Texte achten möchte (vgl. S. 8 ff.), damit und dafür aber erstens diese Differenz als solche stabil hält und zweitens den einschlägigen literarischen Arbeiten, namentlich der Monographie über Däubler, praktisch keinerlei Beachtung schenkt, geschweige denn, dass er sie einer näheren Analyse unterzieht. Das Buch über Däubler wird im Text zwar zitiert (allerdings nur ein einziges Mal, vgl. S. 20), taucht charakteristischerweise aber im Literaturverzeichnis ebenso wenig auf wie der Name „Däubler“ im Register.

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rinnen und Lesern auf das geringste Interesse und Verständnis hoffen darf.8 Er wird vielmehr als bloße „Begriffsspielerei“ abgetan.9 Konträr zu diesen Positionen, die auf die eine oder andere Weise, implizit oder explizit, die Bedeutung der im weiteren Sinne literaturwissenschaftlichen und bisweilen sogar selbst literarischen Arbeiten Schmitts abstreiten, gehe ich davon aus, dass gerade das in diesen Texten erkennbare Sprachverständnis dazu beitragen kann, Schmitt neu und anders zu verstehen – und das heißt zunächst und vor allem: ihn neu und anders zu lesen. Denn in bewusster Abgrenzung zu jenen Sichtweisen hält Schmitt weder die scheinbar saubere Unterscheidung von Form und Inhalt noch die damit angeblich zusammenhängende eindeutige Differenz zwischen künstlerischem und wissenschaftlichem Sprachgebrauch aufrecht. Er beharrt vielmehr darauf, dass die in der literarischen Form nicht nur in besonderer Weise hervortretende, sondern auch eigens als solche thematisierte Eigenvalenz der Sprache – also Aspekte wie Stil, Rhythmus und sogar die offenbar ganz äußerlich bleibende Verknüpfung von Wörtern durch die Reimform, selbstverständlich auch Schmitts bereits erwähnte Neigung zu philologisch zumindest teilweise zweifelhaften Etymologien10 – auch für die Wissenschaft von Bedeutung und daher von ihr mit 8 Vgl. zu Schmitts Literaturlektüren aber etwa Linjing Jiang, Carl Schmitt als Literaturkritiker. Eine metakritische Untersuchung, Diss. Heidelberg 2013 (abrufbar unter: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/15770/1/Disserta tion.pdf); Gabriele Stumpp, Ex poesia salus? Carl Schmitt und die Literatur (abrufbar unter: http://www.desk.c.u-tokyo.ac.jp/download/es_4_Stumpp.pdf); Ingeborg Villinger, Carl Schmitts Kulturkritik der Moderne. Text, Kommentar und Analyse der „Schattenrisse“ des Johannes Negelinus, Berlin/New York 2014; und die bereits zitierte, eigenwillige Studie von Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, a.a.O., die eine Vielzahl von ausdrücklichen Auseinandersetzungen mit Schmitts literarischen und literaturwissenschaftlichen Werken und positive Anknüpfungen an die von Schmitt häufig betonte „Orakelhaftigkeit“ der deutschen Sprache enthält. Zur umgekehrten Bewegung – d. h. der Lektüre und Rezeption von Schmitts Werk durch bestimmte Dichter – Marcus Twellmann, Das Drama der Souveränität. Hugo von Hofmannsthal und Carl Schmitt, München 2004. 9 Vgl. so etwa Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Dritter Band: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914 – 1945, München 1999, S. 181. 10 Vgl. etwa Christian Meier, Zu Carl Schmitts Begriffsbildung – Das Politische und der Nomos, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 537 ff. (v. a. S. 553). Zu Schmitts – ausdrücklich nicht auf den Althistoriker Meier bezogenem, sondern diesen davon gerade ausnehmendem – Misstrauen gegenüber den „Fach-Philologen“ Carl Schmitt, Brief an

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zu beachten ist. Eine Lektüre, die diese Erläuterungen ernst nimmt, kann dieses Verständnis auf die Schmitt’schen Texte selbst übertragen und demgemäß versuchen, ihnen im Sinne eines close reading Aspekte zu entnehmen, die der an den großen Linien der inhaltlichen Hauptaussagen interessierten Analyse möglicherweise entgehen.11 Diesen Grundansatz buchstabieren die folgenden vier Texte etwas näher aus. Das erste Kapitel geht von der bereits genannten Tendenz einer Selbstrechtfertigung der Schmitt-Sekundärliteratur aus. Es versucht, von dieser Frage herkommend zu erläutern, warum an Schmitt nicht das am interessantesten sein könnte, was er selbst als seine Lehre propagierte, sondern das, was er durch diese Lehre abzuwehren versuchte, aber dabei zugleich, in dieser Abwehrbewegung, so scharf sah und in seinen Eigenarten herausarbeitete wie kaum ein anderer Zeitgenosse. Die einschlägigen Schmitt’schen Texte, an denen diese Bewegung gezeigt werden soll, sind vor allem Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum und die Politische Romantik. Das für das Gesamtanliegen zentrale zweite Kapitel widmet sich dann dem Sprachverständnis im engeren Sinn. Es versucht, anhand von Schmitts Auseinandersetzung mit Däubler darzulegen, wie sehr Schmitt Sprache als etwas anderes verstand denn ein bloßes Kommunikationsmittel, das dem Zweck dient, einen bestimmten Sachverhalt oder Gedanken möglichst klar und unmissverständlich auszudrücken, und aus diesem Grund selbst so wenig wie möglich in Erscheinung zu treten hat. Ein solches Verständnis von Sprache, die mehr ist als ein Mittel zum (kommunikativen) Zweck, erörtert Schmitt zunächst als Spezifikum eines künstlerisch-literarischen Sprachgebrauchs, um dann jedoch zunehmend genau diesen Aspekt auch für seine eigenen wissenschaftlichen Untersuchungen einzusetzen. Die entscheidenden Texte, die zur Erläuterung dieses speziellen Sprachverständnisses gelesen werden, sind zum einen die bereits mehrfach erwähnte, sehr frühe Arbeit über Theodor Däublers „Nordlicht“ und zum anderen, als Ergänzung hierzu, um nicht nur die fortdauernde Reinhart Koselleck vom 29. April 1970, in: Reinhart Koselleck/ders., Der Briefwechsel 1953 – 1983 und weitere Materialien. Hrsg. v. Jan Eike Dunkhase, Berlin 2019, S. 223 f. 11 Vgl. für zwei in dieser Hinsicht maßgebliche Vorbilder zum einen Friedrich Balke, Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München 1996, und zum anderen Thomas Schestag, Namen nehmen. Zur Theorie des Namens bei Carl Schmitt, Modern Language Notes 122 (2007), S. 544 ff.

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Bedeutung jener frühen Perspektive für Schmitts Denken anzuzeigen, sondern zugleich ihre inhaltliche Erweiterung zu demonstrieren, aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Schrift Ex Captivitate Salus, in der Schmitt noch einmal ausdrücklich auf Däubler zurückkommt. Das dritte und vierte Kapitel unternehmen es schließlich, das so skizzierte Sprachverständnis gewissermaßen in Aktion zu beobachten. Sie versuchen eine Lektüre, in der Schmitts Sprache selbst über ihren rein semantischen Gehalt hinausgehend zum Sprechen gebracht werden soll. Zentral in Bezug genommen werden dafür einerseits die beiden kleinen Arbeiten Römischer Katholizismus und politische Form und Hamlet oder Hekuba und andererseits die Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, der besonders problematische, aber eben deswegen in diesem Kontext auch besonders instruktive Text Staat, Bewegung, Volk und die Verfassungslehre. Ziel der Auseinandersetzung ist nicht nur eine Ergänzung der bereits bestehenden Schmitt-Sekundärliteratur. Es geht vielmehr geradezu um deren Zuspitzung zu einer Schmitt-Philologie. Diese Philologie, verstanden im strengen Sinn einer teilnehmenden Hinwendung zur Sprache diesseits des in ihr, von ihr und durch sie Ge- und Besprochenen,12 bildet allerdings keinen Selbstzweck. Sie ist ihrerseits zu lesen als Teil eines allgemeinen Versuchs, bekannte Problemstellungen, die traditionell „Philosophie des Rechts“ genannt wurden, um eine Perspektive zu ergänzen, die man entsprechend als „Philologie des Rechts“ bezeichnen könnte. Ein derartiges Verfahren erhebt den Anspruch, Recht als ineinander verschränkte Struktur der Sprache der Normativität und der Normativität der Sprache nicht nur zu beschreiben, sondern zugleich in Aktion zu zeigen.13 12 Vgl. zu dieser basalen Differenzierung Friedrich Nietzsche, Vorarbeiten zu Homer und die klassische Philologie, in: ders., Frühe Schriften, Bd. 5: Schriften der letzten Leipziger und ersten Basler Zeit 1868 – 1869. Die Vorlesungsniederschriften mit Zusätzen und Ergänzungen aus den Jahren 1874/1875 und 1878/1879, hrsg. von Carl Koch und Karl Schlechta, München 1994, S. 268 ff. (268): „Wer die Sprache an sich interessant findet, ist ein andrer als wer in ihr nur das Medium interessanter Gedanken erkennt.“ 13 Vgl. zu diesem Ansatz bereits Ino Augsberg, Recht als autopoetisches System (Gesetz und Gestell), in: Christian Hiebaum/Susanne Knaller/Doris Pichler (Hrsg.), Recht und Literatur im Zwischenraum. Aktuelle inter- und transdisziplinäre Zugänge, Bielefeld 2015, S. 135 ff.; sowie ders., Sätze Setzen Gesetz, in: Jens Kersten/Inka Mülder-Bach/Martin Zimmermann (Hrsg.), Prosa schreiben. Literatur – Geschichte – Recht, München 2019, S. 55 ff.

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Demgemäß geht es im Folgenden auch darum, mit Hilfe der Analysen Schmitts (wiederum verstanden im stereoskopisch zu handhabenden Doppelsinn des Genitivus obiectivus und subiectivus) klassische Fragen der Rechtstheorie auf ungewohnte, aber möglicherweise eben deswegen fruchtbare Weise neu in den Blick zu bekommen. In diesem Sinn verhandelt das erste Kapitel den allgemeinen Übergang von Substanz- zu Funktionsbegriffen in der modernen Gesellschaft, fragt nach den Konsequenzen dieses Übergangs für unser Rechts- und Normverständnis und bestimmt diese Konsequenzen als Emergenz einer textualitätsorientierten Konzeption von Recht und Gesellschaft. Kapitel 2 problematisiert ein traditionelles juristisches Selbstverständnis, das durch ein spezielles „Reinheitsbegehren“ bestimmt ist und sich unter anderem auch in einer spezifischen Begriffsgläubigkeit manifestiert. Das dritte Kapitel untersucht die Möglichkeit einer „Politischen Theologie“ in der Demokratie und erläutert sie im Sinne eines spezifischen rhetorischen Manövers, ehe abschließend Kapitel 4 nach der Stellung des Volkes im modernen Recht fragt und es unternimmt, diese Stellung aus der Perspektive einer Theorie des Namens zu rekonstruieren.

Von einem, der auszog, das Fürchten zu lehren I. Einleitung Carl Schmitt spielt in den gegenwärtigen rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen noch immer eine herausragende Rolle, und zwar sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Gerade seine Bedeutung in den ausländischen und internationalen Debatten ist in den letzten Jahren augenscheinlich sogar weiter gewachsen. Das gilt insbesondere für den angelsächsischen Bereich, in dem neue Übersetzungen nicht nur selbst bereits Ausdruck jenes neuerwachten Interesses sind, sondern ihrerseits weitere Diskussionen in Gang setzen.1 So heißt es etwa über Schmitts im Jahr 2003 auf Englisch erschienenes und kurz darauf auf mehreren Symposien debattiertes Werk Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum,2 es demonstriere eine „astonishing contemporaneity“3, denn sein Thema sei bereits „international law within a globalization process“4 gewesen.

1 Vgl. Jan-Werner Müller, A Dangerous Mind. Carl Schmitt in Post-War European Thought, New Haven 2003, S. 221 ff.; ferner die Beiträge in Matilda Arvidsson/Leila Brännström/Panu Minkinnen (Hrsg.), The Contemporary Relevance of Carl Schmitt. Law, Politics, Theology, Abingdon 2016; sowie die endgültige Aufnahme in den Kanon durch Jens Meierhenrich/Oliver Simons (Hrsg.), The Oxford Handbook of Carl Schmitt, New York 2016. Zur französischen SchmittRezeption instruktiv Jean-François Kervégan, Was tun mit Carl Schmitt?, Tübingen 2019, S. 72 ff. 2 Vgl. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 1988; engl. Übers. v. G. L. Ulmen: Carl Schmitt, The Nomos of the Earth in the International Law of the Jus Publicum Europaeum, New York 2003; dazu die Beiträge in den Special Issues des Leiden Journal of International Law 19 (2006) und des South Atlantic Quarterly 104 (2) (2005). 3 Fredric Jameson, Notes on the Nomos, South Atlantic Quarterly 104 (2005), S. 199 ff.

I. Einleitung

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Zugleich jedoch ruft die zu beobachtende Prominenz dieses „very present and very powerful ghost from Old Europe’s twentieth century past“5 ein naheliegendes Unbehagen hervor. Denn, so notiert Martti Koskenniemi, Schmitts „reprehensible association with the Nazis and his blatant antisemitism throw a well-founded shadow on his life as well as on some of his writings from that period“6. Das damit angesprochene Problem verstärkt sich in dem Maße, in dem man erkennt, dass jener Schatten nicht allein auf die Schriften aus der unmittelbaren Zeit des Nationalsozialismus fällt, sondern in nur geringfügig abgeschwächter Form auch noch die späteren, aus der Nachkriegszeit stammenden Texte betrifft. Vor allem Schmitts Antisemitismus besteht kaum verhohlen fort.7 Namentlich das grundlegende antinormativistische Konzept des Nomos besitzt einen unverkennbar antisemitischen Unterton. Die Lektüre von Schmitts Arbeiten könnte demnach allenfalls dazu dienen, vor solcher Art gespenstischer Unbelehrbarkeit das Fürchten zu lernen (II.). In einer entsprechenden bloßen Abschreckungsfunktion muss sich die Lektüre aber nicht erschöpfen. Vielmehr gilt, wiederum Koskenniemi zufolge, dass sogar jene ebenso unbestreitbaren wie unentschuldbaren Verfehlungen „fail to undermine the force of many of his insights about law and the political order“8. Demnach lohnt sich die Auseinandersetzung mit Schmitt nicht nur deswegen, weil man auf diese Weise eine ehedem wirkmächtige Figur mitsamt ihren kruden ideologischen Thesen zurückweisen kann. Offenbar ist aus Koskenniemis Sicht von Schmitt tatsächlich etwas zu lernen.

4 Brett Levinson, The Coming Nomos, or, The Decline of Other Orders in Schmitt, South Atlantic Quarterly 104 (2005), S. 205 ff. Vgl. für eine genaue Lektüre von Schmitts früheren, vor allem auch den während der Herrschaft des Nationalsozialismus veröffentlichten Texten zum Völkerrecht Anthony Carty, Carl Schmitt’s Critique of Liberal International Order Between 1933 and 1945, Leiden Journal of International Law 14 (2001), S. 25 ff. 5 William Rasch, Introduction: Carl Schmitt and the New World Order, South Atlantic Quarterly 104 (2005), S. 177 ff. (183). 6 Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870 – 1960, Cambridge 2001, S. 424. 7 Vgl. Raphael Gross, The „True Enemy“: Antisemitism in Carl Schmitt’s Life and Work, in: Meierhenrich/Simons (Hrsg.), The Oxford Handbook of Carl Schmitt, S. 96 ff. 8 Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, S. 424.

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Von einem, der auszog, das Fürchten zu lehren

Ich möchte im Folgenden zeigen, dass Koskenniemis Einschätzung in dem Maße überzeugend erscheinen kann, in dem man zugleich hervorhebt, dass die von ihm angesprochenen Schmitt’schen Einsichten einen ausgesprochen eigentümlichen, auf charakteristische Art zweideutigen Charakter besitzen. Die wertvollsten Erkenntnisse, die eine Lektüre Schmitts liefern kann, gehören nicht notwendigerweise zu dem, was man als die „Lehre Carl Schmitts“ bezeichnen könnte, das heißt zu dem sowohl expliziten wie, wichtiger noch, dem impliziten, gewissermaßen zwischen den Zeilen angesiedelten Inhalt seiner Schriften und der dann damit zu führenden Auseinandersetzung.9 Die von Schmitt zu lernende Lektion liegt eher in der Motivation, die seiner ausdrücklich als solche präsentierten Lehre ebenso wie deren klandestinen Teilen zugrunde liegt: seiner Furcht, oder genauer gesagt, in dem, wovor er sich fürchtete. Gemäß dem allgemeinen Gedanken, dass „für die Implikationen eines Begriffs […] oftmals gerade jene ein besonderes Sensorium [haben], die ihn aus dem praktischen und theoretischen Bewusstsein zu verbannen versuchen“10, geht es nicht um das für uns Furchterregende an und in Schmitts Texten. In Frage steht vielmehr das aus Schmitts eigener Sicht Furchterregende, das ihn zur Formulierung seiner Texte geführt hat. In Frage steht demnach der Versuch, Schmitts Werk im Sinne von Freuds Konzept der Negation zu lesen, das heißt als „eine Art, das Verdrängte zur Kenntnis zu nehmen, eigentlich schon eine Aufhebung der Verdrängung, aber freilich keine Annahme des Verdrängten.“11 Eine genaue Lektüre des Buchs über Politische Romantik12 kann zeigen, dass das primäre auf diese Weise verdrängte Objekt von Schmitts Furcht eine besondere Form der heterarchischen Verknüpfung ist: ein Netzwerkphänomen (III.). Von diesem Grundbefund 9 Vgl. für eine entsprechende Auseinandersetzung mit zentralen Grundsätzen des Schmitt’schen Denkens, insbesondere in der Entgegensetzung von politischer Theologie und politischer Philosophie, etwa Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, 2. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004; ähnlich Anna Schmidt, The Problem of Carl Schmitt’s Political Theology, Interpretation 36 (2009), S. 219 ff. Zu der wichtigen Differenzierung zwischen dem exo- und dem esoterischen Gehalt von Schmitts Schriften ferner Kervégan, Was tun mit Carl Schmitt?, S. 15 ff. 10 Juliane Rebentisch, Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Berlin 2012, S. 30. 11 Sigmund Freud, Die Verneinung, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. XIV: Werke aus den Jahren 1925 – 1931, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1972, S. 9 ff. (12). 12 Carl Schmitt, Politische Romantik, München/Leipzig, 2. Aufl. 1925.

II. Nomos und Norm

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ausgehend lässt sich dann die Perspektive erweitern. Eine nähere Auseinandersetzung mit dem zunächst nur knapp umrissenen Phänomen kann zunächst dazu dienen, die moderne Weltgesellschaft als eine charakteristische Form einer derartigen Vernetzung zu skizzieren (IV.). Stellt man in Rechnung, dass die aktuelle Situation nicht allein durch die sich neu etablierenden heterarchischen Konnektivitäten bestimmt ist, sondern sich in ihr parallel zu diesen neuen Strukturen auch weiterhin noch fortbestehende wichtige Reste der früheren hierarchischen Ordnung finden, wird allerdings zugleich deutlich, dass das Gesamtgeschehen mit einem eng verstandenen Netzwerkmodell nicht adäquat erfasst ist. Benötigt wird vielmehr eine Erweiterung des Netzwerkmodells, die sich an dem Bild des Rhizoms im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari orientiert (V.). Ein abschließender Schritt kann dann, vor dem Hintergrund des zunächst skizzierten primären negativen Ansatzes, eine weitere mögliche, nunmehr stärker positiv akzentuierte Lesart von Schmitts Texten vorschlagen, die in und mit diesen Texten nun die unterschiedlichen Eigenrationalitäten des politischen und rechtlichen Bereichs hervorhebt (VI.).

II. Nomos und Norm Es gibt eine lange Tradition von Rechtsvorstellungen, die eine bestimmte Vorliebe für das gesprochene Wort mit einem massiven Misstrauen gegenüber dem positiven Recht verbinden. Dieses Misstrauen weist häufig einen antisemitischen Subtext auf,13 und zwar bereits seit der paulinischen Lehre vom „Ende des Gesetzes“, in der das Gesetz als Chiffre für die jüdische Tora steht und als solches der christlichen „Gnade“ kontrastiert wird.14 Carl Schmitt, nicht nur der „meistdiskutierte deutsche Jurist des 20. Jahrhunderts“15, sondern, Hannah Arendt zufolge, „zweifellos der 13 Vgl. Sarah Kofman, Die Verachtung der Juden. Nietzsche, die Juden, der Antisemitismus, Berlin 2002, S. 27 ff. 14 Vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 39; dazu näher Raphael Gross, „Jewish Law and Christian Grace“ – Carl Schmitt’s Critique of Hans Kelsen, in: Dan Diner/ Michael Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen and Carl Schmitt. A Juxtaposition, Gerlingen 1999, S. 101 ff. 15 So Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt a. M. 2000, S. 7. Vgl. mit Bezug auf Schmitts Einfluss auf die Rechts-

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bedeutendste Mann in Deutschland auf dem Gebiet des Verfassungs- und Völkerrechts“16 seiner Zeit, ist ein typischer Vertreter dieser Tradition. Eine Notiz in seinem posthum publizierten Werk Glossarium, geschrieben im Jahr 1948, hält Folgendes fest: „Meine Ablehnung des Positivismus kam mit dem Alter. Wäre es in der Jugend sinnvoller gewesen? Vergleiche damit die Ablehnung der ,Positivität‘ durch den jungen Hegel. Positivität = Gesetzlichkeit = Judentum = Despotie = Krampf des Sollens und der Norm.“17

Dementsprechend beschreibt Schmitt sein eigenes Grundmodell von Normativität, den „Nomos“, als eine bewusst antipositivistische Figur, und setzt ihn dergestalt einem „normativistischen“ Rechtsverständnis gegenüber, das als Degenerationsphänomen präsentiert wird. Schmitt möchte dem Wort nomos „seine erste Kraft und Größe“ zurückgeben, als Gegenbewegung zu jenem Prozess, in dem der Begriff, Schmitt zufolge, im Verlauf der Zeit „seinen ursprünglichen Sinn verloren hat und schließlich zu einer substanzlosen, allgemeinen Bezeichnung jeder irgendwie gesetzten oder erlassenen, normativistischen Regelung und Anordnung herabgesunken ist.“18 Der Nomos wird – in philologisch zweifelhafter Weise19 – wissenschaft näher Reinhard Mehring, Carl Schmitt und die Verfassungslehre unserer Tage, AöR 120 (1995), S. 177 ff. 16 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München/ Berlin 1986, S. 724, Fn. 55. Charakteristisch für Arendts ambivalente Sicht auf Schmitt ist die Einbettung dieser Einordnung; der vollständige Kontext des Zitats sollte daher mitgelesen werden: „Eine ernsthafte Untersuchung der relativ kleinen Zahl wirklicher Künstler und Gelehrter, die sich in Nazideutschland nicht nur gleichgeschaltet hatten, sondern überzeugte Nazis waren, existiert vorläufig nicht. Zur Illustration sei an die Karriere Carl Schmitts erinnert, der zweifellos der bedeutendste Mann in Deutschland auf dem Gebiet des Verfassungs- und Völkerrechts war und sich allergrößte Mühe gegeben hat, es den Nazis recht zu machen. Es ist ihm nie gelungen; die Nazis haben ihn schleunigst durch zweit- und drittrangige Begabungen wie Theodor Maunz, Werner Best, Hans Frank, Gottfried Neese und Reinhold Hoehn ersetzt und an die Wand gespielt.“ Vgl. zu Arendts Schmitt-Kritik näher Andreas Kalyvas, Democracy and the Politics of the Extraordinary. Max Weber, Carl Schmitt, and Hannah Arendt, Cambridge 2008, S. 194 ff. 17 Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947 – 1951, hrsg. v. Eberhard Freiherr von Medem, Berlin 1991, S. 209. 18 Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 36. 19 Vgl. Christian Meier, Zu Carl Schmitts Begriffsbildung – Das Politische und der Nomos, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 537 ff. (553).

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verstanden als die „Ur-Teilung und Ur-Verteilung“20 des Landes, auf dem ein bestimmtes Volk sesshaft wird. Er bezeichnet demnach einen „raumeinteilenden Grundvorgang“21. In diesem „ursprünglichen raumhaften Sinn“ meint nomos „die volle Unmittelbarkeit einer nicht durch Gesetze vermittelten Rechtskraft; er ist ein konstituierendes geschichtliches Ereignis, ein Akt der Legitimität, der die Legalität des bloßen Gesetzes überhaupt erst sinnvoll macht.“22

Schmitt versteht das Recht qua Nomos somit als „an expression of the fundamental – and irreducibly political – choice on which lay the unity of the human community“23. Dementsprechend hatte er in seiner Verfassungslehre aus dem Jahr 1928 zwischen dem „Verfassungsgesetz“ und der „Verfassung“ selbst unterschieden und diese als die ungeschriebene fundamentale politische Entscheidung bezeichnet, die dann durch das geschriebene Verfassungsgesetz umgesetzt und ergänzt wird.24 Das Konzept des nomos beschreibt diese fundamentale Entscheidung nun genauer.25 Die grundlegende juristische Operation ist danach als ein raumhafter, raumgreifender Vorgang zu verstehen: „Der Nomos ist […] die unmittelbare Gestalt, in der die politische und soziale Ordnung eines Volkes raumhaft sichtbar wird.“26 Die behaupteten Schwierigkeiten der Übersetzung, die Schmitt dazu führen, das griechische Wort beizubehalten, sind daher nicht allein die Folge einer „gesetzespositivistischen Verwirrung“27, die durch das „Unglückswort“ Gesetz hervorgerufen wird.28 Sie beruhen zudem auf dem Umstand, dass der eigentlich angemessene Begriff bereits vergriffen, nämlich in einem ganz anderen theoretischen Kontext mit einer ganz 20

Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 36. Vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 47. 22 Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 42. 23 Martti Koskenniemi, International Law as Political Theology: How to Read Nomos der Erde?, Constellations 11 (2004), S. 492 ff. (496). 24 Vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin, 6. Aufl. 1983, S. 21 f. 25 Vgl. dazu näher auch Jonas Heller, Mensch und Maßnahme. Zur Dialektik von Ausnahmezustand und Menschenrechten, Weilerswist 2018, S. 116 ff., v. a. S. 167 f. 26 Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 39. 27 Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 38. 28 Vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 41. 21

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anderen, genau entgegengesetzten Intention in Gebrauch war. Im Gegensatz zu seiner metaphorischen Form, die zunächst ein ähnliches Verständnis nahelegen könnte, bildet Kelsens Grundnorm die radikale Antithese zu Schmitts nomos. Kelsen statuiert nämlich ganz offen den gerade nicht substanzhaften, sondern im Gegenteil rein fiktionalen, sogar ausdrücklich selbstwidersprüchlichen Charakter dieses Konzepts.29 Wegen dieses fiktionalen und damit zugleich paradoxalen Charakters kann die Grundnorm kein absolutes Phänomen bezeichnen, sondern verweist auf ein Geschehnis, das immer schon in sich vermittelt und gespalten erscheint. Die Notwendigkeit, mit der es sich innerhalb des Kelsen’schen Theoriegebäudes zur Geltung bringt, weil ohne seine Annahme objektive Geltung nicht zu denken sei, kann nicht verdecken, dass in dieser Konstruktion der Nomos zum Nomaden geworden ist, der nicht länger entsprechend der Gleichung Ordnung = Ortung territorial festzustellen ist, sondern jede nationalstaatliche Grenze hinter oder unter sich lässt.30 Konsequenterweise bezeichnet die Grundnorm in Kelsens Modell ein Prinzip nicht lediglich des staatlichen, sondern ebenso des internationalen Rechts.31 Von hier aus wird nachvollziehbar, weshalb Schmitt Kelsens „Reine Rechtslehre“ mit gutem Grund wegen ihrer Bodenlosigkeit anklagen 29

Vgl. Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, Wien 1979, S. 206 f.: „Die Grundnorm einer positiven Moral- oder Rechtsordnung ist […] keine positive, sondern eine bloß gedachte, und das heißt eine fingierte Norm, der Sinn nicht eines realen, sondern eines bloß fingierten Willensaktes. Als solche ist sie eine echte oder ,eigentliche‘ Fiktion im Sinne der Vaihingerschen Philosophie des Als-Ob, die dadurch gekennzeichnet ist, daß sie nicht nur der Wirklichkeit widerspricht, sondern auch in sich selbst widerspruchsvoll ist. Denn die Annahme einer Grundnorm […] ist auch in sich selbst widerspruchsvoll, da sie die Ermächtigung einer höchsten Moral- oder Rechtsautorität darstellt, und damit von einer noch über dieser Autorität stehenden – allerdings nur fingierten – Autorität ausgeht.“ 30 Vgl. zum – etymologisch begründeten – Zusammenhang von Nomos und Nomadischem Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München, 2. Aufl. 1997, S. 60, Anm. 7. Zu einem daran anschließenden Konzept einer „nomadischen Wissenschaft“, die als solche gerade in einen Gegensatz zu einem „legalistischen Modell“ gesetzt wird, ferner ders./Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 508: „Es geht hier nicht mehr darum, Konstanten aus Variablen abzuleiten, sondern darum, die Variablen selber in einen Zustand kontinuierlicher Variation zu versetzen.“ 31 Vgl. Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer Reinen Rechtslehre, Tübingen 1928 (Nachdruck Aalen 1981), S. 314.

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konnte. In der Tat ist die Grundnorm ein Grund ohne Grund. Schmitt bleibt bei der sachlichen Erörterung aber nicht stehen, sondern verknüpft sie unmittelbar mit einem klassischen antisemitischen Stereotyp.32 Er erklärt den „Normativismus“ nicht nur als eine der möglichen „drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens“. Er weist diese Denkart vielmehr zugleich einem bestimmten, zwar nicht ausdrücklich benannten, aber leicht erkennbaren Volk zu. „Es gibt Völker“, so Schmitt, „die ohne Boden, ohne Staat, ohne Kirche, nur im ,Gesetz‘ existieren; ihnen erscheint das normativistische Denken als das allein vernünftige Rechtsdenken und jede andere Denkart unbegreiflich, mystisch, phantastisch oder lächerlich.“33

Diese Vernünftigkeit bildet allerdings offenkundig kein universales, für alle Menschen gleich-gültiges Phänomen. Für andere Völker können sich die Dinge anders darstellen. Ihnen gegenüber muss der für alles Recht konstitutive Grund-Akt etwas anderes bezeichnen als lediglich eine weitere Norm: „Where a people (such as the Jewish) without land or State might well identify itself by reference to a formal law, the German substance – as indeed the substance of Europe itself – was based on principles of identification the most important among which was the original act of land-taking (Landnahme).“34

Die Bezugnahme auf ein gemeinsames Stück Land, dessen Besetzung und Verteilung, bezeichnet für Schmitt jedoch nur einen ersten Schritt, um die notwendigen Bedingungen für den deutschen Staat und sein rechtliches wie politisches System zu garantieren. Der Widerstand gegenüber dem normativistischen Denktypus, der sich ausschließlich dem positiven Gesetz verpflichtet weiß, korrespondiert in dieser Perspektive mit der weitergehenden Bemühung, den liberalen Rechtsegalitarismus mit einer anders gearteten Homogenitätsvorstellung zu kontrastieren.35 Schmitt beobachtet mit Sorge, dass eine Vielzahl von Stimmen ein und dasselbe Wort auf ganz verschiedene Weisen ausspricht, und merkt dazu an, diese 32

Vgl. Gross, Carl Schmitt und die Juden, S. 225. Vgl. zu diesem Stereotyp ferner Nicolas Berg, Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, Göttingen 2008. 33 Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Berlin, 2. Aufl. 1993, S. 9. 34 Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, S. 415. 35 Vgl. Werner Hill, Gleichheit und Artgleichheit, Berlin 1966, S. 182.

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phonetische Differenz könne einen fatalen Effekt auf die Möglichkeit der juristischen Interpretation haben, weil mit der unterschiedlichen Aussprache auch die im Sprechen angesprochene Sache verändert werde.36 Seine eigene Anstrengung richtet sich daher auf den Versuch, die befürchtete Kakophonie zu verhindern und dadurch die Kontinuität und Konsistenz des Rechtssystems zu bewahren, das heißt „an der rechtlich gesicherten Stellung des deutschen Beamten, wie insbesondere an der Unabhängigkeit der Richter“37, festzuhalten. Schmitt sucht ein Rechtssystem, das zwar immer noch verlässliche, vorhersehbare Entscheidungen ermöglichen soll – also die juristische Form noch nicht vollends zugunsten des Machtspruchs des Herrschers preisgibt –, aber dafür nicht länger auf das klassisch liberale Vertrauen in den toten Buchstaben des Gesetzes zurückgreifen kann. Seine Lösung dieses Problems, mit der er die für sein eigenes Engagement für den Nationalsozialismus programmatische kleine Schrift „Staat, Bewegung, Volk“ beschließt, heißt Artgleichheit: „Wir suchen eine Bindung, die zuverlässiger, lebendiger und tiefer ist als die trügerische Bindung an die verdrehbaren Buchstaben von tausend Gesetzesparagraphen. Wo anders könnte sie liegen als in uns selbst und unserer eigenen Art? Auch hier, angesichts des untrennbaren Zusammenhangs von Gesetzesbindung, Beamtentum und richterlicher Unabhängigkeit, münden alle Fragen und Antworten in dem Erfordernis einer Artgleichheit, ohne die ein totaler Führerstaat nicht einen Tag bestehen kann.“38

Konsequenterweise geht für Schmitt die größte Bedrohung für das Recht nicht von dem Normativismus als solchem aus, sondern vor allem von einem bestimmten Prozess der Degeneration, der Entartung, der aus seiner Sicht nicht auf den Positivismus begrenzt ist, sondern sich in ähnlicher Weise auch innerhalb der beiden anderen juristischen Denk36 Vgl. Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hamburg 1933, S. 45: „Wir wissen, daß dieselbe Vokabel im Munde verschiedener Völker nicht nur anders klingt, sondern auch im Sinne und in der Sache etwas anderes bedeutet“. 37 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, S. 45 f. 38 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, S. 46. Vgl. zu Schmitts Konzept der „Artgleichheit“ auch Peter Schneider, Ausnahmezustand und Norm. Eine Studie zur Rechtslehre von Carl Schmitt, Stuttgart 1957, S. 211; ferner Felix Hanschmann, Der Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft. Zur These von der Notwendigkeit homogener Kollektive unter besonderer Berücksichtigung der Homogenitätskriterien „Geschichte“ und „Sprache“, Berlin/ Heidelberg/New York 2008, S. 12.

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weisen, dem Dezisionismus und dem konkreten Ordnungsdenken, vollziehen kann. Schmitt betrachtet die „drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens“ jeweils „sowohl in deren gesunder wie in ihren entarteten Erscheinungsformen“39. Kaum zu verkennen ist ein bestimmter, zumindest latent bedrohlicher Unterton, der in den in dieser Beschreibung verwendeten ätiologischen Kategorien mitklingt. Sie erinnern insofern nicht nur an eine bereits zehn Jahre zuvor gegebene Erläuterung über die notwendigen Elemente für eine funktionierende Demokratie, sondern lassen diese in einem neuen, noch düstereren Licht erscheinen: „Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, daß nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.“40

Dass Heterogenität keinen Gegen-, sondern einen Grundbegriff von Demokratie darstellen, weil diese eher auf Dissens denn auf Konsens beruhen könnte, kommt Schmitt ersichtlich nicht in den Sinn.41 In einer solchen ihm offenkundig unverständlich bleibenden Sicht ist Demokratie ein auf Nicht-Identität basierendes Konzept, dem zufolge die demokratischen Prozeduren Mechanismen etablieren, durch die politische Herrschaft nicht nur begründet, sondern zugleich ständig gebrochen und neu verteilt42 und der Status des Subjekts dieser Herrschaft immer wieder neu vergeben wird.43 Im diametralen Gegensatz zu einer derartigen Auffassung bildet für Schmitt die Demokratie ein Konzept, das notwendigerweise auf Identität beruht. Die grundlegende Voraussetzung für die Existenz eines 39 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin, 7. Aufl. 1996, Vorbemerkung zur zweiten Ausgabe 1934, S. 8. 40 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin, 8. Aufl. 1996, S. 13 f. 41 Vgl. William Rasch, Sovereignty and its Discontents. On the Primacy of Conflict and the Structure of the Political, London 2004, S. 30; Ino Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts. Texttheoretische Lektionen für eine postmoderne juristische Methodologie, Weilerswist 2009, S. 113. 42 Vgl. Niklas Luhmann, Political Theory in the Welfare State, Berlin/New York 1990, S. 231 ff. 43 Vgl. Jacques Rancière, Disagreement. Politics and Philosophy, Minneapolis/ London 1999.

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rechtlichen und politischen Systems liegt danach in dem Ausschluss des Fremden. Dieser muss ausgeschlossen werden, um die gesellschaftliche Homogenität zu gewährleisten, die ihrerseits die Gleichheit der Staatsbürger und schließlich die Identität zwischen einem Volk und seiner es repräsentierenden Regierung ermöglichen soll. Indem Schmitt zu diesem Zweck das Konzept der „Artgleichheit“ in die politische Theorie einführt, verkennt er jedoch offenbar die Tatsache, dass diese intendierte Homogenität selbst keine substanzielle Gegebenheit ist, sondern nur das Produkt eines bestimmten dialektischen Prozesses sein kann, der niemals an ein Ende gelangt. Die Logik des Ausschlusses beinhaltet notwendigerweise, dass die ausgeschlossene Person zuvor Teil der sie ausschließenden Gemeinschaft war.44 Umgekehrt schafft erst die Konstruktion einer als feindlich bestimmten äußeren Sphäre auf der Innenseite des Systems eine Atmosphäre der Zusammengehörigkeit. In beiden Konstellationen ist die Homogenität etwas in sozialen Kommunikationsprozessen Hergestelltes, nicht einfach „natürlich“ Gegebenes. Deswegen muss sie immer fragil bleiben, und mit ihr dann auch die auf ihr fußende, scheinbar so absolute Unterscheidung von Freund und Feind.45 Erstaunlicherweise wird diese für die nationale Ebene kaum anerkannte Logik in Schmitts Schriften zum internationalen Recht mit größter Klarheit gesehen und erläutert.46 Diese Texte erläutern, dass „any relative and flexible pacification of Europe is achieved at the expense of the non-European world, against which holy wars – that is, total wars – are directed as a form of release or discharge (Schmitt speaks of Entlastung, ,unburdening‘) of unwanted violence. Europe imports relative peace and prosperity, as it were, by exporting violence.“47

Bei genauerem Hinsehen lassen sich allerdings auch in Schmitts Texten zu der nationalstaatlichen Rechtsordnung Figuren entdecken, die jener angeblich so eindeutigen Unterscheidung von Freund und Feind zuwi-

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Vgl. Jacques Derrida, Platons Pharmazie, in: ders., Dissemination, Wien 1995, S. 69 ff. (146 ff.). Zum Problem auch René Girard, Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks, Frankfurt a. M. 1992. 45 Vgl. Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 163 f. 46 Vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 64 ff. 47 Rasch, Introduction: Carl Schmitt and the New World Order, S. 180 f.

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derlaufen. Vor allem in seinem Buch über die „Politische Theologie“ aus dem Jahr 1922 präsentiert Schmitt „a quite different, even contradictory logic of the political. There, the structural function of the exception – the sovereign Godlike ability to declare a state of emergency and act outside of law – implies that the border between the law and lawlessness is permeable and, by extension, that the relationship of interiority (friends) and exteriority (enemies) is unstable.“48

Die Konsequenzen der einschlägigen Praxis sind dann allerdings wiederum auf beiden Ebenen, sowohl der des nationalen wie der des internationalen Rechts, dieselben: Recht als nomos bezeichnet ein Recht für Gleiche innerhalb eines Systems. Die als „ungleich“ oder „fremdartig“ bestimmten Außenseiter werden daher nicht nur von bestimmten Privilegien innerhalb des Systems, sondern von der Teilnahme an diesem System überhaupt ausgeschlossen. Ihnen bleibt das von Arendt hervorgehobene fundamentale „Recht, Rechte zu haben“49, verwehrt. Vor diesem Hintergrund dürfte es nicht allzu erstaunen, dass die im „Nomos der Erde“ (einem von Schmitt zwar erst nach dem zweiten Weltkrieg publizierten, aber zum größten Teil bereits früher verfassten Werk) gegebene spezifische Definition des nomos als einer territorialen Operation, die die Sicherstellung eines gemeinsamen Bodens für ein Volk zum Gegenstand hat, einen bemerkenswerten Vorläufer besitzt. Auf dem Deutschen Juristentag 1933 hatte Schmitt bereits eine andere, aber eben doch nicht vollständig andere, sondern verwandte Bestimmung des nomos geliefert: „Dem Willen eines Führers zu folgen ist, wie uns Heraklit gesagt hat, ebenfalls ein nomos. […] Wenn wir aber immer wieder von Führertum und vom Führerbegriff sprechen, so wollen wir nicht vergessen, daß zu diesem Kampf echte Führer gehören, und daß unser Kampf hoffnungslos wäre, wenn sie uns fehlten. […] Wir haben sie und darum schließe ich mein Referat, indem ich zwei Namen 48 Kenneth Reinhard, Toward a Political Theology of the Neighbor, in: Slavoj Zˇizˇek/Eric L. Santner/ders., The Neighbor. Three Inquiries in Political Theology, Chicago/London 2005, S. 11 ff. (11). 49 Vgl. Hannah Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht (1949), in: Francesca Raimondi/Christoph Menke (Hrsg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Frankfurt a. M. 2011, S. 394 ff.; dies., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 601 ff. Zu Arendts Konzept näher auch Seyla Benhabib, The Rights of Others. Aliens, Residents, and Citizens, Cambridge 2004, S. 49 ff.

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Von einem, der auszog, das Fürchten zu lehren nenne: Adolf Hitler, den Führer des deutschen Volkes, dessen Wille heute der nomos des deutschen Volkes ist, und Hans Frank, den Führer unserer deutschen Rechtsfront, den Vorkämpfer für unser gutes deutsches Recht, das Vorbild eines nationalsozialistischen deutschen Juristen. Heil!“50

III. Recht als textuales Netzwerk Warum sollte man, vor dem Hintergrund derartiger Äußerungen, weiterhin seine Zeit darauf verwenden, Schmitts Texte zu lesen? Muss man nicht vielmehr die sowohl offen wie verdeckt antisemitischen Motive in diesen Texten und ihre Indienststellung für die „Bewegung“ des Nationalsozialismus als eine hinreichende Begründung dafür nehmen, dass eine moderne Rechtstheorie von solchen Texten nichts zu lernen hat? Läge es aus der Sicht eines modernen, demokratisch und rechtsstaatlich organisierten Gemeinwesens nicht sehr viel näher, sich mit Autoren zu beschäftigen, die diese Form des Rechts(staats) nicht verachtet, sondern schon zu Weimarer Zeiten, wenn auch vergeblich, unterstützt haben? Die Frage lautet also, kurz zusammengefasst: „Why Carl Schmitt?“51 Auf diese Frage kann man im Anschluss an Jacques Derrida und Friedrich Balke eine Antwort formulieren, die den Wert der SchmittLektüre in einer eigenartig vermittelten, gebrochenen Perspektive bestimmt. Der Wert liegt danach darin, dass sich anhand des Schmitt’schen Werks zeigen lässt, in welcher Weise und in welchem Ausmaß die Arbeit eines Wissenschaftlers, „das Werk dieses ,Staatsrechtslehrers‘ auf ein Problem antwortet, das den Horizont der Lösung, die er empfiehlt, über-

50 Carl Schmitt, Der Neubau des Staats- und Verwaltungsrechts, in: Deutscher Juristentag 1933, 4. Reichstagung des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen e.V., Ansprachen und Fachvorträge, hrsg. v. R. Schraut (1934), S. 242 ff. (251). Vgl. dazu näher Gross, Carl Schmitt und die Juden, S. 70. 51 Vgl. Bernhard Schlink, Why Carl Schmitt?, Constellations 2 (1996), S. 429 ff.; ähnlich William E. Scheuerman, Carl Schmitt: The End of Law, Lanham, MD, 1999, S. 1; John P. Mc Cormick, Carl Schmitt’s Critique of Liberalism. Against Politics as Technology, Cambridge 1999, S. 11; Müller, A Dangerous Mind, S. 2; Martin Loughlin, Why read Carl Schmitt?, in: Christoph Bezemek/Michael Potacs/ Alexander Somek (Hrsg.), Legal Positivism, Institutionalism and Globalisation, Oxford 2018, S. 49 ff.

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schreitet“.52 Das eigentlich interessante Phänomen liegt in dieser Sichtweise nicht darin, was Schmitt selbst als den Hauptinhalt seines Werkes vermitteln wollte, sondern in dem, was er, als Kehrseite des nach außen präsentierten heroischen Entscheidungs- und Ordnungsdenkens, am meisten fürchtete und in dieser „Angst“, in dem „Mut seiner Angst“53, höchst genau wahrnahm, in einer Art apotropäischem Gestus verarbeitete und eben dadurch, durch seine Abwehr, auf eine wenigstens indirekte Weise sichtbar macht. Schmitts Denken, so die präzise Analyse Derridas, erwächst aus dieser Angst „eine sondierende Kraft, in der sie eine Vielzahl von unschätzbaren Ausblicken in jene furchteinflößende Welt eröffnet haben, die sich seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts ankündigte. Als hätte die Angst, kommen zu sehen, was tatsächlich kommt, den Blick eines umzingelten Wachpostens geschärft. […] Die Hellsicht und die Angst haben diesen von Schrecken erfüllten und schlaflosen Wächter nicht allein die Stürme und Erschütterungen antizipieren lassen, die sich anschickten, das historische Feld, den politischen Raum, die Grenzen der Begriffe und der Länder, die Axiomatik des europäischen Rechts, die Bande zwischen dem Tellurischen und dem Politischen, der Technik und der Politik, den Medien und der parlamentarischen Demokratie etc. in Bewegung zu versetzen. Vielmehr hat dieser ,Wächter‘ auch ein größeres Gespür als viele andere für die Zerbrechlichkeit, die ,dekonstruierbare‘ Ungesichertheit der Strukturen, der Grenzen und der Axiome besessen, die er um jeden Preis schützen, restaurieren oder ,bewahren‘ wollte.“54

In der Politischen Romantik wird dieser wie von einem Seismographen aufgespürte und aufgezeichnete Gegenstand der eigenen Furcht das „Occasionelle“ genannt.55 Schmitt führt den Begriff ein, um die Grundbewegung der Romantik zu beschreiben. Die Romantik lässt danach das Occasionelle hervortreten, und zwar in einer speziellen, gegenüber der mittelalterlichen Urform entscheidend variierten Gestalt. Indem sie eine Rolle, die ehedem Gott zugeschrieben war, nun neu durch das Individuum besetzt, subjektiviert die Romantik den traditionellen Occasionalismus 52 Friedrich Balke, Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München 1996, S. 7, vgl. auch a.a.O., S. 15. 53 Derrida, Politik der Freundschaft, S. 124. 54 Ebd. 55 Vgl. Schmitt, Politische Romantik, S. 22. Kritisch dazu bereits Karl Löwith, Der okkasionelle Dezisionismus von C. Schmitt, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 8: Heidegger – Denker in dürftiger Zeit. Zur Stellung der Philosophie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 32 ff.

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und bereitet damit die Bühne für die Vorstellung, dass nun alles „zum Anlaß für alles werden [kann] und […] alles Kommende, alle Folge in einer abenteuerlichen Weise unberechenbar [wird]“56. Was auf diese Weise entsteht, ist „eine immer neue, aber immer nur occasionelle Welt, eine Welt ohne Substanz und ohne funktionelle Bindung, ohne feste Führung, ohne Konklusion und ohne Definition, ohne Entscheidung, ohne letztes Gericht, unendlich weitergehend, geführt nur von der magischen Hand des Zufalls, the magic hand of chance.“57

Diese Bedeutung des Occasionellen lässt sich aus Schmitts Sicht dadurch noch weiter verdeutlichen, dass man das Occasionelle mit seinem Gegensatz konfrontiert: Das Occasionelle „verneint den Begriff der causa, das heißt, den Zwang einer berechenbaren Ursächlichkeit, dann aber auch jede Bindung an eine Norm. Es ist ein auflösender Begriff“58. Es benennt demnach nicht nur ein chaotisches, sondern ein chaotisierendes Geschehen.59 Welches Phänomen beschreibt Schmitt demnach hier? Was für eine Art Geschehen steht ihm vor Augen? Schmitt beschreibt den Occasionalismus als eine Welt, die nicht länger durch ein solides gemeinsames Fundament begründet ist. Die romantisch verstandene Welt weist keinen Verbindlichkeit stiftenden letzten Grund mehr auf, auf den sich alle sozialen Handlungen beziehen müssen und durch den sie sich legitimieren können. In Schmitts Sicht sind stattdessen die neue Welt der Romantik und die für sie typischen Handlungen im strikten Wortsinn an-archisch, lediglich durch kontingente heterarchische Verknüpfungen bestimmt. Die Ro56 Schmitt, Politische Romantik, S. 24. Vgl. auch a.a.O., S. 23: „Romantik ist subjektivierter Occasionalismus, d. h. im Romantischen behandelt das romantische Subjekt die Welt als Anlaß und Gelegenheit seiner romantischen Produktivität.“ 57 Schmitt, Politische Romantik, S. 25. 58 Schmitt, Politische Romantik, S. 22. 59 Vgl. zu Schmitts „Angst vor dem Chaos“ näher Nicolaus Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, München/Wien 1991, S. 98 ff., der das Chaos jedoch zugleich (nur) als Chiffre für eine unterdrückte, aber ununterdrückbare Sexualität liest, also Chaos und Ordnung mit dem Gegensatz Matriarchat/Patriarchat bzw. allgemein Frau/Mann gleichsetzt. Zu einer weiteren Analyse von Schmitts Furcht Jens Meierhenrich, Fearing the Disorder of Things. The Development of Carl Schmitt’s Institutional Theory, 1919 – 1942, in: ders./Simons (Hg.): The Oxford Handbook of Carl Schmitt, S. 171 ff.

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mantik behauptet, dass alle Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Systems auch innerhalb dieses Systems geschaffen werden, ohne einen von außen kommenden Zwang. Aus einer modernen Perspektive lässt sich das hier beschriebene Geschehen als eine erste Emergenz eines netzwerkartig in- und miteinander verflochtenen, vollständig auf Selbstbezüglichkeit umgestellten Kommunikationszusammenhangs lesen, das heißt als ein „kommunikatives Netz, das seine eigene Unabschließbarkeit und die Konsequenzen dieser Unabschließbarkeit zusehends erfährt: Possibilisierung der Kommunikation, Depräzisierung des kommunizierten Sinns, Favorisierung von Anschließbarkeit auf Kosten von Form.“60

Das Romantische stellt die „Möglichkeit als die höhere Kategorie“61 hin. Was Schmitt daran fürchtet, ist nicht nur ein sozialer Prozess der Desintegration, im Sinne einer „individualistisch aufgelösten Gesellschaft“62, sondern ein Wandel der erkenntnistheoretischen Grundkategorien von Substanz zu Funktion63 und eine diesem Wandel korrespondierende Vernunftkonzeption, die von dem alten Paradigma des Vernehmens auf das neue des Vergleichens umschaltet.64 Die Romantik beginnt damit, die Dinge nicht länger als notwendig zu bestimmen, sondern sie „interessant“ zu finden.65 Alles wird mit allem austauschbar.66 „Wenn […] etwas die Romantik total definiert, so ist es der Mangel jeglicher Beziehung zu einer causa“67, das heißt einer nicht willkürlich gesetzten, sondern notwendigen Ursache. Causa heißt für die Romantik nicht mehr Grund im Sinne der notwendigen Bedingung für die Existenz einer Sache, son60

Balke, Der Staat nach seinem Ende, S. 27. Schmitt, Politische Romantik, S. 98. 62 Schmitt, Politische Romantik, S. 26. 63 Vgl. Schmitt, Glossarium, S. 160 f., mit Bezug auf Ernst Cassirers Schrift „Substanzbegriff und Funktionsbegriff“ aus dem Jahre 1910 (Berlin 1910, Nachdruck Darmstadt 1969); skeptisch zum Zusammenhang von Cassirers Unterscheidung und dem Begriff der occasio allerdings Schmitt, Politische Romantik, S. 193, Anm. 1; zum Ganzen Balke, Der Staat nach seinem Ende, S. 126 f. 64 Vgl. zu einem solchen Vernunftverständnis Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin, 2. Aufl. 1975, S. 8. 65 Vgl. Schmitt, Politische Romantik, S. 222. 66 Vgl. ebd. 67 Schmitt, Politische Romantik, S. 120. 61

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dern bezeichnet – im rechtlichen Sinn – einen Streitgegenstand.68 Im Vokabular der Systemtheorie ausgedrückt, beschreibt Schmitt einen Wandel von Fremd- zu Selbstreferenz, von einer Fundierung durch einen vorherbestimmten Verknüpfungspunkt, der außerhalb des Systems verortet ist – Gott, Natur oder Tradition –, zu einem Prozess, der seine eigenen Verknüpfungen herstellt. „Das consentement des romantischen Occasionalisten schafft sich ein Gewebe, das von der realen Außenwelt nicht berührt und deshalb auch nicht widerlegt wird.“69 Diese reine Selbstbezüglichkeit ist gemeint, wenn Schmitt die Romantik dadurch bestimmt, in ihr sei die „Ästhetisierung aller geistigen Gebiete“ bewirkt worden, und diese Ästhetisierung mit einer Entpolitisierung gleichsetzt.70 Die Außenwelt wird entsubstanzialisiert; sie verliert ihren existenziellen Ernst und wird zum Gegenstand eines bloßen Spiels. „Alles Reale ist nur ein Anlaß. Das Objekt ist substanzlos, wesenlos, funktionslos, ein konkreter Punkt, um den das romantische Phantasiespiel schwebt.“71 Damit tritt das spezifisch Schmitt’sche Verständnis des Romantischen hervor. Statt Substanz und Funktion einander gegenüberzustellen, verbindet Schmitt sie. Die Funktion wird als eine Form natürlicher Bestimmung verstanden, als eine wesentliche Eigenschaft, die die Identität eines Objekts bestimmt. Im Gegensatz dazu würde ein modernes Verständnis der Funktion ihre nicht-substanziellen Aspekte unterstreichen. So erläutert beispielsweise Niklas Luhmann die Grundidee seiner funktionalen Analyse als eine Technik des Vergleichens: Einen Gegenstand durch seine funktionalen Aspekte zu beschreiben, heißt danach, ihn durch die Tatsache zu beschreiben, dass er durch einen anderen Gegenstand ersetzt werden könnte, der der Aufgabe ebenso gut oder sogar besser gewachsen ist. Ein Denken in Funktionen ist ein Denken in funktionalen Äquivalenten, also ein Denken der Ersetzbarkeit.72 Funktion wird zum Zeichen für den Mangel an Substanz. Es ist genau dieses moderne Konzept des 68

Vgl. Derrida, Politik der Freundschaft, S. 189. Schmitt, Politische Romantik, S. 146. 70 Vgl. Carl Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, in: ders., Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin, 7. Aufl. 2002, S. 79 ff. (83). Zu diesem Zusammenhang näher bereits Rebentisch, Die Kunst der Freiheit, S. 217 ff., v. a. 221 f. 71 Schmitt, Politische Romantik, S. 123. 72 Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M., 4. Aufl. 1994, S. 83. 69

III. Recht als textuales Netzwerk

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Funktionalismus, das Schmitt abwehrt. Wiederum im scharfen Gegensatz zu Kelsen, der die Umschaltung von Substanz auf Funktion für ein allgemeines Kennzeichen der modernen Wissenschaft hält und diesen Prozess dementsprechend auch als eine „unerläßliche Vorbedingung für die Entwicklung einer echten Rechtswissenschaft“73 bezeichnet, beschreibt Schmitt diese Entwicklung als einen Degenerationsprozess.74 Schmitts Denken ist demnach geprägt durch eine gründlich analysierte Entwicklung, die zugleich als solche von ihm entschieden negiert und bekämpft wird. Innerhalb der Theorie kommt dadurch ein Phänomen zum Vorschein, das dieselbe Theorie zu unterdrücken versucht. Unter besonderer Berücksichtigung des rechtlichen Felds lässt sich das, was Schmitt auf diese Weise beobachtet, als ein Rechtssystem ohne (territoriale) Fundierung bezeichnen. Es handelt sich um ein System, das sich seine eigenen es selbst begründenden Gewissheiten nicht von außen vorgeben kann, sondern diese selbst konstruieren, und das heißt: fingieren muss. Schmitt bezeichnet ein solches Rechtsverständnis als Rechtspositivismus oder „Normativismus“. Ein derartiger Positivismus fungiert als „die theoretische Ratifizierung des gesellschaftlichen Prozesses der Punktualisierung bzw. Occasionalisierung des politischen Grundes – ob dieser Grund nun den Namen des Staates, der politischen Einheit oder der Verfassung trägt.“75 Der Positivismus (oder Normativismus) bestätigt und bekräftigt die Grundlosigkeit, die für die politische Romantik so typisch sein soll. Aus Schmitts Sicht wird der Gegensatz zum Rechtspositivismus durch den Begriff einer prä-legalen Legitimität bezeichnet. „Legitimität“ bildet für ihn konsequenterweise daher eine „absolut unromantische Kategorie“76. Von diesem Grundbefund ausgehend, lässt sich Schmitts Darstellung der Romantik noch einmal anders verstehen, nämlich gewissermaßen gegen sich selbst wenden. Das negative Bild, das Schmitt zeichnet, kann dann als eine zutreffende Beschreibung von modernen heterarchischen Verknüpfungen gelesen werden, die für die moderne Gesellschaft und ihr 73 Vgl. Hans Kelsen, Gott und Staat, in: Hans R. Klecatsky/René Marcic/ Herbert Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, Bd. 1, Wien u. a. 1968, S. 171 ff. (193). 74 Vgl. Gross, „Jewish Law and Christian Grace“, S. 102. 75 Balke, Der Staat nach seinem Ende, S. 126. 76 Schmitt, Politische Romantik, S. 171.

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Recht charakteristisch sind. Wenn Schmitt den Occasionalismus als ein spezifisches „Gewebe“ beschreibt, das die „Vorstellung einer letzten Instanz, einem absoluten Zentrum“77 unterläuft, dann lässt sich seine Beschreibung als ein Textualitätsphänomen bezeichnen. Textualität bezeichnet dabei nicht länger lediglich eine bestimmte Gestalt von Sprache, ihre Schriftform, sondern bezieht sich, einem stärker formalisierten Gedanken folgend, auf eine spezifische Weise der Verknüpfung. Ein derartiges eher formales Verständnis von Text und Textlichkeit lässt sich in bestimmten poststrukturalistischen Positionen wiederfinden. Ein Text ist in diesem Sinne „kein abgeschlossener [sic] Schriftkorpus mehr, kein mittels eines Bruchs oder mittels seiner Ränder eingefaßter Gehalt, sondern ein differentielles Netz, ein Gewebe von Spuren, die endlos auf anderes verweisen, sich auf andere differenzielle Spuren beziehen.“78

Ein derartiger Begriff der Textualität passt offensichtlich gut zu den „endlosen Prozessen“ der Romantik. Was Schmitt das romantische „Gewebe“ nennt, bildet demnach, auf das Recht übertragen, eine Form von Textualität oder Positivismus, die nicht mehr direkt an das Gesetz und die hierarchische Architektur der Rechtsordnung gebunden ist. Es ist ein Rechtssystem, das seine eigene, nicht mehr primär vertikale, sondern horizontale, heterarchische Ordnung konstruiert. Statt seine Legitimität von einer obersten souveränen Autorität zu erhalten, stabilisieren sich die verschiedenen singulären Rechtsoperationen selbst: durch wechselseitige Verbindungen. Statt lediglich auf eine bestimmte Formanforderung zu verweisen, meint „Text“ in diesem Verständnishorizont die im buchstäblichen Sinn grundlegende Operation des Rechts, durch die sich das Recht selbst erst mit seinem eigenen Fundament versieht. Diese Konzeption untergräbt die Vorstellung, dass ein einziges Subjekt – der souveräne Willle – über das Recht entscheidet. Das textuale Modell beschreibt selbstreferenzielle Operationen, die nicht länger von einer zentralen Stelle aus gesteuert werden können: „Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten 77 78

Schmitt, Politische Romantik, S. 22. Jacques Derrida, Überleben, in: ders., Gestade, Wien 1994, S. 119 ff. (130).

IV. Ein vierter Nomos der Erde?

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entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe – dieser Textur – verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.“79

Ein derartiges heterarchisches, auf Textualität im Sinne eines generativen Verfahrens bezogenes Verständnis von Recht bildet den hauptsächlichen Gegenstand von Schmitts Furcht.80

IV. Ein vierter Nomos der Erde? Im Jahr 1955 beschrieb Schmitt drei Möglichkeiten, wie sich eine künftige Weltordnung entwickeln könnte. „One was a universal empire under one great power – the United States. […] A second alternative was for the United States to take over England’s place in the old territorial equilibrium as the ‘balancer,’ the external guarantor of Europe’s internal peace, accompanied by unquestioned primacy in the Western hemisphere. The third alternative – clearly preferred by Schmitt and perhaps seen by him as the one most likely to emerge – was a structure of territorial division between a limited number of large blocks (Grossräume) that mutually recognized each other and exclude external intervention“81.

Die weitere, vierte Möglichkeit, eine derartige Struktur des weltumspannenden Rechts im Sinne eines Modells zu konzipieren, das auf der Idee der Textualität, das heißt auf heterarchischen Mechanismen der Selbstreferenzialität basiert, blieb demnach unbedacht oder zumindest unerwähnt. Mit Bezug auf die gegenwärtige Gesellschaft ist eine derartige Konzeption des Rechts im Sinne eines textualen Ordnungssystems nicht länger lediglich der Gegenstand einer persönlichen Überempfindlichkeit oder eine bloß theoretische Konstruktion. Ein solches Modell ist der Sache nach vielmehr in den letzten Jahren der Gegenstand lebhafter rechtswissenschaftlicher Debatten gewesen, die sich mit dem Problem der Konstitu79

Roland Barthes, Die Lust am Text, Frankfurt a. M. 1974, S. 94. Vgl. für eine positive Ausarbeitung eines entsprechenden Textualitätsmodells im rechtstheoretischen Kontext Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts; Karl-Heinz Ladeur, Die Textualität des Rechts. Zur poststrukturalistischen Kritik des Rechts, Weilerswist 2016. 81 Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, S. 420. 80

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tionalisierung des Völkerrechts auf der einen und seiner zugleich zu beobachtenden Fragmentierung auf der anderen Seite beschäftigt haben.82 Wer die Entwicklung des Völkerrechts in den vergangenen Jahren betrachtet, kann die Emergenz einer Vielzahl von unterschiedlichen spezifischen Rechtsregimen erkennen, die jeweils auf spezifische politische oder wirtschaftliche Problemstellungen reagieren. Das Phänomen als solches ist dabei kaum umstritten. Die eigentlichen Auseinandersetzungen drehen sich um die Frage, ob jene Regime immer noch durch zentrale, hierarchisch übergeordnete Regeln organisiert und zusammengehalten oder, im Gegensatz dazu, allenfalls noch durch interne, das heißt innerhalb der einzelnen Regime zu implementierende Kollisionsregeln koordiniert werden können.83 Die völkerrechtliche Ordnung der Gegenwart, so formulieren es einige Protagonisten der Debatte, lässt sich nicht länger angemessen in Begriffen eines hierarchischen Systems erfassen. Sie muss neu und anders gedacht werden.84 Aus einer bestimmten soziologischen Perspektive, jener der Systemtheorie, erscheint dieser Prozess der Fragmentierung und Pluralisierung als ein Vorgang, der keine Besonderheit des Völkerrechts darstellt. Aus dieser Sicht handelt es sich dabei vielmehr um einen fortschreitenden Prozess, der unsere gesamte gegenwärtige Weltgesellschaft betrifft.85 Danach verabschiedet sich die gegenwärtige Gesellschaft immer mehr von hierarchischen Organisationsmodellen und stellt stattdessen die sozialen Strukturen vermehrt auf funktionale Differenzierungen um.86 Diese funktional differenzierten Gesellschaftsbereiche, wie zum Beispiel die Wirtschaft, das 82 Vgl. für einen Überblick zu dieser Debatte Andreas Paulus, Zur Zukunft der Völkerrechtswissenschaft in Deutschland: Zwischen Konstitutionalisierung und Fragmentierung des Völkerrechts, ZaöRV 67 (2007), S. 695 ff. 83 Vgl. zu dieser Diskussion etwa Martti Koskenniemi/Päivi Leino, Fragmentation of International Law? Postmodern Anxieties, Leiden Journal of International Law 15 (2002), S. 553 ff.; Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, RegimeCollisions: The Vain Search for Legal Unity in the Fragmentation of Global Law, Michigan Journal of International Law 25 (2004), S. 999 ff.; Bruno Simma/Dirk Pulkowski, Of Planets and the Universe: Self-Contained Regimes in International Law, European Journal of International Law 17 (2006), S. 483 ff. 84 Vgl. Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Collisions, a.a.O. 85 Vgl. Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, ARSP 57 (1971), S. 1 ff.; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 145 ff. 86 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O.; dazu etwa William Rasch, Niklas Luhmann’s Modernity: The Paradoxes of Differentiation, Stanford 2000.

IV. Ein vierter Nomos der Erde?

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Recht und die Wissenschaft, haben in dieser Sicht eine innere Komplexität entwickelt, die es unmöglich macht, diese unterschiedlichen sozialen Bereiche mit ihren vielfältigen internen Operationen noch von einem einzigen zentralen Punkt aus auch nur zu überblicken, geschweige denn zu steuern. Die soziologische Perspektive unterstützt daher den Befund einer zunehmenden Ineffizienz zentralisierter Lösungsansätze.87 Eine genauere Beobachtung der sozialen Strukturen soll vielmehr Systeme zeigen, „die einerseits so komplex sind, daß sie eine Vielzahl von Verzweigungspunkten für unterschiedliche Ereignisabläufe zulassen (also nicht auf eindeutige UrsacheWirkungs-Beziehungen festgelegt sind) und andererseits dennoch innerhalb einer gewissen Schwankungsbreite stabil bleiben.“88

Aus diesem Grund muss das traditionelle Beobachtungsschema von strikter Kausalität auf bloße Wahrscheinlichkeitszusammenhänge umgestellt werden. Die Vielzahl potenziell mehrdeutiger horizontaler Verknüpfungen erfordert eine komplexere Organisationsform, die das traditionelle, auf linear strukturierten Hierarchien basierende Modell nicht bieten kann.89 „Wo komplexe Regelungszusammenhänge und Vernetzungen von Entscheidungsteilen maßgebend werden, gibt es Dynamiken, insbesondere Rückkopplungen, die im Modell der Linearität nicht aufgefangen werden können.“90

Was benötigt wird, ist daher ein „nicht-hierarchisches Wissen“, das nicht bereits einfach gegeben ist, sondern in einem azentrischen Prozess erst eigens hervorgebracht werden muss. Es handelt sich um eine Wissensgenerierung, die „über eine historische Dynamik der Selektivität einen ,Prozeß des Zusammenpassens‘ von Entscheidungen erhält, der seine eigenen Richtigkeitsstandards erzeugt“.91 87 Vgl. zu der allgemeinen möglichen Relevanz der Systemtheorie für die Völkerrechtstheorie Stefan Oeter, International Law and General Systems Theory, German Yearbook of International Law 44 (2001), S. 72 ff. 88 Karl-Heinz Ladeur, Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft. Von der Gefahrenabwehr zum Risikomanagement, Berlin 1995, S. 23. 89 Vgl. Gunther Teubner, Des Königs viele Leiber: Die Selbstdekonstruktion der Hierarchie des Rechts, in: Hauke Brunkhorst/Matthias Kettner (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie. Wirtschaft, Recht, Medien, Frankfurt a. M. 2000, S. 240 ff. 90 Wolfgang Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzesvorbehalt im Umbruch. Zur Qualitäts-Gewährleistung durch Normen, AöR 130 (2005), S. 5 ff. (67). 91 Ladeur, Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, S. 35 f.

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Von einem, der auszog, das Fürchten zu lehren

Konkrete Rechtsformen, die sich an diese speziellen gesellschaftlichen Prozesse bereits angepasst haben, das heißt ein Recht, dessen Strukturen nicht mehr von einer souveränen Zentralinstanz her bestimmt werden, lassen sich insbesondere auf dem sich entwickelnden Gebiet eines transnationalen Rechts beobachten. „Das hierarchische Rechtsmodell der westlichen Rechtskulturen durchläuft in der emergierenden Weltgesellschaft eine Mutation, die es zu ,etwas anderem‘ macht. […] Alle uns vertrauten juristischen Legitimations-, Interpretationsund Begründungsmuster verlieren ihre Basis.“92

Was auf diese Weise entsteht, ist ein „global law without a state“93, das sich aus einem Netzwerk von interagierenden Gerichten und gerichtsähnlichen Institutionen zusammensetzt.94 Diese Institutionen sind zwar immer noch mehrheitlich in nationalstaatlichen Strukturen verwurzelt, wie namentlich die Verfassungsgerichte; sie beginnen sich aber immer stärker von diesen staatlichen Wurzeln zu emanzipieren und selbst einen tatsächlich internationalen Charakter anzunehmen.95 Zudem müssen zunehmend auch Rechtsregime in den Blick genommen und berücksichtigt werden, die nicht mehr lediglich durch die traditionellen öffentlichen Akteure geschaffen sind. Verstärkt werden vielmehr auch private Akteure, insbesondere in Gestalt transnational agierender Unternehmen, selbst rechtsschöpferisch tätig. In diesem Kontext einer zunehmenden Fragmentierung und Pluralisierung des Rechts im globalen Raum erscheint jede Hoffnung vergeblich, die noch auf eine „hierarchically organized or conceptually dogmatic unity of international law“ setzt. Nach den Analysen von Gunther Teubner und Andreas Fischer-Lescano führt der Zusammenbruch der hierarchischen Ordnungsmuster dazu, dass auf eine andere Perspektive umgestellt werden muss: „the only realistic option

92 Marc Amstutz/Vagios Karavas, Rechtsmutation: Zu Genese und Evolution des Rechts im transnationalen Raum, Rechtsgeschichte 9 (2006), S. 14 ff. (15). 93 Vgl. Gunther Teubner (Hrsg.), Global Law without a State, Aldershot 1997. 94 Vgl. zum Konzept einer entsprechenden „global community of courts“ AnneMarie Slaughter, A New World Order, Princeton 2004; Georg Nolte, Das Verfassungsrecht vor den Herausforderungen der Globalisierung, in: VVDStRL 67 (2008), S. 129 ff.; Eyal Benvenisti, Reclaiming Democracy: The Strategic Uses of Foreign and International Law by National Courts, American Journal of International Law 102 (2008), S. 241 ff. 95 Vgl. Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Collisions, S. 1000.

V. Vom Netzwerk zum Rhizom

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is to develop heterarchical forms of law that limit themselves to creating loose relationships between the fragments of law.“96 Die Emergenz eines derartigen „global law without a state“, die Schmitt nicht vorhersah, die aber in bestimmter Weise mit seiner Vorstellung korrespondiert, dass die Epoche der Staatlichkeit an ihr Ende gekommen sei,97 könnte als eine kryptische vierte Möglichkeit für einen neuen „Nomos der Erde“ angesehen werden.98

V. Vom Netzwerk zum Rhizom Wie aber lassen sich diese neuen heterarchischen Rechtskonzeptionen noch genauer positiv beschreiben? Welches Modell kann dazu herangezogen werden, um ihre speziellen Charakteristika zu zeigen? Offenkundig kann ein adäquates theoretisches Vorbild für die Verdeutlichung dieser neuen Rechtskonzeptionen nicht länger in dem Modell des „Stufenbaus“ der Rechtsordnung erblickt werden, denn es soll doch gerade nicht mehr die hierarchische, vertikale Orientierung erfassen, sondern jene horizontale Verknüpfung, die für die neue Situation so typisch erscheint.99 Aber auch die in einigen jüngeren Debatten so beliebt gewordene Metapher des Netzwerks erfasst die moderne Konstellation noch nicht angemessen. 100 96

Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Collisions, S. 1017. Vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 10. Zur – kritisch betrachteten – möglichen Aktualität von Schmitts Konzept näher etwa Thomas Vesting, Erosionen staatlicher Herrschaft. Zum Begriff des Politischen bei Carl Schmitt, AöR 117 (1992), S. 4 ff. 98 Carl Schmitt, Der neue Nomos der Erde, in: ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916 – 1969, hrsg. v. Günter Maschke, Berlin 1995, S. 518 ff. (521). 99 Vgl. Paulus, Zur Zukunft der Völkerrechtswissenschaft in Deutschland. 100 Vgl. zum Netzwerkkonzept näher etwa Karl-Heinz Ladeur, Towards a Legal Theory of Supranationality – The Viability of the Network Concept, European Law Journal 3 (1997), S. 33 ff.; ders., Towards a Legal Concept of the Network in European Standard-Setting, in: Christian Joerges/Ellen Vis (Hrsg.), EU Committees: Social Regulation, Law and Politics, Oxford/Portland (1999), S. 151 ff.; Slaughter, A New World Order. Aus privatrechtstheoretischer Perspektive Gunther Teubner, Die vielköpfige Hydra: Netzwerke als kollektive Akteure höherer Ordnung, in: Wolfgang Krohn/Günter Küppers (Hrsg.), Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt a. M. 1992, S. 189 ff.; ders., 97

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Das Bild des Netzes suggeriert immer noch, dass wir die entscheidenden Unsicherheiten der modernen Gesellschaft mit einem weitgehend homogenen, symmetrisch organisierten Gewebe ein- und auffangen können. Diese Sichtweise unterschätzt jedoch die Vielfältigkeit der unzähligen kommunikativen Operationen innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft. Um sie zu erfassen oder genauer, in ihrer nie ganz erfassbaren Komplexität widerzuspiegeln, ist eine andere Art von Verknüpfung erforderlich, die weder auf Hierarchie noch auf irgendeiner anderen Form prädeterminierter Einheits- und Homogenitätsvorstellungen basiert. Aus demselben Grund entzieht sich das hier in den Blick zu nehmende Phänomen auch einem strukturalistischen Zugriff. Denn die „general implication of this method […] is that elements of a text do not have intrinsic meaning as autonomous entities but derive their significance from oppositions which are in turn related to other oppositions in a process of theoretically infinite semiosis.“101

Diese Perspektive versucht immer noch, die irreduzible Pluralität der kommunikativen Ereignisse dadurch zu kontrollieren, dass sie sie in ein vorgegebenes Schema presst. Sie arbeitet mit der Vorstellung, dass es so etwas gibt wie eine allen kommunikativen Prozessen zugrundeliegende Syntax, die als solche die rechtlichen Operationen strukturiert. Eine ähnliche Form der Kritik lässt sich auf die Idee beziehen, aus der Perspektive des Gesamtsystems lasse sich ein umfassender Kontext rekonstruieren, indem unterschiedliche Elemente des Netzwerkmodells genutzt und zusammengebracht werden.102 Außerdem tendiert ein am Netzwerkmodell orientiertes Denken dazu, die Vielfalt aller möglichen Verknüpfungsformen zu reduzieren und auf horizontale Muster zu beNetzwerk als Vertragsverbund: Virtuelle Unternehmen, Franchising, just-in-time in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht, Baden-Baden 2004. Speziell zum metaphorischen Charakter des Konzepts Alexandra Kemmerer, The Normative Knot 2.0: Metaphorological Explorations in the Net of Networks, German Law Journal 10 (2009), S. 439 ff. 101 Jonathan Culler, The Pursuit of Signs. Semiotics, Literature, Deconstruction, Ithaca 1981, S. 29. 102 Vgl. Gunther Teubner, Paradoxien der Netzwerke in der Sicht der Rechtssoziologie und der Rechtsdogmatik, in: Michael Bäuerle u. a. (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht? Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit – Beiträge zum Kolloquium anlässlich des 60. Geburtstags von Brun-Otto Bryde, Baden-Baden 2004, S. 9 ff. (23).

V. Vom Netzwerk zum Rhizom

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schränken. Auf diese Weise droht es wichtige Restbestände der überkommenen, hierarchischen Ordnungen zu vernachlässigen. Gerade ein Blick auf das Völkerrecht zeigt, dass durch die Perspektivumstellung nicht nur neue Phänomene zutreffender als in dem alten Schema zu erfassen sind, sondern dadurch auch bestimmte Erkenntnisse verloren gehen oder verdrängt werden können. Gegenüber einer scheinbar besonders innovativen, tatsächlich aber zugleich reduktionistischen Sicht lässt sich festhalten, dass „while the network model accounts for the diversification of legal regimes and the multiplication of actors in the international legal process, many central building blocks of the traditional international legal system, such as the rules on diplomatic protection or state responsibility, have remained remarkably stable.“103

Um einerseits einen solchen Reduktionismus zu vermeiden, ohne andererseits einfach in die traditionellen Bahnen zurückzukehren, könnte eine angemessenere, gerade die Vielfältigkeit und Heterogenität der Bewegungen stärker in Rechnung stellende Beschreibung des modernen Rechtssystems auf ein anderes, noch pluralistischeres Modell zurückgreifen, ein Modell, das zur selben Zeit jede Art der Modellbildung subvertiert: eine rhizomorphe Konzeption im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari.104 Diesem Konzept zufolge meint Rhizom – verstanden als eine Art „generatives Netzwerk“105 – eine sich immer weiter ausdehnende Verästelung, die nicht länger auf ein einheitliches Hauptmuster als eigenes Organisationsprogramm reduziert werden kann. Innerhalb rhizomorpher Formationen programmieren sich die Verknüpfungen selbst und variieren dabei zugleich kontinuierlich diese Programmierung. Sie unterlaufen damit noch die Idee der Selbststeuerung. Für den rhizomorphen Wachstumsprozess sind daher keine internen Kontrollmechanismen verbindlich vorgegeben, etwa in Form von binären 103 Simma/Pulkowski, Of Planets and the Universe, S. 484. Außerdem gibt es das Phänomen des Netzwerkversagens, das zu einer Re-Etablierung hierarchischer Ordnungen führt. Vgl. dazu näher Gunther Teubner, „And if I by Beelzebub cast out Devils…“: An Essay on the Diabolics of Network Failure, German Law Journal 10 (2009), S. 115 ff. 104 Vgl. Deleuze/Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie, S. 11 ff. 105 Diesen Begriff verwendet Karl-Heinz Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation. Zur Erzeugung von Sozialkapital durch Institutionen, Tübingen 2000, S. 69.

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Codes, die ihr eigenes Vorgehen im Hinblick auf die kontinuierliche Konnektivität überwachen müssen. Alle, selbst scheinbar basalste Festlegungen im Rhizom sind stets „nur das Ergebnis einer aktiven und vorläufigen Selektion, die immer wieder vorgenommen werden muß.“106 Ein derartiges Gewebe sich selbst begründender Ausdehnungen, Aufpfropfungen, Umcodierungen und modifizierender Wiederholungen spezifiziert die zuvor angesprochene Idee des Rechts als Textualität: als einen fortlaufenden, noch sich selbst und der Idee jedweder Abschlussbewegung immer bereits entkommenden Prozess.107 Jede neue Verästelung im Rhizom ist frei, weil sie weder durch das bereits bestehende Ensemble an Verknüpfungen vollständig determiniert ist noch auf einen bestimmten das Gesamtgebilde prägenden Zweck festgelegt werden kann. Ausdrücklich gehört vielmehr auch die Sackgasse zum Rhizom.108 Zugleich aber ist doch auch jede neue Verbindung in das Gesamtgewebe integriert, denn das „Prinzip der Konnexion und der Heterogenität“, das das Rhizom ausmacht, bedeutet, dass jeder „Punkt eines Rhizoms […] mit jedem anderen verbunden werden [kann und muß].“109 Das Rhizom ist daher nicht einmal mit sich selbst identisch; es unterläuft mit seinem Verfahren die Idee der eigenen Einheit. „Das Rhizom tritt in fremde Evolutionsketten ein und knüpft transversale Verbindungen zwischen divergenten Entwicklungslinien. Es ist nicht monadisch, sondern nomadisch; es erzeugt unsystematische und unerwartete Differenzen; es spaltet und öffnet; es verläßt und verbindet; es differenziert und synthetisiert zugleich.“110

Wenn Schmitt das „Klassische“ als die „Möglichkeit eindeutiger, klarer Unterscheidungen“111 bestimmt, dann lässt sich im Gegensatz dazu das Rhizom als das dezidiert nicht-klassische, um nicht zu sagen: romantische, in Schmitts Sinn unpolitische Gewebe bezeichnen, das nicht nur seine eigenen Unterscheidungen unterläuft, sondern zudem die Idee der 106

Deleuze/Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie, S. 20. Vgl. dazu näher Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts. 108 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a. M. 1976, S. 8. Ferner dies., Kapitalismus und Schizophrenie, S. 19: „Ein Rhizom kann an jeder Stelle unterbrochen oder zerrissen werden, es setzt sich an seinen eigenen oder an anderen Linien weiter fort.“ 109 Deleuze/Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie, S. 16. 110 Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, S. 142. 111 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 11. 107

VI. Die Ambivalenz des Politischen

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höchsten, souveränen Autorität subvertiert. Wenn es, Schmitt zufolge, „im Romantischen gerade darauf ankommt, daß alles aufhöre, Sache und Gegenstand zu sein und zum bloßen Anknüpfungspunkt werde“112, dann trifft diese Beschreibung umso mehr für ein Recht zu, das als rhizomorphe Textur konzipiert ist. Recht, so könnte man sagen, wird in dieser Konzeption zu einem gänzlich autonomen, damit auch von der Politik entkoppelten, also entpolitisierten Bereich. Nichts spricht jedoch dafür, dass die Bewegung an dieser Stelle einfach aufhören wird. Im Gegenteil: Eine absolute, vollständige Entpolitisierung kann es nicht geben.113 Umso weniger Politik noch in Erscheinung tritt, desto entscheidender könnten sich ihre verbliebenen Reste erweisen. Damit ist der Möglichkeit Rechnung zu tragen, dass die Entpolitisierung ebenso gut „das supplementäre (und invertierte) Symptom, die abgründige Hyperbel einer Hyperpolitisierung“114 sein könnte. Diese Perspektive führt dazu, dass „alle Vorzeichen sich umkehren und die Politisierung sich am Grad der Entpolitisierung bemißt […]. Je weniger Politik es gibt, desto mehr gibt es.“115 Umgekehrt gilt, dass, wo alles politisch ist, nichts mehr politisch ist.116 Vielleicht bildete diese Hyperpolitisierung einen weiteren Gegenstand von Schmitts Furcht.

VI. Die Ambivalenz des Politischen Die bislang durchgeführte Betrachtung folgte weitgehend dem Blick eines Freud’schen Analytikers, der beschreibt, welche relevanten Einsichten in der modernen Gesellschaft und ihrem Rechtssystem Schmitts Denken durch den Versuch, sie zu verdrängen, einschließt. In dieser Perspektive ließen sich mehrere Objekte von Schmitts Furcht hervorheben: die Furcht vor einer zerfallenen Gesellschaft, die ihren konstitutiven Charakter einer inneren Homogenität verliert; die Furcht vor dem Oc112

Schmitt, Politische Romantik, S. 26. Vgl. Derrida, Politik der Freundschaft, S. 183; dazu näher A. J. P. Thomson, Deconstruction and Democracy: Derrida’s Politics of Friendship, London 2005, S. 161. 114 Derrida, Politik der Freundschaft, S. 189. 115 Derrida, Politik der Freundschaft, S. 183. 116 Vgl. Rasch, Sovereignty and its Discontents, S. 6. 113

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casionalismus, als einer Gesellschaft, die nicht mehr auf einem gemeinsamen Grund aufruht; die Furcht vor dem Aussterben des Politischen. Diese Lesart von Schmitts Werk war demnach in erster Linie negativ. Was Schmitt mit und in seinen Äußerungen und Abwehrbewegungen gewissermaßen nolens volens als Negativphänomen hervorhebt, lässt sich jedoch auch positiv umformulieren: Schmitt beobachtet und beschreibt danach das Entstehen einer heterogenen, funktional differenzierten Gesellschaft, das heißt einer neuen Form heterarchischer Konnektivität, die auch – und vielleicht angemessener – als ein textuales oder rhizomorphes Phänomen aufgefasst werden kann. Insbesondere die zuletzt genannte Furcht vor einer Hyperpolitisierung lässt aber noch eine weitere positive Lesart zu: Man könnte den Übergang von einem hierarchisch organisierten Rechtssystem zum Rhizom auch als Entwicklung von einer feststehenden Ordnung zu einem dynamischeren, fluiden Prozess sehen, oder, um eine von Schmitt bevorzugte Metaphorik zu verwenden: als Übergang vom Land zum Meer.117 Die zu beantwortende Frage lautet dann, wie das Rhizom auf eine Weise gedacht werden kann, die seine Dynamik und Vielfältigkeit erhält, aber zugleich gegenüber einer amorphen Masse jenseits aller erkennbaren Eigenheiten unterschieden hält. Vielleicht lassen sich Schmitts Arbeiten auch als ein Versuch lesen, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Die Territorialisierung des rechtlichen wie des politischen Denkens zielt darauf ab, möglichst eindeutige Grenzen zwischen gleichwertigen Opponenten zu schaffen. Schmitts „Begriff des Politischen“, die berühmte Unterscheidung von Freund und Feind, erscheint in dieser Perspektive als „genuinely a form of spatial thought, a ,concept‘ that cannot be thought independently of spatial relations“118. In dem Maße, in dem es diese spatiale Dimension in sich trägt, muss dieses Konzept jedoch zugleich in gewissem Sinn anachronistisch er117 Vgl. zu dieser Unterscheidung Carl Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Hohenheim 1981. Selbstverständlich bezieht sich Schmitts eigener Gebrauch dieser Metaphorik nicht auf das Netzwerkkonzept; er beschreibt damit eine Entwicklung des Völkerrechts: von einer europäischen nationalstaatszentrierten Perspektive zu einer kolonialistischen, weltweiten Politik. Vgl. dazu näher Christoph Burchard, Interlinking the Domestic with the International: Carl Schmitt on Democracy and International Relations, Leiden Journal of International Law 19 (2006), S. 9 ff. (11). 118 Jameson, Notes on the Nomos, S. 203.

VI. Die Ambivalenz des Politischen

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scheinen, denn es vernachlässigt eine entscheidende neue Dimension: die Information als ein „new element that reproblematizes the spatial“.119 Allerdings lässt sich diese Unterscheidung auch noch in einem anderen Kontext betrachten. Dort, wo alles politisch sein soll, ist nichts mehr politisch – aber ebenso gut gilt das Gegenteil: Die Abschaffung des Politischen ist selbst ein politischer Akt.120 Der Versuch, das Politische durch Polizei zu ersetzen,121 reproduziert daher lediglich die alte Freund-FeindUnterscheidung auf einer anderen Ebene. Der frühere Feind wird zum Kriminellen umadressiert, während die zugrundeliegenden allgemeinen Mechanismen von Ausschließung und Einschließung unverändert erhalten bleiben. Schmitts Grundidee in diesem Kontext lautet, dass, wenn diese Mechanismen nicht vermeidbar sind, es immerhin besser ist, sich offen mit ihnen zu beschäftigen und auseinanderzusetzen, als sie möglichst weitgehend zu verbergen.122 Er argumentiert für eine Akzeptanz von Differenzen und wendet sich damit gegen eine auf Homogenität gegründete neue Weltordnung, die zwar die Gewalt der zahlreichen Einzelkonflikte beseitigt, aber um den Preis der Etablierung eines imperialen Regimes.123 Das damit benannte Problem hat auch in der Gegenwart offenkundig nichts von seiner Relevanz verloren. Im Gegenteil: Wie Koskenniemi zu Recht bemerkt, besteht eine der wesentlichen Aufgaben des modernen Völkerrechts darin, „to avoid that kind of imperialism while at the same time continuing the search for something beyond particular interests and identity politics, or the irreducibility of difference“.124 Auf eine eigenartige Weise könnte Schmitts Werk dabei helfen diese Aufgabe zu bewältigen.125 In diesem Verständnishorizont besagt Furcht vor Hyperpolitisierung zugleich Furcht vor Entdifferenzierung. Die Differenzen, die es in der gegenwärtigen Weltgesellschaft zu erhalten gilt, lassen sich allerdings nicht mehr sinnvoll in primär räumlichen Begriffen denken und damit letztlich 119

Jameson, Notes on the Nomos, S. 204. Vgl. Rasch, Sovereignty and its Discontents, S. 97. 121 Vgl. für eine neue Diskussion dieser alten Unterscheidung Rancière, Disagreement, S. 38. 122 Vgl. Rasch, Sovereignty and its Discontents, S. 98. 123 Vgl. Carty, Carl Schmitt’s Critique of Liberal International Order Between 1933 and 1945, a.a.O. 124 Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, S. 500. 125 Vgl. in diese Richtung auch Kervégan, Was tun mit Carl Schmitt?, S. 219 ff. 120

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auf substanzielle Identitäten zurückführen.126 Selbstverständlich ist eine bestimmte Art von „American Imperialism“127 oder, zurückhaltender formuliert, „amerikanischem Unilateralismus“128 eine besondere Herausforderung für die weitere Entwicklung des Völkerrechts. Diese Kritik greift aber zu kurz, wenn sie als Alternative zu diesem Vorgehen lediglich einen stärkeren europäischen (oder asiatischen) Einfluss auf das Völkerrecht fordert. Die zu erhaltenden Unterscheidungen müssten eher im Kontext einer modernen Weltgesellschaft gedacht werden, die zunehmend durch eine funktionale Selbstorganisation und damit Differenzierung gekennzeichnet ist,129 also im Kontext einer Gesellschaft, deren unterschiedliche Hauptsphären nicht länger durch räumliche Abgrenzungen bestimmt werden. Ein solcher Perspektivwechsel schließt die stärkere Beachtung von Menschenrechten auf der Ebene des internationalen Rechts nicht aus. Er erfordert aber, entsprechende Anstrengungen klarer in den allgemeinen Rahmen einer Reflexion der sich entwickelnden Weltgesellschaft einzubinden. Mit der Wendung von einer substanziellen zu einer funktionalen Betrachtungsweise wäre dann auch eine Perspektivverschiebung verbunden, der zufolge Grund- und Menschenrechte nicht mehr ausschließlich als der natürliche Status bestimmter Einzelwesen verstanden werden können. Sie sind vielmehr als genuin juristische Konstruktionen zu be-

126 Vgl. zu der Diskussion über die dennoch fortbestehende Relevanz von Grenzen im europäischen und internationalen Recht Isabelle Ley, Verfassung ohne Grenzen? Zur Bedeutung von Grenzen im postnationalen Konstitutionalismus, in: Ingolf Pernice u. a. (Hrsg.), Europa jenseits seiner Grenzen. Politologische, historische und juristische Perspektiven, Baden-Baden 2009, S. 91 ff. 127 Vgl. zu dieser Perspektive G. L. Ulmen, American Imperialism and International Law – Carl Schmitt and the US in World Affairs, Telos 72 (1987), S. 43 ff. Ferner, genauer differenzierend, James Tully, On Law, Democracy and Imperialism, in: Emilios Christodoulidis/Stephen Tierney (Hrsg.), Public Law and Politics. The Scope and Limits of Constitutionalism, Aldershot 2008, S. 69 ff. 128 Vgl. die Beiträge in Michael Byers/Georg Nolte (Hrsg.), United States Hegemony and the Foundation of International Law, Cambridge 2003; Lars Viellechner, Amerikanischer Unilateralismus als Verfassungsfrage? Zur rechtlichen Begründung des einseitigen Handelns der USA auf internationaler Ebene, Der Staat 45 (2006), S. 1 ff. 129 Vgl. dazu nur Rasch, Niklas Luhmann’s Modernity. Zu der möglichen Gegenbewegung einer „funktionalen Entdifferenzierung“, v. a. mit Bezug auf die Ökonomie, Joseph Vogl, Der Souveränitätseffekt, Zürich 2015, S. 11 ff.

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greifen, die eine bestimmte gesellschaftliche Funktion erfüllen.130 In einer polykonturalen Welt, die keinen zentralen Beobachtungspunkt mehr zulässt, besteht danach die Aufgabe der Grundrechte darin, unabhängige Bereiche für die jeweiligen sozialen Subsysteme zu gewährleisten und dadurch zugleich ein Bollwerk zu errichten gegen totalisierende Tendenzen der einzelnen Subsysteme, die mit ihren spezifischen Eigenrationalitäten die Gesamtgesellschaft dominieren und kontrollieren wollen.131 Die funktionale Perspektive kann deswegen nicht mit einer Politisierung der Gesellschaft gleichgesetzt werden. Auch die Anwendung der Menschenrechte muss sich vielmehr vor einer Instrumentalisierung hüten, die diese Rechte als bloße Mittel zur Rechtfertigung bestimmter politischer Konfigurationen verwendet.132 Aus diesem Grund lässt sich die von Koskenniemi mit Bezug auf die allgemeine Entwicklung des Völkerrechts vorgeschlagene133 neue „,culture of formalism‘ devoid of instrumentalist undertones“134 auch auf die spezifischere Problematik des Menschenrechtsdiskurses beziehen. Der angesprochene „Formalismus“ meint dann in diesem Kontext eine Reflexion und einen allgemeinen Respekt gegenüber dem Eigenwert der juristischen Formen und dem juristischen Denken, im Gegensatz zur politischen Entscheidungsfindung. Es liegt auf der Hand, dass ein so verstandener Formalismus einfach mit der Betrachtung der besonderen Textualität des Rechts zu verknüpfen wäre. Ein derartiger Perspektivwechsel hätte darüber hinaus aber auch entscheidende Konsequenzen für den Begriff des Politischen. Wenn man das 130

Vgl. mit Bezug auf das Konzept der Menschenwürde Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat. Humangenetik – Neurowissenschaft – Medien, Tübingen 2008. 131 Vgl. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 79; Gunther Teubner, The Anonymous Matrix: Human Rights Violations by „Private“ Transnational Actors, Modern Law Review 69 (2006), S. 327 ff.; Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, The Myth of the Neutral State. The relationship between state and religion in the face of new challenges, German Law Journal 8 (2007), S. 143 ff. 132 Vgl. zu dem Problem Costas Douzinas, Human Rights and Empire. The political philosophy of cosmopolitanism, Abingdon/Oxford/New York 2007. 133 Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, S. 500. 134 So Helmut P. Aust, The Normative Environment for Peace – On the Contribution of the ICL’s Articles on State Responsibility, in: Georg Nolte (Hrsg.), Peace through International Law. The Role of the International Law Commission. A Colloquium at the Occasion of its Sixtieth Anniversary, Dordrecht 2009, S. 13 ff. (44).

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Politische als eine distinkte Sphäre sozialer Kommunikationsprozesse erhalten will, muss das Politische auch selbst die Unabhängigkeit anderer Sozialsphären anerkennen.135 Das Politische erhält damit eine charakteristisch ambivalente Funktion: Es markiert die Position eines einzelnen gesellschaftlichen Bereichs, der durch die Sicherstellung des für ihn prägenden, seine eigene Autonomie bestimmenden Prinzips der Auseinandersetzung und des fortlaufenden Konflikts paradoxerweise zugleich ein allgemeines Moment akzentuiert, das als permanente Auseinandersetzung die Ko-Existenz der miteinander konfligierenden sozialen Systeme ermöglicht. Diese ambivalente Funktion des politischen Systems, die im Deutschen in der Unterscheidung von Politik und Politischem und im Französischen in der Differenz von la und le politique anklingt, lässt sich auch bei Schmitt nachlesen, und zwar in den Überarbeitungen, die Schmitt an seinem Begriff des Politischen für dessen zweite Fassung vorgenommen hat.136 Im Unterschied zu der ersten Fassung des Textes beschreibt Schmitt in dieser zweiten Fassung des Werks – in einem impliziten, das heißt nicht ausdrücklich benannten, aber der Sache nach erkennbaren „heimlichen Dialog“ mit Ideen aus Hans Morgenthaus Dissertation137 – das Politische nicht länger als einen autonomen Gesellschaftsbereich im Weber’schen Sinn, vergleichbar jeder anderen sozialen Sphäre (etwa der Kunst, der Religion etc.).138 Schmitt bestimmt das Politische vielmehr als einen relationalen Begriff, genauer: als einen Begriff spezifischer Intensität.139 Das „Wesen“ des Politischen lässt sich damit nicht länger, wie noch in der ersten Fassung des „Begriffs des Politischen“, topologisch im Rekurs auf ein ihm eigenes „Gebiet“ markieren.140 Es liegt, 135

Vgl. Rasch, Sovereignty and its Discontents, S. 5. Vgl. dazu näher Meier, Die Lehre Carl Schmitts, S. 53 ff.; ders., Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen“. Zu einem Dialog unter Abwesenden, 3. Aufl., Stuttgart/Weimar 2013, S. 11 ff. 137 Vgl. Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, S. 436; Scheuermann, Carl Schmitt, S. 225. 138 Vgl. zu Schmitts Verhältnis zu Max Weber Kjell Engelbrekt, What Carl Schmitt picked up in Weber’s Seminar: A Historical Controversy Revisited, The European Legacy 14 (2009), S. 667 ff.; ausführlich G. L. Ulmen, Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt, Weinheim 1991. 139 Vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 27. 140 Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 58 (1927), S. 1 ff. (3 f.). Dazu Meier, Die Lehre Carl Schmitts, S. 53 f.; ders., Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen“, S. 30 f. 136

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paradox, darin, dass es gerade kein derartiges Gebiet gibt, sondern ab einer bestimmten Intensität der Auseinandersetzung, als Umschlag von Quantität in Qualität,141 alles politisch werden kann.142 Auch diese in den Begriff des Politischen eingeschriebene Ambivalenz wird von Schmitt aber nicht näher als ein positives Phänomen bestimmt. Sein eigentümlicher Umgang mit ihr lässt sie eher als einen weiteren charakteristischen Gegenstand von Schmitts Furcht erscheinen: Schmitt fürchtete danach, dass im Kontext der funktional differenzierten Gesellschaft „the political is threatened with extinction – and with it, perhaps, the whole structure of modernity itself – if it cannot assert itself as something more or something fundamentally other than merely one of many such differentiated systems. […] Schmitt simultaneously champions the autonomy of the political system as well as the primacy of the political.“143

In der Abwehr der drohenden Auslöschung des Politischen setzt Schmitt demnach auf stabile Gegensätze. Auf sie will er bauen, mit ihnen möchte er rechnen.144 Sein Versuch jedoch, die Gegensätze zu stabilisieren, untergräbt sie zugleich fortwährend. Diese Schmitts Grundkonzeption bestimmende, unaufgelöste Ambivalenz mag unbefriedigend erscheinen. Im von ihr ausgehenden suchenden Blick, welche möglichen anderen politischen oder rechtlichen Mechanismen es geben könnte, deren Aufgabe es ist, eine auf funktionaler Differenzierung beruhende gesellschaftliche (internationale) Ordnung zu gewährleisten, ohne die Kontrolle über die Gesellschaft als Ganzes zu übernehmen, vielmehr die Eigenrationalitäten der Subsysteme zu respektieren, lässt sich jedoch fragen: Besitzen wir bereits eine bessere Antwort? Vielleicht könnte ein neu entwickeltes Netzwerkmodell zumindest in die Richtung weisen, in der eine derartige Antwort zu suchen ist145 – und zwar nicht deswegen, weil es geeignet sein könnte, nun endlich 141

Vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 62. Vgl. Kervégan, Was tun mit Carl Schmitt?, S. 18. 143 Rasch, Sovereignty and its Discontents, S. 5. 144 Vgl. Derrida, Politik der Freundschaft, S. 164. 145 Vgl. für einen interessanten Versuch, das Netzwerkmodell für eine genauere Ausarbeitung einer politischen Theorie zu nutzen, mit einem Bezug vor allem zu Jean-Luc Nancy, Philip Armstrong, Reticulations. Jean-Luc Nancy and the Networks of the Political, Minneapolis 2009. 142

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jene Ambivalenz vollkommen zu beseitigen, sondern umgekehrt: weil es die Ambivalenz in sich austrägt und damit auch angemessener zum Ausdruck bringt.

Über die Grenzen des Rechts I. Einleitung Im Anhang zu seinen Vorlesungen über die Politische Theologie des Apostels Paulus liefert Jacob Taubes eine kurze Skizze eines vielberufenen und vielbeschriebenen Verhältnisses, nämlich der intrikaten Beziehung zwischen ihm, dem ordinierten Rabbiner und selbsternannten „Erzjuden“1, für den „das Judentum […] alles war“2, und dem zeitweiligen „Kronjuristen“ des sogenannten „Dritten Reichs“ und auch nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes unbelehrbaren notorischen Antisemiten, Carl Schmitt.3 Von dieser eigenartigen Beziehung sagt Taubes an anderer Stelle in den Vorlesungen, eine von Schmitts bekanntesten Distinktionen aufnehmend und zugleich ironisch unterlaufend: „Wir wußten, daß wir Gegner auf Tod und Leben waren, aber wir haben uns

1 Jacob Taubes, Brief an Carl Schmitt vom 18. September 1978, in: Jacob Taubes – Carl Schmitt. Briefwechsel mit Materialien, hrsg. v. Herbert KoppOberstbrink, Thorsten Palzhoff und Martin Treml, München 2011, S. 58 ff. (58). Vgl. zu Taubes’ Biographie und Selbsteinschätzung näher Martin Treml, „Just als Erzjude…“. Nachwort, in: Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie, Berlin 2007, S. 273 ff. 2 Vgl. Henning Ritter, Jacob Taubes. Verstehen, was da los ist, in: ders., Verehrte Denker, Springe 2012, S. 27 ff. (40): „Dies war es, was Jacob Taubes interessierte: alles aufs Judentum zu beziehen. Er pflegte sich als ,Erzjuden‘ zu bezeichnen, weil das Judentum für ihn alles war. Das ließ er freilich nicht immer merken. Denn alles hatte für ihn eine exoterische und eine esoterische Seite. Diese war das Judentum. Die Philosophie war für ihn deswegen auch nur von begrenztem Interesse. Denn wo sie ihn fesselte, sprach sie Dinge aus, die im Judentum schon auf andere Weise gewusst waren.“ 3 Vgl. zu Schmitts Antisemitismus ausführlich Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt a. M. 2000; zu seinem Einsatz für den Nationalsozialismus Reinhard Mehring, Carl Schmitt: Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009, S. 304 ff.; Bernd Rüthers, Carl Schmitt im Dritten Reich. Wissenschaft als Zeitgeist-Verstärkung?, München 1989.

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Über die Grenzen des Rechts

glänzend verstanden.“4 In jener Skizze geht es Taubes jedoch nicht um das naheliegende Motiv der religiös-weltanschaulichen, bis zur höchstmöglichen Intensität gesteigerten Differenz. Ihn interessiert die Frage nach einer offenbar sehr viel weniger existenziell entscheidenden Diskrepanz, die nicht konfessions-, sondern professionsbestimmt ist. Gefragt wird nach der eigentümlichen Perspektive des Juristen, die sich von der des Philosophen wie der des Theologen auf signifikante Art unterscheiden soll. Diese Differenz hat Taubes nach eigenem Bekunden gerade durch den Kontakt zu Schmitt erkannt, dann aber auch anerkannt: „Es ist eines, Theologe zu sein, ein zweites Philosoph, und es ist ein Drittes, Jurist zu sein. Das – hab ich im Leben erfahren – ist eine ganz andere Weise, die Welt zu begreifen. Der Jurist muß die Welt, wie sie ist, legitimieren. Das liegt in der ganzen Ausbildung, in der ganzen Vorstellung des Amtes des Juristen.“5

Auf den ersten Blick erscheint diese zuteilende Einteilung ausgesprochen plausibel. Theologie und Juristerei beziehen sich danach auf distinkte, klar voneinander abgrenzbare Gegenstandsbereiche, die jeweils spezifische soziale Funktionen erfüllen, und diesen Funktionen entsprechen jeweils eigene, ebenso spezifische Weisen der Weltsicht oder genauer, noch schärfer: der Weltkonstruktion. Analoges, also zumindest im Grundgedanken Übertragbares gilt dann auch für die Philosophie, wenngleich vielleicht weniger eindeutig, da ihre klassischen Konzeptionen durch einen stärker holistischen Ansatz geprägt waren, dessen Spezialisierung gerade in einem Unterlaufen oder traditionell gesprochen eher: Übertreffen der Spezialperspektiven besteht.6 Das ihm eigene, von den anderen abgegrenzte Verfahren des Juristen besteht demzufolge eben darin zu legitimieren, das heißt normative Gründe zu suchen, um etwas als „Recht“ oder, falls die Legitimation fehlschlägt, als „Unrecht“ klassifi4 Jacob Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, München, hrsg. v. Aleida und Jan Assmann u. a., 3., verbesserte Aufl. München 2003, S. 96. 5 Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, S. 139. 6 Vgl. für einen entsprechenden Bestimmungsansatz etwa Robert Alexy, Die Natur der Rechtsphilosophie, in: Winfried Brugger/Ulfried Neumann/Stephan Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2008, S. 11 ff. (12): „Philosophie ist allgemeine und systematische Reflexion darüber, was es gibt, was getan werden soll oder was gut ist und wie Erkenntnis von beidem möglich ist. […] Ein tiefgegründetes und zusammenstimmendes Bild von dem, was es gibt, was getan werden soll und was wir wissen können, ist die regulative Idee der Philosophie oder, einfacher gesagt, ihr letztes Ziel. Das bedeutet, dass die Philosophie notwendig holistisch ist.“

I. Einleitung

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zieren zu können. Aufgrund dieser funktionalen Spezifizierung und der ihr entsprechenden je eigenen Perspektive auf das, was „Welt“ oder „Wirklichkeit“ genannt werden mag, entstehen dann „Übersetzungskonflikte“ in Fällen, in denen die unterschiedlichen Perspektiven aufeinandertreffen und sich, etwa um einer gemeinsamen Problemlösung willen, miteinander verständigen und austauschen müssen.7 Aber stimmt die Prämisse überhaupt? Ist Taubes’ Sicht wirklich exemplarisch, vielleicht sogar verbindlich für die juristische Position? Muss, wer rechtswissenschaftlich arbeitet, die Welt legitimieren wollen, indem er ihr einen zureichenden normativen Grund verschafft? Muss der Jurist dafür, explizit oder implizit, auch das Recht legitimieren wollen? Müssen Juristen die Eigenständigkeit und Eigensinnigkeit des Rechts lieben in dem augustinischen Sinne: volo ut sis? Ist ihr begreifendes Verhältnis zur Welt notwendig durch Hygienevorschriften überformt, die geradezu zwanghaft zwischen einem unter permanentem Kontaminationsverdacht stehenden Außen- und einem von jenen Verschmutzungen rein zu haltenden Innenbereich des Rechts unterscheiden? Entspricht es tatsächlich, wie vor einigen Jahren zu lesen war, dem „Wesen des Rechts“, dass „in Abgrenzungen, nicht in Übergängen“ gedacht werden muss? 8 Oder beinhalten, umgekehrt, die juristischen Prozesse je schon sehr viel mehr die klare Grenzziehung eines Hüben und Drüben unterlaufende Schmuggelbewegungen, als die eifrigen Advokaten einer „reinen“ oder „wahren“ Rechtswissenschaft gewahr haben wollen? Müssen demnach anstelle der (oder zumindest: zusätzlich zu den) angeblich für das juristische Denken charakteristischen Abgrenzungen gerade die damit scheinbar ausgeschlossenen Übergänge und Übertragungsprozesse in den Blick genommen werden, die noch dem expliziten Übersetzungsproblem zwischen den verschiedenen Gesellschaftsbereichen und den auf diese mit ihren jeweiligen speziellen Methodenarsenalen bezogenen Wissenschaftsdisziplinen in gewissem Maße zugrunde liegen? 7 Vgl. zur Konzeption entsprechender „Übersetzungskonflikte“ näher Armin Nassehi, Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss, Hamburg 2015, S. 256 ff. 8 Peter M. Huber, Die Demontage des Öffentlichen Rechts, in: Winfried Kluth/ Martin Mu¨ ller/Andreas Peilert (Hrsg.), Wirtschaft, Verwaltung, Recht. Festschrift fu¨ r Rolf Stober zum 65. Geburtstag am 11. Juni 2008, Köln/München 2008, S. 547 ff. (556).

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Über die Grenzen des Rechts

Eben diese These möchte ich im Folgenden nicht nur aufstellen und begründen, sondern darüber hinaus das in ihr zum Ausdruck Gebrachte gewissermaßen im Vollzug demonstrieren. Statt mit Blick auf das Recht und seine Umwelt gemäß der Luhmann’schen Terminologie von Öffnung und Schließung zu sprechen, steht im Fokus der Darstellung der Begriff der Übertragung – oder genauer gesagt die Frage, inwiefern wir es dabei schon oder noch mit einem Begriff zu tun haben. Luhmanns Differenzierung wird damit nicht aufgegeben, aber in einem möglicherweise entscheidenden Sinne verschoben: An dem Befund, dass „das Rechtssystem normativ geschlossen und zugleich kognitiv offen operiert“9, muss sich nichts Grundlegendes ändern. Aber das „zugleich“ muss doppelt unterstrichen werden. Ich will weder die Rechtmäßigkeit der Grenze noch die Grenze der Rechtmäßigkeit aufheben oder für ungültig erklären. Ich verweise jedoch auf die sich ständig und vielfältig über diese Grenzen hinweg vollziehenden Schmuggelbewegungen, die die Öffnung als Schließung und die Schließung als Öffnung erscheinen lassen können.10 Wenn „Über die Grenzen des Rechts“ gesprochen werden soll, ist mit dieser Wendung also nicht nur ein bestimmtes Sujet gewissermaßen abgesteckt und bezeichnet. Der Titel ist selbst bereits zumindest ebenso sehr performativ und damit gegenüber einem möglicherweise üblicheren Verständnismodell in einem übertragenen Sinne zu lesen. Es geht nicht um jene territorialen oder sachlichen, etwa die Staatsbürgereigenschaft be9

Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1993, S. 77. Vgl. zu dieser doppelten Bewegung und den damit zusammenhängenden Problemen auch Andreas von Arnauld, Öffnung der öffentlich-rechtlichen Methode durch Internationalität und Interdisziplinarität: Erscheinungsformen, Chancen, Grenzen, in: VVDStRL 74 (2015), S. 39 ff. Zur notwendigen Komplizierung der Luhmann’schen Unterscheidung auch Thomas Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, Weilerswist 2015, S. 132, der von einem „Raum der Verflochtenheit von kulturell-formativen und rechtlich-normativen Phänomenen“ spricht und daraus folgert: „An die Stelle der systemtheoretischen Vorstellung einer operativ unüberschreitbaren Grenze tritt die Vorstellung der prinzipiellen Unvollständigkeit jeder operativen Schließung, die Vorstellung, dass eine Grenze zugleich Übergang ist, dass Grenze-Zu und Verbundenheit-Mit nur zwei Seiten derselben Medaille sind“ (S. 60). Zu den Schmuggelbewegungen, die sich innerhalb von Luhmanns Systemdenken selbst vollziehen, in Widerspruch zum oberflächlichen Postulat einer einzuhaltenden „Grenzhygiene“, Albrecht Koschorke, Die Grenzen des Systems und die Rhetorik der Systemtheorie, in: ders./Cornelia Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann, Berlin 1999, S. 49 ff. 10

I. Einleitung

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treffenden Grenzregime, die mit Hilfe des Rechts sowohl stabilisiert wie, unter spezifischen Voraussetzungen oder ganz allgemein, unter Berufung auf entsprechende menschenrechtliche Vorkehrungen, wieder labilisiert werden sollen, um Grenzüberschreitungen zu ermöglichen.11 In Frage steht auch nicht, wann das Recht „richtig“ ist, wann es mit dem eigenen Anspruch übereinstimmt. Mich interessiert vielmehr, inwiefern es diesem orthodoxen Anspruch gegenüber immer schon, zumindest ein Stück weit, verrückt ist und die eigenen Grenzziehungen unterläuft. An die Stelle der Sorge um die eine „wahre“ Rechtswissenschaft und ihr „Proprium“ tritt eine Perspektive, die noch den Propriationsprozess als juristisch-hermeneutische Zwitterkonstruktion eines stets bereits in sich verrückten Rechts begreift. Jede Definition des Rechts, die dieses in seiner Eigentümlichkeit bestimmen soll, beinhaltet danach zugleich eine De-Finition, die die begriffliche Begrenzung wieder entgrenzt, indem sie den Blick für andere, je schon mitlaufende Phänomene öffnet. In umgekehrter Perspektive gilt Entsprechendes. Kein Plädoyer für open borders, ob im Migrationsrecht oder in Gestalt des Rufs nach „Mehr Interdisziplinarität!“ in der rechtswissenschaftlichen Forschung, entgeht der Doppelbewegung von De- und Reterritorialisierung. Es affirmiert zunächst, was es im zweiten Schritt beseitigen will. Was ein derartiges Rechtsverständnis im Einzelnen besagen kann, möchte ich im Folgenden zunächst durch zwei Überlegungen zum Übertragungsgeschehen erläutern (II., III.) und dann am Beispiel des Grenztheoretikers par excellence, Carl Schmitt, der hier in seiner gleichzeitig zu beobachtenden, allerdings seltener wahrgenommenen Eigenart als Grenzverwischer oder Grenzverschieber zur Sprache kommen soll,

11 Vgl. zur Stabilisierungsfunktion der mit Hilfe des Rechts konstituierten Grenze aus juristischer Sicht etwa Klaus F. Gärditz, Die Ordnungsfunktion der Staatsgrenze: Demokratizität, Liberalität und Territorialität im Kontext, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, Paderborn 2016, S. 105 ff.; aus philosophischer Perspektive Régis Debray, Lob der Grenzen, Hamburg 2016. Für eine Argumentation zugunsten von „open borders“, die das Bürgerrecht als „mechanism for protecting a birthright privilege“ in Frage stellen und letztlich überwinden soll, Joseph Carens, The Ethics of Immigration, Oxford 2013 (v. a. „Part Two: Who Should Get In?“, S. 173 ff.). Allg. zur Bewegung der De- und Reterritorialisierung Gilles Deleuze/Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 1992, v. a. S. 429 ff.

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Über die Grenzen des Rechts

näher verdeutlichen (IV.). Ein kurzes Fazit fasst den Gedanken noch einmal zusammen (V.).

II. Übertragen, Übersetzen, Überschreiten Es soll also um Übertragungen gehen. Aber um welche genau? Wie und wodurch, woher und wohin vollzieht sich der Prozess? Was ist das darin vor allem Übertragene? Wer so fragen will, muss vorneweg konstatieren, dass sich das Wort „Übertragung“ in mehrfachem Sinne gebrauchen und verstehen und dann auf andere Gebrauchs- und Verständnisweisen übertragen lässt. Achtet man zunächst auf speziell juridische Verwendungsformen, drängt sich in rechtshistorischer Hinsicht der Gedanke an das Institut der translatio imperii auf, also an die im Mittelalter entwickelte Vorstellung einer „Übertragung des Reichs“, der gemäß jeweils ein Weltreich ein anderes ablöst. In rechtsvergleichender Perspektive liegt ein Verweis auf jene „Übertragung rechtlicher Konzepte zwischen Rechtsordnungen“12 nahe, die im angelsächsischen Bereich unter dem Stichwort der „legal transplants“ diskutiert wird.13 Am geläufigsten dürfte im juristischen Kontext die Rede von der Übertragung von Eigentum sein, die auf raffinierte Art die sinnlich-konkrete Übergabe eines Objekts (bzw. deren unterschiedliche Surrogatformen) mit der Idee kombiniert, dass zugleich mit diesem Vorgang eine unsinnliche, nur intelligibel fassbare Rechtsposition übertragen wird. Entsprechend lassen sich mit Hilfe des Rechts auch andere unkörperliche Dinge übertragen, etwa Forderungen oder Ämter. Das Verständnis der Übertragung ist aber natürlich nicht auf die juristischen Kontexte limitiert. Im Gegenteil: Der Begriff findet auch außerhalb des Rechts vielfältige Verwendung. Sprachliche Phänomene wie Metaphern, Metaphrasen und Metonymien sind von ihm ebenso umfasst wie der Transport von Informationen und die Medien, die zu dieser Übermittlung eingesetzt werden. Den Transfer zur Translation perfek12

Uwe Kischel, Rechtsvergleichung, München 2015, § 1 Rn. 32. Vgl. Alan Watson, Legal Transplants – An Approach to Comparative Law, Georgia, 2. Aufl. 1993. Ganz analog spricht Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, S. 117, von einer „Migration von Grundrechten in das transnationale Feld“. 13

II. Übertragen, Übersetzen, Überschreiten

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tionierend, umfasst der Terminus ferner die Übersetzung von einer in eine andere Sprache. Der Vorgang des Übertragens und der Übertrag lassen sich aber auch als buchhalterische Verfahren verstehen, das heißt als Festhalten des Ergebnisses einer Kalkulation, die für weitere Rechenoperationen vorgehalten wird. Nicht zuletzt hat der Begriff eine klare technische Konnotation aus dem Bereich der Psychoanalyse, wo er die unvermeidbare affektive Rückkopplung in der Beziehung von Analysand und Analysant benennt.14 Was besagt das für die (Selbst-)Abgrenzung der juridischen Sphäre? Welche Bedeutung lässt sich dem Übertragungsvorgang in diesem Verwendungskontext zusprechen? Kann man dafür Einsichten aus den außerjuristischen Verwendungsweisen übertragen? Deutlich geworden sollte jedenfalls sein, dass es nicht nur möglich ist, das Wort „Übertragung“ aus unterschiedlichen Kontexten in die juristischen Verwendungszusammenhänge zu transferieren. Das Wort muss auf die eine oder andere Weise zu den vielfältigen Weisen des Übertragens ins Verhältnis gesetzt werden – etwa indem man die Metaphorizität der Sprechweise hervorhebt, wenn von „legal transplants“ die Rede ist, oder auch nur, indem man die Übertragbarkeit einzelner außerjuridischer Bedeutungsvarianten negiert. Dieser Aspekt lässt sich verallgemeinern, also in ein erweitertes Register übertragen. Für eine Wissenschaft, die sich auf die Präzision ihrer Begriffsbildung so viel einbildet, ist der Metaphernreichtum der Jurisprudenz bemerkenswert.15 Er fängt beim Corpus Iuris an und hört bei den Rechtsquellen noch lange nicht auf. Ein wahrer Metaphernregen geht dort nieder, wo ausdrücklich die Grenzen und Grenzkommunikationen des Rechts thematisiert werden: Hier ist etwa die Rede von Schleusen-, Schlüssel- oder Brückenbegriffen.16 Paradigmatisch für den Übertra14 Vgl. Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. XI, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1961, S. 447 ff. 15 Vgl. als instruktiven Überblick etwa Hubert Rottleuthner, Biological Metaphors in Legal Thought, in: Gunther Teubner (Hrsg.), Autopoietic Law. A New Approach to Law and Society, Berlin/New York 1988, S. 97 ff.; Laura Münkler, Metaphern im Recht. Zur Bedeutung organischer Vorstellungen von Staat und Recht, Der Staat 55 (2016), S. 181 ff. Ausführlicher Jörg Michael Schindler, Rechtsmetaphorologie – Ausblick auf eine Metaphorologie der Grundrechte. Eine Untersuchung zu Begriff, Funktion und Analyse rechtswissenschaftlicher Metaphern, Berlin 2016. 16 Vgl. zum Schleusenbegriff Ernst-Wolfgang Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zu

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gungsprozess, der vom konkret sinnlichen Phänomen zur abstrakten Bedeutung überleitet, erscheint die Rede von der Rechtsbindung: Was für das moderne Verständnis eine allgemeine Qualität des Rechts ausmacht, wird im Zwölftafelgesetz noch mit Blick auf das maximal zulässige Gewicht der „Riemen oder Fußketten“ bestimmt, die dem säumigen Schuldner auf dem Weg zum Gericht anzulegen sind.17 Die Übertragung (qua Metapher) und auch die Übertragung der Übertragung bleiben demnach dem Recht gegenüber nicht äußerlich. Sie prägen seine (vorgeblich höchst eigenen) Konzepte und Verfahren. Deswegen können sie nicht einfach zugunsten einer „präziseren“, stärker begrifflichen Sprache vermieden werden. Reinheit, Klarheit und Eindeutigkeit der Begriffe, mitsamt ihrer eindeutigen Abgrenzbarkeit von den Metaphern, sind eine Fiktion, die sich selbst offenbar kaum anders als metaphorisch ausdrücken lässt18 und daher ihrerseits als Übertragungsakt zu begreifen ist.19 Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, S. 143 ff. (143 f.); zu den Schlüsselbegriffen Susanne Baer, Schlüsselbegriffe, Typen und Leitbilder als Erkenntnismittel und ihr Verhältnis zur Rechtsdogmatik, in: Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, Baden-Baden 2004, S. 223 ff.; zum Brückenmotiv (als „Brückenmethoden“, „Brückenbegriffe“, „Brückendaten“ und „Brückentheorien“) Wolfgang Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, S. 9 ff. (61 f.). 17 Vgl. Dieter Flach/Andreas Flach (Hrsg.), Das Zwölftafelgesetz, Darmstadt 2004, III, 1 – 3, S. 70 f.; dazu auch Sebastian Gießmann, Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke, Berlin 2014, S. 50 f. 18 Vgl. prägnant dazu Georg Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, Wien 1882, S. 15: „Die Begriffe, nach welchen wir suchen, müssen aber scharf, bestimmt, fest und gegeneinander streng abgegrenzt sein. Bis auf den heutigen Tag hört man immer wieder, dass die Grenzen zwischen Staatenbund und Bundesstaat fliessend sind, dass es mannigfaltige Uebergänge in den Staatenverbindungen von der einfachen Allianz bis zum Einheitsstaate gibt. Auch diese Behauptung ist die Folge einer Verwechslung politischer mit juristischen Gesichtspunkten. Rechtsbegriffe sind allemal kantig, das Verschwimmen des einen in den anderen wäre der Tod der Wissenschaft, der Tod des Rechtslebens. […] Das ist ja eben das Wesen des Rechts, dass es die fliessenden Verhältnisse des Lebens durch feste Begriffe gegeneinander abgrenzt. Wo die Begriffe einmal anfangen, in den heraklitischen Fluss der Dinge zu gerathen, da hat die Jurisprudenz ihr Feld verloren.“ 19 Vgl. zu einer dementsprechend für die Jurisprudenz charakteristisch zweideutigen „Rhetorik des Antirhetorischen“ Christoph Schönberger, Carl Schmitts literarische Jurisprudenz, Merkur 70 (2016), S. 89 ff. (91 f.). Zur Problematik des Klarheitsbegehrens auch Ino Augsberg, Sätze Setzen Gesetz, in: Jens Kersten/Inka

III. Metapher und Begriff

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III. Metapher und Begriff Übertragungen und Übertragung der Übertragung sind also kaum zu verhindern. Darin liegt zugleich ein Hinweis darauf, dass die an sich naheliegende Frage, was genau im Prozess der Übertragung übertragen wird, schwer zu beantworten sein dürfte: Wie kann man feststellen, wann in einem bloß „übertragenen“ und wann in einem buchstäblichen Sinn von Übertragungen gehandelt wird, wenn die Übertragung der Übertragung selbst in Frage steht, also die Übertragung nicht nur einen ihr äußerlich bleibenden Gegenstand, sondern (auch) sich selbst überträgt? Übertragung, so viel wenigstens scheint festzustehen, ist nie in dem Sinne gänzlich abgeschlossen, dass das Übertragene sicher und unbeschadet sein Ziel erreicht. Stets ist etwas lost in translation, und zugleich kommt etwas hinzu. Der Prozess, in welchem semantischen Kontext auch immer loziert, kann nicht als eindimensional-lineare Bewegung verstanden werden, bei der etwas vorab Feststehendes auf etwas anderes, dadurch in seiner Eigenheit erst Entstehendes übertragen wird. Der Vorgang muss mit Rückkopplungseffekten rechnen, die den scheinbar gewissen Ausgangspunkt erst im Licht des entstandenen neuen Phänomens erkennbar werden lassen. Keine Übertragung ohne Gegenübertragung. Nicht nur das notorisch heikle Beispiel der psychoanalytischen Therapiesituation, sondern vor allem die Übertragung als Übersetzung macht das deutlich. Ihre Aufgabe hat Franz Rosenzweig präzise dadurch charakterisiert, dass nicht „das Fremde einzudeutschen, sondern das Deutsche umzufremden“ ist.20 Übertragung heißt danach ein Vorgang, der die Grenze zwischen Eigenem und Fremdem zugleich bestätigt und unterläuft und damit als stets prekär bleibend ausweist, weil er sie nicht nur als Limitierung, sondern ebenso als Passage begreift. Übertragen bezeichnet, im systemtheoretischen Jargon formuliert, einen double-bind-Prozess. Die Tradition hätte vielleicht von Dialektik gesprochen: Die so verstandene Übertragung benennt einen Widerspruch, der nicht als bloßes Denkverbot

Mülder-Bach/Martin Zimmermann (Hrsg.), Prosa schreiben. Literatur – Geschichte – Recht, München 2019, S. 55 ff. 20 Franz Rosenzweig, Nachwort zu den Hymnen und Gedichten des Jehuda Halevi, in: ders., Die Schrift. Aufsätze, Übertragungen und Briefe, Frankfurt a. M. o. J. (1964), S. 81 ff. (83).

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die Bewegung anhält, sondern sie im Gegenteil immer weiter antreibt. Dialektisch heißt ein Denken, das gegen sich selbst andenkt.21 Auch am Konzept der Metapher lässt sich dieses dialektische Moment zeigen: So sehr sie in ihrer klassisch aristotelischen Begriffsbestimmung auf eine ursprüngliche, eigentliche, dann sukzessive entfremdete Bedeutung rekurriert, also als Ableitungsphänomen erscheint, so sehr lässt sich umgekehrt die Abstraktionsleistung des Begriffs als das gegenüber der sinnlichen Erfahrung und ihrem sprachlichen Pendant sekundäre Moment bezeichnen. „Aus der sinnlichen Bedeutung hat sich das Geistige als damit analog hervorgearbeitet“, heißt es in einer Nachschrift zu Hegels Vorlesung über die „Philosophie der Kunst“ aus dem Sommersemester 1823, die wie zum Beweis der Selbstbezüglichkeit des ganzen Prozesses als Beispiel für diese Bewegung den Begriff des Begreifens nennt.22 Hegels Versuch, trotz jener zunächst konstatierten Herkunft dann dennoch die Autonomie des Begriffs zu retten, indem dessen vollständige Emanzipation von seinen sinnlichen Ursprüngen (und damit von seinem eigenen metaphorischen Gehalt) behauptet wird, kommt etwas geradezu performativ Widersprüchliches zu, bei dem das Sagen den assertorischen Gehalt des Gesagten unterläuft. Die Rede vom Begriff subvertiert dessen Anspruch, das kon-

21 Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 6, Frankfurt a. M. 1977, S. 144. 22 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho. Hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert, in: ders., Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 2, Hamburg 1998, S. 146 f. In den beiden unmittelbar davorstehenden Sätzen heißt es noch deutlicher: „Die Sprache selbst ist metaphorisch. Z. B. das Wort ,Begreifen‘, ,Fassen‘.“ In Hothos Kompilation der Ästhetikvorlesung liest sich das deutlich vorsichtiger; die Entwicklungsrichtung wird aber auch hier deutlich: „jede Sprache [hat] an sich selber eine Menge Metaphern. Sie entstehn dadurch, daß ein Wort, welches zunächst nur etwas ganz Sinnliches bedeutet, auf Geistiges übertragen wird. ,Fassen, Begreifen‘ überhaupt viele Wörter, die sich auf das Wissen beziehn, haben in Rücksicht auf ihre eigentliche Bedeutung einen ganz sinnlichen Inhalt, der sodann aber verlassen und mit einer geistigen Bedeutung vertauscht wird; der erste Sinn ist sinnlich, der zweite geistig“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Erster Band, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hrsg. v. Hermann Glockner, Bd. 12, Stuttgart, 5. Aufl. 1971, S. 535). Ähnlich auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Kunst. Vorlesung von 1826, hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert, Jeong-Im Kwon und Karsten Berr, München 2005, S. 139 f., wo beide Übertragungsrichtungen gleichberechtigt nebeneinander genannt werden.

III. Metapher und Begriff

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sequente Gegenmodell zur Metapher zu bilden. „Nach und nach“, so Hegel, „verschwindet das Metaphorische im Gebrauche eines solchen Wortes, das sich durch die Gewohnheit aus einem uneigentlichen zu dem eigentlichen Ausdruck umwandelt, indem Bild und Bedeutung dann bei der Geläufigkeit, in jenem nur diese aufzufassen, sich nicht mehr unterscheiden, und das Bild uns statt einer konkreten Anschauung nur unmittelbar die abstrakte Bedeutung selber giebt. Wenn wir z. B. ,begreifen‘ im geistigen Sinne nehmen sollen, so fällt es uns in keiner Beziehung ein, dabei noch irgend an das sinnliche Anfassen mit der Hand zu denken.“23

Die Übertragung als Metapher funktioniert somit nicht nur in beide Richtungen; auch die dominierende, den Weg vom angeblich eigentlichen zum uneigentlichen, bloß abgeleiteten Sprachgebrauch weisende Richtung bleibt konstitutiv unsicher. Ob die metaphorische Rede eigentlich ein Sprechen im übertragenen oder im wortwörtlichen Sinn meint, lässt sich schwer sagen. Übertragungen überlagern und überkreuzen sich auf eine Weise, die die schlichte Zuschreibung einer einfachen Bewegungsrichtung von-zu unmöglich macht. Gerade anhand der juristischen Sprachpraxis wird das sichtbar. Nicht nur prägen zahllose Metaphern das Recht. Vielmehr gilt ebenso umgekehrt, dass das Verständnis der Metapher von seinen Ursprüngen an normativ geprägt ist. In dem traditionell vorherrschenden topologischen Modell ist der „Übertragungsakt ein Akt des Ersetzens, des Borgens, Entlehnens und Entfremdens, ein Akt der Enteignung. Daher verwundert es nicht, dass die Metapher geradezu moralisch kritisiert werden konnte.“24 Die Übertragung erscheint als Übertretung eines Gesetzes, das den Übergriff vom Eigenen auf das Fremde, dem anderen Zugehörige, untersagt. Doch auch zu dieser Lesart findet sich in der modernen Metaphorologie die umgekehrte Perspektive, die statt des illegal grenzüberschreitenden den grenzsetzenden Charakter des metaphorischen Geschehens hervorhebt. Er soll dort zutage treten, wo die Metapher als eine Art Vorform des Begriffs zum Thema wird. Das Präfix „Vor-“ erhält dabei nicht nur eine im chronologischen oder topologischen Sinn deskriptive Bedeutung zugewiesen. Es wird – in einem Übertragungsakt – zugleich 23 24

Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Erster Band, S. 535. Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, 6. Aufl., Göttingen 2009, S. 9.

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präskriptiv aufgeladen. Der „Raum der Metapher“ bildet gegenüber dem Begriff „nicht dessen bloßes, sich selbst im Prozeß aufzehrendes genetisches Vorfeld“25 – das wäre die zitierte Hegel’sche Sicht. Die Metapher bleibt dem Begriff qua „vorgreifender Orientierung“26 vielmehr auch normativ vorgeordnet. „Insofern sich die begriffliche Ausarbeitung nur innerhalb des von der Metapher vorgezeichneten Entwurfs bewegt, wird die Metapher ,zur Norm der Begrifflichkeit‘“27. Sie bildet einen Vorgriff, den der ihm entstammende Begriff nie zur Gänze hinter sich lassen kann. Auch normativ funktioniert die Übertragung demnach in beide Richtungen. Auf paradoxe Weise bestätigt und unterläuft sie die Grenze, indem sie sie in beide Richtungen überquert.

IV. Schmitts Sprachverständnis Übertragungen lassen sich also nicht vermeiden. Sie ragen ebenso in die rechtlichen Prozesse hinein wie diese in jene, und unterlaufen damit alle noch so scharf auftretenden Abgrenzungsstrategien. Am Beispiel jenes Autors, der sich selbst stets als „Berufsjurist“ verstanden hat und als solcher für Taubes zum Paradigma der dezidiert juridischen Perspektive wurde, Carl Schmitt, lässt sich das studieren. Konträr zu dem bekannten Bild von dem Autor Schmitt, der vor allem durch den schneidig-apodiktischen Tonfall seiner Werke berühmt geworden ist, das heißt durch seine scheinbar messerscharfe Diktion, die sich in ebensolchen Definitionen artikuliert, möchte ich anhand von zwei Konstellationen zeigen, dass gerade Schmitt ein Verständnis entwickelt hat, demzufolge sich Sprache – auch die Sprache der Juristen – wesentlich durch unhintergehbare Übertragungsprozesse bestimmt. 25 Hans Blumenberg, Beobachtungen an Metaphern, Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), S. 161 ff. (171). Vgl. zur Metapher als „katalysatorische Sphäre, an der sich zwar ständig die Begriffswelt bereichert, aber ohne diesen fundierenden Bestand dabei aufzuzehren und umzuwandeln“, auch ders., Paradigmen zu einer Metaphorologie. Kommentar von Anselm Haverkamp unter Mitarbeit von Dirk Mende und Mariele Nientied, Berlin 2013, S. 15. 26 Blumenberg, Beobachtungen an Metaphern, S. 171. 27 Dirk Mende, Metapher – Zwischen Metaphysik und Archäologie. Schelling, Heidegger, Derrida, Blumenberg, München 2013, S. 225; das Binnenzitat aus Blumenberg, Beobachtungen an Metaphern, S. 171.

IV. Schmitts Sprachverständnis

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1. Ra(um) – Reim – Rom Die erste Konstellation, in der dieses Verständnis deutlich wird, ist Schmitts Auseinandersetzung mit dem Werk Theodor Däublers. Die kleine Schrift über Däublers 1910 erstmals erschienenes dreibändiges Versepos „Das Nordlicht“ gehört zu Schmitts frühesten Veröffentlichungen.28 Einem heutigen Leser des „Nordlichts“ dürfte sich die Faszination, die der Text im jungen Schmitt auslöste, nicht allzu rasch erschließen.29 Das liegt weniger am Text selbst, auch wenn dieser in seiner konventionellen Kreuzreim-Konstruktion, vergleicht man ihn mit den nur wenige Jahre später erfolgenden Experimenten, etwa den „Lautgedichten“ des jungen Hugo Ball, auf den ersten Blick nicht sonderlich avantgardistisch oder gar epochal erscheint. Es liegt vor allem an Schmitts Perspektive auf den Text. Was Schmitt am „Nordlicht“ interessiert, sind Assoziationen, Verknüpfungen innerhalb der Sprache, die durch die Zeichen selbst, nicht, wie es dem üblicheren Verständnis entsprechen mag, durch angebliche 28 Carl Schmitt, Theodor Däublers „Nordlicht“. Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes, München 1916 (Nachdruck Berlin 1991), S. 46. Vgl. zu diesem Buch und seiner Bedeutung für Schmitt bereits Nicolaus Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, München 1991, S. 122 ff., v. a. 123: „Kurz vor seinem Tode noch sagte Schmitt dem Verfasser peremptorisch: ,Kein Mensch darf über mich schreiben, der mein „Nordlicht“Buch nicht gelesen hat‘.“ Ferner Gabriele Stumpp, Ex poesia salus? Carl Schmitt und die Literatur, abrufbar unter: http://www.desk.c.u-tokyo.ac.jp/download/es_4_ Stumpp.pdf; sowie Linjing Liang, Carl Schmitt als Literaturkritiker. Eine metakritische Untersuchung, Diss. Heideberg 2013, abrufbar unter http://archiv.ub.uniheidelberg.de/volltextserver/15770/1/Dissertation.pdf, S. 31 ff. Wie wichtig Schmitt selbst seine kleine Schrift war, zeigt sich auch daran, dass er sie noch in späten Jahren neuen Bekannten zur Lektüre empfahl oder gleich sein eigenes Exemplar des Werkes auslieh. Vgl. aus seinen Briefwechseln etwa Carl Schmitt, Brief an Jacob Taubes vom 24. November 1978, in: Taubes – Schmitt, Briefwechsel mit Materialien, S. 78 f. (78); Carl Schmitt, Brief an Hans Blumenberg vom 9. Dezember 1975, in: Hans Blumenberg – Carl Schmitt, Briefwechsel 1971 – 1978 und weitere Materialien, hrsg. v. Alexander Schmitz und Marcel Lepper, Frankfurt a. M. 2007, S. 142 f.; sowie Reinhart Koselleck, Brief an Carl Schmitt vom 18. November 1979, in: ders./Carl Schmitt, Der Briefwechsel 1953 – 1983 und weitere Materialien, hrsg. v. Jan Eike Dunkhase, Berlin 2019, S. 338 ff. 29 Vgl. Stumpp, Ex poesia salus?, S. 57: „Es fällt heute schwer, seine Begeisterung für Theodor Däublers Opus zu teilen. Auch dem gutwilligen Leser erscheint das ,Nordlicht‘ wegen seiner unzähligen Sprachmanierismen und Neologismen als ein ungenießbarer, oft unfreiwillig komischer Wust.“

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Ähnlichkeiten im Bereich des Bezeichneten gestiftet werden. Sein Sprachverständnis ist, trotz eines offensichtlich phonozentrischen Ansatzes, der den „ganze[n] Vortrag“ als „nur für das Ohr und das innere, Farben und Beziehungen erkennende, nicht für das Buchstaben lesende Auge bestimmt“30, eher semiotisch als symbolisch. Entsprechend sind die ihn an Däublers Text faszinierenden, in die Wörter selbst eingetragenen und deswegen für den üblichen zeichendecodierenden Blick klandestinen Übertragungsprozesse eher metonymisch als im klassischen Sinn metaphorisch zu nennen: ein heimlicher Verkehr der Wörter untereinander. Schmitt betont am „Nordlicht“ seinen nicht-referenziellen, dem üblichen Verständnis von Sprache als Kommunikationsmedium entgegengesetzten Sinn: Die Bedeutung des Texts beruht in der darin vollzogenen „Umschaffung der Sprache zu einem rein künstlerischen Mittel“31, das sich als solches der „Sprache des täglichen Lebens“, die „durch den Zweck [beherrscht wird]: sich einem andern verständlich zu machen“32, entgegenstellt. „Für den, der im Ernst alle künstlerische Wirkung aus der Sprache herausholen will, werden Assonanzen, Reime, Alliterationen das Ein und Alles, der Ausdruck ihrer wesentlichen Schönheit, eine herrliche Absage an den Naturalismus des alltäglichen Verständigungsmittels.“33

Paradigma dieses Verfahrens ist für Schmitt Däublers Umgang mit einer einzelnen Silbe, die gerade nicht primär in ihrer isolierten, als solche semantisch klar bestimmbaren Gestalt, sondern ihren unterschiedlichsten Einbindungen, Umkehrungen, Verrückungen, verwendet wird. „Das sozusagen grundsätzlichste Beispiel der Sprache des ,Nordlichts‘ liegt in der Verwertung des ,Ra‘ als Laut. ,Ra‘ bedeutet den ägyptischen Sonnengott. Aber Ra ist der furchtbare, mystische Schrei, den die Menschheit in der höchsten Not des Kataklisma ausstößt: Kolossale Bergesrachen, Seh ich ganze Meere spein. Alles muß zusammenkrachen, Und die Menschheit hör ich schrein: ,Ra‘ Als ein Echo ohne Ende 30 31 32 33

Schmitt, Theodor Däublers „Nordlicht“, S. 46. Schmitt, Theodor Däublers „Nordlicht“, S. 40. Schmitt, Theodor Däublers „Nordlicht“, S. 43. Schmitt, Theodor Däublers „Nordlicht“, S. 47.

IV. Schmitts Sprachverständnis

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Hat der Schrei nun fortgegellt. Wenn die ganze Welt verschwände, Dieser Schrei blieb als die Welt! II, S. 28. Ra ist wiederzuerkennen in den Worten ,Sahara‘, ,Iran‘, ,Ararat‘, ,Tartarus‘. Es ist ein Reservoir von Gedanken- und Klangwerten“34.

Nicht zuletzt taucht das „Ra“, das zunächst an einen krächzenden Tierlaut gemahnt (und damit nicht nur den ganzen Bereich der Onomatopoetik advoziert, sondern zumal das umfangreiche Arsenal von Raben, Krähen und Dohlen, samt ihrer Übersetzungen in anderen Sprachen, aufruft, das die Literatur durchzieht), auch in dem Wort auf, das das gesamte hier interessierende Themenfeld benennt. Es ragt in all jene Fragen hinein, die sich der „Sprache“ als solcher (und der durch sie in Gang gesetzten Übertragungsprozesse) widmen. „Ra“ steht exemplarisch für ein Verständnis, in dem die Sprache sich nicht zugunsten einer von ihr transportierten Botschaft zurückzieht, sondern selbst noch einmal zur Sprache kommt.35

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Schmitt, Theodor Däublers „Nordlicht“, S. 43 f. Vgl. dazu prägnant Stumpp, Ex poesia salus?, S. 60: „Die Wiederkehr des ,ra‘ in den unterschiedlichen Signifikanten knüpft zwischen ihren Signifikaten ein Netz überraschender und ominöser Beziehungen. Einmal für die Distribution von ,ra‘ sensibilisiert, springt dieser Laut dem Leser auch in Schmitts eigenem Vokabular wie z. B. in ,Kraft‘, ,Sprache‘ (Nl, 45), ,prachtvolle Bilder‘ (Nl, 46), ins Auge, wodurch sich der Text der Studie mit dem des ,Nordlichts‘ selbst verwebt und wieder den Effekt einer Indifferenzierung produziert. Wie das Beispiel ,Tartarus‘ zeigt, wird das Augenmerk aber nicht nur auf die Iteration des ,ra‘ gelenkt, sondern auch auf den Umkehrlaut ,ar‘, exemplarisch in Däublers Vers: „,Gar furchtbar sind des Wasserdrachens Brandungskrallen‘“ (Nl, 46). Die Opposition von ,ra‘ und ,ar‘ lässt sich auf Schritt und Tritt entdecken, sowohl in der exaltierten Zeile: „der Ra-Wallfahrt alle Altare erraffen“ als auch in ,Sahara‘/ ,Sahara‘ und ,Ar ar at‘ / ,A rara t‘, die einer doppelten Aufspaltung unterzogen werden können. Wegen der Schlüsselrolle, die dem Ararat im ,Nordlicht‘ als Kulminationspunkt zyklischer Menschheitskatastrophen und -erneuerungen zukommt, macht das Ineinander von ,ar‘ und ,ra‘ eine Art coincidentia oppositorum sinnfällig, die für das Ende wie den Neuanfang steht, so dass hier tatsächlich die Sprache aus sich selbst eine eigene Bedeutungsfülle hervortreibt.“ Zur Interpretation des „Ra“ als „sprachliche[s] Signet des männlichen Prinzips“ Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, S. 134 ff., der damit hier wie in seiner gesamten Interpretation, der Insistenz auf dem „Ra-Wahn“ und der parallel geschalteten Analyse des „Urlautes ,u‘“ (vgl. a.a.O., S. 142 f.) bei Däubler wie zum Trotz, letztlich vorrangig den semantischen Gehalt des Textes, und 35

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Dass dieses Sprachverständnis weder bloß einer Frühphase des Schmitt’schen Denkens zuzurechnen ist noch sich auf den künstlerischen Gebrauch von Sprache reduzieren lässt, zeigt ein Blick in jenes Werk, dessen Kapitel teilweise während Schmitts Internierung im US-Camp Berlin-Wannsee entstanden sind, also in einer Situation, in der die Themen Grenze und Übersetzung in besonderem Maße relevant waren. Auf den letzten Seiten von „Ex Captivitate Salus“ nimmt Schmitt erneut auf Däubler Bezug und demonstriert so, dass die Frühschrift für ihn noch immer hohe Bedeutung hat.36 Und wieder zeigt sich im Kontext der Auseinandersetzung ein Sprachmodell, das auf der Ähnlichkeit nicht der bezeichneten Phänomene, sondern der Silben und Phoneme insistiert und den zur Deutung einladenden, aber auch dazu zwingenden Charakter der Sprache hervorhebt. Hatte Schmitt schon mit Bezug auf das „Nordlicht“ betont, dass „in dieser hemmungslosen Hingabe an den Sprachklang die gedankliche Richtigkeit immer gewahrt bleibt und gerade da die tiefsten Gedanken entstehen, wo die Sprache nicht nur sich selber singt und malt, sondern auch sich selber denkt“37, zieht er nun die Konsequenz, ein entsprechendes Verfahren auch für das eigene Denken zum Einsatz zu bringen. Der reine Binnenreim zwischen dem Eigennamen eines griechischen Gottes und einem deutschen Begriff öffnet den Raum für Assoziationen, die über die dem Alltagsverständnis evidente inhaltliche Differenz der Phänomene hinausweisen. nicht die Eigenvalenz des sprachlichen Geschehens, in den Vordergrund seiner Analyse stellt. 36 Vgl. zu Schmitts bleibender Wertschätzung für Däubler ferner bereits eine frühere Stelle im genannten Werk: Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, Köln 1950, S. 46, wo Däubler als ein „ungepflegte[r] Koloß“ bezeichnet wird, der „ein Genius europäischer Sensibilität, ein Genius der Sprachen, wie es nur ein Illyrer sein kann“, gewesen sei. Ähnlich auch eine Ende 1949 verfasste Eintragung im „Glossarium“: „In Frankreich hat André Gide die berühmte Antwort auf die Frage nach dem größten Dichter gegeben: Victor Hugo, hélas. In Deutschland würde es keiner begreifen, wenn ich antwortete: Der größte moderne Dichter ist Theodor Däubler, hélas“ (Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947 – 1951, hrsg. v. Eberhard Freiherr von Medem, Berlin 1991, S. 257). Äußerst instruktiv ist außerdem eine ebenfalls in das „Glossarium“ aufgenommene Aufzeichnung aus dem Juni 1948, in der Schmitt seine ambivalente Rückschau auf die eigene Beschäftigung mit Däubler notiert: „Vor 32 Jahren habe ich über Däublers Nordlicht eine Broschüre veröffentlicht, die ich 1925 habe einstampfen lassen. Heute begegnet er mir mit großer Gewalt von Neuem und in der Broschüre stehen ganz andere Dinge als ich damals dachte“ (a.a.O., S. 171). 37 Schmitt, Theodor Däublers „Nordlicht“, S. 44 f.

IV. Schmitts Sprachverständnis

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„Der Plan erscheint, und Pan hört auf zu schmunzeln. Der Pan versinkt, der Plan tritt auf den Plan. Schönes Beispiel der immanenten Orakelhaftigkeit unserer deutschen Sprache.“38

Noch im Parareim zum Wort „Reim“ erkennt Schmitt ein beredtes Zeugnis der Sprache, die in ihren verlautbarten Verknüpfungen selbst zur Sprache kommt. Wenngleich auch hier zunächst ein akustischer Zugang vorherrscht, also Sprache als Klanggebilde, in ihrer vokalischen Dimension, im Vordergrund steht, enthalten Schmitts Aufzeichnungen subkutan nun aber noch eine weitere Perspektive: Die behauptete Identität der Wörter nicht wegen, sondern trotz ihres offenkundig unterschiedlichen Klangs setzt ein Verständnis voraus, das nicht allein über den phonetischen Zusammenhang hinaus die Zeichengestalt als vorrangig erachtet, sondern dabei sogar, implizit, auf das Modell einer reinen Konsonantenschrift rekurriert. Aus der einsamen Stille der Zelle heraus wird nun doch auch das „Buchstaben lesende Auge“ adressiert. „Plötzlich überkommt mich die Ruhe, die den Sinn der Worte birgt. Raum und Rom ist dasselbe Wort. Wunderbar ist die Raumkraft und die Keimkraft der deutschen Sprache. Sie hat es zustande gebracht, daß Wort und Ort sich reimen. Sie hat sogar dem Worte Reim seinen Raum-Sinn bewahrt und erlaubt ihren Dichtern das dunkle Spiel von Reim und Heimat.“39

Schmitts Sprachverständnis ist damit auf eine vielleicht für das gesamte Werk charakteristische Weise ambivalent. Auf der einen Seite finden sich explizite Passagen, die den phonozentrischen Gehalt mehr als deutlich unterstreichen. So heißt es etwa in dem bereits im Titel den akustischen Zugang betonenden, zuerst in dem Gedenkbuch für den aufgrund einer

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Schmitt, Ex Captivitate Salus, S. 83. Vgl. zum Schreckensruf „Der große Pan ist tot!“ bereits Schmitt, Theodor Däublers „Nordlicht“, S. 54. Nur wenige Seiten zuvor (S. 51 f.) beschreibt Schmitt das Verhältnis des Schwaben Däubler zu seinem berühmten Landsmann Hegel und dessen „Panlogismus“, der „im Grunde nur Glaube, der Glaube an das menschliche Denken“, sei. 39 Schmitt, Ex Captivitate Salus, S. 90 f. Vgl. zur behaupteten Identität von Raum und Rom auch ders., Raum und Rom – Zur Phonetik des Wortes Raum, in: ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916 – 1969, hrsg. v. Günter Maschke, Berlin 1995, S. 491 ff. (491): „Ich bin sicher, daß Raum und Rom dasselbe Wort ist.“ Dazu Dagmar Stöferle, Raum (Carl Schmitt), in: Judith Kasper/ Cornelia Wild (Hrsg.), Rom rückwärts. Europäische Übertragungsschicksale, München 2015, S. 75 ff.

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Schussverletzung erblindeten Bankier Wilhelm Ahlmann erschienenen kleinen Aufsatz „Zur Phonetik des Wortes ,Raum‘“40: „[E]s bleibt nun einmal dabei, daß ein Wort nur durch seinen Laut körperliche und leibliche Wirklichkeit erlangt. Ein Wort hat seinen ersten sinnfälligen Raum in Laut und Klang, und erst seine weiteren ,Räume‘ sind seelischer und gedanklicher Art. Das Wort gehört primär zu einem akustischen Raum.“41

Entsprechend scheint auch noch die Würdigung von Däubler in dieses Register zu gehören, wenn an ihm gerühmt wird, erst durch diesen Dichter (und nicht etwa Stefan George oder Rainer Maria Rilke) sei „die deutsche Sprache zu dem reinen Wunderinstrument einer neuen Tonalität geworden.“42 Konzentriert man sich auf der anderen Seite aber einmal nicht darauf, was Schmitt sagt, also darauf, wie er sich selbst und das eigene Verfahren erklärt, sondern auf das, was im Text tatsächlich geschieht, verändert sich die Perspektive. Nur wenige Zeilen nach dem ausdrücklichen Bekenntnis zum Primat des Akustischen finden sich Ausführungen, die nicht nur wiederum „Rom“ und „Raum“ in engste Beziehung setzen, sondern nunmehr zudem einen Zusammenhang mit dem Wort „Meer“ herstellen.43 Hier spätestens wird die (unvollkommene) anagrammatische Umkehrung, die beim Übergang von „Ra“ zu „ar“ noch klanglich nachempfunden werden konnte,44 zu einem Phänomen, das stärker graphische als phonetische Züge trägt (obwohl Schmitt auch hier auf der phonetischen Dimension zu beharren scheint, wenn er die „volle Mitte“ aufgrund des Diphtongs im Wort „Raum“ der „leeren Mitte“ im „Meer“ kontrastiert45).

40 Carl Schmitt, Zur Phonetik des Wortes „Raum“, in: Tymbos für Wilhelm Ahlmann. Ein Gedenkbuch. Herausgegeben von seinen Freunden, Berlin 1951, S. 241 ff.; wiederabgedruckt unter dem Titel „Raum und Rom – Zur Phonetik des Wortes Raum“. 41 Schmitt, Raum und Rom, S. 492. 42 Schmitt, Ex Captivitate Salus, S. 47. 43 Vgl. Schmitt, Raum und Rom, S. 492 f. 44 Vgl. Schmitt, Theodor Däublers „Nordlicht“, S. 47: „Die Vorliebe für Worte wie ,gar‘, ,trachten‘ erklärt sich aus der völligen Hingabe an den Sprachklang und die Farbe der Worte.“ 45 Vgl. Schmitt, Raum und Rom, S. 492 f. Ebenfalls noch an der (bloß) phonetischen Nähe setzt die psychoanalytisch inspirierte Interpretation von Nicolaus Sombart an, der Schmitts Rede von einem „retour à la mer“ mit der nahezu ho-

IV. Schmitts Sprachverständnis

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Wer nur von „Carl Schmitts Phono-Zentrismus“46 oder gar seiner „Phonomanie“47 spricht, ihm einen „Begriffs-Realismus“ unterstellt, dem zufolge „die Wahrheit im gesprochenen Wort und nicht in der Sache zu Hause“48 ist und entsprechend auch auf die im engeren Sinne juristischen Prozesse bezogen konstatiert, dass „Schmitts Texte eine Abwertung, wenn nicht Ausschaltung aller nicht-oralen, nicht-auditiven Vermittlungsinstanzen des Rechts [intendieren]“49, verkennt diesen Aspekt seiner Sprachkonzeption. Wer dagegen auf die Aufmerksamkeit achtet, die Phänomenen wie dem „Ra“ und dem „R’m“ zukommt, für den zeigt das Sprachverständnis dieses notorischen Antisemiten mit einem Mal nicht nur eine irritierende Nähe zu jenen Verfahren der rabbinischen Hermeneutik, die dem Umstand Rechnung tragen, dass das hebräische Wort davar sowohl Wort wie Ding bedeutet und damit die grundlegende Differenzierung der üblichen abendländischen Semiotik unterläuft.50 Schmitts eigentümliche Lektüre rückt in dieser Perspektive zugleich an eine bestimmte, li(t)terarisch zu nennende Hermeneutik heran, nämlich „ein mophonen Sehnsucht nach einem „retour de la mère“ assoziiert (vgl. Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, S. 304). 46 Bettine Menke, Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000, S. 122, Anm. 2. 47 Vgl. Helmut Lethen, Authentizität und Autorität. Schmitts Phonomanie, in: Jürgen Fohrmann/Ingrid Kasten/Eva Neuland (Hrsg.), Autorität der/in Sprache, Literatur, Neue Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997, Bd. 2, Bielefeld 1999, S. 743 ff. 48 Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994, S. 227. Ihm folgend Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, S. 46, der daran anschließend fortfährt: „wodurch die moderne Gesellschaft als auditory synthesis imaginiert wird, in der Körperlichkeit, Leiblichkeit, Stimme, Laut und Klang eine Einheit bilden“. Ferner ders., Die Fachgrenze als Kontaktzone. Plädoyer für eine kulturwissenschaftliche Öffnung der Rechtswissenschaft, in: Andreas Funke/Konrad Lachmayer (Hrsg.), Formate der Rechtswissenschaft, Weilerswist 2017, S. 239 ff. (249 ff.). 49 Vesting, Die Fachgrenze als Kontaktzone, S. 250. 50 Vgl. dazu näher Susan A. Handelman, The Slayers of Moses. The Emergence of Rabbinic Interpretation in Modern Literary Theory, Albany NY 1982, passim. Konträr zu dieser Art von Verknüpfung dagegen Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, S. 47: „Schmitts Aufwertung der auditory synthesis korrespondiert mit seiner Abwertung des geschriebenen Gesetzes insofern, als dieses gerade in der jüdischen Religion sowie in der talmudischen Rechtstradition seine Urszene hat und ein durch Schreiben und Lesen geschultes Denken in Differenzen hier eine erste Ausprägung erhält.“

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buchstäblicheres Lesen, das die thetische und thematische Auslegung – gelenkt vom Willen zum Sinn […] – erschüttert.“51

2. Nomos Die aus dem Kontakt mit der dichterischen Konzeption von Sprache gewonnenen Einsichten prägen auch Schmitts Verfahren, aus etymologischen Studien sachliche Argumente zu gewinnen. Wieder liegt dem eine Perspektive auf Sprache als ein Geschehen zugrunde, das nicht bloß der kommunikativen Vermittlung bestimmter Inhalte dient, sondern in seiner medialen Funktion eine spezifische Eigenvalenz aufweist. Mit Blick auf die durch Sprache konstituierten Übertragungsprozesse stehen nun aber nicht, wie zuvor, die assoziativen Verknüpfungen zwischen Wörtern, Silben und Zeichen im Fokus. Es geht jetzt um Übertragung im Sinne einer Tradition, der das sprachliche Geschehen sich nicht erst verdankt, sondern die es selbst stiftet. „Die Sprache tradiert auf ihre Weise die weiterwirkenden konstituierenden Vorgänge und Ereignisse, auch wenn die Menschen sie vergessen haben. ,Die Sprache weiß es noch‘, sagte in solchen Fällen der Sprachphilosoph Johann Arnold Kanne, ein Vorgänger und Anreger der Brüder Grimm.“52

Die zentrale Vokabel, an der Schmitt sein entsprechend begründetes etymologisches Interesse bekundet und zugleich dessen Relevanz für die rechtswissenschaftliche Erkenntnis behauptet hat, ist der griechische nomos. KAI NOMON EGNO bildet die Aufschrift, die Schmitt auf seinen 51 Thomas Schestag, para- Titus Lucretius Carus, Johann Peter Hebel, Francis Ponge – zur literarischen Hermeneutik, München 1991, S. 24. 52 Carl Schmitt, Nomos – Nahme – Name, in: ders., Staat, Großraum, Nomos, S. 573 ff. (582). Vgl. auch ebd., S. 581: „Daß das Weiden und Teilen und Verteilen durch ein und dasselbe Wort (nemein) ausgedrückt wird, beweist einen Zusammenhang der beiden in sich selbst und semantisch völlig verschiedenen Vorgänge, eine tiefere Einheit, die durch die Sprache bewahrt und aufrechterhalten wird, auch wenn die Erinnerung dem alltäglichen Bewußtsein längst verloren ging.“ Schmitts Interesse an Kanne geht weit zurück; schon im Jahr 1919 hatte er dessen Lebensbericht unter dem Titel „Aus meinem Leben. Aufzeichnungen des deutschen Pietisten Johann Arnold Kanne“ neu herausgegeben und mit einer „Vorbemerkung“ versehen (wiederabgedruckt in: Carl Schmitt, Die Militärzeit 1915 bis 1919. Tagebuch Februar bis Dezember 1915. Aufsätze und Materialien, hrsg. v. Ernst Hüsmert und Gerd Giesler, Berlin 2005, S. 474 ff.).

IV. Schmitts Sprachverständnis

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Grabstein setzen ließ: Die Vertrautheit mit dem Nomos ist demnach das, was sein Leben für die Nachwelt kennzeichnen soll. Das ist kein bloßes Bekenntnis des Juristen qua „Legisten“, wie sich Schmitt gelegentlich bezeichnete.53 Gerade die Differenz von Nomos, Lex und Gesetz ist für sein Verständnis entscheidend. Teil seiner etymologischen Untersuchungen ist stets auch die Warnung vor Fehlübertragungen, die die Begriffe gleichsetzen, ohne ihre unterschiedlichen Traditionen zu bedenken. Auch für diese Gefahr und die Notwendigkeit ihrer Bekämpfung ist aus Schmitts Sicht das Wort nomos paradigmatisch: „Ich möchte dem Wort seine erste Kraft und Größe zurückgeben, obwohl es im Lauf der Zeit, und schon in der Antike, seinen ursprünglichen Sinn verloren hat und schließlich zu einer substanzlosen, allgemeinen Bezeichnung jeder irgendwie gesetzten oder erlassenen normativistischen Regelung und Anordnung herabgesunken ist.“54

In dem behaupteten „ursprünglichen Sinne“, den schon Ciceros Übersetzung durch lex verdeckt haben soll,55 meint nomos „die volle Unmittelbarkeit einer nicht durch Gesetze vermittelten Rechtskraft; er ist ein konstituierendes geschichtliches Ereignis, ein Akt der Legitimität, der die Legalität des bloßen Gesetzes überhaupt erst sinnvoll macht.“56 Was dies im Einzelnen besagt, macht die Etymologie deutlich: Als nomen actionis abgeleitet vom Verbum nemein, bedeutet nomos Schmitt zufolge so viel wie: Teilung, und zwar im Sinne eines konkreten, „raum-einteilenden Grundvorgangs“57. Nomos nennt den Akt der „Ur-Teilung und Ur-Verteilung“58 des einem Volk zur Verfügung stehenden Bodens. Was Schmitts Lektüre des nomos als Gegensatz zur lex und zum Gesetz als einem (angeblich) bloß „normativistischen“ Konstrukt an dieser Stelle 53

Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin, 4. Aufl. 1996, S. 10 (in Abgrenzung allerdings lediglich zum „Kanonisten“ Hans Barion, dem das Werk gewidmet ist). 54 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin, 3. Aufl. 1988, S. 36. 55 Vgl. Schmitt, Nomos – Nahme – Name, S. 578 f. 56 Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, S. 42. 57 Vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, S. 36 ff., v. a. S. 47 f. 58 Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, S. 36.

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ausspart bzw. mit der Anrufung einer absoluten „Ursprünglichkeit“ apotropäisch abwehrt, ist die Auseinandersetzung mit der ambivalenten Gestalt gerade dieses Begriffs, der nicht allein als Ausdruck eines ursprünglich griechischen Rechtsverständnisses prägend geworden ist, sondern seine ideengeschichtlich zentrale Funktion in einer bereits übertragenen Gestalt angenommen hat. „Nomos“ übersetzt überall dort, wo innerhalb der paulinischen Theologie zu seiner Überwindung aufgerufen oder eine solche als durch die Figur der kenosis als bereits vollzogen behauptet wird, nicht einfach eine allgemeine Konzeption von Gesetz und Gesetzesgehorsam. Nomos bildet im eigentümlichen Griechisch des Neuen Testaments, vor allem dem der Paulinischen Briefe, die Taubes nach eigenem Bekunden deshalb so gut verstand, weil sie sich wie Jiddisch läsen,59 die Übersetzung für Thora. Zwischen Athen und Rom schiebt sich, als ausgeschlossen-eingeschlossenes Drittes, Jerusalem. Die Klage über die Fehlübersetzung von Nomos zu Lex und von Lex zu Gesetz kommt daher zu spät. Sie verfehlt den eigenen, bereits in sich verschobenen, übertragenen Gegenstand der Kritik.

3. Kein Anfang und kein Ende Das hier anhand von Schmitts Lektürestrategien aufgezeigte Problem lässt sich wiederum in einen erweiterten Kontext übertragen. Es besagt dann nichts anderes, als dass die Selbstkonstitution des Rechts nur im Modus des Als-Ob funktionieren kann. Die Sprache des Juristen bleibt auch dort, wo sie sich durch Explikationen und möglichst schneidige Definitionen in ihrem Proprium abzuschotten versucht, das Produkt einer Übertragung, die ebenso wenig einen eindeutigen Ursprung wie ein eindeutiges Ziel kennt. Auch diesseits seiner speziell systemtheoretischen Reformulierung gilt: „Kein Anfang und kein Ende“ charakterisieren das

59 Vgl. Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, S. 12: „Eines Tages gehen wir [Taubes und der Züricher Germanist Emil Staiger, I.A.] die Rämistraße von der Universität zum See, zum Bellevue, da bog er ab, und ich ging weiter bis zum Judenviertel in der Enge, da sagte er mir: Taubes, wissen Sie, gestern habe ich die Briefe des Apostel Paulus gelesen. Und dann kam wirklich mit tiefer Erbitterung: das ist doch nicht Griechisch, das ist doch Jiddisch! Und da sag ich: Ja, Herr Professor, darum versteh ich’s ja auch!“

V. Fazit

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Recht und seine Begriffe.60 Es wird durch fortlaufende, das heißt auch sich selbst und den eigenen Festlegungen immer wieder entwischende Übertragungen verfasst – im Doppelsinn des Präfix, das sowohl bestärkende Generalisierung wie Negation signalisieren kann.61 Auch für diese Bewegung lässt sich Schmitt als Zeuge benennen. Gerade er, der im Übrigen doch einen „rhetorischen Gestus des Jurist-Seins mit außergewöhnlicher Intensität“62 pflegte, hebt an einer bestimmten Stelle im „Glossarium“ die angeblich mögliche oder gar erforderliche saubere Trennung von Recht und Theologie mit Bezug auf die eigene Position ausdrücklich auf, um stattdessen beide Bereiche miteinander zu verschränken: Er bezeichnet sich nun als „Theologe der Jurisprudenz“63.

V. Fazit Damit lässt sich ein vorläufiges Fazit ziehen. Am Beispiel Carl Schmitt habe ich zu zeigen versucht, inwieweit Luhmanns Behauptung, nur im Kunstsystem werde Sprache als „Medium verwendet und nicht im Hinblick auf einen eindeutigen denotativen Sinn“64, jedenfalls für das Recht nicht zutrifft – und ebenso wenig dann vermutlich für alle anderen an60 Vgl. Thomas Vesting, Kein Anfang und kein Ende – Die Systemtheorie des Rechts als Herausforderung für Rechtswissenschaft und Rechtsdogmatik, Jura 2001, S. 299 ff. Auf die Gesamtgesellschaft bezogen ähnlich Nassehi, Die letzte Stunde der Wahrheit, S. 256: „Was soll man nun mit so einer komplexen Struktur anfangen? Entscheidend ist, dass man niemals anfangen kann. Man kann immer nur weitermachen.“ 61 Vgl. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch (online abrufbar unter dwb.uni-trier.de), Art. ver-; zu dem entsprechenden Prozess eines sich verfassenden Rechts näher Ino Augsberg, Verfassung als Text und Versprechen, Rechtstheorie 47 (2016), S. 183 ff. 62 Schönberger, Carl Schmitts literarische Jurisprudenz, S. 89. 63 Vgl. Schmitt, Glossarium, S. 23: „Meine Sympathie für zwei hervorragende Kanonisten, Theodoro Andrés Marcos und Hans Barion, zeigt die ganze unglückliche Unvollendetheit meiner Lage zwischen den Theologen und den Juristen des weltlichen Rechts. Es gibt keine besseren Juristen als uns, aber wir werden zwischen Theologie und Technik zerrieben. Jene beiden Kanonisten sind Juristen der Theologie; ich bin ein Theologe der Jurisprudenz“. 64 Vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 46.

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geblich so distinkt spezifizierten, sich ähnlich kantig abgrenzenden Bereiche. Wenn Luhmann an anderer Stelle mit Blick auf das Recht und seine spezielle Realitätskonstruktion konzediert, dass das Recht als soziales System „makes use of language and of a more or less consistent use of words inside and outside the legal system“65, dann scheint die über Sprache vermittelte Verfaltung der Ränder, die die schlichte Gegenüberstellung von Innen und Außen in Frage stellt, zumindest durch.66 Der Hinweis auf die mehr oder minder konsistenten Verwendungsweisen benennt in charakteristischer (und damit deutlicher) Vagheit das unumgängliche Spiel der Assoziationen, Fortschreibungen und Verschiebungen, das die systemische Geschlossenheit zugleich ermöglicht und unterläuft. Eben darum ging es hier: Auch das Recht ist getragen von unzähligen Übertragungsprozessen, die seinen Abgrenzungsstrategien vorausgehen und von diesen nur verdeckt, nicht aber beseitigt werden können.67 Übertragungen werden nicht erst vorgenommen. Sie passieren. Das Recht muss sich auf diese sich ereignenden Passagen einstellen.68 Wo es Grenzen und Grenzüberschreitungen nur als seinen regelungsbedürftigen Gegenstand und nicht als Teil der eigenen (und genauer müsste man vielleicht sagen: das Konzept von Eigenheit erst ermöglichenden, hervorbringenden) Operativität erfährt, ist es dogmatisch in jenem Alltagsverständnis, das den Reichtum der juristischen Dogmatik als einer ausgefeilten Kulturtechnik verkennt.69

65 Niklas Luhmann, Closure and Openness: On Reality in the World of Law, in: Teubner (Hrsg.), Autopoietic Law, S. 335 ff. (340). 66 Vgl. zu dieser Bewegung näher Ino Augsberg, Innen des Außen des Innen: Verfaltungen zwischen Rechts- und Literaturwissenschaft, in: ders./Sophie-Charlotte Lenski (Hrsg.), Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt des Rechts. Annäherungen zwischen Rechts- und Literaturwissenschaft, München 2012, S. 11 ff. 67 Vgl. ähnlich Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, S. 49 ff. 68 Vgl. entsprechend auch das Fazit bei Fabian Steinhauer, Vom Scheiden. Geschichte und Theorie einer juristischen Kulturtechnik, Berlin 2015, S. 176: Das „Wissen vom Recht“ soll danach „Passagiere, Passanten und andere professionelle Außenseiter“ produzieren. 69 Vgl. näher zur Kritik der in der Rechtstheorie modern gewordenen Dogmatikkritik Ino Augsberg, Lob der Dogmatik, Rescriptum 4 (2014), S. 63 ff. Zur Analyse des Rechts als Kulturtechnik grundlegend Steinhauer, Vom Scheiden.

Kreuzstiche I. Einleitung Politische Theologie, so viel scheint bei aller im Übrigen zu konstatierenden Ambivalenz und Vieldeutigkeit des Konzepts klar,1 hat es mit einer bestimmten – allerdings gerade in ihrer Deutung umstrittenen – Form von Repräsentation zu tun. Sie reagiert auf das MünchhausenTrilemma politischer Selbstbegründung, indem sie den möglichen Weg zu seiner Auflösung durch Externalisierung der Letztbegründungslast zugleich beschreitet und auf charakteristische Weise modifiziert. Der Verweis auf eine außerhalb des politischen Bereichs situierte Legitimationsinstanz, deren nähere Beschreibung klassischerweise die Theologie offerierte, fungiert für dieses Vorgehen als Paradigma, macht aber zugleich bereits in seiner überkommenen Gestalt auch das Grundproblem des Prozesses deutlich. Selbst die Investitur „von Gottes Gnaden“ zeigt an, dass die Legitimation der weltlichen Herrschaft nicht originär, sondern abgeleitet ist, nur in vermittelter Form in Anspruch genommen wird – als Repräsentationsgeschehen, das die einfache Referenz als Stellvertreterlösung zugleich ex- und kompliziert. Das hier zutage tretende Problem besteht genauer gefasst darin, inwieweit sich im Repräsentationsschema Immanenz und Transzendenz so ineinander verfalten oder miteinander verknüpfen lassen, dass der Repräsentant beides zugleich ist: ganz Teil dieser Welt und doch als solcher Zeichen einer anderen, höheren Instanz, von der her die Immanenz sich selbst erst zu erfassen und – im deskriptiven wie normativen Sinne – zu verfassen vermag. Aus diesem Grund vollzieht sich die Frage nach der politischen Theologie als Frage nach der möglichen oder gar notwendigen Verkörperung qua In-Szene-Setzen von politischer Macht. Die Ausübung von Herrschaft hat danach einen wesentlich mimetischen Charakter. Der Herrscher „verkörpert“ die Macht in demselben 1 Vgl. zu dieser Vieldeutigkeit nur Eric L. Santner, The Royal Remains. The People’s Two Bodies and the Endgames of Sovereignty, Chicago/London 2011, S. XII.

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Kreuzstiche

Sinne, in dem ein Schauspieler eine Rolle, etwa die des Hamlet oder des Polonius, verkörpert. Ernst Kantorowicz hat diesen Aspekt des Geschehnisses in seiner für das Themenfeld nachgerade kanonischen Studie über die „zwei Körper des Königs“, die nicht zuletzt eine Studie zur Relevanz politischer Rhetorik und Metaphorik bildet, prägnant auf den Punkt gebracht. „The kings of the New Covenant“, heißt es bei ihm, „no longer would appear as the ,foreshadowers‘ of Christ, but rather as the ,shadows‘, the imitators of Christ. The Christian ruler became the christomime¯te¯s – literally the ,actor‘ or ,impersonator‘ of Christ – who on the terrestrial stage presented the living image of the two-natured God“2.

Die Selbstdarstellung der Könige beruht demzufolge nicht einfach darauf, dass sie Gott spielen. In einem weiteren Verdopplungsakt, der das mimetische Gesamtgeschehen noch einmal selbstreferenziell wendet, ahmen die Könige des Neuen Bundes zugleich die Selbstdarstellung Gottes in Christus nach. Stellt man diese doppelte, dabei ineinander verfaltete Verkörperungsstrategie in Rechnung, dann schieben sich semiotische und (im weiteren Sinne, nicht auf bloße Persuasionsstrategien begrenzt verstanden) rhetorische Techniken vor substanzielle Positionsbehauptungen.3 Politische Macht erscheint danach real in dem Maße, in dem sie sich selbst erfolgreich fingiert. Aus dieser Perspektive betrachtet geht es bei der Frage nach politischer Theologie nicht primär um die typischerweise mit dem Problemfeld verknüpfte Frage nach Herkunft, Funktion und Berechtigung des Herrschaftsmodells „Souveränität“,4 sondern darum, wie ein entsprechendes Modell umgesetzt, das heißt dargestellt, dem Publikum der 2 Ernst H. Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957, S. 47. Vgl. zur Relevanz der Sprache für die gesamte Konstruktion Alain Boureau, Kantorowicz. Geschichten eines Historikers, Stuttgart 1992, S. 127: „Kantorowicz’ Analyse läßt uns verstehen, daß sich zwischen die Handlung und das Denken, zwischen die Praxis und den Glauben die Sprache mit der ihr eigenen Kraft zum Spiel mit der Oberfläche schiebt.“ 3 Vgl. zu einem entsprechend erweiterten Rhetorikverständnis Hans Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, S. 104 ff. 4 Vgl. exemplarisch aus dem US-amerikanischen und dem deutschen Diskussionskontext etwa Paul W. Kahn, Political Theology. Four New Chapters on the Concept of Political Theology, New York 2011; Ulrich Haltern, Was bedeutet Souveränität?, Tübingen 2007.

I. Einleitung

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Herrschaftsunterworfenen gegenüber erfolgreich kommuniziert werden kann.5 Ob sich „hinter“ dem präsenten Repräsentationsgeschehen dann eine weitere, „reale“ Präsenz verbirgt oder ob es um eine Repräsentation ohne Repräsentiertes geht, spielt innerhalb dieses Verständnishorizonts, der sich zunächst einmal nur für die Oberfläche des Phänomens interessiert, keine entscheidende Rolle. Gerade deswegen, so ließe sich vermuten, erhält sich das Geschehnis auch dann, wenn die traditionelle PräsenzReferenz nicht länger als selbstverständlich unterstellt werden kann und auch die Stelle des auf sie verweisenden Signifikanten ausgetauscht wird – also statt von „König“ und „Gott“ nunmehr vom „Volk“ und seinen „Vertretern“ als einem zumindest ähnlich obskuren Herrschaftssubjekt die Rede ist. Diesem Ausgangsbefund (oder: Ausgangsverdacht) entsprechend möchte ich im Folgenden zunächst zwei Szenen schildern, gewissermaßen aufführen, und sie sodann mit Bezug vorwiegend auf ihre spezifisch szenische Qualität hin kommentieren. Im Fokus steht also weniger, was, als vielmehr, wie, auf welche Weise, mit welchen Mitteln, hier etwas präsentiert wird. Die Präsentation selbst, nicht das von ihr scheinbar leicht ablösbar für sich zu thematisierende Präsentierte, steht im Zentrum. Der zu entwickelnde Vorschlag lautet, politische Theologie weniger als Begriff für ein reales Ereignis zu verwenden, sondern vorwiegend als rhetorische Figur zu lesen. Darin liegt dann allerdings keineswegs eine Reduktion ihrer Bedeutung.6 Vielmehr könnte vielleicht gerade eine solche Perspektive erklären helfen, weshalb Aspekte der politischen Theologie in sehr viel 5 Vgl. allg. zum Zusammenhang von Politik und Theater – mit einem Fokus aber stärker auf der inversen Perspektive zum politischen Charakter des Theaters – die Beiträge in Joachim Gerstmeier/Nikolaus Müller-Schöll (Hrsg.), Politik der Vorstellung. Theater und Theorie, Berlin 2006. 6 Vgl. zum Zusammenhang von politischer Theologie und Rhetorik bereits näher, mit einer instruktiven Hinzuziehung von Blumenbergs Aufsatz „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“, aber unter m. E. fragwürdiger Betonung des strategischen Elements, das den Einsatz von Rhetorik im Allgemeinen und (theologischen) Metaphern im Besonderen charakterisiere, Graham Hammill, Blumenberg and Schmitt on the Rhetoric of Political Theology, in: ders./Julia Reinhard Lupton (Hrsg.), Political Theology and Early Modernity, Chicago/London 2012, S. 84 ff. Zu einer verwandten Perspektive, die die Debatte um Politische Theologie um die Frage nach „poiesis“ als „the missing third term in both early modern and contemporary debates about politics and religion“ ergänzt, Victoria Kahn, The Future of Illusion. Political Theology and Early Modern Texts, Chicago/London 2014, S. 3.

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Kreuzstiche

mehr scheinbar banale Alltagsfragen verwoben sind, als die klassische Diskussion vermuten lässt.7 In diesem Sinne über politische Theologie zu sprechen heißt nicht notwendigerweise, gegenüber der in diesem Themenfeld notorischen, scheinbar unvermeidlichen Omnipräsenz Carl Schmitts ein Schweigegebot zu verhängen.8 Aber im Zentrum der Aufmerksamkeit steht nun nicht mehr die politische Theologie der „Politischen Theologie“. Von höherer Relevanz erscheinen andere Texte, vor allem die Darstellung in „Römischer Katholizismus und politische Form“, in der Schmitt in einer eigentümlichen Doppelbewegung zugleich die rhetorische Dimension des politischen Charakters des Katholizismus betont und auf der speziellen Figur einer unmittelbaren Repräsentation beharrt.9 Statt noch in der Abgrenzung von Schmitt eine auf der „Perzeption eines Entweder-Oder“10 fußende binäre Entscheidungslogik fortzusetzen – etwa, indem dem Modell „politische Theologie“ die Alternative „politische Philosophie“ gegenübergestellt wird11 –, geht es wiederum eher darum, Perspektiven zu überkreuzen und dadurch Differenzen sowohl zu unterlaufen wie zu bewahren. Auch in diesem Kontext, so lässt sich vermuten, könnte an Schmitt nicht nur das interessant sein, was sich als seine ausdrückliche „Lehre“ präsentiert, sondern das, was sich in den Texten abspielt – das heißt

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Vgl. zu dieser Perspektive bereits Santner, The Royal Remains, S. 46 f. Zu einer noch weitergehenden Perspektivöffnung in Richtung des Zusammenhangs von politischer Theologie und politischer Ökonomie – im Sinne einer Betrachtung, die „the afterlife of political theology in secular modernity“ als „essentially, its mutation into political economy“ versteht – ders., The Weight of all Flesh. On the Subject-Matter of Political Economy, Oxford 2016, S. 81. 8 Vgl. zu einer solchen möglicherweise bewussten Ausklammerung bei Kantorowicz Anselm Haverkamp, Richard II, Bracton and the End of Political Theology, in: ders., Shakespearean Genealogies of Power. A Whispering of Nothing in Hamlet, Richard II, Julius Caesar, Macbeth, The Merchant of Venice, and The Winter’s Tale, London/New York 2011, S. 47 ff. (48): „In The King’s Two Bodies of 1957, Kantorowicz does not (want to) mention Schmitt.“ 9 Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, München 1925. 10 Carl Schmitt, Politische Romantik, 2. Aufl., Berlin/Leipzig 1925, S. 96 f. 11 Vgl. zu Möglichkeit und Bedeutung einer solchen Gegenüberstellung näher Heinrich Meier, Was ist Politische Theologie?, München 2006; allg. ferner ders., Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, 2. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004.

II. Helsingör

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das, was in und mit dieser Lehre sowohl zumindest implizit anerkannt wie zugleich abgewehrt und unterdrückt wird.12

II. Helsingör Meine erste Szene spielt in Dänemark, genauer: am dänischen Königshof auf Schloss Helsingör. Auf die Aufforderung von Rosencrantz, ihm zu sagen, wo sich der Leichnam von Polonius befindet, und dann Guildenstern und ihn zum König zu begleiten, antwortet Hamlet, beide Aufforderungen übereinander legend, miteinander vermischend: „The body is with the King, but the King is not with the body“13. Der Satz ist nicht nur keine sinnvolle Erwiderung auf die Ausgangsfrage, sondern auch im Übrigen offenbar paradoxer Unsinn, weil danach, im Verstoß gegen den mathematischen Grundsatz der Kommutation, A + B ¼ 6 B + A sein soll. Vordergründig soll der Satz auch gar nicht als ernsthafte Antwort auf die vorangegangene Frage erscheinen; er dient vielmehr nur ein weiteres Mal dazu, Hamlets angeblichen Wahnsinn zu demonstrieren. Dass gleichwohl die Aussagen dieses Wahnsinnigen Methode haben und sogar eine spezifische Bedeutung beinhalten, ist nicht nur dem Publikum bewusst; es war bereits dem getöteten Polonius klar, der im zweiten Akt konstatiert hatte: „How pregnant sometimes his replies are.“14 Folgt man diesem Hinweis, stellt also in Rechnung, dass Hamlets Aussagen bedeutungsschwanger sind, das heißt ihre besondere Bedeutung zwar vielleicht (noch) nicht offen zeigen, aber doch in wie auch immer verkapselter Form in sich enthalten, dann muss die scheinbare Paradoxie der Aussage „King with body/body without King“ durch die Einführung einer weiteren Unterscheidung aufzulösen sein.

12 Vgl. zu dieser Perspektive näher Friedrich Balke, Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München 1996, passim, v. a. etwa S. 7, 15, mit Bezug auf Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 124. 13 William Shakespeare, Hamlet, Prince of Denmark, Act IV, Scene 2, v. 25 (zitiert nach der von Ann Thompson und Neil Taylor herausgegebenen ArdenAusgabe, London u. a. 2006). 14 Shakespeare, Hamlet, Act II, Scene 2, v. 205 f. Vgl. zur Ambivalenz des keineswegs nur egoistisch-dümmlichen Polonius etwa Lionel Trilling, Das Ende der Aufrichtigkeit, München 1980, S. 12 f.

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Kreuzstiche

Naheliegend erscheint hierfür die insbesondere durch Ernst Kantorowicz bekannt gemachte Differenzierung zwischen „body politic“ und „body natural“, die unmittelbar mit der Frage der Sterblichkeit des Königs und der unsterblichen Königswürde zusammenhängt und damit zugleich eine Unterscheidung benennt, die den Status des Königsdaseins betrifft.15 Eine derartige Verknüpfung von Hamlets Aussage mit der Figur des königlichen Doppelkörpers kann zur Selbstlegitimation auf eine frühere Stelle im Stück verweisen, wo eine entsprechende Körpermetaphorik ausdrücklich auf Hamlets künftige Königswürde (und Königsbürde) bezogen wird. Laertes warnt seine Schwester Ophelia, Hamlets Liebesbeteuerungen für mehr als eine Spielerei und zeitweilige Laune zu halten: „his will is not his own. / He may not, as unvalued persons do, / Carve for himself, for on his choice depends / The safety and health of this whole state, / And therefore must his choice be circumscribed / Unto the voice and yielding of that body / Whereof he is the head.“16

Was sich hier als Lehre vom Zusammenhang von Teil und Ganzem präsentiert, zieht die Figur des doppelten Körpers nur in anderer Weise auseinander. Beide Beschreibungen verweisen darauf, dass der Körper des Herrschers immer mehr ist als seine schlicht somatische Existenzform. Hamlets Aussage ist danach auf den doppelten König in Gestalt des toten Vaters einer- und des mörderischen Onkels andererseits gemünzt – und zumindest untergründig ist der auf diese Weise doppelt in Anspruch genommene Körper auch in einem dritten Bezug relevant, als Hamlets eigener virtuell-künftiger „body / Whereof he is the head“. Offenbar steht die Körperlichkeit für das Leben und die physische Präsenz, die Königswürde dagegen für jene Macht, die der Königsmörder zwar in seinem physischen Auftritt nach außen repräsentiert, die er aber, jedenfalls aus Hamlets Sicht, nicht als legitime auctoritas in Anspruch nehmen kann. Denn diese Macht, verstanden als das „göttliche Recht der Könige“, so erläutert es Carl Schmitt in seiner kleinen Schrift „Hamlet oder Hekuba“ mit Blick primär auf die Auffassung von Jakob I. (also mit Bezug auf den „erste[n] und einzige[n] König der Geschichte, der eine Doktrin der monarchischen Funktion entwickelt und nicht nur zu leben, sondern in

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Vgl. Kantorowicz, The King’s Two Bodies. Shakespeare, Hamlet, Act I, Scene 3, v. 17 ff.

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einem theoretischen Werk zu begründen versucht hat“17, eine Konzeption, die Schmitt zufolge dann in Shakespeares Stücken wiederkehrt), stand als ein „sakrales Geblütsrecht […] nur den durch legitime Erbfolge auf den Thron erhobenen Königen zu, nicht Usurpatoren“.18 Die zugrundeliegende sachliche Differenz lässt sich in dieser Perspektive auf der Ebene einer bestimmten Schreibweise, dem Einsatz von Groß- und Kleinbuchstaben, lozieren, die die Ambivalenz von Hamlets Satz zurechtrückt. Claudius tritt danach zwar äußerlich als „king“ auf, aber er ist kein „King“ im Sinne eines die Königswürde mit Berechtigung tragenden Herrschers. Hamlet statuiert also eine Differenz zwischen den beiden Dimensionen einer somatisch-physischen Präsenz auf der einen Seite und einer symbolischen Autorität auf der anderen, wobei letztere ihrerseits zwiespältig bleibt und zwischen den Polen „king“ und „King“ oszilliert. Gleichzeitig verweist er, der selbst eingeführten Unterscheidung wie zum Trotz, auf die eigentlich zwingend erforderliche Verbindung jener beiden Dimensionen. Schmitts Terminus „sakrales Geblütsrecht“ bringt die zugrundeliegende Figur auf den Punkt: Die königliche Macht ist legitim insoweit, wie sie mit einem ganz bestimmten Körper und einem ganz bestimmten Geschlecht, einer ganz bestimmten Geschlechterfolge, verknüpft ist. Diese Verknüpfung ist letztlich theologisch garantiert; sie hat einen sakralen, den rein weltimmanenten Zusammenhängen entrückten Charakter. Das Problem der Aussage bestimmt sich dann dadurch, dass die Berufung auf die Figur „sakrales Geblütsrecht“ speziell für Hamlet aus zumindest zwei Gründen prekär erscheint: Zum einen ist, wie Schmitt zu Recht darlegt, die Konzeption einer klassischen Erbmonarchie, die Hamlets Gegenüberstellung von „King“ und „king“ tragen könnte, weder für die skandinavischen Monarchien noch gar für das englische Königshaus der Zeit das allein entscheidende Prinzip. So wenig das dem gegenübergestellte „Wahlkönigtum“ mit einer freien Wahl im modernen Sinne gemein hat, vielmehr entscheidend durch die Auswahl, die „dying voice“ des vorherigen Herrschers bestimmt wird, so sehr liegt für Schmitt die „Hoffnungslosigkeit der geistigen Position, die 17

So Nicolaus Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, München/Wien 1991, S. 348. 18 Carl Schmitt, Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Stuttgart, 2. Aufl. 1993, S. 30.

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Jakob mit seinen Argumentationen vom göttlichen Recht der Könige bezog“, darin, dass sie sich „von einem kirchlich-feudalen Mittelalter nicht lösen konnte“.19 Spätestens seit der Glaubensspaltung ist die scheinbar natürliche Einheit von weltlicher Herrschaft und Kirche nur noch als künstliche Reproduktion (und das heißt vor allem: als selbst politische Entscheidung20) zu halten. Zum anderen ist es Hamlet selbst, der den Topos „Geblütsrecht“ – als einer spezifischen Form politischer Theologie – problematisch werden lässt. Hamlets berühmt-berüchtigte Unentschiedenheit spiegelt nicht zuletzt die Unsicherheit über die eigene Herkunft: Dass seine Mutter Gertrud nur wenige Monate nach dem Tod des Vaters den mörderischen Onkel heiratet, ist nicht nur eine literarische Reminiszenz an das historische Paar Mary Stuart-Graf Bothwell.21 Das Gesamtgeschehen, dessen Kern Schmitt auf die „Frage nach der Schuld der Mutter“22 zusammenzieht, verweist auch nicht bloß auf die naheliegende Vermutung, dem Mord könne der Ehebruch längst vorangegangen sein.23 Noch schärfer 19 Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 67. Vgl. dazu auch Santner, The Royal Remains, S. 152: „James, paradoxically, embodies the two meanings of the title of this study: ,the royals remains‘. He persists in his status as consecrated sovereign, insisting in his own writings on the divine right of kings secured in royal bloodlines; but he also represents a radical shift in the very logic of representation, one that locates this royal as a remainder of a medieval conception of kingship that has, however, not yet been reorganized in the political entity Hobbes later theorized as the theologically neutralized administrative state and that was at some level already in existence on the Continent. He embodies, in a word, the very tear in the fabric of being that he also strives to disavow.“ 20 Vgl. Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 64: „Shakespeares Drama ist nicht mehr christlich. Es ist aber auch nicht auf dem Wege zu dem souveränen Staat des europäischen Kontinents, der religiös und konfessionell neutral sein mußte, weil er aus der Überwindung der konfessionellen Bürgerkriege hervorgegangen war. Auch wenn dieser Staat eine Staats-Religion und eine Staats-Kirche anerkannte, beruhte das auf seiner souveränen staatlichen Entscheidung.“ Man mag in diesen Ausführungen die Keimzelle von Böckenfördes wenige Jahre später veröffentlichten Überlegungen zur „Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ sehen. Negativ gewendet besagen sie: „Through Hamlet, Schmitt speaks about the unsaid of modernity: its obscure origin, its tragic core.“ So Carlo Galli, Hamlet: Representation and the Concrete, in: Hammill/Reinhard Lupton (Hrsg.), Political Theology and Early Modernity, S. 60 ff. (60). 21 Vgl. Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 18 f. 22 Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 13. 23 Vgl. Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 14 f.

II. Helsingör

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zugespitzt liegt vielmehr, worauf Anselm Haverkamp hingewiesen hat, die Frage in der Luft, ob nicht Hamlet selbst das Ergebnis dieses bereits viel früher erfolgten Ehebruchs ist.24 Demzufolge wäre Hamlet nicht der legitime Erbe, der durch den Usurpator um sein angestammtes Recht gebracht wird und damit durch seine Rache für den toten Vater zugleich dieses Recht wiederherstellt (und ebenso wenig nur der aufgrund seines ödipalen Begehrens wenigstens innerlich der Tat zustimmende Komplize25). Im Gegenteil: Er würde in dieser Perspektive erst durch den Mord und durch die Besteigung des Throns durch Claudius vom unehelichen Bastard zum geborenen Thronfolger promoviert. Hamlets Unentschiedenheit ist danach kein individualpsychologischer Defekt, sondern ein präziser Ausdruck des eigenen, zutiefst ambivalenten Status, der ihm im strengen Sinne keine Wahl mehr überlässt. „Die Ironie vollendet sich darin, daß für Hamlet die Thronfolge ganz gleich ausgeht – egal wessen Sohn er ist.“26 Shakespeares Satz verweist damit auf die notwendige Verbindung von symbolischer Autorität und physischer Präsenz. Aber er tut dies in einem historischen Moment und durch den Mund eines Protagonisten, in dem bzw. für den die Sicherheit hinsichtlich der Möglichkeit einer solchen Verknüpfung entfallen ist, jedenfalls nicht länger ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Hamlets Rückkehr aus Wittenberg indiziert, dass die Krise nicht nur darin beruht, dass die legitime Zuweisung der politischen Macht zwischen zwei möglichen Empfängern schwankt. Auch der Absolutheitsanspruch der Religion ist nun unter zwei verschiedenen Adressen erreichbar, und wird damit selbst zum Problem.

24 Vgl. Anselm Haverkamp, Hamlet. Hypothek der Macht, in: ders., Hamlet. Hypothek der Macht, Berlin 2001, S. 27 ff. (50 f.). 25 So die Lesart von Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, S. 345 f.: „Die ,Schuld der Mutter‘ ist eine Projektion der Schuldgefühle des Sohnes, der seine – verdrängten – Inzestwünsche und Vatermordgelüste kulpabilisiert. […] Der präsumptive Rächer (Erbe) des Vaters ist im Grunde der Komplize der Mutter“. 26 Haverkamp, Hamlet, S. 51.

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Kreuzstiche

III. Karlsruhe Die erste Szene bezieht sich danach auf einen historischen Moment, in dem die klassische theologische Legitimation der Königsherrschaft in mehrfacher Hinsicht prekär wird. In der zweiten Szene dagegen ist jenes prekäre Übergangsstadium offenbar längst verlassen. Sie ist im demokratischen, rechtsstaatlichen und vor allem republikanischen Kontext angesiedelt, an einem Ort, der passenderweise selbst den Tod des Königs zu symbolisieren scheint. Die Szene spielt in einer Stadt, die nach der in ihrem Zentrum gelegenen, zunächst vorübergehenden, dann ewigen, im 19. Jahrhundert in Form einer Pyramide ausgestalteten Ruhestätte eines ehemaligen Fürsten benannt ist und deren Name heute metonymisch für die höchste deutsche Rechtsprechung steht: Karlsruhe. Das hier beheimatete oberste deutsche Gericht, dessen Aufgabe darin liegt, von der Spitze der Normenpyramide aus über den Stufenbau der Rechtsordnung zu wachen, und das dabei, so die spöttische Wahrnehmung mancher, bisweilen selbst die Rolle des Souveräns einzunehmen scheint, fällte ein Urteil über das deutsche Staatsoberhaupt und dessen Rechte und Pflichten. Die Verkündung dieses Urteils über den Präsidenten der Bundesrepublik leitete der Präsident des Gerichts mit einigen allgemeinen Ausführungen zum Verfahrensgegenstand ein. Der eine Präsident, der über die Kompetenzen des anderen zu Gericht saß, erläuterte dem anwesenden Publikum Funktion und Bedeutung des präsidialen Amtes. In der Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung und damit ebenso, so darf man ergänzen, in diesem Amt selbst, statuierte der Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle, „offenbart sich […] ein eigentümlicher, demokratisch veredelter Rückgriff auf das Erbe der konstitutionellen Monarchie“27. An dieser Bemerkung ist mindestens dreierlei bemerkenswert. Bemerkenswert ist zunächst und vor allem die Wortschöpfung einer durch oder aufgrund der Demokratie erfolgenden Nobilitierung. Der Bundespräsident, könnte man zuspitzend formulieren, wird im und durch den Wahlvorgang mit demokratischem Öl gesalbt. Bemerkenswert ist zudem die Einschränkung auf die „konstitutionelle“ Monarchie, die kaum verhüllen kann, dass diese spezifische Monarchieform selbst das Erbe der ihr vorangegangenen Monarchieformen angetreten hatte. Offenbar wirkt 27 Vgl. den Bericht in Legal Tribune Online, abrufbar unter: http://www.lto.de/ recht/nachrichten/n/bverfg-urteil-2-bve-2 - 09 - 10-bundesversammlung-bundesprae sident-wahl/.

III. Karlsruhe

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auch im demokratischen Gemeinwesen ein Erbe nach, dessen genaue Funktion und Relevanz schwer zu bestimmen ist. Bemerkenswert ist schließlich die Art und Weise, wie sich die so skizzierte besondere Qualität des Amtes bemerkbar macht: Als Offenbarung verweist sie selbst auf einen höheren, den einfachen Kräften des Verstandes übergeordneten Ursprung. So eigentümlich die sich offenbar über sich selbst wundernde, deswegen eben dieses Adjektiv zur näheren Kennzeichnung sowohl des Gesamtprozesses wie der eigenen Beschreibung verwendende Formulierung erscheint, so prägnant entspricht sie der ebenso eigenartigen Konstruktion des deutschen Grundgesetzes. Denn diese weist auf die seltsame Widersprüchlichkeit eines Staatsoberhauptes hin, das in politicis kaum etwas zu sagen hat: Einerseits installiert das Grundgesetz ein bewusst depotenziertes Staatsoberhaupt, dessen Aufgabe üblicherweise als dezidiert nicht-politisch, sondern „bloß repräsentativ“ beschrieben wird bzw. dessen Tätigkeit sich vorwiegend in Beglaubigungsakten nach außen erschöpft. Der Empfang des diplomatischen Corps und die Ausfertigung im Sinne von: persönlicher Unterzeichnung der durch das Parlament beschlossenen Gesetze stehen pars pro toto für diese Aufgabenfelder. Die geläufige, keineswegs despektierlich gemeinte Bezeichnung als „Staatsnotar“28 bringt diesen Zustand auf den Punkt: Der Bundespräsident ist nicht der mächtigste politische Akteur im Land, sondern sein oberster Schreiber oder Schriftführer. Dort, wo er nicht nur abzeichnet, was andere entschieden haben, wo er vielmehr selbst anordnen und verfügen will, fehlt seinen Akten solange die Gültigkeit, wie sie nicht durch den Bundeskanzler oder den zuständigen Bundesminister bestätigt werden. An die Seite der Zeichnungsfunktion tritt die Gegenzeichnungspflicht. Der Bundespräsident ist, aus dieser Perspektive betrachtet, ein weitgehend zur politischen Neutralität verurteilter Anti-Souverän.29 Andererseits kann oder will das Grundgesetz offensichtlich von einem zumindest formal an die Spitze der Staatsordnung gestellten Individuum nicht ablassen – obwohl jede einzelne seiner Aufgaben weitgehend unproblematisch durch eine andere Institution und ihren Repräsentanten ausgeübt werden könnte, etwa den Außenminister oder den Parlaments28

Vgl. nur Stefan Korioth, Staatsrecht I, Stuttgart u. a., 4. Aufl. 2018, Rn. 690 ff. 29 Vgl. allg. zur Stellung des Bundespräsidenten nur Martin Nettesheim, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, Heidelberg, 3. Aufl. 2005, § 61 Rn. 20 ff.

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präsidenten. Auch für die grundgesetzliche Ordnung gilt also, dass symbolische Autorität und physisch-körperliche Präsenz zusammengehören.30 Die Merkwürdigkeit der hier festgesetzten Verkörperung besteht darin, dass sie nicht den naheliegenden praktischen Zweck verfolgt, symbolische Macht in reales politisches Handeln zu transformieren. Sie dient vielmehr als Ausweis der Legitimität einer Ordnung, die sich offenbar (zumindest: auch) durch die Referenz auf eine inkorporierte Macht bestimmt, die ihrerseits zugleich weitgehend im Feld des Repräsentativ-Symbolischen verbleibt. Nach der grundgesetzlichen Konzeption ist der Präsident nicht Träger der Macht im Sinne von: ihr wesentlicher Akteur. Er ist Träger qua Medium der Macht. In seinem Körper spiegelt sich die Macht und erkennt sich selbst als solche an. Sie beglaubigt sich selbst durch die Handschrift ihres Präsidenten, des Repräsentanten katexochen.

IV. Exit Ghost? Beiden Szenen gemeinsam erscheint, dass symbolische Autorität nicht ohne die physische Präsenz eines Körpers gedacht werden kann. „Body“ und „King“ fallen zwar nicht ineins, aber ihre Trennung deformierte das Phänomen der Macht – und das auch noch unter den scheinbar ganz andersgearteten Vorzeichen der bundesrepublikanischen Demokratie. Während aber auf der einen Seite vor allem die Möglichkeit der Verknüpfung prekär erscheint, wird auf der anderen Seite der Sinn der durch die Verbindung geschaffenen Institution zum Problem: Wie erklärt sich die auch noch innerhalb des demokratischen Kontextes fortexistierende Einheitssehnsucht, also die „Sucht […], daß nur einer und eines nur sei“? Eine mögliche Antwort lautet: Die Sucht erklärt sich als Anachronismus, das heißt als noch zu überwindendes Erbe einer grauen Vorzeit, dem im Sinne fortgesetzter Aufklärung, und das heißt wiederum: im Sinne seiner entschiedenen Säkularisierung, zu begegnen ist. Aufgabe einer demokratisch aufgeklärten Verfassungslehre ist es dann, jedem Versuch einer 30

Vgl. zu diesem Aspekt näher auch, allerdings stärker im Sinne einer Entgegensetzung der deutschen und der noch deutlicher „körperbezogenen“ USamerikanischen Politik- und Verfassungstradition, Ulrich Haltern, Obamas politischer Körper, Berlin 2009. Allg. zum Problemfeld ferner die Beiträge in Ludger Schwarte/Christoph Wulf (Hrsg.), Körper und Recht. Anthropologische Dimensionen der Rechtsphilosophie, München 2003.

IV. Exit Ghost?

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etwaigen (Re-)Sakralisierung der bestehenden Ordnung entgegenzutreten.31 Dort, wo der Kopf des Königs immer noch nicht endgültig gefallen ist – sei’s in der politischen Theorie, sei’s im Verfassungsdenken –, müssen danach die Fallbeile gewetzt werden, um die letzten noch verbliebenen metaphysischen Mucken endlich und endgültig auszutreiben und durch rationale, vulgo: deliberative Verfahren zu ersetzen. Bestimmt man die erste Lösungsmöglichkeit in diesem Sinne, ist die Alternative klar: Sie liegt darin, die theologische Form nicht selbst als das zu bewältigende Problem zu begreifen, sondern sie als Antwortversuch auf ein Problem zu lesen, das weiter ansteht. Die als erforderlich erachtete Inkarnation der Macht etwa wäre in diesem Sinne dann durch einen Verweis auf ihre Herkunft aus der christlichen Kenosis-Lehre nicht erledigt. Stattdessen richtete sich die Frage darauf, was diese spezifische Form der Verkörperung unter den Bedingungen der Moderne – und das heißt zugleich: unter den Bedingungen demokratischer Herrschaftsstrukturen – bedeuten könnte. In dieser Sichtweise deckt sich die alternative Antwortmöglichkeit mit der geläufigen Doppelperspektive auf das Säkularisierungsgeschehen, das entsprechend entweder als Auflösung oder verkapptes Fortwähren des religiösen Moments unter den veränderten Bedingungen der modernen Gesellschaft gesehen werden kann. Damit sind zwei Grundoptionen angedeutet, wie mit dem Topos „Politische Theologie“ unter demokratischen Vorzeichen umgegangen werden kann. Folgt man der zweiten Perspektive und spiegelt sie auf die beiden skizzierten Szenen, vor allem die Fallkonstellation des Bundespräsidenten, dann dürfte bereits deutlich sein, dass sich in dieser allgemeinen Sichtweise die Fragestellung nach der Verknüpfung von Autorität und Physis, symbolischer Ordnung und Materialität nicht notwendigerweise allein auf die zugespitzten Extremfälle politischen Machtgebrauchs reduziert. Die sich in der Beherrschung der (als Analogon zum theologischen Wunder verstandenen) Ausnahmekonstellation als solche erweisende „Souveränität“ erscheint nicht mehr als der theologisch-politische Topos par excellence; mindestens ebenso sehr geht es um „Alltagstechniken“ des Umgangs mit beiden Dimensionen. Nicht zuletzt dürfte es auch um die Frage gehen, ob und inwieweit, wie bei dem notorischen Zögerer und Zauderer Hamlet und dem anti-souveränen Bundespräsidenten, ein ei31 Vgl. in diesem Sinne etwa Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität. Zum Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates, Tübingen 2013.

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genartiger Wiedergänger der Unterscheidung auf der Seite der Repräsentation auftritt. Die Gespenster einer religiös geprägten Vergangenheit ließen sich demnach nicht ganz austreiben, sondern nur in ihren gewandelten Gestalten – „in new guises and modalities“32 – beobachten. Statt „Exit Ghost“ hieße die Devise für die politische Theologie also: reentry. Statt um Techniken der Vereinheitlichung ginge es um Strategien der Verdoppelung, in der sich das eine im jeweils anderen Moment der Inszenierung spiegelt.

V. Complexio oppositorum Bemerkenswerterweise findet sich eine derartige Beobachtung von Verdopplungsstrategien, die zugleich scheinbar unversöhnbare Gegensätze miteinander verknüpfen, gerade bei jenem Theoretiker, der die Figur der politischen Theologie qua Souveränität in die Diskussion eingeführt hat: Carl Schmitt. In dem kleinen Büchlein „Römischer Katholizismus und politische Form“, das wie viele Bücher Schmitts vor allem für seinen Eingangssatz berühmt geworden ist, taucht die zentrale Problematik bereits im Titel auf. Es geht offenbar nicht nur um das Zusammenspiel von Theologie und Politik. Die Zugangsweise ist spezieller; sie betrifft den ganzheitlichen, umfassenden, eben katholischen Anspruch von Religion einerseits und die formale Struktur, in der dieser Anspruch sich als Politik umsetzt und für den Beobachter darbietet, andererseits. Entscheidender Ausgangspunkt der Studie ist die Hervorhebung der Figur einer complexio oppositorum, die auf der Seite der katholischen Kirche nicht die Austreibung, sondern die Organisation des gepflegten Neben-, Mit-, sogar Ineinanders der Gegensätze als charakteristisches Moment begreift. „Es scheint keinen Gegensatz zu geben, den sie“ – das heißt die katholische Kirche – „nicht umfaßt.“33 Nur von hier aus ist es verständlich, inwiefern Schmitt einerseits im Fortgang der Untersuchung die „formale Eigenart des römischen Katholizismus“ im „Gegensatz zum heute herrschenden ökonomisch-technischen Denken“34 zu bestimmen versucht, andererseits dabei aber immer wieder auf Bestimmungen kommt, die auch diesen 32 33 34

Santner, The Royal Remains, S. XII. Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 10. Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 12.

V. Complexio oppositorum

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Gegensatz wieder in sich auszutragen scheinen, indem sie selbst die Form einer contradictio in adiecto annehmen. Das gilt etwa für die von Schmitt ausschließlich positiv gemeinte, nicht weiter problematisierte Formel einer „substantielle[n] Form“35, betrifft aber vor allem die zentrale Figur der Repräsentation, die als „unmittelbare“ von den ihr entgegengesetzten Formen der bloßen Vertretung oder gar einer „peinlich wirkende[n] Imitation“ abgegrenzt wird.36 So sehr auf der „Besonderheit“ im Sinne einer „strengen Durchführung des Prinzips der Repräsentation“ die genannte „Eigenart“ des Katholizismus beruhen soll,37 so sehr werden in der Figur selbst offenbar kaum vereinbare Aspekte zusammengespannt. Dementsprechend ist es zwar völlig zutreffend, darauf zu verweisen, dass Schmitts Repräsentationsverständnis sich von „Metaphern wie Projektion, Reflex, Spiegelung, Ausstrahlung, Übertragung“ abgrenzt, weil diese immer noch „die ,immanente‘ sachliche Basis [suchen]“, indem sie „einen materiellen Zusammenhang, verschiedene Aggregatzustände derselben Materie bezeichnen“, während die „Idee der Repräsentation so sehr von dem Gedanken persönlicher Autorität beherrscht [ist], daß sowohl der Repräsentant wie der Repräsentierte eine persönliche Würde behaupten muß.“38 Dementsprechend kann nur eine selbst „autoritäre Person“ im eigentlichen Sinn zur Repräsentation in der Lage sein,39 was man mit Recht als Hinweis darauf lesen kann, dass es „Schmitt gerade auf das personalistische Moment im Souveränitätsbegriff ankommt, die persönliche Entscheidung“40. In diesem Sinne lässt sich dem romanischen Prinzip der Repräsentation sein romantisches Pendant gegenüberstellen. Denn dieses lehnt, Schmitts Kritik zufolge, jede „Verpflichtung zu einer großen und strengen Form der Sichtbarkeit“ ab, um stattdessen, als „eine Kunst ohne Publizität und Repräsentation“, „sich in tumultuarischer Buntheit einfühlend aller Formen zu bemächtigen und sie doch nur als ein be-

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Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 41. Vgl. Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 41, 27. 37 Vgl. Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 12. 38 Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 28 f. 39 Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 29. 40 So Thomas Vesting, Die liberale Demokratie und das Andere der Kultur (und der Medien), in: Ino Augsberg/Karl-Heinz Ladeur (Hrsg.), Politische Theologie(n) der Demokratie. Das religiöse Erbe des Säkularen, Wien 2018, S. 18 ff. (18). 36

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langloses Schema zu behandeln“41. In dieser Perspektive tritt als bedrohlichste Gegenfigur für die „substantielle Form“ die „Ästhetisierung“ auf.42 Nicht verkannt werden darf dabei aber auch, dass „Römischer Katholizismus und politische Form“ die Problematik des Repräsentationsgeschehens nicht allein auf der Ebene der Herstellung von Entscheidungen verortet, sondern von ihr unmittelbar, aufgrund einer dem Phänomen selbst eingeschriebenen Notwendigkeit, überleitet auf Fragen der Darstellung. „Aus der großen Repräsentation ergeben sich von selbst Gestaltung, Figur und sichtbares Symbol“43, heißt es zunächst, um dann ausgehend von dieser Beobachtung, die noch eine Ordnung der Nachrangigkeit, zumindest im chronologischen Sinne, zu unterstellen scheint, auf die Bedeutung von etwas zu sprechen zu kommen, „was der höchsten Maschinentechnik fehlt, etwas Humanes, nämlich eine Sprache.“44 Die sprachliche Gestalt, genauer, „die Sprache einer großen Rhetorik“, ist danach das, was die „Fähigkeit zur Form“ ausmacht und damit die Verfahren der Repräsentation charakterisiert.45 Schmitt bestimmt Repräsentation als ein spezifisches sprachliches Ereignis: Das für den gesamten Vorgang „Entscheidende“ ist danach „die nichtdiskutierende und nichträsonierende, sondern die, wenn man sie so nennen darf, repräsentative Rede […]. Sie bewegt sich in Antithesen, aber es sind keine Gegensätze, sondern die verschiedenen Elemente, die zur complexio gestaltet werden, damit die Rede Leben hat.“46

Auch hier gilt, dass, so sehr die Differenz von Rhetorik und Dekoration über die Autorität des Redners gestützt wird,47 doch zugleich der rhetorische Akt als solcher unverzichtbar ist. Die letzte complexio oppositorum liegt demzufolge darin, dass die behauptete unmittelbare Repräsentation nur im vermittelnden Geschehen rhetorischer Prozesse ihre Gestalt gewinnen kann. Was Schmitt nicht ausdrücklich zugestehen kann oder will, 41 Schmitt, Politische Romantik, S. 20. Vgl. zum Gegensatz von Katholizismus und Romantik ferner S. 76, 96 f. 42 Vgl. dazu näher Juliane Rebentisch, Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Berlin 2012, S. 218 ff. 43 Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 30. 44 Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 31. 45 Vgl. ebd. 46 Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 32. 47 Vgl. Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 33.

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aber in seiner Darstellung trotzdem deutlich wird, ist, dass die Repräsentation nicht erst in ihren späteren angeblichen Verfallsformen, sondern immer schon auch eine Technik ist. Schmitts im – personalistisch verengten – Souveränitätstopos zutage tretende Unmittelbarkeitssehnsucht liegt demnach auch seiner Darstellung des Problemfelds in „Römischer Katholizismus und politische Form“ zugrunde. Sie tritt jedoch zugleich in einer eigentümlich reflektierten, sich über die rhetorischen Prozesse selbst verdoppelnden Gestalt auf. Gewissermaßen die spiegelbildlich verkehrte Figur zu dieser Skizze zum Zusammenhang von politischer Form und sprachlichem Geschehen findet sich in der bereits zitierten kleinen Studie über „Hamlet oder Hekuba“.48 Hier geht es nicht um eine „reale“ politische Macht, die vorwiegend mit Bezug auf ihre Verfahren der rhetorischen Selbstinszenierung in den Blick genommen wird, sondern invers um die Analyse eines Schau-Spiels, in dessen fiktive Darstellung Elemente eines realen Geschehens „einbrechen“. Genauer genommen unternimmt es Schmitt, unterschiedliche Formen der Verknüpfung zwischen den Sphären nachzuweisen. Gerade dieser Nachweis einzelner, bloß punktueller Zusammenhänge soll die kategorische Differenz zwischen dem fiktionalen Geschehen auf der Theaterbühne und den realen historischen Ereignissen bekräftigen. Schmitt unterscheidet dazu – in einer nah an die Abgrenzung der unmittelbaren Repräsentation von den als problematisch gefassten Stellvertretermetaphern heranrückenden Terminologie – zwischen „flüchtigen Anspielungen“, „wahren Spiegelungen“ und „echten Einbrüchen“.49 Ohne ausdrücklichen Hinweis auf die Bedeutung der Rhetorik, aber vor dem Hintergrund einer Reflexion über die Ausgerichtetheit der Shakespeare’schen Stücke an dem speziellen Wahrnehmungshorizont des Londoner Publikums der Zeit und in der Form einer geradezu überbordenden, sich gewissermaßen selbst zur Schau stellenden Metaphorik lautet das Ergebnis dieser Abgrenzungsbemühung: „Die unum48 Vgl. für eine äußerst instruktive, sehr viel detailliertere Lektüre dieses Texts auch Santner, The Royal Remains, S. 142 ff.; Kahn, The Future of Illusion, S. 23 ff.; Galli, Hamlet; ferner die Beiträge in David Pan/Julia Reinhard Lupton (Hrsg.), Telos 153 (Winter 2010): Special Issue on Carl Schmitt’s Hamlet or Hecuba; zur Verknüpfung mit dem Problem der politischen Theologie dort v. a. Katrin Trüstedt, Hecuba against Hamlet: Carl Schmitt, Political Theology and the Stake of Modern Tragedy, S. 94 ff. 49 Vgl. Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 28.

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stößliche Wirklichkeit ist der stumme Felsen, an dem das Spiel sich bricht und die Brandung der echten Tragik aufschäumt.“50 Erneut ist das Vorgehen doppeldeutiger, als die zunächst augenfällig in Szene gesetzte Intention des Textes zu suggerieren scheint. Schon der Titel des kleinen Buchs gibt darauf einen eigenartigen Hinweis, weil er mit der Alternative „Hamlet oder Hekuba“ nicht nur den schlichten Gegensatz Realität vs. Fiktionalität in Bezug nimmt, sondern eine Fiktionalität erster mit einer Fiktionalität zweiter Potenz kontrastiert – und mit Hekuba zudem eine fiktionale Figur benennt, die der fiktionalen Figur Hamlet selbst auf eine irritierende Weise „realer“, da wirkmächtiger erscheint als sein eigenes Schicksal. Entsprechendes gilt für die elliptische Form des Untertitels, die „Zeit“ für das reale historische Ereignis und „Spiel“ für das auf den Theaterbühnen inszenierte Geschehen fasst und damit die Differenz von Realität und Darstellung in einer besonderen rhetorischen Rede zu Wort kommen lässt. Dass zwischen Realität und fiktiver Darstellung keine harten Grenzen liegen, die nur (Ein-)Brüche zulassen, vielmehr eine Vielzahl von Übergängen, Verflechtungen, Einfaltungen des einen im anderen stattfinden, wird schließlich an zwei auf den ersten Blick eher unscheinbaren Stellen deutlich, in denen Schmitt mit Bezug auf Egon Vietta den Charakter eines Bühnen-Stücks als „Traumrahmen“ hervorhebt. „Wie im Traum“, so heißt es zunächst, „die Menschen und Wirklichkeiten ineinander übergehen, so werden Bilder und Figuren, Ereignisse und Situationen auf der Bühne traumhaft verwoben.“51 Doch bei dieser Form der Texturbildung, die als solche bereits implizit das Spezifikum des Traums dem scharfen Einschnitt eines Traumas entgegenstellt, findet das Traumgeschehen nicht sein Bewenden. Das bei seinem ersten Auftritt noch scheinbar ausschließlich auf das Bühnengeschehen bezogene TraumMotiv wird in Schmitts Darstellung später ausdrücklich als Verknüpfung zwischen der Fiktionalität des Bühnengeschehens und der – aber nun auf charakteristische Weise vermittelten, gerade nicht unmittelbar einfach gegebenen – Realität des (Er-)Lebens im Zuschauerraum präsentiert. Der Traum fungiert nun in einer neuen, offenbar aktiver gehandhabten Form als Verflechtung, bei der gerade in und durch die Verknüpfung zugleich die sich im Traum vollziehenden Transformationen – Schmitt spricht, die

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Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 47. Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 27.

VI. Chiasmus

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sprachlich-poetische Dimension des Geschehens mitklingen lassend, auch von „Verdichtungen“ – mitübertragen werden. „Auch die Träume, die der Dramatiker in sein Spiel verwebt, müssen von den Zuschauern mitgeträumt werden können, mit allen Verdichtungen und Verschiebungen der rezenten Ereignisse.“52

Zu diesen träumerischen Verwebungen und Verdichtungen passt eine Erklärung Schmitts, mit der dieser den eigentümlich non-intentionalen, im Sinne seiner quasi-strafrechtlichen Leitfrage geradezu als undolos zu bezeichnenden Ursprung des eigenen – in einer bemerkenswerten Dopplung und damit Gegenüberstellung von Gedachtem und Geschriebenem in Bezug genommenen – Textes hervorhebt. Einem Bericht Nicolaus Sombarts zufolge schreibt Schmitt „in einem kleinen, larmoyanten, scheinheiligen Typoskript […], das nach Veröffentlichung des Hamlet-Buches hektographiert mit dem Titel ,Was habe ich getan?‘ zirkulierte“53: „Mein Büchlein über Hamlet ist nicht gezielt und kaum geplant. Es ist sogar, in Gedanken wie in seiner Schrift, ungewollt und nur geträumt.“54 Beide Texte, der „Römische Katholizismus“ ebenso wie das HamletBuch, unternehmen es demnach, ihren Lesern die Eigenart politischer Macht im Zusammenhang mit einer spezifischen Form der mise en scène vor- und darzustellen. Beide versuchen sich zugleich selbst an einer Art complexio oppositorum der wesentlichen Strukturen. Beide Texte setzen dabei aber die jeweiligen Akzente gewissermaßen invers zueinander. Dadurch reproduzieren sie im Verhältnis zueinander noch einmal den Effekt, den sie bereits als einzelne Texte in sich bewirken. Sie erscheinen als Konstellation eines ineinander gespiegelten Geschehens, in dem sich die jeweiligen Grundmotive überkreuzen.

VI. Chiasmus Bezogen auf die beiden oben skizzierten Szenen aus Helsingör und Karlsruhe lenkt dieser von Schmitt hervorgehobene Aspekt des Reprä52 53 54

Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 38. Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, S. 343. Zitiert nach Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, S. 343.

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sentativen oder Darstellerischen den Blick auf die Verfahren, mit denen in den beiden Szenen jeweils die Verknüpfung von symbolischer Autorität und physisch-somatischer Präsenz in Szene gesetzt wird. Dazu muss die Perspektive genauer vom Dargestellten zur Darstellung umschwenken. „Hamlet“ zeigt sich dann als ein Stück, das ebenso wie das Stück im Stück, die „mouse trap“, als Spiegel einer nicht einfach vorausgesetzten, sondern einer ihrerseits imaginierten Realität fungiert, also sich selbst auf der Seite des Spiels der Repräsentationen lokalisiert – und gerade darin eine entscheidende Voraussetzung politischen Handelns bestimmt.55 Folgt man dieser Selbstverortung, dann tritt an Hamlets Satz nicht allein dessen semantischer Gehalt, sondern ebenso seine rhetorische Form hervor: Der Satz präsentiert sich dann als ein spezieller rhetorischer Modus, in dem zwei Aussagen nicht einfach parallelisiert, sondern zugleich in ihrer Reihenfolge umgekehrt werden. Noch genauer gesagt geht es nicht um eine bloße Umkehrung. In der Umkehrung und durch sie soll vielmehr die spezifische Differenz King/king dargestellt werden: als eine Differenz, die zugleich auf eine Identität verweist. Die Leistung dieses Chiasmus – denn um diese spezielle, nach einem Zeichen, einem Buchstaben, genauer: nach dem figurativen Aspekt eines bestimmten Buchstabens, dem Buchstabenkörper, benannte Figur handelt es sich – ist vielfältig: Er spannt einen Gegensatz zusammen, betont mit seiner Form den Gegensatz, hebt zugleich die Verknüpfung zwischen den Gegensätzen hervor und verweist nicht zuletzt, deutlicher als der übliche hinter die bloße Übermittlung seiner Botschaft zurücktretende Mediengebrauch, auf seinen eigenen Status als explizite rhetorische Figur. Ganz entsprechend verleiht auch Voßkuhles Formel dem Aspekt einer Verknüpfung von Gegensätzen Gestalt. Wiederum ist die Aussage nicht allein in ihrem Aussagegehalt, sondern zumindest ebenso mit Bezug auf ihre Form interessant. In dem die Stellung des Bundespräsidenten prägnant zusammenfassenden Satz vom demokratisch veredelten Rückgriff auf das Erbe der konstitutionellen Monarchie lässt sich derselbe rhetorische Modus beobachten, der bereits die King/king-Differenz etabliert. Noch deutlicher als in Hamlets Satz ergeben sich hier die Gegensätze nicht erst aus der chiastischen Gegenüberstellung; sie liegen bereits auf jeder 55 Vgl. Kahn, The Future of Illusion, S. 47: „Against Schmitt’s opposition between aesthetic play and political seriousness, Hamlet’s metatheatrical reflections, along with his powerful aesthetic response to the players, help us see that it is theatrical or aesthetic form that allows for (but does not guarantee) political action.“

VI. Chiasmus

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Seite der umgekehrten Gleichung offen zutage. Auf beiden Seiten der Verknüpfung finden sich Konstruktionen, die eine nähere Betrachtung fast als Oxymora oder, mit Schmitts Formel für die Eigenart der katholischen Kirche gesprochen, als complexio oppositorum erscheinen lässt. Dass der Nobilitierungsprozess innerhalb einer politischen Form erfolgt, die üblicherweise als Herrschaft der Freien und Gleichen charakterisiert wird, ist danach ebenso unpassend wie die Vorstellung, der Alleinherrschaft durch einen rechtlichen Mechanismus Grenzen zu setzen, also eine Gegenmacht zu etablieren, die nicht wiederum nur vom Alleinherrscher selbst konzediert und damit jederzeit revozierbar ist. Die chiastische Verknüpfung von edler Demokratie und verfasster, also gebändigter Königsherrschaft ermöglicht ein Verständnis des Präsidenten, in dem das Amt einen Überschuss an Bedeutung enthält, der im Blick auf die konkrete Funktion unbegreiflich bleiben muss. Er bleibt darin auf etwas bezogen, was ihm als klassische Legitimationsressource zugleich aus systematischen Gründen grundsätzlich unzugänglich bleiben muss. Diese doppelte, ihrerseits in ihren Gegensätzlichkeiten miteinander verknüpfte oder zu verknüpfende Konstellation ist vielleicht kein Zufall. Zumindest findet sich genau diese Form der Verknüpfung mit Hilfe jener speziellen rhetorischen Figur, bei der auf beiden Seiten der Gleichung eine Art complexio oppositorum steht, bereits an einer anderen, für die Frage der politischen Theologie entscheidenden Stelle. Kantorowiczs Untersuchung über „The King’s Two Bodies“ entdeckt einen entsprechenden, zugleich überaus fremd- und eigenartigen (genauer: innerhalb der eigenen Vorstellungswelt, durch die eigene Einbildungskraft in seinem bildhaften Charakter vorgestellt, zugleich als fremdmöglichst erscheinenden) Chiasmus in dem mittelalterlichen Traktat eines anonymen normannischen Autors, der sich mit dem Problem der „Zwillingsgestalt“ des Herrschers beschäftigt und diese Figur nicht nur auf die christlichen Herrscher seiner Zeit bezieht, sondern sie auch in vorchristliche, namentlich römische Zeiten spiegelt. Kantorowicz schreibt: „The Emperor Tiberius appears as a ,twinned‘ being just as much as the Godman himself. Tiberius as man is iniquitous; but he is divine as Caesar, is divine as the incarnation of Power, is deus, and, with regard to Jesus, at once dominus. And Tiberius’ dual personality becomes all the more, and almost hopelessly, involved as this imperial gemina persona is set over against another gemina persona, Jesus Christ, the unigenitus according to his divinity and the primogenitus according to his humanity […].

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Kreuzstiche Thus, the strangest chiasmus imaginable results from that confrontation of two dual personalities. It is as though the potestas of Tiberius qua Caesar were ,haloed‘, whereas Christ, in his human serfdom, remains without halo. At the same time, however, the iniquitous Tiberius in his individual natural body is without halo, whereas the incarnate and individuated God, though a Deus absconditus, is haloed even as man.“56

VII. Die Wunde der Politischen Theologie Offenbar ist demnach die rhetorische Figur des Chiasmus für die Erläuterung jenes Problemfelds, das unter dem Titel „politische Theologie“ geführt wird, in besonderem Maße geeignet.57 Der Grund hierfür scheint leicht erklärlich. Wie Rodolphe Gasché herausgestellt hat, bildet diese Figur in ihrer klassischen Verwendungsweise, von Heraklit bis Hegel, eine Form der Schließung, in der sich die Kontrastierung von Gegensätzen zu einem höheren Ganzen zusammenfügt: „Als eine Form, als die Form des Denkens ist der Chiasmus ursprünglich das, was es überhaupt ermöglicht, Gegensätze zu einer Einheit zu verbinden. Er ist eine Form, die es ermöglicht, Unterschiede in bezug auf eine zugrundeliegende Totalität zu bestimmen. […] Nichts, was einander entgegengesetzt ist, wird allein stehengelassen; sondern durch den Chiasmus werden die Gegenpole zu Parallelen und verkehrten Gegensätzen auf dem Boden einer zugrundeliegenden Einheit miteinander verknüpft, einem tauto, das sich durch das ausdrückt, was voneinander getrennt ist. […] Kurz gesagt, der Chiasmus ist eine Form, durch die Differenzen eingeführt, bewahrt und in einer fundamentalen Einheit der Totalität überwunden werden. In diesem Sinn kann man den Chiasmus als die primitive Matrix der Hegelschen Dialektik ansehen.“58

In Analogie zu Blumenbergs Konzeption von „absoluten“ Metaphern, deren Funktion darin liegen soll, dass sie „das nie erfahrbare, nie über-

56

Kantorowicz, The King’s Two Bodies, S. 55. Vgl. dazu auch Vesting, Die liberale Demokratie und das Andere der Kultur (und der Medien), S. 22, mit Bezug auf die entsprechenden Erläuterungen bei Claude Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen, Wien 1999, S. 86. 58 Rodolphe Gasché, Über chiastische Umkehrbarkeit, in: Anselm Haverkamp (Hrsg.), Die paradoxe Metapher, Frankfurt a. M. 1998, S. 437 ff. (440 f.). 57

VII. Die Wunde der Politischen Theologie

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sehbare Ganze der Realität [repräsentieren]“59, wäre es demnach denkbar, für die begrifflich kaum einzuholende, aber offenbar auch kaum ganz aufzugebende Einheitsidee im Bereich des Politischen eine absolute rhetorische Figur in Gestalt des Chiasmus auszumachen und mit ihrer Hilfe die Figur der Einheit zumindest als „symbolische“ zu retten. Diesem traditionellen, die complexio oppositorum wieder in eine Einheitsfigur aufhebenden Verständnismodell stellt Gasché jedoch ein weiteres, gegenüber dem tradierten Konzept konträres Verständnis gegenüber. Seine Erörterung der modernen Chiasmuskonzeptionen bei de Man, Derrida, Merleau-Ponty und Warminski betont die Differenzen zwischen diesen Positionen ebenso wie ihre Einheit im Kontrast zur zuvor skizzierten Tradition. Danach fungiert der Chiasmus nicht länger nur als Figur der Schließung. Er reißt vielmehr in seiner Positionierung und Relationierung der Gegensätze jede Bewegung der Schließung wieder auf. De Man insistiert danach auf der rhetorischen Dimension des Geschehens; aber nicht im Sinne einer „bloße[n] Figur der Rede“, sondern als „Struktur des Texts als Text“60. Er präsentiert den Chiasmus als „cross-shaped reversal of properties“61 im Sinne einer „Figur oder besser einer Nicht-Figur für die rhetorische Dimension des Textes, einer Dimension, die ihn zu einer sich unendlich aufschiebenden und überschreitenden Totalität macht.“62 Demgegenüber interessiert Derrida an der Figur ein allgemeinerer Aspekt, das Geschehen einer Verfaltung, die nicht nur Gegensätze zu einer Einheit zusammenfasst, sondern eine zusätzliche Flexion enthält, die auf das Medium verweist, in dem eine derartige Entgegensetzung überhaupt erst stattfinden kann.63 In diesem Sinne stellt sich an und im Chiasmus die

59 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. Kommentar von Anselm Haverkamp unter Mitarbeit von Dirk Mende und Mariele Nientied, Frankfurt a. M. 2013, S. 29. Vgl. an diese Konzeption anschließend auch Vesting, Die liberale Demokratie und das Andere der Kultur (und der Medien), S. 26 ff. 60 Gasché, Über chiastische Umkehrbarkeit, S. 442, mit Bezug auf Paul de Man, Rhetoric of Tropes (Nietzsche), in: ders., Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Haven/London 1979, S. 103 f. (113). 61 de Man, Rhetoric of Tropes (Nietzsche), S. 113. 62 Gasché, Über chiastische Umkehrbarkeit, S. 442. 63 Vgl. Gasché, Über chiastische Umkehrbarkeit, S. 443.

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Kreuzstiche

„différance der Differenz“64 dar. „Die Form des Chiasmus“ ist demnach, Gasché zufolge, „nach Derrida die Gestalt einer Bewegung, die, indem sie den irreduziblen Verweis einer Totalität auf ein Anderes im Prozeß ihrer Selbstkonstitution aufnimmt, zu einem Gegengesetz derselben Konstitution wird.“65

Warminski schließlich betont in Gaschés Darstellung nicht nur den Chiasmus, sondern die Negativität, den Abgrund des mit diesem Namen bezeichneten Geschehens. Der Chiasmus ist bei ihm „nicht nur die Form des Denkens (der Interpretation und Philosophie), die die Totalisierung ermöglicht, sondern er ist ebenso die Form, die dazu führt, daß diese Totalisierungen sich wechselseitig vernichten – endlos, immer wieder.“66

In allen drei Perspektiven unterläuft demnach der Chiasmus die klassische Bewegung der Totalisierung, indem er sie nicht einfach negiert, sondern im Gegenteil eigens zur Schau stellt, damit zugleich aber auf einen Überschuss medialer Selbstreferenzialität verweist, der durch das Totalisierungsgeschehen nicht zur Gänze absorbiert wird. Mit Bezug auf einen ursprünglich französischen, aber ins Deutsche erstaunlich gut übertragbaren pun bei Lacan könnte man entsprechend sagen, dass der Chiasmus zwei Bereiche so zueinander ins Verhältnis setzt, dass sie sich gegenseitig versäumen.67 Er verknüpft oder vernäht nicht nur zwei einander vollkommen entgegengesetzte Sphären, sondern verbindet sie durch die Entgegensetzung selbst, über kreuzweise Einschnitte oder Einstiche. Der Chiasmus ist kein kreuzförmiger Verband, der auf eine entsprechende Wunde gelegt wird, damit sie rasch und narbenfrei verheilen möge. Er ist

64 Jacques Derrida, Platons Pharmazie, in: ders., Dissemination, Wien 1995, S. 69 ff. (143). 65 Gasché, Über chiastische Umkehrbarkeit, S. 448. 66 Gasché, Über chiastische Umkehrbarkeit, S. 454. 67 Vgl. zu diesem Übersetzungsvorschlag für das französische „suturé“, im Doppelsinn von „verzahnt und knapp daran vorbei“, Hans-Jörg Rheinberger, Iterationen, Berlin 2005, S. 53, mit Bezug auf eine Formulierung in Lacans Text über „Die Wissenschaft und die Wahrheit“ (in: Jacques Lacan, Schriften II, ausgewählt und hrsg. v. Norbert Haas, Olten 1975, S. 231 ff. [239]). Bei Lacan ist die Verwendung des Wortes allerdings noch komplizierter, weil er es nicht als Attribut im Rahmen einer positiven Aussage einsetzt, sondern im Kontext einer Negation: Die Wissenschaft sei dadurch definiert, dass es ihr nicht gelingt, ihr eigenes Subjekt zu „versäumen“: ein Versäumnis des Versäumnisses also.

VII. Die Wunde der Politischen Theologie

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selbst die Zufügung und Zurschaustellung der Wunde.68 Eine an einem derartigen Chiasmusverständnis orientierte politische Theologie wäre demnach eine politische Theologie, die nicht am Wunder, sondern an der Wunde ihr experimentum crucis aufweist: eine politische Theologie, die sich selbst durchkreuzt, ins eigene Fleisch schneidet, indem sie ihrer eigenen irreduziblen Rhetorizität innewird.

68

Vgl. Gasché, Über chiastische Umkehrbarkeit, S. 440.

Im Namen des Volkes I. Einleitung In wessen Namen spricht das Recht? Die Frage stellt sich nicht erst und ausschließlich dort, wo ihre Beantwortung besonders schwerfällt, weil keine unmittelbare Fremdreferenz in Gestalt eines einschlägigen Genitivsubjekts benannt ist, sondern entweder diese Referenz erst mühsam konstruiert werden muss oder gar das Recht offenbar im eigenen Namen auftritt: als Recht-Sprechung im emphatischen Sinn, die sich performativ den eigenen Status des Recht-Seins allererst selbst zuspricht.1 Die Frage stellt sich vielmehr ebenso dort, wo die Antwort eindeutig scheint, weil jeder Akt der Rechtsprechung auf die entsprechende Referenz ausdrücklich Bezug nimmt. Diese Antwort ruft nämlich nur eine neue Frage hervor: In wessen Namen spricht das Recht, wenn es „im Namen des Volkes“ spricht? Wer oder was ist das, worauf das Recht Bezug nimmt, indem es sich als sein Stellvertreter oder Repräsentant geriert (und damit strukturell einen Auftritt nachahmt, dessen Grundsatz „in nomine patris“ lautet) und daraus den Anspruch ableitet, die eigenen Sprechakte seien mehr als bloße Machtsprüche? 2 Angesprochen ist damit nicht nur die analog aus den Debatten zum Gesellschaftsvertrag bekannte Problematik, wie das Recht vor dem Recht, 1

Vgl. zum Problem Armin von Bogdandy/Ingo Venzke, In wessen Namen? Internationale Gerichte in Zeiten globalen Regierens, Berlin 2014, die für den Bereich einer internationalen Rechtsprechung eine Reihe konkreter Vorschläge diskutieren, „in wessen Namen“ eine derartige Judikatur erfolgen kann, um letztlich für die Doppelformel „im Namen der Völker und der Bürger“ zu votieren (vgl. a.a.O., S. 286 ff.). Mit speziellerem Fokus ferner Armin von Bogdandy/Laura Hering, Im Namen des Europäischen Clubs rechtsstaatlicher Demokratien. Zu Identität, Mandat und nationaler Pufferung der EGMR-Rechtsprechung, JZ 75 (2020), S. 53 ff. 2 Vgl. zur Abgrenzung des Rechts gegenüber den Machtsprüchen mit Bezug auf Kant näher Peter Fenves, Der späte Kant. Für ein anderes Gesetz der Erde, Göttingen 2010, S. 11 ff.

I. Einleitung

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das heißt ohne die eigenen Stellvertretungs- und Legitimationsmechanismen in Anspruch zu nehmen, in fremdem Namen sprechen (und durch Sprache handeln3) kann.4 In Frage steht noch etwas anderes: Wie lässt sich der Name dessen verstehen, in dessen Namen Recht gesprochen wird? Muss dieser Name vielleicht, statt als eigene Voraussetzung des Rechts zu erscheinen, die die Gründungsparadoxie des Rechts durch eine Gründungstautologie ersetzt, als Ereignis einer Annahme verstanden werden, das selbst als solches niemals in Erscheinung tritt? Muss jedes Sprechen des Rechts oder der Verfassung daher immer schon Sich-versprechen heißen, im doppelten Kant’schen wie Freud’schen Sinn? 5 Kann man überhaupt – und mit welchem Recht – einen Namen verstehen, ohne ihn selbst zu geben? Impliziert nicht jeder als gegeben verstandene Name einen weiteren Namen, in dessen Namen die Namensgebung erfolgt? Kann es sein, dass jedes Urteil, das „im Namen des Volkes“ ergeht, in letzter Instanz auf ein Geschehen verweist, das im Namen dessen spricht, der oder das nichts als Name ist? Heißt „im Namen von“ sprechen demnach je schon: im Namen des Namens sprechen? 6

3 „Solche Worte“, notiert schon Hegel an den Rand des der Bindungswirkung des Vertragsschlusses gewidmeten § 79 in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, „sind Taten und Handlungen“ (zitiert nach der Ausgabe Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg, 4. Aufl. 1955, S. 356). 4 Vgl. zur Debatte bezüglich der Gesellschaftsvertragskonstruktion Carl Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Berlin, 2. Aufl. 2004, S. 105 f. 5 Vgl. dazu näher Ino Augsberg, Verfassung als Text und Versprechen, Rechtstheorie 47 (2016), S. 183 ff. 6 Vgl. zu den entsprechenden, jeweils um eine Theorie des Namens kreisenden Überlegungen mit Bezug auf Schmitt einer- und Hegel andererseits Thomas Schestag, Namen nehmen. Zur Theorie des Namens bei Carl Schmitt, Modern Language Notes 122 (2007), S. 544 ff., und Frank Ruda, Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Konstanz 2011, denen alles Folgende entscheidende Anstöße verdankt. Zum Sprechen Im-Namenvon als Grundbedingung von Normativität überhaupt näher Pierre Legendre, Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Versuch über den Vater, Wien/Berlin 2011.

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Im Namen des Volkes

II. „Volk“ als juristische Kategorie Jedenfalls indiziert die Wendung „im Namen des Volkes“ ein Verständnis, dem gemäß „das Volk“ dem Recht vorauszusetzen ist. Das so angesprochene Volk steht vor dem Gesetz. Es geht – was die Überschrift „Präambel“ präzise notiert – sogar dem Recht des Rechts, das heißt dem Grundgesetz, noch voran. Seine durch den bestimmten Artikel angezeigte Einheit kann demnach keine rechtlich bestimmte sein. Was immer der Name „Volk“ in diesem Zusammenhang heißen mag, er benennt zumindest kein ausschließlich juristisch definiertes oder definierbares Phänomen.7 Gerade wenn es – in einem rechtlich untechnischen Sinn – als Subjekt staatlicher Herrschaft fungieren soll, ist es nicht möglich, das Volk von dieser Herrschaft und ihrer Organisation her zu verstehen und bereits als Einheit vorauszusetzen. Im Gegenteil: „Auch wenn man annimmt, wie es mindestens seit der Französischen Revolution üblich ist, dass das Volk Träger der konstitutionellen Macht ist, muss es sich, in seiner Eigenschaft als Träger dieser Macht, notwendigerweise außerhalb jeder rechtlich-konstitutionellen Norm befinden.“8

„Das Volk“ kann (noch) kein handlungs- oder beschlussfähiges Rechtssubjekt sein; seinem ersten Erscheinen als Singularetantum wie zum Trotz tritt es „nur im Plural auf“9, genauer gesagt in einer befremdlichen Vielzahl, die sich auch ihrer einzelnen Elemente, aus denen sie sich offenbar zusammensetzt, keinesfalls sicher sein kann, weil diese Elemente als feststehende Einheiten ebenfalls nur Resultat, nicht Voraussetzung des Rechts sein können. Deswegen betrifft ein Austausch der Begrifflichkeiten, der in anderen, konkreter juristisch bestimmten Kontexten etwa „Volk“ durch „Bevölkerung“ ersetzen will oder statt „citizenship“ nunmehr

7 Vgl. zum Problem aus juristischer Sicht näher etwa Friedrich Müller, Wer ist das Volk? Die Grundfrage der Demokratie – Elemente einer Verfassungstheorie VI, Berlin 1997; Steffen Augsberg, Wer ist das Volk? Zum Umfang der Bindungswirkung direktdemokratischer Entscheidungen im Bundesstaat, ZG 2012, S. 251 ff. Zur historischen Entwicklung der Formel Peter-Christian Müller-Graff, Zur Geschichte der Formel „Im Namen des Volkes“, ZZP 88 (1975), S. 442 ff. 8 Giorgio Agamben, Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma, Frankfurt a. M. 2016, S. 66. 9 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt a. M. 1992, S. 607.

II. „Volk“ als juristische Kategorie

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„denizenship“ als neue Grundkategorie entdeckt,10 das Volk, in dessen Namen Recht gesprochen wird, nicht. Das bedeutet umgekehrt keineswegs, dass das Volk, in dessen Namen das Recht sein Recht spricht, als vorrechtliche eine schlicht empirische Gegebenheit bildet, ein bloßes Faktum, dessen einzelne Charakteristika zu beobachten und zu benennen sind. So wenig „das Volk“ im genannten Kontext zum einfachen Verfügungsobjekt rechtspolitischer Auseinandersetzungen reduziert werden darf, so wenig entzieht es sich derartigen Auseinandersetzungen allein deshalb, weil es positiv in Kategorien des Tatsächlichen zu erfassen ist. Im Gegenteil: In dem Maße, in dem mit der Wendung „im Namen des Volkes“ eine Deutung als Autorisierungsformel verknüpft ist, lassen sich weder biologisch-genetische noch im weiteren Sinne geographische, einen bestimmten Aufenthaltsort zu einer bestimmten Zeit beschreibende Aspekte als hinreichende Definitionskriterien verwenden. Auch sozio-kulturelle Gegebenheiten genügen diesem Anspruch offenbar nicht. Der präjuridische, nichtsdestotrotz auf (noch) unbestimmte Weise mit der Sphäre des Normativen verknüpfte Charakter der autorisierenden Formel ist aus der reinen Faktizität nicht abzuleiten. Der rechts- und herrschaftstheoretisch verstandene demos lässt sich nicht auf ein Verständnis als ethnos reduzieren.11 Festzuhalten bleibt für die Frage nach dem Status des „Volks“ damit zunächst nur eine doppelte Negation: Das Volk, in dessen Namen das Recht auftritt, ist ebenso wenig auf die Gesamtheit der „Staatsbürger“ wie auf „die Bevölkerung“ oder angeblich spezifisch „völkische“ Eigenschaften festzulegen. Das von der Verfassung und dem Recht zugrunde gelegte Konzept „Volk“ ist weder juristisch noch tatsächlich zu bestimmen. Aus beiden Perspektiven kann es nur negativ erscheinen. Die einzige positive Bestimmtheit jenes Konzepts, die auf doppeldeutige Weise seine Einzigkeit und Einheit ausmacht – das heißt begründet und zugleich exstirpiert –, ist seine Unbestimmbarkeit.

10 Vgl. dazu etwa Neil Walker, Denizenship and the Deterritorialization in the EU, EUI Working Papers LAW 2008/08. 11 Vgl. zu entsprechenden Versuchen aber Michael Wildt, Die Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte, Berlin 2019, S. 11.

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Im Namen des Volkes

III. Der Begriff des Volkes bei Carl Schmitt Die skizzierte Position ist zumindest die Perspektive auf den Zusammenhang von Volk und Recht, die sich in Carl Schmitts Werk aufzeigen lässt. Präziser muss man sagen: Es ist eine der vielfältigen, teilweise gegensätzlichen Perspektiven, die sich in diesem scheinbar so stark auf markig vorgetragene Eindeutigkeit bedachten Werk finden lassen. In Ansätzen zeigt sie sich bereits bei dem jungen Schmitt. Besonders markant, wenngleich mit einer charakteristischen Gegenbewegung gepaart, das heißt in einer für Schmitts Werk insgesamt typischen Ambivalenz, die ein bestimmtes Phänomen zugleich beschreibt und verdeckt, tritt die entsprechende Sicht in der „Verfassungslehre“ hervor.12 Schon Schmitts Habilitationsschrift über den „Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen“ aus dem Jahr 1914 statuiert, noch mit deutlich (neu-)kantianischen Anklängen (weswegen dieses Werk im Kreis um Kelsen wohlwollend rezipiert wurde: Alfred Verdross schreibt Schmitt und berichtet, er habe über das Buch in Kelsens rechtsphilosophischem Seminar referiert, und Schmitts Ausführungen hätten dort „großen Beifall gefunden“13), einen der genannten doppelten Negation entsprechenden Zusammenhang – oder genauer: die Nicht-Existenz eines solchen Zusammenhangs – hinsichtlich der juristischen Begründungsverhältnisse. „Wenn das Recht aus Tatsachen abgeleitet werden kann, so gibt es kein Recht. Die beiden Welten stehen einander gegenüber“14. Das kleine Buch geht dabei allerdings auf die Frage nach dem, was vor dem Recht kommt, kaum näher ein. Sein Akzent liegt ganz auf der umgekehrten Sicht, die 12 Vgl. zum Folgenden bereits die ausgezeichneten Analysen bei Schestag, Namen nehmen. Zu Schmitts Doppelbewegung des Aufzeigens und Abwehrens bestimmter Phänomene ferner Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 124; sowie Friedrich Balke, Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München 1996, S. 15. 13 Vgl. dazu näher Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009, S. 65. Die These eines (noch) neukantianischen Charakters auch dieses Werks in Zweifel ziehend dagegen Jonas Heller, Mensch und Maßnahme. Zur Dialektik von Ausnahmezustand und Menschenrechten, Weilerswist 2018, S. 40 ff. 14 Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, S. 36 f. Schmitts Konstruktion zufolge bildet dann der Staat den „Übergangspunkt der einen Welt zur andern“ (S. 56), das heißt, dieser fungiert als Vermittler „zwischen dem Reich des Rechts und der Wirklichkeit“ (S. 58).

III. Der Begriff des Volkes bei Carl Schmitt

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hervorheben will, was alles danach kommt: Sowohl der Staat wie der Einzelne gehen dem jungen Schmitt zufolge dem Recht nicht voran, sondern werden erst durch das Recht hervorgebracht. Vor dem Gesetz steht damit nicht das autonome Individuum, sondern ein bloß materielles Phänomen, dessen etwaige dem Chaos entgegengesetzte Einheit sich blankem Zufall verdankt. „Das leibliche konkrete Individuum ist, wenn die Betrachtung sich über die materielle Körperlichkeit erhebt, eine gänzlich zufällige Einheit, ein zusammengewehter Haufen von Atomen, dessen Gestalt, Individualität und Einzigkeit keine andere sind, wie die des Staubes, der vom Wirbelwind zu einer Säule gefügt wird. Geht aber die Betrachtung über das Materielle hinaus, so liegt das Kriterium der Individualität in einem Wert, der einer Norm entnommen ist.“15

Diese Aussage expliziert das der Einleitung und damit dem ganzen Buch vorangestellte, Theodor Däublers „Nordlicht“ entnommene Motto: „Zuerst ist das Gebot, die Menschen kommen später.“16 Vor dem Gesetz steht demnach, was das Individuum betrifft, noch nicht „der Mensch“, sondern nur „materielle Körperlichkeit“. Charakteristisch für Schmitts Beschreibung ist allerdings, dass die rechtliche Bewegung mehr als eine reine Formung im Sinne der ordnenden Strukturierung einer vorgegebenen Materie benennt. Die juristische Aktivität ist weiter gefasst. Schmitt geht von der Erläuterung zur bloßen Materialität unmittelbar über zu einer Beschreibung der juristischen Technik der Fiktionen, die diese ausdrücklich abgrenzt vom Vaihinger’schen Verständnis einer „bewußt falschen Annahme“17. Die Fiktionen ahmen für Schmitt das „eigentlich Wirkliche“ nicht bloß nach, sondern schaffen durch eigene Tat die juristisch relevanten Sachen, die sich durch keinen Vergleich zu dem, was ihnen vorangeht, rechtfertigen müssen. Sie verweisen nicht auf ein außerhalb ihrer vorhandenes „Urbild“;

15 Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, S. 101. Vgl. zur Konzeption des Verhältnisses von Individuum und Staat in dieser Schrift näher auch Pedro Villas Bôas Castelo Branco, Die unvollendete Säkularisierung. Politik und Recht im Denken Schmitts, Stuttgart 2013, S. 79 ff. 16 Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, S. 9. 17 Vgl. Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, S. 102 Fn. 103, mit Verweis auf Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, Berlin, 2. Aufl. 1913.

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sie sind ihr eigenes Urbild.18 Das juristische Schaffen (man könnte auch sagen: Wirken oder Konstituieren) erschöpft sich nicht in bloßer Mimesis. Es ist selbst in einem höheren – sich über die bloße Materialität erhebenden – Sinn schöpferisch tätig. Eben das meint die Rede vom „Antinaturalismus im Recht“19. Nicht ganz verdeckt werden kann dabei jedoch, dass mit dem Hinweis auf die konkrete Materialität „ein Erdenrest / zu tragen peinlich“ verbleibt. Diese eigentümliche Bindung an „materielle Körperlichkeit“ einerseits bei gleichzeitiger Behauptung freier Schöpfungskraft andererseits hat ihr eigentümliches Pendant in Schmitts ebenfalls bereits in der Habilitationsschrift aufzufindender, allerdings in merkwürdig verkapselter, nur indirekt bejahter Gestalt präsentierter Sprachkonzeption,20 die er in elaborierterer, aber, da dann ohne Bezugnahme auf Recht und Rechtswissenschaft, ebenfalls verkürzter Form zwei Jahre später in seiner kleinen Monographie über Däublers „Nordlicht“ veröffentlichen wird.21 Schmitt kritisiert zu Beginn des zweiten Kapitels der Arbeit etwas, was für einen Juristen so selbstverständlich erscheint, dass die explizite Zurückweisung aufmerken lässt. Bei dem Versuch, prägnant zu bestimmen, was das Wort „Staat“ heißen könnte, weist er zunächst ein „unkritisches Vertrauen auf das Sprachgefühl und eine bedingungslose Auslieferung an den flatus vocis“22 zurück. Die Betrachtung der Sprache darf sich nicht in sich selbst erschöpfen; auch sie muss, um über das wirbelnde Chaos hinaus zu fester Einheit zu gelangen und dadurch allererst einen instrumentellen Gebrauch zu ermöglichen, normativ gebündelt und gebändigt werden. Schmitt formuliert in dieser Hinsicht zunächst einen Problembefund: „Der verwirrende Wirbel von Assoziationen, die sich an ein Wort anknüpfen, kann nicht aus sich selbst heraus das ordnungsschaffende Prinzip gebären, das dem Begriff die nötige Festigkeit verleiht, damit er überhaupt verwendbar werde.“23 18 Vgl. Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, S. 104: „Die ,fiktive‘ juristische Person ist das Urbild aller Persönlichkeit im Recht.“ 19 Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, S. 102. 20 Vgl. dazu näher bereits Schestag, Namen nehmen, S. 544 ff. 21 Vgl. Carl Schmitt, Theodor Däublers „Nordlicht“. Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes, München 1916 (Nachdruck Berlin 1991). 22 Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, S. 46. 23 Ebd.

III. Der Begriff des Volkes bei Carl Schmitt

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Das scheint der Differenz von bloß materieller Körperlichkeit und juristisch fingierten, das heißt geschaffenen Wirklichkeiten zu entsprechen. Der genannte „Wirbel von Assoziationen“ verweist auf die Unumgänglichkeit sprachlicher Selbstbezüglichkeit, die nicht nur unmittelbar, beinahe performativ, in der Verknüpfung des Wirren mit dem Wirbelnden belegt wird, sondern auch weitere entsprechende Verbindungen mit anderen Stellen innerhalb des Schmitt’schen Werks ermöglicht. Denn das hier zum ersten Mal genannte Wort taucht, wie um die Parallelität der Situationen zu unterstreichen, zum „Wirbelwind“ erweitert in der bereits genannten Beschreibung der rein zufälligen bloß körperlich-materiellen Einheit wieder auf.24 Es findet sich zudem, als Hobbes-Referat verkleidet, damit das verwirrend Wirbelnde mit dem sich Windenden (hebr. liwjatan) verknüpfend, auch noch in dem wenige Jahre später erschienenen Buch über „Die Diktatur“25. Der von Schmitt demnach nicht nur genannte, sondern darüber hinaus bereits in Aktion demonstrierte sprachliche Wirbel bildet damit das Gegenphänomen zu dem im Widerstand gegen seine Fliehkräfte zu gewinnenden sicheren Stand, den die Benennungen und die Dinge, die Dinge durch ihre sicheren Benennungen, gewinnen müssen – gegen jenen Wirbel also, der es zulassen würde, den gesuchten sicheren Stand nicht nur mit irgendeinem vorgegebenen Deutungsschema zu traktieren (also etwa, in einer bestimmten psychoanalytischen Sicht, die Gegenläufigkeit der Rede von „Säule“ und „Festigkeit“ einerseits und dem Prinzip des Materiellen andererseits hervorzuheben26), sondern ihn sprachlich auf einen bestimmten status zurückzuführen und diesen wiederum mit dem Staat zu assoziieren, um auf diese Weise polis und polos 24

Vgl. zu dieser Parallele bereits Schestag, Namen nehmen, S. 545. Vgl., Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin, 3. Aufl. 1963, S. 116: „Für das wissenschaftliche Naturrecht des Hobbes ist der einzelne Mensch ein Energiezentrum und der Staat die im Wirbel der Atome entstehende, die Einzelheit verschlingende Einheit, der Leviathan.“ 26 Vgl. zu einer derartigen Interpretationslinie Nicolaus Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, München 1991, passim, v. a. S. 174 ff., der die Entscheidung „wortwörtlich“ als Ent-Scheidung im Sinne einer „Abwehr und Abkehr von der ,Scheide‘, der Vulva“, verstehen will: „Entscheidung ist die Fixierung auf den Phallus, um der schrecklichen Gefahr zu entrinnen, von der klaffenden Öffnung, der béance, dem Abgrund verschlungen zu werden, in den man nur zu gerne hinein möchte“ (S. 177 f.). 25

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Im Namen des Volkes

gegenüberzustellen.27 Dass ein scheinbar sicherer Stand, der als Ruhe den Gegenbegriff zur Bewegung ausmachen soll, zugleich dennoch auch das gegenteilige Geschehen einer bis zum Bürgerkrieg entfesselten Auseinandersetzung bezeichnen, also den Stand zum Aufstand variieren kann, war dem Platon-Leser Schmitt klar. An der Doppeldeutigkeit der griechischen stasis arbeitete er sich noch in den 1970er Jahren ab.28 Dann jedoch, im unmittelbaren Anschluss an das Vorherige, gewissermaßen in Parenthese zur eigenen Grundaussage, gesteht Schmitt einer 27

Vgl. zu einer solchen Assoziation, allerdings in gewissermaßen umgekehrter Richtung, Martin Heidegger, Hölderlins Hymne „Der Ister“ (Freiburger Vorlesung Sommersemester 1942), GA Bd. 53, hrsg. v. Walter Biemel, Frankfurt a. M. 1984, S. 100: „Vielleicht ist p|kir der Ort und der Bereich, um den sich alles Frag-würdige und Unheimliche in einem ausgezeichneten Sinne dreht. Die p|kir ist p|kor, d. h. der Pol, der Wirbel, in dem und um den sich alles dreht. In beiden Worten ist das Wesentliche genannt, was im zweiten Wort des Chorliedes das Zeitwort p]keim sagt: das Beständige und der Wechsel. Das wesenhaft ,Polare‘ der p|kir geht das Seiende im Ganzen an. Das Polare betrifft das Seiende in dem, worum es, das Seiende als das offenbare, sich dreht. Auf diesen Pol ist dann der Mensch in einem ausgezeichneten Sinne bezogen, sofern der Mensch das Sein verstehend inmitten des Seienden steht und hier notwendig jeweils einen ,status‘, einen Stand mit seinen Zuständen und Umständen hat. ,status‘ ist der ,Staat‘. Also besagt p|kir doch so viel wie ,Staat‘. Wir sind jedoch bereits wieder auf einem Irrweg, wenn wir uns, p|kir als Staat denkend, wissentlich oder gedankenlos an Vorstellungen von neuzeitlichen Staatsgebilden halten.“ 28 Vgl. Carl Schmitt, Brief an Reinhart Koselleck vom 29. April 1970, in: Reinhart Koselleck/ders., Der Briefwechsel 1953 – 1983 und weitere Materialien, hrsg. v. Jan Eike Dunkhase, Berlin 2019, S. 223 f.: „Wer bearbeitet bei Ihnen das Wort st\sir? Ich quäle mich seit der Anm. im Begriff des Politischen (S. 29 Anm 5 der Ausgabe von 1963) über st\sir und ewhq|r bei Plato. Die Monographie von Contiades lege ich bei. Sein Tod ist für mich ein schwerer Verlust, sogar ein schwerer Schlag. An wen kann ich mich jetzt wenden? Christian Meier werde ich fragen; er wird die Frage verstehen. Ihnen möchte ich sie ebenfalls vorlegen. Vor den FachPhilologen habe ich Angst. Es handelt sich um Folgendes: st\sir heisst bei Platon 1) stasis = Ruhe / Standort; (Gegensatz: Bewegung; j_mgsir, siehe das Gespräch Sophistes (Sokrates mit Theodoros, Freunden aus Elea, und Theaitos) 250a folgende. j_mgsir (gehört auch zum Seienden) und st\sir (Ruhe) sind; Bewegung und Ruhe sind etwas vom Seienden verschiedenes etc. 2) stasis = Aufstand, Rebellion (politische Unruhe) Politeia 5, cap. XVI, 470 Gegensatz: (politische) Ruhe würden wir sagen. Die beiden Bedeutungen werden im Lexikon von Gemoll einfach, unvermittelt, nebeneinander genannt. Was bedeutet das? Wie erklärt sich das?“

III. Der Begriff des Volkes bei Carl Schmitt

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anderen Form der Auslieferung an die Sprache doch ihr Recht zu. In und als Sprache zeigt sich danach etwas, was zwar noch nicht ein normativ ausgeformter, hinsichtlich der Grenzen seines zulässigen Gebrauchs genau bestimmter und insoweit beherrschter Begriff ist, aber dennoch als mehr denn ein bloß biologisches Phänomen, ein factum brutum, erscheint. „Freilich liegen in jeder sprachlichen Benennung viele und wichtige Hinweise, die Sprache ist mehr als ein rein biologisches Werkzeug, ein Mittel zur Verständigung, das dem Menschen nichts anderes bedeutete, als etwa dem Hund sein ausgebildeter Geruchssinn. Jedes Problem nimmt mit der Erforschung jener Relationen und Andeutungen seinen Anfang. Die Methode aber, die exakt den Sprachgebrauch feststellen will, um einen wissenschaftlichen Begriff daraus zu gewinnen, verkennt gerade diese Bedeutung der Sprache und achtet sie nur als Faktum, wie jedes Faktum.“29

Die beiden einzigen Beispiele, die Schmitt in seiner Habilitationsschrift für derartige unmittelbar aus einem Wort selbst abzuleitende, die Erkenntnis fördernde Hinweise gibt, sind allerdings von elliptischer Kürze; sie erscheinen damit merkwürdig kryptisch und sowohl hinsichtlich der behaupteten Sachaufklärung im konkreten Einzelfall wie mit Bezug auf das dahinterstehende grundsätzliche Verfahren wenig ergiebig. Wenige Seiten nach den allgemeinen Ausführungen zur Relevanz der Sprache statuiert Schmitt das erste entsprechend buchstäblich zu verstehende argumentum ex verbo. Anknüpfungspunkt ist dabei das Wort „Legitimation“. „Die elementarsten Ausgangspunkte aller juristischen Geistestätigkeit […] fordern eine Legitimation, die kein Faktum, sondern nur eine Norm geben kann und setzen, wie sich schon aus dem Worte ,Legitimation‘ ergibt, das Recht vor den Staat.“30

Was genau im Einzelnen sich zeigt und auf diese Weise aus dem Wort selbst folgt – die dem Legitimationserfordernis eingeschriebene lex? –, bleibt unbestimmt, es wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Entsprechendes gilt für den unmittelbar folgenden Satz, der das zweite Beispiel für die Aussagekraft eines bloßen Wortes bildet. Hier soll offensichtlich die Reihenfolge der beiden Wortbestandteile in einem aus zwei Nomen zusammengesetzten Substantiv als Argument in der Sache fungieren. Daraus wird immerhin erkennbar, dass die Parallele zur „materiellen Körper29 30

Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, S. 46. Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, S. 52.

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lichkeit“ die Buchstäblichkeit eines Wortes betrifft, das heißt die äußere Gestalt im Sinne dessen, was Walter Benjamin das „Wortskelett“ genannt hat.31 Es tritt nach Benjamin hervor, wenn der betrachtende Blick auf das Wort jede „Intention auf seine Bedeutung“ verloren hat, also eine Art leeres Lesen geworden ist, das sich gerade nicht darauf konzentriert, einen spezifischen Sinn aufzulesen. Das „Wortskelett“ ist durch eine bestimmte Bedeutungslosigkeit charakterisiert. Sie bildet aber kein schlichtes Privationsphänomen gegenüber ausdrücklich semantischen Analysen, sondern geht diesen Analysen in gewissem Sinne immer schon voraus und bestimmt sie mit. Das Wortskelett ist deutbar in der Doppeldeutigkeit des deutschen Suffixes, der gemäß – nudus auf der einen mit ferus und ferre respektive phoros und pherein auf der anderen Seite kurzschließend32 – das Skelett jeder Deutung bar und zugleich ihr gegenüber offen, ihre Möglichkeit eröffnend, ist.33 Die Blöße des Worts, das jeder sich vordrängenden, es zudeckenden Intention auf etwas anderes als das Wort so weit verlustig gegangen ist, dass sie, über die Rede von der „materiellen Körperlichkeit“ hinausgehend, noch den Wortleib hinter sich lässt, ihn zum blanken Skelett austrocknet, verdorrt, macht das bloße Wort als solches lesund deutbar. So gelesen und gedeutet, spricht sich das Deutbare des Worts gegen jenen Trennungsstrich (barre) aus, der als Signum einer allzu scharfen Abgrenzung von Signifikant und Signifikat fungiert. Ein entsprechendes Dependenzverhältnis, in dem das bloße Wort, sein Skelett, auf die eigene Bedeutung (vor)deutet und damit eine geläufige Differenzierung von Bedeutungsträger und Bedeutungsgehalt unterläuft, wird jedenfalls von Schmitt behauptet:

31 Vgl. Walter Benjamin, Das Skelett des Wortes, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI: Fragmente vermischten Inhalts. Autobiographische Schriften, Frankfurt a. M. 1985, S. 15 ff. Dazu näher Thomas Schestag, „geteilte Aufmerksamkeit“, in: ders. (Hrsg.), „geteilte Aufmerksamkeit“. Zur Frage des Lesens, Frankfurt a. M. 1997, S. 7 ff. (13 ff.). 32 Vgl. dazu näher Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1854, Sp. 1120. 33 Vgl. allg. zum Thema der „-barkeit“ bei Benjamin näher Samuel Weber, Benjamin’s -abilities, Cambridge (MA) 2008; speziell zum Verhältnis von Benjamin und Schmitt, allerdings weitgehend ohne Einbeziehung des jeweiligen Sprachdenkens, S. 176 ff. Zur Doppeldeutigkeit der „-barkeit“ auch Ruda, Hegels Pöbel, S. 257 f.

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„Auch das Wort ,Rechtsstaat‘ deutet auf den Primat des Rechts, denn es bezeichnet für eine rechtsphilosophische Betrachtung den Staat, der das Recht als ein vor ihm geltendes Prinzip für sich maßgebend sein läßt.“34

Deutlicher als die Habilitationsschrift buchstabiert den Bezug auf ein unverfügbar vorgängiges, zugleich ganz unbestimmt bleibendes Element, das gerade aufgrund dieser Unbestimmtheit in seiner sprachlichen Dimension zu bedenken ist und dabei auf Sprache als sowohl normatives wie vorrechtliches Phänomen verweist, die fast anderthalb Jahrzehnte später, 1928, erschienene „Verfassungslehre“ aus. Die entsprechenden Ausführungen bleiben dabei erneut in mehrfacher Hinsicht ambivalent. Die Mehrdeutigkeit der Konzeption wird nun aber, zumindest teilweise, eigens thematisch, und dort, wo dies geschieht, weist die „Verfassungslehre“ die Mehrdeutigkeit zudem eigens als ein sprachlich konstituiertes Phänomen aus. Das Verfahren lässt sich damit als Versuch lesen, den „verwirrenden Wirbel von Assoziationen“, die sich an das Wort „Volk“ anknüpfen, so zu ordnen, dass juristisch fassbare, hinreichend feste Begriffe entstehen. Es lässt sich aber ebenso als Beleg dafür entziffern, dass das Wort „Volk“ sich der juristischen Fassbarkeit entzieht, weil das, was damit benannt werden soll, allen Bestimmungsversuchen des Rechts notwendig vorangeht und ihnen dadurch je schon entzogen ist. Charakteristisch für dieses Vorgehen ist der Anspruch, eine „Übersicht über die Bedeutungen des Wortes ,Volk‘ für eine moderne Verfassungslehre“ zu geben. Damit wird Mehrdeutigkeit zugestanden und gleichzeitig, durch eine ihrerseits doppeldeutige Bewegung, die als Einteilung des Unterschiedenen wieder ordnend-zusammenfasst, was sie zunächst als voneinander getrennt benennt, unterlaufen. Schmitt unterscheidet „1. Volk als nicht-formierbare, nicht-verfassungsgesetzliche Größe“ von „2. Volk als verfassungsgesetzlich formierte und organisierte Größe“35. Das scheint der allgemeinen Unterteilung „des Volks“ als einem prärechtlichen, gänzlich unbestimmten und unbestimmbaren Phänomen auf der einen Seite und dem rechtlich eingehegten Volksbegriff auf der anderen Seite zu entsprechen. „Das Volk“ in der erstgenannten Bedeutungsvariante ist danach nicht einfach der letzte Grund des Rechts, sondern ein unbestimmbarer, in seiner etwaigen Bestimmtheit sich stets entziehender Grund – ein Abgrund. Genau diese Bestimmung der Unbestimmbarkeit 34 35

Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, S. 53. Carl Schmitt, Verfassungslehre, 6. Aufl. Berlin 1983, S. 251.

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dessen, was „Volk“ heißen soll, hält Schmitt in der wenige Jahre zuvor erschienenen, zeitlich genau zwischen seiner Habilitationsschrift und der „Verfassungslehre“ liegenden Arbeit „Die Diktatur“ fest; er markiert sie als Charakteristikum dieses Phänomens, das sich so hartnäckig dem verstehenden Zugriff immer wieder entwindet: „Das Volk, die Nation, die Urkraft alles staatlichen Wesens, konstituiert immer neue Organe. Aus dem unendlichen, unfaßbaren Abgrund ihrer Macht entstehen immer neue Formen, die sie jederzeit zerbrechen kann und in denen sich ihre Macht niemals definitiv abgrenzt.“36

Eben deswegen kann das Wort „Volk“ im strengen Sinn weder ein Rechtsbegriff noch überhaupt ein fest gefügter und dadurch – etwa im Rahmen einer Verfassungstheorie – verwendbarer Begriff sein. Das Wort „Volk“ nennt nicht ein bestimmtes, abgrenzbares Phänomen, sondern eines, das als Herkunft seiner Macht in einen Abgrund verweist. Wenn Schmitt vom Volk als „Abgrund“ schreibt, es konstituiere „niemals sich selbst, sondern immer nur einen Andern“37, so ist die Aussage beim Wort zu nehmen und auf das Wort „Volk“ zu übertragen. Auch dieses konstituiert weder sich selbst noch seinen Gegenstand als eine sicher anzunehmende Referenz. Es entzieht der Figur der Referenzialität ihren Grund, indem es auf der Differenz in der Referenz insistiert. Thomas Schestag hat diesen Zusammenhang in seiner Studie zur „Theorie des Namens bei Carl Schmitt“ prägnant herausgearbeitet: „grund-und grenzenlos, aber Grund und Grenzen setzend; unkonstituiert und unkonstituierbar, aber Inbegriff – genau aus diesem unfaßbaren Grund – des pouvoir constituant; nennt das Wort Volk, wo es zum verfassunggebenden Subjekt umrissen und versammelt steht, nicht sich, sondern ein Anderes, kein anderes Volk, sondern anderes als Volk. Das Wort Volk nennt als Begriff nicht das begriffsbildende Volk, weil alle Begriffe de populo, mit einem andern Wort vom Abgrund zustandekommen, und in die Abgründigkeit ihres Zustandekommens verhakt bleiben.“38

Die „Verfassungslehre“ weicht vor dieser abgründigen Dimension des Volksbegriffs, wieder etwas zurück. Statt die darin anklingende unheimliche Bestimmung, die den demos in die Nähe des deimos rückt, aufmerksamer zu beobachten, versucht sie eher, die zuvor ausdrücklich be36 37 38

Schmitt, Die Diktatur, S. 142. Schmitt, Die Diktatur, S. 143. Schestag, Namen nehmen, S. 552 f.

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nannte Bodenlosigkeit des Konzepts wieder etwas zu verdecken. Der Text der „Verfassungslehre“ ersetzt nicht nur die Rede vom „Abgrund“ durch die vom „Urgrund alles politischen Geschehens“39. Er unterläuft zugleich die These der absoluten Unbestimmbarkeit in der ersten Bedeutungsdimension des Wortes „Volk“ dadurch, dass er die Unbestimmbarkeit nun doch näher bestimmt. Schmitt nennt drei Unterkategorien, in die sich das „Volk als nicht-formierte, nicht-verfassungsgesetzliche Größe“ aufteilen lasse: „a) Volk als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt […]; b) Volk als Träger der öffentlichen Meinung und Subjekt von Akklamationen [..]; c) Volk als diejenigen, die nicht regieren oder Behörden sind (in der Zusammensetzung ,Volksbegehren‘ […]).“40

In allen drei Unterkategorien wird die Konzeption des Volks als Abgrund, das Formen nur schafft, um sie jederzeit wieder zerbrechen zu können, offenkundig ihrerseits zerbrochen, in eine domestizierte Form gebannt. Sowohl die doppelte Subjektfigur wie die Abgrenzung von Gubernative und Administrative benennen jeweils ein Phänomen, das selbst zu einer konkreten, konstituierten Gestalt geronnen ist. Das Volk kann offenbar nur in dem Maße als „Urkraft“ wirken, in dem es sich mit den ontologischen Kategorien Wirklichkeit, Anwesenheit und Vorhandensein bestimmen lässt. Demgemäß heißt es zunächst: „Nach der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes steht das Volk als Träger der verfassunggebenden Gewalt außer und über jeder verfassungsgesetzlichen Normierung.“41

Das ist das Volk in der Bedeutung 1a. Schmitt fährt fort: „Wenn ihm verfassungsgesetzlich gewisse Zuständigkeiten (Wahlen und Abstimmungen) übertragen werden“ – also das Volk im Sinne der Bedeutung 2 formiert wird –, „ist damit seine politische Handlungsmöglichkeit und Bedeutung in einer Demokratie keineswegs erschöpft und erledigt.“42

39 Schmitt, Verfassungslehre, S. 79. Vgl. zur Parallelisierung der beiden Textstellen bereits Schestag, Namen nehmen, S. 552 ff. 40 Schmitt, Verfassungslehre, S. 251. 41 Schmitt, Verfassungslehre, S. 242. 42 Ebd.

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Über die hier genannte Bedeutung 2 hinaus gibt es also noch eine weitere Handlungsmöglichkeit, die dem Volk zukommt. Genau an dieser Stelle setzt die ontologische Begrifflichkeit an. In impliziter Abgrenzung von der eigenen früheren Perspektive auf den Einzelnen schreibt Schmitt mit der einschlägigen Terminologie nunmehr dem Volk eine offenbar hinreichend klar definierte, über den Bereich der bloß materiellen Körperlichkeit hinausreichende prärechtliche Existenz zu. „Neben allen solchen Normierungen bleibt das Volk als unmittelbar anwesende – nicht durch vorher umschriebene Normierungen, Geltungen und Fiktionen vermittelte – wirkliche Größe vorhanden.“43

Das entspricht den auch im Übrigen in vielfältiger Gestalt in Schmitts Werk auffindbaren Unmittelbarkeitssehnsüchten, die jede Form von Vermittlung nur als Verdrehung, als Perversion des „Echten“ oder „Wirklichen“ verstehen. Von hier aus lassen sich entsprechend ausgreifend weitere Linien ziehen, die sämtlich darauf hinauslaufen, einem vorgeblich leeren, bloß „funktionalistischen“ Denken einen „substanziellen“ Ansatz gegenüberzustellen.44 Den Fluchtpunkt der einschlägigen Erläuterungen bilden offenkundig nun doch wieder dem Bereich des Tatsächlichen entnommene Homogenitätskriterien, kulminierend in der behaupteten Notwendigkeit von „Artgleichheit“ als Voraussetzung der „politischen Einheit“. Mit dieser Behauptung lässt Schmitt seine im Jahr der „Machtergreifung“ veröffentlichte Schrift über den Dreiklang „Staat – Bewegung – Volk“ (die damit den früheren Dreiklang „Recht – Staat – Individuum“ ersetzt) enden.45 Die erklärte Absicht der kleinen Schrift ist es, die „echte Volkssubstanz“ zu thematisieren.46 Dazu soll das Wort „Volk“ über die Verknüpfung mit dem Führerprinzip mit dem homophonen 43

Ebd. Vgl. dazu bereits Ino Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts. Texttheoretische Lektionen für eine postmoderne juristische Methodologie, Weilerswist 2009, S. 149 ff. 45 Vgl. Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hamburg, 2. Aufl. 1933, S. 46: „Wir suchen eine Bindung, die zuverlässiger, lebendiger und tiefer ist als die trügerische Bindung an die verdrehbaren Buchstaben von tausend Gesetzesparagraphen. Wo anders könnte sie liegen als in uns selbst und unserer eigenen Art? Auch hier, angesichts des untrennbaren Zusammenhangs von Gesetzesbindung, Beamtentum und richterlicher Unabhängigkeit, münden alle Fragen und Antworten in dem Erfordernis einer Artgleichheit, ohne die ein totaler Führerstaat nicht einen Tag bestehen kann.“ 46 Vgl. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, S. 32. 44

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Imperativ „Folg’!“ kurzgeschlossen werden.47 Das Problem der Begriffsbestimmung ist damit aber offenkundig nicht gelöst, sondern nur verlagert; es betrifft nun das zugrunde zu legende adäquate Verständnis von Führung. Nachdem Schmitt zunächst gewarnt hat, „wir“ müssten uns „dagegen wehren, daß ein spezifisch deutscher und nationalsozialistischer Begriff durch die Assimilierung an fremde Kategorien getrübt und geschwächt wird“48 – womit immerhin implizit konzediert ist, dass die Rekonstruktion eines „spezifisch deutschen Begriffs“ die Verwendung von Ausdrücken wie „Assimilation“ und „Kategorie“ nicht von vorneherein ausschließt –, wechselt er im nächsten Absatz vom Problem des Begriffs zu dem der Metapher oder des „bildhaften Vergleichs“, genauer, zu dem Zusammenhang als Übergang zwischen beiden Problemkomplexen. Schmitt nennt zunächst die Wortgeschichte des lateinischen gubernator als „ein gutes Beispiel dafür, wie ein bildhafter Vergleich zu einem juristischtechnischen Begriffe wird.“49 Dann jedoch erfolgt die entschiedene Absetzung auch von dieser bildhaften Sprache und von Sprache als Vermittlungsgeschehen überhaupt. Der „wesentlich deutsche Sinn“ eines Wortes zeigt sich danach dort, wo Sprache nicht mehr vermittelt, sondern unmittelbare Präsenz hervorruft: dort, wo Sprache nicht deutet, sondern selbst führt. Unter der Hand wird damit Schmitts Sach- „sogleich“ doch wieder zu einem Sprachphänomen: „Keines dieser Bilder trifft das, was unter politischer Führung im wesentlich deutschen Sinn des Wortes zu verstehen ist. Dieser Begriff von Führung stammt ganz aus dem konkreten, substanzhaften Denken der nationalsozialistischen Bewegung. Es ist bezeichnend, daß überhaupt jedes Bild versagt und jedes treffende Bild sogleich schon mehr als ein Bild oder Vergleich, sondern eben Führung in der Sache selbst ist. Unser Begriff ist eines vermittelnden Bildes oder eines repräsentierenden Vergleichs weder bedürftig noch fähig. […] Er ist ein Begriff unmittelbarer Gegenwart und realer Präsenz.“50

47 Vgl. zur Verbindung von „Volk“ und „Gefolgschaft“ Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, S. 35, 42. Zum – unentschiedenen – allgemeinen etymologischen Zusammenhang von „Volk“ und „folgen“ Johann Konrad Schwenck/Georg Heinrich Lünemann, Etymologisches Wörterbuch der lateinischen Sprache, mit Vergleichung der griechischen und deutschen, Frankfurt a. M. 1827, S. 944. 48 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, S. 41. 49 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, S. 41 f. 50 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, S. 42.

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Die auf diese Weise getroffenen, auf das Schlimmste vordeutenden Bestimmungen zur „unmittelbaren Anwesenheit“ und „wirklichen Größe“ bilden allerdings nicht das letzte Wort der „Verfassungslehre“ zum Problem des Volks. Nur wenige Zeilen unter den zitierten Passagen finden sich, wenngleich buchstäblich nur im Kleingedruckten, in einem petit gesetzten gesonderten Absatz, einige weitere Aussagen, die auf erstaunliche Weise querstehen zu den genannten ontologischen Bestimmungsversuchen. Diese Aussagen benennen als das „Besondere“ des Volkes, seine Partikularität, die auf paradoxe Weise gerade seine Universalität bedingt, nicht länger eine unmittelbare Anwesenheit und „wirkliche Größe“. Sie verweisen vielmehr auf eine negative, zugleich in höchstem Maße durch die gesellschaftlichen Mechanismen vermittelte Dimension. Den neuen Aussagen zufolge ist das Volk dort am meisten Volk, wo es (noch) nicht vorhanden, als sozialer Faktor (noch) nicht präsent und wirksam ist. Auf der allerletzten Seite des Buchs, im Sachregister unter dem Stichwort „Volk“, enthält Schmitts „Verfassungslehre“ einen Eintrag, der eine denkwürdige Gleichung aufstellt: „V. = Proletariat“51. Bei der dafür als Referenz angegebenen Stelle im Haupttext handelt es sich um den genannten kleingedruckten Absatz. Er begründet die im Index statuierte Gleichung negativ, genauer, durch die besondere Beziehung des Volks wie des Proletariats zur Negativität. So sehr es in Schmitts Ausführungen zunächst um die wenig bemerkenswerte allgemeine Feststellung „omnis determinatio est negatio“ zu gehen scheint, so sehr wird sogleich deutlich, dass es bei einer solch’ allgemeinen Bestimmung des Wesens aller Bestimmungen nicht sein Bewenden hat. In Frage steht eine „eigenartige Negativität“, die das Volk eben dadurch auszeichnet, dass sie es in keiner Weise auszeichnet, oder noch genauer: dass sie es in einem emphatischen Sinn als nicht ausgezeichnet auszeichnet. Es sei, so Schmitt, „für den Begriff des Volkes […] charakteristisch, daß er negativ bestimmt werden kann. Es würde nicht nur im Allgemeinen etwas soziologisch Wesentliches treffen, wenn man das Volk in solcher Weise negativ definierte (z. B. das Publikum in einem Theater als den Teil der Anwesenden, der nicht mitspielt), es läßt sich auch für die wissenschaftliche Behandlung politischer Theorien diese eigenartige Negativität nicht verkennen. Volk sind in einer besonderen Bedeutung dieses Wortes alle, die nicht ausgezeichnet und unterschieden sind, alle nicht Privilegierten, alle nicht durch Besitz, soziale Stellung oder Bildung herausgehobenen (so sagt noch Schopenhauer: ,Wer kein Latein versteht, gehört 51

Schmitt, Verfassungslehre, S. 404.

III. Der Begriff des Volkes bei Carl Schmitt

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zum Volke‘). In der französischen Revolution des Jahres 1789 konnte sich das Bürgertum als dritter Stand mit der Nation identifizieren und war das Bürgertum das Volk, weil es der Gegensatz zur Aristokratie und zu den Privilegierten war. Sieyès stellte die berühmte Frage: Was ist der dritte Stand? und gab die Antwort, daß er die Nation sei; der dritte Stand ist Nichts und soll Alles werden. Aber sobald das Bürgertum selbst als eine durch Besitz und Bildung ausgezeichnete, den Staat beherrschende Klasse erschien, wanderte die Negation weiter. Jetzt wurde das Proletariat zum Volk, weil es zum Träger dieser Negativität wird: Es ist der Teil der Bevölkerung, der nicht besitzt, am produzierten Mehrwert nicht teilnimmt und in der bestehenden Ordnung keine Stelle findet. Gegenüber den besitzenden Klassen erscheint es daher in einem besonders intensiven Sinne als Volk“52.

Das Volk, so kann man die Beschreibung generalisieren, ist jener Teil der Gesellschaft, der an der Gesellschaft keinen festgelegten Anteil hat, jener Teil, der am sozialen Leben nicht teilnimmt: ein paradoxer „Teil, der keiner ist“, aber dennoch, oder gerade deswegen, in einer Art exzessiver Selbstbestimmung „seinen Namen mit dem Namen der Gemeinschaft selbst gleich[setzt]“53. Das so verstandene Volk ist, in Entsprechung zu Kants Differenzierung zwischen dem bejahenden, dem verneinenden und dem unendlichen Urteil,54 nicht einfach etwas Bestimmtes nicht. Es ist das „nicht“ selbst, als ein ihm zugeschriebenes Prädikat, das zugleich ein NonAttribut sein muss.55 Das Volk „in einer besonderen Bedeutung dieses Wortes“, das Volk „in einem besonders intensiven Sinne“, ist Un-Volk.56

52

Schmitt, Verfassungslehre, S. 242 f. So die Beschreibung bei Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M. 2002, S. 21. Zu dieser Parallele zwischen Schmitt und Rancière (sowie Laclau) bereits Jean-François Kervégan, Was tun mit Carl Schmitt?, Tübingen 2019, S. 196. 54 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 97. 55 Vgl. Ruda, Hegels Pöbel, S. 137 Fn. 172, 252 f., jeweils mit Bezug auf Slavoj Zˇizˇek, Die politische Suspension des Ethischen, Frankfurt a. M. 2005, S. 49. 56 Vgl. so ausdrücklich bereits Schestag, Namen nehmen, S. 555: „nur solange es noch kein Volk bildet, sondern ungebildet, Unvolk, wolkig bleibt, geht vom Volk die verfassunggebende Gewalt aus.“ Ähnlich auch Agamben, Stasis, S. 66: „Das Volk ist also das vollständig Gegenwärtige, das als solches nie gegenwärtig sein kann und daher nur repräsentiert werden kann. Wenn wir in Anlehnung an das griechische Wort für Volk, de¯mos, die Bezeichnung Ademie für die Abwesenheit eines Volkes verwenden, können wir festhalten, dass der Hobbes’sche Staat, dass überhaupt jeder Staat sich in einem Zustand ewiger Ademie befindet.“ 53

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IV. Zur Unterscheidung von populus und vulgus bei Kant und Hegel Ein derartiges Verständnis, das auf der entscheidenden Un-Bestimmtheit des Volksbegriffs insistiert, legt es nahe, das Konzept des „Volks“ noch einmal näher von dem her in den Blick zu nehmen, was ausdrücklich nicht Volk sein soll, aber wiederum dieses „nicht“ weder als positive Bestimmtheit noch im Sinne des einfachen verneinenden Urteils begreift, sondern von dem her versteht, was im hervorgehobenen Sinne zugleich Volk und Nicht-Volk, also Un-Volk heißen mag. Die Tradition hat für diesen in das Volk selbst eingetragenen Gegensatz zum Volk einen lateinischen Namen. Genauer gesagt handelt es sich um zwei deutsche und lateinische Namenspaare, die das „echte“ vom „unechten“ Volk – dem UnVolk – abgrenzen sollen. Es geht dabei um eine Abgrenzung von Teil und Ganzem, bei der unentschieden bleibt, von welcher Seite aus die Abgrenzung primär erfolgt, vielmehr sowohl der Teil sich selbst vom Ganzen ausnimmt wie er von diesem ausgeschlossen wird. Das entsprechende Verständnis präsentiert Kant in seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ unter der Überschrift „Der Charakter des Volkes“ als eine landläufig vorauszusetzende Konzeption. Seinem bekannten Interesse am „Etymologisieren“57 wie zum Trotz verknüpft er dabei die lateinischen und deutschen Wörter auf eine Weise, die den naheliegenden – wenngleich vielleicht verwirrende Wirbel hervorrufenden – Assoziationen aufgrund von Klang und Wortherkunft offenbar zuwiderläuft.58 Wie um einige wirbelnde Assoziationen dennoch zuzulassen, verweist Kant in seiner lateinischen Definition des aufrührerischen Sich-Zusammenschließens einer Menschenmenge zugleich auf ein Wort, turba, das selbst (auch) „Verwirrung“ heißen kann, außerdem in einer bemerkenswerten sprachlichen Nähe zu einem sich um sich selbst drehenden, rotierenden „Wirbelwind“ (turbo) steht und in der Verbindung mit der gewählten Präpo-

57

Vgl. dazu nur den Bericht bei Johann Gottfried Hasse, Lezte Aeusserungen Kant’s von einem seiner Tischgenossen, Königsberg 1804, S. 10 ff. 58 Der etymologische Zusammenhang von Volk und vulgus wird allerdings als „unsicher“ bezeichnet; vgl. entsprechend etwa Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 6. Aufl., Straßburg 1899, S. 409. Ähnlich Ludwig Doederlein, Handbuch der lateinischen Synonymik, Leipzig 1840, S. 211, wo es unter dem Eintrag „vulgus“ in Frageform heißt: „Davon Volk entlehnt?“.

IV. populus und vulgus bei Kant und Hegel

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sition, das Rotieren zum Rottieren erweiternd, erst recht etwas Beunruhigendes (perturbans) enthält.59 „Unter dem Wort Volk (populus) versteht man die in einem Landstrich vereinigte Menge Menschen, in so fern sie ein Ganzes ausmacht. Diejenige Menge oder auch der Teil derselben, welcher sich durch gemeinschaftliche Abstammung für vereinigt zu einem bürgerlichen Ganzen erkennt, heißt Nation (gens); der Teil, der sich von diesen Gesetzen ausnimmt (die wilde Menge in diesem Volk), heißt Pöbel (vulgus), dessen gesetzwidrige Vereinigung das Rottieren (agere per turbas) ist; ein Verhalten, welches ihn von der Qualität eines Staatsbürgers ausschließt.“60

Hegel übernimmt diese (auch auf eine noch sehr viel ältere Tradition zurückführende) mit einer (Ab-)Wertung verknüpfte Abgrenzung von vulgus und populus.61 Auch er spart damit andere, positivere Assoziationen aus, die gerade für den bekennenden Luther-Anhänger62 nahe genug liegen könnten – heißt doch im Lateinischen die Kundmachung einer Botschaft, und sei es die eines heiligen Textes, der dergestalt von einem vulgator unters Volk gestreut, dem ganzen Volk zugänglich gemacht wird, vulgatus.63 Was 59 Vgl. zu turba und turbo Doederlein, Handbuch der lateinischen Synonymik, S. 195. 60 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 295 f. 61 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, System der Philosophie. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hrsg. v. Hermann Glockner, Zehnter Band, Stuttgart 1929, § 544 (S. 421): „Das Aggregat der Privaten pflegt nämlich häufig das Volk genannt zu werden; als solches Aggregat ist es aber vulgus, nicht populus; und in dieser Beziehung ist der alleinige Zweck des Staates, daß ein Volk nicht als solches Aggregat zur Existenz, zur Gewalt und Handlung komme.“ Näher dazu Ruda, Hegels Pöbel, S. 219 f. Zur älteren lateinischsprachigen Tradition nur die „Etymologiae“ von Isidor, der im Anschluss an Cicero und Augustinus populus zunächst als „ humanae multitudinis, iuris consensu et concordi communione sociatus“ bestimmt und dann näher abgrenzt: „Populus ergo tota civitas est; vulgus vero plebs est.“ Dazu näher Otto Zwierlein, Die Definition von populus in Isidors ,Etymologiae‘, in: ders., Lucubrationes Philologae. Bd. 2: Antike und Mittelalter, hrsg. v. Rainer Jakobi, Rebekka Junge und Christine Schmitz, Berlin/New York 2004, S. 409 ff. 62 Vgl. dazu näher Ruda, Hegels Pöbel, S. 29. 63 Vgl. Schwenck/Lünemann, Etymologisches Wörterbuch der lateinischen Sprache, S. 944. Zum Sprachgebrauch des Neuen Testaments instruktiv Agamben, Stasis, S. 80: „Es ist bemerkenswert, dass sich die Menge, die sich um Jesus schart, in den Evangelien nie als politische Einheit – als Volk – darstellt, sondern stets als Masse oder Menge. Im Neuen Testament finden wir drei Begriffe für ,Volk‘: ple¯thos, lat. multitudo, 31 Mal; ochlos, lat. turba, 131 Mal; laos, lat. plebs, 142 Mal […]. In

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Im Namen des Volkes

Kant aber nur knapp anspricht, die Vulgarisierung des Volks zum Pöbel, wird in einigen wenigen, berühmten Sätzen in Hegels Rechtsphilosophie näher entfaltet. An ihnen lässt sich explizieren, dass der Pöbel eine „wilde Menge“ nicht nur deswegen bildet, weil sein Verhalten ungebändigt ist, sondern ebenso, weil er noch die Bindung, Zusammenfassung zu einer auf diese Weise vereinigten, als Einheit ansprechbaren Menge unterläuft. Hegel grenzt, im impliziten Anschluss an Kant, negativ ab, was das Wort „Volk“ bedeuten kann: „Die Vielen als Einzelne, was man gerne unter Volk versteht, sind wohl ein Zusammen, aber nur als die Menge – eine formlose Masse, deren Bewegung und Tun eben damit nur elementarisch, vernunftlos, wild und fürchterlich wäre. Wie man in Beziehung auf Verfassung noch vom Volke, dieser unorganischen Gesamtheit, sprechen hört, so kann man schon zum voraus wissen, daß man nur Allgemeinheiten und schiefe Deklamationen zu erwarten hat.“64

Diese Bestimmung entspricht zunächst offenbar einer entsprechenden Differenzierung bei Hobbes, der in „De cive“ die multitudo vom populus abgegrenzt und auf die – selbst ausdrücklich als paradox bezeichnete – Formel zugespitzt hatte, dass in der Monarchie die Untertanen die Menge bildeten, der König dagegen das Volk sei (rex est populus).65 Die Bestimmung erlaubt aber darüber hinaus noch einen weiteren Bezug. Kurz zuvor bereits hatte Hegel die Vielen ausdrücklich auch mit ihrem griechischen Namen benannt – hoi polloi. Vordergründig soll diese Rede nur die besondere Unbestimmtheit hervorheben, die die Vielen von Allen unterscheidet.66 Das erklärt aber nicht den Mehrwert der Übersetzung, die zur Differenz vulgus/populus noch hinzutritt. In einem weiteren verwirrenden dieser Reihe fehlt der Begriff mit einem eigentlichen politischen Wert, de¯mos (populus), ganz so, als ob das messianische Ereignis das Volk immer schon in eine multitudo oder eine formlose Masse verwandelte.“ 64 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 303. 65 Vgl. Thomas Hobbes, Vom Bürger, in: ders., Vom Menschen/Vom Bürger, hrsg. v. Günter Gawlick, Hamburg 1959, Kap. 12, 8, S. 199. Dazu auch Agamben, Stasis, S. 56 f. 66 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 301, Anm.: „Der Ausdruck die Vielen (oR pokko_) bezeichnet die empirische Allgemeinheit richtiger als das gang und gäbe: Alle. Denn wenn man sagen wird, daß es sich von selbst verstehe, daß unter diesen Allen zunächst wenigstens die Kinder, Weiber u. s. f. nicht gemeint seien, so versteht es sich hiermit noch mehr von selbst, daß man den ganz bestimmten Ausdruck Alle nicht gebrauchen sollte, wo es sich um noch etwas ganz Unbestimmtes handelt.“

IV. populus und vulgus bei Kant und Hegel

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Wirbel von Assoziationen könnte die Wendung im griechischen Wortlaut dazu dienen, polloi mit polos und dadurch mit turb(a/o) zusammenzurücken. Näherliegend erscheint im Kontext von Hegels Ausführungen jedoch ihre Verwendung als philosophiehistorische Reminiszenz. Sie verortet die begriffliche Festlegung auf die Vielen nicht nur in einem allgemeinen Problemfeld, das ebenso gut mit anderen Mitteln, etwa der Mengentheorie oder Quantorenlogik, zu bearbeiten wäre, sondern versieht sie zugleich mit einer spezifischen, pejorativen Konnotation. Hoi polloi assoziiert ein Verständnis der Vielen, das diese wegen ihres Eigensinns dem Gemeinsamen gegenüber- und aufgrund ihrer selbstzufriedenen Arbeitsscheu sogar dem Vieh gleichstellt.67 Anders als die Schmitt’schen Akklamationen, die eine gewisse harmonische Einstimmigkeit zum Ausdruck bringen sollten, bringt die vox populi nach Hegel nur Misstöne zustande. Sie verweist auf eine Unbestimmtheit, die der dialektische Prozess erst noch aufzulösen bestimmt ist. Das vulgäre Volksverständnis – das, was die im Kollektivsingular „man“ angesprochene Menge darunter versteht (und nur am Rande sei daran erinnert, dass Heidegger jene spezifische Verfallsbewegung, die das uneigentliche Verstehen des Man ausmachen soll, als „Wirbel“ charakterisieren wird68) – zeigt sich als eine Formlosigkeit, die nicht als solche bestehen bleiben kann, sondern ihrer gebotenen Formung harrt. Immerhin stimmen beide Beschreibungen darin überein, dass sie zugleich mit der Betonung der Unbestimmtheit auf das Moment der Sprache, und zwar noch genauer genommen auf die Sprache als Klage, verweisen. Auf den ersten Blick scheint es dabei ausdrücklich nicht um die Klage als Anklage zu gehen, also um das klagende Sprechen als accusare oder kategoresthai. Im Zentrum des Interesses steht vielmehr offenbar sowohl bei Schmitt wie bei Hegel die Klage als clamare, als vox clamans/clamantis in deserto, das heißt als Zeichen eines Verlusts, einer Entbehrung.69 Auf den zweiten Blick wird aber ein bestimmtes anklagendes Moment zumindest der Akklamation deutlich. Im strengen 67 Vgl. Heraklit, Fragmente 2 und 29, in: Hermann Diels/Walther Kranz (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. Erster Band, 6. Aufl., Zürich 1951 (Nachdruck 1996), S. 151 u. 157. 68 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, 17. Aufl. 1993, S. 178. 69 Vgl. dazu näher, mit Bezug auf Johannes den Täufer, Schestag, Namen nehmen, S. 554 f. Zum Zusammenhang von Sprache und Klage auch Werner Hamacher, Bemerkungen zur Klage, in: Illit Ferber/Paula Schwebel (Hrsg.), Lament in Jewish Thought. Philosophical, Theological, and Literary Perspectives, Berlin/ Boston 2014, S. 89 ff.

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Sinne „einmütig“ und damit „echt“ erscheint die Akklamation nur dort, wo sie ein begangenes Unrecht beklagt.70 Bemerkenswerterweise demonstrieren Hegels eigene Analysen, wie vor allem die brillante Studie von Frank Ruda über „Hegels Pöbel“ minutiös herausgearbeitet hat,71 aber zugleich noch etwas anderes. Nolens volens verweisen die Erläuterungen der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ auf eine Logik, die quersteht zur Logik von Hegels „Logik“, weil sie eine in der dialektischen Bewegung unauflösbare Unbestimmtheit indizieren. Sie zeigen, wie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft eine gewisse „unorganische Gesamtheit“ notwendig hervorgebracht wird, die von dieser Gesellschaft selbst, nach ihrer eigenen Logik, nicht überwunden werden kann. Eben dafür steht der Name „Pöbel“, dessen Ansicht Hegel an anderer Stelle, wie ein ungenannt bleibendes Vorbild für Schmitts Erklärungen zum Un-Volk, mit dem „Standpunkte des Negativen überhaupt“72 gleichsetzt. Auch hier ist, wie zuvor bei Kant, von einer „Masse“ die Rede. Diese Masse ist nun aber nicht nur deswegen formlos, weil sie sich von einer bestehenden Form lossagt oder dieser verlustig geht. Die Masse bleibt notwendig formlos. Masse und Maß engführend, genauer, eine gewisse Maßlosigkeit als Maßstab dieser spezifischen Masse benennend, heißt es: „Das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesellschaft notwendige reguliert, – und damit zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen, – bringt die Erzeugung des Pöbels hervor“73.

Die Verarmung dieser Masse ist unausweichlich, weil, wie Hegel im direkt darauffolgenden Paragraphen festhält, bei allem „Übermaße des Reichtums“ gleichwohl „die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem

70

Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 250: „Nur gelegentlich – besonders gegen offenbares Unrecht und unter dem Eindruck politischer Korruption – kommt es zu einmütigen Äußerungen des Volkswillens, die als solche nicht zu verkennen sind und den Charakter einer echten Akklamation haben.“ 71 Vgl. Ruda, Hegels Pöbel. 72 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 301, Anm. 73 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 244.

IV. populus und vulgus bei Kant und Hegel

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Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.“74 Damit verknüpft er nicht nur erneut eine bestimmte Maßlosigkeit mit dem Schicksal der formlosen Masse. Entscheidend ist vielmehr die ineinander verflochtene, sich wechselseitig bedingende Doppelgestalt der Maßlosigkeit. Das eine Übermaß kann das andere so wenig unterbinden, dass es dieses nur immer weiter hervorruft.75 Schlimmer noch: Alle Versuche, die einmal eingetretene Armut zu beseitigen, müssen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft scheitern.76 Insbesondere die Möglichkeit einer öffentlichen Armenfürsorge bricht sich an dem Prinzip der tätigen Subsistenzsicherung, das es untersagt, denjenigen, die für ihre eigene Subsistenzsicherung sorgen, also arbeiten, etwas zu nehmen, um es den anderen, die nicht arbeiten, zu geben. Die bürgerliche Gesellschaft könnte die in ihr entstehende Armut auf diese Weise nur um den Preis der Selbstaufgabe ihres eigenen Grundprinzips bekämpfen. Sie müsste demnach mit der Armut zugleich sich selbst beseitigen. Weil ihr Prinzip aber auch die Möglichkeit der Subsistenzsicherung aller Bürger vorsieht, kann sie die Armut ebenso wenig einfach hinnehmen. In der Armut zeigt sich dergestalt ein Selbstwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft, den sie mit ihren eigenen Mitteln nicht aufheben kann.77 Die Verarmung ist demzufolge die innerhalb der Logik der bürgerlichen Gesellschaft im doppelten Sinne notwendige, nämlich zwangsläufig eintretende und nicht mehr zu beseitigende, conditio sine qua non für die Emergenz des Pöbels. Die Armut der großen Masse ist aber als solche noch keine hinreichende Bedingung für jene Entstehung. Hinzukommen muss 74

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 245. Vgl. dazu noch deutlicher Georg Friedrich Wilhelm [sic] Hegel, Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, hrsg. v. Dieter Henrich, Frankfurt a. M. 1983, S. 193: „Die Entstehung der Armut ist überhaupt eine Folge der bürgerlichen Gesellschaft, und sie ergibt sich im ganzen notwendig aus derselben. Es häuft sich so Reichtum ohne Maß und Grenze an der einen und Not und Elend an der anderen Seite. Die Vermehrung des Reichtums und der Armut hält gleichen Schritt.“ 76 Vgl. genauer zu den sieben unterschiedlichen Möglichkeiten, die Hegel selbst diskutiert – „1. die Versorgung der Armen durch die bürgerliche Gesellschaft selbst, 2. die Bettelei, 3. das Notrecht, 4. die Kolonisation, 5. die öffentliche Arbeit, 6. die Korporation und die mit ihr verbundene Ethik (des verantwortungsvollen Konsums), 7. die Polizei und mit ihr verbunden die Religion (in der Form karitativer Einrichtungen)“ – Ruda, Hegels Pöbel, S. 37 ff. 77 Vgl. dazu näher Ruda, Hegels Pöbel, S. 37 f. 75

122

Im Namen des Volkes

eine spezifische Gesinnung der Armen, in Gestalt der Empörung über die eigene Situation.78 Dort, wo diese Empörung hervortritt, zeigt sie sich in einer Variante des clamare: als claim, dass der Zwiespalt von innerem Anspruch und äußerem Dasein behoben werde. „Der Arme fühlt sich von allem ausgeschlossen und verhöhnt, und es entsteht notwendig eine innere Empörung. Er hat das Bewußtsein seiner als eines Unendlichen, Freien, und damit entsteht die Forderung, daß das äußere Dasein diesem Bewußtsein entspreche.“79

Die Empörung meint danach vor allem ein „Gefühl der Rechtlosigkeit“, das seinerseits „einen Zustand der bürgerlichen Gesellschaft“ voraussetzt, in dem eigentlich „jeder Rechte hat“80. Dennoch, obwohl sie offenbar einen bestimmten Selbstwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck bringt, bewirkt auch diese Empörung keine Aufhebung der empörenden Situation in ein höheres Drittes. Sie ist nichts anderes als die Insistenz auf dem an sich unhaltbaren, unmöglichen Status. Der Pöbel als Empörung ist eine Negation jener Negation, die den Namen „Armut“ trägt, allerdings eine Negation der Negation, die nicht in Position umschlägt, sondern eine „eigentümliche Positivität der Negativität“81 78

Vgl. dazu den „Zusatz“ zum § 244, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hrsg. v. Hermann Glockner, Siebenter Band, Stuttgart, 3. Aufl. 1952, S. 318 f.: „Die Armuth an sich macht Keinen zum Pöbel: dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armuth sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung u. s. w.“ Zur richtigen Einordnung dieser „Zusätze“ sollte man sich zwar immer das „Vorwort“ von Eduard Gans und die darin gegebene Erläuterung vergegenwärtigen: „Das in den Zusätzen Enthaltene ist von Hegel gegeben, und ich kann im Nothfall dieß aus meinen Quellen beweisen; es findet sich weder eine Ausführung von mir, noch eine Entstellung des Ausgeführten. Nur die stylistische Anordnung, die Verbindung der Sätze, und bisweilen ebenso die Auswahl der Worte rühren von mir her“ (S. 1 ff. [12]). Zumindest der Sache nach wird dieser Zusatz aber durch andere Nachschriften bestätigt. Vgl. dazu sogleich. 79 Hegel, Philosophie des Rechts, S. 195. 80 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Philosophie des Rechts. Vorlesung von 1821/22, hrsg. v. Hansgeorg Hoppe, Frankfurt a. M. 2005, S. 222. Im vollständigen Kontext lautet das Zitat: „Wer dürftig ist, gehört noch nicht zum Pöbel. Was den Pöbel ausmacht, ist eigentlich die Gesinnung, das Gefühl der Rechtlosigkeit, und die Erzeugung des Pöbels setzt voraus einen Zustand der bürgerlichen Gesellschaft, in dem jeder Rechte hat“. 81 Ruda, Hegels Pöbel, S. 141.

IV. populus und vulgus bei Kant und Hegel

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aufscheinen lässt. Der sichtbar gewordene, sich in der Empörung selbst sichtbar machende Pöbel schlägt nicht einfach in le peuple um.82 Am Pöbel zeigt sich vielmehr „ein anderer Begriff der Unbestimmtheit, der sich nicht mehr in der Form der Negation einer Bestimmung, eines Bestimmten, verstehen lässt.“83 Die so verstandene Emergenz des Pöbels ist so unausweichlich, dass sie immer schon der gesamten bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegt. Aber sie liegt ihr zugrunde nicht als eine formierende oder konstituierende, das heißt transzendentale Bedingung der Möglichkeit. Sie liegt ihr zugrunde als eine – sit venia verbo – a-formierende, a-transzendentale Bedingung der Unmöglichkeit von Gesellschaft und Staat: als gänzlich unbestimmte, unformierte, bloße Materie des Sittlichen.84 Genauer gesprochen handelt es sich damit bei der Entstehung des Pöbels nicht, wie die Rede von dem „Herabsinken“ in die Armut als Prozessbegriff noch nahelegen könnte, um ein Privationsgeschehen, bei dem ein ursprünglich einmal gegebener Besitzzustand sukzessive verloren geht. Die charakteristische -losigkeit, um die es (bei) dem Pöbel vorwiegend geht – als Vermögens-, Arbeits-, Recht-, Maß-, Ehrlosigkeit etc. –, bezeichnet einen Verlust, dem kein Besitz vorangeht und der deswegen auch durch keine restitutio ad integrum wiedergutgemacht werden kann.85 Hegels Pöbel ist der Abgrund des Sittlichen. Pöbel, vulgus, ist damit der Name für ein Verständnis, das dem Begriff des Volks als Un-Volk genau entspricht.86 Es ist eben deswegen, als Name 82

Vgl. zum Zusammenhang von Armut, Sichtbarkeit und der Konstitution von „le peuple“ Hannah Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, München 2018, S. 28 f. 83 Ruda, Hegels Pöbel, S. 141. 84 Vgl. Ruda, Hegels Pöbel, S. 145 ff. Zur Figur einer A-Transzendentalität näher Werner Hamacher, „To leave the word to someone else“, in: Julian Wolfreys (Hrsg.), Thinking Difference. Critics in Conversation, New York 2004, S. 165 ff. (176). 85 Vgl. für eine faszinierende Parallele zu einer ähnlichen „-losigkeit“ mit Bezug auf das „Volk der Mäuse“ in Kafkas Erzählung näher Marianne Schuller, Verschwinden ohne Ende. Eine Art Schluss-Licht, in: Günther Ortmann/dies. (Hrsg.), Kafka. Organisation, Recht, Schrift, Weilerswist 2019, S. 423 ff. (433 ff.). 86 Nähere Bezüge ließen sich ferner zum einen zu Rancières Konzept des „Anteils der Anteillosen“ (vgl. Rancière, Das Unvernehmen, a.a.O.; zu dieser Nähe bereits Slavoj Zˇizˇek, Die Politik der Negativität. Vorwort, in: Ruda, Hegels Pöbel, S. 9 ff. [13]) sowie zum anderen zu dem von Foucault entwickelten Konzept des „Plebejischen“ darlegen (vgl. dazu näher Alain Brossat, Plebs invicta, Berlin 2012). Letzteres könnte dann zugleich einmal mehr zeigen, inwiefern Foucaults Losung „Gar nicht mehr Hegelianer sein!“ (vgl. dazu wiederum Brossat, Plebs invicta,

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Im Namen des Volkes

für den „Standpunkte des Negativen überhaupt“, ein Name, der auf keinen bestimmten, bestimmbaren Namensträger mehr verweist. Es ist der Name von Nichts, nichts als Name: Name des Namens.87 Mit den Worten Rudas: „Der Pöbel ist die absolute Negation aller Bestimmungen und insofern ist der Name ,Pöbel‘ ein Name der absoluten Negation, ein Name des Nichts. […] Die eigentümliche Materie des sittlichen Raumes, die der Pöbel ist, ist damit nichts als ein Name, oder anders: ein Name von Nichts.“88

V. Im Namen des Namens Jedes Sprechen „im Namen von“ bleibt nach all dem nicht nur deswegen prekär, weil es als Vertretung ohne Vertretungsmacht erfolgen kann. Gravierender erscheint, dass nicht erst der juristisch festgestellte Begriff, sondern bereits der notorisch unbestimmte Name fiktiv sein kann, sogar fiktiv sein muss. Kein Name kann als bloße Gegebenheit einfach über- und aufgenommen werden. In dem Maße, in dem er sich auf keinen „realen“, selbst namentlich bekannten Namensgeber als Garanten verlassen kann, muss er stets ausdrücklich angenommen werden. Name und Nahme sind, aus Schmitts Sicht (die sich über die philologische Zweifelhaftigkeit der eigenen Position keinen Illusionen hingibt), eng miteinander verwandt.89 Auch dieser Aspekt des Namens und die mit jeder Annahme eines Namens verknüpften besonderen Gefahren lassen sich bereits an Schmitts Frühschrift ablesen, die sich mit dem Staat und der Bedeutung des EinS. 58 f.) von den Hegel’schen Texten unterlaufen wird. Für eine Verwendung der Differenz von Pöbel und Volk im Kontext einer modernen Demokratietheorie ferner Philip Manow, Demokratisierung der Demokratie, Merkur 73 (2019), S. 5 ff. 87 Vgl. dazu auch Schestag, Namen nehmen, S. 561 f.: „jeder beliebige Name, der im Namen eines beliebigen anderen Namens gegeben wird, […] trägt am Anspruch, im Namen keines anderen Namens, sondern im Namen des Namens gegeben worden zu sein.“ 88 Ruda, Hegels Pöbel, S. 238 f. 89 Vgl. Carl Schmitt, Nomos – Nahme – Name, in: ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916 – 1969, hrsg. v. Günter Maschke, Berlin 1995, S. 573 ff.; dazu näher Ino Augsberg, Im Namen des Vaters, in: Rebekka Klein/ Dominik Finkelde (Hrsg.), In Need of a Master. Politics, Theology, and Radical Democracy, Berlin 2020 (i.E.).

V. Im Namen des Namens

125

zelnen beschäftigt. Das kleine Buch ist seiner späteren Gattin „zugeeignet“, deren Namen Schmitt nach der Hochzeit eine Zeitlang dem eigenen anhängte und so einige seiner Werke aus diesen Jahren, namentlich die erste Auflage der „Politischen Romantik“, signierte90: „Pabla v. Doroticˇ“. Diese Zueignung ist nicht nur deswegen interessant, weil die Namenskombination wie ein Wortspiel erscheint, in dem der Vorname, der klingt wie eine miteinander verschnittene spanische und italienische Aufforderung zu sprechen, das heißt den Namen zu nennen, den Nachnamen noch einmal gesondert hervorhebt. Die Zueignung ist im gegebenen Kontext vor allem deshalb interessant, weil der genannte Name – zumindest zum Teil – falsch ist. Die Dame, die Schmitt als angeblich „spanische Tänzerin“ kennenlernte und die seine erste Frau werden sollte, war nicht, wie sie erzählte, die Tochter des adeligen kroatischen Gutsbesitzers Johann Franz von Dorotic´. Sie war, wie Schmitt erst im Rahmen des Scheidungsverfahrens erfahren sollte, die uneheliche Tochter der in Wien lebenden Augusta Maria Franziska Schachner, die später einen aus Zagreb stammenden Spenglergehilfen namens Johann Dorotic´ heiratete.91 Welch’ bessere Patin für die Frage nach der notwendigen Unbestimmtheit jedes Sprechens „im Namen von“ könnte es geben?

90 91

Vgl. Carl Schmitt-Dorotic´, Politische Romantik, München/Leipzig 1919. Vgl. näher dazu Mehring, Carl Schmitt, S. 57.

Drucknachweise Schmitt-Lektüren: Originalbeitrag. Von einem, der auszog, das Fürchten zu lehren – Deutsche Erstveröffentlichung. Überarbeitete und erweiterte Fassung eines zuerst auf Englisch unter dem Titel „Carl Schmitt’s Fear: Nomos – Norm – Network“ im Leiden Journal of International Law 23 (2010), S. 741 – 757, erschienenen Textes. Über die Grenzen des Rechts – Überarbeitete und erweiterte Fassung eines unter demselben Titel zuerst in der JuristenZeitung 2017, S. 109 – 115, veröffentlichten Textes. Kreuzstiche – Überarbeitete und erweiterte Fassung eines zuerst unter dem Titel „Kreuzstiche. Politische Theologie als rhetorische Figur“ in dem Band „Politische Theologie(n) der Demokratie. Das religiöse Erbe des Säkularen“, hrsg. v. Ino Augsberg u. Karl-Heinz Ladeur, Wien: Turia & Kant, 2018, S. 219 – 242, veröffentlichten Textes. Im Namen des Volkes – Überarbeitete und erweiterte Fassung eines zuerst unter demselben Titel in dem Band „Volk als Konzept in Recht und Politik“, hrsg. v. Jochen Bung u. Milan Kuhli, Berlin: Walter de Gruyter, 2020, S. 11 – 31, veröffentlichten Textes.

Personen- und Sachregister Abgrund, abgründig 41, 96, 110, 111, 123 Ahlmann, Wilhelm 66 Antisemitismus, antisemitisch 15, 17, 21, 26, 49, 67 Arendt, Hannah 25 Armut 121, 122, 123 Artgleichheit 22, 24, 112 Assoziation 61, 64, 72, 105, 109, 117, 119 Balke, Friedrich 26 Ball, Hugo 61 Benjamin, Walter 108 Blumenberg, Hans 94 Bothwell s. Hepburn 80 Buchstabe, buchstäblich 22, 32, 57, 62, 65, 68, 79, 92, 107, 108, 114 Bundespräsident 82, 83, 85, 92 causa 28, 29 Chiasmus 6, 91 – 97 Däubler, Theodor 8, 9, 11, 12, 61, 62, 64, 66, 103, 104 Deleuze, Gilles 17, 39 de Man, Paul 95 Demokratie, demokratisch 13, 23, 26, 27, 82 – 85, 92, 93, 111 demos 101, 110 Derrida, Jacques 26, 27, 95, 96 Dialektik, dialektisch 24, 57, 58, 94, 119, 120 Diktatur 105, 110 Dorotic´, Johann 125

Dorotic´, Johann Franz von 125 Doroticˇ, Pabla von 125 Empörung 122, 123 Entartung, entartet 22, 23 Etymologie, etymologisch, etymologisieren 9, 10, 68, 69, 116 Feind, feindlich 24, 43 Fiktion, fiktional 20, 56, 90, 103, 112 Freud, Sigmund 16, 41, 99 Führer 22, 25, 26, 112 Funktionalismus, funktional 30, 31, 32, 34, 42, 44, 45, 47, 51, 112 Furcht 16, 27, 33, 41 – 43, 47 Gasché, Rodolphe 94 – 96 Gedicht 8, 61 Gesetz, gesetzlich 17, 19, 21, 22, 32, 56, 59, 69, 70, 83, 96, 100, 103, 109, 111, 117 Grenze 5, 20, 27, 42, 49, 52, 54, 57, 60, 64, 72, 90, 93, 107, 110, 126 Grimm, Jacob und Wilhelm 68 Grundnorm 20, 21 Guattari, Félix 17, 39 Hamlet 12, 74, 77 – 81, 85, 89 – 92 Haverkamp, Anselm 81 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 6, 18, 58 – 60, 94, 116 – 120, 123 Heidegger, Martin 119 Hekuba 12, 89, 90 Hepburn, James, 4. Earl of Bothwell 80 Heraklit 25, 94

128

Personen- und Sachregister

Heterarchie, heterarchisch 16, 17, 28, 31 – 33, 37, 42 Heterogenität, heterogen 23, 39, 40, 42 Hobbes, Thomas 105, 118

Nomos 5, 11, 14, 15, 17 – 20, 25, 26, 33, 37, 68 – 70 Normativismus, normativistisch 15, 18, 21, 69

Jakob I. 78, 80 Jesus 93

Occasionalismus, occasionell 27, 28, 30 – 32 Ophelia 78

Kanne, Johann Arnold 68 Kant, Immanuel 6, 99, 115, 116, 118, 120 Kantorowicz, Ernst H. 74, 78, 93 Kelsen, Hans 20, 31, 102 Klage 70, 119 Koskenniemi, Martti 15, 16, 43, 45 Lacan, Jacques 96 Laertes 78 Land 19, 21, 27, 42, 83, 117 Literatur, literarisch 7, 9 – 12, 63, 80 Luhmann, Niklas 30, 52, 71, 72 Luther, Martin 117 Masse 42, 118, 120, 121 Materie, materiell 87, 103 – 105, 108, 112, 123, 124 Meer 42, 62, 66 Merleau-Ponty, Maurice 95 Metapher, metaphorisch 5, 20, 37, 42, 54 – 60, 62, 74, 78, 87, 94, 113 metaphysisch 85 Monarchie, monarchisch 78, 79, 82, 92, 118 Nahme 124 Negation 16, 71, 101, 102, 115, 122 – 124 Negativität, negativ 17, 31, 42, 96, 101, 114, 115, 118, 120, 122, 124 Netzwerk 5, 17, 26, 29, 36 – 39, 47

Philologie, philologisch 10, 12, 18, 124 Phonetik, phonetisch, 22, 65, 66 Pöbel 117, 118, 120 – 124 Polonius 74, 77 populus 6, 116 – 118 Raum, räumlich 19, 27, 33, 36, 43, 44, 60, 64 – 66, 69, 124 Rechtsstaat, rechtsstaatlich 26, 82, 109 Reim 5, 10, 61, 62, 64, 65 Repräsentation, repräsentativ 73, 75, 76, 83, 84, 86 – 89, 92 Rhetorik, rhetorisch 13, 71, 74 – 76, 88 – 90, 92 – 95 Rhetorizität 97 Rhizom, rhizomorph 5, 17, 37, 39, 40 – 42 Rom, römisch 5, 12, 61, 65, 66, 70, 76, 86, 88, 89, 91, 93 Romantik, romantisch 11, 16, 27 – 32, 41, 125 Rosenzweig, Franz 57 Ruda, Frank 120, 124 Schestag, Thomas 110 Shakespeare, William 79, 81, 89 Sombart, Nicolaus 91 Souveränität, souverän 32, 36, 41, 74, 82, 83, 85 – 87, 89 Stuart, Mary 80 Substanz, substanziell 13, 18, 20, 24, 28 – 31, 44, 69, 74, 112, 113

Personen- und Sachregister Taubes, Jacob 49 – 51, 60, 70 Territorialisierung, territorial 20, 25, 31, 33, 42, 52, 53 Textualität, textual 5, 13, 26, 32, 33, 40, 42, 45 Theologie, theologisch 6, 7, 13, 25, 49, 50, 70, 71, 73, 75, 76, 79, 80, 82, 85, 86, 94, 97 Tiberius 93, 94 Traum 90, 91 Übertragung 52 – 60, 62, 63, 68 – 72, 87

129

Vaihinger, Hans 103 Verdross, Alfred 102 Verfassungslehre 12, 19, 84, 102, 109 – 111, 114 Vietta, Egon 90 Völkerrecht 11, 18, 34, 39, 43 – 45 Voßkuhle, Andreas 82, 92 vulgus 6, 116 – 118, 123 Warminski, Andrzej 95, 96 Weber, Max 46 Wirbel, wirbelnd 103, 105, 109, 116, 119 Wunde 6, 94, 96, 97 Wunder 85, 97