Bundesrecht bricht Landesrecht: Eine staatsrechtliche Untersuchung zu Artikel 31 des Grundgesetzes [1 ed.] 9783428466863, 9783428066865


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German Pages 239 Year 1989

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Bundesrecht bricht Landesrecht: Eine staatsrechtliche Untersuchung zu Artikel 31 des Grundgesetzes [1 ed.]
 9783428466863, 9783428066865

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WOLFGANG MÄRZ

Bundesrecht bricht Landesrecht

Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Herausgegeben von Wolfgang Graf Vitzthum in Gemeinschaft mit Martin Heckel, Ferdinand Kirchhof Hans von Mangoldt, Thomas Oppermann Günter Püttner sämtlich in Tübingen

Band 1

Bundesrecht bricht Landesrecht Eine staatsrechtliche Untersuchung zu Artikel 31 des Grundgesetzes

Von Dr. Wolfgang März

Duncker & Humblot * Berlin

Als Dissertation im Fachgebiet „Staatsrecht" ausgezeichnet mit dem Heinz-Maier-Leibnitz-Preis des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek März, Wolfgang: Bundesrecht bricht Landesrecht: eine staatsrechtliche Untersuchung zu Artikel 31 des Grundgesetzes / von Wolfgang März. — Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 (Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht; Bd. 1) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1988 ISBN 3-428-06686-3 NE: GT

D 21 Alle Rechte vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: TecDok Angelika März, Kirchentellinsfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0935-6061 ISBN 3-428-06686-3

uxori carissimae

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1988 von der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Sie wurde für die Drucklegung überarbeitet und teilweise ergänzt; Schrifttum und Rechtsprechung wurden bis Aprü 1989 berücksichtigt. Mein besonderer Dank güt Prof. Dr. Wolfgang Graf Vitzthum. Ihm verdanke ich neben der Anregung zur Bearbeitung dieses Problemkreises, die im Kontext der Vorstudien zur Passauer Staatsrechtslehrertagung ("Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart") entstand, das unverzichtbare wissenschaftliche Gespräch, zahlreiche Einzelhinweise und vor allem den Ansporn, ein so komplexes Thema überhaupt in Angriff zu nehmen und in relativ kurzer Zeit abzuschließen. Ohne weitgehende Freistellung von den sonstigen Dienstverpflichtungen an seinem Lehrstuhl und ohne die Unterstützung meiner Kollegen wäre dies nicht möglich gewesen. Prof. Dr. Günter Püttner bin ich für die Übernahme und rasche Erstellung des Zweitgutachtens, der Fakultät für die zügige Durchführung des Promotionsverfahrens sehr verbunden. Dank zu sagen habe ich aber auch Prof. Dr. Peter Badura, München, für die seinerzeitige Annahme als Doktorand sowie der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die sich im Jahr 1983 in großzügiger Weise zu einem Promotionsstipendium in der Lage gesehen hatte — dies freilich zu einem ganz anderen Thema, an dem sich der Verfasser (wie er nach einiger Zeit feststellen mußte) schon des Umfangs wegen wahrscheinlich "verhoben" hätte, dessen Bearbeitung er indes in absehbarer Zeit vorlegen zu können hofft. Zu erwähnen ist schließlich das besondere Entgegenkommen des Verlags Duncker & Humblot - vor allem seiner Geschäftsführung (Herr Simon) und der Herstellung (Frau Michitsch und Frau Müller) - , der neben der Annahme der Arbeit zur Veröffentlichung und der damit verbundenen Auszeichnung, eine neue Reihe staats- und verwaltungsrechtlicher Tubigensia einzuleiten, das nicht unerhebliche Wagnis eingegangen ist, dem Verfasser entgegen üblichen Gepflogenheiten die satztechnische Aufbereitung des Manuskripts anzuvertrauen. Auch für etwaige diesbezügliche Schwächen trägt der Autor Verantwortung. Tübingen, im April 1989

Wolfgang März

Inhalt Α. Einfuhrung

15

Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung des Verhältnisses von Reichsund Landesrecht

25

I. Rechtsgehalt und Rechtsquellenfunktion mittelalterlicher Rechtssprichwörter

27

II. Rechtssystem und Kollision der Rechte im mittelalterlichen Rechtsdenken der Vorrezeptionszeit

30

1. Die Kollision der Rechte unter dem Personalitätsprinzip

30

2. Der Wandel zum Territorialitätsprinzip

32

3. Rechtsquellen des mittelalterlichen Rechts

34

III. Rechtssystem und Kollision der Rechte nach der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland

39

1. Herkunft und Geltung des römischen Rechts in Deutschland

39

2. Die Ausbildung eines Rangverhältnisses der Rechtsquellen

43

3. Die Kollision der Rechte in ihrer praktischen Anwendung

48

IV. Die Kollision der Rechte zur Zeit des Deutschen Bundes

50

V. Die bundesstaatliche Kollision der Rechte im Verfassungssystem des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches

58

1. Die Positivierung und Politisierung der bundesstaatlichen Kollisionsnorm

58

2. Der Vorrang des Reichsrechts in seiner praktischen Bewährung

59

3. Die dogmatische Erhebung der Vorrangregel zum Rechtsgrundsatz . . .

62

4. Die Typisierung der Gesetzgebungskompetenzen und die Durchsetzung der Rechtseinheit

65

VI. Die bundesstaatliche Kollision der Rechte im Verfassungssystem der Weimarer Republik

68

1. Art. 13 I WeimRV zwischen Rezeption und Kontinuität

68

2. Die Vertiefung des Art. 13 I WeimRV als Rechtsgrundsatz

71

VII. Exkurs: Die bundesstaatliche Kollision der Rechte unter der nationalsozialistischen Herrschaft

73

10

Inhalt

VIII. Die bundesstaatliche Kollision der Rechte in den Verfassungsberatungen zum Grundgesetz IX. Zusammenfassung: Vom Rechtssprichwort zum Rechtsgrundsatz C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich des Art 31 GG I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Kollision von Bundes· und Landesrecht

76 81 85

85

1. Die Anfänge der Rechtsprechung zu Art. 31 GG

86

2. Die Konsolidierung der Rechtsprechung zu Art. 31 GG

91

3. Die Neuorientierung der Rechtsprechung zu Art. 31 GG

93

II. Art. 31 GG als Kollisionsentscheidungsnorm 1. Art. 31 GG als Kollisionsnorm

97 98

2. Die Rangordnung von Rechtssätzen und deren Kollision

101

3. Art. 31 als Kollisionsentscheidungsnorm

108

4. Normenkollision und Kompetenzkollision im Bundesstaat

110

III. Art. 31 GG und das Verhältnis des einfachen Rechts von Bund und Ländern 119 1. Die grundgesetzliche Struktur der bundesstaatlichen Zuordnung der Gesetzgebungskompetenzen 119 2. Die Qualifikation von Rechtssätzen im legislativen Bund-Länder-Verhältnis 123 3. Die Kompetenzverteilung im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes 141 4. Die Kompetenzverteilung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes 144 5. Die Kompetenzverteilung im Bereich der Rahmengesetzgebung

157

6. Die Kompetenzverteilung im Bereich der Grundsatzgesetzgebung . . . .

164

IV. Art. 31 GG und das Verhältnis des Verfassungsrechts von Bund und Ländern 169 1. Die Gliedstaatlichkeit der Länder und ihr Verfassungsraum

169

2. Das Verhältnis von Grundgesetz und Landesverfassung

180

3. Art. 31 GG und die verfassungsstrukturellen Vorgaben für die Ausgestaltung des Landesverfassungsrechts (Art. 28 I f II GG)

186

4. Art. 31 GG und die grundrechtsbezogenen Vorgaben für die Ausgestaltung des Landesverfassungsrechts (Art. 142 GG) 192 D. Zusammenfassung

204

Literatur

209

Abkürzungen a.

= auch

A.A, a.A.

= anderer Ansicht

a.a.O.

= am angegebenen Ort

Abs.

= Absatz

Abschn.

= Abschnitt

Abt.

= Abteilung

AK-GG

= Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - Reihe Alternativkommentare, bearb. v. Axel Azzola u.a.

Ani.

= Anlage

AnnDR

= (Hirths) Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft

AP

= Arbeitsrechtliche Praxis

Art.

= Artikel

Aufl.

= Auflage

Bad.-württ.

= Baden-württembergisch(e)

Bay.

= Bayerisch(e)

BayVerfGH

= Bayerischer Verfassungsgerichtshof

Bd., Bde.

= Band, Bände

Bearb.

= Bearbeiter, bearbeitet

BGBl

= Bundesgesetzblatt

BK

= Kommentar zum Bonner Grundgesetz - Bonner Kommentar, bearb. v. Peter Badura u.a.

Bln.

= Berlin(er)

Brem.

= Bremisch(e)

BV

= Bundesverfassung

CCC

= Constitutio Criminalis Carolina (Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V.)

DBA

= Deutsche Bundesakte

ders.

= derselbe

Drs.

= Drucksache

E

= Entscheidung

ebd.

= ebenda

Abkürzungen

12 Einl.

= Einleitung

f., ff.

= fortfolgend, fortfolgende

Fn.

= Fußnote

Forts.

= Fortsetzung

GG

= Grundgesetz

ggf.

= gegebenenfalls

GGK

= Grundgesetz-Kommentar, hrsg. v. Ingo von Münch

H.

= Heft

Hamb.

= Hamburgisch(e)

Hess.

= Hessisch(e)

HRG

= Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hrsg. v. Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann

Hrsg., hrsg.

= Herausgeber, herausgegeben

HS

= Halbsatz

i.V.m.

= in Verbindung mit

JB1

= Juristische Blätter

Jg.

= Jahrgang

Jur. Diss.

= Juristische Dissertation

KMK-HSchR

= Kultusministerkonferenz - Hochschulrecht

I.

= links, linke

LBG BW

= Landesbeamtengesetz Baden-Württemberg

Lbl.

= Loseblatt

Lfg.

= Lieferung

LRiG

= Landesrichtergesetz

m.

= mit

m.a.W.

= mit anderen Worten

m.w.N.

= mit weiteren Nachweisen

NB

= Norddeutscher Bund

NBVerf.

= Verfassung des Norddeutschen Bundes

NCC

= Novum corpus constitutionum Prussico Brandenburgensium praecipue Marchicarum

ND

= Nachdruck

Nds.

= Niedersächsisch(e)

NF

= Neue Folge

Nordr.-westf.

= Nordrhein-Westfälisch(e)

Nr.

= Nummer

o.a.

= oben angegeben

Abkürzungen O.J.

= ohne Jahr

o.O.

= ohne Ort

ÖJZ

= österreichische Juristenzeitung

österVerfGH

= österreichischer Verfassungsgerichtshof

ÖZW

= österreichische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

PrOVGE

= Entscheidungen des Preußischen Oberverwaltungsgerichts

r.

= rechts, rechte

RÄO

= Reichsärzteordnung

Rdnr.

= Randnummer

Rez.

= Rezension

RGBl

= Reichsgesetzblatt

RGZ

= Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen

Rh.-Pf.

= Rheinland-Pfälzisch(e)

RKG

= Reichskammergericht

RKGO

= Reichskammergerichtsordnung

RPO

= Reichspolizeiordnung

RV

= Reichsverfassung

S., s.

= Seite; siehe

Saarl.

= Saarländisch(e)

Schi.-Hol.

= Schleswig-Holsteinisch(e)

SchmJb

= (Schmollers) Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft

SchwJZ

= Schweizerische Juristen-Zeitung

SchwZBl

= Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung

Sp.

= Spalte

st. Rspr.

= ständige Rechtsprechung

Sten. Ber.

= Stenographische Berichte

StGH

= Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich

T.

= Teil

Teilbd.

= Teilband

TvR

= Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis

u.a.

= unter anderem, und anderswo

UeB

= Übergangsbestimmungen

u.ö.

= und öfter

v.

= vom, von

Verf.

= Verfasser

14 VerfGH

Abkürzungen =

Verfassungsgerichtshof

VerhRT

=

Verhandlungen des Reichstags

vgl.

=

vergleiche

WeimRV

=

Weimarer Reichsverfassung

WSA

=

Wiener Schlußakte

Württ.-bad.

=

Württemberg-Badisch(e)

ZAkadDR

=

Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht

z.B.

=

zum Beispiel

ZBernJV

=

Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins

ZfV

=

ZSchwR

Zeitschrift für Verwaltung Zeitschrift für Rechtsgeschichte der Savigny-Stiftung (GA = Germanistische Abteilung, KA = Kanonistische Abteilung, RA = Romanistische Abteilung)

ZRG

=

Zeitschrift für Schweizerisches Recht

Im übrigen wird auf Hildebert Kirchner / Fritz Kastner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 3. Aufl. Berlin / New York 1983 verwiesen.

Α. Einführung Der Bundesstaat hat Konjunktur, so scheint es, betrachtet man die diesbezüglichen Bemühungen im juristischen wissenschaftlichen Schrifttum der letzten Jahre. Immer häufiger tauchen Aufsätze, Monographien und andere Darstellungen auf, die sich der Ausgestaltung und Bedeutung des föderativen Gedankens unter dem Grundgesetz im allgemeinen, aber auch einzelnen Schwerpunkten der bundesstaatlichen Ordnung im besonderen zuwenden. War das föderative Thema in den 70er Jahren, abgesehen von den im Ansatz steckengebliebenen und in der Sache halbherzigen Vorschlägen der Enquête-Kommission Verfassungsreform und vereinzelten Klageschriften über den Niedergang des Landesparlamentarismus1, sozusagen tot, so feiert es seit einiger Zeit - jedenfalls quantitativ - eine fröhliche Wiedergeburt. Fast ein Vierteljahrhundert nach seiner letzten Behandlung in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 2 kommt der bundesstaatliche Gedanke in der Beleuchtung von Sinn und Zweck gliedstaatlichen Verfassungsrechts erneut zur Ehre3, nachdem schon zuvor der gliedstaatlichen Verfassungsgerichtsbarkeit handbuchmächtige Reverenz erwiesen wurde4. Gleichwohl — mit der grundsätzlichen dogmatischen Erarbeitung eines deutschen Bundesstaatsrechts steht es nicht zum besten. Weder hat es die deutsche Staatsrechtslehre bisher für möglich - oder sogar nötig? - gehalten, eine auf das Grundgesetz zugeschnittene Theorie des Bundesstaats zu entwickeln, noch existieren - wie für das Rechtsstaats-, Demokratie- oder Sozialstaatsprinzip - verfassungsrechtliche Gewißheit vermittelnde Darstellungen wichtiger Bereiche des Verhältnisses von Bund und Ländern. Dies

1 Vgl. Manfred Frìedrich , Landesparlamente in der Bundesrepublik, Opladen 1975 (Studienbücher zur Sozialwissenschaft, 25); Herbert Schneider, Länderparlamentarismus in der Bundesrepublik, Opladen 1979; beide Arbeiten im übrigen unter vorwiegend politikwissenschaftlichen Vorzeichen. Ergänzend jüngst Hermann Eicher, Der Machtverlust der Landesparlamente: historischer Rückblick, Bestandsaufnahme, Reformansätze, Berlin 1988 (Beiträge zum Parlamentsrecht, 15). 2 Hartwig Bülck / Peter Lache, Föderalismus als nationales und internationales Ordnungsprinzip, Berlin 1964 (Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 21) 3 Wolfgang Graf Vitzthum / Bernd-Christian Funk / Gerhard Schmid , Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, Berlin / New York 1988 (Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 46); s.a. die Begleitaufsätze von Gr awert, Hufen, Pestalozza, Sachs und Schneider. 4 Christian Starck / Klaus Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, 3 Bde., Baden-Baden 1983 (Studien und Materialien zur Verfassungsgerichtsbarkeit, 25)

16

Α. Einführung

gilt etwa für die Bund-Länder-Beziehungen im Bereich der Finanzverfassung, für das bundesstaatliche Verhältnis der Gesetzgebungskompetenzen zueinander5 oder für die föderative Ausgestaltung des exekutiven Bereichs6. Aber auch das grundsätzliche Verhältnis der Rechtsetzungsbefugnisse auf den zwei Ebenen des Bundesstaats hat bislang, sieht man von einigen älteren und inhaltlich wenig befriedigenden (weü das Weimarer Verfassungsrecht auf das Grundgesetz projizierenden) Arbeiten ab7, kaum ernsthaftes Interesse gefunden. Diesem Mangel für den Bereich der Beziehungen von Bundes- und Landesrecht abzuhelfen, ist Ziel der vorliegenden Arbeit. "Bundesrecht bricht Landesrecht" ist die - an Worten gemessen - gewiß kürzeste Vorschrift des Grundgesetzes und übertrifft in ihrem ausgewogenen Dreiklang noch Art. 22 oder 102 GG an terminologischer Sparsamkeit. Diese sprachliche Prägnanz, die dem verfassungsgeschichtlich Kundigen in dieser Form seit 1919, in variierter Gestaltung seit 1849 geläufig, dem Rechtshistoriker unter umgekehrtem Vorzeichen sogar seit dem Mittelalter bekannt ist, vermittelt dem Rechtsanwender freilich auch inhaltliche Gewißheit. "Bundesrecht bricht Landesrecht" bedeutet den allgemeinen, nicht vom Einzelfall abhängigen Vorrang des Bundesrechts - und zwar jedes Bundesrechts - vor jedem Landesrecht, gleich welcher Rechtserzeugungsstufe. Da weitere Voraussetzungen als das Vorhandensein von "Recht" der beiden genannten Ebenen aus der Vorschrift selbst nicht ersichtlich sind, gleicht diese Norm augenscheinlich einem bundesstaatlichen kategorischen Imperativ, der unbedingte Beachtung in allen Lagen und an allen Objekten fordert: Die Derogation des Landesrechts "muß gewollt werden"*. Juristisch-dogmatisch gewendet, muß es sich bei Art. 31 GG demzufolge um einen Rechtsgrundsatz handeln, ähnlich der - gleichfalls sprichwörtlichen - Forderung, einmal abgeschlossene Verträge einzuhalten (pacta sunt servanda), Treu und Glauben zu achten etc. Befragt man das Schrifttum in

5

Die verdienstreiche Arbeit von Hans Schneider (Gesetzgebung, Heidelberg 1982) behandelt diese Aspekte nur am Rande. 6 Hierzu zumindest für die exekutive Rechtsetzung Ansätze bei Carsten Brodersen, Bundesstaatliche Probleme des Art. 80 I GG, in: Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, Berlin / New York 1987, S. 57 ff. 7 Otto J. Voll, Der verfassungsrechtliche Grundsatz "Bundesrecht bricht Landesrecht", angewendet auf die im Grundgesetz und in den Länderverfassungen niedergelegten Grundrechte, Jur. Diss. Würzburg 1953; Franz Xaver Schober, Das materiellrechtliche Verhältnis von Reichsrecht und Landesrecht für den Reichs- und Landesgesetzgeber vom Ende des Heiligen Römischen Reiches bis zur Gegenwart, insbesondere nach dem Bonner Grundgesetz, Jur. Diss. München 1956; Hans Hermann, Das Verhältnis des Bundesrechtes zum Landesrechte und die daraus sich ergebenden Folgen für die Landesgesetzgebung und das Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Jur. Diss. München 1957; Otto Müller, Landesgrundrechte und Bundesgrundrechte, Jur. Diss. Heidelberg 1964. 8 Zum dahinterstehenden Pflichtbegriff Reisinger, Imperative, kategorischer Imperativ, Sp. 242.

Einführung

Kommentaren, Lehrbüchern und Monographien danach, bestätigt sich dieser Befund. Nach einhelliger Meinung handele es sich bei Art. 31 GG um einen bundesstaatsrechtlichen Grundsatz9, um eine Grundsatznorm 10, ja um eine fundamentale föderative Vorschrift 11. Dieser fast enthusiastische Befund wird freilich nicht allgemein geteüt, etwa wenn es sich andererseits nur um einen in einem Bundesstaat üblichen Rechtssatz12 oder um etwas im föderativen Staat Selbstverständliches13 handeln soll. Sicher ist damit nur, daß Art. 31 GG in einem noch näher zu bestimmenden Zusammenhang zum bundesstaatlichen Prinzip steht, schon weil er die - ausschließlich das föderativ strukturierte Gemeinwesen auszeichnende - Existenz zweier Rechtsetzungsebenen voraussetzt. Der allgemein konsentierte Befund des Rechtsgrundsätzlichen, d.h. Unabdingbaren, allgemein Gültigen, aus dem Wesen seines Fundaments "Bundesstaatlichkeit" Fließenden, der Art. 31 GG umgibt, erklärt eine Norm dieses Inhalts zum essentiellen Bestandteil jeder bundesstaatlichen Verfassung. Wäre dies richtig, so böte ihr Vorhandensein die Gewißheit, es dann mit der Konstitution eines bundesstaatlich geprägten Gemeinwesens zu tun zu haben; fehlte sie, wäre sichergestellt (nicht nur indiziert!), daß es sich bei dem fraglichen Verfassungswerk um alles andere, nicht aber um eine bundesstaatliche Konstitution handeln könne. Macht man anhand der drei im deutschsprachigen Raum vorhandenen Verfassungen, die einen Bundesstaat konstituieren, die Probe aufs Exempel, so muß das Ergebnis überraschen. — Die Schweiz, seit jeher das föderative Musterland Europas, kennt eine Art. 31 GG vergleichbare Vorschrift zwar, aber in anderem Zusammenhang und mit ursprünglich anderer Zielrichtung. Wenn Art. 2 der Übergangsbestimmungen zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vorschreibt, daß "diejenigen Bestimmungen der eidgenössischen Gesetzgebung, der Konkordate, der kantonalen Verfassungen und Gesetze, welche mit der neuen Bundesverfassung in Widerspruch stehen, ... mit Annahme derselben, beziehungsweise der Erlassung der darin in Aussicht genommenen Bundesgesetze, außer Kraft [treten]", so handelt es sich zunächst nur um die Erklärung der Bundesverfassung zum Maßstab für kantonales Recht, das vor ihrem Inkrafttreten galt, also nicht an ihr gemessen werden konnte. Dieses Recht soll im Kollisionsfall der Bundesverfassung weichen. Ob über die intertemporale, heute längst Rechtsgeschichte gewordene Interpretation hinausgehend Art. 2 UeB BV als "Aufhänger" einer allgemeinen Verfassungsregel des Vor-

9

So von Mangoldt / Klein, Art. 31, Anm. II 1. So Gubelty in: von Münch, GGK, Art. 31, Rdnr. 1. 11 So Gubelt, in: von Münch, GGK, Art. 31, Rdnr. 26; (Jarass) / Pieroth, Grundgesetz, Art. 31, Rdnr. 1. 12 So Maunz / Zippelim, Staatsrecht, S. 120. 13 So Bothe, in: AK-GG, Art. 31, Rdnr. 1. 10

Α. Einführung

18

rangs von Bundesrecht gegenüber kantonalem Recht dienen kann, ist zweifelhaft. Zwar hatte das schweizerische Bundesgericht ihm diesen Inhalt schon früh beigelegt und daran auch in der Folge festgehalten; das ältere Schrifttum war ihm hierin z.T. gefolgt. Die heutige eidgenössische Staatsrechtslehre mußte indes die diesbezügliche Schwäche, ja "Überdehnung" (Saladin) einer darauf gestützten Ableitung anerkennen und instrumentalisiert Art. 2 UeB BV jetzt nur noch als "formalen Aufhänger" für einen im übrigen anerkannten, wenngleich ungeschriebenen Rechtsgrundsatz des schweizerischen Verfassungsrechts 14, den sie entweder als selbstverständliche Folge der bundesstaatlichen Kompetenzstruktur allgemein zuordnet oder ihn jedenfalls Art. 3 BV 15 entnimmt. Nach ihrem Inhalt soll der Vorrang des Bundesrechts einem doppelten Ziel dienen: einerseits der Einheit, logischen Geschlossenheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung überhaupt, andererseits der Repräsentation der bundesstaatlichen Struktur 16. Ihrer Wirkung nach sei die Regel eine Kollisionsnorm, d.h. sie bestimme die Rechtsfolge des Zusammentreffens zweier widersprechender Normen unterschiedlicher bundesstaatsstruktureller Herkunft. Undeutlich bleibt dabei freilich das Verhältnis von derogatorischer Kraft des Bundesrechts und kompetenzrechtlicher Geltungsvoraussetzung im Bereich der Ersten Gewalt17. Dies gilt zumal, wenn dem (einer Begründung nicht bedürftigen) Vorrang des Bundesrechts ein ebenso selbstverständlicher Vorrang des kantonalen Rechts im Fall der Überschreitung der Bundeskompetenzen zur Seite gestellt wird 18. Warum die schweizerische Staatsrechtslehre auf den Rechtsgrundsatz vom Vorrang des Bundesrechts nicht verzichten kann, an ihn sogar sein teilweise widersprüchliches Pendant anlehnen zu müssen glaubt, wird deutlicher, wenn man die konkrete Kompetenzverteilung der BV betrachtet. Ihr bundesstaatsdogmatischer Stand entspricht nämlich exakt dem der Lehre und Praxis des ausgehenden 19. Jahrhunderts, vergleichbar der Reichsverfassung von 1871. Die BV kennt keine

14

In der Kommentarliteratur wird denn auch der Vorrang des Bundesrechts vor kantonalem Recht allein aus Praktikabilitätsgründen im Zusammenhang mit der Übergangsvorschrift behandelt. Vgl. Saladin, in: Aubert u.a., Kommentar, Art. 2 UeB, Rdnr. 7 ff. 15 Art. 3 BV: Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist, und üben als solche alle Rechte aus, welche nicht der Bundesgewalt übertragen sind. 16 Grundlegend hierfür Imboden, Bundesrecht, S. 43 ff., 69 ff.; Saladin, in: Aubert u.a., Kommentar, Art. 2 UeB, Rdnr. 8 ff. Zur Normenhierarchie im schweizerischen Rechtssystem Aubert, Hiérarchie, S. 193 ff.; Grisel, Hiérarchie, S. 377 ff. m.w.N. 17 Zu den denkbaren Formen des sich widersprechenden Zusammentreffens von Bundes- und kantonalen Kompetenzen und zur Ausscheidung der Kompetenzen im schweizerischen Bundesstaat Huber, Kompetenzkonflikt, S. 16 ff., 25 ff.; Widmer, Normkonkurrenz, S. 1-12. 18 So Saladin, in: Aubert u.a., Kommentar, Art. 2 UeB, Rdnr. 19.

Α. Einführung

Art. 70-72 GG entsprechenden Normierungen des genetischen Verhältnisses von gesamt- und gliedstaatlicher Rechtsordnung19; sie muß allfällige Kollisionen daher mangels ihrer Vermeidbarkeit durch verfassungsdogmatische Technizität - Wirksamkeitsvoraussetzung kantonaler Vorschriften im Bundesrecht - durch den Vorrang des Bundesrechts lösen. Parallel zur deutschen Rechtslage z.Zt. des Kaiserreichs ist sie zudem gezwungen, aus nicht immer eindeutigen Zuständigkeitsbestimmungen ein System sowohl von ausschließlich den Bund bzw. die Kantone berechtigenden Kompetenznormen als auch von konkurrierenden Zuständigkeiten zu entwickeln20. Die Rechtslage kompliziert sich auf der prozeßrechtlichen Seite dadurch, daß "in allen diesen Fällen die von der Bundesversammlung erlassenen Gesetze und allgemeinverbindlichen Beschlüsse sowie die von ihr genehmigten Staatsverträge für das Bundesgericht maßgebend (sind)" (Art. 113 III BV). Wenngleich "die Usurpation ... aber trotz ihrer rechtlichen Nichtanfechtbarkeit verfassungswidrig (ist)"21, kann sogar eindeutig kompetenzwidriges Bundesrecht demnach praktisch Vorrang vor verfassungsmäßigem kantonalem Recht beanspruchen22. Kurzum: die Kollision von Bundesrecht und kantonalem Recht kann von Verfassungs wegen nicht vermieden, sondern muß einheitlich zugunsten des gesamtstaatlichen Vorrangs entschieden werden — eine dem deutschen Bundesstaatsrecht (wie noch zu zeigen sein wird) weitgehend fremde Strukturierung des gliedstaatlichen Kompetenzverhältnisses.

19 Soweit die Kompetenzen des Bundes als (Regelfall) konkurrierende oder (Ausnahme) ausschließliche Zuständigkeiten begriffen und daraus Folgerungen für die kantonale Legislativgewalt gezogen werden, handelt es sich um Systematisierungen und Differenzierungen, die die Lehre dem deutschen Recht entnommen und der BV adaptiert hat. Vgl. Saladin, in: Aubert u.a., Kommentar, Art. 3, Rdnr. 202 ff.; s.a. Knapp, Fédéralisme, S. 323 ff.; Hangartner, Kompetenzverteilung, S. 171 ff.; Häfelin / Haller, Bundesstaatsrecht, Rdnr. 312 ff. 20 Diese "Lücke" der BV führt dazu, daß Kollisionsvermeidung und Kollisionsentscheidung weitgehend miteinander vermengt und demzufolge Zuständigkeitsnormierungen auf die gleiche Ebene mit dem Grundsatz des Vorrangs des Bundesrechts gestellt werden; s. Häfelin / Haller, Bundesstaatsrecht, Rdnr. 365 ff. (374 ff.). Aus diesem Grund sieht etwa Saladin (in: Aubert u.a., Kommentar, Art. 2 UeB, Rdnr. 25 f.) keinen Anlaß, bei einer Kollision zuständigkeitswidrigen mit inhaltlich kongreuentem, kompetenzmäßigem Recht die Vorrangregel anzuwenden, da es ja im Sinn der Einheit der Rechtsordnung an einem Widerspruch, der auszuräumen wäre, fehlt. Daß eine der beiden Rechtsetzungsebenen dabei die Wirksamkeitsvoraussetzung ihrer Normen mißachtet, gerät so aus dem Blickfeld. 21

Hangartner, Kompetenzverteilung, S. 173. Hangartner, Grundzüge I, S. 68. Gleichwohl soll das Bundesgericht - entgegen diesem auf einer besonderen Sicht der Gewaltenteilung beruhenden Privileg für den Gesetzgeber - berechtigt sein, ausdrückliche Kritik an einer von ihm anzuwendenden, aber für verfassungswidrig erachteten Bundesrechtsnorm zu üben; dazu Haller, in: Aubert u.a., Kommentar, Art. 113, Rdnr. 205 ff. 22

Einführung

20

— Daß die derogatorische Kraft des Bundesrechts kein essentieller Bestandteü jeder bundesstaatlichen Verfassung sein muß, zeigt andererseits die Rechtslage in Österreich. Die österreichische Bundesverfassung kennt keine Art. 31 GG entsprechende Vorschrift, da nach Ansicht des Verfassungsgebers von 1920 und der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs sich die beiderseitigen Rechtssphären und die Ausübung der rechtlichen Funktionen in Bund und Ländern sachlich streng getrennt voneinander und formell gleichrangig gegenüberstehen, es eines derogierenden Vorrangs des Bundesrechts somit nicht bedarf. Zwar hatten einzelne Vorentwürfe zur Verfassungsgebung 1920 eine entsprechende Vorschrift (teils mit Derogations-, teils mit Suspensionseffekt) beinhaltet23 und auch die Staatskanzlei versuchte an diesem Rechtsgrundsatz festzuhalten 24. Im Laufe der Beratungen im Unterausschuß des Verfassungsausschusses jedoch hatte Kelsen überzeugend die Entbehrlichkeit der bundesstaatlichen Vorrangregel dargetan und vor allem auf die Eröffnung des Rechtsweges in föderativen Streitfragen abgestellt25: Der Verfassungsgerichtshof habe kompetenzwidrige Bundesgesetze ebenso wie kompetenzwidriges Landesrecht ohne Rücksicht auf ihr zeitliches Verhältnis (lex posterior!) aufzuheben 26. Wenngleich heute der damit involvierte Positivismus und Formalismus die Interpretation und Fortbildung der österreichischen Verfassung nicht mehr in dem Maß ihrer Anfangsjahre prägt, kann sie auch jetzt noch einer Art. 31 GG entsprechenden Regelung entbehren, da ihr im Bund-Länder-Verhältnis auftretende Konfliktherde jedenfalls im Bereich der Ersten Gewalt fremd sind. Die österreichische Verfassung kennt - in der autoritativen Auslegung durch den Verfassungsgerichtshof 27 - keine echten konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten; dieselbe Sachmaterie kann immer nur einer Kompetenznorm zugeordnet werden, obwohl ein Sachgebiet durchaus unter mehreren verschiedenen Gesichtspunkten normiert und damit ausschnittweise verschiedenen Kompetenzen des Bundes oder der Länder unterfallen kann28. In Ermangelung eines Kon-

23

Ermacora,

Quellen, S. 111, 158, 204, 258; ders., Entstehung, S. 25, 185, 196,

215. 24

Vgl. die Nachweise bei Ermacora, Entstehung, S. 5, 42. Ermacora, Quellen, S. 301 ff. (302 f.), 422 ff. (427). 26 Dazu Kelsen, Österr. Staatsrecht, S. 176 f. 27 Einzelheiten und (teils berechtigte) Kritik bei Funk, Kompetenzverteilung, S. 23 ff. (Parität von Bundes- und Landesrecht), 37 ff. (Trennung der Kompetenzbereiche). Zur Kompetenzverteilung im österreichischen Bundesstaat und zur "extremen Kasuistik" (Öhlinger) des VerfGH Werndl, Kompetenzverteilung, S. 7 ff. (13 f.); für den Bereich der Zivilrechtszuständigkeit Pernthaler, Zivilrechtswesen, S. 26 ff. 25

28 Walter, Bundesverfassungsrecht, S. 189 ff.; ders. / Mayer, Grundriß, Rdnr. 295 ff., 303; Adamovich / Funk, Verfassungsrecht, S. 171 ff. (185 ff.) m.w.N. - Die im Sinn der Kelsen'schen Reinen Rechtslehre bis in kleinste Einzelheiten durchgeführte Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern zwingt allerdings - noch mehr

Α. Einführung

fliktverhältnisses konkurrierender Normen und wegen des Fehlens eines Rangverhältnisses zwischen der - formal ja gleichberechtigten29 - gesamt· und der gliedstaatlichen Rechtsordnung entfällt jedes Bedürfnis nach einer Kollisionsregel i.S.d. Art. 31 GG. Der ungelöste Konflikt zwischen unitaristischem und föderalistischem Bundesstaatsverständnis in Österreich wird dadurch freilich nicht behoben30. Der unterschiedliche Stellenwert der derogierenden Kraft des Bundesrechts in der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz und in Österreich legt es nahe, ihre für das Grundgesetz behauptete essentielle bundesstaatliche Bedeutung insoweit zu verneinen, als der in Art. 31 GG enthaltene Grundsatz von der allgemeinen Bundesstaatlichkeit getrennt werden muß und auf die - den Grundsatz damit freilich relativierenden - Besonderheiten der jeweiligen Verfassungsordnung zu beziehen ist: allenfalls in ihrem Kontext kann der Vorrang des Bundesrechts grundsätzliche Bedeutung haben. Ein Vergleich der schweizerischen und österreichischen Rechtslage zeigt, daß es dabei entscheidend auf die konkrete Ausgestaltung der legislativen Kompetenzordnung ankommen wird: während die schweizerische Konstitution (wie seinerzeit die des Deutschen Reichs auch) keine den Art. 70, 71, 72 GG entsprechenden Vorschriften kennt - und daher die gegenseitige sachliche und temporäre Zuordnung der Gesetzgebungszuständigkeiten dem Rechtsgrundsatz des Vorrangs von Bundesrecht gegenüber kantonalem Recht entnehmen muß - , ist die österreichische Bundesverfassung und die zum Grundgesetz bestehenden Parallelen sind unübersehbar - insoweit perfektionistisch angelegt, als sie die Rechtsräume des Gesamtstaats und der (gemessen am Grundgesetz allerdings weit schwächeren) Gliedstaaten säuberlich trennt, d.h. des Bedürfnisses für eine rechtsgrundsätzliche Regelung i.S.d. Art. 31 GG entbehren kann31.

als die des VII. Abschnitts des Grundgesetzes - zu immer variantenreicheren, detaillierteren Interpretationskünsten. Aus neuerer Zeit etwa österVerfGH v. 3.12.1984, in: Erkenntnisse und Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofes 49 (1986), Nr. 10292; dazu Davy , Bedeutung, S. 225 ff., 298 ff.; Mayer, Kompetenzinterpretation, S. 513 ff.; Schäffer, Kompetenzverteilung, S. 357 ff.; Pernthaler, Rez., S. 94 ff. 29 Diese Parität steht auf Verfassungsebene in einem merkwürdigen Kontrast zur im älteren Schrifttum weithin behaupteten Einstufung der Landesverfassungen als bloßen Ausführungsgesetzen zur Bundesverfassung. Vgl. zusammenfassend Koja, Verfassungsrecht, S. 17 ff.; zur Entwicklungsgeschichte der Neuorientierung Novak , Bundes·Verfassungsgesetz, S. 112 ff.; zur heutigen Einschätzung des föderalen Verhältnisses Funk, Bedeutung, S. 71 ff. 30

Zu ihm und zu seinem (heute zwiespältigen) Fundament, der Reinen Rechtslehre, Pernthaler, Bundesstaat, S. 361 ff.; Öhlinger, Bundesstaat, S. 7 ff., 21 ff. 31 Die Notwendigkeit des Rückgriffs auf die konkrete bundesstaatliche Verfassungsordnung zeigt sich auch in der besonderen, vom deutschen System abweichenden Problematik der Kollision von Federal Law and State Law in den USA. Vgl. dazu Scobes / Hay , Conflict of Laws, S. 49 ff., 133 ff., 146 ff.; Hay / Rotunda , Federal System, S. 27 ff.; s.a. Pritchett, Federal System, S. 271 ff. m.w.N.

22

Α. Einführung

Die Rückbindung des Art. 31 GG an die konkrete bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes ist auch deshalb unumgänglich, weU nur sie Auskunft über den Anwendungsbereich dieser Vorschrift und somit über das quantitative wie qualitative Gewicht der bundesverfassungsrechtlichen Derogationsregel geben kann. Legt man nämlich die allgemein konsentierte Voraussetzung zugrunde, daß der Vorrang des Bundesrechts vor Landesrecht nur dann dem Normbereich des Art. 31 GG unterfällt, wenn die kollidierenden Normen im übrigen rechtswirksam ergangen sind, also die bundesstaatliche Kompetenzordnung respektieren 32, so hängt es vor allem von dieser Kompetenzordnung ab, in welchen Fällen Art. 31 GG überhaupt angesprochen, seine "mitgeschriebene" Voraussetzung als gegeben angesehen und damit sein derogierendes Regelungspotential benötigt und aktiviert wird. Dieser untrennbare Zusammenhang zwischen Derogationsregel und bundesstaatlicher Kompetenzordnung wird im Schrifttum nicht immer deutlich gesehen. Dies zeigt sich schon äußerlich daran, daß etwa in verfassungsrechtlichen Lehr- und Handbüchern Art. 31 GG nur im Kontext der politischen Grundentscheidung des Grundgesetzes für den Bundesstaat abgehandelt wird, ohne auf den Zusammenhang zumindest mit den Vorschriften des VII. Abschnitts auch nur hinzuweisen33; der Mangel an Integration haftet aber auch der Interpretation des Art. 31 GG selbst an. Nichts zeigt dies deutlicher als die seinerzeitige kontroverse Kommentarbearbeitung der bundesrechtlichen Derogationsregel durch Klein und Maunz 34. Während von Mangoldf 35 in der knappen Erstbearbeitung des Kommentars noch auf das von Weimar her tradierte Grundsätzliche des Art. 31 GG abhob und die Vorschriften der Art. 70 ff. GG nur am Rande bei der Reichweite der bundesrechtlichen Sperrwirkung ansprach, erkannte Klein in der Zweitbearbeitung zwar ebenfalls die Art. 31 GG zugeschriebene bundesstaatliche Rangordnung an, verneinte aber die konstitutive Wirkung dieser Vorschrift für den gesamten Bereich der einfachgesetzlichen Rechtsetzung, da es im VII. Abschnitt des Grundgesetzes keine kumulativ-konkurrierenden Zuständigkeiten gebe; allenfalls beim Zusammentreffen von Bundesrecht mit Landesverfassungsrecht könne diese Norm eine gewisse rechtspraktische Rolle spie-

32

S. nur Stern, Staatsrecht I, S. 721; Bothe, in: AK-GG, Art. 31, Rdnr. 8. So z.B. Maunz / Zippelius, Staatsrecht, einerseits S. 119 ff., andererseits S. 257 ff.; ebenso Stern, Staatsrecht I, einerseits S. 719 ff., andererseits S. 678 ff; Hesse, Grundzüge, einerseits Rdnr. 90, 267, andererseits Rdnr. 238 ff. Vorbildlich integrierend hingegen Badura, Staatsrecht, Rdnr. F 25 ff., 29. - Auch der Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee hatte Art. 31 GG noch zusammen mit den Gesetzgebungskompetenzen des Bundes im allgemeinen Abschnitt über Bund und Länder normiert. Dem VII. Abschnitt wurde damals nur das Gesetzgebungsverfahren zugewiesen. 34 von Mangoldt / Klein, Art. 31 (Stand 1959); Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 31 (Stand 1960). 35 Hermann von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, München / Frankfurt a.M. 1953, Art. 31, Anm. 2. 33

Einführung

len36. Demgegenüber hielt Maunz - man ist versucht zu sagen: eisern - an der herkömmlichen Weimarer Deutung fest: das Rechtsgrundsätzliche habe konstitutive Bedeutung auch im Bereich der einfachgesetzlichen Rechtsetzung, da die Nichtigkeit kompetenzwidrigen Landesrechts sich nicht den Vorschriften des VII. Abschnitts entnehmen lasse, die bundesrechtliche Derogationsregel damit eingreifen müsse37. Die dahinter stehende Konstruktion scheint aus allgemeinen kompetenzrechtlichen Gründen freilich unhaltbar, denn das Grundgesetz kennt - worauf noch zurückzukommen sein wird keine Aufspaltung zwischen der Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit und der Durchsetzung dieser Rechtsfolge durch Nichtigkeit der Norm: Vorschriften, die gegen das Grundgesetz verstoßen, sind per se nichtig. Aber auch bezüglich des Zusammenhangs von Art. 31 und 70 ff. GG kann die Maunz'sehe Lehre ihre gravierenden Schwächen nicht verdecken. Gesetzt den Fall, die gegen die Kompetenzordnung verstoßende landesrechtliche Vorschrift sei "nur" kompetenzwidrig und unwirksam, stehe aber weiter bis zur Vernichtung durch Art. 31 GG in Geltung, müßten Bundes- und Landesgesetzgeber gleichzeitig zur normierenden Inanspruchnahme eines durch Art. 74 ff. GG kompetenzrechtlich zugewiesenen Lebenssachverhalts zuständig sein. Daß dies so sei, kann ernsthaft nicht behauptet werden - Maunz tut dies auch nicht - , denn welchen Sinn hätten die Zuständigkeitsvorschriften des VII. Abschnitts dann noch? Die von der nachfolgenden Literatur nur zur Kenntnis genommene, kaum aber ernsthaft verarbeitete Kontroverse weist auf die Gefahr des aus dem Grundsätzlichen schöpfenden Argumenticrens hin, ohne die Einheit der Verfassung und die Einbindung einzelner Vorschriften in ihren Gesamtkontext zu beachten. Ihr entgegenzuwirken, ist das methodische Anliegen der vorliegenden Untersuchung. Da Art. 31 GG nur im Zusammenhang mit anderen Vorschriften über das bundesstaatliche Rechtsetzungsverhältnis verstanden werden kann, gilt es, die Verbindungslinien zu diesen Vorschriften herauszuarbeiten. Um den damit verbleibenden verfassungsdogmatischen Anwendungsbereich des Art. 31 GG aufzuzeigen (Teil C), erscheint es indes unumgänglich, sich in gebotener Kürze der verfassungsgeschichtlichen Fundierung der bundesstaatlichen Kollisionsregel zu vergewissern. Das Rechtsinstitut des Vorrangs von Bundesrecht vor Landesrecht ist nicht nur seiner terminologischen Tradition nach (Wortlaut des Art. 31 GG) geprägt von seiner Verwendung in den deutschen bundesstaatlichen Verfassungen seit 1867; es hat seine Wurzeln im Rechtsdenken und Rechtssystem des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Auch aus dieser Sicht besteht die Gefahr, daß mit dem Rechtsgrundsätzlichen des Art. 31 GG Inhalte transpo-

36 von Mangoldt / Klein, Art. 31, Anm. III 4 ff., 10 f. Unklar (Jarass) / Pieroth, Grundgesetz, Art. 31, Rdnr. 1 (Art. 31 als grundsätzliche Kollisionslösung, Art. 25, 71, 72 I, 142 als Sondervorschriften). 37

Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 31, Rdnr. 20 ff.; dazu einstweilen die detaillierte stichhaltige Widerlegung durch Barbey , Bundesrecht, S. 566 ff.

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Α. Einführung

niert werden, die ganz anderen, dem Grundgesetz fremden systematischen Zusammenhängen und Begründungslinien zugehören. Diese Gefahr zu vermeiden, dient die vor die Klammer gezogene Darstellung der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung des Verhältnisses von Reichs- und Landesrecht (Teü B). Sie hat die Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich zu machen, die Art. 31 GG mit seinen sprichwörtlichen Vorläufern verbindet, sie aber auch von ihnen trennt. Der Zusammenfassung (Teil D) schließlich wird es obliegen, auf der festen Basis des Anwendungsbereichs des Art. 31 GG sowohl einiges über das Rechtsgrundsätzliche dieser Vorschrift als auch über die damit verbundene Vorstellung des Verhältnisses von Reichsrecht und Landesrecht allgemein auszusagen. Dieser notwendig unvollständige Gang der Untersuchung hat sich die Aufgabe gesetzt, exemplarisch die generelle bundesstaatliche Bedeutung des Art. 31 GG zu verdeutlichen. Dies impliziert eine gewisse Lückenhaftigkeit. Nicht allen Rechtsfragen im Zusammenhang mit der bundesrechtlichen Kollisionsregel konnte nachgegangen werden; eine enzyklopädische Aufarbeitung des gesamten Fragenkomplexes war nicht beabsichtigt. Dies gilt einmal für die (heute weitgehend unstrittige) Frage nach der normklassifizierenden Grundlage der bundesrechtlichen Kollisionsregel (Bundesrecht bzw. Landesrecht als jedes formal vom Bund / Land erlassene Recht, d.h. Verfassung, Gesetz, Verordnung, Satzung, ebenso Verwaltungsvorschrift, eventuell auch Vertragsrecht) 38, aber auch für die Rechtswirkung des "Brechens" in Art. 31 GG39. Gleichfalls ausgeklammert - obwohl sachlich zugehörig - blieb das komplexe Verhältnis von deutschem Recht und europäischem Gemeinschaftsrecht, wiewohl gerade es durch die fortschreitende Anlehnung der europäischen Integration an tradierte Bundesstaatsmodelle das Problem der nationalen, innerstaatlichen Rangordnungs- und Rechtsgeltungsfragen immer mehr überlagert. Wenn die Zeichen nicht trügen, mag eines nicht allzu fernen Tages die vordem eher schleichende, jetzt trabende und wohl bald galoppierende Enteignung der Gliedstaaten und ihres Rechtsetzungspotentials die Frage nach dem Vorrang von Bundes- vor Landesrecht, d.h. aber die Frage nach der Bundesstaatlichkeit der grundgesetzlichen Verfassungsordnung umso schriller ertönen lassen — oder aber erübrigen. Die Problematik selbst wird sich dann auf anderer, wirkungsmächtigerer Ebene wiederfinden.

38 Zu der dabei offenbleibenden Frage bezüglich der ebenenspezifischen Zuordnung des Richterrechts muß auf die demnächst (wahrscheinlich in AöR) erscheinende Untersuchung des Verf. "Bundes(richter-)recht bricht Landesrecht?" verwiesen werden. Vgl. einstweilen Wolfgang Reimann, Zur Bedeutung des Gerichtsgebrauchs im Rahmen von Art. 31 GG, DVB1 1969, S. 951 ff.; zur Kollisionsfähigkeit von Verwaltungsvorschriften Bothe, in: AK-GG, Art. 31, Rdnr. 16 f. Zum Zwischenländervertragsrecht ebd., Art. 31, Rdnr. 24 ff.; Stern, Staatsrecht I, S. 725 f. m.w.N. 39 Hierzu von Mangoldt / Klein, Art. 31, Anm. IV 3; Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 31, Rdnr. 2. Gleichfals nicht angesprochen werden konnten die Besonderheiten des Verhältnisses von Berliner Landesrecht zu Bundesrecht. Dazu von Lampe / Pfennig, in: Pfennig / Neumann, Verfassung von Berlin, Art. 1, Rdnr. 60.

Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung des Verhältnisses von Reichs- und Landesrecht Befragt man die verfassungsrechtliche Normierung des Verhältnisses der gesamtstaatlichen und gliedstaatlichen Rechtsordnung, wie sie in Art. 31 GG ihren Niederschlag gefunden hat, nach ihrem rechtsgeschichtlichen Fundament, so scheint die diesbezügliche Retrospektive, wenn man einem ersten Blick in die Lehrbuch- und Kommentarliteratur folgen will, ganz unproblematisch zu sein. Schon die Formulierung (also wohl auch der Inhalt) dieses Rechtssatzes sei nur historisch zu erklären, denn sie knüpfe an ein älteres deutsches Rechtssprichwort an und nehme ältere Vorbilder des deutschen Rechts wieder auf 1. Man habe es also mit einem dem deutschen Recht allgemein und seit jeher geläufigen und seine Ausgestaltung prägenden Grundsatz zu tun, der einfach nur fortgeschrieben werde. Der erste Eindruck gleichsam zeitloser Geltung dieser Regel wird getrübt, forscht man genauer nach ihren Wurzeln. Der in Art. 31 GG enthaltene Grundsatz des Vorrangs von Bundes- vor Landesrecht, d.h. die Präferenz des territorial und personell größeren und damit allgemeineren vor dem kleineren und spezielleren Rechtskreis läßt sich zwar verfassungstextlich unschwer nachweisen: zuletzt in Art. 13 WeimRV2, zuvor - in zumindest sprachlich anderer Fassung - in Art. 2 S. 1 RV 18713 und schließlich dabei auch inhaltlich variiert - zuerst in § 66 der Paulskirchenverfassung von 18494. Abgesehen davon, daß letztere Vorschrift infolge des Ausbleibens rechtlicher Wirksamkeit allenfalls die Vorstellungen des Verfassungsgebers und die ihr zugrundegelegten rechtspolitischen Modelle der Zeit wiedergeben kann, läßt sich de lege scripta ein normativer Geltungsgrund dieses Vorrangs, wie noch zu zeigen sein wird, erst seit dem Kaiserreich begrün-

1

Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 31, Rdnr. 2. Art. 13 WeimRV: (I) Reichsrecht bricht Landesrecht. (II) Bestehen Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten darüber, ob eine landesrechtliche Vorschrift mit dem Reichsrecht vereinbar ist, so kann die zuständige Reichs- oder Landeszentralbehörde nach näherer Vorschrift eines Reichsgesetzes die Entscheidung eines obersten Gerichtshofs des Reiches anrufen. 3 Art. 2 S. 1 RV 1871: Innerhalb dieses Bundesgebietes übt das Reich das Recht der Gesetzgebung nach Maßgabe des Inhalts dieser Verfassung und mit der Wirkung aus, daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen. 4 Abschn. II Art. X I I I § 66 RV 1849: Reichsgesetze gehen den Gesetzen der Einzelstaaten vor, insofern ihnen nicht ausdrücklich eine subsidiäre Geltung beigelegt ist. - Identisch damit § 63 der Erfurter Unionsverfassung vom 28.5.1849. 2

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

den5. Auch allgemein-sprachliche Nachforschungen, die auf die Klärung der Herkunft eines entsprechenden Rechtssprichwortes zielen, führen nicht weiter zurück, wenn man der Zuverlässigkeit einer Sammlung solcher Parömien aus der Zeit der Reichsgründung Glauben schenken darf 6. Die daher rührende Vermutung, es handele sich bei Art. 31 GG und dem 1919 normierten Vorläufer gleichen Inhalts um eine Rechtsregel, die im grammatikalischen Gewand eines alten Sprichwortes neue Inhalte zu befördern sucht, wird bestätigt durch das planvolle Zusammentreffen der materiellen Vorrangregel in der Reichsverfassung von 1871 mit der erstmaligen Einführung des Bundesstaates auf deutschem Boden. Nicht nur, daß Reichsrecht als rechtstechnischer Begriff Leben erst seit der Errichtung des Bismarckreiches entwickelt hat7 und erst seit dieser Zeit im Titel legislativer Neuschöpfungen auftaucht — erst die bundesstaatliche Struktur des Norddeutschen Bundes wie des Deutschen Reiches zwang zu der kategorischen Differenzierung zwischen Reichsrecht einerseits, Landesrecht andererseits. Dies betraf sowohl seine Entstehungsbedingungen (Kompetenz, Organe, Verfahren) als auch seinen Geltungsgrund (zeitliche, territoriale und personelle Erstrekkung).

Gleichwohl belehrt uns ein flüchtiger Blick in die deutsche Rechtsgeschichte eines besseren, wenn man einmal vom konkreten Inhalt dieser Vorrangregel abstrahiert und dem ihr zugrundeliegenden, allgemeinen Problem der Kollision verschiedener Rechte, die auf unterschiedlichen Ebenen Geltung beanspruchen, nähertritt. Die Vorrangregeln von 1949 wie 1919 konnten nämlich tatsächlich an ältere, dem Verfassungsgeber wohlbekannte Formulierungen anknüpfen, an Formulierungen allerdings, die ihrem Wortlaut nach genau das gegenteüige Ergebnis zu besagen scheinen. Im reichen Schatz deutscher Rechtssprichwörter finden sich zahlreiche, der Neuschöpfung zumindest grammatikalisch verwandte, aufeinander aufbauende und sich gegenseitig bedingende Ausdrucksformen eines Widerstreits verschiedener Rechte: Gedinge bricht Landrecht, Willkür bricht Stadtrecht, Stadtrech bricht Landrecht, Landrecht bricht gemeines Recht, Willkür bricht alle Rec und ähnliche Sentenzen8. Das Recht des kleineren, dem einzelnen näherstehenden Rechtskreises beanspruchte augenscheinlich den Vorrang vor der allgemeineren Norm; die Kette der Parömien erweckt zudem den Eindruck einer gefestigten Normenhierarchie, ähnlich dem Ableitungszusammenhang

5

In der historischen Retrospektive stellt Art. 31 GG daher, wie Schneider (Gesetzgebung, Rdnr. 650) zu Recht betont, keine Selbstverständlichkeit dar. 6 Nach Wander (Sprichwörter-Lexikon, Bd. III, Sp. 1623) taucht die Sentenz "Reichsrecht geht vor Landesrecht" erstmals in einem Artikel der Schlesischen Zeitung Nr. 410 von 1872 (dort S. 1: "Die neuesten Vorgänge in Bayern") auf. 7

Erler, Reichsrecht, Sp. 730 f. Vgl. die Zusammenstellungen bei Hillebrand, Rechtssprichwörter, S. 3 ff., 10 f.; Graf / Dietherr, Rechtssprichwörter, S. 24 ff. m.w.N.; s.a. Winkler, Deutsches Recht, S. 18 f. 8

I. Der Rechtsgehalt mittelalterlicher Rechtssprichwörter

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von Verfassung, Gesetz, Verordnung und Satzung im heutigen bundesdeutschen Rechtssystem. Die Verwandtschaft der im deutschen rechtshistorischen Fundus tradierten Kollisionslösungsregeln zur bundesstaatlichen Vorrangordnung, wie sie Art. 31 GG postuliert, ist prima facie eine formale, an Äußerlichkeiten haftende, welche zahlreiche Fragen aufwirft. Etwa: Enthalten die o.a. Sprichwörter über ihre Anknüpfung an die dem seinerzeitigen Rechtsdenken eigenen Tatbestände hinaus einen rechtlichen Gehalt? Woraus gewinnen sie ihre Anerkennung? Und: Gesetzt den Fall, es handele sich bei ihnen nicht nur sondern um rechlsnormative Aussagen, vermögen sie um rcchtsnarrative, den von ihnen erfaßten Regelungsrahmen vollständig auszufüllen, fordern sie also unbedingte Beachtung oder gelten sie nur "grundsätzlich"? Schließlich: Ist das von ihnen geregelte Verhältnis verschiedener Rechtsordnungen mit Aufgabe und Funktion des Art. 31 GG überhaupt vergleichbar? Wollte man dies freilich bejahen, so wäre damit die in Lehre und Rechtsprechung stets unausgesprochen zugrundegelegte Einzigartigkeit der grundgesetzlichen Kollisionsregel insoweit in Frage gestellt, als dieser Bestimmung kein spezifisch bundesstaatlicher Kontext eignen kann, sich ihr aber auch keine Aussage über ein Rangverhältnis unter den bundesstaatlichen Rechtsordnungen des Grundgesetzes entnehmen läßt. Art. 31 GG wäre in diesem Fall nur die bundesstaatliche Ausprägung eines allgemeinen kollisionsrechtlichen Rechtsgrundsatzes. Auf die etwa ins Auge zu fassende Kongruenz in Form eines Vorrangs gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften der EG gegenüber nationalem Recht könnte dies nicht ohne Wirkungen bleiben; schon deshalb liegt eine nähere Untersuchung der o.a. rechtsgeschichtlichen Seite nahe. Sie wird in drei Stufen erfolgen. Nach einer kurzen Klärung des Rechtsgehalts solcher Sprichwörter allgemein wird die Frage zu beantworten sein, ob und unter welchen Rahmenbedingungen eine funktionelle Ähnlichkeit der tradierten Kollisionsregeln, die allesamt mittelalterlichem Rechtsdenken entspringen, mit Aufgabe und Funktion des Art. 31 GG überhaupt möglich ist. In einem dritten, umfangreicheren Schritt wird dann - soweit es für die Beantwortung dieser Frage erforderlich ist - versucht, die Entwicklung des Verhältnisses verschiedener Rechte vom Mittelalter bis in die Zeit bundesstaatlicher Organisation des deutschen Rechtssystems im 19. und frühen 20. Jahrhundert nachzuzeichnen.

I. Rechtsgehalt und Rechtsquellenfunktion mittelalterlicher Rechtssprichwörter Der moderne Rechtsanwender wird die Frage nach dem Rechtsgehalt, noch mehr die nach der Rechtsquellenfunktion mittelalterlicher Rechtssprichwörter schlechthin verneinen, wenn er sie nicht für überflüssig oder gar für falsch gestellt hält. Sowohl die traditionelle - zumeist zivilrechtlich orientierte - Rechtslehre als auch die Theorie des juristischen Positivismus erkennen als Rechtsquellen neben dem mehr oder weniger konsentierten

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

Gewohnheitsrecht allein das Gesetz an, d.h. alle allgemeinen Regeln, die mit Wissen und Willen einer dazu ermächtigten Rechtsautorität in Geltung gesetzt werden9. Den hierfür geforderten Geltungsgrund können Rechtssprichwörter heute in keinem Fall in Anspruch nehmen, sind sie doch ein Ausschnitt aus dem fast unbegrenzten Bestand an Sprichwörtern und somit kaum mehr als im Volksmund umlaufende, in sich geschlossene Sprüche mit lehrhafter Tendenz und gehobener Form 10, die in irgendeiner Weise rechtlich Relevantes deklamieren. Aus heutiger Sicht erzählen sie in bildhafter Sprache, leicht im Gedächtnis haftend, volkstümlich und plastisch, mitunter sarkastisch oder satirisch die in ihrer Zeit lebendige und geläufige Rechtsüberzeugung, d.h. das in der Sicht ihrer Autoren und Interpreten richtige Recht 11. Sie geben eine Rechtsregei in Sprichwortform wieder, erteilen Auskunft über bestehende Rechtsverhältnisse oder beinhalten rechtliche Gedanken und Auffassungen 12. Kurzum: sie berichten von Recht, sind aber selbst nicht Recht, weder Rechtsquelle noch Rechtserkenntnisquelle. Diese teleologisch reduzierte Sicht ist freilich eine solche der modernen Jurisprudenz. Erst der juristische Positivismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts und - für das römisch-rechtlich orientierte Privatrecht - die deutsche Pandektistik haben die Rechtssprichwörter überhaupt aus der "reinen Lehre" der Rechtsquellen verbannt13. Greift man hingegen zu einer mehrfach aufgelegten und weit verbreiteten Darstellung der "Grundsätze der deutschen Rechte in Sprüchwörtern" aus der Mitte des 18. Jahrhunderts 14, bedarf es für ihren Autor keiner Begründung, daß er Rechtssprichwörter als Ausdruck des geltenden Rechts herausstellt und ihnen überdies Beweisre-

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Bydlinski, Methodenlehre, S. 213 f.; für das öffentliche Recht Ossenbühl, Quellen, S. 75 ff., 128 ff. 10 Seiler, Sprichwörterkunde, S. 2; Hahn, Sprichwort, Sp. 2727 (2732 ff.). Insbesondere die empirische Kulturwissenschaft (Volkskunde) hat seit jeher solche Sentenzen in den Bereich ihres Interesses gezogen; vgl. die Nachweise bei Weizsäcker, Rechtssprichwörter, S. 9, Fn. 1. 11 Zu den verschiedenen Vorstellungen von richtigem Recht, das oft in Rechtsprinzipien oder Rechtsgrundsätzen seinen Ausdruck findet, im Kern aber in der Rechtsidee angesiedelt ist, Lorenz, Richtiges Recht, S. 12 ff., 23 ff. Unter diesem Gesichtspunkt sagt die Klassifizierung der mittelalterlichen Kollisionsregeln als Rechtsgrundsätze auch etwas aus über die Vorstellung der Zeit, wie das Verhältnis der Rechtsquellen im besonderen und der Rechtsordnung allgemein, gemessen an den Ideen des Rechtsfriedens (Rechtssicherheit) und der Gerechtigkeit, beschaffen sein sollte. 12

So Grundmann / Strich / Richey, Rechtssprichwörter, S. 125. Dazu etwa Windscheid / Kipp, Pandekten, S. 91, Fn. 1 (bezeichnenderweise im Abschnitt über Gewohnheitsrecht): "Einen Anhalt [Hervorhebung v. Verf.] gewähren auch Rechtssprichwörter, doch sind sie mit Vorsicht zu gebrauchen." Wenn Elsener (Regel, S. 25) darauf hinweist, daß in anderen Pandektenlehrbüchern parallele Hinweise oder Warnungen fehlen, so deshalb, weil der Ausschluß von Rechtssprichwörtern für die Autoren der Zeit selbstverständlich war. 13

14

Eisenhart,

Grundsätze (dort S. 1-6 zu unserer Parömienkette).

I. Der Rechtsgehalt mittelalterlicher Rechtssprichwörter

29

geln für die praktische Rechtsanwendung entnimmt. Er konnte dabei, ohne es auszusprechen, dem Grundgedanken nach auf ein tradiertes Rechtsverständnis zurückgreifen, das im Denken der römischen Juristen wurzelte wenngleich sich aus der ihnen eigenen diagrammartigen Rechtssprache methodisch präzise Regelmodelle nur schwer erschließen ließen15 - und mit der Ausbreitung des römischen Rechts in das deutsche Rechtsdenken einfloß. Aus dieser Rezeption resultierten auch die drei Grundformen sprichwörtlichen Rechtsverständnisses, die sich in der mittelalterlichen Jurisprudenz nachweisen lassen: zum einen die Rechtsregeln (regulae iuris), in die Form abstrakter Rechtssätze gebrachte juristische Prinzipien (topoi), die einer ersten Orientierung zur Entscheidungsfindung dienten; zum anderen die (in der Funktion den deutschen Rechtssprichwörtern verwandten) Aphorismen (Brocarda), d.h. Lehrsprüche (heute vielleicht am besten als "Repetitorweisheiten" zu kennzeichnen), mit denen die Rechtslehrer des Mittelalters den überbordenden Rechtsstoff zu bändigen, in ein System zu bringen und den Studenten gedankliche Stützen für die Erarbeitung des Stoffes zu bieten suchten; schließlich die Rechtssprichwörter Le.S. (proverbia), die ihre Anerkennung und Geltung nicht kraft Rechtssatzes, sondern - darin dem gewohnheitsrechtlichen Denken verwandt - durch langen, konsentierten Gebrauch gewannen16. Die hier interessierenden, als deutsches Rechtssprichwort ausgeformten Kollisionsregeln stehen auf der Grenzlinie zwischen Rechtsregel und Lehrspruch. Es handelt sich bei ihnen - und dies sei vorerst nur als Arbeitshypothese formuliert - um allgemeine Rechtsgrundsätze des mittelalterlichen Rechtssystems, die nicht nur ein bestimmtes Rechtsverhältnis "auf den Begriff zu bringen" suchten (etwa für § 571 BGB: Kauf bricht nicht Miete), sondern der gesamten Rechtsordnung eine bestimmte Richtung geben wollten17. Bei einem Aufeinandertreffen von weiteren und engeren Rechtsgemeinschaften sollte stets das Recht der engeren Gemeinschaft Anwendung finden. Damit ist indes noch keine Klarheit über den Geltungsrahmen solcher Kollisionsregeln gewonnen. Die für alle Rechtssprichwörter charakteristische anschauliche Sprache, die durchgängig im Gegensatz steht zu der farblosen, abstrakten Diktion des Gesetzes unserer Tage18, enthält nämlich

15 Zu den damit verbundenen Problemen Nörr, Spruchregel, S. 18 ff.; ergänzend und teilweise korrigierend Schmidlin, Regula iuris, S. 91 ff. 16 Zu diesen Grundtypen, deren Kategorisierung unter dem Blickwinkel der Rechtspraxis freilich nur eine theoretische war, Elsener, Regulae iuris, S. 183 f., 188 ff.; Kaufmann, Deutsches Recht, S. 151 ff.; ders., Rechtssprichwort, Sp. 369 ff. Zur normativen Kraft der regulae iuris Schmidlin, Rechtsregeln, S. 46 ff. 17

Weizsäcker, Rechtssprichwörter, S. 29 f.; zu Recht ablehnend zur (aus der rechtswissenschaftlichen Schulenbildung im 19. Jahrhundert verständlichen) ausschließlich germanistischen Sichtweise des Autors Elsener, Regulae iuris, S. 186 f. m. Fn. 25. 18 Zum geschichtlichen Verhältnis von Sprache und Gesetz Hattenhauer, Geschichte, insb. S. 41 ff. (aufgeklärte Gesetzessprache), 63 ff. (Volksgeist und Sprache). -

30

Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

- und dies ließe sich an vielen konkreten Beispielen nachweisen19 - zumeist einen für den Rechtsanwender gravierenden Nachteü: Sie schließt eine erschöpfende Antwort auf die von ihr nur vorgeblich beantwortete Frage aus, weil sie nur die eindrucksvolle Vorderseite der rechtlichen Situation beleuchtet; die weniger glanzvolle, aber ebenso wichtige Rückseite bleibt im dunkeln20. Diese allgemeine Geltung beanspruchende, im folgenden für die o.a. Kollisionsregeln zu verifizierende Vermutung basiert allerdings zu einem nicht geringen Teü darauf, daß der praktische Gebrauch des Rechtssprichworts nur im Gesamtzusammenhang der mittelalterlichen Rechtsfindung gesehen werden darf und mit ihr (und nicht mit der neuzeitlichen Sichtweise, schon gar nicht mit der modernen Lehre vom deutschen Bundesstaat) in Einklang gebracht werden muß21. Die "Richtigkeit" der Kollisionsregeln mag demnach bei allen Abstufungen auf der schiefen Ebene von Regel und Ausnahme22 immerhin noch eine partielle sein. II. Rechtssystem und Kollision der Rechte im mittelalterlichen Rechtsdenken der Vorrezeptionszeit 1. Die Kollision der Rechte unter dem Personalitätsprinzip Wenngleich die zeitliche Einordnung der Ursprünge der hier interessierenden Parömien und der ihre Basis büdenden Rechtsordnungen ebenso noch der rechtsgeschichtlichen Erforschung harrt wie eine geschlossene Darstellung ihres Stellenwertes in Rechtsdenken und -praxis ihrer Zeit, steht jedenfalls fest, daß der in ihnen enthaltene materielle Kern diese literarische Form erst gefunden haben kann, nachdem das römische Recht in Deutschland Einzug gehalten und Fuß gefaßt und als gemeines Recht subsidiäre Rechtsgeltung erlangt hatte. Die Voraussetzungen der Kollision von Gedinge (oder Wülkür) und Landrecht, Stadtrecht und Landrecht, Landrecht und

Die Glanzlosigkeit heutiger juristischer Terminologie hat allerdings auch ihre unübersehbaren Vorteile; dazu KirchhofRechtssprache, S. 14 ff.; ders., Deutsche Sprache, Rdnr. 25 ff. 19 Vgl. nur Fehr, Sprichwörter, S. 49; zur Variationsbreite der Rechtsregel "Kauf bricht (nicht) Miete" Ebel, Forschungen I, S. 144 ff. Die hierin enthaltenen gegensätzlichen Aussagen beruhen auf ihrem jeweils territorial beschränkten Geltungsbereich, wie überhaupt in zahlreichen Rechtssprichwörtern lokalrechtliche Aussagen partikular- oder gemeinrechtlichen Rechtssätzen widersprechen; s. Osenbrüggen, Rechtssprichwörter, S. 35. 20 Treffend Osenbrüggen, Rechtssprichwörter, S. 3, wonach man "aus der reichen Fülle der deutschen Sprichwörter ohne Mühe auch die schnurstracks sich entgegenstehenden Dinge mit Sprichwörtern belegen kann". S.a. Grundmann / Strich / Richey, Rechtssprichwörter, S. 130. 21 Weizsäcker, Volk und Staat, S. 328 f. 22 Dazu Ebener, Regel, passim.

II. Die Kollision der Rechte im mittelalterlichen Rechtsdenken

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gemeinem Recht finden sich freilich im mittelalterlichen Recht erheblich früher: Territorialitätsprinzip des Rechts, Recht als lex certa (et scripta) und Rechtsetzungsbefugnisse der in den Sentenzen angesprochenen Herrschaftseinheiten sind Phänomene, die sich einzeln - mitunter in anderer Terminologie und noch rudimentärer Ausprägung, in der Sache aber im Rechtsdenken angelegt - bereits vor dem 14. Jahrhundert (Zeit der Hauptrezeption oder "praktischen Rezeption") nachweisen lassen. Beschränkt man den nachfolgenden, notwendig kursorischen Überblick im Sinne des Untersuchungsthemas auf das zusammenfallende Vorliegen aller dieser Voraussetzungen, so kann jedenfalls die Zeit germanischer (ca. 100 v. Chr. - 500 n. Chr.) 23 und fränkischer (ca. 500 - 890) Herrschaft in Deutschland unberücksichtigt bleiben. Zum einen war das germanische Recht zwar einheitliches, aber ungesetztes ("nur" aufgezeichnetes) Recht, nicht Werk eines (göttlichen oder weltlichen) Gesetzgebers. Schon die Vorstellung, Recht planmäßig und autoritativ setzen zu können, war dem "Gesetzgeber" dieser Epoche fremd 24. Zum anderen war es infolge seiner nur mündlichen Überlieferung allenfalls mittelbar über römische Autoren zugänglich. Beim fränkischen Recht hingegen ging trotz des nunmehrigen Auftretens gesetzten und geschriebenen25 Rechts, das vom Willen eines Gesetzgebers (König und Volk gemeinsam) abhing, die Vielzahl der Volksrechte (leges) auf Seiten der Betroffenen von einem geschlossenen Kreis von Rechtsadressaten aus. Der stammesweisen Aufzeichnung dieser Rechte (Codex Euricianus, lex Salica, lex Baiuwariorum usw.)26 korrespondierte ihre Limitierung auf Personen gleicher Herkunft, unabhängig von ihrem jeweiligen Aufenthaltsort und vom erfaßten Gebiet überhaupt. Jeder Rechtsunterworfene, soweit er sich dazu bekannte (professio iuris), stand ausschließlich mit seinem eigenen Stamm in rechtlicher Verbindung; dessen Recht bestimmte die Lösung materiell-rechtlicher Fragen (z.B. Vermögen, Ehe- und Erbrecht) ebenso wie den Gerichtsstand und den Gang des Gerichtsverfahrens 27. Es galt das Personalitätsprinzip 2*, dessen strikte Durchführung ein eigentliches

23 Der nachfolgenden, allgemein konsentierten Zeiteinteilung liegt die Gliederung bei Gmür, Rechtsgeschichte, Rdnr. 19 ff. zugrunde. 24 Wesenberg / Wesener, Privatrechtsgeschichte, S. 9. 25 Zur Bedeutung der Schriftlichkeit (anhand der karolingischen Kapitularien) Schneider, Schriftlichkeit, S. 257 ff. 26 Vgl. Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 91 ff.; Einzelheiten in H R G unter Art. "lex ...". 27 Dolezalek, Professio iuris, Sp. 2030 ff.; Keller / Siehr, Lehren, S. 18 ff. 28 Guterman, Territorial Law, S. 65 ff. - In diese Zeit fallen die Anfänge des heutigen Internationalen Privatrechts, dessen Grundfrage, die "Kollision" unterschiedlicher "Statute", der noch zu untersuchenden Rechtsfigur der Rezeptionszeit ihren Namen gegeben hat. Dazu von Bar, Internationales Privatrecht, Rdnr. 416 ff., der zu Recht darauf hinweist (Rdnr. 418), daß sich aus der Personalisierung der Rechte allein - ebenso aus ihrer Territorialisierung - keine Antwort auf die Frage nach

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Β. Die verfassungsgeschichtiche Entwicklung

Kollisionsrecht insoweit überflüssig machte, als die personal orientierten Rechtskreise unabhängig nebeneinander standen und Überschneidungen idealiter ausgeschlossen waren ("ubi societas ibi ius")29. Bei Rechtsstreitigkeiten brachte das angegangene Gericht nicht sein eigenes (territoriales) Recht, sondern das Recht der beteiligten Personen zur Anwendung, d.h. bei Beteüigten verschiedener Abstammung teils das des Klägers, teils das des Beklagten, wobei eme einheitliche Linie kaum erkennbar war 30. Der Fremde brachte sein Recht mit; er konnte aber - vermittelt durch das Gastrecht über die Rechtsgenossenschaft mit einem stammeszugehörigen Schutzherrn an deren Rechtsverkehr teilnehmen31. 2. Der Wandel zum Territorialitätsprinzip Dieses aus dem römischen Recht übernommene Prinzip, das wohl über die Kanonistik Eingang in das Rechtsdenken gefunden hatte, blieb indes im Rückblick eine "Episode ohne Folgen"32. In abgeschwächter Bedeutung güt diese Aussage auch - wenigstens für die ersten Jahrhunderte des Hochmittelalters (ca. 890-1200) - für die Aufzeichnung der Rechte. Da im 10. und 11. Jhd. nur wenige lesen und schreiben konnten, verschwand einerseits die genaue Kenntnis der Volksrechte, auch bei den oft nur mit Laien besetzten Gerichten; zum anderen entstanden fast keine neuen unmittelbaren Rechtsquellen. Dieser Mangel an Gewißheit über Fortbestand und Inhalt fremder Rechte und das Vordringen des langobardischen Lehnrechts (libri feudorum) über die Alpen hatte die auch sozial und politisch naheliegende Verschiebung des Anknüpfungstatbestands des Rechts ebenso gefördert wie die Intensivierung des europäischen Handels, das Aufblühen der Städte Oberitaliens und Südfrankreichs und der Bedeutungszuwachs des universal angelegten römischen Rechts. Das Personalitätsprinzip wandelte sich zum Territo-

dem anwendbaren Recht bei Rechtsverhältnissen Angehöriger unterschiedlicher Stämme ableiten läßt. 29 Sturm, Personalitätsprinzip, Sp. 1587 ff. m.w.N. zum Umfang der Geltung des Personalitätsprinzips. 30 Stobbe, Personalität, S. 29 ff.; Keller / Siehr, Lehren, S. 16 ff. Zur diesbezüglich herausgeforderten Gesetzgebung im 8. / 9. Jhd. Walter, Rechtsgeschichte I, S. 122 f. 31

Brunner, Rechtsgeschichte I, S. 399 ff. Neumeyer y Entwicklung II, S. 1; s.a. Gutzwiller, Geschichte, S. 8. - Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Die Vermischung der Stämme dürfte dazu ebenso beigetragen haben wie das Unvermögen, nach einer Reihe von Generationen (und Heiraten) das Andenken an die eigene Abstammung zu bewahren; auch hatten die Parteien vor Gericht das (seit dem 11. Jhd. in der Sache unwiderlegbare) Recht freier Stammesrechtswahl (professio iuris). Zum Niedergang des Grundsatzes persönlicher Rechte hat zudem sicher beigetragen der Erlaß neuer, für alle Gebietsansässigen geltender Rechtssätze durch König und Kaiser sowie das Vordringen des an die Grund- und Bodenverhältnisse anknüpfenden Lehnrechts. 32

II. Die Kollision der Rechte im mittelalterlichen Rechtsdenken

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rialitätsprinzip. Nicht mehr die Abstammung der an einem Rechtsverhältnis Beteiligten, sondern ihre Zugehörigkeit zu einem Gebiet wurde ausschlaggebend für die Rechtsanwendung, und auf die im Gebiet anfallenden Tatbestände wurde jetzt nur noch das räumlich mehr oder weniger begrenzte Recht des Territoriums herangezogen ("quod est in territorio, etiam est de territorio") 33. Dieser wegen der fehlenden stammesmäßigen Homogenität der Besiedelung notwendige Wandel hatte eine unübersehbare Fülle von Landes- und Ortsrechten zur Folge; die durch das Prinzip persönlicher Rechte noch notdürftig vermiedene Rechtszersplitterung wurde zum Zeichen der Zeit. Dabei ging nach dem Prinzip autonomer Rechtsschöpfung die engere, dem einzelnen näherstehende und ihm - jedenfalls theoretisch - geläufige Rechtsquelle der weiteren vor. Die Vielfalt der damit anerkannten Lokal- und Territorialrechte wurde noch dadurch verstärkt, daß diese ihrerseits zum Schnittpunkt von Rechtsordnungen wurden, die statusmäßig orientiert (Standesrechte) oder auf bestimmte begrenzte, den einzelnen nicht vollständig erfassende Rechtsverhältnisse (sog. Rechtskreise: Hofrecht, Dienstrecht, Lehnrecht) zugeschnitten waren. Während infolge ihres nur begrenzten Geltungsanspruchs Kollisionen zwischen Standesrechten bzw. Rechtskreisen und Lokal- oder Territorialrechten kaum auftreten (und dann ggf. über den Grundsatz der lex specialis behoben werden) konnten, ergaben sich vielfältige Kollisionen zwischen Landes- und Ortsrechten des entscheidenden Gerichts und dem Recht fremder Personen, dem Recht der belegenen Sache und dem Recht der Rechtshandlung. Im allgemeinen wandte der Richter hierbei das Recht seines Orts oder nachrangig seines Landes an, auch soweit es um prozessuale Fragen ging34. Das vom Gericht anzuwendende Recht selbst war Gewohnheitsrecht, das zunächst nicht aufgezeichnet war und nur in der allgemeinen Übung und Überzeugung der Beteiligten ruhte, dabei aber nicht als statisch verstanden werden darf, sondern sich unter dem Einfluß sozialer Entwicklungen ändern und fortbilden konnte35. Aufs engste damit verbunden war deren Vorstellung von Recht überhaupt, die Notwendigkeit nämlich der Übereinstim-

33 Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 216 f.; Stobbe, Personalität, S. 34 ff.; Guterman, Territorial Law, S. 215 ff. m.w.N. 34 Zur italienischen Statutentheorie Keller / Siehr, Lehren, S. 28 ff.; zu den Grundsätzen der Rechtsanwendung im übrigen Stobbe, Personalität, S. 45 ff. - Das Problem der Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen abstrakter Rechtsetzung einerseits und konkreter, fallbezogener Rechtsfindung mittelalterlichen Rechts andererseits kann hier dahingestellt bleiben, da es für unser Untersuchungsthema nicht wesentlich ist; vgl. dazu Kroeschell, "Rechtsfindung", S. 498 ff.; Schmelzeisen, Rechtsfindung, S. 73 ff. Die Rechtsquellen des Mittelalters jedenfalls wissen nichts vom "Finden des Rechts". 35

van Caenegem f Recht, S. 622; zur funktionalen Wirkung des Gewohnheitsrechts Schmelzeisen, Gewohnheitsrecht, S. 313 ff., 324.

34

Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

mung eines Rechtssatzes mit der Rechtste, die in der Forderung zum Ausdruck kam, das Recht müsse "alt" sein, um angewandt, d.h. in der Vorstellung der Zeit geglaubt zu werden. Kraft und Wert des Rechts lagen in seiner Bewährung durch lange Geltungsdauer: altes Recht war besser als neues Recht36. Die damit lange Zeit verbundene Vorstellung, der mittelalterlichen Weltanschauung sei eine Rechtserneuerung ganz unvorstellbar gewesen, ist allerdings längst revidiert worden und hat der Erkenntnis weichen müssen, daß Rechtsidee und die aus ihr gezogenen praktischen Folgerungen unterschieden werden müssen37. Zwar sollte sich die Rechtsordnung grundsätzlich an der besseren Qualität des alten Rechts orientieren, aber das konkrete Recht war eben nicht immer gut, es sollte nur gut sein; es war nicht immer alt, aber es sollte dennoch die hergebrachten Rechtsgrundsätze achten. Soweit die Notwendigkeit hierfür gesehen wurde, wurde für die Gemeinschaft neues Recht geschaffen, auch wenn man dieses nicht selten in Übereinstimmung mit den göttlichen oder naturrechtlichen Denkweisen altes Recht nannte. Mittelalterliches Recht zog seine Legitimation eben nicht nur aus seinem Alter, das zudem immer wieder durch Rechtserneuerung nachgewiesen werden mußte38, und seiner historischen Bewährung, sondern auch aus der Macht des hinter ihm stehenden Herrschers und aus der Anerkennung seiner Übereinstimmung mit höherrangigen Grundsätzen eines mehrschichtigen, göttlichen und weltlichen Naturrechts 39. Rational durchgebüdete, planmäßige und normhierarchische Bindungen und Geltungsgrundsätze waren dem mittelalterlichen Recht fremd. 3. Rechtsquellen des mittelalterlichen

Rechts

Diese das mittelalterliche Recht legitimierenden Faktoren lassen u.a. auch die realen Herrschaftsträger ins Blickfeld geraten, welche überhaupt Recht zu setzen befugt waren, d.h. deren Anweisungen und Verhaltensregeln Rechtsquellencharakter zuzuschreiben war. Beginnt man auf der in der Rangfolge der Parömie untersten Stufe, dem "gemeinen Recht", so ist der Befund in quantitativer wie qualitativer Richtung so bescheiden, daß man von einer Reichsgesetzgebung bzw. von Reichsrecht - definiert als Rechtsvorschriften, die über ihren Anlaß und ihre aktuelle Problemstellung hinaus

36 Zu dieser, in der Sicht ihrer Verfasser freilich idealisierten und überinterpretierten Vorstellung grundlegend Kern, Recht und Verfassung; Krause, Dauer, S. 207 m. Fn. 2; Kroeschell, Recht, S. 314 ff., 335. 37 Trusen, Gutes altes Recht, S. 192 f. 38 Zu diesem scheinbaren Widerspruch Krause, Dauer, S. 211 ff.; s.a. Wadle, Rechtsaufzeichnungen, S. 509. 39 Dazu Sprandel, Problem, S. 131 ff. Zur Rechtsfortbildung allg. Klinkenberg, Theorie, S. 157 ff. (171: "Die Vergangenheit verliert ihren normativen Charakter. Die Gegenwart emanzipiert sich von ihr und befreit sich zur freien Setzung der Zukunft.").

II. Die Kollision der Rechte im mittelalterlichen Rechtsdenken

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den Adressaten verbindlich zu einem bestimmten Verhalten veranlassen sollten - kaum sprechen kann. Auf Reichsebene wären hier in erster Linie (nach 1103) die auf bestimmte Zeit abgeschlossenen und beschworenen Landfriedens^inungen zu nennen, deren praktische Wirkung infolge des Fehlens jeder reichsrechtlichen Vollzugsgewalt nicht überschätzt werden darf. Es handelte sich bei ihnen eher um Rahmenbestimmungen bzw. Richtlinien zur Bekämpfung der Fehde und ihrer Folgen, die von den Herzögen und Landgrafen durchzuführen und gerichtlich zu garantieren waren. Formal gesehen beruhte ihr Ansehen und ihre Geltung häufiger auf vertraglicher Einigung, seltener auf alleiniger königlicher Rechtsetzung, je nach aktueller Stärke der Königsgewalt und der Folgebereitschaft der Untertanen40. Auch die daneben bekannten Reichsgesetze (etwa Wormser Konkordat 1122, Gesetzgebung Friedrich Barbarossas auf dem ronkalischen Reichstag 1158, Lehngesetze, königliche Privilegien etc.) suchten allenfalls das Recht punktuell, für einen bestimmten und begrenzten Anlaß und Einzelfall, zu klären ("Einzelfallgesetze"). Sie waren nicht auf umstürzende, breite, weiterführende und systematische Normsetzung angelegt, sondern kodifizierten zumeist nur Gewohnheiten und Normen, die schon zuvor in der Praxis allgemein konsentiert waren41. Daß selbst dem hinter ihnen stehenden Gesetzgeber der Mangel einer allgemein gültigen und von allen Untertanen gleichmäßig befolgten Gesetzgebung bekannt war, zeigte das Beispiel der Hohenstauferzeit, wichtige Gesetze, deren Publikation und Geltung im ganzen Herrschaftsbereich angestrebt wurde, zur Aufnahme in das römische Corpus iuris anzuweisen. Daß dieser Ausweg - zumindest für das Reichsgebiet nördlich der Alpen - erfolgversprechend war, mag man schon angesichts der nur wenigen Untertanen zugänglichen Sprache bezweifeln. Aufs ganze gesehen, wurde der Rechtszustand in Deutschland von Reichsgesetzen nur in sehr geringem Maße beherrscht. Weit intensiver wirkte die Gesetzgebung im Bereich der partikularen Rechtsquellen, die nur in einem territorial abgegrenzten Teil des Gemeinwesens Geltung beanspruchten. Hier sind verschiedene Quellen zu unterscheiden. Der Reichsgesetzgebung in der Rangordnung am nächsten standen die Landrechte 42. Ursprünglich nur eine andere Bezeichnung für Stammesoder Volksrechte und damit im Hochmittelalter jeder Bedeutung verlustig gegangen, gewann das Landrecht als sichtbarer Ausdruck des Territoriali40

Vgl. Kaufmann, Landfrieden I, Sp. 1460. Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 219 f.; Einzelheiten bei Stobbe, Rechtsquellen I, S. 461 ff. Diese rechtsnormative Beschränkung auf Stabilisierung, nicht Reformierung des bestehenden Zustands gilt auch für äußerlich ranghöhere kaiserliche Gesetze, wie das Beispiel der Goldenen Bulle zeigt; dazu Wolf, Rechtsbuch, S. 1 ff. (3). - Die in diesem Zusammenhang gelegentlich angeführten Reichsweistümer sind keine normativen Quellen, sondern beschränken sich trotz ihrer abstrakte gehaltenen Formulierung auf eine urteilsähnliche Feststellung dessen, was im Einzelfall rechtens ist; s. Diestelkamp, Reichsweistümer, S. 281 ff., 309 f. 41

42

Vgl. Stobbe, Rechtsquellen I, S. 552 ff.

36

Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

tätsprinzips seine ihm bis zur Rechtsvereinheitlichung im 19. Jhd. zukommende Stellung erst durch den gewaltigen Umwandlungsprozeß des 13. Jhds., der in ganz Europa die Epoche des ungeschriebenen Rechts rasch abschloß und aus dem sich allmählich die Anfänge von Recht als Werk eines Gesetzgebers (princeps legibus solutus) herauszukristallisieren begannen43. Nach 1200 setzte nicht nur in Deutschland ein Streben nach schriftlicher Fixierung des bisher geübten Gewohnheitsrechts ein, das an der Qualität des Rechts zunächst nichts ändern mußte, wenngleich sich das bisher akzeptierte Maß seiner Veränderbarkeit zugunsten größerer Freiheit des Gesetzgebers wandelte44. Die erste große Welle schriftlicher Rechtserneuerung nahm ihren Ausgang von der Ausbüdung der Landeshoheit, welche den Fürsten und Herren die Möglichkeit gab, im Wege der Gesetzgebung Landrecht im Sinne von Ordnungen des allgemeinen und besonderen Landesrechts zu schaffen, um damit ihre Herrschaft zu konsolidieren und der durch die (Früh-)Rezeption allmählich zunehmenden Rechtsunsicherheit zu begegnen. Solche selbständigen Aufzeichnungen der tradierten Territorialrechte sind etwa seit der zweiten Hälfte des 13. Jhds. nachgewiesen45; sie traten jedoch in ihrer Bedeutung anfangs zurück hinter eine kleine Zahl berühmter Rechtsbücher (Spiegel), die in ausführlicher Form, ohne wissenschaftlichen Anspruch, die zu ihrer Zeit gültigen Rechte in Form abstrakter Rechtssätze zusammenfaßten46, von Privaten - mitunter in offiziellem Auftrag - verfaßt (Sachsenspiegel Eike von Repgows, Schwabenspiegel etc.), von den Gerichten in ihrem Geltungsbereich gleich einem Gesetz angewandt wurden und teüweise über Jahrhunderte Geltung behielten. Der Sachsenspiegel etwa47 galt im Bereich des heutigen Sachsen bis zum Inkrafttreten des Sächsischen BGB von 1863, in einzelnen thüringischen Fürstentümern

43

Zum ganzen grundlegend Gagnéir, Ideengeschichte, S. 288 ff. Vgl. Klinkenberg, Veränderbarkeit, S. 159; s.a. Krause, Aufzeichnung des Rechts, Sp. 256 ff. Der Darstellung Wolfs (Gesetzgebung, S. 548 ff., 552 ff.) folgend lassen sich für das Verhältnis von Rechtsaufzeichnung zu Rechtserneuerung dreierlei Inhalte und Formen unterscheiden. Ein bedeutender Teil der Gesetze sollte inhaltlich nur Aufzeichnung des bestehenden Rechts sein, dieses sammeln, bestätigen und durch die Form des Gesetzes sichern. Ein anderer Teil der Gesetze war altes Recht ergänzendes neues Recht; es trat als neue Norm neben bestehende alte Vorschriften, ohne diese abzuschaffen. Ein dritter Typ von Gesetzen schließlich setzte bewußt neues Recht an die Stelle des alten. Unter dem formalen Aspekt prägten sich zwei Gesetzestypen aus: Während Statuten nur einzelne oder mehrere Fragen regeln sollten, war die Aufgabe des Codex die Sammlung der Gesamtheit des Rechts oder jedenfalls eines größeren geschlossenen Rechtsgebiets. Letzteres wurde angesichts der nur schwach ausgeprägten Reichsgewalt in Deutschland auf Reichsebene überhaupt nicht, in anderen europäischen Ländern nur zum Teil erreicht. 44

45

Laufs / Schröder, Landrecht, Sp. 1530 f. Zu diesem Erfordernis als Kriterium der Entstehung "echter" Gesetzgebung Ebel, Legaldefinitionen, S. 39 ff. 46

47 Zu ihm Kroeschell, 1227 ff.

Rechtsaufzeichnung, S. 351 ff.; Ebel, Sachsenspiegel, Sp.

II. Die Kollision der Rechte im mittelalterlichen Rechtsdenken

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und Gebieten Schleswig-Holsteins bis 1900. Noch in der Weimarer Republik wurde er höchstrichterlich erwähnt48. Zu diesen Vorläufern landrechtlicher Kodifikationen trat auf der dem einzelnen näherstehenden Ebene das Stadtrecht, genauer: die Vielzahl der verschiedenen Stadtrechte, die der Neugründung zahlreicher Städte seit dem 12. Jahrhundert folgten und ihnen vom König, den Landesherrn oder den stadtansässigen geistlichen Würdenträgern als Privileg 49 verliehen wurde50. Anders als das Landrecht, dessen ruhiger, konstanter Wandel durch richterliche Rechtsfortbildung des zugrundeliegenden Gewohnheitsrechts aufgefangen und kanalisiert werden konnte, erforderte die Entwicklung in den Städten und die dortigen neuartigen Verhältnisse, auch im Sozial- und Wirtschaftsleben, den individuellen Zuschnitt und die schriftliche Aufzeichnung, zumal die urbane Einwohnerschaft stetig stieg. Dieses Stadtrecht (oder Weichbildrecht) war freilich bewußt lückenhaft gehalten; es ordnete nicht den gesamten Rechtszustand der Stadt, sondern begnügte sich mit einzelnen unzusammenhängenden Bestimmungen, etwa über Marktverhältnisse, Zollfragen, Kaufmanns- und Handelsbräuche sowie über allgemein-polizeiliche Rechtssätze, die wiederum der Ergänzung und Konkretisierung für regelmäßig auftretende Einzelfälle bedurften. Soweit der Stadt hierfür das Privileg verliehen war, konnte sie für diese ebenfalls autonomes Recht in Gestalt von Willkür und Statuten (modern: Ausführungsverordnung und Satzung) setzen51 und deren Einhaltung durch eigene Gerichte sicherstellen. Da Privilegien und Statuten zumeist nicht ausreichten, alle vorkommenden Fälle zweifelsfrei zu entscheiden, kam den städtischen Gerichten und ihrer Rechtsfortbildung erhebliches Gewicht zu. Ihre Urteile enthielten nicht nur die Entscheidung des sie veranlassenden Falls, sondern wurden zugleich auch als allgemein gültige Rechtssätze anerkannt und in die städtischen Rechtsquellensammlungen aufgenommen 52. Dadurch konnte auch der durch das Nebeneinander von heimischen Bräuchen und gelehrtem Recht entste-

48

R G Z 137, 343 ff. Einzelheiten bei Krause, Privileg, mittelalterlich, Sp. 1999 ff. 50 Zur Anerkennung der Urbanen Gesetzgebungskompetenz van Caenegem, Recht, S. 627. 51 Vgl. Ebel, Willkür, passim. Die in unserer Parömie an letzter, dem einzelnen an nächster Stelle stehende Kollision von Gedinge (Willkür) und Stadt- oder Landrecht ist nur eine scheinbare, denn - wie neuere Untersuchungen gezeigt haben - die Voraussetzungen für eine Konfrontation von Gedinge und Recht waren mangels einer umfassenden normativen Ordnung nur in sehr beschränktem Umfang gegeben; Hagemann, Gedinge I, S. 114 ff., 189. Man muß Gedinge vielmehr als Ausdruck der Vertragsinhaltsfreiheit (modern: Privatautonomie) in einem Rechtssystem auf gewohnheitsrechtlicher, weitgehend nicht aufgezeichneter Grundlage verstehen und so zu dem nahezu paradoxen Ergebnis kommen müssen, daß Gedinge nicht Landrecht bricht, sondern - z.B. im Bereich der Eheverträge; Hagemann, ebd. S. 133 - (konkretisiertes und individualisiertes) Landrecht ist. S.a. Hagemann, Gedinge II, Sp. 1429. 52 Einzelheiten bei Stobbe, Rechtsquellen I, S. 482 ff. 49

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

henden Rechtsunsicherheit begegnet und die lokalen Sondervorschriften nach ihrem Geltungsgrund und ihrer (prozessualen) Beweiskraft stabilisiert werden53. Fassen wir den Bestand der Rechtsquellen zusammen, wie er sich zu Beginn der Rezeption im 14. Jhd. darstellte: von Gesetzgebung im modernen Verständnis konnte bei mittelalterlicher Rechtsetzung nicht die Rede sein. Die Mehrzahl der anerkannten Rechtsquellen beruhte nicht auf einseitiger Normierung, sondern auf vertraglicher Vereinbarung der betroffenen Parteien, und der von ihnen konsentierte Inhalt zeichnete zumeist nur das bisher geübte Recht auf, ohne es zu reformieren oder gar grundlegend umzugestalten — das Recht war gewachsen, nicht intellektuell konzipiert54. Ein gemeinsames Recht des Reiches hat sich hierbei nur zögernd und bruchstückhaft herausgebildet. An die Stelle der Stammesrechte war, diese territorial verfestigend, aber auch aufsplitternd, eine Mehrzahl von Landrechten getreten; diese wiederum standen im Schnittpunkt von Standes-, Hof-, Dienstund Lehnrechten. Die einzige rechtsschöpferische Leistung stellten die inhaltlich weitgestreuten Stadtrechte dar, die das lückenhafte Landrecht örtlich ergänzten oder abänderten. Von vorab definierten, fest abgegrenzten, sich gegenseitig ausschließenden und damit impermeablen Rechtsebenen, wie sie die entsprechende Kollisionsnorm in bundesstaatlichen Rechtsordnungen voraussetzt, konnte dabei nicht die Rede sein, ebensowenig von einem gemeinen deutschen Recht des Mittelalters55, auch nicht von einem "Recht" im heutigen Sinne56, eher schon von Recht als "Sinngehalt der beurteilten Lebensverhältnisse"57.

53

Kunkel, Stadtrechtsreformationen, Einl. S. X V f. Was der modernen, in der Tradition des juristischen Positivismus stehenden Rechtswissenschaft selbstverständlich ist, nämlich die Normativität zum wesentlichen Merkmal zu erheben und das Recht damit vom konkreten Lebenssachverhalt abzulösen, war dem praktischen Rechtsverständnis der mittelalterlichen Welt fremd. Erst die Verwissenschaftlichung der Rechtskultur im Zuge der Rezeption hat die Ausbildung dieses Verständnisses ermöglicht; s. Wadle, Rechtsaufzeichnungen, S. 504. 55 Dies ist erst eine Erfindung der historischen Rechtsschule des 19. Jhds. und der die tragenden nationalstaatlichen Ideologie; vgl. Gudian, Gemeindeutsches Recht, S. 35 f.; Kroeschell, Zielsetzung, insb. S. 265 ff. 56 Gegen die ältere Parallelisierung mit den Rechtsnormen heutiger Provinienz (und dem "Gesetz") Weitzel, Hausnormen, S. 38 f. m.w.N. 54

57

Wieacker,

Privatrechtsgeschichte, S. 112.

III. Die Kollision der Rechte nach der Rezeption des römischen Rechts

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III. Rechtssystem und Kollision der Rechte nach der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland 1. Herkunft

und Geltung des römischen Rechts in Deutschland

Auch das römische Recht war zu Beginn des 11. Jhds. - jedenfalls in der Form, die ihm die Gesetzgebung Justinians gegeben hatte - in Deutschland praktisch unbekannt; es fand weder in die Rechtspraxis Eingang noch war es Gegenstand des Rechtsunterrichts. Wenn trotzdem das Heilige Römische Reich nördlich der Alpen nicht ohne Verbindung mit den Lehren der Glossatoren geblieben war, so war dies die Auswirkung einer politischen Idee, nämlich der mittelalterlichen Reichsvorstellungen. Die gedankliche Verknüpfung des deutschen mittelalterlichen Staates mit dem römischen Imperium der Antike ließ sich zuerst um etwa 1000 nachweisen (Otto III: "Renovatio imperii Romani"58); sie führte die deutschen Herrscher nach Italien und schuf die Voraussetzungen für die Begegnung des deutschen Kaisertums mit der Jurisprudenz der Glossatoren. Dies galt insbesondere in personeller Hinsicht. Seit Heinrich II. nahmen deutsche Könige auf ihren Romzügen gelehrte italienische Juristen an ihrem Hof in Anspruch und verwendeten sie als Räte und Richter. Die Bedeutung der italienischen Legisten für das Kaisertum lag vor allem in ihrer Legitimationsfunktion. Sie lieferten eine ideelle Grundlage der kaiserlichen Herrschaftsausdehnung und -festigung; ihre Rechtsbücher gaben das System einer absoluten und doch rechtlich gebundenen Monarchie wieder, sie enthielten wertvolle Grundsätze eines zentralisierten Beamtenstaates. Die praktischen Einflüsse dieser Lehren im Reichsrecht waren zunächst freilich von geringem Gewicht, wenngleich das weder inhaltlich geschlossene noch hinreichend sanktionierte Reichsrecht durch den Einbau von Rechtsätzen des römischen Rechts an normativer Kraft nur gewinnen konnte59. Denn selbst wenn die Kaiser ein universales Gesetzgebungsrecht über die Grenzen des Reichs hinaus in Anspruch genommen haben sollten — es einseitig und für das gesamte Reich durchzusetzen waren sie nie in der Lage. Der Einfluß der gelehrten Rechte wurde seit dem 13. Jhd., im Schwerpunkt dann im 15. Jhd. auch im deutschen Rechtsleben spürbar. Der Besuch italienischer Universitäten durch deutsche Rechtsstudenten hatte dazu ebenso beigetragen wie die Neugründung deutscher Universitäten und die Einrichtung von Rechtsfakultäten mit festem Lehrkörper und geregeltem Studiengang60. Die so wissenschaftlich ausgebildeten und methodisch geschulten Juristen fanden zunächst in kirchlichen Diensten Verwendung,

58

Vgl. Fleckenstein Recht, S. 628 ff. 59 60

/ Bulst-Thiele,

Reich, S. 95 ff.; zum folgenden van Caenegem,

Vgl. Isenmann, Reichsrecht, insb. S. 547 ff. Einzelheiten bei Coing , Römisches Recht, S. 45 ff.

40

Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

dann auch in den Kanzleien der weltlichen Fürsten und der Städte61. Ihr Rechtsverständnis war nun allerdings mit dem deutschen Rechtsdenken des 12. Jhds. nicht zu vereinbaren, denn diesem fehlte sowohl die Vorstellung, daß jedes geschriebene Rechtssystem einen bestimmten Anwendungsbereich haben müsse, mithin die Heranziehung anderer (fremder) Rechte unmöglich sei, als auch das Vermögen, Rechtsetzung und Rechtsanwendung, Allgemeines und Einzelfallbezogenes zu trennen. Hier brachten die gelehrten Räte überall die Unterscheidungen, Klärungen und Systematisierungen in die Rechtspraxis ein, die das (ober-)italienische gemeine Recht in seiner Ausprägung durch Glossatoren und Konsüiatoren auf der Grundlage des justinianischen Corpus iuris lieferte, das wiederum die oberitalienischen Statuten, Gewohnheiten und Bräuche miteinbezogen und dadurch den alten Rechtsstoff durchgearbeitet, weitergebildet und modernisiert hatte62. Ihre in unserem Zusammenhang wichtigste Leistung war die Theorie vom gemeinen Recht (ius commune): von der Anwendbarkeit des römischen (und kanonischen) Rechts, wie es die Kommentatoren entwickelt hatten, von der nur subsidiären Geltung des ius commune und von seinem Verhältnis zu Statuten, Privilegien und Gewohnheitsrecht63. Sie verdient Beachtung zunächst unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Rechtsgeltung des ius commune im Deutschen Reich, sodann unter dem Aspekt seines Rangs gegenüber den "nationalen", regionalen und lokalen Rechtsquellen, schließlich im Hinblick auf die Besonderheiten seiner praktischen Anwendung. Die erste Frage gilt der rechtlichen, "theoretischen" Rezeption, also der Rechtsverbindlichkeit des ius commune überhaupt, wobei bereits die damit verbundene Vorstellung von Rechtsetzung und -geltung eine solche des neuzeitlichen, nicht des mittelalterlichen Rechtsverständnisses ist. Woraus nämlich das gemeine römische Recht seinen Rechtsanwendungsbefehl nördlich der Alpen zog, blieb mangels Problematisierung bis zur Vollrezeption im 15. und 16. Jahrhundert unbeantwortet, weil dem zeitgenössischen

61

Zu dieser personellen Rezeption Moraw, Gelehrte Juristen, S. 77 ff.; Hammerstein, Universitäten, S. 689 (Anstrebung "höherer Rationalität öffentlicher Belange"), 692; zur Rezeption des gemeinen Rechts in den Städten (anhand der Rechtsentwicklung in Frankfurt a.M.) Coing , Reformation, S. 1-5; ders., Auslegung, S. 164 ff. 62 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 139 ff.; Koschaker, Europa, S. 55 ff.; s.a. Lange, Rezeption, S. 6 f. 63 Letzteres setzte eine längere Zeit fortgesetzte tatsächliche Übung des Rechtsbrauchs bei übereinstimmender Anerkennung seiner rechtlichen Verbindlichkeit voraus, war vom Richter wie Gesetzesrecht zu beachten (soweit es ihm bekannt oder erkennbar war), und hatte den gleichen Rang wie geschriebene Rechtssätze. Daraus folgte, daß ein Gesetz ebenso bestehendes Gewohnheitsrecht außer Kraft setzen konnte wie Gewohnheitsrecht das widersprechende Gesetzesrecht; gleichermaßen war Statutarrecht in der Lage, zwar widersprechendes örtliches Gewohnheitsrecht aufzuheben, gemeines hingegen nur außer Anwendung zu setzen. Allgemein geltendes Gewohnheitsrecht schließlich setzte kodifiziertes gemeines Recht und allgemeine Gesetze außer Kraft. Vgl. - für die spätere Zeit - Brie, Stellung, S. 138 ff.

III. Die Kollision der Rechte nach der Rezeption des römischen Rechts

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Rechtsdenken als Problem fremd. Man bedurfte für die Praxis keines historisch exakt nachvollziehbaren oder juristisch beweisbaren Rezeptionsvorgangs. Vielmehr flöß das römische Recht in die praktische Anwendung nach und nach ein durch seine punktuelle Heranziehung durch die gelehrten Juristen bei Streitentscheidung, Gutachtentätigkeit und Jurisdiktion, ohne autoritativen Hintergrund. Zwar hatte schon Friedrich Barbarossa bei der Abfassung der vier ronkalischen Gesetze 1158 die berühmtesten oberitalienischen Rechtslehrer und eine größere Anzahl gelehrter Richter und damit römisch-rechtliches Gedankengut herangezogen, und man mag darin mehr als eine allgemein übliche Dienstleistung oder persönliche Ehrung der Beteiligten sehen. Hierin aber eine generelle, pauschale Übernahme des seinerzeitigen römischen Rechts zu erblicken, hieße den Vorgang überinterpretieren. Immerhin schien sich das deutsche Kaisertum erst später offiziell zum römischen Recht bekannt zu haben64, und dies geschah nicht um der gezielten Übernahme des Rechtsstoffes willen, sondern als Ausdruck der universalen - auch durch das kanonische Recht gestützte - Vorstellung, daß dem deutschen Kaisertum eine das römische Reich fortsetzende und erneuernde Funktion zukomme. Gerade die Verbindung mit dem kirchlichen Rechtsdenken gab im 14. und 15. Jhd. der verbreiteten Überzeugung Raum, das Corpus iuris und ebenso die deutschen Reichsgesetze seien Kaiserrecht, da ja das Amt des römischen Kaisers (und damit auch die rechtlichen Grundlagen seiner Herrschaft) auf die deutschen Kaiser übergegangen sei65. Diese Lehre hielt sich indes nicht lange; der zunehmende Autoritätsverlust des römischen Rechts im Verlauf seiner praktischen, d.h. die Rechtsprechung prägenden - und nicht nur im schulmäßigen universitären Unterricht verharrenden - (Voll-)Rezeption im 16. Jhd. ersetzte die nur ideile Rückbindung durch die rechtsdogmatisch scheinbar Gewißheit bietende Annahme, Kaiser Lothar III. habe 1137 das römische Recht durch förmliches Reichsgesetz in Deutschland rezipiert und in Kraft gesetzt, dadurch entgegenstehendes Recht beseitigt und Änderungen des ius commune ausdrücklich untersagt66. Auch diese, seit Beginn des 16. Jhds. weithin vertretene Erklärung befriedigte ihrerseits nicht, denn sie eröffnete die Möglichkeit, das einheimische Recht in der Praxis zu benachteiligen und den herrschenden Rechtspluralismus zugunsten des universalen gemeinen Rechts zur Seite zu schieben67, folglich auch Land- und Stadtrechte samt den hinter ihnen stehenden Autoritäten zu "enteignen". Es war das Verdienst Hermann Connngs, die "lotharische Legende" endgültig widerlegt

64

Katsuta (Friedrich Barbarossa, S. 20 ff., 36) datiert dies auf das Jahr 1165. Einzelheiten bei Krause, Kaiserrecht; Stobbe, Rechtsquellen I, S. 620 ff. 66 Zu dieser "handfesten positivistischen Erklärung" Wesenberg / Wesener, Privatrechtsgeschichte, S. 81; von Moeller, Conring, S. 67 ff. m.w.N.; s.a. Luig, Conring, S. 357 f. 67 Damit war notwendig ein falsches Verständnis der dem gemeinen Recht zugrundeliegenden Rangfolgenregelung verbunden; s. Luig, Conring, S. 359 ff. 65

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

und nachgewiesen zu haben, daß in Deutschland von Anfang an ein konkurrierendes Gesetzgebungsrecht des Kaisers, der Fürsten und der freien Städte bestand, das prinzipiell unbeschränkt, in der Sache aber nicht allumfassend war und Raum für ein Eindringen des römischen Rechts ließ, daß ein entsprechendes Reichsgesetz, betr. eine allgemeine und verbindliche Rezeption, allerdings nicht existierte68. Auf dieser von Conring geschaffenen wissenschaftlichen Rechtsgeltungsgrundlage, die vor allem prozeßrechtlich erhebliche Auswirkungen haben sollte69, konnte sich das römische Recht als subsidiäre Rechtsquelle behaupten und - in der Jurisdiktion jedenfalls - auf Reichsebene auch durchsetzen70. In den Territorien hingegen stand es den Landesherren einerseits frei, das ius commune als Rechtsquelle anzuerkennen und die Richter zu seiner Berücksichtigung oder gar Beachtung anzuweisen; geschah dies, so wurde die Rezeption vornehmlich um der Stärkung der Position des Landesfürsten und der Vereinheitlichung der Rechtsordnung willen betrieben71. In Ermangelung eines hinter dem römischen Reichsrecht stehenden autoritativen Rechtsgeltungsbefehls lag es andererseits auch im Belieben des Landesfürsten, sein Recht um der Arrondierung des Territoriums willen ohne Rücksicht auf das ius commune kraft seiner Legislativautonomie zu reformieren und zu kodifizieren, d.h. ein lückenloses Rechtssystem aufzubauen und neben den Urbanen Statuten und dem einheimischen Gewohnheitsrecht72 auch das römische Recht weitestgehend zu verdrängen, wie es etwa für Bayern durch das Chur-Bayrische Landrecht von 175673 und für Preußen durch das Allgemeine Landrecht ßr die Preußischen Staaten von 1794 geschah74.

68

Conring, De origine iuris germanici, S. 77 ff.; zu seiner Person und Stellung in der deutschen Rechtsgeschichte Hattenhauer, Hermann Conring, S. 60 ff.; Willoweit, Hermann Conring, S. 142 f.; s.a. Wolf Rechtsdenker, S. 220, 232 ff. 69

Zu ihnen Luig, Conring, S. 378 ff. Dazu etwa die "Rangordnung" der Rechtsquellen bei Oldendorp, 32, ad Dig. 1. 94, S. 95. 70

Opera I, Nr.

71 Zu den mitunter dabei auftretenden Widerständen in den Territorien Strauss , Law, S. 240 ff. 72 Trusen, Recht, S. 106 m. Fn. 36 f.; Scholz, Landrechtsentwurf, S. 93. 73 Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis, T. 1, cap. 2, § 11: "Des Heil. Römischen Reichs gemeine Satz- und Ordnungen kommen in Bürgerlichen Sachen nur so weit in gebührende Beobachtung, als durch besondere Lands-Statuta, Privilegia und Gewohnheiten kein anderes versehen und hergebracht ist." 74 Vgl. das Patent, wegen Publication des allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten v. 5.2.1794, NCC 9 - 1791/92-95 (1796), Sp. 1873 ff., dort § 1: "Das gegenwärtige allgemeine Landrecht soll an die Stelle der in Unsern Landen bisher aufgenommenen gewesenen Römischen, gemeinen Sachsen- und anderen fremden subsidiarischen Rechte und Gesetze treten; also, daß von dem oben bemerkten Zeitpunkte, dem 1. Jun. 1794 an, auf diese bisherigen subsidiarischen Gesetze und Rechte nicht mehr zurückgegangen, sondern in vorkommenden Fällen nur nach den Vorschriften des gegenwärtigen Landrechts in allen Unsern unmittelbaren und mittelba-

III. Die Kollision der Rechte nach der Rezeption des römischen Rechts

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2. Die Ausbildung eines Rangyerhältnisses der Rechtsquellen Dieser nach 1500 bis Conring gängige, im wesentlichen nicht auf die praktische Rechtsanwendung, sondern auf die Wissenschaft zugeschnittene Erklärungsversuch (denn um mehr konnte es sich in Ermangelung eines solchen förmlichen, beweisbaren Reichsgesetzes nicht handeln) zeigte mit dem Bedürfnis eines theoretischen Unterbaus der ja pragmatisch erfolgten Rezeption den Schwund an Vertrauen auf die naturrechtliche Autorität des römischen Rechts, damit aber auch den reduzierten Wirkungs- und Durchsetzungsgrad eben dieses Rechts gegenüber den aufkommenden positivierten Rechtsquellen auf regionaler und lokaler Ebene. Den davon abhängigen Durchsetzungsgrad, genauer: den Rang des rezipierten ius commune gegenüber dem Recht territorial kleinerer, formal machthierarchisch nachgeordneter Einheiten bestimmten die deutschen Juristen parallel zu den Lehren des italienischen Rechts, wie es sich - in der Sicht der Kommentatoren75 anhand des Verhältnisses des römischen Rechts zu den Statuten der oberitalienischen Städte herausgebildet hatte. Die die Rangordnung prägenden Beziehungen des ius commune zu den Urbanen Statuten hatten - und dies wiederholte sich in Deutschland zwei Seiten: eine theoretische und eine rechtspraktische. In der gemeinrechtlichen Theorie war der Kaiser alleiniger Gesetzgeber. Dementsprechend beanspruchte das ius commune absolute Geltung, konnte den Statuten also nur einen nachgeordneten, lückenfüllenden Platz einräumen, der zudem noch durch eine am gemeinen Recht orientierte Interpretation der Stadtrechte bedrängt wurde. Während die Glossatoren mit den zahlreichen, inhaltlich unterschiedlichen kommunalen Statuten nichts Rechtes anfangen konnten und ihnen mit Mißtrauen begegneten76, stand auf der anderen Seite für die Juristen in kommunalen Diensten das eigene Recht der Städte, sei es aufgezeichnet oder gewohnheitsrechtlich fundiert, an erster Stelle, ohne Rücksicht auf seinen generellen oder speziellen Charakter 77. Demzufolge waren die kommunalen Richter angewiesen, nur subsidiär auf das ius commune zurückzugreifen, sonst indes nach ihren Statuten zu urteilen. Da

ren Gerichtshöfen erkannt werden soll"; ebenso § 18 für das Strafrecht. An der Rangfolge der Rechtsvorschriften änderte dies freilich nichts, s. ALR Einl. § 21: "Uebrigens stehen, bey Beurtheilung einzelner Streitfragen, die allgemeinen Gesetze den Provinzialgesetzen, diese den besonderen Statuten, und dies endlich den auf andre Art wohlerworbenen Rechten nach.". Zum Publikationspatent Bielitz, Kommentar I, S. 18 ff.; Koch, Landrecht I 1, S. 6 f., 25 f.; für die Rechtsanwendung Förster / Eccius, Theorie I, S. 11 ff. Zur Problematik der Erhaltung und Integration der Provinzialrechte Thieme, Kodifikation, S. 388 f. 75

Vgl. Koschaker, Europa, S. 87 ff. Trusen, Recht, S. 98. 77 Vgl. Nicolini, Autonomia, S. 249 ff.; ihm folgend Luig, Conring, S. 360 ff.; s.a. Calasso, Introduzione, S. 31 ff.; ders. t Medio evo, S. 469 (490 ff.). 76

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

der damit aufgeworfene Konflikt nicht einseitig zugunsten einer Lehrmeinung bewältigt werden konnte, wurde für die Praxis um einer systematischen Rechtsdoktrin willen fingiert, daß der partikuläre Gesetzgeber in seinem Bereich - soweit zulässig und vom Kaiser anerkannt - princeps imperator, das urbane Statutarrecht mithin selbst ius commune, d.h. lex specialis zum nur subsidiär geltenden römischen Recht sei78. Das Verhältnis des gemeinen Rechts zum Recht territorial nachgeordneter Gebiete bestimmte die wissenschaftliche Lehre der Glossatoren, durch Änderung der tatsächlichen Rechtslage des 13. und 14. Jhds. etwas variiert, grundsätzlich durch die Selbständigkeit bzw. Unselbständigkeit des Gesetzgebungsrechts auf der jeweiligen Ebene, tatsächlich durch die zwingende oder nachgiebige Rechtsgeltung des sachlichen Inhalts der übergeordneten Rechtsordnung gegenüber dem gesetzten und ungesetzten Recht der abhängigen Gemeinwesen79. Der Umfang, in dem das gemeine Recht in der täglichen Praxis zur Anwendung kam, hing, für jedes Landes- oder Kommunalgebiet verschieden, vom Inhalt der Bestimmungen der - rechtsgültig erlassenen - Statuten und des aufgezeichneten Gewohnheitsrechts ab. Auf einzelne Rechtsgebiete bezogen, gab der Inhalt des Stadt- und örtlichen Gewohnheitsrechts dem gemeinen Recht - abgesehen von wenigen zwingenden Vorschriften - allgemein weiten Raum, vor allem im Zivil- und Prozeßrecht, weniger im Strafrecht, am wenigsten im Bereich des kommunalen Polizei- und Ordnungsrechts sowie staatsrechtlicher Fragestellungen. Mit Hilfe der für Deutschland übernommenen und weiterentwickelten Begrifflichkeit wurde das Verhältnis der verschiedenen Rechtsquellen zueinander geordnet und in ein das hergebrachte Rechtsdenken rationalisierendes und kategorisierendes Rangverhältnis gebracht, das in eingedeutschter Form unsere Parömienkette ausdrückte80. Wiederum lagen die Hauptwirkungen dieser Lehre nicht primär in der Übernahme römisch-rechtlicher Rechtssätze, d.h. - in der Vorstellung des 19. Jhd. - in der Überfremdung deutschen Rechts durch fremde Rechte, sondern in dem Wandel seiner geistigen Grundlagen y in den neuen Denkmethoden und in dem Prinzip einer spezi-

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Koschaker, Europa, S. 89 f.; anhand der (prozeßrechtlichen) Lehre Pacians Wiegand, Studien, S. 17 ff.; anhand der Lehre Baldus' Lange, Consilien, S. 19ff.; Meijers, Tractatus, Einl. S. II ff.; Lange, Rechtsquellenlehre, S. 433 ff. 79 Engelmann, Rechtskultur, S. 72 ff., 81 ff, 106 f. So galt in den Königreichen Sizilien und Neapel nach den Konstitutionen Friedrichs II. das gemeine Recht subsidiär dem Landes- und Gewohnheitsrecht, das kommunale Recht war durch das Landesrecht beschränkt; da den Städten kein Gesetzgebungsrecht zukam, konnten ihre Statuten Landesrecht oder gemeines Recht nicht außer Kraft setzen. - Etwas anderes galt hingegen in den größeren Republiken, Herzogtümern und selbständigen Kommunalstaaten. Hier galt gemeines Recht, soweit es nicht durch Landesrecht oder Statuten außer Kraft gesetzt wurde, wobei letztere durch einige zwingende Gesetze der übergeordneten Herrschaftseinheiten beschränkt waren. 80 Zu ihr aus dem zeitgenössischen Schrifttum etwa Riccius, Entwurff, S. 424 ff.; Vorbehalte dazu bei Dorn, In veritatem paroemiae.

III. Die Kollision der Rechte nach der Rezeption des römischen Rechts

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fisch juristischen Logik: in Fortschritten somit, die dem gelehrten Juristen, der ja nur das ius commune studiert hatte, unverzichtbar waren, dem gemeinen Volk hingegen unverständlich und fremd bleiben mußten81. Der Einbruch des gemeinen Rechts in die deutsche Rechtsanwendungspraxis vollzog sich aber auch inhaltlich. Zwar hatten die gelehrten Juristen kein Gesetzgebungsrecht und ihr Rechtsmaterial war in Deutschland nie kodifiziert worden, es galt grundsätzlich nur nachrangig hinter lokalen Statuten und Landrecht. Das mittelalterliche Recht indes war lückenhaft, es besaß weder für Rechtsprobleme allgemeiner Art noch für neu auftauchende Rechtsfragen ausreichende Antworten, und ihm trat im Corpus iuris eine relativ geschlossene Kodifikation entgegen82, der sich auf fast jede Rechtsfrage eine akzeptable Antwort entnehmen ließ. Die deutsche Rechtsanwendung nahm dieses schier unerschöpfliche Reservoir bereitwillig auf, verband tradiertes deutsches Rechtsgut mit ihm und formte es zu einem eigenständigen, geschlossenen Komplex um. Die Gefahr für das weitgehend traditionale, nicht rationale heimische Recht wurde dabei, soweit das Bewußtsein hierfür überhaupt schon bestand, nicht gesehen, hatten die einheimischen Richter doch seit jeher auf Denkmodelle und Lösungsvorschläge aus fremden Rechten zumindest gedanklich zurückgegriffen. Daß sie den jetzt eröffneten Weg zur sonst unvermeidlichen Lückenhaftigkeit des Rechts größtenteils83 bereitwillig einschlugen, kann nicht verwundern. Diese subsidiäre, im wesentlichen lückenfüllende Geltung und Funktion war nun keine Besonderheit des privafrechtlichen ius commune, sondern setzte sich in anderen Gebieten des Reichsrechts fort, soweit es der originären Legislativtätigkeit des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation entsprang. Der ihm eigene und bis 1806 nicht zu behebende Zwiespalt, sein Hin- und Hergerissensein zwischen zwingendem und nachgiebigem, zwischen vereinheitlichendem und territorial differenziertem Recht äußerte sich nicht nur darin, daß infolge des unumgänglichen gesetzgeberischen Zusammenwirkens und Paktierens zwischen Kaiser und Reichsständen die wenigen reichsrechtlichen Vorschriften ihrem Inhalt nach zumeist nur den kleinsten gemeinsamen Nenner des Konsentierten und von den Ständen Konzedierten bildeten. Er wurde auch darin sichtbar, daß schon ihre reduzierte Geltung als Reichsrecht nicht unbedingte Befolgung durch die Territorien und ihre Untertanen forderte, sondern daß sie gegenüber dem Landrecht eine Nachgiebigkeit aufwiesen, die sinnfällig wurde im - sogar in vielen Vorschriften selbst inkorporierten - vorweggenommenen Zurückweichen vor Normen der territorial kleineren Einheit. Insbesondere im Strafrecht, aber auch im

81 Vgl. allg. Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 306 ff.; Kiefixer, Rezeption, Sp. 972 ff. m.w.N. 82 Zu ihren Bestandteilen Coing, , Privatrecht I, S. 34 ff. 83 Zu den Widerständen gegen den damit angestoßenen Prozeß der "Verstaatlichung" und "Verrechtlichung" Strauss , Law, insb. S. 56 ff., 96 ff.

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

Polizeiwesen fanden sich wiederholt salvatorische Klauseln, d.h. Bestimmungen darüber, daß gewisse Rechte der Vertragschließenden von den durch sie getroffenen Vereinbarungen unberührt bleiben sollten; sie klärten damit die verbreiteten Zweifel über die primäre Geltung der Reichsgesetze84 . Unter solchen Dokumenten des nicht durchsetzbaren kaiserlichen Machtanspruchs als Gesetzgeber am bekanntesten war die in der Consrìtutio Criminalis Carolina (Peinliche Gerichtsordnung Karls V.) von 1532 enthaltene prototypische Formel zum Abschluß der Vorrede 85 , wonach "wir durch dise gnedige erinnerung Churfürsten vnd Stenden, an jren alten wolherbrachten rechtmessigen vnnd billichen gebreuchen, nicht benommen haben [wollen]". Daß dieser Machtanspruch, ein allgemein gültiges, nicht nur nachrangig anzuwendendes Strafrecht zu schaffen, bestand, zeigte seine Entstehungsgeschichte, die sich über mehrere Jahre und Reichstage hinzog. Gerade weil die Mißstände der Strafrechtspflege am Ende des 15. Jhds. bekannt waren und auch von den Reichsständen nicht in Abrede gestellt wurden, hatte der vom Reichsregiment dem Reichstag zu Speyer 1529 vorgelegte Entwurf - anders als noch seine Vorläufer in den Jahren 1521 (Worms) und 1524 (Nürnberg) 86 - eine striktere Gangart eingeschlagen und sich vorgenommen, den Ständen eine strenge Befolgung seiner Vorschriften aufzuerlegen; überall, wo es der Text nicht ausdrücklich zuließ, sollten partikulares Recht, örtliche Satzungen und Gewohnheiten beseitigt werden 87. Wie dem Bericht des mit der Prüfung des Entwurfs betrauten Reichstagsausschusses zu entnehmen war, stieß diese Neuerung umgehend auf das besondere, ablehnende reichsständische Interesse. Die Beratung hierüber wurde vertagt und erst auf dem Augsburger Reichstag 1530 wieder aufgenommen, nunmehr freilich nach Wiederherstellung des früheren Zustandes88. Es entfiel sowohl in der Vorrede der Hinweis auf eine gemeine, also allgemeine Geltung beanspruchende Gesamtordnung des Gesetzgebungsthemas als auch die vorgesehene Aufhebung aller nicht ausdrücklich zugelassenen Abweichungen land- und stadtrechtlicher Provinienz. An ihrer Stelle wurde mit Art. 218 ("Von missbreuchen vnd bösen vnvernünfftigen gewonheyten, so an etlichen orten vnd enden gehalten werden") eine Bestimmung eingefügt, die zumindest die schlimmsten Auswüchse der Strafrechtspflege beseitigen sollte . Da zudem Zweifel darüber aufgekommen waren, ob die verfassungsrechtlich unumgängliche Zustimmung der Reichsstände für die beteiligten Kurfürstentümer ein (zwar nicht automatisches Außerkrafttreten, aber sie doch durch Reichsrecht verpflichtendes) Außerkraftsetzen widersprechender landrechtlicher Strafvorschriften zur Folge hatte, wurde die bekannte clausula salvatoria eingefügt und damit der generellen Rangordnung der Statutentheorie ebenso Tribut gezollt wie dem - im gegebenen Anlaß gewiß willkommenen - Unvermögen der Territorialherrn, ohne Mitwirkung ihrer Landstände das

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Sellen, Salvatorische Klausel, Sp. 1280 f.; s.a. Stammler, Rechtsleben I, S. 342. Text bei Zoepfl, Gerichtsordnung, S. 209 ff. (214). 86 Zu ihnen Güterbock, Entstehungsgeschichte, S. 15 ff.; von Hippel, Strafrecht I, S. 172 f.; Schmidt, Einführung, S. 131 f. 87 Kaiser Carls des Fünften gemeine Reichsordenung der peinlichen gericht halbem (1529), abgedruckt bei Zoepfl, Gerichtsordnung, S. 111 ff. (r. Sp.); dazu Güterbock, Entstehungsgeschichte, S. 107 ff. 88 Zu seiner Bedeutung als "letzter großer Aufschwung der Reichsgesetzgebung" Neuhaus, Reichstag, insb. S. 202 ff. 89 Text bei Zoepfl, Gerichtsordnung, S. 257; dazu von Weber, Halsgerichtsordnung, S. 299; Güterbock, Entstehungsgeschichte, S. 248 ff. 85

III. Die Kollision der Rechte nach der Rezeption des römischen Rechts

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eigene Recht aufzuheben 90. Daß sich die Carolina dennoch, obwohl sie ihrem Wortlaut nach nur in wenigen Territorien ausdrücklich übernommen wurde, der Sache nach durchsetzen konnte, beruhte zu einem geringen Teil auf ihrer Eigenschaft als Reichsgesetz91, zu einem größeren auf ihrer für die Zeit durchaus fortschrittlichen, in heutiger Terminologie "im Trend liegenden" inhaltlichen Ausgestaltung des Strafverfahrens und des materiellen Strafrechts 92.

Soweit das Reichsrecht in einzelnen Vorschriften des Privat- und Strafrechts salvatorische Klauseln enthielt93, war dies im Gesamtzusammenhang der Rechtsgeltungslehre kein förmlicher Vorbehalt94, ein eigentlich gegebenes Rechtsetzungsrecht zugunsten der Territorien nicht zu betätigen oder den sonst vorhandenen Vorrang des Reichsrechts für einen Einzelfall zurückzunehmen, sondern die Anerkennung der grundsätzlichen Subsidiarität gegenüber den Rechtsordnungen der nachgeordneten Territorien. Dieser Rechtsgeltungs- und Rangordnungsgrundsatz galt freilich nicht kategorisch für alle reichsrechtlichen Vorschriften. Da die Gesetzgebungshoheit der Territorialherren, insbesondere im Bereich der verfassungsmäßigen Grundlagen und Grundgesetze des Reichs, beschränkt war 95, hatte die Reichsstaatslehre den Territorien zwar zugestanden, selbst Reichsgesetze ohne förmlichen Vorbehalt für ihren Bereich abzuändern, soweit diese nicht öffentliche Einrichtungen geschaffen oder bestimmte, der Sache nach begrenzende Verbote ausgesprochen hatten96. Die Grundgesetze des Reichs97 hingegen, z.B. die

90 von Weber, Halsgerichtsordnung, S. 299; a.A. Güterbock, S. 185, Fn. 2, der den Hinweis auf rechtliche Hindernisse im Innenverhältnis des Landes als "Mittel der Pression" einstuft. 91 Zum materiellen Verhältnis zum Landrecht Schmidt, Einführung, S. 141 ff.; ebd., S. 133 die berechtigte Warnung vor einer unbesehenen Übernahme des modernen Gesetzesbegriffs für die neuzeitliche Rechtsetzung im Deutschen Reich. Zu den Beziehungen zwischen Carolina und gemeinem Recht Rüping, Carolina, S. 166 ff. 92 Zusammenfassend Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 356; Kleinheyer, Tradition, S. 9 ff., 21 ff. 93 Etwa in den Reichspolizeiordnungen; für das Handwerksrecht RPO 1530 X X X I X § 2; RPO 1548 X X X V I I § 5; für die Rechtsverhältnisse der Juden RPO 1548 XX; RPO 1577 X X § 2, § 7; Schmelzeisen, Polizei- und Landesordnungen, Einl. S. 26; zum strafrechtlichen Charakter der RPO von Hippel, Strafrecht I, S. 213 ff. 94

Zumindest mißverständlich daher Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 357. Zusammenfassend Willoweit, Rechtsgrundlagen, S. 113 ff.; Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 259 ff., 364 ff. m.w.N. 96 Vgl. Moser, Nebenstunden IV, S. 506 ff.; ders., Reichstags-Geschäfte, S. 269 ff.; Gerstlacher, Corpus iuris I, S. 32 ff.; Pütter, Beyträge II, S. 68 ff., 94 ff.; Schnaubert, Beyträge I, S. 46 ff. Zur Unterscheidung von Reichsgrund- und Reichsprivatgesetzen Glück, Pandekten I, S. 161 ff.; zur Problematisierung des Territorialstaatsrechts im Verhältnis zum (zwingenden) Reichsrecht Scheid, De potestate. Zusammenfassung und w.N. bei Eichhorn, Staats- und Rechtsgeschichte IV, S. 292 f. m. Fn. n); ihm folgend Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 357. Zu den Interpretationsproblemen im Einzelfall Schmelzeisen t Polizei- und Landesordnungen I, Einl. S. 27 f.; praktisches Beispiel - anhand des Strandrechts - bei Stammler, Rechtsleben I, S. 333 (339 ff.). 95

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

Reichslandfrieden, die Goldene Bulle, die kaiserlichen Wahlkapitulationen oder die Prozeßordnungen der Reichsgerichte waren strikt zu beachten; ihnen widersprechendes Landesrecht war unwirksam. 3. Die Kollision der Rechte in ihrer praktischen Anwendung Beim Problem des Geltungsdrangs des römischen Rechts im Deutschen Reich handelte es sich vornehmlich um eine die Wissenschaft beschäftigende, von ihr und für sie entwickelte Theorie, die aus der Sicht der Praxis eher nachrangige Fragen aufwarf. Besondere Bedeutung gewann hingegen der Streit um die Legitimation der praktischen Anwendung des römischen Rechts, soweit er den Rang und die Striktheit seiner Geltung betraf. Dies berührte nicht den Bereich der Rezeptionsgeschichte, sondern die Handhabung des ius commune im streitigen Einzelfall, seine Bewährung vor Gericht. Wenngleich das Gesetzgebungsrecht des absoluten Herrschers, wie es die Legisten gelehrt hatten, von den deutschen Kaisern niemals ernsthaft in Anspruch genommen werden konnte und das Reich zu größeren Gesetzgebungsakten kaum imstande war, so war doch das Bedürfnis nach Rechtsvereinheitlichung unverkennbar 96, und jedenfalls im Prozeßrecht des Reiches sollte das gemeine Recht nach und nach eine erhebliche, die partikularen Rechte an Bedeutung mitunter überflügelnde Rolle spielen. Das 1495 geschaffene Reichskammergericht wurde zwar noch angewiesen, "nach des Reichs gemainen Rechten, auch nach redlichen, erbern und leidlichen Ordnungen, Statuten und Gewonhaiten ..."" Recht zu sprechen, und akzeptierte damit noch die salvatorische Klausel subsidiärer Geltung des gemeinen Rechts. Diese Regel wurde aber in der Praxis des Gerichts immer mehr zur Ausnahme100. Der Vorzug des ius commune, lex certa et ratio scripta zu sein, und die ebenfalls rezipierte Annahme, von einem gelehrten Richter könne nur die (aktive) Kenntnis des gemeinen Rechts gefordert werden, hatte - schon nach der oberitalienischen Statutentheorie, dann auch nach ihrer deutsch-rechtlichen Adaptierung - prozessual zur Folge, daß der Prozeßbeteüigte abweichend von den normalen Beweisregeln "fundatam intentionem" hatte, wenn er sich auf gemeines Recht berief. Nicht ihm, sondern seinem Gegner war die Beweislast für die Existenz eines vom ius commune abweichenden, ihm günstigen Land-, Stadt- oder Gewohnheitsrechts auferlegt. Dieser Beweis ließ sich angesichts der hohen Anforderungen, die das Gericht an ihn stellte, allerdings zumeist nicht erbringen.

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Aufstellung etwa bei Meyer / Anschütz, Lehrbuch, S. 68 ff. Dies zeigen etwa die teilweise erfolgreichen Versuche zur Reform des Reiches im 15. Jahrhundert, in deren Zusammenhang RKG, CCC und RPO zu sehen sind; s. Angermeier, Reichsreform, insb. S. 145 ff. 99 § 3 RKGO; Text bei Buschmann, Kaiser und Reich, S. 172 ff., 175. 100 Das folgende nach Wiegand, Rechtsanwendungslehre, insb. S. 91 ff., 162 ff. 98

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Sollte dies dennoch gelungen sein, so galt der Grundsatz "statuta stricte sunt interpretanda", d.h. die verfahrensrechtlich zum bloßen Faktum interpolierten, in der Rangfolge eigentlich an vorderster Stelle stehenden Stadtrechte waren - wenn sie überhaupt als vereinbar mit höherrangigem Recht anerkannt wurden - eng auszulegen (z.B. keine Basis für eine Analogie) und wurden infolge der unsicheren Beweislage praktisch als nachrangig behandelt101 — eine an sich erstaunliche Erscheinung, die die o.a. Rechtsquellenlehre faktisch auf den Kopf stellte. Abgesehen von Sondergebieten (z.B. das Handels-, Schiffahrts- oder Bergrecht), die wegen ihrer frühzeitigen Kodifizierung und wissenschaftlichen Durchbildung fest "in deutsch-rechtlicher Hand" blieben, wurde das einheimische Recht demzufolge immer mehr zurückgedrängt. Eine unbedingte Vorrangstellung des gemeinen Rechts und die Beförderung der Rechtseinheit im Reich war allerdings auch damit - entgegen den Intentionen der Rechtsprechungspraxis - nicht erreichbar, denn der Rechtsweg zum Reichskammergericht stand nur in wenigen Fällen offen. Einerseits waren auf Grund von Exemtionsprivilegien einzelne Reichsteile von der höchsten Gerichtsbarkeit überhaupt ausgenommen (etwa Österreich, Böhmen, Burgund, Lothringen), andererseits hatte das Reichsoberhaupt zahlreichen Landesherrn und freien Städten ein "Privilegium de non appellando" verliehen. Den an einem Rechtsstreit Beteiligten war es damit - abgesehen von Justizverweigerung - verwehrt, sich mit einem gegen das Urteil eines landesherrlichen Gerichts gerichteten Rechtsmittel (Appellation) an Gerichte zu wenden, die nicht der Zuständigkeit des Landesherrn unterstanden102. Ein die einheitliche Rechtsprechung im ganzen Reich sicherstellender Rechtszug zum Reichskammergericht existierte daher nicht; ja die Rezeption des gemeinen Rechts, die im Zeichen des Reichs begonnen hatte, wirkte sich im Ergebnis gegen dieses aus103. Sie trug in weitem Umfang zur Reformation der Stadt- und Landrechte bei, die - ohne heimisches Recht immer zu verdrängen - den eigenen partikularen Rechtsstoff der gerichtlichen Praxis bequem greifbar und systematisch aufbereitet zur Verfügung stellte und durch seine Kodifikation dessen Beweislage im Prozeß verbesserte. Nimmt man abschließend die beiden schmalen Bereiche des reichsrechtlichen ius cogens - Grundgesetze und zwingende einfachrechtliche Vorschrif-

101 Wiegand (Herkunft, S. 126 ff., 167) hebt - wie schon zuvor Trusen (Recht, S. 107) - zu Recht die entscheidenden prozeßentlastenden Faktoren dieser Beweislastverteilung hervor. Dem Richter wurde hierdurch nämlich die Ermittlung des nur schwer nachzuweisenden und ihm vom Sitz des Reichskammergerichts aus oft nicht zu erschließenden Partikularrechts abgenommen. Es handelte sich also auch um eine verfahrenspolitische Hilfskonstruktion, auf die die Justiz jener Zeit um ihrer - ohnehin schwachen - Funktionsfähigkeit willen gar nicht verzichten konnte. 102

Eisenhardt, Privilegia, S. 3 ff., 12 ff. m.w.N. Ihr kommt gerade für die moderne Staatsbildung in den Territorien ein nicht zu unterschätzendes Gewicht zu; s. Kroeschell, Rezeption, S. 279 ff. 103

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

ten - zusammen und stellt sie der Masse subsidiären Reichsrechts gegenüber, und bezieht man zudem die wiederum nicht durchgängige Umkehrung der Rangordnungsverhältnisse aus prozessualer Sicht mit ein, so läßt sich diesem (fürwahr verwirrenden, ja in heutiger Sicht "irrationalen") Befund weder ein rechtsgrundsätzlicher, allgemein gültiger Vorrang des Reichsrechts nocht ein solcher des Territorial- oder Stadtrechts entnehmen. Teils stimmt die Aussage unserer Parömienkette, teils geht sie fehl. Das ihr scheinbar zugrundegelegte einheitliche rechtliche Ordnungsprinzip für einander widersprechende Normen fehlte ebenso wie eine Abgrenzung der gegenseitigen Zuständigkeiten zur Rechtsetzung, erst recht eine dem modernen Bundesstaatsdenken geläufige Einbindung der Territorien in das bündische Reich104. IV. Die Kollision der Rechte zur Zeit des Deutschen Bundes Legt man als Geltungsvoraussetzung des Vorrangs von Reichs- gegenüber Landesrecht die für die heutige Beurteilung selbstverständliche Voraussetzung zugrunde, das hinter der Rechtsordnung stehende Herrschaftsgebilde müsse ein Bundesstaat sein, so überwiegen für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation (jedenfalls nach 1648) heute die verneinenden Stimmen. Zumindest als Annäherungswert an die historische Realität ist die konsentierte Bezeichnung des Reichs als Staatenstaat zutreffend, wenngleich sie das zusammenhaltende und verbindende Element der Belehnung der Territorialherrschaft zu wenig verdeutlicht. Gemessen an den tradierten rechtlichen Kategorien - die allerdings nur in der Modellbildung "am Reißbrett", nicht aber in der Wirklichkeit "rein" vorkommen - unterschied sich bereits der Rheinbund von 1806105, erst recht der Deutsche Bund von 1815 vom herkömmlichen staatsrechtlichen, d.h. am Innenverhältnis orientierten Staatenstaat. Nach seinen förmlichen Rechtsgrundlagen, der Deutschen Bundesakte (DBA) und der sie ergänzenden und modifizierenden Wiener Schlußakte (WSA), handelte es sich - auf einem, wie sich in der Praxis bald herausstellen sollte, freilich "geduldigen Papier" - um einen Bund der souveränen Fürsten und freien Städte Deutschlands (Art. 1 DBA), dessen Mitglieder als solche gleichberechtigt sein sollten (Art. 3 DBA) und dem als Aufgabe die Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit und der Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit der einzelnen deutschen Staaten aufgegeben war (Art. 2 DBA, Art. 1 WSA). Der damit ins Leben gerufene völkerrechtliche Verein (Art. 1 WSA), der einerseits unauflöslich sein (Art. 5 WSA), andererseits die Souveränität

104 Zum föderalen Rechtsstatus des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation Randelzhofer, Aspekte, insb. S. 199 ff. ("hoch entwickelte partikulare Völkerrechtsordnung"), 297 ff. ("Staatenbund"); Meyer / Anschütz, Lehrbuch, S. 73; a.A. - Bundesstaat - überwiegend die ältere Literatur (Zachariä, Zoepfl, Brie, Westerkamp). 105

Zu ihm zusammenfassend Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 75 ff.

I . Die Kollision der Rechte im

etchen

n

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seiner Mitglieder zumindest nach innen grundsätzlich nicht antasten sollte (Art. 2 WSA), unterschied sich in mehrfacher Hinsicht von der ihm vorausgehenden, aber auch von der ihm 1867 nachfolgenden Staatsform. Als Staatenbund konnte er per definitionem keine eigene, nicht von den Mitgliedern abgeleitete Staatsgewalt in Anspruch nehmen, sondern aus eigenem Recht nur insoweit handeln, als dies im Konsens- oder Mehrheitsverfahren in den dafür vorgesehenen Bundeseinrichtungen (Bundesversammlung, Art. 4 DBA) generell oder im Einzelfall beschlossen wurde 106. Diese Beschlüsse konnten, der damaligen wie heutigen Doktrin folgend, nur rechtliche Wirkung für die beteiligten Mitglieder, d.h. für ihre Regierungen, entfalten, nicht aber unmittelbar die Untertanen in den einzelnen Ländern berechtigen und verpflichten. Sollte dies - wie zumeist der Fall - erreicht werden, war der Bundesbeschluß in den nach Landesrecht vorgesehen Formen und Verfahren zu transformieren, also vor allem zu publizieren, damit (wie heute auch) in Landesrecht umzusetzen und ihm auf dieser innerstaatlichen Ebene Rechtsgeltung zu verschaffen 107. Dabei waren im etwaigen Gesetzgebungsverfahren die Rechte der landständischen Versammlungen, soweit konstitutionell nichts anders bestimmt war, zu achten108. Bundesbeschlüsse hingegen, die nicht in die inneren Verhältnisse der Mitglieder eingriffen, sondern allein Organisation und Inhalt des Bundesverhältnisses regelten, waren ohne besondere Bekanntmachung rechtswirksam und verbindlich. Das Fehlen unabgeleiteter, eigenbestimmter Staatsgewalt verhinderte auch ein besonderes, auf das Innenverhältnis des Mitgliedstaats durchgreifendes Gesetzgebungsrecht des Bundes und beschränkte diesen auf das völkerrechtliche Beschlußverfahren, also die Abgabe von (nichtsdestoweniger verpflichtenden109) vertragsmäßigen Wülenserklärungen110. Ein Vorrang des Bundes-

106

Zum Beschlußverfahren Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 593 f. Meyer / Anschütz, Lehrbuch, S. 124 f.; Schmitt, Verfassungslehre, S. 382 (den Unterschied zum Bundesstaat betonend); s.a. Grewe, Epochen, S. 510 (das "lockere völkerrechtliche Gebilde"). - Nur vor diesem Hintergrund ist die in den Grundlagen verankerte Durchsetzung der Bundesbeschlüsse in Form der Bundesexekution gegenüber der widerstrebenden Regierung (Art. 31 f. WSA i.V.m. der Exekutions-Ordnung v. 3.8.1820 [abgedruckt bei Huber, Dokumente I, Nr. 38]; dazu Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 634 ff.) verständlich, da es ihrer im vorgesehenen Umfang bei einem automatischen Durchgriff auf die Innenverhältnisse des Landes nicht bedurft hätte. 108 Da eine Reihe von Mitgliedstaaten von der Verpflichtung des Art. 13 DBA nicht oder jedenfalls nicht sofort Gebrauch gemacht hatten, der Monarch demzufolge (noch) alleiniger Inhaber der Legislativgewalt war, bedurfte es der Zustimmung der Landtage nicht, sondern der Bundesbeschluß konnte auf dem (einfachen) Verordnungsweg umgesetzt werden. Entsprechendes galt für die konstitutionellen Regime, deren Verfassung ausdrücklich keine Mitwirkung der Kammern bei der Transformation des Bundesbeschlusses gefordert hatten (Nachweise bei Meyer / Anschütz, Lehrbuch, S. 133 Fn. 4). In allen anderen Fällen war der Verpflichtung des Landes im normalen (und aufwendigen) Gesetzgebungsverfahren zu genügen. 109 Held, System des Verfassungsrechts I, S. 482 f. 107

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rechts vor der Rechtsordnung der Mitgliedstaaten, sei es als Geltungs- oder als Anwendungspräferenz, war somit nach der strengen Lehre des Staatenbundes, wie sie seinerzeit gehandhabt wurde, ausgeschlossen. Obgleich die Rechtslehre des frühen 19. Jahrhunderts diese Trennung der Sphären von Bundes- und Landeszuständigkeiten durchgängig streng beachtete und unmittelbare normative Beziehungen der beiden Rechtskreise, die nicht durch die Mitgliedstaaten - d.h. deren Regierungen - vermittelt wurden, ausschloß, ist der damals wie heute eindeutige historische Konsens jüngst teilweise aufgekündigt worden. So hat Ernst Rudolf Huber in seiner Deutschen Verfassungsgeschichte nachdrücklich darauf bestanden, daß bereits unter dem Deutschen Bund der Rechtsgrundsatz "Reichsrecht (Bundesrecht) bricht Landesrecht" in gleicher Weise gegolten habe wie später unter der Bismarckschen Reichsverfassung 111. Zwar habe sich das Bundesrecht vom späteren Reichsrecht im Rangverhältnis dadurch unterschieden, daß es seine derogatorische Kraft gegenüber dem Landesrecht erst erlangte, nachdem es im Mitgliedstaat ordnungsgemäß publiziert worden sei. Sei dies indes - notfalls durch Ersatzverkündung des Exekutionskommissars112 - geschehen, habe es dieselbe Rechtswirkung gehabt wie dann unter Art. 2 RV 1871: das dem Bundesgesetz widersprechende Landesrecht sei automatisch außer Kraft getreten, einer Aufhebung durch den Landesgesetzgeber habe es nicht bedurft. Die damit behauptete Parallelisierung der strukturellen Beziehungen beider Rechtsordnungen, von Staatenbund einerseits und Bundesstaat andererseits, muß sich freilich die Frage gefallen lassen, ob sie nicht wesentliche, die Bewertung prägende Unterschiede übersieht und etwas in einen Topf wirft, was zusammen allenfalls einen "unverdaulichen Brei" ergibt. Huber behauptet die Existenz der Vorrangregel nämlich, um dann die erforderliche Begründung schuldig zu bleiben — ja er gesteht freimütig, daß "auch dies [d.h. die Suspensions- oder gar Derogationswirkung des Bundesgesetzes, umso mehr dann doch schon die Existenz einer späteren Strukturen gleichenden Bundesgesetzgebung] umstritten" gewesen sei. Man sei allerdings - laut Huber - in einer Reihe von Fällen so vorgegangen, von

110

Vgl. Klüber, Öffentliches Recht I 2 , § 156a (S. 330 f.); Öffentliches Recht4, § 214 (S. 284 f.: keine gesetzgebende Gewalt des Bundes); ihm folgend Mittermaier, Grundsätze I, S. 85; s.a. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht I § 35 (S. 108 ff.), III § 220 (S. 212 Fn. · · · · ) , § 239 (S. 269 f.); Behr, Grenzen, S. 19 ff. (nur Assoziation und Koordination, nicht Subordination der Mitglieder); Rudhart, Recht des Deutschen Bundes, S. 55 ff. (nur Beschluß-, keine Gesetzgebungsgewalt); Weiß, System des deutschen Staatsrechts, S. 168 (Bundesgesetze nur Vertragsnormen). Aus späterer positivistischer Sicht Laband / Mayer, Reichsstaatsrecht, S. 3 (es gab kein Bundesrecht: "alles, selbst das durch Bundesbeschlüsse provozierte und in allen deutschen Staaten gleichmäßig geltende Recht war ohne Ausnahme nicht Bundesrecht, sondern Landesrecht."). 111 Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 601 f.; ihm folgend und auf die "gemeinnützigen Anordnungen" (Art. 64 WSA) ausdehnend Lauflee, Deutscher Bund, S. 2. 112 Art. 8 Exekutions-Ordnung; abgedruckt bei Huber, Dokumente I, Nr. 38.

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denen er dann einen Fall (denn mehr gab es wohl nicht) näher betrachtet. Huber ist dabei augenscheinlich der Gefahr erlegen, Voraussetzungen, Inhalt und Reichweite einzelner Bundeszuständigkeiten etwas zu vermengen. Das erste Problem dieser Annäherung staatenbündischer Beschlußformen und Beschlußinhalte an bundesstaatliche, genauer: gesamtstaatliche Gesetzgebung besteht im Nachweis der Existenz einer besonderen, eigengearteten und damit vom normalen völkerrechtlichen Beschlußverfahren der Bundesversammlung verschiedenen Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Sie wurde seinerzeit weitestgehend verneint, freilich nicht gänzlich und unter allen Umständen. So gestand ein (bundesfreundlich gestimmter) kleinerer Teil der Rechtslehre (vor allem Maurenbrecher und Zoepfl, aber auch Jordan) dem Bund die Befugnis zum Erlaß von Bundesgesetzen zu, d.h. allgemeinverbindlichen Vorschriften über die Mittel zur Erreichung des Bundeszwecks und deren Anwendung113. Er zog daraus allerdings nicht die von Huber abgeleitete Konsequenz, daß diese "Bundesgesetze" gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten automatisch Vorrang hätten, sondern betonte vielmehr, daß sie sich - außer durch ihre (denknotwendige, weü dem materiellen Gesetzesbegriff verhaftete) Allgemeinheit - in nichts von anderen Bundesbeschlüssen unterschieden, mithin (in heutiger bundesstaatlicher Terminologie) Rahmengesetze mit inhaltlich beschränktem Adressatenkreis darstellten. Ihre Adressaten waren die Bundesmitglieder, nicht die Untertanen in den Staaten, und sie bedurften der Transformation in die einzelstaatliche Rechtsordnung durch Publikation, einen Akt, der zur Rechtswirksamkeit des Beschlusses unverzichtbar war, den der Bund freilich mangels Kompetenz nicht selbst vornehmen konnte. Das dann publizierte Recht war Landesrecht, nicht Bundesrecht. Wollte man also überhaupt von einer eigenen "Bundesgesetzgebung" sprechen, so konnte man sich allenfalls auf eine (zudem nicht sehr eindeutige) Stelle in den "Bundesgrundgesetzen" berufen 114; die viel weitergehenden, einen bundesstaatlichen Zuschnitt projektierenden und damit eine entsprechende Kollisionsregelung der hier behaupteten Art einbeziehenden Pläne preußischer Reformer (um den Freiherrn vom Stein und Hardenberg) waren ja bekanntlich an von Humboldt und Metternich geschei-

113

Maurenbrecher, Grundsätze, 5 115 (S. 176 f.): abgeschwächt Zoepfl, Grundsätze I , § 151 (S. 312, 322 ff.), ebenso Grundsätze V, § 151 (S. 371: "Insofern daher durch Bundesbeschlüsse allgemeine Normen aufgestellt werden, kommt ihnen auch in Bezug auf die souverainen Bundesglieder (!!) der Charakter von Gesetzen zu".). Weitere Nachweise bei Klüber, Öffentliches Recht4, § 214 (S. 384 Fn. d). Aus späterer Sicht Meyer / Anschütz, Lehrbuch, S. 133 f. 2

114

Art. 11 WSA: In der Regel faßt die Bundes-Versammlung die zur Besorgung der gemeinsamen Angelegenheiten des Bundes erforderlichen Beschlüsse im engern Rathe nach absoluter Stimmenmehrheit. Diese Form der Schlußfassung findet in allen Fällen Statt, wo bereits feststehende allgemeine Grundsätze in Anwendung, oder beschlossene Gesetze [Hervorh. v. Verf.] und Einrichtungen zur Ausführung zu bringen sind, überhaupt aber bey allen Berathungs-Gegenständen, welche die BundesActe oder spätere Beschlüsse nicht bestimmt davon ausgenommen haben.

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tert 115. In der Praxis hingegen war den Beschlüssen der Bundesversammlung die Bezeichnung als "Gesetz" oder "Bundesgesetz" größtenteils fremd; soweit ihnen dieses Attribut im Schrifttum zuerkannt wurde (und noch heute zuerkannt wird), kann es nur im untechnischen Sinn, nämlich das Allgemeine und Grundsätzliche des Beschlusses betonend, verwendet werden116. Das zweite Problem einer Kongruenz der Rechtswirkung von Bundesbeschlüssen im Vergleich zu Reichsgesetzen besteht in der unscharfen Trennung der verschiedenen Beschlußgegenstände. Neben die Beschlußfassung über die "eigentlichen Bundeszwecke", d.h. die in Art. 2 DBA, Art. 1 WSA angesprochenen Aufgaben des Bundes (Schutz nach außen und innen) trat nämlich nach 1820 die in Art. 64 WSA angesprochene, die Einheitlichkeit flankierende Befugnis der Bundesversammlung, auf "gemeinnützige Anordnungen" hinzuwirken und deren Einführung in allen Mitgliedstaaten anzuregen117. Diese hinsichtlich Inhalt und Umfang bewußtfreiwillig ausgestaltete Integrationsaufgabe enthielt eine politische Empfehlung des Bundes, begründete aber keine besondere, zusätzliche Gesetzgebungskompetenz118. Wollte man die gemeinnützigen Anordnungen umsetzen, bedurfte es der parallelen Landesgesetzgebung in allen Mitgliedstaaten, wie es für das Wechselrecht durch die Allgemeine Deutsche Wechselordnung nach 1847, für das Handelsrecht durch das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch nach 1848 dann auch geschah119.

115

Vgl. Getz t Reichseinheit, S. 19 ff. In Hardenberg? "Entwurf der Grundlagen der Deutschen Bundesverfassung", den "Einundvierzig Punkten", war der Vorrang des Bundesrechts (Art. 24 S. 4: "Ein Landes-Gesetz darf nie und in keinem Fall gegen ein Bundesgesetz seyn") und damit der Beruf des Deutschen Bundes zur Schaffung einer umfassenden Rechtseinheit enthalten. Text bei Klüber, Acten I, S. 45 ff. (52). 116 So gliedern sich etwa die berüchtigten (vier) Karlsbader Beschlüsse auf in einen "Provisorischen Bundesbeschluß über die in Ansehung der Universitäten zu ergreifenden Maßregeln", in "Provisorische Bestimmungen hinsichtlich der Freiheit der Presse", in einen "Beschluß betreffend die Bestellung einer Centraibehörde zur nähern Untersuchung der in mehreren Bundesstaaten entdeckten revolutionären Umtriebe" und eine Exekutions-Ordnung. Von einem oder mehreren Gesetzen ist nicht die Rede; die bei Huber (Dokumente I, Nr. 32 ff.) gebrauchte Typisierung als Gesetz ist nicht amtlich. 117

Art. 64 WSA: Wenn Vorschläge zu gemeinnützigen Anordnungen, deren Zweck nur durch die zusammenwirkende Theilnahme aller Bundesstaaten vollständig erreicht werden kann, von einzelnen Bundes-Gliedern an die Bundes-Versammlung gebracht werden, und diese sich von der Zweckmäßigkeit und Ausführbarkeit solcher Vorschläge im Allgemeinen überzeugt, so liegt ihr ob, die Mittel zur Vollführung derselben in sorgfältige Erwägung zu ziehen und ihr anhaltendes Bestreben dahin zu richten, die zu dem Ende erforderliche freiwillige Vereinbarung unter den sämmtlichen Bundes-Gliedern zu bewirken. 118 So auch Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 592; Getz, Rechtseinheit, S. 31 f.; unrichtig, weil die beiden Gegenstände vermengend, Laufke, Deutscher Bund, S. 2 f. 119 Dazu Goldschmidt, Handbuch des Handelsrechts I, S. 68 ff. (Wechselordnung), 84 ff. (ADHGB); ergänzend und zu anderen Rechtsgebieten (Urheberschutz, gemein-

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Soweit schließlich die Staatspraxis für die Gleichheit von Kollisionstatbestand und Kollisionsfolge herangezogen wird, bedarf der einzig bekannte Fall, den Huber m nennt, nämlich der Konflikt zwischen Bund und Baden, das Badische Preßgesetz von 28.12.1831121 betreffend, einer näheren Prüfung. Der Fall selbst ist zu bekannt, als daß er hier noch einmal en detail ausgebreitet werden müßte 122 . Entgegen den presserechtlichen Festlegungen des Deutschen Bundes in den Karlsbader Beschlüssen hatte der badische Landtag im Herbst 1831 auf die Drohung der Liberalen hin, den anstehenden Staatshaushalt nicht zu bewilligen, ein überaus großzügiges Pressegesetz erlassen, das allerdings in wesentlichen Bestimmungen mit den bekannt restaurativen Maßnahmen des Bundes nicht zu vereinbaren war. Mit Bundesbeschluß vom 5.7.1832 stellte die Bundesversammlung auf Druck Preußens und Österreichs fest, daß das badische Presserecht mit den Bundesbeschlüssen von 1819 nicht vereinbar sei und verlangte seine Aufhebung. Dies brachte die gemäßigt liberale Regierung in Karlsruhe in erhebliche Verlegenheit: einerseits bedurfte sie der Zustimmung der Kammern in anderen Angelegenheiten und versprach sich von der neuen Regelung eine Beruhigung im Landtag, andererseits fürchtete sie (mit Recht) eine heftige Reaktion anderer Bundesstaaten, in denen es ähnliche parlamentarische Bestrebungen wie in Baden gab. Sie agierte deshalb in der Bundesversammlung in zweierlei Richtung: nachgiebig der Form nach, indem sie sich mit einer Modifizierung des Preßgesetzes in Richtung der Karlsbader Beschlüsse einverstanden erklärte; hinhaltend und ablehnend der Sache nach, indem sie eine Suspendierung ablehnte und die erheblichen Schwierigkeiten verdeutlichte, die eine Rücknahme des Gesetzes wegen des Landesverfassungsrechts mit sich bringen würde. Immerhin sei das Gesetz verfassungsmäßig zustandegekommen und einer Aufhebung würden die Kammern jedenfalls in der gegenwärtigen Lage nicht zustimmen. Die treibenden Kräfte des Bundes, Preußen und Österreich, beriefen sich wiederum auf die Gültigkeit der Karlsbader Beschlüsse und die Gefahren eines Ausbrechens einzelner Mitgliedstaaten, sahen aber im Ergebnis den Weiterbestand der gesamten politischen Restaurationsordnung in Gefahr. Bei allen politischen Finessen hier wie dort wurde im Kern juristisch bemäntelt, was politisch gewünscht wurde: jeder der Kontrahenten berief sich auf Recht und Gesetz und meinte doch etwas ganz Anderes 123. Da die Bundesversammlung mehrfach den Vollzug des Beschlusses vom Juli 1832 androhte und auch eine Bundesexekution nicht ausschloß, beugte sich Baden dem massiven Druck der beiden Großmächte und schaffte durch Verordnung vom 28.7.1832 den Stein des Anstoßes aus der Welt 124 . Daraus schließt nun Huber, daß der Grundsatz des Vorrangs des Bundesrechts damit auch von Seiten Badens anerkannt worden sei, und daß der Kollisionstatbestand

same Kriminal- und Zivilgesetzgebung, Obligationenrecht, Zivilgerichtsverfahren etc.) Laufke, S. 4 ff. Einzelheiten bei Bergfeld, in: Coing, , Handbuch III/3, S. 2928 ff. 120 Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 602; ders. t Verfassungsgeschichte II, S. 43 f. 121 Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungsblatt 1832, S. 29. 122 Einzelheiten bei Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 39 ff.; Eisenhardt, Deutscher Bund, S. 110 ff. Zu den Karlsbader Beschlüssen Büssem, Karlsbader Beschlüsse, insb. S. 311 ff.; Eisenhardt, Wandlungen, S. 4 ff.; zu Art. 18 lit. d) DBA ders., Garantie, S. 339 ff. 123

Treffend Eisenhardt, Deutscher Bund, S. 119: "eindrucksvolles Beispiel dafür, wie man mit juristischen - z.T. lediglich formaljuristischen - Argumenten rein politische Ziele durchzusetzen versuchte". 124 Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungsblatt 1832, S. 371 ff.; zu den nachfolgenden Debatten in der 2. Kammer von 1833 Collmann, Quellen, S. 681 ff.

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automatisch die Nichtigkeit des bundeswidrigen Landesgesetzes hervorrufe 125. Das erstere ist - nach seinem Ergebnis - sicher unbestritten 126; das letztere mag vielleicht zwar die instrumentalisierte, von den beiden Großmächten majorisierte Meinung der Bundesversammlung gewesen sein127. Die badische Regierung war ihr indes nicht gefolgt, liest man ihre Verordnung vom 28.7.1832 genau: Der Großherzog rekurrierte auf den bekannten Bundesbeschluß, wonach das Preßgesetz mit der vormaligen Bundes-Gesetzgebung über die Presse "unvereinbar sey, und daher nicht bestehen dürfe", berief sich also auf seine (völkerrechtliche) Verpflichtung gegenüber dem Bund; er sah sich daher "veranlaßt, das Preßgesetz ... für unwirksam zu erklären und hiernach weiter zu verordnen ...". Schon dieser Rechtsakt der Unwirksamerklärung, der durch die förmliche Aufhebung einzelner Bestimmungen des Preßgesetzes vertieft und bestärkt wurde (§ 6 der VO), wäre bei einer automatischen Nichtigkeit kraft Bundesrechts überflüssig gewesen, denn er hätte nur deklaratorische Wirkung gehabt — Nichtiges noch einmal zu vernichten ergab keinen Sinn. Wenn Huber zur Unterstützung seiner These darauf hinweist, daß nur kraft dieser Nichtigkeit der Großherzog in der Lage gewesen sei, im Verordnungsweg - und damit ohne die im Gesetzgebungsverfahren unumgängliche Zustimmung der Kammern - die Unwirksamkeit des Preßgesetzes festzustellen, so ist dies allgemein sicher zutreffend, würdigt aber nicht die besonderen Umstände des Falles. Zum einen war bereits zweifelhaft, ob Baden überhaupt das Recht zu einem den (hier einmal als rechtmäßig unterstellten) Bundesbeschlüssen widersprechenden Preßgesetz hatte. Immerhin hatte die badische Verfassung von 1818 in höchst bundesfreundlicher Weise in § 2 ausdrücklich "alle organischen Beschlüsse der Bundesversammlung, welche die verfassungsmäßigen Verhältnisse Deutschlands oder die Verhältnisse deutscher Staatsbürger im allgemeinen betreffen", zu "einem Theil des badischen Staatsrechts" erklärt und sie "für alle Classen von Landesangehörigen verbindlich" gemacht, "nachdem sie von dem Staats-

125

Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 43; ihm insoweit folgend Eisenhardt (Deutscher Bund; S. 20 f.), der allerdings die Bedeutung des badischen Nachgebens weniger mit formaljuristischen Argumenten als mit den unübersehbaren politischen Pressionen Österreichs und Preußens erklären will. 126 Es war unbestritten, daß kraft der Verträge des Bundes (DBA und WSA) die Mitgliedstaaten verpflichtet waren, den Beschlüssen der Bundesversammlung Folge zu leisten. Diese völkerrechtliche Verpflichtung konnte aber keine automatische Suspendierung oder gar Derogierung widersprechenden Landesrechts zur Folge haben, sondern konnte, ja mußte notfalls durch die bekannten Vollzugsinstrumente (Bundesexekution) durchgesetzt werden. Wenngleich das Ergebnis der Sache nach das Gleiche war — im Rechtsgrund unterschieden sich zwischenstaatliche Verpflichtung zur Beseitigung der Kollision und innerstaatliche, automatische Vernichtung des kollidierenden Rechts erheblich. 127 Schon hier tun sich Zweifel auf. Wenn Eisenhardt auf Grund der Aktenlage darauf hinweist, die Großmächte hätten die Auffassung vertreten, daß die Gesetzgebung der Einzelstaaten sich derjenigen des Bundes unterzuordnen habe, sagt dies über die Rechtsfolge einer Kollision nichts aus. Immerhin spricht der Wortlaut des nur mit Mehrheit gefaßten Bundesbeschlusses (24. Sitzung von 1832; Protokolle der Bundesversammlung, § 230; abgedruckt bei von Meyer / Zoepfl, Corpus Iuris II, Nr. 104 [S. 250]) dagegen: "Es wurde ... beschlossen: daß das am 1. März l.J. im Großherzogthume Baden in Wirksamkeit getretene Preßgesetz für unvereinbar mit der bestehenden Bundesgesetzgebung über die Presse zu erklären sei und daher nicht bestehen dürfe. Dem zufolge spricht die Bundesversammlung die zuversichtliche Erwartung aus, daß die Großherzogliche Regierung dieses Preßgesetz sofort suspendire ...".

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Oberhaupt verkündet worden" waren 128 . Dies mußten auch die Abgeordneten in der 2. Kammer anerkennen, die sich z.T. sehr wohl bewußt waren, daß der ihnen von der Regierung abgenötigte Gesetzentwurf mit Bundesbeschlüssen kaum vereinbar war 1 2 9 , die sich aber unter Berufung auf den wohlverstandenen Gehalt des § 17 der badischen Verfassung davon dispensieren zu können glaubten. Was zum anderen die besondere Form der Aufhebung des Preßgesetzes betraf: die badische Verfassung kannte neben dem regulären Gesetzgebungsverfahren (§§ 53 ff.) und dem Weg der Verordnungsrechtsetzung (§ 66 S. 1) in § 66 S. 2 auch das dem konstitutionellen Verfassungssystem vertraute Notverordnungsrecht des Großherzogs, das - abweichend von anderen landständischen Verfassungen - nicht der nachträglichen Bestätigung durch die Kammern bedurfte, sondern nur inhaltlich auf "durch das Staatswohl dringend gebotene Verordnungen, deren vorübergehender Zweck durch jede Verzögerung vereitelt würde", beschränkt war. Unter dem Gesichtspunkt der drohenden Bundesexekution stand einer Anwendung dieser außerordentlichen Befugnis, auch wenn sie im konkreten Fall (wie in der Staatspraxis Badens und anderer Staaten des öfteren geschehen) gegen den Landtag gerichtet war, von Landesverfassungs wegen nichts entgegen, zumal die Verordnung in der 2. Kammer auch in dieser Richtung interpretiert wurde 130 .

Alles in allem: von einem mit seif executing-Wirkung ausgestatten Vorrang des Bundesrechts vor Landesrecht konnte keine Rede sein, durchaus hingegen von einer völkerrechtlichen Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Bundesbeschlüsse zu beachten und kein ihnen widersprechendes Landesrecht zu erlassen. Insoweit mag man, auf das Rahmenbildende und "nur" Verpflichtende beschränkt, von einer Bundesgesetzgebung sprechen. Die Schwelle vom Staatenbund zum Bundesstaat allerdings, vom zwischen- zum innerstaatlichen Rechtsordnungsregime, war im Deutschen Bund zwar sichtbar geworden, aber noch nicht überwunden.

128

Text bei Huber, Dokumente I, Nr. 54. So ausdrücklich der Abgeordnete Rotteck, der zusammen mit Welcker die liberale Speerspitze in der 2. Kammer bildete und einen irgendwie gearteten Vorrang des Bundesrechts, ja auch nur die Verbindlichkeit einer völkerrechtlichen Verpflichtung des Landes, bestritt; vgl. Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 41; anders, d.h. für die Rechtmäßigkeit des Preßgesetzes - mit allerdings gewundener Argumentation der Abgeordnete Welcker in der 5. Sitzung der 2. Kammer am 24.3.1831; s. Welcker, Begründung, S. 12 ff. 129

130

681 ff.

Vgl. die Zusammenfassung der Kammerberatungen bei Collmann, Quellen, S.

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

V. Die bundesstaatliche Kollision der Rechte im Verfassungssystem des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches 1. Die Positivierung und Politisierung bundesstaatlichen Kollisionsnorm

der

Erst die Vereinbarung der Verfassung des Norddeutschen Bundes 1867 gab dem Anwendungsbereich von gemeinem und partikularem Recht eine neue, auch unser heutiges Rechtsverständnis noch prägende Form und Gestalt; vor allem aber: es stellte sein Verhältnis vom Kopf auf die Füße, auf ein festes Fundament. Die vordem nur wissenschaftlich diskutierte und im politisch-praktischen Rechtsleben höchst unterschiedlich beantwortete Frage des Vorrangs reichsrechtlicher vor landesrechtlichen Vorschriften erhielt erstmals Verfassungsrang, sie wurde positiviert und für die neu einzurichtende Rechtsordnung des ersten deutschen Bundesstaates allgemein verbindlich. Welchen Nachdruck der Verfassungsgeber auf den sicheren künftigen Vorrang des Reichsrechts legte, zeigte schon seine Verortung im Aufbau der Bundesverfassung. Als erste Vorschrift ihres II. Abschnitts ("Bundesgesetzgebung"), die unmittelbar hinter der Normierung des Staatsgebiets und des räumlichen Geltungsbereichs der Konstitution ("I. Bundesgebiet") folgte, bestimmte Art. 2: "Innerhalb dieses Bundesgebietes übt der Bund das Recht der Gesetzgebung nach Maaßgabe des Inhalts dieser Verfassung und mit der Wirkung aus, daß die Bundesgesetze den Landesgesetzen vorgehen. Die Bundesgesetze erhalten ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von Bundes wegen ,.." 131

Über den Wortlaut 132 dieser grundstürzenden Umkehrung des bisher geübten Rangverhältnisses waren sich die Beteiligten ebenso einig wie über seine Aufgabe. Ausweislich der zugänglichen Materialien fand eine Spezialdiskussion über Art. 2 nicht statt, ja in den gesamten Verfassungsberatungen wurde diese Kernbestimmung der neuen bundesstaatlichen Ordnung keines Wortes gewürdigt, so selbstverständlich schien ihre inhaltliche Aussage zu sein133, ließ sich der Vorrang des Bundesrechts als bundesstaatliches Essentiale doch schon in Abschn. II Art. XIII § 66 der Paulskirchenverfassung festmachen. Mochte sich die föderative Übereinstimmung zum geringeren aus der die Verfassungsberatungen prägenden pragmatischen Einstellung der meisten Abgeordneten erklären lassen — der tiefere Grund war

131

Hervorhebung v. Verf. Die endgültige Fassung des Art. 2 NBVerf. stimmte vollständig mit dem am 4. März im konstituierenden Reichstag eingebrachten Entwurf Bismarcks und der Bundesstaaten überein, vgl. VerhRT NB 1867, Bd. II, Ani. 10 (Art. 2). 133 VerhRT NB 1867, Bd. I, Sten. Ber. 33 / 15.4.1867 / 239 ff. (1. Lesung); 33 / 15.4.1867 / 702 (Schlußabstimmung). Zur Entstehung der Bundesverfassung Huber, Verfassungsgeschichte III, S. 649 ff.; zum Gang der parlamentarischen Verhandlungen Pollmann, Parlamentarismus, S. 198 ff. m.w.N. 132

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die konsentierte Funktion dieser Vorschrift im Gesamtzusammenhang der Bundeslegislative. Nicht dem rechtstechnisch-dogmatischen, nicht dem neuartigen, modellhaft-föderativen Charakter der Norm galt die Aufmerksamkeit, sondern ihrem verfassungspo/iTtscÄen Impetus: Nach mehreren vergeblichen Anläufen geriet jetzt endlich die nationale Rechtseinheit in greifbare Nähe. Während die scheinbar nur technische Spezialbestimmung des Art. 2 NBVerf. links liegen gelassen wurde - ein Versäumnis, das sich erst bei seiner rechtspraktischen Bewährungsprobe als solches erweisen sollte - , gewann die Verteilung und Zuordnung der einzelnen Gesetzgebungsmaterien auf Glied- und Gesamtstaat rasch an Bedeutung. Hier verliefen die Fronten zwischen Reichsanhängern und Föderalisten, zwischen unitaristischem und partikularistischem Bundesstaatsverständnis. Während die Konservativen und die Vertreter der Gliedstaaten dem Bund nur die allernotwendigste legislative Ausstattung zubilligen wollten, lag den Nationalliberalen an der Verwirklichung der bereits 1849 Stück für Stück unternommenen Rechtseinheit, vor allem im Bereich des Zivil-, Straf- und Prozeßrechts. Ihr Erfolg (und damit der Anwendungsbereich des Art. 2) hielt sich zwar in Grenzen: Gegenüber der bereits im Verfassungsentwurf 134 von den Einzelstaaten zugestandenen Bundeskompetenz für "die gemeinsame Civil-ProzeßOrdnung und das gemeinsame Concurs-Verfahren, Wechsel- und HandelsRecht" erreichten sie neben der Bundeszuständigkeit für das Strafrecht aus dem Bereich des Zivilrechts aber immerhin die "gemeinsame Gesetzgebung über das Obligationenrecht ... und das gerichtliche Verfahren" (Art. 4 Nr. 13 NBVerf.) 135. Die Wahrung der Rechte der Länder stand gegenüber dem neuen Ganzen im Vordergrund; nur den im Rahmen des Art. 4 NBVerf. ergehenden Bundesgesetzen wurde der Vorrang vor Landesrecht eingeräumt 136. 2. Der Vorrang des Reichsrechts in seiner praktischen Bewährung Die inhaltliche Abstinenz der an den Verfassungsberatungen zu Art. 2 NBVerf. beteiligten Abgeordneten rührte u.a. auch von einem Mangel an verfassungtheoretischer und -dogmatischer Fundierung dieser Vorschrift her. Immerhin war der Grundsatz über das Verhältnis der gesamt- und gliedstaatlichen Rechtsordnungen im Bundesstaat zuvor wissenschaftlich (auch 1848/49) nicht erörtert worden; der Verfassungsgeber konnte - sieht man von der mageren Ausbeute der Paulskirche ab137 - nicht auf ältere Vorbil-

134 135

VerhRT NB 1867, Bd. II, Ani. 10, Art. 4 Nr. 13. Zum Kampf um die zivilrechtliche Rechtseinheit 1867 Laufs, Reichskompetenz,

S. 742. 136

Vgl. Diestelkamp, Reichsgesetzgebung, S. 208 ff. Zur politisch kontroversen Behandlung des (suspendierenden oder derogierenden) Vorrangs von Reichsrecht im Verfassungsausschuß Droysen, Aktenstücke, S. 484, 137

60

Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

der zurückgreifen, die ihre praktische Bewährungsprobe bereits bestanden hatten138. Daß auch bei dieser Bestimmung der Teufel im Detail steckte", erwies sich überraschend schnell bei der Entstehung des StGB von 1870. Seit Mitte der 50er Jahre, noch unter dem Deutschen Bund, hatte sich die Wissenschaft zunehmend damit beschäftigt, das partikulare Strafrecht miteinander zu vergleichen, um eine gemeindeutsche Kodifikation des Kriminalrechts vorzubereiten 139; den Anstoß zur parlamentarischen Förderung dieses Unternehmens hatte eine Resolution des Reichstags zu Beginn der Session 1868 gegeben. Der Bundesrat entsprach diesem Antrag und ließ sich vom preußischen Justizministerium - auf der Grundlage des Preußischen StGB von 1851 - einen Entwurf ausarbeiten, der im Juli 1869 fertiggestellt und den verbündeten Regierungen sowie ausgewählten Strafrechtsexperten vorgelegt wurde. Angesichts der großen partikularen Verschiedenheiten gerade auf dem Gebiet des Strafrechts konnte eine den Rechtsbestand vereinheitlichende Kodifikation nur Zustandekommen, wenn alle am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten die von den Fachkommissionen aufgestellten Entwürfe im wesentlichen guthießen, also eine grundlegende Umarbeitung des Entwurfs unterblieb140. Der so immer notwendige (und auch erreichte) Kompromiß zwischen den Maximalvorstellungen Preußens, den Wünschen der Mittelstaaten und den differenzierten Vorstellungen des Reichstags, der nach außen nicht immer als solcher hervortrat, schlug sich auch im Verhältnis von neuem Reichsstrafrecht zu altem Landeskriminalrecht nieder. Zwar hatte der Justizausschuß in Art. 4 Nr. 13 der NBVerf. nicht nur die "bloße Beile-

491; zur Beratung im Plenum Getz, Rechtseinheit, S. 120 ff. m.w.N. Durchsetzen konnte sich schließlich der (nur) suspendierende Vorrang des Reichsrechts. 138 Den beiden seinerzeit allein zur Verfügung stehenden Bundesstaatsmodellen der Schweiz (1864) und der USA (1776) fehlte eine entsprechende Vorschrift, wenn man Art. V I § 2 der Verfassung der USA von 1787 einmal beiseite läßt. Zu seiner bundesstaatlichen Interpretation bzw. Adaptierung auf deutsche Verhältnisse hin vgl. von Holst, Staatsrecht, S. 30 ff.; aus dem älteren Schrifttum von Mohl, Staatsrechtl, S. 348 ff. (352 f.). 139 Dazu Krug, Ideen; fortgeführt von Kräwel, Entwurf; zum Restbestand des gemeinen deutschen Strafrechts von Wächter, Gemeines Recht, insb. S. 198 ff. (Subsidiarität des Reichsrechts), 232 ff. 140 Dies bedeutete, daß insbesondere die mittleren Staaten, aber auch das federführende Preußen, auf eine Berücksichtigung ihrer Wünsche weitgehend verzichten mußten, sofern es ihnen - und dies galt zumal für Preußen - nicht gelungen war, sie in den Expertenkommisisonen durchzusetzen; s. Schubert, Rechtseinheit, S. 150 f. - Dies galt in gleicher Weise für die im Reichstag vertretenen Parteien. Zwar konnten die Liberalen durchaus eine Reihe von Erfolgen verbuchen: sie konnten in vielen Bestimmungen die Strafmaxima und -minima herabsetzen, den strafbaren Versuch oder mildernde Umstände einführen, neben der Zuchthausstrafe Gefängnis oder Festungshaft zulassen, mehrere Straftatbestände eingrenzen oder präzisieren, die Strafverfolgung nur auf Antrag vorsehen, die Strafdauer von Jugendlichen ermäßigen oder die zulässige Dauer der Isolierhaft verkürzen. Die von ihnen angestrebte vollständige Abschaffung der Todesstrafe hingegen gelang nicht. Zu den parlamentarischen Beratungen vgl. Pollmann, Parlamentarismus, S. 489 ff. m.w.N.

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gung einer Kompetenz", "von welcher beliebig und je nach den Umständen Gebrauch gemacht werden könne", gesehen, im Gegenteil: "Sichtbar liegt der Vorschrift die Auffassung zum Grunde, es gehöre zu den wesentlichen Aufgaben und Zwecken des Bundes, in den zum Norddeutschen Bund vereinigten Staaten die Gemeinsamkeit der Rechtsgesetzgebung auf dem Gebiete des Strafrechts herbeizuführen und die Uebelstände zu beseitigen, welche aus der Verschiedenheit der in den einzelnen Staaten geltenden Strafgesetzbücher und Strafprozeß-Ordnungen entspringen."141

Das Beharren der Einzelstaaten indes auf der Beibehaltung ihrer hergebrachten Strafrechtsbücher, das nicht nur fortlaufend im Gesetzgebungsverfahren vorgebracht wurde, sondern sich auch verfassungsrechtlich zumindest auf den Wortlaut des Art. 4 Nr. 13 NBVerf. stützen konnte142, schlug sich in den entsprechenden Bestimmungen über das Verhältnis von Bundes- und Landesstrafrecht nieder. Wenngleich man annehmen hätte können, Art. 2 NBVerf. sei eine hinreichend konkrete Aussage sowohl bezüglich des Ob als auch des Wie eines reichsrechtlichen Geltungsvorrangs zu entnehmen, glaubte der Gesetzgeber es nicht dabei belassen zu können, sondern im Einführungsgesetz zum StGB eine detaillierte Regelung vornehmen zu müssen. Er bestimmte daher, daß mit dem Tage des Inkrafttretens des Bundesstrafrechts (1.1.1871, § 1 EGStGB) "das Bundes- und Landesstrafrecht, insoweit dasselbe Materien betrifft, welche Gegenstand des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund sind", außer Kraft trete sollte ( § 2 1 EGStGB). War diese Bestimmung nicht schon (abgesehen von der in ihr enthaltenen Terminierung) überflüssig 143, so warf ihre Formulierung mehr Fragen auf, als sie zu beantworten in der Lage war. Dies war vor allem darauf zurückzuführen, daß es sich bei ihr um eine in kurzer Zeit ohne wissenschaftliche Hilfestellung zustandegekommene Kompromißformel handelte, die den vermeintlichen Belangen fortbestehender einzelstaatlicher Gesetzgebungszuständigkeit und dem berechtigten Anliegen bundeseinheitlicher Strafgesetzgebung gleichermaßen dienen sollte144, im Ergebnis aber beides ebensowenig erreichen konnte wie § 5 EGStGB, wonach "in landesgesetzli-

141

VerhRT NB I / 1 / 1868, Drs. 56 / 1868, S. 1-2. Danach sollte dem Bund nur die "gemeinsame" Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts zustehen, also - jedenfalls nach Meinung der den Einzelstaaten nahestehenden Juristen - Raum für das Fortbestehen partikularer Criminalrechtsvorschriften gelassen werden. Solange dies nur den besonderen landesrechtlichen Bedürfnissen entgegenkam, konnte man sich damit abfinden; die gesetzliche Regelung sah freilich anders aus. Dazu Zachariä, Bedeutung, S. 401 ff. (405 f.); von Bar, Gesetz und Schuld, S. 36 ff. 142

143

Heinze, Verhältnis, S. 27, 30. Die ursprüngliche Fassung des § 2 I EGStGB hatte noch enumerativ alle landesrechtlichen Kodifikationen aufgezählt, die durch das Inkrafttreten des StGB aufgehoben sein sollten, dabei aber teils Vorschriften erfaßt, die nicht in diesen Kontext gehörten, teils entlegene landesrechtliche Gesetze übersehen; s. Heinze, Erörterungen, S. 20. 144

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

chen Vorschriften über Materien, welche nicht Gegenstand des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund sind, [...] nur Gefängnis bis zu zwei Jahren ... angedroht werden" durfte. Beide Vorschriften gaben dem Rechtsanwender mehr Steine als Brot. Zwar war anerkannt, daß das formelle Verhältnis der Bundes- zur Landesgesetzgebung grundsätzlich in Art. 2 NBVerf. seinen Niederschlag gefunden hatte und von dort her interpretiert werden mußte; gleichwohl griff die Lehre, von Ausnahmen abgesehen145, immer nur auf die einfachgesetzlichen Vorschriften zurück und versuchte sie in geradezu wortklauberisch-positivistischer Weise den jeweiligen - unitarischen oder partikularistischen - rechtspolitischen Vorstellungen anzupassen und unterzuordnen. Wie war etwa der Begriff "Materie" zu verstehen: ganz eng nur als Straftatbestand, weiter als Tatbestand und Rechtsfolge oder gar als allgemeiner Sachgehalt mit der Folge, daß im letzteren Fall der Landesstrafgesetzgebung - abgesehen vom Polizei- und Disziplinarstrafrecht - nur ein sehr schmaler Bereich echten Kriminalrechts verbleiben würde? Erfaßte § 5 EGStGB etwa nur den Fall neueren Landesrechts mit der Folge, daß altes Einzelstaatsrecht - entgegen den Intentionen des Bundesgesetzgebers nicht an die Limitierung des Strafmaßes gebunden war? Besah man sich die Welle strafrechtsdogmatischer Literatur, die sich schlagartig ab 1870 über den Rechtsanwender ergoß, unter diesem Vorzeichen genauer146, war unverkennbar, daß "die Versuche das Landesstrafrecht dem verfassungsmäßigen Einfluß des Reichsrechts zu entziehen an Zahl wie an Erfolg das Maass ernster Befürchtung weit überstiegen haben"147; dies galt für die wissenschaftliche Bearbeitung dieser neuen Materie im besonderen, aber auch für die Gering- oder gar Mißachtung der verfassungs- und reichsrechtlichen Vorgaben durch einzelne Landesgerichte. 3. Die dogmatische Erhebung der Vorrangregel zum Rechtsgrundsatz Erst die von den einfachgesetzlichen Auslegungsschwierigkeiten abstrahierende verfassungsrechtliche Bearbeitung des (bedeutungsgleichen) Art. 2 der RV 1871148 durch den staatsrechtlichen Positivismus unter der Ägide von Gerber und Laband vermochte das Rangverhältnis von (nunmehr) Reichsrecht und Landesrecht auf ein festes normatives Fundament zu stellen. Er

145

So z.B. Heinze, Verhältnis., S. 21 ff.; ders., Reichsstrafrecht, S. 3 f. Außer den in Fn. 114-117 genannten vgl. Rubo, Kommentar, S. 78 ff.; Heinze, Tragweite, S. 561 ff.; Schütze, Studien, S. 350 ff.; Schwarze, Bundes-Strafgesetz, S. 381 ff. sowie die Beiträge von Holtzendorffs, Johns und Meves' in der Allgemeinen Deutschen Strafrechtszeitung. 147 So Binding , Handbuch des Strafrechts, S. 272; zur dabei angewandten Methode treffend von Bar, Gesetz und Schuld, S. 55: "Pressung des Wortlauts". 148 Zu ihrer Entstehung Huber, Verfassungsgeschichte IV, S. 742 ff. 146

. Die Kollision der Rechte im

e t c h e n Rech

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begriff den Geltungsvorrang erstmals als Rechtsgrundsatz und ordnete ihn in das nur rudimentär im Verfassungstext angelegte System der Rechtsetzung im Bundesstaat Bismarckscher Prägung ein. Vor dem Hintergrund und als Gegenbild des nunmehr überwundenen Staatenbundesrechts der Restaurationszeit wurde das Verhältnis von Einzelstaaten und Reich neu definiert, die ersteren - jetzt auch ihre Untertanen - der durchgreifenden staatlichen Herrschaft des Reichs, seiner Verfassung und Gesetze vollständig unterworfen und nur ihm, nicht auch den verbündeten Regierungen Souveränität zuerkannt149. Auf die Rechtsetzung bezogen, bedeutete dies die Unmittelbarkeit der reichsrechtlichen Legislativakte, die aus eigener Autorität erzeugt wurden und zu ihrer Wirkung keinerlei Umsetzung in den Landesbereich durch gliedstaatliche Willenserklärungen bedurften 150. Das Verhältnis der Reichsgesetzgebung zur gliedstaatlichen Rechtsetzung war demnach durch den Grundsatz bestimmt, daß dem Reich die souveräne Gesetzgebungsgewalt, den Einzelstaaten eine (nur) autonome Rechtsetzungsbefugnis zukam. Die höherrangigen Reichsgesetze mußten demnach notwendig den Landesgesetzen vorgehen, ohne Rücksicht auf ihren Inhalt151, es sei denn, der Wille des Gesetzgebers ging dahin, entweder nur eine an das Land, nicht an dessen Volk adressierte Rahmenregelung zu erlassen oder seine subsidiäre Geltung ausdrücklich festzuschreiben 152. Auf der Sanktion durch die höhere Reichsgewalt beruhte gleichfalls ihr Geltungs- (und nicht nur Anwendungs-)Vorrang 153; dabei kam es auf die im Bundesstaat ebenenspezifische Herkunft der Rechtssätze, nicht auf ihren Rang an. Eine Rechtsverordnung des Reiches konnte somit auch Verfassungsrechtssätze der Gliedstaaten derogieren 154, nicht nur - wie es der Wortlaut des Art. 2 RV 1871 suggerierte - suspendieren. War das Reichsgesetz einmal wirksam erlassen, so verloren alle widersprechenden landesrechtlichen Vorschriften (Verfassung, Gesetze, Verordnungen, Staatsverträge, Gewohnheitsrecht usw.) ipso iure - d.h. unmittelbar, ohne Zutun der

149 Zur Bundesstaatstheorie der Jahre nach 1867 jetzt Dreyer, Föderalismus, S. 245 ff. (zu Laband: S. 195 ff.; zu Hand: S. 303 ff.; zu v. Seydel: S. 310 ff.) m.w.N. 150 Grundlegend Hänel y Staatsrecht I, S. 267 ff. 151 Vgl. zum ganzen Laband, Staatsrecht II, S. 114 ff.; Hänel, Staatsrecht I, S. 238 ff.; Meyer / Anschütz, Lehrbuch, S. 715 ff. m.w.N. - Auch im benachbarten föderativen Ausland verfehlte Labands Lehre ihre Wirkung nicht. Vgl. für die Schweiz Amuat, Teilung, S. 69 ff. (generelle Subordination des kantonalen Rechts und der Kantone allgemein, da Vorrang des Bundesrechts auf der Souveränität des Bundes beruht). 152 Wie es etwa bei § 11 EGZPO der Fall war. 153 Dies hatte zur Folge, daß selbst bei nachträglichem Wegfall der reichsrechtlichen Normen allein die landesrechtliche Gesetzgebungskompetenz wieder auflebte; so bereits Heinze, Verhältnis, S. 21 f.; Hänel, Staatsrecht I, S. 249. 154 Schulze, Lehrbuch II, S. 126; a.A noch Heinze, Verhältnis, S. 24; Zachanä, Bedeutung, S. 406: Derogation nur durch Reichsgese/ze. Zur besonderen Problematik partikulären Reichsrechts in Elsaß-Lothringen Borchert, Verhältnis, S. 6 ff..

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

Gliedstaaten - ihre Geltung. Gleiches sollte für alle landesrechtlichen Vorschriften gelten, deren materieller Inhalt mit dem von Reichsrecht übereinstimmte. Der gliedstaatlichen Rechtsetzung stand überdies weder die Befugnis zur authentischen Interpretation von Reichsrecht zu noch die Kompetenz zu seiner bloßen Wiederholung oder Bestätigung. Ebensowenig konnte das Landesrecht die dem Reichsrecht widersprechenden - und damit durch das höhere Recht bereits derogierten - Vorschriften selbst noch einmal "aufheben" oder auch nur für nichtig erklären 155. Allein mit den Mitteln der dem Privatrecht entlehnten positivistischen Interpretationsmethoden konnte dieses Ergebnis freilich nicht erreicht werden; so war bereits der Derogations- (und nicht nur Suspensions-) Effekt des Reichsrechts mit dem bloßen "Vorgehen" in Art. 2 S. 1 nicht zu vereinbaren. Diese und andere Irritationen der Rechtslehre konnte nur der Rückgriff auf das Rechtsgrundsätzliche, die Souveränität des Reiches Widerspiegelnde beseitigen, wie auch der in der Praxis meistdiskutierte156 Anwendungsfall der gesamtstaatlichen Vorrangregel zeigte: die teilweise Aufhebung des Reichsjesuitengesetzes im Jahr 1904. Seit 1872 war dem Orden der Gesellschaft Jesu im gesamten Reichsgebiet Aufenthalt und Betätigung untersagt; vorhandene Niederlassungen konnten aufgelöst, ausländische Ordensangehörige konnten ausgewiesen werden157. Diese Ausnahmevorschriften wurden vertieft und erweitert durch Kampfgesetze in Preußen und anderen Einzelstaaten; dort bestanden bereits zuvor Beschränkungen der Tätigkeit des Jesuitenordens insoweit, als seine Zulassung von einer Genehmigung abhängig gemacht, diese aber nie erteilt wurde. Als nun nach mehrfachen vergeblichen Anläufen das Reich im Jahr 1904 zumindest die freizügigkeitsbeschränkende Vorschrift des § 1 Reichsjesuitengesetz aufhob 158, wurden u.a. von Länderseite Versuche unternommen, die alten, ehemals vom Vorrang des Art. 2 RV 1871 erfaßten Bestimmungen des Landesrechts automatisch Wiederaufleben zu lassen, d.h. dem Vorrang nur suspendierende Wirkung zuzuerkennen159. Begründet wurde dies zum einen mit dem histori-

155 Der Akt der Rechtsetzung durch das Reich hatte die Kompetenz der Einzelstaaten zur Rechtsetzung für diesen Bereich aufgehoben; s. Hänel, Staatsrecht I, S. 252 f. 156 Zu einem anderen Anwendungsfall - den entgegen den Intentionen des Reichsgesetzgebers, die in § 152 der Gewerbeordnung zum Ausdruck gekommen waren, in einzelnen Staaten unzulässigerweise wieder eingeführten Strafbestimmungen gegen das gewerkschaftliche Koalitionswesen - vgl. VerhRT 10 I / 1898/1900 / Anlagenband 7, Nr. 819; VerhRT 10 I / 1898/1900 / 199, 208 / 21.5.1900, 11.6.1900 / 5659, 5949 (5950 ff.); RGSt 34, 121 ff. 157 Einzelheiten bei Huber, Verfassungsgeschichte IV, S. 704 ff. 158 Die vollständige Aufhebung der Ausnahmevorschriften von 1872 erfolgte erst 1917; RGBl 1917, S. 362. 159 Der Fall gab zudem reichtlich Material ab für die ebenfalls ungeklärte Streitfrage, ob im Gesetzgebungsverfahren der Bundesrat auch nach Auflösung des gesetzesbeschließenden Reichstags berechtigt sei, das Verfahren zu Ende zu führen, oder ob

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sehen Nachweis, daß Art. 2 RV 1871 zwar eine Umkehrung des alten Rechtssprichworts, aber bezüglich seiner Rechtswirkung nicht mehr als die tradierte suspendierende Zurückdrängung, also nicht die vernichtende Außerkraftsetzung entgegenstehenden Rechts beinhalte; zum anderen könne der klare Wortlaut der Vorschrift eben nur etwas für eine auf die Dauer der Geltung des Reichsgesetzes begrenzte, d.h. wiederum vorübergehende und die Geltung des Landesrechts nur zurückdrängende Wirkung hergeben; zum dritten schließlich rekurrierte man von interessierter Seite auf die Rechtsgrundlage des Reichsjesuitengesetzes und behauptete, es könne sich nicht nur auf eine geschriebene Kompetenz des Gesamtstaats berufen, sondern sei ausweislich mancher Stimmen in der - stark emotionalisierten und daher rechtlich eigentlich kaum aussagekräftigen - Debatte des Reichstags als an den Anlaß gebundenes, zeitlich begrenztes Notstandsgesetz erlassen worden, wollte also das Landesrecht gar nicht verdrängen, sondern nur verstärkend überlagern 160. Das Schrifttum und auch die Rechtsprechung161 hatten sich hingegen frühzeitig und mit guten Gründen auf die Derogationswirkung des Art. 2 S. 1 RV 1871 festgelegt, sie hatten zudem den Willen des Reichsgesetzgebers als leitenden Interpretationsgesichtspunkt betont, der hier eindeutig zugunsten einer Verbesserung der kirchlichen Rechtslage sprach162. Das politisch höchst durchsichtige Unternehmen stand rechtlich auf so schwachen Füßen, daß es scheitern mußte. 4. Die Typisierung der Gesetzgebungskompetenzen und die Durchsetzung der Rechtseinheit Das damit entwickelte dogmatische Grundkonzept, das allgemeiner Zustimmung sicher sein163, die dahinter stehende verfassungspolitische, nämlich gemäßigt liberale und unitarische Option der Staatsrechtslehre freilich nicht

die parlamentarische Diskontinuität auch auf die Zuständigkeit der Ländervertretung durchschlage. Zu Recht verneinend Müller(-Meiningen), Aufhebung, S. 301 ff. 160 So eine verbreitete Kampfschrift aus dem protestantischen Lager; s. von Bonin, Reichsrecht, insb. S. 10 ff.; anders etwa Schoeller, Verhältnis, S. 34 ff: das Reichsrecht habe nicht nur das (entgegenstehende, gleichlautende oder weiterreichende) Landesrecht vernichtet, sondern auch die zugehörige Kompetenz des Gliedstaats. Auch wenn das Reich von seiner Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch (mehr) mache, lebe die Zuständigkeit des Landes nicht mehr auf. Selbst ein so staatenbündischer Verfassungsrechtler wie von Seydel vermochte den dabei konstruierten föderalistischen bzw. einheitsstaatlichen Implikationen nicht mehr zu folgen. 161

R G Z 19, 177 ff. Vgl. von Eichhorn, Aufhebung, S. 24 ff.; Falck, Rückwirkung, S. 23 ff. 163 Grundsätzlich ablehnend allein Posener t Reichsrecht, S. 39 ff., der die d e l a t o rische Kraft des Art. 2 S. 1 RV 1871 gegenüber dem Landesrecht leugnete und in dieser Vorschrift allein ein den politischen Wandel zum Bundesstaat reflektierendes Rechtssprichwort sehen wollte. 162

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

verbergen konnte, wurde nun in Bezug gesetzt zum System der materiellrechtlichen Reichslegislativbefugnisse. Ohne daß die Reichsverfassung dies in ihrer politisch-pragmatischen Art immer ausdrücklich so unterschieden hätte, systematisierte die Staatsrechtslehre das gegenseitige Zuordnungsverhältnis der Gesetzgebungskompetenzen in die noch dem Grundgesetz vertrauten Kategorien. Sie schied einmal Teügebiete aus, welche ausschließlich der Reichsgesetzgebung offenstanden, den Gliedstaaten also vollständig verschlossen blieben, und begründete dies entweder durch die Natur des der Reichskompetenz unterfallenden Gegenstandes oder durch die besondere verfassungstextliche Bestimmung164; der Anwendung des Art. 2 bedurfte es hier mangels Kollisionsmöglichkeiten nicht. Ihnen gegenüber standen die fakultativen (= konkurrierenden) Gesetzgebungszuständigkeiten des Reichs, vor allem im "Katalog der Rechtseinheit" des Art. 4 RV. Hier war das Recht der Einzelstaaten zur Gesetzgebung nicht schon durch die Befugnis des Reichs an sich ausgeschlossen, sondern erst durch dessen Inanspruchnahme im Einzelfall 165; dann allerdings mit der Folge des Art. 2, soweit das Reich diese Sachbereiche eben für sich in Anspruch genommen hatte, was wiederum nur aus der jeweiligen Regelung selbst erschlossen werden konnte. Während echte Kodifikationsgesetze ihren Sachbereich vollständig der landesrechtlichen Legislativbefugnis entzögen, ständen die vom Reich nicht in Anspruch genommenen (Teil-)Materien der Ergänzung durch Landesrecht offen. Der verbleibende, von der Reichsverfassung außen vor gelassene Restbestand endlich unterlag der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz der Einzelstaaten. Die im wesentlichen nicht aus verfassungstextlichen Vorgaben, sondern im Wege rechtswissenschaftlicher Methodik aus Art. 2 RV und den föderativen Grundsätzen der Verfassung abgeleiteten Grundsätze bestimmten fortan Lehre und Staatspraxis166, allerdings mit unterschiedlichem Gewicht. Die Praxis der Reichsgesetzgebung nach 1871 hatte nämlich schnell gezeigt, daß das auf das allgemeine Bundesstaatsprinzip gestützte Axiom, alle Normen des Reichsrechts hätten ausnahmslos Vorrang vor der einzelstaatlichen Gesetzgebung, in seiner Schrankenlosigkeit und Rigidität weit über das politisch erreichbare Ziel hinausgeschossen war. Um seinen unerwünschten Konsequenzen zu entgehen, sah man sich wiederholt zur Konstruktion von Ausnahmen und Sonderfällen gezwungen, wie die Beispiele der rechtsverein164 Ersteres galt etwa für alle Regelungen, welche die Organisation und die Funktionen des Reichs und dessen Aufgaben betrafen: Rechtsstellung des Kaisers, Wahl, Organisation und Verfahren der Reichsorgane, Regelung der Rechtsverhältnisse der Kolonien, Verhältnis der Bundesstaaten zum Reich; letzteres umfaßte z.B. zollrechtliche Fragen (Art. 35 RVerf. 1871) oder die "einheitlichen" Anstalten und Einrichtungen des Reichs (Art. 48: Post- und Telegraphenwesen, Art. 53: Kriegsmarine, Art. 61: Rechtseinheit im Bereich des Militärrechts, Art. 63: Regelung eines einheitlichen Heeres). 165 Hänel, Staatsrecht I, S. 253: Reichsgesetzgebung nur als "Ermächtigung". 166 Vgl. die zusammenfassende Darstellung von Posener, Reichsrecht, S. 39 ff.

V. Die Kollision der Rechte im Deutschen Reich

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heitlichen Zivil- und Prozeßkodifikationen der Jahre bis 1900 zeigten. Warum etwa hielt es der Gesetzgeber noch 1899 für erforderlich, in den einschlägigen Einführungsgesetzen nach der längst erfolgten verfassungsdogmatischen Klärung des Verhältnisses von Reichs- und Landesrecht auf diese Selbstverständlichkeit erneut hinzuweisen?167 Wenn man darin in heutiger Sicht nicht mehr als eine "überwiegend deklaratorische Derogation"168 oder gar nur Geschwätzigkeit des Gesetzgebers zu sehen vermag, verkennt man den die Bemühungen um eine nationale Rechtseinheit in Deutschland prägenden Zwiespalt zwischen dem durch die Verfassung zur Verfügung gestellten Instrumentarium und seiner rechtspolitischen Durchsetzbarkeit. Immerhin war es dem Reich erst nach mehreren vergeblichen Anläufen im Jahr 1873 gelungen, die Kompetenz für das gesamte Bürgerliche Recht an sich zu ziehen und dem Neben- und Durcheinander verschiedener Rechtskreise, dem Knäuel einzelstaatlicher - sogar territorial uneinheitlicher Kodifikationen und Partikularrechte ein Ende zu bereiten169. In welchem Umfang dann bei aller Einigkeit über das Bedürfnis eines gemeinsamen Zivilrechts das Reich Rücksicht auf die verbündeten Regierungen (im Bundesrat) zu nehmen hatte, bewies der Katalog an Ausnahmen und nur subsidiärer Geltung des BGB in §§ 55 ff. des Einführungsgesetzes170, und es handelte sich dabei nicht immer nur um den Einzelstaaten getrost zu überlassende Imponderabilien. Das Kodifikationsprinzip, aus dem die Lehre bei vermeintlichen "Lücken" des Reichsrechts kein Indiz einer Teüregelung, sondern das "beredte Schweigen" der Kodifikation ableitete mit der Folge, daß entsprechende Vorschriften nach dem Willen des Reichsge-

167 Z.B. Art. 55 EGBGB: "Die privatrechtlichen Vorschriften der Landesgesetze treten außer Kraft, soweit nicht in dem Bürgerlichen Gesetzbuch oder in diesem Gesetz ein Anderes bestimmt ist." S.a. die parallelen Bestimmungen in § 2 EGStGB, § 11 EGGVG, § 14 EGZPO, § 6 EGStPO. 168

So Merten / Kirchhof, in: Staudinger / Winkler, Vorb. zu §§ 55-132 EGBGB, Rdnr. 11 f. 169 Dazu die Zusammenfassung bei Laufs, Reichskompetenz, S. 744. Die "Karte des im Deutschen Reiche geltenden Privatrechts" bei Stammler (Praktische Institutionenübungen, Anlage) verdeutlicht dies: Neben Gebieten des gemeinen Rechts (mit einzelnen Partikulargesetzen und Gewohnheitsrechten, Stadt- und Landrechten, Sachsenspiegel, Gemeinem Sachsenrecht, Bayerischem Landrecht und Jütisch Low) fanden sich Territorien, in welchen Preußisches Landrecht (teils prinzipiell, teils subsidiär), aber auch Rheinisches Recht (Code civil, Badisches Landrecht) galt, zudem Rechtsgebiete des Sächsischen Gesetzbuches, des Friesischen, Dänischen oder österreichischen Rechts. 170 Art. 3 EGBGB nahm dabei das (heute in Art. 72 I GG normierte) Verhältnis von Reichsrecht und Landesrecht vorweg: "Soweit in dem Bürgerlichen Gesetzbuch oder in diesem Gesetz die Regelung den Landesgesetzen vorbehalten oder bestimmt ist, daß landesgesetzliche Vorschriften unberührt bleiben oder erlassen werden können, bleiben die bestehenden landesgesetzlichen Vorschriften in Kraft und können neue landesgesetzliche Vorschriften erlassen werden." Zu den im Bürgerlichen Recht durch das EGBGB auftretenden Zweifelsfragen Zitelmann, Grenzstreit, Sp. 5 ff.

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

setzgebers nicht ergehen, also auch nicht dem landesrechtlichen Zugriff offenstehen sollten, war - wie später im BGB, so schon bei der Rechtsvereinheitlichung des Zivil- und Strafprozeß- und des allgemeinen Gerichtsverfahrensrechts 171 - nur eine wissenschaftliche Formel, deren praktische Durchsetzung dem Reichsgesetzgeber nicht durchgehend gelingen konnte. Zu groß war hierfür der auf bundes- und zunehmend auch parteipolitischem Boden gewachsene Unterschied zwischen dem unitarischen Können des Reichs einerseits und den föderalistischen Gegengewichten der Einzelstaaten andererseits172, zu verwirrend zudem die zeitgenössische Klassifikation der Bismarckschen Verfassungsschöpfung im Dreieck von gliedstaatsfreundlicher Föderalismustheorie, einheitsförderndem Bundesstaatsverständnis und unitarischer Gesamtstaatslehre173. VI. Die bundesstaatliche Kollision der Rechte im Verfassungssystem der Weimarer Republik 1. Art. 13 I WeimRV zwischen Rezeption und Kontinuität Bei allen Schwierigkeiten, die die Bismarcksche Verfassungsordnung mit Art. 2 RV hatte, muß anerkannt werden, daß es Lehre und Staatspraxis des Kaiserreichs alsbald gelungen war, Aufgabe, Inhalt und Funktion dieser Vorschrift der Legislative und der Rechtsanwendung zu verdeutlichen und ihnen gegenüber zu festigen. Die inhaltsgleiche Bestimmung in Art. 13 I WeimRV war demgegenüber nur das schon sprachlich kaum gelungene174

171 Einzelheiten bei Landau, Reichsjustizgesetze, S. 172 ff.; Sellert, Reichsjustizgesetze II, S. 781 ff. Zum G V G Schubert, Gerichtsverfassung, S. 22 ff., 50 ff.; zur (hier unerheblichen) Konkursordnung Thieme, Konkursordnung, S. 35 ff. m.w.N. 172 Vgl. dazu allgemein Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus. - Ob dieser Befund sogar zu einer Verabschiedung der herkömmlichen Derogationslehre führen mußte, sei dahingestellt. Die Schlußfolgerungen eines solchen Versuches der Aufspaltung von "staatsrechtlichen" und "historischen" Elementen des Art. 2 RVerf. bei Posener (Reichsrecht, S. 49 ff.) unterscheiden sich jedenfalls im Ergebnis nicht erheblich von denen der herrschenden Lehre. 173 Vgl. Dreyer, Föderalismus, S. 477 ff.; zum Niedergang des föderativen Denkens nach 1890 ebd., S. 482 ff. m.w.N. 174 Der Verfassungsentwurf vom 20.1.1919 (Text bei Triepel, Quellensammlung, S. 10) hatte in § 5 postuliert: "Reichsrecht bricht Landesrecht", nach Aussage seines Verfassers Hugo Preuß, um dem gegenüber der RVerf. 1871 erhobenen Vorwurf, sie sei "wenig volkstümlich und wenig kraftvoll", zu begegnen; einem Vorwurf, den der erfahrene Berichterstatter im Verfassungsausschuß Kahl (anders als der Mitberichterstatter Quarck) gerne auf sich nahm, da seines Erachtens die "fast poetische" Fassung nicht in ein Gesetz passe. Während Kohls Vorschlag: "Reichsgesetze gehen den Landesgesetzen vor" der Ablehnung des Verfassungsausschusses verfiel, wurde der Preuß sekundierende Antrag Cohns: "Reichsrecht bricht Landrecht" ohne Aussprache angenommen (Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer

VI. Die Kollision der Rechte in der Weimarer Republik

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Unterfangen, alten Wein in neue Schläuche zu gießen. Der Verfassungsgeber glaubte - und er konnte hierfür angesichts der allgemeinen politischen Lage des Frühjahrs 1919 auf Verständnis hoffen - , sich einer inhaltlichen Bestandsaufnahme der Kollisionsvorschrift entziehen zu können175 — es handelte sich ja um bundesstaatliche Gemeinplätze. Die Weimarer Reichsverfassung brachte daher auch bezüglich der Verteüung der Legislativbefugnisse eine Fortschreibung der bekannten Kategorien und Typen, freüich mit erheblichen Variationen zu Lasten der Länder. Dem Reich wurden einerseits wie bisher einzelne Materien zur ausschließlichen (Art. 6) oder fakultativen (Art. 7, 8) Zuständigkeit zugewiesen, andererseits aber auch neue Regelungsmodelle erschlossen. Während die Bedürfnisgesetzgebung (Art. 9) nur eine verkappte konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit mit erhöhten Anforderungen an das Bedürfnis unitarischer Regelung war, erschloß sich das Reich mit der Grundsatzgesetzgebung (Art. 10, 11) Bereiche, die vordem den Gliedstaaten zur alleinigen Verantwortung zugewiesen waren. Und war im Kaiserreich das Verhältnis von Reichs- und Landeslegislative im Bereich der Zuständigkeitskonkurrenzen noch Art. 2 und den Prinzipien des Bundesstaatsmodells entnommen worden, so positivierte Art. 12 WeimRV jetzt das Vorrecht der Länder zur Inanspruchnahme solcher Sachgebiete. Abgesehen von dieser verfassungstextlichen Vergewisserung des gliedstaatlichen Rechtsbestandes brachte Art. 13 II WeimRV im Verhältnis von Reichs- zu Landesrecht die bedeutsamste Neuerung: bei Zweifeln oder Meinungsverschiedenheiten über ihre Vereinbarkeit, die vor 1919 nur Inzident im jeweiligen gerichtlichen Verfahren entschieden werden konnte, sollte nunmehr zumindest teüweise ein oberster Gerichtshof des Reichs zur abstrakten Normenkontrolle angerufen werden können176.

Verfassung des Deutschen Reichs [Berichte der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung 1919, Nr. 21], Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 336, Aktenstück 391, S. 37 f.); die nachfolgenden Verfassungsberatungen änderten daran nichts mehr. - Sachliche Gründe für die Heranziehung eines fachsprachlich längst mit festem, hier unpassendem Inhalt belegten Terminus wurden nicht genannt — es gab sie, sieht man vom individuellen Sprachgefühl der Beteiligten ab, auch nicht. Wie auch andernorts in der Weimarer Reichsverfassung war dies eher ein Ausdruck des Volkstümelnden, nicht des Volkstümlichen. Auch wenn man berücksichtigte, daß im Laufe der Geltungsdauer der RV 1871 des vermeintlich alte Rechtssprichwort (es ließ sich erstmals 1871 nachweisen) und die Auslegung der Verfassungsbestimmung sich aneinander vollkommen abgeschliffen hatten (so Gebhard, Verfassung, Art. 13, Anm. 2a), hatte politische Poesie über juristische Sprachdisziplin gesiegt. 175 So der Abg. Kahl im Verfassungsausschuß (o. Fn. 121): "Der ... Grundsatz ist so klar, daß ich darüber kein Wort zu verlieren brauche". 176 Zusammenfassung bei Hatschek / Kurtzig, Staatsrecht I, S. 114 ff.; s.a. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 409 f. - Zu Art. 13 II WeimRV und zur Notwendigkeit eines inhaltlich beschränkten Prüfungsrechts des StGH Triepel, Streitigkeiten, S. 91 f., 99 ff; Übersicht über die Rechtsprechung des StGH bei Vetter, Bundesstaatlichkeit, S. 84 ff.

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

Unter diesen Umständen und angesichts der auch personell ungebrochenen Kontinuitäten zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik177 konnte es nicht verwundern, daß die Interpretation des Art. 13 I WeimRV in vertrauten Bahnen verlief. Da im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit des Reichs Kollisionen zwischen Reichs- und Landesrecht per se ausgeschlossen waren178, war der Anwendungsbereich der bundesstaatlichen Kollisionsnorm auf die konkurrierende, die Bedarfs- und die Grundsatzgesetzgebung beschränkt. Hier verblieben den Ländern ihre ursprünglichen und nicht vom Reich abgeleiteten Rechte179 des ersten und letzten Zugriffs, solange und soweit das Reich von seinen Zuständigkeiten - teilweise oder vollständig - keinen Gebrauch machte. War dies jedoch geschehen, verloren widersprechende, aber auch gleichlautende, sachlich mit Reichsrecht übereinstimmende Landesnormen ihre Geltung; sie wurden nicht nur zeitlich bedingt außer Kraft gesetzt und konnten somit beim eventuellen späteren Wegfall des Reichsrechts - anders als die Zuständigkeit selbst - nicht wieder aufleben. Die pro futuro sperrende Wirkung der (im übrigen verfassungsmäßigen) Reichsgesetze bestand darin, daß über die in Anspruch genommene Sachmaterie überhaupt kein Landesrecht mehr ergehen konnte, gleichgültig ob es das Reichsrecht wiederholte, bestätigte oder interpretierte 180 : "Das Reichsgesetz wirkt[e] mithin nach rückwärts als Aufhebung, nach vorwärts als Sperre." 181

177 Vergleicht man etwa die Kommentierung von Art. 13 I WeimRV durch Anschütz mit der von ihm bearbeiteten letzten Auflage des Meyerschen Lehrbuchs, so scheint es zwischen 1918 und 1933 weder eine revolutionäre Umgestaltung des Staates und ein Ende des undogmatischen Bismarckschen Föderalismus noch eine grundsätzliche Neuordnung der bundesstaatlichen Rechtsverhältnisse gegeben zu haben. 178

Dies galt auch für die auf diesen Gebieten vor Inkrafttreten der WeimRV ergangenen Landesgesetze. Sie blieben - nunmehr als Reichsrecht - solange in Kraft, bis der Reichsgesetzgeber seine Kompetenz betätigte, durften aber mangels Zuständigkeit durch die Gliedstaaten nicht mehr geändert oder aufgehoben werden. Vgl. Stier-Somlo, Reichsstaatsrecht I, S. 384 f.; Anschütz, Kommentar, Art. 6, Anm. 8; a.A. hingegen Hensel, Rangordnung, S. 323: Fortgeltung als Landesrecht. Beispiele bei Doehl, Reichsrecht, S. 85, 93 m. Fn. 202, S. 114 m. Fn. 281. 179 Die Lehre berief sich hierfür vor allem auf den Wortlaut des Art. 12 I WeimRV : "... behalten die Länder ..." 180 Hier blieb manches umstritten. Während ein Teil der Lehre aus Tradition auch bei gleichem Rechtsinhalt eine Kollision der Normen annahm, sprach sich ein anderer nur für die Vernichtung inhaltlich widersprechenden Landesrechts aus oder wollte zumindest bei gleichlautenden Ländesgrundrechten eine Einschränkung dahingehend machen, daß ihre Geltung als Landesrecht latent erhalten blieb. Zum Streitstand Schober, Verhältnis, S. 51 m. Fn. 2. 181 So das geflügelte Wort von Anschütz, Kommentar, Art. 13, Anm. 3. Einzelheiten bei Hensel, Rangordnung, S. 319 ff.; Borchert, Verhältnis, S. 39 ff. Zu den dem Weimarer Verfassungssystem eigenen Schwierigkeiten der Zuordnung bestimmter Rechtsetzungsformen zum Reichs- bzw. Landesrecht sei auf die in Kürze (wahrscheinlich in Der Staat) erscheinende Untersuchung d. Verf. "Nach rückwärts als Aufhebung, nach vorwärts als Sperre" verwiesen.

VI. Die Kollision der Rechte in der Weimarer Republik

2. Die Vertiefung

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des Art. 13 I WeimRV als Rechtsgrundsatz

Auch die wissenschaftlichen Ansätze des Kaiserreichs, das Verhältnis von Reichs- und Landesrecht in den größeren Rahmen der bundesstaatlichen Ordnung allgemein zu stellen, wurden weiterverfolgt. Gleichwohl setzte die Lehre hierbei unterschiedliche Akzente, was in erster Linie auf das gewandelte Verfassungsverständnis vom Bundesstaat Weimarer Prägung zurückzuführen war. Da den Ländern bekanntlich wesentliche Hoheitsrechte (z.B. Gesandtschaftsrecht als Ausdruck der Staatssouveränität nach außen, Militärhoheit, Finanz- und Verkehrshoheit etc.) genommen worden waren und es für den föderalistisch Gesinnten fraglich sein mußte, ob man überhaupt noch von einer Gesetzgebungshoheit der Gliedstaaten sprechen konnte182, die Länder nicht vielmehr nur noch Funktionen "höchst potenzierter Selbstverwaltung" waren, war der Konflikt mit der tradierten Vorstellung unvermeidlich, die Landeshoheitsrechte seien Ausdruck originärer Staatsgewalt. Mochten Anschütz und andere ohne weitere Begründung noch daran festhalten, ohne in der Sache selbst zugunsten der Länder substantielle Abstriche zu machen: für die Föderalisten waren die deutschen Länder allenfalls Staaten e.h. Das Modell des Weimarer dezentralisierten Einheitsstaates machte denn auch vor dem verfassungstheoretischen Hintergrund des Art. 13 I WeimRV nicht halt. Es wiederholte sich der schon im Bismarckreich unternommene183 Versuch, in der bundesstaatlichen Kollisionsnorm eine prinzipielle Rangordnung der Rechtsquellen und der dahinterstehenden Organisation zu sehen, den höheren Rang des Reichsrechts also nicht allein als Erfordernis der Einheitlichkeit der Rechtsordnung zu begreifen (Normenkollision), sondern dieses Erfordernis theoretisch zu überhöhen zu einer grundsätzlichen Überordnung und Höherwertigkeit des Reichs und seiner Gesetzgebung gegenüber den Ländern und ihrer gesamten Staatstätigkeit. Der Vorrang des Reichsrechts, der sich zudem durch die einprägsame und schlagwortartige Gestalt des Art. 13 I WeimRV herausgefordert fühlen durfte 184, wurde Voraussetzung wie Folge der Reichshoheit über die Gliedstaaten185. Ja eigentlich hätte es des Art. 13 I WeimRV nicht bedurft, folgte sein wohlverstandener Inhalt doch bereits aus der statusrechtlichen Unterordnung der Länder unter

182

Poetzsch-Heffter, Reichsverfassung, S. 76: "... Schein einer solchen ..." In erster Linie von Hänel (Staatsrecht I, S. 238 ff.), dessen Theorie des Gesamtstaates Reich den Gliedstaaten die Staatsqualität rundweg abgesprochen hatte (ebd., S. 798 ff., 801). Vgl. Graf Vitzthum, Linksliberale Politik, S. 187 ff. 184 Borchert, Verhältnis, S. 24. 183

185 So etwa Anschütz, Verfassung, Art. 13, Anm. 2: "Die Normen des Reichsrechts sind, verglichen mit denen des Landesrechts, Normen höheren Ranges." Ähnlich Maschke, Rangordnung, S. 77: Der Satz der Überordnung des Reichsrechts über das Landesrecht folge bereits aus der Überordnung der Reichsgewalt über die Staatsgewalt der Länder.

72

Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

das Reich. Bezog man freilich außer der Kollisionsregelung auch die Bestimmungen der Art. 6 ff. und insbesondere Art. 12 WeimRV mit in die bundesstaatlichen Überlegungen ein, hätte den entschiedenen Unitariern rasch bewußt werden müssen, daß diese Auslegung, wie die Autoren der Wiener rechtstheoretischen Schule ÇKelsen, MerkT) schon im Hinblick auf Österreich nachgewiesen hatten, unhaltbar war. Entweder galt das Reichsrecht infolge der Zuordnung der von ihm geregelten Sachmaterie zum Reich als gegenüber dem Landesrecht vorrangig - dann bedurfte es dieses Satzes nicht - , oder das Reich konnte sich im konkreten Fall nicht auf eine (geschriebene oder ungeschriebene) Gesetzgebungszuständigkeit berufen - dann war es anerkanntermaßen nicht Aufgabe des Art. 13 I WeimRV, dem verfassungswidrigen Gesetz bundesstaatliche Legalität zu verleihen186. Die anfechtbare Interpretation stand und fiel also nicht mit der Anerkennung eines einheitlichen Rechtssystems, sondern mit der hinter ihr stehenden bundesstaatstheoretischen Ummantelung: der entschiedene Unitarier neigte eher zur hierarchischen Unterordnung der Gliedstaaten, während der föderalistisch Gesinnte vom gleichberechtigten Nebeneinander der beiden Rechtserzeugungsordnungen ausging und Art. 13 I strikt im Sinne einer bei konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten unumgänglichen Normenkollisionsregelung verstand187. Welchen funktionalen Gehalt Art. 13 I wirklich hatte, konnte vor diesem verfassungspolitischen Hintergrund allenfalls respektiert, nicht aber juristisch schlüssig bewiesen werden. Die Fronten verliefen hier quer durch den Methodenstreit der Staatsrechtslehre und die föderalistischen Animositäten der Zeit188.

186 So grundlegend Kelsen, Staatslehre, S. 221; ihm folgend Smend, Verfassung, S. 254. - S.a. den mißlungenen Versuch von Grau (Vorrang der Bundeskompetenzen, S. 358 ff.), insbesondere die Generalzuständigkeiten des Reichs für bürgerliches und Strafrecht extensivst zu interpretieren mit der Folge, daß es nur auf das in Anspruch genommene Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zwecks, nicht auf den Zweck selbst ankommen sollte. Das Reich könnte demnach z.B. die Enteignung jedes beliebigen Gegenstandes (Art. 7 Nr. 12) ebenso regeln wie Strafandrohungen in eindeutig den Ländern zustehenden Spezialmaterien (Art. 7 Nr. 2). Gleiches sollte für das Bürgerliche Recht gelten. 187 Eine Ausnahme machte die scharfsinnige, wenngleich überspitzte Kritik von Doehl (Reichsrecht, S. 37 ff.) an der herrschenden Lehre. Aus der richtigen Erkenntnis, daß die Lösung eines Normenkonflikts durch Rechtssatz nur innerhalb eines und desselben Normensystems möglich sei, und dem zu Unrecht gezogenen Schluß, die Bundesstaatlichkeit der WeimRV ordne Reich und Länder als zwei gleichgeordnete, unzusammenhängende Staatsgewalten und setze damit zwei gleichgeordnete Rechtsquellen und zwei völlig selbständige Rechtssysteme ohne Bezug nebeneinander, folgerte er konsequent, Art. 13 I regele keinen Fall der Normenkollision, sondern der Staatensukzession. 188 Dazu die Kontroversen auf der Frankfurter Staatsrechtslehrertagung von 1929; s. Fleiner / Lukas, Rechtsordnung, S. 2 ff., 25 ff., 57 ff. (Aussprache); vermittelnd Hensel, Rangordnung, S. 321 Fn. 20: "Unbestritten sei zugegeben, daß die Bestimmung auch zur Erkenntnis der eigentümlichen Struktur des deutschen Bundesstaats von Wert ist." Vgl. Gerber, Tagung, S. 255 ff.

VII. Die Kollision der Rechte unter dem Nationalsozialismus

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VII. Exkurs: Die bundesstaatliche Kollision der Rechte unter der nationalsozialistischen Herrschaft Die Betrauung Hitlers mit der Regierungsbildung und die Machtübernahme der NSDAP nach dem 30. Januar 1933 gestaltete die politischen und staatsrechtlichen Verhältnisse des Deutschen Reichs grundlegend neu und machte auch vor dem bundesstaatlichen Gehalt der Weimarer Reichsverfassung nicht halt. Bereits zwei Monate später wurden die Landesregierungen ermächtigt, parallel zur Ermächtigungsgesetzgebung des Reichs abweichend von den gliedstaatlichen Verfassungen Landesrecht zu setzen und die Volksvertretungen, soweit nicht schon in eigener Regie geschehen, aufzulösen und neu zu wählen189. Die parteipolitische Dirigentenrolle des Reichs wurde flankiert durch die Einsetzung von Reichsstatthaltern, denen u.a. die Ernennung und Entlassung der Landesregierung, die Auflösung des Landtags und die Ausfertigung und Verkündung der Landesgesetze oblag; diesen Befugnissen entgegenstehende Bestimmungen der Landesverfassungen waren aufgehoben190. Mochte man darin auch noch keine vollständige Demontage des bundesstaatlichen Organisationsaufbaus sehen - immerhin bestimmte das Zweite Gleichschaltungsgesetz in § 2 I 2 noch, daß der Reichsstatthalter "dem Lande angehören [sollte], dessen Staatsgewalt er ausübt"191 - , so. stand nach der erfolgreich durchgeführten Reichstagswahl vom 12. November 1933 der umfassenden kompetentiellen (und nicht nur funktionellen) Auflösung des föderativen Staatsaufbaus kein Hindernis mehr im Weg. Das Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30.1.1934192 zog insoweit den einheitsstaatlichen Schlußstrich, als es die Volksvertretungen der Länder aufhob (Art. 1), die Hoheitsrechte der Gliedstaaten vollständig und endgültig auf das Reich übertrug und die Landesregierungen der Rechts- und Fachaufsicht der Reichsexekutive unterstellte (Art. 2). Da das Reich indes nicht in der Lage war, die Aufgaben und Befugnisse der gliedstaatlichen Organe selbst auszuüben, wurde die durchgreifende Demontage der Länder, die den bundesstaatlichen Charakter des Reichs beseitigte, abgerundet durch die Redelegation der vordem glied-, nunmehr gesamtstaatlichen Kompetenzen an die Landesbehörden (nicht die Länder!), die diese "zur Ausübung im Auftrag und im Namen des Reichs insoweit übertragen" erhielten, "als das

189 Vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich v. 31.3.1933, RGBl I S. 153; Abdruck bei Brodersen, Gesetze, S. 41 ff. 190 Zweites Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich ([Erstes] Reichsstatthaltergesetz) v. 7.4.1933, RGBl I S. 33; Abdruck in Michaelis / Schraepler, Ursachen und Folgen IX, Nr. 2016, S. 111 ff. 191 Hervorhebung v. Verf. - Der Sache nach dürfte es sich dabei um einen Lapsus der Reichsministerialbürokratie gehandelt haben, denn auch im Sinn der nationalsozialistischen Rechtslehre, die zu diesem Zeitpunkt freilich nur rudimentär ausgebildet war, konnte angesichts der zentralistischen Radikalkur von einer GliedStaatlichkeit nicht mehr die Rede sein. 192 RGBl I S. 75; Abdruck bei Brodersen, Gesetze, S. 48.

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

Reich nicht allgemein oder im Einzelfall von diesem Rechte Gebrauch macht [e]"193. Damit hatten die Länder aufgehört, Staaten im tradierten bundesstaatlichen Sinne zu sein, denn ihnen stand weder Gesetzgebungs- noch Verwaltungs- oder Justizhoheit zu; gleichfalls war anerkannt, daß - wenn nicht schon die Weimarer Reichsverfassung insgesamt - zumindest die in ihr enthaltenen Rechtssätze über die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Reich und Ländern im Bereich der Rechtsetzung, also auch Art. 13 WeimRV, infolge Wegfalls des ihnen zugrundeliegenden Substrats gegenstandslos und unwirksam geworden waren194. Die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Reichs war zwar erhalten geblieben; gleiches galt für die konkurrierende Gesetzgebung, allerdings mit völlig geändertem Inhalt und Umfang: sie bestand jetzt auch auf dem Gebiet der Grundsatzgesetzgebung und bei Sachgebieten, die vordem dem Reich entzogen, weil der ausschließlichen Zuständigkeit der Gliedstaaten zugewiesen, waren. Die scheinbar konkurrierenden Kompetenzen von Reich und Länderexekutive standen nunmehr formal neben-, funktional aber - weil allein vom guten Willen der Zentralstaatsexekutive abhängig - untereinander, und eine irgendwie geartete ausschließliche Zuständigkeit der kleineren Einheit gab es nicht mehr 195. Dieses mehr theoretische Abhängigkeitsverhältnis, das Art. 2 I NeuaufbauG und § 1 Erste Verordnung zwischen Reich und "Ländern" begründeten, wurde zum einen durch Art. 2 II NeuaufbauG ("Die Landesregierungen unterstehen der Reichsregierung"), zum anderen durch die Gleichschaltung des politischen Lebens nach der praktischen Seite hin zu einer völligen Unterordnung und Abhängigkeit der Landesregierungen unter das Reich

193 § 1 Erste Verordnung über den Neuaufbau des Reiches v. 2.2.1934, RGBl I S. 81; Abdruck bei Michaelis / Schraepler, Ursachen und Folgen DC, Nr. 2022, S. 119. Neue Landesgesetze bedurften zudem der Zustimmung des zuständigen Reichsministers, ebd., § 3 I. 194

Horneffer, Rechtsgeltung, S. 148 ff., 158. Vgl. Huber, Verfassungsrecht, S. 249. - Es ist signifikant für das Denken der Staatsrechtslehre, daß die der Weimarer Reichsverfassung entnommenen, nach 1933 freilich wegen der gewaltigen Staatsumwälzung im rechtsleeren Raum schwebenden Definitionen ausschließlicher, konkurrierender und grundsätzlicher Gesetzgebungszuständigkeiten, die ja - aus dem bundesstaatsrechtlichen Begriffsarsenal stammend mit ihrem Gegenstand immer auch dem von ihnen nicht erfaßten, sein Dasein anerkennenden, nunmehr aber gar nicht mehr existenten Gegenüber Form und Gehalt gaben, weiter Verwendung fanden, obwohl bei genauer Betrachtung nur eine leere Hülle zurückgeblieben war. S. etwa Horneffer, Rechtsgeltung, S. 158, wonach es sich bei den revolutionären nationalsozialistischen Rechtsänderungen größtenteils um eine Geltungsunterbrechung der Weimarer Reichsverfassung mit gleichzeitiger Inhaltsänderung handeln sollte. Vgl. hierzu auch die an petitiones principii reiche Arbeit von Zietfer, Weitergeltung, die nachzuweisen suchte, daß selbst nach der Kapitulation 1945 Deutschland noch eine gültige demokratische Verfassung, nämlich die von 1919, gehabt habe (ebd., S. 115). 195

VII. Die Kollision der Rechte unter dem Nationalsozialismus

75

umgebaut. Mit dem Wegfall der das Verhältnis von Reichs- und Landesrecht notwendig bestimmenden zweiten, in ihrem Zuständigkeitsbereich unabhängigen Rechtsquelle auch die in Art. 13 I WeimRV geregelte Rechtsfolge als fortan gegenstandslos, die Anwendung der Kollisionsnorm auch im Verständnis als verfassungstextunabhängige Grundsatznorm - somit als überflüssig oder gar falsch zu betrachten, versagten sich Rechtsprechung und Lehre allerdings. Abgesehen vom Verhältnis alten, vor 1933 ergangenen Landesrechts, auf das der Grundgedanke des Art. 13 I WeimRV noch Anwendung finden konnte196, mußte der Wegfall des "substantiellen Unterschieds von Reichsgesetz und Landesgesetz"197 die Bedeutungslosigkeit der bundesstaatlichen Kollisionsnorm zur Folge haben. Gleichwohl bestätigte die Rechtsprechung die tradierte Rangordnung von gesamtstaatlichem und gliedstaatlichem Recht auch weiterhin 198, wenngleich sich der Kollisionsfall nach 1934 auf das Verhältnis von unmittelbarem und mittelbarem, d.h. von den Landesregierungen erlassenem, partikulärem Reichsrecht verschob. Um ihn aufzulösen, glaubte man auf die zumindest analoge Anwendung des Art. 3 I WeimRV nicht verzichten zu können: auch für die neuen Landesgesetze galt grundsätzlich, daß Reichsrecht Landesrecht brach199. Den doppelten Vorbehalt der Art. 3 I, 6 NeuaufbauG interpretierte man als bloßen Zustimmungsvorbehalt des Reichs, der die Gewähr dafür bieten sollte, daß partikuläres Landesrecht entweder mit dem allgemeinen Reichsrecht übereinstimmte oder die Abweichung im Einzelfall von der Reichsregierung gebilligt wurde. Die unabwendbare Schlußfolgerung, daß solche landesrechtlichen, örtlich begrenzten Reichsgesetze dann auch in der Lage sein müßten, getreu der lex specialis-Regel formelles Reichsrecht abzuändern und ihm im Kollisionsfall vorzugehen, zog die Rechtsprechung freilich nicht; sie hätte auch die absurde Konsequenz gehabt, daß die Kraft eines Landesgesetzes im unitarischen Reich stärker gewesen wäre als unter bundesstaatlichem Verfassungsrecht 200. Vor allem aber wäre vorab die von der Lehre nicht aufgegriffene Frage zu beantworten gewesen, inwieweit das einheitsstaatliche Rechtssystem überhaupt noch eine besondere Kategorie "Landesrecht" kannte, da doch die alten Länder nach dem 30.1.1934 aufgehört hatten, (Glied-)Staaten zu sein. Verneinte man dies, so blieb für das neue exekutive Landesrecht nur

196

Borchert, Verhältnis, S. 71. Diese Fortgeltung war nur rudimentär, wenn man in der unitarisierenden Wirkung des Art. 2 I NeuaufbauG auch die - in der Sache Art. 124, 125 GG parallele - Transformierung des früheren Landesrechts in Reichsrecht sehen wollte; so (allerdings ohne Begründung) Schober, Verhältnis, S. 56. 197 Huber, Verfassungsrecht, S. 248. 198 S. etwa (noch vor dem NeuaufbauG) PrOVGE 90, 275; (nach 1934) PrOVGE 95, 125; grundlegend R G Z 152, 86. 199 R G Z 152, 86 (88). 200 Peters, Rechtsnatur, S. 426; zum partikluären Reichsrecht s.a. Borchert, Verhältnis, S. 73 f. m.w.N.

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

die Wirkung und der Rang von Reichsrechtsverordnungen übrig 201. Dies trug dem exekutiven Aufsichts- und Instanzenzug am besten Rechnung und verwies das Verhältnis zum übrigen Reichsrecht auf die herkömmlichen Regeln der Normenhierarchie 202 und der lex posterior- und lex specialisGrundsätze203, wollte man nicht den staatsrechtlichen und verfassungspolitischen Beweggründen der Gleichschaltung unmittelbar Rechtsqualität verleihen dadurch, daß es "in dem heutigen Führerstaat keine rechtsetzende Stelle" geben könne, "die mit dem Führer in Konkurrenz treten und den von ihm erlassenen Gesetzen den unbedingten Vorrang streitig machen kann"204. Unter solchen Prämissen bedurfte es freilich einer irgendwie gearteten Kollisionsregel, ja einer rechtlich verankerten Geltung von Normen nicht mehr. VIII. Die bundesstaatliche Kollision der Rechte in den Verfassungsberatungen zum Grundgesetz Wenn die Vergangenheitsorientiertheit ein wesentliches Kennzeichen der Entstehung des Bonner Grundgesetzes war, d.h. traditionelle verfassungspolitische und staatsrechtliche Erfahrungen und Schlußfolgerungen eine bestimmende Rolle für den pouvoir constituant spielten205, so waren jedenfalls die Verfassungsberatungen zu Art. 31 GG und der bundesstaatlichen Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen ein unzweideutiges Beispiel hierfür. Gleichgültig, ob die Vertreter der Ministerpräsidenten beim Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee den Föderalismus mehr aus partikularistischem Interesse oder aus praktisch-parteipolitischen Erwägungen heraus verfolgten, oder ob sie bei aller Beibehaltung des bundesstaatlichen Aufbaus zentralistischen Gesichtspunkten größere Beachtung schenkten — die (nicht nur, aber vornehmlich) am Weimarer Vorbild orientierte föderalistische Tendenz war auch und vor allem eine Forderung der drei westlichen Alliierten, die nicht zu umgehen war und deren Wirkkraft zudem durch die realen politischen Verhältnisse, d.h. die bereits vor 1948 bestehenden und nach

201 Huber, Verfassungsrecht, S. 248: "landschaftlich begrenztes Reichsrecht"; Borchert, Verhältnis, S. 77; ebenso schon Scheuner, Verordnungsrecht, S. 513 ff. (514). 202 Auch dieser Rekurs auf liberal-demokratische Verfassungs- und Rechtsvorstellungen bedurfte des Vorbehalts, war doch die hinter den Rechtssetzungsformen von Verfassung, Gesetz und Verordnung stehende Vorstellung jeweils verschiedener Organe und Verfahren nach 1933 zugunsten eines Zuständigkeitsmonismus der Reichsregierung untergegangen. 203

So Peters, Rechtsnatur, S. 428 f. Weber, Anm. zu RG v. 28.7.1936 - III 329 / 35 [RGZ 152, 86], ZAkadDR 1937, S. 87. 205 Nachweise über diese allgemein konsentierte Bewertung der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes bei Pikart, Auf dem Weg zum Grundgesetz, S. 149 f. Fromme (Weimarer Verfassung, S. 5) spricht gar vom "Bonner Grundgesetz als Rezeption der Weimarer Verfassung". 204

Vili. Die Kollision der Rechte in den Verfassungsberatungen

77

und nach konstitutionell verfaßten Länder und ihre mächtigen Gliedstaatsexekutiven, unterstrichen wurde. Nach alledem war es nur naheliegend, daß bereits der Bayerische Entwurf eines Grundgesetzes für den Verfassungskonvent bei aller altföderalistischen Grundtendenz den Vorrang des Bundesrechts unterstrichen und das später so auch Gesetz gewordene Verhältnis der Gesetzgebungszuständigkeiten von Bund und Ländern festgelegt hatte206. Der Entwurf des bayerischen Vertreters im Unterausschuß II brachte dies dann auf die seit 1919 geläufige Formel 207, die über den Unterausschuß den Weg ins Plenum und dann unverändert in den den Ministerpräsidenten überreichten Bericht über den Verfassungskonvent fand 208. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der bundesstaatlichen Kollisionsregel suchte man dort vergeblich. Erst der Parlamentarische Rat, genauer: sein Hauptausschuß ging näher auf diese Vorschrift ein, ohne freüich grundsätzlich zu ihrem Platz im bundesstaatlichen Kompetenzsystem und zu ihrem Anwendungsbereich Stellung zu nehmen. Im Zuständigkeitsausschuß war man sich über den Inhalt des Art. 31 GG noch einig209, während man über das Verhältnis von Bundes- und Landesgrundrechten in diesem Stadium der Beratungen keine Klarheit gewinnen konnte oder wollte210. Während die Gründe im dunkeln blieben, die den Allgemeinen Redaktionsausschuß dazu bewogen hatten, Art. 31 GG die sprachlich schärfere Formulierung, die später Gesetz wurde, zu geben211, zeigte sich schon in der 1. Le-

206

Art. 5: "Die gemäß Art. 3 [ausschließliche] und 4 [konkurrierende Gesetzgebungskompetenz] erlassenen Bundesgesetze gehen den Gesetzen der Länder vor"; s.a. Art. 4 II: "Insolange und insoweit der Bund von dem Gesetzgebungsrecht nach Abs. 1 keinen Gebrauch macht, steht den Ländern das Recht der Gesetzgebung zu". Text bei Bucher, Verfassungskonvent, Nr. 1 (S. 3 f.); zum Entwurf ders., Einl. S. LVII ff. 207 "Abschnitt V - Das Verhältnis von Bundesrecht und Landesrecht: Das Bundesrecht geht dem Landesrecht vor." Text bei Bucher, Verfassungskonvent, Nr. 7 (S. 235). 208 Bericht des Unterausschusses II (Zuständigkeitsausschuß), Art. 13: "Bundesrecht geht vor Landesrecht"; wortgleich übernommen in den Abschlußbericht; Texte bei Bucher, Verfassungskonvent, Nr. 9 (S. 244), 14 (S. 584). 209 Zweite Sitzung des Zuständigkeitsausschusses am 22.9.1948; unverändert übernommen in der Ausformulierung nach dem Stand der Beratungen vom 8.10., 14.10. und 15.10.1948. Vgl. Werner, Ausschuß, Nr. 2 (S. 18), 14 (S. 503), 15 (S. 529), 18 (S. 568). - Gleiches galt nicht für die gliedstaatsfreundliche Vermutung der Rechtsetzungszuständigkeiten und für den Katalog der späteren Art. 73, 74 GG; s. etwa Nr. 2 (S. 18 ff.). 210 Dies beruhte organsiatorisch auf der unklaren Zuständigkeitsabgrenzung zum Grundrechteausschuß. Der Stellv. Ausschußvorsitzende Strauß verwies die aufflammende Diskussion um den späteren Art. 142 GG in den Bereich der Grundrechte und unterband eine Debatte hierüber weitgehend. Vgl. Werner, Ausschuß, Nr. 4 (S. 171 f.). 211 Vgl. die Fassung des Allgemeinen Redaktionsausschusses v. 18.10.1948, in: Parlamentarischer Rat, Grundgesetz, S. 21. Anders als bei der Mehrzahl der durch den Ausschuß sprachlich geänderten Bestimmungen mangelt es hier an einer Begrün-

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

sung des Art. 31 GG im Hauptausschuß, daß die bundesstaatliche Kollisionsnorm eine nähere Betrachtung auch unter praktischen Gesichtspunkten sehr wohl verdiente. Der anerkannte Sprecher der extremen Föderalisten im Parlamentarischen Rat, Wilhelm Laforet (CSU), hatte in erster Linie die zahlreichen Grundrechtsbestimmungen der zwei Jahre zuvor in Kraft getretenen und seit 1947 durch den Bayerischen Verfassungsgerichtshof angewandten Bayerischen Verfassung im Auge, als er die Derogationswirkung des Art. 31 GG, darin die Weimarer Debatte aufnehmend und sich gegen die von Anschütz getragene herrschende Meinung wendend, auf "entgegenstehendes Landesrecht" beschränken wollte. Er rannte damit bei seinen Kollegen, die - abgesehen vom Vertreter der KPD Renner 212 - an einer "erschöpfenden Behandlung" nicht interessiert waren und dieses Feld am liebsten "künftigen Doktordissertationen vorbehalten" wollten (so der Sozialdemokrat Katz), offene Türen ein, wenngleich sein gliedstaatsfreundlicher Vorstoß über einen die Vorstellungen der Ausschußmitglieder authentisch interpretierenden Protokollvermerk nicht hinausführte 213. In 2. Lesung wurde der Artikel einstimmig angenommen214, in 3. Lesung ergriff wiederum Laforet das Wort. Um einem behaupteten Mißbrauch in der politischen Agitation entgegenzutreten, der in der Schärfe des "bricht" seinen Ursprung haben sollte, wollte der Redner, auf die Bismarcksche Reichsverfassung rekurrierend, Bundesrecht dem Landesrecht (nur) vorgehen lassen. Man ginge vielleicht fehl in der Annahme, daß es Laforet nicht nur um verbale Kosmetik ging, sondern um den - durch seine treuherzige Beteuerung, in der Sache selbst ändere sich dadurch nicht das Geringste scheinbar verbrämten Versuch, die unitarisierende Derogationswirkung gegen eine gliedstaatsfreundliche Suspension austauschen, denn der Redner gestand die Rechtsfolge der Nichtigkeit eines der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes widersprechenden Landesgesetzes durchaus zu. Gleichwohl rief Laforets erneuter Vorstoß die sofortige Replik des Ausschußmitglieds Hoch (SPD) hervor, der im Antrag des bayerischen Föderali-

dung. - Zum chronologischen Gang der Beratungen zu Art. 31 GG s. Parlamentarischer Rat, Fundstellenverzeichnis, S. 94 ff. 212 Renner sekundierte Laforet insofern, als er die Überspielung sozialer Grundrechte vor allem in der Landesverfassung von Hessen durch den vorgeschlagenen Zusatz verhindern wollte; sein diesbezüglicher Antrag wurde gegen die Stimme des Antragstellers abgelehnt. 213 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 6. Sitzung v. 19.11.1948, S. 69 ff. (75 f.). - Die kollegiale Einschätzung Laforets, der sich auch in Kleinigkeiten als wenig kompromißbereit und flexibel erwies, skandierte der Hinweis des Vorsitzenden Carlo Schmid (SPD): "Der vom Kollegen Dr. Laforet gewünschte Protokollvermerk ist gemacht. Der Referent wird zweifellos nicht verfehlen, dies im Plenum vorzutragen." Schmid sollte damit recht behalten. Zur Einschätzung Laforets vgl. das Zitat von Theodor Heuss bei Werner, Ausschuß, Einl. S. XI. 214 29. Sitzung am 5.1.1949; Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 345 ff. (350).

Vili. Die Kollision der Rechte in den Verfassungsberatungen

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sten nicht nur eine redaktionelle Änderung sehen mochte. Er legte Wert auf die Feststellung, daß das widersprechende Landesrecht auch bei einer Aufhebung oder Änderung des Bundesrechts nicht wieder auflebte. Daß es Hoch aber nicht nur um die Verankerung einer Rechtsfolge ging, wie sie schon die Weimarer Staatsrechtslehre einmütig vertreten hatte, gab seine dem einheitsstaatlichen Denken viel näher stehende Begründung zu erkennen, wonach es Aufgabe der bundesstaatlichen Kollisionsnorm sei, etwaigen Zweifeln, ob Landes- mit Bundesrecht im Einzelfall vereinbar sei, von vorneherein den Boden zu entziehen: Bundesrecht gehe nicht nur dem Landesrecht auf alle Fälle vor, sondern ein Streit darüber, ob es infolge Kollision vorgehe, sei wegen Art. 31 GG gar nicht mehr möglich, da ein für allemal im Sinne des Vorrangs von Bundesrecht erledigt. Legte Laforet also Wert auf die Feststellung, daß der Kollisionsfall individuell geprüft und entschieden werden müsse, betonte Hoch demgegenüber das Grundsätzliche, Allgemeingültige dieser Bestimmung. Daß sich beides nicht widersprechen mußte, sondern durchaus zu vereinbaren - weü auf verschiedenen Ebenen angesiedelt - war und unterschiedliche Voraussetzungen und Anwendungsbereiche hatte, ließ zu erkennen die unterschiedliche verfassungspolitische Blickrichtung der Beteiligten nicht zu215. Eine Lösung der damit zusammenhängenden Fragen wurde in diesem Stadium jedenfalls nicht erreicht. Man verwies die Problematik an den Fünferausschuß zurück, der - ebenso wie der nachgeschaltete Allgemeine Redaktionsausschuß - bei Art. 31 GG alles beim alten beließ, "zur Klarstellung" aber den Kollisionsfall dahingehend zu präzisieren suchte, daß im allein interessanten Grundrechtsbereich "Bestimmungen gleichen Inhalts in den Länderverfassungen [dem Grundgesetz] nicht entgegenstehen", der Weg zum Landesverfassungsgericht also nicht ausgeschlossen werden sollte. Diese Formulierungshilfe wurde im Hauptausschuß angenommen216. Da sich aber zwischenzeitlich die CDU-Fraktion auch die noch nicht berücksichtigte Anregung Laforets zu eigen gemacht und die Ersetzung des "bricht" durch "geht vor" beantragt hatte, mußte im Hauptausschuß, der unter erheblichem Zeitdruck stand, über das leidige Thema noch einmal abgestimmt werden: der diesbezügliche Antrag wurde in 4. Lesung mit 11 gegen 10 Stimmen abgelehnt, der Vorschlag des hessischen Sozialdemokraten Zinn (SPD) hingegen, die als authentische Interpretation des Art. 31 GG verstandene Übergangsbestimmung des Art. 148a (später Art. 142 GG) ohne inhaltliche Änderung im Sinne des dann endgültigen Wortlauts neu zu fassen, angenommen217. Ersteres wiederholte sich auch im Plenum des Parlamentari-

215

48. Sitzung am 9.2.1949; Parlamentarischer schusses, S. 621 ff. (626 f.). 216 51. Sitzung am 10.2.1949; Parlamentarischer schusses, S. 673 (Art. 148a). 217 57. Sitzung am 5.5.1949; Parlamentarischer schusses, S. 743 ff. (750, 765).

Rat, Verhandlungen des HauptausRat, Verhandlungen des HauptausRat, Verhandlungen des Hauptaus-

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

sehen Rats, dessen Debatten sich im übrigen für Art. 31 GG - wie für manche andere Vorschrift (z.B. Art. 71, 72, 142 GG) auch - nicht mehr als das bereits in den Ausschüssen Besprochene entnehmen ließ218. Man muß nicht die gewiß überspitzte Forderung Erich Kaufmanns teilen, die Materialien des Parlamentarischen Rats, wenn nicht zu verbrennen, so doch in einem verschlossenen Schrank zu halten und nur zu historischer Arbeit heranzuziehen219. Gleichwohl dürfte der vorstehende Überblick über die Verfassungsberatungen zu Art. 31 GG gezeigt haben, daß seine Entstehungsgeschichte in erheblichem Maß überlagert wurde durch die verfassungspolitischen Zielsetzungen der Mitglieder des Parlamentarischen Rats, die mitunter den klaren Blick für die hinter den einzelnen Verfassungsbestimmungen stehenden dogmatischen und praktischen Probleme trübte. Man hatte weder Klarheit gewonnen über den Anwendungsbereich der bundesstaatlichen Kollisionsregel, noch war man in der Lage gewesen, den schon grammatikalisch verdächtigen Zusammenhang zwischen Art. 31 GG und seiner "Ergänzung" in Art. 142 GG für den Rechtsanwender eindeutig herzustellen. Zudem hatte man es - entgegen der anfänglich einleuchtenden Systematik - im Lauf der Debatten unternommen, sachlich Zusammengehöriges auseinanderzureißen und verschiedenen Abschnitten des Grundgesetzes zuzuordnen. Dies endete bei Art. 142 GG, der in den Übergangsund Schlußbestimmungen gelandet war, ohne im Verständnis der Verfassungsväter hierzu einen Bezug aufzuweisen, begann aber bereits in den Vorschlägen des Fünferausschusses für die 3. Lesung des Hauptausschusses, als die späteren Artikel 71, 72 GG (damals noch Art. 33, 34) zunächst im Abschnitt "Bund und Länder" belassen, die zugehörigen Sachgebiete der ausschließlichen und konkurrierenden Gesetzgebung aber in den Abschnitt über "Die Gesetzgebung des Bundes", der anfänglich nur die technischen Vorschriften des Gesetzgebungsverfahrens enthalten hatte, eingereiht wurden220. Der Allgemeine Redaktionsausschuß stellte dann zwar die Zusammengehörigkeit von grundsätzlicher (Art. 71, 72 GG) und detaillierter Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen wieder her, ohne jedoch Art. 31 GG miteinzubeziehen221. Allein die Verortung verwandter, einander erklärender und ergänzender Verfassungsbestimmungen in verschiedenen Abschnitten des Grundgesetzes dürfte die Staatsrechtslehre - zumindest in den Anfangsjahren des Grundgesetzes - dazu veranlaßt haben, eine die bundes-

218

Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 9. Sitzung am 6.5.1949, S. 168 ff. (181) (2. Lesung); 10. Sitzung am 8.5.1949, S. 238 (3. Lesung und Schlußabstimniung). Zusammenfassung bei von Doemming / Füsslein / Matz, Entstehungsgeschichte, S. 298 ff.; zur entstehungsgeschichtlichen Gesamtbewertung Bernhardt, in: BK, Art. 31, Anm. I: "... bestanden zu keiner Zeit und auf keiner Seite Zweifel, daß eine entsprechende Vorschrift in die neue Verfassung aufgenommen werden sollte". 219 220 221

Kaufmann, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 13. Das Protokoll hierzu: "Beifall". Parlamentarischer Rat, Grundgesetz, S. 173 ff. (178). Parlamentarischer Rat, Grundgesetz, S. 195 ff. (205, 216).

IX. Zusammenfassung: Vom Rechtssprichwort zum Rechtsgrundsatz

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staatliche Kollisionsnorm isolierende, ihren Erklärungsgehalt ausschließlich aus sich heraus gewinnende Auslegung zu bevorzugen . IX. Zusammenfassung: Vom Rechtssprichwort zum Rechtsgrundsatz Der kursorische Abriß der Entwicklung vom mittelalterlichen Anwendungsvorrang des Rechts der kleineren Einheit zum modernen rechtsgrundsätzlichen Geltungsvorrang in Form unbedingter Derogationswirkung des Bundesrechts zeigt ein verwirrendes, uneinheitliches Bild, dessen Grundfarben sich nicht eindeutig bestimmen lassen. Zu zeitgebunden und mit der konkreten Problematik verwachsen sind die Lösungs- und Begründungsansätze für das Verhältnis von Reichs- und Landesrecht, zu unterschiedlich die ihnen zur Verfügung stehenden rechtsdogmatischen Instrumente, zu heterogen die dahinter aufscheinenden rechtspolitischen Motive. Von einer durchgehenden, final auf den heutigen Rechtszustand zugeschnittenen Entwicklung kann weder aus der Retrospektive noch aus der Intention der die seinerzeitige Entwicklung tragenden Kräfte und Ideen die Rede sein. Das mittelalterliche Rechtsdenken verlief in ganz anderen Bahnen und wurde von ganz anderen Vorstellungen getragen als die rechtliche Ordnung des modernen Verfassungsstaats. Recht gewann Geltung nicht durch einseitige Normierung, sondern durch allgemeine Anerkennung seines Inhalts und seiner Herkunft sowie durch Absprache und Vereinbarung der Beteiligten. Die sprachlich hierarchische Strukturierung in "Stadtrecht bricht Landrecht, Landrecht bricht gemeines Recht" führt in die Irre, unterlegt man ihr ein dahinter stehendes ranggeordnetes Rechtsgefüge. Anlaß für den Vorrang des engeren Rechts war nicht seine irgendwie begründete rangmäßige Zuordnung, sondern allein das praktische Bedürfnis, nur Recht anzuwenden, das den Beteiligten bekannt oder jedenfalls zugänglich war, und sie dadurch vor Überraschungsentscheidungen einigermaßen zu schützen. Erst mit dem Aufkommen der schriftlichen Rechtsaufzeichnung und der Anerkennung der ihr innewohnenden Autorität auch für die Schöpfung neuen Rechts, damit mit der Ausbüdung einer - allerdings noch rudimentären und in sich nicht systematisierten - Rechtsquellenlehre erfolgte der erste Schritt nach vorn. Rechtsvorschriften wurden jetzt anhand ihrer Herkunft und/oder territorialen Geltung einer dahinterstehenden, abstrakt bestimmten und für die Pflege dieses Rechts zuständigen Einheit (Land, Stadt)

222 Selbst der jüngst erschienene Alternativ-Kommentar zum Grundgesetz, der sich rühmt, von der Reihenfolge der Grundrechtsartikel abzuweichen, "um sachlich Zusammengehörendes zusammenhängend zu erörtern" (Azzola u.a., AK-GG, Vorwort, S. V), und dies entgegen seiner Ankündigung nicht auf die Art. 1-20 GG beschränkte, zeigt hierbei eine seiner nicht eben wenigen "Sachungerechtigkeiten"; s. Graf Vitzthum, Alternative, S. 918 ff.

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

klassifiziert, ihre Geltung von der permanenten Anerkennung und Legitimierung dieser Einheit abhängig gemacht. Rechtsfindung wandelte sich zu Rechtsetzung und -emeuerung. Der eigentliche Motor dieser Entwicklung war die Rezeption des römischen Rechts, genauer: die damit importierte Unterscheidung und Systematisierung der Rechtsquellen und ihre gegenseitige Zuordnung. Der Wandel der geistigen Grundlagen des Rechts hatte allerdings auch eine Entfremdung vom Rechtsunterworfenen zur Folge. Mit der Verwissenschaftlichung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung ging die Neubestimmung des Rechtsgeltungsgrunds einher. Diese betraf zunächst nur die Rückbindung des fremden römischen Rechts an einen ausdrücklichen Rezeptionsakt, wurde später aber auch für die Anerkennung der Möglichkeit gleichwertiger, d.h. auf einem Territorium konkurrierender Zuständigkeiten wichtig. Trotz der Nachrangigkeit des gemeinen Rechts konnten sich die neuen Lehren in der praktischen Anwendung rasch durchsetzen, da Sicherheit und Schriftlichkeit des römischen Rechts im Prozeß mehr galten als das einheimische Recht, welches eher "geglaubt" wurde als daß es bewiesen werden konnte. Freilich hielten sich die Folgen dieses Widerspruchs von theoretischer Geltung und praktischer Anwendung infolge des nur beschränkten Rechtswegs zu den Reichsgerichten und zahlreicher Ausnahmen in Grenzen. Der verfassungspolitischen Intention des Reichs zum Trotz existierte weder ein einheitliches Rechtsetzungsregime noch ein unbedingter Anwendungsvorrang des Reichsrechts noch eine in der Rechtsgeltung hierarchisch strukturierte Zuordnung der Rechtsetzungsebenen. An diesem Defizit konnte auch die völkerrechtlich gebaute Struktur des Deutschen Bundes nichts ändern. Die hierarchisch angelegte Zuordnung zweier Ebenen der Rechtsetzung war ihm zwar bekannt, nicht aber die Unmittelbarkeit der Geltung des Bundesrechts auf der mitgliedstaatlichen Rechtsebene. Allenfalls in einem sehr mittelbaren Sinn konnte von einer Bundesgesetzgebung gesprochen werden. Sollten Sachgebiete rechtseinheitlich geordnet werden, bedurfte es - entsprechend dem Modell des (freilich nur systematisierende, keine normierende Kraft entfaltenden) allgemeinen Staatsrechts - der parallelen Landesgesetzgebung, wie sie das grenzüberschreitende Handels- und Wirtschaftsrecht seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts forderte und nach 1848 Stück für Stück auch durchsetzen konnte. Die primär aus dem politischen Machtdefizit des Reichs, nicht aus der fehlenden dogmatischen Durchbildung des rechtlichen Instrumentariums resultierende Schwäche des Reichsrechts zu beheben war erst das Verdienst der Bismarckschen Verfassungsschöpfung. Zwar waren Ansätze hierzu bereits zur Zeit des Deutschen Bundes vorhanden, und schon die glücklose Paulskirchenverfassung hatte zumindest den subsidiären Anwendungsvorrang des Reichsrechts postuliert. Ihn verfassungstextlich durchzusetzen gelang der deutschen Nationalstaatsbewegung ohne föderalistische Gegenwehr, denn die Zeit war reif hierfür. Nicht hingegen gelang ihr die den Vorrang des Reichsrechts ausfüllende umfassende Bündelung der Zuständigkeit zur reichsein-

IX. Zusammenfassung: Vom Rechtssprichwort zum Rechtsgrundsatz

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heitlichen Rechtsetzung; und wo sie erfolgreich war, hielt sich der gliedstaatliche Widerstand im Gesetzgebungsverfahren erstaunlich stark. Daß die neue Staatlichkeit nicht mehr auf die bündischen Vorstellungen und Modelle des alten Reichs oder gar des Deutschen Bundes zurückgreifen konnte und wollte, versteht sich. Den entscheidenden qualitativen Sprung im Verhältnis von Reichs- zu Landesrecht verdankte die Lehre dem juristischen Positivismus; er stellte das verfassungskräftige Rangverhältnis auf feste dogmatische Füße und band es in die neue bundesstaatliche Theorie ein. Die Verteüung der gegenseitigen Zuständigkeiten im Bereich der einfachgesetzlichen Rechtsetzung wurde nunmehr als Kompetenzordnung begriffen und in ihrer Abgrenzung zueinander in ein vorgegebenes Rangverhältnis gesetzt. Der vordem nur als Anwendungs-, nicht als Geltungsvorrang definierte Mehrwert des Reichsrechts (wie er sich auch im Text des Art. 2 RV 1871 niederschlug) wurde zum Rechtsgrundsatz überhöht; das ihm gedanklich vorgelagerte bundesstaatliche Rechtsverhältnis widmete ihn von der Suspensations- zur Derogationsregel um. Die theoretischen und dogmatischen Bemühungen um den Vorrang des Reichsrechts resultierten neben ihrer übersteigerten bundesstaatstheoretischen Fundierung aus der mangelnden Durchbüdung der Gesetzgebungstypen und -kataloge. Insbesondere im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung hatte Art. 2 RV 1871 die Aufgabe der gegenseitigen sachlichen und temporären Zuordnung zu übernehmen, während die Weimarer Reichsverfassung sie einer gesonderten Vorschrift (Art. 12 I WeimRV) überantwortete. Die unter der RV 1871 noch verständliche Aufladung der bundesstaatlichen Kollisionsregel zum Rechtsgrundsatz der Behebung von Normwidersprüchen vertiefte sich aus verfassungspolitischen Gründen nach 1919 weiter zu einem den Rang von Gesamt- und Gliedstaaten schlechthin bestimmenden Prinzip. Reichsrecht hatte Vorrang vor Landesrecht, weü es das höhere, bessere Recht war, nicht weü die Verfassung dem Reich hierfür die Zuständigkeit zugesprochen hatte. Der universalen bundesstaatstheoretischen Auffüllung korrespondierte die kollisionsrechtliche Verbreiterung ihres Normbereichs, die die Art. 13 WeimRV zugedachte Aufgabe der Entscheidung auftretender konkreter Normenkollisionen in den Hintergrund treten ließ, die Feststellung ihres Tatbestandes also überflüssig machen mußte. Ob Kollision oder nicht: der unbedingte Vorrang des Reichsrechts war oberstes Gebot. Nur von dieser Bedeutung des Satzes vom Vorrang des Reichsrechts konnte der Verfassungsgeber des Grundgesetzes ausgehen. Er rezipierte die inhaltlich scheinbar Gewißheit bietende Formel, umgab sie, ohne sich der neuen Konstellation bewußt zu werden, indes mit einer Reihe von Vorschriften, die der eindeutigen Zuordnung von konstitutionellen und legislativen Zuständigkeiten dienen sollten und die den Gehalt der bundesstaatlichen Kollisionsnorm in Teüen notgedrungen entbehrlich machen sollte. Die erforderliche Klärung des Verhältnisses von Kompetenzordnung und Kompetenzkollision, von Rechtsgeltungsregel und Normwiderspruch unterblieb dabei. Sie anhand einer die Einheit der Verfassung und das Zusam-

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Β. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung

menspiel ihrer Bestandteile respektierenden Deutung vorzunehmen, ist Anliegen der nachfolgenden verfassungsdogmatischen Untersuchung. Auf der Grundlage der hierarchischen Struktur von Rechtsetzung und Rechtsgeltung unter dem Grundgesetz, aber auch unter Berücksichtigung der ausdifferenzierten Gesetzgebungstypen und Normenkategorien, wird auf der Basis einer Darstellung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung der Begriff der Kollisionsnorm untersucht und präzisiert, sodann den Zuständigkeitsverteilungsvorschriften im Bereich der einfachen und der verfassungsgesetzlichen Rechtsetzung zugeordnet. Dieses schrittweise Vorgehen wird zeigen, welchen Anwendungsbereich Art. 31 GG unter der besonderen Ausgestaltung der grundgesetzlichen Bundesstaatlichkeit heute noch haben kann.

C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich des Art. 31 GG I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Kollision von Bundes- und Landesrecht Die rechtsdogmatisch weitgehend unergiebige Erörterung des Verhältnisses von Bundes- und Landesrecht im Parlamentarischen Rat, die der Debatte 30 Jahre zuvor insoweit verblüffend ähnelte, war die Ursache für die über eine Nacherzählung der Verfassungsberatungen nicht hinausreichende verfassungsrechtliche Darstellung in den Lehrbüchern und Kommentaren der ersten Jahre der Bundesrepublik1. Abgesehen von der mageren entstehungsgeschichtlichen Ausbeute griffen die Interpreten des Art. 31 GG vornehmlich auf die tradierten Weimarer Lehren zurück und setzten das 1933 abrupt abgebrochene Gespräch über Art. 13 WeimRV fort. So verständlich dies angesichts der allgemeinen politischen Umstände der Nachkriegszeit und Aufbauphase und der mit ihr verbundenen vordringlichen Aufgaben rechtlicher Neugestaltung des Staatslebens war — der alsbald in der Sache selbst geforderten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat es keinen Dienst erwiesen, daß zwar die allgemeinen statusrechtlichen Verhältnisse von Gliedstaaten und Gesamtstaat - insbesondere die für die Praxis überflüssige Diskussion über die Zwei- oder Dreigliedrigkeit des grundgesetzlichen Bundesstaates - dogmatisch gewürdigt, die juristische "Feinmechanik" hingegen vernachlässigt wurde. Allein aus diesen Gründen fällt der Versuch außerordentlich schwer, die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 31 GG angemessen zu würdigen. Dies beginnt schon beim quantitativen Befund, denn die Zahl der einschlägigen Judikate, die sich im Zentrum und nicht nur am Rande des Art. 31 GG bewegen, lassen sich bis 1974, dem Jahr der ersten und letzten grundlegenden Entscheidung, an einer Hand abzählen. Schwerer noch wiegt das qualitative Defizit, denn wie wohl kein anderes Gebiet der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eröffneten die großen und kleinen Fragen des Bundesstaatsrechts Raum für die unterschiedlichsten rechtspolitisch fundierten, rechtlich wie politisch uneinheitlichen Entscheidungen. Die verfassungsgerichtliche Judikatur bildet damit ein getreues Spiegelbild der bundesstaatlichen Verfassungswirklichkeit, die weniger von

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Vgl. etwa die Erstbearbeitung des Art. 31 GG im Bonner Kommentar durch oder die Lehrbuchdarstellung bei Maunz (Deutsches Staatsrecht, 1. Aufl., S. 125 ff.).

Dennewitz

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C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

systembewußter und -orientierter Stringenz als von politischer Bewegung und Beweglichkeit, augenblicksbezogener Pragmatik und daher auch verfassungsrechtlicher Variabilität, ja Unsicherheit bestimmt ist. Es wäre freilich vermessen, dem Bundesverfassungsgericht, dessen Aufgabe in erster Linie die Entscheidung willkürlich herangetragener Einzelrechtsfragen oft höchster politischer Brisanz und nicht die Ausarbeitung eines konzisen "Systems" ist, daraus einen Vorwurf zu machen, daß sich seine Urteüe zu Art. 31 GG nur allzu oft durch tastendes Lavieren oder schlichtes Improvisieren gegenüber den Anforderungen des Augenblicks auszeichnen. Fein ziselierte Dogmatik zu bieten, ja den "großen Wurf' zu wagen, ist ohnehin nicht seine Aufgabe und würde seine Leistungsfähigkeit bei weitem übersteigen. Der damit verbundene "Freispruch" gewinnt zudem an Gesicht, wenn man bedenkt, daß bis heute eine von der Wissenschaft erarbeitete juristische Theorie des Bundesstaates grundgesetzlicher Prägung fehlt. Ohne die Leistung des Gerichts damit schmälern zu wollen, dürfte das verfassungsdogmatische Gewicht seiner Entscheidungen zu Art. 31 GG dennoch - anders etwa das der Grundrechtsprechung - nicht allzu hoch anzusetzen sein. 1. Die Anfänge der Rechtsprechung zu Art. 31 GG Die Reihe der Art. 31 GG berührenden Entscheidungen beginnt bereits im Jahr 1952. Das eben erst seine Arbeit aufnehmende Gericht hatte über die Vereinbarkeit landes- und bundesrechtlicher Regelungen über den Ladenschluß zu entscheiden, wobei sich hier - wie wiederholt in den ersten Jahren - nicht nachkonstitutionelles Bundesrecht, sondern nach Art. 125 GG als Bundesrecht übergeleitetes altes Reichsrecht und nachgrundgesetzliche Neuregelungen der Länder (Baden und Bremen) gegenüberstanden2. Die badischen und bremischen Landesgesetze, so führte das Gericht als Grundsatz vorab aus, wären nach Art. 31 GG jedenfalls insoweit nichtig, als sie dem Bundesrecht widersprächen. Auf einer sinn- und zweckorientierten Interpretation des Art. 125 GG aufbauend, wurde das Für und Wider der Normenkollision erörtert und auf der Basis einer detaillierten Auslegung des einfachen Rechts zu Gunsten des Bundes bejaht: wenngleich die Übergangsvorschrift keine allgemeine Vermutung für eine erschöpfende Regelung durch früheres Reichsrecht enthalte, habe das Bundesrecht die von den Ländern in Anspruch genommene Sachmaterie vollständig und abschließend normiert; die landesrechtlichen Vorschriften seien "nach Art. 125, 72 Abs. 1, 31 GG wegen Verstoßes gegen geltendes Bundesrecht nichtig". Das Urteil ließ Anwendungsbereich und gegenseitige Zuordnung dieser nur unverbunden nebeneinander gestellten Bestimmungen offen, machte aber deutlich, daß es in Art. 31 GG nur die Rechtsfolge eines vorab im Bereich der grundgesetzlichen Gesetzgebungszuständigkeiten und des einfachgesetzlichen Bun-

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BVerfGE 1, 283 ff.

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 31 GG

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desrechts zu Ungunsten der Länder entschiedenen Kollisionsfalles sehen wollte. Die unerlaubte gliedstaatliche Inanspruchnahme der durch den Bund bereits an sich gezogener Sachbereiche führe automatisch zur Brechung, d.h. Nichtigkeit der landesrechtlichen Vorschriften 3. Ob dieses Ergebnis nicht schon aus Art. 72 Abs. 1 GG folge, der Rückgriff auf Art. 31 GG also zumindest begründungsbedürftig war, ließ das Gericht dahingestellt, wohl weil in seinen Augen die Kompetenzverteilungsvorschrift des VII. Abschnitts die Sperrwirkung des Bundesgesetzes - jedenfalls dem Wortlaut nach nur auf /^^konstitutionelles Recht erstrecken konnte4. Funktion und Anwendungsbereich von Art. 31 GG wurden vom Bundesverfassungsgericht in den folgenden Jahren mehr tastend als zielgerichtet, jeden bundesstaatstheoretischen Rüstzeugs ledig, von Fall zu Fall fortentwickelt. Anläßlich einer Richtervorlage des BGH wurde erstmals ein Zusammenhang zwischen Art. 125 GG und der Rahmengesetzgebung nach Art. 75 GG einerseits, zwischen Art. 75 GG und Art. 31 GG andererseits hergestellt. Selbst wenn man die Anwendbarkeit des vorkonstitutionellen Gesetzgefortgeltenden Bundesrechts auf dem Gebiet der konkurrierenden bung auf Art. 75 GG erstrecken wollte, gehe es nicht an, für einzelne Vorschriften aus einer erschöpfenden Gesamtregelung eine Fortgeltung als Bundesrecht anzunehmen mit der Begründung, daß sie auch in einem Rahmengesetz zulässig sei5. Indem der Bundeslegislative allerdings die Befugnis zugestanden wurde, "kraft Art. 31 GG nur durch ein nach Art. 75 Nr. 2 GG zulässiges Rahmengesetz den Landesgesetzgeber auszuschalten", ordnete das Gericht rahmenrechtliche Regelungen dem Typus der konkurrierenden Gesetzgebung zu, ohne doch schon Art. 72 I analog anzuwenden - dem stünde der klare Wortlaut des Art. 75 GG entgegen, denn unter den "Voraussetzungen" sei nur die Bedürfnisklausel des Art. 72 II zu verstehen - , und es bejahte implizit die Möglichkeit einer Normenkollision im Bereich der Rahmengesetzgebung mit der Folge einer Anwendbarkeit des Art. 31 GG. Unklar blieb dabei freilich, wie es angesichts der unterschiedlichen Adressaten von Rechtsvorschriften nach Art. 72 und 75 GG überhaupt zu einer Kollision von Bundes- und Landesrecht kommen konnte, denn das in Betracht kommende Rahmenrecht sollte ja nur den Landesgesetzgeber, grundsätzlich nicht auch den Bürger binden. Während Art. 31 GG hierbei nur

3 BVerfGE 1, 292, 298 f. Allerdings schaffe erst das erlassene Bundesgesetz, nicht schon die Befassung des Bundesgesetzgebers mit einer Neuordnung des in Frage stehenden Bereichs, eine Sperrwirkung für die Länder, ebd. (unter Berufung auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts), S. 296. 4 In einer zwei Jahre später vom gleichen Senat entschiedenen Frage der Vereinbarkeit landesrechtlicher Ehrengerichte für Ärzte mit übergeleiteten Vorschriften der RÄO (Art. 74 Nr. 1, 19 GG) wurde Art. 125 GG zwar mit Art. 72 Abs. 1 GG in Verbindung gebracht; ihr Verhältnis war aber nicht entscheidungserheblich, da eine Bundeskompetenz für die in Streit stehende Materie nicht nachgewiesen werden konnte; s. BVerfGE 4, 74 (82 ff.). 5

BVerfGE 7, 29 (42).

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C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

am Rande eine Rolle spielte, griff das Gericht wenig später direkt die bereits nach 1919 streitige Frage auf, ob die grundgesetzliche Kollisionsnorm sich nur auf widersprechendes oder auch auf gleichlautendes Landesrecht beziehe. Es zitierte die in der zeitgenössischen Literatur vertretenen Ansichten, doch ohne zu ihnen schon Stellung zu nehmen: Da es an der hinreichenden Konkretisierung einschlägigen Bundes(urlaubs)rechts fehle, sei Art. 31 GG ohnehin nicht einschlägig, könne mithin dem (urlaubsregelnden) Landesgesetzgeber nicht entgegengehalten werden6. Einen zentralen Stein im Mosaik des Art. 31 GG fügte das Gericht bald darauf anläßlich einer weiteren Richtervorlage ein, die die Kollision von Bundeszivilrecht und landesrechtlicher Entschädigungsregelung im Eigentümer-Besitzer-Verhältnis behauptete7. Ohne daß es in der Entscheidung darauf angekommen wäre - die landesrechtliche Entschädigungsvorschrift war richtigerweise dem öffentlichen Recht zuzuordnen - , nahm der Senat auch zur grundgesetzlichen Kollisionsnorm Stellung und verunklarte den schon bisher unscharfen Anwendungsbereich des Art. 31 GG weiter. Da der Landesgesetzgeber seit dem Zusammentritt des ersten Deutschen Bundestages gehindert sei, im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes (§§ 985 ff. BGB) tätig zu werden, "wäre auch die landesrechtliche Regelung ... ungültig (Art. 31 GG) Eine zumindest überraschende Behauptung: Ging man nämlich, wie die unangefochtene Lehre und Rechtsprechung es seit jeher vertrat, davon aus, daß es dem Bundesgesetzgeber freistehe, Sachbereiche vollständig und abschließend zu regeln und den Landesgesetzgeber hierdurch umfassend und auf Dauer auszuschließen, so mangelte es bereits aus diesem einfachgesetzlichen und die staatsrechtliche Neuordnung Deutschlands überdauernden Grund an der Kompetenz des Gliedstaats, bürgerlich-rechtliche Entschädigungsvorschriften im Eigentümer-BesitzerVerhältnis zu treffen. Der Rechtsfolge des Art. 31 GG bedurfte es somit nicht. Die Richtigkeit der bundesverfassungsgerichtlichen Erkenntnis einmal unterstellt, die bundesrechtliche Sperrwirkung sei doch erst 1949 wieder aufgelebt, führte ebenfalls zu keiner sinnvollen Anwendung des Art. 31 GG, denn auch in diesem Fall wäre das (konkret 1950 ergangene) Landesrecht mangels Zuständigkeit des Gesetzgebers nicht wirksam zustandegekommen, eine Kollision also von vorneherein ausgeschlossen. Wollte das Gericht schließlich Art. 31 GG auch auf solche Fälle erstrecken, hätte diese Neuorientierung der Auslegung jedenfalls eine eingehendere Begründung verlangt.

6 BVerfGE 7, 342 (353 f.). Diese Entscheidung ist weniger wegen ihres Art. 31 GG betreffenden - in der Sache überflüssigen - obiter dictums interessant, das vom Sachvortrag des vorlegenden BAG ausgelöst worden sein dürfte (ebd., S. 345); das Gericht lehnte hier vor allem die von BAG und Lehre durchgängig vertretene Lehrmeinung ab, das bürgerlich-rechtliche Kodifikationsprinzip (Art. 3, 55, 218 EGBGB) als solches bilde bereits eine absolute Sperre für den Landesgesetzgeber, außerhalb der einführungsgesetzlichen Vorbehalte privatrechtliche Normen zu setzen, ohne daß es auf die Kollision im Einzelfall ankomme; ebd., S. 347 ff.

BVerfGE

,2

ff.

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 31 GG

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Das Gericht hatte wohl letzteres beabsichtigt und war sich der ohne Not heraufbeschworenen dogmatischen Unstimmigkeiten nicht bewußt8, wie eine ein Jahr später ergangene Entscheidung zeigen sollte. Wiederum handelte es sich um einen Kollisionsfall aus dem Bereich der Art. 72, 74, 125 GG9. Da der Senat die Sperrwirkung des Art. 72 I GG (noch10) nicht auf übergeleitetes Reichsrecht erstrecken wollte, glaubte er die Rechtsfolge kollidierender Vorschriften Art. 31 GG entnehmen zu müssen: eine landesrechtliche Bestimmung, die entgegen der erschöpfenden bundesgesetzlichen Normierung Regelungen trifft, könne nach Art. 31 GG keinen Bestand haben11. Worin in diesen Fällen die erforderliche Kollision liegen sollte, war nicht ersichtlich, da das widersprechende Landesrecht schon wegen Unzuständigkeit des Gesetzgebers unwirksam war, d.h. Art. 31 GG im Ergebnis nicht einschlägig sein konnte. Darüber, daß es im Bund-Länder-Verhältnis unter dem Grundgesetz keine echten legislativen Doppe/zuständigkeiten geben konnte, hatte das Gericht ja von Anfang an keinen Zweifel gelassen. Das in allen Entscheidungen der ersten Jahre bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung vzrfassungsdogmatisch "großzügige" Argumentieren mit Art. 31 GG läßt nur den Schluß zu, daß das Gericht in dieser Vorschrift zwar auch eine Kollisions(lösungs)norm sah, zunächst und in erster Linie aber mit ihr - und darin den verfänglichen Wortlaut der Bestimmung rezipierend - einen grundsätzlichen Vorrang von Bundes- vor Landesrecht verband. Ausgesprochen wurde diese Formel vom Rechtsgrundsatz, die in den frühen Urteilen immer latent mitschwang, freilich erst 1962, und zwar in einer Entscheidung, die eine dem Bundesgesetzgeber gestellte, ungewöhnlich komplexe und umfassende, aber einmalige Aufgabe zum Gegenstand hatte: die Regelung der Rechtsverhältnisse ehemaliger Angehöriger des Öffentlichen Dienstes (Art. 131 GG). Im Rahmen einer Richtervorlage entnahm der Senat den einfachgesetzlichen Vorschriften des G 131, "daß mit Bezug auf günstigeres Landesrecht der Grundsatz des Art. 31 GG12 'Bundesrecht bricht Landesrecht' nicht gilt; nur ungünstigeres Landesrecht wird gebrochen und darf nicht mehr neu gesetzt werden."13 Das Gericht führte die

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Dies gilt jedenfalls für den Bereich der konkurrierenden und eventuell auch der Rahmengesetzgebung des Bundes. Für die Fälle der Art. 71, 73 GG hatte das Gericht Art. 31 GG von Anfang an nicht herangezogen, wenngleich solches wegen Art. 71 2. HS GG zumindest verständlich gewesen wäre; s. etwa BVerfGE 8, 260 ff. 9 BVerfGE 9, 153 ff. 10 Dies geschah erst in BVerfGE 29, 11 (27). 11 BVerfGE 9, 153 (157). 12 Hervorhebung v. Verf. 13 BVerfGE 15, 167 (188). In E 32, 199 (221) wird Art. 31 GG schon nicht mehr zitiert; vielmehr könne der Landesgesetzgeber von Bundes wegen festgelegte Amtsbezeichnungen der Richter "nach dem Grundsatz 'Bundesrecht bricht Landesrecht' nicht durch andere Bezeichnungen ersetzen". Vergleichbare Abstrahierungstendenzen finden sich etwa im Bereich des Art. 20 - Rechtsstaatsprinzip.

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C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

rechtsgrundsätzliche Verfassungsbestimmung vor, ohne sie doch anzuwenden, ja überhaupt anwenden zu können, denn zu "brechen" gab es mangels Kollision bundes- und landesgesetzlicher Vorschriften im konkreten Fall nichts. Der falschen Schlußfolgerungen Nahrung gebende Rückgriff auf Art. 31 GG ließ sich nur dadurch erklären, daß der Senat sich unfreiwillig selbst in diese Sackgasse manövriert hatte, indem er Art. 131 GG isoliert interpretierte, ihn streng von den Formen der Zuständigkeitsregelung des VII. Abschnitts separierte und sich wegen der "Einmaligkeit" der Aufgabe auch den analogen Rückgriff auf Art. 70 ff. (und damit auf die Detailvorschriften der Art. 71, 72 I GG) abschnitt. Die für den Rechtsanwender inhaltsleere, in der Luft hängende Formel vom rechtsgrundsätzlichen Gehalt des Art. 31 GG versuchte das Gericht durch die Standortbestimmung als Kollisionsnorm abzurunden, und dies erneut in einem Fall, dessen Lösung viel mit Art. 75 I 1, 98 III 2 GG, wenig mit Art. 31 GG zu tun hatte. Anläßlich einer Verfassungsbeschwerde gegen angeblich bundesrechtswidrige Besoldungsvorschriften mehrerer Länder charakterisierte das Gericht Art. 31 GG bald darauf nunmehr erneut als Kollisionsnorm; sie bestimme, welches Recht im Fall einer kollidierender Normsetzung des Bundes- und Landesgesetzgebers gelte. Der verfassungskräftig festgesetzte Vorrang des Bundesrechts mit der Folge der Nichtigkeit der entsprechenden Normen des Landesrechts greife freilich nur dort durch, wo beide Gesetzgeber denselben Gegenstand, dieselbe Rechtsfrage geregelt hätten. An dieser Voraussetzung fehle es hier aber. Nur wenn der Bundesgesetzgeber besoldungsrechtliche Rahmenvorschriften erlassen hätte, ließe sich aus Art. 31 GG ein verfassungsrechtlicher Einwand gegen die angegriffenen Bestimmungen begründen14. Diese inhaltliche Bestimmung, mit der das Bundesverfassungsgericht Art. 31 GG wieder auf sicheres Fundament setzte, war so neu indes nicht, und sie mußte sich vor allem die - nie beantwortete - Frage gefallen lassen, ob die allgemein konsentierten Aussagen tatsächlich solche des Art. 31 GG waren, oder ob nicht vielmehr vorab zu klären gewesen wäre, in welchen Fällen unter dem Grundgesetz überhaupt echte Kollisionen zwischen verfassungsmäßigem Bundes- und verfassungsmäßigem Landesrecht denkbar waren. Der vorliegende Sachverhalt konnte wegen des Fehlens bundesrechtlicher Vorschriften gerade kein Paradebeispiel für die Anwendung der Kollisionsregel des Art. 31 GG sein15.

14

BVerfGE 26, 116 (135 f.). Daß das Bundesverfassungsgericht mit diesem Urteil zurückkehrte zur Fallentscheidung am Maßstab konkreter Norminhalte und rechtsgrundsätzliche Überlegungen zunächst hintanstellte, dürfe auch darauf zurückzuführen sein, daß auf Seiten der Staatsrechtslehre zwischenzeitlich substantiellere Aussagen zu Art. 31 GG vorlagen; vgl. etwa die Kommentierungen von Maunz (1960) und von Mangoldt / Klein (1959), die Zweitbearbeitung im Bonner Kommentar durch Bernhardt (1964) oder die kritische Würdigung von Barbey (1960). 15

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 31 GG

2. Die Konsolidierung

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der Rechtsprechung zu Art. 31 GG

Auf dem damit vorgezeichneten Weg der herkömmlichen Interpretation des Art. 31 GG bewegte sich die Rechtsprechung fortan. In einem Urteil aus dem Jahr 1970 wurde zum einen die aus den Anfängen der Rechtsprechung noch mitgeschleppte, bislang offen gelassene Streitfrage bejaht, ob auch nach Art. 125 GG übergeleitetes Bundesrecht die Sperrwirkung des Art. 72 I GG entfalten könne16; zum anderen widersprach der Senat vereinzelt laut gewordenen föderalistischen Stimmen im Schrifttum, wonach der Wegfall der bundesrechtlichen Sperre das automatische Wiederaufleben alten, vormals "gebrochenen" Landesrechts zur Folge haben könne. Recht, das der Landesgesetzgeber ohne Kompetenz gesetzt habe, sei nicht "schwebend unwirksam" oder nur vorübergehend seiner Geltungskraft beraubt: Es werde derogiert und nicht suspendiert, es sei von Anfang an nichtig und könne nicht wieder zum Leben erweckt werden17. Auch diese Entscheidung, die im unitarischen Sinne Rechtssicherheit gebracht hatte über die Rechtsfolge einer etwaigen Kollision, glaubte nicht umhin zu können, zusätzlich zu Art. 72 I GG auch Art. 31 GG als Prüfungsmaßstab heranziehen zu müssen, obgleich letztere doch die Verfassungsmäßigkeit des Landesrechts im übrigen voraussetzte. Alle bislang ergangenen Judikate hatten, abgesehen von einem Fall des landesrechtlichen Übergriffs in ausschließliche Legislativbefugnisse des Bundes, immer Materien der konkurrierenden Bundesgesetzgebungszuständigkeit (Art. 72, 74 GG oder Art. 72, 125 GG) zum Gegenstand gehabt. In einer für das gliedstaatliche Staatsverständnis der Länder auch sonst zentralen Entscheidung aus dem Jahr 197218 waren gleich mehrere Fragen von praktisch erheblicher Bedeutung zu beantworten, und zwar im Bereich des Art. 74a GG. In einem Verfahren der abstrakten Normenkontrolle hatte das Gericht zu prüfen, ob die Hessische Besoldungsgesetzgebung mit einfachem Bundesrecht und Art. 74a GG vereinbar war; die antragstellende Bundesregierung bestritt die Rechtmäßigkeit des Landesrcchts, was zur Folge haben sollte, daß die beanstandeten Vorschriften wegen Kompetenzüberschreitung (Art. 72 I GG) und gemäß Art. 31 GG nichtig seien19. Der Senat präzisierte zunächst das Verhältnis von konkurrierendem Bundes- und Landesrecht. Nach Art. 72 I GG hätten die Länder die Befugnis 16

BVerfGE 29, 11 (17); zuvor schon andeutungsweise in E 1, 283 (298); s.a. E 4, 74 (82 f.). 17 BVerfGE 29, 11 (17): "Art. 31 GG 'bricht· solches Landesrecht endgültig." 18 BVerfGE 34, 9 ff. 19 Die Rechtslage komplizierte sich dadurch, daß der Bund einfachgesetzlich von einer Neufassung des Art. 74a GG Gebrauch gemacht hatte, bevor die Ermächtigung in Kraft getreten war. Da dies in keinem Zusammenhang mit den hier interessierenden Rechtsfragen steht, wird darauf nicht eingegangen. Vgl. BVerfGE 34, 9 (23 f.); 44, 227 (239 f.).

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C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrechte keinen Gebrauch machte. Er müsse also die Materie "regeln", d.h. Vorschriften erlassen, die selbst (und materiell) alles oder zumindest etwas über die gesetzliche Ausgestaltung der Gesetzgebungsmaterie bestimmten. Vorschriften, die ohne eigene inhaltliche Regelung nur durch Festschreiben des bestehenden Landesrechts versuchten, den gliedstaatlichen Gesetzgeber im vom Bund inhaltlich nicht in Anspruch genommenen Bereich von der weiteren Gesetzgebung abzuschneiden, seien Sperrgesetze und mit Art. 72 I GG nicht vereinbar. Freilich müsse der Bundesgesetzgeber, greife er eine vollständige Neuregelung bisher den Ländern überlassener Bereiche auf, dies nicht in einem Regelwerk unternehmen, sondern könne das Vorhaben Stück für Stück verwirklichen; Art. 72 I GG schließe die Länder dann von Anfang an von der Gesetzgebung im Gesamtbereich der Materie aus, die der Bund zu regeln in Angriff genommen habe. Diese Sperrwirkung des Bundesrechts erfolge zudem nicht erst mit seinem Inkrafttreten, sondern bereits, wenn der Bund den Sachbereich "zum Gegenstand eines Gesetzgebungsverfahrens zu machen" beginne. Dies folge aus dem Wortlaut des Art. 72 I GG ("Gebrauch machen", nicht Gebrauch gemacht haben), zumindest aber aus dem Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens, denn es wäre "ein schwer erträglicher Zustand", könnten sich Bund und Länder innerhalb einer gewissen Zeitspanne gleichzeitig und parallel derselben Materien annehmen. Daß das Gericht dieses Ergebnis nicht (auch) auf Art. 31 GG stützte, war verständlich, gestand die grundgesetzliche Kollisionsnorm die Brechungswirkung doch nur verfassungsmäßig ergangenem, d.h. jedenfalls nach Art. 82 GG verkündetem Bundesrecht zu; bloße Gesetzgebungsinitiativen reichten hierfür nie aus. Von größerer Bedeutung war allerdings die vom Gericht angeordnete Rechtsfolge der Kollision einzelner landesrechtlicher Besoldungsvorschriften. Abweichend von der gesamten bisherigen Rechtsprechung stellte der Senat zwar die Unvereinbarkeit der hessischen Vorschriften mit Bundesrecht fest, wollte aber der nach Art. 31 GG zwingend eintretenden und vom Gericht eben erst bestärkten Rechtsfolge der Nichtigkeit ausweichen. Ohne Art. 31 auch nur zu zitieren, ließen die Richter es dahingestellt, ob die Unvereinbarkeit einer landesrechtlichen Regelung mit Bundesrecht, welches nur den Landesgesetzgeber und nicht auch den Bürger allgemein zum Adressaten hatte, überhaupt zur Nichtigkeit der landesrechtlichen Regelung führen könne20. Der Ausspruch der Nichtigkeit nämlich würde zu einer "schwer erträglichen Unsicherheit über die Rechtsgrundlage der Besoldung" der betroffenen Beamten führen; dem Landesgesetzgeber erwachse daher nur die Pflicht, das Landesrecht unverzüglich in Einklang mit Bundes-

20 E 34, 9 (43 f.). Diese Behauptung ging auf den Sachvortrag des hessischen Prozeßbevollmächtigten Denninger zurück; ebd. S. 17 f. Zur (kanonisierten) Nichtigkeitsfolge des Kollisionstatbestands nach Art. 31 GG Bernhardt, in: BK, Art. 31, Rdnr. 28 f.; Bothe f in: AK-GG, Art. 31, Rdnr. 18; zu Art. 72 I GG s.u. S. 149 ff.

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 31 GG

93

recht zu bringen21. Damit wich das Gericht ebenso von seiner früheren Rechtsprechung zum Grundsatzcharakter des Art. 31 ab, wie es Antworten auf Rechtsfragen gab, die vom Sachverhalt so gar nicht gestellt worden waren22. Kurzum: ein die langjährigen Differenzen im Verhältnis von Bund und Hessen dokumentierendes Kompromißurteil 23. 3. Die Neuorientierung

der Rechtsprechung zu Art. 31 GG

Eine Vorlage des Niedersächsischen Staatsgerichtshofe zum Verhältnis von Art. 33 V GG und der entsprechenden Bestimmung (Art. 46 II) der Niedersächsischen Landesverfassung gab dem Bundesverfassungsgericht 1974 Gelegenheit, seine bisherige Rechtsprechung zusammenzufassen, ihre Aussagen zu überprüfen und neu zu bewerten24. Der StGH hatte die Entscheidung darüber eingeholt, ob Art. 31 GG dahingehend auszulegen sei, daß abgesehen von Art. 142 GG - sonstiges, mit Bundes(verfassungs)recht inhaltlich übereinstimmendes Landes(verfassungs)recht unwirksam sei. Indem er diese Vorfrage bejahen wollte, setzte er sich in Widerspruch zu mehreren, das Landesrecht stützenden Entscheidungen des BayVerfGH und des OVG Münster (Art. 100 III GG)25. Der StGH rekurrierte bei seiner bezeichnenderweise "landesrechtsfeindlichen" Interpretation des Art. 31 GG zum einen auf die Art. 13 I WeimRV dominierende Auslegung, Reichsrecht breche auch inhaltsgleiches Landesrecht, zum anderen auf die Entstehungsgeschichte der grundgesetzlichen Kollisionsnorm und ihre eng zu interpretierende Ausnahme in Art. 142 GG. Da Art. 46 II nds. Verf. keine subjektive Berechtigung des Beamten enthalte, könne die grundrechtsgebundene Sonderbestimmung der Übergangsvorschriften keine Anwendung finden 26.

21

Die gesamte Entscheidung erweckt - sit venia verbo - den Eindruck, als versuche sich das Bundesverfassungsgericht um die entscheidenden Rechtsfragen "herumzudrücken" und die juristisch kaum stringent begründeten Erkenntnisse mit allgemeinen verfassungspolitischen Erwägungen zu stützen ("schwer erträglich", "kaum erträglich" usw.). Die Entscheidung ist denn auch in weiten Passagen mit der denkbar knappsten Stimmenmehrheit ergangen (4:3); s.a. das Sondervotum a.a.O. S. 46 f. 22

Vgl. etwa die Ausführungen zum verfassungsänderungsfesten bundesstaatlichen Gehalt des Art. 79 III GG ("Hausgut" der Länder, Anteil am Gesamtsteueraufkommen etc.), a.a.O. S. 19 f., die durch den Hinweis auf die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten abgerundet wurden. 23 S. in diesem Zusammenhang auch BVerfGE 32, 199. 24 BVerfGE 36, 342 ff.; dazu die Rezensionen: Krause, Verfassungsautonomie, S. 160 ff., und von Mutius, Verhältnis, S. 161 ff. 25 BayVerfGH, VerwRspr 3, 396; BayVerfGH, BayVBl 1958, S. 144; OVG Münster, O V G E 16, 315 ff. 26 Worin bei dieser Fallkonstellation die für Art. 31 GG erforderliche Kollision bundes- und landesrechtlicher Normen liegen sollte, blieb unerfindlich. Man mag allenfalls daran denken, daß anfänglich mit Bundesrecht inhaltsgleich interpretiertes

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C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

Das Bundesverfassungsgericht begann seine Überlegungen zu Art. 31 GG, die es vorab auf die allein entscheidungserhebliche Frage reduzierte, ob Landesverfassungsrechi, das im Wortlaut mit dem Grundgesetz übereinstimmte, gebrochen werde oder Bestand habe27, nun nicht mit einer Interpretation der grundgesetzlichen Kollisionsnorm, sondern versuchte, die Reichweite des Art. 31 GG bundesstaatstheoretisch zu überbauen28. Es berief sich auf das "Eigentümliche des Bundesstaats" - ob das des Bundesstaats des Grundgesetzes oder des allgemeinen Bundesstaatsprinzips, wurde nicht deutlich - , daß Gesamtstaat und Gliedstaat Staatsqualität - inhaltliche Kriterien wurden hierfür nicht genannt - , d.h. auch ihre je eigene, von ihnen selbst bestimmte Verfassung besäßen. Kein Land müsse eine "Amputation von Staatsfundamentalnormen durch den Gesamtstaat hinnehmen mit der Folge, daß seine Verfassung in Wahrheit ein Verfassungstorso" werde. Vielmehr hätten die Länder im Bundesstaat das Recht, auch Staatsfundamentalnormen in ihre Verfassungen autzunehmen, die nicht mit denen der Bundesverfassung übereinstimmten: nur ein Mindestmaß an Homogenität sei gefordert (Art. 28 I GG). Die dabei unvermeidlich auftretenden Divergenzen zwischen Bundes- und Landesverfassungsrecht nehme das Grundgesetz in Kauf; sie seien miteinander "vereinbar", weil sie unabhängig voneinander, in jeweils verschiedenen Bereichen Geltung beanspruchten. Rechtssystematisch müsse Art. 31 GG, der eine Grundsatznorm sei, nach dem Prinzip der "Einheit der Verfassung" im Zusammenhang mit Art. 28 I 1, 2 GG gelesen werden: Art. 31 GG könne keine Anwendung finden auf Probleme, die durch das bundesstaatliche Homogenitätsgebot erfaßt würden, er habe nicht die Kraft, "diese landesverfassungsrechtlichen Vorschriften zu 'brechen', was immer das bedeuten möge"29. Auch Art. 142 GG widerspreche dem nicht, denn das Gesetz könne eben klüger sein als seine Väter; über die Herausnahme der für die Verfassungsgestaltung besonders wichtigen Grundrechte hinaus ließe sich dieser Bestimmung nichts entnehmen. Relativierte das Gericht schon damit seine frühere Aussage, Art. 31 GG habe die Derogation, nicht nur die Suspension widersprechenden Landesrechts zur Folge, so blieb umso überraschender, in welchem Zusammenhang diese allgemeinen Ausführungen mit der durch die Vorlage des StGH aufgeworfenen konkreten Rechtsfragen stehen sollten, denn Art. 46 II nds. Verf. und Art. 33 V GG kollidierten inhaltlich nicht, waren somit kein Anwendungsfall des Art. 31 GG und brauchten ihm daher nicht zugunsten des Art. 28 I GG entzogen werden.

Landesrecht durch eine Änderung der landesgerichtlichen (oder auch bundesgerichtlichen) Auslegung zu jetzt widersprechendem Landesrecht werden könnte (so Krause, Verfassungsautonomie, S. 161 f.); dieser Fall lag hier aber nicht vor. 27 Die Entscheidung gab (und gibt) daher für das Verhältnis von inhaltsgleichem einfachem Bundes- und Landesrecht nichts her. 28 BVerfGE 36, 342 (360 ff.). 29 BVerfGE 36, 342 (362).

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 31 GG

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Wenn der Senat aus der Möglichkeit, daß die Landesverfassung die Organisation des Gliedstaats (denn allein darauf hoben die genannten Beispiele ab) anders regeln durfte als das Grundgesetz die Bundesorganisation, folgern zu müssen glaubte, übereinstimmende Vorschriften seien dann erst recht unproblematisch, wurde er Opfer seines methodisch falsch gewählten Ansatzes, alles aus dem Grundsätzlichen der Art. 31, 28 I GG entnehmen zu können, ohne den Anwendungsbereich dieser Vorschriften vorab klären zu müssen. Es fehlte nämlich bei den vom Gericht als Paradigma gewählten Regelungsunterschieden zwischen Bund und Land überhaupt an der Möglichkeit einer Normenkollision, da völlig verschiedene Sachverhalte angesprochen wurden; z.B. Ministeranklage im Land: ja, im Bund: nein, oder Selbstauflösung des niedersächsischen Landtags: ja, solche des Bundestages: nein. Zum anderen blieb unentschieden, ob die Landesverfassung einem vergleichbaren oder gar gleichen Sachverhalt auch die gleiche Rechtsfolge zuordnete; und nur im letzteren Fall konnte Art. 31 GG überhaupt einschlägig sein30. Diese argumentativen "Abschweifungen" des Gerichts waren umso erstaunlicher, als Art. 31 GG - völlig zu Recht und insoweit die bisherige Rechtsprechung präzisierend - funktional als Vorschrift gesehen wurde, die Normenkollisionen lösen sollte, Voraussetzung hierfür aber sei, daß zwei Normen miteinander kollidierten: Art. 31 GG hinweggedacht, müßten Bundes· und Landesnorm auf einen Sachverhalt anwendbar sein und bei ihrer Anwendung zu verschiedenen Ergebnissen führen können. Folgerichtig Schloß der Senat hieraus: "Wo dies nicht der Fall ist, entsteht nicht nur kein Bedürfnis für eine besondere Vorschrift, die das Verhältnis der beiden Normen zueinander regelt, sondern es ist begrifflich unmöglich, weil es an der Möglichkeit einer Kollision fehlt, eine Kollisionsvorschrift ins Spiel zu bringen und sie anzuwenden."31 Wie diese kollisionsrechtlichen Gemeinplätze mit den ihnen widersprechenden Ausführungen des Gerichts zum Grundsätzlichen harmonieren sollten, blieb unerfindlich 32. Sachverhalt und Begründung paßten nicht nahtlos zusammen. Der Senat setzte sich sodann mit zwei Argumentationslinien für die Unvereinbarkeit von inhaltsgleichem Landesverfassungsrecht mit Bundesverfassungsrecht auseinander: den von der Bundesregierung im Verfahren behaupteten Folgerungen aus Art. 70 ff. GG, wonach jedenfalls im Bereich des Art. 72 I GG ein absoluter Vorrang des Bundesgesetzgebers bestehe und sich dieser auch auf inhaltsgleiches Landesrecht erstrecke, und der

30

So zu Recht Krause, Verfassungsautonomie, S. 162. BVerfGE 36, 342 (363). 32 Das Gericht mochte sich zu seinen "Eigentümlichkeiten" des Bundesstaats herausgefordert fühlen durch den in einem unitarischen Rundumschlag gipfelnden Sachvortrag des Vertreters der Bundesregierung (E 36, 342 [351 f.]), wonach Art. 31 GG eine der wesentlichen Konkretisierungen des bundestaatlichen Prinzips sei, dem es entspreche, daß der Bund den Ländern prinzipiell übergeordnet sei. Bundesrecht gehe daher allen, also auch inhaltsgleichen landesrechtlichen Normen vor. 31

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C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

Behauptung des Regierungsvertreters, in der Rechtsfolge "brechen" komme zum Ausdruck, daß in Art. 31 GG eine besonders radikale Entscheidung zuungunsten des Landesrechts gewollt sei. Beidem erteilte der Senat eine zutreffende Absage. Er trennte landesverfassungsrechtliche Staatsfundamentalnormen von den dem Land hierfür zustehenden einfachgesetzlichen Möglichkeiten mit der Folge, daß Art. 70 ff. GG die Landeslegislative sehr wohl daran hindern könne, eigenen Verfassungsbestimmungen auf Gebieten einfachgesetzliche Wirksamkeit zu verleihen, die dem Zugriff des Landes von Bundesrechts wegen entzogen seien; sie erhalte durch die ausfüllungsfähigen Verfassungsaussagen keinen zusätzlichen Kompetenztitel. Auch mit diesen Einschränkungen ließe sich immer noch denken, daß die landesverfassungsrechtliche Vorschrift, wenn sie mit dem Grundgesetz so zusammenträfe, daß aus beiden eine Rechtsfolge für den konkreten Sachverhalt zu ziehen sei eben der Kollisionsfall - , neben der bundesrechtlichen Vorschrift "unanwendbar würde, aber voll in Geltung bleibe".33 Was damit gemeint sein sollte, erschloß sich aus der Entscheidung selbst jedenfalls nicht, denn auch eine landesrechtliche Vorschrift, deren Geltung von Bundesrechts wegen für gesetzliche Aktivitäten des Landes suspendiert war, war als Anknüpfungspunkt für die Zulässigkeit eines Verfahrens vor dem Landesverfassungsgericht entweder überflüssig - weil vom Gericht materiell nicht durchsetzbar - oder bundesstaatlich gefährlich - weil das Gericht entgegen der bundesrechtlichen Sperrwirkung im Einzelfall doch zur Aktivierung verleitend - . Faßte man den Gehalt dieser ersten und letzten zentralen Entscheidung zu Art. 31 GG zusammen, so ließ sich ein zwiespältiger Eindruck nicht unterdrücken. Dies war in erster Linie darauf zurückzuführen, daß der Senat glaubte, am falschen Objekt, nämlich inhaltlich nicht kollidierender Verfassungsbestimmungen, dogmatisch nicht genügend ausgereifte Schlußfolgerungen aus allgemeinen Grundsätzen herleiten zu müssen, und dies für einen Sachbereich, der in der Entscheidung allenfalls am Rande angesprochen wurde34. Der Kollisionsfall, mithin die Grundvoraussetzung für die Anwendung des Art. 31 GG, wurde vage umschrieben, nicht präzise definiert, und es wurden aus ihm vor allem nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen. In Wahrheit galt nämlich für das Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsrecht nichts anders, als Art. 31 GG für das Bundesrecht und Landesrecht allgemein bestimmte, nur daß Kollisionen, die im Einzelfall nachgewiesen werden mußten, in diesem Bereich mangels des gleichen

33

BVerfGE 36, 342 (366). Das Gericht brachte sein Unbehagen auch selbst darin zum Ausdruck, daß es, ohne dazu Veranlassung zu haben, darauf hinwies, die Auswirkungen dieser Entscheidung hielten sich in Grenzen; s. BVerfGE 36, 342 (367). Obwohl aus dem Tenor des Urteils ohne weiteres ableitbar, sollten die Fragen, wie Art. 31 GG sich auf das Verhältnis von einfachem Bundes- zu Landesrecht auswirkte, offen bleiben, da der Argumentationsrahmen im vorliegenden Fall spezifisch auf das Verhältnis von Bundes· und Landesverfassungsrecht angelegt war. 34

II. Art. 31 GG als Kollisionsentscheidungsnorm

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Adressaten höchst selten waren35. Sollten sie aber dennoch einmal auftreten, so konnte falsch verstandener Respekt vor gliedstaatlicher Staatlichkeit nicht dazu führen, die Einheit der bundesdeutschen Rechtsordnung durch feinsinnige grammatikalische Unterscheidungen in Art. 31 GG ("brechen" als Unvereinbarkeit, Nichtigkeit oder nur partieller Suspendierung) auszuhöhlen. Der gliedstaatlichen Verfassung wurde gewiß kein Dienst damit erwiesen, im Konfliktfall Normen zu enthalten, die zwar den allgemeinen landeskonstitutionellen "Verstehenshintergrund" 36 widerspiegelten, aber infolge bundesrechtlichen Vorrangs keinerlei normative Kraft für Gesetzgeber, Verwaltung und (auch Verfassungs-)Rechtsprechung mehr aufbringen konnten. Das Gericht schien die im Schrifttum diesbezüglich geäußerten Bedenken denn auch erstgenommen zu haben: Es griff in den wenigen seither ergangenen Entscheidungen nicht mehr auf grundsätzliche Erwägungen zu Art. 31 GG zurück, sondern ließ bundesrechtswidriges Landesrecht allein an den Kompetenzverteilungsbestimmungen des VII. Abschnitts des Grundgesetzes scheitern37. II. Art. 31 GG als Kollisionsentscheidungsnorm Die unübersehbaren Schwierigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Umgang mit Art. 31 GG rühren nicht zuletzt daher, daß die dogmatische Einordnung sowie der Anwendungsbereich dieser Vorschrift in der Lehre bislang kaum näher untersucht wurde. Abgesehen von der mit der Deutung einer Norm als prinzipielle oder rechtsgrundsätzliche Regelung immer verbundenen Problematik des aus ihr im Einzelfall mit Bestimmtheit abzuleitenden Rechtsgehalts38, hätte die unumgängliche Integration der Vorrangregel in

35

So zu Recht das Sondervotum von Geiger, BVerfGE 36, 342 (369 ff.), der aber zu Unrecht davon ausging, daß eine Kollision programmatischer Grundsatzaussagen per se nicht denkbar sei. 36 Krause, Verfassungsautonomie, S. 164. 37 So BVerfGE 51, 77 (89): Landesgesetz ist "mit dem Bundesrahmenrecht nicht vereinbar und deshalb nichtig"; s. aber ebd., S. 96: "Die aufgehobenen Entscheidungen beruhen auf einer mit Bundesrecht unvereinbaren, nach Art. 31 GG nichtigen ... Norm des Landesrechts." Sodann BVerfGE 61, 149 (208): nur Verletzung von Art. 70 GG. Variierend wiederum BVerfGE 66, 291 (302, 310): Landesrecht verstößt gegen Hochschulrahmenrecht "und ist damit nach Art. 31 GG nichtig". Anders wiederum BVerfGE 67, 299 (328): Landesrecht sei wegen Verstoßes gegen Art. 72 I GG nichtig; ebenso BVerfGE 77, 288 (289, 308); 78, 132 (144 f.). 38 Dazu (anhand des Art. 28 I GG) Kunig t Rechtsstaatsprinzip, S. 49 ff., 109. Es ist freilich nicht verwunderlich, daß dieses Defizit auch und gerade an Art. 31 GG festzumachen ist, an einer Vorschrift aus dem Bereich der bundesstaatlichen Aussagen des Grundgesetzes also, der von der Literatur, wenn der Eindruck nicht trügt, bislang - anders als etwa das Rechts- oder Sozialstaatsprinzip bzw. die demokratischen Aussagen der Verfassung - eher stiefmütterlich behandelt wurde. So gibt es heute, 40 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland, ebensowenig eine

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C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

den konkreten Verfassungskontext vor allem deshalb nahegelegen, weil die unreflektierte Übernahme dieser bundesstaatstraditionsbeladenen Vorschrift seit 1867 in drei, auf völlig unterschiedlichen Fundamenten ruhenden Konstitutionen die Vermutung stützt, ihr Aussagegehalt könne nicht unberührt von dem sie einbindenden Verfassungssystem geblieben sein, müsse sich daher gewandelt und somit in der RV 1870 einen anderen Aussagehalt gehabt haben als unter der Weimarer Reichsverfassung oder unter dem Grundgesetz. Dies güt zumal wegen des von Art. 31 GG nicht angesprochenen, ihm indes vorausliegendem und vorausgesetzten Rückgriffe auf Strukturen und Entstehungsbedingungen des einfachen Bundes- und Landesrechts: auch sie haben sich in ihrer dreifachen verfassungstextlichen Normierung seit mehr als einem Jahrhundert gewandelt. Wird freilich diesem, methodisch unter dem Gesichtspunkt einer systematischen Gesamtschau zusammengehöriger und thematisch verwandter Regelungen zu verortenden Desiderat Genüge getan, läßt sich auf seiner Grundlage dem Art. 31 GG das an Aussagehalt entnehmen, was ihm positivrechtlich, d.h. gerade unter dem Grundgesetz, eignet. Erst auf dieser Grundlage kann dann auch über das Rechtsgrundsätzliche dieser Vorschrift sichere Erkenntnis gewonnen werden. 1. Art. 31 GG als Kollisionsnorm Die bisherigen Ausführungen haben durchgängig und undifferenziert von "Normenkollision" gesprochen und somit den Eindruck erweckt, es handele sich dabei um einen kanonisierten, in seinem Bedeutungsgehalt verfestigten Rechtstatbestand, der für die Kollision von Bundesrecht und Landesrecht dieselbe Bedeutung beanspruche wie für das Zusammentreffen anderer "Rechte". Dieser damit zumindest angedeutete Eindruck einer Identität des Begriffs wird unterstrichen, überblickt man etwa die zu Art. 31 GG vorhandenen Lehrmeinungen im wissenschaftlichen Schrifttum: kaum einer der Autoren hält es für der Mühe wert, klarzustellen, was genau er unter einer Normenkollision versteht und ob dies tatsächlich die exakte und damit auch die einzige Funktion des Art. 31 GG ist. Dieses Unterlassen rührt vor allem von der allgemeinen Vorstellung von Normenkollisionen schlechthin her, denn sie sind bekanntlich kein nur oder auch nur spezifisch - bundesstaatliches Problem, ja nicht einmal ein solches vorzüglich des Staats- und Verwaltungsrechts. Wer im Zusammenhang mit Art. 31 GG von Normenkollision spricht, rezipiert vielmehr, ohne

monographische Darstellung des Bundesstaatsprinzips unter dem Grundgesetz wie etwa ein Lehrbuch des deutschen Bundesstaatsrechts (anders in der Schweiz). Immerhin besinnt sich die Lehre seit einiger Zeit zurück auf die Bedeutung der lange Zeit verschütteten Landesverfassungen nicht nur für das Gesamtverfassungssystem der Bundesrepublik, sondern auch für Eigenart und -wert der einzelnen Gliedstaaten.

II. Art. 31 GG als Kollisionsentscheidungsnorm

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sich darüber Rechenschaft abzulegen, die der allgemeinen juristischen Vorstellung eigene Begrifflichkeit. Normenkollision ist demnach das zu einem bestimmten Zeitpunkt konstatierte Zusammentreffen zweier gültiger Rechtsnormen (verstanden als Tatbestand und Rechtsfolge), das von der Unvereinbarkeit des von ihnen jeweils Gesollten oder Geforderten begleitet wird. Was die eine Norm postuliert, ist unvereinbar mit der Aussage der anderen, wobei es gleichgültig ist, ob dieser Konflikt ein ein- oder zweiseitiger, ein partieller oder totaler ist39. Eine Normenkollision liegt also nur, aber auch immer dann vor, wenn eine rechtsgültige Norm A in Bezug auf ihren Adressaten ein Verhalten befiehlt, das in Widerspruch zu dem von der rechtsgültigen Norm Β vom Adressaten Geforderten steht (z.B. Norm A: Die Todesstrafe ist abgeschafft [Art. 102 GG]; Norm B: Bei besonders schweren Verbrechen kann er [der Täter] zum Tode verurteilt werden [Art. 21 I 2 Hess. Verf.] 40). Die klassische Vorstellung von normativer Widersprüchlichkeit - es ist logisch unmöglich, beide Rechtsnormbefehle zu erfüllen oder ihnen zu gehorchen - ist solange unproblematisch, als die beiden Normen zu unterschiedlicher Zeit gelten und/oder unterschiedlichen Rechtssystemen angehören (etwa dem deutschen und den italienischen Recht oder dem deutschen und dem internationalen Recht), der zeitliche, sachliche und personale Geltungsbereich der konfligierenden Normen somit auf den Bereich des je eigenen Rechtssystems beschränkt ist41. Der Bedarf für die Lösung des Konflikts entsteht erst, wenn beide Normen Bestandteil desselben Rechtssystems werden, etwa wenn über Art. 24 I GG oder Art. 59 GG zwischenstaatliches bzw. internationales Recht in das deutsche Rechtssystem transformiert wird, oder wenn der deutsche Richter einen Sachverhalt zu entscheiden hat, in dem fremdes Recht, vermittelt durch deutsche Verweisungs- oder Kollisionsnormen, zwar grundsätzlich Anwendung findet, dieses dem deutschem Recht aber widerspricht. Rechtslogisch gesehen, kann dieser Konflikt in zweierlei Richtung befriedigt werden: durch sein Ignorieren mit der Folge, daß weder Norm A noch Norm Β Anwendung finden kann, das Rechtsproblem mithin auf anderen Wegen gelöst werden muß oder eben ungelöst im Raum stehen bleibt, oder durch Entzug der Rechtsgeltung bzw. durch Nichtanwendung entweder von

39 Zusammenfassend aus rechtstheoretischer Sicht Paulson , Problem, S. 490 ff. Bei der einseitigen Normenkollision involviert nur die Befolgung von Norm A (oder B) die Verletzung der Norm Β (oder A); bei der zweiseitigen Normenkollision hat jede der beiden Normen eine Verletzung der anderen zur Folge. Partiell ist die Normenkollision, wenn der Inhalt der einen Norm sich nur teilweise vom Inhalt der anderen unterscheidet, in allen anderen Fällen spricht man von totaler Normenkollision. Vgl. Kelsen, Theorie, S. 99 f.; Peczenik, Grundlagen, S. 124 ff. 40 Vgl. Isensee, Diskussionsbeitrag, W D S t R L 46 (1988), S. 121; parallele Problematik bei Art. 103 S. 3 Rh.-pf. Verf. 41 Zusammenfassend Weber, Qualifikation, S. 221 ff.

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C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

Norm A oder Norm B. Da der erstere Weg mit Rücksicht auf das Postulat der inneren Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung kaum gangbar ist, bedarf es grundsätzlich - gleichgültig ob im Einheits- oder im Bundesstaat - einer Auflösung der Normenkollision. Die Unvereinbarkeit der beiden Normaussagen wird auf der Ebene der Rechtsetzung dadurch behoben, daß der zuständige Gesetzgeber einen oder auch beide der konfligierenden Normen aufhebt und damit die Rechtssicherheit i.S.v. Rechtsgewißheit wieder herstellt42, oder daß er von der Konfliktlösung absieht im sicheren Vertrauen auf die Fähigkeit des Rechtsanwenders, insb. der Judikative, die Normenkollision selbst nach allgemeingültigen Grundsätzen aufzulösen. Die Lage des Richters ist hingegen eine andere. Da er infolge seiner Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 III, 97 I GG) nicht die Befugnis hat, von der Legislative rechtmäßig erlassene Gesetze aufzuheben, andererseits das zu lösende Rechtsproblem aber auch nicht mittels Verweigerung einer Entscheidung dahingestellt sein lassen kann, muß die Rechtsordnung selbst eine Antwort enthalten, die unabhängig vom jeweiligen Konflikt besteht: "Die Kollisionsnorm beantwortet noch nicht die Rechtsfrage, sondern aktualisiert erst eine Sachnormordnung, welche Sachnormen zur (positiven oder negativen) Beantwortung der Rechtsfrage bereit hält"43. Diese Antwort kann repressiv ausgestaltet sein, d.h. die Rechtsordnung nimmt Kollisionslagen abstrakt in Kauf, bietet aber für den konkreten Fall allgemeine Regeln zur Konfliktlösung an; sie kann statt dessen auch präventiv ausgestaltet sein und das Auftreten von Normenkollisionen überhaupt auf Ausnahmelagen oder nicht vorhersehbare Konstellationen eingrenzen. Der - aus der isolierten rechtstheoretischen Sicht der Kollision an sich denkbare - Weg, im Fall einer absoluten Unverträglichkeit zweier Rechtsnormen (Antinomie) die gegenseitige Aufhebung beider Vorschriften anzunehmen und ein rechtliches Vakuum entstehen zu lassen, muß dabei ausscheiden: der Richter ist eben kein Rechtstheoretiker 44.

Die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland hat, wie nun zu zeigen sein wird, beide Wege beschritten; sie beinhaltet eine kombinierte Kollisionsvermeidungsund KoWisionsentscheidungssiralegie. Wie der Haup

42 Diesem Zweck in erster Linie dienen die beim Erlaß neuer Gesetze in den Übergangs- und Schlußvorschriften enthaltenen Regelungen über die ausdrückliche Aufhebung ihrer Vorgängernormierungen; s. etwa § 199 BBG, § 66 BAföG. - Mitunter glaubt freilich auch der bestinformierte Gesetzgeber den Kreis der Altvorschriften, die mit der Neuregelung kollidieren, nicht mehr genau abgrenzen zu können. S. z.B. § 125 HandwO: (I) "Gesetze und Verordnungen ..., die mit diesem Gesetz in Widerspruch stehen, werden ... aufgehoben. (II) Insbesondere werden aufgehoben: ..."; ebenso § 65 II PBefG: "Am gleichen Tag treten den Bestimmungen dieses Gesetzes widersprechende oder den gleichen Gegenstand regelnde Vorschriften außer Kraft. Hierzu gehören insbesondere: ...". Zum ganzen auch Schneider, Gesetzgebung, Rdnr. 550 ff., 555. 43 44

Weber, Qualifikation, S. 223 f. Spiegel, Studien, Sp. 103 f.

II. Art. 31 GG als Kollisionsentscheidungsnorm

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anwendungsfall solcher Kollisionsregeln, das Kollisionsrecht schlechthin: das Internationale Privatrecht zeigt, besteht die Aufgabe der für einen Normenkonflikt vorhandenen Lösungen dabei in erster Linie darin, die Normenkollision zu vermeiden, und erst in zweiter Linie darin, sie zu entscheiden45. 2. Die Rangordnung von Rechtssätzen und deren Kollision Jede staatliche Rechtsordnung, auch die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, bildet insoweit eine geschlossene Einheit, als sie für jede aus der Realwelt an sie herangetragene Fragestellung, soweit diese rechtlich verfaßt ist, eine Antwort enthalten muß, aber auch immer nur eine Antwort enthalten darf. Dieses Prinzip der Einheit der Rechtsordnung gilt im unitarischen Staatsaufbau ebenso wie im föderativen 46; es weist zu letzterem allerdings eine besondere Beziehung in zweifacher Hinsicht auf. Es fungiert aus der Sicht des Rechtsanwenders, insbesondere des normgebundenen Richters, nicht weniger aus der Sicht des Rechtsadressaten, zumeist des Bürgers, als ein unverzichtbares Axiom: als Lehrsatz, der eines Beweises weder fähig noch bedürftig ist, weil er von jedermann allgemein anerkannt und als richtig zugegeben wird. Die Einheit der Rechtsordnung wird dabei als vorhanden unterstellt, etwa wenn der Rechtsanwender einer Normeninterpretation zumindest als Arbeitshypothese zugrundelegt, daß die einschlägigen Rechtsvorschriften nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern ihnen bis zu einem gewissen Grad das Prinzip innerer (Zu-)Ordnung eignet47. Den Charakter eines allgemeinen Postulats an den Rechtsanwender nimmt das Prinzip der Einheit der Rechtsordnung dann ein, wenn - wie bei der Lösung von Normenkollisionen - die Einheit zunächst vermißt wird und erst durch die Eliminierung von Norm- oder Wertungswidersprüchen kon-

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v. Bar, Internationales Privatrecht, Rdnr. 16; Keller / Siehr, Lehren, S. 131. Zur Rangordnung im (dezentralen, d.h. regionalisierten) Einheitsstaat - anhand Italiens - Italia , Deroga, insb. S. 5 ff., 81 ff. (Gesetzgebung); s.a. - anhand des spanischen Regionalismus - Busch, Autonomie, S. 260 ff. 47 Somló , Grundlehre, S. 381 ff. (381: Einheit der Rechtsordnung als systematischer Zusammenhang einzelner Normen, die nur als Ganzes verstanden werden können; 382: Grundsatz, daß es "in einer Rechtsordnung eigentlich keine Widersprüche geben kann"); Engisch, Einheit, S. 69; s.a. Lorenz, Methodenlehre, S. 234 f., 468 f. m.w.N. Zu den die Einheit der Rechtsordnung tragenden Gründen (Stufenbau der Rechtsordnung, Einheit des die Rechtsordnung tragenden Volkes, Wille der durch die Rechtsordnung erst konstituierten Gemeinschaft etc.) Engisch, ebd., S. 7 ff., 25; ablehnend und demzufolge nur wenige, hinter der nationalen Einigungsbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurückbleibende "gemeinsame" Materien zulassend Kalkbrenner, Rechtseinheit, S. 40 ff. (69 ff.), dessen sonderliche, ausschließlich am Subsidiaritätsprinzip orientierte Idealvorstellung im Ergebnis die Annäherung an "mittelalterliche" Zustände wäre (ebd., S. 75 m. Fn. 84). - Zur Unumgänglichkeit einer "relativen Autonomie von Teilrechtsordnungen" (Walz) vgl. Teubner, Recht, S. 123 ff. (138 f.). 46

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C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

struiert bzw. rekonstruiert werden muß48. Dieser Forderung nachzukommen und dadurch die grundsätzliche Steuerungsfähigkeit des Rechtssystems zu erhalten, ist eine Aufgabe der Lösung von Normenkonflikten. Eine andere ist es, das Ergebnis der Lösung vorhersehbar und berechenbar zu machen und somit der dem Verfassungsstaat des Grundgesetzes inhärenten Forderung nach Rechtssicherheit, d.h. nach Rechtsgewißheit und Willkürfreiheit zu entsprechen. Nicht erst im Einzelfall, sondern für alle denkbaren Fälle soll vorab und unabhängig davon in immer gleicher Weise geklärt werden, in welcher Richtung Normenkollisionen aufgelöst werden sollen49. Methodisch realisiert sich die Einheit der Rechtsordnung insoweit primär in der Präferenz einer den Wortlaut der Norm hinter sich lassenden systematischen und teleologischen Interpretation 50. Daß damit eine vollständige Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung nicht erreicht werden kann, die Auflösung der Normenkonflikte also immer nur einen Annäherungswert an die Idealvorstellung einer in jedem Stadium einheitlichen Rechtsordnung darstellt, versteht sich. Die Einheit der Rechtsordnung gerät in dem Augenblick in Gefahr, wenn die Setzung von Recht auf verschiedenen Ebenen des Staates stattfindet und von einer Vielzahl unterschiedlicher Organe getragen wird. Die Gefahr dabei auftretender Konflikte läßt sich zunächst vorbeugend dadurch vermeiden, daß den verschiedenen Rechtsetzungsorganen unterschiedliche, d.h. räumlich, sachlich, zeitlich oder personell voneinander abgesetzte und absetzbare Sachgebiete zur Normierung zugewiesen werden, die entweder dem einen oder dem anderen, niemals aber mehreren Organen zugleich zur Verfügung stehen können. Ein Beispiel hierfür ist etwa das Verhältnis von Bundesund Landesgesetzgebung (Art. 30, 70 ff. GG) oder von Rechtsetzung durch Gesetz und Verordnung (Art. 80 I 2 GG). Für den Fall, daß zwei Rechtssätze, die verschiedenen Rechtsetzungsorganen zuzurechnen sind, gleichermaßen Geltung beanspruchen und - aus der Sicht des Rechtsanwenders wie des Adressaten - denselben Tatbestand in voneinander abweichender Weise regeln, muß die Einheit der Rechtsordnung dadurch gewahrt werden, daß nur eine Norm angewandt werden darf, die ihr widersprechende Rechtsvorschrift also unberücksichtigt bleiben muß. Es bedarf somit der Derogation, d.h. der Aufhebung einer geltenden Norm durch eine andere in Geltung stehende Norm 51. Die darin liegende Auswahlentscheidung und die Auslösung der stets wiederkehrenden gleichen Rechtsfolge kann aber nicht den kollidierenden Normen selbst entnommen werden, da diese je für sich in

48

Engisch, Einheit, S. 69. Zusammenfassend anhand der Rechtseinheit in der Dritten Gewalt Schulte, Rechtsprechungseinheit, S. 18 ff. m.w.N. 49

50 Vgl. Lorenz, Methodenlehre, S. 319 ff., 345 ff.; Stern, Staatsrecht I, S. 131 ff.; Depenheuer, Wortlaut, S. 9 ff. m.w.N. 51 Grundlegend hierzu Kelsen, Theorie, S. 84 ff.; ders., Derogation, S. 339 ff.; ihm folgend Walter, Widerspruch, S. 80 ff.; s.a. Bydlinski, Methodenlehre, S. 572 ff.

II. Art. 31 GG als Kollisionsentscheidungsnorm

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gleicher Weise uneingeschränkte Geltung beanspruchen52. Es bedarf vielmehr einer dritten Norm, welche bestimmt, daß für den Fall einer Normenkollision die eine oder die andere der beiden Normen oder beide Normen ihre Geltung verlieren 53. Die Rechtsordnung muß demnach allgemeine Regeln dafür enthalten, welcher Norm, unabhängig von ihrem Inhalt, Vorrang einzuräumen ist. Ein Konflikt zwischen zwei Normen kann unter dem Grundgesetz in verschiedenen Konstellationen Zustandekommen. Er kann zum einen innerhalb der bundes- oder landesrechtlichen (Teil-)Rechtsordnung verbleiben und dabei zwischen zwei Normen der gleichen Rechtserzeugungsstufe oder zwischen einer Norm höherer und einer Norm niederer Stufe entstehen, wobei die Normsetzung zeitlich auseinanderfallen kann. Nach ihrer Form und der dahinterstehenden Rechtsetzungsautorität können Normenkonflikte Verfassungs-, Gesetzes- und Verordnungs- (sowie Satzungs-)Recht erfassen. Neben dieser vertikalen Ordnungsreihe steht eine horizontale 54, bestehend aus Bundesrecht und (11-fachem) Landesrecht als zwei verschiedenen, auf voneinander weitgehend unabhängigen Organen beruhenden (Teil-)Rechtsordnungen, deren Kreation und Fortbildung das Grundgesetz bei aller Gleichheit der verwendeten Formen (und mitunter auch Inhalte55) zwei eigenständig ausgestalteten Rechtsetzungsautoritäten überantwortet hat. Legt man diese vom Grundgesetz vorgegebene Duplizität der bundesstaatlichen Rechtssysteme einerseits, die hierarchische Stufung innerhalb des Rechtssystems andererseits und schließlich die der jeweiligen Normenkategorie immanente Möglichkeit einer voneinander abweichenden mehrfachen Regelung gleicher Sachverhalte auf gleicher Stufe zugrunde, so sind Kollisionen, d.h. Normwidersprüche 56 nicht nur möglich zwischen Rechtsnormen, die verschiedenen (Teil-)Rechtssystemen entstammen (z.B. Bundesverfassung ./. Landesverfassung; Bundesgesetz ./. Landesgesetz), sondern auch zwi-

52 Es liegt daher nahe, die Erklärung einer Norm als ganz oder teilweise dispositiv gegenüber anderen Normen der Fallkonstellation einer Kollisionsvermeidungs- und nicht einer Kollisionsentscheidungsnorm zuzurechnen; a.A. Kirchhof, Rechtsetzung, S. 491. 53 Kelsen, Theorie, S. 101; Ermacora, Derogationsproblem, S. 316 ff. 54 Die Unterscheidung in horizontale und vertikale Rechtssysteme dient im folgenden nur ihrer verdeutlichenden Differenzierung. Rechtsgrundsätzliche Aussagen, etwa in Richtung einer Gleichordnung von Bund und Ländern, lassen sich dem nicht entnehmen. Allenfalls im Sinn einer für die Systembildung sinnvollen, dogmatisch aber weitgehend unergiebigen Zusammenfassung gleicher Erscheinungen läßt sich sagen, daß erst Bundes- und (horizontal wiederum differenziertes) Landesrecht zusammen die (Gesamt-)Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ergeben, deren Einheit herzustellen und zu erhalten ist. 55 Vgl. etwa die Verwaltungsverfahrens- oder Verwaltungsvollstreckungsgesetze von Bund und Ländern oder ihre zumindest teilkongruenten Wahlrechtsbestimmungen. 56

Einzelheiten bei Walter,

Widerspruch, S. 19 ff., 49 ff.

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C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

sehen solchen, die demselben (Teil-)Rechtssystem, aber unterschiedlichen Rechtsetzungsautoritäten (z.B. Bundesgesetz ./. Bundesrechtsverordnung oder Bundessatzung), oder gar dem gleichem (Teil-)Rechtssystem und derselben Rechtsetzungsautorität zugeordnet sind (z.B. Bundesgesetz ./. Bundesgesetz). Widersprüche innerhalb der letzteren Kategorie, die angesichts der regen Tätigkeit der Normsetzungsorgane quantitativ überwiegen dürften, bereiten dem Rechtsanwender - jedenfalls in der Theorie - keine Schwierigkeiten. Folgt man der überkommenen Lehre, so sollen sie nach den bekannten, römisch-rechtlich tradierten allgemeinen Regeln (= einfaches Kollisionsrecht) dahingehend entschieden werden, daß - erstens - die später in Kraft getretene Rechtsnorm der früheren vorgeht (lex posterior derogat legi priori), und - zweitens - die speziellere Rechtsnorm gegenüber der allgemeineren den Vorrang hat (lex specialis derogat legi generali). Im Fall eines Zusammentreffens beider Konstellationen soll - drittens - der auch sachbezogene Aspekt gegenüber dem nur temporären den Vorrang genießen: die später in Kraft getretene, aber allgemeine Rechtsnorm vermag eine früher ergangene Spezialregelung nicht zu derogieren (lex posterior generalis non derogat legi priori speciali)57. Auf einer ganz anderen Ebene steht das in diesem Zusammenhang mitunter 58 genannte Prinzip praktischer Konkordanz. Während es sich bei den leges-Regeln um Grundsätze der KoWisionsentscheidung handelt, die den interpretativ nicht behebbaren Normenkonflikt zur ungeschriebenen Voraussetzung haben, ist das Prinzip praktischer Konkordanz59 ein Norminterpretationsgrundsatz zur Vermeidung von Kollisionslagen zwischen Vorschriften gleichen Ranges, insbesondere auf Verfassungsebene. Der Kollisionsfall kann hier also nicht auftreten, weü er bereits eine Stufe zuvor, auf der Auslegungsebene, zugunsten einer optimalen Wirksamkeit beider Normaussagen behoben wurde. Dieses Verfahren ist in erster Linie dazu bestimmt, der strukturellen und inhaltlichen Eigenart des Verfassungsrechts (mit seinen zahlreichen Rechtsgrundsätzen, Prinzipien, Staatsfundamentalnormen, Programmaussagen etc.) und seiner Interpretation gerecht zu werden60. Bei den (wie Art. 31 GG sprichwörtlichen) leges-Regeln handelt es sich allerdings, ohne daß dies bei ihrer Anwendung immer gedanklich reflektiert wird, nicht um apriori der Rechtsordnung unter dem Grundgesetz vorgegebene Grundsätze, die dem Rechtsanwender im konkreten Fall wie Normen zur Verfügung stünden61, sondern um aus hergebrachten, gleichgerichteten

57

Vgl. (ohne Begründung) Hensel, Rangordnung, S. 314; Maschke t Rangordnung, S. 8; aus rechtstheoretischer Sicht Peczenik, Grundlagen, S. 127 ff. 58 Etwa bei Ossenbühl t Quellen, S. 125. 59 Vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 72. 60 Hesse, Grundgesetz, S. 17 ff; s.a. Schneider, Gesetzgebung, Rdnr. 643. 61 So aber Maschke, Rangordnung, S. 8: "Voraussetzungscharakter für das Bestehen und die Weiterbildung jeder rechtlichen Ordnung"; ähnlich Hermann, Verhältnis,

II. Art. 31 GG als Kollisionsentscheidungsnorm

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Erfahrungen gewonnene Indizien, die am konkreten Normenkonflikt verifiziert werden müssen, aber auch falsifiziert werden können62. Die Anwendung der leges-Regeln für gleichrangige Normenkonflikte setzt voraus, daß die Entscheidung im Einzelfall den konfligierenden Normen, d.h. ihrem Aussagegehalt, selbst entnommen und die Konfliktlage auf dieser Ebene festgestellt werden muß. Erst wenn etwa das jüngere Gesetz den vom Gesetzgeber abstrahierenden, objektivierten Willen erkennen läßt, das ältere aufzuheben, kann die lex posterior-Regel Anwendung finden 63; gleiches gilt für das Verhältnis von generellen und speziellen Norminhalten64. Im Unterschied zur Normenkollision gleichrangiger Vorschriften sollen Konflikte zwischen Normen, die verschiedenen Rechtsetzungsautoritäten zuzurechnen sind, nach der Regel (= rangordnendes Kollisionsrecht) entschieden werden, daß die der höherrangigen Rechtsetzungsautorität entspringende Vorschrift der des niederrangigeren Normgebers vorgeht: lex

S. 2; Kirchhof, Rechtsetzung, S. 493 ("anerkannte Grundsätze der Rechtsordnung der Neuzeit"). 62 Grundlegend Engisch, Einheit, S. 47 ("nur bedingte Geltung"); Nawiasky, Rechtslehre, S. 92. - Man hat dabei freilich der Gefahr zu begegnen, ins andere Extrem zu verfallen und die Geltung der lex posterior-Regel nur dann zuzulassen, wenn eine besondere Rechtsnorm die Abänderbarkeit früheren Rechts ausdrücklich zuläßt. Diese, insbesondere von der Wiener rechtstheoretischen Schule um Merkl (Rechtskraft, S. 228 ff. u.ö.) vertretene Ansicht verkennt, daß jede Rechtsnorm ihren Geltungsgrund nicht in sich selbst trägt, sondern aus der hinter ihr stehenden Rechtsetzungsautorität herleitet. Eine Norm gewordene "Willensänderung" dieser Autorität kann daher nicht ohne Einfluß auf den Bestand älterer, nunmehr entgegengesetzter "Willensäußerungen" bleiben. Vgl. Engisch, ebd., S. 47 ff. m.w.N. 63 So schon Enneccerus / Nipper dey, Allgemeiner Teil, S. 287; Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5 16, Rdnr. 39-41. Ein Fall vorschnellen Rückgriffs auf die Rechtsvermutungsregel der lex posterior bei OVG Koblenz v. 18.9.1984 - 11 Β 43 / 84; 19.10.1984 - 11 Β 219 / 84 u.a.; 29.11.1984 - 11 Β 277 / 84, das dem Gesetzgeber zu Unrecht einen solchen Aufhebungswillen bezüglich der älteren Vorschrift unterstellte; dazu Laubinger, Asyl, S. 201 ff. (208 ff.). - Da in vielen Fällen ältere Rechtsvorschriften nicht ersatzlos aufgehoben, sondern durch neuere ersetzt werden, trifft die lex posterior hierfür zumeist selbst eine Regelung; z.B. §§ 233 ff. BauGB; § 136 U G BW. Allg. vgl. Schneider, Gesetzgebung, Rdnr. 550 ff. m.w.N. 64 Die Problematik liegt hierbei weniger in der rein sach- als in der auch zeitbezogenen Lösung des Normenkonflikts zwischen altem Allgemein- und neuem Spezialrecht. Gerade hier wird es darauf ankommen, mit besonderer Sorgfalt festzustellen, ob das spätere spezielle Gesetz seinem Inhalt nach wirklich die früher ergangene allgemeine Regelung im Einzelfall durchbrechen oder gar generell aufheben will. Anhaltspunkte für die Entscheidung der Kollisionslage gibt vor allem der funktionale Charakter der widersprechenden Norminhalte: Ein Ausführungsgesetz wird sich regelmäßig ebenso im Rahmen des "Grundgesetzes halten wollen wie ein planausfüllendes Gesetz gegenüber der allgemeinen planregelnden Vorschrift; vgl. Achterberg, Kriterien, S. 289 ff. (292 f.). Eine allgemeine verfassungsgebotene Selbstbindung des Gesetzgebers besteht - abgesehen von grundrechtsgebotenen Fällen - dabei nicht; s. Breuer, Selbstbindung, S. 101 ff.; Püttner, Rang, S. 322 ff.

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C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

superior derogat legi inferiori 65. Noch mehr als bei den o.a. gleichrangigen Normenkollisionen kann diese Regel nicht ohne Rückgriff auf die konkrete Rechtsordnung angewandt werden, da dieser die Aufgabe zufällt, die einzelnen Rechtsquellen und die jeweils dahinter stehende Rechtsetzungsautoritäten einander rangmäßig zuzuordnen, d.h. die Relation von "superior" und "inferior" festzulegen. Jede Rechtsordnung, die mehrere, der Form nach unterschiedene66 Rechtsquellen kennt, erscheint in dem Sinn als ein Stufenbau der Normen, daß alle Vorschriften, die auf einer niedrigeren Rangstufe stehen, ihren rechtlichen Geltungsgrund allein aus solchen Normen herleiten können, die einer höheren Rangstufe angehören. Dies ist indes ein rechtstheoretisches, der juristischen Logik und ihrer Dogmatik nur zugängliches Erkenntnis der Zurechenbarkeit einer Norm zu dieser oder jener Rangstufe; sie wird vermittelt durch das Kriterium, daß jede Rechtsnorm, die etwas über die Konstitutions- und Existenzbedingungen einer anderen Norm aussagt, als auf einer höheren Stufe der Rangordnung angesehen werden muß67. Das Grundgesetz enthält denn auch einige

65

Hensel, Rangordnung, S. 314; Nawiasky, Rechtslehre, S. 92 ff.; Keller / Siehr, Lehren, S. 174 f. Zu den genetischen Zusammenhängen gestufter Rechtsnormen und zur besonderen Bedeutung der Rangordnung für die Normerzeugung Eckhoff / Sundby, Rechtssysteme, S. 159 ff., 164 f. 66 Die der vertikalen Rangordnung zugehörigen leges-Regeln abstrahieren - anders als die Ordnungsindizien der gleichrangigen Kollision - vollständig vom Inhalt der Vorschriften. Für die rangmäßige Zuordnung ist allein die Form entscheidend, d.h. im Regelfall die dahinter stehende Rechtsetzungsautorität (Einschränkung etwa beim einfachen / verfassungsändernden Gesetzgeber). Unter dem Grundgesetz ist allerdings zu berücksichtigen, daß die vom Normgeber jeweils in Anspruch genommene Form (abgesehen vom zumeist nach oben hin abnehmenden Grad an Konkretheit des Norminhalts) regelmäßig ein dazu korrespondierender Inhalt zugeordnet ist. So trifft die Wesentlichkeitstheorie im Verhältnis Gesetz - Verordnung auch Aussagen darüber, was etwa im Grundrechtsbereich Inhalt der höherrangigen Norm sein soll; hingegen ist es, wenn man von Art. 19 I 1 GG absieht, für die Inanspruchnahme der Gesetzesform irrelevant, daß der Norminhalt eine unübersehbare Affinität zur Einzelfall- oder ad-hoc-Regelung aufweist (Maßnahmegesetz!). 67 Ross, Theorie, S. 360. - Die Wiener rechtstheoretische Schule hat diese Grenzziehung gelegentlich übersehen, indem sie das Erfordernis und Vorhandensein eines Stufenbaus der Rechtsordnung aus sich heraus, also ohne Rücksicht auf die konkrete gesetzliche Ausgestaltung der betroffenen Rechtsordnung postuliert hat. Wenngleich uns heute der dahinter verborgene ideologische Aspekt einer rechtsstaatlichen und demokratischen Strukturierung der Rechtsordnungen sympathisch erscheint (zu ihm Öhlinger, Stufenbau, S. 32 ff.) und viel zur Entideologisierung der monarchischen Staatsrechtslehre - insbesondere in Österreich - beigetragen hat (Krawietz, Recht, S. 133 f.), darf die Lehre von Merkl und Kelsen nicht vergessen lassen, daß es sich dabei um rechistheoretische Erörterungen handelt, die allgemeine Erklärungsmodelle darstellen, der geltenden Rechtsordnung des Grundgesetzes aber nicht unversehens als allgemeingültige Konstitutionsprinzipien untergeschoben werden dürfen. Zum Ideologieaspekt der Normenhierarchie Krawietz, Stufenbau, S. 255 ff.; differenzierend Behrend, Untersuchungen, S. 37: "Die Derogation stellt sich damit für die Stufen-

II. Art. 31 GG als Kollisionsentscheidungsnorm

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für die Feststellung der Rangordnung wesentliche Bestimmungen: in Art. 20 III GG den Vorrang des Gesetzes und die Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung; in Art. 25 GG den Vorrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts vor einfachem Gesetzesrecht; in Art. 80 GG die Bindung des Verordnungsgebers an eine - nicht nur formelle - Delegation durch das höherrangige Gesetz; in Art. 79 III GG schließlich die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers an bestimmte, nur dem pouvoir constituant zugängliche (vgl. Art. 146 GG), unumstößliche Verfassungsgrundsätze. Diese positivrechtlich vorgegebene Rangordnung, die die demokratietheoretisch fundierte Rangordnung der zugehörigen Rechtsetzungsautoritäten (Verfassungsgeber, Verfassungsgesetzgeber, Gesetz-, Verordnungsund Satzungsgeber) widerspiegelt, liegt der lex superior-Regel zugrunde, genauer: sie ersetzt die vage Indizienregelung durch ein festes formales Zuordnungsschema ("Normenpyramide"), dem sich alle Rechtsnormen unter dem Grundgesetz einzuordnen haben und das - abgesehen vielleicht von der rangmäßigen Zuordnung von Satzungsrecht - alle Rangordnungsebenen erfaßt. Die bundesstaatliche Kollisionsregel in Art. 31 GG läßt sich nun weder in das System der horizontalen noch das der vertikalen Rangordnung einfügen. Weder spielt die lex posterior-Regel für das Verhältnis von Bundes- zu Landesrecht irgendeine Rolle - sie gilt immer nur bei Normenkonflikten derselben Rechtsetzungsautorität, und diese ist bei Bundes- und Landesrecht notgedrungen verschieden68 - , noch kann Art. 31 GG - in der tradierten Sichtweise - als besondere bundesstaatliche Ausprägung der lex superiorRegel in Anspruch genommen werden, denn auch sie setzt die (hier immer fehlende) Zugehörigkeit der kollidierenden Vorschriften zu einer einheitlichen und aus einer "Grundnorm" abgeleiteten Rechtsordnung voraus. Bun-

bautheorie [Merkls] als ein Strukturphänomen dar, das nicht zu den begriffswesentlichen Grundvoraussetzungen des Rechts gehört, sondern das allein von der positiven Ausgestaltung eines realen Rechtssystems abhängig ist." 68 Hermann, Verhältnis, S. 11. Dies anhand der österreichischen und deutschen Verfassungsrechtslehre nachgewiesen zu haben, war das Verdienst der Wiener rechtstheoretischen Schule; vgl. Kelsen, Reichsgesetz, S. 202 ff.; dazu (und zur Problematik der "Rechtsautorität" bei Kelsen) Ermacora, Derogationsproblem, S. 324 ff. - Die damit unumgängliche teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs dieser Regel wird freilich nicht immer beachtet, auch nicht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Vgl. etwa BVerfG, D Ö V 1960, S. 23 m. zutreffender ablehnender Anmerkung von Zeidler, ebd. S. 25; zum Problemkreis allg. Renck, Anwendungsbereich, S. 770 f. - Insoweit ähnelt die Handhabung dieser kanonisierten Rechtsvermutungen der Verwirrung um den Anwendungsbereich des Art. 31 GG, zumal beide Regeln in ihrer sentenziösen Rechtsgrundsätzlichkeit gemeinsame Wurzeln haben. Treffend Quaritsch, Parlamentsgesetz, S. 18: "Als eingeschliffene Gewohnheitsregel ist der Satz 'lex posterior derogat legi priori' längst in Gefahr geraten, auch dort angewendet zu werden, wo die Vernunft seines rechtsdogmatischen Fundaments zum Unsinn mechanischen Subsumtionsdenkens wird — Sprichwörter sind allemal wirksame Reflexionsbremsen."

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C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

des- und Landesrecht bilden aber nur die Teilrechtsordnungen der Gesamtrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland69. 3. Art. 31 als Kollisionsentscheidungsnorm Gleichwohl weisen leges-Regeln und bundesstaatliche Kollisionsnorm eine wichtige Gemeinsamkeit auf: beide sind Ausprägungen formalen 70 und unselbständigen Rechts. Ebenso wie Art. 31 GG stellen die Regeln der lex specialis, der lex posterior und der lex superior nicht auf den Inhalt der konfligierenden Rechtsvorschriften dergestalt ab, daß sich ihm die zur Beurteilung des Kollisionsfalles erforderlichen Überlegungen und Gesichtspunkte auch nur andeutungsweise entnehmen ließen. Sie setzen das Vorliegen einer Normenkollision voraus, ja die Anwendung der leges-Regeln hängt allein hiervon ab, auch wenn der Norminhalt sehr wohl beachtlich sein kann, etwa bei der schwierigen Rangordnung allgemeiner und spezieller Rechtsvorschriften. Ihrem eigenen Tatbestand hingegen, d.h. ihren Anwendungsvoraussetzungen, stehen die leges-Regeln distanziert, ja unbeteiligt gegenüber; sie vermögen ihn weder zu erklären noch Kriterien für sein Vorliegen abzugeben. Den Kollisionsfall zu beurteilen, m.a.W. zunächst sein Vorliegen zu konstatieren, liegt außerhalb ihres Normbereichs. Ist die Kollision aber erst einmal festgestellt, vermögen sie diese, freilich abhängig von ihrem Typ, in bestimmter Richtung zu entscheiden, sie zugunsten der einen und damit zuungunsten der anderen Norm aufzulösen. Dies setzt aber voraus, daß der Kollisionsfall von außen an sie herangetragen wurde. Die leges-Regeln sind keine Kollisionsfeststellungsnormen, sie sind Kollisionsentscheidungsnormen. Wann und in welchem Umfang ein Normenkonflikt überhaupt vorliegt, ist allein den in Frage stehenden Rechtsvorschriften sowie den ihren Geltungsgrund bildenden höherrangigen Normen, den Rechtserzeugungsregeln, zu entnehmen. Gleiches gilt für die typologische Zuordnung zur Rechtsfolgenseite einer der leges-Regeln. Auch Art. 31 GG weist eine den leges-Regeln korrespondierende Normstruktur auf. Für die bundesstaatliche Kollisionsnorm ist es gleichgültig, auf welcher Ebene der Normenkonflikt angesiedelt, d.h. welche Normen welcher Rangordnungsstufe beteiligt sind und welchen Inhalt sie haben, solange es sich nur um die Kategorie "Bundesrecht" auf der einen, "Landesrecht" auf der anderen Seite handelt. Gleichermaßen unerheblich ist der Grund für das

69 Herzog, Bundes- und Landesstaatsgewalt, S. 82; Rudolf System, S. 74; Schmidt, Verhältnis, S. 274 f. - Selbst die Weimarer Staatsrechtslehre, die den Aussagegehalt des Art. 13 I WeimRV zugunsten der angeblichen zwingenden rechtsgrundsätzlichen Unterordnung der Länder unter das Reich strapaziert hatte, trennte die bundesstaatliche Kollisionsnorm streng von der lex superior-Regel. Vgl. Maschke, Rangordnung, S. 8 einerseits, S. 76 ff. andererseits. 70 Aubert, Hiérarchie, S. 198.

II. Art. 31 GG als Kollisionsentscheidungsnorm

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Zustandekommen der Kollisionslage: Art. 31 GG regelt ausschließlich die Rechtsfolgen eines bundesstaatlichen Normenkonflikts, dessen Feststellung jenseits des Normbereichs dieser Vorschrift liegt. In welchen Fällen und bei welchen Konstellationen Bundesrecht den Vorrang vor Landesrecht beanspruchen kann, ist nur einer Beurteilung der beteiligten Rechtsvorschriften zugänglich, und allein ihrer Prüfung kann die Feststellung des Kollisionsfalles entnommen werden. Art. 31 GG ist somit ebenfalls (nur) eine Kollisionsentscheidungsnorm. Das Grundgesetz kennt freüich neben Kollisionsentscheidungsnormen auch andere Rechtsvorschriften mit kollisionsrechtlichem Gehalt. Im Bereich der für Art. 31 GG relevanten Rechtsetzung in differenzierten Formen durch unterschiedliche Organe enthält die Verfassung spezielle Bestimmungen, deren Sinn u.a. auch darin besteht, Kollisionen im bundesstaatlichen Rechtsverhältnis erst gar nicht auftreten zu lassen, d.h. die Anwendung der bundesstaatlichen Kollisionsnorm partiell entbehrlich zu machen71. Solche Kollisionsvermeidungsnormen sind vor allem die im VII. Abschnitt des Grundgesetzes72 angesiedelten Kompetenztypen (in Verbindung mit den ihnen zugeordneten Kompetenzkatalogen), welche die Regelung bestimmter benannter Sachbereiche dem Bund, den der staatlichen Rechtsetzung sonst zugänglichen, unbenannten Bereich den Ländern zuweisen (Art. 70, 73-75 GG), und die für den Fall konkurrierender Gesetzgebungszuständigkeiten eine personale, sachliche, räumliche und/oder temporäre Abgrenzung festlegen (Art. 71, 72, 75 GG). Solche Kollisionsvermeidungsnormen sind aber auch einzelne Rangordnungsvorschriften, etwa Art. 25 GG73. Nur die bundesstaatlichen Kompetenzvorschriften (aber auch alle diese), die zugleich Kollisionsvermeidungsnormen sind, erheben den Anspruch, die Zuständigkeit zur Regelung bestimmter Sachbereiche dergestalt auf verschiedene Rechtsetzungsautoritäten derselben Ordnungsstufe zu verteilen, daß ein Rest nicht übrigbleibt, die Normierung aller regelungsfähigen Lebenssachverhalte also eindeutig entweder der Bundes- oder Landeslegislative zugewiesen ist. Telos dieser Verteilung, die eine Hauptaufgabe jeder bundesstaatlichen Verfassung bildet74, ist grundsätzlich kein Nebeneinander, kein sowohl-als auch, sondern ein entweder-oder: tertium non datur.

71

Dazu Kirchhof Rechtsetzung, S. 487 ff. Hierzu zählt aber auch: die Verteilung der Veiwaltungs- (Art. 84 I, V, 85 I GG) und Finanzgesetzgebung (Art. 105 GG) sowie der Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a II GG), die Zuordnung der Rechtsetzung im Bereich der Rechtsprechung und Justizverwaltung (Art. 98 III, 99 GG), die Ermächtigung zur ausschließlich bundesrechtlichen Regelung des Parteienwesens (Art. 21 III GG) etc. 73 Vgl. Rojahn, in: von Münch, GGK, Art. 25 Rdnr. 16; Maunz, in: Maunz-Dürig, Art. 25, Rdnr. 22 ff., 26. 74 Dazu die vergleichende Darstellung bei Bothe, Kompetenzstruktur, S. 128 ff. m.w.N. 72

110

C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

In all den Fällen, in denen das Grundgesetz diesen Ansatz zu trennscharfer Benennung bestimmter gesamtstaatlicher Legislativkompetenzen durchgehalten hat, das Vorhandensein von Doppelzuständigkeiten für identische Sachbereiche also von vorneherein ausschließt, ist offenkundig für eine Anwendung der bundesstaatlichen Kollisionsnorm kein Raum, weil der zur Rechtsfolge dieser Vorschrift gehörende Tatbestand hier nie auftreten kann, eine Normenkollision somit ausgeschlossen ist. Mit anderen Worten: Sollte das Grundgesetz alle Rechtsetzungsbereiche, angefangen von den organisations· und grundrechtlichen Aussagen der Verfassung bis zu den Legislativzuständigkeiten durch abschließende universale bundesstaatliche Kollisionsvermeidungsnormen geordnet haben, verbliebe für Art. 31 GG kein Anwendungsfall mehr — er wäre in dieser Beziehung überflüssig. Ob und ggf. inwieweit dies in der Tat der Fall ist, ist für die einzelnen Bereiche der Rechtsetzung ebenso zu untersuchen wie für die jeweiligen Rechtsetzungsautoritäten und Kompetenztypen. 4. Normenkollision

und Kompetenzkollision

im Bundesstaat

Die oben gegebene Definition der Normenkollision unterscheidet nicht nach Inhalt, Struktur und Typus der konfligierenden Normen. Sie fordert allein das Vorliegen von "Normen" schlechthin und hat insoweit kategorischen Charakter. Die Rechtsordnung unter dem Grundgesetz kennt nun eine Vielzahl unterschiedlicher Normtypen und -strukturen. Verfassungspolitische, Legitimation herstellende und erhaltende Programmsätze (etwa in der Präambel) stehen neben strikt anzuwendenden Vorschriften; für alle staatliche Gewalt (Art. 1 III GG) bindende Grundrechte (Art. 1-19, 101 ff. GG) treten neben Staatsstrukturprinzipien (Art. 20 GG), Ordnungsgrundsätze (Art. 21, 24, 26 GG), Rangordnungs- und Homongenitätsgebote (Art. 25, 28, 31 GG), Organisationsvorschriften (insb. des III. - VII. Abschnitts) und Kompetenzverteilungsnormen (insb. Art. 70 ff. GG)75. In allen diesen Bereichen können bundesstaatliche Normenkonflikte auftreten: Landesgrundrechte können gegenüber dem Grundgesetz mehr, gleich viel oder auch weniger Freiheitsraum gewähren76, Staatsstrukturprinzipien können auf Bundes- und Landesebene differierende Bedeutungsgehalte aufweisen 77, Organisationsgrundsätze des Bundes können Zweifel über die Zulässigkeit authentisch

75

Zur Kompetenznorm allg. Eckhoff / Sundby, Rechtssysteme, S. 75 ff.; Stettner, Grundfragen, passim. 76 Vgl. nur Art. 142 GG. 77 Vgl. z.B. die nach Gesamt- und Gliedstaaten unterschiedene Auslegung des Demokratieprinzips, soweit daraus Folgen für die Zulässigkeit direkt-demokratischer Elemente (Volksbegehren, Volksentscheid) abzuleiten sind; hierzu Hofmann, Spaltung, S. 281 ff. Vergleichbares gilt für die interpretative Spannweite des Grundsatzes der parlamentarischen Demokratie (Status der geschäftsführenden Regierung) oder des demokratischen Repräsentationsgrundsatzes (Bay. Senat).

II. Art. 31 GG als Kollisionsentscheidungsnorm

111

interpretierender oder ergänzender Landesregelungen aufkommen lassen78, Landesgesetze können den ihnen von Art. 70 ff. GG eröffneten Sachbereich überschreiten. Würde man die sprachliche Prägnanz von Art. 31 GG überbewerten und bei einer bloßen Wortlautinterpretation stehenbleiben, so wären grundrechtlich veranlaßte Normenkollisionen genauso zu behandeln wie Normenkonflikte im Bereich der Gesetzgebungszuständigkeiten oder der Staatstrukturprinzipien. Dieser Ansatz würde indes die unterschiedliche Struktur dieser Rechtsnormtypen verkennen. Wie Grundrechte nach anderen Interpretationsgesichtspunkten auszulegen sind als bundesstaatliche Kompetenzvorschriften 79, zeigen sich differierende Auslegungstopoi auch im Bereich der Staatsstrukturprinzipien 80. So mag etwa der Grundsatz der parlamentarischen Regierung im Bund für das Vertrauenserfordernis einer geschäftsführenden Regierung andere, strengere Maßstäbe beinhalten, als dies für ein Bundesland der Fall ist81. Auch das Zusammentreffen von Bundes- und Landesgrundrechten behandelt das Grundgesetz anders (Art. 142 GG) als Kompetenzkonflikte zwischen Bundes- und Landesgesetzen (Art. 31, 70 ff. GG). Ohne dem - zugegeben mysteriösen - Regelungsgehalt dieser Übergangs- und Schlußbestimmung bereits jetzt in allen Einzelheiten nahezutreten, zeigt Art. 142 GG zumindest, daß im Bereich der Grundrechte andere, besondere Maßstäbe gelten können: daß Bestimmungen der Landesverfassungen auch insoweit erhalten bleiben sollen, als das Grundgesetz entsprechende Freiheitsgarantien enthält und den Status des einzelnen auch gegenüber dem landesrechtlichen Zugriff bereits von Bundes wegen sichert. Indem der Verfassungsgeber - zu Recht oder infolge Verkennung der rechtlichen Lage, sei noch dahingestellt - von der Notwendigkeit dieser Vorschrift ausgeht, gibt er zu erkennen, daß seinem Verständnis nach Art. 31 GG ("ungeachtet") dieses Ergebnis, für sich genommen, nicht tragen würde, weü infolge der Fortwirkung und Rezeption Weimarer Staatsrechtsdenkens die parallele Bestimmung in Art. 13 I WeimRV auch gleichlautendes Landes(verfassungs-)recht der Derogation durch Reichsrecht verfallen ließ82. Der dahinterstehende, von der positivistischen Lehre wie von den "Verfassungsvätern" des Grund-

78

Vgl. die widersprechenden Stellungnahmen der Lehre zum abschließenden und damit das Landesverfassungsrecht ausschließenden - Charakter der Art. 50 f. GG - Stichwort "Einfluß der Landesparlamente auf die Willensbildung der Bundesratsmitglieder"; dazu einerseits Heyen, Bundesrat, S. 191 ff.; andererseits Scholz, Landesparlamente, S. 831 ff. 79 Zur funktionalen Rückbindung der Interpretation von Verfassungsnormen BVerfGE 6, 55 (72); 39, 1 (38); 51, 97 (110) - Grundrechte; BVerfGE 7, 29 (44); 26, 246 (254); 61, 149 (175 f.) - Gesetzgebungskompetenzen. 80 Dazu (anhand des Rechtsstaatsprinzips) Küttig, Rechtsstaatsprinzip, S. 63 ff.; (anhand des Sozialstaatsprinzips) Zacher, Staatsziel, Rdnr. 80 ff. 81 Vgl. BVerfGE 27, 44; ablehnend Häberle, "Landesbrauch", S. 200 ff. m.w.N. 82 Anschütz, Verfassung, Art. 13, S. 103 f. Zu Art. 142 GG s.u. S. 192 ff.

112

C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

gesetzes nicht reflektierte Gedanke war die Zugrundelegung einer ungeschriebenen Zuständigkeitsverteilung auch im Bereich der Grund- und Freiheitsrechte. Die gleichlautenden Landesgrundrechte mußten zurücktreten, weil der Gesamtstaat diesen Bereich bereits in Anspruch genommen, d.h. seine diesbezügliche Kompetenz betätigt und damit die vielzitierte "Sperre nach vorwärts" (Anschütz) ausgelöst hatte. Ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, ging diese Interpretation von einer ausschließlichen Zuständigkeit des Gesamtstaats zur Garantie von Grundrechten aus. Unter dem Grundgesetz kann dieser Ansatz schon deshalb keine Geltung beanspruchen, weil heute anerkannt ist, daß Grundrechte keine bundesstaatlichen Kompetenzvorschriften sind, sondern allenfalls vorhandene Kompetenzen inhaltlich beeinflussen können. Sie sind nicht kompetenzbegründend, sondern kompetenzmoderierend und -modifizierend 83. Es gibt für diese Kategorie von Normen keine geschriebene oder ungeschriebene Zuständigkeit gerade nur des Bundes. Anders hingegen die bundesstaatlichen Kompetenzverteilungsvorschriften: Ihre, sie von anderen horizontalen, in der eigenen (Teil-)Rechtsordnung verbleibenden Zuständigkeitsnormen (etwa denen des III. - VI. Abschnitts des Grundgesetzes) unterscheidende Struktur besteht darin, den grundsätzlich unbeschränkten Bereich der Sachmaterien, die sich zur Rechtsetzung eignen, zwischen Bund und Ländern aufzuteilen, und zwar alternativ. Ein und dieselbe Befugnis zur Rechtsetzung kann nur dem Bund oder den Ländern offenstehen 84. Es handelt sich bei den Zuständigkeitsverteilungsvorschriften - vornehmlich des VII. Abschnitts - um den Grundtypus der bundesstaatlichen Kornpetenznorm, d.h. die den Staatsorganen im Gesamt- oder Gliedstaat von Rechts wegen eingeräumte Handlungsmacht, in Erfüllung bestimmter zugewiesener Aufgaben hoheitliche Akte festgelegter Art zu setzen85. Im Bereich der Art. 70 ff. GG bedeutet Kompetenz das Recht des jeweils zuständigen Bundes- oder Landesgesetzgebers, bestimmte Sachbereiche in eigener Regie und unabhängig vom Legislativorgan der anderen Ebene zu normieren, d.h. die ihm zugewiesene Materie rechtlich zu besetzen und damit alle anderen Rechtsetzungsorgane von einer Normierung auszuschließen. Legislative Rechtsetzungszuständigkeiten sind im Bundesstaat des Grundgesetzes immer

83

Dies gilt bekanntlich im gleichen Maß auch vom Grundsatz der Bundestreue; s. Bethge, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 258. 84 Imboden, Bundesrecht, S. 34; Merkt, Kompetenzverteilung, S. 337. 85 Stettner, Grundfragen, S. 35; Widmer, Normkonkurrenz, S. 13 f., der zu Recht darauf hinweist, daß für den Bereich des Bundesstaatsrechts ein spezifisch föderaler Kompetenzbegriff ausreichend ist, der auf die Berechtigung, nicht auch auf die Verpflichtung zur Wahrnehmung hinweist; a.A Huber, Kompetenzkonflikt, S. 2: Zuständigkeit als die "staatlichen Funktionen, die einem Organ zugeteilt sind und die zu versehen es verpflichtet ist." - Kompetenz und Zuständigkeit werden im folgenden, der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgend, synonym gebraucht; vgl. BVerfGE 3, 407 (428); 12, 205 (228); 26, 281 (297); 42, 20 (28) u.ö.

II. Art. 31 GG als Kollisionsentscheidungsnorm

113

alternativ, nie kumulativ ausgestaltet. Ihre Inanspruchnahme kann vom Gesetzgeber nur dadurch gerechtfertigt werden, daß gerade er und nur er für einen im Grundgesetz benannten (Art. 73, 74 GG) oder unbenannten (Art. 70 GG) Lebenssachverhalt zuständig ist. Die Besonderheit der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung zwingt demzufolge zu einer Variierung, genauer: zu einer Differenzierung der obigen Aussagen zur Normenkollision, die auf den unitarischen Staatsaufbau zugeschnitten sind. Während der Fall unproblematisch ist, daß Bundes- und Landesgesetzgeber sich gleichzeitig derselben Sachmaterie annehmen und widersprechende Regelungen treffen - unstreitig ein Fall des Normenkonflikts - , muß die Normenkollision unter föderativem Vorzeichen dahingehend erweitert werden, daß auch im Fall gleichlaufender, sich nicht widersprechender Inanspruchnahme einer Sachmaterie durch Bundes- und Landesgesetzgeber grundsätzlich eine Kollision vorliegen kann, und zwar keine Normenkollision i.e.S. - Norm A und Norm Β stehen nicht in Widerspruch zueinander, denn sie besagen im Blick auf den Adressaten das Gleiche - , sondern eine Kompetenzkollision. Beide Legislativorgane behaupten durch ihre Normierungen die Zuständigkeit für ein Sachgebiet, nur ein Organ kann dies aber zu Recht in Anspruch nehmen. Falls die bundesstaatliche Zuständigkeitsverteilung real konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeiten kennen sollte, ist es erforderlich, den Anwendungsbereich des bundesstaatlichen Kollisionsrechts dahingehend zu erweitern, daß auch Kompetenzkollisionen (= Kompetenzkonkurrenzen) erfaßt werden. Dieses seit Weimar vertraute Ergebnis kann nicht überraschen, wohl aber seine dogmatische Absicherung, ist doch die wohl umstrittenste Frage zu Art. 31 GG die nach dem Schicksal von mit Bundesrecht übereinstimmendem Landesrecht. Ihre Beantwortung ist im Ergebnis so kontrovers wie die Begründung hierfür pro und contra unzureichend, weil zu undifferenziert. Die "Unitarier" 86 lassen inhaltsgleiches Landesrecht ohne Unterscheidung nach seiner normenhierarchischen Zuordnung der Derogation des Art. 31 GG verfallen, vornehmlich im Rückgriff auf die herrschende Lehrmeinung zu Art. 13 I WeimRV und die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, soweit sie Art. 31 und 142 GG betrifft. Beide Argumentationslinien tragen nicht weit. Anders als manche Mitglieder des Parlamentarischen Rats glau-

86 Zur Meinungsbildung bis zu den 60er Jahren vgl. Bernhardt, in: BK, Art. 31, Rdnr. 35, der Art. 31 GG und die Kompetenzverteilungsvorschriften des VII. Abschnitts des GG nicht auseinanderhält. - Uberblickt man die Vielzahl der hierzu seit 1949 geäußerten Meinungen, so lassen sie sich bis in die 70er Jahre in der Tat zwei großen, in sich weitgehend homogenen Lagern zuordnen — ein Schulbeispiel für die nur an Einheitlichkeit und Eindeutigkeit orientierte Bundesstaatsrechtslehre, die den eigentlichen Bezugspunkt ihres Bemühens, die Einordnung des traditionsbeladenen Art. 31 in die Besonderheiten des grundgesetzlichen Rechtssystems, in diesem Fall weitgehend aus den Augen verloren hat. Das untereinander verbindende Glied ist vielmehr, aufs Ganze gesehen, die Anhänger- bzw. Gegnerschaft zu föderalistischem Gedankengut an sich, nicht zu seiner konkreten staatsrechtlichen Ausprägung.

114

C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

ben machen wollten87, hatte Art. 13 I WeimRV in dieser Hinsicht keinen "fest umrissenen" Inhalt88. Gewiß, hinter der rezipierten Lehre stand das unübersehbare Gewicht des "Kirchenvaters" des Weimarer Staatsrechts, aber seine Inanspruchnahme war so unproblematisch nicht, denn Anschütz bezog sich in erster Linie auf das Verhältnis von Reichsgereß: und Landesrecht, also auf die Gegenstände der bundesstaatlichen Kompetenzverteilungsvorschriften in Art. 6 ff. WeimRV. Sein Anliegen galt der Normenkollision auf der einfachgesetzlichen Ebene, was schon daraus erhellt, daß Anschütz die betreffenden Passagen wortwörtlich aus einschlägigen Veröffentlichungen des Kaiserreichs übernommen hatte89, wo sie der von den Föderalisten um v. Seydel behaupteten doppelten, d.h. parallelen Gesetzgebungsgewalt des Gesamt- und Gliedstaats begegnen sollten. Das Verdikt über inhaltsgleiches Landesrecht war aber keineswegs unbestritten90. So fand Anschütz z.B. in Nawiasky 91, Stier-Somlo 91 und Hensel 93 lebhaften und begründeten Widerspruch, der an der doppelten Garantie von Reichs- und Landesgrundrechten, also an der Verfassungsebene, festmachte und deren Bedeutung für die gliedstaatliche Verfassungsausstattung ebenso hervorhob wie den Mangel an einschlägigen Kollisionsfällen. Die Derogationsgegner schössen dabei freilich über das Ziel hinaus, wenn sie auch auf der einfachgesetzlichen Ebene entgegen Art. 12 WeimRV inhaltsgleiches Landesrecht zulassen wollten94 und den besonderen Fall der bundesstaatlichen Normenkollision in Form der

87

So die Behauptung des Abg. von Brentano, in: Parlamentarischer

Rat, Bericht,

S. 78. 88

Hierzu in erfrischender Deutlichkeit der BayVerfGH in seiner Stellungnahme zu BVerfGE 36, 342 ff., BayVerfGHE NF 23, 1 ff. (4). - Dies gilt in gleicher Weise für den Zusammenhang zwischen der Rechtsfolge des Art. 13 I WeimRV und der Lehre von der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze; vgl. Schneider, Funktion, S. 76, 84. 89 Vgl. Anschütz, Staatsrecht, S. 160; Meyer ! Anschütz, Lehrbuch, S. 715 ff. 90 Anschütz folgend etwa Giese, WeimRV, Art. 13 Anm. II 1; ders., Staatsrecht, S. 113; Gebhard, Verfassung, Art. 13 Anm. 3b. Beide Autoren meinten ausdrücklich nur den Fall, kollidierenden Gesetzesrechts, d.h. den Bereich, den vor allem Art. 12 WeimRV erfaßte. 91 Nawiasky, Bay. Verfassungsrecht, S. 347 f. 92 Stier-Somlo, Reichs- und Landesstaatsrecht, S. 380; ähnlich Wittmayer, Reichsverfassung, S. 208 m. Fn. 118. 93 Hensel, Rangordnung, S. 321 m. Fn. 19. Das von ihm herangezogene Beispiel trug freilich nicht. Wenn Hensel sachlich übereinstimmendes Reichs- und Landesrecht für miteinander "vereinbar" erklärte, weil auch sachlich übereinstimmendes Verfassungs- und Gesetzesrecht zulässig sei, so hatte dies mit der verbandskompetentiell eingekleideten Fragestellung des Art. 13 WeimRV nicht zu tun, denn hier blieb das Reich bzw. Land innerhalb seiner Verbandskompetenz, nur die jeweilige Organkompetenz konnte fraglich sein. 94 Stier-Somlo, Reichs- und Landesstaatsrecht, S. 380: "Die Landesrechtsnorm, die die Reichsrechtsnorm bestätigt, ist nicht ungültig..., weil es hier nichts zu 'brechen' gibt".

II. Art. 31 GG als Kollisionsentscheidungsnorm

115

Kompetenzkollision dabei übersahen. Sie verwahrten sich zwar zu Recht gegen die pauschale Herleitung des reichsrechtlichen Vorrangs vor Landesrecht aus Erwägungen eines grundsätzlichen bundesstaatlichen Vorrangs des Reichs vor den Ländern, verneinten aber zu Unrecht die Bedeutung des Art. 13 I WeimRV für Kollisionsfälle, die auf einfachgesetzlicher Ebene auftraten und einen Widerspruch insoweit beinhalteten, als beide Rechtsvorschriften ohne inhaltliche Divergenz einen identischen Sachbereich zu regeln behaupteten, der indes entweder nur dem Reich oder nur den Ländern zugewiesen war. Der Übersteigerung des unitarischen Bemühens um Rechtseinheit, verstanden als Rechtseinheitlichkeit um jeden Preis, begegnete das kräftig artikulierte, der Sache nach mitunter überzogene und deshalb in seiner Durchsetzungskraft geschwächte Geltungsbedürfnis des Gliedstaats, eigenständige und mitunter (partei)politisch gegenläufige Rechtsetzung zu betreiben. Da beide Parteien in bester positivistischer Manier Art. 13 I WeimRV allzu wörtlich nahmen, war ihnen eine Differenzierung nach Norminhalt und Normrang, die den gordischen Knoten inhaltsgleichen Rechts im Bundesstaat hätte durchschlagen können, verschlossen. Was demnach die Abgeordneten der verfassungsberatenden Versammlung 1948/49 vorfanden und als scheinbar gesicherte bundesstaatliche Wahrheit übernahmen, war nur eine Lehrmeinung, freilich die seinerzeit überwiegende. Art. 142 GG war dementsprechend in der historischen Interpretation des Art. 31 GG, wie sie in den Anfangsjahren des Grundgesetzes dominierte95, eine partielle Korrektur einer ansonsten mit inhaltlicher Gewißheit versehenen, selbstverständlichen Regelung im Bundesstaat. Inhaltsgleiches Landesrecht, gleich welchen Aussagegehalts und Rangs, sollte neben entsprechendem Bundesrecht keinen Bestand haben, gleichgültig ob es sich dabei um die Inanspruchnahme einer Gesetzgebungskompetenz, eine besondere grundrechtliche Verheißung für den Landesbürger oder um eine verfassungsgestaltende Grundsatznorm handelte. Dem Kollisionsfall selbst, den für Art. 31 GG immer erforderlichen Normwiderspruch wurde dabei im einzelnen nicht nachgegangen; er wurde dadurch fingiert, daß man vorab methodisch im Weg eines Umkehrschlusses - aus Art. 142 GG eine Ausnahme von der Regel des Art. 31 GG herauslesen zu müssen glaubte und damit folgerichtig die in der grundrechtlichen Sondervorschrift angelegte Konstellation inhaltlich gleicher Rechtsvorschriften für alle anderen Fälle in Abrede stellte. Die Ausnahme bestimmte das inhaltliche Bild der Regel, nicht aber wurde die Regel erklärt, um aus ihr eine Deutung der Ausnahme abzuleiten: eine typische Interpretationsinversion. Was im grundrechtlichen Bereich aus föderalistischer Rücksicht auf die 1949 bereits vorhandenen Landesverfassungen noch angehen mochte, sollte dem Gliedstaat in allen anderen Bereichen nicht offenstehen, gleichgültig ob eine Normenkolli-

95

Vgl. Holtkotten, in: BK, Art. 142, Anm. II; dazu allg. Nitsche, Auslegung, S. 71: Aus der ultima ratio der nur historischen Auslegungstechnik drohte unversehens ein primum argumentum zu werden.

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C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

sion tatsächlich vorlag oder im Weg eines nicht bewiesenen und auch gar nicht beweisbaren Rückschlusses unterstellt wurde96. Demgegenüber hatten die "Föderalisten" einen schweren Stand, zumal sie sich, anstatt die rigide Pauschalität der ohne inhaltliches Ansehen der "kollidierenden" Vorschriften vorgenommenen Derogation anzugreifen, auf das Grundsätzliche des Art. 31 GG einließen und dieses zu widerlegen versuchten. Vor allem der "unbestreitbar föderalistische und länderfrendliche Grundton" des Grundgesetzes wurde dafür ins Feld geführt 97, daß mit Bundesrecht übereinstimmendes Landesrecht in seiner Bedeutung zwar abgeschwächt - weü materiellrechtlich eigentlich überflüssig - , aber in verfassungsprozessualer Hinsicht noch von Bedeutung sei. Die prozeßrechtliche Eröffnung von Rechtsschutz vor Landesverfassungsgerichten sollte also der Grund sein für die Aufrechterhaltung von (zugestanden materiell unnötigen) landesrechtlichen Vorschriften — eine zumindest sonderbare Umkehrung des Verhältnisses von materiellem Recht und Prozeßrecht. Art. 142 GG wurde dementsprechend als nur deklaratorische Regelung eines in Art. 31 GG schon enthaltenen Rechtsgedankens uminterpretiert. Seine eigentliche Bedeutung sollte jetzt darin liegen, zugunsten des Landesbürgers ein Mehr an Grundrechtsschutz offenzuhalten. Wie dies mit der von Art. 142 GG geforderten "Übereinstimmung mit den in Art. 1 bis 18 dieses Grundgesetzes" harmonieren sollte, überließ man der Auslegungskunst des Rechtsanwenders98. Alle diese Deutungsversuche, seien sie unitarisch oder föderalistisch getönt, beruhen auf dem unreflektierten Rückgriff auf das Grundsätzliche des Art. 31 GG, das pro und contra inhaltsgleiches Landesrecht ins Feld geführt wird, ohne seinerseits zuvor grundsätzlich geklärt zu werden. Der Kollisionstatbestand kann im Bundesstaat eben, anders als im Einheitsstaat, in zwei voneinander unabhängigen Komponenten auftauchen: im Vorliegen einer den inhaltlichen Widerspruch voraussetzenden (weil ihn auflösenden) Kollision zweier Rechtsvorschriften unterschiedlicher bundesstaatlicher Herkunft, oder im Vorliegen einer den inhaltlichen Widerspruch ignorierenden (weil für sie irrelevanten) Kollision zweier Rechtsvorschriften, von denen

96 Vgl. Hamann / Lenz, Grundgesetz, Art. 31, Anm. Β 2; Holtkotten, BK, Art. 142, Anm. II lb, 3a; Kratzer, Artikel 142, S. 109 ff.; von Mangoldt / Klein, Art. 31, Anm. IV 3c m.w.N. Aus der Rechtsprechung s. StGH Bremen v. 4.7.1953, Entscheidungen des Staatsgerichtshofes der Freien Hansestadt Bremen 1950-1969, S. 42 ff. (44); NdsStGH, DVB1 1969, S. 740 ff. (742). 97 Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 31, Rdnr. 14; Gubelt, in: von Münch, GGK, Art 31, Rdnr. 23; Schmidt-Bleibtreu / Klein, Art. 31, Rdnr. 6; Bernhardt, Art. 31, Rdnr. 35. Wolf (Auslegung, S. 240) will für Art. 31 GG sogar hinter die WeimRV auf die Deutung zurückgreifen, die v. Seydel dem Art. 2 RV 1871 gegeben hatte. 98 Vgl. etwa Herrmann , Verhältnis, S. 117 ff., 128 ff.; Müller, Landesgrundrechte, S. 33 ff., 54 ff.; Voll, Grundsatz, S. 48 ff. (Art. 142 GG), 108 ff. (einzelne Grundrechte in den Landesverfassungen).

II. Art. 31 GG als Kollisionsentscheidungsnorm

117

eine der bundesstaatlichen Kompetenzordnung im Kollisionszeitpunkt widerspricht. Dieser Widerspruch besteht allerdings nicht darin, daß eine der beiden Rechtsvorschriften von Anfang an einer bundesstaatlichen Kompetenzverteilungsvorschrift widerspricht, weil dann infolge ihrer Verfassungswidrigkeit der Kollisionsfall ohnehin nicht eintreten kann; er kann aber darin bestehen, daß Bund und Land, ohne daß ein Verstoß gegen bundesstaatliche Kompetenzverteilungsvorschriften festgestellt werden kann, von ihrer Zuständigkeit jeweils Gebrauch machen und dabei auf identischen Sachgebieten identische Regelungen treffen, etwa im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung, wenn der seinerzeit zulässigen landesrechtlichen Regelung eine verfassungsgemäße bundesrechtliche Normierung nachfolgt. Bundesrecht kann somit unter bestimmten Voraussetzungen auch gleichlautendes Landesrecht brechen. Voraussetzung hierfür ist der Nachweis, daß beide Rechtsetzungsträger verfassungsgemäß handeln (bzw. gehandelt haben). Ist dies nicht der Fall, überschreitet ein Gesetzgeber seine ihm vom Grundgesetz zugewiesenen Kompetenzen, ist eine der beiden Rechtsvorschriften also verfassungswidrig, liegt niemals ein Fall vor, den die bundesstaatliche Kollisionsentscheidungsnorm des Art. 31 GG zu lösen vermag. Der ausschlaggebende Grund für die schon verfassungstextlich festzumachende (Art. 70-75 GG) Sonderbehandlung von Kollisionen in dem rechtsetzenden Bereich des Bundesstaatsrechts, der die Derogation gleichlautenden Landesrechts zumindest denkbar erscheinen läßt, liegt in der herausragenden Bedeutung dieses Bereichs für die föderative Ausgestaltung des Staats schlechthin. Die Vorstellung, ein aus mehreren Gliedstaaten" zusammengesetzter Gesamtstaat sei möglich, beruht auch auf der Auffassung, daß sich eine nach ihrem Wirkungsbereich (ihrem "Objekt") beschränkte Staatsgewalt - die des Bundesstaats, verstanden als Bundes- oder Landesstaatsgewalt - substantiell, d.h. qualitativ, unterscheidet von der insoweit unbeschränkten Staatsgewalt eines Einheitsstaats. Während seine Verfassung dem Gesetzgeber bei der Auswahl der legislativ zu regelnden Sachbereiche keinerlei Beschränkungen auferlegt 99, steht im Bundesstaat dem gesamtstaatlichen und gliedstaatlichen Gesetzgeber eine Rechtsetzungszuständigkeit lediglich innerhalb eines begrenzten Bereichs zu. Da dieser Grenzziehung für die gesamte Rechtsordnung fundamentale Bedeutung zukommt - wie schon die in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 geführte verfassungspolitische Diskussion über die gegenwärtige Lage des Föderalismus zeigt100 - und diese Grenzziehung Bund und Länder gleichermaßen binden soll, muß sie in der gesamtstaatlichen Verfassung vorgenommen werden. Das Grundgesetz als eigenständige, von den Landesverfassungen unabhängige

99

Art. 34 der französischen Verfassung etwa nennt zwar einige Gesetzesmaterien, aber nur um der Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Parlament und Regierung (Verordnungsrecht!) willen. 100 Vgl. dazu Weber, Gegenwartslage, S. 20 f.; Geiger, Mißverständnisse, S. 12 ff.; Rudolf; Bund, 17 ff., jeweils m.w.N.

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C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

Fundamentalordnung regelt die Verteilung der Kompetenzen, es weist dem Bund bestimmte, den Ländern bestimmbare Materien zu, die zu regeln ihnen ausschließlich (Art. 70 GG) oder jedenfalls Vorläufig" (Art. 72, 75 GG) offensteht. Aus der Sicht des Gliedstaats hingegen, "von unten her11, bedeutet dies, daß die Legitimation zu staatlicher Tätigkeit im Bereich der Gesetzgebung, was ihren Geltungsgrund, Inhalt und Umfang betrifft, von der Bundesverfassung, nicht von der in die Gesamtordnung eingebundenen Landesverfassungen ausgeht. Nicht sie, sondern das Grundgesetz bestimmt, wann (Art. 71, 72 I, II GG) welche Sachmaterien (Art. 73, 74 GG) im welchem Umfang (Art. 71, 72 I, 75 GG) der Legislative der Gliedstaaten zugänglich sind. Ihre Verfassungen enthalten dementsprechend denn auch keinerlei Aussagen hierüber, sie regeln nur die ihnen infolge ihrer Organisationshoheit zustehenden Gesetzgebungsorgane und -verfahren. Die dem widersprechenden, aus der "föderalistischen Ecke" - vornehmlich in Sonntagsreden - zu vernehmenden Hinweise auf das historische Erstgeburtsrecht der deutschen Länder, aus dem eine Überleitung eigener, originärer und die Verfassungsgebung 1949 überdauernder Gesetzgebungsrechte auf den Bund resultiere, hat durchaus geschichtlichen Erklärungswert, aber keinerlei rechtsdogmatische Beweiskraft 101. Soweit sich diese Meinung (bewußt oder unbewußt) auf die frühe deutsche Bundesstaatslehre beruft, liegt dem die irrtümliche, allenfalls verfassungspolitisch begreifliche Annahme zugrunde, der VII. Abschnitt des Grundgesetzes stelle für den Gliedstaatsgesetzgeber keine unmittelbare Zuständigkeitsbeschränkung dar, nehme ihm also nicht etwas weg, was ihm eigentlich zustände, sondern enthalte vielmehr eine echte konkurrierende Gesetzgebungskompetenz i.S.v. Konkurrenz beider Ebenen, die nur im Fall inhaltlichen Widerspruchs zugunsten des Bundesrechts aufgelöst werde. Ob dem so ist, ist im folgenden anhand der Art. 70 ff. GG zu prüfen 102.

101 So etwa der Versuch von Herzog, Landesstaatsgewalt, S. 81 ff.; gegen ihn zutreffend Kölble, Grundgesetz, S. 583 ff. 102 Der grundlegende Irrtum dieser (nur aus der starken politischen Position der Föderalisten z. Zt. der Reichsgründung erklärlichen) Lehre ist die (heute freilich willkürliche) Aufspaltung der Gesetzgebung in einen objektiven und einen subjektiven Teil. Art. 2 RV 1871 sollte demnach die bundesstaatlichen Rechtssphären nur sachlich abgrenzen, das persönliche, sprich: monarchische Gesetzgebungsakt" der Länder hingegen unangetastet lassen, weil die andernfalls konstatierte "Unterstellung der Länder unter die Reichsgewalt" mit dem politisch belegten Bundesstaatsbegriff nicht vereinbar erschien. Vgl. Heinze, Tragweite, S. 573 f.

III. Art. 31 GG und das Verhältnis des einfachen Rechts

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III. Art. 31 GG und das Verhältnis des einfachen Rechts von Bund und Ländern 1. Die grundgesetzliche Struktur der bundesstaatlichen Zuordnung der Gesetzgebungskompetenzen Die Bedeutung jeder bundesstaatlichen Verfassung liegt neben der Konstituierung zweier (glied-)staatlicher Ebenen und der Regelung der Mitwirkung der Gliedstaaten an der Erfüllung der gesamtstaatlichen Aufgaben in erster Linie in der Zuteüung der Befugnisse zur Wahrnehmung der Staatsaufgaben auf die einzelnen Ebenen. Unter dem Gesichtspunkt bundesstaatlicher Kollisionsregeln betrifft dieses Anliegen weniger den Bereich der herkömmlich dreigegliederten Staatsfunktionen (Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung); sein Schwerpunkt liegt in der Aufspaltung und Zuteilung der Legislativbefugnisse auf Bund und/oder Länder 103. In Verbindung mit ihrer tatsächlichen Inanspruchnahme kann sie104 als Gradmesser für die reale Wertschätzung des föderativen Prinzips und die politische Rangstellung der Länder wie für ihre Machtbefugnisse mehr aussagen als föderalistische Sonntagsreden es vermögen, gerade wenn man ihre Veränderung im Zuge der Verfassungsentwicklung mitberücksichtigt105. Rechtstechnisch kann diese Aufteilung in verschiedener Weise erfolgen: durch enumerative ("benannte") Aufzählung der Befugnisse einer der beiden Ebenen (Bund oder Land) - mit der Folge, daß der (mehr oder weniger umfangreiche) "unbenannte" Rest der anderen Ebene zufällt und so das gesamte Spektrum der von der Verfassung vorgesehenen staatlichen Aufgaben lückenlos abgedeckt wird - , oder durch Aufzählung der Befugnisse beider Ebenen. Letztere Methode birgt freilich die Gefahr in sich, daß bei der Verfassungsgebung nicht vorhersehbare Weiterungen bzw. Neuerungen in den zu regelnden Lebenssachverhalten entweder eine generalklauselartige Form der Kompetenzbenennung oder eine erleichterte Form der Verfassungsergänzung erfordern oder eine unvollständige Aufgabenverteilung mit

Vgl. allg. Osten, Theorie, S. 267 ff.; rechtsvergleichend Bothe, Kompetenzstruktur, S. 128 ff. m.w.N. 104 Dieser Bereich darf indes nicht überschätzt werden. Auch die in das gliedstaatliche Rechtsleben von Gesamtstaats wegen durchschlagenden allgemeinen Verfassungsgrundsätze, die allgemeinverbindlichen Grundrechtsgarantien oder die Regelung der Finanzausstattung der Länder haben für deren föderatives Gewicht erhebliche Bedeutung. 103

105

Dazu allg. Bryde, Verfassungsentwicklung, insb. S. 221 ff. - Die kontinuierliche legislative Depossedierung der Gliedstaaten, die früher auch unter ihrer tätigen Mithilfe (im Bundesrat) stattfand, heute von der extensiven Handhabung der Zuständigkeiten der EG herrührt und Kernbereiche der Länderstaatlichkeit (Bildungswesen, regionale Wirtschaftsförderung, Rundfunkwesen usw.) einbezieht, ist bekannt. Zu den diesbezüglichen Änderungen des Grundgesetzes seit 1949 Lichtenstem, Gesetzgebung, S. 25 ff. Die Entwicklung gleicht z.T. anderen Bundesstaaten (Schweiz, Österreich).

120

C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

der Folge ungeregelter und unberechenbarer Lückenfüllung zugunsten des Bundes droht 106. Der Verfassungsgeber des Jahres 1949 hat sich - wie schon seine Vorgänger 1867, 1870/71 und 1919 - der ersteren Methode verschrieben. Während das Grundgesetz in Art. 30 jede107 Ausübung der Staatstätigkeit und der Erfüllung staatlicher Aufgaben den Ländern zuweist und für Abweichungen hiervon eine ausdrückliche oder zumindest aus dem Verfassungskontext zu erschließende108 Regelung im Grundgesetz fordert, spezifiziert und konkretisiert ("soweit ... Regelung trifft") Art. 70 I GG diese Kompetenzzuweisung an die Gliedstaaten für den Bereich der Rechtsetzung. Art. 30 GG findet daher im Bereich des Art. 70 GG keine Anwendung109. Paralleles geschieht in Art. 83 I GG für den Bereich der Ausführung der Bundesgesetze, in Art. 92 GG für den Bereich der Rechtsprechung. Der komplexe Gehalt der Einleitungsvorschrift des VII. Abschnitts des Grundgesetzes besteht im wesentlichen in zwei zusammenhängenden Aussagen: der grundsätzlichen Regelung der Zuständigkeitsverteilung im Bereich der Gesetzgebung (Abs. 1) und der Typisierung der Modalitäten dieser Zuständigkeitsverteilung (Abs. 2). Art. 70 I GG enthält den rechtlichen (nicht realen, machtpolitischen) Primat der Gliedstaatenkompetenz im Bereich des Legiferierens. Die Länder (und nicht der Bund) haben zunächst einmal die Befugnis, allgemeinverbindliche, einzelfallunabhängige Rechtsvorschriften in allen Bereichen staatlichen Handelns zu erlassen, soweit das Grundgesetz diese Befugnis nicht dem Bund besonders verliehen hat110. Diese Sehweise

106 Um ihr zu begegnen, enthält die bundesstaatliche Verfassung zumeist (wie etwa in Kanada) Reserven in Form einer allgemeinen Residualkompetenz (für "Frieden, Ordnung und eine gute Regierung"). Dazu Hoppe, Qualifikation, S. 35; Bothe, Kompetenzstruktur, S. 171 ff. - Damit nicht verwechselt werden darf die - in Deutschland traditionell seit 1867 nicht aktuelle - Ausgestaltung dergestalt, daß Gesamtstaat und Gliedstaaten, je für sich, die ihnen zugewiesenen Materien in allen drei Staatsfunktionen durchgängig selbst wahrnehmen (Hesse, Grundzüge, Rdnr. 235), wie es etwa in den USA der Fall ist. 107

Da Art. 30 GG nicht an die Form der Staatstätigkeit anknüpft, ist auch die Aufgabenwahrnehmung in Privatrechtsform davon erfaßt; s. BVerfGE 12, 205 (244, 246); Bleckmann, Zuständigkeitsverteilung, S. 832 ff. m.w.N. 108 Zu den damit angesprochenen "ungeschriebenen" Bundeszuständigkeiten zusammenfassend Stern, Staatsrecht I, S. 681 f.; von Münch, in: ders., GGK, Art. 70, Rdnr. 17 f. - Anders als im Bereich des VII. Abschnitts des Grundgesetzes ist es bei Art. 83 ff. möglich, daß erst das Bundesgesetz (und nicht schon die Verfassung selbst) die Neubegründung einer Zuständigkeit des Gesamtstaats vorsieht, d.h. "zuläßt"; dazu Bothe, in: AK-GG, Art. 30, Rdnr. 12. 109 Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 70, Rdnr. 28. 110 von Mangoldt / Klein, Vorb. zu Art. 70 ff., Anm. II la; Schneider, Gesetzgebung, Rdnr. 27. Dies gilt auch für den Bereich der Verfassungsgesetzgebung (Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 70, Rdnr. 4), ebenso für den der (nur) materiellen Rechtsetzung der Exekutive (von Münch, in: ders., GGK, Art. 70, Rdnr. 9).

III. Art. 31 GG und das Verhältnis des einfachen Rechts

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verbleibt freilich allzusehr im Formalen; erst die funktionale Sicht eröffnet den Blick auf die besondere Bedeutung dieser "Grundregel unserer bundesstaatlichen Verfassung" 111. Sie gibt den Ländern die - allerdings nicht vollinhaltlich112 - freie Entscheidung über Inhalt, Zeitpunkt und Ausgestaltung der Normierung all jener Lebenssachverhalte, die überhaupt einer gesetzlichen Regelung offenstehen können. Nicht die Zuständigkeit zur Setzung formellen und/oder materiellen Rechts, sondern die darin umschlossene Befugnis, durch die Norm über das Verhalten der Adressaten zu bestimmen, kennzeichnet das Besondere dieses Gesetzgebungsrechts113 und gibt den Gliedstaaten erst ihr föderatives Gegengewicht zum Bund. Das Grundgesetz hat die legislative Zuständigkeitsverteüung zwischen Bund und Ländern alternativ und unflexibel ausgestaltet. Indem dem Bund enumerativ aufgezählte, gegenständlich limitierte Materien zugewiesen werden, ist deren normierende Inanspruchnahme durch die Länder ausgeschlossen, wie umgekehrt eine Regelung der "restlichen", den Ländern verbliebenen Materien dem Bund unzugänglich bleibt; auch durch interföderale Vereinbarungen, Verträge oder stillschweigende Anerkennung ihrer Ausübung kann über Gesetzgebungskompetenzen ebensowenig verfügt werden114 wie durch informelles oder privatrechtliches Handeln. Ebenso wie die Verfassung eine Mischverwaltung grundsätzlich nicht zuläßt, soll das Kompetenzverteüungssystem des VII. Abschnitts eine Gesetzgebung zur föderativen Gesamthand ausschließen. Die - etwa in Art. 91 a, b GG ausdrücklich zugelassene - Mitwirkung des Bundes im Bereich der Gemeinschaftsaufgaben ändert an der Zuweisung dieser Materien an die Länder (Art. 91 a) bzw. an die Länder oder den Bund (Art. 91 b), wie der Verfassungstext selbst betont, nichts115. Auch unter Berücksichtigung dieser (somit nur

111

BVerfGE 16, 64 (79). Art. 70 GG befreit die Länder weder von der Beachtung der Staatsstrukturprinzipien und Verfassungsgrundsätze (insb. dem Rechtsstaatsprinzip) noch von der Einhaltung der ihnen durch die Bundesgrundrechte (Art. 1 III GG) gezogenen Grenzen. 112

113 Aus diesem Grund dürfte es nicht weit führen, allein durch eine Quantifizierung der zugunsten des Bundes seit 1949 erfolgten verfassungsändernden Kompetenzverschiebungen den zutreffenden Rückschluß auf das legislative Leichtgewicht der Länder zu ziehen. Es macht eben einen qualitativen Unterschied, ob dem Bund die Zuständigkeit zur Regelung der Kriegsgräber (Art. 74 Nr. 10a GG) oder der Erhebung von Gebühren für die Straßenbenutzung (Art. 74 Nr. 22 GG) oder die Befugnis zur Normierung des gesamten Besoldungs- und Versorgungsrechts im öffentlichen Dienst der Länder und Gemeinden (Art. 74a GG) oder der allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens (Art. 75 Nr. la GG) übertragen wird. 114 BVerfGE 1, 14 (35); zur Unzulässigkeit von Kompetenzverschiebungen s.a. BVerfGE 4, 115 (139); 32, 145 (156) u.ö.; zuletzt BVerfGE 63, 1 (32 ff.). 115 Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 91 a, Rdnr. 4. Zu den das "Verbot der Mischverwaltung" "durchbrechenden" Gemeinsamkeiten im Bereich der Verwaltungszuständigkeiten Lerche, ebd., Art. 83, Rdnr. 85 ff. m.w.N.

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C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

scheinbaren) Ausnahmen handhaben Bund und Länder ihre Zuständigkeiten im Bereich der legislativen Rechtsetzung selbständig und unabhängig voneinander; sie unterliegen darin keinen anderen Bindungen als denen des Grundgesetzes116. Die Zuständigkeiten des VII. Abschnitts sind demzufolge kein dispositives Recht, wenngleich sie durch die wechselseitige Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten begrenzt werden können, ja gerade im bundestreuen Gebrauch dieser Kompetenzen der Kern seines Anwendungsgehalts gesehen wird 117. Daraus folgt zum einen, daß die in Art. 70 II, 71, 73, 75 GG normierten Gesetzgebungstypen abschließend sind. Die "Erfindung" weiterer Typen - z.B. die der RV 1871 noch geläufige Form der subsidiären Gesetzgebung, bei der es den Ländern offensteht, die vom Bund erlassenen und verkündeten Bundesgesetze für ihren räumlichen Bereich zu übernehmen, anzuwenden oder zu variieren 118 - oder Kombinationsformen durch den einfachen Bundesgesetzgeber wie auch durch einvernehmliche Zusammenarbeit von Bund und Ländern - etwa durch verbindliche Zusicherung der Länder gegenüber dem Bund, einen gemeinsam erarbeiteten Mustergesetzentwurf zu übernehmen - ist nicht zulässig. Es gilt das Prinzip der Geschlossenheit der Gesetzgebungstypen, wie sie Art. 70 II GG enthält. Die Abgrenzung der legislativen Kompetenzen bemißt sich nach den Vorschriften über die ausschließliche (Art. 71, 73 GG) und die konkurrierende (Art. 72, 74, 75 GG) Zuständigkeit des Bundes sowie nach den von Bundes wegen (Art. 70 I GG) zwar vorausgesetzten, verfahrensrechtlich aber in den Landesverfassungen enthaltenen Vorschriften über die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit der Länder, die neben der Befugnis zur einfachgesetzlichen Regelung auch die zur Normierung der Materie in der Landesverfassung selbst einbezieht119. Art. 70 II GG kommt über das Prinzip der Geschlossenheit der Gesetzgebungstypen hinaus in Verbindung mit der regelungstechnischen Modalität einer enumerativen, limitierenden Aufzählung der Bundesgesetzgebungskompetenzen die strukturierende Aufgabe zu, klarzustellen, daß Doppelzustän-

116

BVerfGE 6, 309 (354). BVerfGE 34, 216 (231 f.); vgl. Stern, Staatsrecht I, S. 703 m.w.N. 118 Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 70, Rdnr. 43; ders., Rahmengesetze, S. 2; de constitutione ferenda befürwortet von Herrfahrdt, in: BK, Art. 70, Anm. II 1. 119 BVerfGE 1, 14 (35); BVerwGE 3, 335 (339 f.). - Art. 70 II GG ist somit keineswegs überflüssig (so aber Bothe, in: AK-GG, Art. 70, Rdnr. 2; s.a. von Münch, in: ders., GGK, Art. 70, Rdnr. 26: "Notwendigkeit zweifelhaft"), wenngleich die dort aufgeführten Zuständigkeitstypen der Bundesgesetzgebung insoweit unvollständig scheinen, als die Rahmen- und Grundsatzgesetzgebung nicht genannt werden; s. von Mangoldt / Klein, Art. 70, Anm. IV 1. - Die Bildung von Gesetzgebungstypen darf nicht mit den diesen Typen zugeordneten Sachmaterien verwechselt werden, die sich über Art. 73 - 75, 105 GG hinaus an verstreuter Stelle im Grundgesetz finden. Unrichtig daher Kratzer, Bundesgesetz, S. 431. 117

III. Art. 31 GG und das Verhältnis des einfachen Rechts

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digkeiten sowohl mit der Abgrenzungsfunktion dieser Vorschrift im besonderen als auch mit der Typologie des Grundgesetzes in diesem Bereich allgemein unvereinbar sind120. Entweder unterfällt die Kompetenz zur Normierung eines Lebenssachverhalts dem Zugriff des Bundesgesetzgebers mit der Folge eines Ausschlusses der Landeslegislative, oder der zu regelnde Lebenssachverhalt läßt sich keiner der benannten Materien einer Bundeszuständigkeit zuordnen, was den Regelungsprimat des Landesgesetzgebers (Art. 70 I GG) auslöst. Diese Lilckenlosigkeit der bundesstaatlichen Kompetenzordnung scheint die Notwendigkeit einer Kollisionsentscheidungsnorm, wie sie Art. 31 GG darstellt, entbehrlich zu machen. Sie ist aber nur dann gewährleistet, wenn sich der zu regelnde Lebenssachverhalt immer und eindeutig (und d.h. in jedem Einzelfall) einer Bundeszuständigkeit einverleiben läßt, verneinendenfalls er der inhaltlich nicht bestimmten, nur im Wege der Subtraktion bestimmbaren Residualkompetenz der Länder unterfällt. 2. Die Qualifikation von Rechtssätzen im legislativen Bund-Länder-Verhältnis Diese Abgrenzungsschwierigkeit betrifft die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes ebenso wie die konkurrierende, und in ihr liegt das zentrale Problem der Zuständigkeitsverteilung im Bund-Länder-Verhältnis. Nur wenn es dem Grundgesetz gelungen ist, durch die Art der Ausgestaltung der legislativen materiellen Kompetenzzuweisungsnormen (im VII. Abschnitt: Art. 73, 74, 75 GG) die eindeutige Zuordnung der zu regelnden Lebenssachverhalte entweder zum Bund oder reziprok zu den Ländern sicherzustellen, d.h. Doppelzuständigkeiten und Überschneidungen auszuschließen, ist die Typologie der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen selbstregulierend und der gesamte Komplex gegenüber Art. 31 GG insoweit "wasserdicht", als ein Rückgriff auf die bundesstaatliche Kollisionsentscheidungsnorm entbehrlich ist, genauer: wegen Fehlens ihrer Voraussetzungen sogar falsch wäre. Die Aufgabe der Kompetenzverteüungsvorschriften besteht also unter kollisionsrechtlichem Gesichtspunkt in der unzweideutigen Zuordnung von Rechtssätzen oder rechtlich verfaßten Lebenssachverhalten, m.a.W. einerseits in der Subsumtion der einfachgesetzlichen Normen unter die benannten Zuständigkeitsvorschriften des Bundes, andererseits in der auf diese Rechtssätze bezogenen Interpretation der Kompetenznormen selbst, welche Geltungsbedingungen für den Erlaß der Rechtssätze enthalten121. Das geplante oder erlassene Gesetz muß sich an seinen bundesstaatlichen Geltungsbedingungen messen lassen, es muß in die dem jeweiligen Gesetz-

120 BVerfGE 36, 193 (202 f.); 61, 149 (204); 67, 299 (321). Zu den Kompetenzverteilungsnormen aus bundesstaatlicher Sicht Loebenstein, Bedeutung, S. 245 ff. 121 Bothe, in: AK-GG, Art. 70, Rdnr. 7. Damit ist nur eine Zuständigkeit zur Rechtsetzung verbunden, aber keine Pflicht des Bundes, diese Kompetenz auch zu betätigen. Dazu (Jarass) / Pieroth, Grundgesetz, Art. 70, Rdnr. 13.

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C. Der verfassungsdogmatische Anwendungsbereich

geber zugeteilten Rechtssatzgruppen fallen. Kurzum: es muß qualifiziert werden können122. Die Ausgestaltung der Kompetenzverteilungsvorschriften des Grundgesetzes erlaubt indes - jedenfalls dem Wortlaut nach - keinen eindeutigen Befund bezüglich der Qualifikation einzelner Rechtssätze. Ungeklärt ist schon, ob die legislativen Kompetenzkataloge (vor allem in Art. 73, 74, 75 GG) dem Bundesgesetzgeber tatsächlich Rechtssatzgruppen zur Zuständigkeit zuweisen oder nicht vielmehr keine Rechtsmaterien y sondern soziologische, der Lebenswirklichkeit entnommene Sachbereiche bezeichnen. So enthalten Art. 73, 74 GG einerseits Sachgebiete, auf welche sich die Gesetzgebungskompetenz bezieht ("...wesen"; z.B. Art. 73 Nr. 1, 4, 5, 6, 10 GG) 123 , ande(die Rechtsmaterie) dieser Sachgebiete rerseits den rechtlichen Inbegriff ("...recht"; z.B. Art. 73 Nr. 9, 74 Nr. 1, 3, 12 GG). Auch wenn man berücksichtigt, daß die unterschiedliche Wahl des Anknüpfungspunkts der Kompetenz primär auf Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten oder traditionsbehafteter Fortschreibung früherer Zuständigkeitsnormen beruht und nicht auf bewußter inhaltlicher Differenzierung, und sich demzufolge die Bundeskompetenz immer nur auf die Sachgebiete, nicht auf die Rechtsmaterien beziehen kann124, was vor allem bei neu geschaffenen Zuständigkeiten bedeutsam wird 125 , besteht doch die Gefahr, daß aus Sicht der Kompetenzinterpretation der Inhalt der Zuständigkeit vor allem im Lichte der einfachgesetzlichen Vorschriften ausgelegt126, der Schritt "von der Verfassungsmäßigkeit der Ge-

122 Grundlegend hierzu (anhand des internationalen Privatrechts und der kanadischen Bundesverfassung) Hoppe, Qualifikation, insb. S. 27 ff. Zum Zusammenhang von Qualifikation und Kollisionsvermeidung Peczenik, Grundlagen, S. 121 ff. 123 Zur damit verbundenen Tendenz "ganzheitlicher", raumgreifender Einbeziehung einzelner Sachbereiche, die nur akzidentelle Berührungspunkte mit den Kernmaterien aufweisen, anhand der Rechtsprechung des österr. VerfGH Werner, Kompetenzartikel, S. 164; Walter / Mayer, Grundriß, Rdnr. 300. Zur - vor allem durch die Versteinerungstheorie des österr. VerfGH heraufbeschworenen - Gefahr einer rein deskriptiven und extensionalen Erfaßbarkeit von Kompetenzinhalten Schreiner, Kompetenzbegriffe, S. 169 f. 124 Sasse, Problematik, S. 425, 450; ihm folgend von Mangoldt / Klein, Vorb. zu Art. 70, Anm. III 5. - Dies gilt sowohl bei hergebrachten Rechtsmaterien (Arbeitsrecht = Recht des Arbeitslebens, Presserecht = Recht der besonderen Verhältnisse der Presse) als auch bei der Neuschöpfung von Kompetenzen. 125 So kann es sich bei Art. 74 Nr. I I a GG nicht um die Kompetenz für Kernenergierecht handeln - denn solches bestand z.Zt. der Zuständigkeitsbegründung noch nicht, es sollte erst auf Grund dieser Zuständigkeit geschaffen werden - , sondern (wie der Wortlaut richtig sagt) um das Recht zur Regelung des Lebenssachverhalts "Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken ...". 126 Vgl. BVerfGE 11, 192 (199): Bürgerliches Recht (Art. 74 Nr. 1 GG) als "Zusammenfassung aller Normen, die herkömmlicherweise dem [einfachgesetzlich verstandenen] Zivilrecht zugerechnet werden." Zum Strafrecht i.S.d. Art. 74 Nr. 1 GG BVerfGE 13, 367 (372) - Kriminalstrafrecht; 23, 113 (124 f.) - Strafbewehrung von Landesrecht; 27, 18 - Ordnungswidrigkeiten; 2, 213 (220 ff.) - Straffreiheit.

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setze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung" vollzogen wird 127. Dies hätte freilich nicht nur ein faktisches, sondern ein rechtliches Prä der Bundeskompetenzen zur Folge. Die Gefahr der Erhebung einfachgesetzlicher Kompetenzausfüllungsvorschriften zu verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßsfäben besteht weniger im Bereich der an relativ bestimmte Kriterien außerrechtlicher Art orientierten materiellen Bundeskompetenzen, insb. solchen der Rezeption technischer, wirtschaftlicher oder sozialer Vorgänge (vgl. Art. 73 Nr. 4, 6, 7; Art. 74 Nr. 4a, IIa, 21, 22, 23 GG). Sie besteht vielmehr in den Bereichen, in denen der Verfassungsgeber entweder Gesamtheiten in Form von Generalklauseln (die dann u.U. paradigmatisch erläutert, nicht aber abschließend präzisiert werden; vgl. die "catch aiï'-Kompetenz des Art. 74 Nr. 11 GG 128 ) benutzt oder bei der Abgrenzung nicht an materielle Kriterien anknüpft, sondern an eine bestimmte Technik der Rechtsetzung und Normierungswirkung. Diese modalen Kompetenznormen129 sind weitestgehend objektlos, da sie keine Materie der Rechtsetzung, sondern deren Wirkungsweise bezeichnen. Mit modalen Kompetenzen wie z.B. dem "Bürgerlichen Recht" oder dem "Strafrecht" (Art. 74 Nr. 1 GG) lassen sich eine Vielzahl von materiellen Kompetenzbereichen einfangen; so können mit der Rechtstechnik des Zivürechts auch schadensersatzrechtliche Bestimmungen im Rahmen landesrechtlicher Enteignungsverfahren bestimmt130, mit der Rechtstechnik des Strafrechts auch Zuwiderhandlungen gegen Landesrecht, welche der Bundesgesetzgeber für strafwürdig erachtet, mit Strafe oder Bußgeld bedroht werden131, ohne durch die materiellen Kompetenzbestimmungen gebunden zu sein. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Gefahr frühzeitig gesehen und eine Reihe von Interpretationstopoi gerade für die Inhaltsbestimmung von Gesetzgebungskompetenzen entwickelt. An erster Stelle steht hierbei der traditionalistische Ansatz: Das Bundesverfassungsgericht versteht die in den Katalogen der Art. 73, 74 GG enthaltenen Kompetenzzuweisungen als Nachfolger der entsprechenden Regelungen der Reichsverfassung von 1871 und vor allem der Weimarer Reichsverfassung und verbindet damit die Vorstellung von einer nicht nur funktionellen, sondern auch inhaltlichen Kontinuität. Was die Konstitution von 1919 materiell unter ihren Kompetenzzuweisungen verstanden hat, wird auch der Interpretation der grundgesetzli-

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Leisner, Verfassungsmäßigkeit, insb. S. 28 ff. Zu ihr Rengeling, in: BK, Art. 74 Nr. 11, Rdnr. 18 ("offenes Sachgebiet"). 129 Begriff nach Widmer t Normkonkurrenz, S. 25 ff. Zu ihnen zählen auch die sog. Querschnittsaufgaben, die sich nicht eindeutig nur einer Gesetzgebungsebene zuordnen lassen (z.B. Planung, Verwaltungsverfahren, Statistik); dazu - anhand des Umweltschutzes - Kloepfer, Umweltschutz, S. 307 f.; Murswiek, Umweltschutz, S. 16; Hofmann, Natur, S. 273 ff. m.w.N. 130 BVerfGE 45, 297 (345). 131 BVerfGE 23, 113 (124 f.); 26, 246 (257 f.). 128

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er verfassungsdogatische Anwendungsbereich

chen Zuständigkeitsnorm unterlegt132. Diese Rechtsprechung betont zwar zu Recht die historische Kontinuität der Gesetzgebungskompetenzen, deren inhaltliche Bestimmung der Verfassungsgeber des Jahres 1949 weitgehend der Weimarer Reichsverfassung entnommen hat, sie nimmt aber ein dreifaches Risiko auf sich: zum ersten der einfachgesetzlichen Ausfüllungsnorm ein zu großes maßstabbildendes Gewicht zu geben133, zum zweiten die stark unitarisch geprägte, extensive Interpretation der Weimarer Reichskompetenzen134 unbesehen auch für das weit föderalistischere Kompetenzverteilungssystem des Grundgesetzes zu übernehmen, schließlich die traditionsbeladenen Kompetenzinhalte zu einseitig auf den status quo ante hin auszulegen und den Rechtszustand gegenüber der Deutung z.Zt. der Weimarer Reichsverfassung zu zementieren135. Daß sich die Auswirkungen der historischen Interpretation dennoch in Grenzen halten, ist insbesondere darauf zurückzuführen, daß das Bundesverfassungsgericht sie nur als einen Ansatz aus dem Kanon der kompetentiellen Auslegungsgrundsätze heranzieht und sie dementsprechend gewichtet; ihr Hauptanwendungsbereich kann ohnehin nur bei Kompetenzzuweisungen liegen, die der Verfassungsgeber 1949 vorfand und die über einen unangefochtenen, einfachgesetzlich ausgefüllten Kernbereich verfügen. Wo hingegen eine geschlossene Ausfüllungsgesetzgebung (noch) nicht vorliegt bzw. erst noch geschaffen werden muß, wird in erster Linie auf die (zumeist technisch bedingten) Eigengesetzlichkeiten der Materie abgestellt und entwicklungsoffener argumentiert 136. Strukturelle Geschlossenheit trifft sich hier mit verfassungspolitischer Flexibilität. Im Vordergrund der kompetenzrechtlichen Qualifikation einfachen Rechts durch das Bundesverfassungsgericht steht das inhaltliche Zuordnungskriterium des Gesetzes. Die Frage der Gesetzgebungskompetenz des Bundes hängt davon ab, was die Materie, der Gegenstand des Gesetzes ist, hingegen nicht von seinem Anknüpfungspunkt 137. Leitgedanke ist hierbei neben der Interpretation des Wortlauts und der Einbeziehung der historischen Zusammenhänge die sach- und funktionsgerechte Auslegung der Kompetenznorm138.

132 Grundlegend BVerfGE 3, 407 (414 f.: "Der Gesetzgebungskatalog des Grundgesetzes ist in stetem Rückblick auf die Weimarer Reichsverfassung formuliert worden"); 12, 205 (226 ff.); 26, 338 (369 ff.) u.ö.; vgl. Scholz, Gesetzgebungskompetenz, S. 265 f. 133 Aus jüngster Zeit BVerfGE 61, 149 (173 ff.) - Staatshaftungsrecht. 134 Lassar, Ordnung, S. 304: "Auch für die Ausübung der Zuständigkeit gilt der Rechtssatz der bundesfreundlichen Haltung für Reich und Länder unter Vorrang des Reichsinteresses." 135 In dieser Tendenz käme die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung, würde sie strikt durchgehalten, der von österr. VerfGH vertretenen Versteinerungstheorie gefährlich nahe; zu ihr Funk, System, S. 69 ff. m.w.N. 136 Vgl. etwa BVerfGE 7, 342 (348 ff.); 12, 205 (225 ff.). 137 BVerfGE 4, 60 (67, 69 f.); zuletzt BVerfGE 68, 319 (327). 138 Bothe, in: AK-GG, Art. 70, Rdnr. 14.

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Das Gesetz mag sich äußerlich, seiner Form und Terminologie nach, einer bestimmten Kompetenzzuweisung einfügen; ausschlaggebend ist aber der materielle, sachliche Zusammenhang, in dem es steht und den es regeln will 139 : Über die Zuweisung einer Norm zu einer Gesetzgebungsmaterie entscheiden weder der äußere Regelungszusammenhang noch der Wille des Gesetzgebers. Maßgeblich ist allein der Gehalt der Regelung140. Die Kriterien zur Bestimmung dieses einfachgesetzlichen Gehalts, der unter die behauptete Kompetenznorm subsumiert werden muß, werden in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts freilich nicht immer deutlich. Während wiederholt nur geprüft wird, ob der Regelungsgegenstand unmittelbar oder nur mittelbar auf den Inhalt der Kompetenzzuweisung rekurriert 141, stellen andere Entscheidungen - allein oder ergänzend hierzu auf die Verfolgung von Haupt- oder Nebenzwecken ab142 oder fordern für die Qualifikation der Regelung als bundesrechtlich, daß der Bundesgesetzgeber die betreffende Materie ausschließlich oder nur als solche, d.h. substantiell und nicht nur akzidentiell regele143. Anhaltspunkte hierfür entwickelte das Gericht allerdings nicht, und so kann es nicht verwundern, daß die von ihm bejahte oder abgelehnte Zuordnung einer einfachgesetzlichen Regelung zur Kompetenz des Bundesgesetzgebers mitunter - jedenfalls auf den ersten Blick - wenig einleuchtet und systemgerechte Maßstäbe kaum erkennbar sind, jedenfalls aber nicht durchgehalten werden. So unterfällt zwar die Verjährung von Pressedelikten dem Gebiet der allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse (Art. 75 Nr. 2 GG) - und damit gegenwärtig der Zuständigkeit des Landesgesetzgebers - und nicht dem Strafrecht i.S.d. Art. 74 Nr. 1 GG 144 ; die im gleichen Grenzbereich angesiedelte Regelung des Zeugnisverweigerungsrechts von Presseangehörigen im Strafprozeß wird aber kompetenzrechtlich nicht dem Presserahmenrecht, sondern dem gerichtlichen Verfahren (Art. 74 Nr. 1 GG) und deshalb der Bundesgesetzgebung zugeschlagen145.

139 S. z.B. BVerfGE 29, 402 (408 ff.); zur Zuordnung seines Verfahrensgegenstandes (Konjunkturzuschlag) einerseits Kirchhof / Walter, Problematik, S. 1575 ff. (keine Bundeszuständigkeit, weder aus Art. 105 ff. GG noch aus Art. 74 Nr. 11 oder Art. 73 Nr. 4 GG); andererseits Hall, Konjunkturzuschlag, S. 2189 ff. (2191: Bundeszuständigkeit aus Art. 105 ff. GG, da "minus zur Steuer"). 140 So jüngst BVerfGE 70, 251 (264) - Schulleiterbestellung. 141 BVerfGE 8, 104 (116 f.); 9, 185 (189); 26, 281 (298); 36, 193 (205). Der Bund kann demnach mittelbar oder als Annex zu einer der eigenen Kompetenz unstreitig unterfallenden Regelung auch Vorschriften erlassen, die ansonsten - wären sie isoliert ergangen - der Zuständigkeit der Länder unterfallen; s. BVerfGE 28, 119 (146 ff.); 33, 52 (60 f.). 142 BVerfGE 8, 143 (148 ff.); 13, 367 (372 f.). 143 BVerfGE 29, 402 (409), 33, 208 (217). 144 BVerfGE 7, 29 (36 ff.). 145 BVerfGE 36, 193 (202 ff.).

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er verfassungsdogatische Anwendungsbereich

Gerade diese Beispiele zeigen, wo im wesentlichen die Schwierigkeiten der kompetenzrechtlichen Qualifikation auftreten: beim Zusammentreffen von materiellen Kompetenzzuweisungen einerseits und modalen oder generalklauselartigen Gesetzgebungszuständigkeiten andererseits. Infolge unterschiedlicher Anknüpfungspunkte der Subsumtion, die den Regelungsgegenstand des Gesetzes von verschiedenen Seiten her angehen und differierende Aspekte berücksichtigen - hier: Regelungsinhalt; dort: Technik der Rechtsetzung bzw. Normwirkung - , sind Überschneidungen unvermeidlich; sie können aber auch bei scheinbar präzise gefaßten, gleichartigen Gesetzgebungszuständigkeiten auftreten 146. Diese Überschneidungen resultieren aber nicht nur aus den unterschiedlichen Strukturen der Zuweisungsnormen, sondern auch aus dem Fehlen eines einheitlichen, systemorientierten Plans, der hinter den Kompetenzkatalogen des VII. Abschnitts steht. Die Gegenstände der Bundesgesetzgebung sind größtenteils nur historisch, als Übernahme des Bismarckschen und Weimarer Erbes und seines einfachgesetzlichen Normenbestands erklärbar, wenn sie nicht auf den konkreten politischen Lagen, die der Verfassungsgeber des Jahres 1949 zu bewältigen hatte, oder auf dem Einfluß der Besatzungsmächte (z.B. Art. 75 GG) beruhen. Die damit aufgeworfenen Schwierigkeiten der Zuordnung einzelner "grenznaher" Sachgebiete haben zunächst die Grundstruktur der bundesstaatlichen Gesetzgebungsverteilung zu berücksichtigen. Die in Art. 73-75 GG unsystematisch aneinandergereihten Zuständigkeitsnormen sind Enumerationen: sie schneiden aus der unbegrenzten Zahl der regelungsfähigen Lebenssachverhalte unter verschiedenen Gesichtspunkten einzelne benannte, isoliert zu sehende und ihrerseits limitierte Sachbereiche heraus. Alle diese Kompetenzzuweisungen sind gleichwertig in dem Sinn, daß es keine Hierarchie ihrer Inhalte, keine generellen und kerne speziellen Zuständigkeiten gibt. Die modalen Kompetenzen sind in ihrem Regelungspotential ebenso begrenzt wie die Generalklauseln oder die eher technischen oder zeitgebundenen (etwa Art. 74 Nr. 9, 10, 10a GG) Zuständigkeiten, mögen die Interpretationsansätze dabei jeweils auf Anknüpfungspunkt und Gehalt der Kompetenz zugeschnitten sein. Dies bedingt, daß die Kompetenzzuweisungsnormen, soweit es interpretatorisch möglich ist, zwar nicht ohne Bezug zu anderen, sachnahen Zuständigkeitsvorschriften, aber im Grundsatz selbständig auszulegen sind, und zwar so, daß allen Enumerationen ein - rechtlich, nicht auch tatsächlich - gleiches Gewicht zukommt147. So folgt etwa bereits

146 S. z.B. das Verhältnis von Art. 74 Nr. 15 und Art. 75 Nr. 4 (Sozialisierung / Bodenverteilung) oder zwischen Art. 73 Nr. 3, 74 Nr. 4 und 75 Nr. 5 GG (Meldewesen für Ausländer). Vgl. von Mangold: / Klein, Vorb. zu Art. 70, Anm. III 7 b-e. 147 Problematisch daher - auf Grund des inhaltlich unklaren Anknüpfungspunkts ("Sachverhalt") - Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 70, Rdnr. 42, wonach die dem Bund vorbehaltenen Zuständigkeiten, seien sie auch in ihrer Reichweite ungleichgewichtig, kumulativ nebeneinander stehen mit der Folge, daß für den gleichen Sachverhalt dem Gesetzgeber mehrere Kompetenzzuweisungen zur Verfügung stehen, die allenfalls über die Auslegung der in ihnen enthaltenen Begriffe zu korrigieren seien,

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aus der besonderen Nennung des Arbeitsrechts in Art. 74 Nr. 12 GG, daß der Verfassungsgeber den Lebenssachverhalt "Recht des Arbeitslebens" als isoliert vom allgemeinen bürgerlichen Recht (Art. 74 Nr. 1 GG) angesehen hat und eine eigenständige Interpretation dieses Sachbereichs, der früher unselbständiger Teil des Zivilrechts gewesen sein mag, unumgänglich ist148: Arbeitsrecht ist nicht (mehr) spezielles Zivilrecht, sondern kompetenzrechtlich ein aliud. Gleiches gilt z.B. auch im Verhältnis von Art. 74 Nr. 11 und Nr. IIa GG: indem der verfassungsändernde Gesetzgeber 1959 den Lebenssachverhalt "Erzeugung und Nutzung der Kernenergie ..." als besondere Bundeszuständigkeit etablierte, reduzierte er zugleich andere Kompetenzzuweisungen um seine einzelnen Teilgehalte, die vordem ohnehin, wenngleich verstreut, der bundesgesetzlichen Regelungszuständigkeit unterfallen wären 149. Im kompetenzrechtlichen Sinn handelt es sich bei den einfachgesetzlichen Bestimmungen des Sammelbegriffs Kernenergierecht damit nicht mehr um "Arbeitsrecht", "Recht der Wirtschaft" etc., sondern um Recht i.S.d. Art. 74 Nr. IIa GG. Der Fall der Ausgliederung, Bündelung und Strukturierung einer zuvor auf verschiedene verstreute Kompetenzzuweisungen gestützten Regelung eines Lebenssachverhalts, der infolge der sozialen Wirklichkeit an Konturen gewonnen hat und auf Grund seiner besonderen Sachgesetzlichkeit einer besonderen Regelung bedarf - sei diese im Kontext der bundesstaatlichen Gesetzgebungszuständigkeiten auch nur eine deklaratorische - , weist auf einen zweiten interpretationsleitenden Topos hin: den des "besonderen" im Gegensatz zum "allgemeinem" Recht. Die unterschiedlichen Anknüpfungsmodi, die Ausgliederung einzelner Sachbereiche aus scheinbar homogenen Lebenssachverhalten und die mit allgemein-sprachlichen Mitteln nur unvollkommen zu erreichende Abgrenzung führen dazu, daß eine einfachgesetzli-

und daß im Fall der Kumulation die Kompetenzzuweisung zur Verfügung stehe, die dem Bundesgesetzgeber den größeren Normierungsspielraum gewähre (ausschließliche vor konkurrierender, konkurrierende vor rahmenrechtlicher Zuständigkeit). Diese Mehrfachkompetenz für einen Lebenssachverhalt rennt insofern offene unitarische Türen ein, als bei konsequenter Verfolgung dieses Ansatzes nicht zu begründen ist, warum die Unterscheidung von Bundes- und Landesgesetzgebungskompetenz trennscharf erfolgen soll, wo doch im Bereich der Bundeszuständigkeit unscharfe Schnittkanten kein Zuordnungshindernis sein sollen. 148

Nicht unbedenklich daher die Begründung in BVerfGE 7, 342 (348), wonach der Selbststand des Arbeitsrechts nicht aus der Systematik der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung, sondern aus der historisch nachweisbaren, einfachgesetzlichen Verselbständigung dieses Sachgebiets gefolgert wird. Auf diesen einfachgesetzlichen Zusammenhang stellt auch das arbeitsrechtliche Schrifttum ab; s. Bötticher, Gesetzgebungskompetenz, S. 361 ff.; Schnorr von Carolsfeld, Eigenständigkeit, S. 297 ff. 149

Ob die Einfügung des Art. 74 Nr. I I a daher erforderlich war, die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers für diesen Sachbereich zu begründen (oder der Verfassungsänderung nicht vielmehr eine die Regelung des Lebenssachverhalts abrundende, vor allem klarstellende Funktion zukommt), mag man bezweifeln; zum Meinungsstand von Münch, in: ders., GGK, Art. 74 Rdnr. 52.

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G;f)er verfassungsdogtiiatische Anwendungsbereich Iii

ch& Règelung AfSiiitât zu' mehreren Kempetenzzuweîsungeil aufoVeist^ das (Sesëtz a t e hetetogetìe 'Qu^käüönsmerk3nal& fcnrhält^idie^ nötwendig ^ buhdek* tihd · lâiidésreditliche Züständigkeite^ ; gleidierniafìee anspreche*!. Etee Regelüng zur Verjâhnong .von : Preitóedegkten ; nimmt soe wähl· Bezug x ^ schrift über, Fflmf0Kterungsnlaflntómen>; sprieß sowohl däs ileehräe^Wirfr schüft als auch die "Kultuirhòhkit" der Länder : an; çine> Nòrtò über: die> Ben freiuhg idei RùhdiunJ^içstakeii von dér Pflicht zur Entrichtung der>lM$atz4 stetier rekurriert auf die bundesgesetzliche ι Stéuerkompeienz ebensQ wie rtof das i^nd^mridfunki^ht} 50 J i n allen -diesetelMcn fliegt; eä ^ h e ; /anhand/de$ Zwecks des Ge&tzes; undl seiner^ecÄtwfrÄwngen^! dahingehend *zu differen* zieren; ^b^Normfunktfbîiv^ eine igrößere Nähe zur modalen Zuständigkeit bzw. zur generalklausetórtigéiì KomfÄtenz odecizupi "besonder reh'-n(ί ümeitftι"-technischen") Zuständigkeit; aufwehen; dieçeii Ansali trifft siefr in mancher? Richtung mit der Differenzierung des;Bundesverfassüägsgcn richts in mittelbare/unmittelbare Zwecksetzung und der UritersChekliiiig i^ch speziellen μι$ sUge^ipen Beçt^muçgen152. Eine Regelung ist „dçmwenn naiçhniçftt sçjron ^ ^ 'in i ^ ^ r i è ^ i p ^ r , ; d q i e n ^eiläjt' ' i ^ i s w i r kuflgen ; auf sie ^tÌ viélmèhr; d^É die ; emacfi^^Hçhfe Npjni ^s, TT^iri^ ; ^ seingrBeGreift man etwa das· οίύί Beispiel reihes Bundesgesetzes zorilSlmfQrde^ - rrung nodi einmal'^uf, wäre anhand; nder; einzelnen ;Npirmen< des Gesetzt ì nachzuweiset^ o ^ sein Zweck und' seine .Rectitsfolgen^FihnfärderUng - gerade unt ?(te^ wirtschaftlichen Stellung ;des deutschen: Films ^dann iZui : stä^gkdbde&i Biïndesr Ait. 74'Nr. #l;;Ggie von "allgemeinepi" und ç}ie 'ihre Hähe zur Rektion m ^ I î , - t e x , i M c l * t ^ r b e i F g ^ g I p ^ r Vej^ häitpLs/voo Bui)des-ttf^ eine solche R^ sowenig; ·: ìhìì >\?erfeältnfe \ ypn jßu^hlJ^^her, : konkurriere ndej- [ und? ^ b ^ R r ^ ^ î i ç ^ j v · Zuständigkeit, die gleichwertig nebeneinander $t£hen. ^ ,'λο ·} . s ο : csvmvVWi ;

III. Art. 31 GG und das Verhältnis des einfache** Rechts

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Eine genauere Prüfung dieses - auch heute noch aktuell^ Grenzfalls zeigt zum einen, daß es nicht auf die Förmulieiungskunst, des. Gesetzgebers oder die "Gesamttendenz" des Gesetzes". aßkonimen kann155, sondern die Prüfung der einzelnen Regelungen ^i3feétzes und:òhrer Nähe bzw. Ferne zum Recht der Wirtschaft uneriößliclx list; ; D0S; Ergebnis muß unterschiedlich ausfallen je nachdem, welche; konkrçteM ^Zwecke das Gesetz verfolgt und welche Anknüpfungspunkte ; bzw;v Rechtsfolgen die Filmförderung zum Wirtschaftsgut bzv^>lKulturgu^iiFito vai^eist. Demzufolge erweckt etwa das FFG von 1967 weniger Bedenkea gegen eine Inanspruchnahme des Art. 74 Nr. l l a G G ^ ^ b Teile der ^Novelle von 1974157. Die verfassungsrechtlichen Bedenkenirgégen * Neuordnung der Filmförderung 1987 wiederum richten; sich in. erster .^Liniö, gegen die Kriterien der Filmförderung, weniger gegen ihre ^kon^eteitóechtliche Zuordnung 158. - Zum anderen zeigt das Beispiel Fitafördßruiag/idaß es über die im Gesetz zum Ausdruck gekommenen. Zwecke und intendierten Wirkungen hinaus dann entscheidend auf den GesetzesvöHzug ankommt, wenn - wie hier - das Gesetz mit allgemeinem Rechtsbegriffen, Beurteilungsspielräumen und unvertretbaren kultu*ppUtisctìeni Ein:>»·•r:v : r> schätzungen operiert 159. — Auch andere bekannte Grenzfälle, z.B. die kompeterizr^hffithe Qualifikation der gewerberechtlichen Vorschriften über den ambulanten Zeitungshandel (§ 55 I GewO160) oder die Zuordnung der Kprrnierung'von Wahlkampfkostenerstattung (§ 22 S. 1 PartG) kommen so etór $âchgerechten und berechenbaren Lösung einen erheblichen' Sctótt näher. So ordnet - bezogen auf letzteren Grenzfall das ìto^ rieht 161 die Normierung der Wahlkamp^ostenerstättuiig der Korilpetenz-

154 Vgl. das Gesetz über Maßnahmen zur Förderung des deutschen . Films (FUmförr derungsgesetz - FFG) i.d.F. d. Bek. v. 18.11.1986 ( 9 £ R l 1986 Ì~ÌS..^7). ^ 155 4 5

So aber von Hartlieb,

Handbuch, S. 61 f.; in dieser. Richtung auchι BVerwGE

3

^( )·

"'Γ"" " Γ « / - Γ "-r;^ ' ^ViV-^i'-W Verfassungsmäßigkeit, S. 35 ff. (37 ff.); kritischer F f y k ç h Z u s t ä n ^ l digkeit, S. 124 ff.; Füchsl, Rahmenkompetenz, S. 168 ff. , ' ,, ,, ~ 156

WeiäeSy

157

Zu ihr Weides, Gesetzgebungszuständigkeit, S. 149 ff. ι' -—Λ Vgl. Würkner, Neufassung, S. 378 ff. 159 Zur (zumeist doch an der Förderung des Kulturguts Film orientierten) Spruchpraxis der Filmförderungsanstalt Woeller, Verfassungsmäßigkeit, ittsb:S*.90 ff., 160 f.; zur Untrennbarkeit beider Aspekte Strahl, Filmförderjupg^ S. fl$0:rfl^.· ςφ^Βφ?· Filmfreiheit, insb. S. 303 ff. m.w.N. ' /> , t î 160 Für Zuordnung zum Gewerberecht (Art. 74 Nr. 11 QG) iVGfi^aqnheim, DVB1 1975, S. 261 ff. m. Anm. Pestalozza, ebd., S. 265 fc; j B G ^ 1867 f.; Mößle, Beschränkungen, S. 228 ff., 230. Ablehnend (nämlich für Zuordnung ?um Presserecht [Art. 75 Nr. 2 GG]) BayObLG, NJW 1971, S / 1 7 P ï é s s e f r e i r 1 ; heit, S. 250 ff., 256. /u - v · ' 158

161

BVerfGE 24, 300 (353 f.).

'

-,

132

er verfassungsdogatische Anwendungsbereich

Zuweisung aus Art. 21 III GG zu; das "Nähere" soll sich diesbezüglich aus Art. 21 I 1, 3, 4 GG ergeben. Damit wird jedoch der sonst eingehaltene Rahmen der Ausfüllungsgesetzgebung 162 überschritten, und zwar in zweierlei Richtung. Zum einen handelt es sich bei der Regelung der Wahlkampfkostenerstattung nicht um einen Fall der Pflicht zur Rechenschaftslegung über die Herkunft und Verwendung der Mittel, sondern um die Zuweisung dieser Mittel aus öffentlichen Kassen; eine Kompetenz zur allgemeinen Regelung der finanziellen Verhältnisse der Parteien enthält Art. 21 III (entgegen BVerfGE 20, 56 [115]) aber nicht. Zum anderen hätte diese Qualifikation zur Folge, daß Art. 21 III GG, eine parteienrechtliche Sonderregelung, auch Rechtsgrundlage für die Erstattung von Wahlkampfkosten in Bund und Ländern auch für parteilose Einzelbewerber wäre, wie es § 22 S. 2 PartG bestimmt. Dieses offenbar unhaltbare Ergebnis - eine Bundeskompetenz aus Parteienverfassungsrecht für Lebenssachverhalte auf Landesebene, die mit "Parteien" (Art. 21 GG) nichts, mit Wahlen (Art. 38 GG) aber alles gemeinsam haben - veranlaßte das Bundesverfassungsgericht denn auch, seine frühere rigide Eingrenzung des wahlrechtlichen Zusammenhangs in Art. 38 III GG 163 zu variieren (die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers sei nunmehr "aus Art. 21 III und Art. 38 III GG" zu entnehmen)164, freilich ohne dies zu begründen. - Richtigerweise ist zu differenzieren, und zwar nach dem besonderen Anknüpfungspunkt der Wahlkampfkostenzistattung. Während die Zuständigkeit des Bundes für die Finanzierung von Wahlkämpfen auf Bundesebene aus Art. 38 III GG und nicht aus Art. 21 III GG folgt, ergibt sich die Kompetenz für die Wahlkampfkostenerstattung in den Ländern aus Art. 70, 28 I GG, und zwar für Parteien und parteilose Einzelbewerber gleichermaßen165. Gleichwohl kann dieser im Grundsatz zutreffende Ansatz nicht in allen Fällen das leisten, was er prima facie verspricht. Die berechtigte Nichtbeachtung von für den Inhalt und Zweck nur sekundären Affektionen einer Regelung, bringt man sie auf den Gegensatz von "allgemeinem" und "besonderem" Recht, ist zunächst nur eine formale, an der äußerlichen Klassifizierung der dem Gesetzgeber zur Auswahl stehenden Zuständigkeitsnormen festmachende. Sie erweist sich insbesondere für die Kompetenzzuweisungen als unzureichend - weil zu kurz greifend - , bei denen dem Bund nur eine teilweise, qualitativ beschränkte Regelungsmacht zusteht. Würde

162

Vgl. BVerfGE 15, 126 (138 f.); zu Art. 21 III GG s.a. Rechtliche Ordnung, S.

113 ff. 163

BVerfGE 24, 354. BVerfGE 41, 399 (425). 165 Wie hier Mußgnug, Finanzierung, S. 1687; Konow, Fragen, S. 78; dem Bundesverfassungsgericht folgen (sämtlich ohne Berücksichtigung des Einzelbewerbers) Scheuner, Parteiengesetz, S. 90 f.; Randelzhofer t Problem, S. 538 f.; s.a. von Münch, in: ders., GGK, Art. 21, Rdnr. 81. 164

III. Art. 31 GG und das Verhältnis des einfache

Rechts

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der Bundesgesetzgeber auf der Basis der "Sonderrechtslehre" z.B. die ihm zur Verfügung stehenden "allgemeinen" Kompetenzzuweisungen (Bürgerliches Recht, Verfahrensrecht, Recht der Wirtschaft und Gewerberecht, Arbeitsrecht etc.) vollständig in Anspruch nehmen, bliebe er zwar formal im Rahmen seiner Zuständigkeiten, enteignete aber die Länder im Bereich eines besonderen Presse-, Film- oder Rundfunkrechts weitgehend, da sich ihre Tätigkeit notgedrungen nur im Rahmen des "allgemeinen" Rechts bewegen kann166. Für die Ausbildung geschlossener sonderrechtlicher Komplexe auf Landesebene bliebe kaum noch etwas übrig, und zwar in allen Bereichen, weil die dem Bund zustehenden modalen und generalklauselartigen Kompetenzen im Grenzbereich immer die Tendenz entwickeln, die unbenannten Landeszuständigkeiten mittels ihrer weitgespannten Anknüpfungsmerkmale zu überwuchern. Überdies muß die sonst hilfreiche Unterscheidung dann versagen, wenn sich nicht modale oder generalklauselartige Bundeskompetenzen und "besondere" Landeszuständigkeiten gegenüberstehen, sondern dasselbe Gesetz "realkonkurrierendes Sonderrecht" für mehrere Materien setzt, die teils dem Bund, teils den Ländern überantwortet sind. Lassen sich solche Konkurrenzen noch durch Aufspaltung des Gesetzesinhalts in einzelne Norminhalte mit der Folge ihrer individuellen Zuordnung - auflösen 167, führt die ausschließliche Orientierung an formalen Kriterien unvermeidlich in die Sackgasse, wenn eine Norm zugleich mehrere "besondere" Kompetenztitel in Anspruch zu nehmen vorgibt. Da eine eindeutige, zutreffende Qualifikation solcher "idealkonkurrierender" Rechtssätze nicht möglich ist, bedarf es ergänzend eines materiellen, auf Inhalt und Wirkung abstellenden Maßstabs. Für die Zuordnung dieser Grenzfälle kommt es darauf an, welche Funktion und Zielrichtung die fragliche Norm einschlägt, wo sie m.a.W. ihren Schwerpunkt hat168. Nichts anderes, wenngleich mit terminologischen Schwankungen, fordert die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wenn sie auf die spezifische Nähe einer Materie zur Kompetenzzuweisung abstellt, die Regelung des Kompetenzgegenstandes als solchen zum Maßstab erhebt, die Einstufung der Norm nach ihrem Hauptzweck vornimmt oder die Zuordnung eines Rechtssatzes am Kriterium des Sachzusammenhangs orientiert 169.

166

Papier, Pressefreiheit, S. 252. Pestalozza, Thesen, S. 187, dort auch zur Befugnis des Gesetzgebers, unter Berufüng auf eine unstreitig eigene Zuständigkeit in eine ihm unzugängliche Kompetenz "nur modifizierend" überzugreifen. 168 Badura, Staatsrecht, Rdnr. F 26; Bothe, in: AK-GG, Art. 70, Rdnr. 17; ebenso bereits Püttner, Kompetenz, S. 814: "Man wird deshalb die geplanten Regelungen in erster Linie nach ihrer Zielrichtung den Kompetenztiteln zuzuordnen haben und zur Abgrenzung fordern müssen, daß sich die Gesetze zur Ausfüllung eines Kompetenztitels ... gegenüber anderen Regelungszielen und den zugehörigen Kompetenztiteln ... restrìktw-neutral verhalten müssen." 169 Vgl. Erbguth, Kompetenzverteilung, S. 320 f. m.w.N.; s.a. Stern, Staatsrecht I, S. 167

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er verfassungsdogatische Anwendungsbereich

Die ;feutkiesstaaûichè ^Zuordnung einfachgesetzlicher Rechtssätze anhand einei;) aufeinander abgestimmten Kombination formaler und material-funktionaler. Maflstäbe wird m der überwiegenden Zahl der auftretenden Fälle eine eindeutigem bei wtenigen Grenzfällen eine jedenfalls plausible und durch Offeaifägung ü#er Präihisseiii> annähernd rationale Qualifikation in kompetfcnzreChtlicher ^ mag man im Einzelfall die tragenden QuaffikatiomMtbrien, t abhängig von der eigenen methodologischen Vörprägung : oder : vört einem verfessungspolitischen Standpunkt aus enger oder* Weiter verstehen und,somit zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, je ^chdem db man;eine;mehr traditionalistische, systemorientierte oder rein funktionälistisehe Sicht des Kömpetenzgehalts favorisiert. Die demzufolge immer wrMeibende;: Streuung im Ergebnis beruht primär auf den Sachstrukturen der Kompetenzzuteilung selbst, ohne daß der methodisch gebundene Rechtsanwender die in den Katalogen der Art. 73 - 75 GG offen oder versteckt enthalténep Unsto verbalen Überschneidungen (oder auch L ^ e j i i ^ ^ner^lkiàuseiartigén Ansätze etc. in eigener Regie ändern könnte. Dieses Piiäiiomen ^ dogmatischer Unschärfe ist allerdings keine póneterhèìt, tìér C^çtçge^^ des Grundgesetzes;; X ' r n u n d Begriffehof - bei der Ausdeutung u^besifimmié^ Rçèftt^^^ 'Verwaltungsrecht 170 ebenso wie bei der Interpretation grun^r^tfiçher Normbereiche und -schranken171. Wägend auf jçnen Feldern der generelle Vorwurf willkürlicher, unkontroüiefiefc'Entscheidungen, untragbarer Ergebnisse und nicht überzeugender Lösungen kaum laut ;geworden ist, ist für einen Teil des Schrifttums die kompetßrizrochtliche^"Zuordnung insbesondere der "idealkonkurrierenden", ambivalenten Normerikonkurrenzen eine; allenfalls "beliebige und zufällige Dezisiöh"W >Ein Schwerpunkt lasse sich in diesen Fällen schlechterdings nicht· nachweisen;; iijdem die Diskussion aus ambivalenten Regelungen die richtigen* Folgfen zu -ziehen versäumt habe, habe der Putativzwang zur alter• il·'· ι ;V: hT

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676 f. Zur Kompetenzbegründung und -abgrenzung unter dem Gesichtspunkt des Sachzusammenhangs grundlegend Bullinger, Kompetenz, S. 238, 241 ff.; ders., Zuständigkeit, S. 800. - Gerade der letztgenannte Topos erscheint - jedenfalls als selbständige Kompetenibegründung - entbehrlich, wenn nicht gefährlich für das bundesstaatliche Kompetenzverteilungssystem. Als eigenständige Zuständigkeitsbegründung neben den r Kompetenzen kraft Annexes und Natur der Sache ermangelt sie sowohl des Naçhweîse^ ihrer; Notwendigkeit als auch ihrer Berechenbarkeit; die etwa bei Badura (Stàatsrecht, Rdnr. F 28) aufgeführten Fälle lassen sich zwanglos als Annexkompetenzea (deuten. Versteht rn^n sie demgegenüber als besondere Interpretationsmodalität, erscheint sie ^als' Syiionym für eine schwerpunktorientierte Auslegung überflüssig; s, •Öefjto^^^ 'S"; 430. Zurückhaltend auch Hesse, Grundzüge, Rdnr. 236. ~ ^^^yEri^hsen / Martens, Verwaltungshandeln, § 12 II 1 (S. 192). Ζύ ; ihren' Varianten zusammenfassend Bleckmann, Grundrechtslehren, S. 59 ff. m.w.N.

: ^ So Lerche,

Gesetzgebungskompetenz, S. 471.

135

III. Art. 31s GG* undflas» V e r h ä l t ^ d e ^

nativen Quàhf0catìon überzeugend^ liäsimgen verhinc^ t Probtenatiseb istdabei; wenigerdiein ihrer Rigidität ündGrundsäfcdichkeit iweit überzogene PhiUppika gegen Rechtsprechung und .Wissen^èhaô .an i siefe ^ /manche EntschekiungeiT s des ^Bundesverfassungsgerichts ' fordern · begründete - Kritik ^idaraus gezogenen^Fblgerungèn fündas zugestandet!^heraus ί - , isoriderh Verhältnis voir logfelativeii Bundeé- und Lahdeszuständigkeitenr Die Kritiker ziehen nänilieh aur der für sie unbestreitbaren timriôglichkëif einer Auflösung solcher die, >iKc>n$eqaenzy die dadurch entstände.* ηt(i KompetenzkollisiDiiea nichts auf der Ebene ^ f£ QG Auszug räumeh; sondern sie M dhi über Art. 3i-GGzugunstendes Vorrangs :der Gesetzgebühgszusläiiägi· keit des Bundes aufzulösen?7*. Diese unitänsche "Radikalkur" ist vqnl den einmal ängenommeileri' Brâfnis&esn aus ι < folgerichtige ) begegnet s aber gemde deshalb •erheblichen-Bedenken, Und zwar i m mehrfacher JRdehtung.ν Erstens ist Kreits Oder Ausgangspunkt dieser Lehre nicht der der grundgösetzlichen Kompetenzvef teüungi ι Art 70fCrG,steilt ;dem Gesetzgeber nicht die'Ffcage, ob Bund a ^ r Länderl zur Regeluqg einés bestimmten Lebenssachverhalts untér verschiedenen*7* Aspekteto^é^ smdi1^ söhdern ìpb,:^m; unetnur i h m ^ d i e Gesetzgebungskompetenz verliehen ist/ Ist^^ Fall, kann der: >Bundesgesëtzgèbér : $einer Zuständigkeit ya Β YerfGp 4,r 115; "-··

·;;·o 6 ·.}^: newr^l^Zgfeiuir^.^PartG; Na^wei^über,ältere/ ^ ;··ί\Λ·νπ·ο: V - , ' db' ':·;; J·1 ^ Eitóéfeeitétì-'isUi^diem^ EiWchtìgu^^ Maunz, in: Mauriz7 ^Dütfig;'Är£ ^y-Rdnr;' 1& ft jeweils1 m M . ; -BVèrwG tt 2&M9$6>·:ίίβ7β)»64> 5, j6:fcrr32^deneiner·. hinten (insfo. die organi^tionsrfeçhtli^hien Vorecly-ifteff betr. dje V^rfas^ngsorg^pe; ,d Carl Hermann: Beamtenrecht, Köln u.a. 1970 Usteri, Martin: Theorie des Bundesstaates. Ein Beitrag zur Allgemeinen Staatslehre ausgearbeitet am Beispiel der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 1954 Vaulont, Nikolaus: Grundrechte und bundesstaatliches Homogenitätsprinzip. Untersuchung zu Artikel 142 des Grundgesetzes, Jur. Diss. Bonn 1967

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