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German Pages 236 Year 2000
Yves Bizeul (Hrsg.) Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen
Ordo Politicus Veröffentlichungen des Arnold-Bergstraesser-Instituts, Freiburg i. Br.
Herausgegeben von Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Oberndörfer Band 34
Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen
Herausgegeben von
Yves Bizeul
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen I
hrsg. von Yves Bizeul. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Ordo politicus ; Bd. 34) ISBN 3-428-09918-4
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0474-3385 ISBN 3-428-09918-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97068
Vorwort Am 4. und 5. Oktober 1996 fand in Rostock ein internationales Symposium zum Thema ,.Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen" statt. Es wurde gemeinsam vom Lehrstuhl fiir Politische Theorie und Ideengeschichte am Institut fiir Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock und vom Institut Franyais de Rostock veranstaltet. Die in diesem Band gesammelten Beiträge der Tagung geben zahlreiche Beispiele von der ,,Arbeit" am politischen Mythos und dem politischen Umgang mit Ritualen in den drei Nachbarstaaten Polen, Frankreich und Deutschland. Im ersten Aufsatz hat der Herausgeber versucht, den Stand der Forschung zu den politischen Mythen und Ritualen wiederzugeben. Politische Mythen und Rituale sind ambivalente symbolische Codes, die sowohl eine positive, integrative und mobilisierende als auch eine gefährliche, manipulative und letztlich desintegrative Funktion erfiillen können. Alles hängt von der Auslegung des Mythos und von der Art und Weise ab, wie Politiker und Medien mit den politischen Ritualen umgehen. Suzanne Citron beschreibt in ihrem Beitrag die Herausbildung des großen ,.Nationalmythos" Frankreichs. Es handelt sich dabei um ein historisches Konstrukt, das erst im 19. Jahrhundert durch liberale republikanische Historiker systematisch aufgebaut wurde. Der Nationalmythos wurde bis Ende der 60er Jahre mittels des öffentlichen Schulsystems einfach an die folgenden Generationen weitergegeben. Er diente der Darstellung der französischen Geschichte als einer immer schon vorhandenen Realität. Dazu trug der Mythos des gallischen Ursprungs Frankreichs maßgeblich bei. Frankreich verstand sich außerdem als Träger einer messianischen Botschaft fiir die ganze Menschheit. Zbigniew Wilkiewicz zeigt seinerseits den ganzen Reichtum der polnischen Nationalmythologie auf. Er stellt zuerst die verschiedenen Mythen des polnischen Staates dar: die piastischen und jagiellonischen Staatsauffassungen, die Nation als Surrogat, den Untergrundstaat im Zweiten Weltkrieg und den modernen ,.homogenen" Nationalstaat. Er erwähnt weiter den Mythos der Adelsrepublik, den des Sarrnatismus und den des Ethos des Widerstands. Sowohl die Literatur als auch die Historiographie wurden in den Dienst des nationalen Mythos gestellt, der u.a. eine messianische Form annahm: Die Polen sahen in ihrer Nation ein Abbild des gekreuzigten Christus.
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Vorwort
Die Funktionsmannigfaltigkeit und Vieldeutigkeit der Nationalmythologie wird durch Andreas Dörner am Beispiel des deutschen Hermannsmythos illustriert. Während der Befreiungskriege gegen Napoleon I. hatte dieser Mythos eine emanzipatorische Dimension. Erst nach der Bildung des Kaiserreichs wandelte er sich zu einem konservativen nationalen Griindungsmythos. Dabei handelte es sich in erster Linie um einen dem protestantischen Norden Deutschlands eigenen Mythos, der die Katholiken genauso wie die Sozialisten ausschloß. Während der Weimarer Republik verwendeten ihn die Nationalisten, um das liberale Lager zu zerschlagen. Ihre Interpretation beeinflußte den Nationalsozialismus. Der Mythos verlor deshalb nach dem Zweiten Weltkrieg an Bedeutung und nahm die Form einer folkloristischen Erzählung an. Er wurde weitgehend tabuisiert. Herfried Münkler hat neben der Erzählung im engeren Sinn, also dem, was man Narrativierung nennen kann, auf die ikonische Verdichtung der Mythen hingewiesen (Münkler 1995: 1180). Diese Dimension der Mythen steht auch im Mittelpunkt des Aufsatzes von Christian Amalvi. Er untersucht die Geschichte der Ikonographie der französischen Nationalmythologie vom Ersten Kaiserreich bis zur Dritten Republik und die politischen Einflüsse, die während dieser Zeit auf den nationalen Mythos einwirkten. Mit Mythen und Ritualen - und zwar oft mit den gleichen - läßt sich eine totalitäre Herrschaft sowohl zementieren als auch destabilisieren. Raina Zimmering untersucht die Bedeutung der politischen Mythen für die DDR, für das kollektive Gedächtnis ihrer Bevölkerung und für ihren Sturz. Der erste große Mythos der DDR war der Mythos des Antifaschismus (Antifa-Mythos): Das neue Regime vermittelte den DDR-Bürgern den Eindruck, als seien sie während des Krieges die unschuldigen Opfer des Kapitalismus gewesen, der unweigerlich zum Faschismus führen mußte. Das Konzentrationslager Buchenwald wurde, zumal hier die meisten Kommunisten gefangen gewesen waren, zu einer Art "Gründungsort" für den neuen Staat. Als der "Antifa-Mythos" zunehmend an Glaubwürdigkeit verlor, versuchte das Regime, ältere mythische Figuren zu reaktivieren: Erst Müntzer, dann Luther, danach sogar Bismarck. Emanzipatorische Erzählungen wurden aber zum Verhängnis des auf einer emanzipatorischen Mythologie beruhenden "real existierenden Sozialismus". Es ist nur scheinbar paradox, daß die osteuropäischen Oppositionsbewegungen in ihrem Kampf gegen die sozialistischen Regime auf die alte sozialistische Symbolik zurückgriffen. Der Studie von Jerzy Holzer ist zu entnehmen, daß Solidarnosc zahlreiche Symbole, Mythen und Rituale, die von den großen sozialistischen Bewegungen der Vergangenheit entworfen wurden, neuinterpretiert und wiederverwendet hat. Gleichzeitig hat die Bewegung auf die katholische Kirche rekurriert und einige von deren Mythen und Ritualen (Pilgerfahrten, Kult der schwarzen Madonna etc.) übernommen. Nationalistische Referenzen spielten in dieser Bewegung ebenso eine wichtige Rolle.
Vorwort
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Mythen und Rituale scheinen auch in der Französischen Republik unentbehrlich zu sein, braucht sie doch einen Gemeinschaftssinn, um zu bestehen. Maurice Agulhon erinnert uns daran, daß zu Beginn der Dritten Republik zu diesem Zweck große offiZielle republikanische Feiern neben den in den Dörfern oft spontan organisierten republikanischen Festen mit einer stark folkloristischen Prägung veranstaltet wurden. Die Marseillaise und der 14. Juli bildeten als nationalistische Symbole die Brücke, um der in monarchistische Katholiken und laizistische Republikaner geteilten Nation zu einer Einheit zu verhelfen. Nach dem Ersten Weltkrieg war es dann der 11. November, der diese Funktion übernahm. Dieses Ritual behielt auch nach dem Zweiten Weltkrieg seine Bedeutung. Heute hat der 11. November jedoch seine integrative Aufgabe erfüllt und droht deshalb in Vergessenheit zu geraten. Dieter Oberndörfer verweist auf die Gefahren der Nationalmythologie. Er zeigt in seiner Studie deutlich auf, daß die ethnische deutsche Nation, die früher im Sinne von "völkisch" als monokultureile Gemeinschaft aufgefaßt wurde und heute als "Schicksalsgemeinschaft" (Schäuble) verstanden wird, nichts anderes ist als eine mythische Konstruktion ohne historische Grundlage. Die ethnische Nation und deren Mythen sollten in einer freiheitlichen Demokratie keine Rolle mehr spielen. Oberndörfer plädiert fiir einen konstitutionellen Patriotismus und eine republikanische Politik. Für Adam Krzeminski ist in Polen eine solche Reaktivierung der Nationalmythologie voll im Gange. Nach einer Zeit der erzwungenen Abstinenz - das kommunistische Regime versuchte, die Idee der Nation durch die der sozialistischen Gesellschaft und des Arbeiter- und Bauernstaats zu ersetzen - ist heute in der polnischen Republik der alte Nationalismus neu erwacht. Für Krzeminski ist Polen indes, ähnlich wie Frankreich, eine Mischung sozialer und kultureller Gruppen mit ihren jeweiligen Mythen und Ritualen, die oft nicht zueinander passen wollen. Das Land hat Schwierigkeiten, seine Einheit zu wahren. Deshalb versucht die neue Republik, durch die Veranstaltung großer republikanischer Feiern und durch Volksfeste ihre inneren religiösen und politischen Streitigkeiten zu verschleiern. Republikanische Festveranstaltungen können aber auch zu Spaltungen in den eigenen Reihen fuhren, wie Odile Rudelle zeigt. Franyois Mitterrand hat während der 200-Jahr-Feier der Revolution versucht, die Revolution als ,,Block" - um einen Ausdruck von Clemenceau zu verwenden - zu feiern, also ohne die Periode der revolutionären Schreckensherrschaft als umstrittenes Moment auszuklammern. Für Rudelle war diese Entscheidung Mitterrands falsch. Die damit verbundene Präferenz fiir eine rein republikanische Tradition eines Sadi Carnot oder eines Clemenceau gegenüber der liberalen konstitutionellen Tradition eines Lazare Carnot bzw. eines Jules Ferry spaltete die Anhänger der Republik und vertiefte unnötig den Graben zwischen den laizistisch-republikanischen
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Vorwort
und katholisch-konservativen Lagern Frankreichs. Rudelle folgt Oberndörfer in seinem Plädoyer fiir einen die Nation vereinigenden konstitutionellen Patriotismus. Zum Schluß wird die Frage erörtert, unter welchen Bedingungen Politiker ins nationale Pantheon aufgenommen werden. Nach Maurice Agulhon, der sich in einem weiteren Beitrag mit dem Mythos de Gaulle beschäftigt, bedarf es dreier Bedingungen, um einen Politiker zum Mythos werden zu lassen: Er muß in einer fiir die Nation höchst bedeutsamen Angelegenheit eine entscheidende Rolle gespielt haben, es muß sich um eine außergewöhnliche Persönlichkeit handeln und es muß eine Person sein, über die kontrovers diskutiert wird. Das konservative Frankreich mochte de Gaulle als Archetyp des traditionellen Chefs trotz einiger seiner wichtigen politischen Entscheidungen (der Kampf gegen Vichy und die Dekaionisation Algeriens). Das progressive Frankreich bewunderte de Gaulle eben fiir diese progressiven Entscheidungen und trotz seines Regierungsstils. Nach Nikolaus Werz ist es fraglich, ob Helmut Kohl im Inland je zu einer mythischen Figur vom Format eines Adenauers werden kann. Er wird dafiir von zu vielen deutschen Intellektuellen als zu engstirnig eingeschätzt. Man schreibt ihm auch eine große politische Passivität zu. Es stellt sich allerdings die Frage, ob man nicht vorschnell dazu neigt, die Kapazitäten des ehemaligen Kanzlers zu unterschätzen. Kohl hat sich zu einem richtigen animal politique mit Instinkt entwickelt. Das erklärt sein außergewöhnlich langes politisches Überleben. Seine Schwächen könnten sogar als Stärke gewertet werden: Kohl gab durch seine Ruhe Vertrauen. Im Ausland betrachtete man ihn oft als einen Menschen, auf den man zählen konnte, der nie unüberlegt handelte und der fiir Demokratie und die Buropaerweiterung stand. Womöglich wird Kohl leichter ins europäische als ins nationale Pantheon Eingang fmden. Der Herausgeber dieses Bandes hat vielfältigen Dank abzustatten: Finanziell wurden das Symposium und die Veröffentlichung dieses Sammelbands von der Robert-Bosch-Stiftung und der Französischen Botschaft in Bonn großzügig unterstützt. Ein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Vincent von Wroblewsky. Er hat während der Tagung die Vorträge mit großer Professionalität konsekutiv übersetzt und danach die Beiträge aus dem Französischen ins Deutsche übertragen. Das Manuskript wurde dann von Frau Peggy Christochowitz und Frau Margarete Panter mit großer Sorgfalt betreut. Rostock, im März 2000
Yves Bizeul
Inhaltsverzeichnis Rede der Kultusministerin des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Regine Marquardt, anläßlich des Symposiums "Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Polen und Frankreich" .......................................... 11 Theorien der politischen Mythen und Rituale Yves Bizeul........................................................................................ ............. 15
Die großen nationalen Mythen Der Nationalmythos in Frankreich Suzanne Citron .................... .............................. .............................. .. ... ........ .43 Die großen nationalen Mythen Polens Zbigniew R. Wilkiewicz .. ,............................................................................. .59 Politische Integration durch symbolische Politik. Der Hermannsmythos und die deutsche Nation Andreas Dörner ....... ........... ...... .. .............. .. .. ...... ........... ... .... ......... .. ....... ... .... 73 Die bildhafte Inszenierung der nationalen Vergangenheit von 1814 bis 1914 Christian Amalvi................. ........... ............................................ ...... .......... ....97
Politische Mythen und Rituale im Sozialismus Der politische Mythos der DDR Raina Zimmering ..................... ........................................................ ............ 119 Die Funktion der politischen Mythen und Rituale in der Gewerkschaft "Solidarnosc" Jerzy Holzer ................................................................................................ 135
Inhaltsverzeichnis
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Nationale Mythen und Rituale der Republik Der Mythos der Nation und seine Rituale in der Republik Polen Adam Krzeminskioo ........ o.. .... o................ o...... o.... o............ o.......... o.. ooo oooo ........ o143 Symbolik der Französischen Republik Maurice AgulhonoooOOoooOooooooooooooooooooooooooooooooooooooo oooooooo ooooooooooooooooooooo oooooooo oooooo153 Deutschland ein Mythos? Von der nationalen zur post-nationalen Republik Dieter Oberndörfero
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Zweihundertjahrfeier oder zweite Jahrhundertfeier? Das Schweigen des Fran~ois Mitterrand Odile Rudelle .. .. ...... o.. o........ o........ .......... o.. o........ ooooo ooo ooooo .. .. o...... .. o.. o............ 197 Mythische Gestalten der Gegenwart Ist de Gaulle in die nationale Mythologie eingegangen? Maurice Agulhonooooooooo ooooOOooOooOO ooooooooo ooo ooooooo oooooOoOOoOO oooOOOOooo OOo Ooo oooo ooooo ooooooooooo213 Helmut Kohl: Auf dem Weg zum Mythos? Nikolaus
W e r z o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o ooooooooooooooooooooOOOOoooO o ooo o ooooooooooooooOooooooooo o ooooo . . 2 1 9
Autorenverzeichnis
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Rede der Kultusministerin des Landes MecklenburgVorpommern, Regine Marquardt, anläßlich des Symposiums "Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Polen und Frankreich" Es ist mir nicht nur eine Ehre, sondern auch eine besondere Freude, das Symposium "Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen" zu eröffnen. Dabei bringt mich das Thema, das Sie sich auf dieser Tagung gestellt haben, in ein Dilemma. Von der Ausbildung her bin ich Theologin. Hätten Sie mich auf diesem Felde nach Mythen und Ritualen befragt, wäre das wohl nicht passiert. Politische Mythen und Rituale hingegen sind ein Gegenstand, der aufgeklärten, demokratischen Politikerinnen und Politikern nicht behagt, weil sie in ihm Gefahren wittern. So wichtig identitätsstiftende Symbole und Rituale sein mögen, so wenig kann die Wiederkehr des Mythos' als eine legitimierende Instanz in der Politik akzeptiert werden. Gehen wir nicht mit einem gewissen Recht davon aus, daß demokratische Politik nach vereinbarten und insoweit rationalen Verfahrensregeln verläuft? Aber könnte es auch sein, daß unser rationales Selbstverständnis der politischen Realität nur noch bedingt gerecht wird, wenn wir die Existenz und Wirksamkeit politischer Mythen und Rituale heute einfach leugnen? Dieses Dilemma scheint mir offenkundig zu sein. Damit aber nicht die allgemeine Ratlosigkeit obsiegt, haben Sie sich zu dieser Tagung versammelt, auf deren Ergebnisse ich sehr gespannt bin. Letztlich sind wir alle Kinder der großen Revolution von 1789 und der Aufklärung. Der Prozeß einer allumfassenden Entmythologisierung hält seit weit mehr als 200 Jahren an und ist irreversibel. Ich frage mich, ob wir daraus folgern dürfen, daß es keiner politischen Mythen und Rituale mehr bedarf und daß unsere Gemeinwesen lediglich auf einem abstrakten Gesellschaftsvertrag beruhen. Bedürfen wir keiner Begründungen mehr, die weniger dem Bereich des Wissens und mehr dem des Glaubens bzw. Fühlens zuzuordnen sind? Wohl kaum. Wir brauchen nur die Zeitung aufzuschlagen, um feststellen zu können, wie heftig dieser Tage allerorten über die Wurzeln unserer kollektiven Identität gestritten wird. Ein neueres Beispiel hierftir ist die öffentliche Debatte, die Frankreich anläßlich des Papstbesuches bewegte. Hier wird evident, daß
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auch Gemeinwesen, die sich an der Spitze der modernen Menschheit wähnen, auf Identitätsbildung nicht verzichten können und wollen. Warum sollten wir heute dieses Bedürfnis nicht mehr verspüren in einer zunehmend komplizierter werdenden Welt, die alles immer schneller verändert nur die Natur des Menschen nicht? Politische Mythen, Mythen ganz allgemein sind ein Mittel, komplexe Phänomene und Vorgänge auf einen greif- und vorstellbaren Kern zu reduzieren und dadurch Sinn zu stiften. Daß ich kein Plädoyer dafür halte, an der Revision der politischen Entmythologisierung zu arbeiten, ist klar. Es ist nur ein Hinweis darauf, daß wir angeblich so rationalen Menschen des beginnenden 21. Jahrhunderts uns nicht in uns selbst täuschen sollten. Es kann nicht schaden, wenn wir in dem Bemühen, unseren kritischen Verstand zu gebrauchen, uns trotz allem vergegenwärtigen, wie konstitutiv politische Mythen für unsere Gegenwart sind. Politische Rituale sind auch heute nicht leer und bedeutungslos, die Rituale machen Abstraktes sichtbar, sie sind Symbole, Zeichen für tatsächlich Gegebenes und insofern ein sinnhafter Bestandteil unserer politischen Kultur. Politische Mythen und Rituale sind natürlich auch benutzbar. Damit komme ich zu einem zweiten Gedanken, der mein schwieriges Verhältnis zum politischen Mythos begründet. Die Erfahrungen der Jahre 1933 bis 1945 haben das Verhältnis zu politischen Mythen als Ausdruck höchster politischer Irrationalität in Deutschland nach 1945 geprägt. Natürlich müssen wir auch hier nach politischer Mythologie forschen. Ich will nur darauf hinaus, daß die konkrete historische Erfahrung in Deutschland eine weitverbreitete Ablehnung und negative Deutung politischer Mythologie bewirkte. Auf Grund ihrer Unbestimmtheit ist die Furcht vor Manipulation der Menschen mittels Mythen zu verwerflichen Zwecken sehr gut begründbar. Diese Unbestimmtheit ist kennzeichnend für den politischen Mythos. Ist er zu bestimmt, kann es zu internen Ausgrenzungen kommen. Erfüllt er jedoch seinen gemeinschaftsstiftenden Zweck, kann er nach außen nicht nur abgrenzen, sondern womöglich aggressionsfördernd sein. Ob es so kommt, das hängt zweifellos auch von der Beschaffenheit des Mythos ab. Auf jeden Fall gilt, und zwar unabhängig vom deutschen Beispiel, daß ein Gemeinwesen sich leichter bedroht fiihlt, wenn es sich als solches erkannt hat und als solches artikulieren will - wenn es eine Identität gewonnen hat. So gesehen müßte ich es begrüßen, daß für Deutschland nach 1945 eigentlich kennzeichnend ist, daß es über die nationale Identität bisher keinen Konsens gibt. Aber bedeutet das auch die Abwesenheit politischer Mythen? Schwerlich. Vielmehr liegt doch auf der Hand, daß beide deutsche Staaten verzweifelt bemüht waren, nach dem vorübergehenden Scheitern des Projektes "Nationalstaat" neue Identitäten zu gewinnen, und sie bedienten sich dabei unterschied-
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licher politischer Mythen: des "real existierenden Sozialismus'" auf der einen und des "freien Westens" auf der anderen Seite. Welcher dieser beiden Mythen mehr Wahrhaftigkeit für sich in Anspruch nehmen konnte, spielt hier keine Rolle. Und wo stehen wir nun, nach der nationalen Einheit? Wie steht es jetzt um unsere politischen Mythen? Die Antwort darauf dürfte uns so schnell nicht über die Lippen gehen, denn noch stecken wir mitten drin im Prozeß, die staatliche Einheit zu verarbeiten. Wahrscheinlich sind wir gerade dabei, die Grundlagen für die politischen Mythen von morgen zu legen. Eine mich in diesem Zusammenhang interessierende Frage ist: Welche Rolle kommt dabei eines Tages der Wende von 1989/90 zu? War sie eine Revolution? Und wenn ja, kann sie einen politischen Mythos begründen? Noch ist es für eine dezidierte Antwort zu früh. Noch scheiden sich an der Bewertung der Jahre 1989/1990 die Geister. Der Grad an Unbestimmtheit ist wohl noch nicht groß genug. Das wird sich mit der Zeit ändern. Allerdings ist festzustellen: Angesichts der territorialen Begrenztheit (auf Ostdeutschland) kann die revolutionäre Wende zum gemeinschaftsstiftenden Mythos in Deutschland wohl nicht taugen. Die Westdeutschen blieben außen vor. Wird vielleicht anstelle dessen auf alte Mythen rekurriert? Erleben wir einfach eine Renaissance altbekannter nationalstaatlicher Mythen? Das wünsche ich mir nicht. Wohin aber kann die Reise gehen? Wenn ich mir den Verlauf der Debatte um die europäische Einigung ansehe, zweifele ich, ob diese die Kraft eines politischen Mythos entfalten kann. Hoffentlich irre ich mich. So recht will mir kein Ausweg aus dem skizzierten Dilemma einfallen. Nimmt man die Existenz politischer Mythen und Rituale als ein aus der Natur des Menschen folgendes Korrelat und hat andererseits kein Angebot für dieses Grundbedürfnis zu machen, dann kann man wohl zu Recht von einem Dilemma sprechen. Da ist es mir auch kein Trost, daß Sie dieses Dilemma vielleicht mit mir teilen.
Theorien der politischen Mythen und Rituale Yves Bizeul
Platon schließt die "Politeia" mit einem Wort zum praktischen Stellenwert des Mythos vom Seelengericht Der Pamphylier Er, der nach einer Schlacht einen Scheintod erlitten hat, erzählt von der Bestrafung der tugendlosen Machthaber: "Als wir nahe an der Mündung waren im Begriff auszusteigen, nachdem wir das andere alles erduldet, so sahen wir plötzlich jenen Ardaios mit anderen, von denen die meisten auch Tyrannen waren, nur einige darunter waren keine Staatsmänner, hatten aber sonst Großes verbrochen. Als diese meinten eben auszusteigen, nahm_ die Öffnung sie nicht auf, sondern erhob großes Gebrülle so oft einer von den so unheilbaren in der Schlechtigkeit, oder der noch nicht hinreichend Strafe gegeben, versuchen wollte heraufzusteigen. Und gleich waren auch, fuhr er fort, gewisse wilde Männer bei der Hand, ganz feurig anzusehen, welche den Ruf verstanden und einige davon besonders wegfiihrten" (Politeia 615d-e; Übers. Friedrich Schleiermacher; vgl. auch Gorgias 523a-527b). Allein die ethische Funktion dieser laut Platon ,,heilsamen" und "sehr schönen" Erzählung rechtfertigt den Einsatz des Mythos. Indem er die Möchtegern-Tyrannen abschreckt, leistet er einen wichtigen Beitrag zugunsten des Guten. Er dient dabei zugleich auch dem Wahren, zumal er mittels seiner ausdrucksvollen Erzählkraft dazu verhilft, das Wesentliche (das gerechte bzw. ungerechte Handeln der Machthaber) vom Unwesentlichen (deren Machtposition und Reichtum) zu trennen. Ein derartiger Mythos wird deshalb vom Mythoskritiker Platon nicht mehr als Täuschung, sondern als Logos, als wahre Erzählung gesehen (Gorgias 523a/527a). Auch Adolf Arndt trennt zwischen dem Mythos als "Sage" und "Märchen" und dem Mythos als lehrreiche "Erzählung". Hierfiir unterscheidet er zwischen dem die Wirklichkeit- ohne die Umwege der Ratio- unmittelbar widerspiegelnden "Mythischen" und dem märchenhaften "Mythologischen", also zwischen dem "guten" Mythischen auf der einen und dem "schlechten", trügerischen Mythologischen auf der anderen Seite (Arndt 1967). Eine solche Unterscheidung ist allerdings äußerst problematisch: Die meisten Mythen- vor allem die politischen Mythen- sind ambivalent und werden sowohl eingesetzt, um Menschen zu täuschen, als auch als heuristisches und ethisches Instrument, um die Welt zu verstehen und zu verbessern. Bevor wir aber der Frage nach den Funktionen politischer Mythen und Rituale nachgehen, soll zuerst geklärt werden, was unter politischen Mythen und Ritualen genau zu verstehen ist.
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Definition der politischen Mythen und Rituale Der politische Mythos Eine hilfreiche Defmition des Mythos wurde von dem Kulturphilosophen Ernst Cassirer entworfen. Er beschrieb den Mythos als eine symbolische Form, d.h. als ein Organ menschlicher Welterfahrung, das in praktischen Lebensformen wurzelt und als Faktor rituell vollzogener Handlungen fungiert. Der Mythos hat nach Cassirer eine Ausdrucksfunktion und keine Darstellungsfunktion wie die Sprache bzw. keine Bedeutungsfunktion wie die Wissenschaft. Er hat in aller Regel einen historischen Hintergrund.' Wie der Anthropologe Jean Pouillon bemerkt, sind die meisten Ereignisse, von denen der Mythos erzählt, nicht frei erfunden. Es gibt allerdings "eine mythische Lesart der Wirklichkeit" (Pouillon 1984: 69). Jede mythische Erzählung ist, so Pouillon, im Unterschied zur Erzählung des Historikers von einer "konstitutiven Maßlosigkeit" gekennzeichnet. Das Problem geschichtlicher Erkenntnis bestehe darin, "die für die Mythologien konstitutive Maßlosigkeit zu erkennen, und sie als das zu nehmen, was sie sind, nämlich als Werkzeuge, die auf äußerst provisorische Weise dazu dienen, eine Wirklichkeit zu denken, die durch die Vielzahl der Mythologien selbst mehrdeutig wird und die vielleicht weniger Sinn hat, als man sich wünschen würde" (Pouillon 1984: 82). Pouillon teilt die Auffassung mancher Autoren nicht, die - so z.B. Adolf Arndt- im Mythos eine unmittelbare Widerspiegelung der Wirklichkeit sehen wollen. Er betrachtet den Mythos eher als zeitloses Strukturmodell, das - wie jedes Modell auch - keinesfalls über die Wirklichkeit als solche Auskunft erteilt, sondern eher eine Antwort auf metaphysische oder ideologische Fragen zu geben versucht. Der Mythos sei deshalb weder wahr noch falsch, sondern operational bzw. "vielsagend" (Pouillon 1984: 79f.). Er ist aber nicht nur ein Strukturmodelt Wie die Etymologie des Wortes schon zeigt, besteht er- wie übrigens die Geschichte auch - immer zugleich aus der Vermittlung dieses Symbolgefiiges durch die Narration. Deshalb hat Andreas Dörner recht, wenn er die politischen Mythen als "narrative Symbolgebilde mit einem kollektiven, auf das grundlegende Ordnungsproblem sozialer Verbände bezogenen Wirkungspotential" bezeichnet (Dömer 1996: 43). Was nach Cassirer den Mythos von anderen ähnlichen symbolischen Formen wie der Kunst oder der Religion unterscheidet, ist nicht nur, daß er die ontologischen Differenzen und Disharmonien der Welt durch die Erzählung einer Einheit zu überwinden versucht- was die Religion auch tut-, sondern daß er zugleich stets "kosmogonisch" und "kosmologisch" dimensioniert ist: Er gibt Rechenschaft vom Ursprung allen Seins und akzentuiert einen bestimmten Raum, indem er ihn als "heilig" (im Sinne von sacrum) beschreibt (Cassirer 1994: 104ff.). Der politi1 Jeder Mythos hat nach Claude Levi-Strauss eine "doppelte Struktur, historisch und ahistorisch zugleich" (Levi-Strauss 1967: 230).
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sehe Mythos kündet zwar nicht- im Gegensatz zum religiösen Mythos- vom Ursprung allen Seins. Er zeugt aber vom Ursprung einer politischen Ära und eines abgegrenzten politischen Raums. Kurz, er erzählt von der Entstehung einer politischen Gemeinschaft, von ihrer "Kosmogonie". Die meisten politischen Mythen kommen zwar in ihren Schöpfungsgeschichten ohne Götter aus. Sie funktionieren aber nach einem binären Code (vgl. Levi-Strauss 1967: 234fT.), der religiöse "Mytheme" (Mythenteilchen) inszeniert: den ewigen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen oder die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Reinen und dem Unreinen, dem Verbotenen und dem Gebotenen usw. Das Böse, das Unreine, muß beseitigt werden, wenn nötig durch Kampf und rohe Gewalt, meist durch eine Schlacht oder einen Ansturm. Es kann aber auch - in einem Alternativmodell - durch die Bekehrung eines Machthabers und seiner Gefolgschaft zum ,,richtigen" religiösen oder säkularen Glauben überwunden werden. Als Gründungsakt der französischen Nation wird heute je nach politischer Sensibilität entweder die Bekehrung des Frankenkönigs Chlodwig zum Christentum oder aber - und diese Interpretation ist vorherrschend - der Sturm auf die Bastille gesehen. Die Dramatik des ,,Ansturms", die leicht mit theatralischem Pathos dargestellt werden kann, ist ohnehin ein beliebter Bestandteil politischer Mythen: Karl Marx bezeichnete in einem Brief von 1871 an den deutschen Arzt und Revolutionär Ludwig Kugelmann in einer klaren eschatologischen Sprache die Kommunarden als "Himmelsstürmer"; die Bolschewiki beschrieben prosaischer aber nicht minder symbolisch- ihren Aufstand als Sturm auf den Winterpalast .Dabei ist der politische Mythos häufig komplex und vielschichtig. Er setzt sich oft aus mehreren kleineren Mythen zusammen, wie Rolf Reichardt in seiner Studie des Bastillemythos gezeigt hat. Neben dem nationalen Gründungsmythos selbst fmdet man im Bastillemythos auch einen Bedrohungs- und Verschwörungsmythos, einen Erlösungs- und Heldenmythos, einen Versöhnungsmythos und einen "parareligiösen missionarischen Überlegenheitsmythos" usw. (Reichardt 1996: 159ff.). Der politische Mythos hat also eine sakrale Dimension. Meist ist er sogar von einer wirklichen Mystik getragen und erzeugt so die fiir das Sakrale typischen, sich gegenseitig ergänzenden Gefiihle des tremendum und des fascinosum. Nationale Mythen erzählen von der Aufopferungsbereitschaft der Vorfahren fiir das Gemeinwesen. Ihr heldenhafter Tod wirkt für viele anziehend und schrecklich zugleich. Heldentaten werden aber nur zum politischen Mythos, wenn sie- mit den Worten von Jean Pouillon- so "zerlegt, verkettet und ihre Abfolge so interpretiert" werden, daß sie als Gründungsakt bzw. als Heilsgeschichte einer politischen Gemeinschaft gedeutet werden können. In den Heldenmythen werden meist einzelne, aus der Masse herausragende Persönlichkeiten mit der Gründung einer neuen politischen Ära oder mit einem Befreiungskampf assoziiert. Man denke an Lenin, Mao oder Castro als Symbole einer eschatolo2 Biu:ul
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giseben revolutionären Welterneuerung, an de GauBe als Symbol des freien Frankreichs oder an Adenauer und Erhard als Symbole der Wiedergeburt Deutschlands und des deutschen Wirtschaftswunders. Der politische Mythos erzählt jedoch nicht nur von der Gründung und von dem Erlösungsweg einer politischen Gemeinschaft. Er beschreibt zugleich auch als Strukturmodell ihre "Kosmologie": Er liefert die Grundzüge der "Kartographie" ("Geographie" in der Terminologie von Cassirer) der Machtverhältnisse und die Güterverteilungsprinzipien innerhalb der symbolisch neu gegründeten Gemeinschaft.2 Damit untermauert er die Ideologien der Gemeinschaft. Ideologien brauchen den Mythos, um sich in der Vorstellungswelt einer Bevölkerung zu verankern. Sie werden aber auch selbst durch den Mythos weitgehend geformt. Claude Levi-Strauss und Louis Althusser haben deshalb beide zu Recht auf die gegenseitige Abhängigkeit mythischen Denkens und politischer Ideologie hingewiesen. Die politische "Kosmologie", die der Mythos schildert, kann übrigens sehr konkrete Formen annehmen: das Territorium der politischen Gemeinschaft wird dann zum heiligen Raum und ihre Grenzen werden zu Trennlinien zwischen dem Guten bzw. dem Vertrauten und dem Bösen bzw. dem Fremden. Der Mythos kann in diesem Fallleicht die Gestalt eines "rassistischen Mythos" annehmen, einer der vier möglichen Typen politischer Mythen, die - neben dem politischen Gründungsmythos, dem eschatologischen Mythos und dem national revolutionären Mythos - von Henry Tudor unterschieden werden (Tudor 1972: 91).
Die politischen Rituale Politische Mythen und Rituale sind oft eng miteinander verknüpft. Unter Ritualen versteht man inszenierte soziale Ereignisse, die sich wiederholen und sich vorwiegend der Symbole bedienen. Politische Rituale können entweder Alltagsriten oder groß inszenierte Liturgien sein. Im Zuge wachsender Demokratisierung und Bürokratisierung hat sich in den modernen Gesellschaften die Zahl der politischen Alltagsriten, die das Leben der staatlichen Institutionen 2 Ernst Cassirer hat auf die enge Verflechtung von der Raumgestaltung der alten religiösen römischen Mythen und den damaligen gesellschaftlichen Prinzipien der Verteilung von Macht und Gütern hingewiesen: "Die Ost-West-Linie, die durch den Lauf der Sonne bezeichnet und festgestellt wird, wurde durch eine andere zu ihr senkrechte Linie, die Nord-Süd-Linie geschnitten. Mit dieser Schneidung und Kreuzung der beiden Linien, des decumanus und des cardo, wie sie in der priesterlichen Sprache heißen, schafft sich das religiöse Denken sein erstes grundlegendes Koordinatenschema. Nissen hat im einzelnen gezeigt, wie dieses Schema sich vom Gebiet des religiösen Lebens auf alle Teile des rechtlichen, des sozialen, des staatlichen Lebens überträgt und wie es sich in dieser Übertragung immer feiner präzisiert und differenziert. Auf ihm beruht die Entwicklung des Begriffs des Eigentums und der Symbolik, durch die das Eigentum als solches bezeichnet und beschützt wird" (Cassirer 1994: 124).
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und politischen Parteien regeln und die Form der Wahlkampagnen, der Streiks, der Massendemonstrationen und der Verhandlungen zwischen Sozialpartnern bestimmen, vermehrt. Sie haben jedoch die großen politischen Liturgien nicht völlig verdrängen können, zumal politische Mythen immer noch wirksam sind. Denn politische Mythen und Liturgien stehen in einer engen Abhängigkeit voneinander: Liturgien werden von Mythen erzeugt, Mythen können aber ihrerseits ohne Liturgien nicht lange bestehen. Die Erzählung des Sturms auf die Bastille ist folgerichtig Teil einer rituell vollzogenen Handlung geworden: der Feier zum 14. Juli, die 1790 als Fest der Freiheit und der Versöhnung mit großem Aufwand zelebriert und ab 1880 zum offiziellen Teil des damals eingeführten Nationalfeiertags wurde. Für Cassirer waren der Mythos als episches und der Ritus als dramatisches Element zwei Seiten einer Medaille (Cassirer 1985: 41). Er betrachtete den Ritus sogar als "Lebensprinzip" des Mythos. Claude Riviere erläutert in seinem Werk "Les Liturgies politiques" die komplexe Wechselbeziehung zwischen Mythen und Ritualen genauer: "Der Mythos", schreibt er, "macht den Ritus glaubhaft und legitimiert ihn, indem er ihm Signifikate zuweist. Daftir vergegenwärtigt der Ritus den Mythos und sorgt ftir seine Erhaltung, indem er seine Wiederkehr sichert und ihn in einer konkreten wie auch affektiven Form vorfUhrt. Das in il/o tempore des Ursprungs geht in dem hic et nunc in Erfiillung" (Riviere 1988: 13). Ähnlich bemerkt Paul Ricoeur im dritten Band von "Temps et Recit", daß, während der Mythos den Raum und die gewöhnliche Zeit erweitert- ein Gründungsakt sollte fiir alle Zeiten gelten-, der Ritus die mythische Zeit der profanen Sphäre des Lebens und des Handeins annähert: "Denn durch die Vermittlung des Ritus erweist sich die mythische Zeit als die gemeinsame Wurzel der Zeit der Welt und der Zeit der Menschen. Durch seine regelmäßige Wiederkehr drückt der Ritus eine Zeit aus, deren Rhythmen weitgespannter sind als die des gewöhnlichen Handelns. Indem er so die Handlung skandiert, fiigt er die gewöhnliche Zeit und damit jedes kurze menschliche Leben in eine Zeit von großer Weite ein" (Ricoeur 1991 : 167f.). Außerdem wird die "Maßlosigkeit" des Mythos durch den Ritus gezähmt. Die Gewaltsarnkeit einer Revolution wird durch die Rituale kanalisiert und so zum Zweck des Machterhalts des neuen politischen Systems instrumentalisiert. Wie die modernen Mythen sind auch die modernen politischen Liturgien trotz Verweltlichung und Säkularisierung weit davon entfernt, frei von einem sakralem Hintergrund zu sein. Durkheim schrieb in seinem Werk "Les Formes elementaires de la vie religieuse" (1912): "Es gibt keine Gesellschaft, die nicht das Bedürfnis fiihlte, die Kollektivgefiihle und die Kollektivideen, die seine Einheit und seine Persönlichkeit ausmachen, in regelmäßigen Abständen zum Leben zu erwecken und zu festigen. Diese moralische Wiederbelebung kann nur mit Hilfe von Vereinigungen, Versamrnlungen und Kongregationen erreicht werden, in denen die Individuen, die einander stark angenähert sind, gemein-
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sam ihre gemeinsamen Gefiihle verstärken. Daher die Zeremonien, die sich durch ihren Zweck, durch die Ereignisse, die sie erzielen, durch die Verfahren, die dort angewendet werden, ihrer Natur nach nicht von den eigentlichen religiösen Zeremonien unterscheiden. Welchen wesentlichen Unterschied gibt es zwischen einer Versammlung von Christen, die die wesentlichen Stationen aus Christi Leben feiern, oder von Juden, die den Auszug aus Ägypten oder die Verkündigung der Zehn Gebote zelebrieren, und einer Vereinigung von Bürgern, die sich der Errichtung einer neuen Moralcharta oder eines großen Ereignisses des nationalen Lebens erinnern?" (Durkheim 1981: 571) Die religiöse Dimension politischer Liturgien ist besonders sichtbar, wenn sie das Sterben, den Krieg oder die Aufnahme in eine politische Herrschaftsordnung zum Gegenstand haben- man denke nur an die verschiedenen Formen von politischen Weihen, Gedenkakten oder an die großen theatralischen Inszenierungen der totalitären Regime. Die politischen Liturgien werden von religiösen Ritualen begleitet, so z.B. bei politischen Totenkulten (vgl. Koselleck/Jeismann 1994). In totalitären Staatsformen fungieren sie oft als Ersatz fiir nicht mehr vorhandene oder an den Rand gedrängte religiöse Kultfeiern. Der nationalsozialistische Heldenkult, um nur ein Beispiel zu nennen, wurde durch Hitlers Staat in Großliturgien mit messianischem Charakter inszeniert (vgl. Bebrenheck 1996). In den liberalen Demokratien dagegen wurde der Heldenkult zum Teil einem Dekonstruktionsprozeß unterworfen und hat infolgedessen an Bedeutung verloren: Der Volkstrauertag, der in der Weimarer Republik an die im Ersten Weltkrieg fiir das Vaterland gefallenen Soldaten erinnern sollte und im Nazideutschland als "Heldengedenktag" groß gefeiert wurde, ist in der Bundesrepublik zu einem stillen Feiertag geworden, dessen nur von den wenigsten gedacht wird. Selbst die Zeremonie des 11. November, die in Frankreich an den Waffenstillstand von 1918 erinnert und früher einen besonderen .Stellenwert hatte, hat an Wichtigkeit eingebüßt.3 Nachdenklichere Gedenkveranstaltungen rücken dafiir in den Mittelpunkt, so der 27. Januar, der 1996 in Deutschland zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erklärt wurde. Rituale, die zugleich an freiheitliche, demokratische und patriotische Überzeugungen appellieren, sind dagegen noch sehr lebendig: die Feier des 14. Juli in Frankreich oder der Memorial Day in den USA. Indem sie gleichzeitig integrative und emanzipatorische Elemente vorweisen, erfiillen sie wichtige Funktionen.
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Siehe den Beitrag von Maurice Agulhon in diesem Band.
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Funktionen der politischen Mythen und Rituale Die politischen Mythen und Rituale weisen vier verschiedene Hauptfunktionen auf: eine sinnstiftende, eine integrative, eine legitimierende und mög·licherweise auch eine emanzipatorische Funktion. Zur sinnstiftenden Funktion der Mythen und Rituale Bronislaw Malinowski, der Vertreter einer funktionalen Position, sah im Mythos eine regulierende und normierende Instanz, die in Krisenzeiten- wenn die Vernunft versagt- als ultimaratioeingesetzt wird, um eine Ordnung der Wirklichkeit zu schaffen (Malinowski 1948). Der Mythos kristallisiert in sich die bedeutendsten Werte, Normen, Glaubensinhalte und Ideologien der Gruppe und verankert sie bei den Angehörigen einer Gemeinschaft. Außerdem strukturiert er die Wirklichkeit, indem er sie vereinfacht und ein kollektives Koordinationssystem erzeugt. Durch die narrative Eimichtung entsteht so eine Ordnung, ein nomos, Orientierung und Sinn in einer Welt, die uns vertraut ist und uns zugleich fremd bleibt. Da die Wirklichkeit nach den Worten Hans Blumenbergs ungefiigig ist, fiihlt sich der Mensch ihr hilflos ausgeliefert. Der Mythos trägt zum ,,Abbau des Absolutismus einer unheimlichen, unvertrauten Wirklichkeit" bei. Er stillt die Weltangst, indem er durch die Erzählung das Chaos überwindet und erweist sich in diesem Sinne als ein vernünftiges Instrument im Dienste menschlichen Überlebens (Blumenberg 1979). Rüdiger Voigt geht einen Schritt weiter, wenn er den Mythos als einen "Schlüssel zur Gegenwart" bezeichnet. Der Mythos verknüpfe "die Gegenwart mit einer als sinnvoll angesehenen Vergangenheit" und wirke damit sinnstiftend (Voigt 1989: 11). Mythen sind Träger einer Tradition, die eine Einheit in die Vielfalt der Teilinterpretationen der Welt bringt: Die Mythen der französischen Grande Nation, des amerikanischen God 's own Land, des iranischen "Gottesstaates" oder des technologischen Fortschritts, die Voigt erwähnt, ebnen den Weg für ein gemeinsames Handeln, auch wenn dieses Handeln irrational erscheint - und oftmals auch tatsächlich ist. Als sinnstiftendes Element ist der Mythos der Ratio, dem Logos, sogar überlegen. Die Ratio kann nur einzelne Sachverhalte erklären. Um einer Gesellschaft eine Gesamtorientierung zu geben, fehlt ihr eine ganzheitliche Sicht der Realität. Wie Voigt betont, gehören aus diesem Grund die Mythen "zum Leben der Menschen, ohne Mythen kann der Mensch ebenso wenig leben wie eine Pflanze ohne Wurzeln" (Voigt 1989:
I Off.).
Auch die Rituale aktivieren mittels der Symbole, die sie benutzen, ein globales Wissen, da sie nach Auffassung Susanne K. Langers, einer Schülerin Cassirers, "Teil des unablässigen menschlichen Suchens nach Begreifen und
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Orientierung sind. In ihnen verkörpert sich sein dämmerndes Wissen von Macht und Willen, von Tod und Sieg, sie verleihen seinen dämonischen Ängsten und Idealen aktive und eindrucksvolle Form". 4 Rituale sind "bedeutungsgeladene" Symbole, die dem Verlangen nach "Sicherheit in der Wirrnis der Welt" und "nach einem Weltbild, das alle Erfahrung ausfüllt und jedem einzelnen Orientierung gewährt inmitten der furchtbaren Mächte der Natur und der Gesellschaft" entstammen (Langer 1979: 159f.). Zur Integrationsfunktion der politischen Mythen und Rituale Aus der Orientierungsfunktion der Mythen und Rituale ergibt sich deren Integrationsfunktion. Paul Ricoeur hat darauf hingewiesen, daß einzig die Erzählung in der Lage ist, eine Vielfalt von in der Vergangenheit und in der Gegenwart zerstreuten Sinngebungen zu verbinden. Durch sie wird die Gemeinschaft gleichzeitig Autor und Leser oder Zuhörer ihrer eigenen Geschichte. So trägt die Erzählung dazu bei, trotzaller durch den Ablauf der Zeit verursachten Veränderungen eine beständige Wir-Identität auftauchen zu lassen, die keinesfalls die Identität eines substantiellen Gegenstandes ist, sondern die einer handelnden Gruppe: eine praktische ipse-Identität (Selbstheit) und keine substantielle idem-Identität (Gleichheit) (Ricoeur 1996). Der hermeneutische Bezug zur Vergangenheit ist von weitreichender Bedeutung für den sich gestaltenden Prozeß der Gruppenidentität Maurice Halbwachs, einer der bekanntesten Schüler Emile Durkheirns, hat hervorgehoben, daß sich in jeder Gruppe - also auch in jeder Gesellschaft - ein überindividuelles "Kollektivgedächtnis" bildet, das aus dem Ineinandergreifen der Menge der von den Mitgliedern dieses Milieus gesammelten gemeinsamen Erinnerungen besteht. Er sprach von Kollektivgedächtnis, wie sein Meister Durkheim von "Kollektivbewußtsein" und von "kollektiven Vorstellungen" gesprochen hatte. Nach Halbwachs stellt jedes individuelle Gedächtnis einen spezifischen Blickpunkt des Kollektivgedächtnisses dar. Während die Historie nicht lückenlos verläuft, bildet dieses Gedächtnis dank der Selektion von bestimmten Ereignissen eine Kontinuität, die man nicht ohne weiteres "künstlich" nennen kann, da sie einzig die Ereignisse auswählt, die für das Leben der Gemeinschaft von besonderer Wichtigkeit sind. Das Kollektivgedächtnis unterscheidet sich von der Historie auch dadurch, daß es sich nur in dem begrenzten Rahmen einer bestimmten Gruppe entfalten kann: ein universelles Gedächtnis kann es nicht geben. Das Kollektivgedächtnis wird durch zwei wichtige Mittel geschaffen und weitervermittelt durch die Erzählung von vergangenen Ereignissen (mittels der Geschichte und der Mythen) und durch die Riten. Beide schlagen eine Brücke zwischen dem "kommunikativen Gedächt-
4 Die Vielzahl der Deutungen von Ritualen führt nach Victor W. Turner sogar zur Sammlung eines "traditionalen Wissensarchives" (Turner 1972: 12).
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nis" der in Interaktion untereinander stehenden einzelnen und dem musealischen "sozialen Gedächtnis" der Gruppe. Der politische Mythos dient, wie Herfried Münkler feststellt, dem "Wegerzählen" von Kontingenz und der Reduzierung von Komplexität. Erst durch das Wegerzählen bzw. Ausklammem von Elementen des Fremdbestimmten könne in einer Gemeinschaft Selbstanerkennung entstehen. So sind in Ostdeutschland die Demonstrationen von Leipzig bis Berlin 1989 zum entscheidenden Moment der Wende geworden, obwohl sich damals andere wichtige internationale bzw. wirtschaftliche Faktoren ausgewirkt haben. Der Mythos der bundesrepublikanischen Währungsreform und des damit verbundenen Wirtschaftswunders schien das richtige Modell für die Wiedervereinigung zu sein, da er der Reduktion von Komplexität und so auch der politischen Integration diente (Münkler 1995: 1180ff.; ders. 1996: 26ff.). Nach Meinung von Komrnunitaristen, die an Alexis de Tocqueville anknüpfen -wie Michael Walzer, Robert N. Bellab oder Amitai Etzioni -, sind Mythen und Rituale unentbehrlich, um in einer politischen Gemeinschaft über alle kulturellen und ethnischen Unterschiede hinweg einen "Gemeinsarnkeitsglauben" (Max Weber) durch symbolische Handlungen, die identitätsstiftend und solidarisierend wirken, zu aktivieren und dadurch die "politische Vergemeinschaftung" (Max Weber) in den modernen Gesellschaften voranzutreiben. Für die Kommunitaristen fiihren die heute weit fortgeschrittene funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaften und der damit verbundene Fortschritt einer desintegrativen Individualisierung dazu, daß der Gemeinsinn verschwindet. Daraus ergibt sich auch eine echte Gefahr für die Demokratie (Walzer 1967; Bellab 1985). Die Kommunitarier sind davon überzeugt, daß die Staatsbürger oder die Inhaber politischer Ämter nicht nur ihr Eigeninteresse verfolgen. Wenn dies der Fall wäre, wäre jede Art von moralischer Bewertung der Politik unmöglich. Ihrer Meinung nach hat jedoch die Massendemokratie die traditionellen Bindungsmittel und vor allem die solidarische, ethische, von der biblischen Bundestheologie inspirierte Gemeinschaft der Freien in den USA weitgehend untergraben. Dies fiihre zum Populismus, Zynismus und zu einer immer weiter fortschreitenden Zersplitterung der Gesellschaft. Deswegen sollte die Great Society unbedingt von einer Great Community getragen werden. Dies war schon 1927 die Auffassung John Deweys. Mit Great Community meinte er keine harmonische, die Differenz abschaffende Volksgemeinschaft, sondern eine kommunikative, offene Gemeinschaft. Allerdings sei die Treue zu den in der Verfassung garantierten Grundrechten, der sogenannte "Verfassungspatriotismus", allein nicht imstande, eine solche Gemeinschaft herzustellen. Die identitätsstiftende Wirkung der Symbole und der symbolischen Akte, der Rituale, ist dafür unentbehrlich. So bedurfte die Durchsetzung der Republik in Frankreich unterschiedlicher Gründungsmythen. Die Republik hat sich selbstverständlich der Mythen und Rituale aus der "Großen Revolution" bedient. Sie hat sich aber auch gleichzeitig bemüht, diese Symbolik mit der alten Symbolik des Ancien
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Regime in Einklang zu bringen, um die neue politische Ordnung zu festigen. 5 Typisch für einen solchen Versuch ist z.B. der Artikel "Mittelalter" im Großen Universellen Lexikon des 19. Jahrhunderts (veröffentlicht zwischen 1863 und 1876), in dem man folgende Beschreibung Frankreichs fmdet: "Eine Nation wurde [im Mittelalter] geboren, römisch durch ihre Zentralisierung, gallisch aufgrund der Kühnheit ihres Geistes, fränkisch durch das unbändige Gefühl ihrer Unabhängigkeit, universell aufgrund ihres Genies. Frankreich ist an und für sich eine ganze Zivilisation." Der republikanische Nationalismus des 19. Jahrhunderts trug durchaus lächerliche Züge. Als Stütze einer offen zu gestaltenden und interaktiven Integration sind allerdings Mythen und Rituale durchaus in der Lage, ,jenseits des Egoismusprinzips" -wie der Titel des letzten Buches des Kommunitariers Arnitai Etzioni lautet - eine offene Art von gesellschaftlichem Zusammenhalt zu erzeugen. Für die oben genannten Kommunitarier sind eine Rückbesinnung auf traditionelle Werte und Handlungsweisen heute nicht gefragt, sondern Werte und Handlungen, die erneut dem Gesellschaftsvertrag einen Sinn geben können. Die soziale Integration solle durch mehr Solidarität, verstärkte Partizipationsmöglichkeiten der Staatsbürger an politischen Entscheidungsprozessen und vor allem durch verstärkte Interaktionsprozesse zwischen den verschiedenen Gruppen und Gemeinschaften innerhalb der Great Community vorangetrieben werden. Dabei werden demokratische politische Mythen und Rituale einen wichtigen Beitrag zu leisten haben.
Eine positive Betrachtung der Mythen und Rituale wird auch durch Sozialwissenschaftler aus der phänomenologischen Tradition wie die Soziologen Schütz und Luckmann oder durch Anthropologen wie Clifford Geertz vertreten. Für sie sind die Syrnbolgefüge, darunter auch die Mythen und Rituale, Teil einer noch zu interpretierenden und zu verstehenden Lebenswelt Sie führen nicht notwendigerweise zu einer statischen Integration und Gleichschaltung der Teilnehmer. Sie können vielmehr auch eine aktive und kreative Interaktion zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren fördern. Mare Abeles vertritt eine ähnliche These, wenn er bemerkt: "Hierin besteht ohne Zweifel die wirkliche Beschaffenheit des politischen Rituals. Es ist weniger Interpunktion des Handeins als vielmehr ein Ensemble von Praktiken, die den öffentlichen Raum, verstanden als Spiel von - antagonistischen oder nichtantagonistischen Gruppenbeziehungen, formen[ ...] Es sind Phänomene, die der Tendenz nach zu sehr auf ein Theater des Scheins reduziert werden. Dabei könnte ohne Rituale keine Gesellschaft bestehen und, wichtiger noch, keine befreiende und emanzipatorische Bewegung entstehen" (Abeles 1993:78). Die Rituale werden hier als Bestandteil der vita activa - verstanden im Sinne Hannah Arendts als Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger am politischen Handeln- gesehen.
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Siehe den Beitrag von Suzanne Citron in diesem Band.
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Durch eine gelungene Ritualisierung können außerdem gewaltsame Konflikte - darunter auch ethnische -kanalisiert und vielleicht sogar überwunden werden. Der mimetische Ritus hat eine kathartische Wirkung: Er kann extreme Affekte inszenieren und so eine starke Spannung entladen. Der Mythos seinerseits kann dazu beizutragen, eine Ethik verbindlich zu machen, wie wir anfangs in bezug auf Platon erwähnt hatten. Er kann zwar heute nur noch sehr begrenzt durch Androhung einer ewigen Strafe Tyrannen abschrecken, er verhilft aber weiter dazu, bestimmte, fiir da:s Zusammenleben wichtige Werte zu festigen. Allerdings stellt sich die Frage, ob in den pluralistischen (post)modemen Gesellschaften, in denen ein neuer "Polytheismus der Werte" herrscht, die Integrationsfunktion der Mythen und Rituale noch greift. Es kommt dort zu einer Vermehrung einzelner kleiner Mythen. Marie Agnes Combesque und lbrahim Warde haben in "Mythologies Americaines" die große Vielfalt der in den USA derzeit vorhandenen Mythen geschildert. Man kann sich dort seine Mythen Ia carte aussuchen, von den Mythen der Gründerzeit bis zum Mythos der Beat Generation (Combesque/Warde 1996). Die Vermehrung kleinerer Mythen, die nicht selten als Waffen in den Konflikten zwischen ethnischen und religiösen Gruppen eingesetzt werden, bedrohen wiederum den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Allerdings weist Odo Marquard zu Recht darauf hin, daß die Vorherrschaft eines Monomythos viel gefährlicher ist als die .,polymythische" Geschichtenvielfalt Sie sei im Gegenteil in einer pluralistischen Gesellschaft eine Art "Gewaltenteilung" und schütze die Freiheit der einzelnen: "Sie teilt die Gewalt der Geschichte in viele Geschichten; und just dadurch [...] erhält der Mensch die Freiheitschance, eine je eigene Vielfalt zu haben, d.h. ein einzelner zu sein. Diese Chance hat er nicht, sobald die Gewalt einer einzigen Geschichte ihn ungeteilt beherrscht; dort - beim Monomythos - muß er die Nichtidentitätsverfassung seiner Geschichtenvielfalt vor dieser Monogeschichte auslöschen; er unterwirft sich dem absoluten Alleinmythos im Singular, der keine anderen Mythen neben sich duldet, weil er gebietet: Ich bin deine einzige Geschichte, du sollst keine andere Geschichte haben neben mir" (Marquard 1987: 98f.).
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Zur legitimierenden Funktion der politischen Mythen und Rituale Gerade weil politische Mythen und Rituale eine sinnstiftende und eine integrative Funktion erfüllen, werden sie - wie auch das Heilige, dessen sie sich bedienen - häufig gezielt zur Legitimation real-existierender politischer Machtverhältnisse sowie der Akkumulation ökonomischen und symbolischen Kapitals eingesetzt. Bereits Platon griff neben Allegorien6 und Gleichnissen (dem 6 So z.B. die Allegorie der drei Seelenteile - das Vernünftige, das Mutartige und das Begehrliche-, die den ethisch und funktional ausdifferenzierten Ständen der aufgeklärten Wächter, ihrer mutigen Helfer und der begierigen Handwerker und Bauern entsprechen.
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Höhlengleichnis) auch auf den Mythos zurück, um sein Ideal von Gerechtigkeit innerhalb eines ungleichen Ständesystems zu rechtfertigen. Dem im dritten Buch der "Politeia" dargestellten Mythos über die Herkunft der drei Stände in der Polis zufolge sind zwar alle Menschen Kinder der Mutter Erde, der bildende Gott hat jedoch denen, welche geschickt sind zu herrschen, schon bei ihrer Geburt Gold beigemischt, weshalb sie denn die ,,köstlichsten" sind, den Kriegern aber Silber, Eisen hingegen und Erz den Ackerbauern und übrigen Arbeitern (Politeia 414b ff.). Diese mythische Erzählung ist mit dem modernen Mythos der "genetischen Überlegenheit" der Weißen, der von Richard J. Herrnstein und Charles Murray in ihrem Buch "The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life" (1994) über die angeblich unterschiedlichen "Intelligenzquotienten" der Weißen und Schwarzen übernommen wurde, verwandt. Ein Hauptunterschied zwischen den beiden Auffassungen liegt jedoch darin, daß die platonische Staatsphilosophie nicht rassistisch ist und nach Platon der Stand der Wächter, da er zu herrschen bestimmt war, besitzlos bleiben sollte. Er setzte sich dadurch fiir eine strenge Trennung der verschiedenen "Sphären der Gerechtigkeit" ein.7 Herrnstein und Murray versuchen dagegen, der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Überlegenheit der Weißen durch ihre mythologische Erzählung eine wissenschaftliche Legitimität zu verleihen. Eine ähnliche Funktion erfiillte übrigens früher der rassistische Mythos des Kulturdarwinismus. Es ist eines der großen Verdienste des Historikers Eric J. Hobsbawm, zahlreiche nationalistische und fundamentalistische Mythen in der ganzen Welt als ideologischen Mißbrauch von Geschichte entlarvt zu haben. Wie er feststellt, erfolgt dieser Mißbrauch vor allem mit Hilfe von Anachronismen. So behaupten z.B. griechische Nationalisten, ganz Mazedonien sei ein Teil des griechischen Nationalstaats schon seit der Zeit, als der Vater von Alexander dem Großen im vierten Jahrhundert vor Christi Geburt über das gesamte griechische Gebiet herrschte. Dabei gab es damals weder einen griechischen Nationalstaat noch sonst eine politische Einheit in Griechenland. In Indien haben Unruhen wegen des Baus einer Moschee in Ayodhya stattgefunden, angeblich an dem heiligen Ort, an dem der hinduistische Gott Rarna geboren wurde. Vor dem 19. Jahrhundert fmdet man allerdings keinerlei Hinweise, daß Ayodhya der Geburtsort von Rarna gewesen sei. Biblische Erzählungen werden heute noch in Israel in den Dienst einer nationalen Machtpolitik gestellt (Hobsbawm 1994:49f.; siehe auch dazu Hobsbawm 1996). Auch Rituale sind fiir die Erhaltung sozialer Unterschiede und politischer Herrschaft sehr wirksam. Schon Xunzi, ein berühmter Vertreter des Konfuzia-
7 So nennt Michael Walzer die Verteilungssphären unterschiedlicher sozialer und politischer Güter- vgl. Walzer, Michael: Spheres of Justice. A Defense ofPiuralism and Equality, New York 1983 (deutsch: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt a.M./New York, 1994).
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nismus (298-238 v. Chr.), betonte die Wichtigkeit der Riten als Regelungen mit einer kosmologischen Dimension, die fii.r die Erkennung der Position eines jeden innerhalb einer Gemeinschaft sorgt. Durch sie würde jeder seine Rechte und vor allem seine Pflichten innerhalb der Gesellschaft erkennen. Xunzi, der sonst einen recht demokratischen Geist aufwies, hielt die Einhaltung der religiösen und politischen Rituale und der damit verbundenen sozialen Ausdifferenzierung fiir unerläßlich, um Ordnung in das Chaos zu bringen. In totalitären Staaten wurden Mythen und Rituale systematisch in den Dienst der Ideologie gestellt, die selbst mythologische Züge aufwies (Rassenideologie im Nationalsozialismus, Klassenkampf im Sozialismus). George L. Mosse hat in seinem Werk "Die Nationalisierung der Massen" die Machtergreifung Hitlers im Lichte der nationalsozialistischen Inszenierung "politischer Liturgie", der Symbole, nationalen Mythen und Massenkundgebungen untersucht. Dabei betonte er die Wichtigkeit der "Nationalästhetik" fii.r die Mobilisierung der Massen (Mosse 1993). Die ästhetische Faszination des Faschismus hatte schon den französischen Philosophen Georges Bataille in den dreißiger Jahren beeindruckt. Er schlug damals vor, gezielt gegen den Faschismus Gegenmythen und -rituale zu entwerfen und einzusetzen. Mit der Absicht, die Wirkung des Heiligen auf die affektiven Kräfte besser verstehen zu können, gründete er zusammen mit Roger Caillois und Michel Leiris 1938-1939 sogar ein sog. "College de sociologie sacree". Dieser Versuch mußte allerdings angesichts des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs fehlschlagen. Geprägt von der traumatischen Erfahrung des Exils behauptete Cassirer 1946 folgerichtig, die Mythen werden künftig "nach denselben Methoden[ ... ] wie jede andere moderne Waffe- wie Maschinengewehre oder Aeroplane" erzeugt werden (Cassirer 1985: 367f.). In liberalen Demokratien sollten zwar der Theorie nach Mythen und Rituale keine Legitimationsfunktion haben. Die Legitimation einer demokratischen Herrschaft sollte allein vom Willen der Bürgerinnen und Bürger und von ihrer Adhäsion am politischen System abhängen. Mythen und Rituale werden allerdings auch in politischen Systemen mit Selbstbestimmungscharakter ftir Legitimationszwecke gebraucht. Der amerikanische Politologe Harold D. Lassweil beschrieb vor dem Zweiten Weltkrieg in Anlehnung an die Eliten- bzw. Oligarchietheorien von Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto einerseits und in bezug auf die Massen- und Tiefenpsychologie andererseits die Manipulation der Massen in den USA durch eine wirtschaftliche und politische Elite, die bestrebt sei, ihr eigenes Einkommen, ihre Sicherheit und Macht zu maximieren. Die politischen Symbole, darunter auch zahlreiche Mythen und Rituale, die zu diesem Zweck eingesetzt würden, wirkten auf die Massen ein, weil sie deren mehr oder minder unbewußten Wünschen nach Sicherheit und Macht entsprächen. Die Elite simuliere nur eine Verarbeitung der gesellschaftlichen Probleme. In der Realität versuchten die Politiker nicht einmal, Lösungen ftir die ohnehin schwierigen und komplexen sozialen und politischen Probleme unserer
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Zeit zu entwerfen. Es sei für sie einfacher und effektiver, durch eine geschickte Inszenierung der Wirklichkeit diese Probleme zu verschleiern (Lasswell 1930; 1932). Magische Lösungen würden angeboten, die von der schwer zu bewegenden Realität ablenken, die Aufmerksamkeit auf immer neue Symbole lenken und dadurch eine ,,kathartische Funktion" erfiillen (Lasswell 1935: 195). Die machiavellistische Auffassung LassweHs wurde später in der Untersuchung der Massenmanipulation durch politische Symbole von Murray Edelman nicht grundsätzlich widerlegt, sondern als zu simpel betrachtet. In "The Symbolic Uses of Politics" stellt Edelman fest, daß in einer Demokratie eine von "oben" durchdachte Manipulation der Masse, wie sie in den totalitären Regimes erfolgt, auf Dauer unmöglich ist. Die Gewaltenteilung, die eine Begrenzung der Macht der politischen Instanzen durch andere Machtinstanzen sichert, wie auch die Kontrolle der Herrschenden durch eine freie Presse verhindern, daß, wie es in den nicht-demokratischen Staaten der Fall ist, eine Nomenklatura von Berufsfunktionären durch Massenkundgebungen, politische Veranstaltungen, Diskussionsgruppen und Organisationen aller Art die Einzelnen gleichschaltet, indoktriniert und in einer gehorsamen Menge ohne Eigenschaften verschwinden läßt. Wenn indes in den liberalen Demokratien eine Manipulation der Massenöffentlichkeit mittels Symbolen stattfmdet, dann deshalb, weil die Menschen selbst nach einer solchen Manipulation geradezu streben. Der Mensch versucht instinktiv, in ein immer verwirrender und undurchschaubarer gewordenes Umfeld Sinn und Ordnung zu bringen. Politische Mythen und Rituale - verstanden als gemeinsame motorische Aktivität - dienen diesem Zweck. Sie geben dem einzelnen die Gewißheit, kein Außenseiter zu sein, und erfiillen ihn mit Stolz und Befriedigung über die kollektiv erbrachte Leistung. Auf diesem Weg wird ein vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit geschaffen. Tatsachen, die nicht in dieses Bild passen, werden ausgeblendet. Das politische Ritual nimmt die Form eines pathologischen Handlungszwangs an. Sein Wiederholen bringt zwar ein Gefiihl der Sicherheit mit sich, bewirkt aber zugleich, daß keine entscheidende Änderung mehr stattfmdet. Politische Konflikte werden ritualisiert und verlieren auf diese Weise an Sprengstoff. Dadurch wird aber auch jedem die Freiheit geraubt und politisches Handeln verhindert bzw. stark eingegrenzt. Politische Mythen sind Deutungsangebote, die im Rahmen eines manichäischen Kampfes oder einer hierarchischen Gesellschaftsordnung die Rollen, welche die einzelnen innerhalb der Gesellschaft zu spielen haben, ein fiir allemal festlegen. Nach Edelman ist es die Masse selbst, die nach politischen Symbolen verlangt. Diese fordern aber den Quietismus und die konforme Haltung der einzelnen und fuhren letztendlich zur Legitimation der vorgegebenen politischen Herrschaftsordnung. Konformismus und Konservatismus fmden sich so zusammen. Beide werden durch patriotische Feiern, welche die Größe, die Bedeutung und die Heldenhaftigkeit der Nation als kollektive Einheit unterstreichen und die Kleinkariertheit jedes Zweifels an ihren großen Taten ver-
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urteilen, bestärkt. Subtiler, und daher für Edelman zwingender, ist aber das Ritual von Wahlkämpfen und politischen Diskussionen. Das Volk glaubt, sich damit am politischen Entscheidungsprozeß zu beteiligen. Es sieht aber nicht, daß in den westlichen liberalen Demokratien seine Rolle auf ein Minimum reduziert ist. Edelman meint, daß die Öffentlichkeit ihr eigenes Spektakel konstruiere, unterstützt von Schauspielern, die ihre Rollen beherrschen. Auf diese Weise errichtet sie einen Käfig, der die Entfaltung von Geist und von politischem Handeln unterbindet. Edelman führt das Beispiel der Dramaturgie des Ost-West-Konflikts an, der sowohl Unterstützung als auch Ausgaben fiir den Militärapparat und die Rüstungslieferanten auf beiden Seiten ankurbelte. Diese Dramaturgie zwischenstaatlicher Feindschaft hat seiner Meinung nach andere Konflikte mit wesentlichen Auswirkungen verdeckt: den Wettbewerb um Gelder für militärische oder soziale Zwecke in allen beteiligten Ländern, die Gegensätze zwischen Offizieren und Wehrpflichtigen wie auch die Auswirkungen kalter und heißer Kriege auf die Armen in allen Ländern (Edelman 1964). Politische Symbole wirken also nach Meinung Edelmans wie ein Opium des Volkes, um eine Formulierung Karl Marx' zu benutzen, ein Opium, nach dem sich ein in der modernen, traditionsfeindlichen Welt zutiefst verunsicherter Mensch sehnt. Selbst die Sprache wird zu diesem Zweck ritualisiert. Sie erstarrt in einem administrativen Jargon mit eigener Gesetzlichkeit, der jede Art von selbständigem und innovativem Denken verhindert. Dadurch wandelt sich, was anfangs noch fortschrittlich aussah, nämlich die rationalisierende Bürokratisierung der Gesellschaft, in ihr Gegenteil, in die Inkompetenz einer von der wahren Welt abgeschirmten und in ihren Ritualen selbst gefangengenommenen Technokratie. Die Sehnsucht der einzelnen nach Orientierung und Sicherheit führt außerdem dazu, daß der Mensch in den durch und durch technokratisierten und anonymen Demokratien nach einer starken Hand verlangt, die Sicherheit in eine als unsicher empfundene komplexe Welt bringen soll. Zivile oder Militärs, die im Krieg Mut und vor allem Entschlossenheit bewiesen haben, werden deshalb oft - vor allem in Krisenzeiten - vom Volk als die besseren Politiker betrachtet: so de Gaulle in Frankreich, Churchill in England, Eisenhower in den USA. Claus Offe hat in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe des Werks von Murray Edelman von einer "Brechung in zwei Realitätsebenen" des Politischen gesprochen (Edelman 1976: VIII): Reale und symbolische bzw. inszenierte Politik- der sog. Nenn- und Symbolwert der Politik- stehen heute nebeneinander. Ulrich Sarcinelli hat in Anlehnung an die Analyse von Offe die besondere Bedeutung der symbolischen Politik im Sinne einer Inszenierung der Wirklichkeit in unseren Mediengesellschaften betont (Sarcinelli 1987; 1989). Die extreme Mediatisiert.mg der Politik wurde durch J.R. McLeod am Beispiel der schauspielerischen Leistung eines George Bush während der Wahlkampagne 1990 untersucht. Die Bezüge auf die von den Amerikanern heiliggehaltenen Werte
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wurden damals vermengt: die Unionsflagge, die Familie, die Freiheit und Gott. Ritual und politische Symbolik sind feste Bestandteile unserer modernen oder postmodernen medialen politischen Inszenierung geworden (McLeod 1990). Die politische Inszenierung der am schnellen Konsum orientierten Massenmedien führt aber, wie Manfred Russo in seiner Studie der modernen politischen Kommunikation mit Recht bemerkt, zu einem Verfall der ästhetischen Symbolik in der Politik, der wiederum die Politikverdrossenheit fOrdert. Russo betont dazu: "Politische Wertvorstellungen, deren Beschreibung ein Parteiprogramm ausfiillt, können besser in wenigen gelungenen ästhetischen Symbolen dargestellt, verstanden und erlebt werden. Umgekehrt formuliert bedeutet die Wahrnehmung eines Verlustes ästhetischer Substanz auch die W ahrnehrnung fehlender W ertvorstellungen. Sie ist damit ein Symptom des Prozesses politischer Entfremdung, ohne daß sich die Menschen dieser Bedeutung immer bewußt wären" (Russo 1985: 118f.). Heute wird außerdem die Manipulation der Massen in den westlichen Demokratien durch die politischen Symbole aufgrund steigender Mediatisierung der Politik immer auch von einer Manipulation der Politiker durch die Eigengesetzlichkeit der Medien begleitet. Der Politologe Jean-Marie Guehenno bemerkt dazu: "Das Fernsehen zwingt der politischen Auseinandersetzung seinen Rhythmus auf[ ... ] Die Arbeit des Politikers besteht also darin, seine Rolle so gut wie möglich zu spielen, um möglichst oft in den rund fiinfzig Psychodramen präsent zu sein, die Jahr fiir Jahr über den Bildschirm gehen[ ... ] Fragmentierte Bilder und Personen, zerstückelte Zeit, vereinfachte Wahrnehmung: Das wichtigste und häufig das einzige Kriterium ist, ob ein Thema in aller Munde ist; denn eine Frage, über die nicht gesprochen wird, existiert nicht" (Guehenno 1994: 50f.). Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat die kritische Analyse der politischen Symbole Edelmans auf eine besondere Art von Ritualen angewandt: die politischen Einsetzungsriten. Für Bourdieu dienen diese Rituale dazu, "eine willkürliche Grenze als willkürliche nicht erkennen und statt dessen als legitime, natürliche Grenze anerkennen zu lassen". Es handelt sich um rites de passage, um "Übergangsriten", durch die eine Grenze zwischen Herrschenden und Gehorchenden feierlich bestätigt wird. Dies gilt für die Investitur eines Präsidenten der Republik wie auch fiir die Verleihung von Diplomen an die Nachfolger einer Elite, die sich im Laufe der Zeit reproduziert. Die Einsetzungsriten sind Akte "sozialer Magie". Der Ritus setzt die Differenz als objektive Beschaffenheit, sakralisiert sie und macht dadurch die sozialen Klüfte zu natürlichen. Er markiert die Übertragung eines symbolischen politischen Kapitals. Nicht zufällig, bemerkt Bourdieu, besetzen die Parteien wie auch die Kirchen ihre Spitzen oft mit ihren eigenen Mitgliedern. Die modernen Einsetzungsrituale seien Teil des politischen Theaters. Bourdieu begrüßte die Kandidatur des verstorbenen Pariser Komikers Coluche bei den französischen Präsidentschaftswahlen 1981, da er durch seine Kandidatur die politische Mystifikation in den westlichen
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Demokratien sichtbar machte. Coluche trat als "Spielverderber" auf die politische Bühne. Nach Bourdieu stößt die politische Mystifikation allerdings an ihre Grenzen, wo es eine Homologie zwischen der Struktur des politischen Theaters und der Struktur der dargestellten Welt gibt, d.h. ,,zwischen dem Klassenkampf und der sublimierten Form dieses Kampfes, die sich im Felde der Politik abspielt". Was im sozialen Feld die Herrschenden und die Beherrschten sind, sind dann im politischen Feld in einer sublimierten Form die "Rechte" und die "Linke". Diese Homologie führt jedoch zu einer Verharmlosung der gesellschaftlichen Gegensätze. Aus diesem Grund wird die soziale Ungerechtigkeit nicht aufgehoben (Bourdieu 1991).
Zur emanzipatorischen Funktion der politischen Mythen und Rituale Lowell Dittmer hat die zu einseitige Kritik der politischen Symbole von Edelman im Namen aufklärerischer Emanzipationsbestrebungen teilweise in Frage gestellt. Die Rationalität der Elite und die irrationale Haltung der Massen seien beide von Edelman überbewertet worden. Die Politik habe nicht nur die Aufgabe, materielle Güter zu verteilen, sondern auch zu integrieren und zu mobilisieren. Zwar habe Edelman die Integrationsfunktion der Rituale nicht geleugnet. Er habe jedoch die Integration als Gleichschaltung der einzelnen verstanden und nicht als notwendige Interaktion, um positive Energien mobilisieren zu können. Rituale, erinnert uns Dittmer, spielten zum Beispiel in den USA der 60er Jahre eine wichtige Rolle bei der Mobilmachung der Intellektuellen fiir die Zivilrechtsbewegung. Für ihn sind die Symbole sogar zentrale Faktoren der demokratischen politischen Kultur. Die Ritualisierung der Politik dient der Kontrolle und der Schaffung einer gemeinsamen Zukunft. Durch sie kann ein Konsens entstehen, der fiir alle gilt. Dieser Konsens ist aber weit davon entfernt, kritische Einstellungen auszuschalten (Dittmer 1977; vgl. auch Turkle 1975; Kawalewski 1980; Elder/Cobb 1983; Klatch 1988). Die Forschungen von Jan Kubik über die Feierlichkeiten zum 1. Mai in Polen zwischen 1970 und 1981 haben gezeigt, daß die Ritualisierung der Politik sich nicht nur auf eine Manipulation der Akteure beschränke, sondern auch wirkliche Arbeit verschiedener Gruppen (Solidarnosc, die katholische Kirche, die reformfreundlichen Elemente innerhalb der kommunistischen Partei) darstelle. Kubiks Analysen sind Beispiele dafür, wie politische und religiöse Rituale in den Prozeß der Auflösung eines undemokratischen Regimes eingreifen können (Kubik 1989). Mare Abeles hat die Untersuchung Kubiks als Beleg für seine eigene Kritik der zu einseitigen Sichtweise Pierre Bourdieus eingebracht. Er bemerkt dazu: "Hierin besteht ohne Zweifel die wirkliche Beschaffenheit des politischen Rituals. Es ist weniger Interpunktion des Handeins als vielmehr ein Ensemble von Praktiken, die den öffentlichen Raum, verstanden als Spiel von - antagonistischen oder nichtantagonistischen - Gruppenbeziehungen,
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formen[ ... ] Es sind Phänomene, die der Tendenz nach zu sehr auf ein Theater des Scheins reduziert werden. Dabei könnte ohne Rituale keine Gesellschaft bestehen und wichtiger noch keine befreiende und emanzipatorische Bewegung entstehen" (Abeles 1993: 78). In seiner vielzitierten Untersuchung der Zeremonien vom 11. November hat uns außerdem der französische Historiker und Politologe Antoine Prost zu Recht daran erinnert, daß es ohne Kultus "keinen republikanischen Glauben und keine republikanische Tugend mehr" gibt. "Dann", fährt er fort, "herrscht ein entzaubertes Regime, in dem sich der Gesellschaftsvertragangesichts funktionaler Notwendigkeiten verflüchtigt" (Prost 1984: 222). Schon Perikles in seiner berühmten Gefallenenrede8 und Abraham Lincoln bei der Eröffnung des Nationalfriedhofs in Gettysburg 1863 haben Totenfeiern zum Anlaß genommen, um ihre demokratischen Überzeugungen auf pathetische Weise kundzutun. Auch öffentliche religiöse Bestattungen von großen Intellektuellen oder Politikern können eine solche Wirkung erzielen. Als die Leiche des weltberühmten Dichters Victor Hugo 1885 in Paris mit großem Aufwand vom Triumphbogen bis zum Pantheon getragen wurde, bekam die junge Französische Republik, die damals noch auf wackeligen Füßen stand, eine wichtige Unterstützung. Der Weg des Trauerzugs selbst war ein Symbol fiir die Wandlung Hugos vom Anhänger Napoleons (dieser gab den Triumphbogen in Auftrag) zum Verfechter der Republik. 9 Und als im November 1995 Jitzak Rabin begraben wurde, haben auch Andacht und Bestattung zu einer Meinungsänderung in Israel zugunsten einer Unterstützung des Friedensprozesses im Nahen Osten beigetragen.
Der Januskopf der politischen Mythen und Rituale Mythos und Ritual sind nicht an sich positiv oder negativ beladen. Es ist nach dem Ausdruck von Hans Blumenberg die "Arbeit am Mythos" bzw. am Ritual, d.h. ihre Rezeption und die daraus folgende Auseinandersetzung, die einem Mythos bzw. einem Ritual eine konservative oder im Gegenteil eine emanzipatorische Funktion verleihen. Nicht selten haben die politischen Symbole einen Januskopfund erfiillen diese beiden Funktionen gleichzeitig. Gilbert Morris Cuthbertson hat die positiven Folgen eines weitverbreiteten Glaubens an epische Erzählungen für eine politische Gemeinschaft betont: Bindung des Helden an die Gemeinschaft, Legitimation der Herrschaft, Konsensbildung über moralische Prinzipien und Begrenzung der Anzahl von sinnvollen Alter8
V gl. Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges II, S. 65 .
Das Pantheon wurde zu dieser Gelegenheit als katholische Kirche entweiht und wieder als Ort des zivilen Kultus der "großen Männer" der Republik geweiht. 9
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nativen für das politische Handeln durch die Herstellung einer verbindlichen Rangordnung von Möglichkeiten. Sogar der Konservatismus vieler Mythen kann von Vorteil sein, wenn es z.B. darauf ankommt, altbewährte Traditionen zu erhalten, die Jugendlichen mit Hilfe von Übergangsriten als aktiv Handelnde in die Gemeinschaft einzuweisen oder eine friedliche Rotation der Elite zu sichern. Cuthbertson stellt aber zugleich fest, daß gerade dieser Konservatismus zu einer Reduzierung der Anpassungsflihigkeiten einer Gemeinschaft im Falle einer Krise führen kann, indem er die Durchsetzung unkonventioneller Lösungen verhindert (Cuthbertson 1975: 102). Politische Mythen können zudem nach Münkler "durchaus Bollwerke gegen den Absolutismus des Eigeninteresses sein, das sich zum unhinterfragbaren Mittelpunkt und Maßstab aller Entscheidungen machen will. Die mythisch integrierte Geschichtserzählung bietet konkurrierende Maßstäbe, solche, die anstelle der Verfolgung des Eigeninteresses eher Opfer und Verzicht fordern, die den einzelnen, der den Mittelpunkt der Interessenkonzeption bildet, in ein Glied der langen Kette aufeinanderfolgender Generationen verwandelt." Alles hänge von der Auslegung des Mythosd.h. von der ,,Arbeit am Mythos"- ab (Münkler 1996: 27). Als Beispiel für eine ,,Arbeit am Mythos" voller Ambivalenz kann hier der Mythos der Jeanne d'Arc herangezogen werden (siehe dazu Krumeich 1989; Winock 1992). Die Jungfrau von Orleans war von Anfang an eine umstrittene Figur: Sie wurde 1431 durch die Inquisition mit Einverständnis der Universität Paris als Hexe verurteilt und verbrannt. 1456 hat der Papst sie jedoch rehabilitiert. Die ersten Chroniken über Johanna wurden entweder durch Anhänger der Armagnacs, die auf der Seite Karl VII. standen, oder durch Mitstreiter der Burgunder, die sie gefangengenommen und den Engländern übergeben hatten, geschrieben und waren entsprechend kontrastiert. Erst im 19. Jahrhundert kam es infolge der Ausweitung eines neuen Nationalismus und der Romantik mit ihrer Vorliebe für das Mittelalter zu einer breiteren Jeanne-d'Arc-Verehrung. Voltaire noch hatte sie eine "arme Irre" genannt. Während der Restauration ( 18151830) wird das katholische Lager der Jungfrau von Orleans einen Kult widmen. In den Augen der Katholiken hatte sie sich vor allem als Stütze des Staates, der Monarchie und des wahren Glaubens große Verdienste erworben. Es ist aber paradoxerweise das Gegenlager der Republikaner, das, getragen von seinem Patriotismus, dazu beitragen wird, die mythologische Figur der Johanna zu popularisieren. Die Republikaner beschrieben sie voller Bewunderung als Nationalheidin, Verkörperung des Volkes als Nation (Sismondi) und sogar als "Messia des Nationalen" (Henri Martin). Jules Michelet lobte sie mit großem Pathos als Stiftetin und Inbegriff der französischen Nation. 10 Er nannte Johanna die "Mutter der Demokratie" und machte sie so zu einer Art republikanischem, nationalistischem und laizistischem Pendant zur Jungfrau Maria, der "Mutter der Kirche".
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Jules Michelet: Jeanne d' Are, Paris 1853.
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Diese Sicht wurde in den Schulen der Republik Generationen von Kindem vermittelt. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde aber die Figur der Johanna vom neu entstandenen rechtsnationalistischen Lager vereinnahmt. Die neoroyalistische Action Fran