Burgfrieden und Union sacrée: Literarische Deutungen und politische Ordnungsvorstellungen in Deutschland und Frankreich 1914-1933 9783110650860, 9783486702477

Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs Während des Ersten Weltkriegs entstanden in Deutschland wie in Frankreich neue Fo

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Inhalt
Der Erste Weltkrieg und seine Folgen in Deutschland und Frankreich. Kulturelle Deutungen und politische Ordnungsvorstellungen 1914–1933
Solidaritätsformel oder politisches Ordnungsmodell? Vom Burgfrieden zur Volksgemeinschaft in Deutschland 1914–1918
Die Kriegsziele des Deutschen Reiches und der französischen Republik zwischen „deutscher Sendung“ und republikanischen Werten
Zensur und öffentliche Meinung in Frankreich zwischen 1914 und 1918
Die französischen Katholiken und der Erste Weltkrieg. Die Rückkehr aus der Sondergesellschaft
Republikanischer oder völkischer Nationalismus? Die Folgen siegreicher Union sacrée und unvollendeter Volksgemeinschaft für die politische Kultur Frankreichs und Deutschlands (1918–1933/36)
Der Erste Weltkrieg im Roman. Zum Umgang des Historikers mit literarischen Zeugnissen
Krieg als „nationale Erfahrung“ in der deutschen und französischen Erzählliteratur des Ersten Weltkriegs
Trauer, Erinnerung und nationale Identitätsstiftung. Überlegungen zu den Kriegsdeutungen nach 1918 auf deutscher und britischer Seite
Der späte Barrès und seine Rezeption in Deutschland (1918–1923)
Die „Nouvelle Revue Française“ und das ambivalente Erbe des Ersten Weltkriegs 1919–1925
„Röchelndes Knurren von Krampf und Schmerz“ Verwundung, Entleibung, Blut und seelisches Trauma in der deutschen Kriegsliteratur, 1918–1935
Ernst Jüngers Reflexionen des Ersten Weltkriegs. Tendenzen und Probleme
Zwischen soldatischem Nationalismus und NS-Ideologie. Werner Beumelburg und die Erzählung des Ersten Weltkriegs
Die „derniers poilus“. Zur identitätsstiftenden Kraft von Kriegsveteranen im zeitgenössischen Frankreich
Abkürzungen und Zeitschriftensiglen
Die Herausgeber, Autorinnen und Autoren
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Burgfrieden und Union sacrée: Literarische Deutungen und politische Ordnungsvorstellungen in Deutschland und Frankreich 1914-1933
 9783110650860, 9783486702477

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Burgfrieden und Union sacrée

HISTORISCHE ZEITSCHRIFT Beihefte (Neue Folge) Herausgegeben von Lothar Gall Band 54

Oldenbourg Verlag München 2011

Wolfram Pyta, Carsten Kretschmann (Hrsg.)

Burgfrieden und Union sacrée Literarische Deutungen und politische Ordnungsvorstellungen in Deutschland und Frankreich 1914–1933

Oldenbourg Verlag München 2011

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2011 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: mediaventa, München Druck und Bindung: Kösel, Krugzell ISBN: 978-3-486-70247-7

Inhalt Der Erste Weltkrieg und seine Folgen in Deutschland und Frankreich. Kulturelle Deutungen und politische Ordnungsvorstellungen 1914–1933. Von Wolfram Pyta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Solidaritätsformel oder politisches Ordnungsmodell? Vom Burgfrieden zur Volksgemeinschaft in Deutschland 1914–1918. Von Steffen Bruendel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Die Kriegsziele des Deutschen Reiches und der französischen Republik zwischen „deutscher Sendung“ und republikanischen Werten. Von Georges-Henri Soutou . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Zensur und öffentliche Meinung in Frankreich zwischen 1914 und 1918. Von Olivier Forcade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Die französischen Katholiken und der Erste Weltkrieg. Die Rückkehr aus der Sondergesellschaft. Von Michael Hoffmann . . . . . . . . . . . . .

85

Republikanischer oder völkischer Nationalismus? Die Folgen siegreicher Union sacrée und unvollendeter Volksgemeinschaft für die politische Kultur Frankreichs und Deutschlands (1918–1933/36). Von Manfred Kittel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

Der Erste Weltkrieg im Roman. Zum Umgang des Historikers mit literarischen Zeugnissen. Von Nicolas Beaupré . . . . . . . . . . . . . . . .

141

Krieg als „nationale Erfahrung“ in der deutschen und französischen Erzählliteratur des Ersten Weltkriegs. Von Almut Lindner-Wirsching

159

Trauer, Erinnerung und nationale Identitätsstiftung. Überlegungen zu den Kriegsdeutungen nach 1918 auf deutscher und britischer Seite.Von David Midgley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

Der späte Barrès und seine Rezeption in Deutschland (1918–1923). Von Landry Charrier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

Die „Nouvelle Revue Française“ und das ambivalente Erbe des Ersten Weltkriegs 1919–1925. Von Yaël Dagan . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

221

„Röchelndes Knurren von Krampf und Schmerz“. Verwundung, Entleibung, Blut und seelisches Trauma in der deutschen Kriegsliteratur, 1918–1935. Von Wolfgang U. Eckart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241

Ernst Jüngers Reflexionen des Ersten Weltkriegs. Tendenzen und Probleme. Von Helmuth Kiesel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

265

Zwischen soldatischem Nationalismus und NS-Ideologie. Werner Beumelburg und die Erzählung des Ersten Weltkriegs. Von Gerd Krumeich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

Die „derniers poilus“. Zur identitätsstiftenden Kraft von Kriegsveteranen im zeitgenössischen Frankreich. Von Nicolas Offenstadt. . . .

313

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

329

Die Herausgeber, Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Erste Weltkrieg und seine Folgen in Deutschland und Frankreich Kulturelle Deutungen und politische Ordnungsvorstellungen 1914–1933 Von

Wolfram Pyta I. Der Erste Weltkrieg samt seiner Folgen ist in den letzten Jahren wieder verstärkt in das Blickfeld der historischen Forschung getreten. Weit bevor sich der Beginn dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) zum hundertsten Mal jährt, ist das Interesse daran neu entfacht worden. Zeugnis davon legen insbesondere zwei enzyklopädische Unternehmen ab, die nicht zufällig von einem deutschen beziehungsweise einem französischen Forscherteam betreut worden sind: die maßgeblich von Mitarbeitern der Stuttgarter Bibliothek für Zeitgeschichte herausgegebene „Enzyklopädie Erster Weltkrieg“ 1 sowie die von einer französischen Forschergruppe verantwortete „Encyclopédie de la Grande Guerre“ 2. Ohne auf das publizitätsträchtige Datum 2014 zu schielen, ziehen beide Werke eine imposante Bilanz der Weltkriegsforschung, deren methodische Weiterentwicklung sie eindrucksvoll belegen. Widmete sich die Forschung bis in die 1970er Jahre noch vornehmlich den Feldern der „Großen Politik“ und damit zentralen Themen wie dem Verhältnis von Politik und Kriegführung, so setzte danach ein Perspektivenwechsel ein, der die Folgen des Krieges für die Gesellschaft ins Zentrum rückte. Diese Neuakzentuierung bewirkte, daß bislang vernachlässigte Gruppen, welche die Hauptlast des Krieges zu tragen hatten, das Interesse der Historiker auf sich zogen: Industriearbeiterschaft, Landbevölkerung, Frauen. Damit einher ging eine Deutung des Krieges, die dessen desintegrierende Wirkungen in den VorderGerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg. 2., durchges. Aufl. Paderborn/München/Wien 2004. 2 Stéphane Audoin-Rouzeau/Jean-Jacques Becker (Eds.), Encyclopédie de la Grande Guerre 1914–1918. Paris 2004; die italienische Ausgabe erschien unter dem Titel: Antonio Gibelli (Ed.), La prima guerra mondiale. Vol. 1–2. Turin 2007. 1

grund rückte: eine Verschärfung des Stadt-Land-Gegensatzes, aber vor allem die Zuspitzung der Konfliktlinien zwischen Industriearbeiterschaft und staatstragenden Schichten. Diese Tendenzen – so der Befund – hätten die Ausbildung einer „Klassengesellschaft im Krieg“ 3 befördert und seien schließlich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit in jene revolutionären Umbrüche gemündet, die 1917 in Rußland sowie im November 1918 in Deutschland zu verzeichnen waren. Parallel dazu wandte sich die Forschung auch dem Kriegsalltag – hauptsächlich mit Blick auf den Schützengraben – zu und zeichnete damit ein Bild des Krieges, welches vermehrt auch das Leben an der Front einfing. 4 Seit den 1990er Jahren machte sich der cultural turn auch in der Weltkriegsforschung bemerkbar und lenkte das Augenmerk auf die – bislang eher beiläufig behandelte – Frage, ob und in welcher Weise der Erste Weltkrieg als Sinngenerator fungieren konnte. Immerhin war der Weltkrieg bereits von den Zeitgenossen mit Bedeutungen aufgeladen worden, die gerade nicht mit jenem pazifistischen Diskurs identisch waren, der aus normativer Sicht ex post geboten zu sein schien. 5 Eine kulturwissenschaftlich akzentuierte Nüchternheit im Umgang mit historisch vorfindbaren Bedeutungszuweisungen schützt davor, die unzähligen Quellen, die belegen, daß die Deutung des Krieges klassenspezifische Zuordnungen sprengen und auf diese Weise eine gemeinschaftsverstärkende Wirkung erzielen konnte, mit jenem Gestus der Empörung zur Kenntnis zu nehmen, wie er – zumal in Deutschland – nach der Erfahrung zweier Weltkriege zunächst zwangsläufig erforderlich schien. 6 Die französische Forschung hat „die Fähigkeit der Kriegskultur, die gesellschaftlichen und kulturellen Differenzen zu überwinden“ 7, bereits seit den 1980er Jahren betont und damit methodisch 3 Hierzu vor allem die einflußreiche Studie von Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–1918. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 8.) Göttingen 1973. 4 Für die deutsche Forschung besonders wichtig Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/ Irina Renz (Hrsg.), „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch …“. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs. Essen 1993. 5 Diese Verwunderung findet sich auch noch in der Studie von Matthias Schöning, Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–1933. Göttingen 2009, u. a. 254f., 274–277, 291–295. 6 Für den deutschen Fall finden sich die Belege bei Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003. 7 Stéphane Audoin-Rouzeau, Von den Kriegsursachen zur Kriegskultur. Neuere Forschungstendenzen zum Ersten Weltkrieg in Frankreich, in: NPL 39, 1994, 203–217, hier 214.

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an das etablierte Interesse der französischen Historiographie für Phänomene der longue durée angeknüpft. In diesem Kontext ist auch der Erfahrungsbegriff als eine kulturgeschichtliche Schlüsselkategorie, die das sinnerschließende Ich mit intersubjektiv geteilten Deutungsmustern begrifflich verklammert, von der französischen Weltkriegsforschung frühzeitig rehabilitiert worden. 8 Es kann kein Zweifel bestehen, daß solche kollektiven Deutungsofferten auch nach 1918/19 präsent waren 9 und in der Zwischenkriegszeit nicht zuletzt in literarisch vermittelter Gestalt eine politikmächtige kulturelle Ressource bildeten, die sich im deutschen Fall zu einer schweren Belastung für die Republik entwickelte. 10 Die Kulturgeschichte des Politischen hat gerade in jüngster Zeit nachdrücklich betont, daß die Konstituierung von Bedeutungen ein eminent politischer Vorgang ist und anschaulich gemacht, wie sehr durch die Deutungshoheit über Sinnstiftungsprozesse der Handlungsspielraum politischer Akteure strukturiert wird. 11 Vor diesem Hintergrund drängt sich die Deutung des Ersten Weltkriegs als Untersuchungsgegenstand geradezu auf, will man an einem besonders markanten Fall die dynamische Wechselbeziehung zwischen sinnhafter Verarbeitung und politischem Handeln rekonstruieren. Hinzu kommt, daß dieser Prozeß aufgrund der expressiven Kraft des Krieges nach symbolischen Knotenpunkten verlangte, die kollektiven Deutungsmustern eine konkrete Gestalt verliehen und sie damit für Zwecke überindividueller Verständigung verwendbar machten. Die gemeinschaftsstiftende Funktion solch symbolisch verdichteter Kommunikation ist von der Kultursoziologie theoretisch untermauert 12 und am Beispiel Hier ist vor allem zu nennen Christophe Prochasson, 14–18. Retours d’expériences. Paris 2008. 9 Vgl. Wolfram Pyta, Antiliberale Ideenwelt in Europa bei Kriegsende, in: Christoph Gusy (Hrsg.), Demokratie in der Krise. Europa in der Zwischenkriegszeit. Baden-Baden 2008, 86–104, bes. 89–96. 10 Dazu Thomas Mergel, Das parlamentarische System von Weimar und die Folgelasten des Ersten Weltkrieges, in: Andreas Wirsching (Hrsg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich. München 2007, 37–59, v. a. 54f. 11 Vgl. Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung. Frankfurt am Main/New York 2005; Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (ZHF, Beih. 35.) Berlin 2005. 12 Dazu grundlegend Bernhard Giesen, Kollektive Identität. Frankfurt am Main 1999; vgl. auch die soziologischen Beiträge des Konstanzer Sonderforschungsbereichs „Norm und Symbol“ bei Rudolf Schlögl/Bernhard Giesen/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften. Konstanz 2004. 8

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des politischen Aufstiegs Hindenburgs im Ersten Weltkrieg bereits monographisch untersucht worden. 13 Eine derartig akzentuierte Kulturgeschichte des Politischen steht nicht im Verdacht, die „harten“ politischen Entscheidungen zugunsten vermeintlich „weicher“ kultureller Faktoren zu vernachlässigen. Indem sie die Hoheit über Deutungen wie auch die Fähigkeit zur symbolischen Expression politisch-kulturell verankerter Sinnmuster als herrschaftliche Ressourcen versteht, weckt sie vielmehr ein vertieftes Verständnis für die kulturelle Innenseite der Macht. 14

II. Eine französisch-deutsche Sicht auf den Ersten Weltkrieg und seine Deutung zwischen 1914 und 1933 erweist sich unter dem Dach einer Kulturgeschichte des Politischen in mehrfacher Weise als besonders ergiebig. Zum einen liegen mittlerweile verschiedene Studien vor, die sich diesem Leitthema widmen, wobei für Frankreich gewiß ein Übergewicht zu konstatieren ist. Hier sind eine Fülle von Untersuchungen erschienen, die – nicht selten vom „Altmeister“ der französischen Weltkriegsforschung Jean-Jacques Becker stammend oder durch ihn inspiriert – die integrative Wirkung der Weltkriegsdeutung während und nach dem Kriege betonen. 15 Auch deutsche Historiker haben in den letzten Jahren gewichtige Beiträge zu diesem Themenkomplex vorgelegt. In methodischer Hinsicht sticht hierbei vor allem die Monographie Michael Hoffmanns über die – durch eine entWolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler. München 2007; Jesko von Hoegen, Der Held von Tannenberg. Genese und Funktion des Hindenburg-Mythos. (Stuttgarter Historische Forschungen, Bd. 4.) Köln/Weimar/Wien 2007; Anna von der Goltz, Hindenburg. Power, Myth, and the Rise of the Nazis. Oxford 2009. 14 Vgl. auch Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: GG 28, 2002, 574–607, bes. 602–606; ders., Kulturwissenschaft der Politik. Perspektiven und Trends, in: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3. Stuttgart/Weimar 2004, 413–425; Achim Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: AKG 85, 2003, 71–117. 15 Christophe Prochasson/Anne Rasmussen, Au nom de la patrie. Les intellectuels et la première guerre mondiale (1910–1919). Paris 1996; Fabienne Bock, Un parlementarisme de guerre 1914–1919. Paris 2002; Stéphane Audoin-Rouzeau/Annette Becker, 14–18, retrouver la Guerre. Paris 2000; siehe auch Rosemonde Sanson, L’Alliance républicaine démocratique. Une formation de centre (1901–1920). Rennes 2003; Jacques Fontana, Les catholiques français pendant la grande guerre. Paris 1990; Jean-Jacques Becker, La France en guerre 1914–1918. La grande mutation. Paris 1998; ders., The Great War and the French People. Leamington Spa 1985; ders. (Ed.), Guerre et culture 1914–1918. Paris 1994; ders. (Ed.), Histoire culturelle de la Grande Guerre. Paris 2005. 13

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sprechende Imagination des Krieges bewirkte – Bildung einer „droite modérée“, einer Innovation im französischen Parteiensystem, hervor, die erstmals Ansätze der von der Politikwissenschaft entwickelten politischen Kulturforschung systematisch auf Genese und Entwicklung des französischen Parteiensystems überträgt. 16 Weiterhin sind im Rahmen des Projekts „Parlament und politische Parteien in Deutschland und Frankreich 1918– 1933/40“, das am Institut für Zeitgeschichte angesiedelt war und inzwischen abgeschlossen ist, unter anderem zwei Habilitationsschriften entstanden, die eindrucksvoll belegen, wie fruchtbar eine konsequent vergleichende Perspektive in diesem Fall ist. 17 Trotz solcher Studien herrscht freilich immer noch ein Desiderat in bezug auf Forschungen, die auch die Zeit des Weltkriegs selbst behandeln. Der vorliegende Band versteht sich daher auch als Beitrag zu einer vergleichend angelegten Betrachtung der kulturellen Aneignung der Grande Guerre zwischen 1914 und 1918. Frankreich und Deutschland sind für einen solchen Zugriff offenkundig deswegen besonders geeignet, weil die Gesellschaften in beiden Ländern durch soziokulturelle Fragmentierungen geprägt waren. In Deutschland 18 stand die sozialistische Arbeiterbewegung bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch am Rande der Gesellschaft, so daß sie sich in die autarke Gegenwelt der Solidargemeinschaft eines sozialistischen Milieus zurückzuziehen vermochte. Ähnliche Tendenzen waren auch bei Teilen des Katholizismus zu verzeichnen, der ebenfalls ein organisationszentriertes Milieu geschaffen hatte – auch wenn man in diesem Falle die kulturelle Abson16 Vgl. Michael Hoffmann, Ordnung, Familie, Vaterland. Wahrnehmung und Wirkung des Ersten Weltkriegs auf die parlamentarische Rechte im Frankreich der 1920er Jahre. München 2008, v. a. 13–23. 17 Manfred Kittel, Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten in Deutschland und Frankreich 1918–1933/36. München 2000; Thomas Raithel, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus. Deutscher Reichstag und französische Chambre des Députés in den Inflationskrisen der 1920er Jahre. München 2005; vgl. als Übersicht über das erwähnte Projekt Horst Möller/Manfred Kittel (Hrsg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918–1933/40. Beiträge zu einem historischen Vergleich. München 2002; in Zusammenhang mit diesem Projekt steht auch Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918– 1933/39. Berlin und Paris im Vergleich. München 1999. 18 Zum deutschen Fall Wolfram Pyta, Politische Kultur und Wahlen in der Weimarer Republik, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Wahlen und Wahlkämpfe in Deutschland. Von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis zur Bundesrepublik. Düsseldorf 1997, 197–239; vgl. auch die Beiträge in: Tobias Dürr/Franz Walter (Hrsg.), Solidargemeinschaft und fragmentierte Gesellschaft. Parteien, Milieus und Verbände im Vergleich. Opladen 1999; sowie Ursula Bitzegeio/Anja Kruke/Meik Woyke (Hrsg.), Solidargemeinschaft und Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert. Bonn 2009.

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derung nicht überbetonen darf, war das Trauma des Kulturkampfes doch nach 1900 allmählich verarbeitet und nunmehr eine jüngere Generation von Politikern am Zuge, die die Integration der Katholiken in das wilhelminische Kaiserreich auf die Agenda setzte. Frankreich wiederum war in politischer wie kultureller Hinsicht in ähnlicher Weise zerrissen, was bereits im zeitgenössischen Begriff der „deux France“ anklingt. Im Unterschied zu Deutschland verlief dieser Konflikt jedoch nicht so sehr entlang der Scheidelinie Kapital – Arbeit oder entlang konfessionell gezogener Grenzen; vielmehr standen sich im Frankreich der Vorkriegszeit ein dezidiert laizistisch-antikirchliches und ein kulturkonservativ-katholisches Lager gegenüber. 19 In Frankreich wurde der cleavage Kapital – Arbeit erheblich durch den Umstand gemildert, daß sich sozialistische Arbeiterbewegung wie linksrepublikanisches Bürgertum gleichermaßen auf einen antiklerikalen Republikanismus beriefen 20; zudem gab es mit dem Parti radical eine linksbürgerliche Partei, die bei Stichwahlen im Regelfall zusammen mit den Sozialisten gegen die „Rechte“ gemeinsame Sache machte. Die lebensweltliche Trennung von „Gauche“ und „Droite“ wurde darüber hinaus durch die Herausbildung von lagerverstärkenden Organisationen vertieft, wobei sich die strenge Trennung zwischen Staat und Kirche im Jahre 1905 als ein konfliktverschärfender Faktor erwies. Vor diesem Hintergrund mußte es bereits zeitgenössische Beobachter verwundern, daß sich in Frankreich wie in Deutschland unmittelbar nach Ausbruch des Krieges alle maßgeblichen politischen Kräfte hinter die Regierung scharten. Damit einher ging ein Bekenntnis zur nationalen Einigkeit, das in beiden Staaten selbst von den systemoppositionellen Sozialisten mitgetragen wurde. In Frankreich wie in Deutschland tauchten bereits im August 1914 die beiden Begriffe auf, die dieses Integrationsverlangen unverkennbar zum Ausdruck brachten: Am 4. August 1914 prägte der französische Staatspräsident Raymond Poincaré in seiner Botschaft an das Parlament den Terminus Union sacrée; in Deutschland wurde dieses Streben nach innerer Einheit in den Ausdruck „Burgfrieden“ gekleidet. 21

Vgl. Manfred Kittel, Die „deux France“ und der deutsche Bikonfessionalismus im Vergleich, in: Möller/Kittel (Hrsg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich (wie Anm. 17), 33–55. 20 Dazu unter Rekurs auf die methodischen Offerten der Politischen Kulturforschung Michael Hoffmann, Konfession oder Klasse? Die Bedeutung des Protestantismus für die politische Willensbildung und das Wahlverhalten im pays de Montbéliard (1870–1940), in: ZWLG 65, 2006, 381–415. 19

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Der vorliegende Sammelband setzt bei diesem Befund an und geht der Frage nach, ob es strukturelle Unterschiede zwischen den Konzepten Union sacrée und Burgfrieden gab. Daran knüpft die Frage nach der Dauerhaftigkeit dieser Integrationsformeln an. Eine wichtige Voraussetzung für die bemerkenswerte Stabilität der Union sacrée war zunächst einmal die Kontrolle über die öffentliche Meinung. Eine funktionierende Zensur schränkte den Raum des öffentlich Sagbaren ein; schlechte Nachrichten über den Kriegsverlauf wurden der Öffentlichkeit bewußt vorenthalten. Olivier Forcade betont in seinem Beitrag folgerichtig die erhebliche Bedeutung eines staatlich gelenkten Informationssystems für die durch militärische Niederlagen angeknackste Kriegsmoral im Lande, sickerten doch auf diese Weise keine destabilisierenden Nachrichten etwa über die Streikwelle durch, welche die Industriegebiete in der Umgebung von Paris und an der Loire im Frühjahr 1918 ergriffen hatte. Mehr noch: Trotz ihres Ausscheidens aus der Regierung im Oktober 1917 trug die sozialistische Partei (SFIO) die Zensurmaßnahmen der neuen Regierung Clemenceau mit und wirkte so mäßigend auf die streikenden Arbeiter ein 22, was als starker Beleg dafür zu gelten hat, daß in Frankreich die Vorstellung einer geeinten Nation während des Krieges ungebrochen fortexistierte. Besonders erfolgreich waren die Integrationsbemühungen, die sich mit dem Konzept der Union sacrée verbanden, in Hinsicht auf den konservativen, republikskeptischen Teil des französischen Katholizismus, der – wie dem Beitrag von Michael Hoffmann zu entnehmen ist – in der Vorkriegszeit zunehmend in „eine Art Sondergesellschaft“ 23 abgedriftet war. Nach der radikalen Trennung von Kirche und Staat im Jahre 1905 etablierte sich im kirchennahen katholischen Bevölkerungsteil eine organisatorisch verfestigte Milieukultur, die sich von der laizistisch-republikanischen Mehrheitskultur bewußt abgrenzte. Die Gräben zwischen beiden Lagern schüttete erst der Krieg zu – was möglich war, weil im kirchlich gebundenen Bevölkerungsteil der Krieg, in der Tradition des bellum iustum, als Verteidigungskrieg gegen einen als preußisch und damit zugleich als evangelisch wahrgenommenen Aggressor aus dem Osten gedeutet wurde. In einer Vgl. Bock, Parlementarisme (wie Anm. 15), 56; Thomas Raithel, Das „Wunder“ der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges. Bonn 1996. 22 Vgl. auch Becker, La France en guerre (wie Anm. 15); Jean-Louis Robert, Les Ouvriers, la Patrie et la Révolution. Paris 1914–1919. Besançon 1989. 23 Michael Hoffmann, Die französischen Katholiken und der Erste Weltkrieg. Die Rückkehr aus der Sondergesellschaft, in diesem Band 85–108, hier 86. 21

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solchen Sichtweise schien der Krieg den katholischen Kern eines Frankreichs freizulegen, das trotz aller Abweichungen vom rechten Pfad in seinem Innersten ein katholisches Land geblieben sei: „Cette France […] est restée, en dépit de ses erreurs et de ses fautes, à la fois la plus vieille et la plus jeune des nations chrétiennes, la plus ardente par sa charité et la plus entreprenante, la plus agissante au service de Dieu, par sa pieté, sa foi immortelle.“ 24 Personell kam diese Annäherung an die vormals als atheistisch gebrandmarkte Republik darin zum Ausdruck, daß im September 1915 mit Denys Cochin, einem erklärten Orléanisten, erstmals seit 1877 ein Vertreter der katholischen Rechten zu Ministerehren gelangte. Auch wenn Cochin im August 1917 das Kabinett wieder verließ, war die nationale Solidarität zwischen konservativen Katholiken und laizistischen Republikanern keineswegs verbraucht. Vielmehr wurde sie im Sommer 1917 dadurch gefestigt, daß selbst monarchistisch-integralistisch gesinnte Bischöfe ihr Unverständnis über die Friedensinitiative Papst Benedikts XV. äußerten, da sie dessen Appell aus einer dezidiert französischen Perspektive beurteilten und ihn – aufgrund der Tatsache, daß er die deutsche Kriegsschuld unerwähnt ließ – alsbald verwarfen. Die Distanzierung selbst ultramontaner Geistlicher vom Heiligen Stuhl forcierte die Integration der Katholiken in die französische Mehrheitskultur; ihr gemeinsames Dach bildete eine nationale Deutung des Krieges. Vergleicht man nun Union sacrée und Burgfrieden – wie es der Beitrag von Georges-Henri Soutou unternimmt –, so fallen gewisse Akzentverschiebungen auf: In Deutschland erstreckte sich der Burgfrieden im Kern nur auf Kriegführung und Kriegsziele, während die heftig umstrittene Frage einer – durch den Krieg noch dringlicher gewordenen – inneren Reform des Reiches bewußt ausgeklammert blieb; in Frankreich hingegen erlebte die bestehende republikanische Regierungsform im Verlauf des Krieges selbst bei der politischen Rechten einen erheblichen Zugewinn an Akzeptanz. In diesem Zusammenhang wertet Soutou die häufig als perspektivloses „Durchwursteln“ kritisierte Politik des deutschen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg insofern auf, als er ihm einen gewissen strategischen Weitblick konzediert: Der durch den Krieg ermöglichte Burgfrieden schuf eine geradezu ideale Gelegenheit, „um Sozialisten und Katholiken in den nationalen Konsens einzubinden, und zwar […] sowohl [Anon.,] Les prêtres au devoir, in: Semaine religieuse du diocèse de Lyon 21, 1914, Nr. 46 v. 9.10.1914.

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während des Krieges als auch darüber hinaus.“ 25 Zugleich erhöhte der Krieg, wie erwähnt, den inneren Reformbedarf des Reiches und setzte damit Projekte wie etwa die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts, die in der Vorkriegszeit noch ausgeklammert worden waren, auf die politische Tagesordnung. Der vor allem von der 3. Obersten Heeresleitung herbeigeführte Sturz des Reformkanzlers Bethmann Hollweg im Juli 1917 offenbarte die Reformunwilligkeit der politischen Vetomächte des Kaiserreichs und markierte damit das faktische Ende des Burgfriedens. Das republikanische Modell in Frankreich erwies sich hingegen auch deswegen als wesentlich integrativer als die konstitutionelle Monarchie in Deutschland, weil der Universalismus des republikanischen Wertegerüsts eine zivilisatorische Mission Frankreichs mit Blick auf den vermeintlich vom preußischen Militarismus infizierten deutschen Staat zu rechtfertigen schien und damit letztlich sogar eine Herauslösung des Rheinlands aus dem deutschen Staatsverband zu begründen war. Auf diese Weise konnte sich sowohl die Linke als auch die Rechte in einem bewußt vage gehaltenen Kriegszielprogramm wiederfinden, das Frankreich als Wiege der westlichen Zivilisation verstand und mit dem Recht auf mehr als nur moralische Eroberungen ausstattete. Dieser Konsens gestattete es auch, daß der berühmteste französische Kriegsroman aus der Weltkriegszeit, Henri Barbusses „Le Feu“, die Zensurbehörden ungehindert passieren konnte, wollte er doch keine pazifistische Botschaft verkünden, sondern dem Krieg – gerade in der eindringlichen Schilderung der Grausamkeiten des Frontalltags – einen höheren Sinn zusprechen: als notwendigen Einsatz nämlich zur universalen Beförderung von Fortschritt und Demokratie. Diese Deutung knüpfte bewußt an „den alten jakobinischen Mythos“ an, „Frankreich habe seine Kriege nur für Frieden und Fortschritt geführt“. 26 In dieser Synthese von universalistischem Sendungsbewußtsein und nationalem Sonderinteresse wird man insgesamt eine besondere Stärke des französischen Modells erblicken dürfen. Die Dritte Republik brachte symbolfähige und mythenträchtige politische Visionen hervor, die erheblich zu ihrer inneren Stabilisierung und internationalen Attraktivität beitrugen. 27 Georges-Henri Soutou, Die Kriegsziele des Deutschen Reiches und der französischen Republik zwischen „deutscher Sendung“ und republikanischen Werten, in diesem Band 51–70, hier 67. 26 Vgl. Eberhard Demm, Ostpolitik und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Frankfurt am Main/Berlin/Bern 2002, 349. 27 Vgl. Andreas Wirsching, Verfassung und Verfassungskultur im Europa der Zwischenkriegszeit, in: Gusy (Hrsg.), Demokratie in der Krise (wie Anm. 9), 371–389, v. a. 389. 25

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Deutschland hingegen hatte im Ersten Weltkrieg und in den Jahren danach ausschließlich national zentrierte, sich selbst genügende politische Ordnungsvorstellungen zu bieten. Daran änderte auch der Umstand nichts, daß der Krieg die politische Kultur in Deutschland grundlegend umgepflügt hatte und das Reich bereits im Weltkrieg insofern innerlich zugrunde gegangen war, als der – sich auf Bismarck berufende – staatstragende preußisch-deutsche Konservatismus politisch am Ende war. Der Aufstieg der „Volksgemeinschafts“-Idee zu einer Leitvorstellung, die an rechte wie linke Konzepte anschlußfähig war, zeugt von der durch den Krieg bewirkten Dynamisierung eines Nationskonzepts, dem der klassische Konservatismus hilflos gegenüberstand. Die durch den Krieg erzeugten Vergemeinschaftungshoffnungen und Partizipationsansprüche ließen eine auf fürstlicher Souveränität beruhende Staatsordnung als nicht mehr zeitgemäß erscheinen und entwaffneten damit die konservativen Vorstellungen von Legitimation, wie Steffen Bruendel in seinem Beitrag pointiert herausstellt. Die in klarer Abgrenzung zu den „Ideen von 1789“ formulierten „Ideen von 1914“ postulierten die spezifisch deutsche Hinwendung zu einer Konzeption von Gemeinschaft, die durch die Transformation in die „Volksgemeinschaft“ auf politische Verwirklichung, auf „Tat“ und „Aktion“, ausgerichtet wurde. Der Geltungsanspruch der „Volksgemeinschaft“ wies eine lagerübergreifende Reichweite auf, weil „das Ideal einer konfliktfreien, harmonischen Gemeinschaft, in der staatliche Organisation die liberale Selbststeuerung und innerbetriebliche Mitbestimmung die politische Teilhabe an der Macht ersetzen sollten“ 28, institutionell auf unterschiedliche Weise umgesetzt werden konnte. Insofern entschied in Deutschland erst die Entwicklung nach Kriegsende darüber, daß das von der Sozialdemokratie betonte Inklusionspotential der „Volksgemeinschaft“ durch eine radikalnationalistische Deutung überlagert wurde, die in der Eliminierung als „innere Feinde“ denunzierter Kräfte eine wesentliche Voraussetzung zur Konstituierung einer wahren „Volksgemeinschaft“ erblickte. 29 Der Beitrag von Manfred Kittel gibt eine Antwort auf die Frage, warum der Vergemeinschaftungsschub des Ersten Weltkriegs in Frankreich und Deutschland nach 1918 unterschiedliche 28 Steffen Bruendel, Solidaritätsformel oder politisches Ordnungsmodell? Vom Burgfrieden zur Volksgemeinschaft in Deutschland 1914–1918, in diesem Band 33–50, hier 49f. 29 Dazu Peter Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 176.) Göttingen 2007, 333–342.

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Folgen für die politische Kultur mit sich brachte. In der Weimarer Republik wurde das politisch deutungsoffene Konzept der „Volksgemeinschaft“ zunehmend mit extrem nationalistischen Konnotationen aufgeladen und um so entschiedener zu einem Kampfbegriff gegen die des Internationalismus verdächtigen politischen Kräfte im Innern (Sozialismus, Kommunismus, politischer Katholizismus) geschmiedet, als Kriegsniederlage, Versailler Vertrag und Ruhrbesetzung dem radikalen Nationalismus in die Hände spielten. In Teilen des Protestantismus verband sich diese Grundeinstellung zudem mit einer extremen Politisierung der Theologie, in deren Gefolge das „Volk“ – speziell bei jüngeren lutherischen Theologen – zu einer theologischen Größe erhoben wurde. 30 In Frankreich profitierte die extreme Rechte hingegen nicht von der kulturellen Verarbeitung der kriegsbedingten Vergemeinschaftungswelle. Hier ging die siegreiche Republik gleichsam als Treuhänderin einer revitalisierten Nationsvorstellung gestärkt aus dem Krieg hervor; die republikanischen Institutionen wurden nun auch auf seiten konservativer Katholiken kaum mehr in Frage gestellt. Das politische Erbe der Union sacrée schlug sich überdies in der bereits angedeuteten Neuformierung des französischen Parteiensystems nieder: Erstmals bildete sich eine katholischliberalkonservative Sammlungspartei, die unter wechselnden Namen den bisher vakanten Platz auf der „droite modérée“ besetzte und damit die Republik in den 1920er Jahren stabilisierte. 31 Die integrative Wirkung der kulturellen Inbesitznahme der Grande Guerre hält in Frankreich zudem bis heute an, wie der Beitrag von Nicolas Offenstadt belegt. Er zeigt am Beispiel des öffentlichen Umgangs mit den Kriegsveteranen, daß der Erste Weltkrieg in Frankreich – in eklatantem Unterschied zu Deutschland – nach wie vor fest im kulturellen Gedächtnis verankert ist. Das öffentliche Interesse an den letzten Soldaten des Weltkriegs, den „derniers poilus“, erreichte seit Mitte der 1990er Jahre ungeahnte Höhen und nahm mit jedem Jahr, in dem die Zahl der noch lebenden Hinweise bei Karl Hammer, Deutsche Kriegstheologie 1870–1918. München 1971; Heinrich Missalla, „Gott mit uns“. Die deutsche katholische Kriegspredigt 1914–1918. München 1968; Wolfgang J. Mommsen, Die nationalgeschichtliche Umdeutung der christlichen Botschaft im Ersten Weltkrieg, in: Gerd Krumeich/Hartmut Lehmann (Hrsg.), „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Göttingen 2000, 249–262; zur Volksnomostheologie speziell Wolfgang Tilgner, Volksnomostheologie und Schöpfungsglaube. Ein Beitrag zur Geschichte des Kirchenkampfs. Göttingen 1966; Oliver Schmalz, Kirchenpolitik unter dem Vorzeichen des Volksnomos. Wilhelm Stapel im Dritten Reich. Phil. Diss. Leipzig 2002. 31 Dies ist ein Hauptthema der Studie von Hoffmann, Ordnung (wie Anm. 16). 30

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Veteranen sank, zu. Der Kult der „derniers poilus“ vereinte dabei links wie rechts und ließ deutlich werden, daß die identitätsstiftende Kraft der Erinnerung an die Grande Guerre noch immer ungebrochen ist.

III. Frankreich und Deutschland bilden nicht nur deswegen einen idealen Vergleichsgegenstand, weil in beiden Nationen der Erste Weltkrieg überaus politikmächtige Vergemeinschaftungsenergien und entsprechende Ordnungsdiskurse freisetzte. In beiden Ländern wurden solche Sinnstiftungsprozesse zudem in erheblichem Maße mit Hilfe literarischer Texte hervorgebracht – womit die grundlegende Frage nach der Bedeutung von Literatur für die Konstituierung kollektiver Identitäten aufgeworfen wird. Damit ist Anlaß für grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von literarischen Texten und ihrer politikhaltigen Aneignung gegeben. 32 Der vorliegende Sammelband versteht sich auch als Aufforderung, die erst allmählich in Gang kommende Diskussion zwischen Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft zu beleben. Tatsächlich muß es erstaunen, daß eine kulturgeschichtliche Akzentuierung des Politischen, die „durch ihr vorrangiges Interesse an Wahrnehmungsweisen und Deutungsmustern“ 33 ausgezeichnet ist, die Frage nach der Funktion von Literatur für Deutungen und Wahrnehmungen bislang weitgehend ausgespart hat. Auch die Frage nach der ästhetischen Dimension der Historie ist von geschichtswissenschaftlicher Seite trotz der Wiederentdeckung der Erzählung als Darstellungsform geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis bislang eher gestreift denn vertieft worden. Hier gilt das Urteil des Literaturwissenschaftlers Andreas Kablitz, der die Historie im übrigen mahnt, ihre Kernkompetenz der spezifischen Ordnung von Zeit und der daraus resultierenden Komplexitätsbildung nicht zu Gunsten einer poststrukturalen Hypostasierung des Textes preiszugeben: „Im Grunde hat es […] nie eine theoretische Integration des Mediums der

32 Siehe auch die ausführlicheren Hinweise bei Wolfram Pyta, Die expressive Kraft von Literatur. Der Beitrag der Weltkriegsliteratur zur Imagination politisch-kultureller Leitvorstellungen in der Weimarer Republik, in: Angermion. Jahrbuch für britisch-deutsche Kulturbeziehungen 2, 2009, 57–76. 33 Ute Daniel/Inge Marszolek/Wolfram Pyta u. a., Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Politische Kultur und Medienwirklichkeiten in den 1920er Jahren. München 2010, 7–23, hier 9.

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Erzählung in die Methodik der Geschichtswissenschaft gegeben.“ 34 Innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten Jahren ein einziger Sammelband um eine systematische Vermessung der Berührungsflächen zwischen Ästhetik und Geschichtswissenschaft bemüht 35, der Anstöße aufgreift, die vor allem von Wolfgang Hardtwig seit den 1980er Jahren entwickelt und verfeinert wurden 36. Der Dialog zwischen Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft, der bis in die frühen 1980er Jahre vor allem im legendären Arbeitskreis „Poetik und Hermeneutik“ betrieben und in der Studiengruppe „Theorie der Geschichte“ weitergeführt wurde 37, kam unter der Last einer erzählfeindlichen Sozialgeschichte bereits in den 1980er Jahren zum Erliegen und ist von geschichtswissenschaftlicher Seite bis heute nicht wieder aufgenommen worden. Auch die französische Historiographie befindet sich erst am Anfang einer theoretisch fundierten Bestandsaufnahme des Verhältnisses zwischen Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft. Die Literaturwissenschaft hingegen hat seit einigen Jahren verschiedene Schnittstellen zwischen Literatur und Geschichte ausgeleuchtet, wovon mehrere Publikationen beredtes Zeugnis ablegen. 38 Dazu trug maßgeblich die Wiederentdeckung der narrativen Struktur geschichtswissenschaftlicher Texte durch Hayden White bei, womit Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft – nach ihrer Scheidung im späten 18. Jahrhundert – unter dem gemeinsamen Dach des Erzählens wieder enger zusammenrücken konnten. 39 Ein theoretisch fundiertes Interesse an der narrativen Andreas Kablitz, Geschichte – Tradition – Erinnerung? Wider die Subjektivierung der Geschichte, in: GG 32, 2006, 220–237, hier 225. 35 Martin Baumeister/Moritz Föllmer/Philipp Müller (Hrsg.), Die Kunst der Geschichte. Historiographie, Ästhetik, Erzählung. Göttingen 2009. 36 Vgl. eine Sammlung einschlägiger Beiträge: Wolfgang Hardtwig, Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 169.) Göttingen 2005. 37 Vgl. als wichtigste Publikation in diesem Kontext Reinhart Koselleck/Heinrich Lutz/ Jörn Rüsen (Hrsg.), Formen der Geschichtsschreibung. München 1982; hierin vor allem der Beitrag von Wolfgang Hardtwig, Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung und die Ästhetisierung der Darstellung, 147–191. 38 Grundlegend ist die Bestandsaufnahme von Daniel Fulda/Silvia Serena Tschopp (Hrsg.), Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin 2002; vgl. auch Tamsin Spargo (Ed.), Reading the Past. Literature and History. Basingstoke/New York 2000. 39 Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt am Main 1991; in der deutschen Historiographie hat sich vor allem Reinhart Koselleck um die Rezeption Hayden Whites verdient gemacht, von ihm stammt auch die Einführung in: Hayden White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Stu34

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Beschaffenheit der Historiographie ist bislang überwiegend in der deutschen Literaturwissenschaft anzutreffen und hat sich auch in entsprechenden Monographien niedergeschlagen. 40 In der Literaturwissenschaft hat der – dort besonders intensiv zu registrierende – cultural turn überdies frühzeitig eine Sensibilität für die über eine formalästhetische Textanalyse hinausreichende Frage nach spezifischen politischen und kulturellen Kontexten geweckt, aus denen Texte erwachsen können. Hier hat vor allem der New Historicism wichtige Schrittmacherdienste geleistet. 41 Gegen eine poststrukturalistische Verabsolutierung der sprachlichen Verfaßtheit von Texten postulierte vor allem Stephen Greenblatt die Abhängigkeit der Texte von ihren historischen Entstehungsbedingungen, ohne dabei ihren historisch nicht auflösbaren ästhetischen Eigenwert in Frage zu stellen. 42 Die Illuminierung literarischer Texte durch außerliterarische Zeugnisse ging einher mit einer ausgeprägten Vorliebe für das Alltägliche und Kleinteilige in der Geschichte. Trotz der damit verbundenen strikten Absage an jede Form offener oder verkappter Geschichtsteleologie ist allerdings selbst die US-amerikanische Geschichtswissenschaft dem New Historicism eher mit einer indifferenten Haltung begegnet als mit dem Versuch, gemeinsame Forschungsfelder von Geschichts- und Literaturwissenschaft auszuloten. 43 Der kulturelle Status von Literatur ist darüber hinaus durch eine literarische Anthropologie aufgewertet worden, die der Grundüberzeugung folgt, literarische Texte seien mit einer besonderen Fähigkeit zur Welterzeugung dien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1986, 1–6. Erst eine jüngere Historikergeneration greift solche Anstöße wieder auf; vgl. als besonders prägnantes Beispiel Jan Eckel, Der Sinn der Erzählung. Die narratologische Diskussion in der Geschichtswissenschaft und das Beispiel der Weimargeschichtsschreibung, in: ders./Thomas Etzemüller (Hrsg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft. Göttingen 2007, 201–229. 40 Im Regelfall handelt es sich dabei um Germanisten, die als zweites Fach Geschichte studiert haben. Vgl. etwa die luzide Studie von Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin/New York 1996. 41 Dessen einflußreichster Vertreter ist Stephen Greenblatt. Vgl. u. a. Stephen Greenblatt, Culture, in: Frank Lentricchia/Thomas McLaughlin (Eds.), Critical Terms for Literary Study. Chicago/London 1990, 225–232; s. auch Moritz Baßler (Hrsg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Frankfurt am Main 1995. 42 Dazu auch Paul Michael Lützeler, Klio oder Kalliope? Literatur und Geschichte. Sondierung, Analyse, Interpretation. Berlin 1997, 170–178. 43 Sarah Maza, Stephen Greenblatt, New Historicism, and Cultural History, or, What we Talk about When we Talk about Interdisciplinarity, in: Modern Intellectual History 1, 2004, 249–265, bes. 249f.

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ausgestattet. 44 Dies impliziert ihr Vermögen, das „kulturelle Imaginäre“ 45 zu konstituieren und damit auch politisch relevante Ordnungsvorstellungen zu formen und zu vermitteln. Damit einher geht eine „Rehabilitierung des Erfahrungsbegriffs“ 46: Literatur darf in dieser Perspektive als das Medium gelten, das individuelle Erlebnisse in intersubjektiv kommunizierbare Erfahrungen transformiert und dabei zugleich in das Innerste der Akteure vordringt. 47 Aufgrund ihrer Fiktionalität besitzt Literatur die Fähigkeit, die dem Historiker ansonsten verborgen bleibenden Innenwelten 48 zu erschließen und ihm einen Zugang zur subjektiven Dimension des Erlebens zu eröffnen, indem sie dieses durch den Akt des Fingierens zum Gegenstand kollektiver Selbstverständigungsprozesse macht. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, daß der Erste Weltkrieg in Deutschland wie in Frankreich ein bevorzugtes Objekt literarischer Imagination war. Allein in Deutschland ist bis 1933 eine überaus reiche literarische Produktion über den Ersten Weltkrieg zu verzeichnen, die an 700 Titel herangereicht haben dürfte. 49 In Frankreich sind mindestens 239 Schriftsteller zu den écrivains combattants zu rechnen, die als Teilnehmer der Grande Guerre ihre Erlebnisse in die Form eines Kriegsromans gossen und ihn zwischen 1914 und 1920 publizierten. 50 Mit Blick auf die in diesem Sammelband behandelten Fragen kommt der literarischen Form des historischen Romans dabei eine besondere Bedeutung zu, sind historische Romane doch durch ihren hybriden Charakter gekennzeichnet. Die ungebremste Fabulierkunst ist in ihnen dadurch eingeschränkt, daß der Stoff in einen Handlungsrahmen eingebettet ist, der sich durch einen nachprüfbaren Bezug zu historischen Fakten definiert. Damit enthalten historische Ro-

Vgl. v. a. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main 1991; vgl. auch Markus Fauser, Einführung in die Kulturwissenschaft. Darmstadt 2003. 45 Winfried Fluck, Das kulturelle Imaginäre. Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans 1790–1900. Frankfurt am Main 1997. 46 Fauser, Einführung (wie Anm. 44), 58. 47 Karl Ludwig Pfeiffer, Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie. Frankfurt am Main 1999. 48 Astrid Erll, Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier 2003, bes. 16. 49 Vgl. Jörg Vollmer, Imaginäre Schlachtfelder. Kriegsliteratur in der Weimarer Republik. Eine literatursoziologische Untersuchung. Diss. phil. Berlin 2003, 6. 50 Die bislang eingehendste Untersuchung hat insgesamt 291 solcher Titel ermittelt, die zwischen 1914 und 1920 veröffentlicht wurden: Nicolas Beaupré, Écrire en guerre, écrire la guerre. France, Allemagne 1914–1920. Paris 2006, 12. 44

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mane stets einen variablen „Geschichtsanteil“ 51, über den der Autor nicht nach eigenem Belieben verfügen kann. Diese Verantwortung gegenüber der historisch verbürgten Faktizität meint jedoch nicht, daß historische Romane allein eine mimetische Funktion erfüllen und sich auf die literarisch hergestellte Abbildung (vermeintlicher) historischer Realitäten beschränken. Gerade historische Romane sind maßgeblich an der produktiven Erzeugung geschichtsmächtiger Vorstellungen beteiligt, nutzen sie ihre Zwitterstellung doch dazu, durch phantasievollen Umgang mit der Vergangenheit bestimmte Geschichtsbilder zu erzeugen, die für das Handeln politischer Akteure überaus bedeutsam sein können. 52 Dies gilt insbesondere für den Typus des historischen Romans, der als dokumentarischer beziehungsweise realistischer Text entschiedenen Wert darauf legt, die fiktionale Erzählung historisch abzusichern und zu diesem Zweck möglichst viele aussagekräftige Bezüge zu geschichtlich verbürgten Personen und Ereignissen herzustellen. Doch reicht das Formenspektrum des historischen Romans noch wesentlich weiter. Postmoderne historische Romane sprengen den Tatsachenbezug und thematisieren grundlegende geschichtstheoretische Fragen, indem sie mit Hilfe literarischer Verfahren die Konstruktionsbedingungen von Geschichte selbst reflektieren. Die in diesem Sammelband thematisierten historischen Romane wie etwa Werner Beumelburgs „Die Gruppe Bosemüller“ (1930) sind literarisch eher konventionell komponiert und verzichten auf metafiktionale Elemente, erzielen aber gerade dadurch einen besonders geschichtsmächtigen Effekt: Die ihnen eigene „Tendenz zur Verschleierung der Fiktionalität“ 53 verwischt beim Leser die Grenzen zwischen Fiktion und Fakten und suggeriert einen Anspruch auf Authentizität. In einer solchen Perspektive erlangen historische Romane, die sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigen, den Rang einer erstklassigen kulturhisLützeler, Klio (wie Anm. 42), 15. Grundlegend zu Form und Funktion des historischen Romans sind die Beiträge des Literaturwissenschaftlers und Historikers Ansgar Nünning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans. Trier 1995; ders., Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion. Bausteine für eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorie, Typologie und Geschichte des postmodernen historischen Romans, in: Fulda/Tschopp (Hrsg.), Literatur und Geschichte (wie Anm. 38), 541–569; s. auch Barbara Potthast, Die Ganzheit der Geschichte. Historische Romane im 19. Jahrhundert. Göttingen 2007. 53 Ansgar Nünning, „Beyond the Great Story“. Der postmoderne historische Roman als Medium revisionistischer Geschichtsdarstellung, kultureller Erinnerung und metahistoriographischer Reflexion, in: Anglia. Zeitschrift für englische Philologie 117, 1999, 15– 48, hier 26; s. auch ders., Von der fiktionalisierten Historie (wie Anm. 52). 51 52

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torischen Quelle. Zum einen wenden sie eine Erzähltechnik an, die die Aneignung des Romans so steuert, daß er dem Leser als eine unmittelbare Darstellung des Kriegsgeschehens erscheint. In rezeptionsästhetischer Hinsicht verlocken solche „vertexteten Rezeptionslenkungen“ 54 den Leser zu der Annahme, die (vermeintliche) Wirklichkeit des Krieges könne durch die Lektüre von Kriegsromanen erschlossen werden. Zum anderen – und hier ist die besondere Kompetenz der Geschichtswissenschaft gefragt – stießen solche Romane während und nach dem Krieg in Deutschland wie in Frankreich auf eine Erwartungshaltung der Leser, die sich aus außerliterarischen Gründen bereitwillig auf entsprechende Offerten einließen. Es herrschte zumindest in Deutschland eine die politischen Lager übergreifende Bereitwilligkeit, durch die Lektüre solcher Romane zum „eigentlichen“ Kriegserlebnis vorzudringen. 55 Diese Einstellung bedienten die Vermarktungsstrategien der Verlage: So wurde Erich Maria Remarques Erfolgsroman „Im Westen nichts Neues“ vom Ullstein-Verlag ausdrücklich als quasi-dokumentarischer Erlebnisbericht angepriesen, in dem sich erstmals die bis dahin sprachlose Generation der einfachen Frontsoldaten zu Wort melde. 56 Diese erstaunliche Verwandlung fiktionaler Texte in quasi-authentische Zeugnisse des Kriegsgeschehens wirft die Frage auf, welchen kulturellen Nährboden solche textuellen Rezeptionsstrategien vorfanden. 57 Dabei springt für den deutschen Fall vor allem der Umstand ins Auge, daß die Rezeption von Kriegsromanen geeignet war, klassische Milieugrenzen zu sprengen. Auch wenn eine umfassende Rezeptionsgeschichte dieser Textsorte – angesichts der komplizierten Quellenlage gewiß ein höchst anspruchsvolles Projekt – noch in den Anfängen steckt, finden sich doch hinRainer Warning, Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik, in: ders. (Hrsg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München 1975, 9–41, hier 25; vgl. darüber hinaus noch immer Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt am Main 1970. 55 Vgl. Vollmer, Imaginäre Schlachtfelder (wie Anm. 49), v. a.. 29, 38, 48f., 156, 167, 174–178, 262 und 291f.; Matthias Prangel, Das Geschäft mit der Wahrheit. Zu einer zentralen Kategorie der Rezeption von Kriegsromanen der Weimarer Republik, in: Jos Hoogeveen/Hans Würzner (Hrsg.), Ideologie und Literatur(wissenschaft). Amsterdam 1986, 47–78. 56 Thomas F. Schneider, Das virtuelle Denkmal des unbekannten Soldaten. Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ und die Popularisierung des Ersten Weltkriegs, in: Barbara Korte/Sylvia Paletschek/Wolfgang Hochbruck (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur. Essen 2008, 89–98. 57 Dazu auch die theoretisch anregenden Überlegungen bei Erll, Gedächtnisromane (wie Anm. 48), bes. 82–84, 92, 102 und 130–135. 54

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reichende Belege, die eine lagerübergreifende Rezeption dokumentieren. Es spricht Bände, wenn ein sich selbst auf der politischen Linken verortender Leipziger Textilarbeiter, der nach eigenem Zeugnis alle wichtigen deutschsprachigen Kriegsromane gelesen hatte, ausgerechnet „Die Gruppe Bosemüller“, einen Roman des politisch auf der Rechten beheimateten Werner Beumelburg 58, als das gelungenste Kriegsbuch überhaupt pries, weil es das Fronterlebnis in besonders realistischer Weise zum Ausdruck bringe. 59 Es liegt daher nahe, eine solche sinnhafte Aneignung literarischer Texte als Ausdruck einer generationellen Konstituierung zu begreifen, die sich quer zu den bestehenden Klassen- und Milieuzugehörigkeiten bildete und im Rekurs auf den Ersten Weltkrieg ihr Generationsobjekt fand. Dabei ist auffällig, daß die Deutung des Ersten Weltkriegs die Alterskohorte der Frontkämpfer und die Angehörigen der sogenannten „Kriegsjugendgeneration“ – also diejenigen, die zu jung waren, um ein eigenes Kriegserlebnis zu besitzen – nicht etwa entzweite, sondern ganz im Gegenteil zu einer „Doppelgeneration“ 60 zusammenschweißte, in der sich die Jüngeren nicht zuletzt durch die Lektüre von Kriegsliteratur das ihnen entgangene Kriegserlebnis imaginativ anzueignen meinten. Allerdings muß in Rechnung gestellt werden, daß eine systematische Vermessung des Feldes, auf dem sich Literatur und Politik in der Weimarer Republik begegneten, trotz mancher Vorarbeiten noch nicht geleistet ist. So bedürfen etwa die formsprachlich bedingten Prozesse, mit denen literarische Texte in das Überzeugungssystem der Leserschaft eingriffen, einer vertieften literaturwissenschaftlichen Durchleuchtung. Und die Frage nach den kulturellen Dispositionen, die einer kollektiven Sinnhaftmachung solcher Texte zuträglich waren, erfordert eine systematische Auswertung von Ego-Dokumenten, die noch in den Anfängen steckt. Insgesamt acht Beiträge des vorliegenden Sammelbandes gehen in unterschiedlicher Intensität auf die dynamische Beziehung zwischen literarischer Form und politikhaltiger Imagination des Ersten Weltkrieges ein. So Zu Beumelburgs politischem Standort vgl. den Beitrag von Gerd Krumeich, Zwischen soldatischem Nationalismus und NS-Ideologie. Werner Beumelburg und die Erzählung des Ersten Weltkriegs, in diesem Band 295–312. 59 Vgl. die Belege bei Gideon Reuveni, Reading Germany. Literature and Consumer Culture in Germany before 1933. New York/Oxford 2006, 236f.; vgl. auch Pyta, Die expressive Kraft (wie Anm. 32), 68–70. 60 Carsten Kretschmann, Generation und politische Kultur in der Weimarer Republik, in: Hans-Peter Becht/Carsten Kretschmann/Wolfram Pyta (Hrsg.), Politik, Kommunikation und Kultur in der Weimarer Republik. Heidelberg/Ubstadt-Weiher/Basel 2009, 11–30, hier 23 und 30. 58

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kann Wolfgang U. Eckart exemplarisch zeigen, wie sehr die Literatur in der Lage war, diejenigen Dimensionen des Weltkrieges einzufangen, die in herkömmlichen Texten bewußt oder unbewußt ausgespart blieben. In drastischer Eindringlichkeit wurden Szenen der Verwundung, der Verstümmelung, der Zerfetzung des menschlichen Körpers geschildert. Die damit einhergehende psychische Traumatisierung fand in der deutschen Literatur allerdings eher selten ihren Niederschlag, da die entsprechenden psychosomatischen Krankheitsbilder allzu leicht mit weiblich konnotierter Hysterie und defätistischem Simulantentum gleichgesetzt wurden. Die literarische Behandlung der Verletzlichkeit des menschlichen Körpers führte denn auch nicht zwangsläufig zu einer pazifistischen Kriegsdeutung. Gerade ein nationalistisch aufladbarer Männlichkeitsdiskurs konnte durch die Erfahrung von Schmerz und Wunden literarisch beglaubigt werden. Die spezifischen Imaginationsmöglichkeiten von Sprache sind in besonderer Weise von Ernst Jünger ausgeschöpft worden. Helmuth Kiesel, Verfasser der einschlägigen Biographie 61, stellt in seinem Beitrag heraus, daß Jünger literarische Darstellungsformen wählte, welche die strukturell bedingte Kluft zwischen Literatur und Leben keineswegs einebneten. Dabei suchte er sich nicht der künstlerischen Herausforderung zu entziehen, das unerhörte Geschehen des Krieges überhaupt darstellbar werden zu lassen. In den vielzitierten, 1920 erstmals erschienenen „Stahlgewittern“ postuliert Jünger die Autonomie des Ichs, weshalb er mit spezifisch literarischen Mitteln die subjektive Geschichte eines Individuums erzählt und so die besondere Fähigkeit der Literatur zur Introspektion untermauert. Diese Erzählstrategie impliziert nicht nur einen geradezu trotzig zu nennenden Anspruch des Individuums auf literarische Selbstverfügung über ein Kriegserleben, das durch radikalen Autonomieverlust gekennzeichnet war. Jünger entzieht sich mit einem solchen Verfahren zudem einer kollektiven Vereinnahmung und kann dem Weltkrieg denn auch keine tiefere politische Bedeutung beimessen. Erst in den späteren Überarbeitungen der „Stahlgewitter“ und in weiteren Erzählungen lädt Jünger das bis dahin gleichsam privatisierte Kriegserlebnis mit kollektivem Sinn auf und attestiert ihm eine wichtige Funktion für die innere Nationsbildung. Insgesamt demonstriert das Beispiel Jüngers die Reichhaltigkeit der Formensprache, mit der in ästhetisch anspruchsvoller Weise anthropologische Grunderfahrungen erzählt wurden; zugleich zeugt Jüngers literarische und politische Vita davon, wie sehr im Laufe der 1920er Jahre das Bedürfnis nach literarisch ver61

Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007.

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mittelter Sinnstiftung auf die Erzähltechnik abfärbte und politisch anschlußfähige Ordnungskonzepte hervorbrachte. Im literarischen Werk von Werner Beumelburg spitzt sich diese Tendenz zu. Beumelburg, ein Bestsellerautor, der im Unterschied zu Jünger nach 1945 in Vergessenheit geriet, hatte als Achtzehnjähriger bei Verdun gekämpft und dieses Fronterlebnis von 1923 an dazu benutzt, in unterschiedlichen literarischen Gattungen den Ersten Weltkrieg – gewissermaßen authentisch – aus der Perspektive des Schützengrabens zu erzählen, wobei ihm „eine originelle Synthese von soldatischem Erlebnispathos und den Postulaten der Neuen Sachlichkeit“ 62 gelang, wie der Beitrag von Gerd Krumeich hervorhebt. Dies mag ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein, daß die Werke Beumelburgs, wie bereits angedeutet, auch unter linksstehenden Lesern als packende und glaubhafte Schilderung des Krieges galten. 63 Obgleich Beumelburgs Deutungsofferten, wie er sie vor allem in seinem Erfolgsroman „Die Gruppe Bosemüller“, der sich in literarischer Hinsicht durchaus mit Remarques Bestseller messen kann, entwickelte, den Krieg an nationalistische Interpretationen anschlossen, waren seine Bücher frei von jener platten nationalsozialistischen Sicht auf den Krieg, wie sie etwa von Hans Zöberlein in ermüdender Penetranz vertreten wurde. Am Beispiel Beumelburgs kann Krumeich darüber hinaus zeigen, daß die Lesart Zöberleins und anderer nationalsozialistischer Schriftsteller im Dritten Reich gerade nicht zur offiziösen Richtschnur erhoben wurde, wenn es um die Deutung des Ersten Weltkriegs ging. Vielmehr behauptete das durch Beumelburg und weitere Vertreter der Frontkämpfergeneration wie Franz Schauwecker repräsentierte Kriegsnarrativ auch im NS-Staat seine überlegene Stellung, was wohl nicht zuletzt dem Umstand zuzuschreiben ist, daß sich Hitler nach der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs als Wahrer und Fortsetzer der soldatischen Tradition des Ersten Weltkriegs in Szene zu setzen suchte. Im Deutschland der Zwischenkriegszeit war der Roman das bevorzugte Genre des literarischen Umgangs mit dem Krieg. Mit seiner Hilfe konnte das Geschehen zwischen 1914 und 1918 in eine literarische Form gegossen werden, die mit großer Eindringlichkeit auf die Leser wirkte und sie in scheinbarer Unmittelbarkeit am Kriegserlebnis partizipieren ließ. In Großbritannien fiel die literarisch kommunizierte Deutung des Ersten Weltkriegs möglicherweise auch deswegen anders aus, weil hier die Lyrik als 62 63

Krumeich, Zwischen soldatischem Nationalismus (wie Anm. 58), 299. Vgl. Reuveni, Reading Germany (wie Anm. 59), 236f.

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bevorzugtes Genre dominierte und die formsprachlichen Möglichkeiten des Kriegsnarrativs infolgedessen wesentlich eingeschränkter waren. David Midgley hebt in seinem Beitrag aber nicht nur die formalen Unterschiede hervor, die die literarische Produktion in Deutschland und Großbritannien kennzeichnet. Mit Blick auf die in den 1920er Jahren überschaubar zu nennende Zahl von Kriegsromanen und -erzählungen in Großbritannien spielt vielmehr der Umstand, daß britische Schriftsteller nicht vor der Herausforderung standen, einem verlorenen Krieg nachträglich Sinn zuzusprechen, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Insofern fiel der Beitrag der Prosa zur Vermittlung politisch anschlußfähiger Ordnungsvorstellungen im britischen Mutterland eher bescheiden aus – ganz im Unterschied zu den Dominions Australien und Kanada, in denen die Erfahrung des Krieges und damit einhergehend auch die erlittenen eigenen Opfer zum Gegenstand einer populären Literatur wurden, die in der soldatischen Bewährung im Kriege eine wichtige Voraussetzung zur inneren Konstituierung der australischen beziehungsweise kanadischen Nation erblickte. In Frankreich gab es einen ähnlichen Boom von Kriegsromanen wie in Deutschland. Auch hier ist die Tendenz zu registrieren, die Grenze zwischen Kriegsroman und Dokumentation im Akt der Rezeption zu verwischen, wie sie für die Aufnahme historischer Romane in Deutschland typisch war. In Frankreich kam noch der Umstand hinzu, daß hier – im Unterschied zu Deutschland – Schriftsteller von Weltruf als écrivains combattants am Krieg teilnahmen und daher einen lebendigen und anschaulichen, nachgerade authentischen Eindruck vom Geschehen an der Front vermitteln konnten. Der bis heute als kanonisch geltende Roman „Le Feu“ von Henri Barbusse erschien denn auch mitten im Kriege, im Jahre 1916. In Frankreich entbrannte allerdings – ausgelöst durch die 1929 erschienene Studie von Jean Norton Cru über den Wert einer vermeintlich objektiven Zeugenschaft im Krieg – eine heftige Debatte über den Quellenwert von Kriegsliteratur überhaupt. Nicolas Beaupré zeichnet in seinem Beitrag nach, mit welchem Mißtrauen französische Historiker – in der Tradition Jean Norton Crus – lange Zeit literarischen Darstellungen des Ersten Weltkrieges begegneten und wie sehr sie im Sinne einer traditionellen Quellenkritik darauf pochten, vermeintlich „wahren“ Zeugnissen wie Briefen oder Tagebüchern einen epistemischen Vorrang vor der augenscheinlich rein fiktionalen Literatur einzuräumen. Dabei schwang insofern immer auch ein moralischer Unterton mit, als das authentische Dokument – jedenfalls in dieser Perspektive – die brutale Grausamkeit des Krieges unverhüllt widerzuspiegeln schien, während man die Literatur in der Gefahr sah, be21

wußt oder unbewußt auch „falsche“ Vorstellungen vom Krieg zu transportieren. Mittlerweile ist die französische Historiographie dazu übergegangen, die Kriegsliteratur als genre élastique anzuerkennen, das sowohl wertvolle Aussagen über den Krieg selbst als auch über seine Deutung erlaubt. Es besteht kein Zweifel, daß écrivains combattants eine maßgebliche Rolle bei der Verbreitung politikmächtiger Vorstellungen über den Ersten Weltkrieg spielten. Almut Lindner-Wirsching weist denn auch nach, daß französische Schriftsteller zwischen 1914 und 1918 sich in prominenter Weise für die Union sacrée engagierten und ihre Feder in den Dienst sozialer und kultureller Vergemeinschaftung stellten. Insofern trugen auch sie zur Versöhnung zwischen den „deux France“ bei. Dabei setzten französische Schriftsteller allerdings andere Akzente als ihre deutschen Kollegen, die ebenfalls die nationale Einheit predigten: In Frankreich blieb die Republik der zentrale Fluchtpunkt solcher Gemeinschaftsvorstellungen, die auf diese Weise bruchlos an die jakobinische Tradition anknüpften. Die Nation war ohne ihre republikanische Behausung schlechterdings nicht vorstellbar; und insofern dominierte als soldatisches Ideal in der Kriegsprosa der soldat citoyen. In Deutschland hingegen bewegten sich die literarischen Porträts von Soldaten außerhalb einer bestimmten staatlichen Ordnung: Frei von jeder staatsbürgerlichen Attitüde wurden soldatische Tugenden hier in erster Linie durch die innermilitärische Konstituierung einer Frontgemeinschaft definiert, die durch das Band der Treue zusammengehalten war. 64 Sie konnte als Vorbild für die zu errichtende „Volksgemeinschaft“ dienen, behielt aber im Krieg und auch danach eine prinzipiell systemsprengende Kraft. Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß nicht jeder französische Schriftsteller während des Krieges zu einem écrivain combattant wurde – und dies nicht nur aus Gründen des Alters wie beispielsweise bei Paul Claudel oder Marcel Proust, sondern aus tieferer Überzeugung. Anhand einer eingehenden Analyse der „Nouvelle Revue Française“ (NRF) vermag Yaël Dagan denn auch zu zeigen, wie distanziert die 1908 von André Gide gegründete Zeitschrift dem Geschehen des Weltkriegs begegnete. Unter ihrem Chefredakteur Jacques Rivières, der die propagandistische (Selbst-)Instrumentalisierung führender Schriftsteller während des Krieges als esclavage intellectuel geißelte, entwickelte sich die NRF nach 1919 vielmehr zur Fürsprecherin einer „littérature pure“ und damit einer kulturellen Zum Hintergrund vgl. Nikolaus Buschmann (Hrsg.), Treue. Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne. Göttingen 2008.

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Demobilmachung. 65 Indem sie ihre Spalten für jeden Beitrag, der das Erlebnis des Krieges intellektuell zu deuten unternahm, verschloß, bekräftigte die Zeitschrift ihren (vermeintlich) unpolitischen, allein der Kunst und ihrem Reich verpflichteten Standpunkt. Selbst Vertreter der Frontgeneration wie etwa Louis Aragon, André Breton oder Henry de Montherlant, die das literarische Profil der NRF maßgeblich prägten, verzichteten darauf, das Erlebnis des Weltkriegs zum Fluchtpunkt ihrer künstlerischen oder gar politischen Identität zu erheben. Es waren diese Freiräume, die es – wie der Beitrag von Landry Charrier zeigt – auch einem Maurice Barrès, der während des Krieges einen nationalisme de synthèse propagiert hatte, erlaubten, nach 1918 in einen „Prozeß des Umdenkens“ 66 einzutreten. Ohne auf die harten Annexionsforderungen zurückzukommen, wie Barrès, eine Schlüsselfigur der radikalen Nationalisten in Frankreich, sie 1915 mit Blick vor allem auf das Saargebiet und die Pfalz erhoben hatte, skizzierte er in seinen Vorträgen über „Le Génie du Rhin“ nun die Vision eines unabhängigen Rheinlands, das als Puffer zwischen Frankreich und Deutschland wirken, zugleich die wirtschaftliche Kooperation zwischen beiden Ländern befördern und auf diese Weise einen dauerhaften Frieden in Europa ermöglichen sollte.

IV. Die Figur von Maurice Barrès steht auch für die geistigen Wandlungsprozesse einer Personengruppe, die sich durch ein besonderes Mandat zur Einmischung in die öffentlichen Angelegenheiten definiert: die Intellektuellen. Frankreich gilt als das Geburtsland des Sozialtypus des modernen Intellektuellen; infolgedessen hat die französische Forschung konzeptionell und empirisch besonders gehaltvolle Beiträge zur Intellektuellengeschichte beigesteuert. 67 Die soziologische Forschung hat betont, daß sich InEine kritische Diskussion dieses Terminus bei John Horne, Kulturelle Demobilmachung 1919–1939. Ein sinnvoller historischer Begriff?, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939. Göttingen 2005, 129–150. 66 Landry Charrier, Der späte Barrès und seine Rezeption in Deutschland (1918–1923), in diesem Band 203–220, hier 203. 67 Vgl. insbesondere Christophe Charle, Naissance des „intellectuels“ 1880–1900. Paris 1990; ders., Les intellectuels en Europe au XIXe siècle. Paris 1996; Michel Winock, Le siècle des intellectuels. Paris 1997; Pascal Ory/Jean François Sirinelli, Les intellectuels en France de l’affaire Dreyfus à nos jours. Paris 1986. 65

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tellektuelle einer herkömmlichen sozialwissenschaftlichen Einordnung in soziale Gruppen oder Schichten entziehen 68, was zugleich einer Aufforderung an eine kulturgeschichtlich erweiterte Politikgeschichte gleichkommt, Intellektuellen verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen. Von kultursoziologischer Seite aus hat bereits Pierre Bourdieu einen Weg in diese Richtung gewiesen, als er den Intellektuellen als „ein bi-dimensionales Wesen“ bezeichnete, das eine „labile Synthese“ 69 aus zwei unterschiedlichen Feldern bilde, indem er die Sphäre der Kultur mit dem Feld der Politik verbinde. Dies geschieht dadurch, daß der Intellektuelle mit seiner im autonomen Feld der Kultur erworbenen Autorität durch öffentliche Äußerungen in den Bereich der Politik interveniert. Diese Einmischung legitimiert der Intellektuelle durch Rekurs auf normative Grundlagen des Politischen, als deren Wächter er sich durch seine herausragende kulturelle Kompetenz zu beglaubigen vermag. 70 Schriftsteller gehören zu den herausragenden Exponenten dieses Typus 71 – und mit Émile Zolas „J’accuse“ hat im Jahre 1898 ein Vertreter der Literatur in Frankreich die Vorstellung des Intellektuellen maßgeblich geprägt. Insofern liegt es nahe, auch den Beitrag französischer und deutscher Schriftsteller zur Deutung des Ersten Weltkriegs in den Kontext einer Intellektuellengeschichte zu stellen. An dieser Stelle kann dabei allerdings das heuristische Potential eines solchen Zugriffs nur ansatzweise ausgeleuchtet werden. Im folgenden geht es daher nicht um eine Betrachtung der sozialen Beziehungen zwischen Intellektuellen, Verlagen, Lesern und publizistischem Massenmarkt, die überhaupt erst Intellektuelle befähigten, kulturelles Kapital zu erwerben, das sie in politische Münze umwandeln konnten. Auch die politischen Interventionsstrategien und Handlungsebenen, vermittels derer politische Offerten Intellektueller in das politische 68 Vgl. Henning Hillmann, Zwischen Engagement und Autonomie. Elemente für eine Soziologie der Intellektuellen, in: Berliner Journal für Soziologie 7, 1997, 71–86; sowie Andreas Franzmann, Der Intellektuelle als Protagonist der Öffentlichkeit. Krise und Räsonnement in der Affäre Dreyfus. Frankfurt am Main 2004, v. a. 13f. 69 Pierre Bourdieu, Die Intellektuellen und die Macht. Hamburg 1991, 42 und 45 (für beide Zitate); vgl. auch ders., Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris 1992. 70 Hillmann, Engagement (wie Anm. 68); Joseph Jurt, „Les intellectuels“: ein französisches Modell, in: Sven Hanuschek/Therese Hörnigk/Christine Mende (Hrsg.), Schriftsteller als Intellektuelle. Tübingen 2000, 103–133, v. a. 105f.; M. Rainer Lepsius, Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen. Opladen 1990, 270–285. 71 Georg Jäger, Der Schriftsteller als Intellektueller. Ein Problemaufriß, in: Hanuschek/ Hörnigk/Malende (Hrsg.), Schrifsteller (wie Anm. 70), 1–25.

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Feld transferiert werden konnten, sind nicht Gegenstand der folgenden Überlegungen. 72 Ebenfalls wird die Frage nach der kommunikativen Praxis, mittels derer Intellektuelle in das politische Feld eingreifen konnten, bewußt ausgespart. 73 Wir wollen uns vielmehr auf die zentrale Frage konzentrieren, warum in Frankreich wie in Deutschland gerade Schriftstellern, die sich auf ihr eigenes Kriegserlebnis berufen konnten, intellektuelle Autorität zugeschrieben wurde. 74 Daran schließt sich die Frage an, ob diese spezifische Autorität im kulturellen Feld auch eine besondere politische Durchschlagskraft literarisch vermittelter Deutungen des Krieges nach sich zog. War der Typus des écrivain combattant in Frankreich beziehungsweise des „Kriegsdichters“ in Deutschland zu einer besonders nachhaltigen intellektuellen Intervention befähigt? Warum brachte die Berufung auf das eigene Kriegserlebnis eine besondere intellektuelle Beglaubigung hervor? Bei der Antwort auf diese Frage bietet es sich an, die Leistungen von Intellektuellen auch mit Kategorien der Wissenssoziologie zu analysieren. Folgt man dem Ansatz von Peter Berger und Thomas Luckmann, dann ist Wissen – verstanden als die verstehende und deutende Konstruktion von Wirklichkeit – auch im Bereich eines objektivierten Wissens um Normen und Wertmaßstäbe angesiedelt. 75 Intellektuelles Wissen zeichnet gegenüber anderen Wissensformen die Eigenschaft aus, „gesellschaftliches Deutungs- und Orientierungswissen“ 76 bereitzustellen. Dieser gesellschaftliche Wissensvorrat greift – und dies ist entscheidend – auf ein subjektives Wissen zurück, das die Organisation des eigenen Lebens entlang erlebnisHierzu die weiterführenden Überlegungen bei Gangolf Hübinger, Die politischen Rollen europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, in: ders./Thomas Hertfelder (Hrsg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik. Stuttgart 2000, 30–44, v. a. 39– 41. 73 Dazu die instruktiven Überlegungen bei Kirill Abrosimov, Die Genese des Intellektuellen im Prozeß der Kommunikation. Friedrich Melchior Grimms „Correspondance littéraire“, Voltaire und die Affäre Calas, in: GG 33, 2007, 163–197. 74 Vgl. Beaupré, Écrire en guerre (wie Anm. 50), 257f. 75 Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 20. Aufl. Frankfurt am Main 2004, 81; vgl. auch Jack R. Goody, Wissen und die Arten seiner Weitergabe, in: Johannes Fried/Johannes Süßmann (Hrsg.), Revolutionen des Wissens. Von der Steinzeit bis zur Moderne. München 2001, 40–55. Zum Hintergrund Sabine Maasen, Wissenssoziologie. 2. Aufl. Bielefeld 2009, bes. 31–39. 76 Manfred Gangl, Interdiskursivität und chassés-croisés. Zur Problematik der Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, in: Hanuschek/Hörnigk/Malende (Hrsg.), Schriftsteller (wie Anm. 70), 2–48, hier 29. 72

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gesättigter Haltepunkte ermöglicht. 77 Die Literatur ist in der Lage, mittels ihrer Verfahren erlebnishaft gewonnenes subjektives Wissen in objektivierbare Wissensordnungen zu überführen, indem sie dieses subjektive Wissen kommunizierbar macht. 78 Dies konnte dem Kriegsdichter, der über das Privileg des eigenen Kriegserlebnisses verfügte und damit renommieren konnte, einen herausgehobenen Geltungsanspruch verleihen. Historisch konnten die Kriegsdichter diese günstige Position in Frankreich wie in Deutschland deswegen ausnutzen, weil das Subjekt als Ursprung des Erkenntnisvermögens durch den vitalistischen Diskurs enorm aufgewertet worden war, der in beiden Ländern bereits in der Vorkriegszeit zu registrieren war. 79 Damit verlor die herkömmliche Vorstellung vom Intellektuellen als Treuhänder universaler Ideen an Wert. Der Erste Weltkrieg führte zu einer beschleunigten Entwertung intellektueller Deutungsansprüche, die sich allein dem Anspruch auf geistige Erbschaft überzeitlicher Werte verdankten. Mit Karl Mannheim läßt sich für die 1920er Jahre in Deutschland wie in Frankreich eine Krise klassischer Gelehrtenkultur feststellen 80, die dazu führte, daß durch das Kriegserlebnis geadelte Schriftsteller zumindest in Deutschland die intellektuellen Ansprüche der traditionellen Hüter von Gelehrsamkeit ausstachen. Folge war in Deutschland wie in Frankreich eine bis dahin einzigartige Demokratisierung der Aufstiegsmöglichkeiten in den Olymp der Intellektuellen. 81 Dieser neue Intellektuellentypus beschränkte sich nicht darauf, in seinem literarischen Schaffen das Kriegserleben in eine bestimmte ästhetische Form zu kleiden. Vielmehr verband sich damit zugleich ein Bekenntnis zur 77 Grundlegend zu dieser Transformation ist Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt. Konstanz 2003, v. a.. 355–386; als Fallbeispiel aufschlußreich ist Peter Scholz, Der Senat und die Intellektualisierung der Politik. Einige Bemerkungen zur Krise der traditionellen Erziehung in der späten römischen Republik, in: Carsten Kretschmann/Henning Pahl/Peter Scholz (Hrsg.), Wissen in der Krise. Institutionen des Wissens im gesellschaftlichen Wandel. Berlin 2004, 17–28. 78 Christoph Schneider, Symbol und Authentizität. Zur Kommunikation von Gefühlen in der Lebenswelt, in: Schlögl/Giesen/Osterhammel (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Symbole (wie Anm. 12), 101–133; vgl. auch die Anregungen bei Erll, Gedächtnisromane (wie Anm. 48), bes. 83f. und 112f. 79 Vgl. Prochasson/Rasmussen, Au nom (wie Anm. 15), v. a. 102–123. 80 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie. Bonn 1929; vgl. dazu auch Dirk Hoeges, Kontroverse am Abgrund. Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Frankfurt am Main 1994; Antje Büssgen, Intellektuelle in der Weimarer Republik, in: Jutta Schlich (Hrsg.), Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Tübingen 2000, 161–246, hier 236. 81 Prochasson/Rasmussen, Au nom (wie Anm. 15), 281; Hübinger, Die politischen Rollen (wie Anm. 72), 36f.

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vermeintlich befreienden Wirkung der Tat, der die Fähigkeit zuerkannt wurde, das künstlerisch Geformte zu beglaubigen. Nicht selten floß diese Verherrlichung der Aktion in das gewählte literarische Verfahren ein, in dem „eine Wende von der Textualität zur Performativität“ 82 zum Ausdruck kam, so daß die Erlebnishaftigkeit der geschilderten Handlungen betont wurde. Die Intellektuellen ließen sich zu einem politischen Aktionismus hinreißen, den Julien Benda im Jahre 1927 in seiner einflußreichen zeitgenössischen Schrift „La trahison des clercs“ als Verrat der Intellektuellen an ihrer universalistischen Mission kritisierte. 83 Sie leisteten damit Tribut an eine Ausweitung des Politischen, das sich nach 1918 in alle Bereiche des Lebens einnistete. Dirk Hoeges hat diesen Prozeß am Beispiel der Kontroverse zwischen Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim eindringlich geschildert; seine Befunde lassen sich bestens an die jüngsten kulturgeschichtlichen Ergebnisse der Weltkriegsforschung anschließen. 84 Demgemäß wurde das traditionelle Selbstverständnis der bildungsbürgerlich geprägten Intellektuellen, gewissermaßen als „pouvoir neutre“ über dem politischen Meinungskampf zu stehen und als „Aristokratie des Geistes“ einen universalistischen Humanismus zu verkünden 85, durch die kulturellen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs erschüttert. Denn der Weltkrieg privilegierte ein Verständnis des Politischen, das die kämpferische Tat als Kern des Politischen definierte und damit einem aktionistischen Politikstil zu breiter Anerkennung verhalf, aus dem die Scheidung zwischen Freund und Feind in Carl Schmitts berühmter Definition des Politischen ebenso erwuchs wie die Legitimität von Gewalt zur Verfolgung politischer Ziele, die durch ihre Radikalität und Kompromißlosigkeit geheiligt erschienen. 86 Dieser Prozeß, der mit einem Verlust bildungsbürgerlicher Selbstzuschreibung des Intellektuellen ebenso einherging wie mit einer Ausweitung der Intellektuellen auf diejenigen, die sich durch Wort wie Tat gleichermaßen beglaubigten, war in Deutschland besonders ausgeprägt. Allerdings muß auch die Anfrage erlaubt sein, ob in Frankreich nicht ähnliche Tendenzen zu verzeichnen waren. Vollmer, Imaginierte Schlachtfelder (wie Anm. 49), 292; vgl. auch Pyta, Expressive Kraft (wie Anm. 32), 73f. 83 Julien Benda, La trahison des clercs. Paris 1927; zu Bendas Schrift vgl. Büssgen, Intellektuelle (wie Anm. 80), 163–171. 84 Hoeges, Kontroverse (wie Anm. 80), bes. 213–242. 85 Ebd. 225. 86 Ebd. 222–229; Pyta, Expressive Kraft (wie Anm. 32), 75; Mergel, Das parlamentarische System von Weimar (wie Anm. 10), v. a. 54–56. 82

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Im französischen Fall mußte es Erstaunen wecken, wie ausnahmslos sich die Intellektuellen seit dem Ausbruch des Weltkrieges dem „geistigen Dienst an der Nation“ verschrieben hatten. Das Erstaunen wird weniger groß, wenn man bedenkt, wie sehr in der französischen Intellektuellenszene der Vorkriegszeit Frankreich als das Mutterland der „civilisation“ und damit als Heimat der in der Französischen Revolution erstmals politikmächtig gewordenen Bürgerrechte einen bevorrechtigten Status genoß. Diese unauflösliche Verbindung von universalistischem Gestus und patriotischem Bekenntnis führte zu einem „processus de nationalisation de la verité“. 87 In einzelnen Fällen bewirkte diese Einstellung eine extreme Politisierung von Intellektuellen, die – wie Julien Benda konstatierte – jedes Augenmaß verloren und sich unter Aufgabe der für Intellektuelle konstitutiven Autonomie mit Haut und Haaren der Sache einer politischen Partei verschrieben. Henri Barbusse ist hierfür das vielleicht aussagekräftigste Exempel 88: Der Verfasser von „Le Feu“ wurde zum politischen Doktrinär und zum Vorzeigeintellektuellen der kommunistischen Partei Frankreichs, der Lobeshymnen auf die stalinistische Sowjetunion verfaßte und es an jener geistigen Distanz zum politischen Betrieb vermissen ließ, welche Intellektuellen politische Urteilsfähigkeit ermöglicht. Darüber soll allerdings nicht übersehen werden, daß sich in der NRF die genau entgegengesetzte Position einen mächtigen künstlerischen Ausdruck verschaffte. Hier huldigte man einem reinen Ästhetizismus, der sich bewußt von politischer Stellungnahme fernhielt und sich in künstlerischer Selbstgenügsamkeit gefiel. Unzweifelhaft sind die in der NRF versammelten Schriftsteller zur geistigen Elite Frankreichs zu zählen und können einen herausragenden Platz in der französischen Literatur beanspruchen; allerdings wird man sie wegen ihrer bewußten politischen Abstinenz eben nicht zum Kreis der Intellektuellen im Sinne der hier leitenden Begriffsbestimmung rechnen dürfen. Auch eine Reduzierung der französischen Nachkriegsliteratur auf das ästhetische Programm der NRF wäre eine Verzerrung der tatsächlichen Proportionen, da die NRF nur eine – wenngleich eine mächtige – GrundProchasson/Rasmussen, Au nom (wie Anm. 15), 10; vgl. auch ebd. 278–283. In die gleiche Richtung argumentiert die gehaltvolle Studie von Andreas Gipper, Der Intellektuelle. Konzeption und Selbstverständnis schriftstellerischer Intelligenz in Frankreich und Italien 1918–1930. Stuttgart 1992, bes. 53, 71, 85f. und 118f. 88 Gipper, Der Intellektuelle (wie Anm. 87), 99–115; Prochasson/Rasmussen, Au nom (wie Anm. 15), 254–270. 87

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strömung der französischen Nachkriegsliteratur repräsentierte. 89 Unbestritten ist jedoch, daß diese Kunstauffassung wesentlich stärker als in Deutschland vertreten war, wo insbesondere der elitäre Zirkel des GeorgeKreises eine vergleichbare Autonomie der Kunst propagierte 90, wobei dessen Formensprache allerdings wesentlich hermetischer und seine künstlerische Ausstrahlung wesentlich begrenzter war als die der NRF. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, daß die politischen Rahmenbedingungen dem literarischen Feld in Frankreich eine größere Autonomie ermöglichten als in Deutschland. Der Sieg über den „Erbfeind“, der die Scharte von 1870/71 ausgewetzt hatte und durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages vor aller Welt festgeschrieben worden war, hatte die Dritte Republik so nachhaltig gestärkt, daß ihre Schriftsteller, anders als in Deutschland, keine geistige Wiederaufrüstung betreiben und Orientierungsangebote in einer tiefen Sinnkrise vermitteln mußten. Daher konnte sich der Literaturbetrieb auf sich selbst zurückziehen und mußte nicht unbedingt ein intellektuelles Wächteramt für sich reklamieren. Im deutschen Fall hat gerade die Sinnhaftmachung des Weltkrieges den Aufstieg einer jungen Generation von Literaten in den Kreis führender Intellektueller ermöglicht. Nicht selten war es ihr literarisches Erstlingswerk, das ihnen spektakuläre Erfolge auf dem literarischen Feld bescherte, die allerdings ohne die aus ihren Werken extrahierbaren politischen Deutungen des verlorenen Krieges nicht möglich gewesen wären. Die ihnen attestierte künstlerische Autorität war untrennbar mit einer Rezeption ihres bevorzugten literarischen Genres – dem historischen Roman – verbunden, welche die Qualität ihrer Dichtkunst an dem Grad vermeintlicher Authentizität der Kriegsdarstellung maß. Die künstlerische Weihe, die ihnen verliehen wurde, war demnach eine historisch und politisch abgeleitete – auch dies ist ein unzweifelhafter Beleg dafür, daß das literarische Feld in Deutschland nicht so souverän in sich ruhte wie im westlichen Nachbarland. Ungeachtet dessen war die Deutung des Weltkrieges ein geradezu ideales Bindeglied, um literarisches und politisches Feld miteinander zu verbinden. Daher verwundert es, daß in der ohnehin überschaubaren, systematisch angelegten Intellektuellengeschichte der Weimarer Republik zwar Einzelgänger wie Oswald Spengler oder die rührigen Publizisten des „Tat“-Kreises große Beachtung gefunden haben, kaum aber die Verfasser Prochasson/Rasmussen, Au nom (wie Anm. 15), 63–87. Dazu jetzt Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. München 2007.

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von Kriegsromanen. Dabei hatten Literaten bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit – 1918/19 im revolutionären München – einen unstillbaren Drang zur Aktion und zur politischen Verwirklichung ihrer künstlerischen Vorstellungen an den Tag gelegt. 91 Und auch das Wirken der wichtigsten Bestsellerautoren des sogenannten „soldatischen Nationalismus“ zeugt davon, daß sich diese Schriftsteller mit ihrer vor allem durch das Kriegserlebnis beglaubigten Autorität in der Öffentlichkeit regelmäßig zu politischen Fragen zu Wort meldeten, ohne sich einer politischen Partei einseitig zu verschreiben und in deren propagandistischen Dienst zu treten. Ernst Jünger betätigte sich im Namen der Frontsoldatengeneration nicht zuletzt in der „Standarte“, einer Wochenschrift des Stahlhelm-Frontsoldatenbundes, gab aber seine parteipolitische und künstlerische Unabhängigkeit nicht preis. 92 Franz Schauwecker lieh Stahlhelm-Publikationen seine Feder, ließ sich aber parteipolitisch nicht vereinnahmen. 93 Und auch Werner Beumelburg wollte das politische Erbe der Frontsoldaten bewahren, vermied aber eine enge politische Instrumentalisierung seiner Person. 94 Die politischen Deutungsangebote dieses Kreises erwiesen sich als besonders attraktiv, weil das von ihnen verbreitete Kriegsnarrativ vielfältig einsetzbar war. Der Einfluß der Intellektuellen aus den Reihen des soldatischen Nationalismus läßt sich daran ablesen, daß ihre Deutung des Krieges auch im Dritten Reich zur offiziösen Richtschnur erhoben wurde – und dies nicht zuletzt deswegen, weil sie es dem Weltkriegsgefreiten Hitler ermöglichte, soldatische Traditionen unter Rekurs auf das gemeinsame Kriegserlebnis politisch auszuschlachten. 95

*** Dieser Sammelband geht auf zwei Tagungen zurück, die 2007 und 2008 unter Beteiligung von deutschen, französischen und britischen Historikern und Literaturwissenschaftlern in Stuttgart stattgefunden haben. Für die Vgl. Büssgen, Intellektuelle (wie Anm. 80), 178f. Kiesel, Jünger (wie Anm. 61), v. a. 266–399. 93 Ulrich Fröschle, „Radikal im Denken, aber schlapp im Handeln“? Franz Schauwecker: Aufbruch der Nation (1929), in: Thomas F. Schneider/Hans Wagener (Hrsg.), Von Richthofen zu Remarque. Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Amsterdam 2003, 261–298. 94 Siehe dazu Krumeich, Zwischen soldatischem Nationalismus (wie Anm. 58). 95 Vgl. auch Jay W. Baird, Hitler’s War Poets. Literature and Politics in the Third Reich. Cambridge, Mass. 2009, 11. 91 92

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Finanzierung dieser Tagungen sei der Deutsch-Französischen Hochschule (Saarbrücken) und der DVA-Stiftung (Stuttgart) herzlich gedankt. Der Dank gilt ebenso dem Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart, das im Rahmen seines FrankreichSchwerpunkts nicht nur unverzichtbare Hilfe bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagungen geleistet, sondern darüber hinaus die Kosten für die Übersetzung der französischen Beiträge übernommen hat.

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Solidaritätsformel oder politisches Ordnungsmodell? Vom Burgfrieden zur Volksgemeinschaft in Deutschland 1914–1918 Von

Steffen Bruendel „Der erste Sieg, den wir gewonnen haben, noch vor den Siegen im Felde, war der Sieg über uns selbst“, schrieb der Berliner Philosoph Alois Riehl im Oktober 1914. „Noch niemals war unser Volk so einig wie in jenen ersten Augusttagen, den unvergeßlichen. Ein höheres Leben schien sich uns zu offenbaren. Jeder von uns fühlte, jeder lebte für das Ganze, und das Ganze lebte in uns allen. Unser enges Ich mit seinen persönlichen Interessen war aufgegangen in das große geschichtliche Selbst der Nation. Das Vaterland ruft! Die Parteien verschwinden. […] So ging dem Kriege eine sittliche Erhebung des Volkes voran“. 1 Und sein Kollege, der berühmte Historiker Friedrich Meinecke, ergänzte, das deutsche Volk sei jetzt „eine einzige, mächtige, tief atmende Gemeinschaft“. 2 Mit emotional und religiös aufgeladenen Worten wie diesen wurde das Gemeinschaftserlebnis des August 1914 von bürgerlichen deutschen Sinnstiftern und Intellektuellen zu einem Erweckungserlebnis stilisiert. Es war die in den ersten Augusttagen begründete nationale Einheit, die den Beginn einer „neuen Phase der nationalen Idee“ 3 markierte. Oft wurde die kaiserliche Thronrede vom 4. August hervorgehoben, in der Wilhelm II. verkündet hatte, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur Deutsche. Dieser Rede wurde eine besondere Bedeutung für die am selben Tag erfolgte Zu1 Alois Riehl, 1813 – Fichte – 1914, in: Deutsche Reden in schwerer Zeit gehalten von den Professoren an der Universität Berlin. Bd. 1. Hrsg. v. der Zentralstelle für Volkswohlfahrt/Verein für volkstümliche Kurse von Berliner Hochschullehrern. Berlin 1914, 191–210, hier 207. 2 Friedrich Meinecke, Die deutschen Erhebungen von 1813, 1848, 1870 und 1914, in: ders., Die deutsche Erhebung von 1914. Vorträge und Aufsätze. Stuttgart/Berlin 1914, 9– 38, hier 28f., Zitat 29; so auch Werner Sombart, Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München/Leipzig 1915, 117–119. 3 Friedrich Meinecke, Staatsgedanke und Nationalismus, in: ders., Die deutsche Erhebung (wie Anm. 2), 74–83, hier 77.

stimmung der SPD zu den Kriegskrediten zugesprochen. Angesichts drohender Invasionen, so hatte der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Hugo Haase erklärt, lasse die SPD das Vaterland nicht im Stich und bewillige die Kredite. Mit dieser Zustimmung rückten die Sozialdemokraten von ihrem bisher gepflegten Rollenverständnis als Staatsopposition ab. Die einstimmige Kreditbewilligung durch den Reichstag implizierte die Suspendierung aller internen Konflikte bis Kriegsende. Diese informelle Übereinkunft aller Parteien und gesellschaftlichen Gruppen wurde fortan als Burgfrieden bezeichnet. 4 Im folgenden soll die politische Bedeutung des Burgfriedens untersucht werden, der eine imaginatorische Kraft freisetzte. Es geht darum, den Zusammenhang zwischen dem Narrativ des „Augusterlebnisses“, der Vereinbarung des Burgfriedens und der Vision einer „Volksgemeinschaft“ aufzuzeigen. Der politische Gehalt dieser Schlagworte und ihre Relevanz für die damalige deutsche Gesellschaft sollen herausgearbeitet sowie Möglichkeiten und Grenzen neuer Ordnungsvorstellungen rekonstruiert werden. Gefragt wird nach dem Verhältnis von Regierung, Parlament und militärischer Führung in den Deutungen der an der ideenpolitischen Debatte Beteiligten. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf das Bemühen der Deutungsträger des Kaiserreiches, in Abgrenzung von den Feinden ein spezifisch deutsches Selbstbild zu entwerfen und daraus eine den Deutschen „angemessene“ politische Ordnung abzuleiten. Dabei wird gezeigt, daß die politischen Zukunftsentwürfe das bestehende System letztlich schwächten. Die Analyse ist in drei Teile gegliedert: Zunächst wird am Beispiel analoger Deutungen der Ausnahmesituation des August 1914 gezeigt, wie – basierend auf realen Erfahrungen – ein einheitliches Augusterlebnis konstruiert wurde und der Burgfriedensschluß als „Geist von 1914“ eine ideelle Verbindlichkeit erhielt. In einem zweiten Schritt wird die Entstehung spezifisch korporativer, auf dem „Geist von 1914“ beruhender Zukunftsvisionen nachgezeichnet, die unter dem Schlagwort der „Ideen von 1914“ eine neue Gemeinschaft des gesamten Volkes verhießen. Im dritten und letzten Teil werden die politischen Implikationen der Volksgemeinschafts4 Jeffrey Verhey, Burgfrieden, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn/München/Wien 2003, 400–402; Susanne Miller, Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg. (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 53.) Düsseldorf 1974, 9f., 31–33, 61–74; Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1973, 577–729.

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idee sowie ihre Radikalisierung dargelegt. Schließlich wird zusammengefaßt, weshalb die Volksgemeinschaft als alternatives Ordnungsmodell sowohl zum Kaiserreich als auch zur Weimarer Republik angesehen werden kann.

I. Augusterlebnis, Burgfrieden und „Geist von 1914“ Die euphorischen Bekundungen nationaler Einheit im August 1914 müssen vor dem Hintergrund der Situation interpretiert werden. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 hatte Europa in eine Krise gestürzt. In allen europäischen Staaten versuchte man, Vorteile aus ihr zu ziehen. Die Julikrise spitzte sich durch die österreichisch-ungarische Kriegserklärung an Serbien zu. In den europäischen Hauptstädten kam es zu zahlreichen Friedensdemonstrationen, zu denen in Deutschland die SPD aufrief. Mit Blick auf die Sozialdemokraten kam es der Reichsregierung deshalb darauf an, das Reich glaubhaft als Opfer der britisch-französisch-russischen Einkreisung darzustellen. Das gelang ihr durch eine doppelbödige Diplomatie während der Julikrise sowie durch eine geschickte Manipulation der öffentlichen Meinung. 5 Im Rahmen des Krisenmanagements führte die Reichsleitung Gespräche mit der SPD und veröffentlichte – wie andere Regierungen auch – sogenannte Farbbücher mit Informationen, welche die eigene Position untermauerten. Dabei galt das zaristische Rußland als eigentlicher Aggressor und größte Bedrohung des Reiches, wobei man aufgrund des russisch-französischen Bündnisses mit einem Zweifrontenkrieg rechnen mußte. Das erklärt das Entsetzen in Deutschland, als mit der Erklärung der russischen Generalmobilmachung am 30. Juli die Gefahr eines Kriegs unmittelbar bevorstand und das Reich am Folgetag den „Zustand drohender Kriegsgefahr“ ausrief. Die allgemein erwartete Neutralität Großbritanniens im Falle eines Krieges auf dem europäischen Festland kann als eine – von der englischen Regierung genährte – deutsche Autosuggestion bezeichnet werden. Dementsprechend groß waren Enttäuschung und Wut nach dem Kriegseintritt Englands auf seiten Rußlands und Frankreichs am 4. August. Zweifrontenkrieg und britische Seeblockade schienen zu bestätigen, daß 5 Wolfgang J. Mommsen, Deutschland, in: Hirschfeld/Krumeich/Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg (wie Anm. 4), 15–30, hier 16f.; Sönke Neitzel, Blut und Eisen. Deutschland im Ersten Weltkrieg. Zürich 2003, 16–33.

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Deutschland von aggressiven Nachbarn zielgerichtet eingekreist worden sei. 6 In dieser Situation sprachen sich nicht nur die Sozialdemokraten, sondern auch andere bisher benachteiligte oder marginalisierte gesellschaftliche Gruppen wie die Deutsche Friedensgesellschaft, die katholische Kirche, der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und die deutschen Frauenvereine für die Unterstützung der deutschen Verteidigungsanstrengungen aus. In einem dezidiert staatstreuen Verhalten während des Krieges erblickten sie die Chance, ihre gesellschaftliche Isolation zu überwinden. 7 Schriftsteller und Dichter priesen die neue Eintracht und begleiteten sie mit einer „poetischen Mobilmachung“ (Julius Bab). Insgesamt wurde das Erlebnis des Kriegsbeginns in zahllosen Schriften, Gedichten und Vorträgen beschrieben. 8 Während sich zahlreiche Schriftsteller – unter ihnen Hermann Löns, Heinrich Lersch, Walter Flex und Richard Dehmel – freiwillig meldeten, pries Thomas Mann – mit ärztlichem Attest vom Kriegsdienst befreit – in seinen „Gedanken im Kriege“ die Rolle des Künstlers mit den Worten: „Soldatisch leben, aber nicht als Soldat“. 9 Wer sich der kollektiven Euphorie entzog wie Thomas Manns Bruder Heinrich, schwieg zunächst. Im Laufe des Krieges sollten sich allerdings zwei Lager herausbilden, welche die öffentliche Debatte um politische Reformen und Kriegsziele dominierten: auf der einen Seite die für eine ständestaatliche Neuordnung eintretenden Korporativisten um Thomas Mann und die Professoren 6 Gunther Mai, Das Ende des Kaiserreichs. Politik und Kriegführung im Ersten Weltkrieg. 3. Aufl. München 1993, 9–11; Neitzel, Blut und Eisen (wie Anm. 5), 23–40. 7 August 1914. Ein Volk zieht in den Krieg. Hrsg. v. der Berliner Geschichtswerkstatt. Berlin 1989; Mai, Das Ende des Kaiserreichs (wie Anm. 6), 38–40; Francis L. Carsten, War Against War. British and German Radical Movements in the First World War. London 1982, 18f.; Heinz Hürten, Die katholische Kirche im Ersten Weltkrieg, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. München 1994, 725–735; Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe. Berlin 2001. 8 Vgl. Bernd Hüppauf, Kriegsdichtung, in: Hirschfeld/Krumeich/Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg (wie Anm. 4), 635–637, hier 636; Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. München 1996; Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Berlin 2000; Helmut Fries, Euphorie – Entsetzen – Widerspruch. Die Schriftsteller 1914–1918. (Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter, Bd. 2.) Konstanz 1995, 5–7. 9 Thomas Mann, Gedanken im Kriege, in: ders., Frühlingssturm 1893–1918. Hrsg. v. Hermann Kurzke u. Stephan Stachorski. (Essays, Bd. 1.) Frankfurt am Main 1993, 188– 205.

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Johann Plenge, Reinhold Seeberg und Dietrich Schäfer sowie auf der anderen Seite die eine Parlamentarisierung des Reiches fordernden Konstitutionalisten um Heinrich Mann und die Professoren Hugo Preuß, Gerhard Anschütz und Hans Delbrück. 10 Unter dem Eindruck der gesamtgesellschaftlichen Mobilisierung im August 1914, aber auch angesichts der alliierten Kriegspropaganda und ihrer in Deutschland als Spaltungsversuch aufgefaßten Unterscheidung zwischen deutscher Kultur und deutschem Militarismus konstruierten die Deutungsträger ein idealisiertes Augusterlebnis: die Einheit des gesamten Volkes. Der Vorwurf, „Kriegsgreuel“ zu begehen, führte zu einem öffentlichen „Schulterschluß“ vor 93 deutschen Gelehrten und Intellektuellen mit den Soldaten an der Front: „Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins“, hieß es im Aufruf „An die Kulturwelt“, der den Alliierten wiederum als Grundlage diente, um fortan sowohl die deutsche Kriegführung als auch die deutsche Kultur als barbarisch zu diffamieren. 11 Eine gesamtgesellschaftliche Einheit hatte es jedoch weder zu Kriegsbeginn noch danach gegeben. Im Gegenteil: Die ersten Kriegswochen wurden in verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich erlebt. Die Stimmungslage in der Bevölkerung variierte je nach Region, Schichtzugehörigkeit und persönlicher Betroffenheit zwischen Angst, Begeisterung, Fatalismus, Stolz, Ärger, Resignation und Zuversicht. 12 Man kann aber feststellen, daß der Ereignisverlauf zwischen dem 2. und dem 31. August – der Mobilmachung und dem Sieg bei Tannenberg – insgesamt als Ausnahmesituation sowie Zeitspanne besonderer Intensität und emotionaler Erregung erlebt wurde. Die nachmals als „Augusterlebnis“ bezeichnete naSteffen Bruendel, Zwei Strategien intellektueller Einmischung. Heinrich und Thomas Mann im Ersten Weltkrieg, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert. Berlin 2006, 88–115; ders., Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003, 136–141, 291–299. 11 Michael Jeismann, Propaganda, in: Hirschfeld/Krumeich/Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg (wie Anm. 4), 198–209; Alan Kramer, Kriegsgreuel, in: ebd. 647f.; John Horne/Alan Kramer, Deutsche Kriegsgreuel 1914. Hamburg 2004; Jürgen von UngernSternberg/Wolfgang von Ungern-Sternberg, Der Aufruf „An die Kulturwelt!“. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Stuttgart 1996. 12 Jeffrey Verhey, Augusterlebnis, in: Hirschfeld/Krumeich/Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg (wie Anm. 4), 357–360, hier 358f.; ders., Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Hamburg 2000, 116–118, 129–193; Wolfgang Kruse, Kriegsbegeisterung? Zur Massenstimmung bei Kriegsbeginn, in: ders. (Hrsg.), Eine Welt von Feinden. Der große Krieg 1914–1918. Frankfurt am Main 1997, 159–166. 10

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tionale Euphorie zu Kriegsbeginn war weniger eine Kriegsbegeisterung im Sinne einer Freude über den Kriegszustand als vielmehr eine nationale „Selbstbegeisterung“ 13 über die Einheit des Volkes in der Stunde der Gefahr. Sie war „kein Mythos, obschon sie die einzelnen Schichten und Gruppen der deutschen Gesellschaft in unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlicher Intensität erfaßte“. 14 Gerade die verschiedenen „Augusterlebnisse“ begünstigten eine einheitliche Deutung. So hieß es im Vorwort des Ende 1914 herausgegebenen ersten Bandes der „Deutschen Reden in schwerer Zeit“: „Was alle fühlten, sollte auf die Höhe eines gemeinsamen Erlebens gebracht werden“. 15 Die Überwindung der politischen und sozialen Gegensätze angesichts der äußeren Bedrohung wurde zum Leitmotiv der August-Deutung, in der der Begriff des Erlebnisses von Anfang an eine zentrale Rolle spielte. Dabei handelte es sich um eine „Entdeckung“ der Jahrhundertwende, die seitdem populär war. Der Erlebnis-Begriff bezeichnete ein unmittelbares Erfassen der Wirklichkeit und eine Sehnsucht vor allem bürgerlicher Kreise nach Tiefe und Ganzheit. Das Erlebnis, so war man überzeugt, verhelfe zu besonderer Einsicht und stifte Erkenntnis. 16 Presseberichte über patriotische Kundgebungen, Kriegsfreiwillige und erste Siege verstärkten das gute Gefühl kollektiver Einheit, so daß zum Teil von einer „Volksfeststimmung mit allen Zeichen (verfrühter) Siegeszuversicht“ 17 gesprochen werden kann. Diese Stimmung wurde bereits im Herbst des ersten Kriegsjahrs zum „Geist von 1914“ 18 überhöht: Er war die kognitive Grundlage des Burgfriedens und als solche der Garant des Sieges. Als „Geist“ des Zusammenhalts implizierte der „Geist von 1914“ aber auch die Notwendigkeit, Lösungen für die zahlreichen, im August 1914 nur suspendierten politischen Konflikte zu suchen.

Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918. Stuttgart 1992, 301, 318. 14 Mommsen, Deutschland (wie Anm. 5), 16. 15 Zit. nach Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat (wie Anm. 10), 70. 16 Manfred Hettling, Kriegserlebnis, in: Hirschfeld/Krumeich/Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg (wie Anm. 4), 638f., hier 638. 17 Verhey, Augusterlebnis (wie Anm. 12), 359. 18 Eine der ersten Erwähnungen bei Ernst Rolffs, Der Geist von 1914, in: Preußische Jahrbücher 158, 1914, 377–391. 13

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II. Vom „Geist von 1914“ zu den „Ideen von 1914“ Schon im Herbst 1914 verband der Münsteraner Staatswissenschaftler Johann Plenge den Burgfrieden mit politischen Forderungen. Er schrieb, im August 1914 sei ein „neuer Geist“ geboren worden, „der Geist der stärksten Zusammenfassung aller wirtschaftlichen und aller staatlichen Kräfte zu einem neuen Ganzen, in dem alle mit dem gleichen Anteil leben“. 19 Dieses korporative Miteinander sollte durch Überführung in institutionelle Formen erhalten bleiben. Mit seiner Ansicht stand Plenge nicht allein: Auch der linkskonservative Bibliotheksdirektor des Preußischen Herrenhauses, Friedrich Thimme, und der Gewerkschaftsvorsitzende Carl Legien forderten in einer gemeinsamen Publikation, die mit etwa 20000 Exemplaren zu den Verkaufserfolgen der Kriegsliteratur zählt, eine dauerhafte Zusammenarbeit zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie. 20 Stand, Konfession oder Religion sollten die Deutschen nicht mehr trennen. Alle sollten in die nationale Gemeinschaft integriert werden. Diese Zukunftsvisionen wurden seit Ende 1914 als „Ideen von 1914“ bezeichnet, ein Begriff, der von Plenge geprägt und von ihm und anderen in der Folgezeit popularisiert wurde. 21 Während der „Geist von 1914“ die retrospektive Beschreibung einer neuen, gemeinschaftsorientierten Haltung war, verkörperten die „Ideen“ die Umsetzung dieses Geistes in ein politisches Reformprogramm. Zwar hatte das einstimmige Votum für die Kriegskredite zunächst das bestehende Institutionensystem Bismarckscher Prägung gestärkt, aber durch das Integrationsversprechen des Kaisers, fortan „nur Deutsche“ zu kennen, zugleich ein grundsätzliches Reformangebot an die ehemaligen Reichsfeinde enthalten. Publizisten, Schriftsteller, Philosophen, Juristen und Nationalökonomen formulierten nun Reformvorschläge für den „neuen deutschen Staat“ (Plenge). Dabei deuteten sie die „Ideen von 1914“ als Überwindung der „Ideen von 1789“, die aus deutscher Sicht Individualismus, Kapitalismus und Materialismus durchgesetzt hatten. Als Datum der Französischen Revolution, deren Freiheitsprogramm in eine Schreckensherrschaft gemündet war, und als Vorbedingung eines europäischen Krieges, der für die Militärmacht Preußen mit den Niederlagen von Jena und Auerstedt sowie für Deutschland mit der Auflösung des „Alten Reiches“ und der napoleoZit. nach Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat (wie Anm. 10), 71. Ursula Ratz, „Die Arbeiterschaft im Neuen Deutschland“. Eine bürgerlich-sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft aus dem Jahre 1915, in: IWK 13, 1971, 1–26. 21 Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat (wie Anm. 10), 110–112, 119. 19 20

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nischen Besetzung verbunden war, symbolisierte die Jahreszahl 1789 den negativen französischen Einfluß auf die deutsche Geschichte. Sie stand für eine Revolution, die eine zerstörende Befreiung repräsentierte und den Beginn des jegliche Gemeinschaft auflösenden Individualismus verkörperte. 22 Mit Blick auf den Burgfrieden wurde der Begriff der Revolution – bis dato in Deutschland ein Synonym für Umsturz, Anarchie und Chaos – positiv umgedeutet: Wie 1789 als Datum der französischen, so Johann Plenge, werde 1914 als Jahr der „deutschen Revolution“ in die Geschichte eingehen. Habe die Revolution von 1789 der „zerstörenden Befreiung“ und einem hemmungslosen Individualismus zum Durchbruch verholfen, so werde 1914 die „Revolution des Aufbaus und des Zusammenschlusses aller staatlichen Kräfte“ sein und die allgemeine Einordnung in das überindividuelle Ganze des Staates symbolisieren. Der destruktiven Revolution von 1789 stellte Plenge daher die schöpferische „deutsche Revolution von 1914“ entgegen, mit der die materialistisch-individualistische Epoche zu Ende gehe. 23 Die intellektuellen Deutungsträger entwickelten ihr antifranzösisches Feindbild nicht nur durch die Konstruktion einer Tradition negativer Einflüsse, sondern auch durch die Betonung schlechter Wesenszüge der Feinde. So galten die Franzosen als eitel und dekadent, aber kultiviert. Erstaunlich ist, daß der Terminus des Erbfeindes oder der Erbfeindschaft kaum eine Rolle spielte. Das lag vor allem daran, daß Großbritannien für die politische Führung wie die bürgerlichen Intellektuellen des Reiches den Hauptfeind darstellte. Es waren vor allem klischeehafte Begriffe, mittels derer an bestimmte Feindbilder aus der Vorkriegszeit – französische Eitelkeit, englischer Utilitarismus und zaristischer Despotismus – angeknüpft wurde. Aber die Unterschiedlichkeit der Feinde, die sich auch in den verschiedenen Klischees spiegelte, erschwerte es den Deutschen, einen Hauptfeind zu identifizieren. Sie hatten „Feinde, aber keinen Feindbegriff“. 24 Um so wichtiger war die Abgrenzung auf ideenpolitischer Ebene. Als Gegenentwurf zu den „Ideen von 1789“ und ihren Werten Freiheit, GleichEbd. 81–83, 113–115. Johann Plenge, Der Krieg und die Volkswirtschaft. Münster 1915, 173f., 189f., 194f., 254; ders., 1789 und 1914. Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes. Berlin 1916, 15f., 30–44, 139–147. Vgl. auch Sombart, Händler und Helden (wie Anm. 2), 3f., 76, 113, 118f.; Meinecke, Staatsgedanke, in: ders., Die deutsche Erhebung (wie Anm. 2), 82; ders., Die deutschen Erhebungen, in: ebd. 29; Max Scheler, Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg. Leipzig 1915, 163–165; Rudolf Kjellén, Die Ideen von 1914. Eine weltgeschichtliche Perspektive. Leipzig 1915, 29, 43–45. 22 23

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heit und Brüderlichkeit beinhalteten die „Ideen von 1914“ die deutschen Gegenwerte: „Deutsche Freiheit“, „Kameradschaft“ und „Sozialismus“. „Deutsche Freiheit“ bedeutete eine überindividuelle Bindung sowie die freiwillige Einordnung in die Gesamtheit der Nation. Grundlage dieser verbreiteten Freiheitsauffassung war die Überzeugung, daß jedes Individuum ohnehin in verschiedene Rahmenbedingungen und Konstellationen eingebettet war, es mithin gar keine umfassende Freiheit geben konnte, wollte man nicht in Anarchie und Chaos enden. Folgerichtig sprach für die organisierte deutsche Freiheit, daß Selbstbeschränkung und Einbindung nicht autoritär erzwungen werden mußten, sondern innerer Überzeugung entsprangen. 25 „Kameradschaft“ wiederum war das Gegenstück zur verpönten Gleichheit westlicher Prägung, die als Gleichmacherei abgelehnt wurde. Von natürlicher Ungleichheit ausgehend, propagierten so unterschiedliche Gelehrte wie Ernst Troeltsch, Reinhold Seeberg, Franz Oppenheimer und Johann Plenge eine organische Gleichheit im Sinne militärischer „Kameradschaftlichkeit“ (Adolf von Harnack). Als „Kämpfer für das Vaterland“ (Hermann Cohen) seien die Deutschen gleich. Kameradschaft symbolisiere die „Gleichheit des Dienstes“ (Plenge) und somit die kollektive Pflichterfüllung ohne Änderung der sozialen Hierarchie. 26 Diese „Ordnungen der Ungleichheit“ 27 wurden von konservativen Gelehrten ebenso vertreten wir von den sogenannten Kathedersozialisten. Das galt auch für das Schlagwort vom „Sozialismus“. Gedeutet als „nationaler Sozialismus“ (Plenge), „Kriegs-“ oder „Staatssozialismus“ (Troeltsch, Seeberg) galt er als spezifisch deutsche Form von „Brüderlichkeit und Einheit“ (von Harnack). Westlicher Konkurrenzkapitalismus sollte durch eine Gemeinschaftsverpflichtung aller „Volksgenossen“ beseitigt werden und die „Brüderlichkeit des echten Sozialismus“ (Plenge) den Bindungsgedanken der „Deutschen Freiheit“ umsetzen. Die „Geburt des 24 Jeismann, Das Vaterland der Feinde (wie Anm. 13), 338. Vgl. auch Sven-Oliver Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg. Göttingen 2002; Peter Hoeres, Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg. Paderborn/München/ Wien 2004. 25 Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat (wie Anm. 10), 115–117. 26 Ebd. 117f. 27 Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945. Darmstadt 2001, 11–13. Vgl. auch Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert. München 2000, 69–71.

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nationalen Sozialismus im Weltkrieg“ 28 bedeutete allerdings nicht die Vergemeinschaftung der Produktionsmittel, sondern eine nationale Zusammenfassung sowie die staatliche Organisation aller Produktivkräfte. 29 Inhaltlich ähnelten viele akademische Sozialismusvorstellungen den Gemeinwirtschaftskonzepten Walther Rathenaus und Wichard von Moellendorffs, welche ebenfalls für eine zentralisierte Rohstoffbewirtschaftung plädierten. Nicht zuletzt ihrem Einfluß ist es zu verdanken, daß die staatlichen Interventionen im Zusammenhang mit den „Ideen von 1914“ zu einem regelrechten „Reforminterventionismus“ 30 wurden, der seit 1916 einen Interventionsstaat mit korporativen Konsultationsmechanismen ausbildete. 31 Institutioneller Ausdruck dieses umfassenden Organisationsanspruchs waren das am 1. November 1916 gegründete Kriegsamt sowie verschiedene neue Kriegsgesellschaften. Im Rahmen der Kriegswirtschaft übernahmen sie ordnungspolitische Aufgaben und ersetzten Marktmechanismen durch Reglementierungen. 32 Sozialdemokraten, die sich zu den „Ideen von 1914“ bekannten, begrüßten diese Entwicklung, waren sie doch davon überzeugt, daß das liberale Zeitalter durch das einer umfassenden Organisation abgelöst werde. Aufgrund seiner etatistischen Tradition eignete sich das Reich ihrer Meinung nach am besten zur Einführung einer solchen sozialistischen Ordnung. Paul Lensch, ein promovierter Nationalökonom, beanspruchte die Urheberschaft für den Begriff „Kriegssozialismus“ und unterstellte dem Krieg eine objektiv revolutionierende Tendenz. Zusammen mit Heinrich Cunow und Konrad Haenisch, die wie er bis zum Krieg dem linken Partei28 Rolf Peter Sieferle, Die konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen. Frankfurt am Main 1995, 45. Vgl. auch Steffen Bruendel, Die Geburt der Volksgemeinschaft aus dem Geist von 1914. Entstehung und Wandel eines „sozialistischen“ Gesellschaftsentwurfs, in: Zeitgeschichte online, Thema: Fronterlebnis und Nachkriegsordnung. Wirkung und Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs, Mai 2004, URL http://www.zeitgeschichte-online.de/md=EWK-Bruendel (Stand: 09.05.2008). 29 Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat (wie Anm. 10), 118f. 30 Hans-Ulrich Wehler, Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914. (Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3.) München 1995, 668. 31 Wolfgang Michalka, Kriegsrohstoffbewirtschaftung, Walther Rathenau und die „kommende Wirtschaft“, in: ders. (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 7), 485–505, hier 497–499; Dieter Krüger, Kriegssozialismus. Die Auseinandersetzung der Nationalökonomen mit der Kriegswirtschaft 1914–1918, in: ebd. 506–529, hier 506–516. Vgl. auch Christoph H. Werth, Sozialismus und Nation. Die deutsche Ideologiediskussion zwischen 1918 und 1945. Opladen 1996, 73–75, 83f. 32 Markus Pöhlmann, Kriegsamt, in: Hirschfeld/Krumeich/Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg (wie Anm. 4), 627; Reinhold Zilch, Kriegsgesellschaften, in: ebd. 646f.

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flügel zugerechnet wurden, begründete er eine eigene Position innerhalb der Sozialdemokratie. 33 War der Volksgemeinschaftsgedanke schon in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts im rechten Flügel der SPD als Verheißung nationaler Integration rezipiert worden, bot er sich im Krieg erst recht an, um die Integration der SPD in die Nation auszudrücken. So sprach Cunow 1915 vom „Volksgemeinschaftsgefühl“, während Haenisch 1916 feststellte, daß die sozialdemokratische Zustimmung zu den Kriegskrediten das „Zusammenstehen mit der Volksgemeinschaft in Not und Tod“ symbolisiere. 34 Nationale Solidarität hieß das Gebot der Stunde. Sie sollte aus der Verteidigungsgemeinschaft eine Volksgemeinschaft machen.

III. Die Volksgemeinschaft als autoritäres Ordnungsmodell mit partizipatorischen Elementen Begriff und Idee einer Gemeinschaft des deutschen Volkes, das heißt „eines organisch gewachsenen und sich selbst genügenden Volkskörpers“ waren nicht neu. Die nationalen Gemeinschaftsvorstellungen, die seit August 1914 artikuliert wurden, waren „der auf die kürzeste Formel gebrachte Ausdruck einer Anschauung, die sich während der vier Menschenalter zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg allmählich herausbildete“. 35 Dabei trugen Herders „Volksgeist“-Lehre, die Befreiung von den Franzosen 1813 und die deutsche Romantik zur Herausbildung der Volksgemeinschaftsidee ebenso bei wie die deutsche Germanen-Ideologie, welche schon im 16. Jahrhundert – angeregt durch Tacitus’ damals wiederentdeckte Schrift „Germania“ – das Bild des Deutschen auf den Germanen rückbezog und ihn antithetisch dem Römer beziehungsweise dem Franzo-

Karlheinz Weißmann, Der Nationale Sozialismus. Ideologie und Bewegung 1890 bis 1933. München 1998, 145f. Vgl. auch Robert Sigel, Die Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe. Eine Studie zum rechten Flügel der SPD im Ersten Weltkrieg. Berlin 1976; Axel Schildt, Ein konservativer Prophet moderner nationaler Integration. Biographische Skizze des streitbaren Soziologen Johann Plenge (1874–1963), in: VfZ 35, 1987, 523–570, hier 537–541. 34 Gunther Mai, „Verteidigungskrieg“ und „Volksgemeinschaft“. Staatliche Selbstbehauptung, nationale Solidarität und soziale Befreiung in Deutschland in der Zeit des Ersten Weltkrieges (1900–1925), in: Michalka (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 7), 583–602, hier 590f., Zitate 591. 35 Klaus von See, Freiheit und Gemeinschaft. Völkisch-nationales Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg. Heidelberg 2001, 11. 33

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sen gegenüberstellte. 36 Tacitus’ Schrift hat den deutschen Nationalismus besonders intensiv beeinflußt. Der Deutsche galt als treuer und tapferer Gemeinschaftsmensch, während der Franzose als formalistisch-ökonomischer Individualist angesehen wurde. Damit hatte der Kontrast zwischen Deutschen und Franzosen bereits in seiner Frühphase gesellschaftspolitische Implikationen und ging über bloße Nationalstereotype hinaus. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts durchzog dieser doppelte Gegensatz zahlreiche Schriften. „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ wurden ebenso gegenübergestellt wie „Kultur“ und „Zivilisation“. Insofern präsentierten Kriegschriften wie die Max Schelers, Johann Plenges und Thomas Manns nichts gedanklich Neues, sondern stellten eine Zuspitzung bereits früher geäußerter Gedanken dar. 37 Die verschiedenen Gemeinschaftstopoi symbolisierten eine Sehnsucht nach neuen Vergemeinschaftungsformen. Sie rückten zunehmend das Volk als anthropologische Letztbestimmung in den Mittelpunkt und implizierten somit eine fundamentale Integrationshoffnung. Der Begriff der „Volksgemeinschaft“ ist seit den 1860er Jahren bei deutschen Antisemiten wie Zionisten gleichermaßen nachweisbar. Um die Jahrhundertwende wurde er von der Jugendbewegung aufgegriffen und dann immer häufiger auch von liberalen Imperialisten, jungdeutschen Ideologen und völkischen Militaristen verwendet. Die Volksgemeinschaftsidee war der Gegenentwurf sowohl zur intransigenten Klassengesellschaft des Kaiserreiches als auch zur revolutionären Staatsvision der Arbeiterschaft. Er verhieß Sozialisten wie Nationalisten einen Interessenausgleich zwischen den sozialen Gruppen, das heißt den Verzicht auf Klassenkampf zugunsten einer solidarischen Produktionsweise. 38 Die Volksgemeinschaft war aber mehr als nur eine nationale Solidaritätsformel. Seit dem Burgfrieden vom August 1914 galt sie als konkrete Utopie, die es im Sinne der „Ideen von 1914“ institutionell auszugestalten galt. Im Zentrum dieser Ideen stand, wie gezeigt wurde, ein „nationaler Sozialismus“ als planwirtschaftliche, dem Gemeinwohl dienende Volkswirtschaft. Intellektuelle und Militärs forderten eine zentrale staatliche Len36 Ebd. 11–25. Vgl. auch ders., Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen. Heidelberg 1994. 37 Vgl. Barbara Beßlich, Wege in den ‚Kulturkrieg‘. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt 2000; Georg Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945. Frankfurt am Main 1999; Flasch, Die geistige Mobilmachung (wie Anm. 8). 38 Mai, „Verteidigungskrieg“ (wie Anm. 34), 583–602, hier 590f.

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kung von Wirtschaft und Verwaltung sowie ein Mitbestimmungssystem in der Wirtschaft. Autoritäre und partizipatorische Elemente mischten sich, wie das am 5. Dezember 1916 verabschiedete Vaterländische Hilfsdienstgesetz zeigt, das Kernelemente der korporativen Ordnungsideen institutionell umsetzte. Es ist im Zusammenhang mit dem – „Hindenburg-Programm“ genannten – Rüstungs- und Wirtschaftsprogramm der Obersten Heeresleitung (OHL) zu sehen. Um die Rüstungsproduktion zu erhöhen, sollten alle volkswirtschaftlichen Ressourcen mobilisiert werden. 39 Der Name des Programms zeigt, wie sehr Hindenburg bereits 1916 zur Inkarnation des „Geistes von 1914“ und der mit ihm verknüpften Volksgemeinschaftsvision geworden war. Vom Kriegshelden (Tannenberg) bereits zum Volkshelden avanciert, setzte er geschickt seine Popularität ein, um auch einen politischen Führungsanspruch geltend zu machen. 40 Wie die Korporativisten war auch der Generalfeldmarschall davon überzeugt, daß der ‚Volkskörper‘ einen einheitlichen Volkswillen besitze, dessen Umsetzung nicht gewählten Volksvertretern, sondern einem von Experten beratenen Repräsentanten des Volkes oblag. 41 Insofern bildete das berufsständisch-korporative Ordnungsmodell der „Ideen von 1914“ den gemeinsamen politischen Nenner der Obersten Heeresleitung, der gemeinwirtschaftlich orientierten Wirtschaftsführer um Rathenau und Moellendorff, der korporativistischen Gelehrten und Schriftsteller um Plenge und Thomas Mann sowie der etatistischen Rechtssozialisten um Lensch, Cunow und Haenisch. Diesen Gruppen sowie der Öffentlichkeit galt Hindenburg als „politische[r] Treuhänder des ‚Geistes von 1914‘“. Folgerichtig konnte er sich relativ schnell durchsetzen, als er bereits kurz nach Einrichtung der OHL von der Reichsleitung Maßnahmen zur Steigerung der Rüstungsproduktion sowie die Einführung zentraler „Kommandowirtschaft“ forderte. 42 Umgesetzt wurde diese Forderung durch die Errichtung des Kriegsamtes als zentraler Behörde für Wirtschaftsfragen im November 1916 sowie durch den Erlaß des Vaterländischen Hilfsdienstgesetzes im Dezember. Auch wenn weder das Hindenburg-Programm noch das Hilfsdienstgesetz die ErwarMartin H. Geyer, Hindenburg-Programm, in: Hirschfeld/Krumeich/Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg (wie Anm. 4), 557f.; Gunther Mai, Hilfsdienstgesetz, in: ebd. 553f. 40 Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler. München 2007, 244–246. 41 Ebd. 249f., 257. 42 Ebd. 248, 257. 39

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tungen erfüllten, können sie als wirtschaftspolitische Institutionalisierung der „Ideen von 1914“ angesehen werden. 43 Das Hilfsdienstgesetz sah eine allgemeine Arbeitspflicht für alle Männer vom 17. bis zum 60. Lebensjahr vor, die – sofern nicht an der Front – zum Hilfsdienst in Wirtschaft und Landwirtschaft herangezogen werden konnten. Der staatliche Zwang wurde mit sozialpolitischen Maßnahmen kompensiert, was die Gewerkschaften aufwertete: In allen Betrieben mit über 50 Mitarbeitern mußten ständige Betriebsausschüsse eingerichtet werden. 44 Damit wurde das korporative Arbeitsrecht, eine Vorform der Tarifautonomie, eingeführt und die Gewerkschaften als Arbeitnehmervertreter anerkannt. Insofern hatte das Hilfsdienstgesetz für die Fortentwicklung des deutschen Sozialstaats eine grundlegende Bedeutung. 45 Zwar war es eine Reaktion auf den „totalen“, das heißt Front und Heimat umfassenden Krieg, aber es war auch das Resultat einer in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmenden Verflechtung von Arbeitnehmerorganisationen, Wirtschaft und Staatsverwaltung, die an die Stelle freier Marktmechanismen trat. Das Ziel bestand darin, Defizite der Marktentwicklung durch zielgerichtete staatliche Eingriffe auszugleichen und auf diese Weise den Markt zu regulieren. 46 Staatliche Organisation – also Führung – sollte liberale Selbststeuerung ersetzen und innerbetriebliche Mitbestimmung die politische Partizipation. Eine spezifische Mischung aus autoritärer, aber plebiszitär legitimierter Herrschaft (Hindenburg), Führung (durch staatliche Organisation) und begrenzter Mitbestimmung (in Wirtschaftsfragen) kennzeichnete die korporativen Reformvorstellungen hinsichtlich der neuen politischen Ordnung. Die Vision einer „Volksgemeinschaft“ implizierte die Vorstellung vom Volk als organischer Einheit. Daraus folgte, daß nicht unterschiedliche Individualinteressen, sondern das Gesamtinteresse des Volkes im Mittelpunkt staatlicher Politik zu stehen hatte. Aus dem Primat des Gemeinwohls ergab sich die Vorstellung eines einheitlichen Volkswillens. Ein Wahlrecht, das unterschiedlichen Interessen Rechnung trug, war daher zweitrangig. Dementsprechend betrachtete die Mehrheit der korporativistischen DeuBruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat (wie Anm. 10), 263–265, 297. Mai, Hilfsdienstgesetz (wie Anm. 39), 554; Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–1918. 2. Aufl. Göttingen 1978, 114f. 45 Hans-Ulrich Wehler, Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949. (Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4.) München 2003, 117f. 46 Ders., Von der „Deutschen Doppelrevolution“ (wie Anm. 30), 662, 665, 668–675, 680. 43 44

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tungsträger das Parlament nicht als Entscheidungs-, sondern als beratendes Gremium. Die aus Fachbeamten und Experten bestehende Regierung sollte ihrer Meinung nach „über den Parteien“ stehen. Grundlage dieser Ordnungsidee war die Utopie einer konfliktfreien, harmonischen Gemeinschaft, der die Mehrheit der intellektuellen Deutungsträger anhing. 47 Demgegenüber strebte eine Minderheit der Intellektuellen nach einer aus Parteien gebildeten Regierung sowie nach der parlamentarischen Verantwortlichkeit des Reichskanzlers. Auf diese Weise sollte in der deutschen konstitutionellen Monarchie ein Gleichgewicht zwischen Monarch und Parlament hergestellt werden. Diese konstitutionelle Reformvorstellung drückte sich im Begriff „Volksstaat“ aus, welcher die Selbstregierung mündiger Staatsbürger symbolisierte. Die Staatsrechtler Hugo Preuß und Gerhard Anschütz, zwei prominente Vertreter des Konstitutionalismus, sprachen sich dafür aus, den Obrigkeitsstaat durch die verantwortliche Beteiligung der Parteien an der politischen Willensbildung zu überwinden. 48 Indem Volksgemeinschafts- und Volksstaatsidee einen Institutionenwandel implizierten, delegitimierten sie die Staatsordnung Bismarckscher Prägung. Die Vertreter beider Reformvorstellungen setzten auf gesamtgesellschaftliche Integration. Einen „inneren Feind“ sollte es nicht mehr geben. Vor dem Hintergrund des Burgfriedens wurde ein soziales, konfessionelles und religiöses Miteinander gefordert. Die vor dem Krieg noch als „Reichsfeinde“ angesehenen Sozialdemokraten und Katholiken sollten künftig ihren Platz in der deutschen Gesellschaft haben. Auch für die deutschen Juden und die nationalen Minderheiten – die „preußischen Polen“ und die französischsprachigen Lothringer – galt das Integrations- beziehungsweise Inklusionsversprechen. 49 Je länger der Krieg dauerte, desto mehr drohte der Burgfrieden zu brechen. Eine Ursache für das Wiederaufbrechen alter Gegensätze lag in der Kriegszieldiskussion: Je weniger das Kriegsende abzusehen war, desto heftiger wurden die Auseinandersetzungen um Kriegsziele und Friedensschluß. Das Jahr 1917 markierte mit der Abspaltung der „Unabhängigen Sozialdemokraten“ im April auf der linken und der Gründung der „Deutschen Vaterlandspartei“ im August 1917 auf der rechten Seite des politischen Spektrums die Polarisierung der Kriegsgesellschaft und den endgül47 48 49

Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat (wie Anm. 10), 110, 125–127. Ebd. 104–108. Ebd. 107, 129f.

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tigen Bruch des Burgfriedens. 50 Eine zweite Ursache lag im unerfüllten Reformversprechen: Je länger substantielle Änderungen der Reichsverfassung und des preußischen Wahlrechts ausblieben, desto mehr wuchs der Unmut innerhalb der sogenannten Reichstagsmehrheit, die sich im Frühsommer 1917 aus SPD, Liberalen und Zentrum gebildet hatte und von rechts wie links bekämpft wurde. Mit beiden Entwicklungen hängt die dritte Ursache zusammen: die Wiederkehr des „inneren Feindes“ in Gestalt sowohl der USPD als auch der Reichstagsmehrheit. In diesem Zusammenhang ist auch der seit 1916 rapide ansteigende Antisemitismus zu erwähnen. 51 Die Volksgemeinschaft wurde von den Anhängern der Vaterlandspartei exklusiv definiert. Aus der Notwendigkeit der Abgrenzung vom äußeren Feind ergab sich fast zwangsläufig die Exklusion im Innern. Indem Integration angestrebt wurde, entwickelte sich zugleich ein Verlangen nach Homogenität, so daß die Integrationsbemühungen paradoxerweise gerade soziale Desintegration implizierten und das Augusterlebnis seine Funktion als zentraler Bezugspunkt der Zukunftsdeutungen einbüßte. Nach der „Ideenwende“ 52 von 1917 polarisierte sich die Gesellschaft, und die Wortführer der jeweiligen Gruppen warfen sich gegenseitig vor, den Burgfrieden gebrochen zu haben. 53 Die Radikalnationalisten, die immer mehr Zulauf erhielten, vertraten eine völkische Gemeinschaftsvorstellung. Das möglichst homogene Volk sollte politisch partizipieren dürfen, aber nicht ein Parlament als Volksvertretung, sondern eine Ständeversammlung als Berufsgruppenvertretung sollte das Organ politischer Mitbestimmung sein. Die Gliederung des Volkes in Berufsstände analog zu den mittelalterlichen Ständen galt als kongeniale Verbindung traditionaler und moderner Elemente und als eigenständige, spezifisch deutsche Staatsform. 54 Die Forderung nach einer „Erneuerung“ des Volkes, die mit einer scharfen Kritik an der pluralistiMiller, Burgfrieden (wie Anm. 4), 75–77, 92–94, 125f.; Wehler, Vom Beginn des Ersten Weltkriegs (wie Anm. 45), 122–127; Heinz Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches. Düsseldorf 1997, 119–121. 51 Saul Friedländer, Die politischen Veränderungen der Kriegszeit und ihre Auswirkungen auf die Judenfrage, in: Werner E. Mosse (Hrsg.), Deutsches Judentum in Krieg und Revolution, 1916–1923. Tübingen 1971, 27–65, hier 33–35; Clemens Picht, Zwischen Vaterland und Volk. Das deutsche Judentum im Ersten Weltkrieg, in: Michalka (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 7), 745–747; Wehler, Vom Beginn des Ersten Weltkriegs (wie Anm. 45), 128–134. 52 Flasch, Die geistige Mobilmachung (wie Anm. 8), 279. 53 Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat (wie Anm. 10), 193–204, 275–277. 54 Ebd. 275–286. 50

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schen Moderne einherging, stand in der Tradition völkischer Vorstellungen und Rassetheorien, die bereits im 19. Jahrhundert entwickelt worden waren und im radikalen Nationalismus ihren Niederschlag gefunden hatten. 55 Innerhalb von zwei Jahren verdrängte die exklusive Gemeinschaftsvorstellung die inklusive. Daß mit den Oktoberreformen von 1918 überstürzt der Konstitutionalismus eingeführt wurde, lag einzig und allein an der außenpolitischen Situation, aufgrund derer die OHL nach den gescheiterten deutschen Offensiven 1918 die unverzügliche Parlamentarisierung des Reiches durchsetzte. Die Mehrheit der Deutungsträger befürwortete gleichwohl korporative Staatsmodelle, das heißt eine wie auch immer definierte Volksgemeinschaft. Die Revolution von 1918 und die Gründung der Republik rückten ihre Umsetzung zunächst in weite Ferne. Als alternatives Ordnungsmodell bestand sie indes fort und sollte – zunehmend radikalisiert und völkisch exklusiv definiert – die gesamten zwanziger Jahre hindurch das Gegenmodell zur Weimarer Demokratie bilden.

IV. Resümee: Die Volksgemeinschaft als gesellschaftspolitische Alternative zu Kaiserreich und Republik Die Entstehung der Volksgemeinschaftsidee im Ersten Weltkrieg ist untrennbar mit dem Burgfrieden verbunden, welcher die Beendigung aller innergesellschaftlichen Konflikte für die Zeit des Krieges sowie gemeinsame Verteidigungsanstrengungen bedeutete. Dieser Geist der Harmonie und des Konsenses wurde als „Geist von 1914“ bezeichnet und allseits begrüßt. Die Begeisterung der bürgerlichen Deutungselite über die Zustimmung der Sozialdemokraten zu den Kriegskrediten im August 1914 galt der imaginierten gesamtgesellschaftlichen Eintracht, die es zu erhalten galt. Vor dem Hintergrund der wegen innerer Konflikte als belastend empfundenen Vorkriegszeit und angesichts der aktuellen Bedrohung durch die Feinde an zwei Fronten galt die neue innere Eintracht als zukunftsweisend. Sie sollte das künftige Miteinander bestimmen. Die Vergemeinschaftungsofferte blieb deshalb nicht nur Rhetorik; der „Geist von 1914“ wurde zum Bezugspunkt politischer Reformforderungen, die unter dem Schlagwort der „Ideen von 1914“ eine Volksgemeinschaft propagierten: das Ideal einer konfliktfreien, harmonischen Gemeinschaft, in der staatliche Organisation die liberale Selbststeuerung und in55

Vgl. Breuer, Ordnungen der Ungleichheit (wie Anm. 27), 47–104, 329–355.

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nerbetriebliche Mitbestimmung die politische Teilhabe an der Macht ersetzen sollten. Eine spezifische Mischung aus autoritär-paternalistischer Führung (Hindenburg), Organisation (staatlicher Intervention), und begrenzter Partizipation (in Wirtschaftsfragen) kennzeichnete die korporativen Vorstellungen von der neuen politischen Ordnung. Dabei machte die Neubestimmung vor allem der Begriffe „Revolution“ und „Sozialismus“ sozialistisches Vokabular auch für das rechte politische Spektrum akzeptabel. Begriffe wie „nationaler Sozialismus“ und „Staats-“ beziehungsweise „Kriegssozialismus“ stellten ein semantisches Identifikationsangebot für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen dar. Unter dem Primat der Nation schillerte der Sozialismus zwischen linkem wie rechtem Antikapitalismus und wurde mit unterschiedlichen politischen Ansichten kompatibel. Das Besondere der kriegsbedingten Volksgemeinschaftsidee lag in der Überwindung des bestehenden politischen Systems. In der irreversiblen Transformation der deutschen Klassengesellschaft in eine kriegsbedingte Solidargemeinschaft mit Konsens- und Partizipationsanspruch liegt die entscheidende politische Weichenstellung der „Ideen von 1914“. Zwischen 1914 und 1918 wurden auf ideenpolitischer Ebene das Ende des Kaiserreiches und der Übergang zu einer neuen politischen Ordnung eingeleitet, deren institutionelle Konturen allerdings nur teilweise konkretisiert wurden. Die Einführung und Wirkung des Hindenburg-Programms und des Vaterländischen Hilfsdienstgesetzes von 1916 illustrieren als Institutionalisierung des Korporativismus die Möglichkeiten und Grenzen neuer Ordnungsvorstellungen. Die neue deutsche Volksgemeinschaft sollte der nationalen Überlieferung entsprechen, aber auch den Lebensbedingungen in einer industrialisierten Massengesellschaft durch neue Formen der Organisation, der Integration, der Repräsentation und der Partizipation gerecht werden. Zwar wurde das Volksgemeinschaftsparadigma seit 1916 von der politischen Rechten radikalnationalistisch-exklusiv umgedeutet, aber bis 1918 und darüber hinaus nicht zu ihrem ideologischen Alleinbesitz. Der Bezug zum Burgfrieden verblaßte jedoch noch während des Krieges in dem Maße, wie die Konflikte wieder aufbrachen. War die Volksgemeinschaftsidee zunächst betont inklusiv, diente sie seit der zweiten Kriegshälfte und erst recht seit Kriegsende zum Ausschluß aller sogenannten „Volksfeinde“. Gleichwohl symbolisierte sie bis zu ihrer eliminatorischen Radikalisierung nach 1933 ein alternatives Ordnungsmodell für Angehörige des linken wie des rechten politischen Spektrums in Deutschland.

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Die Kriegsziele des Deutschen Reiches und der französischen Republik zwischen „deutscher Sendung“ und republikanischen Werten* Von

Georges-Henri Soutou I. Einleitung Burgfrieden und Union sacrée, das Bestreben also, bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Deutschland wie in Frankreich die Einheit der Nation zu gewährleisten, indem das politische Lagerdenken der Vergangenheit überwunden werden sollte, sind in der Erinnerung der Zeitgenossen lange Zeit lebendig geblieben. Noch heute sind die beiden Ausdrücke bekannt, auch wenn nicht jedem, der sie – oftmals in einem gänzlich anderen Zusammenhang – benutzt, bewußt ist, woher sie eigentlich stammen. Burgfrieden und Union sacrée sind zum festen Bestandteil der politischen Sprache in Deutschland beziehungsweise in Frankreich geworden, ohne daß die politische wie die semantische Entwicklung, die die beiden Begriffe geprägt hat, hinreichend bekannt wäre. Was also verbirgt sich tatsächlich hinter diesen beiden durchaus vergleichbaren Vorstellungen einer nationalen Gemeinschaft, die während des Ersten Weltkriegs eine beinahe mythische Qualität gewann? Auf den ersten Blick scheint es, als hätten die verantwortlichen Stellen im August 1914 in Paris und Berlin sehr ähnlich reagiert. Kaiser Wilhelm II. wollte fortan keine Parteien, sondern nur mehr Deutsche kennen, womit das Konzept des Burgfriedens bereits in nuce skizziert war. Und in Paris wurde Paul Deschanel, der Präsident der Abgeordnetenkammer, nicht müde zu betonen, er sehe keine Gegner mehr, sondern ausschließlich Franzosen, während Staatspräsident Raymond Poincaré in seiner Botschaft an die beiden Kammern des Parlaments bereits ausdrücklich die Union sacrée Beim folgenden Text handelt es sich um einen öffentlichen Abendvortrag, den der Verfasser am 22. Juni 2007 anläßlich der Tagung „Burgfrieden und Union sacrée in Deutschland und Frankreich 1914–1918“ im Stuttgarter Wilhelmspalais gehalten hat. Der Charakter der gesprochenen Rede mit ihren thesenhaften Zuspitzungen ist bei der Drucklegung des Vortrags bewußt beibehalten, der Anmerkungsapparat auf das Allerwesentlichste beschränkt worden.

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beschwor, die dem deutschen Feind unerschütterlich trotzen werde. All dies war keinesfalls selbstverständlich. In London beispielsweise war bei Kriegsausbruch kein Ruf nach nationaler Gemeinschaft zu hören; die politischen Auseinandersetzungen gingen vielmehr weiter, und erst im Mai 1915, als noch immer kein Ende des Waffengangs abzusehen war, wurde schließlich eine Allparteienkoalition aus Vertretern der bis dahin alleinregierenden Liberalen, Politikern der Konservativen sowie erstmals einem Vertreter der Labour Party geschmiedet. Nachdem Lloyd George freilich im Dezember 1916 den langjährigen Premierminister Sir Herbert Asquith mit Hilfe der Konservativen endgültig von der Macht verdrängt hatte, verweigerte mehr als ein Drittel der liberalen Abgeordneten der neuen Regierung ihre Unterstützung. Und daß von einer Union sacrée nach französischem Vorbild in London nicht die Rede sein konnte, zeigte sich nicht zuletzt, als Lord Lansdowne, ein prominenter Vertreter der Liberalen, im weiteren Verlauf des Krieges ungehindert gleich mehrfach für einen Verständigungsfrieden zwischen der Entente und den Mittelmächten warb, während Joseph Caillaux im Januar 1918 wegen weitaus weniger aufregender Einlassungen, die von den französischen Nationalisten zu „Feindkontakten“ aufgebauscht wurden, im Gefängnis landete. Das letzte Beispiel zeigt denn auch bereits die Kehrseite von Union sacrée und Burgfrieden: Die Forderung nach unbedingter nationaler Einheit führte im weitesten Sinne zum Ende jeder öffentlichen Auseinandersetzung über Ziele und Strategien der Kriegführung. Eine entsprechende Zensur sorgte in beiden Ländern etwa dafür, daß in der Presse jede Diskussion über die Kriegsziele weitestgehend unterbunden wurde und sie selbst im Parlament nur ausnahmsweise möglich war. Dessenungeachtet ist es zunächst einmal wichtig, die wesentlichen Unterschiede zwischen Burgfrieden und Union sacrée zu benennen, wirken die beiden Ideen doch fälschlich nicht selten wie eineiige Zwillinge. Ohne an dieser Stelle bereits auf die sehr unterschiedlichen politischen Folgen einzugehen, die Burgfrieden und Union sacrée in Deutschland beziehungsweise in Frankreich zeitigten – Folgen, die weit über das Ende des Ersten Weltkriegs hinausreichen sollten –, zeigen doch schon die Stellungnahmen aus dem August 1914, wie unterschiedlich die Akzente seinerzeit in Paris und Berlin gesetzt wurden. Denn während Kaiser Wilhelm II. etwa beim Ausbruch des Krieges die Parole ausgab, Deutschland kämpfe fortan „gegen eine Welt von Feinden“ – eine Losung, die sich vortrefflich mit dem sprichwörtlichen „viel Feind’, viel Ehr’“ verbinden ließ, erklärte Poincaré in seiner bereits erwähnten Botschaft an beide Kammern des Parlaments, Frankreich werde 52

von Rußland verläßlich unterstützt, es erfreue sich der Freundschaft mit England und genieße in der gesamten zivilisierten Welt ein unverbrüchliches Vertrauen, stehe es doch für die höchsten Werte von Freiheit, Gerechtigkeit und Vernunft. 1 Heroische Selbstisolation gegen offensives Allianzdenken? Bereits diese knappe Gegenüberstellung verdeutlicht, daß Burgfrieden und Union sacrée in ihren politischen und sozialen Implikationen zwar durchaus vergleichbar, aber gewiß nicht identisch, ja einander noch nicht einmal besonders ähnlich sind. Im folgenden wird davon zu handeln sein, auf welche Weise die beiden Begriffe, die jeweils für ein ganz spezifisches Konzept von nationaler Gemeinschaft standen, die Debatten über die Kriegsziele in Deutschland beziehungsweise Frankreich geprägt und gestaltet haben – und wie die Kriegszieldiskussion in den beiden Ländern ihrerseits die Vorstellungen von Burgfrieden und Union sacrée konturiert und in ihrer Entwicklung beeinflußt haben. Das Zusammenspiel von vorzugsweise nach außen gerichteten Kriegszielen und primär nach innen wirkenden rhetorischen Figuren einer Politik des Burgfriedens beziehungsweise der Union sacrée scheint mir für einen deutsch-französischen Vergleich in besonderer Weise geeignet zu sein, wobei vorab bereits die These riskiert sei, daß sich die entsprechenden Debatten in Frankreich vor allem an den semantisch aufgeladenen Richtgrößen „republikanische Werte“ und „zivilisatorische Mission“, in Deutschland hingegen an der Idee der „deutschen Sendung“ und eines ostentativ beschworenen „Sonderwegs“ orientierten.

II. Burgfrieden und Union sacrée im Sommer 1914 Es wäre naheliegend anzunehmen, der Ruf nach einem nationalen Konsens in Deutschland wie in Frankreich sei die Reaktion auf einen Krieg gewesen, der als ein vermeintlich kurzer Waffengang begonnen, sich jedoch bald zu einem blutigen Konflikt ohne ein absehbares Ende ausgewachsen hatte. Tatsächlich aber wurde die Devise eines Burgfriedens beziehungsweise einer Union sacrée gleich am ersten Tag des Krieges ausgegeben, während sie 1917, als der Krieg zumindest an der Westfront als besonders drückend und aussichtslos erschien, spürbar an Strahlkraft verlor. Burgfrieden und Union sacrée markierten mithin keineswegs nur eine pragmatische Antwort auf die neue Art der Kriegsführung nach 1914, sondern bildeten viel1 Vgl. Raymond Poincaré, L’Union sacrée, 1914. (Au service de la France, 4.) Paris 1927, 546.

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mehr bereits gewissermaßen die Voraussetzung für einen Krieg, der bald als Grande Guerre verstanden wurde. Die Gründe dafür, daß die genannten Ideen bereits im August 1914 eindringlich beschworen wurden, waren in Deutschland und Frankreich durchaus unterschiedlicher Natur. In Deutschland entsprach der Burgfrieden einer weitverbreiteten Sehnsucht nach nationaler Eintracht, die die politische und soziale Wirklichkeit des Kaiserreichs überwinden sollte und sich durch eine vehemente Ablehnung der liberalen Demokratie westeuropäischer Prägung sowie durch das Bekenntnis zu einer im Grunde vormodernen Vorstellung einer organischen Einheit der Gesellschaft wie der Nation auszeichnete. In Frankreich lehnte sich die Union sacrée an die ursprünglich jakobinische Idee einer Nation des „allgemeinen Willens“ (volonté générale) an, derzufolge die Nation nicht den Willen des einzelnen beziehungsweise verschiedener Parteien, Klassen oder Gruppierungen, sondern des ganzen Gemeinwesens widerspiegeln sollte. So unterschiedlich also das geistesgeschichtliche Erbe war, das Burgfrieden und Union sacrée antraten, so vergleichbar waren die politischen und sozialen Konsequenzen. In Deutschland wie in Frankreich wurde den politisch Abseitsstehenden durch die Vorstellung einer partei- und klassenübergreifenden Gemeinschaft die Rückkehr in die Nation wesentlich erleichtert, wobei diese (Re-)Integration sowohl von der Regierung als auch von den ehedem Ausgeschlossenen selbst gewünscht wurde. Während es dabei im deutschen Fall um Sozialisten und Katholiken ging, die nach 1871 als „Reichsfeinde“ gebrandmarkt worden waren, war die Union sacrée in Frankreich vor allem als Appell an jene Katholiken zu verstehen, die nach der Trennung von Kirche und Staat 1905 weitgehend vom politischen Leben ausgeschlossen worden waren. Es war durchaus kein Zufall, wenn etwa eine 1916 in Tours gehaltene Predigt, die bezeichnenderweise unter dem Titel „Autour du drapeau“ veröffentlicht wurde, die Farben der Trikolore in betont kirchlicher Manier deutete – das Blau sei die Farbe der Heiligen Maria, das Weiß ein Zeichen für die Hostie, das Rot entspreche dem heiligen Herzen Jesu – und den Kampf Frankreichs in Analogie zur Botschaft Christi setzte. 2 Auch wenn die Predigt wohlweislich nur Frankreich, nicht aber die Republik namentlich erwähnt, war ihr Anliegen dennoch klar und – gemessen an der Spaltung der französischen Gesellschaft vor 1914 – durchaus revolutionär: Die Katholiken durften und sollten sich mit dem Frankreich der Trikolore versöhnen. 2

Vgl. P. Joseph Merme, Autour du drapeau. Tours 1916.

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Gleiches galt auch für die bereits erwähnten Sozialisten in beiden Ländern. Fortan waren sie keine „vaterlandslosen Gesellen“ mehr, sondern beanspruchten die gleichberechtigte Anerkennung als vollwertige citoyens. Dies war insofern erstaunlich, als es in den sozialistischen Parteien seit dem 19. Jahrhundert zu bisweilen heftigen Auseinandersetzungen um die Frage einer Beteiligung an einer bürgerlichen Regierung gekommen war, die im Zeichen einer Entscheidung zwischen Reform oder Revolution standen. Zwar hatten sich die sozialistischen Abgeordneten in Frankreich zwischen 1901 und 1906 bereits am bloc républicain beteiligt, sich jedoch aufgrund ihrer Politik der totalen Opposition alsbald wieder in die selbstgewählte Isolation begeben. Diese radikale Haltung erfuhr durch den Ausbruch des Krieges in Deutschland wie in Frankreich eine nachgerade historisch zu nennende Veränderung, die den Anliegen der Reformisten zum Durchbruch zu verhelfen schien. Die französischen Sozialisten bekannten sich – ungeachtet des Standpunkts der Sozialistischen Internationale – nun zu den republikanischen Traditionen, die auch die Verteidigung des Vaterlands einschlossen. Und die SPD hatte bereits vor dem Ausbruch des Krieges angedeutet, daß sie – trotz aller Parolen der Sozialistischen Internationale, die angesichts eines drohenden Krieges zum Generalstreik aufgerufen hatte – im Falle eines Waffengangs gegen das reaktionäre Rußland nicht abseits stehen und die sozialen Errungenschaften des Kaiserreichs nicht zugunsten einer Stellungnahme für die formale Demokratie französischer Provenienz aufs Spiel setzen werde. Darüber hinaus müssen Union sacrée und Burgfrieden aber auch als Machtinstrumente der jeweiligen Regierungen verstanden werden. In Frankreich etwa führte die Union sacrée dazu, daß sich das öffentliche Klima nach der Ermordung des Sozialistenführers Jean Jaurès kurz vor Ausbruch des Krieges beruhigte. Sie ermöglichte eine Festigung der Mehrheit von nationalgesinnten radicaux auf der Linken und den gemäßigten Republikanern auf der mittleren Rechten – trotz des Scheiterns ihrer Vorkriegspolitik: Die Allianz mit Rußland hatte letztlich keine abschreckende Wirkung auf Deutschland gehabt und Frankreich schließlich in den Krieg geführt, und der Fehlschlag der französischen Offensive in Lothringen sowie der russischen an der Ostfront hatten einen kurzen Krieg sowie eine rasche Neuordnung Europas unmöglich gemacht. Ja, Frankreich befand sich bis zur Marneschlacht Anfang September 1914 im Grunde in einer Lage, die genauso katastrophal war wie 1870. Hieraus erwuchs eine große innenpolitische Gefahr für die Dritte Republik, und die Union sacrée diente nicht zuletzt dem Zweck, ebendiese Gefahr abzuwenden. 55

Konkret gesprochen, bot das Konzept der Union sacrée eine Handhabe und zugleich einen Vorwand, im Sommer 1914 die Zensur einzuführen, die Durchgriffsmöglichkeiten der Verwaltung zu erhöhen und den Einfluß des Parlaments jedenfalls in den ersten Monaten des Krieges zu begrenzen. Politiker, die sich von der amtlichen Haltung der Regierung distanzierten und sich vom Ziel eines in immer weitere Ferne rückenden Endsieges abwandten, konnten zudem mit Hinweis auf die moralische Bedeutung der Union sacrée mundtot gemacht werden, wie nicht nur der bereits erwähnte Joseph Caillaux, sondern auch Aristide Briand und Paul Painlevé leidvoll erfahren mußten. Auch in Deutschland war die Regierung unter Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg aufgrund des geschlossenen Burgfriedens in der Lage, bis 1917 ohne größere Probleme zu regieren. Der Reichstag stimmte allen Kriegskrediten zu und entmachtete sich sogar weitgehend selbst, indem er viele Befugnisse auf den Bundesrat übertrug und zumindest bis Juli 1917 auf ernsthafte politische Debatten verzichtete. Anders als in Frankreich übernahmen die militärischen Kommandostellen hier zudem nicht nur an der Front, sondern im gesamten Land die Exekutivgewalt. Ungeachtet aller scheinbar parallel verlaufenden Entwicklungen darf freilich nicht vergessen werden, daß Frankreich auch nach 1914 eine parlamentarische Demokratie blieb, in der zwischen 1914 und 1918 immerhin vier Regierungen durch das Parlament zu Fall kamen, während Deutschland nach wie vor eine konstitutionelle Monarchie war, deren Regierung sich auch ohne Unterstützung des Reichstags an der Macht zu halten vermochte. Trotz dieser starken Position der deutschen Exekutive, die durch den Burgfrieden noch befestigt wurde, blieb das Deutsche Reich innenpolitisch allerdings deutlich labiler als Frankreich – und dies aus zwei Gründen: Zum einen war der Kaiser nicht in der Lage, den Burgfrieden dauerhaft zu moderieren und die Arbeit von Regierung und Oberster Heeresleitung zu koordinieren. In Frankreich rieb man sich geradezu die Augen und konnte es kaum fassen, daß die als schlampig verschrieene Republik während des Ersten Weltkriegs effizienter regiert wurde als das sonst so durchorganisierte und disziplinierte Deutsche Reich. Trotz der nur schwer zu überblickenden Parteienlandschaft der Dritten Republik und ihrer traditionell schwachen Exekutive schien – um den Titel einer bekannten Schrift Charles de Gaulles zu zitieren – die „Zwietracht“ ausschließlich beim Feind zu herrschen, nicht jedoch im eigenen Land. 3 3

Vgl. Charles de Gaulle, La Discorde chez l’ennemi. Paris 1924.

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Zum anderen waren Reichweite wie Tragfähigkeit von Burgfrieden und Union sacrée sehr unterschiedlich. In Frankreich umfaßte die Union sacrée zumindest bis 1917 die meisten politischen Fragen und Probleme. In der Abgeordnetenkammer stand – abgesehen von der Auseinandersetzung um die richtigen Kriegsziele zwischen März und November 1917 – nie der Krieg selbst zur Debatte, sondern allenfalls die Frage, wie er am besten zu führen sei. Zu keinem Zeitpunkt – selbst nach 1917 nicht – wurde zudem die Verfassung der Republik oder gar die Republik selbst ernsthaft in Zweifel gezogen. Selbst die Royalisten innerhalb der Action française setzten ihre Kampagnen gegen die Republik während des Krieges aus. Und nach dem Regierungsantritt Clemenceaus im November 1917 erlahmte ohnehin jede politische Diskussion. In Deutschland hingegen betraf der Burgfrieden von vornherein nur die militärische Kriegführung einschließlich der Kriegsziele – zumindest galt dies bis zum Sommer 1917 –, nicht aber die Frage einer Reform des Reiches, die spätestens seit der Daily Telegraph-Affäre 1908 auf der politischen Agenda stand. Diese Frage wurde nun während des Krieges nicht nur nicht ausgeklammert, sondern avancierte nach 1914 geradezu zu einem Indikator für die politische Gesinnung, bei dem sich insbesondere die Konservativen von den übrigen Parteien schieden. Bethmann Hollweg war dieses Problem durchaus bewußt. Die Lösung suchte er in seiner bekannten „Politik der Diagonale“, die die SPD allmählich in das Fahrwasser der deutschen Politik bringen sollte, ohne das politische und soziale Fundament des Deutschen Reiches zu unterspülen. Zu diesem Zweck definierte er – gemessen an den Forderungen der radikalnationalistischen Alldeutschen – nicht nur relativ zurückhaltende Kriegsziele, sondern nahm auch erste Schritte einer behutsamen Reform des Reiches in Angriff. Angesichts der Tatsache, daß mittlerweile ein gutes Drittel der Reichstagsabgeordneten der SPD angehörte, war der Burgfrieden ohnehin ohne echte Alternative, ja der Erste Weltkrieg kam im Grunde genommen gerade recht, um die Sozialdemokratie politisch salonfähig zu machen und mit ihrer Hilfe das Bismarckreich zu retten. Tatsächlich bot der Krieg eine Gelegenheit, den alten Bismarckschen Kompromiß zwischen Adel und Besitzbürgertum auf die durch die SPD repräsentierte Arbeiterschaft – zumindest hinsichtlich ihres national zuverlässigen Teils – auszudehnen, ohne die linksliberalen Parteien mit ins Boot holen zu müssen. Auf diese Weise sollte das Reich zwar reformiert, aber nicht fundamental liberalisiert werden. Als Bethmann Hollweg im Juli 1917 gestürzt wurde, war nicht nur diese Strategie, sondern auch die Idee des Burgfriedens an sich – 57

allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz – an ein Ende gekommen. 4

III. Ideengeschichtliche Voraussetzungen und politische Folgen Im Unterschied zu den vorangegangenen Kriegen wurde in Deutschland wie in Frankreich zwischen 1914 und 1918 – abgesehen von einer kurzen Phase des Zweifels 1917 – die Möglichkeit eines Verständigungsfriedens kategorisch ausgeschlossen. Diese Fixierung auf einen aufgrund der militärischen Lage eher unwahrscheinlichen Siegfrieden war ein politisches Vabanquespiel, das nur unter Verweis auf Union sacrée und Burgfrieden überhaupt möglich wurde. Ideengeschichtlich ist dabei eine gewisse Logik erkennbar: Die Forderung nach einem Siegfrieden, der dazu dienen sollte, die eigenen Kriegsziele ohne Einschränkungen durchsetzen zu können, ging mit der entschiedenen Absage an eine supranationale europäische Ordnung einher. Während der Gedanke einer gemeinsamen Verantwortung im europäischen Mächtekonzert noch bis 1914 präsent gewesen war, wurde jetzt die Idee des Nationalstaates auf bedenkliche Weise verabsolutiert. Der souveräne, ganz auf sich allein beschränkte Nationalstaat kann im Krieg jedoch keinerlei innenpolitische Diskussion über einen Verständigungsfrieden zulassen, da dies sein Selbstverständnis massiv in Frage stellen würde. Der Leviathan braucht keinen runden Tisch. 5 Burgfrieden und Union sacrée verstärkten solche Tendenzen einer Selbstermächtigung des nationalen Staates erheblich. Die ideologische Basis der beiden Leitbegriffe unterschied sich allerdings nicht unbedeutend voneinander. In Deutschland war der Burgfrieden vor allem auf die sogenannten „Ideen von 1914“ bezogen, wie sie bereits zu Beginn des Krieges von Professoren und Intellektuellen in Denkschriften formuliert, in der Presse lebhaft propagiert und in der Reichskanzlei durch Kurt Riezler, einen engen Mitarbeiter Bethmann Hollwegs, politisch umgesetzt worden waren. Bei diesen „Ideen von 1914“ handelte es sich um eine ideologische Rechtfertigung der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Verfassung des Deutschen Reiches in Abgrenzung von den politischen TradiDazu Georges-Henri Soutou, L’Or et le Sang. Les buts de guerre économiques de la première guerre mondiale. Paris 1989. 5 Vgl. Georges-Henri Soutou, L’Europe de 1815 à nos jours. Paris 2007, bes. Kap. 4. 4

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tionen der Westmächte. Die organisch gewachsene Ständegesellschaft stand hier gegen den liberalen Individualismus Großbritanniens und Frankreichs, Kultur stand gegen Zivilisation, politisches Handeln gegen geldgieriges Wirtschaften, der Staat – in preußischer Lesart der Vermittler zwischen Klassen und Ständen – gegen das Großbürgertum. Ihren Ursprung hatten all diese Ideen im Motiv des „deutschen Sonderwegs“, wie es in der napoleonischen Zeit von Herder und Fichte entwickelt und in der Folge etwa von Friedrich List aufgegriffen worden war. Um sie durchzusetzen, sollte das kontinentale Europa zu einem einzigen Wirtschaftsbund mit dem Zentrum Berlin geformt werden. Und damit nicht genug. Der Begriff „Mitteleuropa“, der bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges bekannt war, aber durch das gleichnamige Buch Friedrich Naumanns 1915 regelrecht popularisiert wurde, beschränkte sich nicht mehr allein auf ökonomische Aspekte, sondern zielte auch auf kulturelle und politische Werte, nämlich auf die Ausdehnung des oben skizzierten Bismarckschen Kompromisses auf ganz Europa. Dies im großen Völkerringen zu erreichen, war die eigentliche „deutsche Sendung“. 6 In Frankreich hingegen erklärte die Regierung bereits im September 1914, der Krieg richte sich in allererster Linie gegen den preußischen Militarismus und sein Ziel sei es daher vor allem, die preußisch-deutsche Hegemonie in Europa zu beseitigen. Daraus sprachen verschiedene Überzeugungen, die nicht zuletzt die weitere Diskussion über die Kriegsziele prägen sollten. Die Angst vor einer Hegemonie bezog sich dabei auf die Sorge vor einer deutschen Überlegenheit oder sogar Übermacht in Europa, und dies sowohl in politischer als auch in militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Preußisch erschien diese Hegemonie insofern, als das Deutsche Reich in den Augen französischer Betrachter kein echter Nationalstaat war, sondern den Deutschen von Bismarck förmlich aufgezwungen worden war. Daher lag es nahe, die Reichsgründung entweder gänzlich rückgängig zu machen oder aber sie mindestens in Teilen zur Disposition zu stellen – ein geheimes Ziel der französischen Außenpolitik, das bis 1924 auf die eine oder andere Weise verfolgt wurde. Der Verweis auf den Militarismus schließlich bezweckte zweierlei: Zum einen sollte er den Vorwand dafür liefern, Deutschland nach einem französischen Sieg zu demokratisieren und die Hohenzollerndynastie wie den preußischen Adel insgesamt zu entmachten. Zum anderen sollte er die Forderung Frankreichs nach belastbaren Sicherheitsgarantien, sei es durch eine zahlenmäßige Beschränkung der 6

Soutou, L’Or (wie Anm. 4), bes. Kap. 3.

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Reichswehr oder die Kontrolle über das Rheinland, nach dem Krieg untermauern. 7 Zur ideologischen Bemäntelung dieser teilweise sehr konkreten Ziele bediente man sich in Frankreich eines großzügigen Rückgriffs auf die traditionell republikanischen Werte wie Freiheit, demokratische Verfassung, rechtliche Gleichheit sowohl im Innern mit Blick auf die einzelnen Bürger als auch nach außen mit Blick auf das internationale Staatensystem. Und da zu diesem Wertekanon auch die Gerechtigkeit gehörte, war es auch keine Frage, daß Elsaß-Lothringen, das 1871 ohne Abstimmung durch das Deutsche Reich annektiert worden war, nach einem siegreichen Krieg wieder an Frankreich zurückfallen müsse. Der Verweis auf die republikanischen Werte im Zuge der Union sacrée hatte dabei eine doppelte Funktion. Einerseits unterstrichen die Werte, die längst zu einer Art Exportschlager geworden waren, die „zivilisatorische Sendung“ Frankreichs, die vor allem in den neutralen Staaten für die Grande Nation werben sollte. Andererseits sollte eine so verfaßte Union sacrée auch dazu beitragen, in einem Frankreich des Schon-aber-nochNicht die republikanischen Werte endgültig zu verankern. Mit Hilfe eines vage formulierten Kriegszielprogramms, das in seinem Bezug auf die sakrosankten Werte der Republik für fast jeden annehmbar schien, solle sich die Nation hinter der Regierung scharen – und sich zugleich in neuer Einheit verbinden. In denkwürdiger Weise verband Clemenceau in seiner berühmten Rede am 11. November 1918 denn auch die Idee der Union sacrée mit den republikanischen Werten der französischen Kriegsziele: Gestern noch habe Frankreich Krieg für Gott geführt, heute für die Menschheit, immer aber für das Ideal. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen ideologischen Aufladung wirkten Burgfrieden und Union sacrée zudem vor dem Hintergrund einer in Deutschland wie in Frankreich sehr spezifischen innenpolitischen Situation. In Frankreich waren nach der Dreyfus-Affäre und der Trennung von Staat und Kirche 1905 die Katholiken weitgehend von der Politik ausgeschlossen worden. Noch weitaus mehr als die Sozialisten, die sich rund um die radicaux, wie bereits erwähnt, am bloc républicain beteiligt hatten, waren sie die eigentlichen Außenseiter in der politischen Kultur Frankreichs. Beide Gruppen sollten durch die Union sacrée in die Nation integriert werGeorges-Henri Soutou, La France et les Marches de l’Est 1914–1919, in: RH 260, 1978, 341–388; ders., La France et le problème de l’unité et du statut international du Reich, 1914–1924, in: Le statut international de l’Allemagne. Des traités de Westphalie aux accords „2+4“. Études réunies par Georges-Henri Soutou et Jean-Marie Valentin. Paris 2004, 745–793.

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den, und immerhin waren die Sozialisten bei den Wahlen im April 1914 ohnehin bereits zur stärksten Partei geworden. Zusammen mit den linken Radikalen (radicaux unifiés) und den unabhängigen Sozialisten hätten sie anschließend beinahe eine regierungsfähige Mehrheit erreicht, wobei es für unsere Fragestellung von einiger Bedeutung ist, daß sich diese Parteien im Wahlkampf allesamt gegen das neue Wehrgesetz ausgesprochen hatten, das statt eines zweijährigen nun einen dreijährigen Wehrdienst vorsah. Dieser Aussage kam insofern auch eine außenpolitische Bedeutung zu, als sie dazu angetan war, daß enge Verhältnis zu Rußland in Frage zu stellen. Staatspräsident Raymond Poincaré hingegen, der einen konservativeren Kurs steuerte, als es die neugewählte Abgeordnetenkammer für richtig hielt, war sehr darauf bedacht, das Bündnis mit Rußland um jeden Preis aufrechtzuerhalten, und hielt daher eisern an der dreijährigen Dienstpflicht fest, die gewissermaßen zum Symbol der französisch-russischen Allianz stilisiert wurde. Es war denn auch kaum verwunderlich, daß Poincaré große Mühe hatte, eine stabile Regierung zu bilden. 8 Hier kam nun die Union sacrée wie gerufen: Angesichts eines politisch zutiefst gespaltenen Parlaments, einer außerordentlich starken Sozialistischen Partei in der Opposition und eines nicht zu unterschätzenden katholisch-konservativen Lagers, das in der Abgeordnetenkammer freilich deutlich unterrepräsentiert war, erschien sie als der beste, wenn nicht der einzige Weg, Bewegung in die politischen Verhältnisse, die zu erstarren drohten und immer mehr einer PattSituation glichen, zu bringen. In die Tat umgesetzt wurde die Union sacrée zunächst durch den Beitritt einer Handvoll Sozialisten und Katholiken in die Regierung. Fortgesetzt wurde sie – mit Blick auf die Katholiken – durch eine sehr viel moderatere Auslegung und Anwendung der laizistischen Gesetzgebung (inklusive einer pragmatischen Lösung für die Kriegsseelsorge) sowie – mit Blick auf Gewerkschaften und Arbeiterschaft – durch die Tätigkeit des späteren Rüstungsministers Albert Thomas. Darüber hinaus erforderte die Union sacrée allerdings großes Fingerspitzengefühl bei der konkreten Definition der Kriegsziele. Hier waren es weniger die Katholiken, die Probleme bereiteten – waren sie doch mit den ehrgeizigen Zielen Poincarés sowie des Generalstabs und der tonangebenden Personen in Wirtschaft und Presse im Grunde genommen einverstanden –, als die Sozialisten und die vielen linken Anhänger der Republik, die die Außenpolitik Poincarés vor Ausbruch des Krieges noch scharf kri8 Dazu Gerd Krumeich, Aufrüstung und Innenpolitik in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg. Die Einführung der dreijährigen Dienstpflicht 1913–1914. Wiesbaden 1980.

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tisiert hatten. Die bemühte Imprägnierung geostrategischer Ziele mit nicht zu hinterfragenden republikanischen Werten, wie sie nach 1914 das offizielle Kriegszielprogramm kennzeichnete, diente daher nicht zuletzt dem Zweck, den linken Parteien Sand in die Augen zu streuen. In Deutschland war die Ausgangslage auf den ersten Blick durchaus vergleichbar. Auch hier erschien der Burgfrieden als probates Mittel, um die SPD, die bei den Reichstagswahlen 1913 immerhin ein Drittel der Sitze errungen hatte, in eine Politik des nationalen Konsenses zu integrieren, auch wenn konservative Kreise schon bald die Parole einer Sammlung bürgerlicher Kräfte gegen die Sozialdemokratie wieder aufnahmen. Zwar wurden die Sozialisten hier – anders als in Frankreich – nicht an der Regierung beteiligt. Dennoch stützten sie die Politik der Reichsregierung im Parlament und traten insbesondere für das Hilfsdienstgesetz vom Dezember 1916 ein, das die Anliegen der SPD weitgehend berücksichtigte und die positive Rolle der Gewerkschaften im Wirtschaftsleben festschrieb. Vergleichbar war in beiden Ländern der starke Zusammenhang zwischen Kriegszielen und Burgfrieden beziehungsweise Union sacrée, sowohl in den siegessicheren Anfangsmonaten des Krieges als auch während der wachsenden Schwierigkeiten seit 1917, in deren Folge es in Deutschland wie in Frankreich zu einem immer deutlicher zutage tretenden Dissens hinsichtlich der Kriegführung sowie der Kriegsziele kam. Vergleichbar war auch die Abspaltung radikaler Sozialisten von jenen Mehrheitssozialisten, die bereit waren, den Burgfrieden beziehungsweise die Union sacrée weiter mitzutragen, und dafür Zugeständnisse von der Regierung und den bürgerlichen Parteien erwarteten. Als die französischen Sozialisten im September 1917 die Regierung verließen, bedeutete dies formal die Aufkündigung der Union sacrée, auch wenn die Mehrheitssozialisten auch künftig mehr oder weniger den Regierungskurs unterstützten, während die Minderheitssozialisten vollends in die Opposition gingen. Fragen von Krieg und Frieden waren es auch, die im selben Jahr zur Abspaltung der USPD von der SPD führten. Angesichts einer allgemeinen Kriegsmüdigkeit wurde es für die Sozialisten hier wie dort immer schwieriger, sich Lenins Friedensparolen zu entziehen. Gleichwohl gab es in innenpolitischer Hinsicht auch markante Unterschiede zwischen Burgfrieden und Union sacrée. Während in Deutschland die Parteien der Mitte und der Linken mit den Konservativen brachen, was sich unter anderem in der Tatsache ausdrückte, daß die Friedensresolution des Reichstags vom Juli 1917 durchaus mäßige Kriegsziele formulierte, wurde ein solcher Bruch in Frankreich vermieden – wohl vor allem dank 62

der starken Hand Clemenceaus, aber auch, weil sich Regierung und Parteien noch im Juni 1917 auf ein zwar reduziertes, aber flexibles Kriegszielprogramm hatten einigen können, das den Geist der Union sacrée zu bewahren imstande war. 9 Der größte Unterschied aber bestand darin, daß der siegreiche Ausgang des Ersten Weltkrieges in Frankreich zur endgültigen Festigung der Dritten Republik führte, die in dieser Hinsicht von der Union sacrée entschieden profitierte. In Deutschland hingegen war das Kaiserreich 1918 vollständig gescheitert – und mit ihm die „Ideen von 1914“. Noch vor der endgültigen Niederlage waren sich Gewerkschaften und Arbeitgeber darüber einig, daß eine Exportnation wie das Deutsche Reich ihren Frieden mit der liberal organisierten Weltwirtschaft und ihrer Werteordnung machen müsse. Insofern hatten die Ideen der Westmächte bereits vor dem November 1918 gesiegt, von „Mitteleuropa“ und „deutscher Sendung“ war zunächst kaum mehr die Rede. 10

IV. Wechselwirkungen zwischen Kriegszielen und Burgfrieden beziehungsweise Union sacrée In Deutschland wie in Frankreich wurden der Burgfrieden beziehungsweise die Union sacrée von der Regierung dazu benutzt, um ambitiöse Kriegsziele durch einen überparteilichen Konsens zu legitimieren. Dies hatte, wie bereits angedeutet, zur Folge, daß man sich gelegentlich eine gewisse Zurückhaltung bei der konkreten Ausgestaltung der Kriegsziele auferlegte, um diesen Konsens nicht zu gefährden. Nimmt man beispielsweise die Memoiren Poincarés zur Hand, der sich persönlich für sehr weitgehende Kriegsziele einsetzte, wird überdeutlich, wie er stets bestrebt war, den Konsens zwischen den verschiedenen Parteien und Politikern auszutarieren. Seinen eigenen Überzeugungen hatte er – unter dem Deckmantel der Union sacrée – bereits seit 1915 in vertraulichen Gesprächen Ausdruck verliehen. Und bei einer Unterredung mit wichtigen Ministern und Politikern im Oktober 1916 im Elysée-Palast fixierte er die entsprechenden Ziele: Die vollständige und bedingungslose Wiedereingliederung Elsaß-Lothringens stand für ihn außer Frage, obgleich die Sozialisten bekanntlich für eine Abstimmung in den betroffenen Gebieten plädierten. Für Poincaré hinge9 10

Vgl. David Stevenson, French War Aims Against Germany 1914–1919. Oxford 1982. Dazu Soutou, L’Or (wie Anm. 4), Kap. 3.

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gen bestand die Alternative einzig und allein darin, Elsaß-Lothringen entweder in den Grenzen von 1871 oder aber in den Grenzen von 1790, also einschließlich eines großen Teils des heutigen Saarlandes, zurückzugewinnen. Was das Rheinland betraf, gestalteten sich die Dinge schwieriger. Beim Treffen im Elysée-Palast schwankten die Meinungen zwischen Annexion, einer Protektoratslösung oder einer dauerhaften Besatzung. Schließlich einigte man sich – ganz im Sinne der Union sacrée – auf einen Kompromiß, der darauf hinauslief, alles zu unternehmen, um von den Alliierten eine carte blanche für das Rheinland zu erhalten, und die Angelegenheit ansonsten bis nach dem Friedensschluß zu vertagen, wobei eine Zerschlagung des Deutschen Reiches durchaus nicht unmöglich erschien. Gegenüber der französischen Öffentlichkeit sprach die Regierung allerdings nur von Sicherheitsgarantien, also gewissermaßen geopolitischen Bürgschaften am Rhein. Diese Floskel erwies sich im Juni 1917 als außerordentlich nützlich, als nämlich die neue russische Regierung verschiedene Geheimabkommen der Alliierten veröffentlichte, darunter heikle Äußerungen hinsichtlich möglicher Annexionen seitens französischer und russischer Politiker und Diplomaten Anfang 1917. Der Idee universaler republikanischer Werte folgend, verständigte sich die Abgeordnetenkammer – mit Ausnahme der Linkssozialisten – schließlich in einer nicht-öffentlichen Sitzung, auf eine Resolution, die jeden Eroberungsgedanken verwarf, allerdings ein Ende des „preußischen Militarismus“ verlangte und dauerhafte Friedensgarantien forderte. Bei genauerem Hinsehen wird allerdings deutlich, daß in dieser Resolution nur eine Annexion des Rheinlandes ausgeschlossen wurde, nicht jedoch die Errichtung eines Protektorats oder die Okkupation. Ohne Zweifel erlaubte es diese Mischung aus schöngefärbten Kriegszielen und republikanischen Werten, am Kriegszielprogramm der maßgebenden französischen Kreise auch in den politischen Turbulenzen des Jahres 1917 festzuhalten, ohne die Unterstützung durch die große Mehrheit der Abgeordneten zu verlieren. Hinzu kam, daß die rhetorische Einkleidung der französischen Kriegsziele mit Hilfe republikanischer Werte die wohl einzige Möglichkeit darstellte, einen gewissen Einklang zwischen den eigenen Zielen und den 14 Punkten des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zu erreichen. Die Ideenwelt der Union sacrée wirkte hier also durchaus mäßigend auf die französische Politik ein. Ohne die Rücksichtnahme auf den mächtigen Alliierten, wie sie durch die republikanische Rhetorik befördert wurde, hätte das politische Frankreich gewiß die Annexion nicht nur des Rheinlandes, sondern auch des Saarlandes und Lu64

xemburgs verlangt und ganz grundsätzlich die Axt an den deutschen Nationalstaat gelegt. Bis 1924 hat Frankreich diese Ziele nie vollständig aus den Augen verloren, wie auch die Ruhrbesetzung 1923 nur vor diesem Hintergrund ihre ganze Bedeutung entfaltet. Die maßgeblichen Politiker in Paris konnten diese Ziele indes nicht offen verfolgen, und zwar sowohl mit Blick auf die Haltung der britischen und der amerikanischen Regierung als auch mit Blick auf ein Mindestmaß an überparteilichem Konsens in der französischen Gesellschaft. 11 Im übrigen – und das wird man nicht vergessen dürfen – war die zu Recht vielgescholtene republikanische Rhetorik der Union sacrée keineswegs immer bloße Rhetorik. Im besetzten Rheinland etwa waren die französischen Behörden nach 1919 durchaus bemüht, die Demokratisierung im liberalen Sinne zu fördern, gewissermaßen als Muster für das übrige Deutschland. 12 Schließlich rechnete man am Quai d’Orsay die Demokratisierung Deutschlands zu den wichtigsten Faktoren, die geeignet schienen, die Sicherheit Frankreichs nach dem Kriege dauerhaft zu gewährleisten. Nach dem Scheitern von Poincarés Ruhrpolitik wurde die Unterstützung und Festigung der jungen Weimarer Republik daher ein wichtiges Moment in der französischen Außenpolitik. In Berlin war es um das Verhältnis von Burgfrieden und Kriegszielen nicht wesentlich anders bestellt. Bereits in den ersten Monaten des Krieges hatte die Reichsleitung ihre Ziele weitgehend festgelegt und danach nahtlos weiterentwickelt. Schon das sogenannte Septemberprogramm atmete das Verlangen, die Sicherheit des Reiches für die Zukunft durch eine Reihe von Maßnahmen zu festigen. Dazu zählte der zunächst überraschende Verzicht auf weitgehende Annexionen, der dadurch motiviert war, die Zahl der Nichtdeutschen im Reich nicht weiter zu erhöhen. Gleichzeitig sollte jedoch ein Gürtel von militärischen und politisch-wirtschaftlichen Protektoraten entstehen, der von Belgien bis zum Baltikum reichen sollte und maßgeblich dem Zweck diente, Rußland zurückzudrängen. Darüber hinaus trat das Septemberprogramm für die Errichtung eines Mitteleuropäischen Wirtschaftsbundes ein, dem neben dem erstarkten Deutschland und Österreich-Ungarn möglichst auch Italien und Frankreich angehören sollten, um die deutsche Vormacht in Europa angesichts neuer russisch beziehungsweise amerikanisch dominierter Wirtschaftsräume zu sichern. Soutou, La France (wie Anm. 7). Vgl. Pierre Jardin, La politique rhénane de Paul Tirard (1920–1923), in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 21/2, 1989, 208–216.

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Innenpolitisch gesehen war dieses Programm, das geeignet schien, den Burgfrieden weiter zu verfestigen, durchaus attraktiv. Sowohl Sozialisten als auch Liberale waren mit seiner gleichsam modernen wirtschaftspolitischen Ausrichtung leichter zu ködern als mit möglichen Annexionen, und auch die antirussische Spitze verfehlte ihre Wirkung nicht. Folgerichtig wurde die deutsche Politik im Baltikum nach 1917 nicht selten als „Befreiung vom russischen Joch“ propagiert und zugleich als Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker präsentiert. Darüber hinaus war das amtliche Kriegszielprogramm, insofern es der Idee des Burgfriedens verpflichtet blieb, auch dazu angetan, die annexionistischen Eiferer in den Reihen der Alldeutschen und der Obersten Heeresleitung kaltzustellen – auch hier also läßt sich eine mäßigende Wirkung der Konsenspolitik nicht verleugnen. So betrachtet folgte das Septemberprogramm dem Ziel, die politische Linke in die nationale Gemeinschaft zu integrieren und zugleich die Rechte zu kontrollieren. Mit seiner Hilfe sollte der Versuch unternommen werden, die politische und soziale Struktur des Reiches auch im Kriege zu erhalten und sie gegen die „liberale Phrase der Engländer“ zu schützen, von der Riezler sprach. Auch wenn das Programm formal bis zum Ende des Krieges gültig blieb, sank seine Valuta nach dem Sturz Bethmann Hollwegs und dem Machtzuwachs der Obersten Heeresleitung beständig, und Gleiches gilt auch für das Schicksal des Burgfriedens. 13

V. Schlußbetrachtung Angesichts der skizzierten Tendenzen und Konsequenzen des Burgfriedens und der Union sacrée zwischen 1914 und 1918 stellt sich die Frage, wie tief die Ideen, die diesen beiden Ordnungsvorstellungen zugrunde lagen, tatsächlich in den Köpfen der Menschen verankert waren. Bündelten Burgfrieden und Union sacrée nur die Stimmungen und Sehnsüchte, die in der deutschen wie der französischen Öffentlichkeit ohnehin herrschten? Oder waren sie ein Produkt der Manipulation der öffentlichen Meinung durch Regierung und Presse? Oder liegt die Wahrheit in der Mitte? Diese Fragen sind leichter zu stellen als zu beantworten. Und so ist ein differenziertes Vorgehen notwendig. Ohne Zweifel herrschte 1914 in beiden Ländern eine Stimmung des Burgfriedens, was im übrigen nicht mit einer ungeteilten 13

Dazu Soutou, L’Or (wie Anm. 4), Kap. 5.

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Begeisterung für den Krieg an sich gleichgesetzt werden darf. 1915 und 1916 jedoch verloren Burgfrieden und Union sacrée bereits empfindlich an Bindungskraft, bevor sie 1917 in Deutschland weitgehend nachließ und in Frankreich zumindest brüchig wurde. Im Frühjahr 1918 dürfte die Union sacrée in Frankreich – eingedenk der neuerlichen deutschen Offensive – wieder an Bedeutung gewonnen haben; mit Blick auf den Burgfrieden in Deutschland ist eine gewisse Skepsis durchaus angebracht. Welche Rolle spielten nun die Kriegsziele für Union sacrée und Burgfrieden? Wie bereits ausgeführt, wurden die amtlichen Kriegsziele in der deutschen Öffentlichkeit insofern positiv aufgenommen, als sie vor allem gegen Rußland gerichtet waren und die Reichsregierung ihr Programm als eine defensive Maßnahme gegen die vermessenen Pläne der Alliierten deklarierte, die nach dem Kriege die deutsche Wirtschaft zu zerschlagen drohten. In Frankreich hingegen wurden die Kriegsziele nicht so einhellig positiv aufgenommen wie in Deutschland. Zwar herrschte hinsichtlich der grundsätzlichen Marschrichtung, sprich mit Blick auf Elsaß-Lothringen, Sicherheitsgarantien für Frankreich und Bekämpfung des deutschen Militarismus, weitgehend Einigkeit. Der Verdacht aber, daß es jenseits dieser offiziellen Ziele geheime Annexionspläne gebe, die ausschließlich den Interessen der lothringischen Großindustriellen dienten, hat wohl 1917 – eingedenk der Erschütterungen durch die russische Revolution – das seine dazu beigetragen, die Union sacrée in Frankreich nachhaltig zu diskreditieren. Unabhängig davon stellt sich die Frage, warum das Konzept des Burgfriedens in zwei so unterschiedlichen Ländern wie Deutschland und Frankreich mit ihren abweichenden politischen und sozialen Strukturen überhaupt erfolgreich sein konnte. In struktureller Hinsicht ist dabei zunächst einmal auf den Umstand hinzuweisen, daß 1914 sowohl in Berlin als auch in Paris eine Regierung im Amt war, die sich nicht auf eine echte Mehrheit im Parlament stützen konnte und daher eigentlich dazu gezwungen war, mit wechselnden Mehrheiten zu regieren – angesichts eines großen Krieges keine verlockende Aussicht. Insofern waren Burgfrieden und Union sacrée ein geeignetes Mittel – und sehr wahrscheinlich sogar das einzige –, um Sozialisten und Katholiken in den nationalen Konsens einzubinden, und zwar in der Vorstellung etwa Bethmann Hollwegs sowohl während des Krieges als auch darüber hinaus. Aus verschiedenen Gründen war in Deutschland und Frankreich – zumindest unter den politischen Eliten – 1914 das Bedürfnis nach nationaler Gemeinschaft virulent. Daß dies im europäischen Kontext keinesfalls selbstverständlich war, verdeutlicht der britische Fall, jedenfalls für die 67

Jahre bis 1918, als es zu einem gewissermaßen verspäteten Burgfrieden kam, der Lloyd George bei den Verhandlungen in Paris 1919 im übrigen eher hemmte als beflügelte. Großbritannien folgte hier einer gänzlich anderen politischen Tradition, derzufolge auch während eines großen Krieges die politische Debatte nicht zum Erliegen kommen durfte und Regierung und Opposition ihre parlamentarischen und öffentlichen Funktionen zu erfüllen hatten. So war man bereits gegen Napoleon letztlich erfolgreich gewesen, und so gedachte man auch nach 1914 zu verfahren – in gewisser Weise ein Luxus, der sich aus der geopolitischen Lage des Inselkönigreichs ergab. Weder Frankreich noch Deutschland konnten sich ihn leisten. Hier machten sich andere Traditionsstränge der europäischen Ideengeschichte bemerkbar. In Frankreich knüpfte die Union sacrée bruchlos an das Konzept der volonté générale an, demzufolge die Nation als ganzes nicht die einzelnen Individuen zu vertreten hat, sondern allein die ‚aufgeklärte‘ Meinung. In Deutschland wiederum speiste sich der Burgfrieden maßgeblich aus der tiefen Sehnsucht nach einer mythisch überhöhten, romantisch gefärbten Vergangenheit sowie aus der Ablehnung des modernen politischen und sozialen Lebens, wobei hier möglicherweise auch die Erinnerung an das Epochenjahr 1813 mit seinem Bild des vereinigten deutschen Volks im Abwehrkampf gegen den französischen Invasor eine Rolle spielte. Und schließlich waren sowohl Deutsche als auch Franzosen zutiefst davon überzeugt, sich nur und legitim gegen eine Aggression von außen zu verteidigen, dies war das bestimmende Gefühl diesseits und jenseits des Rheins. In Großbritannien lagen die Dinge anders: Zwar war man vertragsrechtlich verpflichtet, gegen die Verletzung der belgischen Neutralität vorzugehen. Unmittelbar angegriffen war man jedoch nicht, und so war man sich in Whitehall bis zuletzt keineswegs über einen Kriegseintritt gegen die Mittelmächte einig. In den letzten Julitagen 1914 hatte man dort viel zu diskutieren – und man hatte auch die nötige Distanz, dies zu tun, sowohl in geographischer als auch in geistiger und politischer Hinsicht. An einen Burgfrieden war an der Themse denn auch nicht zu denken. Letztlich scheiterte der Burgfrieden in Deutschland daran, daß die Reichsregierung seit 1917 nicht mehr in der Lage war, Kriegführung und Kriegsziele im Einvernehmen mit dem ohnehin weitgehend ausgeschalteten Parlament in ein stimmiges Verhältnis zu bringen. So wurden die Möglichkeiten, einen umfassenden Frieden zu schließen, die sich nach dem Sieg über Rußland boten, nicht ausgeschöpft. Die Reichsleitung proklamierte weiterhin den Burgfrieden, füllte ihn aber nicht mehr mit Leben. Insbesondere erwies sie sich als unfähig, die verschiedenen und durchaus 68

widersprüchlichen Stimmen in der Kriegszieldiskussion, die von den Alldeutschen bis zu den Sozialisten reichten, zu lenken und in einem überzeugenden Programm zu bündeln. Ein Siegfrieden war von vornherein unerreichbar gewesen. Jetzt wurde auch noch die gewiß nicht zu überschätzende Chance für einen Verständigungsfrieden vertan, den man in Berlin mehr als in Paris wünschte. Auch nach dem Waffenstillstand im November 1918 lebte die Sehnsucht nach den Verheißungen des Burgfriedens und der Union sacrée fort. In Deutschland beförderte sie – als Kontrapunkt zur Niederlage und zur Revolution 1918 – die Kritik am „System von Weimar“ und ebnete den Weg für Gemeinschaftsideale gänzlich anderen Zuschnitts. Frankreich war hier vorderhand erfolgreicher: Zwar kam die Union sacrée im Herbst 1917 an ein Ende, Clemenceau jedoch konnte sich weiterhin auf eine breite Mehrheit im Parlament stützen, und die meisten Parteien, unterstützten – wenn auch ohne tiefere Begeisterung – ein Friedensprogramm, das flexibel genug blieb, um sowohl dem innerfranzösischen Konsens als auch den Erwartungen der Alliierten Rechnung zu tragen. Die Bestimmungen des Versailler Vertrags sprechen hier eine eindeutige Sprache. Bei der politischen Instrumentalisierung nationaler Gemeinschaft war Frankreich also durchaus erfolgreicher als Deutschland – vielleicht aber auch zu erfolgreich. Die Rhetorik der Union sacrée, diese patriotische Pflichtrede aller vermeintlich Anständigen, täuschte viele Menschen. Tatsächlich waren die Franzosen keineswegs so einig hinsichtlich der Kriegsziele, wie es die Regierung ein ums andere Mal beteuerte. Eine kritische Lektüre von Ego-Dokumenten, die unter dem Eindruck des Geschehens an der Front standen, bezeugt, daß es abgesehen von Elsaß-Lothringen nur ein einziges Ziel gab, das ganz und gar außer Frage stand: die Sicherheit Frankreichs nach dem Krieg, wie diese auch immer zu erreichen sein würde, durch ein Bündnis mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten, durch die Schaffung eines Völkerbunds, durch konkrete Vorkehrungen im Rheinland oder durch Reparationen. Die ehrgeizigen geopolitischen Pläne eines Poincaré oder eines Clemenceau wurden jedoch nur von einer Minderheit in Frankreich unterstützt. Die Rhetorik der Union sacrée vernebelte die Erkenntnis, daß diese hochfliegenden Pläne ohnehin am Widerstand der Alliierten scheitern und die französischen Staatsmänner nie und nimmer in der Lage sein würden, sie auf eigene Faust zu verwirklichen. So blockierte die Union sacrée nach 1919 eine nüchterne Bestandsaufnahme der Nachkriegsprobleme. Im Ganzen betrachtet haben Burgfrieden und Union sacrée daher nicht nur während der Grande Guerre einen Friedens69

schluß erschwert, sondern den Krieg vielmehr verlängert und nach 1918 sowohl die innenpolitische Situation in Deutschland und Frankreich als auch das internationale System nachhaltig negativ beeinflußt.

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Zensur und öffentliche Meinung in Frankreich zwischen 1914 und 1918* Von

Olivier Forcade Seit dem 3. August 1914 kontrollierten in Frankreich öffentliche Behörden und Militärdienststellen die allgemeine Informationspolitik – womit man nicht zuletzt die Konsequenz aus dem deutsch-französischen Krieg 1870/ 71 zog, in dem sich die Schwatzhaftigkeit der französischen Presse, insbesondere der Zeitung „Le Temps“, nachteilig auf die Kriegführung ausgewirkt hatte. 1 Im Herbst 1914, als allmählich deutlich wurde, daß der Krieg wahrscheinlich über Weihnachten 1914 hinaus andauern würde, schien es schließlich erforderlich, den Strom der Informationen nicht mehr nur zu kontrollieren, sondern ihn vielmehr selbst zu produzieren. Wenige Monate nachdem die Nation die Union sacrée beschworen hatte, war Frankreich auf diese Weise von der pragmatischen Politik einer „vorbeugenden Zensur“ zu einem methodischen système d’information übergegangen, bei dem Zensur und Propaganda auf subtile Weise miteinander verflochten wurden. Mit Hilfe dieses Systems sollte die öffentliche Meinung sowohl innerhalb als auch außerhalb Frankreichs, sprich: insbesondere in den neutralen Staaten und bei den Bündnispartnern der Entente, aber auch bei den Kriegsgegnern, beeinflußt werden. Dieses Informationssystem wurde zwischen 1914 und 1918 in vollem Umfang nicht nur von den öffentlichen Behörden und dem Militär, sondern erstaunlicherweise auch von der großen Mehrheit der Medien übernommen – wenngleich in unterschiedlicher Intensität. Um dieser Entwicklung auf den Grund zu gehen, sind zunächst einige Präzisierungen notwendig. Die Zensurmaßnahmen, von denen im folgenden die Rede ist, waren präventiv angelegt, griffen also bereits vor der Publikation selbst und verhinderten so die Beschlagnahmung und das Verbot bestimmter Presseerzeugnisse, die für Aufsehen in der Öffentlichkeit gesorgt hätten. Die Maßnahmen waren zudem universal angelegt und betrafen infolgedessen auch alle telegraphisch übertragenen Informationen – Aus dem Französischen übersetzt von Antje Peter. Zum Folgenden Olivier Forcade, La censure politique en France pendant la Grande Guerre. 3 Vols. Thèse de doctorat d’histoire, Université Paris X–Nanterre 1998. * 1

Texte wie Bilder. Bei diesem Informationssystem handelte es sich gewissermaßen um einen Dauerkompromiß zwischen bürgerlicher Öffentlichkeit und militärischer Macht, zwischen Medien und Zensoren, der keinem ideologischen Überbau huldigte, sondern auf einzelnen Zensurvorschriften basierte. Ein solches Überwachungssystem hatte nichts mit den Schmutzund Schundkampagnen des 19. Jahrhunderts gemein, in denen – unter Verweis auf die Kategorie der „Sittlichkeit“ – die Zensur als eine Form der sozialen Kontrolle und Disziplinierung eingesetzt worden war. Hier ging es vielmehr darum, die öffentliche Meinung angesichts eines langandauernden Waffengangs zu einer kriegsrelevanten Ressource werden zu lassen. Diese republikanische Zensur suchte mittels einer verbindlichen Wahrnehmung (Sehen) und eines verbindlichen Verstehens (Sprechen) des Krieges bestimmte normes patriotiques zu setzen. Wie und warum aber konnte ein verwaltungstechnisch kompliziertes und politisch brisantes Regelwerk, das sich in eklatantem Widerspruch zu den liberalen Grundsätzen der Dritten Republik befand, nahezu fünf Jahre lang bestehen? Und welche Rolle spielte es mit Blick auf Deutschland? Diese Fragen sollen im folgenden anhand von drei Beispielen näher untersucht werden.

I. Die Zensur – Kompromisse als Resultat der Union sacrée Bevor wir uns dem grundsätzlichen Zusammenhang von Zensur und öffentlicher Meinung zuwenden, sind einige praktische Erläuterungen notwendig. Grundsätzlich sind während des Ersten Weltkrieges drei Arten öffentlicher Behörden voneinander zu unterscheiden, deren Zusammenwirken dem „système d’information“, wie es der Rechtsanwalt und Parlamentsabgeordnete Paul Meunier 1916 nannte, seine besondere Kontur verlieh. Da waren zum einen jene Einrichtungen, die sich stricto sensu mit der Zensur beschäftigten, also etwa das Bureau de la presse – das Pressebüro. Zum anderen gab es eine kleine Gruppe von Zensoren, die der Pariser Polizeipräfektur unterstellt war und politische Veranstaltungen, aber auch Theateraufführungen überwachte – eine Einrichtung, die auf das 19. Jahrhundert zurückging. Hinzu kamen die speziell für Propagandazwecke eingerichteten Zivil- und Militärbehörden, deren Aufgabe vornehmlich darin bestand, die Ereignisse des Krieges öffentlichkeitswirksam aufzubereiten. Dies gilt insbesondere für die Propagandaabteilung des Grand Quartier General (GQG) sowie für die Maison de la presse am Quai d’Orsay. Die beiden letztgenannten Einrichtungen veranlaßten Ende 1915 zudem eine 72

systematische Kontrolle der Post, deren Ziel es war, die Korrespondenz zu zensieren, um die Moral der kämpfenden Truppe zu heben. Zu diesem Zweck existierten 1916 neun Zensurkommissionen mit jeweils 15 bis 25 Mitgliedern, die in der letzten Phase des Krieges wöchentlich etwa 180000 Briefe öffneten. Die einzige in ganz Frankreich wirksame Behörde, die von 1914 bis 1919 existierte, war das bereits erwähnte Bureau de la presse, das im August 1914 eingerichtet worden war und dem Kriegsministerium unterstand. Es verfügte über eine landesweite Kompetenz, besaß ein eigenes Informationsressort und beschäftigte zwischen 1914 und 1919 insgesamt etwa 400 Zensoren. Dabei unterschied sich das Bureau in seiner Funktion erheblich von den Kontroll- bzw. Zensurkommissionen, die für die Lokalpresse zuständig waren, in ihrer Struktur den 22 französischen Militärbezirken entsprachen und insgesamt 5000 Zensoren beschäftigten (pro Kommission zwischen zwei bis fünf Zensoren). Zwischen 1914 und 1919 wurden zudem etwa 1100 Vorschriften erlassen, die die Aufgabe der Zensoren definierten und ihre Tätigkeit begrenzten. Die Vorschriften bezogen sich sowohl auf Bilder als auch auf telegraphisch übertragene Informationen und insbesondere auf Presseerzeugnisse, also auf Druckfahnen, auf deren Basis der Zensor über die Genehmigung einer Druckerlaubnis entschied. In der allgemeinen Vorschrift vom 11. August 1914 heißt es etwa: „surveiller toutes les informations des agences de presse Fournier, Reuter, Havas, Stefani […]“, eine Vorschrift vom 29. November 1914 besagt: „envoyer à la seconde lecture toute information d’une victoire allemande“, und am 27. September 1915 lautet eine weitere Vorschrift: „défense de grossir les succès obtenus; éviter les manifestations optimistes dans la presse“. 2 In seinen 1962 veröffentlichten „Carnets secrets“ beschreibt Louis Loucheur, während des Ersten Weltkriegs Unterstaatssekretär für Artillerie und Munition, die gängige Zensurpraxis wie folgt: „La séance commence, Briand donne de vagues renseignements sur la Grèce, l’amiral Lacaze demande qu’on suspende Le Journal parce qu’il a publié sans les soumettre à la Marine des nouvelles alarmantes sur la guerre sous-marine […].“ 3 Da die Zensurvorschriften von unterschiedlichen Behörden stammten und verschiedene politische Zwecke erfüllen sollten, widersprachen sie einander nicht selten. Dies führte beinahe jeden Tag zu neuen Beschwerden seitens Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine, Nanterre (BDIC) F 270 CG, Présidence du Conseil, Vorschriften von 1914 und 1915. 3 Louis Loucheur, Carnets secrets 1908–1932. Présentés et annotés par Jacques de Launay. Brüssel u. a. 1962, 33. 2

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der Medien, wobei vor allem das Kriegsministerium im Zentrum der Kritik stand, das seine Macht über das Pressebüro ungehindert ausübte. Tatsächlich übte während des Krieges nicht nur Abel Ferry im Parlament scharfe Kritik daran, daß es scheinbar an einer effizienten Kontrolle des Bureaus seitens der Regierung mangele. In Loucheurs „Carnets secrets“ heißt es unter dem Datum des 4. Mai 1915 bezeichnenderweise: „Le Conseil des ministres commence par son habituel hors d’œuvre. Le président de la République et un ou deux ministres se plaignent de la censure dont le ciseaux coupent pas assez ou trop. On ne saura jamais combien la censure aura été indépendante du pouvoir gouvernemental, autant que des journalistes.“ 4 Allerdings wurden die Zensurvorschriften in Wahrheit unter Beteiligung sämtlicher Ministerien erlassen. Die Zensoren selbst aber waren alles andere als mittelmäßige Verächter der Republik, sondern nicht selten leuchtende Sterne am Presse- und Verlagshimmel wie etwa Guillaume Apollinaire. In ihrem 1919 gegründeten Verein „Le Crayon bleu“ fanden sich in den ersten vier Jahren 184 ehemalige Zensoren zusammen, darunter 30 Journalisten – unter ihnen bekannte Gesichter der Pariser Zeitungslandschaft wie etwa Gilbert Talabard von „Le Matin“, Lucien Corpechot von „L’Echo de Paris“ oder Armand Charpentier von „Le Radical“, der bis 1917 Vizepräsident der radikalsozialistischen Partei gewesen war, bevor er der Section française de l’Internationale (SFIO) beitrat. 5 Tatsächlich läßt sich das Verdikt Abel Ferrys durch eine Untersuchung der sozialen und politischen Struktur des Pressebüros leicht entkräften. Durch den kritischen Blick der Abgeordneten stand die Zensurbehörde unter einer strengen, freilich nicht lückenlosen Kontrolle durch Regierung und Parlament. Trotz gewisser Freiräume bei der Ausübung der Zensurtätigkeit sah sich das Pressebüro dem Druck einer permanenten Kontrolle ausgesetzt. Ohne Zweifel ist die subjektive Komponente bei der Anwendung und Auslegung der Zensurvorschriften nicht zu unterschätzen. Tatsächlich läßt sich die praktische Umsetzung der Zensurregeln oft leichter an jenen Vorschriften ablesen, die von der Presse nicht befolgt wurden – sei es durch Umgehungsstrategien oder die Aufteilung von Informationen auf verschiedene Zeitungen –, als an drakonischen Maßnahmen wie der Beschlagnahmung oder dem Verbot einer Zeitung. Solche Sanktionen waren nicht zuletzt deshalb äußerst selten, weil sämtliche Premierminister und Kriegsminister einen politischen Kompromiß mit den vier 1914 etablierten 4 5

Abel Ferry, Carnets secrets 1914–1918. Paris 1957, 72. Forcade, La censure (wie Anm. 1), Vol. 1, 183.

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unabhängigen Tageszeitungen mit Millionenauflage anstrebten: „Le Journal“ (zweimal suspendiert), „Le Petit Journal“, „Le Petit Parisien“, „Le Matin“ (nie suspendiert, jedoch ein- bis fünfmal während des Krieges beschlagnahmt). Ein solcher Kompromiß war mit Meinungs- oder Gewerkschaftsblättern weitaus schwieriger zu erzielen, wenn auch politisch weniger bedeutsam. Die Anzahl der landesweit verhängten Höchststrafen (sie trafen „L’Homme enchâiné“ sowie „L’œuvre“ von Gustave Téry, der sich der Zensur konsequent widersetzte) war während des Krieges eher gering. Eine Ausgabe von „Le Figaro“ etwa, ein konservatives Blatt, das zwischen 1914 und 1918 eine durchschnittliche Auflage von 40000 Exemplaren pro Tag erreichte, wurde in den Kriegsjahren ein einziges Mal beschlagnahmt – als das Blatt im März 1917 den Rücktritt von General Lyautey vom Posten des Kriegsministers vorzeitig bekanntmachte. 6 Bereits am 3. August 1914 hatte die Redaktion von „Le Figaro“ das akzeptiert, was den Chefredakteuren aller großen Tageszeitungen im ElyséePalast von der Regierung angetragen worden war: das Prinzip einer Vorzensur durch die Exekutive. Die Schriftsteller und Journalisten Alfred Capus (1858–1922) und Robert de Flers (1872–1927), die leitenden politischen Redakteure des Blattes, sowie der Geschäftsführer Georges Prestat schlossen sich daraufhin dem Syndicat de la presse parisienne sowie der Pressekommission an, die die wirtschaftlichen Interessen der Presse schützte und die Auslegung des Gesetzes vom 29. Juli 1881 über die Pressefreiheit überwachte. Dem Chefredakteur von „Le Figaro“, Emile Berr, waren die Lücken in den Kriegsberichten des GQG, die der Journalist Avril jeden Abend im Kriegsministerium entgegennahm, freilich nur zu bewußt. So schrieb er am 22. August 1914: „Les gens qui nous renseignent au ministère de la Guerre ont des euphémismes irritants. Leurs communiqués annoncent que l’offensive allemande est arrêtée en Lorraine. Cela veut dire que Nancy n’est pas pris […].“ 7 Am 23. August heißt es dann weiter: „Nous reculons à l’Est. Rien n’indique que nous reculons au Nord.“ 8 Joseph Reinach, ein weiterer Mitarbeiter der Zeitung, bestätigte mit seinen Polybios-Kommentaren zur militärischen Lage die vom GQG manipulierten Informationen, auch wenn er aufgrund seiner Kontakte zum Oberkommando eine privilegierte Stellung genoß. Dennoch hielt Emile Berr die Zensur während des Krieges für 6 Dazu ders., Le Figaro en guerre ou en crise?, in: Claire Blandin (Ed.), Le Figaro: histoire d’un journal. Paris 2010, 249–274. 7 Institut de la mémoire et de l’édition contemporaine, Journal d’Emile Berr, 22.8.1914. 8 Ebd. 23.8.1914.

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notwendig. Seinem Tagebuch vertraute er am 8. April 1915 an: „Je persiste à n’avoir pas horreur de la censure. Elle m’oblige à la modération et à la politesse. Elle m’interdit le courage facile d’être impertinent, du ridicule de traiter d’un peu trop haut des ministres qui ne peuvent ou ne veulent pas se défendre. Et si j’ai raison contre eux, elle m’habitue à y mettre mesure et esprit.“ 9 Ist dies nun als achtbare Selbstverleugnung einer Zeitung zu verstehen, die sich bewußt darauf einstellte, vollständig in den staatlichen Propagandaapparat integriert zu werden, oder skizziert Berr hier lediglich den in praktischer Hinsicht einzig gangbaren Weg? Tatsächlich äußert sich in den Notizen Emile Berrs ein in der Welt der Medien seinerzeit weit verbreiteter Standpunkt. Ende 1915 gewannen die bis dahin uniform gehaltenen Informationen (es waren weder Schlagzeilen noch Zeichnungen zugelassen) und die ein wenig sterile Aufmachung des „Figaro“ durch die nun wieder erlaubten Illustrationen von Jean-Louis Forain (1852–1931) eine neue Note. Am 12. Januar 1916 erschien dessen erste Zeichnung mit dem Titel „Leurs tranchées“. Vorerst wurde in den Zeichnungen und Photoreportagen, die mit der Darstellung des Krieges in Zusammenhang standen, jede emotionale Nuance vermieden, um einem Verbot durch die Zensur zu entgehen. „Le Figaro“ ging also im Ganzen betrachtet einen Kompromiß ein, der zwischen der Leitung des Blattes, hohen politischen Funktionsträgern wie René Viviani, Aristide Briand, Raymond Poincaré oder Stéphen Pichon und den zuständigen Zensoren täglich neu verhandelt werden mußte.

II. Die Interaktion zwischen Zensur und Propaganda anläßlich der Schlacht von Verdun 1916 Mit dem Zusammenwirken von offizieller Zensur und Propaganda einerseits, der vorauseilenden Selbstzensur sowie spontanen Propagandaaktionen andererseits wurde ein moderner Manipulationsprozeß in Gang gesetzt, der – etwa im Falle der Schlacht von Verdun 1916 – als „mobilisation culturelle“ bezeichnet werden kann. Auf französischer Seite erforderte die Abschirmung der Militäroperationen seit dem 21. Februar 1916 eine deutlich strengere Kontrolle des Informationsflusses durch das GQG unter General Joffre. Sie führten zu einer engmaschigen Überwachung der Informationen durch das GQG, das unmittelbar mit jenen Zeitungen kooperierte, 9

Ebd. 8.4.1915.

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die bereit waren, die offizielle Version der Nachrichten zu bringen. Ohne jemals Verlustzahlen bekanntzugeben, was strikt untersagt war, erläuterte Joseph Reinach etwa die weniger strategischen als moralischen Grundlagen der deutschen Offensive. 10 Reinachs tägliche Kommentare in „Le Figaro“ wurden dabei maßgeblich durch die Informationen bestimmt, die ihm vorzugsweise vom GQG übermittelt wurden, wie dies aus dem „Journal inédit“ Oronce de Galberts hervorgeht, der seit 1915/16 stellvertretender Kabinettschef von Joffre war. 11 So wurde etwa George Clemenceaus Artikel „La crise de Verdun“, der ursprünglich als Aufmacher für die Ausgabe der Zeitung „L’Homme enchaîné“ vom 5. März 1916 vorgesehen gewesen war, in letzter Minute entschärft. Statt dessen beklagte er nun in allgemeineren Wendungen die Abnutzung der Truppen und plädierte dafür, das Leben der Soldaten zu schonen. Zwar kritisierte Clemenceau nach wie vor die Sorglosigkeit und das Versagen des Militärkommandos, das Ausmaß der Kritik war von der Zensur jedoch kaschiert worden. Mundtot gemacht, konnte die Presse – dem Vorsitzenden der Commission sénatoriale de l’armée zufolge – selbst gemeinsam mit dem Parlament kaum mehr über die Beschlüsse der Regierung und des Oberkommandos wachen und hatte zudem mit wachsenden administrativen Problemen zu kämpfen. Als Zeichen der Solidarität zwischen den großen Zeitungen druckte „Le Petit Parisien“ einige Tage später in den Pressestimmen einen Auszug aus dem zensierten Artikel des „L’Homme enchaîné“ ab: „L’ennemi stupéfait de l’extraordinaire mélange d’audace et d’endurance qui lui est opposé, envoie, sans compter, des bataillons à la mort tandis que son artillerie, à laquelle la nôtre peut imposer silence, sème la dévastation dans les rangs impassibles de nos héroïques soldats. Si la position de Douaumont venait à être enlevée, grâce à une incroyable accumulation de fautes sur lesquelles on essaya vainement de jeter le voile, la ville de Verdun, déjà si cruellement endommagée, ne serait plus qu’un réceptacle d’obus.“ 12 Clemenceaus Beitrag kann gewissermaßen als Prototyp einer Überschreitung der teils expliziten, teils impliziten Regeln des geltenden Informationssystems betrachtet werden. Das GQG beantragte denn auch ein zeitweiliges Verbot der Zeitung beim Kriegsminister, General Gallieni, der jedoch zurückhaltend reagierte. In dem Artikel wurden fünf Momente Le Figaro, 28.2.1916. Vgl. Gilles Neviaski, Le GQG d’après le Journal du commandant Oronce de Galbert (1874–1916). 30 août 1915–22 mai 1916. Mémoire de maîtrise sous la direction de Georges-Henri Soutou. Paris 1996, Vol. 1–2. 12 L’Homme enchaîné, 5.3.1916; Le Petit Parisien, 6.3.1916. 10 11

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benannt, die den stillschweigend vorausgesetzten Prinzipien der Regierungszensur widersprachen. Clemenceau erwähnte das Verbot, über die militärischen Erfolge Deutschlands zu sprechen; er prangerte die Leichtfertigkeit des Oberkommandos bei der Durchführung der Operationen an 13; er sprach von der Unzulänglichkeit der schweren französischen Artillerie gegenüber der deutschen; er bezog Stellung gegen die Instrumentalisierung der Zensur zur bewußten Fehlinformation der Öffentlichkeit; und er betonte das massenhafte Sterben, was die Schwere der Situation bekräftigte. Seit Herbst 1914 beschränkte sich die Zensur nicht mehr auf militärische und diplomatische Informationen, sondern galt auch für den politischen und kulturellen Bereich. Und im März 1916 verschärfte das Bureau sukzessive die Vorschriften zum Verbot von vermeintlich zu deskriptiv angelegten Presseberichten über die Schlacht von Verdun. Was aber sagt der zensierte Text aus der Feder Georges Clemenceaus eigentlich aus? Die Wahrnehmung des Artikels durch die politischen und militärischen Stellen verdeutlicht einmal mehr den gravierenden Interessenkonflikt zwischen der Propagandaabteilung des GQG, die nach den ersten sehr schwierigen Kampfwochen auf eine durchgreifende Informationskontrolle setzte, und der Regierung, die auf das Wohlwollen des Parlaments angewiesen war. Der Regierung war es vor allem darum zu tun, den einzelnen Soldaten zu heroisieren, zugleich jedoch die Bedeutung der Schlacht um Verdun, die nicht die letzte dieses Krieges sein sollte, herunterzuspielen. Offensichtlich fürchtete man, die öffentliche Meinung weder im Inland noch im Ausland beherrschen zu können. Infolgedessen wurden selbst in den Zensurvorschriften des Kriegsministeriums die übertriebenen Propagandaregeln, wie sie das GQG zu Kriegsbeginn lanciert hatte, schrittweise korrigiert. So folgten die Vorschrift vom 21. Februar 1916 („silence à Verdun sur les mouvements des Allemands et des Français“) und das Verbot, die „emplacements des armées“ bekanntzugeben, sowie die Vorschrift vom 27. Februar 1916 („l’interdiction des statistiques de morts de blessés par groupes corporatifs ou par catégories“). Auf französischer Seite wurden die Informationen über Verdun mithin systematisch manipuliert. Tatsächlich wußte man, daß die deutsche Presse, die ebenfalls der Militärzensur unterstand, wie etwa die „Frankfurter Zeitung“ und die „Münchener Neuesten Nachrichten“, von einem überraschend raschen und leichten Vormarsch am Westufer der Maas berichtete, 13

Dazu Henri Morin, A l’écoute devant Verdun. Paris 1938.

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der auf die Überlegenheit der deutschen Artillerie zurückzuführen war. Die deutsche Propaganda zeichnete weiterhin das Bild einer ausgebluteten französischen Armee, während sie sich über die eigenen Niederlagen – etwa das Versagen der Falkenhayn-Strategie Ende März 1916 in Verdun – ausschwieg. In Frankreich verbreiteten die Behörden hingegen etwa detaillierte Berichte über deutsche Verluste just zu dem Zeitpunkt, als das Comité secret der Abgeordnetenkammer am 16. Juni 1916 zu seiner ersten Sitzung zusammenkam. Die von der Presseagentur Havas stammenden Informationen über die deutschen Verluste vor Verdun, die über die Maison de la presse liefen, wurden am 20. Juni 1916 zensiert. Tatsächlich waren die deutschen Verluste weitaus geringer, als man den Franzosen in diesen Wochen glauben machen wollte. Gleichzeitig wurden die Informationen über französische Verluste nach unten korrigiert, bevor sie das Oberkommando verbreitete. Durch eine subtile Verflechtung von Zensur und Propaganda wurde darüber hinaus auch die Interpretation scheinbar optimistisch stimmender Informationen beeinflußt, da diese möglicherweise Enttäuschungen in der Öffentlichkeit hätten auslösen können. Das Ringen um Verdun war nicht zuletzt auch eine Informationsschlacht zwischen Zensur und Propaganda, die auf mehreren Ebenen ausgetragen wurde. Die politische Zensur wurde von der gesamten politischen Klasse stillschweigend übernommen, so daß das Parlament im Frühjahr 1916 schließlich darauf verzichtete, neue gesetzliche Bestimmungen über die Zensur zu beschließen. Nachdem am 10. Mai 1916 in „Le Matin“ sowie in „Le Petit Parisien“ ein unzensierter Artikel erschienen war, der den Konflikt zwischen Joffre und Castelnau während der ersten Kämpfe vor Verdun schilderte, beschloß die Commission de l’armée de la Chambre am 12. Mai einstimmig (unter Beteiligung der sozialistischen Abgeordneten Pierre Renaudel und Alexandre Bracke), die Zensur weiter zu verschärfen, um zu verhindern, daß das Oberkommando in der Öffentlichkeit bloßgestellt würde. Aristide Briand, der versicherte, dieser Artikel sei keineswegs darauf gerichtet gewesen, Joffre zu schwächen, lehnte hingegen jede Änderung der Zensurbestimmungen ab. 14 Im Grunde zeigt diese Affäre, daß sich die Nachgiebigkeit der Zensoren hinsichtlich der auflagenstarken Generalanzeiger ebenso nachteilig auswirken konnte wie die politische Instrumentalisierung der Zensur. Auf größere Verluste waren die Behörden nicht vorbereitet, was zu einer Heroisierung einzelner Schlachten beitrug. Der Raymond Poincaré, Au service de la France. Neuf années de souvenirs. Vol. 8. Verdun 1932, 213.

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Schrecken des Krieges wurde von der Zensur heruntergespielt, geleugnet oder gar als patriotische Übertreibung abgetan, wodurch etwa die Blut-, Schweiß- und Tränenrhetorik in der nationalistischen Presse während der Kämpfe um Fort de Vaux konterkariert wurde. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang sind die Entwürfe und Korrekturbögen des Romans „Les derniers jours du fort de Vaux (9 mars–7 juin 1916)“ von Henry Bordeaux, der im Herbst 1916 erschien. 15 Die Mehrheit der Presse akzeptierte, wie gesagt, das Grundprinzip der Zensur während des Krieges, und dies galt in besonderem Maße für den Kampf um Verdun. Das Syndicat de la presse parisienne, das von dem einflußreichen Senator und Besitzer des „Petit Parisien“, Jean Dupuy (1846–1919), geleitet wurde, und der Verband der Pariser Journalisten unter Senator Alfred Mézières (1826–1915) unterstützten das geltende Kontrollregime. Dabei definierten die Presseunternehmen klare wirtschaftliche und finanzielle Interessen. Der Krieg zeigte jedenfalls, daß kapitalistischer Geschäftssinn keinesfalls unvereinbar war mit patriotischen Überzeugungen. Nur die Association de la presse républicaine départementale sowie die unabhängigen Meinungsblätter lehnten die Zensur im Frühjahr 1916 ab. Das Prinzip einer vorbeugenden Zensur wurde – ungeachtet lautstarker, aber im wesentlichen symbolischer Proteste – von der französischen Presse nur gelegentlich in Frage gestellt. Sie hatte sich bereits beinahe vollständig mit ihr abgefunden, als sich 1917 abrupt ein Kurswechsel vollzog. Der Grund hierfür lag in den immer unglaubwürdiger werdenden Propagandaberichten, die die Leser abschreckten, was im zweiten Halbjahr 1917 zu einem allgemeinen Sturz der Zeitungsauflagen führte. Dabei mokierten sich die Leser weniger über die Staatsgeheimnisse, die nach wie vor hinter den Kulissen der Macht verborgen waren, als über Gerüchte und Lügenmärchen – eine Kritik, die sich vor allem an die Adresse der Generalanzeiger richtete. Dabei ist es durchaus vorstellbar, daß der Umgang mit den Regeln der staatlichen Informationspolitik manchen Leser darin schulte, relevante Informationen über den Krieg gerade aus dem Nichtgedruckten herauszulesen – ein mühsames Geschäft, das jedoch geeignet schien, die Absichten der Zensur zu unterlaufen. In dieser Perspektive stellt sich daher die Frage, ob und inwieweit das Verhalten der Franzosen während des Ersten Weltkriegs von der Perzeption dessen beeinflußt wurde, was man ihnen mit Hilfe der Zensur vorenthielt.

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Henry Bordeaux, Les derniers jours du fort de Vaux (9 mars–7 juin 1916). Paris 1916.

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III. Nationale Gemeinschaft und öffentliche Meinung während der Streiks von 1918 Die Verflechtung von Zensur und Propaganda im Sinne eines Informationssystems hat sich im Laufe des Krieges immer weiter verfeinert. Zwischen 1914 und 1918 gehorchte dieses Informationssystem den Herausforderungen einer nationalen Gemeinschaft, die um nichts Geringeres kämpfte als um das eigene Überleben. Eine solche Betrachtungsweise ist freilich eine nachträgliche Interpretation. Für Briand etwa war die Zensur zwischen 1915 und 1917, für Clemenceau entsprechend nach 1917 ein fester Bestandteil der Macht selbst, und sie stand der Nation gewissermaßen gegenüber. Die Zensur erschien als Teil einer Informationsstrategie, die sowohl der Innen- als auch der Außenpolitik diente und beide Bereiche zugleich miteinander verband. Dies wird sehr deutlich angesichts der drohenden Niederlage Frankreichs, die durch eine Welle von Streiks zwischen Ende April und Juni 1918 greifbar nahe schien und – wie Jean-Jacques Becker betont hat – schließlich nur mit Hilfe der Zensur abgewendet werden konnte. Die Arbeiterproteste gegen den Krieg wurden vom aufstrebenden Flügel der Gewerkschaftsbewegung, dem revolutionär ausgerichteten Comité de défence syndicaliste, angeführt und fanden vor allem in der Umgebung von Paris und an der Loire statt. Das Schweigen der Medien angesichts dieser Streiks mag als aufschlußreiches Beispiel für die Wirkung der Zensur gelten. Kein Wort fiel in den großen Generalanzeigern über die 200000 Metallarbeiter, die im April und Mai 1918 in Paris und in den Departements Isère, Nièvre und Gard die Arbeit niederlegten. Sowohl in Paris als auch in der Provinz wurden die Ereignisse nach Maßgabe der Zensurvorschrift vom 11. April 1918 verschleiert. Die Erinnerung an die Streiks von 1917 war nach wie vor präsent, und seit März 1918 drohte nun nicht nur die deutsche Offensive die französische Front zu durchbrechen – auch der nationale Zusammenhalt schien durch die deutsche Propaganda gefährdet. Aus diesem Grund wurden die Streiks selbst vom offiziellen Presseorgan der SFIO, „L’Humanité“, erst am 19. Mai 1918 erwähnt, und auch dies nur beiläufig. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Streikenden ihre Arbeit bereits wieder aufgenommen. Auch national gesinnte Blätter sowie die Gewerkschaftspresse behandelten das Thema nur oberflächlich, ohne näher auf Tragweite, Motive, Ort und Dauer der Streiks einzugehen. Die mangelnde Koordination zwischen den Pariser Medien und der Presse an der Loire machte es der Zensur sehr einfach, effizient zu agieren. Während die Pariser Bewegung, die am 81

18. Mai ihr Ende fand, deutlich heruntergespielt wurde, wurden die Proteste in der Provinz schlichtweg totgeschwiegen. Die Berichte in „Le Populaire“ de Paris im Mai und Juni 1918 waren von der Zensur manipuliert, und „Le Temps“ erwähnte die Ereignisse am 20. Mai 1918 knapp, als die Streiks bereits beendet waren. In Toulouse wiederum hatte man – aufgrund der Streiks von 1917 – im April 1918 äußerst strenge Zensurvorschriften eingeführt, die ein vollständiges Berichtsverbot beinhalteten. In der Regionalpresse wurden der Streik der Minenarbeiter von Decazeville sowie die Proteste der monteuses vom 2. bis zum 8. Juni 1918 lediglich ein einziges Mal erwähnt. Eine vollständige Verschleierung dieser Streiks war zwar weder in der überregionalen noch in den lokalen Blättern auf Dauer möglich. Gleichwohl erklärte Léon Daudet, der wortgewaltige Anhänger der Action française und Befürworter der Zensur, im Juli 1918 während des Malvy-Prozesses, die Presse solle „réserver la question des grèves ou en parler beaucoup. Je crois que l’attitude de la presse parisienne a été excellente pour la cessation de ces mouvements […].“ Insgesamt hatten die Zeitungen die Zensurvorschriften ohne Wenn und Aber befolgt, selbst die sozialistisch und gewerkschaftlich orientierte überregionale Presse hatte sich mit äußerst sparsamen Darstellungen begnügt, ohne sich deutlich von den Generalanzeigern abzusetzen. 16 In der Tat bestand ein breiter Konsens darüber, der Krieg könne noch immer gewonnen werden, wenn nur die öffentliche Meinung kämpferisch genug sei. So ist es denn auch kaum zu Verstößen gegen Zensurvorschriften oder gar zur Beschlagnahmung von Zeitungen gekommen – mit Ausnahme des pazifistischen Wochenblatts „La Vague“, das dreimal konfisziert wurde. Zwar gelang es den staatlichen Stellen nicht, mit Hilfe der Zensur alle Entwicklungen des Krieges im Verborgenen zu halten. Wohl aber konnten sie noch im letzten Kriegsjahr die Verbreitung von Informationen einschränken oder verhindern. So war es möglich, daß sich Ereignisse wie die Massenstreiks im Frühjahr 1918 nicht auf die öffentliche Meinung auswirkten, da nur einzelne Teile der Bevölkerung von ihnen erfuhren. Als in Paris die Streiks begannen, blieb dies in der Provinz weitgehend unbemerkt. Dies verhinderte, daß der revolutionäre Funke rasch überspringen konnte, was zu Pazifismus und Defätismus und im schlimmsten Fall zur Niederlage Frankreichs hätte führen können. Auch wenn dem Streik vom Mai 1918 eine nationale Bedeutung zukam, wurde er von der französischen 16

Forcade, La censure (wie Anm. 1), 807.

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Bevölkerung nicht als solcher wahrgenommen. Die nationale Gemeinschaft verlangte Opfer, und die meisten Franzosen waren nolens volens bereit, sie zu entrichten. Darüber hinaus galt es zu verhindern, daß man in Deutschland von der Streikwelle erfuhr, da zu befürchten stand, die deutsche Propaganda könne sie für ihre Zwecke instrumentalisieren. Eine weitere Sorge galt einer möglichen bolschewistischen Indoktrination der streikenden Arbeiter, und dies war auch der Grund dafür, daß die Regierung Clemenceau den Belagerungszustand und damit die Zensur bis Oktober 1919 aufrechterhielt. Noch interessanter freilich ist die Deutung, die den Streiks von 1918 durch das politische Frankreich beigemessen wurde. Der Konsens aller parlamentarischen Kräfte in diesem Fall zeigt, daß die Zensur selbst am Ende der Union sacrée, also seit Oktober 1917, noch uneingeschränkt wirksam war. Tatsächlich wurden die Streiks, wie bereits erwähnt, im April und Mai 1918 lediglich in „L’Humanité“ berücksichtigt. Und es spricht viel dafür, daß die Mehrheitssozialisten auch nach dem Auseinanderbrechen der Union sacrée eine Kontrolle über die sozialistische Minderheit ausübten, die sich parteiinterner Zensurmaßnahmen bediente. Wie Jean-Jacques Becker und Jean-Louis Robert gezeigt haben, läßt die Einbettung der französischen Arbeiter in die nationale Gemeinschaft während des Krieges weitreichende Schlußfolgerungen zu. 17 Die SFIO trug im Frühjahr 1918 zur Mäßigung der Streikenden bei, indem sie die politische Zensur der Regierung Clemenceau unterstützte. Aufschlußreich ist dies nicht zuletzt mit Blick auf den Funktionswandel der Zensur während des Krieges: Zwischen 1914 und 1918 wurde sie zu einer politischen Praxis, die auf die Errichtung eines homogenen Nationalstaates im Krieg zielte. Darüber hinaus ermöglichte die Zensur durch die Veröffentlichung kompromittierender Informationen, die politischen Gegner, allen voran Pazifisten und Defätisten, auszugrenzen und publizistisch mundtot zu machen. Die Idee einer einheitlichen Nation, einer neuen Republik, beförderte angesichts der Streikenden von 1918 einen befristeten Schulterschluß sogar zwischen Vertretern der SFIO und der Action française.

17 Jean-Jacques Becker, La France en guerre 1914–1918. La grande mutation. Brüssel 1988; ders., Les Français dans la Grande Guerre. Paris 1980; Jean-Louis Robert, Les Ouvriers, la Patrie et la Révolution. Paris 1914–1919. Besançon 1989.

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IV. Resümee Das französische Informationssystem während des Ersten Weltkrieges wurde fortlaufend optimiert und von den Regierungen zwischen 1915 und 1918 aufrechterhalten, wobei Briand und Clemenceau eine besondere Rolle zukam. Denn wenn ein kurzer Krieg sich mit einer improvisierten Überwachung der öffentlichen Meinung begnügen kann, so zwingt ein langer Krieg zu einer umfassenden und engmaschigen Kontrolle des Informationsflusses. Die Jahre zwischen 1914 und 1918 waren daher nicht zuletzt ein Experimentierfeld für die Meinungskontrolle in einem modernen Krieg. Die entsprechenden Kontrollmaßnahmen wurden dabei vorrangig im nationalen Rahmen umgesetzt und mit den Bündnispartnern nur insoweit abgestimmt, als sie nicht vitale Interessen, Kriegsziele oder Friedensinitiativen betrafen. Eine systematische Koordination der Zensur zwischen London, Paris und den verbündeten Mächten fand daher nur punktuell statt, wie dies etwa die Balkanfrage und die Griechenlandproblematik zwischen 1914 und 1917 zeigen. 18 Im französischen Fall war die Zensur eine Bedingung der Union sacrée und zugleich eine Praxis, die über die Kontrolle militärischer und diplomatischer Informationen weit hinausging. Die Instrumentalisierung der politischen Zensur durch die Regierung diente der Konstruktion der Nation im Krieg, indem die sozialen, kulturellen und patriotischen Überzeugungen unterschiedlicher Bevölkerungskreise miteinander in Einklang gebracht wurden. Ob die Zensur damit nicht paradoxerweise die nationale Einheit nach 1919 im Sinne eines Pazifismus des „Nie wieder Krieg“ begünstigt hat? Indem sie die Gewalt des Krieges verschleierte, verhinderte sie jedenfalls, daß das ganze Ausmaß der materiellen und menschlichen Zerstörung ins kollektive Bewußtsein trat. Das unvollständige Bild, das auf diese Weise vom Krieg entstand, zögerte den Widerstand gegen die Grande Guerre bis zum Ende hinaus. Erst nach 1918 wurde der Krieg an sich in der Öffentlichkeit massiv abgelehnt.

Elli Lemonidou, La Grèce vue de France pendant la première guerre mondiale entre censure et propagandes. Thèse de doctorat sous la direction de Georges-Henri Soutou. Paris 2007.

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Die französischen Katholiken und der Erste Weltkrieg Die Rückkehr aus der Sondergesellschaft Von

Michael Hoffmann Anfang Oktober 1915 trafen sich der einflußreiche Präsident der Senatskommission für auswärtige Angelegenheiten, Georges Clemenceau, und der Generalmajor Édouard de Curières de Castelnau nahe der Front in der Champagne, um die Kriegslage nach der Septemberoffensive und vor dem anstehenden zweiten Kriegswinter zu erörtern. Beide waren sich aus der politischen Auseinandersetzung der Vorkriegszeit bekannt und, so kann man sagen, nicht sonderlich wohlgesonnen. Während de Castelnau und seine Familie die katholisch-monarchistische Rechte in der Gesellschaft repräsentierten, hatte sich Clemenceau als entschiedener Demokrat und Laizist, ja bisweilen auch als Antiklerikaler gezeigt und den General de Castelnau einst als „gestiefelten Kapuzinermönch“ („capucin botté“) bezeichnet. Als Clemenceau in den Unterstand de Castelnaus trat, soll dieser sich deshalb auch mit „Jawohl, Castelnau, der gestiefelte Kapuziner“ gemeldet haben, worauf Clemenceau die für seinen energischen Charakter bemerkenswerten Worte fallen ließ: „Jawohl, ich habe freilich Dummheiten in meinem Leben gesagt. Ich versuche einige davon wiedergutzumachen.“ Vier Monate später, im Februar 1916, wurde de Castelnau auf Drängen Clemenceaus zum Chef des Generalstabs der französischen Armee befördert. 1 Diese Anekdote am Rande der Kämpfe in der Champagne im Herbst 1915 illustriert en miniature einen Wandel in der französischen Gesellschaft während des Ersten Weltkriegs, der als Rückkehr der Katholiken aus der Sondergesellschaft bezeichnet werden kann. Dieser Titel mag gleichwohl zunächst etwas befremdlich erscheinen: Wie konnten in einem überDie ganze Geschichte hatte der katholische Senator Gustave de Lamarzelle dem Vorsitzenden des Institut catholique von Paris, Kardinal Alfred Baudrillart, erzählt, der sie in seinem Tagebuch verzeichnet hat. Dieses Tagebuch ist eine außerordentlich wertvolle Quelle für die Beziehungen zwischen Staat und Kirche während des Krieges: Paul Christophe (Ed.), Les carnets du Cardinal Baudrillart. 1914–1918. Paris 1994, 254 (Eintrag v. 12.10.1915).

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wiegend katholisch geprägten Land wie Frankreich, in dem frühneuzeitliche reformatorische Bewegungen ja systematisch bekämpft bzw. vertrieben worden waren, gerade die Katholiken vor dem Ersten Weltkrieg in eine Art Sondergesellschaft abdriften, aus der sie dann auch noch im Gefolge des Krieges selbst zurückkehren konnten? Die Antwort auf diese Frage, und damit die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für den französischen Katholizismus im allgemeinen, läßt sich nur vor dem Hintergrund der Entwicklung der politischen Kultur in Frankreich während des 19. Jahrhunderts verstehen. Diese soll nun im folgenden zunächst in der gebotenen Kürze vorgestellt werden, bevor auf das eigentliche Untersuchungsfeld, die französischen Katholiken und der Erste Weltkrieg, eingegangen werden wird. Das wesentliche innenpolitische Kennzeichen Frankreichs im 19. Jahrhundert war die Tatsache, daß es zwei politische Kulturen gab, eine sogenannte „rechte“ und eine sogenannte „linke“, die sich vom Bereich der Ideologie und der Weltanschauung bis hin zur Mentalität und zum Verhalten im Alltag auf der untersten gesellschaftlichen Ebene erstreckten. 2 „Links“ und „Rechts“ waren insofern nicht nur politische Optionen für oder wider eine bestimmte Form der Herrschaft und sind daher auch nicht identisch mit den ideengeschichtlichen Strömungen Konservatismus bzw. Liberalismus. Sie sind von diesen beeinflußt, umfassen jedoch auch kulturell-mentale Bereiche der alltäglichen Lebenswelt. „Links“ und „Rechts“ spiegelten auch nur in ganz geringem Maße die sozialökonomische Spaltung der französischen Gesellschaft wider. Auf beiden Seiten finden sich Arbeiter, Bauern, Bürgertum und Adel, wenngleich städtisches Bürgertum und Arbeiterschaft eher links, Adel und Bauern eher rechts zu finden waren. 2 Grundlegend dazu Maurice Agulhon, Rechte und Linke. Kampf der Klassen oder Kampf der Ideen, in: ders., Der vagabundierende Blick. Für ein neues Verständnis politischer Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main 1995, 200–233; und Marcel Gauchet, La droite et la gauche, in: Pierre Nora (Ed.), Les lieux de mémoire. Vol. 3/1: Les France. Paris 1992, 395–467. Als exemplarische Regionalstudien seien genannt: Michael Hoffmann, Die französischen Konservativen in der katholischen Provinz. Parteigenese und politische Kultur im Doubs (1900–1930). Frankfurt am Main 2008; Manfred Kittel, Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten in Deutschland und Frankreich 1918–1933/36. München 2000; Jean Faury, Cléricalisme et anticléricalisme dans le Tarn 1848–1900. Toulouse 1980; Pierre Vallin, Paysans rouges du Limousin. Mentalités et comportement politique à Compeignac et dans le nord de la Haute-Vienne 1870– 1914. Paris 1985; Paul Bois, Paysans de l’Ouest. Des structures économiques et sociales aux options politiques depuis l’époque révolutionnaire dans la Sarthe. Paris/Le Mans 1960; Lynn Hunt, Politics, Culture and Class in the French Revolution. Berkeley 1984.

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Positiv formuliert handelt es sich um zwei politische Kulturen, die ein Menschenleben von der Geburt an über die Schulerziehung, die Vereinstätigkeit bis hin zum Sterbebett umfaßten und dieses Menschenleben in einen bestimmten Sinn- und Deutungszusammenhang stellten. „Links“ bedeutete hierbei die bewußte Anknüpfung an die Ideen der Französischen Revolution, an Aufklärung und den laizistisch-demokratischen Staat, einen fast schon religiösen Glauben an den Fortschritt und die Rolle der humanistischen Bildung sowie ein Netzwerk von gesellschaftlichen Strukturen, die von der sogenannten Jakobinertaufe, einer laizistischen Jugendweihe, Vereinen des Freisinns und der Freimaurerei bis zum laizistischen Begräbnisritus reichten. 3 „Rechts“ hingegen bezeichnete alle diejenigen, die an das alte, katholische Frankreich der Kreuzzüge und Jeanne d’Arcs anknüpfen wollten, deren Lebensrhythmus vom katholischen Kirchenjahr, von katholischer Taufe, Kommunion und Beerdigung geprägt war und die in ihrer Pfarrgemeinde und ihren Vereinen der kirchlichen Hierarchie unterworfen waren. 4 Erst in den 1890er Jahren hat dieses rechte Lager teilweise die bestehende Staatsform der Dritten Republik akzeptiert – man spricht vom sogenannten Ralliement – und dem Monarchismus abgeschworen. 5 Insbesondere die Dritte Republik hat seit ihrem Bestehen 1871 in erheblichem Maße diese kulturell-mentale Polarisierung der französischen Gesellschaft verstärkt. Unter den republikanischen Regierungen der Linken wurde nämlich der gesellschaftliche Einfluß des Katholizismus systematisch zurückgedrängt, einerseits, um damit dem rechten Lager dauerhaft zu schaden, zum anderen aber auch, um die Gegensätze im Lager der LinAus der Fülle der Literatur zur Vorstellungswelt und den Vergesellschaftungsprozessen der republikanisch-laizistischen Linken vgl. Olivier Ihl, La fête républicaine. Paris 1996; Jacqueline Lalouette, La libre pensée en France 1848–1940. Préface de Maurice Agulhon. Paris 1997; Louis Pérouas, Culte des saints et anticléricalisme. Entre statistique et culture populaire. Paris 2002; Phyllis Stock-Morton, Moral Education for a Secular Society. The Development of Morale Laïque in Nineteenth Century France. Albany, N. Y. 1988. 4 Jacques Prévotat, La culture traditionaliste, in: Serge Berstein (Ed.), Les cultures politiques en France. Paris 1999, 33–68; Philippe Contamine, Jeanne d’Arc dans la mémoire des droites, in: Jean-François Sirinelli (Ed.), Histoire des droites en France. Vol. 2. Paris 1992, 399–436; auf Deutsch in: Hedwig Röckelein/Charlotte Schoell-Glass/Maria E. Müller (Hrsg.), Jeanne d’Arc oder Wie Geschichte eine Figur konstruiert. Freiburg im Breisgau 1996, 170–219. Viele Hinweise überdies bei Gérard Cholvy/Yves-Marie Hilaire, Histoire religieuse de la France contemporaine. Vol. 1–3. Toulouse 1986–1988. 5 Philippe Levillain, Albert de Mun. Catholicisme français et catholicisme romain du Syllabus au ralliement. Rom 1983; Alexander Sedgwick, The Ralliement in French Politics, 1890–1898. Cambridge, Mass. 1965. 3

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ken durch ein gemeinsames Feindbild zu übertünchen. In mehreren Etappen erfolgte eine Laizisierung des französischen Staates, die bis heute in Europa ihresgleichen sucht, beginnend mit der Einführung der kostenlosen Staatsschule über die Autorisierungspflicht für Orden und Kongregationen und deren Unterrichtsverbot bis hin zur endgültigen Trennung von Staat und Kirche und dem Rückzug des französischen Botschafters vom Vatikan 1905. 6 Je mehr die katholische Kirche aus der französischen Gesellschaft hinausgedrängt wurde, desto stärker konnte sich eine laizistisch-republikanische Kultur entfalten, die als Negation der christlichen Lehre erscheinen mußte, auch für diejenigen Katholiken, die sich an die Republik als Staatsform ralliiert hatten. Nicht nur Fundamentalkatholiken, die den Katholizismus ohnehin als weltanschauliches System begriffen, sondern auch liberale Katholiken konnten sich spätestens nach 1905 in diese „république radicale“ nicht mehr einfinden. Im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg wurde das rechte Lager deshalb gewissermaßen ein „katholisches Lager“, in dem sich Sozialkatholiken und katholische Unternehmer, Monarchisten und republikanische Katholiken, liberale und Fundamentalkatholiken unter dem Banner der „défense religieuse“, der Verteidigung der religiösen Freiheit, zusammengeschlossen hatten. Mit Hilfe eines aufblühenden Netzwerks des Vereinskatholizismus und einem bis dato unbekannten sozialen und finanziellen Engagement der Laien, Männern und Frauen 7, trat der französische Katholizismus damit den Weg in eine Sondergesellschaft an, die die staatliche Autorität der Republik bei entsprechenden Gelegenheiten in Frage stellte und sich folgsam den antimodernistischen Direktiven von Papst Pius X. unterordnete, bis hin zu ungesetzlichen Handlungen gegen die Staatsgewalt. 8 Umgekehrt wurden überzeugte Katholiken in Verwaltung und Politik systematisch benachteiligt, kein einziger Minister zwischen 1902 und 1914 entstammte ihren Reihen. 9 6 Jean Bauberot, Histoire de la laïcité française. Besançon 1994; André Lanfrey, Les catholiques français et l’école (1902–1914). Vol. 1–2. Paris 1990; Michael Hoffmann, Laizistisches Heiligtum oder historisches Relikt? Einhundert Jahre Gesetz zur Trennung von Staat und Kirchen in Frankreich (1905–2005), in: HJb 127, 2007, 253–293. 7 Im allgemeinen Cholvy/Hilaire, Histoire religieuse (wie Anm. 3), Vol. 2, 171–228; Jean-Luc Tinchant, Au-delà des quartiers: les unions de patronages bisontins (1895– 1943), in: Gérard Cholvy/Yvon Tranvouez (Eds.), Sport, Culture et Religion: Les patronages catholiques (1898–1998). Brest 1999, 305–326; Bruno Dumons, Des femmes catholiques face à la loi. Création de la Ligue des Femmes Françaises, in: Jean-Pierre Machelon/Jacqueline Lalouette (Eds.), 1901. Les congrégations hors la loi? Paris 2002, 131–142; Hoffmann, Die französischen Konservativen (wie Anm. 2), 34–74.

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Wenn nun der Erste Weltkrieg und seine innenpolitischen Konsequenzen ein Ende der soeben geschilderten Situation bewirkt haben sollen, so bleibt die Frage, wie nun diese Veränderung auch nachgewiesen werden kann, handelt es sich doch um ein vielseitiges und komplexes Verhältnis einerseits zwischen katholischer Kirche und französischem Staat, andererseits aber auch zwischen katholischer Glaubenskultur und den laizistischen Grundwerten. Die im Jahre 1990 erschienene Arbeit von Jacques Fontana hat sich dieser Herausforderung auf breiter empirischer Basis gestellt und die verschiedenen Aspekte der Problematik beleuchtet. 10 Gleichwohl hat der Autor über die Maßen schriftliche Erklärungen, Reden und Presseartikel vor allem des gemäßigten Katholizismus in das Zentrum seiner Argumentation gestellt, ohne diese kritisch auf ihren normativen Charakter hin zu prüfen. Insofern übernimmt er allzuoft die Absichtserklärungen der Zeitgenossen als Tatsachen beziehungsweise deren Analysen als tatsächlich zutreffend. Um dieses hermeneutische Problem zu umgehen, wird sich dieser Aufsatz nun im folgenden mehr auf nachweisbare Ereignisse und Handlungen konzentrieren, die eine Rückkehr der französischen Katholiken aus ihrer Sondergesellschaft belegen. Zum ersten handelt es sich dabei um den Eintritt der Katholiken in die Union sacrée zu Kriegsbeginn sowie die Rolle der katholischen Frauenbewegung, zum zweiten um den katholischen Politiker Denys Cochin und die führende katholische Zeitung „La Croix“ und zum dritten um das Verhältnis der französischen Katholiken zu Papst Benedikt XV. Der Eintritt der Katholiken in die Union sacrée, die Raymond Poincaré am 4. August 1914 beschworen hatte, kann als geradezu vorbehaltlos bezeichnet werden. Hatten die führenden katholischen Blätter wie die fundamentalkatholische „La Croix“ oder der nationalkatholische „Echo de Paris“ noch in den Julitagen ein gewisses Verständnis für das katholische 8 Zur katholischen Sammlungspartei ALP (Action Libérale Populaire) Benjamin F. Martin, The Creation of the Action Libérale Populaire. An Example of Party Formation in Third Republic France, in: French Historical Studies 9, 1976, 660–689. Mit Blick auf das Verhältnis von katholischer Parteiorganisation und katholischem Milieu vgl. Michael Hoffmann, Ordnung, Familie, Vaterland. Wahrnehmung und Wirkung des Ersten Weltkriegs auf die parlamentarische Rechte im Frankreich der 1920er Jahre. München 2008, 48–54; als regionales Beispiel vgl. Nadine-Josette Chaline, Des catholiques normands sous la Troisième République. Crises, Combats, Renouveaux. Le Coteau 1985, und Pierre Barral, Le département de l’Isère sous la Troisième République 1870–1940. Histoire sociale et politique. Paris 1962. 9 Maurice Larkin, Religion, Politics and Preferment in France since 1890. La Belle Epoque and its Legacy. Cambridge/London 1995. 10 Jacques Fontana, Les catholiques français pendant la Grande Guerre. Paris 1990.

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Habsburgerreich gezeigt, so reihten sie sich spätestens nach dem deutschen Überfall auf Belgien in den französischen Kriegskonsens ein, nach dem der Verteidigungskampf Frankreichs ein Kampf für „droit et justice“ sei. 11 Die gesamte katholische Presse und auch wichtige Teile des katholischen Klerus 12 bis hin zur neomonarchistischen Action française unterstützten die Mitte-Links-Regierung vorbehaltlos 13, obgleich diese nicht, wie in Großbritannien beispielsweise, die nationale Einheit widerspiegelte: ein Vertreter der Rechten, auch der gemäßigten, war nicht in die Regierung aufgenommen worden. 14 Mehr noch als diese nur in Zeitungen vorgetragene Haltung illustrieren gewisse Handlungen den katholischen Kurswechsel: Im Parlament schüttelten sich der Führer der katholischen Rechten, Albert de Mun, und der Sozialist Édouard Vaillant, die beide im Aufstand der Commune 1870/71 auf unterschiedlichen Seiten gekämpft hatten, demonstrativ die Hände. 15 Ein Vertreter des Erzbischofs von Paris und ein führendes Mitglied der Action française traten gemeinsam mit Sozialisten und Gewerkschaftlern in ein 11 La Croix v. 5.8.1914: „Plus de vains débats entre nous. Plus de querelles irritantes. […] On sent que l’union est voulue par Dieu pour la paix de la France. […] À cette heure, il n’y a plus de partis. Il y a la France éternelle, la France pacifique et résolue. Il y a la patrie du droit et de la justice tout entière unie dans le calme, la vigilance et la dignité.“ Vgl. dazu auch La Croix v. 3.8.1914: „Les catholiques français sont des bons français, qu’ils lutteront pour l’indépendance de leur patrie menacée.“ Ähnlich auch der Echo de Paris v. 4.8.1914. Allgemein für den „parti catholique et conservateur“ schreibt Kardinal Baudrillart: „Nous, au premier appel, nous nous rangeons derrière nos pires adversaires.“ Vgl. Christophe (Ed.), Les carnets (wie Anm. 1), 30 (Eintrag v. 5.8.1914). 12 Vgl. La Revue du clergé français v. 15.8.1914: „Nous combattons pour le droit et la civilisation […] contre les barbares aggresseurs de la terre sacrée“, sowie Eugène Julien, Vers la victoire, Discours 1914–1919. Paris 1920, 34f., und für den Präsidenten des Institut catholique in Paris, Kardinal Baudrillart vgl. Paul Christophe, Pour l’histoire religieuse de la Grande Guerre, d’après les carnets du Cardinal Baudrillart, in: Mélanges de science religieuse 53, 1996, 145–162. 13 Eugen Weber, L’Action Française. Paris 1963, 110–112. 14 Allerdings wurden die von den Linksrepublikanern angefochtenen Wahlkreisergebnisse der beiden katholischen Abgeordneten Grousseau und Léonce de Castelnau am 23.12.1914 ohne Einrichtung einer Kommission in der Kammer einhellig und demonstrativ anerkannt. 15 Albert de Mun hat sich in seinen Zeitungsartikeln im Echo de Paris zu Beginn des Krieges ohne Bedingungen hinter die Mitte-Links-Regierung gestellt und den Präsidenten Poincaré vorbehaltlos unterstützt. Seine nationalkatholische Haltung ließ ihn sogar gegen die Zeitung La Croix vorgehen, von der öffentliche Fürbitten der Regierung gefordert wurden, was de Muns Auffassung nach nur die alten Debatten wiederbelebt und die Einheit vor dem Feind aufgelöst hätte. Vgl. Eintrag des Kardinals Baudrillart v. 29.9.1914 in: Christophe (Ed.), Les carnets (wie Anm. 1), 80.

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Komitee der nationalen Rettung zur Koordination von Hilfsdiensten ein; ähnliche Hilfskomitees, in denen Freimaurer und Pfarrer Seite an Seite saßen, entstanden in vielen Gemeinden. 16 Im Departement Hérault, wo der Kulturkampf zwischen katholischer Kirche und laizistischer Staatsverwaltung besonders erbittert geführt worden war, erwiesen sich der als Monarchist bekannte Kardinal de Cabrières, Bischof von Montpellier, und der antiklerikale Präfekt gegenseitig offizielle Besuche. 17 Gerade unter dem Eindruck der ersten Kriegstage entwickelten sich so Gesten der Versöhnung im öffentlichen Raum, die nachhaltigen Eindruck auf die Bevölkerung gemacht haben. 18 Diese als Akte der Versöhnung interpretierten Handlungen erfuhren schließlich ihre Bestätigung im ersten französischen Schlachtenerfolg, dem sogenannten Wunder an der Marne, Anfang September 1914. Dieser Sieg koinzidierte mit dem Fest der Geburt Marias am 8. September und wurde daher von der Kirche und vielen Katholiken als Beweis des göttlichen Wohlgefallens an der französischen Union sacrée aufgefaßt, galt doch Maria als besonders dem Katholizismus in Frankreich zugeneigte Patronin. 19 Am 2. Jahrestag dieser Feier im Jahre 1916 hielt mit Denys Cochin auch zum ersten Mal seit 1879 ein Mitglied der Regierung eine offizielle Rede im Anschluß an einen Gottesdienst, worin man ohne Zweifel Dies berichtet Kardinal Baudrillart am 7.8.1914, vgl. ebd. 34. Für inszenierte Versöhnungsrituale in der Provinz vgl. Joseph F. Byrnes, Priests and Instituteurs in the Union Sacrée. Reconciliation and its Limits, in: French Historical Studies 22, 1999, 263–283. Selbst der für seinen Antiklerikalismus bekannte Innenminister Malvy hatte am 2. August dem Drängen nach Suspension des Kongregationsverbotes von 1904 nachgegeben und somit die Rückkehr einer Vielzahl exilierter französischer Ordensbrüder und -schwestern ermöglicht, vgl. Adrien Dansette, Histoire religieuse de la France contemporaine sous la Troisième République. Paris 1951, 492. 17 Dies berichtet Kardinal Baudrillart und fügt noch den Wunsch an: „Ah! Si la réconciliation pouvait sortir de ces horribles événements.“ Vgl. Christophe (Ed.), Les carnets (wie Anm. 1), 32 (Eintrag v. 6.8.1914). Weitere Beispiele bei Thomas Raithel, Das „Wunder“ der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkriegs. Bonn 1996, 278–280. 18 Ein zuverlässiger Beleg hierfür sind die nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Eintragungen des Kardinals Baudrillart, der noch vor dem 5. August von Übergriffen und Beleidigungen der Geistlichen, auch gegenüber ihm selbst, berichtet hatte, die nun aber ganz gewichen seien, nicht zuletzt aufgrund der vielfältigen Versöhnungsgesten. Vgl. seine Einträge zum 3.8., 4.8. und 5.8.1914 in: Christophe (Ed.), Les carnets (wie Anm. 1), 28–31. 19 Victor Giraud, Le Miracle français. Paris 1915, und Louis Madelin, Une Heure solennelle de l’Histoire de France. La Victoire de la Marne, in: RDDM v. 15.9.1916, 241– 288. Die Marien-Erscheinungen waren: 1830 rue du Bac, 1846 La Salette, 1858 Lourdes, 1871 Pointmain. 16

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ein Symbol des Neuanfangs in den Beziehungen zwischen der republikanischen und der katholischen politischen Kultur erblicken kann. 20 Im weiteren Verlauf des Krieges zeigte sich auch der katholische Klerus sehr engagiert für die französische Sache, einerseits in der Form von Feldgeistlichen beziehungsweise im Sanitätsdienst an der Front 21, dann aber auch in der Unterstützung der Kriegsanleihen und der Auslandspropaganda. So stimmte das katholische Komitee zur französischen Auslandspropaganda unter Kardinal Baudrillart in die These vom Zivilisationskrieg gegen die deutsche „Kultur“ ein und beschwor in mehreren Konferenzserien in katholischen Ländern die deutschen Kriegsverbrechen und die preußische Barbarei 22, worüber nicht nur der deutsche Katholizismus, sondern auch die päpstliche Kurie bestürzt war 23. Gleichzeitig forderten die Erzbischöfe Frankreichs in mehreren Hirtenbriefen die Gläubigen dazu auf, Kriegsanleihen zu zeichnen, und halfen über ihre Diözesanverwaltung bei der Verbreitung von Informationsmaterial gerade in den großbürgerlichkatholischen Kreisen mit. 24 Nach dem öffentlichen Bekenntnis zur Union sacrée zeigte sich also auch eine Kooperation der katholischen Kirche mit Denys Cochin formulierte am zweiten Jahrestag der Schlacht 1916 in der Kathedrale von Meaux: „En temps de paix, nous sommes divergents et bruyants […] mais il n’y a plus qu’une armée quand l’ennemi se montre.“ Vgl. Denys Cochin, Le Dieu allemand. Paris 1917, 61. Auch Kardinal Baudrillart vermerkt mit großer Freude dieses Bankett, vgl. Eintrag zum 10.9.1916 in: Christophe (Ed.), Les carnets (wie Anm. 1), 422. 21 Vgl. Fontana, Les catholiques français (wie Anm. 10), 295–297; ders., Le prêtre dans les tranchées 1914–1918, in: Guerres mondiales 47, 1997, 25–39; und Xavier Boniface, L’aumônerie militaire française 1914–1962. Thèse sous la direction d’Yves-Marie Hilaire. Vol. 1–3. Paris 2000. Der Katholik Jean de Seillon berichtet 1921 über eine Reise zum Klosterstaat Athos, wo ihn die Brüder gefragt hätten, ob es denn wahr sei, daß französische Pfarrer und Mönche während des Krieges zur Waffe gegriffen hätten. Die Bestätigung habe die Mönche in einen „océan de stupéfaction“ getaucht, weil sie diesen Patriotismus nicht verstehen konnten. Berichtet bei Jean de Seillons, La Toussaint au Mont Athos, in: RDDM v. 1.11.1921, 179–201, hier 196. 22 Grundlegend hierfür die beiden Publikationen Baudrillarts: La Guerre allemande et le catholicisme. Paris 1915, und La Vie catholique dans la France contemporaine. Paris 1918. Vgl. auch den Eintrag von Kardinal Baudrillart, der bereits am 8.8.1914 von der „brutalité et bassesse de leur (i.e. des Allemands) nature“ spricht, zit. n. Christophe (Ed.), Les carnets (wie Anm. 1), 34; ferner Rodolfo Rossi, Baudrillart e la coscienza nazionale della Francia (1905–1921). Rom 2002, und Robert J. Young, Marketing Marianne. French Propaganda in America, 1900–1940. Piscataway, N. J. 2004. 23 Erst durch diese Propagandaschrift erkannte z. B. Matthias Erzberger die Notwendigkeit einer Gegenoffensive der deutschen Katholiken in der Kriegspropaganda. Die Kurie war vor allem darüber bestürzt, daß führende katholische Bischöfe und Kardinäle sich in die Kriegspropaganda einmischten. Vgl. zu beidem Matthias Erzberger, Erlebnisse im Weltkrieg. Stuttgart/Berlin 1920, 11–15. 20

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den staatlichen Stellen 25, die zumindest für einen Teil der Katholiken eine Gleichsetzung von Glauben und Patriotismus möglich machte und der dadurch moralisch – und über die Anleihen auch finanziell – an eine laizistische Republik gebunden wurde, die die Katholiken zuvor bei jeder Gelegenheit boykottiert hatten. Dies bemerkten selbst führende Vertreter der gemäßigten Linken, die vor dem Krieg noch glühende Anhänger des Antiklerikalismus waren. 26 Ein anderer Fall, der ebenfalls als symptomatisch für die Rückkehr der Katholiken aus der Sondergesellschaft im Kriegskonsens angesehen werden kann, ist die katholische Frauenbewegung. Diese hatte ihren Ursprung in Frömmigkeits- und Kultvereinen des 19. Jahrhunderts, wurde aber durch die als antikatholisch empfundene Gesetzgebung spätestens nach 1901 politisiert. Die in ihr enthaltenen karitativen und sozialkatholischen Elemente machten sie zu einer programmatisch vielseitigen, auch politische Forderungen vorbringenden Bewegung. 27 In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg rivalisierten zwei Bünde (Ligen) innerhalb dieser Bewegung, einmal die monarchistische Ligue des Femmes Françaises (LFF) 28 und die letztendlich erfolgreichere, an die Republik ralliierte Ligue patriotique des FranLa Semaine religieuse de Paris v. 27.1.1915, ferner die Predigt des Père Janviers in Notre-Dame am 14.5.1916, zit. in: La Croix v. 15.5.1916 und das Buch des Abbé Eugène Duplessy, Catholiques, votre or à la France. Paris 1915. 25 Dies vermerkte auch die sonst sehr kritische staatliche Polizeiaufsicht, vgl. den Bericht vom Dezember 1916 in: Archives Nationales (künftig: AN), F/7 13213: „L’Attitude du clergé en général et de celui de Paris en particulier, qui contraste singulièrement avec ce qui se passait avant la guerre, démontre que tous ses actes sont dictés par le souci de se concilier les Pouvoirs Publics […] l’autorité ecclésiastique s’applique en toute occasion à se faire l’auxiliaire du Gouvernement.“ 26 So z. B. René Viviani, der ehemalige Premierminister, der im Februar 1915 feststellte, „que le bloc catholique avait jusqu’à présent eu une bonne et patriotique contenance.“ Vgl. den Eintrag von Kardinal Baudrillart zum 2.2.1915 in: Christophe (Ed.), Les carnets (wie Anm. 1), 145. 27 Vgl. Sylvie Fayet-Scribe, Associations féminines et catholicisme. De la charité à l’action sociale (XIX–XXe siècles). Paris 1990; Anne Cova, „Au service de l’Église, de la patrie et de la famille“. Femmes catholiques et maternité sous la IIIème République. Paris 2000. 28 Bruno Dumons, Au nom de la France et du Sacré-Cœur. Catholicisme intransigeant et stratégies missionnaires. Nobles et bourgeoises de la Ligue des Femmes françaises 1901– 1914, in: Frédéric Meyer (Ed.), Les Missions intérieures en France et Italie du XVIe au XXe siècle. Chambéry 2001, 389–402; ders., Strategies féminines dans la France catholique du débuts du siècle. La Ligue des Femmes Françaises et La Ligue Patriotique des Françaises 1901–1914, in: Vingtième Siecle 73, 2002, 39–50; ders., Des femmes catholiques face à la loi. Création de la Ligue des Femmes françaises, in: Machelon/Lalouette (Eds.), 1901 (wie Anm. 7), 131–142. 24

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çaises (LPDF). 29 Letztere erreichte mit 500000 Mitgliedern im Jahre 1913 ihre höchste Mitgliederzahl und bezeugt damit einen umfassenden femininen Vereinskatholizismus, in den zum ersten Mal auch katholische Bäuerinnen eingegliedert werden konnten. Aufgrund ihrer dichten Vernetzung in städtischen und ländlichen Bezirken wurde sie zu einer tragenden Säule der katholischen Sondergesellschaft, deren Veranstaltungen, auch zu Wahlkampfzwecken – obwohl die Frauen selbst gar nicht wählen durften – von den republikanischen Präfekturen genau und mißtrauisch dokumentiert wurden. 30 Mit Beginn des Ersten Weltkriegs reihte sich diese Frauenbewegung jedoch sofort in die zivile Organisation der Heimatfront ein und konnte ihr organisatorisches Erfahrungswissen einbringen. So eröffnete die LPDF mehrere Arbeitshallen in jeder Großstadt, allein 33 in Paris, wo mehr als 30000 Frauen zeitweise zur Verwundetenversorgung und Flüchtlingsaufnahme angestellt waren. 31 Zudem unterhielt man in der Hauptstadt über 90 Suppenküchen, 150 Flüchtlingshallen und 67 Waisenhäuser, die natürlich nicht nur gläubigen Katholiken, sondern auch Freimaurern, Sozialisten, Atheisten, Protestanten und Juden gleichermaßen zur Verfügung standen. 32 In Versailles gründete der sehr aktive Departementalverband der LPDF eine Unterstützungskasse für die mittellosen Kriegswaisen, deren Anzahl stetig stieg. 33 Und in Nizza verteilte die örtliche LPDF in Zusammenarbeit mit Erzbischof Chapon das Sonntagsopfer unter den Bedürftigen der Diözese und sammelte warme Kleidung für die Soldaten. 34 Die Reihe dieser Beispiele ließe sich weiter fortsetzen. Die Frauenligen entwickelten sich somit mit finanzieller und moralischer Unterstützung der Bischöfe geradezu zu einer Basis der öffentlichen Versorgung und Nächstenhilfe, ohne die das Elend der Kriegszeit weitaus dramatischer gewesen wäre.

Vgl. Odile Sarti, The Ligue Patriotique des Françaises (1902–1933). A Feminine Response to the Secularization of French Society. New York 1992; und Anne-Marie Sohn, Les femmes catholiques et la vie publique. L’exemple de la Ligue patriotique des Françaises, in: Marie-Claire Pasquier (Ed.), Stratégies des femmes. Paris 1984, 97–120. 30 Allein für die LPDF existieren drei wohlgefüllte Ordner im französischen Nationalarchiv in der Reihe Police Générale: F/7 13215–13217. 31 Polizeibericht v. 10.3.1916, in: AN, F/7 13216, ebenfalls Berichte v. 17.9.1915, in: AN, F/7 13216, und dort weitere Berichte v. 19.7.1915, 20.7.1916, 3.4.1917, 13.6.1917. 32 Vgl. Archives de la Préfécture de Paris (künftig: APP), BA 2121 Dossier Loutil Edmond dit Pierre l’Ermite, Bericht v. 1.3.1915. 33 Vgl. La Croix v. 25.9., 1.10 und 9.10.1917. 34 Vgl. La Semaine religieuse de Nice v. 23.10.1914, zit. in: La Croix v. 24.10.1914. 29

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Einen deutlichen Schritt aus dem katholischen Lager heraus vollzog die LPDF schließlich durch ihre Mitgliedschaft in der nationalen Kriegsverwundetenhilfsgesellschaft (Société française de secours aux blessés militaires) des Roten Kreuzes: Dort kooperierte man ohne Zögern mit den beiden republikanisch-laizistischen Vereinigungen, der Association des Dames françaises und der Union des Femmes de France und unterhielt gemeinsam über 300 Hospitäler in Paris, wovon 61 sogar bei religiösen Orden einquartiert waren. 35 Es steht daher zweifelsfrei fest, daß die Aktivitäten der katholischen Frauenligen die religiösen Gegensätze nicht verschärft, sondern entspannt haben und die Integration des Vereinskatholizismus aus der Sondergesellschaft in die republikanisch-laizistische Mehrheitsgesellschaft beförderten. Die katholische Frauenbewegung, die noch 1902, 1906 und 1910 ihre Anhängerinnen gegen die laizistische Republik mobilisiert hatte, stellte sich nun als einer der wichtigsten innerstaatlichen Garanten dieser Republik im Kampf gegen die Mittelmächte dar. Wenn man nun diese gesellschaftliche Ebene verläßt, kann man auch in politicis ein Heraustreten des politischen Katholizismus aus der Selbstisolierung feststellen. Das markanteste Beispiel hierfür bietet ein zur damaligen Zeit bedeutender katholischer Politiker aus Paris, Denys Cochin. Cochin war, wie man in Frankreich sagt, ein Orleanist, das heißt ein Anhänger einer liberalen Monarchie, dessen konstitutionelle Position ihn zur systemfeindlichen Rechten im Parlament gehören ließ, obgleich er zu keinem Zeitpunkt Teil der katholischen Mobilisierung gegen die Republik gewesen ist. 36 Seine bürgerlich-liberale Haltung in der Kirchentrennungsfrage unterschied ihn deutlich von den legitimistischen Monarchisten wie auch von den ralliierten Katholiken. 37 Als einer der wenigen Katholiken und Monarchisten verteufelte er die Französische Revolution nicht, sondern hielt sie für ein völlig überbewertetes Ereignis, durch das nur der EtaVgl. hierzu Fontana, Les catholiques français (wie Anm. 10), 367–370. In Marseille, wo das Rote Kreuz 17 Hospitäler, davon viele in Ordenshäusern, unterhielt, geschah ganz ähnliches. Vgl. Pierre Masson, Marseille pendant la guerre. Paris 1926, 53. 36 Seine liberal-konservative Einstellung findet sich in einem undatierten Brief an einen anonymen Präsidenten, zit. in der RDDM v. 1.10.1924, 663: „Moi, qui ne trouve l’Etat bon qu’à faire des routes, les balayer, y maintenir l’ordre et veiller sur nos frontières, je ne peux me mêler de lui constituer une philosophie. Cela est l’affaire des individus qui se réunissent comme il leur plaît, en des églises ou en des écoles philosophiques. Le progrès, c’est la liberté de prier ou de penser comme on veut.“ 37 Beweis hierfür ist die enge Brieffreundschaft, die Cochin mit dem republikanischen Premierminister Alexandre Ribot verband. Der Progressist Francis Charmes bezeichnete Cochin als Teil der „Droite bienveillante à toutes les bonnes volontés, qui mettent la France au-dessus des partis“, in: Chronique de la Quinzaine, in: RDDM v. 15.11.1915, 470. 35

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tismus eines Richelieu oder Ludwig XIV. perpetuiert worden sei. 38 Denys Cochin unterhielt im Gegensatz zu vielen anderen Katholiken gute Beziehungen zum Lager der Republikaner und konnte als ein Katholik ohne Klerikalismusverdacht gelten 39, weil er sich von der konservativ-katholischen Sammlungsbewegung und ihrer oft lautstarken Agitation außerhalb des Parlaments ferngehalten hatte. 40 Das aufgrund des Kriegsgeschehens und innenpolitischer Krisen neugebildete Kabinett Briand vom September 1915 nahm fünf Staatsminister ohne Geschäftsbereich auf, die die Union sacrée abbilden sollten. Darunter war, neben vier überzeugten Laizisten, auch Denys Cochin, dessen Eintritt in die Regierung einer seit Kriegsbeginn geäußerten Forderung großer Teile des rechten Lagers nach politischer Mitsprache entsprach. 41 Mit Cochin wurde zum ersten Mal wieder seit 1877 ein Vertreter der katholisch-monarchistischen Rechten und ein Vertrauter des Pariser Erzbischofs, des Kardinals Amette, Mitglied einer Regierung. 42 Cochin verfügte als namhafter Chemiker und Mitglied des Institut de France über naturwissenschaftliche Kenntnisse, die weit über die seiner Mitstreiter hinausragten. Als Staatsminister und, ab Dezember 1916, als Staatssekretär des Blocus (Abteilung für die wirtschaftliche Blockade der Mittelmächte) konnte er seine Kenntnisse einbringen und trug erheblich zur Entwicklung der französischen Kampfgase Collargite und Vincennite bei, die wegen des Mangels an Phosphor alternativ entwickelt wurden. 43 Brief an die Comtesse Greffulhe von 1902, abgedr. in: Sur les Lois laïques, gesammelte Briefe von Denys Cochin, in: RDDM v. 1.10.1924, 660–673. 39 So betont er in einem Brief an Ribot v. 10.11.1911, daß die Einrichtung einer Ligue du Protectorat der französischen Missionen im Orient keine katholische, sondern französische Sache sein müsse: „Le Protectorat est une affaire non pas cléricale, mais nationale“, in: AN, 563 AP 31. 40 Cochin arbeitete im Hintergrund an einer Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen zum Vatikan, nicht ohne die Absicht, selbst Botschafter zu werden. Zu diesem Zweck unterhielt er Verbindungen zu den Radikalen Joseph Reinach, Théophile Delcassé und Léon Bourgeois, die ab 1914 ebenfalls ein derartiges Unterfangen vorbereiteten. Vgl. Eintrag von Kardinal Baudrillart zum 28.11., 17.12.1914, 8.1.1915 und 6.8.1915 in: Christophe (Ed.), Les carnets (wie Anm. 1), 102, 123, 134 u. 211–214. 41 So berichtet Baudrillart: „Les avis sont partagés sur l’acceptation de Denys Cochin; les uns y voient surtout la fin d’un ostracisme absolu contre les conservateurs et les catholiquies; les autres croient qu’il ne sera qu’un ôtage.“ Zit. n. Christophe (Ed.), Les carnets (wie Anm. 1), 261. 42 „Cochin est l’homme du cardinal“, so der Polizeibericht v. 3.11.1915, in: AN, F/7 13213. Vgl. allgemein: Brigitte Waché, Denys Cochin. Un parlementaire catholique dans la guerre, in: Nadine-Josette Chaline (Ed.), Chrétiens dans la Première Guerre mondiale. Paris 1993, 47–66. 38

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Die Beteiligung von Cochin an der Regierung Briand kann ex post als äußerst erfolgreich für die französische Republik betrachtet werden. Cochin benutzte sein Amt keinesfalls zur Propaganda oder zur besonderen Protektion katholischer Interessen. Er kann vielmehr als entscheidender Impulsgeber für die französische Strategie der „ökonomischen Einkreisung“ Deutschlands gelten und ließ ab 1916 schwarze Listen von deutschen Firmen auf neutralem Boden aufstellen, deren Produkte abgefangen werden sollten. Cochin erwies sich also als ein sehr nützliches Mitglied der Regierung, weil er es verstand, seine weltanschaulichen Überzeugungen weitgehend im nationalen Interesse zurückzustellen, gleichzeitig aber die katholische Rechte im Parlament mehrheitlich an die Regierung zu binden. 44 Erst im Jahr 1917, als die Union sacrée an allen Enden zu zerfasern begann, war auch für Cochin die Mitgliedschaft in einer Mitte-LinksRegierung nicht mehr tragbar. Der von Cochin ohnehin empfundene Autoritätsverlust kulminierte in der Ablehnung des Premierministers Ribot, einen von Cochin überbrachten Brief des päpstlichen Staatssekretärs Kardinal Gasparri im Ministerrat vorzulesen. Der Brief hätte, bei offizieller Antwort seitens der Regierung, das Protektorat Frankreichs über die christlichen Missionen im Orient bestätigt, gleichzeitig aber die erste offizielle Verhandlung mit dem Papsttum seit 1905 dargestellt. 45 Ribot befürchtete eine weltanschauliche Debatte in der Öffentlichkeit, die in dieser heiklen Phase des Krieges den Kriegswillen nur weiter geschwächt hätte. Auf die 43 Denys Cochin hat drei Bücher über diese Zeit publiziert, die Memoiren und politische Analysen zugleich sind: Denys Cochin, 1914–1922. Entre alliés. Paris 1924; ders., La Guerre, Le Blocus, L’Union Sacrée. Paris 1923; ders. (Ed.), Les Organisations de blocus en France pendant la guerre, 1914–1918. Paris 1926. 44 Dies betont bereits Victor Bucaille, Denys Cochin, in: Le Correspondant 287, April 1922, 15–32, 32. Während insgesamt acht comités secrets der Abgeordnetenkammer stimmte die ALP-Fraktion um Piou und in der Regel auch die monarchistische Rechte mit den gemäßigten Regierungen – ganz anders als beispielsweise die nationalrepublikanischen „Clemencisten“ Tardieu oder Forgeot. Die parlamentarische Rechte unterschied sich darin deutlich von Charles Maurras und der Action française, die bereits 1916 einen „podestat“ anstelle der parlamentarischen Regierung forderte, vgl. Fabienne Bock, Un parlementarisme de guerre. 1914–1919. Paris 2002, 256. 45 Obwohl sich die führenden Politiker Frankreichs, allen voran Poincaré, Ribot und auch Jules Cambon, der besonderen Rolle des Vatikans als neutralem Ort der Begegnung der Kriegsparteien bewußt waren, haben sie offizielle Gespräche aus Furcht vor innenpolitischer Unruhe seit 1914 strikt vermieden. Als Vermittler wirkten im geheimen der Pariser Kardinal Amette und Denys Cochin; der 1915 als Beobachter am Vatikan bestellte Charles Loiseau übte keine diplomatische Tätigkeit im eigentlichen Sinne aus. Vgl. Nathalie Renoton-Beine, La colombe et les tranchées. Benoît XV et les tentatives de paix durant la Grande Guerre. Paris 2004, 59–61 u. 165.

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Weigerung Ribots hin demissionierte Cochin gekränkt und betonte, daß er die Balance zwischen pragmatischer Regierungspolitik und den Erwartungen der Katholiken nicht mehr halten könne. 46 Die Union sacrée sei dahin, und als katholischer Minister gebe er „à un ministère radical-socialiste une apparence inexacte“. 47 Die Demission Cochins war sicherlich ein Rückschlag – für die politische Union sacrée wie für die Integration der Katholiken in das parlamentarische Spiel im allgemeinen. Sie zeigte, wie virulent immer noch die religiösen Fragen der Vorkriegszeit, insbesondere die nach der Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen zum Vatikan trotz Kriegsnationalismus sein konnten. Allerdings dürfen bei der Beurteilung von Cochins Rücktritt die sich anschließenden, teils in hektischer Nervosität geführten Gespräche mit anderen namhaften Katholiken seitens der Regierung nicht übersehen werden. Um die Union sacrée zu wahren, schlug Cochin selbst vor, als Nachfolger François Arago, einen Progressisten der Thierry-Linie, oder den Marquis de Chambrun, einen Progressisten mit ALP-Vergangenheit, zu berufen. 48 Ribot entschied sich aber unter Vermittlung von Viviani für den liberalkatholischen Senator Emmanuel de Las Cases (Lozère), der am 13. August nach Paris reiste, um mit dem Ministerpräsidenten Gespräche zu führen. Zuvor hatten ihm der Abbé Bailly von „La Croix“ und der ALP-Vorsitzende Jacques Piou von einem Eintritt ins Ministerium abgeraten, es sei denn, man verspräche ihm eine baldige Wiederaufnahme der Beziehungen zum Vatikan. 49 Als de Las Cases diese Forderung aus politischen, nicht aus religiösen Gründen bei Ribot vorbrachte, lehnte dieser jedoch ab, da angesichts der Papstnote diese Frage jetzt nicht aufgeworfen werden könne, die innere Ruhe sei sonst gefährdet. De Las Cases zog sich zurück und besiegelte damit den Austritt der Katholiken aus der politischen Union sacrée. 50 46 Übereinstimmend der Demissionsbrief an Ribot v. 9.8.1917, in: AN, 563 AP 31, und ein Brief Cochins an Erzbischof Amette von Paris, zit. v. Waché, Cochin (wie Anm. 42), 60. 47 So in Cochin, La Guerre (wie Anm. 43), 116. 48 Brief an Ribot v. 11.8.1917, in: AN, 563 AP 31, wo es heißt, gerade Chambrun sei „très bon vu des catholiques“. 49 Der Bericht in den Tagebüchern von Emmanuel de Las Cases, Éphémerides, Journal inédit présenté par son petit-fils Emmanuel de Las Cases. Ancien Sénateur de la Lozère 1854–1934. Montpellier 1992, 121–126. Piou sagte: „On vous offre l’impossible, n’ayant trouvé personne autre, on pense à vous pour enchaîner les catholiques. On ne vous accordera rien.“ Zugeraten haben ihm der katholische Senator Daudé sowie der Bischof und Generalvikar seiner Diözese.

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Damit zeigte sich, daß die Forderung nach der Wiederherstellung der Beziehungen zum Vatikan, aus katholischen und außenpolitischen Interessen, eine Bedingung war, auf die die zum Eintritt in die Regierung bereiten Katholiken nicht verzichten wollten und konnten; die zerrüttende Wirkung der kurz zuvor veröffentlichten Papstnote – über die noch zu sprechen sein wird – war innerhalb des katholischen Lagers noch zu frisch. Es zeigte sich ferner aber auch, daß der Eintritt Cochins in die Regierung 1915, vielleicht anfangs nur als taktisches Manöver konzipiert, langfristig die katholische Rechte in die Regierungsmehrheit eingebunden hatte, denn beide Seiten waren um eine ernsthafte und dauerhafte Fortsetzung dieser Mehrheit als Ausdruck der Union sacrée bemüht. 51 Deshalb gab es zwischen den Gruppenvorsitzenden der katholischen Rechten in der Kammer und im Senat, Jacques Piou und Gustave de Lamarzelle, auch keinen Zweifel, daß ein Nachfolger Cochins nur „comme catholique et non comme spécialiste“ erfolgen könne, daß man dazu aber grundsätzlich bereit wäre. 52 Daraus läßt sich schließen, daß der Eintritt Cochins in das republikanische Machtgefüge eine langfristig größere Systemtreue im katholischen Lager bewirkt hat, als die Lippenbekenntnisse der Ralliierten zur Akzeptanz der Republik vor 1914, die oft nur Theorie geblieben waren. Die Präsenz des Orleanisten Denys Cochin in mehreren Kabinetten der Jahre 1915–1917 kann daher als notwendige Bedingung und Präfiguration für die Eingliederung liberaler Katholiken in die Regierungen des Bloc-National von 1919–1924 betrachtet werden. 53 Ebd. 122: „Entrer au ministère en parent pauvre, la tête courbée, par une porte basse pour ramasser au bout de la table quelques miettes […] non merci!“ Vgl. auch den von Jean-Marie Mayeur, Le Catholicisme français et la Première Guerre Mondiale, in: Francia 2, 1974, 391, zitierten Brief von de Las Cases an Ribot: „Certains actes récents avaient ému à juste titre les catholiques et que ceux-ci ne pouvaient comme tels accepter la responsabilité du gouvernement.“ 51 Dies geht aus den von de Las Cases überlieferten Gesprächen mit de Lamarzelle, Piou und Ribot hervor, vgl. de Las Cases, Éphémerides (wie Anm. 49), 124–126; und noch einmal gegenüber Briand am 20.10.1917, ebd. 128. Ein nicht veröffentlichtes Manifest des Parteivorstandes der ALP v. 17.11.1915 hatte bereits folgendes formuliert: Die Union sacrée sei die Realisierung des Programms der ALP, die unbedingt nach dem Krieg aufrechterhalten werden müsse. Die Union sacrée, so heißt es weiter, dürfe aber nicht „la trève des partis“ sein, sondern „la collaboration sincère, loyale et constante de tous les partis pour la grandeur permanente de la Patrie Française“. Erhalten im Nachlaß von Xavier de la Rochefoucauld, AN 142 AP 14. 52 Dies wurde auf einem Treffen zwischen den beiden sowie den Kardinälen Amette und Baudrillart vereinbart, vgl. den Eintrag Baudrillarts v. 15.8.1917 in: Christophe (Ed.), Les carnets (wie Anm. 1), 615. 53 So auch Mayeur, Le Catholicisme français (wie Anm. 50), 393. 50

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Was soeben etwas ausführlicher am Beispiel von Denys Cochin gezeigt wurde, nämlich die gewollte Rückkehr des politischen Katholizismus aus der Selbstisolation, läßt sich auch noch an zwei weiteren Fällen beispielhaft darstellen. Der erste Fall betrifft die mit Kriegsbeginn notwendige Reform der Waisenversorgung, da sich die auf einem Gesetz von 1831 beruhende staatliche Unterstützung für Kriegswaisen 1914 binnen weniger Wochen als völlig unzureichend erwiesen hatte. Obwohl bereits seit Ende 1914 auch auf parlamentarischer Ebene überlegt wurde, diese kriegsimmanente Problemlage zu bewältigen, sollte es bis Juni 1917 dauern, bis das Gesetz zur Kriegswaisenversorgung endgültig verabschiedet war. Die Bemühungen um eine parteiübergreifende Lösung des Problems gestalteten sich schwierig, da die Ausarbeitung des Gesetzentwurfes für die Kriegswaisen einer im Krieg entwickelten neuen und solidarischen Rechtsvorstellung entsprang, wonach die Nation als einheitliches „ethisches Corpus“ den für sie gefallenen oder verwundeten Soldaten zu Schadensersatz, in diesem Falle zur Waisenunterstützung, verpflichtet war. 54 Aus den Kriegswaisen (orphelins de guerre) wurden daher die Zöglinge der Nation (pupilles de la nation), denen, laut Henri Berthélemy, im Unterschied zu „normalen“ Waisen, ein „privilège de noblesse“ und ein unantastbares Recht auf staatliche Hilfe zustehen sollte. 55 Bei der Verabschiedung der endgültigen Gesetzesfassung arbeitete die katholische Rechte, nach heftigen internen Debatten, konstruktiv mit, obwohl mit dem staatlich vorgeschriebenen sozialen Tutor als Betreuer des Kindes den Präfekturen ein Instrument zum Eingriff in die Familie, also zum Beispiel in der sehr heiklen Frage der Schulwahl, an die Hand gegeben worden war. Trotz einer von der Zeitung „La Croix“ initiierten Protestkampagne, die an die Vorkriegsstrategie der „défense-religieuse“ anknüpfte, stimmte fast die gesamte katholische Rechte im Parlament und im Senat einer etwas entschärften Gesetzesform zu und sprang damit über ihren weltanschaulichen Schatten. Zudem arbeiteten viele Katholiken auf der Basis der Departements auch in den Waisenbehörden aktiv mit, die Frau des Senators de Las Cases wurde sogar zum – einzigen weiblichen – nationalen Vorstandsmitglied ernannt. Daß sich in dieser Frage die Pragmatiker innerhalb des katholischen Lagers über einen Fundamentalistenflügel durchgesetzt haben, kann mit Hilfe der Korrespondenz im Nachlaß von Dieses Prinzip wurde bereits im Dezember 1914 für alle aus dem Krieg entstehenden Schäden beschlossen. 55 Henri Berthélemy, Les pupilles de la patrie, in: RDDM v. 1.1.1916, 70–81. 54

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Jean Guiraud, dem Chefredakteur von „La Croix“, nachgewiesen werden. 56 Der zweite Fall betrifft die verfassungsrechtliche Position der führenden fundamentalkatholischen Tageszeitung „La Croix“ im Verlauf des Krieges. Mit ihren vielen regionalen und lokalen Ablegern hatte diese vor dem Krieg versucht, eine Sammlung der über konstitutionelle und soziale Fragen zerstrittenen Katholiken auf der Basis einer antimodernistisch und antiliberal ausgerichteten „défense-religieuse“-Strategie zu erreichen. Ihr politischer Kurs war dabei streng ultramontan und integralistisch, das heißt, sie lehnte eventuelle Zugeständnisse an die laizistisch-zivilrechtliche Republik ab. 57 Im Verlauf des Krieges läßt sich nun eine deutliche Hinwendung zur Akzeptanz einer parlamentarischen Republik nachweisen, wobei Henry Joly vom Institut de France und Paul Feron-Vrau federführend wirkten. Entscheidend war dabei der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten auf seiten der Entente-Mächte: durch die physische und ideelle Präsenz der USA in Frankreich seit 1917 vermehrte sich die Kenntnis des amerikanischen Verfassungsmodells. 58 Insbesondere seine Vorzüge, die an Montesquieu orientierte Gewaltenteilung, eine liberale Trennung von Staat und Kirche, ein oberstes Verfassungsgericht, ein starker Präsident, wurden von „La Croix“ rezipiert und auf die französische Verfassung übertragen. 59 Die Kenntnis und Akzeptanz des amerikanischen Verfassungsmodells wurde ferner mit dem Erfolg der autoritären Regierung Clemenceau während 56 In den entscheidenden Abstimmungen über dieses Gesetz in Senat und Kammer setzten sich die beiden katholischen Führer Piou und de Lamarzelle über die fundamentalkatholische Linie von Jean Guiraud hinweg, der gemeinsam mit dem Klerus eine nationale Petitionskampagne gegen das Gesetzesprojekt gestartet hatte. Dieser Rückgriff auf außerparlamentarische Handlungsmuster der Mobilisierung im Namen einer katholischen Weltanschauung traf zunächst in politischen Kreisen, dann auch beim Klerus selbst, auf Widerstand. Guiraud mußte seine Kampagne schließlich resigniert abbrechen. Eine ausführliche Analyse mit Auswertung des Nachlasses von Guiraud bei Hoffmann, Ordnung (wie Anm.8), 68–72. Über das Zustandekommen des Gesetzes vgl. Olivier Faron, Les enfants du deuil. Orphelins et pupilles de la nation de la première guerre mondiale 1914–1941. Paris 2001. 57 Auch unter der Direktion von Paul Feron-Vrau (seit 1901) war ihr Ralliement an die Republik kaum mehr als ein Lippenbekenntnis geblieben: Die Leitartikel wiesen alle eine klerikale und antirepublikanische Grundtendenz auf, vgl. Jean-Marie Mayeur, La Croix et la République, in: René Remond/Émile Poulat (Eds.), Cent ans d’histoire de La Croix (1883–1983). Paris 1988, 206–214. 58 Über den amerikanischen Einfluß vgl. La Croix v. 12.9.1918, wo man bestätigte, daß große Teile des Katholizismus „par la grande voix de M. Wilson, qui domine le monde actuel et ne cesse de proclamer la république et la démocratie“ beeinflußt seien. 59 Vgl. Hoffmann, Ordnung (wie Anm. 8), 74–76.

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der zweiten Jahreshälfte 1918 noch verstärkt. Paul Feron-Vrau veröffentlichte im Oktober 1918, als der Sieg der Westmächte absehbar war, einen Artikel in „La Croix“, der die Verfassung der USA als vorbildhaft auch für Frankreich darstellte und ihre Realisierung forderte: „La grande République américaine nous a montré comment on peut allier l’autorité et la liberté […] dans cet heureux pays, une cour suprême veille sur les droits des citoyens […] le président jouit d’une très large autorité […]. Profitons de cette leçon de la guerre.“ 60 „La Croix“ fügte sich damit in den nach dem Ersten Weltkrieg immer breiter werdenden Strom der republikanischen Verfassungs- und Staatsreformprogrammatiker ein, deren Konzeptionen sich zwar im liberal-konservativen Umfeld der 1920er Jahre verdichteten 61, jedoch erst 1958, in de Gaulles Fünfter Republik, verwirklicht werden sollten. Abschließend soll nun eine dritte Komponente – gewissermaßen die internationale – der Thematik beleuchtet werden, nämlich das Verhältnis des französischen Katholizismus zu Papst Benedikt XV. während des Krieges. Wenn man die katholische Presse zu diesem Thema auswertet, so läßt sich vom ersten Tag des Krieges an bis zum August 1917 ein durchgehendes Phänomen feststellen: Die päpstlichen Aufrufe zum Frieden und zur Verständigung wurden allesamt einer französischen Interpretation unterworfen und somit – ganz im Gegensatz zur ihrer Intention – als Beleg des päpstlichen Wohlwollens für die französische Sache interpretiert. Dies geschah bereits mit der letzten Enzyklika von Pius X. kurz vor dessen Tod im August 1914, als selbst die sonst stets ultramontane „La Croix“ die Katholiken – nach einem Gebet für den Frieden – zur Verteidigung des Vaterlandes aufrief. 62 Damit hatte sich schon mit dem ersten Kriegstag die Problematik eines mühsamen Balanceaktes der französischen Katholiken zwischen päpstlicher Doktrin und patriotischer Berufung herauskristallisiert, die für die kommenden Jahre bestimmend blieb. Gerade die Suche nach den Ursachen des Krieges stellte sich als ein neuralgischer Punkt in diesem Verhältnis heraus, da der Papst in seinen verschiedenen Erklärungen und Enzykliken eine ganze Reihe von Ursachen anführte, jedoch niemals die auch für die französischen Katholiken vermeintlich klarste: nämlich den La Croix v. 3.10.1918; am 17.12.1918 schloß sich ihm der Integrist Franc (Pseudonym für Père Georges Berthoye, Assumptionist und Chefredakteur von La Croix 1901–1917) an, der schrieb: „La Constitution des Etats-Unis présente sur celles des États de l’Europe, une supériorité indéniable: elle possède en effet le moyen de remédier à l’irresponsabilité et à l’emiettement de l’autorité, vice principal de nos démocraties occidentales.“ 61 Vgl. Hoffmann, Ordnung (wie Anm. 8), 198–269. 60

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Kriegswillen des Deutschen Reiches. Außerdem erwähnte Benedikt XV. weder den deutschen Überfall auf Belgien und die Verletzung des internationalen Rechts noch die in Frankreich so häufig zitierten deutschen Kriegsgreuel. 63 Der Kampf für „droit et justice“, der die französischen Katholiken so fest in die Union sacrée band, wurde also vom Papst stets übergangen. Statt dessen betonte dieser im November 1914 das Fehlen ehrlicher Liebe zwischen den Menschen, die Verachtung von Autorität, Ungerechtigkeit unter den verschiedenen Klassen und den Materialismus als wahre Gründe für den Kriegsausbruch. Nicht nur für die antiklerikale Linke Frankreichs, sondern auch für die meisten der vom Kriegsnationalismus erfaßten Katholiken war diese Position des Papstes kaum akzeptabel. 64 Gerade der nationalkatholische Flügel innerhalb des Episkopats um Erzbischof Turinaz von Nancy zeigte sich mehr als entrüstet über die päpstliche Position, die vor den Gläubigen nicht überzeugend vertreten werden konnte. 65 Um wenigstens nach außen hin den Schein einer Kompatibilität der französischen und der päpstlichen Hal62 Im Angesicht des drohenden Krieges hatte auch er, der katholische Integralist par excellence, für den Erhalt des Friedens gemeinsam mit protestantischen Organisationen geworben, z. B. mit der Carnegie-Stiftung. Seine Enzyklika „Dum Europa fere omnis“ von Anfang August 1914 forderte „les catholiques du monde à son (sc. Dieu) trône de grâces […] afin que la miséricorde de Dieu […] arrête le plus tôt possible les douloureuses pertes de la guerre et qu’il inspire au chefs des nations de former des pensées de paix et non d’affliction“, veröffentlicht vom Osservatore Romano am 3.8.1914, abgedr. in: La Croix v. 6.8.1914. Diese patriotische Interpretation der päpstlichen Enzyklika erfolgte auch unter dem Druck der Regierung, die die neuvaines catholiques aufhob und Gebete für einen „französischen“ Frieden anordnete. Vgl. Abel Ferry, Les Carnets secrets (1914– 1918). Paris 1957, 49. 63 Die erste öffentliche Erklärung von Benedikt XV. fand am 8.9.1914 statt, die erste Enzyklika folgte am 14.11.1914, abgedruckt in: La Croix v. 16.9.1914, vgl. auch den Kommentar von La Croix am 17.11.1914. Zu den Kriegsgreuel und ihrer Bedeutung für die Katholiken vgl. Annette Becker, La guerre et la foi. De la mort à la mémoire 1914–1930. Paris 1994, 27–33; und allgemein John N. Horne, Les mains coupées. „Atrocités allemandes“ et opinion française en 1914, in: Jean-Jacques Becker (Ed.), Guerre et cultures 1914–1919. Paris 1994, 133–146. 64 Die Unzufriedenheit führender Katholiken und auch von Teilen des Klerus mit der diplomatischen Position Benedikts XV. läßt sich in den Carnets des Kardinals Baudrillart gut nachvollziehen. So verweigerten manche Pfarrer die vom Papst geforderten Friedensgebete in ihren Messen, und katholische Politiker wie Maurice Sabatier klassifizierten die päpstliche Haltung als „de la petite“, vgl. den Eintrag Baudrillarts v. 6.2.1915 in: Christophe (Ed.), Les carnets (wie Anm. 1), 148. 65 Baudrillart berichtet von mehreren empörten Briefen Turinaz’ an ihn, worin dieser einen öffentlichen „acte d’éclat“ auch gegen die Haltung des deutschen Katholizismus forderte, der seiner Ansicht nach vom Papst gedeckt wurde. Eintragungen zum 16.2.1915 und 7.7.1915, in: Christophe (Ed.), Les carnets (wie Anm. 1), 153, 201.

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tung zu wahren, entwickelte der Philosoph Jacques Maritain eine Interpretationslinie, die er in einer Konferenzserie am Institut catholique in Paris vortrug und die zur Matrix zukünftiger Deutungen von päpstlichen Ermahnungen durch die Katholiken Frankreichs werden sollte. Maritain versuchte dabei zu zeigen, daß die vom Papst gegeißelte Selbstliebe und der Materialismus aus der Philosophie Luthers und Kants herrührten und daß sie zur politischen Leitkultur im wilhelminischen Deutschland geworden seien. Weil sie die Ursache für den Verlust moralischer Rechtsvorstellungen und für den Sieg der Macht über das Recht seien, hätten die päpstlichen Ermahnungen – eben nur dem Anschein nach neutral – in Wahrheit das preußisch-protestantische Deutschland als Kriegsschuldigen entlarvt. Der Papst habe also, ohne es explizit zu sagen, dem protestantischen Deutschland die Kriegsschuld gegeben. 66 Diese Interpretationslinie wurde auch im Jahr 1915 angewendet, als von päpstlicher Seite kein Wort zur Torpedierung der Lusitania oder der Beschießung der Kathedrale von Reims gefallen war, aber das päpstliche Bemühen, Italien aus dem Völkerringen auf seiten der Ententemächte herauszuhalten, auch in Frankreich bekannt wurde – im übrigen zur großen Entrüstung vieler französischer Katholiken. 67 Ein ultramontaner Integralist wie der Kanoniker Collin, der regelmäßig die Leitartikel für „La Croix“ verfaßte, mußte konstatieren: „Les catholiques français ne sont plus assez romains: ils discutent le pape, ses paroles, ses actes, même ce qu’il n’a pas fait et n’a pas dit.“ 68 Schlußpunkt dieser allmählichen 69 Entfremdung zwischen französischem Katholizismus und Papsttum war die päpstliche Friedensnote vom 1. August 1917, publiziert am 16. August 1917, die zum ersten Mal die Basis La Croix v. 9.12.1914, 7.1.1915, 3.2.1915. Interessant ist auch, daß die deutschen Katholiken in der Regel als derart „prussianisé“ galten, daß sie nicht mehr wirklich römisch-katholisch seien. Der Philosoph Maritain war erst 1906 zum Katholizismus konvertiert und unterrichte am Institut catholique in Paris. Er gehörte zur Action française bis 1927, distanzierte sich aber später mit seiner humanistisch-spirituellen Philosophie zunehmend von den totalitären Bewegungen der politischen Rechten. 67 La Croix v. 22.5.1915; ebenso Gabriel Hanotaux (Le Figaro v. 21.5.15), Arthur Meyer (Le Gaulois v. 21.5.15) und Jean Herbette (Echo de Paris v. 21.5.1915). Allgemein Italo Garzia, La Questione Romana durante la Prima Guerra mondiale. Neapel 1981, 44–46; und Francis Latour, Le Saint-Siège et la défense de ses intérêts politico-religieux pendant la Première Guerre mondiale, in: Guerres mondiales 46, 1996, 105–121. 68 La Croix v. 21.9.1915. 69 Vor allem während des Jahres 1915 förderten mehrere Ereignisse, wie das päpstliche Interview mit der Zeitung La Liberté, das Unbehagen der französischen Katholiken gegenüber dem Papsttum. 1916 verzichtete Papst Benedikt XV. vorsorglich auf politische Vorstöße, vgl. Hoffmann, Ordnung (wie Anm. 8), 82–84. 66

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für eine internationale Friedensordnung nach dem Krieg mit in den Friedensvorschlag übernahm. 70 Der Papst sprach erneut weder von der deutschen Kriegsschuld und den damit verbundenen finanziellen Konsequenzen, noch erwähnte er die Rückkehr Elsaß-Lothringens ausdrücklich, beides unbestrittene Kriegsziele Frankreichs auch unter den Katholiken. Zunächst wurde die Friedensnote von den katholischen Zeitungen ohne Kommentar publiziert, die internen Debatten in den Redaktionen müssen jedoch heftig gewesen sein. 71 Das erzbischöfliche Organ von Paris, die „Semaine religieuse de Paris“, verzichtete sogar ganz auf eine Veröffentlichung, freilich zum großen Ärger des Vatikans. Als erster erklärte dann der nationalistischkatholische „Echo de Paris“ richtungsweisend für viele Katholiken: „La note pontificale tire toute sa valeur du magistère moral qui appartient au Saint-Siège. Mais en déviant sur le plan du pur opportunisme politique, elle perd cette valeur“. 72 Eine Woche später gestand sogar ein Vertreter des hohen Klerus, der monarchistisch-integralistische Bischof von Montpellier, Kardinal de Cabrières: „Même chez nous, chez les fils soumis et reconnaissants du souverain pontife, il a paru impossible d’accueillir, dans son sens et avec sa portée actuelle, une exhortation si paternelle.“ 73 Im Dezember 1917 erreichte die nationalkatholisch inspirierte Distanzierung vom Papst schließlich ihren Höhepunkt, als Pater Sertillanges in einem Festgottesdienst anläßlich der Aufforderung zu Kriegsanleihen in der Kirche Saint-Madeleine ein feierliches Non Possumus gegenüber der päpstlichen Note verkündete: „Très Saint-Père, nous ne pouvons pas, pour l’instant, retenir vos appels de paix.“ 74 Diese Predigt, die im folgenden Benedikt XV. wollte „descendre à des propositions concrètes“, wodurch er sich von seiner unpolitisch gedachten Rolle als geistlich-moralischer Vater entfernte. Er argumentierte vielmehr als weltlicher Chef eines souveränen Staates, wenn er folgende fünf Grundbedingungen für Friedensverhandlungen vorschlug: Freiheit der Meere, gerechte und gleiche Wiedergutmachungen, Rückgabe der zur Zeit besetzten Gebiete, Untersuchung der Gebietsfragen unter Berücksichtigung der „aspiration des peuples“, einen internationalen Schiedsgerichtshof. 71 Sowohl Kardinal Baudrillart als auch Kardinal Amette hielten die Friedensnote für inakzeptabel, vgl. die Einträge zum 16.8.1917 und 27.8.1917, in: Christophe (Ed.), Les carnets (wie Anm. 1), 616, 622. 72 L’Écho de Paris v. 17.8.1917. 73 L’Écho de Paris v. 28.8.1917. Allgemein vgl. Pierre Renouvin, L’Episcopat français devant l’offre de paix du Saint-Siège (août 1917), in: Mélanges offerts à G. Jacquemyns. Brüssel 1968, 551–561. Nur 12 der 86 Bischöfe unterstützten den Papst. 74 Selbst die sehr klerikale Revue pratique d’apologétique v. 1.9.1917 lehnte den päpstlichen Friedensvorschlag ab. Weitere Beispiele bei Fontana, Les catholiques français (wie Anm.10), 199, und Le Figaro v. 16.8.1917. 70

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auch noch als vaterländische Schrift veröffentlicht wurde 75, sorgte für großen Wirbel bei führenden Katholiken Frankreichs und nicht zuletzt auch bei der Kurie in Rom. Während laut Kardinal Baudrillart Sertillanges von Katholiken wie Laizisten offen Beifall bekam, drängte der päpstliche Staatssekretär Kardinal Gasparri auf eine Dispensierung des widerspenstigen Klerikers sowohl in der Diözese von Paris wie am Institut catholique. Der Pariser Kardinal Amette, der Sertillanges zunächst voll unterstützt hatte, distanzierte sich schließlich in einem Brief an den Papst von Sertillanges, wodurch die „Affaire Sertillanges“, wie es mittlerweile hieß, beendet werden konnte. Kardinal Baudrillart, der für den vaterländischen Appell des Paters sehr viel Sympathie zeigte, ließ sich als Rektor des Institut catholique jedoch nicht einschüchtern und riskierte dabei auch, zur persona non grata in Rom, vor allem vor Staatsekretär Gasparri, zu werden. 76 Damit hatten nicht nur nationalkatholische Kreise, sondern auch der Klerus eine Abkehr von ihrer bisherigen ultramontanen Orientierung vollzogen. Sie erkannten die liberalkatholische Position, wonach die Unfehlbarkeit des Papstes allein in moralisch-spirituellen Fragen gelte, nicht jedoch auf weltlichem Gebiet, an. Die damit „wiederentdeckte“ Unterscheidung zwischen den temporalia und den spiritualia stellte einen entscheidenden Bruch mit der integralistisch-ultramontanen Orientierung der Vorkriegszeit dar, als die Gültigkeit der päpstlichen Lehre in allen geistlichen und weltlichen Fragen postuliert worden war. 77 In „weltlichen“ Dingen, also im Krieg, galt für die französischen Katholiken nun ohne Zweifel die Parole „français d’abord“, und erst in Fragen der Moral und des Glaubens konnte man wieder „catholiques d’abord“ sein. Nationalistische und liberale Katholiken, darunter der spätere Vorsitzende der konservativen Fédération républicaine, Auguste Isaac 78, verweigerten sich dem Papst und fanden in eine aus dem Kriegskonsens neugeborene Republik zurück. Überspitzt könnte man formulieren, daß sich bezüglich der päpstlichen Note die französischen Katholiken als katholische Franzosen zeigten und damit an eine Tradition des liberalen Katholizismus des 19. Jahrhunderts Veröffentlicht als Antonin-Dalmace Sertillanges, La Paix française. Discours prononcé en l’église Sainte-Madeleine. Paris 1917. 76 Diese Ereignisse können mit Hilfe der Eintragungen des Kardinal Baudrillart zum 10.12.1917, 12.12.1917, 28.12.1917, 4.1.1918, 14.1.1918, 15.1.1918 und 29.1.1918 rekonstruiert werden. Vgl. Christophe (Ed.), Les carnets (wie Anm. 1), 702, 704, 712, 722, 729, 730, 743. Kurzfristig hatte sogar eine Absetzung Amettes gedroht, die aber durch den in Rom angesehenen französischen Kardinal Dubois verhindert werden konnte. 77 Charles Benoist, Chronique de quinzaine, in: RDDM v. 1.9.1917, 231–239. 75

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anknüpften, der, ohne in nationalkirchliches Denken (Gallikanismus) zurückzufallen, eine gewisse nationale Identität gegenüber dem päpstlichen Universalismus gewahrt hatte. Fassen wir zusammen: Die Untersuchung des Verhaltens von Teilen des katholischen Lagers in Frankreich während des Ersten Weltkriegs hat gezeigt, daß die kriegsimmanenten Erfahrungen und Handlungen eine Erosion dieses Lagers und die Rückkehr großer Teile der Katholiken in den Schoß einer aus dem Kriegskonsens neugeschaffenen „nationalen“ Republik bewirkt haben. Anfangspunkt dieser Entwicklung war eine innerfranzösische Versöhnung in der Union sacrée, die durch ihre siegreiche Bestätigung in der Marneschlacht bald mythisch aufgeladen wurde und ihren Niederschlag in kirchlicher Mithilfe bei der Waisenversorgung und den Kriegsanleihen fand. Das sozialkaritative Engagement der katholischen Frauenbewegung hat die konkrete und für alle sichtbare Realität einer gesellschaftlichen Union sacrée gezeigt und verweist auf eine sehr aktive konservativ-republikanische Frauenbewegung in der Zwischenkriegszeit, die unter anderem für das Frauenwahlrecht eintrat. Das Beispiel Denys Cochin hat ferner die Akzeptanz einer parlamentarischen Republik und das Mitspielen im parlamentarischen Spiel durch einen namhaften Vertreter der katholischen Rechten erwiesen, ebenso wie dies für die große katholische Tageszeitung „La Croix“ im Laufe des Krieges bestätigt werden kann. Beides präfiguriert das sogenannte zweite Ralliement in den 1920er Jahren, als Katholiken wie Auguste Isaac und Georges Pernot Ministerposten übernahmen. Zuletzt hat schließlich auch das allgemein ablehnende Verhalten der Katholiken gegenüber der päpstlichen Friedensnote 1917 gezeigt, daß die ultramontane Orientierung der Vorkriegszeit einem dezidierten Kriegsnationalismus gewichen war. Dieser Treue zur Republik während des Vgl. seinen Brief an Cochin v. 12.11.1918: „La lettre du pape en 1917 restera un document fâcheux qui ne fera pas honneur à son auteur. Notre instinct national ne nous a pas trompés en nous disant de n’en pas tenir compte“, zit. n. Jean-Marie Mayeur, Les catholiques français et Benoît XV., in: Chaline (Ed.), Chrétiens dans la Première Guerre Mondiale (wie Anm. 42), 163. Ähnlich auch der belgische Katholik Baron Beyens im Rückblick: „En résumé, belges ou français, les catholiques dévoués au Saint-Siège levaient sur le Vatican, dès les premiers mois de la guerre, des regards chargés d’une pénible déception […]“, in: La mort de Benoît XV, in: RDDM v. 15.12.1926, 853–874. Die Haltung Isaacs zur päpstlichen Politik ist typisch für einen nationalliberalen Katholiken, der zunächst „certaines imperfections“ (Eintrag v. 8.4.1917), dann den Mißbrauch („abuse“) der päpstlichen Neutralität beklagt (Eintrag v. 19.8.1917): „C’est gênant, pour un catholique, d’avoir à reconnaître que, dans un conflit historique de cette importance, l’opinion du pape n’est pas la plus sensée.“ Vgl. Auguste Isaac, Journal d’un notable lyonnais 1906–1933. Textes choisis et annotés par Hervé Joly. Lyon 2002, 288 u. 297.

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Krieges ist es letztlich auch zu verdanken, daß nach dem Krieg viele laizistische Republikaner im Zeichen der Jeanne d’Arc einer Wiederaufnahme der Beziehungen Frankreichs zum Vatikan und einem bis heute gültigen Kirchenstatut für die katholische Kirche Frankreichs zustimmen konnten. Es soll zum Schluß gleichwohl nicht unerwähnt bleiben, daß während des Krieges auch Grenzen der Annäherung zwischen Katholiken und der Republik erreicht wurden; eine Assimilierung der beiden politischen Kulturen hat nicht stattgefunden. Als Beispiele hierfür zu nennen wären das dauerhafte Verbot, den Sacré-Cœur auf der Trikolore öffentlich anzuheften, öffentliche Gebete von staatlicher Seite anzuordnen oder der öfters zitierte rumeur infame, wonach katholische Kongregationen die deutsche Seite finanziell unterstützten. 79 Dies darf jedoch nicht über die integrierende Kraft des nationalen Konsenses innerhalb Frankreichs hinwegtäuschen, der eine Rückkehr der Katholiken aus ihrer Sondergesellschaft ermöglichte, ohne freilich eine komplette Absorption in der republikanischen Kultur nach sich zu ziehen. 80 Ohne diesen nationalen Konsens ist im übrigen auch die französische Nachkriegspolitik, insbesondere gegenüber Deutschland, nicht zu verstehen.

79 Vgl. Mayeur, Le Catholicisme français (wie Anm. 50), 386–388; Becker, La Guerre et la foi (wie Anm. 63), 83–85. 80 Auch der Sozialist Joseph Paul-Boncour, Entre deux Guerres. Souvenirs sur la IIIe République. Les lendemains de la victoire 1919–1934. Vol. 1. Paris 1934, 5, schreibt: „Soyons justes: tant que dura la guerre, la droite et les modérés n’en abusèrent pas; leur patriotisme était irréprochable.“

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Republikanischer oder völkischer Nationalismus? Die Folgen siegreicher Union sacrée und unvollendeter Volksgemeinschaft für die politische Kultur Frankreichs und Deutschlands (1918–1933/36) Von

Manfred Kittel I. Burgfrieden, Union sacrée und Erster Weltkrieg waren bereits Geschichte geworden, als Mitte der 1930er Jahre in den europäischen Staats- und Wirtschaftskrisen zunächst die Deutschen 1932/33 massenhaft für die extreme Rechte in Gestalt der NSDAP votierten und damit die Zerstörung der Weimarer Republik ermöglichten, während bald darauf, 1936, die Franzosen ihren Protest systemimmanent artikulierten und mehrheitlich für eine linksorientierte Volksfront aus Kommunisten, Sozialisten und linksliberalen radicaux stimmten. Die vielfältigen, komplexen Gründe für diese höchst gegensätzlichen Entwicklungen der politischen Mentalitäten im Deutschland und Frankreich der Zwischenkriegszeit sind bereits an anderer Stelle in ihren großen Zusammenhängen dargelegt worden. 1 Auf einen der wesentlichen Ursachenstränge: die sehr unterschiedliche Entwicklung des deutschen und französischen Nationalismus nach dem Ersten Weltkrieg, soll im folgenden näher eingegangen werden. 2

1 Manfred Kittel, Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten in Deutschland und Frankreich (1918–1933/36). (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 47.) München 2000. 2 Zur neueren vergleichenden Nationalismusforschung Miroslav Hroch, Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich. Göttingen 2005; Siegfried Weichlein, Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa. Darmstadt 2006; Rolf-Ulrich Kunze, Nation und Nationalismus. Darmstadt 2005; Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. 3. Aufl. Frankfurt am Main 2005; Oliver Zimmer, Nationalism in Europe 1890–1940. Basingstoke 2003; HansUlrich Wehler, Nationalismus. Geschichte – Formen – Folgen. München 2001; Louk Hagendoorn, European Nations and Nationalism. Theoretical and Historical Perspectives. Aldershot 2000; Stefan Breuer, Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich. Darmstadt 2005.

Der deutsch-französische Vergleich verbindet kultur- und politikgeschichtliche Ansätze, indem er sowohl nach den Mentalitäten breiter Wählerschichten fragt wie nach der Rolle, die politische Parteien als Akteure oder zumindest Profiteure des Nationalismus spielten. Wie gelang es ihnen, „die umlaufenden kulturellen Zuschreibungen symbolisch zu verdichten“ 3 und für ihren Machterwerb- bzw. Machterhalt zu instrumentalisieren? Welche Rolle spielten in diesem Zusammenhang gegebenenfalls auch nationale Vergemeinschaftungskonzepte, die auf beiden Seiten des Rheins im „Augusterlebnis“ 1914 ihre Wurzeln hatten? Und weshalb überhaupt – diese Frage muß zuerst geklärt werden – hatte sich in Frankreich schon vor dem Ersten Weltkrieg eine offensichtlich demokratieverträglichere Form von Nationalismus entwickelt, als dies in Deutschland der Fall war? Es versteht sich von selbst, daß der Begriff des Nationalismus in dieser vergleichenden Untersuchungsperspektive nicht in der verengten, vor allem auf die „negativen Erscheinungen der Existenz von Nationen und Kämpfen ‚im Namen der Nation‘“ 4 fixierten Weise gebraucht werden kann, wie dies gerade in Deutschland (aus nachvollziehbaren Gründen) üblich geworden ist. Vielmehr wird Nationalismus im folgenden „neutraler“ als epochenspezifisches, zwischen individualistisch-freiheitlichem und autoritärem Typus oszillierendes Phänomen gedeutet, das sich zu Demokratie und Republik höchst unterschiedlich verhalten, diese unter Umständen mit zerstören, unter anderen Umständen aber eben – paradoxerweise – auch stabilisieren kann.

II. Die entscheidenden Weichen für die Divergenz der Nationalismen beiderseits des Rheins wurden schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gestellt, als sich die politische Kultur in Frankreich auf eine viel weniger problematische Weise mit der Idee des Nationalismus auflud als in Deutschland. Gleichzeitig vermochte sich in Frankreich nicht nur in städtischen Milieus, sondern auch in beachtlichen Teilen der Provinz der Liberalismus ungleich tiefer zu verankern als in Deutschland. Nationalismus und Liberalismus verhielten sich nunmehr zueinander wie verbundene Gefäße 5, obwohl ursprünglich auch die deutsche Nationalbewegung engstens mit 3 4

Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 29.7.2007. Hroch, Das Europa der Nationen (wie Anm. 2), 13.

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dem Liberalismus verbunden gewesen war. Doch nur im französischen Fall gelang es Liberalen und Republikanern, die von den späten 1870er Jahren bis zum Weltkrieg im „Goldenen Zeitalter“ der – bereits dritten – Republik ununterbrochen an der Macht blieben, auch die nationale Idee zu „besetzen“. In Deutschland waren demgegenüber Gründung und Aufbau des 1871 entstandenen neuen Kaiserreiches mehr von dem „weißen Revolutionär“ 6 Bismarck als von den Liberalen geprägt; sie konnten jedenfalls nicht eindeutig als liberale Erfolge gelten 7, bis schließlich seit Ende der 1870er Jahre zunehmend konservative Parteien das nationale Thema usurpierten und sich – parallel zum Abstieg der Liberalen 8 – ein Übergang vom linken zum rechten Nationalismus vollzog 9. Schon in der historischen Grundanlage der Nationalismen waren kaum größere Gegensätze denkbar gewesen als zwischen den Nachbarn am Rhein 10: In „schicksalsträchtiger Lage im Zentrum des Entstehens der 5 Das Problem „Liberalismus gegen Nationalismus“ hat auch Karl J. Newman für den Bereich Mitteleuropa in einer klassischen Studie untersucht. Siehe Karl J. Newman, Zerstörung und Selbstzerstörung der Demokratie. Europa 1918–1938. Köln/Berlin 1965, 61–69. 6 Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär. 4. Aufl. Frankfurt am Main/Berlin/ Wien 1980. 7 Hartmut Kaelble, Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1800. München 1991, 66f. 8 Der generelle Befund ist mit wahlanalytischen Argumenten von Jürgen R. Winkler, Sozialstruktur, politische Traditionen und Liberalismus. Eine empirische Längsschnittstudie zur Wahlentwicklung in Deutschland 1871–1933. Opladen 1995, 102, relativiert worden; in weiten Regionen Deutschlands aber, dramatisch vor allem in Mittelfranken, der Pfalz, Mecklenburg oder Braunschweig, liefen den Liberalen spätestens seit den 1890er Jahren „die Wähler davon“ (ebd. 92). 9 Heinrich August Winkler, Vom linken zum rechten Nationalismus. Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79, in: ders., Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 38.) Göttingen 1979, 36–51; Geoff Eley, Staatsbildung, Nationalismus und politische Kultur im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: ders. (Hrsg.), Wilhelminismus, Nationalismus, Faschismus. Zur historischen Kontinuität in Deutschland. Münster 1991, 33–57, hier 49–51; zum französischen Liberalismus Georges Burdeau, Le libéralisme. Paris 1979, und William H. Logue, From Philosophy to Sociology. The Evolution of French Liberalism 1870–1914. DeKalb 1983; vergleichende Aspekte thematisiert Dieter Langewiesche, Liberalismus und Bürgertum in Europa, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Bd. 3. München 1988, 360–394. 10 Dies gilt leider auch für den Forschungsstand zum Thema Nationalismus, dem die französische Geschichtswissenschaft relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Zu den Gründen vgl. Heinz-Gerhard Haupt, Der Nationalismus in der neueren deutschen und französischen Geschichtswissenschaft, in: Etienne François/Hannes Siegrist/Jakob

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europäischen Staaten und Nationen aneinandergekoppelt“ 11 und in ihrer Nationswerdung stark aufeinander bezogen, prägten beide Länder Formen nationaler Identität aus, die nachgerade modellhaft antagonistische Züge trugen. Während sich die erwachende Bürgernation in Frankreich nach 1789 in einem fundamentierten, von den berühmten 40 Königen in zehn Jahrhunderten errichteten, zeitweilig bereits republikanischen Staatsgehäuse einrichten konnte 12, blieben die Deutschen in ihren Dutzenden Fürstentümern noch bis 1871 auf der Suche nach einem gemeinsamen Staat. Aufgrund dieser Ausgangslage setzte sich in Deutschland – übrigens im Bruch mit der preußischen Staatstradition – ein ethnisch-kultureller Nationsbegriff durch, der die „imaginierte Gemeinschaft“ 13 der Nation und die institutionellen Realitäten der Staatlichkeit voneinander trennte, wohingegen in der französischen Konzeption Staat, Nation und Republik zu einer Einheit verschmolzen. 14 Es hieße indes, den Vergleichsgegenstand bloß zu karikieren, würde man einfach unterscheiden zwischen einem französischen Gestaltprinzip, das der „citoyenneté“ rationalerweise eine höhere politische Qualität zubilligte als der vorpolitischen Volkszugehörigkeit, und einem diametral entgegengesetzten romantisch-deutschen Prinzip 15 mit a priori größerer Vogel (Hrsg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 110.) Göttingen 1995, 39–55; als Einführung in den französischen Nationalismus nach wie vor nützlich Raoul Girardet, Pour une introduction à l’étude du nationalisme français, in: Revue Française de Science Politique 8, 1958, 505–528; Gilbert Ziebura, Nationalstaat, Nationalismus, supranationale Integration. Der Fall Frankreich, in: Heinrich August Winkler/Hartmut Kaelble (Hrsg.), Nationalismus – Nationalitäten – Supranationalität. Stuttgart 1993, 34–55; Brian Jenkins, Nationalism in France. Class and Nation since 1789. Savage 1990; Tzvetan Todorov, On Human Diversity. Nationalism, Racism and Exoticism in French Thought. Cambridge 1994. 11 Rogers Brubaker, Staats-Bürger. Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich. Hamburg 1994, 24. 12 Zur nationalen Identität im alten Frankreich Colette Beaune, Naissance de la nation France. Paris 1985; Pierre Chaunu, La France. Histoire de la sensibilité des Français à la France. Paris 1982; Jean Lestocquoy, Histoire du patriotisme en France des origines à nos jours. Paris 1968. 13 Benedict R. Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London 1983. 14 Brubaker, Staats-Bürger (wie Anm. 11), 28; Kapitel „Les deux nations modernes: Herder et Renan“ bei Guy Hermet, Histoire des nations et du nationalisme en Europe. Paris 1996, 115–133. 15 Rudolf von Thadden, Aufbau nationaler Identität. Deutschland und Frankreich im Vergleich, in: Bernhard Giesen (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität. (Studien zur Ent-

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Anfälligkeit für chauvinistische Perversionen. Denn auch in Frankreich entwickelte sich neben der ethnisch offenen Bürgernation eine – häufig vergessene oder bewußt verdrängte 16 – Form des „geschlossenen Nationalismus“, der nach Michel Winock die Nation sehr wohl durch Ausgrenzung von eingedrungenen Fremdkörpern wie Juden oder Immigranten definierte 17 und dessen Verwandtschaft mit dem auf ethnische Differenz bedachten deutsch-nationalen Selbstverständnis evident ist. Auch wenn in Deutschland wie in Frankreich Nationalismus in „offener“ und „geschlossener“ Form in Erscheinung trat, kam es für die Entwicklung der Mentalitäten in der Breite doch entscheidend darauf an, welche Ideen sich auf der Ebene der praktischen Politik durchsetzten. Hier ist offensichtlich, daß der „Funktionswandel“ des Nationalismus in Deutschland Ende der 1870er Jahre im Gefolge der ersten großen Krise nach der Industriellen Revolution, das heißt der Umschlag vom liberalen „linken“ zu einem antiliberal-protektionistischen „rechten“ Nationalismus 18, ein Phänomen darstellt, für das es in der politischen Kultur Frankreichs keine Äquivalenz gab. Zwar war der sogenannte integrale Nationalismus, der den hergebrachten Gegensatz von Nationalismus und antirevolutionärem Monarchismus überwand, ausgerechnet die Erfindung eines Franzosen: Doch Charles Maurras’ Action française konnte sich, anders als der deutsche Rechtsnationalismus, gesamtgesellschaftlich gerade nicht durchsetzen. 19 Die Action française und die von ihr transportierten antisemitischen, militaristischen und antirepublikanischen Ideologeme scheiterten vielmehr während der Affäre um den zu Unrecht verurteilten jüdischen Hauptmann Albert Dreyfus. Das aus dem Konflikt Anfang des 20. Jahrhunderts siegreich hervorgehende Bündnis aus liberal-laizistischem Bürgertum und Arbeiterbewegung dominierte fortan die politische Kultur Frankreichs. 20 wicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, 1.) Frankfurt am Main 1991, 493– 510, hier 499. 16 So Hans-Jürgen Lüsebrink, Der französische Nationalismus – Licht und Schattenseiten der Grande Nation (von Danton bis Le Pen), in: Lendemains 16/2, 1991, 48–55, hier 49. 17 Michel Winock, Nationalisme, antisémitisme et fascisme en France. Paris 1990, 38. 18 Heinrich August Winkler, Der Nationalismus und seine Funktionen, in: ders. (Hrsg.), Nationalismus. 2. Aufl. Königstein 1978, 3–45, hier 28f. 19 Victor Nguyen, Aux origines de l’Action française. Intelligence et politique vers 1900. Paris 1991. 20 Hierzu als knapper Überblick: Weichlein, Nationalbewegungen (wie Anm. 2), 98–100; Theodor Schieder, Typologie und Erscheinungsformen des Nationalstaats in Europa, in:

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Fragt man, weshalb nicht nur Maurras, sondern auch die gemäßigte französische Rechte mit ihrem Nationsverständnis einer „patrie chrétienne“ 21 keine Mehrheiten zu mobilisieren vermochte, so ist vor allem darauf zu verweisen, daß es der jungen Dritten Republik seit den 1870er Jahren unter permanentem Rekurs auf den Mythos von 1789 22 gelungen war, auf dem Humus starker antiklerikaler Traditionen in dem fast ausschließlich katholischen Land die Massen gleichsam eher von „links“ mit der Idee eines „republikanischen Laizismus“ zu „nationalisieren“. Die republikanischen Laizisten zielten darauf ab, den „alten Gott“ der Katholiken, den nach fortschrittlicher Überzeugung nur mehr Reaktionäre mit dem Vaterland identifizierten, durch einen säkularen Gott zu ersetzen: durch die französische Republik mit Trikolore, Schule und Armee als ihren jungen Symbolen. 23 Besonders während der groß inszenierten Feiern zum 14. Juli mit reichem blau-weiß-roten Dekor, Kindern mit phrygischer Mütze und Wein in Strömen entfaltete der republikanische Laizismus eine offensive symbolische Politik, die bis in die Agrarprovinz hinein auf die Massen wirkte. 24 Winkler (Hrsg.), Nationalismus (wie Anm. 18), 119–137, hier 132. Nach der sukzessiven Rehabilitation von Dreyfus (1899–1906), so Schieder, lag der Nachdruck der politischen Willensbildung fortan „nicht eigentlich bei nationalen Bewegungen […], sondern eher bei liberalen und später auch sozialistischen“. 21 Michael Hoffmann, Ordnung, Familie, Vaterland. Wahrnehmung und Wirkung des Ersten Weltkriegs auf die parlamentarische Rechte im Frankreich der 1920er Jahre. München 2008, 102. 22 Manfred Kittel, Der Mythos von 1789 in Frankreich. Entstehung und Wirkungen von der Ersten bis zur Fünften Republik, in: Geschichtsdeutungen im internationalen Vergleich. Hrsg. von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. München 2003, 75–108. 23 Eugen Weber, La fin des terroirs. La modernisation de la France rurale (1870–1914). Paris 1983, 485; Joël Roman, La laïcité comme religion civile, in: Esprit 175, 1991, 108– 115. 24 Maurice Agulhon, Marianne au pouvoir. L’imagerie et la symbolique républicaines de 1880 à 1914. Paris 1989, 117f.; ders., Marianne au combat. L’imagerie et la symbolique républicaines de 1789 à 1880. Paris 1979, 238f.; Olivier Ihl, La fête républicaine. Paris 1996, 146, 152f. (mit einer Karte zur Verteilung der Kredite des Innenministers an die Departements anläßlich des 14. Juli 1889); zum 14. Juli im Limousin speziell die Untersuchung von Pierre Vallin, Fête, mémoire et politique: le 14 Juillet en Limousin, in: Revue Française de Science Politique 32, 1982, 949–971, der auf die besondere Ausprägung der Festaktivitäten in den fortschrittlichen Landgemeinden hingewiesen hat (ebd. 969), sowie zum Ablauf des 14. Juli in der Corrèze die Berichte in: Le radical de la Corrèze v. 8. u. 19.7.1900. Ähnliche Beobachtungen für das Departement Cher macht Michel Pigenet, Les adjectifs de la République. Vois et conditions de la politisation des milieux populaires. L’exemple du Cher au XIXème siècle, in: Michel Vovelle (Ed.), Révolution et République. L’exception française. Paris 1994, 523–533.

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Maurice Agulhon hat in diesem Kontext konstatiert, der Dritten Republik sei eine ähnliche „Nationalisierung der Massen“ gelungen, wie sie George L. Mosse für das kaiserliche Deutschland beschrieben hat, mit dem Unterschied, daß es sich in Frankreich um „liberale“ Propaganda handelte. 25 Tatsächlich wurde für den deutschen „Rechtsnationalismus“ seine enge Verbindung mit dem konservativ-kaisertreuen Protestantismus charakteristisch, nachdem auch der preußische Landadel seinen Frieden mit der Reichsgründung gemacht hatte. Die Wurzeln des deutschen „Nationalprotestantismus“ (Klaus Scholder) liegen indes schon in der Zeit der Entstehung des nationalen Gedankens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Vermittelt von Männern wie Friedrich Carl von Moser, Klopstock, Lavater, Herder, Novalis, Schleiermacher, floß „von Anfang an ein breiter Strom pietistisch gefärbter Religiosität in diesen jungen deutschen Patriotismus ein“. 26 Mit den Schriften und Gesängen der Befreiungskriege gegen Napoleon drangen dann weitere religiöse Begriffe in die politische Sphäre ein. Je mehr der Protestantismus zur Entwicklung des Nationalbewußtseins beitrug, desto größer wurde die schon in Luthers Wendung gegen Rom angelegte Neigung, die Verbindung zwischen Protestantismus und deutscher Nation für ursprünglich und notwendig zu halten; und zwar um so mehr, als unter dem Eindruck der nationalen Politisierung sich gleichzeitig die blaß gewordene protestantische Kirchlichkeit neu belebte. Hier entstand eine Art der Frömmigkeit, für die eine vom eigenen Volk her denkende Umformung des Gottesbegriffes ebenso charakteristisch wurde 27 wie der – nach 1871 nur noch verstärkte – kulturkämpferische Impuls gegen den Katholizismus und dessen internationale, „ultramontane“ Bindungen, die angeblich eine Feindschaft gegen das von Bismarck gegründete „Heilige Evangelische Reich Deutscher Nation“ (Adolf Stoekker) konstituierten. Steht der Begriff des „Nationalprotestantismus“ mit seinem gleichzeitig politischen wie weltanschaulich-religiösen Bedeutungsgehalt für die charakteristische Vermischung beider Sphären im 19. Jahrhundert 28, so gilt Agulhon, Marianne au pouvoir (wie Anm. 24), 343. Klaus Scholder, Die evangelische Kirche und das Jahr 1933, in: GWU 16, 1965, 700– 714, hier 701. 27 Ebd. 702f. 28 Maurice Barbier vertritt demgegenüber die Ansicht, Laizität sei kein religiöses, sondern ein politisches Problem. Siehe hierzu das Vorwort in: Maurice Barbier, La Laïcité. Paris 1995. 25 26

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dies für den „republikanischen Laizismus“ nicht weniger. Nicht nur der protestantische, auch der republikanisch-laizistische Nationalismus hatte eine religiöse Dimension. 29 Obschon unter Laizismus landläufig eine Denkhaltung verstanden wird, die gerade die radikale Trennung von Kirche und Staat forderte 30, tendierte sie doch dazu, sich in Abgrenzung zur Religion der Kirche selbst metaphysisch als „foi laïque“ zu begreifen. 31 In ihrer politischen Wirkungsmacht, so gegensätzlich sie gerichtet war, stellten links-liberaler republikanischer Laizismus und „rechter“ Nationalprotestantismus schon im 19. Jahrhundert vergleichbare, im Kern nationalistische Energien dar. 32

III. Aus historischen Gründen von vornherein stark auf die Idee einer vor- und überstaatlichen Kulturnation ausgerichtet, wurde der Nationalismus der Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg in einem gewaltigen Schub weiter ins Völkische transponiert. Das Ende des monarchischen Machtstaates 1918 verwies die Deutschen – wie auf einen mentalen Rettungsanker – ganz auf die Idee des Volkes zurück; so sehr, daß von hier aus die etwas akademisch wirkende Konstruktion der „Ideen von 1914“ 33 mehr Plausibilität zu gewinnen schien denn je. Diese Ideen von „Deutscher Freiheit“, Kameradschaft und „nationalem Sozialismus“ waren bekanntlich zu Kriegsbeginn den individualistisch-demokratischen französischen „Ideen von 1789“ (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) in plakativer volks29 Peter Walkenhorst hat sich allerdings dagegen gewandt, den Nationalismus pauschal zur „Ersatzreligion“ des modernen Menschen zu erklären. Siehe Peter Walkenhorst, Nationalismus als „politische Religion“? Zur religiösen Dimension nationalistischer Ideologie im Kaiserreich, in: Olaf Blaschke/Frank-Michael Kuhlemann (Hrsg.), Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen. Gütersloh 1996, 503–529, hier v. a. 507– 509. 30 Zur Begriffsbestimmung Jacques Lemaire, Anticléricalisme et esprit laïque dans la littérature française du moyen age. Brüssel 1983, 4f. 31 Daniel Borzeix, Martial Rieupeyroux. Maître d’école. Treignac 1988, 120. 32 Dieser Einsicht folgt auch die prosopographische Darstellung „religiöser, parareligiöser oder gegen-religiöser“ Persönlichkeiten in dem von Louis Pérouas herausgegebenen Band des Dictionnaire du monde religieux dans la France contemporaine (Bd. 7: Le Limousin). Paris 1994, Zitat 6. 33 Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003; Thomas Raithel, Das „Wunder“ der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkriegs. (Pariser Historische Studien, Bd. 45.) Bonn 1996, 506f.

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gemeinschaftlicher Deutung entgegengestellt worden und hatten aufgrund der Zustimmung der Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten zumindest vorübergehend auch ein gewisses realpolitisches Fundament. Während im militärisch unterlegenen und erst jetzt, im Rahmen des Zusammenbruchs 1918/19 republikanisierten Deutschland die kulturnationalen Konzepte im Völkischen fröhliche Urständ feierten, zementierte der Sieg der französischen Republik die ohnehin entgegengesetzten staatsnationalen Traditionen und republikanisch-laizistischen Überzeugungen. Daß Frankreich eine frühe Republik war, Deutschland eine späte Nation, bietet mithin den zentralen Schlüssel für das Verständnis der grundlegend divergierenden Nationalismen beider Länder und für ihre politisch-kulturellen Auswirkungen auf die Krisenanfälligkeit der Dritten Französischen und der ersten deutschen Republik in den 1920er und 30er Jahren. Um ganz zu verstehen, welche Folgen die militärische Niederlage für die Deutschen hatte, deren 1914 proklamierte Volksgemeinschaft im Ersten Weltkrieg offensichtlich unvollendet geblieben war – sonst hätte man den Krieg ja nicht verlieren dürfen –, und weshalb Frankreichs Nationalismus nach 1918 mehr denn je republikanischen Charakter hatte und nicht etwa völkische Züge annahm, ist der Fokus der Untersuchung vor allem auf die Agrarprovinz beider Länder zu richten. Denn die politische Kultur des noch viel stärker als Deutschland von der Landwirtschaft geprägten Frankreich zeichnete sich durch ein Phänomen aus, für das es in Weimar-Deutschland so kein Pendant gab: Eine breite „links“, das heißt vor allem antiklerikal-republikanisch-laizistisch orientierte Agrarprovinz. Daneben existierte zwar nach wie vor gerade auf dem flachen Land auch die sogenannte France blanche, das katholisch-konservative Frankreich; doch im entscheidenden Moment der Wahlen zur Abgeordnetenkammer von 1936, auf dem Höhepunkt der Krise, setzte sich das links-republikanische Lager durch – und zwar, so knapp wie die politischen Mehrheiten lagen, wesentlich auch aufgrund des elektoralen Beitrags ländlicher Stimmbezirke. In Deutschland dagegen bedeutete der Nationalsozialismus vor allem einen „Aufstand der Provinz“ 34, und zwar in allererster Linie der nationalprotestantischen Agrarprovinz: Schleswig-Holstein, Oberhessen, Masuren und vor allem das evangelische Franken waren jene am stärksten zugleich agrarisch und protestantisch strukturierten Regionen, in denen die NSDAP ihre spektakulärsten Wahlerfolge erziel34 Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Frankfurt am Main 1987, 226–228.

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te. 35 An den evangelisch-lutherischen Gegenden Frankens, in denen ab 1930 die größten Hochburgen der NSDAP lagen, soll im folgenden beispielhaft die Entwicklung des völkischen Nationalismus in Deutschland aufgezeigt werden. Der republikanische Nationalismus Frankreichs wird dagegen exemplarisch im zentralfranzösischen Departement der Corrèze aufgesucht, mitten in der France profonde, in den alten „campagnes radicales“, wo 1936 einige der stärksten Bastionen der „Volksfront“ lagen. Die Bauern dort, von der globalen Agrarkrise zwar nicht ganz so stark wie die deutschen Landwirte, aber doch massiv genug betroffen, entsandten nunmehr (auch mit Hilfe des französischen Mehrheitswahlsystems) sogar einen kommunistischen Abgeordneten in die Pariser Chambre des députés.

IV. Für den deutschen Nationalismus, im Geist von Sedan 1870 einst siegreich verfestigt, bedeutete die Niederlage von 1918 einen ungeheuren Schock, auf den er explosionsartig reagierte. Die evangelische Agrarprovinz war für den jetzt von allen Richtungen her einströmenden „Nationalismus der Niederlage“ 36 von ihrer mentalen Lage her besonders offen. Alles, was über die materiellen und außenpolitisch-strategischen Konsequenzen des Pariser Friedensvertrages 1919 für Deutschland zu Recht relativierend gesagt worden ist, hebt ja nicht auf, daß Versailles besonders in der evangelischen Provinz zum beherrschenden politisch-mentalen Bezugshorizont und zum fatalen Geburtsfehler der neuen Weimarer Republik wurde. Die ganze Tiefe des Versailles-Traumas ist dabei wohl nur zu verstehen, wenn man es mit der – letztlich vom mythisch verklärten Generalfeldmarschall Hindenburg zu verantwortenden 37 – Dolchstoßlegende korreliert, wonach das im Felde unbesiegte deutsche Heer einer sinistren Verschwörung vaterlandsloser linker Gesellen an der Heimatfront zum Opfer gefallen, ja Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler. München 1991, 155, 163, 177. Kurt Nowak, Konfession und Nation. Betrachtungen zu ihrem Verhältnis in der Kirchengeschichte Deutschlands, in: Günther Gillessen (Hrsg.), Europa fordert die Christen. Zur Problematik von Nation und Konfession. Regensburg 1993, 24–51, hier 24; die Verbindungen zwischen Protestantismus und Nationalismus beleuchtet aus französischer Sicht – anhand repräsentativer Gestalten des evangelischen Deutschland – Rita Thalmann, Protestantisme et nationalisme en Allemagne (de 1900 à 1945). (Dialogues des nations, Vol. 1.) Paris 1976. 37 Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler. München 2007. 35 36

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gleichsam von hinten erdolcht worden sei. Die Dolchstoßlegende suggerierte damit fatalerweise, Versailles sei gar nicht unvermeidlich gewesen und könne wieder rückgängig gemacht werden, wenn es nur gelänge, den „Geist von 1914“ wiederherzustellen. An der ersten großen Anti-Versailles-Kundgebung der Parteien in Ansbach, einem Hauptort der fränkisch-protestantischen Provinz, beteiligte sich im Mai 1919 neben Konservativen und Liberalen auch der lange als national unzuverlässig verdächtigte politische Katholizismus. Dabei legten die „zahlreich versammelten Männer und Frauen aus Ansbach und Umgebung“, „schmählich getäuscht“ von Woodrow Wilsons Versprechungen hinsichtlich eines Verständigungsfriedens, „flammenden Protest“ ein und forderten den Reichstag auf, das Vertragswerk ohne Rücksicht auf die politischen Konsequenzen abzulehnen. 38 Auch die Sozialdemokraten erhoben bei Resolutionen im Stadtmagistrat oder öffentlichen Umzügen „lauten Protest gegen Deutschlands Zerstückelung“. 39 Noch einmal war, wie einst 1914, über den parteipolitischen Konsens hinaus die gesamte Provinzgesellschaft in „tiefer Trauer“ 40 und Entrüstung über Versailles vereint. In den Gewerkschaften zeigte man sich ebenso empört wie in den Lehrervereinen, die bereits die „Fesselung“ durch Woodrow Wilsons Waffenstillstandsbedingungen im November 1918 als „unerhört“ empfunden hatten und angesichts „größenwahnsinnig gewordener Sieger“ in der ständigen Furcht vor einem „Sklavendasein“ Deutschlands lebten. 41 Bei den fränkischen Pfarrern krampfte sich „unter bitterstem Weh […] das Herz im Leib“ zusammen über die „empörende Grausamkeit“ der Alliierten, „die alles Völkerrecht mit Füßen tritt“. 42 Auch die Dolchstoßlegende begann im evangelischen Franken, schon ein Jahr vor Hindenburgs Auftritt im Untersuchungsausschuß des Reichstages im November 1919 43, allmählich zum Bestandteil der nationalistischen Argumentation zu werden. Für den Transport dieses Gedankenguts auf die Dörfer sorgte vor allem der national-konservativ orientierte Bund der Landwirte, fest überzeugt auch er, daß die Revolution dem deutschen Heer „in der entscheidungsvollsten Stunde das Schwert aus der Hand“ geschlagen und das Fränkische Zeitung v. 19.5.1919 (Vormittagsausgabe). Fränkische Zeitung v. 6.5.1919 (Abendausgabe); Hermann Dallhammer, Dramatische Zeiten (April bis Juli 1919), in: Ansbach gestern + heute 49, 1991, 1179–1197, hier 1187. 40 Dallhammer, Dramatische Zeiten (wie Anm. 39), 1192. 41 Bayerische Lehrerzeitung, Jg. 1919, 95, 144, 217. 42 Der Freimund, Jg. 1918, 192. 43 Horst Möller, Weimar. Die unvollendete Demokratie. 6. Aufl. München 1997 (zuerst 1985), 67. 38 39

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deutsche Volk „waffen- und wehrlos dem Übermut der Feinde“ ausgeliefert habe. 44 Die unmittelbare mentalitätsgeschichtliche Wirkung des Versailler Vertrags im evangelischen Franken wurde wenige Jahre später, im Ruhrkampf 1923, durch ein zweites nationales Ereignis nochmals entscheidend vertieft, das nicht zufällig auf der parteipolitischen Ebene mit dem ersten Wetterleuchten der völkischen Bewegung zusammenfiel. 45 Angesichts einer tiefen makroökonomischen Krise, deren Auswirkungen vor allem in Form galoppierender Inflation bis in den Alltag der fränkischen Provinz hinein schon seit Monaten massiv zu spüren waren, wirkte die Nachricht vom französischen Einmarsch ins Ruhrgebiet, also in die Herzkammer der deutschen Wirtschaft, im Januar 1923 wie ein Donnerschlag. Mit der allgemeinen „Erbitterung“ erfaßte ein weiterer großer Nationalisierungsschub die gesamte Lokalgesellschaft. Schüler wurden nach dem Unterricht zusammengerufen und auf den Ernst der Lage hingewiesen, die Pfarrer gedachten in ihren Predigten „der großen vaterländischen Not“, die vereinigten Innungen erinnerten auf ihrer Generalversammlung „mit kernigen Worten“ an die Ruhrbesetzung, Gemeinderäte erhoben sich einmütig von den Sitzen, um gegen den „französischen Raubzug“ zu protestieren, auf öffentlichen Plätzen, vor Rathäusern und in überfüllten Turnhallen fanden „Trauerkundgebungen“ statt. „Welch starker patriotischer Geist“ in der Region lebendig war, dokumentierten neben solchen Versammlungen, deren Teilnehmer die „neue Wacht am Rhein“ intonierten, auch wieder die Sozialdemokraten 46, die es „dem Widerstand der deutschen Arbeiterschaft“ zuschrieben, daß die Rheinlande noch nicht als Pufferstaat vom Reich abgetrennt worden waren. 47 Nicht nur die Bürger in den Kleinstädten, gerade auch die Landbevölkerung zeigte „reges Interesse […] an den Ereignissen im Ruhrgebie44 Karl Heller, Der Bund der Landwirte bzw. Landbund und seine Politik mit besonderer Berücksichtigung der fränkischen Verhältnisse. Diss. Würzburg 1936, 49. 45 Vertiefend hierzu Kittel, Provinz (wie Anm. 1), 472–488. 46 Zur Arbeiterbewegung während der Ruhrbesetzung („Zwischen nationaler Solidarität und proletarischer Einheitsfront“) Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924. (Geschichte der Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts.) 2. Aufl. Berlin/Bonn 1985, 553–555. 47 Hierzu und zum Folgenden die Halbmonatsberichte der Regierung von Mittelfranken im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, München (künftig: HStAM HMB), 6.2.1923; Fränkische Zeitung v. 12., 13., 15., 19., 24., 27., 29.1.1923, 2.2., 3.2., 5.2., 10.2., 13.2.1923; Staatsarchiv Nürnberg (künftig: StAN) Rep. 218, Nr. 392, Gendarmerie Schillingsfürst, 19.1.1923, an BA (Bezirksamt) Rothenburg.

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te“. 48 Die Kreisbauernkammer in Mittelfranken erließ einen martialischen Aufruf gegen den französischen „Erbfeind“: „Wir müssen bereit sein zu opfern bis an die äußersten Grenzen unserer Leistungsfähigkeit“. Tatsächlich war die Spendenbereitschaft in der Landbevölkerung beträchtlich. Selbst kleine Bauern brachten zentnerweise Roggen zu den eigens eingerichteten Sammelstellen. Gesangvereine sammelten in ihrer Chorprobe Geld, Arbeiter einer Möbelfirma überwiesen den Betrag einer eigens geleisteten Überstunde, und ein Anonymus fühlte sich aus Gründen nationaler „Hygiene“ gar verpflichtet, zur „Sühne für den Gebrauch des Wortes ‚merci‘“ seinen Obolus zu entrichten. 49 Mit der schweren national-sozialen Depression wuchs im Laufe des Jahres 1923 die Überzeugung, daß der Reichstag „nicht mehr den Willen des deutschen Volkes in seiner Mehrheit zum Ausdruck“ bringe, ja daß die ganze „schwarz-rot-goldene Gesellschaft“ der Weimarer Republik und der „jüdisch-marxistische Parlamentarismus faul bis auf die Knochen“ seien und abgewirtschaftet hätten. 50 Daß der nationalliberale Vernunftrepublikaner Gustav Stresemann, der als Reichskanzler den Ruhrkampf abbrach, als „Schwiegersohn des Juden Kleefeld“ diffamiert werden konnte, erleichterte es den immer lautstärker agierenden völkischen Propagandisten in den rechten Parteien und Verbänden, die Juden generell für die Inflation verantwortlich zu machen. 51 Die Infektionsgefahr, die vom völkischen Gedanken im Laufe des Jahres 1923 ausging, äußerte sich parteipolitisch in einer Gründungswelle nationalsozialistischer Ortsgruppen und im Frühjahr 1924 – nach dem Hitlerputsch und dem von der NSDAP propagandistisch genutzten Hitlerprozeß – in bemerkenswerten Anfangserfolgen der zeitweiligen NSDAP-Nachfolgeorganisation „Völkischer Block“. 52 An der drückenden Schwüle des nationalistischen Klimas, verstärkt auch durch den jahrelangen Kampf um Oberschlesien im Osten des Reiches, sollte sich in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre trotz Stresemanns StAN Rep. 218, Nr. 392, BA Rothenburg an KdI (Kammer des Inneren), 14.3.1923 (Halbmonatsbericht). 49 Fränkische Zeitung v. 7., 17.2.1923. 50 Der Bund der Landwirte in Bayern v. 14., 21.10., 2.12.1923. 51 Rede des Blücherbund-Führers bei der Vereidigung der Ansbacher Sturmabteilung. Fränkische Zeitung v. 5.11.1923. 52 Dazu hatte wohl auch beigetragen, daß der im Vorjahr über ein halbes Jahr lang geführte passive Widerstand gegen den französischen „Erbfeind“ im ganzen Reich Erinnerungen an den August 1914 und den Mythos der Volksgemeinschaft heraufbeschworen hatte: Edgar Vincent d’Abernon, Viscount d’Abernon. Ein Botschafter der Zeitwende. Memoiren. Bd. 2. Leipzig [o. J.], 186. 48

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Verständigungspolitik kaum etwas ändern. Häufig einten weiterhin „vaterländische“ Anlässe „Angehörige der verschiedensten Parteien und Stände […] im gleichen Gedenken“ und ließen, wie etwa manche Pfalzbefreiungsfeier 1930, „alles Trennende vergessen“. 53 Die in der Provinz stets unter dem Glockenklang der Dorfkirchen ablaufende nationalistische Mobilisierung trug Züge jener „Volksgemeinschaft“ 54, die sich im Weltkrieg bis in die Arbeiter- und Bauernschaft hinein als neuer Begriff eingeprägt hatte und als politisches Schlagwort hohe Suggestivkraft behielt. 55 Man lese hierzu nur Gustav Sondermanns Schlüsselroman über den fränkischen Wehrverband Bund Oberland in den 1920er Jahren („Türme über der Stadt“), in dem vom „Geist dieser entschlossenen Kameradschaft“ die Rede ist, „der wie der ernstere, durch Wissen gereifte Bruder des jubelnden Jünglings vom August 1914“ wirke. 56 Die Wurzeln für die Massenwirksamkeit des völkischen Denkens lagen indes in einer schon vor 1914 verbreiteten volksbürgerlichen Literatur um Paul de Lagarde und Julius Langbehn. Sie interpretierte Volk, Nation und Vaterland religiös, griff sozialdarwinistische Elemente auf und forderte im Gegensatz zu Bismarcks kleindeutscher Reichslösung den Zusammenschluß der gesamten deutschen oder gar germanischen Sprach- und Kulturgemeinschaft. 57 Das Adjektiv „völkisch“ soll 1875 von dem Germanisten Hermann von Pfister als Ersatzwort für „national“ eingeführt worden sein. Als Ideologie blieb das „Völkische“ fortan „schillernd und verschwommen, undefinierbar und nur zu umschreiben“; nicht aus dem Rationalen, sondern aus dem Irrationalen bezog es seine stärkste Kraft, gefühlsbeladen „bis zur Leidenschaftlichkeit“. 58 Eingebettet in eine völkisch orientierte Kulturkritik waren schon seit den 1890er Jahren pädagogische Bemühungen, die breite Bevölkerung über die Volksschule zum deutschen „Wesen“ zu führen. Reformatorische, Fränkische Zeitung v. 1. u. 3.7.1930. Fränkische Zeitung v. 5.7.1930. 55 Otto Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990. München 1993, 213. 56 Gustav Sondermann, Türme über der Stadt. Berlin 1938, 18. 57 Wolfgang Tilgner, Volk, Nation und Vaterland im protestantischen Denken zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus (ca. 1870–1933), in: Horst Zilleßen (Hrsg.), Volk – Nation – Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus. Gütersloh 1970, 135–171, hier 146–150. Zu Langbehn, de Lagarde und weiteren Wegbereitern des völkischen Gedankens wie Houston Stewart Chamberlain vgl. Peter Emil Becker, Wege ins Dritte Reich. T. 2: Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke. Stuttgart/New York 1990. 58 Becker, Wege ins Dritte Reich (wie Anm. 57), 573. 53 54

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klassische, romantische und idealistische Traditionselemente, antikapitalistische und antisozialistische, antimaterialistische, antiintellektualistische und antiindividualistische Ideen verbanden sich damals zu dem Gedanken, Deutschland wieder auf den Weg seiner völkischen Bestimmung zwischen „welscher Zivilisation“ und „slawischer Barbarei“ zu führen. 59 Vor diesem Hintergrund wäre es falsch, die völkische Bewegung bis 1918 nur als die „Sache einer Handvoll von Agitatoren“ 60 zu beschreiben. Sicher waren die Völkischen in eine Vielzahl von Gruppierungen mit unterschiedlichstem Organisationsgrad zersplittert 61, und speziell die aus der Übernahme der Gobineauschen Rassenlehre resultierende Verbindung von völkischer Idee und Antisemitismus hat im Kaiserreich keine ernst zu nehmende parteipolitische Bedeutung besessen. Aber ohne das bis in die Dörfer wirkende allgemeine national-völkische Bildungsprogramm, ohne die frühe Disposition der sozial aufsteigenden Volksschullehrerschaft für Konfliktlösungen im Geiste einer kooperativen „Volksgemeinschaft“ 62 wäre der rasche völkische Durchbruch nach dem Ersten Weltkrieg schwerlich zu erklären. 63 Gewiß war die Konjunktur des „volksnationalen“ Denkens am Ende des Ersten Weltkrieges, der schließlich als ein Krieg der Völker, nicht mehr nur als ein Krieg der Armeen ausgefochten wurde, nichts spezifisch Deutsches. US-Präsident Wilson war es, der damals das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ zum internationalen Leitbegriff machte. Der Begriff „Volk“ wurde zwischen 1914 und 1945, mit Reinhart Koselleck zu reden, zu einer „sittlich-religiösen, politisch-sozialen und geschichtlichen Letztinstanz, die scheinbar nicht überboten werden konnte“. 64 Zudem läßt sich das volksdeutsche Denken in der Weimarer Republik keineswegs eindeutig immer

Werner K. Blessing, Staat und Kirche in der Gesellschaft. Institutionelle Autorität und mentaler Wandel in Bayern während des 19. Jahrhunderts. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 51.) Göttingen 1982, 219f. 60 Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934. Geringfügig erg. Ausg. Frankfurt am Main/Berlin 1986, 94f. 61 Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918. München/New Providence/London 1996, XII. 62 Blessing, Staat und Kirche (wie Anm. 59), 219f. 63 Ähnlich die Argumentation bei George L. Mosse, Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1991, 251. 64 Fritz Gschnitzer/Reinhart Koselleck/Bernd Schönemann, Art. „Volk, Nation, Nationalismus, Masse“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. Bd. 7. Hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Stuttgart 1992, 141–421, hier 389. 59

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als nationalistisch identifizieren 65; in demokratischer Orientierung war es auch im linken Parteienspektrum anzutreffen. Und der Topos der „Volksgemeinschaft“ – in seiner inklusiven, nicht gegen Minderheiten gerichteten Variante 66 – wurde vor allem auch vom sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert als gesellschaftspolitische Leitidee beschworen. 67 So verwundert es kaum, daß sich dem Ideal der „Volksgemeinschaft“ selbst offizielle jüdische Organisationen verschrieben. 68 Dennoch ist kaum von der Hand zu weisen, daß sowohl die Volkstumsideologie als auch die polyvalente Volksgemeinschaftsutopie einen Zeitgeist nährten, von dem letztlich die radikalvölkischen Nationalsozialisten am meisten profitierten, weil es für den einfachen Bürger offensichtlich ziemlich schwierig war, biederes volksnationales Denken von einem rassisch konzipierten Begriff des Völkischen sauber zu trennen. Das völkische Denken in der Weimarer Republik bedeutete, mit Martin Broszat zu reden, zunächst „die Verdrängung alldeutscher Machtpolitik auf die Ebene des Gefühls“. 69 Explizit gegen den westlichen Rationalismus und den universalistisch-französischen Begriff der „Nation“ gerichtet 70, sahen die Völkischen in der ethnischen Reinheit des deutschen Volkes den Zielpunkt ihrer Weltanschauung. Für geistige Differenzierungen war in diesem manichäischen Denken kein Platz: Deutsches stand gegen Undeutsches, Rassereinheit gegen Rassenvermischung und vor allem Jude gegen Arier. Innerhalb der eklektizistischen völkischen Weltanschauung erlangte der Antisemitismus jetzt eine zentrale Funktion, erklärte er doch auf einfache Weise die Ursachen und Folgen der deutschen Niederlage. 71 So mancher, der eine jüdische Weltverschwörung „in den sicheren Ordnungen des Kaiserreiches noch als Hirngespinst abgetan hatte“, mochte angesichts der unvorstellbaren Verwirrung der Nachkriegsjahre in dieser absurden Idee plötzlich Plausibilität erkennen. Und wer sich „einmal auf diesen Dann, Nation und Nationalismus (wie Anm. 55), 264–267. Bruendel, Volksgemeinschaft (wie Anm. 33), passim. 67 Aus dem offiziellen Sprachgebrauch der Sozialdemokratie wurde der Begriff indes mit der Wiedervereinigung von SPD und USPD „ausgesondert“. Norbert Götz, Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim. Baden-Baden 2001, 92; Walter Mühlhausen, Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik. Bonn 2006. 68 Götz, Ungleiche Geschwister (wie Anm. 67), 104. 69 Martin Broszat, Die völkische Ideologie und der Nationalsozialismus, in: Deutsche Rundschau 84/I, 1958, 53–68. 70 Werner Bökenkamp, Frankreichs Universalismus. Ein Feind des Volkstums. Berlin 1940, 33f. 71 Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich (wie Anm. 60), Bd. 1, 97–99. 65 66

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Gedanken eingelassen hatte, der fand bald auf Schritt und Tritt“ bei den Juden in den Reihen der Siegermächte, in der deutschen Politik oder an der deutschen Börse die Belege dafür. 72 Die Folge davon war eine Welle antisemitischer Verbalinjurien, aber auch schon tätlicher Ausschreitungen, die bald nach Kriegsende anschwollen und die Geschichte der Weimarer Republik begleiteten. 73 In der protestantischen Provinz konnte sich die völkische Bewegung nur dann breit entfalten, wenn die hochangesehenen Landpfarrer in genügender Anzahl ein tragfähiges Verhältnis zu ihr fanden. Eben diese Entwicklung zeichnete sich früh ab. Denn für viele deutsche Protestanten war 1918 nicht nur der Krieg verloren worden, sondern mit dem Sturz der Monarchien auch die vertraute Tradition des landesherrlichen Kirchenregiments. Und als ob der Verlust dieses Halts nicht genügt hätte, schien jetzt auch noch die katholische Zentrumspartei, zusammen mit den anderen alten „Reichsfeinden“, mit der „gottlosen“ sozialistischen Arbeiterbewegung und dem „jüdischen“ Linksliberalismus, in der Weimarer Koalition das politische Geschick des deutschen Vaterlandes zu bestimmen. 74 Hatte nicht Papst Benedikt XV. noch dazu einem deutschen Journalisten gesagt, der Weltkrieg habe mit dem Sieg über Luther geendet? 75 Das protestantische Nationalgefühl war jedenfalls aufs stärkste erschüttert. So schien die völkische Bewegung in ihrem Bemühen, den alten nationalen Gedanken in einer neuen Form zu beleben, ein natürlicher Bundesgenosse sein zu können. Das hieß zwar nicht, daß radikalvölkische Vorstellungen von arischem Jesus und arischer Religion für eine auch nur bedeutende Minderheit der Pfarrer akzeptabel wurden. Es kam aber doch vor allem bei einer Reihe jüngerer lutherischer Theologen zur Entdeckung des Volkes als eines neuen ethischen Bezugspunkts. Während Kulturgesellschaft und Staat als neben der Familie wichtigste Felder christlichen Tätigwerdens im Krieg zerbroEbd. 98f.; allgemein zur Position der Juden in der Weimarer Republik: Walter Grab/ Julius H. Schoeps (Hrsg.), Juden in der Weimarer Republik. Stuttgart 1986; Ernest J. Hamburger, Jews, Democracy and Weimar Germany. New York 1986; Werner E. Mosse (Hrsg.), Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916–1923. Tübingen 1971; ders. (Hrsg.), Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik. Tübingen 1965. 73 Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1917–1939. Hamburg 2007. 74 Konrad Lauter, Kirchliche Rundschau für Bayern r. d. Rh. 1918/1920, in: Siegfried Kadner (Hrsg.), Kirchliches Jahrbuch für die evangelisch-lutherische Landeskirche Bayerns, Jg. 1919/20, 139–179, 122. 75 Ebd. 72

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chen bzw. fragwürdig geworden waren, hatte einzig das Volk offenbar überdauert. In dieser neuen politischen Theologie, von namhaften deutschen Professoren – gerade auch an der fränkischen Universität Erlangen – entwickelt, trat an die Stelle der alten Formel von Thron und Altar jetzt die Wendung von Gott und Volk. 76 Nicht nur im Nationalismus der Pfarrer, auch in dem der Lehrer – damals ebenfalls wichtige politische Multiplikatoren auf dem Lande – fanden sich zunehmend völkische Ideen. „Völkischer Stolz“ galt vielen Pädagogen gerade in der Stunde der Niederlage 1918 als Rezept gegen die, wie es hieß, stete deutsche Neigung „zu politischer Knochenerweichung“. 77 Das Bewußtsein, mit dem Volk „auf Gedeih und Verderb“ zusammenzugehören, prägte sich immer stärker aus. 1924 bereits kommentierte der Verein der bayerischen Volksschullehrer das „ungeheure Anschwellen“ des Völkischen Blocks bei den Landtagswahlen als „auch von unserem Standpunkt aus begrüßenswert“. 78 In den Jahren danach wurden Fragen hinsichtlich der, wie es hieß, „Einbettung der Volksschule in das völkische Gesamtleben“ für die Lehrer noch „brennender“ 79, vor allem für die Anfang der 1930er Jahre zunehmend in prekären ökonomischen Verhältnissen lebenden Junglehrer. Sie kämpften jetzt nur allzu oft an der Seite der NSDAP für „Staat und Volksgemeinschaft“. 80 Spuren des in Schulstuben und Pfarrhäusern verbreiteten völkischen Nationalismus begegnete man im politischen Leben der fränkischen Agrarprovinz während der 1920er Jahre auf Schritt und Tritt. So stieß der infolge der territorialen Bestimmungen von Versailles republikweit zu einer Massenorganisation mit zwei Millionen Mitgliedern emporgetragene Verein für das Deutschtum im Ausland auf reges Interesse. Bei seinen Werbewochen in der Region, während derer etwa über die Verfolgung des Deutschtums in Böhmen und Südtirol informiert wurde, sammelte man an den Landschulen viel Geld und auch Neumitglieder in großer Zahl. 81 Gesangvereine unternahmen aus Anteilnahme am Schicksal der Auslandsdeutschen in den 1920er Jahren immer wieder „Grenzlandfahrten“ nach Südtirol, Dänemark und Böhmen 82 oder vollzogen mit durchreisenden SudeScholder, Die Kirchen und das Dritte Reich (wie Anm. 60), Bd. 1, 124f. Bayerische Lehrerzeitung, Jg. 1918, 197, 225. 78 Ebd. Jg. 1924, 132. 79 Hierzu Bericht über die Tagung des Bayerischen Lehrervereins in Weißenburg, in: Fränkische Zeitung v. 22.7.1932. 80 Tagung der Arbeitsgemeinschaft der bayerischen Junglehrer in Nürnberg. Fränkische Zeitung v. 28.8.1930. 81 HStAM HMB, 5.5.1926, 5.1.1931. 76 77

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tendeutschen, die sich auf einer der damals beliebten Rheinlandfahrten befanden, gar einen „Akt völkischer Verbrüderung“. 83 Das wachsende Verantwortungsgefühl für die nach Millionen zählenden Deutschen im Ausland wirkte offensichtlich auf das Nationsverständnis im Reich zurück. Es verstärkte noch die in allen politischen Lagern spürbare Umprägung der Begriffe „Volk“ und „Nation“. 84 Die eigentlichen Katalysatoren des völkischen Denkens waren in einem weiten Bogen auf der politischen Rechten angesiedelt. Die Deutsche Volkspartei (DVP) Stresemanns, der einmal als „Fanatiker der Volksgemeinschaft“ charakterisiert wurde, gehörte reichsweit nicht dazu, auch wenn die Partei sich gerne auf den „sozialen Gedanken der Volksgemeinschaft“ berief, um dem Verdacht zu begegnen, eine reine „Partei der Wirtschaft“ zu sein. 85 Die fränkischen Nationalliberalen dagegen, die sich aufgrund einer vermeintlichen „Linksentwicklung“ der DVP im Reich im Herbst 1923 von der Partei abspalteten, begründeten dies auch damit, daß Deutschland wieder deutsch werden solle, indem „unser Volk völkisch selbstbewußt“ werde. 86 Dabei betonten die nationalliberalen Sezessionisten, daß es eine Verständigung mit den Ideen von 1789, wie sie sie vor dem Weltkrieg versucht hätten, jetzt nicht mehr geben könne, „daß vielmehr der deutsche Geist gegen jeden Kosmopolitismus aufgerufen werden müsse“. 87 Auch im Landbund, der mit Abstand wichtigsten, der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) eng verbundenen Organisation in der Region, herrschte die Überzeugung: „Bauernpolitik ist völkische Politik, darum muß völkische Politik in erster Linie Bauernpolitik sein“. 88 Besonders dem aktivistischen Junglandbund lag der völkische Gedanke am Herzen, wobei die „Bekämpfung des jüdisch-marxistischen Geistes“ zu den Kernzielen zählte. 89 Wichtigstes Rekrutierungsfeld der völkischen Bewegung wurden Max Döllner, Entwicklungsgeschichte der Stadt Neustadt an der Aisch bis 1933. Neustadt an der Aisch 1950. 83 Der Bayerische Sänger v. 1.2.1931, 33. 84 Dann, Nation und Nationalismus (wie Anm. 55), 265f. 85 Götz, Ungleiche Geschwister (wie Anm. 67), 97. 86 Fränkische Zeitung v. 10.10.1923; die Ideen Eisners und Liebknechts zur internationalen Völkerbeglückung hatte man im Nationalliberalismus schon immer für naiv gehalten. Fränkische Zeitung v. 9.1.1919. 87 Hans Fenske, Konservatismus und Rechtsradikalismus in Bayern nach 1918. Bad Homburg/Berlin/Zürich 1969, 74. 88 Der Bund der Landwirte in Bayern v. 17.2.1924. 89 Abschrift „Die Ziele des Bayerischen Junglandbundes“ im Privatarchiv des einstigen 82

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indes die nationalen (Wehr-)Verbände wie der erwähnte Bund Oberland, aber auch die Reichsflagge, der Stahlhelm und der Blücherbund, die sich nach der Auflösung der Einwohnerwehren 1921 und vor allem im Nationalisierungsschub des Ruhrkampfs 1923 auch in Franken sprunghaft vermehrten. Sie veranstalteten zahlreiche „vaterländische Abende“, inszenierten Theaterstücke wie den „Rütlischwur“ 90 und erfreuten sich der tatkräftigen Unterstützung einflußreicher deutschnationaler Honoratioren. 91 Denn die Pflege des völkischen Gedankens war geradezu das Kernstück in der parteipolitischen Programmatik und Strategie der Deutschnationalen. Auf dem Landesparteitag von 1921 bezeichnete der Erlanger Professor Friedrich Brunstäd in einem Grundsatzreferat die deutschnationale Parteibildung „als eine notwendige Funktion innerhalb der völkisch-nationalen Erneuerung“ und stellte das „Ergriffensein“ von der Idee der „nationalen Volksgemeinschaft“ als Gründungsimpuls der aus ganz verschiedenen Lagern kommenden Partei heraus. 92 Angesichts der völkischen Stimmung in den fränkischen Hochburgen der DNVP legten die deutschnationalen Funktionäre größten Wert darauf, den völkischen Gedanken angenommen zu haben, „schon bevor er zum Schlagwort wurde“. 93 Zu Recht hat George L. Mosse in der DNVP einen der „Hauptvermittler des völkischen Denkens“ gesehen, dessen Wirken nicht zuletzt deshalb „besonders tückisch“ war, weil es in einem so bürgerlichen „ehrbaren Gewande“ auftrat. 94 Den Anspruch, gegenüber der NSDAP das völkische Original darzustellen, konnte die DNVP aber nach dem Ausscheiden ihrer extremvölkischen Teile 1922 95 und dem Hitlerputsch 1923 immer weniger plausibel Junglandbundmitglieds und späteren Kreisrats Friedrich Trump, Bottenweiler (Landkreis Ansbach). 90 Berichte über die Reichsflagge Leutershausen und Windsbach, in: Fränkische Zeitung v. 10.1., 3.11.1923; Rainer Hambrecht, Der Aufstieg der NSDAP in Mittel- und Oberfranken (1925–1933). (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, Bd. 17.) Nürnberg 1976, 16–18. 91 Bei einer „Übung unter Gewehr“ ausgerechnet im politisch roten Schopfloch zog die Reichsflagge unter Leitung des Dinkelsbühler Bürgermeisters und des Bezirksamtmanns in den Ort ein. Fränkische Zeitung v. 24.11.1923. 92 Friedrich Brunstäd, Völkisch-nationale Erneuerung. Rede von Friedrich Brunstäd auf dem 3. Parteitag der Deutschnationalen Volkspartei in München am 2. Sept. 1921. (Deutschnationale Flugschrift, 119.) Berlin 1921, 2f. 93 Fränkische Zeitung v. 12.12.1923. 94 Mosse, Die völkische Revolution (wie Anm. 63), 266. 95 Jan Striesow, Die Deutschnationale Volkspartei und die Völkisch-Radikalen 1918– 1922. Bd. 1–2. Frankfurt am Main 1981, 451–471.

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machen. Statt dessen geriet sie ins Lavieren, kritisierte zwar Hitlers „Mittel und Wege“, an der Kooperation „aller national und völkisch Denkender“ indes hielt sie auch nach dem Putsch fest, um das gemeinsame „hohe Ziel“ zu erreichen. 96 Als die radikalere völkische Variante, viel weniger restaurativ orientiert als der „alte Nationalismus“ der DNVP, profilierte sich mehr und mehr die NSDAP. Sie übersetzte den neuen Nationalismus der konservativen Revolutionäre, die „den eigentlich produktiven Kern des antidemokratischen Denkens in der Weimarer Republik“ 97 ausmachten, vom Intellektuellen ins Populär-Politische und trug entscheidend dazu bei, weite Teile der ländlichen Bevölkerung mit der Sehnsucht nach einer neuen Staatsordnung zu erfüllen. Die agitatorische Effizienz, mit der die Nationalsozialisten alten und neuen Nationalismus synthetisierten, nötigte der DNVP um so mehr Respekt ab 98, als beide Parteien auch in der exklusiven Deutung des Volksgemeinschaftsbegriffs übereinstimmten, der von Hitler in seinen Reden schon früh und eifrig verwendet wurde 99. War es den protestantisch-konservativen Kräften nach 1919 zunächst noch gelungen, den zunehmend völkischen Nationalismus für sich zu nutzen, so wurde dies spätestens nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre immer schwieriger. Je mehr das evangelische Franken in den Bann völkischer Ideen geriet, desto weiter entfernte es sich von der Republik. Die Gestaltung politischer Gedenktage oder die „Flaggenfrage“ boten reiches Anschauungsmaterial dafür, daß die Inflation des Begriffes „Vaterland“ 100 sich nicht zuletzt gegen die gegenwärtige Weimarer Verfassung richtete. So gingen die Verfassungsfeiern zum 11. August fast nur von der SPD aus, und zwar lediglich in den Städten. Auf dem flachen Land dagegen, wo man sich an vaterländischen, schwarz-weiß-roten Ereignissen wie den Deutschen Tagen oder den Reichsgründungstagen am 18. Januar nicht genug berauschen Bericht über die Ansbacher BMP-Versammlung, in: Fränkische Zeitung v. 17.11.1923. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933. 3. Aufl. München 1992, 37. 98 Fränkische Zeitung v. 14.12.1923. 99 Götz, Ungleiche Geschwister (wie Anm. 67), 111, mit Verweis u. a. auf eine HitlerRede aus dem Jahr 1920; Hans-Uwe Otto/Heinz Sünker, Volksgemeinschaft als Formierungsideologie des Nationalsozialismus. Zu Genesis und Geltung von „Volkspflege“, in: Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Politische Formierung und soziale Erziehung im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1991, 50–77. 100 Nowak, Konfession und Nation (wie Anm. 36), 35; Dann, Nation und Nationalismus (wie Anm. 55), 269. 96 97

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konnte, fanden die schwarz-rot-goldenen Termine keine Beachtung. 101 In Dinkelsbühl entbrannte bei der Aufführung des historischen Festspiels „Die Kinderzeche“ eine charakteristische Fehde um das Mitführen schwarz-rot-goldener Fahnen im Festzug. 102 Und am zehnten Jahrestag der Weimarer Verfassung (1929) trat beim „Ring Schwarz-Weiß-Rot“ in Weißenburg der DNVP-Reichstagsabgeordnete Hermann Strathmann auf und begründete unter Hinweis auf den „Parteienstaat“ und den Versailler Vertrag, der Deutschland zum „Konzentrationslager“ gemacht habe, weshalb es an diesem Tag nichts zu feiern gäbe. 103 Zwar erinnerte die SPD in Rothenburg daran, daß die Bürgerschaft der Freien Reichsstadt traditionell von „viel republikanischem Geiste durchdrungen“ gewesen sei und Altbürgermeister Nusch in dem Festspiel „Der Meistertrunk“ bekannt habe: „Du Republik, du sollst mein alles sein“. 104 Doch der Versuch, eine republikanisch-demokratische Tradition zu erfinden, mußte an der mental nachwirkenden Koinzidenz von militärischer Niederlage, revolutionärer Republikgründung und Versailler Vertrag scheitern. 105

V. Über 80 Prozent der Stimmen vermochte die NSADP als erfolgreichste Partei des völkischen Nationalismus und präsumtive Vollenderin der deutschen Volksgemeinschaft in den freien Wahlen von 1932 in manchen fränkischen Stimmkreisen – das Rothenburger Land lag an der Spitze – auf sich zu vereinen. Dagegen blieb die extreme Rechte in der französischen Agrarprovinz auch in den Jahren der (Frankreich erst mit zeitlicher Verzögerung erfassenden) Weltwirtschaftskrise viel schwächer. Besonders schwach war die Rechte in der Corrèze, wo schon in den Jahrzehnten vor HStAM HMB, 16.8.1924, 4.2.1926, 18.8.1927, 20.8.1929; Fränkische Zeitung v. 22.1.1920. 102 HStAM HMB, 4.7.1925. 103 Windsheimer Zeitung v. 12.8.1929. 104 Fränkische Tagespost v. 19.11.1924. 105 Nach Megerle wurde der Versailler Vertrag „quasi zur zweiten Konstitution der Weimarer Republik“. Klaus Megerle, Element nationaler Integration und politischer Konsensstiftung? Zum Stellenwert der Außenpolitik für die politische Kultur der Weimarer Republik, in: Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hrsg.), Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik. Opladen 1990, 218–249, hier 249. Auch die anderen alten Reichsstädte in der Region scheinen nach 1918 geradezu „ihre Ehre darein“ gesetzt zu haben, Vertreter „eines oft ganz extremen Nationalismus“ zu werden. Fränkische Tagespost v. 15.7.1930. 101

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dem Ersten Weltkrieg selbst gemäßigt konservative Politiker, von der Linken rituell der Republikfeindschaft und zu großer Kirchennähe bezichtigt, einen äußerst schweren Stand gehabt hatten. Die politischen Grundkoordinaten in dieser Hochburg des Antiklerikalismus wurden selbst durch die fundamentale Erfahrung der erfolgreichen Union sacrée nicht entscheidend verändert. Gewiß, als sich im November 1918 in den Städten und Dörfern der Corrèze die ganze Bevölkerung, der meist laizistisch-republikanische Bürgermeister an der Spitze, in der Kirche versammelte und das „Te deum“ anstimmte, ließ es sich an diesen „unvergeßlichen Tagen der christlichen Freude, des Patriotismus und der ,Union sacrée‘“ kaum ein Priester nehmen, die innere Einheit des Landes auch für die Zukunft zu beschwören. 106 Doch die kirchenpolitischen Konzessionen, die als Preis für das auch von Millionen Katholiken (einschließlich der Priester) vergossene Blut eingefordert wurden, weckten rasch wieder kulturkämpferische Reflexe auf seiten der Laizisten. Eine politische Sammlungsformation der rechten Mitte, des Bloc national, der die Union sacrée bei den ersten Nachkriegswahlen im Herbst 1919 fortzusetzen und gemäßigt Konservative mit (links-)liberalen Laizisten zu versöhnen trachtete, scheiterte gerade in jenen Teilen der französischen Provinz, in denen (wie in der Corrèze) die Erinnerungen an den Kulturkampf der Vorkriegszeit wach geblieben waren. 107 Daß dies andernorts teilweise weniger der Fall war, demonstrierte vor allem auch die sich nach 1918 anbahnende, 1924 in der Fédération Républicaine mündende parteipolitische Sammlungsbewegung aus Nationalliberalen und konservativen Katholiken. Historisch ermöglicht worden war sie letztlich dadurch, daß sich große Teile des konservativ-katholischen Lagers während des Ersten Weltkrieges im Konflikt um die Friedensnote des – als „bochophil“ verdächtigten – Papstes im August 1917 gegen den Heiligen Vater und für die französische Nation entschieden hatten. Union sacrée und Kriegsnationalismus hatten also das Nationskonzept vieler konservativer Katholiken aus seiner religiösen Verwurzelung gelöst. 108

Ebd. 24.11.1918. François Goguel, La politique des partis sous la IIIe République. Paris 1958, 216; zu den nach wie vor virulenten „alten religiösen Animositäten“ im Nachbardepartement Allier: Charles S. Maier, Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I. Princeton/New York 1975, 99f. 108 Hoffmann, Ordnung (wie Anm. 21), 91, 111. 106 107

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Zu den größten Nutznießern dieser durch den militärischen Sieg 1918 besiegelten Entwicklung zählte aber nicht etwa der in Frankreich weiterhin schwach bleibende politische Katholizismus selbst, sondern die republikanische Idee. Die Siegesstimmung geschickt nutzend, ließ die französische Regierung am 11. November 1920 landesweit das 50. Jubiläum der Republik zusammen mit dem zweiten Jahrestag des Waffenstillstandes feiern. Allen Bürgern sollte so die Möglichkeit gegeben werden, „die unauflösliche Verbindung des siegreichen Vaterlandes und der Republik“ zu bezeugen. 109 Der Präfekt der Corrèze schrieb den republikanischen Stützen des Departements bei dieser Gelegenheit noch einmal persönlich ins Stammbuch, worum es am 11. November 1920 ging 110: Danach hatte die Republik aus den kraftlos gewordenen Händen des Kaiserreichs 1870 ein in der Schmach der Niederlage isoliertes Frankreich übernommen, „in seinem Ansehen und in seinem Territorium vermindert“ und einer ungewissen Zukunft entgegensehend. Dann aber hatte die Republik – dank der Energie und des Glaubens ihrer Gründer und „ihrer hohen Konzeption der Freiheit“ – die Zuneigung des Volkes und die Zustimmung aller freien Geister gewonnen. Schließlich hatte sie 1918/19 ihr Werk gekrönt, indem sie „durch den reinsten der Siege“ die territoriale Einheit des Vaterlandes verwirklichte. Die Republik hatte – um noch einmal mit den Worten des corrèzischen Präfekten zu reden – „das Vaterland in seinem uralten Umfang wiederhergestellt“. Hier lag der fundamentale, in seiner Tragweite gar nicht hoch genug zu veranschlagende Unterschied zur deutschen Situation nach 1918, wo die Republik – nach weit verbreiteter nationalprotestantischer Überzeugung – das Vaterland innerlich und äußerlich zerstört hatte. Selbst der anhaltende Kampf der katholischen Kirche für eine andere Kulturpolitik richtete sich in Frankreich jetzt erkennbar nicht mehr gegen die Republik selbst, die vielmehr auch von katholischer Seite zunehmend mit der Nation identifiziert wurde. Die entschiedensten Befürworter einer christlichen Demokratie entwickelten in Frankreich sogar eine politische Theologie, die Jesus Christus als „den herausragenden Republikaner“ und ersten Demokraten deutete. 111 Im Blick auf Perversionen der völkischen Theologie in Deutschland und ihre Behauptung eines arischen Jesus erscheint diese republikanische Interpretation besonders bemerkenswert. Archives Départementales de la Corrèze (künftig: ADC) 1 M 108: Präfekt an die Herren Bürgermeister, Damen und Herren Volksschullehrer, Tulle, 1. November 1920. 110 Ebd. 111 Maurice Montuclard, Conscience religieuse et démocratie. La deuxième démocratie chrétienne en France, 1891–1902. Paris 1965, 168. 109

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Wenn also schon der Patriotismus der französischen Kirche nach 1918 immer republikanischer wurde, so mußte dies für die Haltung der Volksschullehrer erst recht gelten. Die sogenannten instituteurs verehrten aufgrund ihrer ideologischen Ausbildung die Dritte Republik seit jeher besonders glühend als Tochter der Revolution von 1789. 112 Nach der erfolgreichen Bewährungsprobe des republikanischen Staatswesens – und seiner Pädagogen – im Weltkrieg kam es den instituteurs mehr denn je darauf an, „die Republik mit den Lehrern und die Lehrer mit der Republik zu verteidigen“: beide „solidarische und unzertrennliche Kräfte“ seien existentiell aufeinander angewiesen. 113 Dieser Propaganda hatten die – gerade in der Corrèze politisch traditionell einflußarmen – Pfarrer weniger entgegenzusetzen denn je. Gewiß gab es auf der anderen Seite auch in Frankreich einen Nationalismus der Weltkriegsveteranen. Aber während dieser Nationalismus in den deutschen Wehrverbänden eine völkische Dynamik gegen den Weimarer Staat entwickelte, blieb er, nicht nur in der Corrèze, republikanisch domestiziert. Selbst die konservativeren Teile der in Frankreich politisch ausgesprochen heterogenen Anciens Combattants warnten in den 1930er Jahren jene rechten „Fischer im trüben Wasser“ davor, die schlechte politische Stimmung infolge spektakulärer Korruptionsskandale als eine Abkehr von den republikanischen Institutionen zu deuten: Die Masse des französischen Volkes sei „von Grund auf republikanisch“. 114 Ähnlich wie im evangelischen Franken die zunehmend völkisch-antirepublikanisch definierte, die Grenzen von Versailles transzendierende Kulturnation als regulative Idee wirkte, die im Begriff des „Vaterlandes“ das allgemein verbindliche gesellschaftliche Ideal vorgab, richtete sich die politische Kultur der Corrèze von den Volksschullehrern über die alten Kämpfer bis hin zu den gemäßigten Katholiken nach 1918 noch stärker auf die französische Staatsnation aus. Deren sakrosankte Chiffre hieß mehr denn je: „la république“. Während der gesamten Zwischenkriegszeit behielt die Republik in der Corrèze fast einem modernen Totem vergleichbare Funktionen eines Stammeszeichens mit übernatürlicher Kraft. In politischen Debatten bekannte man sich habituell als „alter Republikaner“ 115; aber auch in der Jugend gab es Initiativen Jacques Girault, Instituteurs syndiqués et enseignement de l’histoire entre les deux guerres, in: Revue d’Histoire moderne et contemporaine 1984 (Sondernummer), 147. 113 „Les instituteurs et la République“, in: Revue de l’Enseignement Primaire et Primaire Supérieur v. 4.10.1925. 114 Revue de l’Enseignement Primaire et Primaire Supérieur v. 20.1.1934. 115 La Croix de la Corrèze v. 2.11.1919. 112

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zur Verteidigung der, wie es hieß, „unsterblichen Prinzipien der Revolution“. 116 Und so bedeutete es für einen Politiker einen unschätzbaren Vorteil, wenn sein Vater – vielleicht sogar als Volksschullehrer – in der „großen Epoche der republikanischen Kämpfe“ hervorgetreten war, also zu denen gehörte, „die soviel gekämpft und gelitten haben für die Demokratie“. 117 Als Gralshüter der Republik agierte der – unbeschadet seiner bürgerlich-bäuerlichen Prägung – eher linksliberale Parti radical, die in der Region schon traditionell führende Partei. Von jeher waren diese radicaux symbiotisch mit der Republik verbunden gewesen. Sie partizipierten, worauf ihre Funktionäre auch immer wieder hinwiesen, „seit einem halben Jahrhundert an der Fundamentierung der Demokratie“. 118 Die „Wahlbekenntnisse“ der radicaux waren fast immer plakativ mit „République Française – Liberté – Égalité – Fraternité“ überschrieben, so als ob es sich dabei um amtliche staatliche Dokumente handelte. 119 Auch bei Stichwahlen zählte der Appell an die „Disziplin aller echten Republikaner“ zu den propagandistischen Topoi des Parti radical. 120 Die Wirksamkeit der radikalsozialistischen Propaganda beruhte darauf, daß sie die typisch französische Verbindung von Republikanismus und Nationalismus besonders glaubwürdig darstellte. Schon im 19. Jahrhundert hatten die radicaux den kämpferischen Republikanismus als Teil der nationalen Identität Frankreichs begriffen. 121 Auch in der Zwischenkriegszeit blieb diese Union von Republik und Vaterland ein Eckstein im parteipolitischen Selbstverständnis der Radikalsozialisten. Zeitgenössische Äußerungen wie die des Abgeordneten Jacques de Chammard belegen dies. So beendete der Radikalsozialist 1928 seinen Wahlaufruf an die „Bürger“ von Tulle mit dem Versprechen, auch künftig zur Union der Republikaner beizutragen, „die in einem gleichen Kult das Vaterland und die Republik vereinigen“. 122 L’Effort Républicain pour l’Union des Gauches v. 30.3., 6.4.1924. So die Zeitung France über den Kandidaten Lortholary aus Lubersac, zit. nach: Le Salut National v. 8.1.1928. 118 So der Parlamentskandidat Jaubert, zit. nach: La Croix de la Corrèze v. 22.1.1928. Ähnlich Philippe de Vachal in seiner Profession de foi zu den Wahlen vom 22.4.1928, in: ADC 3 M 197. 119 Profession de foi, in: ADC 3 M 195f. 120 Henri Queuille, „Aux Électeurs“ (vor den Stichwahlen am 29.4.1928), in: ADC 3 M 197. 121 Judith F. Stone, La république et la patrie. The Radicals’ Nationalism under Attack, in: Robert Tombs (Ed.), Nationhood and Nationalism in France. From Boulangism to the Great War 1889–1918. London/New York 1991, 168–181. 122 Profession de foi zu den Wahlen vom 22.4.1928, in: ADC 3 M 198. 116 117

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Von hier aus war auch eine Brücke zu den konservativ-nationalistischen Kräften in der Corrèze geschlagen. Diese forderten zwar wegen des angeblich unabänderlichen germanischen Nationalcharakters eine härtere Deutschlandpolitik (einschließlich Reparationen „bis zum letzten Centime“) und grenzten sich auch massiv gegen den Pazifismus von Sozialisten und Kommunisten im eigenen Land ab; doch so exklusiv sie sich gegen den inneren wie äußeren Feind (deutsche „Barbaren“) verhielten, so wenig war mit dieser partiell ethnischen Selbstdefinition „eine völkische Rassenideologie verbunden“. 123 Statt dessen betrachteten auch die gemäßigten Rechten die Republik wegen der Weihen des Sieges von 1918 als „unberührbar“. 124 Wahlaufrufe der konservativen Liste d’Union Républicaine de Défense Agricole et sociale waren infolgedessen ebenso mit dem staatstragenden „République Française“ überschrieben wie die Bekenntnisse unabhängiger bürgerlicher Kandidaten. Alle warben sie damit, die „echten“ oder „wahren Republikaner“ zu sein, oder distanzierten sich gar von einigen zu „gemäßigten“ Radikalsozialisten, die sich „gestern noch weigerten“, „es lebe die Republik zu rufen“. 125 Glücklich, wer auch als konservativer Kandidat von sich sagen konnte, daß Vater und Großvater sich schon zu einem Zeitpunkt als Republikaner bekannten, „als das noch gefährlich war“. 126 Besonders bemerkenswert aber war die Einsicht eines Kommunalpolitikers, der (1929) „den republikanischen Prinzipien eine solche Kraft“, der Republik eine so stabilisierende Funktion für das Land zutraute, daß Frankreich deswegen „den Krisen der Nachkriegszeit besser widerstanden“ habe als die anderen Nationen. 127 Der in der politischen Mitte verbreitete „nationalisme de synthèse républicaine“ 128 nahm auf der linken Seite des französischen Parteienspektrums spürbar ab. Stand die Republik für politische Gleichheit, so beanspruchte der Sozialismus soziale Gerechtigkeit; trotz gemeinsamer Bezüge Hoffmann, Ordnung (wie Anm. 21), 114. Liste d’Union Républicaine et de Défense Agricole et Sociale, Wahlen vom 16.11.1919, in: ADC 3 M 195; Roland A. Höhne, Faktoren des außenpolitischen Meinungs- und Willensbildungsprozesses innerhalb der gemäßigten Rechten Frankreichs in den Jahren 1934–1936. Eine historisch-politologische Studie zum Verhältnis von Gesellschaftssystem und Außenpolitik. Diss. Phil. Augsburg 1972, 67f. 125 Aufrufe zu den Wahlen vom 16.11.1919 und vom 11.5.1924, in: ADC 3 M 195 u. 3 M 196. 126 So im Aufruf von Philippe Vachal, Bürgermeister von Argentat, zu den Senatswahlen vom 20.10.1929, in: ADC 3 M 229. 127 Ebd. 128 Zu dem von Jean Touchard stammenden Begriff siehe Höhne, Faktoren (wie Anm. 124), 66, 211. 123 124

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waren beide Prinzipien doch nicht ganz äquivalent. Obwohl dieses Spannungspotential in der sozialistischen Partei jedenfalls bis zur Volksfrontbewegung erhalten blieb, war es überlagert von einer grundsätzlich republikanischen Energie, die sich während der Dreyfus-Affäre in der Kooperation von Arbeiterbewegung und liberalem Bürgertum aufgebaut hatte. In Anbetracht der Teilerfolge der nationalen republikanischen Geschichte mußten die französischen Sozialisten die Revolution nicht mehr ex nihilo machen, sondern brauchten sie gleichsam nur noch innerhalb des bestehenden parlamentarischen Systems zu vollenden. 129 Im Wahlkampf 1919 sprachen die Sozialisten in der Corrèze zum Beispiel davon, durch einen Sieg die „wahre Republik“ zu etablieren, da im bestehenden Staat die angebliche politische Gleichheit „durch wirtschaftliche Ungleichheiten zur Lüge“ werde. 130 Dementsprechend waren auch die Wahlaufrufe nicht mit „République Française“, sondern mit „Sozialistische Partei – S.F.I.O.“ überschrieben; sie betonten den großen verfassungspolitischen und gesellschaftlichen Reformbedarf mit dem Ziel einer „sozialen und demokratischen Republik“. 131 Das für die Sozialisten Gesagte traf cum grano salis selbst für die Kommunisten zu, die ihrerseits an linksrepublikanische Traditionen des Landes anknüpften und zum Beispiel die Erinnerung an die Pariser Kommune von 1871 beschworen. Daß die Idee des republikanischen Laizismus zumindest den integralen Nationalismus in der Corrèze so gut in Schach halten konnte, lag auch – wie schon vor 1914 – an der im Vergleich zur deutschen protestantischen Provinz untergeordneten Bedeutung des Antisemitismus. Zwar wurde die Frage der „Kriegsgewinnler“ auch im siegreichen Frankreich nach 1918 zum Wahlkampfthema. 132 Aber der – seit Dreyfus – anhaltende antirepublikanische Geruch des Antisemitismus sowie der gleichbleibend geringe jüdische Bevölkerungsanteil in der Corrèze verhinderten, daß der Typus des Kriegsgewinnlers mit „dem“ Juden identifiziert wurde. 133 Spuren dumpfen Ressentiments waren zwar gelegentlich bis hinein in den sozialistischen „Le Travailleur de la Corrèze“ zu entdecken, der an die sprichwörtAlain Bergounioux, Socialisme et République avant 1914, in: Serge Berstein/Odile Rudelle (Eds.), Le modèle républicain. Paris 1992, 117–128, hier 117, 127f.; Michel Winock, Le mythe fondateur: l’affaire Dreyfus, in: ebd. 131–145, hier 141f. 130 Le Travailleur de la Corrèze, Numéro spécial zur Wahl im November 1919. 131 Aufrufe der SFIO zu den Senatswahlen vom 20.10.1929 (Docteur A. Verdeaux) und zu den Parlamentswahlen 1932 (Léger Faure), in: ADC 3 M 229 bzw. 3 M 200. 132 La Croix de la Corrèze v. 19.10.1919, 27.4.1924. So galt etwa der Radikalsozialist Jaubert als Kriegsgewinnler und seine Kandidatur als Belastung für die gesamte Liste der Partei. 129

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liche Schlauheit der Menschen in der Nachbarregion erinnerte: Ein Auvergnac, so sage man, würde drei Juden übers Ohr hauen. 134 Aber aufs Ganze gesehen blieb der Antisemitismus in der Corrèze wie im übrigen Frankreich während der 1920er Jahre doch ein randständiges Phänomen. 135 Die katholische Kirche hatte seit der Verurteilung der Action Française durch den Papst 1926 „endgültig mit antijüdischen Vorurteilen gebrochen“ 136, und auch in der rechten Mitte war Antisemitismus vor 1936 „zu keiner Zeit ein bestimmendes Phänomen für den Nationalismus innerhalb der FR (Fédération républicaine).“ 137 Lediglich auf der äußersten französischen Rechten sah man im Antisemitismus nach wie vor ein geeignetes Mittel, das ideologisch stark zerklüftete Land zu integrieren. 138 Und als die Dritte Republik ab 1932 immer tiefer in die Krise geriet, erlebte Frankreich eine antisemitische Welle, die in ihrer propagandistischen Wucht manchen an die Dreyfus-Affäre erinnerte. 139 Während der Zeit der Volksfront richtete sich der Judenhaß dann zunehmend gegen die Person Léon Blums 140, der jüdischer Abstammung war. In der politischen Kultur einer so tief republikanisch-laizistisch imprägnierten Provinz wie der Corrèze zeitigten aber auch diese nationalen antisemitischen Schübe keine spürbare Wirkung. Selbst für die Agitation der regionalen Action française spielte antisemitische Kritik – etwa am „jüdisch-republikanischen“ Scheidungsrecht 141 oder an der Spezialausbildung linker Lehrer durch die „jüdische Freimau-

Zeev Sternhell, The Roots of Popular Anti-Semitism in the Third Republic, in: Frances Malino/Bernard Wasserstein (Eds.), The Jews in Modern France. Hanover, N. H./ London 1985, 103–134, hier 121, 129. 134 Le Travailleur de la Corrèze v. 29.9.1919. 135 Léon Poliakov, Histoire de l’antisémitisme. Vol. 4: L’Europe suicidaire 1870–1933. Paris 1977, 307–309. 136 René Rémond, Frankreich im 20. Jahrhundert. T. 1: 1918–1958. (Geschichte Frankreichs, Bd. 6.) Stuttgart 1994, 229; Lazare Landau, De l’aversion à l’estime. Juifs et catholiques en France de 1919 à 1939. Paris 1980. 137 Hoffmann, Ordnung (wie Anm. 21), 125. 138 Sternhell, The Roots of Popular Anti-Semitism (wie Anm. 133), 111, 115. 139 Ralph Schor, L’antisémitisme en France pendant les années trente. Prélude à Vichy. (Questions au XXe siècle, Vol. 49.) Brüssel 1992, 11; Richard Millman, La question juive entre les deux guerres. Ligues de droite et antisémitisme en France. Paris 1992, 298; Paul J. Kingston, Anti-Semitism in France during the 1930s: Organisations, Personalities and Propaganda. (Occasional Papers in Modern Language, Vol. 14.) Hull 1983. 140 Stephen A. Schuker, Origins of the „Jewish Problem“ in the Later Third Republic, in: Malino/Wasserstein (Eds.), The Jews in Modern France (wie Anm. 133), 161. 141 Le Salut National v. 20.3.1927. 133

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rerei“ in den Ecoles normales 142 – eine untergeordnete Rolle. Offensichtlich wurde dieses Argumentationsmuster als nicht besonders wirkungsvoll erachtet, denn bei intellektuellen Vordenkern der Action française im Limousin, wie Albert Pestour, waren „die Juden und ihre roten Lakaien“ durchaus als „Profiteure der Schlächterei“ im Ersten Weltkrieg benannt worden. 143 Erst im Kontext der Volksfront wuchs auch am rechten Rand der Corrèze die Neigung, eine „gemeinsame jüdisch-freimaurerische und sozialistisch-kommunistische Front“ als Gefahr zu beschwören. Schon den vergangenen Weltkrieg hatten danach die Machenschaften des internationalen Judentums verschuldet: Der serbische Jude Gabriel Princip sei zwei Jahre lang von einer jüdischen Freimaurerloge auf das Attentat von 1914 vorbereitet worden. 144 Dennoch konnten derartige antisemitische Parolen auch mangels konkreten regionalen Agitationsstoffs nicht über kleine rechte Zirkel hinausdringen. Wie die Entwicklung verlaufen wäre, wenn das Landjudentum in der Corrèze eine größere Rolle gespielt hätte, ist schwer zu beantworten. Die hypothetische Frage scheint aber doch zumindest gestellt werden zu müssen, weil die in Zeiten der Agrarkrisis verstärkt zu hörenden Vorwürfe gegen jüdische Händler in der Corrèze der antisemitisch gefärbten Kritik der fränkischen Bauern in manchem sehr ähnelten. Klagen von Landwirten über die Dreistigkeit und Falschheit skrupelloser Händler erreichten den radikalsozialistischen Bauernverbandsvorsitzenden Faure immer wieder. Die durchaus beträchtliche Wut über die „ausbeuterischen Blutsauger“ 145 des französischen Bauern konnte sich allerdings nicht in einer völkischen Sündenbocktheorie gegen eine nach religiösen oder ethnischen Kriterien näher zu definierende Minderheit verdichten – so wie dies in Franken unter dem propagandistischen Einfluß der NSDAP Ende der 1920er Jahre mehr und mehr geschah, als auch jüdische Händler zwangsversteigerte Bauernhöfe aufkauften.

Ebd. 27.2.1927. Gedicht „L’appel au roi“ in dem gleichnamigen Gedichtband von Albert Pestour, L’appel au roi. Paris 1933, 7. 144 Le Réveil du Bas-Limousin v. 7.6.1934 u. 27.2.1936. Das in Brive erscheinende Blatt fühlte sich der Fédération républicaine verbunden. 145 La Défense Paysanne v. 15.6.1929. 142 143

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VI. Nimmt man die Ausprägungen des französischen und des deutschen Nationalismus in der Zwischenkriegszeit zusammenfassend in den Blick, so fällt neben den unterschiedlichen antisemitischen Potentialen vor allem eines ins Auge: der scharfe Kontrast zwischen einer allgemeinen, in der evangelischen Agrarprovinz nur besonders markanten deutschen Entwicklung, die von der Volksgemeinschaftsutopie der „Ideen von 1914“ und von einer „völkischen Revolution“ nach 1918 maßgeblich beeinflußt wurde, und einer partiell sogar gegen das nationale Vergemeinschaftungskonzept der Union sacrée gerichteten evolutionären Verfestigung des alten republikanischen Mythos in Frankreich, die in dessen älteren „linken“ Hochburgen wie der Corrèze lediglich besonders spürbar wurde. Mehr noch entwickelte sich parallel dazu vor allem in der France blanche die – paradoxerweise ebenfalls der Union sacrée geschuldete – nationalliberal-katholisch-konservative Sammlungspartei der Fédération républicaine zu einem Pfeiler der republikanischen Ordnung in der rechten Mitte. Während in Weimar-Deutschland auch nur scheinbar „vaterlandslose“ Gesellen zunehmend in die politische Defensive gerieten, fanden sich in Frankreich die vermeintlichen Gegner oder auch nur Skeptiker der real existierenden Republik in einer immer schwierigeren Position, da sich im Ergebnis der historischen Zäsur von 1918 die traditionellen Unterschiede zwischen nationalprotestantischer und republikanisch-laizistischer Mentalität weiter vertieft hatten. In Frankreich blieb für (revanchistischen) Nationalismus nach der Rückeroberung Elsaß-Lothringens relativ wenig Platz 146, rückten selbst die lange zögernden Katholiken immer näher an die siegreiche Republik heran. Deutschland dagegen stürzte in den Teufelskreis von Versailles, und besonders die Nationalprotestanten drifteten in beklemmender Geschwindigkeit über den revisionistischen Nationalismus zum völkischen Antirepublikanismus ab. Gewiß sollte man die Durchschlagskraft des republikanisch gebundenen Nationalgefühls für Frankreich auch nicht überzeichnen: Die Corrèze Winock, Nationalisme, antisémitisme et fascisme (wie Anm. 17), 29; George L. Mosse, Rassismus. Ein Krankheitssymptom in der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Königstein 1978, 177. Jedenfalls kehrte der französische Nationalismus, wie es Klaus Harpprecht treffend formuliert hat, immer wieder „mit einem unschuldigen Lächeln […] zu den Normen der westlichen Zivilisation zurück“. Klaus Harpprecht, Mein Frankreich. Eine schwierige Liebe. [o. O.] 1999, 118; Breuer, Nationalismus und Faschismus (wie Anm. 2).

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war nicht überall, und das Pétain-Regime fiel 1940 nicht vom Himmel. Vichy, der État français, hatte durchaus sehr viel mit dem – gerade in der France blanche – eben auch weiterhin vorhandenen, zweiten rechten Traditionsstrang der politischen Kultur Frankreichs zu tun. Maurras unterstützte bekanntlich Pétain. Richtig bleibt jedoch: Das rechts-autoritäre Pétain-Regime, das so lautstark und mit antirepublikanischer Zielrichtung auf den Topos des Vaterlandes (patrie) rekurrierte und damit unter der Ägide eines Generals aus dem Ersten Weltkrieg intentional wieder an die Union sacrée anknüpfte, hatte sich eben nicht in freien Wahlen gegen die Dritte Republik durchgesetzt, es war letztlich der „étrange défaite“ von 1940 geschuldet 147: der militärischen Niederlage gegen eine anscheinend erfolgreichere deutsche Volksgemeinschaft.

Dazu jetzt auch Jacques Engeli, Frankreich 1940. Wege in die Niederlage. 2. Aufl. Baden-Baden 2006.

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Der Erste Weltkrieg im Roman Zum Umgang des Historikers mit literarischen Zeugnissen* Von

Nicolas Beaupré I. Einführung Die literarische Aufarbeitung des Ersten Weltkriegs war in den 1920er Jahren beim großen Publikum bekanntlich außerordentlich erfolgreich. Die Kriegsliteratur im allgemeinen und der Kriegsroman im speziellen lieferten attraktive Deutungen dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan), noch bevor sich die historische Forschung überhaupt intensiver mit dem Phänomen auseinanderzusetzen begann. Die Verkaufszahlen von Romanen wie etwa Henri Barbusses „Le Feu“ (1916) oder Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1929), um zwei der in Frankreich beziehungsweise Deutschland meistgelesenen Bücher herauszugreifen, sprechen für sich. Begleitet wurden diese Verkaufserfolge freilich von nicht selten polemisch geführten Debatten über den literarischen Charakter der Werke, ihren dokumentarischen Wert und ihre Bedeutung für den politischen Diskurs der Nachkriegszeit. Dies hat dazu beigetragen, daß die Kriegsliteratur nach 1918 in vielen ehemals kriegführenden Ländern in literarischer wie politischer Hinsicht eine besondere Rolle gespielt hat – und dies zum Teil bis heute spielt. So finden Bücher, die einen nachgerade authentischen Zugang zum Geschehen der Grande Guerre verheißen, sich also bewußt als Zeugnis (témoignage) verstehen, insbesondere in Frankreich nach wie vor ein großes und interessiertes Publikum. Hier sind sie ein selbstverständlicher Teil lebhafter öffentlicher Debatten, die sich unter dem Schlagwort Kriegskulturen (cultures de guerre) bündeln lassen. 1 Während des Ersten Weltkriegs hatten sich die Vertreter der sogenannten Frontliteratur gezielt als Alternative zu jenen Schriftstellern etabliert, die ihre Werke fernab des Schützengrabens, in der geschützten Ruhe des Aus dem Französischen übersetzt von Antje Peter. Vgl. Pierre Purseigle, A Very French Debate: The 1914–18 „war culture“, in: Journal of War and Culture Studies, 1, 2008, 9–14. * 1

Hinterlands verfaßten. Dabei erhoben die écrivains combattants in Frankreich ebenso wie die Frontdichter in Deutschland den Anspruch, aufgrund ihrer unmittelbaren Beteiligung an den Kampfhandlungen seien ausschließlich sie dazu berufen, das Fronterlebnis authentisch wiederzugeben und es gültig zu deuten. Die Verlage zögerten denn auch nicht, den Frontdichter zu einem Kronzeugen der Kriegserfahrung zu erheben, um hieraus ein schlagkräftiges Verkaufsargument zu gewinnen, das es erlaubte, Kriegsberichte, Frontgedichte, Feldpostbriefe oder auch Kriegstagebücher im großen Stil zu vermarkten. 2 Bei näherem Hinsehen verliert dieses Argument freilich seine unbedingte Überzeugungskraft. Wie etwa, so wäre zu fragen, ist das literarische Schaffen eines Schriftstellers aus der ersten Phase des Krieges zu bewerten, der erst später an die Front gelangte? Und welchen Stellenwert haben die Erzeugnisse von professionellen Kriegsberichterstattern, die mit offiziösem Auftrag an die Front geschickt wurden, ohne dort selbst zu kämpfen? Ist die klare Trennlinie zwischen Graben und Hinterland mit Blick auf die vermeintliche Authentizität der Kriegsliteratur überhaupt aufrechtzuerhalten? Almut Lindner-Wirsching hat in ihrer Studie über französische Schriftsteller im Ersten Weltkrieg zeigen können, daß die Kriegsromane, die zwischen 1914 und 1918 entstanden, ähnliche Deutungsmuster entwarfen – unabhängig davon, ob ihre Verfasser an der Front oder im Hinterland zum Einsatz gekommen waren. Die jeweilige Ausformung der Imaginationen und Deutungen war dabei offensichtlich weitaus mehr von der individuellen weltanschaulichen Prägung der Autoren beeinflußt als von einer tatsächlichen oder behaupteten Fronterfahrung. 3 Und es paßt hierzu, daß weitere Studien gezeigt haben, wie aggressiv die Feindbilder nicht nur bei Vertretern der littérature de l’arrière und Protagonisten der staatlichen Propaganda, sondern in der gesamten Kriegsliteratur aufgeladen waren. 4 Auch wenn in den 1920er Jahren das Interesse an Zeugnissen aus dem Ersten Weltkrieg im engeren Sinne, wie es sich vor allem in den bereits erwähnten Ego-Dokumenten (Tagebücher, Briefe, Notizen usw.) manifestierte, zugunsten des Kriegsromans mit seinem verstärkten Rückgriff auf 2 Zur Buchproduktion während des Ersten Weltkrieges Wolfgang G. Natter, Literature at War, 1914–1940. Representing the „Time of Greatness“ in Germany. New Haven/ London 1999, 78–120 u. 174–186; Nicolas Beaupré, Écrire en guerre, écrire la guerre. France, Allemagne 1914–1920. Paris 2006. 3 Almut Lindner-Wirsching, Französische Schriftsteller und ihre Nation im Ersten Weltkrieg. Tübingen 2004. 4 Beaupré, Écrire (wie Anm. 2), 153–175.

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fiktive Elemente nachließ, verlor die Diskussion über Authentizität und Legitimität des Kriegsnarrativs an sich doch nichts von ihrer Brisanz. Die wirkungsvollste Methode, ein Kriegsbuch auf wissenschaftlicher oder politischer Ebene zu diskreditieren, bestand denn auch mitnichten darin, seine literarische Qualität anzugreifen, sondern vielmehr die Wahrhaftigkeit des Zeugnisses in Zweifel zu ziehen‚ das der Autor ablegte. Nicht die Qualität des Textes, sondern die Qualität des Verfassers wurde so zum Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen. Die Debatte etwa, die in Frankreich anläßlich des Erscheinens von Jean Norton Crus Essay „Témoins“ entflammte, der vielen prominenten Kriegsschriftstellern – mit Hilfe einer präzisen Rekonstruktion ihrer militärischen Laufbahn – jedes Recht absprach, über Dinge zu schreiben, die sie nicht am eigenen Leib erfahren hätten, bestätigt die gerade skizzierte Entwicklung. 5 Einen weiteren Beleg liefern die politischen Gegner Remarques, die den Erfolg des Romans „Im Westen nichts Neues“ mit dem Hinweis zu konterkarieren suchten, der Verfasser sei überhaupt nicht oder jedenfalls nur für sehr kurze Zeit an der Front gewesen. Zu der Forderung, die Kriegsliteratur müsse um jeden Preis dokumentarischen Charakter besitzen, gesellte sich zudem ein grundsätzliches Mißtrauen gegen die literarische Verarbeitung des Krieges an sich, das vor allem von Historikern geschürt wurde, die dem Roman jedes erkenntnisfördernde Potential absprachen. Stéphane Audoin-Rouzeau etwa hat gezeigt, mit welchem Argwohn ein Pierre Renouvin jeder individuellen Die Studie von Jean Norton Cru ist umfangreich rezipiert worden. Vgl. Christophe Prochasson, Les mots pour le dire. Jean Norton Cru, Du témoignage à l’histoire, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 48/4, 2001, 161–189; ders., Témoignages et expériences. Les usages du ,vrai‘ et du ,faux‘ de Norton Cru à Paul Rassinier, in: ders./Anne Rasmussen (Eds.), Vrai et Faux dans la Grande Guerre. Paris 2004, 302–326; Leonard V. Smith, Jean Norton Cru, lecteur des livres de guerre, in: Annales du Midi 112, 2000, 517– 528; ders., Jean Norton Cru et la subjectivité de l’objectivité, in: Jean-Jacques Becker (Ed.), Histoire culturelle de la Grande Guerre. Paris 2005, 89–100; Madeleine Frédéric/ Patrick Lefèvre (Eds.), Sur les traces de Jean Norton Cru. Bruxelles 2000; Frédéric Rousseau, Le procès des témoins de la Grande Guerre. L’affaire Norton Cru. Paris 2003; Renaud Dulong, Le témoin oculaire. Les conditions sociales de l’attestation personnelle. Paris 1998. – In der letzten Neuausgabe des Klassikers von Jean Norton Cru findet sich eine aufschlußreiche Sammlung von Rezensionen, die einen guten Überblick über die zeitgenössische Rezeption bietet: Jean Norton Cru, Témoins: essai d’analyse et de critique des souvenirs des combattans édités en français de 1915 à 1928. Nancy 2006 [Erstausgabe 1929]. Crus zweite Studie zur Kriegsliteratur „Du Témoignage“ (Paris 1989 [Erstausgabe 1930]) erschien in deutscher Übersetzung unter dem Titel: Wo ist die Wahrheit über den Krieg. Eine kritische Studie mit Berichten von Augenzeugen. Potsdam 1932.

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Kriegserzählung begegnete, obwohl er selbst kriegsversehrt war. 6 Der Hauptvorwurf der Historiker der 1920er und 1930er Jahre lautete dabei meist, die Kriegsliteratur besitze naturgemäß einen viel zu engen Blickwinkel, als daß sie die Ursachen der Grande Guerre wirklich hätte aufdekken und Ausbruch, Verlauf, Ausgang sowie Konsequenzen des Krieges hätte erklären können. 7 Trotz dieses Mißtrauens seitens der Historiker auf der einen und eines deutlichen Rückgangs der Produktion von Kriegsliteratur zwischen 1918 und 1928 auf der anderen Seite blieb die littérature de guerre doch stets präsent, bevor sie mit dem bahnbrechenden Erfolg von Remarques Bestseller „Im Westen nichts Neues“ zunächst in Deutschland, dann in ganz Europa und schließlich weltweit eine regelrechte Renaissance erlebte. 8 Tatsächlich erwies sich die zweite Welle der Kriegsliteratur nach 1928 wohl aufgrund zunehmender zeitlicher Distanz und des Bruchs der pazifistischen Erinnerungshegemonie als weitaus politischer als die Kriegsliteratur der unmittelbaren Kriegszeit, wobei sich in erheblich stärkerem Maße als bisher nationalistische Lesarten durchsetzten. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte das Interesse an der literarischen Verarbeitung der Jahre 1914–1918 in beiden Ländern erneut zurückgehen, was zum einen – vor allem in Deutschland – auf die grauenerregenden Ereignisse des jüngsten Krieges und zum anderen auf die nun zutage tretende Manipulation von Kriegszeugnissen durch die Nationalsozialisten zurückzuführen war. Darüber hinaus begann sich zwischen Deutschland und Frankreich allmählich eine Verschiebung hinsichtlich des Stellenwerts der Kriegsliteratur an sich abzuzeichnen. Zwar wuchs in Frankreich seit Anfang der 1960er Jahre das Interesse an ihr spürbar, nicht zuletzt befördert durch das Erscheinen von „Vie et mort des Français“ von Gabriel Perreux, Jacques Meyer und André Ducasse im Jahre 1959 9 sowie die Gedenkfeiern zum 50. Jahrestages des Kriegsausbruchs 1964. In Deutschland hingegen beschäftigten sich die publizistischen und wissenschaftlichen Debatten über den Ersten Weltkrieg, wie etwa das Beispiel Fritz 6 Stéphane Audoin-Rouzeau, Combattre. Une anthologie historique de la guerre mondiale XIXe–XXIe siècle. Paris 2008, 93–102. 7 Antoine Prost/Jay Winter, Penser la Grande Guerre. Un essai d’historiographie. Paris 2004, 27–29. 8 Die Neuerscheinungen in Deutschland und Frankreich spiegeln diese Entwicklung. Dazu Beaupré, Écrire (wie Anm. 2), 232–236, sowie Donald Ray Richards, The German Bestseller in the 20th Century. A Complete Bibliography and Analysis (1915–1940). Bern 1968, 18–21. 9 Gabriel Perreux/André Ducasse/Jacques Meyer, Vie et mort des Français 1914–1918. Simple histoire de la Grande guerre. Paris 1959.

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Fischers zeigt, mit Fragestellungen, die mit Hilfe der Kriegsliteratur kaum zu klären waren. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts, genaugenommen seit Mitte der 1970er Jahre, läßt sich in beiden Ländern abermals ein deutlich wachsendes Interesse an der literarischen Deutung des Ersten Weltkriegs beobachten. Auch in Deutschland lenkten der anwachsende Neopazifismus in Gestalt der Friedensbewegung sowie das neu erwachte Interesse an Problemen der Alltagsgeschichte den Blick von Historikern und Publizisten nun auf die Werke der Kriegsliteratur. Aus dieser Zeit stammen denn auch die ersten Studien zur Konstruktion von „Wahrheit“ in der Literatur 10 sowie Anthologien und Untersuchungen vorzugsweise pazifistischer Kriegslyrik 11, die nicht selten von Paul Fussells Pionierarbeit „The Great War and Modern Memory“ inspiriert waren 12. Darüber hinaus trug auch ein veränderter Blick auf die Rolle des einzelnen Soldaten dazu bei, daß die Kriegsliteratur erneut in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses rückte – in Frankreich freilich in stärkerem Maße als in Deutschland. Während die Figur des Soldaten hier weiterhin mit Ablehnung und Mißtrauen betrachtet wurde, brachte man den Kämpfern der Jahre 1914–1918 jenseits des Rheins zunehmend Verständnis und Sympathie entgegen, was letztendlich dazu führte, daß sie als Kriegsopfer (victimes de guerre) anerkannt wurden. 13 Die Begriffe „Held“ und „Zeuge“ verschmolzen in der französischen Diskussion daher alsbald zu dem des „Opfers“; sein Sprachrohr aber bildete vor allem die Kriegsliteratur. Hierin liegt der Grund dafür, daß die Anzahl der Kriegsromane, -tagebücher und -berichte, die heute in Frankreich und – Exemplarisch seien hier genannt Karl Prümm, Die Literatur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre (1918–1933). Gruppenideologie und Epochenproblematik. Bd. 1–2. Kronberg im Taunus 1974; Klaus Theweleit, Männerphantasien. Bd. 1–2. Basel/ Frankfurt am Main 1986; Eckhardt Momber, ’S ist Krieg! ’S ist Krieg! Versuch zur deutschen Literatur über den Krieg 1914–1933. Berlin 1981; Waltraud Amberger, Männer, Krieger, Abenteurer. Der Entwurf des „soldatischen Mannes“ in Kriegsromanen über den Ersten und Zweiten Weltkrieg. Frankfurt am Main 1984; Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart 1986. 11 Vgl. u. a. Hermann Korte, Der Krieg in der Lyrik des Expressionismus. Bonn 1981; Bernd Hüppauf (Hrsg.), Ansichten vom Krieg, Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft. Königstein im Taunus 1984; Klaus Vondung (Hrsg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. München 1980; ders., Die Apokalypse in Deutschland. München 1988. 12 Paul Fussell, The Great War and Modern Memory. New York/London 1975. 13 Nicolas Beaupré, Le poilu, héros ou victime, in: Textes et documents pour la classe, Nr. 943, November 2007, 16–19. 10

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freilich in weitaus geringerem Umfang – in Deutschland auf dem Markt sind, beträchtlich ist, ganz zu schweigen von den zahlreichen Studien, die sich mit der Funktion und Bedeutung der Kriegsliteratur auseinandersetzen. Es ist daher kaum verwunderlich, daß zumindest in Frankreich die Debatte über Jean Norton Cru und das Kriegszeugnis als solches in jüngster Zeit neu entflammt ist. Während etwa Annette Becker und Stéphane Audoin-Rouzeau nicht müde werden, vor einer verzerrten Opferperspektive zu warnen und die Soldaten des Ersten Weltkriegs gewissermaßen ex post vor einer Art dictature du témoignage 14 zu schützen, suchen andere Historiker wie etwa Frédéric Rousseau und Rémy Cazals die Authentizität der Kriegszeugnisse zu bekräftigen, indem sie sie als „Schrei einer Generation“ interpretieren 15. Hinzuzufügen ist, daß sich nicht allein die Geschichtswissenschaft diesem Themenkomplex zugewandt hat. Auch literaturwissenschaftliche Studien häuften sich. Abgesehen von einigen jüngeren Arbeiten wie etwa den Studien von Jean Kaempfer oder Carine Trévisan 16, beschränken sich die meisten Untersuchungen hierbei jedoch auf einzelne literarische Gattungen. Dabei räumen sie der fiktionalen Literatur meist den Vorzug gegenüber Ego-Dokumenten ein 17 und beschäftigen sich nicht selten mit Werken, deren literarische Qualität als unbestritten gilt. Diese Tendenz zur Höhenkammliteratur verstellt jedoch den Blick für die Niederungen der culture de guerre. Wollte man die unterschiedlichen Interpretationsansätze zur Kriegsliteratur systematisieren, so wären der Authentizitätsgrad des Textes mit Blick auf die Fronterfahrung des Verfassers einerseits und die literarische Qualität des Textes andererseits zueinander ins Verhältnis zu setzen. Tatsächlich verbirgt sich ein solches Wertesystem implizit hinter jeder Rezeption von Kriegsliteratur, geschehe sie in geschichtswissenschaftlicher oder literaturwissenschaftlicher Absicht. Und es ist gewiß kein Zufall, daß der Historiker literarische Verarbeitungen des Ersten Weltkriegs vor allem zur farbigen Illustration des Schlachtengeschehens verwendet. Er scheint dabei – im Grunde genommen unhistorisch – nach einem gleichsam „wah14 Stéphane Audoin-Rouzeau/Annette Becker, 14–18. Retrouver la Guerre. Paris 2000, 52. 15 Rémy Cazals/Frédéric Rousseau, 14–18. Le cri d’une génération. Toulouse 2001, 152–155. 16 Vgl. Carine Trévisan, Les fables du deuil. La Grande Guerre: mort et écriture. Paris 2001; Jean Kaempfer, Poétique du récit de guerre. Paris 1998. 17 Ein Beispiel aus jüngster Zeit bei Pierre Schoentjes, Fictions de la Grande Guerre. Variations littéraires sur 14–18. Paris 2009.

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ren“ Zeugnis zu suchen, das sich – von einem bedeutenden Schriftsteller zur packenden Geschichte geformt – dazu eignet, die Darstellung trockener Tatsachen lebendig und authentisch wirken zu lassen. Ein angemessener Umgang mit literarischen Quellen zur Geschichte des Ersten Weltkriegs würde sich hingegen zunächst einmal dadurch auszeichnen, daß er vollständig darauf verzichtet, zwischen vermeintlich „guten“ und „schlechten“ Zeugnissen oder gar zwischen „guter“ und „schlechter“ Literatur zu unterscheiden. Im folgenden sollen daher zunächst die Wurzeln des Phänomens Kriegsliteratur offengelegt werden, um die einzelnen Texte angemessen im historischen Kontext verorten zu können. In einem zweiten Schritt sollen sodann die unterschiedlichen Perspektiven ins Visier genommen werden, aus denen die Texte heute zum Sprechen gebracht werden können.

II. Die Kriegsliteratur als internationales Phänomen Unser Ziel ist es zunächst, die Kriegsliteratur in all ihren Facetten als kulturelles Phänomen zu betrachten, das seinen Ausgangspunkt im Ersten Weltkrieg selbst hat. Aus heuristischen Erwägungen liegt es dabei durchaus nahe, systematisch zwischen literarischer Imagination und erfahrungsgesättigtem Zeugnis zu unterscheiden, wobei mit der Ungleichzeitigkeit der einzelnen Gattungen zu rechnen ist. Nicht ohne Grund hat Karl Prümm hierzu einmal bemerkt: „Im Gegensatz zu Frankreich, England und den USA begann die romanhafte Aufarbeitung des Kriegserlebnisses in Deutschland mit einer zehnjährigen Verspätung […]. Tagebücher und Memoiren beherrschten bis dahin die Kriegsliteratur.“ 18 Dennoch scheint es notwendig, auch die in den 1920er Jahren veröffentlichten Kriegsromane dem breiten Spektrum der Kriegsliteratur zuzurechnen und sie als integrativen Bestandteil einer Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges selbst zu begreifen, ist doch die Grande Guerre nun einmal ihr Dreh- und Angelpunkt. Erfolg und Wertschätzung, die der Kriegsroman im Frankreich wie im Deutschland der 1920er und 1930er Jahre genoß, lassen sich jedenfalls nicht verstehen, ohne die Bedeutung zu unterstreichen, die die Kriegsliteratur bereits zwischen 1914 und 1918 erlangt hatte – ein Umstand, der vor allem dem Auftreten eines neuen Schriftstellertyps geschuldet war: dem écrivain combattant. 18 Karl Prümm, Tendenzen des deutschen Kriegsromans, in: Vondung (Hrsg.), Kriegserlebnis (wie Anm. 11), 215–217.

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1. Der Schriftsteller als Zeuge – der Zeuge als Schriftsteller: der französische Fall Während des Krieges hatte sich in der interessierten Öffentlichkeit die Vorstellung durchgesetzt, daß „seule la guerre parle bien de la guerre“, um es mit den Worten eines französischen Frontdichters zu sagen. 19 Diese Maxime wurde nicht nur von einer neuen Generation von Schriftstellern genährt, sondern auch von den maßgeblichen Instanzen des Literaturbetriebs, den Zeitschriften und Preiskomitees, befördert. Auch unter den Schriftstellern an der Heimatfront wurde die größere Legitimität und Authentizität des literarischen Zeugnisses aus den Reihen der Frontkämpfer nicht ernsthaft in Frage gestellt – trotz der zunehmenden Differenzierung der Narrative vom Krieg. Die Figur des Schriftstellers als eines unmittelbaren Augen- und Ohrenzeugen kristallisierte sich während der Kämpfe selbst heraus, verschwand jedoch keineswegs nach ihrer Beendigung. In Frankreich belegen die von Öffentlichkeit und Kritik gleichermaßen gefeierten Romane eines Jean Giono oder eines Louis-Ferdinand Céline ebenso wie die französischen Übersetzungen der Werke von Erich-Maria Remarque, Ludwig Renn oder Ernst Johannsen, daß die Figur des Frontdichters – trotz des Erfolgs der Werke eines Jules Romains oder Roger Martin du Gard – auch und gerade nach 1918 auf der literarischen Bühne präsent war, wobei nun das EgoDokument immer mehr durch den Roman abgelöst wurde. Dies dokumentiert nicht zuletzt die Diskussion um Jean Norton Cru, der mit seinen „Témoins“ den Grundstein für eine Definition des „guten“ Zeugen legte, die hier nicht unerwähnt bleiben soll: „Le témoin observateur, probe, doué pour l’expression claire de ce qu’il observe et sent, a tôt fait d’adapter ses sens et son esprit tout en se maintenant dans un état de réaction active à son milieu. Il voit nettement en même temps qu’il proteste, il note fidèlement en même temps qu’il s’affirme, il dépeint artistement en même temps qu’il défend l’indépendance de sa raison. La conséquence de cette attitude morale, de cette discipline intellectuelle des notations quotidiennes, c’est que les légendes les plus contagieuses ne contamineront pas ce témoin en état de défense et que sa vision de la guerre, incomplète mais fidèle, aura une étonnante ressemblance avec la vision d’autres soldats appartenant à d’autres secteurs, à d’autres périodes, à d’autres guerres, témoins aussi incomplets mais aussi fidèles que lui.“ 20 19 20

Pierre-Alexis Muenier, L’angoisse de Verdun. Nancy 1991 [Erstausgabe 1918], 108. Cru, Témoignage (wie Anm. 5), 25f.

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Bei späterer Gelegenheit soll die ethische und damit implizit auch die politische Dimension dieser Definition genauer beleuchtet werden. Hier ist zunächst festzuhalten, daß Jean Norton Cru – und dies ist überaus aufschlußreich – unter dem Begriff témoignage nicht nur das Zeugnis stricto sensu versteht, wie etwa Erlebnisberichte oder Tagebücher, sondern auch Romane, Essays und Gedichte. Paradoxerweise befürwortet Cru, dessen Buch auf einer im Grunde genommen veralteten Genretrennung basiert, eine integrative Betrachtung der Kriegsliteratur, zu der er intime Korrespondenzen ebenso rechnet wie auflagenstarke Romane. Cru vertritt die Ansicht, daß nicht die Textsorte, sondern die Position des Autors hier ausschlaggebend ist – oder zumindest diejenige, die der Autor sich selbst zuspricht. Wird jedoch der Autor wichtiger als der Text selbst, ist es kaum mehr möglich, Werke der Kriegsliteratur traditionellen Gattungsdefinitionen zuzuordnen. 2. Die schwierige Zuordnung zu literarischen Genres Auch wenn eine Gattungstrennung, bei der Literatur und Zeugnis die entscheidenden Gegenpole bilden, keineswegs eindeutig möglich ist, spricht doch manches dafür, daß das unmittelbare Zeugnis – in Form des Erlebnisberichts – vor allem während des Krieges, die literarische Verarbeitung – in Form des Romans – hingegen maßgeblich in der Nachkriegszeit das Schaffen der écrivains combattants bestimmte, wobei allerdings angefügt werden muß, daß eine gründliche Untersuchung nach wie vor aussteht. Dessenungeachtet ist eine gattungspoetische Unterscheidung von Tagebuch, Bericht und Roman kaum möglich, wie dies zuletzt Leonard V. Smith und Almut Lindner-Wirsching gezeigt haben. Zu Recht betont LindnerWirsching, während des Krieges seien vor allem „Mischformen zwischen Roman, Tagebuch und Presseartikeln“ anzutreffen. 21 Und Leonard V. Smith bemerkt zutreffend, daß noch im Kriegsbericht eine künstlerische Dimension gewahrt worden sei. 22 Jean Norton Cru selbst hatte im Zusammenhang mit dem Kriegsroman bereits darauf verwiesen, es handle sich um ein genre élastique. 23

Lindner-Wirsching, Französische Schriftsteller (wie Anm. 3), 24. Leonard V. Smith, Le récit du témoin. Formes et pratiques d’écriture dans les témoignages sur la Grande Guerre, in: Prochasson/Rasmussen (Eds.), Vrai et Faux dans la Grande Guerre (wie Anm. 5), 301. 23 Cru, Témoins (wie Anm. 5), 553. 21 22

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Tatsächlich erweist es sich als durchaus schwierig, Bücher wie „Le feu“ von Henri Barbusse, „Clavel soldat“ von Léon Werth oder die Werke von Georges Duhamel, Maurice Genevoix und Pierre Mac Orlan auf französischer, Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“, Walter Flex’ „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ oder die Bücher von Walter Bloem auf deutscher Seite innerhalb enger Gattungsgrenzen zu fassen. Nicht von ungefähr mischen sich in diesen Büchern die Merkmale dreier unterschiedlicher Gattungen: Vom Roman übernehmen sie die Form und das fiktive Element, vom Tagebuch bewahren sie nicht nur die Datumsangaben, sondern auch die Genauigkeit der momentbetonten Einträge, der Bericht schließlich ist durch den linearen und chronologischen Erzählcharakter präsent. Entsprechende Untertitel verweisen sogar häufig regelrecht auf diese Gattungsüberschreitungen. Bei „Le Feu“ etwa lautet er „Journal d’une escouade“, und „In Stahlgewittern“ wird als „Kriegstagebuch“ ausgegeben, auch wenn beide Werke in formaler Hinsicht mit der Textsorte Tagebuch im engeren Sinn kaum etwas gemein haben. Besonders deutlich tritt die Gattungsproblematik nach 1945 zutage. In einem Vorwort aus dem Jahr 1949 etwa deklariert Maurice Genevoix sein Buch „Ceux de 14“ als eine Sammlung von Kriegsberichten (récits de guerre), während es doch ganz offensichtlich in der Form eines Tagebuchs angelegt ist. 24 Die kurzen Berichte von Georges Duhamel wiederum tragen Züge von Novellen, Märchen oder Essays und versuchen mit Hilfe dieses poetologischen Verfahrens – einem Prisma gleich – den Krieg in all seinen Facetten zu zeigen. Einem ähnlichen Gedanken war Otto Riebicke, ein nicht gerade prominenter Schriftsteller, bereits 1917 in der Vorbemerkung zu seinem Buch „Ringen an der Somme und im Herzen“ gefolgt, in der er den Versuch unternahm, seinen künstlerischen Ansatz zu umreißen: „Diese Aufzeichnungen sind impressionistisches Erlebnis in losen Blättern. Sie wollen weder Skizze noch Dichtung sein, weder Schilderung noch Bericht. Sie werden, ein Kind der kreißenden Gegenwart, zwischen der Form liegen.“ 25 Diese Belege mögen genügen, um zu ermessen, wie radikal in den wichtigsten Werken der Frontdichter die engen Grenzen der Gattungen überwunden werden. Ein solch innovativer Zugriff spiegelt das unerhört Neue des Ersten Weltkriegs in angemessener Weise. Zwar bevorzugen die écrivains combattants zur Darstellung noch die Form des Berichts. Sie wird Maurice Genevoix, Ceux de 14. Paris 1950. Otto Riebicke, Ringen an der Somme und im Herzen. Aufzeichnungen. Magdeburg 1917, 2.

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jedoch durch das kaum Mitteilbare des Fronterlebnisses erweitert und geradezu neu geschaffen. Erst mit Hilfe dieser Transformation kann – in einer Formulierung Carine Trévisans – „le silence ou le cri“ hörbar gemacht werden, die sich hinter den Worten verbergen. 26 Es ist daher durchaus angebracht, die skizzierten Tendenzen nicht als eine bloße Erweiterung der Textsorte Kriegsbericht zu verstehen, sondern sie als Konstruktion einer völlig neuen Gattung ernst zu nehmen, die eine Schnittstelle zwischen Bericht, Essay und Roman bildet. Der zunehmende Verzicht auf eine explizite autobiographische Grundierung, wie sie dem zeugnisablegenden Ego-Dokument unweigerlich zu eigen ist, mag dabei als besonders auffälliges Kennzeichen dieser Entwicklung gelten. Bevor wir nun einen Blick auf die einzelnen Texte selbst werfen, läßt sich daher zweierlei festhalten: Zum einen ist die Kriegsliteratur als ein kulturelles Phänomen zu betrachten, dessen Wurzeln im Ersten Weltkrieg selbst liegen, insofern sie sich um eine zugleich individuelle wie kollektive Deutung des Geschehens zwischen 1914 und 1918 bemüht. Auch die Nachkriegsliteratur ist Teil jener Dialektik von kultureller Demobilisierung und Remobilisierung, die sich während des Ersten Weltkriegs etabliert und einen starken Einfluß auf die literarischen Repräsentationssysteme ausgeübt hatte. 27 Zum anderen sollte der Kriegsroman – unabhängig davon, ob er vor oder nach 1918 entstand – keineswegs isoliert von anderen Gattungen wie etwa dem Kriegsbericht oder dem Kriegstagebuch betrachtet werden, da er trotz oder gerade wegen seiner imaginativen Kraft eine ähnliche Funktion erfüllte wie die anderen Arten der Kriegsliteratur. Allesamt folgten sie weniger dem Ziel, subjektives Erleben zu bezeugen, als intersubjektive Deutungen des Krieges zu entwickeln.

III. Kriegsliteratur als historische Quelle? 1. Jean Norton Crus Konzept des „témoignage“ Wie bereits erwähnt, war Jean Norton Cru einer der ersten Beobachter in Frankreich, der sich intensiv mit der Kriegsliteratur beschäftigte und dabei auch nach dem Quellenwert der einzelnen Texte fragte. Noch heute berufen Trevisan, Les fables (wie Anm. 16), 173f. Dazu John Horne, Kulturelle Demobilmachung 1919–1939. Ein sinnvoller historischer Begriff?, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939. Göttingen 2005, 129–150.

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sich Historiker, die Ego-Dokumente im Sinne von authentischen témoignages betrachten, deren Interpretation die „Wahrheit“ über den Krieg ans Licht bringt, gern auf seine Schriften. 28 Dabei war es Cru, diesem anglofranzösischen Professor für Literaturwissenschaft, der selbst Kriegsveteran war, vor allem um eine kritische Auseinandersetzung mit der Frontliteratur gegangen, die den Quellenwert der Texte erheblich in Zweifel zog. Was aber bezweckte Cru letztendlich mit seiner Suche nach einer gewissermaßen dokumentarischen Wahrheit dieser Zeugnisse? Weshalb griff er in seinen Studien auf die Methoden des positivistisch arbeitenden Historikers zurück, einschließlich der Methoden der inneren und äußeren Kritik der Quellen? Man wird nicht fehlgehen, hinter dieser Suche nach dem authentischen Zeugnis einen geradezu aufklärerischen Glauben an die Macht der Wahrheit zu sehen. Die Wahrheit über den Krieg zu sagen, ein genaues Zeugnis davon zu geben, was man an der Front tatsächlich erlebt hatte, war für Jean Norton Cru offensichtlich nichts Geringeres als eine moralische Pflicht. Letztlich sollte die Aufgabe der Literatur darin bestehen, den Leser mit der schonungslosen Wirklichkeit des Ersten Weltkrieges zu konfrontieren und ihn auf diese Weise – im Sinne eines kathartischen Prozesses – dazu befähigen, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Diese aber waren Crus Ansicht zufolge zum Teil auf falsche Vorstellungen über den Krieg selbst zurückzuführen, die von der Literatur nach Kräften befördert wurden. Ein zuverlässiger Zeuge ist für Cru daher ausschließlich derjenige, der die brutale Wirklichkeit nachzeichnet und sie zugleich kritisiert. Paradoxerweise ist es also weniger der dokumentarische Wert des témoignage als vielmehr die moralische Haltung, die den Schriftsteller zum Zeugen macht. Jay M. Winter hat diese ethische Dimension in den Schriften Crus klar herausgestellt und dabei die Kategorie des témoin moral entwickelt. 29 Gerade der Vergleich mit Deutschland, wo die Auseinandersetzung um Wert und Funktion der Kriegsliteratur in anderer Weise geführt wurde, ist geeignet, das Verhältnis zwischen dem bloß dokumentarischen Charakter eines Zeugnisses und seinem kritischen Potential näher zu bestimmen. Zu Recht hat etwa Norbert Elias betont, daß die Diskussion über die Kriegsliteratur in Deutschland noch lebendiger und gewichtiger war als in Frankreich: „Die Kontroverse zwischen der kriegsbejahenden Literatur und der Dies gilt etwa für Cazals/Rousseau, 14–18 (wie Anm. 15). Jay M. Winter, Le témoin moral et les deux guerres mondiales, in: Revue européenne d’histoire sociale 8, 2003, 99–117.

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kriegsverneinenden Literatur in der frühen Weimarer Republik spiegelte damit eine weit umfassendere, eine der zentralsten Kontroversen des damaligen Deutschlands wider.“ 30 Ernst Jünger allerdings hatte mit Blick auf „Im Westen nichts Neues“ einer britischen Zeitung gegenüber die Dinge weitaus kruder, ja zynischer skizziert: „Referring to Herr Erich Maria Remarque, the author of ,All Quiet on the Western Front‘, Jünger declared he appreciated that ,All Quiet‘ was a ,camouflage‘ in that it created the opinion that Germany was dominated by internationalism and pacifism. ,My book, however, was written to make it clear that we combattants are not so awfully unhappy‘, he said.“ 31 Dieses Zitat zeigt – wie die gesamte Debatte, die sich nach dem Erscheinen von Jean Norton Crus „Témoins“ entzündete –, daß eine Übereinstimmung zwischen der enthüllten Wahrheit über und dem Protest gegen den Krieg, wie sie Cru postuliert hatte, zwar subjektiv betrachtet durchaus legitim sein konnte, auch und gerade von seiten eines Veteranen. Dies gilt allerdings nicht für die Gesamtheit der Kriegsliteratur, zumal sich jene Texte, die den Krieg schonungslos verurteilen, keineswegs in der Mehrzahl befanden – selbst dann nicht, wenn sie von ehemaligen Kriegsteilnehmern verfaßt wurden. In der Tat wurde die ungeschönte Darstellung der eigenen Erfahrung, die grausame Schilderung des grausamen Krieges keineswegs immer in den Dienst eines pazifistischen und kriegskritischen Diskurses gestellt – im Gegenteil, hatte es doch bereits während der Jahre 1914–1918 trotz der mäßigend wirkenden Auflagen der Zensur nicht an einer literarischen Verherrlichung von Krieg und Gewalt gemangelt. 32 Damit soll nun nicht das moralische Anliegen von Jean Norton Cru grundsätzlich in Zweifel gezogen werden. Dieser unternahm den Versuch, mittels eines „guten“ Zeugnisses zu einer pazifistischen „Wahrheit“ über den Krieg zu gelangen. Und der Historiker von heute ist tatsächlich gut beraten, das Kind nicht mit dem Bad auszuschütten und – eingedenk der Dekonstruktion von Crus „Témoins“ – Norbert Elias, Kriegsbejahende Literatur der Weimarer Republik (Ernst Jünger), in: ders., Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1992, 274–281, hier 280. 31 [Ernst Jünger], Why I wrote the Storm of Steel, in: The Evening Chronicle v. 29.11.1929; wiederabgedr. in: ders., Politische Publizistik 1919–1933. Stuttgart 2001, 526. 32 Vgl. Natter, Literature (wie Anm. 1), 181, sowie Nicolas Beaupré, Comment dire la violence interpersonnelle en 1914–1918? Deux exemples tirés de l’ouvrage de Friedrich Loofs, Der Hauptmann (1916), in: Revue d’histoire de la Shoah, Nr. 189, Juli/Dezember 2008, 267–276. 30

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unbesehen davon auszugehen, allein die gewaltverherrlichenden Stimmen in der Kriegsliteratur hätten den Erlebnissen und Erfahrungen des gemeinen Soldaten an der Front entsprochen. Der Ansatz des Historikers, der sich mit den entsprechenden Texten beschäftigt, muß vielmehr ein grundlegend anderer sein. Als beispielhaft sei hier Léon Riegel zitiert, der mit Blick auf Jean Norton Cru bemerkt hat: „Nous pensons, à l’encontre de la thèse de ce très respectable critique, que la fiction, l’invention, le mensonge à la limite, sont plus révélateurs des passions humaines que le reportage impersonnel et qui se donne pour authentique.“ 33 Die Texte, die in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den erzählten Ereignissen verfaßt wurden, sind in jedem Fall weitaus komplexer, als daß man sie allein mit dem Begriff des Zeugnisses angemessen charakterisieren könnte – erfüllten sie doch im zeitgenössischen Diskurs mehr als nur eine einzige Funktion. Da sie den Anspruch erheben, eine gültige Deutung des Krieges zu liefern, sind sie weniger als positivistische Quellen zu betrachten, die veranschaulichen, wie der Krieg eigentlich gewesen ist, als vielmehr kulturgeschichtlich sensibel zu befragende Manifestationen kollektiver Erfahrungen. 2. Die Wahrheit in der Lüge – Kriegsliteratur zwischen Politik und Kultur Zum selbstverständlichen Arbeitsprogramm des Historikers gehört es daher, im einzelnen Zeugnis eine tiefere „Wahrheit“ ausfindig zu machen und zugleich die Funktionen aufzudecken, die diese „Wahrheit“ in der Kriegsliteratur erfüllt, sowie die Konstruktion politisch relevanter Mythen zu analysieren, deren Entstehung sie Vorschub geleistet hat. Betrachtet man die Texte in ihrem Kontext, so wird deutlich, daß ihre Funktion bereits während des Krieges keineswegs allein darin bestand, bloßes Zeugnis vom Geschehen der Jahre 1914–1918 abzulegen. Die gesamte Kriegsliteratur, insbesondere aber der Roman, trug vielmehr dazu bei, den Kampf weiterzuführen, indem ihm recht eigentlich erst ein Sinn zugesprochen wurde, der durchaus nicht mit den Deutungen der Nachkriegszeit übereinstimmen mußte. In der Kriegsliteratur entstand auf diese Weise eine Interpretation des Waffengangs, die das Bild einer kriegführenden Nation konstruierte und – im Verbund mit anderen Medien – eine identitätsstiftende Funktion erfüllte. 34 Wobei an dieser Stelle selbstkritisch hinzugefügt sei, daß sich die Rolle, die die Kriegsliteratur bei der Suche nach kollektiven Identitäten in Léon Riegel, Guerre et Littérature. Le bouleversement des consciences dans la littérature romanesque inspiré par la Grande Guerre. Paris 1978, 8.

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der Zwischenkriegszeit spielte, kaum durch den Historiker im Alleingang bestimmen läßt. Grundsätzlich stellt sich freilich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, in den Texten – jenseits ihres rein dokumentarischen Charakters – den Krieg selbst wiederzufinden, um eine Formulierung von Stéphane Audoin-Rouzeau und Annette Becker aufzugreifen. 35 3. „Den Krieg wiederfinden“ Jenseits ihrer politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Funktion entspringen die Texte der Kriegsliteratur zunächst einmal individuellen Bedürfnissen. So kann der Drang, das Erlebte im Schreiben zu verarbeiten – sei es ausschließlich zum privaten Gebrauch oder bereits mit Blick auf eine mögliche Publikation – nicht selten auf das Außerordentliche der existentiellen Bedrohung während der Kampfhandlungen, auf die Nähe des Todes und seine alltägliche Präsenz also, zurückgeführt werden. In einem Krieg, der die physische Existenz unablässig zu vernichten droht, birgt die Praxis des Schreibens eine Möglichkeit, dennoch eine Spur in der Welt zu hinterlassen. Darüber hinaus kann die literarische Reflexion angesichts eines Krieges, der den Menschen zum Töten zwingt, in ihrer unvermeidlichen Distanzierung auch zu einer Katharsis führen, die die Rückkehr zur Zivilisation eröffnet. Und schließlich kann das Schreiben in einem Krieg, der die Kameraden in den Tod reißt, auch eine Form der Trauerarbeit sein, die nicht allein den Gefallenen, sondern auch den Lebenden wieder zur Sprache verhilft. Nachdem der Erzähler im Frühjahr 1918 einen britischen Soldaten getötet hat, heißt es in der Ausgabe von 1926 von „In Stahlgewittern“: „Davor lag ein Engländer, ein blutjunges Kerlchen, den mein Schuß quer durch den Schädel getroffen hatte. Ein merkwürdiges Gefühl, einen Menschen ins Auge zu sehen, den man selbst getötet.“ 36 In der Fassung letzter Hand von 1961 37 heißt es hingegen abweichend: „Davor lag mein Engländer, ein blutjunges Kerlchen, dem das Geschoß quer durch den Schädel gefahren war. Hierzu auch Nicolas Beaupré, Écrire pour dire, écrire pour tuer, écrire pour taire? La littérature de guerre face aux massacres et aux violences extrêmes du front (1914–1918), in: David El Kenz (Ed.), Le massacre en histoire. Paris 2005, 303–317; ders., Frontliteratur des Ersten Weltkrieges. Entstehung eines literarischen Phänomens im Kontext des Krieges (Deutschland, Frankreich 1914–1920), in: Krieg und Literatur/War and Literature 9, 2003, 69–84. 35 Vgl. Anm. 13. 36 Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Berlin 1926, 237. 37 Zu den Textvarianten u. a. John King, Writing and Rewriting the First World War. Ernst Jünger and the Crisis of the Conservative Imagination 1914–1925. PhD Thesis, University of Oxford, St John’s College 1999; zum Hintergrund jetzt Helmuth Kiesel, 34

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Es lag da mit entspanntem Gesicht. Ich zwang mich, ihn zu betrachten, ihm ins Auge zu sehen. Nun hieß es nicht mehr: ,Du oder ich.‘ Oft habe ich später an ihn zurückgedacht, und mit den Jahren häufiger. Der Staat, der uns die Verantwortung abnimmt, kann uns nicht von der Trauer befreien; wir müssen sie austragen. Sie reicht tief in die Träume hinab.“ 38 Die Rückbesinnung auf das Erlebte nach mehr als dreißig Jahren, wie sie sich in der Textvariante ausdrückt, ist in mehr als einer Hinsicht bedeutungsvoll. 39 Die spätere Fassung beginnt mit einem Satz, in dem das Possessivpronomen „mein“ sogleich die Verantwortung des Autors für den Tod des Soldaten unterstreicht. Die erste Person Singular im dritten Satz erfüllt die gleiche Funktion: Das Problem der persönlichen Verantwortung scheint klar hervor. Dennoch wird beim Übergang vom „ich“ zum „wir“ im zweiten Teil der Passage deutlich, wie schwierig es ist, über den Akt des Tötens zu schreiben, wobei nicht einmal ganz klar ist, ob es sich beim „wir“ um einen Pluralis majestatis handelt oder ob sich die erste Person Plural an dieser Stelle auf die Erfahrungsgemeinschaft der Soldaten bezieht. Der Übergang zum „wir“ kann freilich auch als Hinweis darauf verstanden werden, wie unablässig es ist, die Grenzerfahrungen des Ersten Weltkrieges mit den anderen Soldaten zu teilen, gerade weil der Erzähler die Vergeblichkeit aller Anstrengungen unterstreicht, das traumatische Erlebnis des Krieges, das noch im Schlaf präsent ist, individuell zu überwinden. Vor diesem Hintergrund ist die zitierte Passage selbst als Versuch zu verstehen, die traumatische Erfahrung literarisch zu verarbeiten, zumal etwa der Psychoanalytiker Jean-Marc Berthomé eine Definition von Trauma entwickelt, die exakt der Struktur und dem Inhalt des Textausschnitts entspricht. Am Beginn des traumatischen Erlebnisses steht dieser Definition zufolge eine visuelle Wahrnehmung, ausgelöst durch ein unvorhersehbares Ereignis (accident imprévisible), das – durch Angst um Leib und Leben – einen Überraschungseffekt hervorruft sowie Grauen und Schrecken evoziert. Der ferne Staat spannt keinen Schutzschirm mehr auf, um den einzelnen Soldaten zu entlasten, indem er es zu rechtfertigen vermag, „que le sujet se soit trouvé là, à cet instant précis où sa vie fut niée“. 40 WiederhoErnst Jünger. Die Biographie. München 2007, bes. Teil 3; Heimo Schwilk, Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Die Biographie. München/Zürich 2007, bes. Kap. 9. 38 Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Stuttgart 1961, 271f. 39 Zu vergleichbaren Tendenzen bei Maurice Genevoix u. a. Beaupré, Écrire en guerre (wie Anm. 2), 117–119. 40 Jean-Marc Berthomé, Recherche psychanalytique sur la survivance aux traumatismes concentrationnaire et génocidaire de la Seconde Guerre mondiale. Vol. 1–2. Diss. Paris 1997, 31.

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lungen dieser Muster, zunächst latent, dann in kürzeren Abständen, sind schließlich die Symptome einer regelrechten traumatischen Neurose. 41 Sind alle drei Ebenen dieses Phänomens – Wahrnehmung, Zusammenbruch, Wiederholung – vorhanden, äußert sich das Trauma am Ende meist durch Schweigen. Dieses Schweigen wiederum ist selbst Teil der traumatischen Erfahrung. 42 Aus diesem Grund ist es, wenn die Frontdichter das Schweigen brechen, vielleicht doch möglich, in der Kriegsliteratur – jenseits ihrer dokumentarischen und politischen Dimension – selbst den Krieg in seiner dimension intime wiederzuerkennen.

IV. Resümee Anhand der hier diskutierten Beispiele konnte gezeigt werden, daß die Kriegsliteratur für den Historiker sowohl Gegenstand als auch Quelle seiner Beschäftigung mit der Grande Guerre ist. Als Forschungsgegenstand bündelt sie in besonderer Weise die politischen, sozialen und kulturellen Tendenzen während des Krieges und in der Nachkriegszeit. Als Quelle eröffnet sie wichtige Einblicke in den Erfahrungsraum des Krieges. Trotz mancherlei Bedenken ist die Kriegsliteratur daher in der Geschichtswissenschaft mittlerweile zu einem Zeitdokument geworden, mit dessen Hilfe eine differenzierte und insofern wohl auch wahrhaftigere Sicht auf die am Krieg beteiligten Soldaten möglich wird. Wenn die konsequente Historisierung der Kriegsliteratur das ureigene Aufgabengebiet des Historikers ist, so wird er sich doch nicht mit ihr allein begnügen dürfen. Erst in Verbindung mit der Literaturwissenschaft, der Psychologie und der Soziologie wird er in der Lage sein zu ermessen, was die einzelnen Texte tatsächlich bezeugen.

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Ebd. 35–41. Ebd. 32–34.

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Krieg als „nationale Erfahrung“ in der deutschen und französischen Erzählliteratur des Ersten Weltkriegs Von

Almut Lindner-Wirsching „L’Armée de la plume“ 1, die Armee der Schreibfedern – mit dieser zeitgenössischen Metapher läßt sich das Phänomen der geistigen Selbstmobilmachung der Intellektuellen während des Ersten Weltkriegs treffend beschreiben. In Frankreich wie in Deutschland fühlten sich Schriftsteller und Gelehrte berufen, als geistige Führer der Nation die tieferen Hintergründe und Ziele dieses als „Kulturkrieg“ verstandenen Konflikts zu deuten. Die Schriftsteller kämpften aber nicht nur mit Worten: Erstmals war ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz von ihnen aktiv an den Kampfhandlungen beteiligt. Überzeugt von der Gerechtigkeit der nationalen Sache, meldeten sich viele von ihnen als Kriegsfreiwillige, um ihr Vaterland zu verteidigen. Auf deutscher Seite sind etwa Walter Flex, Hermann Hesse, Rudolf Leonhard und der bereits 51jährige Richard Dehmel zu nennen, auf französischer Seite Henri Barbusse, Guillaume Apollinaire, Roland Dorgelès und sogar der 70jährige Anatole France. Umgekehrt wurden in diesem „literarischsten aller Kriege“ 2, wie ihn Bernd Ulrich in Anlehnung an Paul Fussell bezeichnete, auch viele Frontkämpfer durch den Krieg zu Schriftstellern. In der Erzählliteratur über den Krieg, die den Gegenstand der folgenden Überlegungen bildet, ist die Auseinandersetzung mit Gemeinschaftserfahrungen während des Krieges zwar weniger offensichtlich als in den recht gut erforschten theoretisch-argumentierenden Texten 3, aber die im 1 Henri Albert, Ouvrages sur la guerre de 1914–1919, in: Mercure de France 134, 1919, 354–358, hier 356f. 2 Bernd Ulrich, Geworfen ins Niemandsland. Das „Erlebnis“ des Ersten Weltkrieges und die Veränderung kultureller Wahrnehmung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 14.11.1990. 3 Siehe hierzu Helmut Fries, Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter. Bd. 1–2. Konstanz 1994/95; Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch. Berlin 2000; Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003; Michael Jeismann, Das

weiteren Sinne „literarischen“ Kriegsdarstellungen gingen in einem durch die Zensur gesetzten Rahmen auch auf die Widersprüche, Krisen und Konflikte innerhalb der kriegführenden Nation ein. Zudem appellierten sie an die Emotionen der Leser und boten diesen durch die perspektivische Darstellung Identifikationsmöglichkeiten. Den zeitlichen Rahmen der Untersuchung bildet die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit, in der die Kriegsliteratur spezifischen Produktionsund Rezeptionsbedingungen unterlag. Sie unterscheidet sich dadurch grundlegend von den literarischen Verarbeitungen des Krieges aus den späten zwanziger und dreißiger Jahren. Wenn der Untersuchungszeitraum nicht genau mit der historischen Zeitspanne des Weltkriegs übereinstimmt, so ist dies mit dem Auseinanderklaffen von Kriegserfahrung, Niederschrift und Veröffentlichung zu erklären. Die Prosaliteratur über den Krieg erschien erst ab 1915, und manche Werke wurden zwar während des Krieges verfaßt, aber erst kurz nach dessen Ende veröffentlicht. Doch gerade weil sie inhaltlich schon den Übergang zur „Kriegserlebnis“-Literatur der Nachkriegszeit markieren, verdeutlichen die Texte von Autoren wie Schauwecker, Jünger, Dorgelès und Werth die Besonderheit der Literatur der Kriegsjahre. Als „nationale Erfahrung“ kommt der Krieg bei den Schriftstellern auf drei Ebenen zum Ausdruck, die die Untersuchungsschritte vorgeben: Im ersten Teil geht es um die literarische Verarbeitung des Burgfriedens und der Union sacrée als Einheitserfahrungen. Im zweiten Teil werden dann die inneren Gegensätze erörtert, die schon bald nach der ernüchternden Konfrontation mit der Kriegswirklichkeit aufbrachen. Die Diskussion moralischer Normen und sozialer Gerechtigkeit innerhalb der kriegführenden Nation spiegelte sich vor allem in der Polarisierung von Front und Heimat beziehungsweise Front und Etappe. Der dritte Teil der Untersuchung beschäftigt sich schließlich mit den durchaus unterschiedlichen Wahrnehmungen der Frontgemeinschaft und Kameradschaft. Hier geht es unter anderem um die Frage, inwiefern die Front als Rückzugsort der Union sacrée betrachtet wurde und ob der Frontgemeinschaft schon während des Krieges politischer Vorbildcharakter für die nationale Gemeinschaft zugemessen wurde. Günther Lutz hat die Frontgemeinschaft in seiner 1936 erschienenen, stark vom Nationalsozialismus beeinflußten Dissertation als Musterbeispiel der Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918. Stuttgart 1992; Christophe Prochasson/Anne Rasmussen, Au nom de la patrie. Les intellectuels et la première guerre mondiale (1910– 1919). Paris 1996.

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Überwindung einer pluralistischen, fragmentierten modernen Gesellschaft durch eine harmonische, „sturmfeste“ Gemeinschaft interpretiert, seine Ergebnisse aber hauptsächlich auf die radikalnationalistische Kriegsliteratur der späten Weimarer Republik gestützt. 4 Durch die Konzentration auf die Literatur der Kriegszeit läßt sich zeigen, inwieweit es sich hier um eine Rekonstruktion der dreißiger Jahre handelt. Besonderes Augenmerk gilt jeweils den erzählerischen Mitteln, mit denen die Schriftsteller Gemeinschaftsvorstellungen zum Ausdruck brachten. Es geht aber auch um den jeweiligen Stellenwert dieser Vorstellungen im Verlauf des Krieges.

I. Burgfrieden und Union sacrée in der zeitgenössischen Kriegsliteratur Burgfrieden und „Augusterlebnis“ waren in Deutschland zu Kriegsbeginn vor allem Themen der Publizistik und Lyrik. Große öffentliche Beachtung fand der literarische Burgfriedensschluß der sogenannten Arbeiterdichter, die die neue Einheit zwischen Sozialdemokratie, Arbeiterschaft und den anderen politischen Kräften des Reiches zum zentralen Thema ihrer Werke machten und sogleich politisch vereinnahmt wurden. So zitierte Reichskanzler Bethmann Hollweg als Beleg für die neue Einigkeit der Nation vor dem Reichstag feierlich das „Bekenntnis“ des Nürnberger Arbeiterdichters Karl Bröger, das nach seinem Refrain auch unter dem Titel „Deutschland“ bekannt wurde. 5 Wie Thomas Mann in seinem Essay „Gedanken im Kriege“ schrieb, ging es den Schriftstellern ebenso sehr um die moralische Haltung zu einer krisenhaften Situation wie um die neu gewonnene Einheit: „Was die Dichter begeisterte, war der Krieg an sich selbst, als Heimsuchung, als sittliche Not. Es war der nie erhörte, der gewaltige und schwärmerische Zusammenschluß der Nation in der Bereitschaft zu tiefster Prüfung – einer Bereitschaft, einem Radikalismus der Entschlossenheit, wie die Geschichte der Völker sie vielleicht bisher nicht kannte.“ 6 Vgl. Günther Lutz, Die Front-Gemeinschaft. Das Gemeinschaftserlebnis in der Kriegsliteratur. Greifswald 1936. 5 Karl Bröger, Aus meiner Kriegszeit. Gedichte. [Nürnberg 1915], 33. Siehe hierzu Fries, Die große Katharsis (wie Anm. 3), Bd. 2, 22, 42; Carl Busse (Hrsg.), Deutsche Kriegslieder 1914/16. 3. vollst. umgearb. und verm. Aufl. Bielefeld/Leipzig 1916, XIf. 6 Thomas Mann, Gedanken im Kriege, in: Die Neue Rundschau 25, 1914, Nr. 11, 1471– 1484, hier 1475. 4

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In der Erzählliteratur jedoch spielte der eigentliche politische Burgfrieden, das vom Bürgertum als Wunder und Paradoxon empfundene „brüderliche Zusammenarbeiten von Sozialdemokratie und Militärbehörde“ 7, eine untergeordnete Rolle. In den Werken vieler Frontschriftsteller beginnt die erzählte Zeit erst mit dem Stellungskrieg. Eine markante Ausnahme ist Walter Bloem, einer der meistgelesenen Autoren der damaligen Zeit, der den Kriegsausbruch als Hauptmann der Reserve erlebte und schon im September 1914 verwundet wurde. Er schildert in seinen Kriegserinnerungen die durchaus ambivalenten Reaktionen seiner Umgebung: Zwischen den Extremen Entsetzen und Begeisterung (insbesondere seines halbwüchsigen Sohnes) überwogen nach Bloem Gefühle der Beklemmung und tiefer Erregung über das unerhörte Neue. 8 In den Stimmungsberichten seiner Offiziere über die Mobilmachung erkennt Bloem „das Bild eines Volkes, das sich aufreckt, riesenhaft, urgewaltig, in nie erhörter Vollendung der Idee seiner selbst“. 9 Mit der Metapher des Pfingstwunders beschreibt er die Einheit von Militärführung, Regiment und Nation. 10 Die Bahnfahrt durch Deutschland an die Front erlebt er als „großes, erschütterndes Einigungsfest“ und sieht in den westfälischen Arbeitern, die den vorbeifahrenden Offizieren zuwinken, den Burgfrieden und die Anerkennung der eigenen Führungsrolle versinnbildlicht. 11 In Manfred von Richthofens 1917 erschienenem Bestseller „Der rote Kampfflieger“ wird der August 1914 dagegen weitgehend ausgeklammert. Der Autor erwähnt nur kurz die „Kriegsbegeisterung“ der Menschen auf den Bahnhöfen und beschreibt den Kriegsanfang vage als „schönste Zeit“, in der heldenhafte Geschichten und Franktireurs-Gerüchte kursierten. 12 Walter Flex geht in seinem „Wanderer zwischen beiden Welten“ aus demselben Jahr überhaupt nicht auf den Kriegsanfang ein. Nur in privaten Briefen schildert er die „gewaltige Begeisterung der Kriegsfreiwilligen“ 13 vor dem Ausrücken an die Front und bezeichnet den August 1914 rückblickend als Höhepunkt des deutschen Geistes und „Flutmarke Gottes“. 14

Ebd. 1474. Walter Bloem, Vormarsch. Leipzig 1916, 16, 31, 53f., 58, 60, 75, 81, 85. 9 Ebd. 49. 10 Ebd. 54. 11 Ebd. 65–67. 12 Manfred von Richthofen, Der rote Kampfflieger. Berlin 1917, 25f., 30. 13 Brief an die Familie v. 27.9.1914, in: Briefe von Walter Flex. In Verbindung mit Konrad Flex hrsg. v. Walther Eggert Windegg. München [1927], 75. 14 Brief an Fine Hüls v. 28.4.1917, in: Briefe von Walter Flex (wie Anm. 13), 281. 7 8

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Zum literarischen Thema wurde die Euphorie des Kriegsanfangs in Deutschland erst wieder in den nach Kriegsende erschienenen Werken. Auch bei Ernst Jünger erfaßte die Augustbegeisterung besonders die jungen Kriegsfreiwilligen, deren Einheit er durch die Körpermetapher ausdrückt: „Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen und waren in den kurzen Ausbildungswochen zusammengeschmolzen zu einem großen, begeisterten Körper, Träger des deutschen Idealismus der nachsiebziger Jahre.“ 15 Ähnlich wie Bloem schilderte Franz Schauwecker 1919 die ambivalenten Gefühle, die Zivilisten wie Soldaten bei der Mobilmachung erfüllten: Abschiedsschmerz, Anspannung, aufgesetzte Fröhlichkeit, Betäubung, Abenteuerlust und eine große Ungewißheit. Rückblikkend räumt Schauwecker ein, es habe am Anfang des Krieges auch so etwas wie Kriegsbegeisterung gegeben, die sich aus der geschichtlichen Vergangenheit, das heißt wohl aus der lebendigen Erinnerung an siegreiche Kriege, erkläre. Diese sei aber ein „Rausch der Gefühle“ und „Spielwerk der Phantasie“ gewesen, die der ganz neuartigen Frontwirklichkeit nicht habe standhalten können. An ihre Stelle sei eine „ingrimmige Glut“ getreten, deren Kern ein tiefes Pflicht- bzw. Verantwortungsgefühl „gegenüber Regierung, Volk und Vaterland“ bilde. Die Fremdheitserfahrung der Soldaten in den Kampfgebieten habe zudem das Gefühl der Zusammengehörigkeit aller Deutschen „gegenüber der feindlichen Fremdheit andrer Völker“ verstärkt. 16 Auch Schauwecker und Jünger ziehen in ihren frühen Kriegswerken keine politischen Konsequenzen aus der Einheitseuphorie des Kriegsanfangs. Bei ihnen deutet sich eine zunehmende Überlagerung des Augusterlebnisses durch das Kriegserlebnis an: im Kern geht es hier um Gefühle und Motivation der Soldaten, die metonymisch für die Nation stehen. Wie in Deutschland, so wurde auch in Frankreich die nationale Solidarität der Arbeiterschaft und der Sozialisten zu Kriegsbeginn als „Wunder“ empfunden. Ein entscheidendes Signal gab der Generalsekretär der CGT, Léon Jouhaux, mit seiner Grabrede für den ermordeten Sozialistenführer Jean Jaurès, die von Maurice Barrès als Besiegelung einer „prodigieuse union de nos esprits et de nos cœurs“ gerühmt wurde. 17 Eine ähnliche Symbolkraft schrieb Barrès dem Kriegstod des Schriftstellers Charles Péguy in 15 Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers. Leisnig 1920, 1. 16 Franz Schauwecker, Im Todesrachen. Die deutsche Seele im Weltkriege. Halle 1919, 1f., 214, 122, 222–224, 228. 17 Vgl. Maurice Barrès, Chronique de la Grande Guerre. Vol. 1. Paris 1920, 97f.

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der Marneschlacht zu. In seinem Nachruf verklärte die Galionsfigur des Antidreyfusismus den ehemaligen Dreyfusard Péguy, dessen „nationalisme de synthèse“ ganz der Union sacrée entsprach, gar zu einem neuen Nationalheiligen. 18 Die Union sacrée fand aber auch in der französischen Erzählliteratur ein etwas größeres literarisches Echo als in Deutschland. In einem der ersten französischen Kriegsromane, „Gaspard“ (1915) von René Benjamin, wird der Krieg in zweierlei Hinsicht zum Einheitsstifter. Einerseits macht er die nationale Zugehörigkeit des einzelnen bewußt, andererseits sorgt er über eine Vermischung der sozialen Schichten für die gegenseitige Korrektur von Vorurteilen und die Überwindung von Konflikten. Zur Versöhnung der Gegensätze kommt es vor allem innerhalb der Armee, aber auch zwischen Soldaten und Zivilisten in der Heimat. So stellt der Titelheld Gaspard fest, daß die großbürgerliche Krankenschwester seine Ansichten über den deutschen Feind, den Marnesieg und die Zerstörung der Kathedrale von Reims teilt, und kommt zu dem Schluß, daß der Krieg eine Verständigung zwischen Franzosen überhaupt erst ermöglicht hat. Mit Ausnahme von Benjamin stand bei den meisten französischen Autoren der politische Aspekt der Union sacrée stärker im Mittelpunkt als bei den deutschen, die den patriotischen Elan ihrer Landsleute eher als allgemeine Hochstimmung oder moralische Haltung thematisierten. Von wenigen markanten Ausnahmen (Romain Rolland, Henri Barbusse, Léon Werth) abgesehen, wurde der Krieg als willkommene Gelegenheit zur Aussöhnung zwischen den „beiden Frankreich“ betrachtet, das heißt zur Aufhebung des Gegensatzes zwischen der katholisch-konservativen Tradition und dem revolutionär-republikanischen Erbe in einem „ewigen Frankreich“. Am Beispiel von Marcelle Tinayres Roman „La Veillée des armes“ (1915) lassen sich einige Erzählmuster beschreiben, die für die Literarisierung der Union sacrée typisch waren 19, obwohl Tinayre – wie auch Daudet, Barrès und später Benda – den Höhepunkt des französischen Nationalgefühls unmittelbar vor der deutschen Kriegserklärung an Frankreich Maurice Barrès, Charles Péguy, in: Bulletin des Ecrivains 1, 1914, 1. Zu den Reaktionen auf Péguys Tod und seinem „nationalisme de synthèse“ siehe Almut Lindner-Wirsching, Französische Schriftsteller und ihre Nation im Ersten Weltkrieg. (Mimesis, Bd. 43.) Tübingen 2004, 286–288. 19 Weitere Beispiele sind die Romane von Adrien Bertrand, L’Appel du sol. Paris 1916; Roland Dorgelès, Les Croix de bois. Paris 1919; Gabriel-Tristan Franconi, Un Tel de l’armée française. Paris 1918. 18

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ansetzt. So spiegelt sich die Aussöhnung zwischen den beiden Frankreich zumeist in zwei Hauptfiguren, die in einem politischen und sozialen Gegensatz zueinander stehen und zwischen denen es bedingt durch den Krieg zu einer Annäherung und sogar Freundschaft kommt. Bei Tinayre handelt es sich um einen jungen Reserveoffizier und einen Vertreter der „gauche universitaire“ in den Vierzigern, bei den Frontdichtern sind es jeweils zwei gegensätzliche Soldaten, die im Schützengraben zueinander finden. Bei einigen Schriftstellern gibt es außerdem eine herausragende Einzelgestalt, die die beiden Frankreich in ihrer Biographie vereint und in einer echten Synthese aufhebt. In „La Veillée des armes“ ist dies der junge Reserveoffizier François Davesnes, nach eigenem Bekunden „également éloigné des sacristies et des loges“ 20; ein anderes Beispiel ist Franconis Titelheld Un Tel, dessen Platzhaltername (wörtlich „Soundso“) einen Vertretungsanspruch ausdrückt. Der gemeinsame Nenner ist jeweils die Anerkennung der patrie als über allen Ideologien und Religionszugehörigkeiten stehender Wert. Diese patrie wurde zuallererst über ihr bedrohtes Territorium definiert, wie auch das Barrès’sche Konzept einer historisch gewachsenen Gemeinschaft deutlich die Oberhand über Renans voluntaristische Begründung der Nation gewann. 21 Hierhin gehört auch die Vorstellung der Schriftstellerinnen von der Nation als großer Familie, die angesichts des drohenden Krieges ihre „querelles de famille“ 22 beilegt und einmütig nach Osten blickt. Ein dritter Topos in der Literarisierung der Union sacrée ist die „verkehrte Welt“, in der herkömmliche soziale Hierarchien durch den Krieg aufgehoben werden und sich der gesellschaftliche Rang des einzelnen allein aus seinem Beitrag zur nationalen Verteidigung, zum „effort national“, ergibt. So hat der Kammerdiener der großbürgerlichen Familie Raynaud nun als Unteroffizier der Reserve Befehlsgewalt über die vornehmen Salonbesucher, und nun schlägt auch die Stunde des François Davesnes, der bisher ein äußerst bescheidenes Leben führte und jetzt zur idealen Verkörperung des französischen Soldaten wird. Offene Kritik an der Burgfriedenspolitik der Sozialdemokraten bzw. der französischen Sozialisten konnte während des Krieges nur im neutralen Ausland geäußert werden. Hinsichtlich der deutschen Schriftsteller, die wie Leonhard Frank, René Schickele oder der Lyriker Klabund im Ersten Weltkrieg in die Schweiz emigrierten, sei auf die einschlägigen Disserta20 21 22

Marcelle Tinayre, La Veillée des armes. Le départ: Août 1914. Paris 1915, 176. Auch bei Bertrand, L’Appel su sol (wie Anm. 19). Tinayre, La Veillée des armes (wie Anm. 20), 52.

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tionen verwiesen. 23 Für die französische Seite ist an erster Stelle Romain Rolland zu nennen, den der Kriegsausbruch in Genf überraschte und der dort blieb, weil er aus Altersgründen vom Militärdienst befreit war. Sein im „Journal de Genève“ veröffentlichter Artikel „Au-dessus de la mêlée“ wurde zum berühmtesten Antikriegsmanifest des Ersten Weltkrieges und brachte Rolland den Nobelpreis für Literatur des Jahres 1915 ein. Rolland übte scharfe Kritik an der Haltung der Sozialisten, die wie die christlichen Kirchen ihre universalistischen Ideale verraten und sich auf die Seite der Nationalisten geschlagen hätten. 24 Es war zugleich der erste seiner Kriegsartikel, in dem Rolland die Verantwortung auch der französischen Seite für den Ausbruch des Konflikts herausstrich. In diesem Zusammenhang ist allerdings nicht unerheblich, daß „Au-dessus de la mêlée“ erst nach der Marneschlacht veröffentlicht wurde, als die größte Bedrohung von Frankreich abgewendet schien. Wie Henri Barbusse, Léon Werth und die deutschen Expressionisten entwickelte auch Rolland einen alternativen Gemeinschaftsentwurf: Eine Menschheitsverbrüderung sollte die partei- und klassenübergreifende nationale Gemeinschaft überwinden. 25 Im Gegensatz zu Rolland war Léon Werth Kriegsfreiwilliger und mußte daher mit der Veröffentlichung seines mitten im Krieg verfaßten Romans „Clavel soldat“ bis zum April 1919 warten. 26 Werth erzählt darin die Geschichte einer ernüchternden Bewußtwerdung über den Charakter der Union sacrée und die sozialen und politischen Hintergründe des Krieges, die während des Konflikts wohl kaum die Zensur passiert hätte. Der Protagonist des Romans, André Clavel, hofft noch am Tag der Mobilmachung auf eine Revolution, läßt sich aber im Vertrauen auf das bessere Wissen der Sozialisten- und Gewerkschaftsführer von der patriotischen Euphorie der ersten Augusttage mitreißen und meldet sich – wie Werth und Barbusse – als einer der ersten Freiwilligen an die Front, um in einem letzten Krieg den deutschen Militarismus zu bekämpfen. Nach mehrmonatiger FronterfahAhmet Arslan, Das Exil vor dem Exil. Leben und Wirken deutscher Schriftsteller in der Schweiz während des Ersten Weltkrieges. Marburg 2004; Fries, Die große Katharsis (wie Anm. 3), Bd. 2, 27–30; zu Leonhard Frank siehe Jörg Vollmer, Imaginäre Schlachtfelder: Kriegsliteratur in der Weimarer Republik. Eine literatursoziologische Untersuchung. Diss. phil. Berlin 2003 (http://www.diss.fu-berlin.de/2003/232/), 127–171, 196. 24 Romain Rolland, Au-dessus de la mêlée (22./23.9.1914), in: ders. (Ed.), Au-dessus de la mêlée. Paris/Neuchâtel 1915, 28–33. Siehe hierzu Michael Klepsch, Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. Ein Intellektueller auf verlorenem Posten. Stuttgart 2000. 25 Zur Idee der Verbrüderung und Gemeinschaft bei den deutschen Expressionisten siehe Fries, Die große Katharsis (wie Anm. 3), Bd. 2, 169–192. 26 Léon Werth, Clavel soldat. Paris 1919. 23

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rung erkennt der mit kritischem Verstand begabte Clavel, daß er sich durch die Argumente der Sozialisten- und Gewerkschaftsführer hat täuschen lassen, ja sogar hat täuschen lassen wollen, um sich die unbequemere Haltung des Aufständischen oder Deserteurs zu ersparen. Die Hauptursache des Krieges macht Werth nun wie Rolland im Nationalismus aus, den er als moderne Ausdrucksform des kapitalistischen Systems betrachtet.

II. Front, Etappe, Heimat: Brüche in der Kriegsgesellschaft Die nationale Geschlossenheit wurde jedoch auch von anderer Seite hinterfragt. Angesichts der sehr unterschiedlichen Kriegserfahrungen und Überlebenschancen an der Front, in der Etappe und der vom Krieg weitgehend verschonten Heimat war das Bild einer durch die äußere Bedrohung geeinten Nation schon bald hinfällig geworden. Ab 1916 konnten besonders die Frontdichter, aber auch Schriftstellerinnen wie Colette und Rachilde, keine die ganze Nation erfassende Gemeinsamkeit der Anschauungen und Empfindungen mehr feststellen. Die Behauptung, die Frontwirklichkeit sei etwas so Neuartiges und Gewaltiges, daß man sie am eigenen Leib erfahren haben mußte, um eine Vorstellung davon zu haben, kehrt leitmotivartig in vielen soldatischen Kriegsberichten wieder. Sie wird aber schon durch die Vielzahl der Veröffentlichungen ad absurdum geführt, die sich gerade zum Ziel setzten, dem größtenteils zivilen Lesepublikum ein „wahres“ Bild des Krieges zu vermitteln. Die Frontschriftsteller beschrieben die Heimat zunächst als Sehnsuchtsort, als „Paradies“, „gelobtes Wunderland“ und „Friedenswelt“ 27, als Inbegriff all dessen, wofür sie kämpften. Krieg und Zerstörung von der Heimat fernzuhalten, dies bleibe der Sinn ihres Kampfes selbst nach den ersten schweren Niederlagen, so Bloem. 28 Bei Ernst Jünger, der die Heimat in seinem Kriegstagebuch ansonsten kaum erwähnt, sind es Vaterlandsliebe sowie Ehre und Pflichtgefühl gegenüber einem ganzen Volk, die die deutschen Soldaten auch unter widrigsten Umständen zum Durchhalten motivierten. 29 Ruhestellung, Heimaturlaub und Lazarettaufenthalt waren die klassischen Gelegenheiten, bei denen Frontsoldaten mit der Militärverwaltung oder der Heimat konfrontiert wurden. Diese Konfrontation wurde in vielen 27 28 29

Schauwecker, Im Todesrachen (wie Anm. 16), 54, 120, 340. Vgl. Bloem, Vormarsch (wie Anm. 8), 269, 383. Jünger, In Stahlgewittern (wie Anm. 15), 102, vgl. 16.

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französischen Erzählwerken seit der zweiten Kriegshälfte 30 ebenso wie in Fritz von Unruhs 1916 fertiggestelltem, aber erst 1919 publiziertem Buch „Opfergang“ als problematisch geschildert 31: Die Zivilisten verkennen Mut und Opferbereitschaft der Soldaten, zeigen wenig Verständnis für den modernen Krieg und halten an einem unangemessenen Lebensstil fest. Die Angehörigen der Soldaten werden jedoch von diesen Vorwürfen ausdrücklich ausgenommen. Ihr Anderssein wird toleriert und sogar gutgeheißen, und mit ihnen fühlt man sich trotz aller Unzulänglichkeiten der Kommunikation tief verbunden. So betont etwa Walter Bloem, wie sehr ihn die Briefe seiner Frau aufgerichtet hätten, obwohl er sich durch viele ihrer Vorstellungen vom Krieg verhöhnt fühle. 32 Die materielle und moralische Unterstützung durch das Zuhause wurde von so unterschiedlichen Autoren wie Genevoix, Barbusse und Schauwecker geradezu als lebensnotwendig betrachtet. In diametralem Gegensatz zu den Frontsoldaten, die als Prototypen des Staatsbürgers Leben und Gesundheit für die Nation opferten 33, standen allerdings in der französischen Erzählliteratur seit der zweiten Kriegshälfte die Drückeberger und Kriegsgewinnler. Während für René Benjamin und noch für Adrien Bertrand die Drückeberger zu den Heimsuchungen des Krieges gehörten, die man hinzunehmen hatte und die nicht weiter ins Gewicht fielen, galten sie ab der zweiten Kriegshälfte zumeist als gravierendes politisches Problem. Sie waren, wie dies auch in Paul Marguerittes über dreihundertseitigem Roman „L’Embusqué“ zum Ausdruck kommt, Symbolfiguren moralischer Verwerflichkeit. 34 Zu den Drückebergern wurden generell weniger die Frontsoldaten gezählt, die sich aus Angst vor einer Schlacht drückten, als vielmehr diejenigen, die sich in der Heimat oder der Militärverwaltung der Etappe unabkömmlich machten. 35 30 Vgl. Henri Barbusse, Le Feu. Paris 1916; Paul Géraldy, La guerre, Madame … Paris 1916; Pierre Chaine, Les Mémoires d’un rat. Paris 1917; Henry Malherbe, La Flamme au poing. Paris 1917; Franconi, Un Tel (wie Anm. 19). Für die unmittelbare Nachkriegszeit André Maurois, Les Silences du colonel Bramble. Paris 1918; Dorgelès, Croix (wie Anm. 19); Werth, Clavel soldat (wie Anm. 26). 31 Fritz von Unruh, Opfergang. Berlin 1919, 194–197, 200f. 32 Bloem, Vormarsch (wie Anm. 8), 323. 33 Vgl. Barbusse, Le Feu (wie Anm. 30), 168. 34 Paul Margueritte, L’Embusqué. Paris 1916. – Die Handlung wird jedoch nicht aus der Perspektive des titelgebenden embusqué Maxime dargestellt, sondern aus der Sicht der eigentlichen Protagonistin Henriette. Ihr öffnet der Krieg die Augen über die abgrundtiefe moralische Schlechtigkeit, Feigheit und Ich-Bezogenheit Maximes und sie findet zu ihrem Mann zurück, der im August 1914 mit männlicher Entschlossenheit zu den Fahnen geeilt war.

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Besonders negativ wurden jedoch die Kriegsgewinnler dargestellt, die nicht nur keinen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen ihrer Nation leisteten, sondern sich auch noch auf Kosten ihrer Landsleute bereicherten. Bei den französischen Frontdichtern traten die Kriegsgewinnler zumeist in Gestalt der kleinen Händler und Krämer hinter der Front auf, die den eigenen Soldaten Waren zu Wucherpreisen verkauften und dabei den zahlungskräftigen Preußen und Bayern nachtrauerten. 36 Je nach politischer Couleur des Schriftstellers stand entweder die Anklage sozialer Ungerechtigkeit (so bei Barbusse) oder aber die Brandmarkung unpatriotischen Verhaltens im Vordergrund, etwa bei Dorgelès und Franconi. In der deutschen Kriegsliteratur dagegen – so eine erste Hypothese, die anhand umfangreicheren Quellenmaterials zu überprüfen wäre – wurden Konflikte zwischen Front und Heimat während des Krieges weitgehend ausgeklammert oder das Verhältnis sogar als harmonisches Miteinander beschrieben, wie zum Beispiel bei von Richthofen. Es ist allerdings nicht erstaunlich, daß der als Held gefeierte „rote Kampfflieger“ im Gegensatz zum Durchschnittssoldaten von einem sehr herzlichen und ehrenvollen Empfang in der Heimat berichten konnte. „Im großen und ganzen“, so verallgemeinert er seine persönlichen Erfahrungen, „wurde mir klar, daß die Heimat sich für ihre Kämpfer im Felde doch lebhaft interessiert“. 37 Flex und Jünger konzentrieren sich sogar ganz auf die Welt der Soldaten und den Kampf. Im „Wanderer zwischen beiden Welten“ erscheint die Heimat nur in Gestalt der Mutter des gefallenen Freundes, die viel Sorge und Verständnis für Wünsche ihres Sohnes zeigt. Jünger erwähnt seine immerhin neun Lazarett- und Urlaubsaufenthalte in Deutschland nur als Daten und deutet lediglich im Zusammenhang mit dem zweiten Heimaturlaub im August 1916 eine gewisse Entfremdung von seinem Zuhause an. 38 Eine Polarität wurde hier eher zwischen Front und Etappe wahrgenommen. Bei Schauwecker war es genau umgekehrt: Er verurteilte die Drückeberger unter den Frontsoldaten als „Pest der Front“ und warf ihnen Wehrkraftzersetzung vor (Im Todesrachen [wie Anm. 16], 55f.), während er die Zivilarbeiter und Soldaten in der Heimat vom Vorwurf der Drückebergerei ausnahm (ebd. 119). – Dorgelès kritisierte in „Les Croix de bois“ (wie Anm. 19) jedoch auch die Auswüchse des Drückeberger-Generalverdachts gegen bestimmte soziale Klassen und Kriegsversehrte, deren Verstümmelung nicht auf den ersten Blick erkennbar war. 36 Vgl. Maurice Genevoix, Sous Verdun (août–octobre 1914). Paris 1925, 235 (zensierte Erstausgabe Paris 1916); Maurois, Silences (wie Anm. 30), 39–41; Dorgelès, Croix (wie Anm. 19), 90–93. 37 Richthofen, Kampfflieger (wie Anm. 12), 155–162. 38 Jünger, In Stahlgewittern (wie Anm. 15), 48. 35

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Erst in den nach Kriegsende erschienenen Werken wurden Konflikte zwischen Front und Heimat überhaupt thematisiert. Wie die Publikationsgeschichte von Unruhs „Opfergang“ zeigt, läßt sich dies vermutlich damit erklären, daß entsprechende Äußerungen in Deutschland der Zensur unterlagen. 39 Jünger und Schauwecker allerdings sahen Konflikte zwischen Front und Heimat erst im Hochsommer 1918 beziehungsweise im Zusammenhang mit der Novemberrevolution aufbrechen. Beide Schriftsteller hielten die erdrückende materielle und personelle Übermacht der Alliierten für letztlich kriegsentscheidend. 40 Gleichzeitig enthoben beide die deutschen Soldaten jeglicher Verantwortung für die Niederlage. Bei Schauwekker findet sich jedoch schon eine gemäßigte Variante des Dolchstoß-Vorwurfs: Seiner Ansicht nach hatten die Soldaten trotz ihrer „bitteren Enttäuschung“ über die politische Uneinigkeit und fehlende moralische Unterstützung der Heimat standgehalten bis zum Ende, während „die mißhandelten Nerven der Heimat“ versagten. 41 Von nationaler Geschlossenheit war nach 1916 allenfalls noch im Zusammenhang mit den Soldaten die Rede. Hatte die Union sacrée nur im Schützengraben überlebt? War die „Frontgemeinschaft“ ein positiver Gegenentwurf zur Spaltung der Nation in Front und Heimat?

III. Die Frontgemeinschaft Das Bewußtsein der Isolation und des Bruchs mit der Welt der Zivilisten förderte die Herausbildung einer eigenen Gruppenidentität der Frontkämpfer ebenso wie die gemeinsame Opferrolle, die sich die Soldaten zuschrieben. Das Opfer gehörte zu den Schlüsselbegriffen der Frontliteratur in den mittleren Kriegsjahren, insbesondere in Frankreich, aber auch bei Flex und Unruh. Der Soldatentod wurde häufig als Imitatio Christi gedeutet: Das gegenwärtige Leid der Soldaten wurde als Lösegeld für eine bessere Welt, für eine im Krieg noch nicht verwirklichte brüderliche Gemeinschaft oder gerechtere soziale Ordnung verstanden. Unruh spricht explizit vom „Ostergang“ der Verdunkämpfer, und Barbusse parallelisiert in seinem Roman „Le Feu“ mehrere Soldaten mit Christus. 42

Vgl. die Mitteilung des Verlages in: Unruh, Opfergang (wie Anm. 31), 4. Jünger, In Stahlgewittern (wie Anm. 15), 154, 173; Schauwecker, Im Todesrachen (wie Anm. 16), 9f. 41 Schauwecker, Im Todesrachen (wie Anm. 16), 230. 39 40

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Bei fast allen Schriftstellern findet sich eine Würdigung der Frontsoldaten als Solidargemeinschaft, die einander das Leben erleichterte und oft erst das Überleben ermöglichte. Hierzu gehörte das Teilen von Lebens- und Genußmitteln, das Bergen von Verwundeten und das Begraben der Gefallenen. Die Offiziere berichten im Zusammenhang mit bevorstehenden Großangriffen, an die sich immense Siegeshoffnungen knüpften, auch über geradezu euphorische Gemeinschaftserlebnisse. 43 Diese Begeisterung sei jedoch ebenso kurzlebig gewesen wie im August 1914: Sie sei erloschen, sobald die Soldaten wieder mit den Schattenseiten des Krieges konfrontiert wurden. Diese prinzipiell ganz ähnlichen Gemeinschaftserfahrungen, die die Frontdichter in ihren Werken wiedergaben, wurden sehr unterschiedlich gedeutet. Nach der nüchtern-realistischen Version einiger französischer Schriftsteller (Barbusse, Werth, Chaine, Dorgelès) bildeten die Angehörigen eines kleineren militärischen Verbandes eine unfreiwillige Schicksalsgemeinschaft, in der widrige äußere Umstände eine Gleichheit des Leidens geschaffen hatten. Diese Interpretation der Frontgemeinschaft korrelierte mit dem Bild des Soldaten als „Bürger in Uniform“, der die durch Frankreich verkörperten Ideale tapfer und pflichtbewußt verteidigte, ohne im mindesten kriegerisch zu sein. 44 Dieser Bezug auf den „soldat citoyen“ mit seiner revolutionär-jakobinischen Tradition, der sich sogar in den affirmativen Kriegsromanen eines Benjamin oder Jean des Vignes Rouges findet, ist eine französische Besonderheit, die in der deutschen Kriegsliteratur kein Äquivalent hat. Statt dessen stand hier die „Treue“ als soldatisches Ideal im Mittelpunkt. 45 Die deutschen Soldaten wurden etwa von von Richthofen und Schauwecker als geborene Krieger dargestellt, deren „Kampflust“ sich bis in Germanenzeiten zurückverfolgen lasse. 46 Die Verherrlichung des im Kampf gestählten Soldaten und überhaupt die Eisen- und Stahlmetaphorik 42 Unruh, Opfergang (wie Anm. 31), 14, vgl. ebd. 87, 123, 113; Barbusse, Le Feu (wie Anm. 30), 370, 363, 418, 434. Ähnlich bei Georges Duhamel, Vie des martyrs 1914– 1916. Paris 1917. Zum Opfer bei Flex siehe Walter Flex, Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis. München 1917, 75. 43 Vgl. Genevoix, Sous Verdun (wie Anm. 36); Unruh, Opfergang (wie Anm. 31), 31; Jünger, In Stahlgewittern (wie Anm. 15), 137, 141f., 144, 148, 158. 44 Barbusse, Le Feu (wie Anm. 30), 309; vgl. Dorgelès, Croix (wie Anm. 19), 133–141. 45 Flex, Wanderer (wie Anm. 42), 37; Jünger, In Stahlgewittern (wie Anm. 15), 119, 180. 46 Die Verbindung zwischen Germanentum und kriegerischer Veranlagung der deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg wurde besonders von Richthofen und Schauwecker hergestellt. Siehe Richthofen, Kampfflieger (wie Anm. 12), 33, 111; Schauwecker, Im Todesrachen (wie Anm. 16), 213f., 264f., 282f.

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eines Schauwecker oder Jünger sucht man in der zeitgenössischen französischen Literatur vergebens. Die französischen Kriegsapologeten kompensierten die Erfahrung der Isolation und Entfremdung von der Welt der Zivilisten durch ein ausgeprägtes Elitebewußtsein, das mitunter pseudoreligiöse Züge trägt. In ihren Werken lassen sich zum Teil verblüffende Parallelen zur Standesethik des höfischen Romans feststellen, die sich durch die Kriterien der Absolutheit und Exklusivität definierte. Wer dieser Standesethik unterworfen war, konnte sich zu einem von der Masse der Menschen abgegrenzten „Solidaritätskreis“ zählen. 47 Bei Vignes Rouges und Franconi etwa ist die Front ein vom normalen Leben abgeschirmter Ort der Bewährung, dem sich der Soldat nähert wie der Ritter im höfischen Roman dem Schauplatz der „aventure“. 48 Nach Bestehen verschiedener Prüfungen, namentlich der Feuertaufe, gehören die Vauquois-Kämpfer für Vignes Rouges zu einem Kreis von Erwählten. Henry Malherbe, der Goncourtpreisträger des Jahres 1917, interpretiert die Entbehrungen des endlosen Stellungskrieges als Prüfstein für eine männliche Elite und deutet die Degradierung des Soldaten zum Handlanger an Maschinen positiv als Verinnerlichung des modernen Kampfes um. Die klösterliche Strenge und Abgeschiedenheit ihrer Existenz verleiht den Soldaten nach Ansicht von Autoren der französischen Rechten wie Malherbe und Massis eine besondere Weihe und Reinheit, die eine unüberbrückbare Distanz zu den gewöhnlichen Sterblichen herstellt. 49 Die deutschen Vertreter der affirmativen Kriegsliteratur glorifizierten die Frontgemeinschaft als Männerbund und eingeschworene Wertegemeinschaft, in der sich der einzelne „als unentbehrliches Glied eines von einem Geist beseelten Ganzen empfindet“ und zur „unbedingten Einsetzung eines Lebens für alle Leben“ bereit ist. 50 Der Krieg förderte nach dieser Sichtweise überindividuelle Werte wie Hingabe, Opferbereitschaft, 47 Siehe hierzu Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 9. Aufl. Tübingen/Basel 1994, 131–138. 48 Jean des Vignes Rouges, Bourru, soldat de Vauquois. Paris 1917 [Erstauflage 1916], 79f.; Franconi, Un Tel (wie Anm. 19), 33, 147, 72–76, 108. 49 Malherbe, Flamme (wie Anm. 30), 116f., 216f.; vgl. Vignes Rouges, Bourru (wie Anm. 48), 209f.; Henri Massis, Le Sacrifice 1914–1916. 7. Aufl. Paris 1917, 205. 50 Schauwecker, Im Todesrachen (wie Anm. 16), 20. Zum Kameradschaftsgedanken im Ersten Weltkrieg und dessen Nachwirkungen Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 173.) Göttingen 2006, 27–110; Martin Löschnigg, Der Erste Weltkrieg in deutscher und englischer Dichtung. Heidelberg 1994, 33f.

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Heldentum. Daß es sich bei der eingeschworenen Gemeinschaft jedoch eher um eine Idealvorstellung als um erlebte Wirklichkeit handelt, davon zeugt Schauweckers Bemerkung über die Außenseiterrolle des Kriegsfreiwilligen, die in verallgemeinernder Formulierung persönliche Erfahrungen wiedergibt. Der Freiwillige sei „der jämmerlichste aller Neulinge und das heimlich verachtetste und gehaßte Geschöpf der Front“ und werde von den aktiven Soldaten als „Kriegsmutwilliger“ bezeichnet, „der ahnungslos wie ein eitler Gänserich in den Krieg gezogen sei“. 51 Schauwecker, Flex und Jünger gleichen sich nicht nur in ihrem Werdegang – sie alle waren Kriegsfreiwillige mit höherem Bildungsabschluß, die im Krieg zum Offizier aufstiegen –, sondern auch in ihrer autoritären Definition der Frontgemeinschaft. Diese bildete in ihren Augen zwar eine organische Einheit 52, war aber keine Gemeinschaft der Gleichen: Offiziere und Mannschaften unterschieden sich aus ihrer Sicht nicht nur durch Bildung und Klassenzugehörigkeit, sondern auch grundlegend in ihrer Haltung zum Krieg. So betrachtete Jünger die Offiziere ähnlich wie Flex als „die geistigen Träger und Vorkämpfer der Front“, die sich durch eine „sportsmäßige Freude an der Gefahr“ und den „ritterliche[n] Drang zum Bestehen eines Kampfes“ von der „Masse der Mitläufer“ abhoben. Während die Offiziere im Kampf „gesteigerte Männlichkeit“ zu beweisen hätten, sei der gewöhnliche Mann „vollauf mit seiner persönlichen Gefahr beschäftigt“. Echte Kameradschaft konnte es folgerichtig für Jünger wie auch für Richthofen nur unter den Offizieren geben. 53 Demokratisierende Tendenzen sind am ehesten bei Schauwecker zu erkennen, der den deutschen Infanteristen schlechthin als „wahren Helden des größten Krieges aller Zeiten“ betrachtete. 54 Die ideale Führerpersönlichkeit, die in den deutschen Texten eine so große Rolle spielte, hatte im Schützengraben von der Pike auf gedient und war dadurch mit den Anforderungen des modernen Krieges bestens vertraut. Der Frontoffizier kannte die Nöte und Bedürfnisse des einfachen 51 Schauwecker, Im Todesrachen (wie Anm. 16), 41f. – Auch Dorgelès stellte die Kriegsfreiwilligen als Außenseiter unter den Soldaten dar. – Zum Widerspruch zwischen Erfahrung und literarischer Verarbeitung des Krieges bei Schauwecker siehe auch Eric J. Leed, No Man’s Land. Combat and Identity in World War I. Cambridge/New York 1979, 86–90. 52 Vgl. Jünger, In Stahlgewittern (wie Anm. 15), 174, 84. 53 Ebd. 79, 174, 15, 84, 8; vgl. Flex, Wanderer (wie Anm. 42), 31. Ähnliche Auffassungen vertreten Bertrand in L’Appel du sol und Franconi in Un Tel (beide wie Anm. 19). 54 Schauwecker, Im Todesrachen (wie Anm. 16), 8, vgl. auch 118, 288.

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Soldaten und zeichnete sich durch eine gewisse Leutseligkeit und Anteilnahme am Schicksal seiner Leute aus. 55 In der emotionalen Verbundenheit zwischen dem „Führer“ – in den Texten von Bloem, Richthofen, Flex, Jünger und Schauwecker ein geläufiger Begriff für den Offizier – und seiner „Gefolgschaft“ wurde andererseits die Voraussetzung für deren bedingungslosen Gehorsam gesehen. Jünger folgerte aus dem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Frontoffizieren und Mannschaften, daß sich die alten militärischen Eliten delegitimiert hätten, und kritisierte mehrfach das Anciennitätsprinzip, das er durch Fronterfahrung ersetzt wissen wollte. 56 Auch Flex schrieb dem Krieg einen geistigen und seelischen Bildungswert für die zukünftige nationale Elite zu. In seinem Porträt des Offiziersanwärters Ernst Wurche klingen Parallelen zu Nietzsches Zarathustra an, wenn er beschreibt, wie der junge Kriegsfreiwillige nach sechsmonatiger harter Lehrzeit im Mannschaftsrang „als ein Wissender an Kopf und Herzen […] von den lothringischen Bergen herab[stieg], um Führer und Helfer in seinem Volke zu werden“. 57 Flex’ Postulat, nach dem die Kriegsteilnahme eine tiefgreifende innere Wandlung herbeigeführt habe, die nun weitreichende, über das Militärische hinausgehende Führungsansprüche rechtfertige, wurde von mehreren deutschen und französischen Schriftstellern mit ganz unterschiedlicher Zielsetzung vertreten. Es konnte die entschiedene Kriegsgegnerschaft eines Barbusse, Ernst Toller oder Fritz von Unruh ebenso legitimieren wie den Entwurf einer Aristokratie der Kriegsveteranen, wie man ihn bei Franconi oder später im Soldatischen Nationalismus findet. 58 Generell läßt sich feststellen, daß die écrivains combattants oder Frontdichter, die als neue Schriftstellerkategorie aus dem Ersten Weltkrieg hervorgingen 59, gegenüber Zivilisten und ranghöheren Militärs mit Erfolg die Deutungshoheit Jünger, In Stahlgewittern (wie Anm. 15), 136; Schauwecker, Im Todesrachen (wie Anm. 16), 141f.; Flex, Wanderer (wie Anm. 42), 7. 56 Jünger, In Stahlgewittern (wie Anm. 15), 95, 109. 57 Flex, Wanderer (wie Anm. 42), 7. 58 Zum Soldatischen Nationalismus Karl Prümm, Die Literatur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre (1918–1933). Gruppenideologie und Epochenproblematik. Bd. 1–2. (Theorie, Kritik, Geschichte, Bd. 3.) Kronberg 1974, hier Bd. 1, 42–45. Zum geistigen Führungsanspruch der deutschen Schriftsteller Fries, Die große Katharsis (wie Anm. 3), Bd. 2, 270. Zu Franconi: Lindner-Wirsching, Französische Schriftsteller (wie Anm. 18), 40, 92. 59 Nicolas Beaupré, Écrire en guerre, écrire la guerre. France, Allemagne 1914–1920. Paris 2006; ders., Nouveaux auteurs, nouveaux genres littéraires (1914–1918), in: Histoire & Sociétés 4, 2003, H. 8, 50–64. 55

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über das soldatische Kriegserlebnis beanspruchten. Sie begünstigten eine Geschichtsbetrachtung aus der Perspektive „des kleinen Mannes“. 60

IV. Krieg als „nationale Erfahrung“? Die Einheit zwischen Nation und politisch-militärischer Führung, die ein Kernstück der Kriegspropaganda in Deutschland wie in Frankreich war 61, war nach den bisherigen Ergebnissen hauptsächlich ein publizistisches Phänomen. Die Kriegsliteratur wurde als Gegenpol zur offiziellen und offiziösen Kriegsdarstellung wahrgenommen, was auch ein wesentlicher Grund ihres Erfolges war. 62 Sie beschrieb Burgfrieden und Union sacrée als zeitlich engbegrenzte Ausnahmezustände. Mit der in Frankreich so früh wahrgenommenen Polarisierung von Front und Heimat, die in Deutschland auffallend ausgeblendet blieb, und dem „Opfer“ als zentralem Begriff verwies die Literatur auf ungleiche Belastungen und Brüche in der Kriegsgesellschaft, ohne den nationalen Konsens über die Notwendigkeit der Verteidigung und das Ziel des militärischen Sieges in Frage zu stellen. Im deutsch-französischen Vergleich lassen sich teils beträchtliche Unterschiede in der Kriegsdeutung sowie im Soldatenbild feststellen. Die gemeinschaftsbildende Kraft des Krieges spielte in der französischen Literatur des ersten und des letzten Kriegsjahres eine Rolle, während bei den deutschen Schriftstellern bis weit in die Nachkriegszeit hinein die subjektive Dimension des Kriegserlebnisses überwog. Um den Krieg als Gemeinschaftserfahrung ging es in der deutschen Literatur der Kriegsjahre noch Zum Wandel der Deutungseliten nach dem Ersten Weltkrieg und zum Übergang von der Feldherren- zur Infanteristenperspektive siehe Vollmer, Imaginäre Schlachtfelder (wie Anm. 23), 62–75; Kurt Möser, Kriegsgeschichte und Kriegsliteratur, in: MGM 40, H. 2, 1986, 39–51; Almut Lindner-Wirsching, Schriftsteller im Schützengraben als Historiographen der „Grande Guerre“, in: Michael Einfalt/Joseph Jurt/Daniel Mollenhauer (Hrsg.), Konstrukte nationaler Identität. Deutschland, Frankreich und Großbritannien (19. und 20. Jahrhundert). (Identitäten und Alteritäten, Bd. 11.) Würzburg 2002, 135– 152. 61 Michael Jeismann, Art. „Propaganda“, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn/München/Wien 2003, 198–209, hier 200. 62 Zur Rezeption der Kriegsliteratur Beaupré, Écrire en guerre, écrire la guerre (wie Anm. 59), 47–111; Michael Gollbach, Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur. Zu den Frontromanen der späten Zwanziger Jahre. (Theorie, Kritik, Geschichte, Bd. 19.) Kronberg 1978, 275–360; Lindner-Wirsching, Französische Schriftsteller (wie Anm. 18), 297–324. 60

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am ehesten in der Auseinandersetzung mit überindividuellen Werten wie Hingabe, Glaube, Opferbereitschaft und Heldentum. Erst um 1930 wurde der Krieg von Vertretern des Soldatischen Nationalismus wie Franz Schauwecker, Werner Beumelburg, Edwin Erich Dwinger und Ernst von Salomon als „Ort der Hinwendung zur Nation“ 63 gedeutet. Die bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs anhaltende große Beliebtheit der Bücher von Flex, Richthofen, Plüschow, Immelmann, Luckner, Mücke und Lettow-Vorbeck verweist auf eine Vorliebe des deutschen Lesepublikums für abenteuerlich-romantische Kriegserzählungen über individuelle Heldengestalten. Die Darstellung des Krieges als Abenteuer, Reise oder sportlicher Wettkampf war in Frankreich kaum denkbar, weil sich der Krieg auf nationalem Territorium abspielte und – mehr noch als in Deutschland – als existentielle Bedrohung wahrgenommen wurde. Dennoch spielte auch bei den deutschen Schriftstellern der Aspekt der Verteidigung insofern eine wichtige Rolle, als durch die Kämpfe im feindlichen Ausland der Krieg von der Heimat ferngehalten wurde. Sogar die atrocité-Vorwürfe gegen die deutschen Soldaten versuchte man mit dem Hinweis auf bloße Selbstverteidigung zu entkräften. 64 Die Soldatenbilder in der deutschen und französischen Kriegsliteratur lassen Rückschlüsse auf unterschiedliche Ideale des Staatsbürgers zu. In beiden Ländern wurden die Frontsoldaten als Prototypen des „Staatsbürgers“ beziehungsweise des „Deutschen“ dargestellt. Während jedoch die französischen Autoren das Ideal des „soldat citoyen“ propagierten, das sie selbst so vollkommen verkörperten, betrachtete die Mehrheit der deutschen Schriftsteller gerade den Kampfgeist als positive, angeborene Eigenschaft des Deutschen. In der Anfangsphase des Krieges wurde der Soldat von Autoren wie Thomas Mann sogar zum neuen künstlerischen Leitbild erhoben. 65 In den Augen der deutschen Schriftsteller war der ideale Soldat nicht der mündige Bürger in Uniform, sondern zeichnete sich in erster Linie durch seine „Treue“, das heißt die persönliche Bindung an seinen kleineren militärischen Verband und den Gehorsam gegenüber seinem „Führer“ aus. Der Frontkameradschaft wurde hier folglich keine demokratisierende Wirkung zugeschrieben, vielmehr hielten die Schriftsteller an 63 Vollmer, Imaginäre Schlachtfelder (wie Anm. 23), 291. – Der Wandel der Kriegsdeutungen zwischen 1918 und 1930 läßt sich besonders deutlich am Beispiel Schauweckers verfolgen (Franz Schauwecker, Aufbruch der Nation. Berlin 1930 [1929]); siehe Gollbach, Die Wiederkehr des Weltkrieges (wie Anm. 62), 139–166. 64 Vgl. Bloem, Vormarsch (wie Anm. 8), 96f., 269, 383. 65 Dazu Fries, Die große Katharsis (wie Anm. 3), Bd. 2, 46–49.

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der bestehenden sozialen Hierarchie fest. Der Gegensatz zwischen den politischen Systemen spiegelt sich auch in den typischen Soldatenfiguren, die in Frankreich oft einfache Infanteristen waren, während es sich in Deutschland bei den Protagonisten wie bei den Autoren selbst fast ausschließlich um Offiziere, darunter einige Flieger, handelte. Die Frontgemeinschaft wurde von den Schriftstellern während des Krieges noch nicht explizit als Vorbild einer „Volksgemeinschaft“ gepriesen, auch wenn einzelne Autoren wie Franconi militärische Ordnungsprinzipien auf den politischen Bereich übertragen wollten. Ein allgemeines Phänomen war jedoch der kulturelle und politische Gestaltungsanspruch, den die Frontdichter aus ihrer Kriegserfahrung ableiteten.

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Trauer, Erinnerung und nationale Identitätsstiftung Überlegungen zu den Kriegsdeutungen nach 1918 auf deutscher und britischer Seite Von

David Midgley In seiner 1931 veröffentlichten Studie „Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur“ listete der Wiener Gelehrte Ernst Jirgal allein für die Jahre 1929 und 1930 rund zweihundert literarische Kriegsdarstellungen auf, die zunächst in deutscher Sprache erschienen waren. 1 Daß in diesem Zusammenhang von einer „Wiederkehr“ des Weltkriegs die Rede war, hat mit den besonderen Bedingungen auf dem deutschen Büchermarkt der 1920er Jahre zu tun, auf die noch zurückzukommen sein wird. Auf britischer Seite führte der Militärhistoriker Cyril Falls 1930 über zweihundertfünfzig Titel auf, die seit dem Krieg zunächst auf englisch erschienen waren und sich entweder als Kriegsmemoiren oder Kriegsromane zu erkennen gaben. 2 Wenn man neben solchen Zahlen auch noch die kontextuellen Beziehungen in Erwägung zieht, die bei einer angemessenen Interpretation der Texte berücksichtigt werden müßten, dann wird sofort klar, daß eine vergleichende Darstellung der deutschen und britischen Kriegsliteratur in einem einzelnen Aufsatz nicht einmal annähernd erreicht werden kann. Dazu wäre eine größere Teamarbeit nötig, wie der Protokollband einer 1991 an der Karl-Franzens-Universität zu Graz abgehaltenen Tagung zu eben diesem Thema erkennen läßt. 3 Nicht nur ist der Stoff, den man bei diesem Thema zu bewältigen hat, sehr umfangreich, seine Grenzen sind so diffus wie die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs selbst auf Gesellschaft und Kultur der betroffenen Völker. Außerdem handelt es sich um ein historisches Ereignis, in das die Bevölkerungen nahezu der ganzen englischsprachigen Welt mit hineingerissen wurden, und das darf man keinesfalls übersehen, wenn man sich auf britischer Seite der Aufgabe stellt, die Beziehungen zwischen literariErnst Jirgal, Die Wiederkehr des Weltkriegs in der Literatur. Wien 1931, 227–257. Cyril Falls, War Books: A Critical Guide. London 1989 [Erstausgabe 1930]. 3 Franz Karl Stanzel/Martin Löschnigg (Eds.), Intimate Enemies. English and German Literary Reactions to the Great War 1914–1918. Heidelberg 1993. 1 2

scher Kriegsschilderung und politischen Ordnungsvorstellungen in der Folgezeit zu erkunden. Was in diesem Aufsatz also angestrebt wird, ist eine Andeutung der Aufgaben, die zu bewältigen wären, wenn man sich daran setzen würde, die Untersuchung der in diesem Band behandelten Problematik um jene Dimensionen zu ergänzen, die eine britische Sicht mit sich bringt. Die Fragen, die es dabei vorerst zu beantworten gilt, lauten: (I.) Wie wurde der Erste Weltkrieg in schriftlicher Form auf deutscher und auf britischer Seite erinnert? (II.) Welche Auffassungen des Kriegsgeschehens wurden dabei – und unter welchen Umständen – dominant? (III.) Wo und in welchen Formen lassen sich schließlich Beziehungen zwischen den schriftlichen Darstellungen des Kriegs und den politischen Entwicklungen der Folgezeit erkennen?

I. Stellen wir uns zunächst einmal vor, man würde einen heutigen Durchschnittsbriten fragen, an welche Literatur er denkt, wenn vom Ersten Weltkrieg die Rede ist. Seine Antwort wird bestimmt lauten: an die Lyrik. Die gesamteuropäische Lyrikproduktion während der Kriegsjahre selbst gehört in der Tat zu den bemerkenswertesten kulturellen Erzeugnissen der damaligen Zeit. Die einprägsamsten Gedichte sind zu einem festen Bestandteil der kulturellen Überlieferung geworden, sie werden immer noch gern in britischen Schulen gelehrt, und die heutige Jugend liest sie immer noch im bedrückenden Bewußtsein, daß viele Autoren solcher Gedichte das Kriegsgeschehen nicht überlebt haben. Die Kriegsdichter werden ihnen als die „verlorenen Stimmen“ des Weltkriegs präsentiert. 4 In der Lyrik – als eher spontaner, wenngleich kunstvoll ausgefeilter Literaturgattung – werden die verschiedensten emotionalen Aspekte des Kriegserlebnisses oft in besonders einprägsamer Weise festgehalten, weshalb sie sowohl von Historikern als auch in den populären Medien gern zitiert wird, auch wenn man bei der Lektüre solcher Zitate vor voreiligen Schlußfolgerungen auf die allgemeine Stimmung bei den Truppen in bestimmten Phasen des Krieges auf der Hut sein muß. 5 An der Lyrik läßt sich aber auch beobachten, inwiefern der Ausdruck von Stimmungen und 4 Tim Cross (Ed.), The Lost Voices of World War I. An International Anthology of Writers, Poets & Playwhrigts. London 1988; vgl. auch Dominic Hibberd, Anthologies of Great War Verse: Mirrors of Change, in: Michael Howard (Ed.), A Part of History. Aspects of the British Experience of the First World War. London 2008, 107–114.

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Empfindungen je nach nationaler Kultur verschieden nuanciert ist 6: Zu den bekanntesten Zeilen des englischen Dichters Rupert Brooke zählt die Charakterisierung des Kriegsausbruchs 1914 als ein Ereignis, das den Vertretern der jungen Generation ein befreiendes, läuterndes Erlebnis verspreche: Sie würden ihm entgegengehen wie Schwimmer, die in reinigendes Wasser tauchen – „as swimmers into cleanness leaping,/Glad from a world grown old and cold and weary“. 7 Der deutsche Expressionist Ernst Stadler hatte schon vor dem Krieg solcher Aufbruchsstimmung düsterere und auf metaphysische Weltdeutung hinweisende Töne verliehen. Sein berühmtes Gedicht „Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht“, das erstmals 1913 in der Zeitschrift „Die Aktion“ erschien und 1914 in Stadlers Gedichtband „Der Aufbruch“ aufgenommen wurde 8, klingt in Vorstellungen von „Besinnung. Einkehr. Kommunion. Und Glut und Drang/zum Letzten, Segnenden“ aus. Der Appell lautete: „Zum Zeugungsfest. Zur Wollust. Zum Gebet. Zum Meer. Zum Untergang.“ 9 Angesichts des fortgesetzten maßlosen Schlachtens dringt sowohl in der deutsch- wie auch in der englischsprachigen Kriegslyrik irgendwann auch der anklagende Ton durch: Bei Franz Werfel etwa – dessen „RevolutionsAufruf“ das Zerstörerische des Krieges in den Dienst eines moralischen Läuterungsprozesses einspannen möchte – erhält das Thema einen betont apokalyptischen Einschlag: „Komm Sintflut der Seele, Schmerz, endloser Strahl!/Zertrümmere die Pfähle, den Damm und das Tal!/Brich aus Eisenkehle! Dröhne, du Stimme von Stahl!“ 10 Wilfred Owen – wohl der bekannteste unter den britischen Kriegsdichtern – bevorzugt hingegen in einem Gedicht, das Benjamin Britten nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Grundstein seines Kriegsrequiems machte, eine bitter-ironische Anspielung auf jene Bibelstelle, wo Gott Abraham auf den in der Hecke verfangenen Widder aufmerksam macht, den er an Stelle des eigenen Sohnes opfern soll: Owen stellt sich die ältere Generation in Gestalt eines Greises 5 Dominic Hibberd/John Onions (Eds.), Poetry of the Great War. An Anthology. Basingstoke 1986, 1–6. 6 Vgl. Edward Timms, Expressionists and Georgians. Demonic City and Enchanted Village, in: Edward Timms/David Kelley (Eds.), Unreal City. Urban Experience in Modern European Literature and Art. Manchester 1985, 111–127. 7 Hibberd/Onions (Eds.), Poetry of the Great War (wie Anm. 5), 43. 8 Ernst Stadler, Dichtungen, Schriften, Briefe. Kritische Ausgabe hrsg. v. Klaus Hurlebusch u. Karl Ludwig Schneider. München 1983, 652f. 9 Kurt Pinthus (Hrsg.), Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Hamburg 1959, 179. 10 Ebd. 252f.

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vor, der auf Gottes Wort nicht geachtet und die Söhne dennoch, einen nach dem anderen, abgeschlachtet hätte: „But the old man would not so, but slew his son,/And half the seed of Europe, one by one.“ 11 Bei der Betrachtung der erzählenden Literatur der Nachkriegszeit muß man jedoch einen weiteren Faktor in Rechnung stellen: Daß diese Texte überhaupt erschienen sind, hängt in gewissem Maße mit den jeweils herrschenden Bedingungen des Büchermarktes zusammen – und somit mit den Annahmen von Autoren und Verlegern hinsichtlich der Bedürfnisse und Erwartungen des Publikums. In welchem Maße solche Erwägungen für Form und Inhalt von einzelnen Texten entscheidend gewesen sind, ist oft sehr schwer zu bestimmen; aber die Wahrscheinlichkeit, daß solche Erwägungen die Entstehung solcher Texte und die Umstände, unter denen sie veröffentlicht wurden, mit beeinflußt haben, hat wichtige Implikationen für die Forschung auf diesem Gebiet. Zum einen muß man sich das Verhältnis zwischen schriftlicher Kriegsdarstellung und allgemeiner Erinnerungskultur in der jeweiligen Gesellschaft als ein dynamisches, durch Wechselwirkung bestimmtes vorstellen; diese Vermutung ließe sich an mehreren Fallbeispielen, die in diesem Aufsatz erwähnt werden, ohne weiteres erhärten. Zum anderen darf man bei der Abschätzung der Wirkung, die bestimmte Texte auf die öffentliche Wahrnehmung der Kriegsthematik ausübten, den Aspekt der Vermarktung nicht außer acht lassen; dafür ist, wie wir noch sehen werden, der spektakuläre Erfolg von Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ ein einprägsames Beispiel. Nicht weniger wichtig bei der Beurteilung der Bedeutung, die einzelnen Texten in der Erinnerungskultur des jeweiligen Landes mit der Zeit zukam, ist aber der Aspekt der literarischen Vorformung des Stoffes, mit der oft eine bestimmte Wirkung bei einem literarisch gebildeten Publikum angestrebt wurde. Letzterer Aspekt macht es auch schwierig, eine scharfe Trennlinie zwischen Memoirenliteratur und Fiktion zu ziehen, so wichtig solche Unterscheidungen für eine erste Charakterisierung von Einzeltexten sein mögen: Der Memoirenschreiber kann sich – in Erachtung seines Zielpublikums – ebenso von vorgegebenen literarischen Gestaltungsmustern leiten lassen, wie der Verfasser von Romanen sich darum bemühen kann, einen möglichst präzisen Eindruck vom historischen Geschehen oder von persönlichen Erlebnissen zu vermitteln. 12

11 12

Cross, The Lost Voices (wie Anm. 4), 80. Vgl. George Parfitt, Fiction of the First World War. A Study. London 1988, 142f.

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So wie die Kulturhistoriker in den letzten Jahrzehnten auf visuelle Elemente der Erinnerungskultur hingewiesen haben, die sich auf die jeweilige kulturelle Tradition der beteiligten Nationen beziehen lassen 13, so haben sich die Literaturwissenschaftler für die epischen Grundmuster interessiert, die sich nicht zuletzt an Stoffwahl, Handlungsgestaltung und Erzählperspektive der Memoirenliteratur zum Ersten Weltkrieg ablesen lassen. So ist etwa das seinerzeit beliebte Buch von Edmund Blunden, „Undertones of War“ (1928), eindeutig der pastoralen Tradition der englischen Erzählliteratur zuzuordnen 14; auf deutscher Seite lassen sich ebenfalls die Kriegserinnerungen von Hans Carossa (1925) auf vorsätzliche literarische Strukturierung hin analysieren 15. In seinem bekannten Buch „The Great War and Modern Memory“ (1975) weist der amerikanische Literaturwissenschaftler Paul Fussell auch darauf hin, daß der Autor der bekanntesten englischen Kriegserinnerungen, Robert Graves, sich bewußt daran gesetzt hatte, mit „Goodbye to All That“ (1929) sozusagen ein Erfolgsbuch nach dem Rezept zu schreiben: Man nehme ein paar gute Schlachtbeschreibungen und füge Erinnerungen aus der Schulzeit, aber auch etwas Sportwettkämpfe und Liebesaffären hinzu und würze das ganze schließlich mit reichlich Klatsch über Dichter, Politiker und das englische Königshaus. 16 Graves hatte seine Erinnerungen – die von der Mehrzahl der zeitgenössischen Rezensenten als objektiver Tatsachenbericht wahrgenommen wurden 17 – vor allem aber zu einer menschlichen Komödie geformt, die gezielt aus dem Vorrat an Situationen und Charaktertypen schöpfte, die das reglementierte Armeeleben mit seinen Rangordnungen, seinen Dienstkonventionen und seiner Unfähigkeit, Subtilitäten oder Zweideutigkeiten zu dulden, dem auf Publikumswirkung bedachten Schriftsteller bot. Gerade die schmerzhaftesten Episoden, so hat Graves im nachhinein notiert, müßten die humorvollsten sein. 18

13 Siehe vor allem Jay Winter, Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History. Cambridge 1995. 14 Paul Fussell, The Great War and Modern Memory. London/New York 1975, 254–269. 15 Erich Unglaub, Hans Carossas „Rumänisches Tagebuch“ auf dem Weg vom realistischen Dokument zur symbolischen Überhöhung, in: Sabine Kyora/Stefan Neuhaus (Hrsg.), Realistisches Schreiben in der Weimarer Republik. (Schriften der Ernst-TollerGesellschaft, Bd 5.) Würzburg 2006, 255–278. 16 Robert Graves, But It Still Goes On. New York 1931, 3–6; zit. bei Fussell, The Great War (wie Anm. 14), 204f. 17 Janet S. K. Watson, Fighting Different Wars. Experience, Memory, and the First World War in Britain. Cambridge 2004, 199f. 18 Fussell, The Great War (wie Anm. 14), 203–205.

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Was nun den überragenden internationalen Bestseller der Kriegsliteratur, Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1929), betrifft, so geht man wohl nicht fehl, wenn man dessen andauernden Erfolg – soweit es im Hinblick auf die bereits erwähnte komplexe Wechselwirkung zwischen Erinnerungskultur und schriftlicher Darstellung in einem solchen Fall sinnvoll ist, von kausalen Gründen zu sprechen – auf die Tatsache zurückführt, daß Remarque seine Romanhandlung, wie die Forschung festgestellt hat 19, aus Motiven konstruiert hatte, die längst zu stereotypen Elementen des Erinnerungsaustausches unter ehemaligen Frontkämpfern geworden waren, und sie auf die persönliche Geschichte eines scheinbar beliebigen, naiven Wehrpflichtigen fokussiert hatte. Die Sofortwirkung von Remarques Roman ist aber offenbar nicht zuletzt einer gezielten Vermarktungsstrategie zu verdanken: Just zum 10. Jahrestag des Waffenstillstandes – am 11. November 1928 – wurde bekanntlich mit der Veröffentlichung als Fortsetzungsroman in der „Vossischen Zeitung“ begonnen, mit dem Druck der Buchfassung wurde absichtlich bis zum Abflauen des Weihnachtsgeschäfts gewartet – und die Werbung des Hauses Ullstein, die dem Publikum „endlich die Wahrheit“ über den Ersten Weltkrieg versprach, lief auf vollen Touren. 20 Man geht ebenfalls nicht fehl, wenn man annimmt, daß der große Erfolg von „Im Westen nichts Neues“ in Großbritannien wie in Deutschland eine Flut von anderen Publikationen zum Thema Weltkrieg auslöste. Es hatte aber in beiden Ländern auch frühere Anzeichen dafür gegeben, daß Interesse für literarische Kriegsdarstellungen bestand. Die liberale „Frankfurter Zeitung“ hatte schon 1927 Arnold Zweigs „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ als Fortsetzungsroman gebracht; 1928 folgten auch „Ginster“ von Siegfried Kracauer und „Krieg“ von Ludwig Renn. Der Kulturhistoriker Samuel Hynes hat Belege dafür gefunden, daß Erinnerungen an den Weltkrieg unter britischen Intellektuellen besonders im Zusammenhang mit den Sozialspannungen zur Zeit des Generalstreiks 1926 aufkamen, und er läßt die Welle der Kriegsromane daher 1926 mit Ford Madox Ford, „A Man Could Stand Up“, dem dritten Teil von Fords groß angelegter RomanTetralogie „Parade’s End“, anheben, obwohl die beiden vorangehenden Herbert Bornebusch, Gegen-Erinnerung. Eine formsemantische Analyse des demokratischen Kriegsromans der Weimarer Republik. Frankfurt am Main 1985, 118. 20 Angelika Howind, Ein Antikriegsroman als Bestseller. Die Vermarktung von „Im Westen nichts Neues“ 1928–1930, in: Tilman Westphalen (Hrsg.), Erich Maria Remarque 1898–1970. Bramsche 1988, 55–64; Johannes Brautzsch, Untersuchungen über die Publikumswirksamkeit der Romane „Im Westen nichts Neues“ und „Der Weg zurück“ von Erich Maria Remarque vor 1933. Diss. Potsdam 1969. 19

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Bände – „Some Do Not“ (1924) und „No More Parades“ (1925) – auch schon den Krieg in sozialkritischer Absicht thematisieren. 21 Selbst wenn das Interesse für das Thema in Großbritannien zwischen 1918 und 1926 schwächer war als später, so läßt sich doch auch auf andere Buchveröffentlichungen von bewährten Schriftstellern hinweisen, die bereits in den frühen zwanziger Jahren als beachtliche Bearbeitungen der schwierigen Kriegsthematik Anerkennung fanden, darunter „The Irish Guards in the Great War“ (1923), in dem Rudyard Kipling die Trauer um den Verlust seines Sohnes im Krieg verarbeitete 22, und die „Spanish Farm“-Trilogie von Ralph Mottram (1924–1926), die hauptsächlich in der Etappe des britischen Sektors in Nordfrankreich spielt. In Deutschland hingegen brach die Welle der Kriegsromane Ende der zwanziger Jahre offenbar um so heftiger hervor, weil – mit der Ausnahme der grandiosen Satire „Die letzten Tage der Menschheit“ (1917–1922) von Karl Kraus – der Weltkrieg nach dem Abflauen des expressionistischen Dramas um 1920 bis zum Jahr 1927 tatsächlich auf dem literarischen Büchermarkt ein gemiedenes Thema gewesen war. Die Abneigung von Verlegern wird dabei nicht unerheblich durch die Tatsache gestärkt worden sein, daß kritische Darstellungen des Krieges oder der Kriegsführung wie Bruno Vogels „Es lebe der Krieg!“ (1924), Heinrich Wandts „Etappe Gent“ (1924) oder das Buch „Krieg dem Kriege!“ (1924) des Radikalpazifisten Ernst Friedrich von Vertretern der hohen Militärs, die sich durch solche Publikationen herausgefordert sahen, vorerst gnadenlos mit juristischen Mitteln bekämpft wurden. 23 Hinsichtlich des Bildes vom Krieg, das die literarischen Schilderungen der zwanziger Jahre durchdrang, lassen sich – wie Franz Karl Stanzel und Martin Löschnigg in ihrer Einleitung zum Grazer Tagungsband mehrmals anmerken 24 – viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Ländern aufweisen, sowohl was die Thematik als auch was die Darstellungstechnik betrifft. Auf beiden Seiten waren die in erster Linie zu bewältigenden und nach Möglichkeit einer unerfahrenen Leserschaft zu vermittelnden Erfahrungen: (1) die persönliche Begegnung mit dem Massensterben und der brutalen Auslöschung von Einzelleben, (2) die Konfrontation mit der ungeheueren Gewalt der Materialschlachten, sowie (3) das Unverständnis der Samuel Hynes, A War Imagined. The First World War and English Culture. London 1990, 424–433. 22 Watson, Fighting Different Wars (wie Anm. 17), 192. 23 David Midgley, Writing Weimar. Critical Realism in German Literature, 1918–1933. Oxford 2000, 226–234 mit weiteren Hinweisen. 24 Stanzel/Löschnigg (Eds.), Intimate Enemies (wie Anm. 3), 13–38. 21

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Menschen in der Heimat, für die es wohl eine Lebensnotwendigkeit gewesen war, das Märchen von der Heldenhaftigkeit der geopferten Söhne auch dann noch aufrechtzuerhalten, als es vom tatsächlichen Wesen der Kriegführung längst Lüge gestraft worden war. In einem der frühesten englischen Kriegsromane – es handelt sich um das Mittelstück der „Spanish Farm“-Trilogie von Ralph Mottram, das erstmals 1925 erschien – kommt eine Stelle vor, die alle drei Aspekte auf ergreifende Weise zusammenführt: Die Zentralfigur, der als Architekt und Landvermesser ausgebildete Leutnant Skene, setzt sich daran, einen Brief an seinen Onkel nach Hause zu schreiben. Er nimmt drei Anläufe dazu und verwirft jedes Mal den Briefentwurf: das erste Mal, weil die zu genauen Angaben, die der Brief enthält, mit Sicherheit der Zensur auffallen würden; das zweite Mal, weil das, was er zu berichten hat, der Familie einfach zu entsetzlich erscheinen würde; und das dritte Mal, wie sich aus dem Zusammenhang folgern läßt, weil die Art des Humors, die er sich an der Front angewöhnt hat, der Familie zu makaber vorkommen würde. Er begnügt sich deshalb mit ein paar banalen Bemerkungen. 25 Die Pointe ist offenbar die: Das, was man als Soldat erlebt hat, darf und kann man den nicht Mitbetroffenen nicht mitteilen, am wenigsten, wenn sie einem nahestehen. Die Erkenntnis des Frontsoldaten, daß das Kriegserlebnis ihn vom Zivilleben, ja von allem, was er früher gewesen ist, wie durch einen Abgrund trennt, zieht sich als ein Grundmotiv durch viele der Kriegsromane auf beiden Seiten. Als viertes Thema und als besondere Problematik für die Nachkriegsgesellschaft sollte man eines noch hinzufügen: die Bewahrung der Menschenwürde angesichts der ganzen Scheußlichkeit, der man ausgesetzt war. Von dem englischen Memoirenschreiber Edmund Blunden, der im zarten Alter von neunzehn Jahren als Offizier im Grabenkrieg eingesetzt worden war, stammt beispielsweise die nachträgliche Bemerkung in bezug auf die Somme-Schlacht von 1916, aus diesem Krieg gehe der Krieg allein als Sieger hervor 26, und von Mottram in Anbetracht eines 1929 erschienenen Bildbandes über die Gräberfelder an der Westfront die Äußerung, daß von „Kriegsschuld“ allenfalls in dem Sinne die Rede sein könne, daß man diesen Krieg überhaupt habe geschehen lassen. 27 In seinem Roman „Der Streit 25 Ralph Mottram, The Spanish Farm Trilogy, 1914–1918. Harmondsworth 1979, 194– 197; vgl. Fussell, The Great War (wie Anm. 14), 182f. 26 Edmund Blunden, The Mind’s Eye. London 1934, 38; zit. bei Fussell, The Great War (wie Anm. 14), 13. 27 Ralph Mottram, Through the Menin Gate. London 1932, 23f. Es handelt sich um eine Rezension von Sidney C. Hurst, The Silent Cities. London 1929.

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um den Sergeanten Grischa“, der von britischen Rezensenten mit Sympathie und Begeisterung besprochen wurde, als er 1928 in englischer Übersetzung erschien 28, nimmt Arnold Zweig bekanntlich den Fall eines Einzelopfers – eines russischen Kriegsgefangenen, der fälschlicherweise als Spion verdächtigt und erschossen wird – zum Anlaß, das Funktionieren des gesamten deutschen Machtapparats aufzudecken und die Frage zu klären, welche moralischen Werte eigentlich nach drei Jahren Krieg Oberhand gewinnen. Auf beiden Seiten steigerte sich der Mißmut gegen den Staatsapparat und die Gesellschaft, die anscheinend bereit gewesen war, eine ganze Jugend irrezuführen und hinzuopfern, bisweilen auch zum Groll. George Grosz benennt diesen Groll ausdrücklich in seiner Autobiographie „Ein kleines Ja und ein großes Nein“ als Grundton der Nachkriegsjahre in Deutschland 29, und man kennt ihn zur Genüge aus den Gemälden und Zeichnungen von Grosz und Otto Dix, die den Militarismus der Oberschicht anprangern und dessen verheerende Auswirkungen im Krieg karikieren. Man kennt ihn auch aus der ätzenden Satire von Karl Kraus („Die letzten Tage der Menschheit“, 1917–1922) und aus dem geschickt konstruierten und von verhaltener Ironie durchsetzten Roman „Heeresbericht“ von Edlef Koeppen (1930). Man findet ihn auf britischer Seite erst relativ spät, aber man findet ihn im Roman von Richard Aldington mit dem mokanten Titel „Death of a Hero“ (1929), der eine bitter-böse Satire auf die Gesellschaft der Kriegsjahre enthält. 30 Auch die seither berühmt gewordenen anklagenden Gedichte von Wilfred Owen fanden erst 1931 in der Edition von Edmund Blunden größere Verbreitung. 31 Große Ähnlichkeiten findet man auch in den epischen Darstellungsmitteln, die die Autoren verwenden, um eine Verbindung zwischen dem Einzelschicksal und dem unüberschaubaren Ganzen des Kriegsgeschehens herzustellen. Eine beliebte Methode, für die sich sowohl der Roman Remarques als auch die Memoiren von Blunden als Beispiele anführen ließen, ist die, den Weg eines einzelnen als Initiation zu verfolgen, ob dieser Weg nun letztlich in den Tod oder zur Erlösung führe. Eine andere, früh angewendete und sehr wirksame Methode, den Blick aufs Ganze offenzuhalten, besteht darin, eine Erzählperspektive zu wählen, die außerhalb der eigentlichen Kampfhandlungen liegt. Das tut Mottram in der bereits erwähnten „Spanish Farm“-Trilogie, indem er zunächst einen flandrischen Bauern, 28 29 30 31

Watson, Fighting Different Wars (wie Anm. 17), 198. George Grosz, Ein kleines Ja und ein großes Nein. Hamburg 1955, 115. Vgl. Parfitt, Fiction of the First World War (wie Anm. 12), 42–65. Edmund Blunden (Ed.), The Poems of Wilfred Owen. London 1931.

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den Inhaber der sogenannten „Ferme espagnole“ – eines übrigens zu militärischen Zwecken errichteten Bauernhofs aus einem früheren Zeitalter, als die Spanier noch über die Niederlande herrschten –, und dessen Tochter die Erfahrungen und das Verhalten der britischen Frontsoldaten mitten im Krieg beobachten und kommentieren läßt. Eine solche Vorgehensweise erlaubt es auch, etwas Liebeshandlung sowie einen gewissen Sinn für „Normalität“ in die Geschichte einzubauen. Arnold Zweig greift am Anfang seines Romans „Der Streit um den Sergeanten Grischa“, dessen Konzeption bei seinem Erscheinen auf englisch sofort mit dem von Mottrams Trilogie verglichen wurde 32, sogar zu einer außerplanetarischen Perspektive, um die Situation des einzelnen deutschen Soldaten im besetzten Ostgebiet und die Art des Machtapparats, dem er untersteht, noch befremdlicher erscheinen zu lassen. Diesem Werk ließ Zweig eine Reihe weiterer Romane folgen – „Junge Frau von 1914“ (1932), „Erziehung vor Verdun“ (1935), „Einsetzung eines Königs“ (1937) –, in denen mit einem epischen Ehrgeiz, der Mottrams Bemühungen um historische Kontexte weit übersteigt, das Schicksal der jeweiligen Hauptfigur als Grundlage für die Darstellung und Erörterung verschiedener Dimensionen des Gesamtgeschehens Weltkrieg dient. Auf beiden Seiten gibt es auch einzelne Autoren, die den Leser ganz nah an das Erlebnis des Infanteriekriegs heranführen. Sowohl Ernst Jünger, der vielfach nach auserlesener Metaphorik sucht, um das Erlebte und die eigenen Reaktionen darauf einprägsam zu evozieren, als auch der Australier Frederic Manning, der die Frontkämpfer mit Vorliebe in der ihnen eigenen groben Sprache zu Situationen und Erfahrungen sprechen läßt, zeichnen sich vor anderen Schriftstellern durch den unerschrockenen Blick und die stoische Haltung aus, mit denen sie die Erlebnisse des Grabenkriegs schildern. Von beiden ließe sich auch sagen, daß sie den Krieg als ein ontologisch Gegebenes auffassen, wobei Jünger in seinen Kriegsschilderungen der zwanziger Jahre diese Sichtweise zur Grundlage seiner Weltanschauung macht 33, während Manning in seinem Vorwort zumindest die Möglichkeit eines – wenn auch mit Skepsis betrachteten – alternativen moralischen Standpunktes durchscheinen läßt, indem er behauptet, es sei nur die halbe Wahrheit, den Krieg ein Verbrechen gegen die Menschheit zu nennen, denn er sei auch die Strafe für ein menschliches Verbrechen. 34 Anonym, Sergeant Grischa, in: Times Literary Supplement v. 6.12.1928, 963. Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007, 202–206; Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart 1986, 219–254. 32 33

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II. Die Frage, wie die literarischen Kriegsdarstellungen zur Erinnerungskultur, die sich im jeweiligen Land während der Nachkriegsjahre entwikkelte, in Beziehung zu setzen wären, ist um einige Grade komplexer als die bloße Charakterisierung der Kriegsdarstellungen selbst, und sie kann hier nur in groben Zügen erörtert werden. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß kritische Kriegsdarstellungen in Deutschland bis in die späten 1920er Jahre weitgehend unterdrückt wurden; die Kontroversen, die über die große Welle der Kriegsromane Ende der 1920er Jahre entflammten, lassen sich ohne Mühe auf die politischen Konflikte beziehen, die für die Weimarer Zeit charakteristisch waren. 35 Im Gegensatz dazu könnte man bei der Lektüre von Mottrams „Spanish Farm“-Trilogie sehr leicht den Eindruck gewinnen, daß die Sozialordnung Großbritanniens vom Kriegsgeschehen fast unberührt geblieben war. Die Geschichte von Mottrams Leutnant Skene ist im Grunde eine sentimentale Erziehung, in deren Verlauf Skene zwar Entfremdung von der Heimat und Entsetzen über die anscheinend zwecklose Vergeudung junger Leben an der Front erfährt, an deren Ende er aber mit dem berechtigten Gefühl dasteht, seine Pflicht getan und sich im Dienst an einer gerechten Sache bewährt zu haben, und sich in Maßen darüber freuen darf, „dabei“ gewesen zu sein. Ford Madox Fords „Parade’s End“-Tetralogie (1924–1928) hingegen ist eine fein ausgesponnene Sittenkomödie, deren Handlung sich um einen von vielen vermuteten, in Wirklichkeit aber nicht vollzogenen Ehebruch dreht, und die auf dieser Basis die Lockerung von sozialen Normen einbezieht, die der Krieg für die britische Gesellschaft mit sich gebracht hatte. Fords Protagonist, Christopher Tietjens, stammt aus einer Industriellenfamilie, die Ende des 17. Jahrhunderts mit König Wilhelm III. von Oranien nach England übersiedelt und bis zum späten 19. Jahrhundert in der Grafschaft Yorkshire zu beträchtlichem Wohlstand und Einfluß gelangt war. Hoch gebildet und von außergewöhnlicher Intelligenz, fungiert er im Text als ein scharfer Beobachter des Verhaltens einer Hautevolee, die Ansehen vor Ehrlichkeit stellt und die Arglist, mit der sie ihren Eigeninteressen nachgeht, hinter steifen autoritären Konventionen versteckt; dabei übt er auch unverblümt Kritik – nicht an der Beteiligung Großbritanniens am Krieg, zu der er sich Private 19022 (d.i. Frederic Manning), The Middle Parts of Fortune. London 1930. Der Roman erschien auch in sprachlich gesäuberter Fassung unter dem Titel „Her Privates We“. Vgl. Parfitt, Fiction of the First World War (wie Anm. 12), 79–90. 35 Midgley, Writing Weimar (wie Anm. 23), 226–259. 34

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ausdrücklich bekennt – wohl aber an der stumpfsinnigen bürokratischen Verwaltung des Landes, auch und gerade in Zusammenhang mit der Kriegsführung. In beiden Werken wird der Aspekt des Grabenkrieges als Fortsetzung der Klassengesellschaft unter veränderten Umständen erkennbar: bei Mottram, indem der Architekt Skene die Lebensbedingungen der Frontkämpfer als „Slum“ wahrnimmt; bei Ford, indem sich der philanthropisch gesinnte Tietjens dessen bewußt wird, daß er auch bei der Ausübung seiner Pflichten als Offizier an der Front die sozialen Sorgen und Spannungen des Zivillebens nicht außer acht lassen kann. 36 Erst von diesem Aspekt her läßt sich erahnen, welche Beziehungen zwischen der literarischen Kriegsdarstellung und der öffentlichen Erinnerungskultur im Großbritannien der 1920er Jahre erst noch herauszuarbeiten wären. Das Gedenken an die Kriegsopfer und das Los der entlassenen Kriegsteilnehmer wurde in den Nachkriegsjahren wohl in allen beteiligten Ländern sehr leicht zu einem Politikum. Das gilt auch für Großbritannien, wo die Organisation der Fürsorge für die Betroffenen bei Kriegsende zunächst – wie in Deutschland auch 37 – von den politischen Parteien in die Hand genommen wurde und sich die noch festen Klassenunterschiede der Gesellschaft in den Debatten über diese Frage deutlich widerspiegelten. 38 Daß es in Großbritannien bald nach Kriegsende der Oberklasse jedoch gelang, den Schein einer gesellschaftlichen Harmonie herzustellen und die drohende Gefährdung der bestehenden Gesellschaftsordnung abzuwehren, ist zwei Maßnahmen von besonderer Symbolkraft zu verdanken: Zum einen reagierte die Regierung auf spontane Ausdrücke der Trauer unter der Bevölkerung, die sich auf das vorerst provisorisch konstruierte Ehrendenkmal – den „Cenotaph“ – auf Whitehall fokussiert hatten, indem sie eine jährliche Gedächtnisfeier für die Kriegstoten am Tag des Waffenstillstands, dem 11. November, einführte. 39 Zum anderen wurden 1921 die stärksten Veteranenverbände unter einem Dachverband – der British Legion – vereinigt, die unter dem Patronat des Kronprinzen, dem späteren Eduard VIII., und der Präsidentschaft des Feldmarschalls Earl Haig stand, während der Vorstand von führenden Vertretern derjenigen Verbände geleitet wurde, die den bislang herrschenden politischen Parteien – den Liberalen und den Konserva36 David Trotter, The British Novel and the War, in: Vincent Sherry (Ed.), The Cambridge Companion to the Literature of the First World War. Cambridge 2005, 34–56, bes. 46–52. 37 Richard Bessel, Germany after the First World War. Oxford 1993, 191, 258 u. 278f. 38 Graham Wootton, The Official History of the British Legion. London 1956, 2–4 u. 10; Dan Todman, The Great War. Myth and Memory. London 2005, 88f. 39 Adrian Gregory, The Silence of Memory. Armistice Day 1919–1946. Oxford 1994, 8f.

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tiven – jeweils nahestanden. 40 Als besonders wirksames Mittel, innenpolitische Spannungen zu entschärfen, erwies sich dabei die Einführung des Usus, nach dem die ganze Nation die genaue Stunde des Waffenstillstands damit markierte, daß sie zwei Minuten Stille einhielt, denn so konnte den Kriegsopfern öffentlich und gemeinsam Respekt erwiesen werden, während jeder einzelne und jede Fraktion für sich und auf eigene Weise ihrer Toten gedenken durfte. 41 Die British Legion kümmert sich bis heute sowohl um die Organisation der jährlichen Gedächtnisfeiern als auch um die materiellen Bedürfnisse von ehemaligen Militärangehörigen und deren Familien; die Errichtung von Denkmälern für die Gefallenen wurde weitgehend den einzelnen Gemeinden überlassen. Die neuere Forschung auf diesem Gebiet hat sich dementsprechend für Großbritannien mehr auf die persönliche und örtliche Dimension der Erinnerungskultur konzentriert, während sie sich im Falle Deutschlands eher für die politische Dimension interessiert hat, die schließlich in den nationalsozialistischen Totenkult mündete. 42 Die angedeutete Entwicklung ließ also in Großbritannien eine Situation entstehen, in welcher der Krieg öffentlich überwiegend in Trauerstimmung erinnert wurde, wobei der Zorn über die hohen Verluste, der weiterhin die politischen Debatten der zwanziger Jahre nährte, durch die offizielle Erinnerungskultur abgedämpft wurde. Der Standpunkt, den wir Edmund Blunden und Ralph Mottram vertreten sahen, nämlich daß man vor allem die Wiederholung eines solchen oder möglicherweise noch schlimmeren Krieges vermeiden müsse, war im Großbritannien der zwanziger Jahre auch und gerade unter Veteranen weit verbreitet, und führte unter anderem dazu, daß die „British Legion“ es sich schnell zur Aufgabe machte, auch der Verschärfung von internationalen Konflikten entgegenzuarbeiten. So setzte sie sich schon ab 1924, allerdings ohne Erfolg, für den Beitritt der Deutschen zur Fédération Interalliée des Anciens Combattants ein. 43 Es muß dabei als eine Ironie der Geschichte angesehen werden, daß die British Legion unter den deutschen Veteranen erst nach dem Machtantritt Hitlers 1933 einen geeinigten Ansprechpartner fand, und dann nur in Form des Wootton, The Official History (wie Anm. 38), 20–29 u. 306. Gregory, The Silence of Memory (wie Anm. 39), 8–18. 42 Stefan Goebel, The Great War and Medieval Memory. War, Remembrance and Medievalism in Britain and Germany, 1914–1940. Cambridge/New York/Melbourne 2007, 2– 10; vgl. auch Gregory, The Silence of Memory (wie Anm. 39); George L. Mosse, Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the World Wars. New York/Oxford 1990. 43 Wootton, The Official History (wie Anm. 38), 73 u. 170–173. 40 41

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Frontkämpferbundes „Stahlhelm“. Im nachhinein läßt sich allerdings der Wille zur Kriegsverhinderung, welchen die British Legion auch anläßlich der Sudetenkrise 1938 an den Tag legte, leicht als ein Ausdruck politischer Naivität darstellen. 44 Aber für die gegenwärtige Diskussion läßt sich immerhin daran festhalten, daß durch die Einstellung der British Legion die Politik der Kriegsvermeidung in die offizielle Erinnerungskultur Großbritanniens mit aufgenommen wurde, und daß – bei allen Kontroversen über Nuancen und Wirklichkeitstreue im Detail – die Darstellung des Krieges als eine im Grunde verabscheuungswürdige Angelegenheit, die gegen Ende der zwanziger Jahre zur Mode wurde, auch unter britischen Veteranen wohl vielfach mit Sympathie aufgenommen wurde. Vor diesem Hintergrund läßt es sich auch gut verstehen, daß sich das britische Lesepublikum um 1930 im Vergleich zum deutschen für Kriegsdarstellungen aus der Perspektive des Gegners aufgeschlossener zeigte. So findet man im Buch von Cyril Falls Beschreibungen von elf deutschen Kriegsromanen in englischer Übersetzung, darunter diejenigen von Remarque, Renn, Zweig, Ernst Glaeser und Franz Schauwecker, sowie von zwölf aus dem Deutschen übersetzten Büchern unter der Rubrik „Reminiscence“, darunter das „Rumänische Tagebuch“ von Carossa und zwei Titel von Ernst Jünger. 45 In der von Ernst Jirgal für den deutschen Sprachraum zusammengestellten Bibliographie finden sich hingegen nur sechs britische Autoren – Aldington, Graves, Mottram, Robert Cedric Sherriff, Liam O’Flaherty und F. P. Crozier –, deren Werke 1929/30 in deutscher Übersetzung erschienen. 46 Die Rezeption von Jüngers Werken in Großbritannien bildet dabei einen interessanten Sonderfall, der unter anderem den problematischen Aspekt der damaligen Wechselbeziehungen zwischen den beiden Kulturen aufzeigt. Als „In Stahlgewittern“ 1929 in englischer Übersetzung erschien, erlangte Jünger auf einmal die Aufmerksamkeit, die ihm bis zu jenem Zeitpunkt in Deutschland versagt worden war. 47 Daß diese englische Übersetzung mit einem Vorwort von Ralph Mottram versehen war, hängt wohl mit der Vermarktungsstrategie des englischen Verlegers Chatto & Windus zusammen, der beide Autoren herausbrachte und aus der Aktualität des Themas offenbar Kapital schlagen wollte. Wenn aber ein ReMartin Gilbert/Richard Gott, The Appeasers. London 1963, 160. Falls, War Books (wie Anm. 2). 46 Jirgal, Die Wiederkehr des Weltkriegs (wie Anm. 1). 47 Hans-Harald Müller, „Herr Jünger thinks war a lovely business“. On the Reception of Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ in Germany and Britain before 1933, in: Stanzel/ Löschnigg (Eds.), Intimate Enemies (wie Anm. 3), 328. 44 45

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zensent wie Edmund Blunden, der ja zu den sanftmütigsten Autoren von Kriegserinnerungen zählt, Jüngers Buch seine Anerkennung erweist, dann eher, weil er darin – endlich – eine ehrliche, ausführliche und schonungslose Darstellung des Kriegsgeschehens, von der Gegenseite aus gesehen, erblickt. 48 Die britischen Rezensenten zeigten sich 1929 allgemein von Jüngers offenen und mit Schwung geschriebenen Schlachtbeschreibungen deutlich fasziniert, reagierten aber auch mit spürbarem Befremden auf Ethos und Persönlichkeit des Autors. So befand ein Rezensent anläßlich der Übersetzung von „Wäldchen 125“: „Herr Jünger thinks war a lovely business“. 49 (Umgekehrt wurde die Berliner Aufführung von Sherriffs Theaterstück „Die andere Seite“ – der deutsche Titel ist genau so doppeldeutig wie der englische: „Journeys End“ – 1929 von Erich Kästner in der „Weltbühne“ unter der Überschrift „Gentlemen Prefer Peace“ besprochen. 50) Generell fand man es auf britischer Seite unmöglich, einen so humorlosen, von seiner edlen Haltung besessenen Krieger wie Jünger in dieselbe Kategorie einzuordnen wie die meisten, die man kannte, die aus moralischem Verantwortungsgefühl ins Feld gezogen waren. 51 Etwas – aber nur etwas – überspitzt formuliert, ließe sich sagen, daß die englischen Rezensenten Jünger zu dem Idealtyp jenes Gegners stilisierten, gegen den man vier Jahre lang gekämpft hatte. Für einen weiteren Aspekt der deutschen Kriegsliteratur läßt sich auf britischer Seite allerdings kaum ein Pendant finden. Gemeint ist die Mythisierung des Kriegsgeschehens, mit der nationalistische deutsche Autoren um 1930 in revanchistischem Sinne der Demütigung durch den Versailler Vertrag und der desillusionierenden Wirkung der meisten Kriegsromane entgegenzuwirken versuchten. Werner Beumelburg, Josef Magnus Wehner und Franz Schauwecker wählen alle drei den symbolträchtigen Kampf um die Festung Verdun als Schauplatz ihrer Romane. Wehners „Sieben vor Verdun“ (1930) ruft gar in seiner Evozierung der hohen Opferzahl, die an der Westfront der nationalen Sache gebracht wurden, direkte Assoziationen mit Heldenmythen der Antike wir etwa Aischylos’ „Sieben gegen Theben“ hervor. Sowohl Wehner als auch Beumelburg („Die Gruppe Bosemüller“, 1930) stilisieren ihre Soldaten zu exemplarischen Kriegern, die sich mit Entschlossenheit, scharfen Reaktionen und unerschütterlicher Loyalität gegen gewaltige Schwierigkeiten und die eigenen menschlichen Schwä48 49 50 51

Ebd. 335. Anonym, Reader Reports, in: Life & Letters 5, 1930, 140–142, hier 142. Erich Kästner, Gentlemen Prefer Peace, in: Die Weltbühne v. 10.9.1929, 407f. Müller, „Herr Jünger thinks war a lovely business“ (wie Anm. 47), 334f.

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chen durchsetzen. 52 An der Spitze dieser Gruppe – sowohl zeitlich wie auch in Anbetracht der literarischen Mittel – steht Franz Schauwecker, der in „Aufbruch der Nation“ (1929) den Bildungsroman eines jungen Akademikers schreibt, der durch den Krieg zu nationalem Selbstbewußtsein erweckt wird; und wenn wir die Schlußfolgerung in bezug auf den Ausgang des Weltkrieges in Erinnerung rufen, die Schauwecker am Ende seines Romans seinem Protagonisten in den Mund legt – man habe den Krieg verlieren müssen, um die Nation zu gewinnen 53 –, dann ist es leicht zu verstehen, warum es auf britischer Seite zu keiner solchen Mythisierung des Kriegsgeschehens kam. Die politische Grundsituation, von der aus man auf den Krieg zurückblickte, war eben eine völlig andere. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß die Rückerinnerung an den Krieg in der englischsprachigen Welt des Aspektes der Mythisierung völlig entbehrte. Sie kam aber in anderen Formen und in anderen Situationen vor. Hier muß man den Blick erweitern, sowohl was den Kriegsschauplatz als auch was den politischen Hintergrund zum Kriegsgeschehen betrifft, denn die Tendenz zur Mythisierung des Kriegsgeschehens läßt sich am deutlichsten in Ländern des britischen Weltreichs spüren, die gerade begannen, eine eigene politische Identität zu entwickeln.

III. Das Wort „Mythos“ ist in den letzten zwanzig Jahren häufig im alltäglichen Sinne von „Verlogenheit“ auf stereotype Vorstellungen vom Weltkrieg angewandt worden, um mal der Verherrlichung der Kriegstoten als Nationalhelden, mal der Welle der desillusionierenden Kriegsdarstellungen um 1930 und mal der schlichten Assoziation des Ersten Weltkriegs mit dem Massensterben, wie sie sich in den Vorstellungen vieler Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg festsetzte, ihre Glaubwürdigkeit zu entziehen. 54 Zur Präzisierung der Rolle, die das Wort als analytischer Begriff in der Diskussion spielen soll, möchte ich – mit der australischen Historikerin Joan Beaumont 55 – auf die Definition hinweisen, die ihm der Ethnologe Bronislaw Malinowski bei der Besprechung von Erzählungen, die einer GesellMidgley, Writing Weimar (wie Anm. 23), 244–248. Franz Schauwecker, Aufbruch der Nation. Berlin 1929, 403. 54 Mosse, Fallen Soldiers (wie Anm. 42), 3–11; Hynes, A War Imagined (wie Anm. 21), 422–469; Todman, The Great War (wie Anm. 38). 55 Joan Beaumont (Ed.), Australia’s War 1914–18. St. Leonards, NSW 1995, 161; vgl. 52 53

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schaft in irgendeiner Weise heilig sind, gibt: Malinowski unterscheidet unter anderem zwischen der Legende, die von einer außerordentlichen Erfahrung ausgeht und den Blick auf die historische Vergangenheit eröffnet, und dem Mythos, der die allgemein akzeptierte Rechtfertigung für Einstellungen, Glaubenssätze und rituelles Verhalten in der jeweiligen Gegenwart liefert. 56 Im Sinne Malinowskis ließe sich hier sagen, daß wir es mit Kriegserlebnissen zu tun haben, die für die betroffenen Bevölkerungen wohl ohnehin legendär geworden wären, indem sie in Familien- und Freundeskreisen einfach weitererzählt wurden; einen mythischen Aspekt erhielten sie aber erst durch die Interpretationen, denen sie in der kulturellen Erinnerung und nicht zuletzt in der Geschichtsschreibung unterlagen. Am Kriegsgeschehen 1914–1918 waren bekanntlich nicht nur europäische Bevölkerungen beteiligt: auch Menschen aus den Ländern, die damals noch unter Kolonialherrschaft standen, wurden in großer Zahl in dieses historische Ereignis mit hineingerissen. Man hat ausgerechnet, daß allein im Laufe des Krieges über eine Million Inder der britischen Armee eingegliedert wurden 57 und daß an diversen Kriegsschauplätzen ungefähr zwei Millionen Afrikaner dem jeweiligen Kolonialherrscher militärische Dienste leisteten 58 – die Legende von der „Schwarzen Schmach“, die sich im Deutschland der Nachkriegsjahre ausbreitete, ist wohl nur die bekannteste Folgeerscheinung hiervon. Auch viele Chinesen arbeiteten für die britische Armee. 59 Die politischen und ökonomischen Bedingungen der Kriegszeit scheinen sich im Falle Indiens sowohl auf die Herausbildung der nationalistischen Bewegung als auch – vorübergehend – auf die Möglichkeit einer politischen Zusammenarbeit von Hindus und Muslimen förderlich ausgewirkt zu haben 60, aber zu den Beziehungen zwischen den Erfahrunauch Graham Seal, Inventing Anzac. The Digger and National Mythology. St. Lucia, Queensland 2004. 56 Bronislaw Malinowski, Magic Science and Religion and Other Essays. London 1974, 107: „The folk tale, as we know, is a seasonal performance and an act of sociability. The legend, provoked by contact with unusual reality, opens up past historical vistas. The myth comes into play when rite, ceremony, or a social or moral rule demands justification, warrant of antiquity, reality, and sanctity.“ 57 David Omissi (Ed.), Indian Voices of the Great War. Soldiers’ Letters, 1914–18. Basingstoke 1999, 366f. 58 Vgl. Melvin E. Page (Ed.), Africa and the First World War. Basingstoke 1987. 59 Vgl. Michael Summerskill, China on the Western Front: Britain’s Chinese Work Force in the First World War. London 1982. 60 Informativ zu diesem Thema trotz häufiger Druckfehler Upendra Narayan Chakravorty, Indian Nationalism and the First World War, 1914–18. Calcutta 1997, 43–101. Vgl. auch Sumit Sarkar, Modern India 1885–1947. Madras 1983, 165–178.

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gen indischer Soldaten im Krieg und den politisch-kulturellen Entwicklungen der Zwischenkriegszeit fehlen noch präzise Untersuchungen 61. Ganz anders stellt sich die Situation jedoch für Australien, Neuseeland und Kanada dar, wo die Beteiligung von Einwanderern aus den britischen Inseln an der Bevölkerung sehr groß war und ein entscheidender Impuls zur Herausbildung einer eigenen nationalen Identität erst aus den Erfahrungen im Krieg hervorging. Bei den Truppen aus diesen Ländern handelte es sich überwiegend um Freiwillige, die sich – neben allen denkbaren sozialen, ökonomischen und persönlichen Motiven – mit den Interessen des britischen Weltreichs und mit dessen moralischen Ansprüchen gegenüber Deutschland solidarisch zeigen wollten. Die Vorstellung einer allgemeinen Wehrpflicht, die im Vereinigten Königreich Anfang 1916 in begrenzter Form erstmals eingeführt wurde, löste 1916/17 in allen drei Ländern heftige politische Kontroversen aus, wurde aber nur in Australien bis zum Kriegsende konsequent abgelehnt, was für den Prozeß der Mythenbildung, der hier beschrieben werden soll, nicht ohne Bedeutung ist. Die historische Basis der Gesellschaftsstruktur in allen drei Ländern bildeten die verstreuten, weitgehend autonomen Siedlungen, die von europäischen Einwanderern über die Jahre gegründet worden waren; die Erfahrung einer zentralen Regierung war relativ neu. Die vier östlichen Provinzen Kanadas hatten sich zwar schon 1867 zu einer Konföderation zusammengeschlossen, aber es dauerte noch bis 1912, bis sich die übrigen Territorien in einer Form, die der heutigen administrativen Struktur weitgehend entspricht, dem Bündnis formell anschlossen. Dem kleineren Neuseeland war eine eigene einheitliche Selbstverwaltung seit 1852 gesetzlich zugesichert, und das Land erlangte 1907 den Status eines unabhängigen Dominion unter der britischen Monarchie. Australien bestand aber erst seit 1901 als einheitliche Konföderation. Für die Soldaten aus allen drei Ländern bedeutete das, daß erst der Dienst im Weltkrieg die Erfahrung des Zusammenschlusses zu einem einheitlichen Armeekorps und somit die Wahrnehmung der eigenen nationalen Identität im Gegensatz zu anderen mit sich brachte. Erfahrungen im militärischen Einsatz, welche die Kompetenz der befehlenden englischen Offiziere in Zweifel setzten, haben in allen drei Fällen offenbar nicht wenig zu diesem Prozeß der nationalen Identitätsbildung beigetragen.

61 Vgl. Santanu Das, India and the First World War, in: Michael Howard (Ed.), A Part of History (wie Anm. 4), 63–73.

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Für die Kanadier kamen die bedeutendsten Kriegserlebnisse in späteren Phasen der Kampfhandlungen in Nordfrankreich: Mit avancierten technischen Mitteln und guten Ingenieurkenntnissen ausgerüstet, eroberten und hielten sie die strategisch wichtige Höhe von Vimy im April 1917 62 und spielten bei der Schlacht von Amiens im August 1918 und beim anschließenden Durchstoß bis nach Mons eine führende Rolle. Besonders die Kämpfe um Vimy wurden im nachhinein als eine Härteprobe von symbolischer Bedeutung erinnert, und die Beteiligung Kanadas am Krieg wirkte sich in komplexer Weise sowohl auf seine politische Entwicklung zu einem eigenmächtigen Staat als auch auf seine langfristige Entwicklung zu einem modernen Industriestaat aus. 63 Für die Australier und Neuseeländer kam das entscheidende Erlebnis zu einem früheren Zeitpunkt und war mit keiner solchen Erinnerung an militärische Erfolge verbunden. Sie wurden 1915 zum Australian and New Zealand Army Corps zusammengeschlossen, das unter dem Akronym „Anzac“ bekannt und bei den Landungen auf der Halbinsel Gallipoli im April 1915 eingesetzt wurde, durch welche das britische Oberkommando die Öffnung des Seewegs durch die Dardanellen und die Ausschaltung der Türkei aus dem Krieg zu erzwingen hoffte. Die Kampagne scheiterte aufgrund von Fehleinschätzungen des Gegners und fehlerhafter Durchführung und wurde nach einigen Monaten abgebrochen. Für die Verhältnisse des Ersten Weltkriegs mögen die Verluste der Australier und Neuseeländer bei dieser Aktion vielleicht nicht sonderlich groß erscheinen – sie lagen mit 8140 australischen und 2700 neuseeländischen Gefallenen hinter den entsprechenden Zahlen für Großbritannien (über 21000) und Frankreich (etwa 10 000) zurück. Aber während der ersten Tage, nachdem sie am falschen Ort abgesetzt worden waren, und wieder bei fruchtlosen Angriffen im August erlitten die Anzac-Truppen im zähen Nahkampf auf äußerst schwierigem Terrain tatsächlich schwere Verluste. Auch ließen die Bedingungen, unter denen sie mehrere Monate lang ihren schmalen Brückenkopf verteidigen mußten, die Australier und Neuseeländer auf diese Aktion ebenfalls als eine Härteprobe zurückblicken, die man

62 Brereton Greenhous/Stephen J. Harris, Canada and the Battle of Vimy Ridge, 9–12 April 1917. Ottawa 1992. 63 Stephen Harris, From Subordinate to Ally: The Canadian Corps and National Autonomy, in: Revue internationale d’histoire militaire 54, 1982, 109–130; Daphne Read (Ed.), The Great War and Canadian Society. An Oral History. Toronto 1978, 25–31; Thomas B. Vincent, Canadian Poetry of the Great War and the Effect of the Search for Nationhood, in: Stanzel/Löschnigg (Eds.), Intimate Enemies (wie Anm. 3), 165–175.

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– trotz der Fehler in der militärischen Führung – mit Heldenmut und Erfindungsgeist glänzend bestanden habe. 64 Es ist die Art, wie diese Schlacht von Gallipoli erinnert wurde – ja, wie sie insbesondere in Australien zu einem symbolischen Grundpfeiler der politischen Kultur gemacht werden konnte –, die hier interessiert. Denn einerseits gelang es der politischen Führung Australiens unter Ministerpräsident „Billy“ Hughes, noch während des Krieges den offenkundigen militärischen Fehlschlag zur Basis eines positiven Erinnerungskults zu gestalten, und andererseits war an dieser Schöpfung eines Mythos, der auf Jahrzehnte hinaus die politische Identität Australiens mitbestimmen sollte, nicht weniger die populäre Geschichtsschreibung beteiligt, welche den Verlauf der Kampfhandlungen bei Gallipoli und in Nordfrankreich für das australische Lesepublikum festhielt und interpretierte. 65 Der Aspekt des politischen Kalküls ist besonders darin zu sehen, daß gerade die Verluste beim Einsatz auf der Halbinsel zu Rekrutierungszwecken instrumentalisiert wurden. Das australische Korps bestand, wie gesagt, bis zuletzt aus Freiwilligen, denn der Versuch, mittels eines Volksentscheids die allgemeine Wehrpflicht einzuführen, schlug zweimal – 1916 und 1917 – fehl. Bei Rekrutierungskampagnen wurden nach April 1915 vor allem die annähernd 20000 Verwundeten aus der Gallipoli-Kampagne eingesetzt: es wurde an persönliches Mitleid und patriotisches Pflichtgefühl zugleich appelliert, um die benötigten Reserven anzuwerben. Nicht nur wurde der Jahrestag der Landung in Gallipoli, der 25. April, bereits ab 1916 zum öffentlichen Feiertag („Anzac Day“) erklärt, darüber hinaus wurde am 25. April 1916 auf Vorschlag des australischen Ministerpräsidenten in der Westminster Abbey eine groß angelegte Gedächtnisfeier in Anwesenheit von König und Königin abgehalten, der sich Paraden von Truppen aus Australien und Neuseeland durch die Straßen Londons anschlossen, während in Sydney am selben Tag allein neun Rekrutierungsveranstaltungen stattfanden. 66 „Anzac Day“ wurde ebenfalls in Neuseeland gefeiert, aber gerade die Unterschiede in der Art der öffentlichen Veranstaltungen in den beiden Ländern machen das Besondere an der australischen Erinnerungskultur Ziffern bei Jeffrey Grey, A Military History of Australia. Melbourne 1990, 99; Christopher Pugsley, Gallipoli: the New Zealand Story. Auckland 1998, 363. Unter der neueren Literatur zur Schlacht von Gallipoli siehe ferner Christopher Pugsley, The ANZAC Experience. New Zealand, Australia and Empire in the First World War. Auckland 2004; Jenny Macleod, Reconsidering Gallipoli. Manchester 2004. 65 Zur Einführung in die Thematik v. a. Beaumont (Ed.), Australia’s War 1914–18 (wie Anm. 55), 149–180. 66 Ebd. 169. 64

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deutlich. In Neuseeland wurde der Tag, ähnlich wie der 11. November in Großbritannien, schlicht der – wenngleich nach militärischem Muster reglementierten – Trauer um die Kriegsgefallenen gewidmet 67; in Australien erhielt sich dagegen über Jahrzehnte die Tradition, bei diesem Anlaß die Heldenhaftigkeit der Frontkämpfer zu feiern. Ein weiterer Faktor, der den etwas anderen Umgang mit Kriegserlebnissen in Neuseeland beeinflußt haben mag, liegt darin, daß dort die Landwehr, die noch vor dem Krieg auf eine sehr gute organisatorische Basis gestellt worden war, über die Kriegsjahre hin eine zuverlässige Quelle militärisch geschulter Reserven blieb. 68 Die besonderen Traditionen der australischen Erinnerungskultur zeigten sich aber auch in der Gestaltung der Kriegsdenkmäler, an denen nicht nur die Namen von Gefallenen und Verwundeten, sondern von allen, die sich gemeldet hatten, eingezeichnet wurden. Wichtiger noch: der erhobene gesellschaftliche Status, der dadurch jedem Kriegsdienstleistenden verliehen wurde, führte fast automatisch dazu, daß der Anzac-Soldat bald als Verkörperung aller Tugenden des musterhaften australischen Staatsbürgers galt. Der Anzac wurde – auch in den Schulen – dem gewöhnlichen Australier als Vorbild hingestellt, und der/die gewöhnliche Australier(in) wurde mittels der rituellen jährlichen Wiederholung der Gedächtnisfeier dazu angehalten, im Anzac den Maßstab für alle Australier zu sehen. 69 Während der Kriegsjahre entstand eine populäre Literatur, die solche Vorstellungen vom typisch-australischen Verhalten kräftig bestätigte: Mit seinen im volkstümlichen Ton gehaltenen Veröffentlichungen „Songs of a Sentimental Bloke“ (1915) und „The Tales of Ginger Mick“ (1916) wurde vor allem C[larence] J[ames] Dennis bald als der „Dichter von Anzac“ gefeiert. 70 Aber bei der Bestimmung der Tugenden, die als Nationaleigenschaften gesehen werden sollten, spielte die Kriegsberichterstattung und die populäre Geschichtsschreibung von Charles Bean eine herausragende Rolle. Bean hatte die australischen Truppen überallhin begleitet, wo sie im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurden, um die Detailkenntnisse zu sammeln, die er ab 1919 als führender Autor der offiziellen Geschichte des Krieges aus australischer Sicht verwertete. 71 Er gab schon 1916 eine Sammlung Ebd. 164f.; Pugsley, The ANZAC Experience (wie Anm. 64), 34f. Pugsley, Gallipoli (wie Anm. 64), 14–53. 69 Beaumont (Ed.), Australia’s War (wie Anm. 55), 165–167; K[enneth] S[tanley] Inglis, Anzac and the Australian Military Tradition, in: Revue internationale d’histoire militaire 72, 1990, 1–24. 70 Beaumont (Ed.), Australia’s War (wie Anm. 55), 156. 71 Zur Karriere von C. E. W. Bean siehe Kevin Fewster, Introduction, in: Kevin Fewster 67 68

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von durchweg humoristischen Schriften und Zeichnungen australischer Truppen heraus, die auch eine Beschreibung der Gallipoli-Kampagne in der Form von Auszügen aus den amtlichen Meldungen des Befehlshabers Sir Ian Hamilton enthielt und die wahrscheinlich noch größere Verbreitung fand als die – allerdings recht lesbare – offizielle Geschichte 72, und er war maßgeblich an der Planung und Errichtung des Australian War Memorial in der Hauptstadt Canberra beteiligt, dem er den Charakter nicht nur eines Denkmals, sondern auch eines Museums verlieh. Bei seiner Geschichtsschreibung war Bean nach eigenem Bekenntnis von der Intuition geleitet worden, daß die Erfahrungen im Weltkrieg für die Selbstwahrnehmung der Australier als Nation bestimmend gewesen seien. 73 Im ersten Band der offiziellen Geschichte, der unter dem Titel „The Story of Anzac“ die erste Phase der Schlacht von Gallipoli zum Gegenstand hat, lobte Bean nicht nur die Australier als die effektivsten Kämpfer von allen am Weltkrieg beteiligten Truppen, er wußte auch Gründe für ihre hervorragenden Leistungen anzugeben: das waren einerseits die Konditionierung durch das Leben im Busch, das sie nicht nur physisch in ausgezeichnete Form gebracht, sondern sie auch in hohem Grade selbständig, lernfähig und erfinderisch gemacht habe, sowie andererseits die damit verbundene egalitäre Struktur der australischen Gesellschaft, die sie mit der Fähigkeit zu eigenständigen Entscheidungen ausgestattet habe – auch und gerade in Extremsituationen. Hinzu kam noch etwas: Als Bean sich am Ende des Bandes fragte, was diese in der Kriegführung unerfahrenen und der militärischen Disziplin notorisch abholden Männer dazu veranlaßt haben konnte, bei allen Forderungen, die ihnen in den ersten Tagen auf Gallipoli gestellt wurden, auszuharren, wies er nicht nur Kampflust an sich und Haß auf die Türken, sondern auch puren Patriotismus und das Verlangen nach Ruhm als mögliche Erklärungen zurück. Statt dessen bestimmte Bean die auf enger Frontkameradschaft beruhende Loyalität, die wohl in allen Armeen häufig zum bedingungslosen Einsatz des einzelnen im Interesse der Gruppe und deren

(Ed.), Bean’s Gallipoli. The Diaries of Australia’s Official War Correspondent. Crows Nest, NSW 2007, 1–21. 72 Vgl. D. A. Kent, The Anzac Book and the Anzac Legend: C. E. W. Bean as Editor and Image-maker, in: Historical Studies 21, 1985, 376–390. 73 C[harles] E[dwin] W[oodrow] Bean, The Story of Anzac. From the Outbreak of War to the End of the First Phase of the Gallipoli Campaign, May 4, 1915. (The Official History of Australia in the War of 1914–1918, Vol. 1.) St. Lucia, Queensland 1981 [Erstausgabe 1921], LXVIII.

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Kampfziele führte 74, unter der Bezeichnung „mateship“, zu einer Eigentümlichkeit des Australiers und lud sie dabei quasi religiös auf. 75 So heißt es am Ende: „To be the sort of man who would give way when his mates were trusting to his firmness; to be the sort of man who would fail when the line, the whole force, and the allied cause required his endurance; to have made it necessary for another unit to do his own unit’s work; to live the rest of his life haunted by the knowledge that he had set his hand to a soldier’s task and had lacked the grit to carry it through – that was the prospect which these men could not face. Life was very dear, but life was not worth living unless they could be true to their idea of Australian manhood.“ 76 In den letzten Jahrzehnten sind die Behauptungen von Bean, wie das Selbstbild des Australiers, für das sie ohne jeden Zweifel in der Folgezeit die scheinbare Rechtfertigung lieferten, zum Gegenstand der Kontroverse unter australischen Historikern geworden. Es wurde unter anderem darauf hingewiesen, daß die Mythisierung des soldatischen Lebens, an der Bean mitarbeitete, wesentlich dazu beigetragen habe, die Werte eines konservativen Establishments in der Gesellschaft zu befestigen; daß die Klassenunterschiede, die es in der australischen Gesellschaft ohne Zweifel gab, und ihre Bedeutung für die Entwicklungen in und seit dem Weltkrieg durch die so entstandene Erinnerungskultur aus dem Blick gerieten; daß die sozialen Hintergründe zu den von Bean gerühmten Eigenschaften der Australier und deren Verhalten im Krieg auf jeden Fall sehr viel differenzierter zu sehen seien als in seiner Schilderung und daß die Einstellungen und das Verhalten von einzelnen Kriegsteilnehmern oft vom normativen Bild des AnzacSoldaten deutlich abwichen; aber auch, daß Bean zu seinen Mutmaßungen über den australischen Nationalcharakter nie so dogmatisch stand, wie es seine Kritiker manchmal ahnen lassen. 77 Auch als Objekt der Kritik bleiVgl. Niall Ferguson, Introduction, in: Manning, The Middle Parts of Fortune (wie Anm. 34). London 1990, XV. 75 Zur Kritik an diesem Aspekt John Carroll, Mateship and Egalitarianism: The Failure of the Upper Middle-Class Nerve, in: John Carroll (Ed.), Intruders in the Bush. The Australian Quest for Identity. Melbourne/Oxford 1982, 143–153. 76 Bean, The Story of Anzac (wie Anm. 73), 607; zit. bei Beaumont (Ed.), Australia’s War (wie Anm. 55), 155; zu diesem Thema vgl. auch Pugsley, Gallipoli (wie Anm. 64), 11–13. 77 Inglis, Anzac and the Australian Military Tradition (wie Anm. 69); Alistair Thomson, The Anzac Legend. Exploring National Myth and Memory in Australia, in: Raphael Samuel/Paul Thompson (Eds.), The Myths we Live by. London 1990, 73–82; John Barrett, No Straw Man: C. E. W. Bean and Some Critics, in: Australian Historical Studies 23, 1988/89, H. 89, 102–114; Alistair Thomson, „Steadfast until Death“? C. E. W. Bean and the Representation of Australian Military Manhood, in: Australian Historical Studies 23, 1988/89, H. 93, 462–478; Beaumont (Ed.), Australia’s War (wie Anm. 55), 157–161. 74

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ben Beans Schriften also ein faszinierendes Beispiel dafür, wie die Geschichtsschreibung bei der Aufarbeitung von Kriegserlebnissen an der mythischen Festlegung einer nationalen Identität mitwirken konnte.

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Der späte Barrès und seine Rezeption in Deutschland (1918–1923)* Von

Landry Charrier „Mit der Zeit haben die politischen Ansichten Barrès’ eine Bedeutung gewonnen, auf die man eines Tages zurückkommen muß.“ 1

I. Einleitung Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges brachte eine entscheidende Wende in der geistigen Entwicklung von Maurice Barrès (1862–1923). Barrès’ nationalistische Gesinnung, die sich in den Jahren vor dem Krieg vorrangig an einem innenpolitischen Problem – der Dreyfus-Affäre – entzündet hatte, entwickelte sich seit 1914 zunehmend zu einer förmlichen Doktrin, die vor allem von der Rhein-Thematik bestimmt war. Die Idee eines französischen Rheins wurde für Barrès mit Beginn des Krieges zu einer „regelrechten Besessenheit, zum Hauptziel seiner politischen Aktivitäten und Propagandafeldzüge.“ 2 Der Kampf, den Barrès zu führen gedachte, war freilich durch eine Reihe von Widersprüchen gekennzeichnet, die Aufschluß geben über die Komplexität seines impulsiven, stets wandlungsfähigen Denkens. Nach Unterzeichnung des Versailler Vertrags, der auch die Rheinproblematik zu verschärfen drohte, unterzog Barrès die zuvor fixierten Ziele denn auch einer radikalen Revision. Dieser Prozeß des Umdenkens eröffnete neue Perspektiven, deren Originalität bislang freilich kaum erkannt worden ist. Statt dessen sind die geopolitischen Vorstellungen, die Barrès’ in den Nachkriegsjahren entwickelte, von der Forschung bis heute unzulässig vereinfacht und bisweilen in den Dienst politischer Auseinandersetzungen gestellt worden. Deutsche Übersetzung von Antje Peter. Ida-Marie Frandon, Connaissance de Barrès. Etudes et recherches, in: L’information littéraire 10, 1958, 57–67, hier 67. 2 François Broche, Maurice Barrès. Paris 1987, 516. – „La grande affaire, et je dirais volontiers l’unique affaire, comme nous le disions de Metz et de Strasbourg avant 1914, c’est la Rhénanie.“ Maurice Barrès, Mes Cahiers. Vol. 20: Février 1922–Décembre 1923. Souvenirs d’un Officier de la Grande Armée. Paris 1968, 113f. * 1

Um die Beweggründe zu verstehen, die den späten Barrès zu einer Revision bestimmter Positionen veranlaßten, soll zunächst der Prozeß seines Denkens rekonstruiert werden. Zu diesem Zweck werden ausgewählte Reden analysiert, die Barrès zwischen 1919 und 1923 im Parlament gehalten hat. Darüber hinaus werden auch die Notizen in seinen „Cahiers“ in die Untersuchung einbezogen – Reflexionen, die etwa Ida-Marie Frandon für unverzichtbar für das Verständnis von Maurice Barrès hält. 3 Dabei liegt es gewiß nicht in der Absicht dieses Beitrags, die Konsequenzen von Barrès’ Denken zu relativieren, das – ungeachtet all seiner Wandlungsfähigkeit – der Ideologie des Faschismus in vielerlei Hinsicht nahesteht. 4 Im Sinne einer modernen Ideengeschichte soll es im folgenden vielmehr darum gehen, die nicht immer geraden Wege eines Denkens zu erhellen, das stets darum bemüht war, sich den Forderungen des Tages zu stellen.

II. Die Wiederentdeckung Maurice Barrès’ durch die deutsche Geschichtswissenschaft 1. Ein schwer zugängliches Denken Die Enttäuschung, die Maurice Barrès bei der Unterzeichnung des Versailler Vertrags empfand, der seiner Ansicht nach einen neuerlichen deutschen Angriff gerade nicht verhindern würde, führte bei ihm weniger zu einer grundsätzlichen intellektuellen Abrüstung als zu einem Wandel einzelner territorialer Forderungen, der sich an den politischen Möglichkeiten des Jahres 1919 orientierte. Die Maxime, derzufolge der Rhein vollständig französisch werden müsse, wie er sie seit Kriegsbeginn etwa in den Kolumnen für das „Echo de Paris“ 5 postuliert hatte, verlor mit einem Mal ihre Gültigkeit. Statt dessen brachte Barrès nun ein Kooperationsprojekt zwischen Frankreich und dem Rheinland ins Gespräch – einem Territorium, das weiterhin zu Deutschland gehören, jedoch nicht dem Einfluß Preußens ausgeliefert sein sollte. Trotz der Wandlungen, die Barrès’ nationalistisches 3 Maurice Barrès, Mes Cahiers. Vol. 19: Janvier 1919–Janvier 1922. Paris 1968; ders., Le Rhin. Paris 1967, 165–596; Frandon, Connaissance (wie Anm. 1), 62. 4 Zeev Sternhell, Maurice Barrès et le nationalisme français. Paris 2000, 401 u. 404. 5 Die Artikel, die Barrès zwischen dem 1.2.1914 und dem 4.7.1920 täglich an die Pariser Zeitung lieferte, sind in den vierzehn Bänden der „Chronique de la Grande Guerre“ zusammengefaßt. Maurice Barrès hing sehr an diesen Texten und äußerte sich entsprechend gegenüber Frédéric Lefèvre, der ihn 1923 für Les Nouvelles Littéraires interviewte. Vgl. Frédéric Lefèvre, Une heure avec… Première série. Paris 1924, 29.

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Denken mit der Zeit erfuhr, blieb der unstillbare Haß gegen den preußischen Militärstaat eines der wenigen Motive, die sein gesamtes Werk durchziehen, von den ersten Seiten der „Taches d’encre“ bis hin zu den letzten Notizen der „Cahiers“: „C’est persuasif pour toujours d’avoir vu, dans sa huitième année, une troupe prussienne entrant sur un air de fifre dans une petite ville française“, vermerkte Barrès noch in seinem allerletzten Eintrag vom Dezember 1923. 6 Gleichwohl sind die Brüche in seinem Denken nicht zu übersehen. Während Barrès 1915 die Angliederung von Saarland, Pfalz und Trier noch als Minimum dessen bezeichnet hatte, was die französische Regierung bei der Umsetzung ihrer Kriegsziele erreichen sollte 7, war in den Nachkriegsjahren keine einzige Annexionsforderung mehr aus seinem Mund zu vernehmen. Statt dessen sprach er sich für andere geopolitische Lösungen aus, die er für angemessener hielt: „Pas d’annexion: cela ne pourrait se dire à Strasbourg“ 8, notierte er etwa bei den Vorbereitungen zu seiner Vortragsreihe „Le Génie du Rhin“. Barrès’ Richtungswechsel ist freilich nicht selten als eine rhetorische Finte interpretiert worden, die seine eigentlichen territorialen Ansprüche, wie er sie während des Ersten Weltkrieges formuliert hatte, nur verschleiern sollten. Daß dem nicht so ist, wird im folgenden zu zeigen sein. Es ist bekannt, daß Barrès die militärische Sicherung des linken Rheinufers durch französische Truppen als eine notwendige Sicherheitsgarantie gegen eine erneute deutsche Aggression lebhaft begrüßte. Zugleich hielt er es jedoch für notwendig, diese militärische Aktion durch zivilisatorische Maßnahmen zu ergänzen. Auf diese Weise sollten die Grundlagen für eine enge Kooperation zwischen Frankreich und dem Rheinland gelegt werden, die – seiner Ansicht nach – für die internationale Stabilität von größter Bedeutung war. „Il faut amener la paix du monde par l’organisation du Rhin“, äußerte Barrès etwa wenige Monate vor seinem Tod in einem Brief an Robert de Traz, den Chefredakteur der „Revue de Genève“. 9 Hierin lag der Kern eines kühnen Entwurfs, dem es um nichts Geringeres als die Neuordnung Europas ging. Barrès schwebte das Bild einer kontinentalen FödeBarrès, Cahiers, Vol. 20 (wie Anm. 2), 193. Jean Claude Delbreil, Les limites du nationalisme barrèsien. Barrès et la Rhénanie, in: Travaux et recherches 5, 1973/2, 79–91, hier 80. 8 Barrès, Cahiers, Vol. 19 (wie Anm. 3), 246 u. 252; Jean Schneider, Préface, in: Barrès, Rhin (wie Anm. 3), 9–14, hier 11. 9 Aus dem Privatbesitz von Robert de Traz. Maurice Barrès an Robert de Traz, Paris, August 1923, Paris, Nachlaß Robert de Traz, Privatbesitz. 6 7

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ration vor Augen, deren treibende Kraft die Länder entlang des Rheins bilden sollten – ungeachtet überkommener Freund-Feind-Vorstellungen. „On croit que je veux le Rhin pour monter la garde. Les imbéciles! Il s’agit de bien autre chose. Il s’agit d’axer l’Europe“, unterstrich er in einem Gespräch mit Maurice Martin du Gard. 10 Barrès hat es also keineswegs gänzlich versäumt, sich nach der Grande Guerre dem Thema Europa zu stellen, wie es etwa Albert Thibaudet, einer der größten Kenner der französischen Literatur jener Zeit, 1924 behauptet hat. 11 Gleichwohl ist Vorsicht geboten. Auch wenn Barrès gelegentlich von einer „Aussöhnung“ (réconciliation) zwischen den beiden Erbfeinden gesprochen hat, wäre es irreführend, ihn zu einem Pionier der deutsch-französischen Verständigung zu stilisieren. 12 Die Wahrheit liegt wohl auch hier in der Mitte, und bei allen intellektuellen Glasperlenspielen wird man nicht übersehen dürfen, daß Frankreich nicht zuletzt deshalb an kurzfristigen, pragmatischen Lösungen interessiert war, weil es seine durch den Krieg zerrütteten Finanzen wieder in Ordnung bringen wollte. 13 Es bedarf freilich eines feinen Gespürs für die doppeldeutige, zum Teil wohl bewußt unklare Sprache Barrès’, um den Wandel seines Denkens angemessen wahrnehmen zu können. Vieles ist bereits über den geistigen Reifungsprozeß von Maurice Barrès gesagt worden, oftmals mit Hilfe von Anekdoten, die unkritisch von einer Studie in die nächste übertragen worden sind. Niemandem ist dabei allerdings aufgefallen, wie dominant die europäische Perspektive in Barrès’ späten Reflexionen ist. Dabei waren ihm bereits vor 1914 die intellektuellen Grenzen, die zwangsläufig aus einem allzu starren Nationalismus resultierten, nur zu bewußt. „Le nationalisme manque d’infini. Je voudrais me donner à quelque chose de plus large et de plus prolongé, d’universel“, vertraute er etwa 1914 seinen „Cahiers“ an. Und in einem Brief an Robert de Traz aus dem Jahre 1921 10 Maurice Martin du Gard, Les Mémorables 1918–1945. Paris 1999, 287 („Barrès et l’Allemagne“). Vgl. auch René Taveneaux, Barrès et la Lorraine, in: Maurice Barrès. Actes du colloque organisé par la Faculté des lettres et des sciences humaines de l’université de Nancy (Nancy, 22–25 octobre 1962). Nancy 1963, 137–147, hier 146f. 11 Albert Thibaudet, Les Princes Lorrains [1924], in: ders., Réflexions sur la politique. Ed. par Antoine Compagnon et Robert Laffont. Paris 2007, 1–77, hier 74. Zeev Sternhell, ganz auf der Linie Thibaudets, ist der Ansicht, Barrès habe sich nach dem Krieg damit zufrieden gegeben, „de pousser plus loin les bastions de l’Est“; Sternhell, Barrès (wie Anm. 4), 388. 12 Diese These vertritt etwa Jacques Madaule. Vgl. Jean Touchard, Le nationalisme de Barrès, in: Maurice Barrès (wie Anm. 10), 161–173, hier 166. 13 Jean-Jacques Becker/Serge Berstein, Nouvelle histoire de la France contemporaine. Victoire et frustrations 1914–1929. Paris 1990, 223–230.

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wurde er schließlich noch deutlicher: „Il faut changer notre nationalisme français. Je l’ai dit en pleine guerre. Je vous demande d’y collaborer.“ 14 2. Barrès, der Versailler Vertrag und die Kritik aus Deutschland In der Parlamentsdebatte über den Friedensvertrag hatte Maurice Barrès der französischen Regierung empfohlen, eine Rheinlandpolitik zu verfolgen, die der Rolle Frankreichs als Siegermacht entsprach. 15 Davon geleitet, dem Rheinland-Problem, wie es sich nach 1918/19 stellte, auf den Grund zu gehen, entschloß sich Barrès zu einer kulturhistorischen Dokumentation über das Rheinland, einem Phänomen, „dont les dimensions lui paraissent être de plus en plus culturelles“. 16 Bereits 1896 hatte der Schriftsteller auf einer Rheinreise die Grundlinien der Goetheschen Ideenwelt zu ergründen versucht. In der Folge unternahm er weitere Reisen entlang des Rheins, aber auch durch die Pfalz und das Saarland, um seine Recherchen zu vervollständigen. 17 Daraus gingen – abgesehen von zahlreichen Artikeln und mehreren Parlamentsreden – ein schmales Bändchen mit dem Titel „La Politique de la France dans les Pays rhénans“ sowie fünf gewichtige Vorträge über „Le Génie du Rhin“ hervor. Diese Vorträge, die Barrès in dichter Folge am 15., 17., 19., 23. und 25. November 1920 an der Universität Straßburg hielt, wurden anschließend in der „Revue des deux Mondes“ veröffentlicht, einer der führenden Zeitschriften Frankreichs. 18 Wenige Wochen später erschienen sie zudem – zusammengefaßt in einem Band – beim Pariser Verlagshaus Plon-Nourrit. Eine deutsche Ausgabe wurde kurz darauf auf Kosten des Autors unter dem Titel „Der Genius des Rheins. Eine Reihe freier Vorträge gehalten an der Universität Straßburg“ (Straßburg 1921/22) gedruckt. Und weil man an hoher Stelle der Ansicht war, diese Broschüre könne eine wichtige Argumentationshilfe für die französische Nachkriegspolitik werden, ließ der Presse- und Informationsdienst der Interalliierten Rheinlandkommission sie schließlich in den französisch besetzten Gebieten des Deutschen Reichs verteilen. Doch weder Maurice Barrès, Mes Cahiers. Vol. 18: Août 1913–Décembre 1918. Paris 1969, 29; Maurice Barrès an Robert de Traz, [Paris], 30.12.[1921], Nachlaß Robert de Traz, Privatbesitz. Hervorhebungen im Original. 15 Vgl. etwa Barrès, Rhin (wie Anm. 3), 173–184. 16 Delbreil, Les limites (wie Anm. 7), 83. 17 Joseph Chappey, Maurice Barrès, Goethe et l’Austrasie. Un essai de psychologie rhénane, in: La Revue de Paris, 15.7.1925, 370–395, hier 395. 18 Anne Karakatsoulis, Art. „ Revue des Deux Mondes“, in: Jacques Julliard/Michel Winock (Eds.), Dictionnaire des intellectuels français. Les personnes, les lieux, les moments. Paris 1996, 971f., hier 972. 14

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hier noch in Frankreich führte sie zum gewünschten Erfolg: „Barrès war der deutschen Öffentlichkeit der Nachkriegszeit als hartnäckiger Verfechter annektionistischer Forderungen aufgefallen; seine historisierenden Betrachtungen über den Genius des Rheins wurden daher als Verschleierung der französischen Forderung nach der Rheingrenze begriffen und weckten verständlicherweise das Mißtrauen der rheinischen Leserschaft.“ 19 Zwar ignorierte das deutsche Publikum fast das gesamte Romanwerk von Maurice Barrès – nur drei Werke („Vom Blute, von der Wollust und vom Tode“, Leipzig 1907; „In deutschen Heeresdiensten“, Budapest 1907; „Der Greco oder das Geheimnis von Toledo“, München 1913) lagen überhaupt in deutscher Übersetzung vor. 20 Die Gebietsforderungen aber, wie sie Barrès in seinen bereits erwähnten Beiträgen für „L’Echo de Paris“ in den Wochen nach dem Waffenstillstand (Ende 1918 bis Anfang 1920) aufgestellt hatte, verfehlten ihre Wirkung nicht. Die hohe Auflage der Zeitung – mehr als 100000 Exemplare verließen täglich die Pariser Druckereien 21 –, die in den linksrheinischen Gebieten zudem in einer deutschen Ausgabe erschien, sowie die große Bekanntheit Barrès’ verschafften seinen Stellungnahmen ein breites Gehör. In der Folge schürten sie Haß und Wut in jenen Bevölkerungskreisen, die den Friedensverhandlungen skeptisch gegenüberstanden und durch die separatistischen Bestrebungen eines Hans Adam Dorten hochgradig irritiert waren. 22 Sobald der Friedensvertrag mitsamt seinen territorialen Bestimmungen vorlag, begann die deutsche Presse, insbesondere der „Rheinische Beobachter“ und die „Kölnische Volkszeitung“, denn auch mit einer systematischen Verunglimpfungskampagne gegen Barrès, den sie als Sprachrohr einer notdürftig kaschierten Annexionspolitik betrachtete. 23 Franziska Wein, Deutschlands Strom – Frankreichs Grenze. Geschichte und Propaganda am Rhein 1919–1930. Essen 1992, 53f. Raymond Poincaré und Paul Tirard haben den Vorträgen von Barrès beigewohnt. Dies vermag zu erklären, weshalb der gesamte Vortragszyklus in Deutschland als halbamtliche Verlautbarung verstanden wurde. Vgl. Thomas Nicklas, Rheinpoesie und Rheinpolitik. Maurice Barrès, Frankreich und der Rhein 1919–1923, in: HJb 141, 2002, 263–285, hier 270. 20 Wiebke Bendrath, Ich, Region, Nation. Maurice Barrès im französischen Identitätsdiskurs seiner Zeit und seine Rezeption in Deutschland. Tübingen 2003, 322–324. 21 Raymond Manévy, Histoire de la presse 1914 à 1939. Paris 1945, 8 u. 32. 22 Werner Kern, Die Rheintheorie der historisch-politischen Literatur Frankreichs im Ersten Weltkrieg. Diss. phil. Saarbrücken 1973, 262. 23 Vgl. etwa die Artikel in der Kölnischen Volkszeitung v. 7. u. 8.2.1920 mit den bezeichnenden Titeln: „Die Pläne des Herrn Barrès“, „Barrès moralische Eroberungen“. 19

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Tatsächlich vermochte Barrès zu dieser Zeit nur noch wenige treue Gefolgsleute für seine politischen Ideen und literarischen Konzepte zu gewinnen. Die Generation, auf die er einst einen so starken Einfluß ausgeübt hatte, war aus seinem Kreis verschwunden. Und die Autorität, deren er sich noch vor 1914 hatte sicher sein können, hatte die Grauen des Krieges nicht überlebt, der eine vollständige Neuordnung aller moralischen Werte mit sich gebracht hatte, wie sich etwa an dem bizarren Prozeß zeigte, den die Dadaisten rund um André Breton dem altgewordenen Schriftsteller machten. 24 Barrès, der in „Le Jardin de Bérénice“ (1891) einst stolz verkündet hatte, „beaucoup nier à vingt ans, c’est signe de fécondité. Si la jeunesse approuvait intégralement ce que ses aînés ont constitué, ne reconnaîtrait-elle pas d’une façon implicite que sa venue en ce monde fut inutile?“ 25, sah sich nun selbst von einer Handvoll junger Bilderstürmer an den Pranger gestellt, die ihn als „attentat contre la sûreté de l’esprit“ verurteilten. 26 Ähnliches widerfuhr ihm auf politischer Ebene, wo seine zwischen einem extremen und einem moderaten Nationalismus changierende Position immer häufiger kritisiert wurde. 27 Die von der deutschen Presse lancierten Angriffe auf Barrès wurden durch eine Flut von Artikeln und Aufsätzen flankiert, die sich – ohne den Wandel im Denken Barrès’ zu berücksichtigen, wie ihn seine Schriften und Reden zwischen 1919 und 1923 bezeugen – hartnäckig darauf versteiften, den annexonistischen Charakter seiner Einlassungen zu erweisen. Eine der wichtigsten Stellungnahme stammt dabei aus der Feder Ernst Bertrams (1884–1957), eines rheinischen Akademikers, der in Frankreich vor allem durch die von Daniel Halévy besorgte Übersetzung seines einige Jahre zuvor erschienenen Buches über Nietzsche („Nietzsche. Versuch einer Mythologie“, Berlin 1918) bekannt geworden war. Bertram, der nach dem Ersten Weltkrieg zu den entschiedensten Verteidigern der deutschen Interessen im Rheinland gehörte, war auch einer der ersten Intellektuellen, die eine Antwort auf Barrès’ „Le Génie du Rhin“ vorlegten. Erschienen im Juni 1921 zunächst im Monatsblatt „Die Westmark“, unterschied sich sein Pamphlet, das im folgenden Jahr als Buchausgabe unter dem vielsagenden

Michel Winock, Le siècle des intellectuels. Paris 1999, 178f. Zit. nach Sternhell, Barrès (wie Anm. 4), 114. 26 Winock, Le siècle (wie Anm. 24), 178f. 27 Delbreil, Les limites (wie Anm. 7), 82; Anna-Monika Lauter, Sicherheit und Reparationen. Die französische Öffentlichkeit, der Rhein und die Ruhr (1919–1923). Essen 2006, 151f. 24 25

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Titel „Rheingenius und Génie du Rhin“ 28 in den Handel gelangte, von anderen deutschen Entgegnungen durch die Schärfe seiner Invektiven. Indem sich Bertram jede von Barrès aufgestellte These einzeln vornahm, um sie polemisch zu widerlegen, suchte er zu beweisen, daß Barrès’ alleiniges Ziel in der Annexion sämtlicher linksrheinischer Gebiete liege: „Die ganze Eigentümlichkeit und Begrenzung der Lebensarbeit, die dieser nationalistische Romancier dem Aufbau einer Revanche-Ideologie gewidmet hat, wird in diesen Vorträgen deutlich. […] Wie immer bei Barrès, dient auch hier der scheinromantische Kultus der Vergangenheit und der Toten dazu, eine ideologische Konstruktion aufzubauen, deren höchst elementare machtpolitische Folgerungen sich von selbst ergeben.“ 29 Der Rückgriff auf solche Simplifizierungsstrategien war typisch für die apologetische Literatur in Deutschland. 30 Erschwerend kam hinzu, daß auch das Auswärtige Amt eine Propagandaaktion betrieb, deren Ziel nicht nur darin bestand, die französische Politik in den besetzten Gebieten im einzelnen zu diskreditieren, sondern die Berechtigung des Artikels 231 des Versailler Vertrags ganz grundsätzlich zu bestreiten. 31 Mit Hilfe einer undifferenzierten Vereinfachung suchte man die geschichtlichen Ereignisse und Prozesse so zu manipulieren, daß eine historische Kontinuität zwischen den einzelnen, von Frankreich seit dem Mittelalter unternommenen Annexionsversuchen, der vermeintlich revanchistischen Politik der Dritten Republik sowie der jüngsten Besetzung des Rheinlands entstand. Die Eroberung des Rheins – so lautete die Quintessenz dieser revisionistischen Interpretation – habe von jeher zu den Zielen der französischen Politik gehört, ja sie bilde die „fixe Idee“ in der Geschichte Frankreichs, um einen Begriff aufzunehmen, der in den Jahren zwischen 1918 und 1945 in aller Munde war. 32 Diese Überzeugung war in Deutschland weit verbreitet, wie Ernst Bertram, Rheingenius und Génie du Rhin. Bonn 1922. Ebd. 10. Bertrams Kritik klang auch in einer Publikation des Bonner Romanisten Ernst Robert Curtius nach. Vgl. Ernst Robert Curtius, Maurice Barrès und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus. Bonn 1922, 147: „Der Barrès’sche Nationalismus ist ein rein machtpolitisches System. Er sollte sich wenigstens offen als solches bekennen und allen moralischen Aufputz verschmähen.“ 30 Als apologetische Literatur dürfen alle zwischen 1918 und 1945 in Deutschland erschienenen historischen und publizistischen Studien gelten, die darum bemüht sind, die Schuld Großbritanniens, Rußlands und vor allem Frankreichs am Ausbruch des Krieges nachzuweisen und damit Deutschland von der Verurteilung durch Artikel 231 des Versailler Vertrags freizusprechen. 31 Wolfgang Jäger, Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914–1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 61.) Göttingen 1984, 44–62. 28 29

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dies etwa Christoph Cornelißen anhand von drei Historikergenerationen – vertreten durch Hermann Oncken, Gerhard Ritter und Hans Rothfels – nachgewiesen hat. 33 Eingedenk der martialischen Stellungnahmen, die Barrès, der vom Satireblatt „Le Canard Enchaîné“ immerhin als zweiter großer Anführer des „tribu des bourreurs de crâne“ 34 gebrandmarkt wurde, zwischen 1914 und 1918 veröffentlicht hatte, ist es kaum verwunderlich, daß der nationalistische Schriftsteller alle Pfeile auf sich zog. 35 Barrès war eine leichte Beute für jene deutschen Historiker und Publizisten, die bemüht waren zu zeigen, daß gerade die großen literarischen Figuren Frankreichs einen wesentlichen Anteil an der Radikalisierung französischer Expansionsträume hatten. Literatur und Politik, so schien es dem revisionistischen Lager in Deutschland, waren von jeher Hand in Hand gegangen, wenn es um die Durchsetzung französischer Interessen zu Lasten des Deutschen Reiches ging.

III. Barrès’ Ideen – Voraussetzungen und Bedingungen 1. „Le Génie du Rhin“ Im Unterschied zur Regierung Millerand, die darauf bedacht war, Deutschland nicht allzu sehr zu schwächen, um seine Handlungsfähigkeit zu erhalten, forderte Maurice Barrès in den Monaten vor seinen Straßburger Vorträgen über „Le Génie du Rhin“ weiterhin eine stärkere Präsenz französischer Truppen am Rhein. Wie der unbefangene Leser die Entwicklung von Barrès’ Denken in den „Cahiers“ gleichsam von Seite zu Seite verfolgen kann, so zeugen auch Barrès’ Parlamentsreden überdeutlich von den sich wandelnden Grundlinien seiner geopolitischen Ordnungsvorstellungen. Indes: Eindeutig ist Barrès hier im Grunde genommen nie geworden. Der territoriale Status des Rheinlands blieb vage, und am Ende scheint es 32 Imanuel Geiss, Die Kriegsschuldfrage – Das Ende eines Tabus, in: Walter Laqueur (Hrsg.), Kriegsausbruch 1914. München 1967, 105; vgl. auch Friedrich Grimme, Poincaré am Rhein, in: Schriften des Deutschen Instituts für Außenpolitische Forschung und des Hamburger Instituts für Auswärtige Politik 59, 1940, 7–20, hier 11. 33 Vgl. Christoph Cornelißen, „Schuld am Frieden“. Politische Kommentare und Deutungsversuche deutscher Historiker zum Versailler Vertrag 1919–1933, in: Gerd Krumeich (Hrsg.), Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung. Essen 2001, 237–258. 34 Jean-Jacques Becker, Les débuts du Canard Enchaîné, in: Antoine Prost (Ed.), 14–18: Mourir pour la patrie. Paris 1992, 222–226, hier 225. 35 Die Anfeindungen erreichten ihren Höhepunkt anläßlich der Tausendjahrfeier des Rheinlandes, also zwei Jahre nach Barrès’ Tod. Vgl. Schneider, Préface (wie Anm. 8), 12.

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dem Schriftsteller und Parlamentarier nie recht gelungen zu sein, eine klare Lösung für die rheinische Frage zu finden. Tatsächlich schwankte Barrès zwischen verschiedenen Optionen. Während er noch im Herbst 1918 behauptete: „Rive gauche du Rhin – Ils se sont rattachés à la Prusse parce que, après 1870, on gagnait de l’argent. Quand ils verront qu’on débourse là-bas et qu’on gagne chez nous, ils seront de chez nous“ 36, erklärte er im März 1920: „on ne peut pas insister sur séparatisme, mais sur fédéralisme“, wobei er nicht versäumte, darauf hinzuweisen, daß eine solche Struktur dazu verhelfen könne, die „à briser l’omnipotence de la Prusse“. 37 Drei Jahre später, im Oktober 1923, äußerte er sich ein weiteres Mal zur Zukunft der besetzten Gebiete: „Alors quelle organisation? Sera-ce une Rhénanie autonome, mais demeurant partie du Reich? Ou une République rhénane indépendante? Ou bien plusieurs Etats fragmentés?“ 38 Und einen Monat später, nach einem Aufenthalt in Aachen und Trier, spekulierte er schließlich auf die Errichtung eines rheinisch-westfälischen Staates innerhalb des Deutschen Reichs, der aus zwei Teilen bestehen sollte: dem südlichen Teil mit der Pfalz, Hessen-Darmstadt, Hessen-Nassau und dem rechten Ufer der Mosel sowie der Eifel und Koblenz einerseits und dem nördlichen Teil andererseits, der aus dem „reste de la Prusse rhénane“ sowie einem Teil Westfalens bestehen sollte. 39 Zwar lassen sich in den Vorträgen über „Le Génie du Rhin“ keine weiteren Hinweise zu dieser Vision finden. Dafür werden hier aber die kulturellen und wirtschaftlichen Fundamente eines solchen Plans, den er sich für das Rheinland erhoffte, in fünf Punkten zusammengefaßt. Die allem zugrundeliegende Idee bestand zum einen darin, die französische Regierung zur Vorlage eines Programms zu bewegen, das den Erwartungen der Bevölkerung im Rheinland entsprach, und zum anderen, die französische Öffentlichkeit zu ermuntern, Verständnis für einen sehr speziellen „Genius“ zu entwickeln, der sich kontinuierlich zwischen zwei Welten bewegte. 40 Als letzter Band der Trilogie „Les bastions de l’Est“ (nach „Au service de l’Allemagne“, 1904, und „Colette Baudoche“, 1908) bildet „Le Génie du Rhin“ den Höhepunkt dessen, was Maurice Barrès zur relèvement de la Barrès, Cahiers, Vol. 18 (wie Anm. 14), 392. Barrès, Rhin (wie Anm. 3), 515. Vgl. ders., Cahiers, Vol. 19 (wie Anm. 3), 346. 38 Ders., Rhin (wie Anm. 3), 462–468, hier 463. Zu den Konsequenzen Nicklas, Rheinpoesie (wie Anm. 19), 276f. 39 Barrès, Cahiers, Vol. 20 (wie Anm. 2), 180–182; ders., Rhin (wie Anm. 3), 558–561. 40 Ders., Le Génie du Rhin, in: ders., Rhin (wie Anm. 3), 31–163, hier 44. 36 37

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nation erdacht und ersonnen hatte. „Le Génie du Rhin“ ist dabei Fluchtund Zielpunkt eines langen Nachdenkens über die spirituelle und historische Dimension des Rheinlands und zugleich Ausdruck einer zutiefst persönlichen Auseinandersetzung mit der Rheinlandfrage: „J’aime le Rhin. J’aurai passé ma vie à le désirer. D’une manière confuse. Et maintenant je voudrais savoir pourquoi. […] Pourquoi j’aime, voilà le problème posé. Et ma réponse ne vaut que si je suis vrai dans mon analyse“, notierte er unter den Skizzen zu seinen Vorträgen. 41 Die Vorträge selbst, die Barrès an einem hochsymbolischen Ort hielt – „Strasbourg […] c’est une des plus puissantes tables de sonorité du monde“, liest man in der Einleitung –, suchten drei Schneisen in die schwierige Problematik zu schlagen: „La Vie légendaire du Rhin“, „L’Histoire du cœur charitable rhénan“ und „Les Directions françaises dans la vie sociale du Rhin“. Diesem Triptychon ging eine Einführung voraus, in der Barrès unter dem Titel „Le sentiment du Rhin dans l’âme française“ das Anliegen der Vortragsreihe formulierte. Den Abschluß bildeten die Betrachtungen „Une tâche nouvelle pour la France sur le Rhin“, die Barrès in weiten Teilen für einen Artikel verwendete, der wenige Monate später in der „Revue de Genève“ erschien. 42 2. Komplexität und Fluktuation Als sich Maurice Barrès an ein so heikles Thema wie die Geschichte und Zukunft des Rheinlandes wagte, war ihm durchaus bewußt, daß sein „Génie du Rhin“ heftige Reaktionen auslösen würde. Auch deshalb hielt er es wohl für notwendig, den Vorträgen ein Vorwort voranzustellen, in dem er sich und den Lesern Rechenschaft darüber gab, welchen Versuchungen er sich während der Arbeit an diesem Buch gegenübergesehen habe: „Pendant des semaines, je me suis battu contre moi-même. J’ai déchiré de mes brouillons bien plus de feuillets que je n’en ai gardés. Continuellement, en méditant les dossiers d’où est sorti ce livre, je m’écartais de la méthode où j’avais décidé de me tenir, je filais sur les côtés. J’avais projeté d’écrire de manière objective, en m’effaçant derrière les textes que je distribuerais sur le plan le plus simple, et voici qu’à tous instants, je m’introduisais dans mes arguments pour y mêler les raisons de mon cœur. Le feu aux archives, quoi!“ 43 Ders., Cahiers, Vol. 19 (wie Anm. 3), 189f. Barrès hatte bereits im Herbst 1918 begonnen, die späteren Vorträge zu skizzieren. Vgl. ders., Mes Cahiers. Vol. 11: 1914–1918. Paris 1938, 379–384. 42 Ders., La tâche de la France sur le Rhin, in: La Revue de Genève 4, 1922, 6–15. 41

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Es ist gewiß kein Zufall, daß diese Bemerkungen fallen, kurz bevor Barrès die großen Linien seiner Rheinland-Vision formuliert. Indem sich der Autor uneingeschränkt zum Ideal einer objektiven Darstellung bekennt, sucht er möglichen Gegnern, die ihn einer allzu subjektiven Sichtweise bezichtigen könnten, bereits im voraus den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sein Anspruch, in „Le Génie du Rhin“ mehr als nur seine Privatmeinung zu vertreten, sondern geradezu als Fürsprecher der nationalen Sache aufzutreten, spricht auch aus einer weiteren Wendung des Vorworts: „Il ne convient pas que je sois l’individu M. B., mais autant que je m’y puis élever, la pensée de la France.“ 44 Nationalismus und Traditionalismus gingen im Denken Barrès’ vom gleichen unverrückbaren Postulat aus. Es bestand im Kern darin, aus dem nationalen Erbe die Kraft für die Bewahrung und Entwicklung Frankreichs zu schöpfen: „Il n’est pas de projet politique réaliste aux yeux de Barrès qui ne se fonde sur les dispositions, les répulsions et les aspirations nationales dont l’histoire atteste qu’elles ont été fécondes et qu’elles valent d’être cultivées“, betont Marie-Agnès Kirscher zu Recht in ihrer Studie über Barrès. 45 Auf das Prinzip, die Vergangenheit bewußt selektiv nach Ansätzen zu durchforsten, die der Gegenwart nützlich sein könnten, greift Barrès auch in „Le Génie du Rhin“ zurück. „Il s’agit de retrouver dans l’esprit et l’institution du Rhin la part dont il est légitime d’attribuer la paternité à la France et que l’emprise de la Prusse a trop fait perdre de vue. Il s’agit de savoir ce qu’ont fait nos pères“, erklärte er etwa bei der Eröffnung seiner Vortragsreihe, „non pour les répéter, mais pour apprendre de leurs succès et de leurs fautes, dans le passé, le secret d’une coopération actuelle franco-rhénane.“ 46 Erfüllt von der geradezu jakobinischen Vorstellung eines allen anderen Nationen weit überlegenen Frankreichs, gründete Barrès seine im folgenden entwickelte Theorie auf einer Dialektik der Gegensätze zwischen den nicht selten überstrapazierten französischen Idealen und den häufig verzerrt wiedergegebenen Zielen eines vermeintlichen preußischen Imperialismus. Ders., Génie (wie Anm. 40), 36f. Dieses Vorwort wurde nicht in die deutsche Ausgabe übernommen. 44 Ebd. 37. 45 Marie-Agnès Kirscher, Relire Barrès. Villeneuve d’Ascq 1998, 13; vgl. auch Sternhell, Barrès (wie Anm. 4), 320f. 46 Barrès, Génie (wie Anm. 40), 37f.; Edmond-Marc Lipiansky, L’identité française. Représentations, mythes, idéologies. La Garenne-Colombes 1991, 193f., bezeichnet diese Darstellungsweise zu Recht als eine „présentation à l’envers d’une histoire qui reconstruit le passé pour justifier le présent“. 43

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Hinter dieser Geschichtskonstruktion, die den nationalistischen Zirkeln Frankreichs durchaus geläufig war, zeichnet sich freilich die Vision einer wirtschaftlichen Kooperation zwischen Frankreich, dem Rheinland und Deutschland ab, die an das merowingische Austrasien anzuknüpfen versucht. In der Einleitung nur flüchtig skizziert und in den drei ersten Vorträgen nahezu vollständig außer acht gelassen, gewinnt diese Vision im vierten Vortrag sowie in den abschließenden Bemerkungen an Bedeutung. Im vierten Vortrag also, in dem er in oft kühnen Sprüngen die Geschichte der Beziehungen zwischen Frankreich und dem Rheinland nachzeichnet, legt Barrès das Fundament für ein konkretes Projekt, das von der Literaturwissenschaft bislang meist ignoriert worden ist. Überzeugt davon, daß seine Vision eines deutsch-französischen Rheinlands nur dann von Erfolg gekrönt sein werde, wenn es sich auf eine solide wirtschaftliche Basis stützen könne, fordert Barrès die Errichtung einer gemeinsamen Handelszone, in die zunächst Frankreich und das Rheinland, später sodann das restliche Deutschland einbezogen werden sollen: „Je souhaite que la Chambre de commerce française de Mayence entre en rapport avec les Chambres de commerce rhénanes pour examiner les meilleures conditions de reprise commerciale entre la France et la Rhénanie. Notre gouvernement a dès maintenant fait connaître son intention de rétablir les relations économiques avec l’Allemagne. Le problème des réparations va se discuter. Il est impossible qu’à la suite de ces discussions les barrières artificielles créées par le gouvernement de Berlin […] ne s’abaissent pas.“ 47 Barrès’ Rheinland-Projekt sollte den Grundstein für ein umfassendes System wirtschaftlicher Zusammenarbeit bilden, das einen dauerhaften Frieden ermöglichen sollte. Optimistisch bemerkte Barrès: „S’il existe dans le peuple allemand, en dehors de ceux qui veulent le réarmer et qui l’excitent à se soustraire à ses engagements, une masse sincèrement désireuse de paix […]; elle sera encouragée dans ses dispositions, en voyant que les Rhénans, sous notre action directe et persuadés par nos procédés, deviennent les premiers ouvriers de cette paix durable.“ 48 Die Pufferzone zwischen Frankreich und Deutschland sollte einerseits ein Sicherheits47 Barrès, Génie (wie Anm. 40), 125. Seit Februar 1920 setzte sich Barrès für die Einrichtung eines französisch-rheinländischen Wirtschaftskomitees ein, das er als „le premier organe de contact franco-allemand“ verstanden wissen wollte: „Nous le croyons propre à favoriser les premiers pas vers ces rapports pacifistes et corrects qui doivent, sur la base du Traité de paix strictement exécuté, s’instituer un jour ou l’autre entre la France et l’Allemagne.“ Ders., Rhin, (wie Anm. 3), 192–195, hier 194f. 48 Barrès, Génie (wie Anm. 40), 125.

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moment bilden und andererseits eine Art Filter schaffen, der dem internationalen Handel einen zusätzlichen Impuls verleihen würde. Allein, diese europäische Vision war nicht von langer Dauer. Die Art und Weise, in der Aristide Briand mit der deutschen Delegation über weitere Reparationszahlungen verhandelte, führte zu einer neuerlichen Wendung in Barrès’ Denken. Einmal mehr wurde sichtbar, wie sensibel der Schriftsteller auf die leisesten Schwankungen in der französischen Innen- und Außenpolitik reagierte. Ein Beispiel hierfür ist ein Artikel, den er – als Teil einer größeren Debatte – Anfang 1922 in der „Revue de Genève“ veröffentlichte. 49 Die im Jahre 1920 auf Initiative des schweizerischen Schriftstellers Robert de Traz (1881–1951) gegründete „Revue de Genève“ verstand sich als eine Plattform des politischen und kulturellen Dialogs im Kielwasser des in Genf ansässigen Völkerbunds. Während ihres kurzlebigen Erscheinens – zehn Jahre nach der ersten Ausgabe wurde das Blatt, das ein Opfer der Wirtschaftskrise, aber auch interner Konflikte geworden war, eingestellt – bemühte sich die Zeitschrift um den Austausch der europäischen Eliten, indem sie weitreichende Debatten über die drängenden Probleme der Zeit anstieß. 50 Anläßlich des Erscheinens von „Le Génie du Rhin“ 1921 beschloß Robert de Traz, zum ersten Mal nach dem Ende des Krieges einen umfassenden französisch-deutschen Meinungsaustausch zu lancieren, an dem sich führende Intellektuelle beteiligen sollten, die weder pazifistischen noch internationalistischen Bewegungen angehörten. Aufgrund ihres unverkennbar tendenziösen Charakters und der zahlreichen Kontroversen, die sie bereits ausgelöst hatten, schienen Barrès’ Thesen besonders geeignet, eine transnationale Diskussion in Gang zu setzen. An ihr sollten sowohl die Franzosen, die geradezu besessen waren von den Sicherheitsgarantien, die sie sich entlang des Rheins erhofften, als auch die Deutschen, die sich vom vielbeschworenen „Joch“ des Versailler Vertrags zu befreien suchten, teilnehmen. „Le Génie du Rhin“ war also nicht nur ein Streitobjekt zwischen Frankreich und Deutschland, sondern darüber hinaus ein Mittel, um einen Dialog wiederaufzunehmen, der durch die Pariser Vorortverträge und das damit einhergehende Klima der guerre après la guerre nicht unbedingt gefördert worden war. 51 Seit Dezember 1921 – vor allem seit den Äußerungen des el49 Ders., La tâche (wie Anm. 42). Dieser Artikel wurde Ende 1921 verfaßt, also noch vor dem Sturz Briands. 50 Dazu Landry Charrier, La Revue de Genève. Les relations franco-allemandes et l’idée d’Europe unie (1920–1925). Genf 2009. 51 Ders., Tensions internationales et relations intellectuelles franco-allemandes (1918–

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sässischen Journalisten René Lauret – bestürmte man die „Revue de Genève“ von allen Seiten, sich der aktuellen Diskussion über die Rheinland-Problematik zu öffnen. Im Januar 1922 reservierte Robert de Traz denn auch einen angemessenen Raum der Zeitschrift, um Maurice Barrès die Gelegenheit zu geben, sich zu den Angriffen seiner Widersacher zu äußern. Sechs Monate später antwortete ihm der deutsche Romanist Victor Klemperer mit einem Artikel, in dem er den manipulativen Charakter der in „Génie du Rhin“ vorgelegten Argumentation zu entlarven trachtete. Der damals vielbeachtete Schriftsteller und Journalist Pierre Mille reagierte seinerseits mit einer Replik auf Klemperer, während Ernst Robert Curtius die Debatte schließlich mit einem leidenschaftlichen Ultimatum an die Anhänger des nationalisme intégral zu einem vorläufigen Ende brachte. 52 Mit einer regelrechten Lawine des Protests aus Deutschland konfrontiert, hielt es Barrès in seinem Beitrag für die „Revue de Genève“ zunächst für angebracht, die großen Linien seiner in Straßburg vorgestellten Überlegungen erneut darzulegen – in der Überzeugung, „que de Suisse et des pays neutres des vérités pénétreront plus aisément l’opinion européenne“. 53 Nach einem längeren Zitat aus seinem Vortrag vom 20. April 1915, in dem er seine Sicht auf das Rheinland in großen Zügen vorgestellt hatte, vertrat Barrès wiederum die Vision eines Etat rhénan intermédiaire, der die Sicherheit Frankreichs garantierte, ohne ein annexionistisches Programm zu vertreten. Im Unterschied zu seinen Straßburger Vorträgen, in denen sich Barrès zumindest in zögerlichen Schritten einer möglichen wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland genähert hatte, vermied er es nun, sich überhaupt zur politischen Entwicklung Deutschlands zu äußern: „On parle beaucoup aujourd’hui de démocratie en Allemagne. Qu’est-ce que cette démocratie? Que sont ces démocrates? Personne ne le sait très bien, et je crois qu’il n’y a pas beaucoup de gens à travers le monde qui possèdent des idées claires sur l’évolution politique présente du Reich“, bemerkte er am Ende seiner Ausführungen – womit er die Befürchtungen formulierte, die ein großer Teil der französischen Intellektuellen teilte. 54 1925), in: Laura Maggioni (Ed.), L’autre Allemagne: rêver la paix (1914–1924). Mailand 2008, 95–101, hier 95; Gerd Krumeich, Die Präsenz des Krieges im Frieden, in: Gertrude Cepl-Kaufmann/Gerd Krumeich/Ulla Sommers (Hrsg.), Krieg und Utopie. Kunst, Literatur und Politik im Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg. Essen 2006, 23–31. 52 Charrier, La Revue de Genève (wie Anm. 50), 116–133. 53 Barrès, La tâche (wie Anm. 42), 8. 54 Ebd. 13.

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Als Barrès seinen Artikel für die „Revue de Genève“ verfaßte, war alle Hoffnung auf eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Sieger und Besiegtem, wie er sie noch wenige Monate zuvor in „Génie du Rhin“ skizziert hatte, bereits zunichte geworden. Seit Ende November 1920 hatte sich die internationale Situation grundlegend verändert. Die mit dem Wiesbadener Abkommen (1921) eingeleitete Entspannungspolitik und die Bemühungen Walther Rathenaus für einen politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau hatten auf der französischen Seite alte Ängste geschürt und neuerliche Verhandlungen über die deutschen Reparationszahlungen in die Ferne rücken lassen. 55 In seinen Reden, die Barrès in diesen Monaten in der Abgeordnetenkammer hielt, machte er es Aristide Briand denn auch zum Vorwurf, ohne weiteres die Aufhebung der innerdeutschen Zollgrenze akzeptiert zu haben, worin Barrès ein Fanal für die Neuorientierung der französischen Außenpolitik erkennen mochte. Und ganz ähnlich war auch sein Beitrag in der „Revue de Genève“ zu verstehen. 56 Diese wirtschaftliche Maßnahme, die – bis zur Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Raymond Poincaré – die Rheinpolitik mittels eines „gage productif“ 57 besiegeln sollte, nahm sich für Barrès, diesen hartnäckigen Verfechter des Versailler Vertrages, wie ein moratoire fatal für den Weltfrieden aus. 58

IV. Resümee Anders als einige Stimmen der jüngeren Forschung es unternommen haben, wird man im Denken Maurice Barrès’ nach 1919 keine ideologische Kehrtwende erkennen können, die ihn nach dem Ersten Weltkrieg zu einer strikt pro-europäischen Position geführt hätte. 59 Nichtsdestotrotz weisen seine im Wandel begriffenen und letzten Endes unorthodoxen Reflexionen nach der Grande Guerre eine gewisse Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der europäischen Idee auf, deren wirtschaftliche Grundlagen von den Erfordernissen des Augenblicks diktiert wurden. Trotz der Widersprüche, die seinem quecksilbrigen Denken nicht fremd sind, greift es angesichts der 55 Becker/Berstein, Nouvelle histoire (wie Anm. 13), 212–214; Hans Mommsen, Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar, 1918–1933. Berlin 1998, 151. 56 Beispielsweise Barrès, Rhin (wie Anm. 3), 319–324 sowie 329–352. 57 Becker/Berstein, Nouvelle histoire (wie Anm. 13), 213. 58 Vgl. etwa Barrès, Rhin (wie Anm. 3), 329–352, hier 331. 59 So Éliane Tonnet-Lacroix, Après-guerre et sensibilités littéraires (1919–1924). Paris 1991, 119f.

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lebhaften Debatten, die die Stellungnahmen des späten Barrès in Frankreich wie in Deutschland auslösten, entschieden zu kurz, wenn man seine Ideen pauschal einem französischen Nationalismus zurechnet, dessen eigentliches Ziel in der vollständigen Annexion der linksrheinischen Territorien bestanden habe. Barrès’ Rheinland-Vision dokumentiert vielmehr die Bereitschaft, neue politische Ordnungsvorstellungen zu erproben, um den Frieden in Europa zu bewahren. Die „tastenden Versuche (tâtonnements)“ 60, die man in Barrès Annäherungsversuchen an die Rheinland-Problematik beobachten kann, offenbaren die Vielfalt eines Lebens, „qui garde jusqu’à la fin le don poétique et l’élan“. 61

60 Um einen Ausdruck von Robert de Traz, Hypothèse sur Barrès, in: L’Opinion, 7.1.1922, 12f., hier 12, aufzugreifen. 61 Frandon, Connaissance (wie Anm. 1), 65.

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Die „Nouvelle Revue Française“ und das ambivalente Erbe des Ersten Weltkriegs 1919–1925* Von

Yaël Dagan Der Radiosender „France Culture“ hat der „Nouvelle Revue Française“ (NRF) unlängst eine ganze Sendereihe gewidmet. Zwischen dem 4. und 8. August 2008 wurde in insgesamt fünf Sendungen die Geschichte der einflußreichen Literaturzeitschrift nachgezeichnet, die in diesem Jahr ihren hundertsten Geburtstag feiert. Bei dieser Gelegenheit ist einmal mehr deutlich geworden, wie erfolgreich der Erste Weltkrieg aus dem literarischen Gedächtnis verdrängt worden ist. Die erste Sendung mit dem Titel „La fondation: la formation de ‚l’esprit NRF‘“, die am 4. August ausgestrahlt wurde, behandelte die Jahre 1908–1914. Tags darauf war der zweite Teil mit dem Titel „L’entre-deux-guerres, l’âge d’or de la NRF?“ zu hören. Die Jahre zwischen 1914 und 1918 wurden hingegen nicht erwähnt, geschweige denn eingehend behandelt – als verstünde es sich von selbst, daß während des Ersten Weltkrieges in literarischer Hinsicht nichts geschehen sei. In der Tat konnte die NRF fast fünf Jahre lang, von März 1914 bis Juni 1919, nicht regelmäßig erscheinen. Überraschend ist jedoch, daß diese Tatsache in der Sendereihe weder angesprochen noch problematisiert worden ist. Doch auch über die Zeit ihrer Neugründung im Jahr 1919 unter der Leitung von Jacques Rivière bis zu dessen plötzlichem Tod im Februar 1925 wurde nahezu nichts gesagt. Die Zwischenkriegszeit schien vielmehr erst mit dem Jahr 1925 zu beginnen, als Jean Paulhan die Geschicke der Zeitschrift in seine Hände nahm. 1

Deutsche Übersetzung von Antje Peter. La NRF. Cent ans de littérature. Produktionsleitung: Fanny Jaffray; Regie: Doria Zénine, France Culture, 4.8.–8.8.2008. Zur literarischen Kultur in den 1920er Jahren Michael Einfalt, Nation, Gott und Modernität. Grenzen literarischer Autonomie in Frankreich, 1919–1929. Tübingen 2001; speziell zur NRF ders., Der Richtungsstreit in der Nouvelle Revue Française nach dem Ersten Weltkrieg, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 147, 1995, 350–363; vgl. auch Yaël Dagan, La Nouvelle Revue Française entre guerre et paix, 1914–1925. Paris 2008.

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Gewiß, die einst von André Gide gegründete Zeitschrift wurde erst um das Jahr 1930 zu einer literarischen Institution ersten Ranges. 2 Doch dieser Erfolg bliebe unverständlich, würde man den Einfluß des Ersten Weltkrieges nicht angemessen berücksichtigen. Schließlich waren die Mitarbeiter der NRF auch während der Jahre, in denen die Zeitschrift nicht verlegt wurde, literarisch tätig. Und man wird nicht fehlgehen, die entscheidenden Grundlagen für den späteren Durchbruch des Blattes sowie den Aufstieg des mit ihm eng verbundenen Verlagshauses Gallimard in den Weichenstellungen Jacques Rivières unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg zu verorten. Für die Ausblendung der Kriegs- und Nachkriegszeit, wie sie sich symptomatisch in der Sendereihe von France Culture äußert, ist freilich kein anderer als Jacques Rivière, ihr wesentliches Opfer, zugleich in hohem Maße verantwortlich – hat er doch in seinem programmatischen Artikel, der die erste Ausgabe der NRF nach dem Krieg eröffnete, die Grande Guerre regelrecht als einen „Zwang“ (contrainte) bezeichnet, der den Geist gelähmt habe. Folgerichtig forderte er nichts Geringeres als die Emanzipation der Literatur von fünf Jahren „intellektueller Sklaverei“ (esclavage intellectuel): „L’instinct de création lui-même […] a reçu je ne sais quelle obscure déviation: toutes ses inventions pendant cinq ans ont été viciées dans leur germe. Qui pourrait citer une seule œuvre vraiment ingénue, une seule tige qui soit montée bien droit?“ Tatsächlich ist Rivières Manifest für eine kulturelle Demobilmachung im Interesse einer neuen Zeit der Freiheit, genauer: der Zweckfreiheit – nämlich als Überwindung der zweckbestimmten, nicht selten propagandistischen Kriegsliteratur – bereits als ein Akt des Vergessens zu betrachten. 3 So allerdings haben Rivière und seine Mitstreiter die intellektuelle Situation zu Beginn des Ersten Weltkriegs nicht eingeschätzt. André Gide, der führende Kopf der NRF, der bereits 1914 ein anerkannter Schriftsteller war, wenngleich er dem großen Publikum erst später bekannt werden sollte, stand bei Ausbruch des Krieges bereits im 46. Lebensjahr. Auch wenn er selbst bislang nie eine Uniform getragen hatte, dachte er doch daran, den Krieg literarisch zu überformen. Roger Martin du Gard etwa entging nicht, daß Gide im Mai 1915 „projette un roman énorme, en mosaïque; il pense à ,La Chartreuse‘ et à ,Guerre et Paix‘, il voit trois parties, avec la guerre au 2 Dazu Martyn Cornick, The Nouvelle Revue française under Jean Paulhan, 1925–1940. Amsterdam/Atlanta 1995; Laurence Brisset, La NRF de Paulhan. Paris 2003. 3 Jacques Rivière, La Nouvelle Revue Française, in: NRF XIII, 69, 1.6.1919, 1–12.

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milieu, faisant scission absolue avant et après“. Und weiter heißt es: „Il veut que la guerre dure encore six mois au moins, pour que la coupure soit plus profonde. Il entrevoit des changements sociaux formidables.“ 4 Noch weitaus länger sollte der Krieg dauern, seine literarischen Pläne hat Gide gleichwohl nicht verwirklicht und – wie viele seiner Zeitgenossen – in der Folge von der Faszination, die der Krieg eben auch auszulösen vermochte, konsequent geschwiegen. Dieses Beschweigen hat allerdings nicht verhindert, daß Gide in der Nachkriegszeit zu einem der führenden Schriftsteller, wenn nicht gar zu einer kulturellen Leitfigur avancierte und in der Öffentlichkeit bald als bedeutender Intellektueller galt. Diesen späten Ruhm teilte er sich freilich mit einigen anderen Schriftstellern, wie Joseph Delteil anläßlich des Todes von Jacques Rivière feststellte: „C’est un fait que ,La Nouvelle Revue française‘ de Jacques Rivière a orienté la Littérature française dans un sens, dans le sens moderne. Cette révision des valeurs qu’il s’était dès le début proposé, il l’a à peu près accomplie. À ce point de vue, sa tâche, sa tâche organisatrice est faite. Il faut affirmer bien haut que sans Jacques Rivière, la Littérature française en serait toujours aujourd’hui à France, à Bourget et à Richepin. C’est grâce à Jacques Rivière qu’elle en est tout de même à Claudel, à Gide, à Proust, à Valéry.“ 5 Diese Einschätzung wird von vielen Fachleuten geteilt. Antoine Compagnon etwa hat diese in den 1920er Jahren außerordentlich einflußreiche Generation als „les classiques du modernisme“ bezeichnet. Albert Thibaudet hingegen, ein Zeitgenosse Claudels, Gides, Prousts und Valérys, hat sie leicht spöttisch als „les quatres gloires à retardement“ abgetan. 6 In der Tat ist es bezeichnend, daß keiner dieser vier wichtigen Schriftsteller, die 1914 bereits allesamt zu alt waren, um die Uniform zu tragen, den Krieg in irgendeiner Form thematisiert hat. 7 Kein Zweifel: Das markanteste Phäno4 Roger Martin du Gard, Journal I. Textes autobiographiques 1892–1919. Édition établie, présentée et annotée par Claude Sicard. Paris 1992, 633 (17.5.1915). 5 Joseph Delteil, L’homme de barre. Hommage à Jacques Rivière, in: NRF, 1.4.1925, wiederabgedr. in: Hommage à Jacques Rivière. 1886–1925. Paris 1991, 148. 6 Antoine Compagnon, Thibaudet, le dernier critique heureux, in: Le Débat, histoire, politique, société 120, Mai–September 2002, 34; Albert Thibaudet, Réflexions sur la littérature: Épilogue à la poésie de Stéphane Mallarmé, in: NRF XXVII, 158, 1.11.1926, 557. 7 Mit Ausnahme einiger Gedichte und Essays von Paul Claudel. Siehe hierzu: Dagan, La Nouvelle Revue Française (wie Anm. 1), 85f. u. 274f. Mit Blick auf Claudels Gesamtwerk nimmt der Krieg allerdings einen vergleichsweise geringen Platz ein. Proust hingegen läßt den Krieg zwar in dem 1927 erschienenen letzten Band seines Werkes „À la recherche du temps perdu“ („Le temps retrouvé“) mit einfließen, ohne das Werk, an dem er bereits vor 1914 gearbeitet hatte, jedoch grundlegend umzuarbeiten.

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men mit Blick auf das Verhältnis der NRF zum Ersten Weltkrieg ist das Schweigen der Zeitschrift während der militärischen Operationen und ihr geringes Interesse an allen Themen, die mit dem Krieg in Zusammenhang stehen. Im folgenden soll dieses Schweigen anhand einer inhaltlichen Analyse der NRF zwischen 1919 und 1925 näher untersucht werden.

I. Die Ausblendung des Ersten Weltkriegs Um die Darstellung der Grande Guerre in der NRF differenziert einschätzen zu können, ist es zunächst erforderlich, das literarische Profil der Zeitschrift zu bestimmen und es im intellektuellen Kontext der Zeit zu verorten. Bei ihrer Gründung im Jahr 1908 vertrat die „Nouvelle Revue Française“ dezidiert den Standpunkt eines „classicisme moderne“. Im Zentrum stand die Literatur, wobei alle romantisierenden Elemente ausgeschlossen wurden. Als Ort der „littérature pure“ präsentierte sie sich zugleich als Plattform einer literarischen Erneuerung, die dem Avantgarde-Prinzip ebenso verpflichtet war wie einer neoklassizistischen Ausrichtung. 8 Eben diese Richtschnur eines modernen Klassizismus vertrat Jacques Rivière auch beim Wiedererscheinen der NRF im Jahr 1919. Die Zeitschrift sollte sich explizit als Synthese der beiden vorherrschenden Tendenzen der Zeit etablieren. Da waren auf der einen Seite die Nachklänge der romantischen Literatur, deren Ausdrucksmittel – „indépendamment de leur valeur signifiante, dans la recherche purement musicale en poésie“ – nach wie vor Geltung fanden. Dies gilt vor allem für Guillaume Apollinaire und seine Schüler wie etwa Blaise Cendrars und Max Jacob sowie für die Dadaisten, die eigentliche Avantgarde, die der Krieg hervorgebracht hatte. Auf der anderen Seite trat die NRF für eine „renaissance classique textuelle de pure imitation“ ein, wie sie vor dem Krieg von einer Gruppe junger Dichter, die der Action française nahestanden, in der „Revue Critique des Idées et des Livres“ beschworen worden war. Die von der NRF geförderte Literatur hingegen schlug das Erbe von Romantik und Symbolismus zwar nicht aus, suchte es aber analytisch zu überwinden: „Nous accueillerons la revendication de l’intelligence qui cherche visiblement aujourd’hui à reprendre ses droits en art: non pas pour supplanter entièrement la sensibilité, mais pour la pénétrer, pour l’analyser et pour régner sur elle.“ Der Klassizismus galt 8 Zu den Anfangsjahren der NRF vgl. Auguste Anglès, André Gide et le premier groupe de la Nouvelle Revue française. Vol. 1–3. Paris 1978–1986.

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als ein literarisches Konzept, mit dessen analytischer Kraft es möglich wäre, wieder geistige Ordnung zu schaffen angesichts „l’énorme amas d’impressions et d’émotions accumulées par l’âge précédent“. 9 Bei alledem wollte die NRF kein elitärer Zirkel im Stile etwa des Cénacle, jener berühmten Vereinigung französischer Dichter und Künstler um Charles Nodier im Paris der 1820er und 1830er Jahre sein. Vielmehr wollte sie grundsätzlich allen neuen Strömungen der Literatur offenstehen, auch entlegenen und schwach fließenden. Zu diesem Zweck schuf die Zeitschrift eine Schnittstelle, an der sich die Vertreter verschiedener literarischer Strömungen begegnen und miteinander ins Gespräch kommen konnten. Die Namen der zwischen 1919 und 1925 für die Zeitschrift tätigen Autoren sprechen für den Erfolg dieser Konzeption: Guillaume Apollinaire und Max Jacob etwa fanden durch das Engagement der NRF späte Anerkennung; junge Schriftsteller der Frontgeneration wie Louis Aragon, André Breton, Pierre Drieu La Rochelle und Henry de Montherlant waren in der Zeitschrift unablässig präsent; und auch die altbekannten Gesichter eines André Gide, Paul Claudel und Marcel Proust fehlten nicht. 10 Indes: Der Erste Weltkrieg war für keinen der für die NRF schreibenden Autoren ein identitätsstiftendes Moment. Auch wenn einige ihrer Mitarbeiter an der Front gekämpft hatten, verstand sich Rivières Zeitschrift dennoch nicht als Sprachrohr der Kriegsveteranen. Die Namen, die am häufigsten in den Inhaltsverzeichnissen der NRF begegnen, sind: André Gide, Jacques Rivière, Marcel Proust, Jean Schlumberger, Paul Valéry, Roger Allard, Valery Larbaud, Jules Romains, Paul Claudel und Pierre Drieu La Rochelle. Wie bereits angedeutet, war das Durchschnittsalter der Autoren relativ hoch, was direkte Auswirkungen auf ihr Verhalten zwischen 1914 und 1918 hatte: Gide, Proust, Valéry und Claudel gehörten einer Generation an, die nicht mehr eingezogen worden war. Der 1886 geborene Rivière war der zweitjüngste – nach Drieu La Rochelle, dessen Geburt in das Jahr 1893 fiel. Drieu La Rochelle war im übrigen der einzige, der Wert darauf legte, zur Frontgeneration zu gehören, auch wenn der etwas ältere Roger Allard ebenfalls im Krieg gekämpft hatte. Jean Schlumberger wiederum, der zunächst ausgemustert worden war, meldete sich 1914 freiwillig an die Front und diente zuerst als Hilfssoldat (auxiliaire), später dann als Nachrichtenoffizier. Jacques Rivière schließlich geriet in Kriegsgefangenschaft.

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Rivière, La Nouvelle Revue Française (wie Anm. 3). Dazu ausführlich Dagan, La Nouvelle Revue Française (wie Anm. 1), Kap. 5 und 6.

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Aufschlußreich in diesem Zusammenhang sind zudem die Nachrufe des Jahres 1919; unter den hier aufgelisteten Gefallenen befanden sich auch drei Autoren der Zeitschrift, so der aus Belgien stammende symbolistische Dichter Émile Verhaeren, der seit ihrer Gründung zu den Mitarbeitern der NRF gehört hatte und 1916 im Alter von 61 Jahren ums Leben gekommen war; mit Blick auf ihn heißt es bezeichnend: „À lui seul il sut représenter, durant cette formidable guerre, tout son pays.“ Ein weiterer, von Jacques Rivière verfaßter Nachruf galt Charles Péguy und Alain Fournier, die als „nos deux disparus“ bezeichnet werden. Die posthume Anerkennung Péguys ist insofern überraschend, als er zeitlebens keine einzige Zeile in der NRF veröffentlicht hatte. Sein erster für die Zeitschrift bestimmter Artikel war zwar wenige Tage vor Kriegsausbruch eingegangen, konnte jedoch erst in der Juli/August-Ausgabe 1919 erscheinen. War es die Veröffentlichung seines Gesamtwerks bei Gallimard, mit der man noch während des Krieges begonnen hatte und die sich über viele Jahre hinzog, die eine solche Wertschätzung rechtfertigte? Oder war es vielmehr sein Tod auf dem vielbeschworenen Feld der Ehre, der ihm diese nachträgliche Aufnahme in den illustren Mitarbeiterkreis einer Zeitschrift verschaffte, die ihn nun als Helden stilisierte? In Wirklichkeit gab es nur einen einzigen Kriegstoten im näheren Umkreis der NRF – Alain Fournier. Doch was zählt dieser eine im Vergleich zu den 27 Gefallenen allein aus den Reihen der Autoren der „Revue critique“, die ihre Toten ohne Unterlaß glorifizierte und ihren Tod als Ausdruck größten Patriotismus pries? 11 In den Jahren 1919/20 wurde der Krieg selbst schließlich zum Gegenstand der NRF. In den Texten aus dieser Zeit finden sich freilich recht unterschiedliche Interpretationen, die durchaus widersprüchlich sind. In der Juni-Ausgabe 1919 etwa erschien eine Novelle von Georges Duhamel, einem der wichtigsten Vertreter der littérature de témoignage, die ein unverkennbar pazifistisches Gepräge hatte. „Le Miracle“ spielt in einem Militärkrankenhaus, in dem sich Soldaten mit Gesichtsverletzungen türmen und auf „das Wunder“ der plastischen Chirurgie warten. „Il y a, dans cette grande maison du miracle, un petit cabinet où tous les moulages de plâtre pendent, accrochés par centaines au mur glacé“. Die Moral der Geschichte folgt am Ende: „C’est dans cette pièce minuscule et terrible que les maîtres de l’univers auraient dû venir discuter les choses de la paix.“ 12 11 Vgl. Thomas Roman, La Revue critique des idées et des livres. Anatomie d’une revue de la Belle Epoque, 1908–1914. Paris 2000, 194–206. 12 Georges Duhamel, Le Miracle, in: NRF XIII, 69, 1.6.1919, 66.

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George Duhamel stand Jules Romains nahe, dem Wortführer des Unanimismus, jener Kunstform also, die Leben und Wesen einer menschlichen Gemeinschaft als eine in sich geschlossene, beseelte Einheit betrachtete und sich vor dem Krieg in der NRF ein intellektuelles Forum geschaffen hatte. Im Januar 1920 äußerte sich Duhamel eingehend zu Neuabdrucken zweier Texte von Romains: zu den 1911 verfaßten „Puissance de Paris“ sowie zu „Europe“, der bereits 1916, wenn auch in geringer Auflage, erschienen war. Letzterer, zwischen Oktober 1914 und Dezember 1915 entstanden, war zu Beginn des darauffolgenden Jahres vom Autor selbst bei einer öffentlichen Lesung in Paris vorgestellt worden, noch bevor er in den Druck ging. Dieses Gedicht war eine Art Hymne an die Alte Welt, die sich gegen die tödlichen Auseinandersetzungen zwischen den Nationen richtete, in denen Romains gewissermaßen einen europäischen Bürgerkrieg erkannte: 13 „Voilà soixante jours que l’Europe est en guerre,/L’Europe, mon pays, que j’ai voulu chanter.“ 14 Die eindringliche Wiederholung des Wortes „Europe“ kulminiert in einer Anprangerung des todbringenden Krieges. Das Gedicht endet mit einer Anklage: „Europe! Je n’accepte pas/ Que tu meures dans ce délire./Europe, je crie qui tu es/Dans l’oreille de tes tueurs.“ 15 Für Duhamel bot dieser Wiederabdruck eine willkommene Gelegenheit, seinem Vorbild zu huldigen, indem er „Europe“ zum Meisterwerk der Kriegspoesie krönte. Bei der erneuten Lektüre des Gedichtes stellte er fest: „Romains n’a encore rien écrit de plus profond, de plus émouvant, de plus total“. Ihm, dem nur „un petit nombre de très beaux poèmes sur les temps effroyables que nous venons de traverser“ bekannt waren, erklärte Duhamel „Europe“ zum Inbegriff humanistischer Kriegslyrik: „Aucun [poème] ne me découvre plus qu’,Europe‘, le sens et le secret de l’indicible tristesse, aucun n’évoque pour moi, de façon plus dramatique, l’atmosphère de la catastrophe, aucun ne me dit mieux, c’est-à-dire plus douloureusement, l’impuissance actuelle des hommes à conjurer leurs naufrages. C’est d’abord ,Europe‘ que je relirai pour me défendre de l’oubli, pour sauver de l’abîme futur le trésor de mes propres souffrances.“ 16

Vgl. Pascal Dethurens, Écriture et culture. Écrivains et philosophes face à l’Europe, 1918–1950. Paris 1997, 32. 14 Jules Romains, Europe. Paris 1916, 9. 15 Ebd. 40. 16 Georges Duhamel, Puissance de Paris – Europe, par Jules Romains, in: NRF XIV, 76, 1.1.1920, 119f. 13

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In einem ganz anderen Ton äußerten sich in der Übergangszeit 1919/20 Paul Valéry und Paul Claudel über den Krieg. In „La Crise de l’esprit“ zeigte sich Valéry pessimistisch, wenn er seinen berühmten Essay mit den Worten einleitet: „Nous autres, civilisations, nous savons maintenant que nous sommes mortelles“. In einem Kaleidoskop der Angst, die den Text von der ersten bis zur letzten Seite durchzieht, bezeugt der Vertreter einer Siegernation die außerordentliche Fragilität der westlichen Zivilisation insgesamt. Schonungslos konstatiert Valéry ein vollständiges Desaster, insbesondere auf kultureller Ebene, und prophezeit nichts Geringeres als das Ende der europäischen Vorrangstellung, die – in seiner Interpretation – seit der Erfindung der Geometrie durch die alten Griechen bestanden hatte. Speziell der erste Teil des Essays ist von düsterem Pessimismus geprägt, wobei das Bild eines zeitgenössischen Hamlet, das für die Existenz des Intellektuellen in der Nachkriegszeit steht, als Metapher für die „crise de l’esprit“ schlechthin verwendet wird. 17 Eine ähnliche Haltung läßt sich auch bei Claudel beobachten. In einem 1919 entstandenen und im Dezember 1920 veröffentlichten Text äußerte der gleichermaßen christlich geprägte wie patriotisch gesinnte Dichter die Überzeugung, daß nichts auf der Welt den Verlust so zahlreicher Menschenleben erklären, in helleres Licht rücken oder gar rechtfertigen könne: weder der Frieden noch der Sieg oder gar zurückerobertes Territorium nebst Bodenschätzen. Mit dem sprechenden Titel „Saint Martin“, dessen Gedenktag die katholische Kirche bekanntlich am 11. November, also dem Tag des Waffenstillstands 1918, begeht, beschwört Claudel die Pflicht zur Verteidigung der Nation als eine Pflicht des Sohnes gegenüber dem Vater („J’entends une voix qui dit: Ô mon fils, connais ce père qui t’a fait“). In entscheidenden Augenblicken jedoch verliere das Leben des einzelnen angesichts der Pflicht sowohl auf individueller als auch auf gemeinschaftlicher Ebene jede Bedeutung. Der Pflicht komme daher ein zugleich patriotischer und religiöser Sinn zu. So gemahne der heilige Martin die Franzosen, sich ihrer Feinde zu erwehren, „car Jésus même a dit qu’il n’était point venu porter la paix, mais la guerre“. Der errungene Sieg aber werde nun mit beträchtlichem Befremden wahrgenommen: „Quoi, on ne nous demande plus rien, quoi, c’est vrai que nous sommes vainqueurs!“ Dieses blinde Opfer findet allerdings im darauffolgenden Satz eine vage Rechtfertigung: „Il y a un terme qui secrètement est atteint, il y a un compte qui se trouve Paul Valéry, La crise de l’esprit, in: NRF 71, 1.8.1919, 321–337; wiederabgedr. in: ders., Variété I et II (1924). Paris 1998, 25–29.

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réglé, il y a quelque chose d’obscur qui est satisfait.“ Die Pflicht gegenüber dem Vater ist erfüllt. Der Sieger hält, sich an seine Feinde richtend, seinen Groll nicht länger zurück – einen Groll, der sich in dieser noch ganz von der brutalen Semantik des Kriegsdiskurses geprägten Passage unmittelbaren Ausdruck verschafft. Der Schrecken und die Verwirrung des Krieges sind nach wie vor präsent. 18 Zur gleichen Zeit setzten andere Autoren, die eine geistige Demobilmachung ablehnten, ihre Bemühungen fort, ein image héroïque des Ersten Weltkrieges zu kultivieren. In dem Theaterstück „Couleur du Temps“, dem ersten, freilich posthum veröffentlichten Beitrag Guillaume Apollinaires für die NRF, flüchten drei Personen aus ihrer in Flammen stehenden Heimat. Das Stück setzt in Szene, was im Krieg auf dem Spiel steht – und fragt zugleich nach den Auswirkungen auf persönliche und kollektive Identitäten. Das Leben für die Heimat, die Nation oder das eigene Volk zu riskieren – bedeutet dies nur, „l’esclave/Des grandes paroles collectives“ zu sein, wie es Ansaldin behauptet, oder meint dies nicht vielmehr, seine Funktion im „corps collectif“ aktiv auszuüben, wie es etwa die Verlobte des Soldaten beteuert? Ist es – und hier berührt das Stück zentrale Fragen der Künstlerexistenz im Kriege – die Pflicht des Dichters, „l’âme de la patrie“ zu sein, oder soll er vielmehr sein Leben in den Dienst übergeordneter Humanität stellen? Die Vorstellung, eine neue, auf rationalen Überlegungen basierende Zivilisation zu begründen, scheint sich freilich insofern als ein utopischer Traum zu erweisen, als die Menschen nicht zögern, weiterhin gegeneinander zu kämpfen und sich gegenseitig zu töten. Bei Apollinaire nimmt das Ideal des Friedens die Gestalt des Todes an, der sich an einem verlassenen Ort befindet, fern aller Zivilisation, ohne gesellschaftliches Leben. Am Ende ersteht in der Eiseskälte des Nordpols ein brudermörderisches Schlachtfeld. 19 Während Apollinaire keine Zeit mehr blieb, seine Ideen weiter auszuarbeiten – er verstarb unerwartet am 9. November 1918 –, verharrten andere Schriftsteller in einer gewissermaßen nostalgischen Haltung gegenüber dem Krieg und lehnten auch nach dem Waffenstillstand eine Demobilmachung ab. Unter den Beiträgern der NRF darf Henry de Montherlant hierfür als beredtes Beispiel gelten. In seinem ersten Buch, „La Relève du Matin“, von dem im August 1919 ein Auszug in Jacques Rivières Zeitschrift erschien, fragte er nach dem Sinn des Todes so vieler Soldaten und 18 19

Paul Claudel, Saint Martin, in: NRF XV, 87, 1.12.1920, 839–856. Guillaume Apollinaire, Couleur du Temps, in: NRF XV, 86, 1.11.1920, 694–743.

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beschäftigte sich – angetrieben von dem Wunsch zu erfahren, wer diese Männer gewesen waren – mit einer Möglichkeit, die Gefallenen zu neuem Leben erstehen zu lassen. Montherlant bedauerte die Tatsache, daß „les jeunes morts de la guerre [soient] déjà oubliés“. Und um dieses Schicksal zu wenden, stimmt „La Relève du Matin“ eine Hymne auf sie an, in der Hoffnung, man werde sich diesen „enfants de la nation“ eines Tages in wahrer Gemeinschaft nähern. 20 Jugend, Männlichkeit und Heldentum stehen im Zentrum seines literarischen Werks, das beherrscht ist von den Erinnerungen an den Krieg. Bereits 1920 jedoch mußte Montherlant feststellen, daß er gegen die Tendenzen der Zeit kämpfte. Dennoch hielt er an seiner Überzeugung fest, der Ältere habe den Jüngeren zu unterweisen: der Vater den Sohn, der ältere Bruder den jüngeren, der Meister seinen Schüler – mit dem Ziel, der neuen Generation die Werte des Kriegsheldentums zu vermitteln. In „Pâques de guerre au collège“ (1916), das in derselben Textsammlung erschien, beschreibt er eine Begräbnisfeier. Die Mütter erstarren beim Namen der gefallenen jungen Männer, denen man das Verdienstkreuz verliehen hat. Als der Name ihres eigenen Sohnes fällt, empfinden sie – nach Ansicht des Autors – ein „bonheur sans réserve“: „Dans une minute peut-être irretrouvable, elles pensèrent qu’il valait bien que leurs fils fussent morts pour qu’une telle heure eût existé.“ 21 Die Betonung von Männlichkeit und Heldentum bei Montherlant überzeugte die Autoren der NRF, die sein Schaffen entsprechend würdigten. Drieu La Rochelle bildete hier keine Ausnahme. „Henry de Montherlant est un homme“, notierte er im Februar 1923 nach der Lektüre von Montherlants „Songe“. Vor dem Hintergrund eines nicht nur literarischen, sondern auch politischen Diskurses über „Tat“ und „Gewalt“ begrüßte er ausdrücklich eine Literatur „d’action“, deren Meister in seinen Augen Barrès, D’Annunzio und Claudel waren: Mit seiner Fähigkeit, kluge Reflexion und ekstatische Verzückung miteinander zu verschmelzen, mache Montherlant „l’honneur de notre âge“. 22 Drieu La Rochelle empfand die gleiche Nostalgie mit Blick auf den Krieg und eine ähnliche Ernüchterung angesichts des Friedens. Auch er ließ sich nicht davon abbringen, Krieg und Frieden in einem stetigen Strudel miteinander verbunden zu sehen, aus dem zu entkommen unmöglich, ja sogar unvernünftig sei. Wie im Falle Apollinaires Henry de Montherlant, La Relève du matin, in: ders., Essais. Préface par Pierre Sipriot. Paris 1963, 105. 21 Ebd. 142. 22 Pierre Drieu La Rochelle, Le Songe, par Henry de Montherlant, in: NRF XX, 113, 1.2.1923, 455–456. 20

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und Montherlants, so war auch Drieu La Rochelles Verhältnis zum Krieg von einer verstörenden Ambivalenz geprägt, in der Schmerz und Lust nicht voneinander zu trennen sind. In „Poèmes: Croisade, Romance, Guerre fatalité du moderne“, veröffentlicht im Juli 1919, begründete der Autor seine Faszination vor allem mit dem Umstand, daß mit dem Krieg eine neue Epoche der Menschheit angebrochen sei. In „Le Retour du soldat“, ein Text, der im August 1920 erschien, ist es dann allerdings bereits die Desillusionierung angesichts eines unverdienten Sieges, die die Deutung beherrscht. 23 All diese Tendenzen lassen sich in Beiträgen der NRF leicht nachweisen, wobei dies in erster Linie für die Jahre 1919/20 gilt, in denen die Spuren des Krieges noch deutlich zu sehen waren. Doch schon ab 1920 bildete der Krieg kaum mehr ein Thema fiktiver Texte – in der NRF und darüber hinaus. Georges Duhamel bemerkte dazu in einem Vortrag aus demselben Jahr: „Une fois encore, si vous le voulez bien, une fois encore parlons de la guerre, avant que ce sujet ne semble ou tout à fait démodé ou tout à fait inconvenant. […] Or, on nous affirme de toute part que le public ne veut plus lire d’ouvrages sur la guerre. S’il en est ainsi, hâtons-nous donc de parler pour la dernière fois de la guerre ou, plus exactement, des rapports de la littérature et de la guerre.“ 24 Dieses Phänomen beschränkte sich, wie gesagt, nicht auf die NRF. In Rivières Zeitschrift fand sich im übrigen niemand, der Bedauern darüber empfand. So äußerte sich auch Albert Thibaudet, immerhin eine Autorität auf dem Gebiet der Literaturkritik, nur ironisch über das Schicksal der Kriegsliteratur. Im Mai 1922 konstatierte er, „la grande guerre n’ait pas encore produit la littérature immédiate qu’on en attendait“. Da sie mehr „une littérature de quantité plutôt qu’une littérature de qualité“ sei, könne sie auf Dauer nur enttäuschen. Und er fährt fort: „On espérait mieux. Peutêtre cet espoir lui-même faisait-il à son objet une mauvaise atmosphère. Il fut entendu dès le troisième jour de la mobilisation que cela allait donner de la littérature, et de la fameuse. Tel homme de lettres, mort aujourd’hui, à qui on refusait une autorisation et une automobile militaire pour suivre les opérations, s’écriait dans les couloirs du ministère: ,Je vous mets sur la conscience la littérature que vous étouffez!‘ Sur quelle conscience doit peser, Ders., Poèmes: Croisade, Romance, Guerre fatalité du moderne, in: NRF XIII, 70, 1.7.1919, 225; ders., Le retour du soldat, in: NRF XV, 83, 1.8.1920, 240. 24 Georges Duhamel, Guerre et littérature, conférence du 13 janvier 1920, Maison des amis des livres. Paris 1920, 5f. Vgl. auch Nicolas Beaupré, Écrire en guerre, écrire la guerre. France, Allemagne 1914–1920. Paris 2006, bes. 231–254. 23

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et combien plus lourdement! celle qui n’a pas été étouffée – celle de l’arrière, j’entends. Arrière ou avant, la guerre produisit une littérature hâtive à laquelle manquèrent les forces souterraines et lentes, et qui parut née avant terme, sans le laps de temps qui lui eût fourni l’ombre, le mystère, le silence.“ 25 Wenn die Tatsache, daß es unter den Autoren der NRF während des Krieges an Fronteinsatz und Heldenmut gemangelt hatte, im Jahr 1919 noch wie eine Schwäche gewirkt hatte, erwies sich dies schon bald als bedeutungslos, wenn nicht gar als vorteilhaft. Denn nach nur kurzer Zeit verlangte bereits eine andere Literatur nach Aufmerksamkeit, die einerseits weit entfernt war von den Idealen der Union sacrée von 1914, andererseits aber ebensowenig mit der littérature de témoignage eines Barbusse, Dorgelès oder Duhamel aus der zweiten Hälfte des Krieges zu schaffen hatte. Beispielhaft für diese Entwicklung war die Wertschätzung, die Marcel Proust nach dem Ersten Weltkrieg erfuhr. Bereits 1919 umstrittener Preisträger des Prix Goncourt, wurde er bald zum bedeutendsten Schriftsteller des Hauses Gallimard, einhellig bewundert von Rivière und Gide. Gleichwohl wunderte sich letzterer über den Erfolg seines Kollegen: „Il est étrange que de tels livres viennent à une heure où l’événement triomphe partout de l’idée, où le temps manque, où l’action se moque de la pensée, où la contemplation ne semble plus possible, plus permis, où mal essuyés de la guerre, nous n’avons plus de considération que pour ce qui peut être utile, servir. Et soudain l’œuvre de Proust, si désintéressée, si gratuite, nous apparaît plus profitable et de plus grand secours que tant d’œuvres dont l’utilité seule est le but.“ 26 Der Verweis auf die Nützlichkeit ist typisch für den Sprachgebrauch der Zeit zwischen 1914 und 1918, in der sich viele Intellektuelle überflüssig vorkamen in einer Welt, die von der Aktion beherrscht wurde. Der späte Triumph Marcel Prousts wurde daher als Rückkehr zu den moralischen Vorstellungen und ästhetischen Idealen der Vorkriegszeit interpretiert – und die Zweckfreiheit im Sinne eines l’art pour l’art wieder aufgewertet. In anderen Worten: Es handelte sich um eine Renaissance der „littérature pure“, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg den künstlerischen Maßstab der NRF gebildet hatte und von Jacques Rivière anläßlich seines programma-

Albert Thibaudet, Réflexions sur la littérature: Un livre de guerre, in: NRF XVIII, 100, 1.1.1922, 70. 26 André Gide, Billets à Angèle, in: NRF XVI, 92, 1.5.1921, 586–591. 25

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tischen Beitrags vom 1. Juni 1919 als ästhetischer Leitfaden der Zeitschrift bekräftigt worden war. Rivières Stellungnahme wurde in den intellektuellen Kreisen Frankreichs nicht selten als eine Provokation aufgefaßt, die den Auftakt zu einer langwierigen Debatte über Nützlichkeit und Legitimität einer „démobilisation des intelligences“ bildete. 27 Doch während Rivières Standpunkt 1919 angesichts der weitverbreiteten Überzeugung, die Nation müsse ideologisch bewaffnet bleiben, noch seltsam isoliert wirkte, erwies er sich bereits Mitte der 1920er Jahre als mehrheitsfähig. Nicht nur in der NRF – hier jedoch möglicherweise mit besonderem Nachdruck – wurden die Erfahrungen des Krieges von den Schriftstellern verschleiert, wenn nicht gar ignoriert.

II. Eine Absage an die Politik Nach dem bisher Gesagten stellt sich die Frage, ob man sich – wie es in der NRF der Fall war – kulturell oder literarisch vom Krieg lossagen und dennoch politisch sensibel und wachsam bleiben konnte. Ein Blick auf die politische Position der Zeitschrift in den Jahren 1919 bis 1925 weckt Zweifel. Doch bevor wir uns damit im einzelnen auseinandersetzen, ist ein kurzer Blick in die Zeit des Krieges selbst erforderlich. Die ersten Gespräche über ein mögliches Wiedererscheinen der NRF nach dem Krieg wurden 1916 zwischen Jean Schlumberger, dem amtierenden Chefredakteur der Zeitschrift, und Jacques Rivière, seinem möglichen Nachfolger, geführt. Das Vorhaben blieb zunächst recht vage, auch wenn beide zum damaligen Zeitpunkt davon überzeugt waren, daß die Zeitschrift „ne pourra reprendre sous son ancienne forme“. Schlumberger befand, daß sie „ne répond plus ni à ce que nous avons à dire ni à ce que le pays demandera. Déjà, nous ne parvenions pas à rendre sensibles les contacts véritables que nous avions avec la vie réelle; maintenant que par la force des choses aussi bien que de propos délibéré, nous nous y trouvons mêlés bien davantage, il faut que nous sachions trouver un langage nouveau.“ Im Jahr 1909 hatte der junge Schlumberger das Manifest der NRF unterzeichnet, in dem festgelegt worden war, daß sie die Plattform für eine Zu dieser Auseinandersetzung Michael Einfalt, Autonomie littéraire et engagement politique. La Nouvelle Revue Française et l’Allemagne après la Première Guerre mondiale, in: Recherches & Travaux 56, 1999, 81–93; Dagan, La Nouvelle Revue Française (wie Anm. 1), Kap. 4.

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littérature pure sein werde, die sich jeder moralischen oder politischen Wertung enthalte. Nun aber hatten sich die Zeiten geändert. Es ging jetzt darum, die Zeitschrift zu verwandeln, um „la mieux orienter dans le sens des devoirs énormes“, die aus den jüngsten politischen und militärischen Umwälzungen resultierten. Im Klartext ging es darum, die Zeitschrift mit einem politischen Inhalt zu füllen, der den Vorgaben der Union sacrée entsprach. Im Sommer 1917 begann Schlumberger daher, eine neue NRF ins Auge zu fassen: „Une revue générale qui prônera la renaissance nationale, une revue franco alliée, résistante au germanisme.“ Dabei orientierte er sich an der Action française, die zur gleichen Zeit einen „nationalisme large et vigilant“ beförderte. Weit entfernt vom alten Ideal einer l’art pour l’art, sollte sich die Zeitschrift in ein tendenziöses Meinungsblatt verwandeln. Rivière war perplex. Einerseits befürwortete er die Idee, die NRF anderen Themen zu öffnen und sie nicht mehr nur auf literarische Sujets zu beschränken. Andererseits war er der Ansicht, die Zeitschrift müsse um jeden Preis einen kritischen Charakter bewahren. Daher betonte er den Unterschied zwischen einer „revue de combat“, als die die NRF künftig verstanden werden wollte, und einem rein parteipolitischen Organ. Der NRF, so Rivière, müsse es darum gehen, die „Wahrheit“ zu verteidigen und sie zu fördern – im Sinne des „intérêt supérieur du pays, qui est avant tout de savoir“ und das nicht verwechselt werden dürfe mit dem „intérêt national immédiat“. In anderen Worten: Der künftige Chefredakteur nahm es zwar hin, die Inhalte der Zeitschrift zu modifizieren und sie um Themen zu erweitern, die nicht zuletzt durch den Krieg an öffentlichem Interesse gewonnen hatten. Eine von nationalen Interessen diktierte Selbstzensur lehnte er jedoch entschieden ab. Und wenn Rivière dezidiert an „Wahrheit“ und „Wahrhaftigkeit“ gemahnte, gedachte er sich auf diese Weise zugleich von der ebenso unbekümmerten wie apolitischen Haltung „de l’esprit qui règne en ce moment un peu partout“ zu distanzieren. In der Zeitschrift, wie er sie sich vorstellte, „on n[e] dira rien que de passé au feu de l’expérience personnelle, rien que d’éprouvé, de vécu, de constaté, de souffert. On ne s’y abandonnera pas à des spéculations dont toute la générosité est à l’extérieur. On n’y caressera pas inutilement les passions“. Alles in allem trat er für eine selbstbewußte, aber unparteiische NRF ein. 28 Zu dieser Entwicklung Jean-Pierre Cap, La reprise de La NRF en 1919 à travers la correspondance de Jacques Rivière et de Jean Schlumberger, in: Bulletin des Amis de Jacques Rivière et d’Alain Fournier 2, 1976, 9–32; Dagan, La Nouvelle Revue Française (wie Anm. 1), 123–125.

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Bei der Abfassung seines bereits mehrfach erwähnten Leitartikels vom 1. Juni 1919 kam Rivière nun allerdings zu dem Schluß, daß es nicht nur wünschenswert, sondern durchaus möglich wäre, sich mit Hilfe der Literatur von den ideologischen Zwängen der Kriegszeit zu befreien und trotzdem politisch wirksam zu werden. Hierzu wählte er einen Mittelweg zwischen Kampfblatt und Elfenbeinturm und setzte sich für „une sorte de critique et d’interprétation de l’histoire contemporaine, à travers lesquelles forcément s’entreverra une couleur politique“ ein. Sein Credo dabei lautete: „Rester à la fois des écrivains sans politique et des citoyens sans littérature“. 29 Mit Blick auf die Geschichte der NRF markiert dies eine entscheidende Wende, hatte es vor 1914 doch keine literarische Zeitschrift gegeben, die politisch lautloser gewesen wäre als die NRF. François Mauriac hat hierzu einmal bemerkt: „Avant la guerre il n’était pas de jeune revue où l’on traitait moins de politique que La NRF qui reparaît ce moisci. Son directeur nous avertit assez drôlement et non sans quelque superbe qu’elle savait se rendre sensible comme un microphone aux moindres bruissements de la beauté. Le microphone de ces artistes se perfectionne. Jacques Rivière nous annonce une critique et une interprétation de l’histoire contemporaine à travers laquelle s’entreverra une couleur politique. Ils auront seulement le sage souci de n’y point mêler la littérature.“ 30 In der Praxis erwies sich die Umsetzung der von Rivière aufgestellten Regeln jedoch als äußerst schwierig. Er selbst formulierte seine Ansichten zur aktuellen Politik zwar in einer Reihe von Essays. Doch abgesehen davon erschien in den ersten Nachkriegsjahren kein einziger politischer Beitrag in der NRF. Henri Ghéon und seine Freunde von der Action française waren dabei nicht die einzigen, die auf diese Weise enttäuscht wurden. Ein Artikel von Jean-Richard Bloch etwa, der gelegentlich für das Blatt arbeitete und Autor des Hauses Gallimard war, wurde von Rivière zurückgewiesen. Der Grund war dessen „Lettre aux Allemands“, ein pathetischer Appell zur Aussöhnung. Trotz seiner Sympathie für Bloch und einer gewissen Neigung zum Pazifismus war Rivière der Ansicht, der Text sei „un peu trop un acte, pas assez une démonstration, pour trouver place dans la revue“. Damit bekannte er, daß „il se peut que cette façon de voir équivaille à en faire une revue, comme vous dites, académique“. Er wolle keine Zeitschrift, „où les idées apparaîtraient dans leur tendance et comme ,motrices‘“. VielRivière, La Nouvelle Revue Française (wie Anm. 3). François Mauriac, Le Gaulois, 22.6.1919, zit. in: Jacques Rivière, Une conscience européenne, 1916–1924. Annotations d’Yves Rey-Herme, Alain Rivière et Bernard Melet. Paris 1992, 124.

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mehr werde er an seiner Definition der Zeitschrift als „un organe spéculatif“ festhalten. 31 Dieser Zwischenfall bestärkte Romain Rolland in seiner Meinung über Gide und die NRF – und dies in einem Moment, da in Gides „Journal sans date“ ein heftiger Angriff auf ihn erfolgt war. Am 20. Juli 1919 bekannte er gegenüber Stefan Zweig: „La Nouvelle Revue française […] est devenue, de plus en plus, une jésuitière de petits bourgeois esthètes, qui font la risette à l’Action française, en se cachant la bouche sous la main.“ Und am 16. August 1919 bekräftigte er in einem Brief an JeanRichard Bloch seine Einschätzung: „Il n’y a plus à Paris une seule revue pour nous – j’entends une revue de quelque importance et ampleur de pensée et d’art. Et bien, mon cher ami, il faudra donc, tôt ou tard, qu’il s’en fonde une, soit par nos propres efforts, soit par ceux de quelques-uns de nos compagnons de pensée. […] Il faudrait une vraie Nouvelle Revue Française, à la place de celle de la rue Madame, qui n’est plus de la première jeunesse (et ne l’a jamais été). Surtout il faudrait un Péguy nouveau.“ 32 Verblüffend freilich ist, wie der bereits im September 1914 im Krieg gefallene Charles Péguy nun gleichermaßen von rechts wie von links vereinnahmt wurde. Bekanntlich hatte sich Péguy nie davor gescheut, sich für eine Sache einzusetzen. Doch wie hätte er es 1919 getan – im Sinne eines Rolland, eines Massis 33 oder eines Rivière? Jeder von ihnen war überzeugt davon, in Péguy einen stillen Verbündeten zu haben. Mit Blick auf das Projekt einer linksorientierten NRF, wie sie Romain Rolland vor Augen schwebte, erschien im Februar 1923 die erste Ausgabe der Zeitschrift „Europe“, bei der Jean-Richard Bloch in der Folge eine entscheidende Rolle spielen sollte. Sein „Lettre aux Allemands“ war bereits im Januar 1920 auf Vermittlung Rollands in der Lausanner „Revue politique internationale“ 31 Jacques Rivière an Jean-Richard Bloch, 2.7.1919, in: Jacques Rivière/Jean-Richard Bloch, Correspondance, 1912–1924. Présentation et annotation d’Alix Tubman, in: Bulletin des Amis de Jacques Rivière et d’Alain Fournier 1994, 71–73, 74f. 32 André Gide/Jean-Richard Bloch, Correspondance (1910–1936). Éd. établié et comment. par Bernard Duchatelet. Brest 1997, 106. 33 Wie Rolland war auch Massis sicher, Péguy auf seiner Seite zu haben. In seinen Memoiren heißt es in diesem Zusammenhang: „Ah! Péguy, disions-nous alors, que n’êtesvous là pour nous dire ce que c’est qu’une victoire – et tous les sens, toutes les formes, tous les synonymes français, latins, chrétiens, humains, classiques et romantiques aussi, de ce beau mot que vous n’eussiez pas voulu qu’on dérobât à ce pays? Contre tous ceux qui à la faveur du désarroi engendré par une mauvaise paix, affirment que la victoire n’en est pas une, contre ceux qui prétendent qu’il n’y a rien de changé dans notre âme, dans notre esprit, dans le goût de la vie, inlassablement vous l’auriez repris ce mot – et ils auraient bien fini par comprendre de quoi il s’agissait et ce qu’il imposait!“ Henri Massis, De l’homme à Dieu. Paris 1959, 217.

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gedruckt worden. Eine rechtsorientierte NRF wurde hingegen bereits vor der ersten Nummer von „Europe“ ins Leben gerufen: Infolge des Manifestes „Le Parti de l’intelligence“ wurde im April 1920 die zweimal monatlich erscheinende „Revue universelle“ lanciert. Henri Massis wurde ihr einflußreicher Chefredakteur, Henri Ghéon einer ihrer ständigen Mitarbeiter. Welche publizistischen Spielräume aber blieben der NRF, als sie 1919 jedes politische Engagement – sei es nun links- oder rechtsorientiert – ablehnte? Die Annonce, mit der die Zeitschrift für ihre Ausgabe vom Mai 1924 warb – elf Tage vor den Parlamentswahlen, die den Linksblock an die Macht bringen sollten –, liefert eine erste Antwort auf diese Frage. Nach der Ankündigung der „L’Ode génoise“, einem Gedicht von Jules Romains, wird der Leser auf einen Artikel von Alfred Fabre-Luce hingewiesen: „Sur l’idée de victoire“, der „une critique d’ensemble de la politique française“ beinhalte. Bei dieser Gelegenheit zog die Zeitschrift zugleich eine Bilanz über die seit 1921 erschienenen politischen Beiträge: „La lecture de ce numéro est donc d’actualité. À lire également cette semaine les numéros des: 1er mai 1921: ,Notes sur un événement politique‘, par Jacques Rivière; 1er juillet 1922: ,Les dangers d’une politique conséquente‘, par Jacques Rivière; 1er mars 1923: ,Le Sommeil de l’esprit critique‘, par Jean Schlumberger; 1er mai 1923: ,Pour une entente économique avec l’Allemagne‘, par Jacques Rivière; 1er mars 1924: ,Intelligence et Démocratie‘, par Pierre de Lanux. Tous ces articles sont particulièrement intéressants à consulter dans les quelques jours qui précèdent la consultation électorale de 1924.“ 34 Diese Liste spiegelt zwar das politische Leben der Zeitschrift, verweist aber zugleich auf ihre Grenzen. Insbesondere im Jahr 1923 – vor dem Hintergrund der bislang größten internationalen Krise der Nachkriegszeit also – bezog die Zeitschrift eine eindeutige politische Stellung: gegen die Besetzung des Ruhrgebietes, gegen die revanchistische Politik der Bloc national-Regierung von Raymond Poincaré. Dieses Engagement führte bei den Wahlen von 1924 zwangsläufig zu einer Unterstützung für das Cartel des gauches. Nichtsdestotrotz blieb dies eine Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Bemerkenswerter ist, daß sich die NRF ausgesprochen selten zu einem solchen politischen Engagement bereit fand – eine Linie, die sich auch unter Jean Paulhan, dem Nachfolger Rivières, fortsetzte. Erst im Dezember 1933 wurde eine regelmäßige politische Rubrik („L’air du mois“) eingerichtet, und erst 1938 entschloß sich die NRF, anläßlich des Münchener Abkommens öffentlich in Aktion zu treten. 34

Bibliographie de la France, 18, 2.5.1924, 1499.

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In dieser Hinsicht unterscheiden sich die 1920er Jahre deutlich von dem darauffolgenden Jahrzehnt, das durch ein deutlicheres politisches Engagement geprägt war. Die Haltung der NRF freilich war gerade in den ersten Nachkriegsjahren überaus vielsagend. Denn auf 1500 bis 2000 Seiten, die jährlich gedruckt wurden, kamen nur einige Dutzend Texte, die sich überhaupt mit politischen Themen befaßten. Nicht nur das Versprechen, sich ernsthaft mit den „grands problèmes posés par la guerre“, auseinanderzusetzen, wurde auf diese Weise nicht eingehalten. Mehr noch: In den wenigen Texten, die sich ausdrücklich mit politischen Fragen auseinandersetzen, wurden keineswegs unterschiedliche Standpunkte zur Politik vertreten, die einander hätten gegenübergestellt werden können. 35 Die fünf Texte, auf die die Werbeannonce 1924 hinwies, folgten allesamt einer einzigen politischen Linie, und dies war auch kaum verwunderlich, stammten doch ganze drei Artikel aus der Feder Rivières, während die beiden anderen Beiträge, von Schlumberger und Lanux verfaßt, vollständig der Position des Chefredakteurs folgten. Die NRF war also weder zu einem Forum für eine breite politische Auseinandersetzung noch zu einer unparteiischen Zeitschrift geworden; die politische Dimension wurde vielmehr nach wie vor der literarischen untergeordnet. Als Rivière 1922 Bilanz zog, erkannte er dieses Versagen durchaus. In einem in Zürich gehaltenen Vortrag legte er schuldbewußt Rechenschaft ab: „Je n’ai pas besoin de me livrer à l’espionnage pour apprendre que La NRF, après une reprise que tout le monde s’était accordé pour trouver brillante, avait un moment déçu les admirateurs qu’elle avait parmi vous. On lui reprochait de s’écarter du programme qu’elle s’était publiquement fixé en juin 1919, et en particulier de se désintéresser par trop de grandes questions qui agitaient l’élite intellectuelle de l’Europe: conséquences sociales de la guerre, nouveaux courants mystico-politiques, révolution de la psychologie par la doctrine de Freud, etc.“ Er könne versprechen, fuhr Rivière fort, daß „La Nouvelle Revue française s’est trouvée essoufflée sur le chemin des considérations générales […]. Elle a pu à un moment décevoir les amateurs de grandes synthèses philosophiques, ou même simplement ceux qui demandent avant tout, pour s’y accrocher de toutes leurs forces, une doctrine.“ 36 So jedoch der Anspruch bei Rivière, La Nouvelle Revue Française (wie Anm. 3). Jacques Rivière, Conférence de Zurich, in: ders., Une conscience européenne, Textes présentés et annotés par Yves Rey-Herme avec la collaboration de Alain Rivière et Bernard Melet. Paris 1992, 146–149. 35 36

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Diese Neutralität der Zeitschrift scheint zum einen das Symptom eines generellen Prozesses der politischen und kulturellen Demobilmachung zu sein und zum anderen eine publizistische Überlebensstrategie für die schwierige Übergangszeit zwischen Krieg und Frieden. Adolphe Delemer etwa, der gelegentlich für die NRF arbeitete, betonte zwar 1922 anläßlich eines Artikels von Rivière über den Umgang mit den französischen Reparationsforderungen gegenüber Deutschland die politisch indifferente Haltung des Chefredakteurs, erblickte darin jedoch ein positives Signal: „Heureux symptôme! Cela prouve que la paix commence à poindre. Réjouissonsnous. Cette apparente insouciance témoigne du sentiment où est la France, qu’il est des choses plus sérieuses que ces débats infinis. Elle travaille; elle renaît. Quoi d’étonnant si elle préfère, après l’effort, se divertir? Vraiment, de quelque côté qu’on les prenne, les problèmes politiques n’ont rien de divertissant.“ 37 Für ihn waren die Vernachlässigung in der politischen Meinungsbildung und das gewissermaßen blinde Vertrauen in das Handeln der Führungskräfte Anzeichen einer wünschenswerten Demobilmachung. Es darf nicht verschwiegen werden, daß die NRF mit ihrem Desinteresse am politischen Handeln und Entscheiden in verlegerischer Hinsicht ungewöhnlich erfolgreich war. Dies läßt auf ein Publikum schließen, das das Vergessen des Krieges, die Rückkehr zu den ästhetischen Werten der Vorkriegszeit und eine Haltung des Unpolitischen kultivierte. Das 1927 in einzelnen Folgen in der NRF veröffentlichte Buch „La Trahison des clercs“ von Julien Benda bündelte diese Tendenzen besonders eindringlich, indem der Autor die Intellektuellen davor warnte, sich in die Politik einzumischen, die allein von Leidenschaften beherrscht werde, und statt dessen der eigenen universellen Bestimmung treu zu bleiben – ein verdecktes Manifest für die Neutralität, einem politischen Leitmotiv der Zwischenkriegszeit.

III. Resümee Das Vergessen ist für das Individuum ebenso wichtig wie für die Gemeinschaft. Kein Leben, ja nicht einmal das Gedächtnis selbst, ist möglich ohne das Vergessen. 38 Nach einem Krieg scheint das Vergessen – ähnlich wie in Adolphe Delemer, Une vue optimiste sur la situation en France, in: NRF XIX, 107, 1.8.1922, 254. 38 Vgl. Paul Ricœur, La Mémoire, l’histoire, l’oubli. Paris 2000; Marc Augé, Les formes de l’oubli. Paris 1998. 37

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anderen posttraumatischen Situationen – sogar geradezu unausweichlich zu sein. Betrachtet man die „Nouvelle Revue Française“ in den Jahren zwischen 1919 und 1925, stellt sich die Frage nach der Funktion des Vergessens überaus deutlich. Die ebenso verspätete wie aufsehenerregende Anerkennung, die Schriftstellern wie André Gide und Marcel Proust in diesen Jahren zuteil wurde, wird erst vor dem Hintergrund der schmerzhaften und erdrückenden Erfahrungen der Kriegszeit ganz verständlich. Die Rückkehr zu einer „littérature pure“, für die die Zeitschrift eintrat, kann in den Worten Gides als „un flot d’eau claire [lavant] toute la poussière et le hâle d’une trop longue course sur une route aride“ 39 gedeutet werden. Der vielfach geäußerte Wunsch, das Leben neu zu beginnen und die verlorene Zeit aufzuholen, hätte – abgesehen von aller Kritik am Staat, der die Intellektuellen während des Ersten Weltkrieges für seine Zwecke instrumentalisiert hatte – eine andere Reaktion erfordert. In Frankreich führte die geistige Demobilmachung auf diese Weise zu einem verhängnisvollen Prozeß der politischen Neutralisierung von Schriftstellern und Intellektuellen. 40 Das Erbe, das Frankreich nach der Grande Guerre anzutreten hatte, blieb ambivalent.

Tagebucheintrag v. 20.8.1914, in: André Gide, Journal. I. 1887–1925. Édition établie, présentée et annotée par Éric Marty. Paris 1996, 846. 40 Zu diesem nicht selten unterschätzten Phänomen Christophe Prochasson, Jalons pour une histoire du „non-engagement“, in: Vingtième siècle. Revue d’histoire 60, 1998, 102– 111. 39

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„Röchelndes Knurren von Krampf und Schmerz“ Verwundung, Entleibung, Blut und seelisches Trauma in der deutschen Kriegsliteratur, 1918–1935 Von

Wolfgang U. Eckart In der historischen Traumaforschung stand bislang zu Recht die kriegerische Gewalt im Vordergrund des Interesses. Auf die Reflexion solcher Gewalt in der Literatur wurde bislang auch in literatur- und medizinhistorischen Seminaren nur am Rande geachtet. Dabei ist gerade die Literatur ein bedeutender Indikator für die Verarbeitung des Gewalterlebens, wie am Beispiel der deutschsprachigen literarischen Verarbeitung des Ersten Weltkriegs, der dramatischen Schlüsselkatastrophe des 20. Jahrhunderts, in Prosa und Lyrik deutlich gemacht werden kann. Dabei ist es fast unerheblich, welche Tendenz diese Literatur verfolgte, ob sie pazifistisch oder national ausgerichtet war, den Krieg als Fratze der conditio humana ablehnte oder ihn verherrlichte. Die literarische Verarbeitung des Krieges in den Jahren zwischen 1914 und dem Beginn des neuen Weltkrieges 1939 prägte die kollektive Erinnerung und das Bewußtsein der Leser und Leserinnen. Gleichgültig auch, ob es sich bei diesen Formen der Verarbeitung um solche handelte, die sich aus unmittelbarem, persönlichem Erleben der Autoren speiste, oder ob imaginäre Schlachtfelder 1 entworfen wurden. Entscheidend ist, daß deren „Adäquationsanspruch vom Leser eingelöst“ wurde, daß also die Darstellung des Kriegserlebnisses von den Rezipienten auf der Basis eigener (inner experience) oder fremder Erfahrungen und Berichte als „angemessen und ‚typisch‘“ empfunden wurde. 2 So sind auch die imaginierten Schlachtfelder Orte der gemeinschaftsbildenden Erinnerung 3 an ein seelisches und körperliches Trauma.

1 Dazu Jörg Vollmer, Imaginäre Schlachtfelder. Kriegsliteratur in der Weimarer Republik. Eine literatursoziologische Untersuchung. Diss. phil. Berlin 2003. 2 Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart 1986, 29. 3 Vgl. Matthias Schöning, Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–1933. Göttingen 2009.

I. Einleitung Der deutsche Kriegsroman der zwanziger und dreißiger Jahre, den wir heute allenfalls noch in Gestalt des pazifistischen Antikriegsepos Erich Maria Remarques (1898–1970) von der verlorenen Generation (lost generation), „Im Westen nichts Neues“ (1929), erinnern, ist ein epochentypisches Genus der Literatur der Zwischenkriegszeit. Kein anderes Thema ist als literarisch bedeutender Stoff so häufig behandelt worden wie das unmittelbare Erleben des Weltkrieges und seine Verarbeitung. Kein anderes Sujet erreicht in der Gattung Roman so hohe Auflagenziffern, keines war wohl auch politisch so prägend für das lesegewohnte Publikum einer Zeit, das die Traumatisierungen des Krieges ebenso erlebt hatte wie die Schmach der durch den Versailler Vertrag als erzwungen empfundenen Niederlage und sich öffnete für den politischen Revisionismus einer Zeit, die den Humus für Diktatur und neues Verderben lieferte. 4 Die 2003 durch Jörg Vollmer vorgelegte Studie zur „Kriegsliteratur in der Weimarer Republik“ ermittelt 671 (!) Romantitel zwischen 1915 und 1939, deren Autoren den Krieg aus eigener oder fremder Erfahrung schildern, darunter auch literarische Erlebnisberichte aus der Kriegsgefangenschaft. Unmittelbar medizinischer Stoff wird nur in wenigen Titeln behandelt; aber es liegt auf der Hand, daß das mörderische Kriegsgeschehen an allen Fronten und die Unmittelbarkeit des körperlichen und seelischen Agierens und Leidens zur Behandlung der Themen Verwundung, Krankheit, Behandlung, Sterben und Tod in nahezu jedem der über 600 Romane zwingt.

II. Bionik der Schlacht – Mensch und Maschine Der Erste Weltkrieg wird zu Recht als der erste Maschinenkrieg der Weltgeschichte beschrieben. Er ist hochtechnisiert, versehen mit einer bislang ungekannten Tötungs- und Zerstörungsgewalt der Artillerie und des Maschinengewehrs; der Tod selbst ist zum Maschinisten geworden. Der Erste Weltkrieg ist der erste große Graben- und Stellungskrieg, der erste chemische Krieg mit Kampfgas und Kontaktgiften, der erste Panzerkrieg mit seinen unförmig-monströsen Eisendämonen auf Ketten, der erste Luftkrieg mit Zeppelinen, Ballons und Jagdfliegern, mit Sprengbomben und Stahlpfeilen, die lautlos senkrecht vom Himmel jagend Menschen a capite ad 4

Ebd. 1.

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calcem durchbohren. Inmitten all dieser Technik steht der Mensch, wird Teil der Maschinerie, deutet aber auch die Maschine physiologisch und zerbricht doch seelisch an dieser erzwungenen Symbiose. Ex post hat sich Robert Gaupp (1870–1953), Direktor der Nervenklinik in Tübingen, 1922 hierzu geäußert: „Die ungeheure Steigerung der Kriegstechnik“, so schreibt er, „die furchtbare Zerstörungskraft der modernen Artilleriegeschosse, das Trommelfeuer, die Gasgranaten, Fliegerbomben, Flammenwerfer und all die anderen Formen überraschender Schädigungen aus nächster Nähe und weiter Ferne haben zu einer Häufung heftigster Schreckwirkungen geführt, wie sie sicher noch kein Krieg auf der Erde gesehen hat.“ 5 Ähnlich sieht der Schweizer Neurologe und Psychiater Ludwig Binswanger (1881–1966) die Situation. „Die Wucht der Kriegsereignisse“, so formuliert er 1922 rückblickend, habe „die völlige Umwandlung der körperlichen und seelischen Existenzbedingungen für die Mehrzahl der Kriegsteilnehmer, die ungeheueren seelischen und körperlichen Strapazen, denen der Frontsoldat fast ununterbrochen ausgesetzt“ gewesen sei, geschaffen und mit ihnen die allgemeinen Bedingungen zur „Entfaltung der Kriegshysterie“. 6 Aber es sind nicht nur die Technisierung des Schlachtfeldes und die Wucht der Ereignisse, die die besondere Bedrohung des Soldaten im Stellungskrieg ausmachen und sie immer wieder in die Nähe des seelischen und nervlichen Zusammenbruchs bringen; es ist vor allem die Unentrinnbarkeit des Geschehens, das reflexiv normales Verhalten in Situationen existentieller Gewaltbedrohung unmöglich macht. Der Frontgraben bietet keine Fluchtmöglichkeit nach hinten, nur schwache Deckung von vorn, ein Feind ist nicht sichtbar, und gegen jeden Verteidigungs- und Ausbruchsreflex stehen Todesbedrohung und Befehl. Der Soldat wird so zum modernen Tantalos oder Prometheus, der als Strafe für seinen Frevel von den Göttern gefesselt und unbeweglich alle Qualen hilflos ertragen muß. Ernst Jünger greift dieses klassische Bild in seinen „Stahlgewittern“ (1920) auf: „Man stelle sich vor, ganz fest an einen Pfahl gebunden und dabei von einem Kerl, der einen schweren Hammer schwingt, ständig bedroht zu sein. Bald ist der Hammer zum Schwung zurückgezogen, bald saust er vor, daß er fast den Schädel berührt, dann wieder trifft er den Pfahl, 5 Robert Gaupp, Schreckneurosen, in: Otto von Schjerning (Hrsg.), Handbuch der Ärztlichen Erfahrungen aus dem Weltkrieg. Bd. 4. Leipzig 1922, Teil 1, 68–101, hier 69. 6 Ludwig Binswanger, Kriegshysterie, in: ebd. 45–67, hier 65.

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daß die Splitter fliegen – genau dieser Lage entspricht das, was man dekkungslos inmitten einer schweren Beschießung erlebt.“ 7 Mag sein, daß Jünger bei diesem Bild Ferdinand Hodlers (1853–1918) kraftvollen, axtschwingenden „Holzfäller“ (1910) im Sinn hatte, dessen Motiv immerhin seit 1911 Schweizer Banknoten schmückte. Jüngers Bild aber ist eigentlich untypisch für das Erleben anonymer Gewaltbedrohung im Frontgraben. Der fremde „Kerl“ spielte hier keine Rolle, wohl aber das ferne Geschütz als Unheil auswerfende Maschine. Zahlreiche Beispiele für die Nähe von Mensch und Maschine finden sich auch im Kriegsroman jener Zeit. Edlef Köppen (1893–1939) etwa beschreibt in seinem pazifistischen Roman „Heeresbericht“ (1930) den symbiotischen Annäherungsprozeß von Mensch und Artilleriegeschütz während eines mörderischen Schnellfeuerangriffs, der Schützen und Munitionsträger über den Rand der Erschöpfung peitscht und die Geschütze fast bis zum Bersten ins Fieber treibt: „,Schnellfeuer‘, das heißt: nach zehn Minuten ist der Pulsschlag der Menschen verdoppelt. Das Herz schlägt nicht mehr in der Brust, sondern im Hals. Erst hat der Puls die Glieder zittern lassen. Dann stemmen sie sich gegen ein Kommando, werden wie Eisen und werden Teil der großen Maschine: Sechs Geschütze, eine Batterie. […] ‚Schnellfeuer‘, das heißt, daß nach einer Stunde die Mannschaften der Batterie Blässe des Todes in den Gesichtern haben, über die Ruß und Pulverschleim ein dickes Schwarz schmieren. […] [Es] wird aus jedem Zuruf ein tierischer Schrei. ‚Schnellfeuer‘: Die Wut der Menschen überträgt sich auf die Geschütze. Sechs metallene kalte Rohre geben mit Sachlichkeit sechsmal in sechzig Sekunden den Tod von sich. Nach kurzem fauchen sie weißlichen Dampf, schwitzen wie die Menschen, die arbeitenden Menschen an der Maschine. Dann bekommt die Maschine Blut: die Rohre sind heiß wie Fieber.“ 8 Und was geschieht auf der anderen Seite, dort, wo die Granaten nach kurzem Flug über die Gräben des Stellungskrieges in so schneller Folge auftreffen und detonieren, daß man die einzelnen Einschläge nicht mehr zählen kann? Ernst Jünger (1895–1998), der das Schlachtgeschehen als „existentiell bedeutungsvolle Erfahrung von rauschhafter Entgrenzung“ 9 beschwört, hat „In Stahlgewittern“ eine solche Szene festgehalten: „Von neun bis zehn Uhr gewann das Feuer eine wahnwitzige Wucht. Die Erde Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Stuttgart 1983 [Erstausgabe 1920], 93. Edlef Köppen, Heeresbericht. Berlin 2005 [Erstausgabe 1930], 75. 9 Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004, 123. 7 8

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wankte, der Himmel schien ein brodelnder Riesenkessel. Hunderte von schweren Batterien krachten […], unzählige Granaten kreuzten sich heulend und fauchend über uns. Alles war in dichten Rauch gehüllt, der von bunten Leuchtkugeln unheildrohend bestrahlt wurde. Bei heftigen Kopfund Ohrenschmerzen konnten wir uns nur noch durch abgerissene, gebrüllte Worte verständigen. Die Fähigkeit des logischen Denkens und das Gefühl der Schwerkraft schienen aufgehoben. Man hatte das Empfinden des Unentrinnbaren und unbedingt Notwendigen wie einem Ausbruch der Elemente gegenüber. Ein Unteroffizier des dritten Zuges wurde tobsüchtig.“ 10 Neben der unheilvollen Vereinigung von Mensch und Maschine vollzieht sich zugleich die Entrückung der grell beleuchteten Szenerie ins Dämonische des brodelnden Hexenkessels und schließlich ins unentrinnbar Elementare von Kosmos und Natur. Der Ego-Protagonist Jünger sieht inmitten hunderter kurzer Blitze „platzender Schrapnells“ und bunter Signale „zum ersten Mal […] ein Feuer, das nur einem Naturschauspiel zu vergleichen war“. 11 Bei anderen entfaltet sich zugleich eine geradezu „satanische Lust“, die weitere Fragen provoziert. „Wie bin ich nicht eins mit dem Gewehr? Bin ich nicht Maschine – kaltes Metall?“, läßt etwa Ernst von Salomon seinen Protagonisten in „Die Geächteten“ (1929) 12 fragen. Franz Schauwecker (1890–1964) hat in seinem Kriegsroman „Aufbruch der Nation“ (1929), wenngleich in verklärender Ästhetisierung, geschildert, wie man sich das Eintreffen und Bersten eines Geschosses in der unmittelbaren Empfindung des Grabensoldaten wohl vorzustellen habe. Albrecht, einer der Protagonisten des Romans, erlebt Ankunft und Einschlag der Granate wie im Maschinenraum einer Werkshalle: „Ein Klumpen von Glut und Druck zerbarst schmetternd. Brocken spritzen weg. Dampf wirbelte kochend, und ein blendender Strahl von Hitze fuhr in den Graben. Schnurgrade über Albrechts Kopf weg stand ein hundertfacher Pfiff aus glühenden Ventilen, ein sausendes Gewirr von Motoren. Er begriff nichts.“ 13

Jünger, In Stahlgewittern (wie Anm. 7), 108. Ebd. 88. 12 Hier zit. nach der Ausgabe Reinbeck 1968, 73; vgl. Schöning, Versprengte Gemeinschaft (wie Anm. 3), 163. 13 Franz Schauwecker, Aufbruch der Nation. Berlin 1929, 59. 10 11

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III. Die Verwundung: Erleben des Traumas Verwundung, Verletzung, Verlust der Gliedmaßen, pulsierendes Blut aus offenen Wunden, Schmerzen sind genretypische Elemente des Kriegsromans, so unterschiedlich auch ihre Funktionen sein können. Kurt Tucholsky hat 1922 und 1926 rhetorisch gefragt, ob die Soldatenwunden der Schlachtfelder im Westen Jahre nach dem Kriegsende noch „frisch“ genug sein könnten, um die „Scheußlichkeiten des Krieges“ 14 überhaupt noch erinnern zu können, werde doch jeder Schmerz vergessen. 15 Sie waren es, wenngleich nicht unbedingt in pazifistischer Hinsicht, wenngleich nicht unbedingt als Erinnern an die Scheußlichkeiten des Krieges, und sollten es bleiben bis zum Erleben des nächsten Krieges 1939 bis 1945, und man darf im nachhinein bezweifeln, daß die literarische „Gewohnheit […] gegen das Schauspiel“ allmählich abgestumpft hat, wie Walter von Hollander (1892– 1973) in einem Aufsatz über „Die Entwicklung der Kriegsliteratur“ 16 1916 vermutete. 1. Männliches Erleben des körperlichen Opfers Der Weltkriegsroman ist männliches Epos sui generis, Männer sind seine Autoren, Männer seine Protagonisten. Männer räsonieren über das Patriotische ihres Tuns, über das Männliche ihres Patriotismus, über die Notwendigkeit gerechter, männlicher Gewalt für die Nation, über das körperliche Opfer solcher Gewalt und seine im Opfergang heroisierende Kraft; und Männer sind es auch, die in pazifistischer Absicht vom Grauen des Krieges berichten, von sinnloser, entmenschlichter Gewalt, von der Fratze des verabscheuungswürdigen Kriegs. In diesem Umfeld ist der Kriegsroman auch und ganz selbstverständlich narratio vom männlichen Körper, also masochistische Narration 17, patriotisch und sexuell im Sinne der Mannbarkeit aufgeladen oder eben leidende Narration von der kathartischen Läuterung des einst Kriegsbegeisterten oder schließlich als Instrument zum Zwecke der Abschreckung. Immer ist das körperliche Leiden im Kriegsroman, wo es nicht als Ästhetisches für sich allein steht, wie gelegentlich bei Ernst Jünger, mit sekundärem Gewinn verknüpft. Kurt Tucholsky, Vorwärts – !, in: Die Weltbühne v. 5.1.1926, 1–5, hier 1. Vgl. ders.: Das Felderlebnis [1922], in: ders., Gesammelte Werke. Bd. 1. Hamburg 1972, 1035–1040, hier 1035. 16 Walter von Hollander, Die Entwicklung der Kriegsliteratur, in: Die neue Rundschau 1916, 1274–1279, hier 1278. 17 Vollmer, Schlachtfelder (wie Anm. 1), 248. 14 15

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Im patriotischen Kriegsroman sind Verwundung und körperliche Gewaltfolgen, also der Umstand, daß man fürs Vaterland Blut verloren hat, schlechthin Elemente einer kollektiven Frontgeist-Erfahrung, eines Initiationsritus, der läuternd auf eine neue Stufe vorbildhafter Männlichkeit hebt. Faßbar wird dies etwa in Franz Schauweckers „Der feurige Weg“ (1926), als junge Rekruten in der Garnison, also noch vor der eigenen „Feuertaufe“, dem kriegsverwundeten Helden in der Kantine bewundernd gegenübersitzen und empfinden: „Das Erlebnis der Front […] hebt ihn gänzlich aus uns heraus und schafft um ihn einen Bannkreis von Männlichkeit und Heldentum, vermischt mit einem aufreizenden Dunst von Abenteuer und Grauen, in dem wir uns mit Achtung und Bewunderung bewegen. Er hat gekämpft, er hat geblutet, er hat dem Tod gegenüber seinen Mann gestanden. Er ist eine neue Art Mensch.“ 18 Entsprechend wird das erste Selbstbluten der „Schmerzensmänner“ im Angesicht des Todes als Folge erlittener Kriegsgewalt, worauf Jörg Vollmer eindrücklich hinweist, als genußvoll und dankbar erfahrene körperliche Initiation und Erlebnisdimension auf dem Wege zu einer „glückbesetzten Mannwerdung“ – ganz im Sinne einer quasi männlichen Menstruation – wahrgenommen und gelebt. Ein solches Kalvarienopfer, religiös wie der zur Erlösung weisende Leidensweg Christi, weltlich wie ein Ritterschlag und archaisch wie die Inbesitznahme neuen Landes durch vergossenes eigenes Blut, wird in Hans Zöberleins (1895–1964) Erzählung „Der Glaube an Deutschland“ (1931) vorgestellt. Nach der Verwundung empfindet der Held „[k]eine Angst, […] nur das Erschrecken vor einem anderen Zustand des Lebens. […] Es muß doch etwas Ungeheures, Gewaltiges ums Sterben sein. Mag sein, daß ich vor dieser Erinnerung noch leise zittere, vielleicht auch vor dem Gefühl des inneren Glückes. Mir ist so, als sei heute meinem jungen, heißen Leben eine Dornenkrone aufgedrückt worden. […] Ein unbändiger Stolz faßt mich, so wie in alten Zeiten [einen], der zum Ritter geschlagen wurde. Und bin ich nicht auch geadelt worden heute, wie mein Blut in Frankreichs Erde rann für Deutschland? Ich fühle, daß ich damit einen Anspruch erworben habe […].“ 19 Heroische Eigen- und Gemeinschaftsdiskurse bedürfen des Schmerzes und kriegerischen Gewalterlebens zur Selbstversicherung und zur nationalen heroischen Überhöhung des eigenen Handelns im Kriege, und sei es 18 Franz Schauwecker, Der feurige Weg. Leipzig 1926, 14f.; hier zit. nach Vollmer, Schlachtfelder (wie Anm. 1), 248. 19 Zit. nach Vollmer, Schlachtfelder (wie Anm. 1), 248f.

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noch so selbstzerstörerisch, wie die fast im Wahn erlebte Eroberung eines feindlichen Maschinengewehres mit bloßen Händen wie in Werner Beumelburgs (1899–1963) „Die Gruppe Bosemüller“ (1930): „Plötzlich spürt der Kleine etwas ungeheuer Heißes in sich. Es fällt etwas von ihm ab, es ist auf einmal alles so leicht. Er stößt einen Schrei aus, einen verzweifelten und wilden Schrei. Ist er denn selbst das? Er stürzt nach vorn, mit zitternden Händen stößt er Schwartzkopf beiseite, der vor ihm ist. Er springt mitten auf das Gefunkel und Geblitze, auf das Peitschen und Krachen zu. Er hat gar nichts in der Hand, Helm und Gewehr sind von ihm rückwärts abgefallen. Was tut er denn? Ist er verrückt geworden? Er muß es wohl. Er greift mit beiden Händen an einen glühend heißen Maschinengewehrlauf. Er läßt nicht los, er hält fest wie eine Katze.“ 20 Der Todesschrei ist eines der Elemente heldenhaften Sterbens. Die Variationsbreite seiner epischen Präsentation ist schier unerschöpflich: Schrill, gurgelnd, spitz, verzweifelt, wild wird geschrieen, manchmal „quäkend“, wie wenn ein „Gespenst entgegentritt“. 21 Auch die Artikulation des körperlichen Traumas in Wimmern und Stöhnen ist ein Genre-Element der Verwundungssituation im Kriegsroman. In Franz Schauweckers Roman „Aufbruch der Nation“ (1929) erlebt der Student Albrecht im Grabenkampf an der Ostfront seinen ersten Toten: „Er war eiskalt mit Würgen und Schlucken. Sein Herz loderte blutig in der vertrockneten Kehle. Jemand krächzte und schlug um sich. Jemand lag auf der Erde, an die Grabenwand geschleudert, ein schreiender Haufen, blödsinnig verdreht. […] Da lag Holm auf der Erde. Er lag da wachsgelb, mit halbgeschlossenen Augen, halb auf der Seite und stöhnte leise, ein röchelndes Knurren von Krampf und Schmerz. […] Eine Bahre aus Weidengeflecht kam. Holm, der nur ein Gewimmer von sich gab, wurde vorsichtig hinaufgehoben. Er hielt die Augen geschlossen und die Hand an die rechte Seite gepreßt. Er hatte mit alldem hier nichts mehr zu tun. Man trug ihn fort.“ 22 Auch das Eigenerleben einer Verwundung durch den erfahrenen Frontsoldaten, der fast lässig, ohne sein Rauchen zu unterbrechen, während er noch – in „feinem Strahl“ blutend – in den Unterstand rennt, seine Verwundung wie eine Trophäe verkündet, ist hier einzuordnen. Ernst Jünger erzählt hiervon „In Stahlgewittern“ (1930): „Kaum stand ich zwischen ihnen, gab es vor der Haustür einen scharfen Knall, und im selben Augenblick 20 21 22

Werner Beumelburg, Die Gruppe Bosemüller. Oldenburg 1930, 49f. Jünger, In Stahlwittern (wie Anm. 7), 100. Schauwecker, Aufbruch (wie Anm. 13), 59.

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spüre ich einen starken Schlag gegen den linken Unterschenkel. Mit dem uralten Kriegerruf: ‚Ich habe einen weg‘ sprang ich, meine Shagpfeife im Munde, die Kellertreppe hinab.“ 23 Angesichts des Todes allerdings transformiert der Kriegerruf zum Schrei, mit dessen „Gellen die Lebensluft auszuströmen“ 24 scheint, und der Blick ins Schattenreich des Todes wird möglich. Als Jünger Monate zuvor, am Oberschenkel verwundet, versucht hatte, durch das Grabengewirr des frontnahen Bereichs zu einer Verbandsstelle zu gelangen, eröffnete sich ihm ein solcher Blick in den Hades, und Charon sammelt bereits seine Fahrgäste: „Der Durchgang war entsetzlich, von Schwerverwundeten und Sterbenden versperrt. Eine bis zum Gürtel entblößte Gestalt mit aufgerissenem Rücken lehnte an der Grabenwand. Ein anderer, dem ein dreieckiger Lappen vom Hinterschädel herabhing, stieß fortwährend schrille, erschütternde Schreie aus. Hier herrschte der große Schmerz, und zum ersten Male blickte ich wie durch einen dämonischen Spalt in die Tiefe seines Bereichs. Und immer neue Einschläge.“ 25 2. Herz, Blut und Nerven Der Erste Weltkrieg ist häufig genug als traumatisches Erlebnis der deutschen Gesellschaft, und zwar nicht nur als das der unmittelbar am Krieg Beteiligten, sondern auch als das der folgenden Generationen, beschrieben worden. Er war in erster Linie aber ein traumatisches Erlebnis für die Frontsoldaten selbst, für ihre Körper selbstverständlich in einem ganz unmittelbaren Sinn, vielleicht noch mehr aber für ihre Psyche. Der moderne, hochtechnisierte Krieg traf an allen Fronten Menschen, die dem apokalyptischen Inferno des pausenlosen Kugel- und Granathagels, dem grellen Leuchten, Blitzen und Flackern der Frontabschnitte, dem infernalischen Brüllen und Kreischen berstender Metallgeschosse, dem perfiden Zwitschern, Summen und Pfeifen der Projektile und Querschläger, dem Kreischen und Gurgeln der Verletzten in den Stahlgewittern Flanderns und der Argonnen, aber auch in den Grabenkämpfen im Osten nicht mehr standhalten konnten und wollten. Viele wurden irre an dieser Situation, zitterten, krampften, erbrachen sich pausenlos, näßten ein, verstummten, vergruben sich in ihr Innerstes, reagierten skurril. „Kriegsneurotiker“ 26 war das Jünger, In Stahlgewittern (wie Anm. 7), 118. Ebd. 316. 25 Ebd. 35. 26 Vgl. u. a. Esther Fischer-Homberger, Die traumatische Neurose – Vom somatischen zum sozialen Leiden. Bern/Stuttgart/Wien 1975, 136f. 23 24

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Schlagwort, und es traf alle, deren Psyche sich nicht mit dem Unfaßbaren an den Fronten, besonders im Westen, abfinden konnte, denen schließlich auch der Körper den Dienst versagte angesichts der Übermacht psychosomatischer Verletzungsgewalt des hochtechnisierten, fabrikmäßigen Schlachtens in den Gräben und Trichtern. Solche Menschen galten als schwach, wenn man ihnen nicht von vornherein Simulation und Drückebergerei vorwarf. Leiden aus verständlichen Gründen wurde zur Kampfunlust umdefiniert. 27 Diese Umdefinition fügte sich gut in das weitverbreitete sozialdarwinistische Bild von der Vernichtung der Tüchtigsten im Kriege und vom Erhalt der Schwachen. Eine Untergruppe der „Kriegsneurotiker“ bildeten die sogenannten „Herzneurotiker“, solche Soldaten also, denen der Krieg im wahrsten Sinne mitten ins Herz gefahren war, ihnen das Herz perforiert hatte. Der Kriegsteilnehmer Alexander Moritz Frey (1881–1957) schildert in seinem Feldsanitätsroman „Die Pflasterkästen“ die kleinen Ursachen wie etwa „ein Splitterchen in Linsengröße“, die den unwiderruflichen Herztod bewirken konnten. Ein Sanitätsschreiber wird 1918 an der Westfront von einem Granatsplitter ins Herz getroffen und stirbt schnell: „Und als sollte […] demonstriert werden, durch welche Kleinigkeiten man um die Ecke gebracht werden kann […], bekommt eines Morgens der jüngere der beiden Kanzlisten ein Splitterchen in Linsengröße ab. […] Unbegreiflich, aber deutlich sichtbar, verfällt er in wenigen Sekunden. Hier ist ganz eindeutig zu sehen, wie der Tod das Leben erobert, Schritt um Schritt und Griff um Griff, mit sicherer Faust. […] Jener ist weiß, wird grau, dann gelb. Sein Mund schnappt einmal, zweimal kräftig – und ebensooft um eine Kraftstufe schwächer. Die Lippen werden farblos – unterm nächsten Zugriff schimmern sie blau. Er hat die Augen geschlossen – daß sie nun halb aufgehen, ist kein Erwachen, kein Zurückkehren, es ist das Erschlaffen der Lider, die auf Halbmast gehen und keinen Blick mehr enthüllen, nur das Gebrochene ehemaliger Blicke. […] Stabsarzt Fünfer faßt nur noch an einem Körper umher, der schon kalt wird. […] ‚Da ist offenbar etwas ganz Kleines mitten ins Herz gedrungen‘, formuliert Fünfer seine Diagnose ungewollt und ungewöhnlich albern.“ 28 Doch es mußten nicht immer tödliche Ereignisse sein, die die Soldaten an der West- und Ostfront bis ins Herz berührten. Schon allein der Abschuß Ebd. 136. Alexander Moritz Frey, Die Pflasterkästen. Ein Feldsanitätsroman [1929]. Leipzig/ Weimar 1984, 201f. 27 28

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aus einem Artilleriegeschütz, das auf der gegnerischen Seite Trauma, Tod und Verderben bringen würde, gewinnt in der fiktionalen Darstellung bei Schauwecker eindrücklich biologistisch Gestalt: „Der Krach des Abschusses sprang ihm in alle Fasern, bis in Herzkammer und Mark in den Knochen. Aber er sah nicht, ob er getroffen hatte. […] Sein Nachbar schoß vielleicht auf denselben Mann, der für sie hier nur ein Punkt war, ein Teilchen, ein Blutkörperchen in einem mächtigen Körper, ja, bei Gott, nur eine verloren abseitige Zelle, auf die allein es nicht weiter ankam. Da schoß eine Zelle auf eine andere. Zwei Körper bekämpften sich. Jede ihrer Zellen nahm teil an dem Kampf.“ 29 Alexander Freys bereits erwähnter Roman „Pflasterkästen“ gehört in die Reihe der pazifistischen Kriegsromane der Weimarer Republik und fand daher in der Linken begeisterte Rezensenten, so etwa Carl von Ossietzky (1889–1938), der in der „Weltbühne“ 1929 bemerkt: „Dieses Buch kann nicht mißverstanden werden. Denn es sucht den Krieg dort, wo das Pathos aufhört: – auf dem Verbandsplatz. Wo das Blut im Schmutz verrinnt, wird nichts Heroisches mehr vorgespielt. Hier ist die Abdeckerei der eisernen Zeit. Hier ist der Ort, der vom Schreibtisch her, wo die ideologischen Verteidigungen des Kriegs geformt werden, nicht gesehen wird.“ 30 Blut spielt in allen Kriegsromanen der Zeit, in den patriotisch kriegsverherrlichenden wie in den pazifistischen, eine herausragende Rolle. Es ist ein merkwürdiger Mythos, der diesen besonderen Körpersaft zum Bersten auflädt. Es ist das Blut, das pulsend aus der Wunde schießt, Blut, das dem Vaterland geopfert wird, Blut, das sich in fremden Boden ergießt und dadurch Ansprüche des Sieges besiegelt, wie bei Hans Zöberleins „Der Glaube an Deutschland“ (1931) oder auch in Josef Magnus Wehners (1891–1973) pathetisch-nationalem Kriegsroman „Sieben vor Verdun“ (1930), in dem sich während einer Schlachtpause vor Verdun der „lange Werner“ erhebt und seinen sechs Kameraden eine biologistische Lektion in deutscher Geschichte erteilt: „Jetzt bluten wir hier, wo unsere Vorfahren gepflügt haben. Das Reich, das ist das deutsche Reich, und das ist überall, wo wir einst waren. Sie haben es abgebröckelt und verschlungen und der Name Reich ist fast verklungen. Deutsches Reich – ist das jenes unregelmäßige Viereck zwischen den Festungen der Natur und den Grenzen unseres Willens? Ist das jener kleine Leberfleck innerhalb unserer StaatsgrenEbd. 80. Carl von Ossietzky, Die Pflasterkästen, in: Die Weltbühne v. 30.4.1929, 686f., hier 686. 29 30

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zen? Wir haben nicht Platz, wir haben nicht Raum. Wir müssen hinaus, bewußt und geschlossen. Kein Tropfen unseres Blutes darf mehr in fremden Völkern untergehen, wie die Jahrhunderte hinauf, bis jetzt. Die Wanderung beginnt wieder, wir sind die äußerste Welle. Und wo wir stehen, da ist deutsches Reich. Das ist für mich der Sinn des Krieges.“ 31 Daß der Krieg sein „Blutopfer“ fordern würde, ist den Soldaten von der ersten Minute des Kampfes an bewußt. „Er schien uns männliche Tat, ein fröhliches Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen. ‚Kein schönrer Tod ist auf der Welt…‘ Ach, nur nicht zu Haus bleiben, nur mitmachen dürfen!“ 32, räsonieren die jungen Rekruten vor der Schlacht in Flandern bei Ernst Jünger. Die Realität des Blutes holt sie indessen bald ein, in der Gestalt „blutüberströmter“ 33 Soldaten, „blutiger Zeug- und Fleischfetzen“ 34, zum Himmel starrender „blutbesudelter Vollbärte“ 35 oder als die „Wärme des reichlich strömenden Blutes“ 36, die davon kündet, daß man verwundet ist. Daß aber selbst Bluterlebnisse der eigenen Traumatisierung kindheitsbiographisch positiv besetzt erlebt und ästhetisierend wiedergegeben werden können, wird in Georg von der Vrings (1889–1968) Roman „Soldat Suhren“ (1928) verspielt und in der Banalität der Wiedergabe beinahe grotesk erzählt. Dem Ich-Erzähler schlägt an der russischen Front „etwas wie die große behaarte Hand [seines] Schreiblehrers gutmütig und riesenhaft gegen meinen Ellbogen“. Er ist verwundet: „Aus meinem rechten Arm fließt Blut. Auf dem Boden bildet sich eine Blutlache und vergrößert sich rasch. Ich lasse den Arm hängen, lege die Finger wie beim Schreiben zusammen, und nun rinnt der rote Faden Blut mitten in die Lache hinein. Das ist ein Spiel, welches müde macht. Der Fleck auf dem weißen Kreideboden wird groß und hat die Form eines Sonnenschildes. Dann beginnt das Blut zu tröpfeln. Von der runden Blutlache aber zweigt sich jetzt ein Bach ab, rinnt nach rechts, trifft auf kleine Steinhöcker und zerteilt sich in winzige Adern, die der Boden aufsaugt und trocknet – und nun ist es kein Sonnenschild mehr. Ich versuche, meine blutumflossene Hand zu heben. Sie ist schwer, aber ich bringe sie auf meine Knie, rot und klebrig liegt sie dort.“ 37 31 32 33 34 35 36 37

Josef Magnus Wehner, Sieben vor Verdun. Ein Kriegsroman. München 1930, 142. Jünger, In Stahlgewittern (wie Anm. 7), 7. Ebd. 8. Ebd. 26. Ebd. 27. Ebd. 35. Georg van der Vring, Soldat Suhren. Berlin 1928, 376.

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Verglichen mit dem Topos des vergossenen Blutes wird im Kriegsroman erstaunlich selten der zeitgenössische und für die Kriegspsychiatrie der Jahre 1914 bis 1918 so typische Nerven-Diskurs aufgenommen. Es ist dies allerdings erklärlich, denn das psychische Kriegstrauma ist dramatisch negativ als Kriegshysterie, als Simulantentum, als selbstsüchtige, zur Flucht vor der Front verhelfende Feigheit, konnotiert. Dabei traten gerade psychische Traumatisierungen im Laufe des Kriegsgeschehens bei den Soldaten aller beteiligten Kriegsparteien besonders in den andauernden Stellungskämpfen und Materialschlachten an der französischen und belgischen Front in großer Zahl auf. „Kriegsneurose“ ist die sich im Ersten Weltkrieg in der ärztlichen Terminologie 38 durchsetzende Bezeichnung für psychosomatische Erkrankungsbilder infolge des Kampfeinsatzes. Daneben gab es freilich in der Fachliteratur eine ganze Gruppe weiterer Bezeichnungen wie die Traumatische Neurose, die Zweck- und Schreckneurose, den Granat-(Shell-)Schock oder die Kriegshysterie, die im Grunde alle das gleiche meinten: somatisch-neurogene Erkrankungsbilder, die – durch plötzliche Kriegsereignisse ausgelöst – auch zu einer posttraumatischen Verhaltensveränderung der Soldaten führten und ihre eindrücklichste Ausprägungsform in den umgangssprachlich als „Kriegszitterer“ oder einfach als „Schüttler“ bezeichneten und stigmatisierten Kriegsopfern fanden. Selbst bei vorsichtigen Schätzungen dürfen wir heute allein für Deutschland von etwa 200 000 Kriegsneurotikern ausgehen 39. Das zeitgenössische Zerrbild des kriegstraumatisierten Soldaten, der angstgeschüttelt und zitternd nur seiner Neurose lebt, nicht aber dem Volk und dem „gerechten“ Sieg, steht im Roman für den inneren Feind des ängstlichen, widerwilligen Kämpfers, auch für den Verlust der Männlichkeit, und wird im Makrokosmos des Krieges mit der Niederlage des Volkes im Kampf schlechthin identifiziert. 40 In der Novellensammlung „Menschen im Krieg“ (1918) von Andreas Latzko (1876–1943), der aufgrund dieser Sammlung und seines Romans „Friedensgericht“ (1918) des Defätismus bezichtigt und von der österreichischen Armee degradiert wurde (beide Bücher waren in Deutschland verboten!), wird ein solcher Kriegstraumatisierter vorgestellt, der soeben aus der mörderischen Isonzo-Schlacht zurückgeFrank Lembach, Die „Kriegsneurose“ in deutschsprachigen Fachzeitschriften der Neurologie und Psychiatrie von 1889 bis 1922. Diss. Heidelberg 1999. 39 Vgl. Bernd Ulrich, Kriegsneurosen, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg. 2., durchges. Aufl. Paderborn/München/Wien 2004, 654–656. 40 Vollmer, Schlachtfelder (wie Anm. 1), 213. 38

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kehrt ist: „Landsturmmann mit gelichtetem Hinterkopf, bekannter Opernkomponist in Zivil, saß versunken, mit zuckenden Gliedern und unstet irrenden Augen auf seiner Bank, ohne Anteil zu nehmen am Gespräch. Er war vor einer Woche erst eingeliefert worden, mit einer schweren Nervenerschütterung, die er sich auf dem Doberdo-Plateau geholt. In seinem Blick kauerte noch das Grauen.“ 41 Den mahnenden Worten des Leutnants, der an den drohenden Verlust des Ansehens bei der „tapferen“ Ehefrau in der Heimat erinnert und so zugleich den drohenden Verlust heldenhafter Männlichkeit anmahnt, kann er nicht folgen: „Alle müssen gehen! Wer nicht geht ist ein Feigling, und einen Feigling wollen sie nicht haben. Das ist’s ja! Verstehst Du nicht? Jetzt sind Helden modern. […] Und auf einmal, weil die Mode gewechselt hat, wollen sie Mörder haben. Verstehst Du das?“ 42 Doch der Landsturmmann versteht es nicht.

IV. Der Krieg in der Lyrik Das Weltkriegserleben wird außerordentlich intensiv vom Kriegsbeginn 1914 bis in die frühen 1920er Jahre auch in der Lyrik verarbeitet. Dabei tritt allerdings die kritische Reflexion der traumatischen Erfahrungen deutlich hinter die kriegsbegeisterte, anfeuernde, aber auch patriotisch mahnende Lyrik zurück. Gerade England wird immer wieder Ziel der Propaganda, auch in der ärztlichen Zeitschriftenliteratur. In der „Münchener Medizinischen Wochenschrift“ veröffentlicht der Münchner Frauenarzt und Sanitätsrat Max Nassauer (1869–1931) am 10. November 1914 etwa sein Gedicht „Im Nebel nur wagt es Engeland“, das hier stellvertretend für die kriegsbegeisterte Lyrik zu Kriegsbeginn stehen soll 43: Wenn stinkender Nebel niederflennt, Dann ist es Englands Element! Es streckt die schleimigen Fühler aus Und schleicht heran um Hof und Haus. Doch wenn der Sturm die Nebel zerreißt, Und sie in tausend Fetzen zerschmeißt,

41 42 43

Andreas Latzko, Menschen im Krieg. Zürich 1918, 15. Ebd. 28f. Münchener Medizinische Wochenschrift, Jg. 1914, Nr. 14, 2231.

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Zieht Deutschland seine Flagge hoch Und stürzt sich ins englische Nebelloch! Die deutsche Kraft, der deutsche Zorn Nimmt den Polypen sich aufs Korn Und braust einher im ehrlichen Sturm, Zerschmetternd den erbärmlichen Wurm. Von patriotischem Schwulst dieser Art waren in den ersten Kriegsmonaten nicht nur die Tageszeitungen voll. Er fand sich auch in den Begleitund Ermunterungsbroschüren, die Rotkreuzschwestern in ihre Ausrüstungskoffer gelegt wurden. Wie allerdings der katastrophale Kriegsverlauf und das Verbluten der Truppen im westlichen Stellungskrieg die Tendenz der Lyrik von der propagandistischen Aufpeitschung in die Aufforderung zu nachdenklichem, ja fast andächtigem Schweigen veränderte, belegt ein Gedicht des Romanciers und Kriegsbarden Paul Enderling (1880–1938), das 1917 Eingang in ein gedrucktes „Kriegstagebuch“ der Schwestern des Badischen Frauenvereins vom Roten Kreuz fand. Enderlings Gedicht „Heilige Zeit“ sollte den jungen Frauen, die nun bereits im vierten Kriegsjahr ihre Freunde, Verlobten und Ehemänner verloren, Mut zusprechen und die Weihe des Krieges, die Weihe der „heiligen Zeit“, betonen: Dämpfe Dein Lachen, allzu hell und froh! Denke: ein Deutscher fällt jetzt irgendwo. Ein glühendes junges Leben ward starr und kalt Fern in Polens Sumpfe, im Argonner-Wald. […] Heilig jede Stunde voll Wunden und Leid Heilige Wunde in dieser Zeit: Der dort in der Fremde zu früh verblich Denke daran – er starb für Dich, für Dich. 44 Von „glühenden jungen Leben“ wie bei Enderling war in der expressionistischen Anti-Kriegsliteratur keine Rede. Hier trat, etwa bei Ernst Weiß, Wilhelm Klemm oder Gottfried Benn, das Grauen der leiberzerfetzenden Kriegsmaschinerie und die steinerweichende, herzzerreißende, kolonnenfressende Brutalität des Schlachtfeldes ganz in den Vordergrund. Wilhelm Paul Enderling, Heilige Zeit, in: Emilie Albrecht, Aus meinem Kriegs-Tagebuch. Badischer mobiler Lazarett-Trupp, 2. Zug. Heidelberg 1917, 37–39.

44

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Klemm (1881–1968), der als Oberarzt an der Westfront den Krieg erlebte, verfaßte unter diesen Eindrücken erste expressionistische Gedichte. Seine überwiegend kurze Lyrik ist gekennzeichnet von einer minimalistischen, ausdrucksstarken Sprache, die sich häufig keinen festen Regeln unterwirft. Typisch hierfür sind die in seinem Band „Aufforderung“ (1917) veröffentlichten Gedichte, die zunächst in der „Aktion“ erschienen waren, einer von Franz Pfemfert (1879–1954) zwischen 1911 und 1932 herausgegebenen literarischen und politischen Zeitschrift, die dem Expressionismus zum Durchbruch verhalf und für eine undogmatische linke Politik stand. Inhaltlich verkörpern Klemms Texte die Zerrissenheit der Moderne im Krieg. „Oh meine Zeit! So namenlos zerrissen, So ohne Stern, so daseinsarm im Wissen“, heißt es in einem Gedicht dieses Bandes. Das Nekrotop der Schlachtfelder im Westen beschreibt sein Gedicht „Schlacht an der Marne“ 45 aus dem Jahre 1914: Langsam beginnen die Steine sich zu bewegen und zu reden. Die Gräser erstarren zu grünem Metall. Die Wälder, Niedrige, dichte Verstecke, fressen ferne Kolonnen. Der Himmel, das kalkweiße Geheimnis, droht zu bersten. Zwei kolossale Stunden rollen sich auf zu Minuten. Der leere Horizont bläht sich empor. Mein Herz ist so groß wie Deutschland und Frankreich zusammen, Durchbohrt von allen Geschossen der Welt. Die Batterie erhebt ihre Löwenstimme Sechsmal hinaus in das Land. Die Granaten heulen. Stille. In der Ferne brodelt das Feuer der Infanterie, Tagelang, wochenlang.

V. Im Lazarett Während in der „Schlacht an der Marne“ der Soldat als Opfer des traumatisierenden Szenarios noch ganz in der abstrakten „Kolonne“ verborgen bleibt, wird er in Wilhelm Klemms Gedicht „Lazarett“ bedrückend, fast bedrohlich konkret. Aus der Perspektive des Arztes eröffnet sich der Blick auf das tägliche Grauen, wie es sich in frontnahen Lazaretten alltäglich ausdrückte, denn „Jeden Morgen ist wieder Krieg“:

45

Die Aktion 4, 1914, 38.

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Jeden Morgen ist wieder Krieg. Nackte Verwundete, wie auf alten Gemälden. Durcheiterte Verbände hängen wie Guirlanden von den Schultern. Die merkwürdig dunklen, geheimnisvollen Kopfschüsse. Die zitternden Nasenflügel der Brustschüsse. Die Blässe der Eiternden. Das Weiße in den vierteloffnen Augen der nahe dem Tode. Das rhythmische Stöhnen von Bauchgetroffenen. Der erschrockene Ausdruck in toten Gesichtern. Die Bauchrednerstimme der Tetanuskranken. Ihr starres, qualvolles Grinsen, ihr hölzernes Genick. Die Fetzen geronnenen Blutes, auf denen man ausgleitet. 46 Der symptomatologische „Hippokratismus“ Klemms, der sich bis auf zwei Zeilen des Gedichts in konkretistischen Aufzählungen ausdrückt, die das Szenario des Lazarettsterbens unpathetisch skizzieren, reduziert die physisch Traumatisierten auf ihre Diagnosen: die Kopfschüsse, die Brustschüsse, die Eiternden, die Bauchgetroffenen, die grauen toten Gesichter (facies Hippocraticae), die Tetanuskranken. Der einzelne Verwundete verbleibt so in der Gruppe der Symptomgleichen, die abstrahierende ärztliche Distanz ist gewahrt; und doch wird das Grauen des Einzelschicksals in den Adverbialkonstruktionen des Gedichts faßbar: der auf seine Körperlichkeit reduzierte nackte Verwundete, die zitternden Nasenflügel, das rhythmische Stöhnen, der erschrockene Ausdruck, qualvolles Grinsen. Distanz und Nähe formen so in der Gesamtgestalt des Gedichtes das Konkrete des Traumas und die Unmittelbarkeit des bevorstehenden Todes. Der zweite Teil des Gedichts beginnt mit der Zeile „Die Skala der Gerüche“, wobei der angesprochene Geruchssinn hier nur stellvertretend für alle Sinne des Beobachters steht, die auf die geöffnete Bühne des frontnahen Lazarettbetriebes gelenkt werden. Die Imagination des Lesers wird auf diese Weise bis hin in den Bereich der vermeintlich haptischen Wahrnehmung gereizt, das Szenario rückt als belebtes Genre-Bild in greifbare Nähe; Verwundete bewegen und artikulieren sich auf die ihnen eigentümliche Weise, einer hockt wie ein „großer, kranker, nackter Vogel“ als menschliche, noch lebende Metapher des Todes auf seinem Lager; andere wimmern, schreien, Wilhelm Klemm, Lazarett, in: Franz Pfemfert (Hrsg.), Das Aktionsbuch. Berlin-Wilmersdorf 1917, 123f. Dazu auch Ingrid Kästner, Das Weltkriegserlebnis in der expressionistischen Dichtung von Ärzten, in: Wolfgang U. Eckart/Christoph Gradmann (Hrsg.), Die Medizin und der Erste Weltkrieg. 2. Aufl. Herbolzheim 2003, 57–69. 46

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jammern, flehen noch, bis Schnappatmung einsetzt und auf schweißnasse „graue Gesichter die Nacht sich senkt“, die Nacht des Todes. Schweigendes Heldentum und rührender Patriotismus verlieren angesichts der hoffnungslosen Tristesse der Situation jedes Pathos und werden zu „rührenden“ Gesten verführter Opferbereitschaft, letzter hilfloser Versuche, dem Wahnsinn einen Opfersinn zuzusprechen. Doch solche Opfer bleiben unbedankt, und die Erinnerung an sie ist so vergänglich wie „zwei Latten über Kreuz“. Die Skala der Gerüche: Die großen Eimer voll Eiter, Watte, Blut, amputierten Gliedern, Die Verbände voll Maden. Die Wunden voll Knochen und Stroh. Einer hockt auf dem stinkenden Lager Ein großer, kranker, nackter Vogel. Ein andrer Weint wie ein Kind: Kamerad hilf mir doch! Der schonende Gang der Arm- und Schulterbrüche. Das Hupfen der Fuß- und Wadenschüsse, das steife Stelzen der ins Gesäß geschossenen. Das Kriechen auf allen Vieren. Ein Darm hängt heraus. Aus einem zerrissenen Rücken quoll die Milz und der Magen. Ein Kreuzbein klafft um ein Astloch. Am Amputationsstumpf brandet das Fleisch in die Höhe. Pilzartig wuchernd Ströme von hellgrünem Eiter fließen; über das Fleisch hinausragend pulsiert der unterbundene Arterienstamm. Das fürchterliche, klonische Wackeln des ganzen Stumpfes, und das Geheul, das Wimmern und Schreien, das Jammern und Flehen, Das schweigende Heldentum und rührende: „fürs Vaterland“. Bis das Schnappen nach Luft kommt, – und der perlende Schweiß, und auf graue Gesichter die Nacht sich senkt – Soldatengrab – zwei Latten über Kreuz gebunden. 47 Angesichts solcher Erfahrungen schwinden auch bei den Ärzten alle Hoffnung und jeder Glaube; Gedanken lösen sich auf; Lebenskraft und Überlebenswille erlöschen. Die Ärzte sind selbst durch die ununterbrochene Konfrontation mit dem physischen und seelischen Trauma der ihnen zur Sterbebeobachtung und zur Begleitung durch Todesqual und Kampf der Agonie militärisch anbefohlenen Soldaten zutiefst verletzt und orientierungslos. Das lyrische Ich in Wilhelm Klemms Gedicht „Stunde“ (1917) 47

Klemm, Lazarett (wie Anm. 46), 123

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kann „an nichts mehr glaube[n]“ und ist „so vollkommen aller Hoffnung auf Erlösung und Freiheit beraubt […], daß jeder Gedanke in Nichts zerrinnen müßte“. 48 Das Lazarett wird in der Prosa des Kriegsromans auf erstaunlich niedrigem Niveau dramatisiert. Es finden sich wohl in fast allen Kriegsromanen kürzere Erwähnungen, längere Lazarettpassagen freilich besitzen Seltenheitswert, wenn sie nicht wie in „Pflasterkästen“ zum Programm der Dramaturgie gehören. Erich Maria Remarques ausgedehnte narratio vom Lazarettbetrieb „Im Westen nichts Neues“ ist hier vielleicht eine der wenigen Ausnahmen. Schon der Lazarettzug aus der Etappe in die nahe rheinische Heimat nach Köln ist bei Remarque verglichen mit dem Graben eine vollkommen andere Welt, eine Welt geordneter Sauberkeit, einer neuen Leiblichkeit und – zumindest auf den ersten Blick – auch eine Welt der fast vergessenen Weiblichkeit: „,Um Gottes Willen‘, entfährt es mir plötzlich. ,Was ist denn‘, fragt die Schwester. Ich werfe noch einen Blick auf das Bett. Es ist mit schneeweißem Leinen bezogen, unvorstellbarem Leinen, das sogar noch die Plättkniffe hat.“ 49 Indes ist auch das Lazarett kein Paradies: Es ist der Ort der spontanen Rückbesinnung an das Grauen des Grabenkrieges, es ist ein Ort des Fieberns, der therapeutischen Verstümmelung durch Amputation, ein Ort auch des permanenten Sterbens. Der Soldat im Lazarett findet, häufig genug zum ersten Mal nach der Schlacht, Gelegenheit, seinen verletzten, veränderten Körper zu erfühlen und zu betrachten. Auch seine traumatisierte Seele rückt nun ins Bewußtsein. Keine der Millionen Lazarettpostkarten, die zwischen August 1914 und November 1918 dort geschrieben werden und Soldaten in sauberen Betten, zwischen schmucken Krankenschwestern, gemeinsam mit anderen genesenden Bandagierten in der gestellten Gruppenaufnahme, Soldaten beim Skatspielen, Bier- und Weintrinken, beim Musizieren und im Theaterspiel posieren lassen und in harmlosen Kurznotizen auf der Textseite fast nur Gutes künden, läßt diesen Alltag auch nur erahnen. Und doch kennt ihn jedermann. „Auch dem kleinen Peter geht es schlechter. Seine Fiebertafel sieht böse aus, und eines Tages steht neben seinem Bett der flache Wagen.“ Alle wissen, daß es mit dem hochfiebrigen Lungenschuß sterbensschlecht um den jungen schwarzen Krauskopf steht. Als die Schwestern dann auch noch seinen feldgrauen „WaffenWilhelm Klemm, Stunde, in: Pfemfert (Hrsg.), Das Aktionsbuch (wie Anm. 46), 240. Zit. nach Kästner, Weltkriegserlebnis (wie Anm. 46), 63. 49 Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues. Köln 1984, 221. 48

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rock“ von der Wand nehmen, weiß er, daß es nicht in den „Verbandsraum“, sondern ins „Sterbezimmer“ geht: „Vor der Tür versucht er sich aufzurichten. Sein schwarzer Krauskopf bebt, die Augen sind voll Tränen. ,Ich komme wieder! Ich komme wieder!‘, ruft er. Die Tür schließt sich. Wir sind alle erregt; aber wir schweigen. Endlich sagt Josef: ,hat schon mancher gesagt. Wenn man erst drin ist, hält man doch nicht durch‘.“ 50 Ähnlich wie bei Klemm werden auch bei Remarque verletzte Soldaten auf ihre Diagnosen reduziert und so auf eine Weise depersonalisiert, die Distanz schafft. „Im Stockwerk tiefer liegen“, wie Remarques Protagonist auf Krücken das Spital erkundend bald feststellt, „Bauch- und Rückenmarkschüsse, Kopfschüsse und beiderseitig Amputierte. Rechts im Flügel Kieferschüsse, Gaskranke, Nasen-, Ohren- und Halsschüsse. Links im Flügel Blinde und Lungenschüsse, Beckenschüsse, Gelenkschüsse, Nierenschüsse, Hodenschüsse, Magenschüsse. Man sieht hier erst, wo ein Mensch überall getroffen werden kann. […] Man kann nicht begreifen, daß über so zerrissenen Leibern noch Menschengesichter sind, in denen das Leben seinen alltäglichen Fortgang nimmt. […] Erst das Lazarett zeigt, was der Krieg ist.“ 51

VI. Verzweiflungen Auch Gottfried Benn (1886–1956), der zwar dem unmittelbaren Kriegsgeschehen im Westen als Militärarzt in einem Brüsseler Prostituiertenkrankenhaus ferner, indes zur Anwesenheit bei Exekutionen verpflichtet war, ist noch in den frühen 1920er Jahren vom Kriegserleben und seiner literarischen Verarbeitung zutiefst erschöpft, am Leben verzweifelt und den Menschen entfremdet. Im August 1921 schreibt er: „Wie soll man da leben? Man soll ja auch nicht. Vasomotorisch labil, neurotisch inkontinent, ecce am Kadaver und ecce an der Apokalypse, Schizothymien statt Affekte, statt Fruchtbarkeit Aborte in alle Himmelsstriche, autopsychisch solitär, faulig monokel, polyphemhaft an den Hammelstücken, die ihre Beute unten tragen: am Bauch, nicht an den absoluten Graten; fünfunddreißig Jahre und total erledigt, ich schreibe nichts mehr – man müßte mit Spulwürmern schreiben und Koprolalien; ich lese nichts mehr – wen denn? die alten ehrlichen Titaniden mit dem Ikaridenflügel im Stullenpapier? […] rührend das 50 51

Ebd. 232. Ebd. 235f.

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Bild des Abendländers, der immer noch und immer wieder, und bis der Okzident in Schatten sinkt, dem Chaos gegenübertritt mit seiner einzigen Waffe, dem Begriff, der Schleuder, davidisch, mit der er um sein Leben kämpft […]. Vielleicht daß aus den Fratzen Menschen werden, aber wie sie auch werden mögen: ich liebe sie nicht. […] Ich denke keinen Gedanken mehr zu Ende […].“ 52 Und an anderer Stelle: „Mir gehts heute miserabel. Vollkommen dezentralisiert, überarbeitet, verludert.“ 53 Benn hat die Erfahrungen des Krieges im Sinne der persönlichen und kollektiven Erinnerung in einer Reihe seiner Gedichte während des Krieges und in der Nachkriegszeit verarbeitet. Die Folge dieser Dokumente beginnt mit „Karyatide“ (1916) 54, in der die Verzweiflung der antiken Säulenfiguren beschieben wird, die nicht mehr in der Lage sind, das Gesims des Tempels, der Welt, zu tragen und daran zerbrechen (wollen): „Entrücke dich dem Stein! Zerbirst/Die Höhle, die dich knechtet!“ In „Durch’s Erlenholz kam sie entlang gestrichen“ (1916) 55 wird im Gewehrschuß des schnepfenjagenden Pfarrers [!] die Technisierung des Krieges angedeutet. Sein Schuß, physikalisch kalt wie die anonym tötende Artillerie des westlichen Grabenkrieges, folgt den Gesetzen der Natur und trifft weit entfernt in brutaler Realität sein hilfloses, schnepfenartiges Opfer: „Bedenkung physikalischer Verhältnisse,/Luftdichte, Barometerstand, Isobaren – – –/[…] Eine Pranke in den Nacken der Erkenntnis,/Blutüberströmt zuckt ihr Plunder.“ Im Gedicht „In memoriam Höhe 317“ (1934) 56 wird der im Berg nachtenden Toten der Schlacht gedacht: „Von den Bergen, wo/Unbekannte nachten/nicht in Sarg und Stroh/Opfer aus den Schlachten –/wie die Stunde rinnt/spürst du’s nicht im Ohr;/eine Spinne spinnt/Netze vor das Tor.“ Und „Der Arzt II“ (1917) spiegelt den durch den Krieg verstärkten Zynismus Benns, der an der zur Fratze des Krieges entstellten Krone der Schöpfung zweifelt: Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch – : Geht doch mit anderen Tieren um!: Mit siebzehn Jahren Filzläuse, Zwischen üblen Schnauzen hin und her, Darmkrankheiten und Alimente, 52 Gottfried Benn, Gesammelte Schriften [Epilog]. Berlin 1922, 213f. Zit. nach ders., Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Frankfurt am Main 2001, 595. 53 Gottfried Benn an Gertrud Zenzes, 29.12.1921, in: ders., Gedichte (wie Anm. 52), 595. 54 Ebd. 81. 55 Ebd. 86. 56 Ebd. 252.

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Weiber und Infusorien, Mit vierzig fängt die Blase an zu laufen –: Meint ihr, um solch Geknolle wuchs die Erde Von Sonne bis zum Mond –? 57 Neben Orientierungsverlust und das Gefühl des Chaos tritt bei Benn die Verzweiflung über das entstellte Bild des Menschlichen, das – zur Symbiose mit dem niederen Tier gezwungen – jeder Hoffnung auf Gottähnlichkeit spottet. Bereits im Frühexpressionismus findet sich als bevorzugter Gegenstand das Häßliche als eine „kritische Desillusionierung des von der Kultur Ästhetisierten“. 58 Der Krieg hat jedem Ästhetisierungsversuch die Grundlage entzogen. Benn weiß um solche Versuche in der Literatur etwa durch Ernst Jünger, aber er steht ihnen fern. Er teilt mit ihm das Ecce Homo-Erleben des kriegerischen Jahrhunderts, in dem auf das Drama des Ersten das des Zweiten Weltkrieges folgt, nicht aber mehr. In einem „An Ernst Jünger“ 59 betitelten Gedicht des Jahres 1949 heißt es: „Wir sind von außen oft verbunden,/wir sind von innen meist getrennt,/doch teilen wir den Strom, die Stunden,/den Ecce-Zug, den Wahn, die Wunden/des, das sich das Jahrhundert nennt.“ Rettung vom häßlichen, traumatisierenden Potential des Krieges eröffnet nur der Tod auf dem Schlachtfeld oder gar die verzweifelte Tötung der Hoffnungslosen durch den Arzt wie bei Ernst Weiß. Der jüdische Schriftsteller Ernst Weiß (1882–1940), der 1914 bis 1918 als Regimentsarzt in Ungarn und Wolhynien am Krieg teilnahm, beschreibt in der Erzählung „Der Arzt“, wie ein Medizinstudent, der im Kriegslazarett zunächst um jedes Menschenleben verzweifelt ringt, denn „das menschliche Ungeziefer, das menschliche Gezücht zu lieben, hatte der Student erst begonnen“, am Ende aber doch einen Patienten, der „hilflos hatte […] bleiben sollen, verpestend die Welt und sich mit dem grauenhaftesten Jammer, nackt vor Hoffnungslosigkeit“, mit einer Sublimatspritze aus Mitleid tötet. 60 Die Erzählung erscheint 1919 in dem von Alfred Wolfenstein (1883– 1945) herausgegebenen Band „Die Erhebung“, der vielleicht wichtigsten theoretischen Sammlung des frühen literarischen Expressionismus und steht für die Auseinandersetzung mit dem Thema des Gnadentodes in auswegloser Situation. Ebd. 88. Thomas Anz, Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus. Stuttgart 1977. 59 Benn, Gedichte (wie Anm. 52), 364. 60 Ernst Weiß, Der Arzt, in: Alfred Wolfenstein (Hrsg.), Die Erhebung. Jahrbuch für Neue Dichtung und Wertung. Berlin 1919, 251–259. 57 58

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Ernst Weiß stand nicht allein mit seiner literarischen Imagination vom erlösenden Gnadentod der Verwundeten des Ersten Weltkriegs. Auch in der pazifistischen Textsammlung von Bruno Vogel (1898–1987) 61 „Es lebe der Krieg! Ein Brief“ (1925) erscheint das Motiv. Dem jungen Armierungssoldaten Szczepczyk sind im Gefecht die Geschlechtsorgane abgetrennt worden. „Verschämt“ berichtet er seinem Leutnant, daß er „noch nie Mädel gehabt“ habe. Daraufhin entschließt sich sein Vorgesetzter, der Ich-erzählende Protagonist der Erzählung, zum Gnadenakt: „Dankbar nimmt er eine Zigarette (er raucht gern), sacht streiche ich ihm über Haar und Stirn, lasse meine Hand auf seinen Augen liegen, ein kleines Lächeln formt seinen Mund, und ich stoße ihm fest die barmherzige Brutalität meines Seitengewehrs ins Herz. Eine Gebärde wie Niesenwollen geht über ihn hin, er ist erlöst. Ich habe einen Mord begangen.“ 62 Nur ein Jahr nach der Veröffentlichung der Erzählung von Weiß erschien die schmale Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens: ihr Maß und ihre Form“ 63 des Juristen Karl Binding (1841–1920) und des Psychiaters Alfred Hoche (1865–1943). Als Weiß – er war 1933 nach dem Reichstagsbrand über Prag nach Paris vor der Verfolgung der Nationalsozialisten geflohen – am 14. Juni 1940 den Einmarsch der deutschen Truppen in Paris von seinem Hotel aus miterleben mußte, beging er Selbstmord. Weiß schnitt sich in der Badewanne seines Hotelzimmers die Pulsadern auf, nachdem er Gift genommen hatte, und starb am folgenden Tag im Krankenhaus.

VII. Zusammenfassung Das körperliche und seelische Erleben des Krieges in Verwundung und Sterben als Trauma, so konnte gezeigt werden, war ein bestimmendes EleBruno Vogel war ein überzeugter Atheist, Anarchist und Pazifist. In Berlin gründete er zusammen mit Kurt Hiller die Gruppe Revolutionärer Pazifisten (GRP), die ihm zur geistigen Heimat wurde. 1931 emigrierte Vogel nach Österreich. Zunächst lebte er dort als Übersetzer von Kriminalromanen, übersiedelte dann über die Schweiz und Frankreich nach Norwegen, von wo er 1935, nachdem die von Deutschland gegen ihn verhängte Paßsperre aufgehoben worden war, nach Südafrika auswanderte. Als Kriegsfreiwilliger kämpfte er 1942–1944 gegen Deutschland. Wegen Verstößen gegen die Rassengesetze emigrierte Vogel 1953 zum zweiten Mal, nun nach London, wo er bis zu seinem Tod am 5. April 1987 lebte. 62 Bruno Vogel, Es lebe der Krieg! Ein Brief. 3. Aufl. Leipzig 1926, 23f. 63 Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Leipzig 1920. 61

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ment des deutschen Kriegsromans und der Kriegslyrik der Jahre 1914 bis 1939. In ihm brachen sich Abscheu vor den „Scheußlichkeiten“ des Krieges in pazifistischer Absicht ebenso wie das heroisierende männliche Körperopfer in patriotischer, den Krieg verherrlichender Perspektive. Die wenigen Beispiele aus der erdrückenden Fülle des literarischen Schaffens jener Jahre – ganz unabhängig von ihrer politischen Tendenz – zeigen bereits, daß die Körperlichkeit der Schlachterfahrung, ob in authentischer Erinnerung oder in imaginativer Konstruktion, ihr Lesepublikum erreicht haben muß. Kein anderes Medium der Zeit war so auflagenstark und vermutlich so wirkmächtig wie das des Soldatenkörpers auf den Schlachtfeldern des Westens und Ostens. Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit der körperlichen traumatischen Erfahrung standen für das kollektive Erleben und Erinnern einer ganzen Männergeneration, die sich in der Weimarer Republik als verloren oder im heldenhaften Aufbruch befindlich deutete. Auf genau dieser Erfahrung des vergossenen Blutes und des nationalen Opfergangs konnten die diktatorischen Machthaber des „Dritten Reichs“ ideologisch aufbauen und im Rückgriff auf sie sowohl die brutale biologische Umgestaltung der deutschen Gesellschaft als auch die mentale Vorbereitung und Begleitung des neuen Krieges gestalten.

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Ernst Jüngers Reflexionen des Ersten Weltkriegs Tendenzen und Probleme Von

Helmuth Kiesel I. Ernst Jünger, der sich am 4. August 1914 als neunzehnjähriger Gymnasiast freiwillig beim Hannoveraner Füsilier-Regiment 73 zum Kriegsdienst meldete, nach dem Notabitur und einer dreimonatigen Ausbildung am 1. Januar 1915 in der Nähe von Reims an die Front kam und das Kriegsende als vierzehnmal verwundeter Leutnant und Träger des höchsten preußischen Kriegsordens „Pour le Mérite“ erlebte, hat in der Zeit der Weimarer Republik ein umfang- und variantenreiches Werk über den „Großen Krieg“ vorgelegt. 1 Bereits 1920 erschien im Selbstverlag sein erstes und zugleich berühmtestes Kriegsbuch „In Stahlgewittern“ mit dem Untertitel „Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers“: ein Authentizität beanspruchender und umfassender Bericht über den Kriegseinsatz des Verfassers. Das Buch zählte 181 Seiten und hatte eine Auflage von 2000 Exemplaren. Bis zum Ende der Weimarer Republik, genauer: bis 1934, erschienen dreizehn Auflagen (ab der zweiten im traditionsreichen Berliner Militaria-Verlag Mittler & Sohn), und es wurden insgesamt rund 51000 Exemplare abgesetzt. Dreimal, nämlich 1921/22, 1923/24 und 1932/33, hat Jünger den Text in dieser Zeit überarbeitet. Auf die „Stahlgewitter“ folgte 1922 „Der Kampf als inneres Erlebnis“: ein expressionistisch angehauchter und gedanklich forcierter Versuch, auf 116 Seiten die wichtigsten Faktoren und Aspekte des Kriegs systematisch zu beschreiben. Die Kapitelüberschriften lauten „Blut“, „Grauen“, „Der Graben“, „Eros“, „Pazifismus“, „Mut“, „Landsknechte“, „Kontrast“ (des 1 Bibliographische Angaben nach Horst Mühleisen, Bibliographie der Werke Ernst Jüngers. Stuttgart 1996. Im übrigen vgl. Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007, 110–133 („Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg“) u. 135–261 („De bello maximo: der Kriegsschriftsteller“). – Jüngers Werke werden im folgenden so zitiert, wie es Sachlage und Perspektive verlangen, also nach den Erstausgaben bzw. nach überarbeiteten „Fassungen“ bzw. den „Sämtlichen Werken“, die mit Band- und Seitenzahl zitiert werden: Ernst Jünger, Sämtliche Werke. Bd. 1–18. Supplementbd. 1–4. Stuttgart 1978– 2003.

zivilen Lebens), „Feuer“, „Untereinander“, „Angst“, „Vom Feinde“ und „Vorm Kampf“. Eine zweite, stark überarbeitete Auflage erschien 1926, und bis 1933 wurden ungefähr 13000 Exemplare abgesetzt. Auf „Der Kampf als inneres Erlebnis“ folgte die Erzählung „Sturm“, die im April 1923 im „Hannoverschen Kurier“ in sechzehn Sequenzen publiziert wurde. Sie vergegenwärtigt auf rund sechzig Druckseiten den letzten Abend einer Gruppe von drei Offizieren, die im Gespräch ihren literarischen Neigungen frönen, bis ein englischer Angriff über sie hereinbricht. Die Erzählung „Sturm“ hat drei Dimensionen: Sie reproduziert die Schreckenserfahrungen an der Front; sie zeigt die barbarisierenden Auswirkungen des Kriegs und kontrastiert sie über die eingefügten novellistischen Skizzen des Leutnants Sturm mit Bildern eines kultivierten friedlichen Lebens; und sie reflektiert die Probleme der Kriegsdarstellung, die zugleich auch Probleme der Kriegsbewältigung sind. Anderthalb Jahre nach der Erzählung „Sturm“ erschien im Oktober 1924 (allerdings mit der Jahreszahl 1925) „Das Wäldchen 125“, eine auf rund 250 Seiten ausgeweitete Darstellung einer Episode, die in den „Stahlgewittern“ nur eine kurze Erwähnung gefunden hatte. Der Titel bezeichnet ein kleines Waldstück in der Nähe von Bapaume, das heftig umkämpft war und sich bald in deutscher, bald in englischer Hand befand. In der Form eines Tagebuchs schildert Jünger die massiven Beschießungen, die er im Sommer 1918 beobachten konnte, und die erbitterten Infanteriekämpfe um das Wäldchen. Eingeflochten sind Betrachtungen, die – unverkennbar aus der Zeit nach dem Krieg stammend – Resultate aus den Kriegserfahrungen zu ziehen suchen. Das „Wäldchen 125“ erschien 1930 in fünfter, 1935 in sechster Auflage. Bis 1933 dürften etwa 15000 Exemplare verkauft worden sein. Bald nach dem „Wäldchen 125“ folgte 1925 unter dem Titel „Feuer und Blut“ eine detaillierte Darstellung der Michael-Offensive vom März 1918. In den „Stahlgewittern“ waren ihr etwa 30 Seiten gewidmet worden; nun erhielt sie gut 190 Seiten, die dem, was in den „Stahlgewittern“ dargelegt worden war, allerdings nichts wesentlich Neues hinzufügten. 1929 erschien die vierte Auflage, 1935 die fünfte; die Zahl der verkauften Exemplare dürfte bis 1933 unter 10 000 gelegen haben. Geplant war ein weiteres, erzählerisches Kriegsbuch, das 1926 unter dem Titel „Ferdinand Dark. Der Landsknecht und Träumer“ angekündigt wurde, aber nicht zustande kam, vermutlich, weil Jünger sich in den Jahren zwischen 1925 und 1930 auf die Publizistik konzentrierte (abgesehen davon, daß er bis Mai 1926 in Leipzig Zoologie studierte) und für ein größeres Werk wohl kaum mehr Zeit und Ruhe fand. 2 Von 1925 bis 1930 ent266

standen rund 120 Aufsätze, die in Organen wie der „Stahlhelm“-Beilage „Die Standarte“, der von Kapitän Ehrhardt finanzierten Zeitschrift „Arminius. Kampfschrift für deutsche Nationalisten“ und schließlich auch in Ernst Niekischs Monatsschrift „Widerstand“ erschienen und zusammen ein stattliches Buch von rund 560 Seiten ergeben hätten. In gut zwanzig dieser Artikel sind Krieg, Soldatentum und Kriegsbücher Hauptthema; in vielen anderen ist zumindest beiläufig von ihnen die Rede. Mit den „Standarte“Artikeln konnte Jünger in den Jahren 1925/26 prinzipiell ein großes Publikum erreichen, da die Auflagenhöhe des „Stahlhelm“ bei etwa 170000 Exemplaren lag; die später genutzten Blätter erschienen dagegen nur in einer Auflagenhöhe von 2000 oder einigen Hundert. In welchem Umfang die „Standarte“-Artikel tatsächlich gelesen wurden und Wirkung erzielten, ist eine andere Frage. Ernst von Salomon, der in jener Zeit mit Jünger bekannt wurde, bemerkte 1951 in seiner Autobiographie „Der Fragebogen“, Jüngers Artikel seien „so geistvoll und so gläsern klar in der Diktion“ gewesen, daß die Leser sie „mit bedeutendem Respekt aus der Hand legten, mit Bewunderung und dem Gefühl, es genüge vollauf, wenn Jünger selbst sicher war, sie zu verstehen. 3 Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht auch, daß Jüngers Schriften in der militärtechnischen Debatte der zwanziger und dreißiger Jahre keine nennenswerte Rolle spielten; in Markus Pöhlmanns Untersuchung der deutschen Militärzeitschriften der zwanziger und dreißiger Jahre taucht der Name Jünger jedenfalls nur sehr vereinzelt auf. 4 Das große Interesse, das dem Krieg mit dem Jahr 1928 plötzlich wieder zukam und eine Flut von Kriegsbüchern entstehen ließ, veranlaßte auch Jünger zu neuen einschlägigen Buchprojekten. Noch 1928 gab er den Sammelband „Die Unvergessenen“ heraus: ein repräsentativ gestaltetes und gewichtig erscheinendes „Gedenkbuch“, das auf knapp 400 Seiten vierundvierzig Porträts von Gefallenen bietet, von Berufsoffizieren und Kampffliegern, aber auch Gelehrten und Künstlern. 1930 erschien unter dem Titel „Krieg und Krieger“ ein weiterer von Jünger herausgegebener Sammelband über den „Ersten Weltkrieg“, wie der Große Krieg in Erwartung eines weiteren Weltkriegs nun mehrfach genannt wird. Er umfaßt rund Vgl. Ernst Jünger, Politische Publizistik 1919 bis 1933. Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort v. Sven Olaf Berggötz. Stuttgart 2001. Vgl. dazu Kiesel, Jünger (wie Anm.1), 263–399. 3 Vgl. Ernst von Salomon, Der Fragebogen. Hamburg 1951, 293. 4 Vgl. Markus Pöhlmann, Von Versailles nach Armageddon. Totalisierungserfahrung und Kriegserwartung in deutschen Militärzeitschriften, in: Stig Förster (Hrsg.), An der Schwelle zum Totalen Krieg. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1919– 1939. Paderborn/München/Wien 2002, 323–391. 2

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200 Seiten, will eine „schöpferische Kritik“ des Kriegs bieten und enthält so bekannte Aufsätze wie Jüngers „Totale Mobilmachung“ und Werner Bests „Der Krieg und das Recht“. Zu guter Letzt wandte sich Jünger, unterstützt von dem Photographen Edmund Schultz, dem neuen Medium Photobuch zu und legte ebenfalls 1930 „Das Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten“ vor. Auf rund 320 Seiten will der Band in neunzehn Kapiteln zu Themen wie „Nachtmarsch“, „Trommelfeuer“, „Tanks“, „Offensive“, „Verwundet“, „Ein Tag in einer Artilleriestellung“, „Wie der Flieger den Krieg sah“ und mit rund 200 Photographien aus verschiedenen Archiven und dem „Großen Bilderatlas des Weltkrieges“ ein Panorama des Ersten Weltkriegs bieten und zugleich seine innovativen Momente (Tanks, Flieger) hervorheben 5; die epochale Neuartigkeit des Ersten Weltkriegs als eines „Arbeitskrieg[s]“ technischer oder industrieller Art hat Jünger im abschließenden Essay „Das große Bild des Krieges“ herauszuarbeiten gesucht. 6 Zu erwähnen ist schließlich noch, daß der Große Krieg und seine Auswirkungen auch in Jüngers erstem literarischen Werk, dem 1929 erschienenen „Abenteuerlichen Herzen“, immer wieder thematisiert werden, ebenso im „Arbeiter“ von 1932. Nach 1933 wurden die bis dahin entstandenen Kriegsbücher verschiedentlich neu aufgelegt und auszugsweise gedruckt. Neue Texte über den Ersten Weltkrieg schrieb Jünger nicht mehr, abgesehen von dem viereinhalbseitigen Bericht über den Kriegsausbruch 1914, den Jünger 1934 für die erste ihm gewidmete Biographie von Wulf Dieter Müller schrieb und der überraschend verhalten klingt. 7 Faßt man diesen Überblick unter quantitativem Aspekt zusammen, so ist festzuhalten: Zwischen 1920 und 1925 hat Ernst Jünger fünf berichtende oder erzählerische Kriegsbücher von insgesamt etwa 800 Seiten geschrieben, von 1925 bis 1930 thematisch einschlägige Zeitschriftenartikel und Sammelbandaufsätze von ungefähr 300 Seiten. Und von 1928 bis 1930 hat er drei Sammelbände zum Krieg mit insgesamt 920 Seiten herausgegeben, daneben zwei weitere zur Luftfahrt („Luftfahrt ist not!“) und zu den Nachkriegswirren („Der Kampf um das Reich“), die zwar nicht eigentlich dem Krieg gewidmet sind, aber doch einige thematische Bezüge aufweisen. Das ist – zunächst einmal – eine beachtliche schriftstellerische und publizisti5 Vgl. dazu Julia Encke, Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne 1914–1934. München 2006, 15–110 („Ernst Jünger, das Lichtbild und der gefährliche Augenblick“). 6 Vgl. Ernst Jünger (Hrsg.), Das Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten. Berlin 1930, 238–259. 7 Vgl. Jünger, Sämtliche Werke, Bd. 1 (wie Anm. 1), 541–545.

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sche Leistung, zumal wenn man berücksichtigt, daß Jünger 1920 nicht schon ein Routinier war, sondern ein Anfänger. Zu fragen bleibt, was die Motive und Ziele dieser dauerhaften und intensiven Thematisierung des Kriegs waren.

II. Auf diese Frage finden sich in Jüngers Texten vielerlei – direkt und indirekt gegebene – Antworten. Zunächst sei aber der Pazifist und Militarismuskritiker Kurt Tucholsky zitiert, der im Oktober 1927 in einem „Weltbühne“Artikel unter der Überschrift „Über wirkungsvollen Pazifismus“ auf das wohl wichtigste Motiv der seriösen Weltkriegsliteratur hinwies und damit wohl auch das benannte, was Jüngers schriftstellerische Reflexion des Weltkriegs primär in Gang hielt: „Kein Mensch vermag eine ganze Epoche seines Daseins als sinnlos zu empfinden. Er muß sich einen Vers darauf machen. Er kann seine Leiden verfluchen oder loben, zu verdrängen versuchen oder sie lebendig halten – aber daß sie sinnlos gewesen seien, das kann er nicht annehmen. Der Pazifismus hat seinen großen Augenblick versäumt, welcher das Ende des Jahres 1918 war. Wir haben den Millionen, die zurückgekehrt sind, kein seelisches Äquivalent für ihre Leiden gegeben – hätte man die Krüppel als Opfer einer Idee gefeiert, so wäre das im Menschen wohnende Element der lebensnotwendigen Eitelkeit Triebfeder zum Frieden, zur Kriegsverneinung geworden. Die andre Seite hat diese gebornen Agenten des Pazifismus eingefangen.“ 8 Es ist sehr die Frage, ob eine Umsetzung von Tucholskys taktischer Idee aufgegangen wäre und eine pazifizierende Wirkung entfaltet hätte. Daß ein großer Teil der Weltkriegssoldaten an militaristischem Denken festhielt, ist nicht nur darauf zurückzuführen, daß diese ehemaligen Soldaten ihre Leistungen und Opfer ignoriert fanden, sondern auch darauf, daß sie für die außen- und innenpolitischen Probleme der Gegenwart kaum andere Lösungen als militärische bzw. paramilitärische sahen, also kriegerische Auseinandersetzungen bzw. die Bildung paramilitärischer Gesellschaften. Der Sinn des Krieges lag für sie nicht darin, daß man Pazifist wurde, und die Lehre, die aus dem Krieg zu ziehen war, hieß für sie nicht, daß der Krieg Vgl. Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke in zehn Bänden. Reinbek 1985, hier Bd. 5, 338f. – In der Forschung wurde dieser Bewältigungs- und Sinngebungsaspekt besonders von Lars Koch, Der Erste Weltkrieg als Medium der Gegenmoderne. Zu den Werken von Walter Flex und Ernst Jünger. Würzburg 2006, bes. 211–213, betont.

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unter allen Umständen vermieden und geächtet werden sollte, sondern daß man aus dem verlorenen Krieg für einen siegreichen lernte und im übrigen den Krieg generell als „Schule“ für das Leben begriff – so Jünger im „Abenteuerlichen Herzen“ von 1929. 9 Das existentielle – und weiterhin anthropologische – Interesse, das Jüngers schriftstellerische Reflexion des Großen Kriegs ursprünglich motivierte und weiterhin beförderte, führte bei Jünger zunächst einmal zu dem Versuch, den Krieg auf der Basis der laufenden Tagebuchnotizen phänomenologisch scharf zu beschreiben, um sich der Qualität der gemachten Erfahrungen zu versichern und um diese den Zeitgenossen zu vermitteln. Hinzu traten aber andere Darstellungsabsichten, die sich mit der zunehmenden Distanz vom Krieg, mit der Entwicklung des Autors und des gesellschaftsgeschichtlichen Kontexts wandelten. Matthias Schöning hat unlängst darauf hingewiesen, daß in den Kriegsromanen der späten Weimarer Zeit generell eine Spannung zwischen der „ontologischen Dimension“, also der mehr oder minder realistischen Kriegsdarstellung, und der „pragmatischen Dimension“, also der intendierten Botschaft, herrscht. 10 Diese Spannung gibt es auch bei Jünger, und sie ist an den „Stahlgewittern“ besonders gut zu beobachten.

III. In der Erstausgabe von 1920 trägt Ernst Jüngers erstes Kriegsbuch „In Stahlgewittern“ den Untertitel „Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers“. Er suggeriert, es handle sich um Auszüge aus einem Front-Tagebuch, und annonciert mithin Authentizität. Die Wahrheit ist, wie man weiß, etwas komplizierter 11: Die „Stahlgewitter“ basieren zwar auf den fünfzehn Notizbüchlein, die Jünger sukzessive in der Rocktasche mit sich führte und fast täglich mit mehr oder minder umfangreichen Aufzeichnungen bedachte. Aber diese konnten nicht einfach abgedruckt werden, sondern mußten Vgl. Jünger, Sämtliche Werke, Bd. 9 (wie Anm. 1), 98. Vgl. Matthias Schöning, Programmatischer Modernismus und unfreiwillige Modernität. Weltkrieg, Avantgarde, Kriegsroman, in: Sabina Becker/Helmuth Kiesel (Hrsg.), Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Berlin/New York 2007, 347–366, hier 348. 11 Vgl. zum Folgenden außer Kiesel, Jünger (wie Anm. 1), 172–174, die grundlegende Studie von John King, „Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?“ Writing and Rewriting the First World War. Schnellroda 2003. Jüngers Fronttagebuch liegt mittlerweile in einer kommentierten Edition vor: Ernst Jünger, Kriegstagebuch 1914–1918. Hrsg. v. Helmuth Kiesel. Stuttgart 2010. 9

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überarbeitet, in der Schilderung einzelner Episoden ausgeweitet und um manche Momente ergänzt werden. Die chronologische Abfolge wird gewahrt: Der Leser begleitet den neunzehnjährigen Infanteriesoldaten Ernst Jünger Anfang Januar 1915 an die flandrische Front und erlebt mit ihm dann den ganzen Krieg: den Stellungskrieg, der sich bis zum Frühsommer 1916 hinzog, dann die Materialschlacht an der Somme, die bis zum Herbst 1916 dauerte, danach einige kleinere Angriffs- und Verteidigungsschlachten, dazwischen Offizierslehrgänge und Lazarettaufenthalte, schließlich die letzte und schwerste Verwundung Ende August 1918, die für Jünger den Krieg beendete. Das alles wird aus der Sicht des zunächst einfachen Soldaten, dann des Zug- und Kompanieführers geschildert, der nur einen sehr begrenzten Einblick in die Lage hat und mit Ortsangaben aufwartet, die man auch auf großen Landkarten lange suchen muß. 12 Und das heißt: Jünger schreibt keine große Geschichte des Kriegs in Belgien und Frankreich, sondern die Kriegsgeschichte seiner Einheit aus der Sicht eines einfachen Soldaten, dann eines Kompanieführers. Die Vergegenwärtigung des inneren Erlebens ist dabei nicht weniger wichtig als die Darstellung des äußeren Geschehens; ja man kann sagen, daß gerade die eindringliche Darstellung des seelischen Erlebens Jüngers erstes Kriegsbuch über die Fülle der anderen Kriegsdarstellungen hinaushebt, seinen literarischen Rang begründet und es zu einem – wenn nicht dem – ersten Exempel für das spezifische Vermögen der Kriegsliteratur macht: für die Fähigkeit zur Introspektive oder Innendarstellung, die den anderen Medien, der Photographie, dem Bildband und dem Film nicht möglich war. 13 Jünger wollte aber nicht nur einen Verlaufs- und Erfahrungsbericht geben; er wollte zugleich eine Phänomenologie des Kriegs oder der verschiedenen Kriegssituationen liefern, denen ein Infanterist ausgesetzt war. Die historische Rekapitulation der Einsätze wird daher immer wieder durch Passagen unterbrochen, die der besonderen Qualität dieser Einsätze und Erfahrungen gelten: dem zermürbenden Schanz- und Wachdienst im Stellungskrieg und dem nervenaufreibenden Getobe der Materialschlacht, aber auch den entspannten Zuständen in den Ruhephasen hinter der Front. Ausweislich der Notizen, in denen Jünger sein Schreiben reflektierte, hie12 Vgl. die hilfreiche Aufarbeitung von Nils Fabiansson, Das Begleitbuch zu Ernst Jünger „In Stahlgewittern“. Hamburg/Berlin/Bonn 2007. 13 Vgl. dazu Wolfram Pyta, Die Privilegierung des Frontkämpfers gegenüber dem Feldmarschall. Zur Politikmächtigkeit der Imagination des Ersten Weltkrieges in Deutschland, in: Ute Daniel/Inge Marszolek/Wolfram Pyta (Hrsg.), Politische Kultur und Medienwirklichkeit in den 1920er Jahren. München 2010, 120–145.

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ßen seine Darstellungsprinzipien „Sachlichkeit“ und „Genauigkeit“. Einmal hielt er fest: „Der Zweck meiner Bücher [= Notizhefte] ist lediglich[,] dem Leser sachlich zu schildern, was ich inmitten meines Regiments erlebt habe und was ich mir dabei gedacht habe.“ Und an anderer Stelle notierte er mit Blick auf die eben entstehenden „Stahlgewitter“: „Im Vorwort darauf hinweisen, daß wohl kaum im Kriege von einem Frontsoldaten derartig genaue Aufzeichnungen über jeden Tag gemacht sind, daß diese Blätter also ein Spiegel der großen und kleinen Erlebnisse des Infanteristen der vordersten Linie sind./Ferner daß diese Blätter nichts beschönigen und in rosafarbener Beleuchtung darstellen wollen[,] sondern nur eine genaue Schilderung des täglichen Lebens des Kriegers im Feldlager, im Schützengraben, in der Ruhe und im Gefecht bezwecken […].“ 14 Auch im tatsächlichen Vorwort, das in den Ausgaben bis 1934 dem Bericht vorangestellt war, werden Wirklichkeitsnähe und Sachlichkeit als Prinzipien und Kriterien beschworen: „Ich bin kein Kriegsberichterstatter, ich lege keine Heldenkollektion vor. Ich will nicht beschreiben, wie es hätte sein können, sondern wie es war. […] Der Grad der Sachlichkeit eines solchen Buches ist der Maßstab seines inneren Wertes.“ 15 Freilich wird dieser zeitgemäße Zug zur „ontologischen“ Sachlichkeit 16 durch eine „pragmatische“ Mitteilungsabsicht konterkariert. Diese wird auf der Rückseite des Titelblatts angezeigt und im Vorwort erläutert. Auf der Rückseite des Titelblatts heißt es: „Zur Erinnerung an meine gefallenen Kameraden“; und das Vorwort amplifiziert und bekräftigt: „[…], wie viele habe ich kennen gelernt, die unter dem grauen Tuch ein Herz von Gold und einen Willen von Stahl bargen, eine Auslese der Tüchtigsten, die sich dem Tode in die Arme warf – mit stets gleichbleibender Freudigkeit. Ob ihr gefallen seid auf freiem Felde, das arme, vom Blut und Schmutz entstellte Gesicht dem Feinde zu, überrascht in dunklen Höhlen oder versunken im Schlamm endloser Ebenen, einsame, kreuzlose Schläfer; das ist mir Evangelium: Ihr seid nicht umsonst gefallen. Wenn auch vielleicht das Ziel ein anderes, größeres ist, als ihr erträumtet. Der Krieg ist der Vater aller Dinge. Kameraden, euer Wert ist unvergänglich […]. Möge dieses Buch dazu beitragen, eine Ahnung zu geben von dem, was ihr geleistet. Wir Vgl. den in der Einbandtasche eingelegten Zettel im 15. Heft der originalen Kriegstagebücher in Jüngers Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar. 15 Vgl. Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers. Hannover 1920, VIII. 16 Vgl. dazu Sabina Becker, Neue Sachlichkeit. Bd. 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920–1933). Köln/Weimar/Wien 2000. 14

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haben viel, vielleicht alles, auch die Ehre verloren. Eins bleibt uns: die ehrenvolle Erinnerung an euch, an die herrlichste Armee, die je die Waffen trug[,] und an den gewaltigsten Kampf, der je gefochten wurde. Sie hochzuhalten inmitten dieser Zeit weichlichen Gewinsels, der moralischen Verkümmerung und des Renegatentums ist stolzeste Pflicht eines jeden, der nicht nur mit Gewehr und Handgranate, sondern auch mit lebendigem Herzen für Deutschlands Größe kämpfte.“ 17 Es ist evident, daß der Wille zur Sachlichkeit mit der Absicht, ein Gedenkbuch für die „mit stets gleichbleibender Freudigkeit“ in den Tod gegangenen Helden und ein Buch der „ehrenvolle[n] Erinnerung an […] die herrlichste Armee“ zu schreiben, kollidieren mußte. Das Heldengedenken folgt bis heute anderen rhetorisch-stilistischen Normen als die sachliche Darstellung eines Vorgangs und verlangte – damals mehr als heute – eine andere Auswahl von Darstellungsmomenten und ein anderes sprachliches Register. Kritik und Forschung haben denn auch an den „Stahlgewittern“ nicht so sehr die von Jünger prätendierte „Sachlichkeit“ gesehen als vielmehr Tendenzen zur Sakralisierung, zur Literarisierung, zur Ästhetisierung und zur Heroisierung des Kriegs. Mit Sakralisierung 18 ist die Tendenz zu einem religiös tingierten Sprechen gemeint, das in den „Stahlgewittern“ gelegentlich zu vernehmen ist, nicht nur im Vorwort, in dem von „kreuzlosen Schläfern“ und vom „Evangelium“ des Gedenkens die Rede ist, sondern auch im Bericht selbst, wo Jünger immer wieder Szenen schildert, die ihn als christusähnlichen Führer erscheinen lassen, und einmal gar in einen biblischen Ton verfällt: „Zwölf Mann“, so heißt es da, „hatten sich während der letzten Stunde um mich geschart; da es kalt zu werden begann, führte ich sie zu dem kleinen Unterstande, vor dem mein [erschossener] Engländer lag[,] und schickte sie aus, um Decken und Mäntel […] von Gefallenen zu suchen.“ 19 Auch wenn der dargestellte Vorgang vergleichsweise trivial ist – inhaltlich und sprachlich klingt der zitierte Satz an die Bibel an und verweist damit auf die Tendenz, die Kampfgemeinschaft („zwölf Mann um mich geschart“) wie das krieVgl. Jünger, In Stahlgewittern [Originalausgabe 1920] (wie Anm. 15), VIIIf. Vgl. dazu Bernd Hüppauf, „Der Tod ist verschlungen in den Sieg“. Todesbilder aus dem Ersten Weltkrieg und der Nachkriegszeit, in: ders. (Hrsg.), Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft. Königstein im Taunus 1984, 55–91; Markus Käfer, Ernst Jünger 1923, in: Les Carnets Ernst Jünger 4, 1999, 117–142; besonders ausführlich und differenziert Volker Mergenthaler, „Versuch, ein Dekameron des Unterstandes zu schreiben“. Zum Problem narrativer Kriegsbegegnung in den frühen Prosatexten Ernst Jüngers. Heidelberg 2001, bes. 69–71. 19 Vgl. Jünger, In Stahlgewittern [Originalausgabe 1920] (wie Anm. 15), 153. 17 18

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gerische Handeln („schickte sie aus“) zu sakralisieren. – Mit Literarisierung des Kriegs ist gemeint, daß Jünger sowohl bei der Strukturierung seiner Schilderung als auch bei ihrer sprachlichen Gestaltung mit dezidiert literarischen oder poetischen Mitteln arbeitet, die dazu angetan sind, das Wesen des Kriegs und den Charakter des Erlebens zu verschleiern oder zu überformen. Dies betrifft zum einen die Form der Ich-Erzählung, die Autonomie prätendiert, wo doch in Wahrheit höchster Autonomieverlust geherrscht hat 20, zum andern das ausgedehnte, mit dem Titel „In Stahlgewittern“ beginnende Metaphernsystem, das den Krieg als mythisches oder quasi-natürliches Ereignis erscheinen läßt, welches unabweisbar über die Menschen hereinbricht und die Frage nach politischen oder sozialen Gründen oder Anlässen als sekundär oder gar müßig erscheinen läßt. 21 – Mit Ästhetisierung des Kriegs ist spezieller gemeint, daß der Krieg zum einen durch die Aussparung bestimmter Schreckenserfahrungen, zum andern durch ihre sprachliche Verbrämung verschönert und zum Anlaß positiver Rezeptionsempfindungen gemacht wird. – Mit Heroisierung ist gemeint, daß ein Krieg, der aufgrund seiner Technizität angeblich kein Heldentum mehr erlaubt habe, eben als Entfaltungsraum von Heldentum gezeigt wird. 22 Daß die Darstellung des Kriegs in den „Stahlgewittern“ wie in Jüngers weiteren Kriegsschriften durch diese Tendenzen mit geprägt wird, ist bei der Lektüre leicht zu erkennen. Schwieriger ist es, einzuschätzen, bis zu welchem Grad und mit welchem Effekt diese Darstellungstendenzen die sachlich angemessene Schilderung des Kriegs überformten. Volker Mergenthaler, der die Tendenz zur Sakralisierung am eindringlichsten untersucht hat, kommt überraschenderweise zu dem Schluß, daß das „sakralisierte Sprechen“ durchaus mit dem Sachlichkeitspostulat, das im Vorwort der „Stahlgewitter“ erhoben wird, zu vereinbaren sei. Mergenthaler schreibt: Abgesichert durch die poetische Faktur des Textes, zu der das „sakralisierte Sprechen“ wesentlich gehört, kann es „ungefährdet gelingen, ‚möglichst unmittelbar‘ und ‚sachlich zu schildern, was ein Infanterist als Schütze und Führer während des großen Krieges inmitten eines berühmten Regiments erlebt, und was er sich dabei gedacht hat‘, weil sich das Vgl. dazu King, Scheißkrieg (wie Anm. 11), 70f. u. 114–116. Vgl. dazu die umsichtige und aufschlußreiche Arbeit von Hans Verboven, Die Metapher als Ideologie. Eine kognitiv-semantische Analyse der Kriegsmetaphorik im Frühwerk Ernst Jüngers. Heidelberg 2003. 22 Vgl. dazu Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart 1986, 219–221. 20 21

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Sprecher-Ich mit seiner Rede christologisch überhöht, verklärt und aus der Endlichkeit des Sterbens genommen hat. Erst das ‚Wunder‘ dieser erredeten ‚Unsterblichkeit‘ ermöglicht es, der fatalen Ich-Feindlichkeit des Krieges eine (poetisch) ‚ungefährdete‘ Instanz sachlicher Schilderung entgegenzusetzen.“ 23 Ähnlich ambivalent ist der Effekt der von Hans Verboven systematisch untersuchten Metaphorisierung des Kriegs: Es ist evident, daß das Metaphernsystem, das Jünger sehr bewußt einsetzte und im Zuge der Überarbeitung der „Stahlgewitter“ zielgerichtet ausbaute, den Krieg als anthropologische und historische Konstante mythisierte und die Frage nach seinen tatsächlichen Gründen wie nach Möglichkeiten der Vermeidung suspendierte. Zugleich ist aber zu sehen, daß ein Teil dieser Metaphern – etwa die der „Schlachtbank“ oder des „Walzwerks“ – dazu beitragen, ein starkes, erschütterndes Bild des entsetzlichen Geschehens entstehen zu lassen. 24 Auch die übrigen oben genannten Darstellungsmodi bedürfen einer differenzierten Einschätzung, die hier jedoch nur in einer stark reduzierten, aufs Wesentliche konzentrierten Form vorgestellt werden kann. Drei Modalitäten der Vergegenwärtigung der Kriegserfahrung in den „Stahlgewittern“ sind noch zu bedenken: (1.) Die Form der Autonomie prätendierenden Ich-Erzählung: Kritiker dieser Darstellungsweise sind der Meinung, daß der moderne Krieg nicht aus der Sicht eines einzelnen dargestellt werden könne, weil der einzelne keinen Überblick habe und sich nicht einmal seiner eigenen Funktion und Bedeutung sicher sein könne. Notwendig sei deswegen eine Darstellungsweise im entpersönlichten Stil etwa des Futurismus, wie sie F. T. Marinetti 1912/13 im „Supplement zum technischen Manifest der Futuristischen Literatur“ mit einer zweieinhalb Seiten umfassenden Schlachtbeschreibung („Bataille: Poids + Odeur“) vorgeführt habe 25, oder im Facettenstil des Montageromans, der keine kohärente Erzählung mehr bietet, sondern disparate Episoden, Situationen, Schauplätze und Zustände unvermittelt aneinanderfügt. In Ansätzen findet man dies 1930 in Edlef Köppens Roman „Heeresbericht“. 26 Indessen ist es ausgeschlossen, daß im Stil der Vgl. Mergenthaler, Versuch (wie Anm. 18), 77. Vgl. Verboven, Metapher als Ideologie (wie Anm. 21), bes. 245–247 u. 287f. 25 Sie ist im französischen Original und in zeitgenössischer deutscher Übersetzung zu finden in Peter Demetz, Worte in Freiheit. Der italienische Futurismus und die deutsche literarische Avantgarde 1912–1934. Mit einer ausführlichen Dokumentation. München/ Zürich 1990, 204–206 u. 206–208. 26 Vgl. Edlef Köppen, Heeresbericht. Reinbek 1992. 23 24

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Marinettischen „Bataille“ eine vierjährige Kriegserfahrung hätte nachvollziehbar vergegenwärtigt werden können, und das Muster des Montageromans, das Alfred Döblin mit „Berlin Alexanderplatz“ erst 1929 vorlegte und für andere Autoren verfügbar machte, hatte Jünger 1920 nicht. Es ist aber auch die Frage, ob er danach gegriffen hätte, und ebenso, ob man ihm vorwerfen sollte, daß er nicht von selbst zu einer depersonalisierenden Montagetechnik gefunden hat. Denn so disparat die Eindrücke sein mögen, die auf das Individuum im Krieg und zumal in der Schlacht einströmen, und so befremdend die Ereignisse wirken mögen, denen das Subjekt ausgesetzt wird: Es wird, wenn es sich denn als Subjekt begreifen und erhalten will, zwischen all diesen Eindrücken vermitteln müssen; es wird all diese Erfahrungen integrieren müssen; es erlebt den Krieg, wenn es bei normalem Verstand bleibt, weder als abstraktes Geschehen in teleskopischer Ferne noch als vielfach zersplitterten Montageroman, sondern hautnah als seine ganz eigene Geschichte. All dies führen Jüngers „Stahlgewitter“ vielfach und eindrucksvoll vor. (2.) Ästhetisierung 27 durch Aussparung oder sprachliche Verbrämung von Negativerfahrungen: Hier ist zunächst einmal festzustellen, daß Jünger das Elend des Soldatenlebens nicht übergeht. Der physisch und psychisch zermürbende Schanz- und Wachdienst im Grabenkrieg mit seinem allgegenwärtigen Schmutz, mit seinen Läusen und Ratten wird ausführlich dargestellt; ebenso die Folter der Beschießungen durch Artillerie, die lähmende Angst beim Anschwirren einer Granate oder gar einer Luftmine; desgleichen die Angst vor dem Angriff, die manchen in die Hose oder in den Graben defäkieren läßt; desgleichen der Anblick von Schwerverwundeten und Verstümmelten; schließlich auch die Erfahrung des Lazaretts. Freilich: Für einen guten Teil der Destruktionsphänomene findet Jünger teils glanzvolle, teils makaber-anzügliche Metaphern, die in einer intrikaten Kombination sowohl treffend als auch verschleiernd wirken und Ästhetisierung zwischen Präzisierung und Euphemisierung oszillieren lassen. So ist – um nur zwei Beispiele zu geben – von dem „langsamen Takte des Walzwerkes der Front“ die Rede 28, und so wird die Mischung aus Leichen- und Pulvergeruch, die über dem Schlachtfeld wabert, von einem

Hierzu gibt es eine Fülle von Studien, die unmöglich alle genannt werden können. Genannt sei eine der jüngsten, über deren Ausführungen und Bibliographie weitere Untersuchungen leicht erschlossen werden können: Petra Maria Schulz, Ästhetisierung von Gewalt in der Weimarer Republik. Münster 2004. 28 Vgl. Jünger, In Stahlgewittern [Originalausgabe 1920] (wie Anm. 15), 1. 27

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„alten Krieger“ als „Offensivparfüm“ bezeichnet. 29 Bei den „degoutanten“ Dingen – der Läuse- und Rattenplage wie dem angstvollen Verrichten der Notdurft im Graben – beläßt es Jünger bei dezenten Benennungen und verzichtet auf drastische Ausmalungen, wie man sie bei anderen Autoren findet. Bei den Destruktions- und Schmerzerfahrungen tendiert er zur schonenden Komprimierung beziehungsweise Abstraktion und jedenfalls Entkonkretisierung, in späteren Fassungen auch zur geheimnisvoll sinnhaften Überformung. Zwei Beispiele: Zu Beginn der ersten Schlacht, in der Jünger zum Einsatz kommt, gerät seine Einheit in einem Gehölz unter schweren Beschuß, und es gibt zahlreiche Verwundete. Jünger, selbst leicht verwundet, hält dies eindrucksvoll fest: „Ich warf meinen Tornister fort und rannte dem Graben zu, aus dem wir gekommen waren. Von allen Seiten strebten Verwundete aus dem beschossenen Gehölz strahlenförmig darauf zu. Der Durchgang war entsetzlich, von Schwerverwundeten und Sterbenden versperrt. Eine bis zum Gürtel entblößte Gestalt mit aufgerissenem Rücken lehnte an der Grabenwand. Ein anderer, dem ein dreieckiger Lappen vom Hinterschädel herabhing, stieß fortwährend schrille, erschütternde Schreie aus. – Und immer neue Einschläge.“ 30 Diese Darstellung, die man als traditionell realistisch bezeichnen kann, wird in einer späteren Fassung durch einen Kommentar ergänzt, der – betont durch seinen deiktischen Gestus – eine geheimnisvoll sinnhafte Überformung darstellt: „Hier herrschte der große Schmerz, und zum ersten Male blickte ich wie durch einen dämonischen Spalt in die Tiefe seines Bereichs. Und immer neue Einschläge.“ 31 Das zweite Beispiel gilt der Darstellung des Lazaretts, die Jünger in der Regel ausspart. Er wurde ja mehrfach verwundet und war folglich mehrfach im Lazarett; aber meist bricht sein Bericht mit der Einlieferung ins Lazarett ab und setzt mit der Rückkehr an die Front wieder ein. Einmal macht er eine Ausnahme wirft einen Blick ins Lazarett von Valenciennes: „Das Kriegslazarett war […] im Gymnasium eingerichtet und beherbergte über vierhundert Schwerverwundete. Tag für Tag verließ unter dumpfem Trommelschlag ein Leichenzug das große Portal. In dem weiten Operationssaal konzentriert sich der ganze Jammer des Krieges. An einer Reihe von Operationstischen walteten die Ärzte ihres blutigen Handwerkes. Hier wurde ein Glied amputiert, dort ein Schädel aufgemeißelt oder ein festgewachsener 29 30 31

Vgl. ebd. 162f. Vgl. ebd. 15. Vgl. Jünger, Sämtliche Werke, Bd. 1 (wie Anm. 1), 37.

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Verband gelöst. Wimmern und Schmerzensschreie hallten durch den von mitleidlosem Licht durchfluteten Raum, während weißgekleidete Schwestern geschäftig mit Instrumenten oder Verbandzeug von einem Tisch zum andern eilten. Neben meinem Bette lag ein Feldwebel, der ein Bein verloren hatte, im Sterben. In seiner letzten Stunde erwachte er aus wirren Fieberschauern und ließ sich von der Schwester sein Lieblingskapitel aus der Bibel vorlesen. Dann bat er mit kaum hörbarer Stimme sämtliche Stubengenossen um Entschuldigung, daß sie durch seine Fieberdelirien so oft aus der Ruhe gestört worden wären und war in wenigen Minuten tot, nachdem er, um uns aufzuheitern, noch versucht hatte, den komischen Dialekt unserer Ordonnanz nachzuahmen.