Briefe und Tagebücher zwischen Text und Quelle: Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch II [1 ed.] 9783428558919, 9783428158911

Johann Wolfgang von Goethe rechnete die Briefe »unter die wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen ka

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Briefe und Tagebücher zwischen Text und Quelle: Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch II [1 ed.]
 9783428558919, 9783428158911

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Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch II

Briefe und Tagebücher zwischen Text und Quelle Herausgegeben von Volker Depkat und Wolfram Pyta

Duncker & Humblot · Berlin

Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch II

Briefe und Tagebücher zwischen Text und Quelle Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch II

Herausgegeben von Volker Depkat Wolfram Pyta

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISBN 978-3-428-15891-1 (Print) ISBN 978-3-428-55891-9 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhalt Volker Depkat und Wolfram Pyta: Briefe und Tagebücher zwischen Literaturund Geschichtswissenschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Maria Thurmair und Christian Fandrych: Das Tagebuch aus text(sorten)linguistischer Perspektive  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Michael Maurer: Tagebücher als Quellen der Geschichtswissenschaft  . . . . . . . . . 57 Miriam Nandi: Schreiben in Serie – Überlegungen zu Form und narrativer Identität in englischen Tagebüchern der Frühen Neuzeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Thomas Stamm-Kuhlmann: Die Tagebücher Karl August von Hardenbergs als Quelle der Geschichtswissenschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Sebastian Rojek: Beglaubigte Selbstrechtfertigung oder skeptische Selbsthistorisierung? – Überlegungen zu Strategien der Einbindung von Briefen und Tagebüchern in Autobiographien des 20. Jahrhunderts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Andrea Albrecht und Wolfram Pyta: Die Tagebücher des Dr. phil. Joseph Goebbels. Überlegungen zu Schreibprozess, Überlieferungsabsicht und Literarizität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Robert Vellusig: Imagination und Inszenierung. Symbolische Distanzregulation in der Briefkultur des 18. Jahrhunderts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Anita Krätzner-Ebert: Denunziatorische Briefe in der DDR – Form, Intention, Kommunikations­strategien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Jochen Strobel: Otto von Bismarck. Ein Prominenter des 19. Jahrhunderts in der Briefkultur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Udo Grashoff: Abschiedsbriefe. Letzte Zeilen vor dem Suizid als historische Quellen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Jens Ebert: Briefeschreiben in Extremsituationen: Feldpost im Zeitalter der Weltkriege  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Volker Depkat: Briefe deutscher Amerika-Auswanderer zwischen Text und Quelle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

6 Inhalt Maria Zens: Autorpositionierungen – zur „inneren Geschichte“ der Vermarktung schöner Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Sebastian Hansen: Offene Briefe als Auslöser von Medienskandalen in Deutschland seit 1945  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

Briefe und Tagebücher zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft Von Volker Depkat und Wolfram Pyta Briefe und Tagebücher sind klassische Materialien sowohl der Geschichtsals auch der Literaturwissenschaft, die sich diesen Phänomenen mit ihren jeweils eigenen Methoden, disziplinären Erkenntnisinteressen und in ihren jeweils fachspezifischen Forschungstraditionen nähern. Im Zeichen der kulturwissenschaftlichen Wende in den Geisteswissenschaften haben Briefe und Tagebücher sogar noch an Bedeutung gewonnen, versprechen sie doch als Selbstzeugnisse, Egodokumente oder Life Writing einen privilegierten Zugang zu den Selbstvergewisserungsprozessen von Individuen und Gruppen im historischen Prozess und – daran gekoppelt – historischen Formen, Medien und Praktiken gesellschaftlicher Sinnstiftung.1 Deshalb erfahren die Phänomene Brief und Tagebuch gegenwärtig sowohl in der Geschichts- als auch in der Literaturwissenschaft eine umfassende Neubewertung im Lichte von textpragmatischen, diskursanalytischen, narratologischen und kulturgeschichtlichen Fragestellungen.2 Obwohl sie sich beide mit Tagebüchern und Briefen auseinandersetzen, sehen Historiker*innen und Literaturwissenschaftler*innen in ihnen doch ganz unterschiedliche Dinge. Für die an der historischen Quellenkunde geschulten Historiker gehören beide Genres zu den persönlichen Quellen, die Wege in die Gedanken- und Vorstellungswelt, die Motivationen und Reflexionen, die Emotionen und menschlichen Eigenarten von historischen Akteuren zu bahnen versprechen, die Geschichte gemacht, beobachtet, erfahren oder erlitten haben.3 Als solche persönlichen Quellen sind Tagebücher und Briefe in der historischen Quellensystematik scharf von den Akten unterschieden, von dem Schrifttum also, das öffentliche und private Institutionen im Vollzug 1  Zu Selbstzeugnissen siehe Henning und Krusenstjern. Zu Ego-Dokumenten siehe Schulze; Fulbrook/Rublack; Greyerz; Depkat, Ego-documents. Zur Dikussion um Life Writing siehe Smith/Watson. 2  Vgl. aus den jüngeren Veröffentlichungen zum Thema etwa Schiffermüller/Conterno; Schöne; Schuster/Strobel, Briefe; dies., Briefkultur. Siehe auch den Beitrag von Thurmair/Fandrych in diesem Band. 3  Zur historischen Quellenkunde Baumgart, Quellenkunde; ders., Bücherverzeichnis.

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ihrer Operationen produzieren, wie beispielsweise Kabinettsprotokolle, Parlamentsakten und andere Sitzungsunterlagen, Gesetztestexte und Verträge, Statistiken und ähnliches mehr. Diesem Material wird von der historischen Quellenkunde durchgehend ein höherer Grad an Objektivität zugesprochen als den weithin als unzuverlässig geltenden persönlichen Quellen. Indem Historikerinnen und Historiker Tagebücher und Briefe als Quellen lesen, lesen sie diese Texte im Durchgriff auf eine dahinterstehende historische Realität; und es findet sich in ihren Kreisen zum Teil immer noch die Auffassung, dass Briefe und Tagebücher einen direkten Zugang zu den authentischen Gefühlen und Gedanken eines Individuums bieten – vor allem der vermeintlich nicht-öffentliche ‚Privatbrief‘.4 Der epistemologische Effekt dieser fragenden Aufbereitung von Tagebüchern und Briefen ist, dass die Persönlichkeit der Tagebuchschreiberin oder des Briefeschreibers selbst zu einer historischen Tatsache wird, die sich in den Selbstzeugnissen scheinbar ausdrückt oder widerspiegelt. Im Unterschied dazu folgt die sprach- und literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Briefen und Tagebücher einer anderen erkenntnistheo­ retischen Dynamik. Anstatt die Existenz eines historischen Ichs schlicht voraus­zusetzen und die Autor*innenstimme eines Briefes oder eines Tage­ buches naiv mit der historischen Person der Briefeschreiberin oder des Tagebuch­autors zu identifizieren, zeigen sich Sprach- und Literaturwissen­ schaftler*innen primär an den sprachlich-textuellen Mechanismen der IchKonstitution in Tagebüchern und Briefen interessiert. Indem sie die Genrekonventionen, narrativen Muster und Strategien des Emplotment in diesen Selbstzeugnissen untersuchen, gehen sie der Art und Weise auf den Grund, wie Wirklichkeit und damit auch das Ich in Briefen und Tagebüchern überhaupt repräsentiert werden können.5 In diesem Licht betrachtet erscheinen Briefe und Tagebücher dann als Texte, in denen Vorstellungen vom Ich fortlaufend konstruiert, verhandelt, verteidigt oder neu formuliert werden. So gesehen wird das Ich, das sich in beiden Genres scheinbar ganz privat und vermeintlich frei äußert und seine Gefühle schildert, im jeweiligen Medium der Selbstthematisierung semantisch überhaupt erst hervorgebracht. Dabei ist es zugleich immer an die gesellschaftlichen (Schreib-)Konventionen, kollektiv geteilten und akzeptierten Identitäts- und Ich-Entwürfe und die Leseerwartungen des Publikums an die

4  Zur Entwicklung dieses Topos Müller. Dazu auch die Beiträge von Vellusig und Strobel in diesem Band. 5  Allgemein hierzu Smith/Watson und Wagner-Egelhaaf. Für das Tagebuch hat Dusini das in jüngster Zeit vorgeführt. Für Briefe haben insbesondere Schuster/Strobel, Briefe; dies., Briefkultur und Vellusig, Schriftliche Gespräche dies geleistet.



Briefe und Tagebücher9

jeweiligen Textsorten gebunden.6 Das gilt zumal für literarische Autoren oder solche unter öffentlichem Legitimationsdruck wie etwa politische Entscheidungsträger, bei denen immer auch Nachlass- und Publikationsstrategien mitbedacht werden müssen; doch sind diese komplexen Zusammenhänge nicht auf sie beschränkt. Besonders erhellend kann es daher sein, ex­ treme Schreibsituationen zu analysieren, in denen der Brief oder das Tagebuch eine privilegierte existenzielle Kommunikationsform einnimmt – sei es als Bestandteil von Gefängnisliteratur,7 als Abschiedsbrief beim Selbstmord8 oder als an den Verfasser selbst gerichtete Mitteilungen im Schutz eines Versteckes wie im Falle der Anne Frank.9 Briefliche und diaristische Aufzeichnungen eignen sich als Generator von vermeintlich authentischen Gefühls­ äußerungen ebenso wie als probates Mittel ihrer Einhegung und Disziplinierung. Sie sind nicht zuletzt deshalb auch für eine praxeologisch orientierte Geschichtswissenschaft fruchtbar gemacht worden.10 Doch gleich, ob als Quelle oder Text gelesen: Briefen und Tagebüchern sind einige zentrale Strukturmerkmale gemeinsam, die es erlauben, sie hier im Zusammenhang zu behandeln. Da ist zunächst die Vielgestaltigkeit von Briefen und Tagebüchern im Hinblick auf Form, Inhalt und kommunikative Funktionen. Sabine Gruber unterscheidet typologisch zwischen Tagebuch als persönlicher Chronik und Erinnerungsstütze, als Medium zum Festhalten von Reiseerlebnissen, als religiöses Medium, als Medium der introspektiven Selbstreflexion sowie als literarisches Werk.11 Das, was Gruber für Tage­ bücher feststellt, gilt auch für Briefe, die ebenfalls in ganz verschiedenen Formen daherkommen, für ganz unterschiedliche Inhalte offen sind und ein breites Spektrum von kommunikativen Funktionen erfüllen. Definiert als kurze schriftliche Mitteilungen an einen bestimmten Adressaten als Ersatz für mündliche Aussprache, kann der Brief von der Gebrauchsform bis hin zur literarischen Kunstform reichen, die vielfach als Teil des Gesamtwerks eines (häufig literarischen) Autors von literaturwissenschaftlichem Interesse ist.12

6  Bohrer,

S. 18. etwa Eisner; Moltke; Fallada; als besonderes Beispiel für literarische Stilisierung und biographische Kapitalbildung: Rinser. 8  Vgl. hierzu neben dem Beitrag von Grasshoff in diesem Band die Analyse überlieferter Abschiedsbriefe von Berliner Selbstmördern in der Weimarer Republik bei Goeschel, S. 68–87 und Föllmer, S. 209–219; vgl. allgemein Dietze. 9  Frank. 10  Vgl. Böth. 11  Gruber, S. 49–72. 12  Nickisch; Reinlein; Schöttker. 7  Vgl.

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Neben ihrer Vielgestaltigkeit ist beiden Gattungen gemeinsam, dass sie auf der Grenze zwischen privater und öffentlicher Kommunikation angesiedelt sind. Nicht nur gibt es private und öffentliche Briefe und Tagebücher, sondern auch private Briefe und Tagebücher, die entgegen den Intentionen ihrer Verfasser*innen irgendwann dann doch veröffentlicht werden, in Teilen immer schon zur Veröffentlichung bestimmt sind, oder auf eine mögliche spätere Veröffentlichung hin verfasst werden. Darüber hinaus gibt es amtliche Briefe und Tagebücher, die integraler Bestandteil institutioneller Überlieferung sind und mit individueller Selbstreflexion so rein gar nichts zu tun haben. Was Briefe und Tagebücher ebenfalls verbindet ist ihre Hybridität zwischen Faktizität und Fiktionalität. Nicht nur, dass es fingierte und echte ­Tagebücher gibt oder in Form von Tagebüchern und Briefen geschriebene Romane; das Problem von Faktizität und Fiktionalität ist viel grundsätz­licher, denn ganz ohne literarische Überformungen kommen Briefe und Tagebücher selbst in ihrer Gebrauchsform nicht aus, wenngleich der Grad an Fiktionalisierung von Fall zu Fall durchaus schwanken kann.13 Das hat damit zu tun, dass Tagebücher und Briefe jeweils spezifischen Genrekonventionen und spezifischen Strategien des Emplotment unterliegen, die die Auswahl des Geschilderten maßgeblich prägen. Allerdings sind Ereignisse, Situationen und Zustände, von denen sie berichten – und wie sie berichten – nicht nur das Ergebnis einer subjektiven Auswahl. Sie ankern auch in dem Selbstentwurf des Brief- oder Tagebuchschreibers als Brief- und Tagebuchschreiber und dem von ihm oder ihr im Akt des Schreibens imaginierten Adressaten, auf den hin die epistolarische oder diaristische Kommunikation organisiert ist. Nicht wenige Historiker*innen fremdeln nach wie vor mit der Tatsache, dass die Sprecher*innen in Briefen und Tagebüchern nicht identisch sind mit der historischen Person der Verfasserin, des Verfassers, sondern dass sie sich als Brief- und Tagebuchschreiber entwerfen und als solche gewisse kommunikative Rollen im Hinblick auf das von ihnen selbst imaginierte Publikum spielen. Weder kann man also im Umgang mit epistolarem und diaristischem Schreiben von einer generellen ‚Unverstelltheit‘ ausgehen, noch kann man in ihnen ob ihrer fiktionalen Elemente und Strategien generell literarische Texte sehen, die allein auf sich selbst verweisen, nicht aber auf eine außertextuelle Wirklichkeit. Sofern es sich nicht um rein fingierte Briefe und Tagebücher handelt, bewegen sich beide Genres der Selbstthematisierung auf der Grenze von referentiellem und selbstreferentiellem Schreiben, dem ein gewisses Maß an Fiktionalität notwendig inhärent ist. Doch zwischen Briefen und Tagebüchern liegen durchaus noch mehr Schnittmengen: Man könnte in gewisser Hinsicht Tagebücher als „Briefe an 13  Für

Tagebücher: Gruber, S. 62. Für Briefe: Schuster/Strobel, Briefe, S. XIII.



Briefe und Tagebücher11

sich selbst“ verstehen,14 wenngleich sich diaristisches Schreiben durchaus nicht zwangsläufig allein an den Autor richten muss. Dasselbe gilt umgekehrt allerdings auch für Briefe: Hier ist zwar der kommunikative Charakter ausgeprägter, allerdings müssen Briefe nicht zwangsläufig abgeschickt werden, sondern können ebenso der intimen Selbstvergewisserung dienen, die man gemeinhin Tagebuchschreibern zuschreibt. Zwar imaginieren Briefe als „schriftliche Gespräche“ im Sinne Robert Vellusigs immer eine Gesprächs­ situation, doch haben sie – fast gegenintuitiv – einen monologischen Charakter, und das nicht nur, weil in der Regel das Gegenstück – der vorausgegangene oder antwortende Brief des Adressaten – nicht überliefert ist.15 Vielmehr bleiben Briefe ungeachtet aller von ihnen simulierten und vorausgesetzten dialogischen Kommunikation in ihrem Charakter einstimmig. Möglicherweise macht diese Monologizität einen erheblichen Teil ihres Reizes aus: Franz Kafkas Briefe erscheinen auch deswegen so faszinierend, weil die Gegenbriefe und Antworten seiner Geliebten fehlen. Seine Stimme ist die dominante und sogar hierarchische Stimme – die Frauen selbst tauchen in den edierten Sammlungen häufig nur als Vornamen auf.16 Wobei sich durchaus fragen lässt, ob Kafka seine entsprechende Post überhaupt primär als Dialog angelegt hatte, oder ob sie ihm (auch) dazu diente, überhaupt zum literarischen Autor zu werden.17 Briefe sind aus dieser Perspektive weniger als „eine Art schriftlicher Gesprächskultur“18 sondern vielmehr als „Elemen­ tarfor[m] interaktionsfreier Kommunikation“ zu verstehen.19 Damit rücken Briefe in eine deutliche Nähe zum Tagebuch, dessen kommunikativer Status zwischen Monolog und Dialog ebenfalls eher unscharf definiert ist. Religiöse Tagebücher sind vielfach ein Gespräch mit Gott, und in nicht-religiösen ­Tagebüchern entfaltet sich die diaristische Introspektion, wie Arno Dusini betont, als ein Gespräch des Tagebuchschreibers mit sich selbst, weshalb das Monologische dem Tagebuch gerade nicht eigen sei.20

14  Ein solches Verständnis ist inzwischen von der boomenden Ratgeberliteratur als Weg zur Selbstoptimierung entdeckt worden. Vgl. etwa Mardorf. In gewisser Hinsicht lassen sich Spuren der epistolaren Kommunikation als Möglichkeit der Selbstveränderung bis in die Antike zurückverfolgen vgl. hierzu exzellent am Beispiel Senecas Albrecht. 15  Vellusig, Schriftliche Gespräche. Vgl. hierzu auch den Beitrag zu Auswandererbriefen von Depkat in diesem Band. 16  Vgl. zu Kafkas Epistolographie Haring. 17  Vgl. Theweleit, S. 976–1045. 18  Baasner, S. 14. 19  Vellusig, Schriftliche Gespräche, S. 21. Vgl. in diesem Sinne auch Stach, S. 163–166. 20  Gruber, S. 55–59; Dusini, S. 68–70.

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Allerdings erschöpfen sich Briefe und Tagebücher – das ist eine weitere Gemeinsamkeit – gar nicht einmal nur in Geschriebenem, können sie doch Zeichnungen, kalligraphische Elemente oder andere Materialien wie Zeitungsausschnitte, Fotographien, Eintrittskarten, Geld usw. enthalten. Damit erweitert sich das Spektrum der medialen Möglichkeiten von Briefen und Tagebücher weit über das geschriebene Wort hinaus, wird die Materialität von Briefen und Tagebüchern ganz unabhängig von den Inhalten zu einem wesentlichen Teil ihres Quellenwertes.21 Dies wird in diesem Band insbesondere anhand der denunziatorischen Briefe aus der DDR deutlich, die Anita Krätzner-Ebert in ihrem Beitrag vorstellt. Unter den Bedingungen der Diktatur war die äußere Form und die Materialität dieser Briefe, angefangen vom Briefumschlag über das Schreibpapier bis hin zur Handschrift, ein integraler Bestandteil der epistolaren Kommunikationsstrategie, wie Krätzner-Ebert herausarbeitet. Dass insbesondere die Handschrift des Verfassers oder der Verfasserin von Briefen and Tagebüchern ein herausragendes Merkmal ihrer Materialität ist, zeigt Jochen Strobel in diesem Band am Beispiel der Briefe des Reichskanzlers Otto von Bismarck. Dessen Handschrift spielte, so Strobel, eine ganz eigenständige Rolle bei der Entstehung des „Bismarck-Mythos“ in Deutschland. Auch beim Tagebuch ist sowohl die Materialität des Buches als auch die tageweise Gliederung und die textuelle Anordnung innerhalb dieser Tage ein ganz eigenständiger Faktor seiner Medialität, wie Maria Thurmair und Christian Fandrych in ihrem Beitrag für diesen Band betonen. Die Historiker-Kontroverse um die Riezler-Tagebücher zeigt zudem, dass die Materialität eines Tagebuchs auch für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung entscheidend sein kann.22 Eine für Historiker*innen besonders interessante Gemeinsamkeit von Briefen und Tagebüchern ist, dass sie – Briefserien vorausgesetzt – in chronologischer durch Daten markierter Folge Kommunikationsprozesse abbilden.23 Zweitens liegen durchaus vergleichbare Autorpositionierungen vor: Denn das schreibende Individuum kennt im Moment des Schreibens die Zukunft nicht und ist daher gehalten, permanente Aktualisierungen vorzunehmen. Im Gegensatz zu Autobiographien wird also nicht ausschließlich über ein bereits abgeschlossenes Geschehen retrospektiv berichtet, sondern die geschilderten Entwicklungen befinden sich noch im Fluss, ja werden durch die Kommunikation mitunter selbst erst herbeigeführt. Zwar ist es möglich, dass auch ­Tagebücher oder Briefe in längeren Abschnitten Ereignisse erzählerisch bündeln, aber die fortschreitende Kommunikation, enttäuschte Hoffnungen oder 21  Zum relativ neuen Forschungsfeld der materiellen Kultur von Literatur siehe das umfassend in die Materie einführende Handbuch von Scholz/Vedder. 22  Zur Kritik an der Authentizität der Riezler-Tagebücher siehe Sösemann. 23  Vgl. Schönborn, S. 574; Steuwer/Graf, Selbstkonstitution, S. 29.



Briefe und Tagebücher13

veränderte Ereigniskonstellationen zwingen zur permanenten Adaption. Für die Geschichtswissenschaft bildet gerade diese besondere Autorpositionierung das Moment, welches beide Gattungen als besonders aufschlussreiche Quellen erscheinen lässt. Manche Geschehnisse lassen sich quasi in ihrem chronologischen Verlauf vermeintlich direkt verfolgen, so dass der faszinierende Eindruck entstehen kann, die zeitliche Distanz zu den Ereignissen sei gewissermaßen aufgehoben. So sehr die Gemeinsamkeiten von Tagebüchern und Briefen ins Auge stechen, so sollten sie den Blick auf die Unterschiede zwischen ihnen nicht verdecken. Die Diskussion über Selbstzeugnisse, Ego-Dokumente und Life Writing als Formen der freiwilligen oder erzwungenen Selbstthematisierung, so fruchtbar sie war und weiterhin ist, birgt die Gefahr, ein sehr heterogenes und vielfältig schillerndes Material unter Großkategorien zusammenzufassen, die die gattungsgebundene spezifische Grammatik der Ich-Präsentation in den einzelnen Genres überdecken. In diesem Zusammenhang hat Eckart Henning schon 1971 hervorgehoben, dass es der Geschichtswissenschaft an einer vergleichenden „Strukturlehre der Selbstzeugnisse“ mangele.24 Selbstzeugnis ist mithin nicht gleich Selbstzeugnis, und die möglichst präzise Fassung der Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen, Medien und Genres der Selbstthematisierung kann das Bewusstsein dafür schärfen, dass sich ein und dieselbe historische Person in Tagebüchern, Briefen und Autobiographien jeweils ganz anders als Ich entwerfen, thematisieren und repräsentieren kann. Das Ich eines Tagebuches ist nicht dasselbe wie das eines Briefes, selbst wenn beide von demselben Autor, derselben Autorin stammen. Zudem legen die hier versammelten Beiträge nahe, dass sich selbst das Ich der Briefe oder der Tagebücher in der schreibenden Selbstvergewisserung über erfahrenen historischen Wandel während des Tagebuchschreibens oder im Verlauf einer Briefserie wandeln kann. Im Folgenden seien deshalb einige Überlegungen zur Spezifik der Selbstthematisierung in Tagebüchern und Briefen angeführt, wie sie im Lichte der hier versammelten Beiträge erscheinen. Um mit den Tagebüchern anzufangen, so ist in der Geschichtswissenschaft ein Verständnis von Tagebüchern vorherrschend, das diese als „täglich niedergeschriebene, chronologisch gereihte Aufzeichnungen,“ begreift, „in denen ein Autor mit sich selbst Zwiegespräche über sich und die von ihm wahrgenommene oder vorgestellte Umwelt festhält“.25 Auch für Henning dienen Tagebücher primär der „Niederschrift von Alltagsbegebenheiten und Erfahrungen, Empfindungen und Gedanken etc., die mit der Person des Tage­ buchführenden in einem, wie auch immer gearteten Zusammenhang stehen“. 24  Henning,

S. 16. S. 27.

25  Hüttenberger,

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Die Einträge müssten klar voneinander unterscheidbar sein und in „einem mehr oder minder strengen zeitlichen Rhythmus aufeinander folgen“. Zu den Stilmerkmalen gehörten, so Hennnig, „stereotype Kürze, Stichworte, Sachlichkeit, das eben Hingeworfene, Nüchterne und Unpersönlich-Geschäfts­ mäßige“.26 Tagebücher werden in der geschichtswissenschaftlichen Forschung mithin als eine für alle möglichen historischen Informationen offene Quelle diskutiert, die viele Wege in die lebensweltlichen Wirklichkeiten ihrer Verfasserinnen und Verfasser bahnt und der deshalb ein hoher Grad an Zuverlässigkeit und Authentizität zugebilligt werden kann, weil die in ihr enthaltenen historischen Informationen in großer zeitlicher Nähe zu den Begebenheiten, von denen berichtet wird, niedergeschrieben worden sind. Die jüngste literaturwissenschaftliche Forschung diskutiert Tagebücher demgegenüber als ein in Tagen organisiertes narratives Instrument der Selbstund Zeitbeobachtung. Für Sabine Gruber ist ein Tagebuch „ein im Zeitmaß des Tages organisierter und in Ich-Perspektive formulierter Text in handschriftlicher oder elektronischer Form, dem vom Autor oder anderen Personen unterschiedliche Wirkung wie die Entlastung des Gefühls oder des Gedächtnisses zugeschrieben werden, und der sich entweder an das Ich des Diaristen, das Tagebuch selbst oder an imaginierte oder real vorhandene Empfänger richtet“.27 Immer aber gründet die diaristische Kommunikation – zumindest die nicht-amtliche – in der Vorstellung des Privaten, des Intimen, ja des Geheimen. Während das nicht zugleich auch heißt, dass dies tatsächlich der Fall war, so ist doch zu betonen, dass der Topos der Privatheit Art, Form und Inhalt der Selbstthematisierung in einem Tagebuch nachhaltig strukturiert – und dass er auch die Erwartungen der Leser von Tagebüchern bestimmt.28 Noch viel radikaler fokussiert Arno Dusini auf die narrative Dynamik des Tagebuchs, wenn er es als eine Form des Erzählens von Tagen in Tagen begreift. Das temporale Gerüst des Tagebuches gründe in der „Figur des Tages“,29 und dem Tag werde „durch die Gattung hindurch und in den Gattungen selbst eine Welt von je eigener Qualität“ abgewonnen.30 Dies sei einerseits das Ergebnis rigoroser Selektion.31 Andererseits werde ein Tag im Tagebuch nur im Zusammenhang mit anderen Tagen sinnvoll interpretierbar, so dass an „dem einen TAG […] die anderen TAGE gleichsam mit[schreiben]“.32 Belege: Henning, S. 29–30. S. 46. 28  Dusini, S. 70–71. 29  Ebd., S. 88. 30  Ebd., S. 90. 31  Ebd., S. 104. 32  Ebd., S. 102. 26  Alle

27  Gruber,



Briefe und Tagebücher15

Die „Zeit des Tagebuchs“ sei deshalb „textierte Zeit“.33 Diese literaturwissenschaftlichen Ansätze sind anschlussfähig an die Stränge der historischen Forschung, die Tagebücher nicht nur als Medium von „Selbstreflexionen und Weltdeutungen“, sondern gerade auch als „Medium der Selbstkonstitution und Welterzeugung verstanden“ wissen wollen.34 Ein solches Verständnis von Tagebüchern erlaubt es, Subjektkonstituierungen in Abhängigkeit von politischen oder sozialen Geschehnissen genauer zu eruieren und vor allem Prozesse individueller Aneignung transparent zu machen. Die bisherige Forschung hat hier durchaus beachtliche Ergebnisse für die Frühzeit des „Dritten Reiches“ oder etwa zum linksalternativen, universitären Milieu erbracht.35 Aus textlinguistischer Perspektive, wie sie in diesem Band von Maria Thurmair und Christian Fandrych eingenommen wird, erscheinen Tage­bücher freilich weder als Quelle noch als literarische Gattung, sondern als Textsorte. Der Begriff verweist auf eine durch spezifische Textmuster bestimmte Klasse von Texten die „bestimmten (komplexen) sprachlichen Handlungen zuzuordnen sind“.36 Das Zusammenspiel von Text- und Handlungsmuster definiert den Orientierungsrahmen für Prozesse der Textkonstitution und des Textverstehens. Textsorten erfüllen spezifische, wiederkehrende kommunikative Aufgaben in der sozialen Handlungspraxis, so dass die Kenntnis von Text­ sorten zum Alltagswissen gehört. Auch aus textsortenlinguistischer Perspektive erscheinen Tagebücher als ein überaus vielgestaltiges Phänomen, das für eine Vielzahl an Themen und Denkinhalten offen ist und das in verschiedenen Kommunikationsbereichen verschiedene Zwecke erfüllen kann. Ungeachtet dieser Vielfalt ist allen Tagebüchern die Gliederung in regelmäßige Einträge ein und derselben Person und eine auf dieser zeitlichen Struktur basierende Textstruktur gemeinsam, die vor allem zwei kommunikative Funktionen erfüllt: erstens die Dokumentation von Ereignissen und Begebenheiten, zweitens die Reflexion des Erlebten im weitesten Sinne. Tagebuchtexte, betonen Fandrych und Thurmair, „vereinigen so typischerweise eine expressiv-sinnsuchende Funktion mit einer wissensbereitstellenden Funktion (im Sinne ihres dokumentarischen Charakters)“.37 Indem die Verfasserinnen und Verfasser von Tagebüchern sich subjektiv-deutend und bewertend mit der sie umgebenden Gesellschaft auseinandersetzen, eigenes Erlebtes dokumentieren, reflektieren und deuten, setzen sie sich, wie Thurmair und Fandrych betonen, auch mit Kohärenzentwürfen, Kohärenzanforde33  Ebd.,

S. 93.

34  Steuwer/Graf, 35  Vgl.

Graf.

Selbstkonstitution, S. 10. etwa Steuwer, Drittes Reich; ders., Weltanschauung; ders., Blatt; Fritzsche;

36  Thurmair/Fandrych 37  Ebd.,

S. 50.

in diesem Band, S. 31.

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Volker Depkat und Wolfram Pyta

rungen und Kohärenzbrüchen bezüglich des Selbstbildes und des eigenen Lebensentwurfes auseinander. Die thematische Konstante in Tagebücher sei das subjektiv Erlebte, Vorgestellte, Erhoffte, Befürchtete, Gedachte in seiner Relevanz für das Selbst und seine Beziehung zur Umwelt. Damit sind Tagebücher mehr noch als andere Formen der Selbstthematisierung eine angemessene Antwort auf ubiquitäre Kontingenzerfahrungen: In einer Welt, die nicht mehr in religiöser wie sozialer Hinsicht eindeutig konfiguriert ist, findet das in die Bindungslosigkeit entlassene Individuum nur noch beim eigenen Ich Halt, das sich permanent seines Standortes zu ver­ gewissern hat.38 Die Fragmentiertheit und Brüchigkeit der Welterfahrung spiegelt sich mithin im Tagebuch als hervorstechendem Ort wider, im dem Kontingenzbewusstsein gespeichert wird. „Kontingenz als Eröffnung von Handlungsspielräumen“39 findet seine textuelle Entsprechung in der Form des Tagebuchs, das durch seine Unabgeschlossenheit offene Zukünfte für das diaristische Ich erschreibt. Kontingenzerfahrung schlägt sich nicht zuletzt in existenzbedrohenden Situationen in einer bestimmten Schreibpraxis nieder. Michael Maurer zeigt in diesem Band,40 wie Tagebücher unter den Bedingungen einer lebensbedrohenden Diktatur in dokumentarischer Absicht entstanden – als Zeugenschaft marginalisierter Gruppen wie Deutsche jüdischen Glaubens in der NS-Zeit. Die Tagebücher Victor Klemperers sind das eindrücklichste Beispiel für eine solche Überlieferungsabsicht: Die diaristische Gegenwehr gegen die Einschnürung der öffentlichen Kommunikation besteht darin, in trotziger Selbstbehauptung Zeitzeugenschaft täglich zu beglaubigen. Tagebücher sind nicht nur diejenige Textsorte, die – in eine offene Zukunft hinein entworfen – Kontingenzbewußtsein am prägnantesten einfängt. Auch wenn man aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive das Tagebuch als Quelle mit besonders markantem Authentizitätsanspruch betrachtet, wird man die Sequenzialität der Tagebucheinträge auch als Kontrollinstanz für den im Tagebuch artikulierten Selbstentwurf des Tagebuch – Ichs anzusehen haben. Denn der Tagebuchschreiber ist bei der Relektüre seiner Tagebücher einer Begegnung mit sich selbst ausgesetzt – einer Konfrontation mit Möglichkeitsräumen, die zum Zeitpunkt der diaristischen Niederschrift eine offene Zukunft repräsentierten, die Jahre danach längst verschlossen ist. Das diaristische Ich kann sich mithin aufgrund der inneren Dynamik des Tagebuchs in seinem Selbstentwurf immer weiter fortschreiben.41 Insofern ist das 38  Wuthenow,

S.  220 f. S. 15. 40  Maurer in diesem Band S. 65–66. 41  Sader, S. 40. 39  Toens/Willems,



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Tagebuch das anspruchsvolle literarische Reflexionsmedium für diesen Prozess unaufhörlicher Selbstvergewisserung, in dem schon Kafka die strukturellen Vorteile des Tagebuchschreibens erblickt hatte.42 Dabei bleibt aber als konstitutives Gattungsmerkmal des Tagebuchs dessen Unabgeschlossenheit bestehen, die es gegen jede Finalisierung ex post feit. Miriam Nandi legt in ihrem Beitrag für diesen Band den Fokus auf die Genese des Tagebuchs im frühen 17. Jahrhundert in England. Sie breitet aus, wie sich die Autoren mittels ihres Tagebuchs eine narrative Identität erschrieben, die – und dies ist eine Signatur der Frühen Neuzeit – sich nicht zuletzt aus der innigen Beziehung zu Gott ergab. Göttliche Eingriffe in das eigene Leben strukturieren die täglichen Notate. In diesem Zusammenhang arbeitet Nandi auch einen Aspekt heraus, der für das Tagebuch an sich erhebliche Bedeutung besitzt: Da Tagebücher ihre eigene Herstellungsweise offenlegen, ist der Tagebuchschreiber gehalten, längere Schreibpausen zu begründen. In der Frühen Neuzeit sind es allem Anschein nach Schicksalsschläge, die den Tagebuchschreiber verstummen lassen.43 Im 20. Jahrhundert wird die Unterbrechung des Schreibprozesses in anderer Weise thematisiert: Der Autor hat sich die disziplinierende Logik täglichen Festhaltens von Impressionen so zu eigen gemacht, dass Neuanfänge des Schreibens nach längerer Schreibpause erheblichen Begründungsaufwand erfordern. In dokumentarischer Absicht geschriebenen Tagebücher wie das des Leiters der Presseabteilung der tschechoslowakischen Botschaft in Berlin, Camill Hoffmann, lassen den Spannungsbogen des Tagebuchschreibens erkennen: Hoffmann, der sich vor seiner diplomatischen Laufbahn als Dichter und Kulturkritiker betätigt hatte,44 hatte ganz bewusst den 100. Todestag Goethes gewählt, um seine lang gehegte Tagebuchabsicht zu verwirklichen.45 Doch Hoffmann musste sich erst dazu zwingen, seine nuancierten Beobachtungen im politischen Berlin regelmäßig niederzuschreiben: „Immer nehme ich mir vor, meine Notizen fortzusetzen, bald fehlt die Zeit, bald die Energie dazu“.46 Zwar gelang es Hoffmann nicht, sich so zu disziplinieren, dass er tägliche Notate zu Papier brachte. Aber er reflektierte über die mit dem Tagebuchschreiben verbundene Chronistenpflicht, die ihm schlechtes Gewissen bereitete: „Es ist eben nicht möglich, mit den Ereignissen Schritt zu halten, wenn man nicht täglich notiert. Diese Nachträge sind nichts mehr wert.“47 Es wäre ein perspektivenreiches Thema, Tagebücher, deren Verfasser immer wieder 42  Görner,

S. 146. in diesem Band S. 77–78, 84. 44  Sudhoff. 45  Hoffmann, S. 30. 46  Ebd., S. 65 (Eintrag vom 19. November 1932). 47  Ebd., S. 71 (Eintrag vom 28. Januar 1933). 43  Nandi

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solche Kunstpausen einlegten, systematisch auf die Frage hin zu untersuchen, ob neue Schreibanläufe auch mit einer Neuakzentuierung der Ich-Konstruktion einhergingen. Ebenfalls bedarf vertiefter Introspektion die Frage danach, was es für den Status eines Tagebuchs bedeutet, wenn es durch eine Art Geheimschrift vor den Blicken Dritter geschützt ist. Man wird die Hypothese aufstellen können, dass solche Codes als Abwehrmaßnahme gegen unbefugte Eindringlinge in die geheiligten Schatzkammern des Ich eingesetzt wurden – und daraus im Umkehrschluss ableiten, dass der Tagebuchschreiber seinem Journal derart intime Dinge mittelt, dass ein solcher Schutzmechanismus angebracht zu sein schien. Zumindest im Falle der Tagebücher von Carl Schmitt trifft dies zu: Er konnte Arkaninformationen von sich preisgeben, weil er seine Aufzeichnungen durch eine persönliche Variante der Gabelsberger Stenographie so verschlüsselt hatte, dass seine diaristischen Aufzeichnungen nur stenographischen Experten zugänglich sind.48 Wie verhält es sich, wenn das Tagebuch in einer anderen Sprache als die Muttersprache des Tagebuchschreibers verfasst ist? Der preußische Staatskanzler Hardenberg schrieb seine kurzen Notate für die Jahre 1806, 1810 und 1813 in derjenigen Sprache nieder, welche damals als lingua franca Europas fungierte – also auf Französisch. Im Jahre 1813 führte er parallel ein Tagebuch in deutscher Sprache, so dass sich die Frage aufdrängt, welche Absichten er damit verfolgte. Wie Thomas Stamm-Kuhlmann in diesem Band zeigt, hat Hardenberg seine spontanen ungefilterten Eindrücke in französischer Sprache abgefasst, während seine deutschsprachigen Tagesnotizen schon auf ihre Verwertung in Gestalt späterer Memoiren hin formuliert waren.49 Allem Anschein nach besaß eine Sprache, die der Tagebuchautor als Zweitsprache perfekt beherrschte, den Vorteil, die Impressionen des Tages ohne weitere Bearbeitung einfangen zu können, während die Muttersprache eher dazu verleitete, auf eine spätere Publikation hin zu schreiben. Gerade die Sperrigkeit des Tagebuchs lässt es zu, dass zwei unterschied­ liche temporale Entwürfe des eigenen Ich in ein produktives textliches Spannungsverhältnis gebracht werden. Dies geschieht dann, wenn das Tagebuch als diaristischer Entwurf einer offenen Zukunft als Kontrollinstanz eingesetzt wird, um die retrospektive Gestaltung des eigenen Lebens in autobiograpischer Form zu überprüfen. Sebastian Rojek demonstriert diese Kontrollfunktion des Tagebuchs am Beispiel einer 2013 erschienenen Schrift des Literaten Peter Schneider: Schneider konfrontiert seinen autobiographischen Rückblick auf ein Leben im linksalternativen Milieu der 1960er Jahre mit diaristischen 48  Vgl.

Schuller, S. VII f. sowie Giesler/Hüsmert/Spindler, S.  VI f. in diesem Band, S. 95.

49  Stamm-Kuhlmann



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Notaten aus jener Zeit, die er nicht veränderte. Daraus ergeben sich produktive Reibungen zwischen retrospektiver Bemächtigung der eigenen Lebensgeschichte und der Sperrigkeit verstörender Tagebucheintragungen, deren Quellenwert der Autor in geradezu vorbildlicher Quellenkritik einsetzt, so dass eine „skeptische Erzählung“ entsteht, „die offen ist für Kontingenz und Irrtümer“.50 Sebastian Rojek betont ebenfalls, dass es eine weit verbreitete Praxis beim Abfassen von Autobiografien ist, Tagebuchnotizen in beglaubigender Absicht einzusetzen.51 Daneben dienen tägliche Notate auch dazu, als Rohmaterial für spätere Memoiren Verwendung zu finden, wobei die Verfasser sich jede Freiheit herausnehmen, ihre Tagebucheintragungen nach Gutdünken zu verwerten und sich damit über deren Eigensinn hinwegzusetzen. Thomas ­ Stamm-Kuhlmann arbeitet in seinem Beitrag heraus, wie der preußische Staatskanzler Hardenberg mit seinen Tagebüchern in dieser Weise umging und sie in die Fragmente seiner Memoiren einfließen ließ.52 Gezielte Eingriffe des Autors in seine diaristischen Notate können zu genuin literarischen Zwecken erfolgen. Ungeformte rohe Tagebuchnotizen werden stilistisch neu komponiert. Das herausragende Beispiel in der deutschen Literatur sind gewiss die Kriegstagebücher von Ernst Jünger, der seine unter Frontbedingungen entstandenen Notate einem literarischen Formwillen unterwarf und auf diese Weise mit „In Stahlgewittern“ den literarischen Durchbruch schaffte. Dabei setzte Jünger gezielt die Faktualitätserwartung an ein dokumentarisches Tagebuch ein, als er seinem literarischen Erstlingswerk den Untertitel „Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers“ verpasste.53 Aus diaristischem Rohmaterial verfeinerte Kost zu machen, ist ein genuin literarisches Unterfangen. Davon zu unterscheiden sind rigorose Eingriffe in die originalen Notate, welche den Zweck verfolgen, ein politisch erwünschtes Narrativ in Umlauf zu bringen. Die faktuale Textsortenerwartung an das Tagebuch führt dazu, dass durch geschickte und nicht nach außen dringende Manipulation am Original ein neuer Text entsteht, der sich als Tagebuch tarnt und durch die damit einhergehende Authentizitätsvorspiegelung einen politisch zurechtgebogenen Plot quasi-dokumentarisch beglaubigt. Dies kann zu erbitterten Debatten innerhalb der Geschichtswissenschaft führen, wenn davon Schlüsseldokumente berührt sind. In der heftigen Diskussion um die Verantwortlichkeit für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden Tagebuchaufzeichnungen eines engen Mitarbeiters des damaligen 50  Rojek

in diesem Band S. 113. S. 109. 52  Stamm-Kuhlmann in diesem Band, S. 89–92. 53  Kiesel, S.  644 f. 51  Ebd.,

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deutschen Reichskanzlers Bethmann Hollweg, Kurt Riezler, auch aufgrund von Quellenarmut in diesen Status erhoben. Als aufgrund quellenkritischer Nachforschung sich der Eindruck verfestigte, dass die Riezler-Tagebücher für die entscheidende Phase des Juli 1914 nachträglich überarbeitet worden sind, büßten diese Tagebücher den Anspruch ein, die politischen Entscheidungen der deutschen Reichsleitung auf diesem Wege rekonstruieren zu können.54 Ein besonders markantes Beispiel für die Vielseitigkeit des Tagebuchs nehmen Andrea Albrecht und Wolfram Pyta in ihrem Beitrag für diesen Band in den Blick – die Tagebücher von Joseph Goebbels. Diese zählen zu den Schlüsseldokumenten der Forschung über den Nationalsozialismus und dienen der Forschung nicht zuletzt dazu, sich Hitler zu nähern, dessen privilegierter Beobachter Goebbels war. Die Tagebücher von Goebbels eignen sich bestens dazu, um an ihnen die Entwicklungsdynamik des Tagebuchschreibens aufzuzeigen. Denn bei Goebbels verschränken sich literarische und dokumentarische Funktionen des Tagebuchs: Der promovierte Germanist Goeb­ bels hatte literarisch mit der Tagebuchform experimentiert, bevor er seine täglichen Notate als Chronik einer von ihm zu schreibenden Geschichte des Nationalsozialismus erblickte und dazu ab Juli 1941 den Weg des Diktats wählte, um die exponentiell anwachsenden Informationsmengen bewältigen zu können. Wie aus dem Originaltagebuch ein politischen Verwertungsinte­ ressen unterworfener Text entsteht, demonstrierte Goebbels im Jahre 1934, als er mit seiner Publikation „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“ die sogenannte „Machtübernahme“ als Telos einer geschichtlichen Entwicklung hinstellte, in welcher der Zufall keine Platz mehr hatte. Dies suchte er durch eigens dafür prä­parierte Tagebucheinträge zu beglaubigen. Auch hinsichtlich der Schreibsituationen und Schreibpraxen zeugt das Goebbels-Tagebuch von enormer Vielfalt: Er führte gleich fünf separate Tagebücher, die er an verschiedenen Orten aufbewahrte; und er ging im Juli 1941 dazu über, seine täglichen Gedanken einem zuverlässigen Stenographen zu diktieren, der als unpersönliches Aufschreibsystem fungieren sollte. Insgesamt ging Goebbels mit der Textsorte Tagebuch so um, „dass er dessen hybrider Form ein breites Spektrum von textlicher Gestaltung“55 aufzwang. Nehmen wir im Vergleich zu Tagebüchern nun Briefe in den Blick, so ist zunächst festzustellen, dass Briefe wohl das Genre im weiten Feld der ­Ego-Dokumente, des Life Writing oder der Selbstzeugnisse sind, das ihre Verfasser*innen am meisten dazu zwingt, „Ich“ zu sagen. Auch wenn dieses epistolarische Ich nicht mit der historischen Person des Schreibers oder der 54  Zur Kontroverse um den Quellenwert vgl. die Edition der Riezler-Tagebücher durch Erdmann; grundlegende Kritik an deren Authentizität durch Sösemann. 55  Albrecht/Pyta in diesem Band S. 141.



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Schreiberin gleichgesetzt werden darf, so sind Briefe die wohl individualistischste Form der Selbstthematisierung. Gerade dies hat in den historischen Wissenschaften vielfach die Neigung befördert, Briefe als direkten Zugang zur Subjektivität des Briefeschreibers – ja als „Notenbuch meines Herzens“56 wie Friedrich Hebbel schrieb – zu lesen und deren Fingiertheit sowie die Fiktionalität und Publikationsstrategien der Briefeschreiber und -schreiberinnen zu unterschätzen. Die Vorstellungen vom Brief als ein Medium der unverstellten Innerlichkeit und der vertraulichen Selbstoffenbarung sind bis heute stark vom Genre des (bürgerlichen) Privatbriefes geprägt, wie es sich, das macht Robert Vellusig in seinem Beitrag für diesen Band deutlich, als integraler Bestandteil einer umfassenden Revolution der Artikulationsformen im 18. Jahrhundert ausprägte. Im Zeitalter der Aufklärung, so Vellusig, gewann die sprachliche Artikulation des Ich eine eigenständige Dimension, die durch die schriftliche Kommunikation noch einmal gesteigert wurde. Dem Privatbrief waren bestimmte Textbildungsverfahren, stabile Schreibroutinen und verbale Programme zu eigen, die eine spezifische „Sprache des Herzens und der Vertraulichkeit“ produzierten, in der ein Ich sich zugleich offenbarte und verbarg.57 Für Vellusig stellt das bis 1800 voll ausgereifte Genre des Privatbriefes eine Form der sprachlichen Distanzregulierung dar, in der Nähe auf eine Weise erkundet wurde, die in der tatsächlichen Interaktion so gar nicht möglich war. Die im Privatbrief sprachlich hergestellte Nähe vollzog sich demnach im Raum der Imagination; sie konnte im Brief sogar ‚näher‘ sein als in der realen Interaktionssituation. Einer besonderen Dynamik unterliegt die epistolare Dialektik von Enthüllen und Verbergen in den denunziatorischen Briefen, die Anita Krätzner-Ebert in diesem Band untersucht. Die brieflichen Eingaben an die Staatsmacht der DDR waren demnach einerseits ein Medium der Enthüllung von Normverstößen Dritter und anderseits ein Medium der Verhüllung des Denunzierenden, der oder die sich, so Krätzner-Ebert verschiedener „Maskierungsstrate­ gie[n]“ bediente, um sich im Akt der Denunuziation selbst zu verbergen.58 Zweifelsohne sind denunziatorische Briefe eine Sonderform epistolarer Kommunikation, insofern als diese einseitig ist, sich an die Staatsmacht als sanktionierender Instanz wendet, und ganz auf das Verbergen des schreibenden Ichs gerichtet ist. Der bürgerliche Privatbrief war demgegenüber immer beides, die Enthüllung und Verhüllung des Ichs, und dieses Stilideal bestimmte die Briefkultur des 19. Jahrhunderts nachhaltig und damit auch die 56  Hebbel,

S. 8. in diesem Band S. 157. 58  Krätzner-Ebert in diesem Band S. 199. 57  Vellusig

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historische Quellenkunde, die bis heute kaum über den im Historismus erreichten Stand hinausgelangt ist.59 Gleichzeitig strahlte die Form des Privatbriefes weit über die gebildeten bürgerlichen Kreise hinaus. In den Briefen Otto von Bismarcks an seine Verlobte und Gattin Johanna von Puttkamer erlebte sie sogar einen besonderen Höhepunkt, wie Jochen Strobel in seinem Beitrag zu diesem Band zeigt. Die höchsten ästhetischen Ansprüchen genügenden Briefe des preußischen Junkers an seine hochadlige Lebenspartnerin sind getragen vom Ideal der bürgerlichen Bildung, die hier unverhohlen demonstriert wird. Darüber hinaus sind Bismarcks Privatbriefe rhetorisch, stilistisch und erzählerisch von hoher Virtuosität. Sie folgen dem Ideal des Plauderns und setzen die Confessio als Stilmittel auf eine Art und Weise ein, die öffentlich-politische Verlautbarungen und intim-persönliche Äußerungen kunstvoll ineinander verflicht. Im Lichte dieser Befunde scheint es überaus lohnenswert, die Formen der Semantisierungen und literalen Prozeduren, die den Privatbrief an sich und seine verschiedenen Subgenres charakterisieren und die die Dynamik der Selbstthematisierung in ihnen bestimmen, im Rahmen einer vergleichenden Strukturlehre der Selbstzeugnisse noch genauer auszuloten. Einen Beitrag dazu leistet Udo Grasshoff in seiner Analyse der Abschiedsbriefe von Selbstmördern in diesem Band: Er weist auch in diesem an sich regellosen und freien, nonkonformen und fragmentarischen Genre eine Tendenz zur Normierung und Literarisierung nach, die sich seit dem 18. Jahrhundert beobachten lässt. Demnach bestimmen vier häufig auftretende Kernaussagen die inhalt­ liche Struktur von Briefen, die im Zusammenhang mit dem Akt der Selbst­ tötung verfasst wurden: Erklärung, Verabschiedung, Anweisungen für die Zeit nach dem Tod, und Entschuldigungen. Ebenso legt Krätzner-Ebert für die Sonderform des denunziatorischen Briefes einige zentrale Regeln der offi­ziösen brieflichen Kommunikation mit Behörden nach, die in der DDR allgemein bekannt waren und von denen die Denunziaten und Denunziatinnen auf signifikante Weise abwichen. Auch der formlose denunziatorische Brief war nicht regellos. Die Entstehung des (bürgerlichen) Privatbriefes als populäre Form der IchThematisierung wurde ermöglicht und getragen durch die sich seit dem 18. Jahrhundert beschleunigenden Alphabetisierungsprozesse. Diese erfassten aber nicht alle Schichten der Gesellschaft gleichermaßen, und sie führten vor allem nicht dazu, Kulturen der Schriftlichkeit überall tief in den Alltagswelten zu verankern. Nicht-bürgerlichen, bildungsfernen Schichten fiel es trotz Alphabetisierung schwer, sich und ihre Erfahrungen epistolarisch auszudrücken. Das wird besonders deutlich in solchen Konstellationen, in denen historische Prozesse und Ereignisse bildungsfernen Schichten den Griffel buch59  Depkat,

Plädoyer.



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stäblich in die Hand zwangen. So war das Briefeschreiben für Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkrieges, die Jens Ebert in diesem Band vorstellt, oder für die deutschen Amerikaauswanderer, die Volker Depkat untersucht, etwas Außeralltägliches und Ungewohntes. Diese Briefe wurden überhaupt nur deshalb geschrieben, weil deren Verfasserinnen und Verfasser ausgewandert oder in den Krieg geschickt worden waren. Die Feldpost- und Auswandererbriefe zeigen eindrücklich, wie schwer es der übergroßen Mehrheit ihrer Verfasserinnen und Verfasser fiel, sich und ihre Erfahrungen in Briefen auszudrücken. Feldpost- und Auswandererbriefe sind nicht selten in schablonenhafter und konventioneller Sprache geschrieben, der individuelle Züge weitgehend fehlen. Tiefe Einblicke in die subjektive Erfahrungs- und Erlebniswelt von Krieg und Auswanderung bekommt man in Feldpost- und Auswandererbriefen vielfach nicht, vor allem weil die Verfasserinnen und Verfasser es nicht gewohnt waren, sich schriftlich auszudrücken. Ebert betont sogar, dass die Unbeholfenheit beim Ausdruck von Zärtlichkeit in den von ihm untersuchten Feldpostbriefen ahnen lässt, dass hier Männer im Angesicht von Elend, Verletzungen und Tod vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben gezwungen waren, ihre Gefühle schriftlich mitzuteilen, und eine emotionale Sprache suchten, die sie kaum fanden.60 Überhaupt konnten die Erfahrungen des Krieges mit dem Vokabular des Friedens nur sehr unzureichend mitgeteilt werden. Etwas ähnliches lässt sich für die Volker Depkat untersuchten Auswandererbriefe feststellen, in denen die Unmöglichkeit, die sich mit der Auswanderung verbundenen Erfahrungen in Briefen darzustellen, von den Auswanderern selbst immer wieder festgestellt wird, meist verbunden mit der Mitteilung, dass ein Brief ein reales Gespräch zwischen Anwesenden eben gerade nicht ersetze.61 Diese letzte Beobachtung leitet über zu einer viel grundlegenderen Einsicht: Briefe sind in einem viel höheren Maße als Tagebücher und Autobiographien nur Spuren vergangener Kommunikation.62 Eingelassen in einen Handlungs- und Kommunikationskontext, der den geschriebenen Text viel weiter überschreitet, als dies bei anderen Selbstzeugnissen der Fall ist, sind Briefe kaum mehr als Partituren für eine imaginierte Gesprächssituation, die erst in der Lektüre zum Leben erweckt wird. Darauf aufbauend fordert Vellusig in seinem Beitrag für diesen Band auch die Literaturwissenschaftler dazu auf, in Briefen nicht nur in sich selbst zentrierte Texte, sondern auch 60  Ebert

in diesen Band S. 260. in diesem Band, S. 272. 62  Vellusig in diesem Band S. 177. In seinen umfassenden Überlegungen zu einer textpragmatischen Analyse von Bibeltexten sieht Christof Hardmeier Texte als materiell fassbare Zeichenspuren schriftförmiger Kommunikation, die, „wie Notenblätter von Musikstücken als Partituren sprachlicher Sinnbildung zu verstehen und als solche auch zu analysieren“ sind. Hardmeier, S. 58. 61  Depkat

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kommunikative Ereignisse zu sehen.63 Briefe als kommunikative Ereignisse zu begreifen, heißt zunächst einmal ganz basal zu betonen, dass ein einzelner Brief in der Regel auf vorangegangene Briefe antwortet und neue Briefe als Antwort auslösen kann. Deutlich abstrakter ist sodann die Feststellung, dass Briefe vielfach geschrieben werden, um bestehende soziale Kontakte zu pflegen oder neue zu etablieren. Dies bedeutet nicht nur, dass ein epistolarisches Ich seine Identität viel mehr im Hinblick auf seinen oder ihren Adressaten konstruiert als ein diaristisches oder autobiographisches Ich dies tut; es heißt vielmehr auch, dass die Art der Beziehung zwischen Schreiber und Empfänger in und durch Briefe imaginiert, organisiert und ausgehandelt werden. Als kommunikative Ereignisse sind Briefe deshalb immer auch Positio­ nierungsleistungen gegenüber den imaginierten, aber auch gegenüber den tatsächlichen Leserinnen und Lesern. Dies macht Maria Zens in diesem Band am Beispiel von Briefwechseln zwischen Autoren und Verlegern des langen 19. Jahrhunderts deutlich. In ihrem Beitrag erscheint der Brief als eine Möglichkeit für Berufsschriftsteller sich gegenüber dem Verleger als Autor zu positionieren, genauso wie sich umgekehrt der Verleger gegenüber dem Autor als Verleger positioniert. Indem Autoren und Verleger in den von Zens untersuchten Briefserien ihre Beziehung zueinander aushandelten, verorteten sie sich, so die These von Maria Zens, zugleich auf dem literarischen Feld. Insgesamt lässt Zens damit die Korrespondenz zwischen Autoren und Verlegern als ein Medium für die Beobachtung der stets prekären Ware Literatur im Spannungsfeld von Ökonomie und Ästhetik erscheinen. Die Kommunikation in Privatbriefen ist also gar nicht immer durch die Thematisierung von Subjektivität und Innerlichkeit bestimmt und motiviert, sondern durch die Aufrechthaltung sozialer Beziehungen. Das wird besonders deutlich in den Feldpost- und Auswandererbriefen, wie sie Ebert und Depkat in diesem Band untersuchen. Demnach ging es den Auswanderern und den Soldaten mit ihren Briefen gar nicht primär darum, sich selbst im historischen Prozess zu thematisieren oder ihre Gefühle bei Krieg und Auswanderung zu thematisieren. Es ging ihnen vielmehr darum, soziale Beziehungen zu ihren Angehörigen aufrecht zu erhalten, die durch die Zäsurerfahrungen von Krieg und Auswanderung tatsächlich hochgradig problematisch geworden waren. Die Briefe von Soldaten und Auswanderern waren die einzigen Brücken zu einem früheren Leben. Diesem Umstand ist es wohl auch geschuldet, dass der Inhalt ihrer Briefe in erfahrungsgeschichtlicher Perspektive auf den ersten Blick oft enttäuschend ist. Eberts Analyse der Feldpostbriefe zeigt, dass der Krieg in ihnen entweder überhaupt nicht präsent ist, oder dass zentrale Aspekte der Extremerfahrung Krieg – Tod, Sterben und Töten – meist gar nicht oder wenn, dann nur sehr indirekt über das 63  Dazu

auch Schuster/Strobel, Briefkultur.



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Leiden und Sterben anderer thematisiert werden. In eine ähnliche Richtung geht der Befund in Depkats Untersuchung der Auswandererbriefe, in denen die für die Migration zentralen Erfahrungen der Entwurzelung, der Transformation und der Neupositionierung in den USA kaum oder nur sehr oberflächlich beschrieben werden. Ebenso erteilt Grashoff in seiner Untersuchung der Abschiedsbriefe von Selbstmördern der naiven Erwartung, die letzten Zeilen könnten unmittelbare Einsichten in das Denken und Fühlen vor dem Suizid geben, eine klare Absage. Die Briefe lieferten kaum Aufschluss über die allerletzten Gründe oder wahren Motive der Selbsttötung, und sie seien in ihren Inhalten oft atemberaubend banal. Wichtiger als die Beantwortung der Frage, was geschrieben wurde, erscheint mit Blick auf diese Briefbestände deshalb die Antwort auf die Frage, warum diese Briefe überhaupt geschrieben wurden und welche kommunikativen Funktionen sie jenseits der Übermittlung von Informationen eigentlich erfüllten. In diesem Zusammenhang macht der Beitrag von Grashoff die denkbar längsten Deutungsachsen sichtbar: Für ihn sind die von ihm hier untersuchten Abschiedsbriefe integrale Bestandteile der suizidalen Handlung selbst, die nicht isoliert für sich erschlossen werden können. Der Abschiedsbrief sei vielmehr ein Postskriptum zu einem tatsächlich gelebten Leben, in dessen Zusammenhang er – wie überhaupt der suizidale Akt – gesehen werden müsse. Ein tieferes Verständnis der suizidalen Situation sei durch die Brieftexte allein kaum zu erreichen. Noch viel spröder sind die denunziatorischen Briefe, die Krätzner-Ebert in diesem Band untersucht; geben sie in den meisten Fällen keinerlei Auskunft darüber, welche Gründe dazu geführt haben, diese Briefe zu verfassen. Die privaten Hintergründe für den denunziatorischen Akt bleiben zumeist verborgen, selbst wenn sie den Ausschlag gegeben hätten. Die persönlichen Motive für den Verrat bleiben in denunziatorischen Briefen, so Krätzner-Ebert, im Dunkeln. Eine letzte Spezifik der Ich-Thematisierung in Briefen sei im Lichte der hier versammelten Beiträge erörtert – und das ist hydride Stellung epistolarer Kommunikation auf der Achse von Privatheit, Halböffentlichkeit und Öffentlichkeit. Depkat macht in seinem Beitrag zu Auswandererbriefen deutlich, dass die in ihnen stattfindende Kommunikation durch unterschiedliche Grade von Vertraulichkeit und Privatheit definiert war. Teile ein und desselben Briefes konnten sich an eine Öffentlichkeit aus Familienmitgliedern, Freunden, Nachbarn und Bekannten wenden, andere Teile waren nur für bestimmte, genau benannte Adressaten gedacht, wieder andere Teile wurden ausdrücklich als vertraulich gekennzeichnet. Ebenso ist den Abschiedsbriefen von Selbstmördern ein hybrider Status zwischen öffentlich und privat zuzuschreiben. Wie Grasshoff betont, wurden

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Abschiedsbriefe oft auch in dem Wissen darum geschrieben, dass Amts­ personen wie Gerichtsmediziner, Kriminalpolizisten oder Anwälte Einsicht nehmen könnten. Gleichzeitig wollten Selbstmörder mit ihren Abschiedsbriefen über ihren eigenen Tod hinaus wirken und auf die Zeit nach dem eigenen Tod Einfluss nehmen. Dies lässt das Schreiben eines Abschiedsbriefes zu einem Akt halböffentlicher Kommunikation werden, und es ist kein Zufall, dass sich das Genre des Abschiedsbriefs, wie Grashoff herausarbeitet, in dem Maße etablierte, in dem das Faktum der Selbsttötung im 18. Jahrhundert gesellschaftlich akzeptierter wurde, so dass Suizidenten ihren Akt der Selbst­ tötung fortan auch einem Publikum erklären konnten, das sie vor ihrem Tod nicht hatten und das es vor dem 18. Jahrhundert wohl auch gar nicht gab. Eine „halböffentlich inszenierte Privatheit“ sieht Strobel auch in den Briefen Otto von Bismarcks an Johanna von Puttkamer am Werk.64 Wenngleich diese Briefe auch dort, wo es um Politik ging, sich stets in der Sphäre des bürgerlichen Privatbriefes bewegten, so wurden sie doch wegen der produktiven Verschmelzung von Politiker- und Künstlertum als Belege „einer besonderen Synthesen-Symbolik“ rezipiert, die vermeintlich Einsicht in die ‚Tiefe‘ des Charakters und die Totalität des nach außen hin zerrissenen Mannes lieferte.65 Gerade darin legten sie eine Grundlage für den BismarckMythos, weshalb die Privatbriefe des Politikers Otto von Bismarck zu einem wichtigen Teil seines Nachlebens wurden. Keinen Zweifel über ihren kommunikativen Status auf dem Spektrum von privat und öffentlich gibt es hingegen bei den Offenen Briefen, die Sebastian Hansen in seinem Beitrag für diesen Band als Phänomen und Faktor von Medienskandalen in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 untersucht. Offene Briefe erscheinen hier als eine Kommunikationsform, die sich zwar an konkret benannte Empfänger richtet, aber stets ein breites Publikum anspricht, das sich über verschiedene verfügbare Medien erreichen lässt. Zu seiner vollen Sinnkonstituierung bedürfe der Offene Brief, so Hansen, das Mitlesen einer Öffentlichkeit. Der Offene Brief bezweckt Öffentlichkeits­ wirkung, um eine Botschaft zu setzen, doch kann es hier durchaus unterschiedliche Grade von angestrebter beziehungsweise erlangter Aufmerksamkeit geben. Die hier im Lichte der in diesem Band versammelten Beiträge umrissenen feinen und teils gar nicht so feinen Unterschiede zwischen den verschiedenen Genres des Life Writing, der Ego-Dokumente oder der Selbstzeugnisse zeigen, wie lohnend das Unterfangen einer erst noch zu entwickelnden vergleichenden Strukturlehre von Selbstzeugnissen im Rahmen einer grundsätzlich 64  Strobel 65  Strobel

in diesem Band, S. 221. in diesem Band, S. 204.



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erneuerten historischen Quellenkunde sein kann. Ein solches Vorhaben bedarf freilich des intensiven Austausches zwischen der Geschichtswissenschaft und den Literaturwissenschaften. Wie bereits dieser kurze Aufriss zeigt, haben Tagebücher und Briefe in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit in der literatur- und geschichtswissenschaftlichen Forschung erfahren. Dadurch ist eine breite Vielfalt an Möglichkeiten, welche die Gattungen Brief und Tagebuch für die Literatur- und Geschichtswissenschaft bieten, sichtbar geworden, doch ist die Diskussion mit Sicherheit bei weitem noch nicht abgeschlossen. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Forschungen zu Tagebüchern und Briefen bislang in der Regel getrennt voneinander stattfanden, und dies sowohl entlang der Gattungs- als auch der Disziplingrenzen. Es erscheint deshalb unumgänglich, dass Geschichts- und Literaturwissenschaft – bei allen je eigenständigen Methoden, Fragestellungen und Erkenntnisinteressen – nur voneinander profitieren können, wenn die weitere Erkundung dieses Materials in wechsel­ seitigem Austausch miteinander stattfindet. Dazu soll der vorliegende Band einen Beitrag leisten. Er vereinigt neben zusätzlich eingeworbenen Beiträgen, die für den Druck überarbeiteten Vorträge, die in zwei von den ­Herausgebern organisierten interdisziplinären Workshops gehalten wurden. Der erste von ihnen fand unter dem Titel „Tagebücher zwischen Text und Quelle. Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft im Gespräch“ am 21. und 22. November 2014 an der Universität Regensburg statt, der zweite unter dem Titel „Briefe und Literatur“ vom 29. bis 31. März 2017 am Deutschen Literaturarchiv in Marbach.

Literatur Albrecht, Michael von: Wort und Wandlung. Senecas Lebenskunst, Leiden 2004. Anders, Christina Ada (Hg.): „Vorläufig muß ich leben bleiben.“ Alfred Ahner – Aus den Briefen und Tagebüchern des Weimarer Künstlers (1890–1973). Mit einem Vorwort von Thomas Bürger und einer Einführung von Jutta Penndorf, Hildesheim 2014. Baasner, Rainer: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis, in: ders. (Hg.): Briefkultur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 1–35. Baumgart, Winfried (Hg.): Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart, Darmstadt 2005. CD-Rom. Baumgart, Winfried: Bücherverzeichnis zur deutschen Geschichte, 17. Aufl., Stuttgart 2010. Bohrer, Karl-Heinz: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, München 1987. Böth, Mareike: „Ich handele, also bin ich“. Selbstzeugnisse praxeologisch lesen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (2018), S. 253–270.

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Briefe und Tagebücher29

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Das Tagebuch aus text(sorten)linguistischer Perspektive Von Maria Thurmair und Christian Fandrych

I. Einleitung Im vorliegenden Band steht das Tagebuch an der Schnittstelle zwischen geschichtswissenschaftlicher Betrachtung (als Quelle) und literaturwissenschaftlicher Betrachtung (als Text). Der folgende Beitrag nimmt noch eine andere Perspektive ein und will das Tagebuch aus textsortenlinguistischer Perspektive beschreiben. Zur Bestimmung von Textsorten gibt es eine Reihe unterschiedlicher Ansätze, am weitesten verbreitet ist wohl die Definition von Brinker: Unter Textsorten wird im Allgemeinen eine Klasse von Texten verstanden, die als konventionell geltende Muster bestimmten (komplexen) sprachlichen Handlungen zuzuordnen sind.1 Textsorten und die ihnen zugrunde liegenden ‚Textmuster‘ haben sich in den verschiedenen Sprachgemeinschaften historisch entwickelt, um spezifische, wiederkehrende kommunikative Aufgaben in der sozialen Handlungspraxis zu bewältigen. Text- und Handlungsmuster (als komplexe mentale Konzepte oder Schemata) fungieren als Orientierungsrahmen für Prozesse der Textkonstitution und des Textverstehens. Die (rezeptive und/oder produktive) Kenntnis von Textsorten gehört zum Alltagswissen.2 Besonders im Gefolge von Brinker hat sich in der Textlinguistik eine Herangehensweise herausgebildet, die literarische Texte aus dem Gegenstandsbereich ausgeschlossen und den Fokus stark auf ‚Gebrauchstexte‘ beschränkt hat.3 Damit hat sich die Auffassung weit verbreitet, dass der Begriff ‚Text­ sorten‘ an sich auf die Gebrauchstextsorte bezogen ist. So entstand eine gewisse Gegenüberstellung zwischen Textsorten/Texttypen (als Gegenstand der Linguistik) einerseits und ‚Gattungen‘ (als Gegenstand der Literaturwissenschaft) andererseits, wobei der literaturwissenschaftliche Gattungsbegriff deutlich auf literarischen Traditionen und Konventionen beruht und weniger textlinguistisch-klassifikatorisch angelegt ist. Andere Textlinguisten haben aber durchaus literarische Texte mit untersucht, insbesondere wenn es um u. a. Brinker, S. 144. S.  15 f. 3  So z. B. in Brinker oder in ders. et al. (2000). 1  Vgl.

2  Fandrych/Thurmair,

32

Maria Thurmair und Christian Fandrych

sprachliche (textformende und textbildende) Merkmale geht. So erlaubt es Adamziks Konzept der „Weltspezifik“,4 das verschiedene Interpretationsund Verstehensebenen für unterschiedliche Arten von Texten ansetzt (neben Gebrauchstexten etwa die Welt des Spiels/der Fantasie oder die Welt der Sinnfindung), ein wesentlich breiteres Spektrum in den (textlinguistischen) Blick zu nehmen. Während typische Gebrauchstexte eher konventionalisiert (da häufig institutionell geprägt) sind (z. B. Lottoscheine, Fahrpläne, Beipackzettel), zeichnen sich andere Texte deutlich stärker durch eine stark individuelle Prägung aus (etwa der Roman oder neuere Formen der Lyrik).5 Individuelle Geprägtheit korreliert also mit dem Grad der Musterhaftigkeit und der Standardisierung: bei stark musterhaften Texten findet sich wenig individuelle Geprägtheit; wer die Textsorte kennt bzw. erkannt hat, weiß fast alles darüber. Literarische Texte sind dann solche mit besonders starker indivi­ dueller Prägung. Das gilt auch für (wenigstens einen Teil der) Tagebücher. Die Frage, ob die Begriffe (literarische) Gattung und Textsorte strikt geschieden werden sollen oder nicht, kann hier nicht einmal ansatzweise diskutiert werden:6 für die Zwecke dieses Beitrags wird von einem Textsorten­ begriff ausgegangen, der auch literarische Textsorten umfasst.7 Diese Bestimmung ist schon deshalb nötig, weil das hier behandelte Tagebuch in seinen verschiedenen Ausprägungen ja gerade die anderswo etablierten Grenzen zwischen Gattung und Textsorte zu sprengen scheint. Und unter dem Aspekt „Tagebuch als historische Quelle“ sind ja möglicherweise nicht nur die Tagebücher von Interesse, die sich der literarischen Gattung zuordnen lassen.8

4  Adamzik

(2004), S. 61 ff.; dies. (2016), S. 115 ff. Adamzik (2010). 6  Siehe dazu z. B. Dammann, Adamzik (2010), (2017). 7  Umgekehrt verwendet Dusini, S. 16 den Begriff Gattung als Überbegriff für „Gebrauchstextsorten“ und „literarische Textsorten“. 8  In der Linguistik wird seit Luckmann auch der Begriff der „kommunikativen Gattung“ zur Beschreibung von verfestigten Formen der Kommunikation verwendet. Dieses Konzept betont stärker die Variabilität, Dynamik und kommunkative Einbettung von kommunikativen Ereignissen: Diese sind nicht vorab an feste Muster gebunden, sondern werden – je nach Situation und Kontext stärker oder weniger stark – von den Beteiligten in der Interaktion erst generiert. Die Analyse ist somit stärker datenorientiert und betont auch den dynamischen und sequenziellen Aspekt von Kommunikation. Wichtige Einflüsse kamen aus der Ethnographie, Anthropologie sowie aus der literaturwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik (siehe Ayaß). Im Zentrum standen und stehen häufig mündliche kommunikative Ereignisse, allerdings ist das Konezpt nicht darauf beschränkt (vgl. etwa Günthner, auch Dürscheid). Der Begriff „Kommunikative Praktik“ (Fiehler et al.) versucht, sowohl den text- und gesprächsexternen Vorstrukturierungen und -bedingungen von Kommunikation als auch den lokal hergestellten Strukturierungen und Beteiligtenrollen Rechnung zu tragen, und kann als eine Art integratives Modell angesehen werden (vgl. auch Adamzik (2015)). Der in diesem 5  Vgl.



Das Tagebuch aus text(sorten)linguistischer Perspektive33

II. Zu Textsorten allgemein 1. Kriterien für eine Textsortenbeschreibung Die Textsortenlinguistik als ein etablierter Bestandteil einer Textlinguistik versucht Kriterien zu entwickeln, nach denen Textsorten klassifiziert und beschrieben und zueinander in Beziehung gesetzt werden können. In der Textsortenlinguistik besteht seit langem ein Konsens darüber, dass Textsortenanalysen verschiedene Beschreibungsdimensionen kombinieren müssen (im Sinne eines Mehrebenenmodells), dass sie also am besten als Bündel verschiedener Merkmale beschrieben werden. Dabei sind die einzelnen Dimensionen und ihre Ausprägungen nicht für jede Textsorte gleichermaßen relevant oder spezifizierbar. Üblicherweise werden vier Dimensionen berücksichtigt, nämlich Kommunikationssituation, Textfunktion, Thema und sprach­ lich-formale Gestaltung. a) Kommunikationssituation Die Kommunikationssituation ist eine komplexe Beschreibungsdimension, die die situativ und kontextuell relevanten Merkmale berücksichtigt, hinsichtlich derer eine Textsorte bestimmt ist. Dazu gehören: •• „Weltspezifik“9 als grundlegendes Bezugssystem: Texte sind in verschiedenen „Welten“ angesiedelt, werden also von den Kommunikationsteil­ nehmern in unterschiedlichen Verstehenshorizonten situiert; sie werden entsprechend unterschiedlich interpretiert und haben unterschiedliche Re­ levanz für verschiedene Handlungs- und Sinnstiftungsdimensionen der Kommunikationsteilnehmer/innen. Adamzik unterscheidet neben der (alltagspraktischen) „Standardwelt“ die Welt des Spiels/der Fantasie, die Welt der Wissenschaft, die Welt des Übernatürlichen und die Welt der indivi­ duellen oder kollektiven Sinnfindung.10 Dieses Konzept erlaubt es, auch Textsorten außerhalb des Gebrauchstextsortenspektrums in ihren Voraussetzungen und in ihrem Verstehenshorizont adäquater zu beschreiben, so etwa literarische, religiös-sinnsuchende oder spielerisch-fiktionale Texte.11 •• Kommunikationsbereich: ausgegangen wird davon, dass Kommunikationsbereiche sozial und situativ definiert sind und dass die dort geltenden Handlungsnormen auch die jeweils verwendeten Textsorten mit konstituieBeitrag verwendete Textsortenbegriff lehnt sich an eine solche integrative Sichtweise an. 9  Adamzik (2004), S. 61 ff.; dies. (2016), S. 115 ff. 10  Adamzik (2004), (2016). 11  Vgl. Adamzik (2004), S. 64.

34

Maria Thurmair und Christian Fandrych

ren. Textsorten sind ihrerseits in größeren Handlungszusammenhängen verankert und in diese funktional eingebunden.12 Dies bewirkt, dass das Auftreten bestimmter sprachlicher oder textueller Formen und Muster bei den Rezipient/innen die kommunikative und institutionelle Zwecksetzung des Textes und seine Einbettung in die jeweilige soziale Praxis mit abruft. Typische Kommunikationsbereiche sind etwa Medizin, Schule, Rechtswesen und Justiz, Wissenschaft, Wirtschaft usw. •• Medialität: hier geht es zum einen grundlegend um die Frage, ob Textsorten in schriftlicher und/oder mündlicher Form auftreten (oft wird der Begriff „Textsorte“ auf das schriftliche Vorkommen beschränkt, mündliche Formen bzw. Interaktion in Ko-Präsenz von Sprecher und Hörer werden dann bisweilen auch als Diskurse bezeichnet).13 Zum anderen wird gefragt, inwieweit in Textsorten auch andere, etwa visuelle oder akustische Medien miteinbezogen sind, inwieweit sie also multimodal sind.14 Eine zunehmend beachtete Rolle spielt schließlich auch die Materialität des Zeichenträgers (bei schriftlichen Texten also etwa Papier, Wand, Holz, Stoff etc.) und des Schreibstoffs (Tinte, Druckerschwärze usw.).15 •• Textproduzent und Rezipient: zentral ist hier die Frage, wer einen bestimmten Text für wen produziert und wer den Text rezipiert? Relevant ist dabei z. B., in welcher Rolle ein Textproduzent auftritt,16 ob überhaupt ein einzelner Produzent identifizierbar ist; umgekehrt genauso, ob es einen konkreten Adressaten gibt oder Mehrfachadressiertheit vorliegt; wie die Beziehung zwischen Produzent und Rezipient beschaffen ist und vieles mehr. •• Raum und Zeit: diese Aspekte spielen in mehrfacher Hinsicht bei der Gestaltung von Textsorten eine Rolle; so ist die raumzeitlichen Kopräsenz von Produzent und Rezipient ein zentrales Kriterium bei der Unterscheidung zwischen konzeptionell schriftlichen und konzeptionell mündlichen Texten.17 Weiter spielt die Zeit hinsichtlich der Geltungsdauer bzw. des Brinker et al. (2000), S. XIX f. die Diskussion bei Adamzik (2008), S. 157 ff. Ehlich unterscheidet danach, ob die Interaktion in Ko-Präsenz stattfindet (Diskurs) oder räumliche oder zeitliche Distanz überbrückt werden muss (Text). Die Begriffe „kommmunikative Gattung“ und „kommunikative Praktik“ umfassen beides, vgl. oben. 14  Ayaß spricht hier von „medialen Gattungen“; die elektronisch vermittelte Kommunikation führt insgesamt zu einer Diversifizierung der Kommunikationsmuster und -möglichkeiten, vgl. dazu ausführlicher Marx/Weidacher. 15  Zur Materialität siehe genauer Hausendorf et al., S. 89 ff. 16  Vgl. zu den verschiedenen Rollen ausführlich Adamzik (2004), S. 83  ff. und dies. (2008), S. 165 f. 17  Die Begriffe „konzeptionell schriftlich“ bzw. „konzeptionell mündlich“ wurden von Koch/Oesterreicher geprägt und meinen nicht die mediale Umsetzung, sondern den Grad der Exhaustivität und Explizitheit der sprachlichen Interaktion: Stark hand12  Vgl. 13  Vgl.



Das Tagebuch aus text(sorten)linguistischer Perspektive35

„Verfallsdatums“ eine Rolle;18 man vergleiche in dieser Hinsicht den Unterschied zwischen Textsorten wie Einkaufszettel, Werbe-Flyer, Tageszeitung, Studienordnung und Roman.19 Raum spielt eine Rolle hinsichtlich der Frage, wo Texte produziert und rezipiert werden, wo sie aufbewahrt werden und wem sie wie zugänglich sind. Hier wird häufig der private vom halböffentlichen und öffentlichen Raum unterschieden,20 die auch als virtuelle Räume verstanden werden können.21 Die Relevanz dieses Krite­ riums zeigt sich z. B. bei Aufschriften und Texten im öffentlichen Raum, aber sie wird auch bei einer Vielzahl anderer Texte deutlich: So sollten Textsorten wie Audioguides vernünftigerweise im Angesicht der entsprechenden Kunstwerke oder Ausstellungsgegenstände rezipiert werden, Gebrauchsanweisungen bei Zugänglichkeit des entsprechenden Objekts. Manche Texte (etwa Urkunden) sind nur in Archiven einer bestimmten Rezipientenschar zugänglich, andere sind nur an bestimmten Orten (Gesangbuch, Grabinschrift) und/oder zu bestimmten Zeiten (Klausuren, Protokolle, Gutachten) rezipierbar.22 Dabei ist davon auszugehen, dass die einzelnen der genannten Merkmale unterschiedlich folgenreich für die (sprachliche) Ausgestaltung einer Textsorte sind. •• kulturräumliche Gebundenheit: da sich Textsorten in den unterschiedlichen Sprachgemeinschaften zur Bewältigung kommunikativer Aufgaben in der sozialen Handlungspraxis entwickelt und teilweise erheblich ausdifferenziert haben, sind viele Textsorten deutlich kulturell geprägt.23 Gut untersucht sind hier z. B. die Unterschiede der Textsorten in verschiedenen Wissenschaftskulturen24 oder auch Gebrauchstextsorten wie Todesanzeigen.25 lungseingebundene und situativ verankerte kommunikative Ereignisse, die auf gemeinsames Wissen und gemeinsame Wahrnehmung der Beteiligten rekurrieren können, sind häufig verknappt, informell und ungeplant („konzeptionell mündlich“), während räumliche und/oder zeitliche Distanz, Situationsentbindung und Sachbezogenheit eher zu expliziten, komplexen und sorgfältig geplanten kommunikativen Beiträgen führen („konzeptionell schriftlich“). Dem kann, muss aber nicht eine entsprechende Umsetzung (mündlich vs. schriftlich) entsprechen, vgl. Koch/Oesterreicher. 18  Siehe genauer Adamzik (2004), S. 78 ff.; dies. (2016), S. 163 f. 19  Die Geltungsdauer ist – so Adamzik (2017) – ein skalares Merkmal, das auch dazu dienen kann, literarische Texte zu beschreiben: hier ist die Geltungsdauer besonders hoch, die Texte haben Überlieferungswert, daneben sind noch Kriterien wichtig wie verschiedene Versionen oder Reaktualisierungen. 20  Genauer hierzu Adamzik (2004), S. 80 f. 21  Zur Lokalität siehe genauer auch Hausendorf et al., S. 94 ff. 22  Literarische Texte dagegen sollten öffentlich zugänglich sein, Adamzik (2017). 23  Vgl. dazu etwa Fix, S. 103 ff.; kritisch Adamzik (2005). 24  Vgl. exemplarisch schon Clyne, Galtung sowie Eßer, Pieth/Adamzik, Hufeisen. 25  Siehe Eckkrammer.

36

Maria Thurmair und Christian Fandrych

b) Textfunktion Die Textfunktion gilt allgemein als zentrales Kriterium zur Klassifikation von Textsorten; dabei werden die angenommenen Funktionen entweder im Anschluss an Bühler und Jacobson gesehen oder sie stützen sich stärker auf die Sprechakttheorie von Searle. Die immer noch am weitesten verbreitete Unterscheidung ist die von Brinker, der fünf grundlegende Textfunktionen annimmt (und die verschiedenen Textsorten entsprechend zu fünf Text(sorten)klassen bündelt): Informationsfunktion, Appellfunktion, Obligationsfunktion, Kontaktfunktion und Deklarationsfunktion.26 Damit lässt sich allerdings eine Reihe von Textsorten in ihrer Funktion nicht adäquat fassen (literarische Texte sowieso, aber z. B. auch das Tagebuch). In anderen Ansätzen werden andere Textfunktionen vorgeschlagen; so setzen etwa Heinemann und Viehweger neben ihren Textfunktionen SICH AUSDRÜCKEN, KONTAKTIEREN, INFORMIEREN, STEUERN zusätzlich – bezogen auf die fiktionale Welt literarischer Texte – eine Funktion ‚ÄSTHETISCH WIRKEN‘ an, die alle vorgenannten überlagern kann.27 Hausendorf und Kesselheim etablieren neben den Textfunktionen Darstellung, Steuerung, Beleg, Kontakt und Reflexion noch die unterhaltende Textfunktion.28 Abgesehen von der Divergenz der Funktionen wird vor allem in den frühen Ansätzen außerdem kontrovers diskutiert, inwieweit Texte bzw. Textsorten (nur) eine Textfunktion haben; zahlreiche emprisch-induktive Textsortenanalysen haben mittlerweile aber deutlich gemacht, dass die meisten Textsorten mehrere Funktionen vereinen (von denen gegebenenfalls eine dominiert). Monofunktionalität ist also meist nicht beschreibungsadäquat und kennzeichnet eher deduktive Ansätze. Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang ist der Beziehung der Textfunktionen untereinander gewidmet, d. h. der Frage, inwieweit die angenommenen Textfunktionen auf unterschiedlichen Ebenen liegen und somit hie­ rarchisiert werden können. Nimmt man dies an, so wird oft von einigen wenigen Basisfunktionen ausgegangen, die dann weiter ausdifferenziert werden können. Dementsprechend wird z. B. bei Fandrych und Thurmair von drei großen nach grundlegenden Funktionen differenzierten Text(sorten)gruppen ausgegangen, nämlich a) den wissensbezogenen Texten, b) den handlungsbeeinflussenden und handlungspräformierenden Texten und c) den expressiv-sozialen und sinnsuchenden Texten. Die dritte Gruppe ist relativ weit gefasst, sie umfasst sowohl nicht unmittelbar partnergerichtete Funktionen wie etwa die emotionale oder die expressive als auch stärker partner-

26  Brinker,

S.  105 ff.

27  Heinemann/Viehweger,

S.  145 ff.

28  Hausendorf/Kesselheim.



Das Tagebuch aus text(sorten)linguistischer Perspektive37

und kontaktbezogene wie etwa die phatische und die unterhaltend-spielerische Funktion.29 Unterschiedlich wird auch die Frage diskutiert, wie der Begriff Textfunktion genau zu bestimmen und woran er festzumachen ist: Während einige – vor allem frühere – Ansätze diese von der Intention des Autors alleine ableiten, wird heute vielfach eine differenzierte Sichtweise verfolgt. Zu unterscheiden ist nämlich die Funktion, die der Textproduzent (im Moment der Produktion) seinem Text zuschreibt von der, die beim Rezipienten ankommt, bzw. die der Rezipient mit dem Text verbindet. Diese können sich entsprechen (das wäre der unmarkierte Standardfall), es können sich aber auch Perspektiven-Differenzen ergeben.30 Damit ist die Möglichkeit gemeint, dass ein Text anders als intendiert rezipiert wird: Das betrifft z. B. geheime Texte, die überhaupt nicht für eine (Fremd-)Rezeption gedacht waren (wie etwa verschiedene Typen des Tagebuchs), das kann aber auch die „sekundär gelesene“ Rezeption von Texten als Übungstexte, als Quellen oder als Gegenstand für Kulturkritik und anderes mehr sein.31 Um diese Differenzierung analytisch zu fassen, entwirft Adamzik32 ein Modell, das als übergeordnete Kategorie den Ertrag33 setzt, worunter zunächst sowohl die angestrebten Erträge (i. e. die Intentionen) als auch die nicht-angestrebten Erträge zu sehen sind; die angestrebten werden weiter differenziert in die deklarierte (mit konventionellen Mitteln ausgedrückte) Textfunktion und nicht-deklarierte/ implizite Erträge. Die Textfunktion ist dann als produzentenbestimmt zu sehen, die konventionell (also im unmarkierten Standardfall) mit der Textsorte zu verbinden ist. Sie ist auch die, die im Textsortenwissen der Sprachbenutzer/innen verankert ist. In den meisten Analysen steht diese Textfunktion im genauer Fandrych/Thurmair, S.  32 ff. (2016), S. 186. 31  Siehe Adamzik (2016), S. 189 ff. Es erscheint allerdings problematisch, diese nicht intendierte Rezeption in die Beschreibung und Charakteristik der Textsorte mit hineinzunehmen. Hier müsste doch noch differenziert werden, denn es gibt wohl üblichere und damit erwartbare nicht intendierte und andere Rezeptionen: Es ist also vom Status der Textsortencharakteristik wohl schon ein Unterschied, ein persönliches Tagebuch als historische Quelle zu lesen oder ein Kochrezept als grammatischen Text zur Einübung von Infinitiven zu lesen. Aus unserer Sicht gehört die Frage der Rezeption in die Analyse des (weiteren) Handlungskontextes, in den ein Text eingebettet ist – die Rezeption eines Textes ist eine eigenständige sprachliche Tätigkeit, bei der die Rezipient/innen sich vor ihrem Verstehenshintergrund und geleitet von bestimmten Absichten und Zielen je Textsinn erschließen bzw. diesen konstruieren. 32  Adamzik (2016), S. 192 ff. 33  Die Ertragsdimensionen, die Adamzik (2016) S. 195 anführt, wie intellektuell/ kognitive, praktische, handlungsorientierende, emotional-psychische, soziale, geistigmoralische, formbezogene, metasprachlich/kommunikative und unterhaltende entsprechen natürlich durchaus den in der Forschungsliteratur als (Text-)Funktionen genannten. 29  Dazu

30  Adamzik

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Maria Thurmair und Christian Fandrych

Mittelpunkt. Es ist also zunächst herauszuarbeiten, welche typischen Funk­ tionen oder Zwecke mit bestimmen Textsorten, die sich ja zur Bearbeitung bestimmter, gesellschaftlich relevanter kommunikativer Probleme oder Bedürfnisse entwickelt haben, wiederkehrend verbunden werden, mit welchen Absichten daher Autoren und Autorinnen im Regelfall solche Textsorten produzieren und mit welchen Zwecken und mit welcher Handlungsabsicht sie im Regelfall von Lesern rezipiert werden. Nur wenn dies geleistet ist, kann man nicht intendierte Erträge, also andere Rezeptionsweisen auf Seiten des Rezipienten, oder Musterabwandlungen, z. B. spielerische, parodistische auf Seiten des Produzenten erkennen und adäquat analytisch erfassen. c) Thema Das Thema (manchmal auch: der Inhalt) eines Textes, also das, ‚worum es geht‘, ist natürlich ein weiteres wichtiges Kriterium zur Beschreibung von Textsorten und für Laien meist das zentrale. Nur ein Text, der ein Thema impliziert, ist ein sinnhafter Text. In diesem Sinn schreibt Weinrich: „Jeder Text, der verstanden werden will, hat ein Thema. […] Ein Text ganz ohne Thema wäre ein Unsinnstext“.34 Sprachlich schlägt sich das Thema eines Textes zum einen vor allem in der Lexik nieder, zum anderen aber in verschiedenen „Themahinweisen“,35 etwa Titeln und Überschriften, textkommentierenden Hinweisen etc. In manchen Texten muss das Thema aber auch aus dem Inhalt abstrahiert werden.36 d) Sprachlich-formale Gestaltung Auch die sprachliche Gestaltung spielt eine wichtige Rolle in der Beschreibung von Textsorten. Dabei sind sowohl die Textstruktur wichtig, d. h. der konkrete Textaufbau, die Abfolge von Textschritten bzw. Texteinheiten, als auch die verschiedenen Vertextungsstrategien (Erzählen, Argumentieren etc.), die sich ihrerseits in der Textstruktur und in der Auswahl der sprach­ lichen Mittel niederschlagen. Die je spezifische Textstruktur wiederum ist die Basis für die Analyse der konkreten sprachlichen Ausgestaltung mit ihren 34  Weinrich, S. 369. Vgl. dazu und zu der Tatsache, dass das Thema in der textlinguistischen Literatur erstaunlich blass geblieben ist, Hausendorf et al., S. 189–227. 35  Hausendorf/Kesselheim, S. 103 ff. 36  In der Textsortenforschung wird der Bereich des Themas vor allem im Hinblick auf die verschiedenen Arten der Themenentfaltung (bzw. heute meist Vertextungs­ strategien) wie Narration, Deskription, Argumentation, Instruktion diskutiert (s. z. B. Brinker oder ders. et al. [2000]), die sich in textstrukturellen und anderen sprach­ lichen Merkmalen niederschlagen. Die Vertextungsstrategien sind aber genau genommen themenunabhängig.



Das Tagebuch aus text(sorten)linguistischer Perspektive39

textgrammatischen, grammatischen (also morphosyntaktischen) und auch lexikalischen Besonderheiten. Als ein weiteres hilfreiches Kriterium zur ­ Text(sorten)analyse im sprachlichen Bereich hat Adamzik den Gestaltungsaufwand in die Diskussion gebracht, der nicht nur die sprachliche Elaboriertheit – wertfrei verstanden – meint, sondern auch die konkrete Herstellung.37 Mit dieser abstrakten, skalar zu verstehenden Kategorie lassen sich zum Beispiel literarische Texte, aber etwa auch das Tagebuch, charakterisieren. Die konkrete sprachliche Ausgestaltung von Textsorten, ihre Textstruktur, die syntaktischen Muster, die lexikalische Gestaltung u. a. sind natürlich für jede konkrete Textsortenanalyse immer grundlegend, schon allein deswegen, weil sich hier auch die Musterhaftigkeit von Textsorten am deutlichsten zeigt. Wichtig ist noch hervorzuheben, dass sich konkrete sprachliche Ausgestaltung und Kommunikationssituation sowie Textfunktion gegenseitig bedingen; so sind die Funktionen bestimmter sprachlicher Mittel nur unter Bezug auf diese Parameter bestimmbar.38 Umgekehrt verweisen bestimmte sprachlich-stilistische Mittel symbolhaft auf mit ihnen typischerweise verbundene Textsorten und Textfunktionen.39 Nach den im Vorangegangenen dargelegten Beschreibungsdimensionen mit ihren je spezifischen Ausprägungen lassen sich Textsorten, d. h. genauer: konkrete Texte als Exemplare einer Textsorte, umfassend beschreiben. Dabei lassen sich Merkmale unterscheiden, die textsortenkonstitutiv sind, d. h. ihr Auftreten ist obligatorisch, andere Merkmale sind dagegen (nur) textsortenspezifisch, d. h. sie treten häufig und typischerweise bei einer Textsorte auf. Da Textsorten in der Regel prototypischen Charakter haben, können konkrete Textexemplare erhebliche Unterschiede aufweisen, etwa, was ihre Textstruktur (z. B. Anordnung und Vorkommen von Teiltexten) oder ihre konkrete sprachliche Ausgestaltung betrifft. Dabei unterscheiden sich einzelne Text­ sorten aber deutlich hinsichtlich der Möglichkeit zur Variation und zur individuellen Prägung, sie sind unterschiedlich stark standardisiert und konven­ tionalisiert (man vergleiche in dieser Hinsicht etwa ein Zeugnis, einen Wetterbericht, einen Lexikonartikel mit einer Geburtsanzeige, einem Kochrezept, einer Bildbeschreibung oder mit einer Novelle). Im Falle von wenig(er) standardisierten Textsorten mit breiten Variationsmöglichkeiten gibt es also prototypische und weniger typische Exemplare; insofern können einzelne Textsorten unscharfe Ränder aufweisen. Auch die Abgrenzung verschiedener Textsorten kann im Einzelfall unscharf sein. Schließlich gibt es natürlich 37  Adamzik

(2017). dazu genauer die in Fandrych/Thurmair vorgelegten Analysen. 39  Verfestigte sprachliche Mittel, die für bestimmte Textsorten typisch sind und zeichenhaft deren kommunikative Funktion und Einbettung (mit-) repräsentieren bzw. evozieren, bezeichnet Feilke als Textroutinen bzw. „literale Prozeduren“, s. Feilke. 38  Siehe

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Maria Thurmair und Christian Fandrych

auch Veränderungen von Textsorten und ihren Merkmalen im Lauf der Zeit. Der enorme kommunikative Umbruch durch die elektronisch vermittelten Kommunikationsmöglichkeiten und -formate bewirkt zudem auch eine Dynamisierung, Diversifizierung und Modifikation traditioneller Textsorten; dies führt auch zur Relativierung von traditionell als einschlägig angenommenen Textualitätsmerkmalen wie fester Autorschaft oder Abgrenzbarkeit und Sequenzialität des Textaufbaus. Der Begriff Textsorte selbst ist im Hinblick auf hierarchische Beziehungen in gewisser Weise unscharf, er kann eher in einer spezifischen oder einer unspezifischen Lesart vorliegen, je nachdem liegen die Bezeichnungen auf einer niedrigen oder höheren Abstraktionsebene: Mit der Annahme einer Textsorte Tagebuch ist eine eher unspezifische Lesart auf einer höheren Abstraktionsebene verbunden. Zur Hierarchisierung gibt es verschiedene Modelle und auch terminologische Vorschläge; so z. B. das Modell von Heinemann und Heinemann, die übergeordnet einen Texttyp annehmen, dann verschiedene Textsortenklassen, schließlich die Textsorte (z. B. Wetterbericht) und darunter bestimmte Textsortenvarianten (z. B. Reisewetterbericht).40 In der Tat bezeichnen die eingeführten Textsorten Erscheinungen mit unterschiedlichem Abstraktheitsgrad, sie sind aber auch ein Reflex dessen, was Sprachbenutzer/innen für relevant erachten. Das Problem ist eher theoretisch relevant, für die Analyse konkreter Textsorten weniger. 2. Textsortenbeziehungen Textsorten (d. h. Texte als Exemplare verschiedener Textsorten) können unter den unterschiedlichsten Kriterien zueinander in Beziehung gesetzt werden. Zum einen können Texte nach der Themenentfaltung zu größeren Gruppen gebündelt werden, z. B. argumentative oder narrative Textsorten. Dies wird oft als Ausgangspunkt für umfassend angelegte Textsortenmodelle genommen.41 Es lassen sich Textsorten nach Kommunikationsbereichen fassen, wie etwa Textsorten der Wissenschaft, medizinische Textsorten, journalistische Textsorten, politische Textsorten etc.42 Es können funktionsgleiche oder -ähnliche Texte zusammengefasst werden (Beispiel: instruktive oder phatische Textsorten), manchmal auch als Texttyp bezeichnet. Textsorten können auch inhaltlich-thematisch gebündelt werden, z. B. die sogenannten Selbstzeugnisse (wie Autobiographie, Tagebuch, Briefe).43 40  Heinemann/Heinemann.

Vgl. dazu auch Adamzik (2016), S. 330 ff. z. B. Rolf. 42  Siehe dazu die einschlägigen Kapitel in Brinker et al. (2000). 43  Siehe Henning. 41  So



Das Tagebuch aus text(sorten)linguistischer Perspektive41

Neuerdings sind die Beziehungen zwischen Textsorten stärker in den Blick geraten und es werden hierfür verschiedene Bezeichnungen vorgeschlagen. Zum einen gibt es das „Textsortenfeld“,44 das paradigmatisch betrachtet Texte mit einer gewissen Äquivalenz umfasst; z. B. das Paradigma von Text(sort)en, die die Funktion haben, den Tod einer Person bekannt zu geben (wie Todesanzeige, persönliche Mitteilung etc.). In eine ähnliche Richtung, aber deutlich weiter verstanden, ist das Konzept „Textsortennetz“45, das Verbindungen bzw. Vernetzungen unterschiedlichster Art (formal, inhaltlich etc.) zwischen Textsorten fassen soll. So findet sich z. B. eine Vernetzung über das Thema ‚Informationen über den Lebensweg eines Menschen‘ in folgenden Textsorten: Lebenslauf, Lexikonartikel zu einer Person, Klappentexte vom Typ „Über den Autor“, Laudationes und Nachrufe, Biografien, Autobiografien, Memoiren.46 Hier wäre z. B. auch das Tagebuch e­ inzuordnen. Ein anderes Textsortennetz wird z. B. von Textsorten „rund um die Oper“ gebildet, wie Opernführer, Programmheft, Opern-Rezension u. ä. Es können Textsorten auch in Handlungszusammenhängen zusammengefasst werden, also syntagmatisch, wenn sie lineare Beziehungen zu Vor- und/ oder Nachtexten eingehen. Es gibt bestimmte Texte, die einen Vorgängertext voraussetzen, auf den sie sich beziehen (wie z. B. Rezensionen oder Zusammenfassungen). Für bestimmte Kommunikationsbereiche (etwa das Rechtswesen oder die Verwaltung) ist charakteristisch, dass es eine Serie von auf­ einander bezogenen Textsorten gibt.47 Und schließlich stehen Textsorten mit anderen auch in hierarchischen Beziehungen. Das wird allein schon an Textsortenbezeichnungen deutlich, bei denen Spezifikationen im Namen ersichtlich werden: wie Reiseführer und Kunst-/Städte-Reiseführer oder Tagebuch und Kriegstagebuch/Reisetagebuch oder Wetterbericht und Segelflugwetterbericht. Die Frage der hierarchischen Beziehungen ist in der Literatur ungelöst, sie setzte voraus, dass geklärt ist, was man genau unter Textsorten versteht – also auf welcher Spezifikationsebene dieser Begriff anzusetzen ist. Hier gibt es recht unterschiedliche Vorschläge, die z. B. auf unterschiedlichen Hierarchieebenen Textsortenklassen oder Texttypen annehmen. Wir gehen hier davon aus, dass das Tagebuch eine Textsorte darstellt, die relativ unspezifisch ist. Auf einer anderen Ebene ist vom Begriff der Textsorte die Kommunika­ tionsform zu unterscheiden (obwohl diese Unterscheidung häufig vernachlässigt wird). Der Begriff Kommunikationsform bezieht sich auf die (häufig 44  Adamzik 45  Adamzik 46  Ebd.

(2016), S. 336 f. (2011).

47  Siehe etwa Klein am Beispiel eines Gesetzgebungsprozesses. Adamzik (2011) bezeichnet diese Beziehungen als Textsortenketten.

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infrastrukturell, technisch oder medial bestimmten) Bedingungen, welche kommunikative Ereignisse ermöglichen, präformieren und damit auch in gewisser Weise steuern und einschränken. Zu denken ist hier etwa an den Brief als traditionelle Form der schriftlichen Interaktion (durch Postdienste ermöglicht), oder an die E-Mail, Kurznachrichtendienste oder soziale Medien als neuere elektronisch basierte Kommunikationsformate, die bestimmte inter­ aktive und technische Rahmen setzen und interaktive Prozesse präformieren. Sie sind allerdings inhaltlich und funktional offen und damit selbst noch keine Textsorten – sie ermöglichen aber die Ausbildung von je funktional bestimmten Textsorten bzw. Interaktionstypen (dazu auch weiter unten).

III. Das Tagebuch aus textsortenlinguistischer Sicht Im Folgenden sollen die oben beschriebenen Beschreibungskategorien auf die Textsorte Tagebuch angewendet werden und relevante Fragen diskutiert werden. 1. Textsortenspektrum Im Allgemeinen wird das Tagebuch in der textsortenlinguistischen Betrachtung als eigenständige Textsorte gesehen.48 In anderen Kontexten zählt es zu den literarischen Gattungen. Dies liegt auch an der breiten Ausgestaltung der Textsorte Tagebuch. Die Textsorte Tagebuch ist verhältnismäßig heterogen, es gibt recht unterschiedliche Varianten, was sich unter anderem auch in verschiedenen spezifischeren Benennungen spiegelt (Reisetagebuch etc.). Allen Tagebüchern gemeinsam ist die auf einer zeitlichen Struktur basierende Textstruktur, die „regelmäßige Einträge ein und derselben Person enthält, die zu einer Vielzahl an Themen und Denkinhalten geschrieben werden“.49 Gruber bestimmt Tagebücher folgendermaßen: „ein Tagebuch ist ein im Zeitmaß des Tages organisierter und in Ich-Perspektive formulierter Text in handschriftlicher oder elektronischer Form, dem vom Autor oder anderen Personen50 unterschied­ liche Wirkungen wie die Entlastung des Gefühls oder des Gedächtnisses zu48  Siehe z. B. Adamzik (2016), S. 186; Fandrych/Thurmair, S. 264 ff.; nur Hipp nimmt die Tagebuchaufzeichnung als eigene Textsorte, dazu unten mehr. Rolf, S. 176, der ein Modell aller Gebrauchstextsorten entwerfen will, nennt sowohl Tagebuch als auch Tagebuchaufzeichnung und Tagebucheintrag. 49  Fandrych/Thurmair, S. 264. 50  Mit der Erwähnung anderer Personen ist allerdings nur ein spezieller Typ von Tagebüchern erfasst, nämlich solche, die von vorneherein auf eine Rezeption durch andere angelegt sind.



Das Tagebuch aus text(sorten)linguistischer Perspektive43

geschrieben werden, und der sich entweder an das Ich des Diaristen, das Tagebuch selbst oder an imaginierte oder real vorhandene Empfänger rich­ tet“.51 Die angeführten Gemeinsamkeiten rechtfertigen es, die unterschied­ lichen Tagebücher als Vertreter einer Textsorte zu begreifen. Zur weiteren Differenzierung muss berücksichtigt werden, dass Tagebücher in verschiedenen Kommunikationsbereichen zu verschiedenen Zwecken entstehen können. Es lassen sich mindestens die folgenden Formen unterscheiden: auf der einen Seite die dienstlichen bzw. amtlichen Tagebücher und auf der anderen Seite die nicht-dienstlichen.52 Diese können weiter spezifiziert werden in (rein) persönliche, literarische und publizistische Tage­ bücher.53 Die dienstlichen Tagebücher unterscheiden sich deutlich von den anderen, sie dienen der Dokumentation von arbeitsrelevanten Vorkommnissen zum Zwecke der Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit; sie werden für eine bestimmte Lesergruppe verfasst, haben also klar bestimmbare Rezipienten, und sie werden nicht aus eigenem Antrieb verfasst, sondern es besteht eine institutionell begründete Verpflichtung dazu. Sie beinhalten vor allem Daten und Fakten und haben die ausschließliche Funktion zu dokumentieren und informieren.54 Sie werden im Folgenden nur mehr gestreift. Die nicht-dienstlichen Tagebücher lassen sich auf jeden Fall unterteilen in persönliche, literarische und publizistische.55 Diese teilen bezogen auf die vorgestellten Beschreibungsparameter bestimmte zentrale Gemeinsamkeiten (vgl. die Definitionen oben), weisen aber auch Unterschiede auf; allerdings lassen sie sich nicht immer leicht voneinander abgrenzen und es gibt vielfäl51  Gruber,

S. 46.

52  Hüttenberger.

53  Zu den publizistischen Tagebüchern gehören auch die politisch-publizistischen Tagebücher (vgl. Fandrych/Thurmair, S. 264 ff.), mit denen der Autor bzw. die Autorin politisch und gesellschaftlich für relevant gehaltene Ereignisse, Erlebnisse, Einschätzungen, Bewertungen und Reflexionen festhält. Damit ist meist die Absicht verbunden, die eigene Rolle und die eigenen Sichtweisen für die Öffentlichkeit und evtl. die Nachwelt festzuhalten und zu plausibilisieren. Es wird im Sinne der narrativen Analyse bzw. der Positionierungstheorie (vgl. etwa De Fina/Georgakopoulou, insbesondere Deppermann) mithilfe narrativer Elemente eine Kohärenzbildung erzeugt, welche auch die (vom Autor wahrgenommenen oder unterstellten) Perspektiven der anderen Beteiligten betrifft und wichtige Stränge des politisch-gesellschaft­ lichen Diskurses indirekt oder direkt wieder aufnimmt. 54  Nach Fandrych/Thurmair, S. 264. 55  Ebd. Die Unterteilung von Gruber, S. 49–72 in a) das Tagebuch als persönliche Chronik und Erinnerungsstütze, b) das Tagebuch als Medium zum Festhalten von Reiseerlebnissen, c) das Tagebuch als religiöses Medium, d) das Tagebuch als Medium der Selbstreflexion und e) das Tagebuch als literarisches Werk wendet Kriterien ganz unterschiedlicher Art an; dies führt zu Formen von Tagebüchern, die nicht trennscharf sind und auf unterschiedlichen Ebenen liegen.

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tige Übergänge. Das gilt noch mehr für die neu entstandene Textsorte der tagebuchähnlichen (häufig auch thematisch gebundenen) Weblogs/Blogs, bei denen sich die Grenzen zwischen persönlichem, literarischem, publizistischem und politischem Tagebuch noch mehr verwischen, bis hin zur Auflösung. Die persönlichen Tagebücher können sich in ihren Zielsetzungen beziehungsweise in der Gewichtung der Zielsetzungen unterscheiden: Sie können (stärker) selbstreflexiv oder dokumentarisch sein oder beides mischen. Literarische Tagebücher stellen eine eigene literarische Gattung dar: Sie werden oft von vornherein im Hinblick auf eine spätere Publikation verfasst und vor der Veröffentlichung insgesamt nochmals grundlegend ediert und gefiltert.56 Die Trennung zwischen persönlichem Tagebuch und literarischem Tagebuch ist allerdings oft schwer zu treffen, da nicht immer klar ist, ob beim Verfassen der Tagebucheinträge bereits an eine Publikation gedacht wurde und auch der Grad des Edierens bzw. Umarbeitens vor einer Publikation häufig schwer zu rekonstruieren ist. Ein anderes Kriterium zur Unterscheidung zwischen persönlichen und literarischen Tagebüchern könnte z. B. der Gestaltungsaufwand sein.57 Politisch-publizistische Tagebücher sind in der Regel von Personen der Zeitgeschichte verfasst, auch hier handelt es sich um nachträglich mehr oder weniger stark edierte und bearbeitete Publikationen zur Dokumentation der (meist auf die öffentlichen Funktionen beschränkten) Biographie. Sie teilen gewisse Aspekte mit Autobiographien und Memoiren. Generell wird das Tagebuch oft in die Reihe der autobiographischen Texte gestellt; mit den dabei üblicherweise zur Abgrenzung angeführten „Topoi“, nämlich Formlosigkeit, monologischer Charakter und Privatheit setzt sich Dusini kritisch auseinander und verwirft sie letztlich alle (siehe dazu im Folgenden).58 Fingierte Tagebücher,59 die beispielsweise als eigene literarische Gattung oder in einem literarischen Text erscheinen, weisen alle musterhaften Kennzeichen der Textsorte Tagebuch auf, mit dem einzigen Unterschied, dass sie zur Rezeption durch andere verfasst wurden. Dass Textsorten mit anderen als den üblichen Funktionen produziert werden, kommt auch in anderen Kontexten vor, etwa bei Parodien („Rotkäppchen auf Juristen­ deutsch“60) oder bei spielerischem Umgang mit der Musterhaftigkeit von Textsorten.61

den Problemen bei derartigen Editionen siehe Dusini. (2017). 58  Dusini, S.  67 ff. 59  Hüttenberger, S. 27. 60  Siehe Ritz (2000). 61  Siehe dazu die Beispiele in Fandrych/Thurmair, S.  192 f.

56  Zu

57  Adamzik



Das Tagebuch aus text(sorten)linguistischer Perspektive45

2. Kriterien der Beschreibung in Bezug auf Tagebücher a) Aspekte der Kommunikationssituation Tagebücher sind Texte, die wesentlich einen Eigenbezug aufweisen. Dies betrifft zunächst ganz grundsätzlich die Rahmensetzung bzw. den „Weltbezug“ von Tagebüchern: Anders als Gebrauchstexte, die in einer „Alltagswelt“ bzw. „Standardwelt“ anzusiedeln sind, welche sich durch einen hohen Grad an (echter oder präsupponierter) Faktizität und Musterhaftigkeit auszeichnet,62 dienen Tagebuchtexte wesentlich der Sinnfindung:63 Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die Autoren sich subjektiv-deutend und bewertend mit der sie umgebenden Gesellschaft auseinandersetzen, eigenes Erlebtes dokumentieren, reflektieren und deuten, um sich so letztlich auch mit Kohärenzentwürfen, Kohärenzanforderungen und Kohärenzbrüchen bezüglich des Selbstbildes und des eigenen Lebensentwurfes auseinanderzusetzen.64 Tagebuchtexte dienen somit der Exteriorisierung von Gefühlen, Gedanken und Erinnerungen an Erlebtes (und können so auch therapeutische Funktion haben); damit sind häufig Versuche der Kohärenzbildung und der Konstruktion von Identitätsentwürfen verbunden, die als Teil von Sinnstiftungsprozessen zu betrachten sind. Gleichzeitig dient die geordnete, chronologische und auf eine gewisse Verdauerung angelegte Schreibroutine, die sich mit Tagebüchern verbindet, auch immer einem dokumentarischen Zweck: man möchte die unmittelbar empfundenen Eindrücke und Gedanken festhalten, um sie für eine mögliche spätere erneute Lektüre verfügbar zu machen. Dies ermöglicht gleichzeitig eine vertiefte, dynamische und zeitlich zerdehnte Arbeit an Selbstfindungsprozessen bzw. an Identitätskonstruktionen. Dabei sind Tagebucheinträge häufig temporal-chronologisch aufgebaut,65 sie orientieren sich somit an allgemeineren narrativen Mustern, die gleichwohl abgewandelt werden können und nicht immer die Schilderung besonderer bzw. unerwarteter Ereignisse zum Gegenstand haben müssen.66

Adamzik (2004), S. 63. die „Welt der Sinnfindung“ ebd., S. 64 f. 64  Nach Fandrych/Thurmair. 65  Vgl. ebd., S. 268 ff. 66  Das Erzählen eignet sich in besonderer Weise als grundlegende Vertextungs­ folie, da so aus der ungeordneten und komplexen Welterfahrung und -wahrnehmung Sinn konstruiert werden kann, indem bestimmte Ereignisse und Phänomene in einen chronologischen und kausalen Zusammenhang gestellt werden und ihnen so „Motiviertheit und Formen von Rationalität unterstellt [wird], wodurch auch zukünftiges Handeln und Entscheiden sinnhaft gerichtet und somit zuallererst möglich werden“ (Bubenhofer et al. [2013], S. 423). 62  Vgl. 63  Vgl.

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Es handelt sich hier also um epistemisches Schreiben. Ein Indiz dafür ist auch die in Tagebuchtexten häufig zu beobachtende Intertextualität: Es finden sich Zitate aus literarischen oder anderen veröffentlichten oder öffent­ lichen Texten (Gedichte, Aphorismen, Bibelsprüche, Liedtexte, Werbesprüche etc.), was ebenfalls die Textsortenfunktion der Sinnfindung und Selbstvergewisserung in Auseinandersetzung mit den Sinnstiftungsangeboten anderer deutlich macht. Zu dieser Charakteristik passt dann auch die Feststellung von Gruber,67 alle Tagebücher seien fiktional, sie unterschieden sich nur im Grad der Fiktionalität, und die Trennung zwischen realen und fiktionalen Tage­ büchern sei nicht haltbar. Für die Nutzung von Tagebüchern als historische Quelle ist das ein relevanter, nicht zu vernachlässigender Aspekt. Zu Produktion und Rezeption von Tagebüchern: Tagebuchschreiben kann jeder und jede; für die Produzenten gibt es heute68 keine Spezifikation (­außer, dass sie lesen und schreiben können müssen).69 Mit Blick auf die Geschichte der Textsorte lassen sich aber vielfältige Veränderungen und Verschiebungen in der Autorenschaft feststellen: So sind spätestens im 20. Jahrhundert ­vermehrt (erwachsene) weibliche Autoren aufgetreten;70 bisweilen gilt das ­Schreiben von (persönlichen) Tagebüchern eher als jugendliches Schreiben, das Tagebuch dann oft als pädagogisches Medium.71 Generell befinden sich Tagebuchautoren oft in Umbruchsituationen oder außergewöhnlichen Situationen; das trifft häufig auf Jugendliche zu, es erklärt aber auch das Entstehen von Reisetagebüchern, Krankheitstagebüchern und anderes mehr. Wenn also grundsätzlich alle ein Tagebuch schreiben können, so gibt es im Hinblick auf Veröffentlichung oder Öffentlichmachung von Tagebüchern doch gewisse Einschränkungen. Die Herausgabe in Buchform muss aus irgendeinem Grund Interesse wecken: bei literarischen oder (politisch-)publizistischen Tagebüchern ist dabei die Autorschaft an eine besondere literarische, intellektuelle oder gesellschaftlich herausgehobene Reputation des Autors/der Autorin ge67  Gruber,

S. 62. S. 25, weist darauf hin, dass es eines längeren Prozesses in der Aus­ bildung der Textsorte Tagebuch bedurfte, bis das eigene Seelen- und Gefühlsleben Gegenstand des Schreibens werden konnte, und berichtet, dass das Tagebuch von Lavater, 1771 veröffentlicht, eine Debatte über das Verhältnis von Öffentlichkeit und Intimität hervorrief. Die Zeitgenossen Lavaters ‚empfanden es als skandalös, „mit privaten und für das damalige Verständnis belanglosen Schilderungen an die Öffentlichkeit getreten zu sein‘ (Gruber, die hier Messerli zitiert). 69  Während die Schriftlichkeit im Lauf der Textsortengeschichte eines der wenigen stabilen Kriterien zu sein scheint, löst sich auch dieses auf: Blogs binden mehr und mehr Bilder, Videos und Audio-Daten ein und es gibt mittlerweile auch akustische oder Video-Tagebücher in einer großen Bandbreite. 70  Vgl. Gruber, S. 97 ff., bes. S. 99: „Tagebuchschreiben als weibliches Kulturmuster“. 71  Ebd., S.  100 ff. 68  Gruber,



Das Tagebuch aus text(sorten)linguistischer Perspektive47

bunden.72 Das Interesse an der Publikation von Tagebüchern kann aber auch – unabhängig vom Status des Autors/der Autorin – kulturgeschichtlich bedingt sein, wenn dadurch z. B. Einblick in das Alltagsleben „kleiner Leute“ gewährt wird. Entsprechende Einschränkungen gibt es bei Blogs nicht mehr: es werden auch Blogs ohne sichtbare Rezipienten (ausweislich der Klickzahlen) geführt. Was die Rezeption von Tagebüchern betrifft, so lassen sich hier grundlegende Unterschiede ausmachen. So besteht ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal darin, ob nur der/die Schreibende selbst als Rezipient/in intendiert ist oder ob bereits beim Verfassen der Tagebucheinträge an eine Publikation und damit an andere Rezipienten gedacht wurde. Im ersten Fall handelt es sich um persönliche Tagebücher, die im privaten73 Raum verbleiben und nur für die (spätere) Eigenrezeption verfasst werden. Aber auch diese Tagebücher sind – wie alle anderen – als grundsätzlich dialogische (und nicht monologische Texte)74 zu sehen: sie richten sich an die Schreibenden selbst, an die Instanz des Tagebuchs75 oder an eine andere (fiktive oder reale) Person oder Instanz; Dusini sieht auch einen Dialog des Schreibers mit dem Schreiben.76 Sekundär können sie natürlich auch von anderen rezipiert werden – gegen den Willen oder auch mit Einverständnis des Schreibenden, häufig dann in zeit­ licher Verzögerung wie bei der posthum zugelassenen in Fandrych/Thurmair. Kritik von Dusini, S. 70, der sich hier auch auf weitere ähnliche Aussagen stützt, dass die Kategorie „privat“ als Gattungsbestimmung untauglich sei, ist aus kommunikationswissenschaftlicher und hier textsortenlingustischer Sicht nicht haltbar: privat, halböffentlich und öffentlich sind in mehrfacher Hinsicht in der Linguistik relevante Unterscheidungskategorien. Tatsache ist, dass sich das Tagebuch nicht eindeutig zuordnen lässt, was aber nicht den Wert der Kategorie zur Unterscheidung in Frage stellen sollte. Entscheidend sind hier – das merkt Dusini, S. 71 auch an – die unterschiedlichen Arten der Rezeption und der Zugänglichkeit. 74  Siehe auch Dusini, S. 68 f., der den Topos vom monologischen Charakter der Tagebücher als nicht haltbar beschreibt und ähnlich Gruber, S. 44 f., die latent vorhandene Adressaten annimmt, die von einer göttlichen Instanz über ein zukünftiges Leser-Ich, in einen fiktiven Gefährten, ein gesichtsloses Publikum, bis zum Buch/ Blog selbst reichen. Dagegen geht Adamzik (2016), S. 185 f. etwa bei Notizen, Skizzen und Entwürfen von nicht-partnergerichtetem Sprachgebrauch und einer nichtkommunikativen Sprachfunktion aus; ähnlich betrachtet sie auch die wenig partnerbezogene emotionale Funktion und ordnet hier auch das Tagebuch ein. Der Unterschied liegt bezogen auf das Tagebuch dann in der Frage, wie ein kommunikativer Partner, ein Gegenüber zu bestimmen ist. Aus unserer Sicht sind auch Formen wie das Tagebuch grundsätzlich kommunikativ – schon das Exteriorisieren der Gedanken und Gefühle setzt einen selbstreflexiven kommunikativen Akt voraus; daneben kann man auch den Prozess des Aushandelns von Identitätskonstruktionen „mit sich selbst“ als kommunikatives Ereignis auffassen. 75  Vgl. auch den Titel „Der papierne Freund“ von Messerli. 76  Dusini. 72  So

73  Die

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Publikation. Im zweiten Fall ist schon beim Verfassen des Tagebuchs an andere Rezipienten und damit fremde Leser/innen gedacht. Dann handelt es sich z. B. um politisch-publizistische oder auch literarische Tagebücher. Nur noch historisch relevant sind hier die moralisch-erbaulichen Tagebücher, etwa die der Pietisten, die ausgetauscht und vorgelesen wurden.77 Aktuell sind hier aber die Blogs zu nennen, die ja von vornherein dazu dienen sich anderen mitzuteilen. Die Perspektive auf andere Leser kann das Schreiben verändern: möglicherweise schon im Schreibprozess selbst, auf jeden Fall aber gibt es Veränderungen und Eingriffe beim Edieren, darauf hat Dusini mit einer Fülle von Belegen sehr ausführlich und überzeugend nachvollziehbar aufmerksam gemacht.78 Was den Akt der Rezeption in zeitlicher Hinsicht betrifft, so werden die literarischen und politischen Tagebücher dann rezipiert, wenn sie ediert sind, das heißt die Texte werden in einer größeren zeitlichen Rückschau als produkthaftes Ganzes gelesen; bei den modernen Formen der Blogs dagegen ist die Rezeption rhythmisiert leicht verzögert direkt nach der Produktion – der Blog wird ja in kleinen Zeitabschnitten (z. B. Tagen) gelesen und damit deutlich näher am Produktionsprozess rezipiert; dies hat bei Weblogs auch Folgen, insofern die Rezipienten eingreifen können,79 was zu einer wesentlich direkteren Dialogizität und in Ansätzen zu wirklicher Kommunikation führen kann. Zur Medialität: Tagebücher erscheinen im schriftlichen Medium. Je nach Autor/Autorin, Schreibanlass und -thema, Grad der Privatheit/Öffentlichkeit und Stilpräferenzen können sie stärker „konzeptionell mündlich“ (also informell und verknappt) oder stärker „konzeptionell schriftlich“ (also expliziter und elaborierter) formuliert sein.80 Bei für die Öffentlichkeit bestimmten Tagbüchern, insbesondere auch bei der neueren Spielart der Tagebuch-Blogs, können zudem auch spielerisch-kreative oder rhetorisch aufgeladene Schreibstile auftreten. Häufigere und auffälligere Stilmittel der konzeptuellen Mündlichkeit sind vor allem unterschiedliche Formen von Ellipsen (Halsweh und leichter Husten statt ich habe Halsweh … oder: abends Zelt aufgebaut, noch was getrunken, schlecht geschlafen statt wir haben …, ich habe … usw.). Auch die Materialität ist beim Tagebuch besonders wichtig. Das betrifft sowohl die Kategorie des Buches als auch die tageweise Gliederung und die textuelle Anordnung innerhalb dieser Tage. Auf die Problematik von Editionen, die wesentliche Aspekte der Materialität und mitunter auch die textuelle 77  Gruber,

S. 45. S. 43–55. 79  Siehe das Beispiel in Fandrych/Thurmair, S. 273. 80  Zu diesen Konzepten s. z. B. Koch/Österreicher, Hennig, Schwitalla. 78  Dusini,



Das Tagebuch aus text(sorten)linguistischer Perspektive49

Anordnung verändern, macht Dusini aufmerksam.81 Henning weist zudem darauf hin, dass die Materialität auch für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung entscheidend sein kann.82 Zu Raum und Zeit: Tagebücher werden im Allgemeinen vom Schreibenden allein in einem nicht-öffentlichen Raum erstellt, auch werden sie zunächst im privaten Raum aufbewahrt und sind nicht sofort zugänglich. Ihre „Geltungsdauer“ ist nicht begrenzt – Tagebücher sind ja schon von der Produktion her eine grundsätzlich offene Textsorte – grundsätzlich begrenzt sind sie nur durch die Lebensdauer des Schreibenden; ihre Geltungsdauer geht im Prinzip aber auch darüber hinaus – manche Tagebücher dürfen etwa erst nach dem Tod des Verfassers publiziert werden (so z. B. bei Schriftstellern wie Thomas Mann oder Elias Canetti). Die Frage, ob es bei Tagebüchern eine kulturräumliche Geprägtheit gibt, lässt sich nur schwer beantworten, dazu sind Tagebücher als doch sehr subjektive Texte eine zu individualisierte Form und zu wenig formalisiert. Unterschiede werden in der Literatur eher dahingehend genannt, dass bestimmte Formen zu bestimmten Zeiten in b ­ estimmten Kulturen häufiger und damit prägend waren. So gilt etwa im 18. Jahrhundert zu Zeiten der Empfindsamkeit Deutschland als das „tagebuchführende Land par excellance [sic]“,83 im 19. Jahrhundert dagegen kommt in Frankreich mit den „Journaux intimes“ ein neuer Höhepunkt auf. Wie üblich das Tagebuchschreiben in verschiedenen Kulturkreisen und gesellschaft­lichen Gruppen ist, müsste textsoziologisch noch genauer untersucht werden. Es scheint so zu sein, dass das Führen privater Tagebücher (etwa Jugend­ licher und junger Erwachsener) nicht in allen Kulturkreisen gleich üblich ist,84 auch könnte es bei bestimmten gesellschaftlichen Gruppen üblicher sein als bei anderen (zu prüfen wäre etwa, ob es sich eher mit bildungsnahen, bürger­lichen Schichten verbindet als etwa mit ländlichen und/oder bildungsfernen Schichten). Auch, inwieweit die neue Gattung der (Tagebuch-)Blogs universal ist und welche thematischen sowie schreibprozesstypischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten es hier gibt, wäre noch näher zu untersuchen.85 Die weite Verbreitung von Tagebüchern (zumindest, was die elektronisch verfügbaren Varianten angeht) macht sie – neben anderen Vorzügen wie der 81  Dusini,

S. 43–55. S. 35. 83  Gruber, S. 25, die hier Hocke (1986) zitiert. 84  So berichteten Teilnehmende an Seminaren und Workshops zur Textsorte Tagebuch in Vietnam und Ägypten, dass dort das Tagebuchschreiben eher unüblich sei. 85  Es ist offenkundig, dass öffentliche Blogs ganz erhebliche politische Brisanz aufweisen können und Blogger/innen mit drastischen persönlichen Konsequenzen rechnen müssen, wenn die teils sehr rigiden thematischen und semiotischen Einschränkungen nicht eingehalten werden. 82  Henning,

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Stilvariabilität und der individuellen Prägung – zu einer guten Textsorte für Schreiben in spracherwerbs- oder anderen didaktischen Kontexten. b) Funktion(en) des Tagebuchs Trotz der Vielfalt der Tagebuchvarianten sind die Funktionen der Texte relativ gut zu bestimmen und es werden immer wieder zwei Funktionen genannt: so zeichnet Gruber einen Funktionswandel ab dem 18. Jahrhundert nach, der von der chronikalischen Funktion stärker zur introspektiven führt. In ihrer Definition spricht Gruber von der Entlastung des Gefühls oder des Gedächtnisses,86 Fandrych und Thurmair sprechen für die (persönlichen) Tagebücher davon, dass sie der Dokumentation und Reflexion von Erlebtem im weitesten Sinne dienen.87 Tagebuchtexte vereinigen so typischerweise eine expressiv-sinnsuchende Funktion mit einer wissensbereitstellenden Funktion (im Sinne ihres dokumentarischen Charakters). Der expressive Charakter zeigt sich an der häufigen Thematisierung eigener Gefühle, Stimmungen, Vorstellungen, Hoffnungen, Träume, Spekulationen und Sinndeutungen.88 Diese beiden Funktionen können in den einzelnen Tagebucheinträgen alleine auftreten oder sich mischen, sie können innerhalb eines Tagebuchs (also im Lauf der Zeit des Tagebuchschreibens und bezogen auf verschiedene Phasen des Lebens) ihre Gewichtung auch immer wieder ändern. Allen Einträgen im Tagebuch, auch den Passagen mit dokumentarischem Charakter und damit wissensbereitstellender Funktion, liegt eine subjektiv bestimmte, selektive Auswahl an Themen und Reflexionsgegenständen zugrunde, eine unterschiedliche Fokussierung der thematisierten Begebenheiten und somit eine je individuelle Sinnkonstruktion durch den Autor beziehungsweise die Autorin. Schreiber nehmen eine Selbstinszenierung und eine Inszenierung des Berichteten beziehungsweise Erzählten vor. Dabei bestimmen sie selbst die Perspektiven, unter denen sie das Erzählte inszenieren, einschließlich der Rollen, Zuschreibungen und wechselseitigen Einschätzungen der Beteiligten sowie der Einordnung der thematisierten Begebenheiten, Emotionen und Gedanken.89 Wie sehr sich Tagebuchtexte an nachprüfbare Fakten halten 86  Gruber,

S. 46.

87  Fandrych/Thurmair,

S.  266 f. ebd. 89  Im Sinne der Positionierungstheorie (vgl. dazu etwa Deppermann) dienen autobiographische Erzählungen der diskursiven Konstruktion und Aushandlung von Identität und Selbst im sozialen Kontext (Positionierung). Dabei wird Identität nicht als etwas Gegebenes, Stabiles, Individuelles gesehen, sondern als etwas, das diskursiv in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und (imaginären oder realen) Interak­ tionspartnern immer wieder hergestellt, inszeniert, zugeschrieben wird (ebd., S. 369 f., S. 378). Dies wird auch als Selbst-Positionierung (self positioning) bezeichnet. In 88  Nach



Das Tagebuch aus text(sorten)linguistischer Perspektive51

oder nicht, ist dabei ebenfalls eine individuelle Entscheidung – in der Regel kann man aber davon ausgehen, dass Autoren und Autorinnen privater Tagebücher ein Eigeninteresse daran haben, reale oder für real gehaltene Erfahrungen und Ereignisse auch als solche darzustellen, da Tagebücher ja gerade häufig die Funktion eines „Scharniers“ zwischen Individuum und Kollektiv haben.90 Bei für die Öffentlichkeit bestimmten Tagebüchern bzw. Weblogs steigt der Druck, als allgemein anerkannt geltende beziehungsweise nachprüfbare Fakten möglichst auch als solche darzustellen, will man sich nicht dem Vorwurf der Konstruktion „alternativer Fakten“ aussetzen. c) Thema Thematisch lassen sich die Tagebuchtexte relativ gut bestimmen: sie weisen grundsätzlich einen Eigenbezug auf. Ihre thematische Konstante ist eben das subjektiv Erlebte, Vorgestellte, Erhoffte, Befürchtete, Gedachte in seiner Relevanz für das Selbst und seine Beziehung zur Umwelt. d) Sprachliche Form, Textarchitektur und Textstruktur Was die sprachliche Form betrifft, so handelt es sich bei den privaten Tagebuchtexten häufig um spontan erzeugte Texte, die in engem zeitlichem Bezug zu den im Text dargestellten oder reflektierten Erlebnissen stehen.91 Oft sind die Texte konzeptionell nahe an der Mündlichkeit situiert: das kann sich auf sprachliche Kürze, aber auch auf die Verwendung umgangssprach­ licher oder dialektaler Register beziehen. Tagebücher, die nur an den Schreibenden selbst gerichtet sind, können sprachlich stark verknappt und von idiosynkratischem Stil geprägt sein (sie müssen allerdings eine spätere verständliche Selbstrezeption zulassen). Je mehr der Blick auf mögliche Rezi­ pienten gerichtet ist, desto mehr Gestaltungsaufwand findet sich (was nicht gleichzusetzen ist mit elaboriertem Stil). Oft werden Tagebücher ja für eine Edition entsprechend sprachlich überarbeitet. Das Tagebuch ist als Ganzes als eine Textsorte anzusehen, die aus ein­ zelnen chronologisch angeordneten Tagebucheinträgen besteht, die als mehr oder minder abgeschlossene Teiltexte betrachtet werden können. Man könnte auch von einer Groß-Textsorte sprechen. Dafür, das Ganze als eine Textsorte zu betrachten, spricht neben der Materialität auch die Tatsache, dass es zudiesem Sinne sind autobiographische Texte, wie oben bereits angesprochen, immer (auch) Fiktion. 90  Ähnlich wie Erzählungen, vgl. Bubenhofer et al. (2013), S. 423. 91  Dass sich, wie Henning (2012), S. 19 behauptet, Tagebuchschreiber im Präsens auszudrücken pflegen, können wir nicht bestätigen.

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mindest häufig explizite Anfänge gibt, in denen z. B. das Tagebuchschreiben als solches thematisiert wird.92 Anfänge werden sonst – wenn überhaupt – nur an besonderen Stellen Thema: wenn entweder die Chronologie dies ­nahelegt (also z. B. Beginn eines neuen Kalender- oder Lebensjahres oder Lebensabschnitts) oder das Material (Beginn eines neuen Buches). Tagebuch­ enden sind naturgemäß sehr viel seltener,93 d. h. das Ende wird selten explizit vollzogen, die Schreibenden und damit die Tagebücher hören einfach – aus unterschiedlichen Gründen – auf. Für die Betrachtung des Tagebuchs als ein Textganzes spricht auch der funktionale Aspekt: die Funktion der einzelnen Einträge erschließt sich adäquat erst durch die spezifische Einbettung in das Textganze des Tagebuchs; diesem kommt insgesamt eine spezifische kommunikative Funktion zu. Die einzelnen Einträge müssen nicht direkt aufeinander bezogen oder explizit verknüpft sein, sie gewinnen aber untereinander Kohärenz durch die Person des Autors/der Autorin und durch den bereits erwähnten thematischen Eigenbezug. Auch finden sich natürlich häufig weitere Merkmale der Kohärenz, die sich aus der Kontinuität der angeführten Themen, des Umfelds, bestimmter Erfahrungen, Gefühle oder Denkprozesse etc. ergibt. Deshalb sind die einzelnen Tagebucheinträge auch oft nur in diesem Kontext zu verstehen. Das kann man besonders gut auch an eingebetteten anderen Texten sehen: Ein Witz, ein Kochrezept oder die Empfehlung eines Musikstücks als Teil eines Tagebuchs ist in diesem Sinne der Funktion des Tagebuchs untergeordnet, auch wenn solche Textteile in anderen Kontexten selbständig vorkommen (können). Die globale Funktion und die generelle Charakteristik grenzt das Tagebuch als (Groß-)Textsorte auch von dem Konzept der Kommunikationsform ab, die (wie oben beschrieben) eine mediale Präformierung von Interaktion darstellt, welche bestimmte Kommunikationsmodi ermöglicht (und andere ausschließt), funktional und thematisch aber völlig offen ist (etwa Briefe, Telefongespräche, Zeitungsartikel, E-Mails, Chats).94 So unspezifisch ist das Tagebuch funktional nicht. Textsorten, die größer sind, gegebenenfalls auch offener und unspezifischer, aber aus mehr oder weniger selbstständigen Teiltexten mit gleicher Funktion bestehen, gibt es öfter, so z. B. Horoskope oder Besucherbücher, Gipfelbücher95 und Kondolenzbücher. Wichtig sind in diesen Fällen die von Hausendorf et al. so bezeichneten Ganzheitshinweise.96 Anfang siehe ausführlich Dusini, S. 145–166. dazu ebd., S. 189–208. 94  Vgl. u. a. Gülich/Raible, Ermert, S.  57 ff., Rolf, S.  46 ff., Ziegler und Dürscheid. 95  Siehe Thurmair. 96  Hausendorf et al. 92  Zum

93  Siehe



Das Tagebuch aus text(sorten)linguistischer Perspektive53

Das Tagebuch besteht also aus Teiltexten, den Tagebucheinträgen, die alle vom selben Produzenten/der selben Produzentin stammen.97 Diese Tagebucheinträge sind chronologisch durch die Datumsangabe geordnet, das Datum (und gegebenenfalls der Zeitpunkt) ist dabei ein obligatorischer Bestandteil jedes Tagebucheintrags; es bezeichnet die Zeit der Eintragung, nicht den Zeitpunkt der geschilderten Erlebnisse. Dass schon die Art der Datumsangabe und die damit gegebenenfalls verbundenen Informationen (Wochentage wie 3.3. Sonntag, Heiligenfeste wie 19. März, Josefi, kirchliche Feste wie 5. April, Karfreitag oder sonstige relevante Ereignisse) aufschlussreich sein kann, macht Dusini deutlich.98 Die zeitliche Fixierung durch das Datum kann gerade bei Schreibenden, die viel auf Reisen sind, durch die räumliche Fixierung ergänzt werden (Regensburg, den 8. März). Man kann diese Angaben als ein Zeichen des dokumentarischen Charakters von Tagebüchern sehen: es werden die Gedanken, Erinnerungen und Reflexionen zum angegebenen Zeitpunkt (am angegebenen Ort) festgehalten und so ein Anspruch auf Unmittelbarkeit erhoben. Die einzelnen Tagebucheinträge weisen häufig, besonders, wenn sie komplexer und umfangreicher sind, eine interne Struktur auf. Diese ist oft (mikro-)chronologisch (früh, mittag, abend), sie kann aber auch inhaltlich-thematisch bestimmt sein; dann wechseln z. B. narrative Passagen mit reflexiven Passagen ab, oder Passagen, die Weltgeschehen beschreiben, mit solchen der individuellen Ereignisse, wie Kafkas berühmte Notiz: „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschu­ le“.99 Tagebucheinträge können unter einem bestimmten Datum auch fehlen und die Seite leer bleiben. Auch dies gewinnt seinen Sinn im Textganzen. Insgesamt zeigt sich das Tagebuch als eine polyvalente Textsorte, die nicht nur aus Sicht der Geschichtswissenschaft oder der Literaturwissenschaft ergiebige Analysemöglichkeiten eröffnet, sondern auch aus Sicht einer Text­ sortenlinguistik: hier böten sich weitere Untersuchungen an, die etwa das Tagebuch im Kontext anderer thematisch verwandter Textsorten in den Blick nehmen, wie etwa Autobiographie, Vorstellungstexte oder Privatbriefe als personenbezogenen Textsorten oder Logbuch, Protokoll, Beobachtungsnotizen und andere dokumentarische Texte. Auch produktiv bietet die Textsorte Tagebuch vielfältige Einsatzmöglichkeiten, sei es in therapeutischen oder didaktischen Zusammenhängen, im Schulunterricht oder im Fremdsprachenunterricht als Lernertagebuch.

97  Ausnahmen hiervon sind Diensttagebücher bzw. Logbücher, die von mehreren (diensthabenden) Personen geführt werden, wo also die berufliche Funktion und nicht die Person die Kontinuität der Autorschaft herstellt. 98  Dusini, S. 167–188. 99  Kafka, Tagebucheintrag vom 2.8.1914, zitiert nach Walther (2008), S. 29.

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Das Tagebuch aus text(sorten)linguistischer Perspektive55

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Tagebücher als Quellen der Geschichtswissenschaft Von Michael Maurer Welcher Geschichtswissenschaft?1 Wenn wir an die herkömmliche Politische Geschichte denken mit ihren Hauptakzenten Dynastie, Diplomatie und Militär, ist sogleich evident, wozu Tagebücher dienen können: Sie beleuchten die Handlungen, Motivationen, Rechtfertigungen der politisch relevanten Persönlichkeiten, der „Männer, die Geschichte machen“. Wenn wir an die in den 1970er Jahren emporgekommene Sozialgeschichte denken, ist es schon zweifelhafter, wozu Tagebücher nützlich sein sollen, da sich mit dem Ansatz „Geschichte als historische Sozialwissenschaft“ zumeist bestimmte methodische Vorentscheidungen verbinden, die beispielsweise quantitative Methoden einbeziehen, Statistiken, auf Strukturen ausgehen, Prozesse analysieren wollen, die ein grundsätzlich anderes Quellenverständnis voraussetzen. Tagebücher wären in diesem Sinne primär dann relevant, wenn sie in Serien zu erfassen wären, verallgemeinerbare Aussagen ermöglichten. Freilich können sie in sozialgeschichtlicher Hinsicht auch dazu dienen, soziale Gruppen zu erschließen: Man denke an Tagebücher als Aufzeichnungen aus Unterschichtmilieus (Arbeiterschaft, Bauern, Handwerksgesellen). Grundsätzlich bleibt jedoch bei diesem Ansatz das Problem der Subjektivität, der Vereinzelung, der Individualität. Unter dem Gesichtspunkt der Sozialgeschichte erscheinen Selbstzeugnisse (‚Ego-Dokumente‘2) randständig. Wenn wir dagegen Geschichte als ‚Histoire au troisième niveau‘ auffassen, als ‚Nouvelle Histoire‘ oder Kulturgeschichte, kommt Tagebüchern sogleich eine viel größere Bedeutung zu. Sie erscheinen als willkommene authentische Quellen, die uns Auskunft geben über realhistorische Subjekte, über ihr Handeln und Leiden, ihre Gefühle und Reflexionen. Tagebücher dienen als ‚Fenster in die Geschichte‘, als Durchbrüche durch die Mauern des Schweigens und Vergessens. Sie eröffnen Einsichten in das kulturell Fremde. Sie sind ethnologisch

1  An dieser Stelle kann nicht weiter auf die Entwicklung der Geschichtswissenschaft eingegangen werden. Ich verweise stattdessen pauschal auf Maurer, Neuzeit­ liche Geschichtsschreibung, sowie ders., Kulturgeschichte 2004. Dort wird jeweils auch auf das Schema der Dreistadienentwicklung Politische Geschichte – Sozialgeschichte – Kulturgeschichte Bezug genommen. 2  Vgl. Schulze (Hg.).

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aussagekräftig. Sie erschließen individuelle historische Lebenswelten, aus denen wir sonst vielleicht keine Quellen haben. Mit der Grundbestimmung, Tagebücher seien nicht-institutionelle, personale Quellen, Selbstzeugnisse,3 gewinnen wir sogleich Einsicht in ihre Leistungsfähigkeit und in ihre Grenzen: Solange es auf das handelnde und leidende Individuum ankommt, sind solche Quellen von hoher Bedeutung; in einem Zeitalter der Massen, der Demokratie, der komplexeren Lebensverhältnisse, kollektiven Denkstrukturen und pluralen Erlebnisweisen, insbesondere in einem von anderen Medien, Massenmedien, bestimmten Zeitalter mussten solche Individualquellen zwangsläufig eine andere Bedeutung gewinnen. Freilich zeichnet sich in den letzten Jahrzehnten eine Tendenz ab, von Tagebüchern einen gewissermaßen abgeleiteten, sekundären Gebrauch zu machen, wofür hier nur auf Walter Kempowskis Idee des ‚kollektiven Tagebuches‘ verwiesen sei. In dieser Sekundärfunktion, die noch eigens zu behandeln sein wird, verändert sich die Frage nach Tagebüchern als Quellen der Geschichtswissenschaft grundlegend. Bevor wir dahin kommen, möchte ich mich zunächst auf das ‚klassische Tagebuch‘ als Selbstzeugnis konzen­ trieren. In drei Schritten verfolge ich die Bedeutung dieser Individualform zunächst für die Politische Geschichte, sodann für die Sozialgeschichte, schließlich für die Kulturgeschichte.

I. Politische Geschichte In einem vordemokratischen Zeitalter, zur Zeit der Monarchien, bestanden staatliche, militärische und kirchliche Hierarchien, deren Spitzen jeweils Entscheidungen von historischer Tragweite zugeschrieben werden konnten. Insofern kommt eventuellen Tagebüchern von Königen, Ministern, Spitzendiplomaten, Generälen, Kirchenführern eine ganz offensichtliche Bedeutung zu, weil sie hier nicht nur ihr Erleben und ihren Reflexionshorizont dokumentieren, sondern auch ihre Handlungen motivieren, ihre Handlungsspielräume einschätzen, ihre Vorgehensweise legitimieren, ihre Absichten aussprechen oder verschleiern. Beispielsweise gibt es aus der Zeit der Glaubensspaltung Tagebücher des kaiserlichen Botschafters in Spanien, Hans Khevenhüller, ein Tagebuch vom Hofe Maria Theresias von Johann Josef Fürst Khevenhüller-Metsch, zwei Tagebücher vom Hofe Friedrichs des Großen von Girolamo Marchese Lucchesini und Ernst Ahasverus Heinrich Graf von Lehndorff, ein Tagebuch Kaiser Karls VII., das Tagebuch des Erzherzogs Johann aus den Befreiungskriegen und vom Wiener Kongress, aus dieser 3  Vgl.

Henning.



Tagebücher als Quellen der Geschichtswissenschaft59

Zeit auch Tagebücher von Friedrich von Gentz und vom preußischen Oberpräsidenten Ludwig Freiherrn Vincke, desgleichen von Wilhelm von Humboldt und Friedrich August Ludwig von der Marwitz.4 Seit dem 19. Jahrhundert werden solche Tagebücher immer zahlreicher, wofür neben der allgemein zunehmenden Alphabetisierung vor allem die Durchsetzung des Tagebuchschreibens als kulturelle Praxis, aber auch das Interesse der Öffentlichkeit und die Leistungen der Geschichtswissenschaft im Editionswesen angeführt werden können. Für die Zeit seit der Restauration finden wir Tagebücher der Brüder Gerlach über den Kreis um König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, Caroline von Rochow sowie Marie de la Motte-Fouqué, Tagebücher von Großherzog Friedrich I. von Baden und König Ludwig II. von Bayern, des österreichischen Finanz- und Wirtschaftsministers Carl Friedrich Kübeck zu Kübau, des österreichischen Polizeiministers Johann Friedrich Kempen von Fichtenstamm, des hessen-darmstädtischen Ministers Freiherrn Reinhard von Dalwigk zu Lichtenfels sowie des württembergischen Statistikers Johannes Fallati aus dem Jahre 1848. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden die Publikationen von Tagebüchern noch dichter: Kaiser Friedrich III., Generalfeldmarschall Leonhard Graf von Blumenthal, Paul Bronsart von Schellendorff. Aber auch der Arbeiterführer Ferdinand Lassalle und der republikanische Politiker Ludwig Bamberger und der katholische Sozialreformer Adolph Kolping haben Tagebücher hinterlassen.5 Seit dem späten 19. Jahrhundert liegt ein überreiches Material vor, auf das an dieser Stelle nur pauschal hingewiesen werden kann. Leistungsfähigkeit und Grenzen der Quellengattung Tagebuch sollen zunächst an einem Beispiel dargestellt werden. Wir fokussieren ‚1789‘; es versteht sich von selbst, dass all denjenigen Tagebüchern eine besondere Bedeutung zukommt, die von außergewöhnlichen historischen Situationen zu berichten wissen, von Revolutionen und Kriegen. Allerdings müssen Aktualität und Authentizität von Tagebüchern eben auch oft bezahlt werden mit Augenblicksverhaftetheit, ja Widersprüchlichkeit:6 Der Diarist kann meistens noch gar nicht wissen, ob die Situation, die er erlebt und aufschreibenswert findet, historische Bedeutung gewinnen wird. Er ahnt ja noch nicht, welche Folgen daraus entstehen könnten. Sprichwörtlich ist in dieser Beziehung das Tagebuch des letzten französischen Königs des Ancien Régimes, Ludwigs XVI. Natürlich ‚wusste‘ später alle Welt, dass am 14. Juli 1789 mit dem Sturm auf die Bastille in Paris die Französische Revolution begonnen 4  Baumgart

154.

5  Baumgart

(Hg.), Quellenkunde Bd. 3, S. 92–95, S. 104–113, S. 123–127, S. 149–

(Hg.), Quellenkunde Bd. 4, S. 97–172. diesen Charakteristika der Gattung Tagebuch vgl. u. a. Maurer, Poetik des Tagebuchs. 6  Zu

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hatte. Der König aber notierte sich damals in sein Tagebuch: „Juli 1789. 13. nichts. 14. nichts.“7 Das klingt absurd, ist es aber keineswegs: Die Handelnden und Leidenden in einer bestimmten gesellschaftlichen, politischen, militärischen oder privaten Situation sind oft gerade deshalb ‚blind‘, weil sie selber befangen sind und nicht über die besonderen Umstände hinausschauen können. Folgt man den Eintragungen der Tagebuchschreiber Tag für Tag, muss man sich jeweils ihrer spezifischen Blindheit oder Kurzsichtigkeit anbequemen. Größe und Grenzen des Mediums Tagebuch liegen hier ganz eng beisammen: Wir dürfen lächeln über die mangelnde Voraussicht und die vielleicht ganz irrige Prophetie, aber kein noch so kluges Nachhinein vermag es, uns nochmals jene Situation der Offenheit des Geschehens zurückzubringen, in der man noch nicht wusste, wie das alles weitergeht. Lassen wir das königliche Tagebuch auf sich beruhen und fragen wir uns nach anderen Zeugen der ‚Großen Französischen Revolution‘. Tausende waren beteiligt, Tausende waren dabei – aber schrieben sie Tagebücher? Nur wenige. Die Masse der Quellen, die wir über die Ereignisse von 1789 haben, ist in anderer Form auf uns gekommen, beispielsweise als Briefe, Korrespondentenberichte, besonders häufig in Memoiren retrospektiv. Alle diese Quellen müssen hier beiseite geräumt werden, so wichtig sie auch sein mögen. Für unser Thema muss die Frage scharf fokussiert werden: Was steht in den Tagebüchern der Zeitzeugen? Tagebücher im Wortsinne schrieben etwa der junge deutsche Adlige Wilhelm von Wolzogen8 oder der Amerikaner Gouverneur Morris. (‚Gouverneur‘ ist hier der Vorname.) Morris war als Geschäftsmann und Vergnügungsreisender nach Paris gekommen, hielt sich also 1789 zufällig am Ort des Geschehens auf. 1791 wurde er allerdings zum diplomatischen Vertreter der Vereinigten Staaten in Frankreich ernannt. Er war ein Freund George Washingtons und teilte dessen politische Ansichten. Er war bei der Eröffnung der Generalstände anwesend und notierte aufmerksam, welche Persönlichkeiten wieviel Beifall erhielten. Er hebt Necker hervor als den Mann, der den meisten B ­ eifall erhält und mit dem man die größten Hoffnungen verbindet. Morris machte diese Notizen nur für sich selber, ohne Absicht der Veröffentlichung; sie wurden erst 1901 aus den Archiven ediert.9 Sie enthalten vieles, was anscheinend richtig eingeschätzt wurde, aber auch vieles, das gerade durch seine perspektivlose Augenzeugenschaft besticht: Der Mann, der sich das notierte, wusste noch nicht, wie wichtig das später sein würde. 7  Pernoud/Flaissier 8  Wolzogen. 9  Pariset

(Hg.).

(Hg.), S. 48.



Tagebücher als Quellen der Geschichtswissenschaft61

Zum 14. Juli 1789 übrigens, zu dem Ludwig XVI. „nichts“ aufzuzeichnen wusste, finden wir bei Gouverneur Morris folgende Bemerkung: „Die Einnahme der Festung [der Bastille] ist eines der außerordentlichsten Dinge, die ich kenne. Gestern war es in Versailles noch Mode zu leugnen, daß es in Paris Unruhen gibt. Ich glaube, was sich heute ereignet hat, wird Anlaß zu der Annahme geben, daß nicht alles völlig ruhig ist.“10 In der Sicht des Historikers haben Tagebücher als Aufzeichnungen von Augenzeugen eine besondere Qualität: die der Unmittelbarkeit, der Nähe zum Geschehen, der Authentizität. Teilweise wird ihnen von Historikern dann eine besondere Wahrhaftigkeit zugesprochen, wenn sie offensichtlich privat und nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren.11 Dass Spätere, also Nachkommen, politische Freunde oder Gegner, Historiker schließlich durch die Zurichtung oder Publikation oder Unterdrückung ihrerseits von handschriftlich überlieferten Tagebüchern einen spezifischen Gebrauch machen können, sie zu Instrumenten ihrer eigenen Absichten entwickeln können, damit auch manipulieren, einseitig informieren, beschönigen und verharmlosen oder umgekehrt ihren Quellen eine übertriebene Bedeutung zuschreiben können, ist ebenfalls hinzuzudenken. Jedes Tagebuch liefert zunächst einmal eine einzelne Perspektive, und es stellt sich die Frage, ob durch eine Fülle von Perspektiven etwa auf dasselbe Ereignis nicht ein umfassendes historisches Bild hergestellt werden kann. Das bedeutet freilich, dass man die Eigenart des Tagebuches gewissermaßen aufgibt oder überwindet, um zu einem Gesamtbild zu kommen.

II. Sozialgeschichte Die Spezifik der Quellengattung Tagebuch kommt schlagend zum Ausdruck in einem geradezu sprichwörtlich gewordenen Zitat aus dem Tagebuch Franz Kafkas vom 2. August 1914: „Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule.“12 Das Große und das Kleine stehen in unmittelbarer Nähe beisammen. Die Größe und die Kleinlichkeit des Tagebuchschreibers spiegeln sich im privaten Medium, das zugleich ein historisches Geschehen von weltgeschichtlichen Ausmaßen thematisiert und den persönlichen Tagesablauf festhält. Krass wirkt das hier, weil Kafka an dieser Stelle auf jeden weiteren Kommentar verzichtet. Das Tagebuch muss nicht immer diskursiv sein, um Verständnis werben, Übergänge suchen. Das Tagebuch kann erzählen, darf aber auch schweigen. Im Rahmen einer historischen Quellenkunde sollte man nie vergessen, dass sich Tagebuchausschnitte oft 10  Pernoud/Flaissier 11  Henning,

S. 39. 12  Kafka, S. 299.

(Hg.), S. 48.

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hervorragend eignen zur Dokumentation von Geschichte, dass sie aber in aller Regel nicht zu diesem Zweck geschrieben wurden. Das Tagebuch enthält die persönliche Geschichte, nicht die allgemeine. Nun gehört es freilich zur Tragik der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts, dass sich im privaten Medium immer öfter das große Geschehen spiegeln musste. Immer öfter hatten Individuen Mühe, die andringende große Geschichte aus ihrem persönlichen Leben fernzuhalten; immer schwieriger wurde es, ein privates Leben in gesellschaftlich bestimmten Umständen zu führen. Das Tagebuch nun diente nicht nur dazu, Krieg und Schicksal zu spiegeln, sondern auch die Möglichkeiten privaten Lebens zu verteidigen gegen die Ansprüche von Staat und Gesellschaft. Es mag also auf den ersten Blick lächerlich erscheinen und gegen den ­Elfenbeinturmdichter Kafka sprechen, dass ihm zur Eröffnung des Großen Krieges 1914 nichts weiter einfiel als seine persönliche Sorge um seinen Körper, dessen Gesundheit und Fitness. Auf einen zweiten Blick sollte man diese Einschätzung aber revidieren: Kafka war nicht als Chronist der Epoche verpflichtet – diesem Amt fühlten sich schon viele andere verbunden –; in seinem Tagebuch schrieb er vielmehr seine persönliche Geschichte, seine Gedanken, Gefühle und Träume auf. Das war der Zweck seines Tagebuches. Und es ist eher tragisch, dass sich in seinen persönlichen Tagesablauf auch noch das große Weltgeschehen einmischen musste. Wir wissen nicht genau, welche Bedeutung diese Notiz für ihn hatte, aber wir können aufgrund der bloßen Aufzeichnung davon ausgehen, dass er sich 1914 als involvierten Zeitgenossen begriff, der ahnen konnte, dass das große Weltgeschehen auch für ihn persönlich Folgen haben würde. Es gibt also viele Tagebücher, in denen sich der Erste Weltkrieg abzeichnete und die auch als Quellen für diese Epoche herangezogen werden können. Ihr Quellenwert ist naturgemäß unterschiedlich je nach Stellung, Beobachtungsvermögen und Reflexions­ kapazität des Schreibers. Wir dürfen – auch dann, wenn wir nach dem historischen Quellenwert fragen – nicht vergessen, dass solche persönlichen Aufzeichnungen in fast allen Fällen von bestimmten Menschen für sich selbst geschrieben wurden, nicht für die Geschichtsbücher. Wenn wir also nur auf das Kriegsgeschehen als solches achten, zerstören wir die Spezifik des Mediums Tagebuch. Sozialgeschichtlich interessant wird das Tagebuch vor allem dort, wo wir es als Tagebuch eines Jedermann lesen können, dem dann die Qualität zugeschrieben wird, für die vielen zu schreiben, die sonst nicht zu Worte kommen, oder wo wir durch Diaristen in Lebensverhältnisse geführt werden, die an die Grenzen der Bildungsschichten, der Schreibenden gehen. Beispielsweise die Tagebücher eines Schweizer Bauern und Handwerkers (Ulrich Bräker13) oder 13  Bräker.



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die Aufzeichnungen von Kleinbürgern oder Arbeitern aus industriellen Verhältnissen. Insbesondere aber auch diejenigen von Frauen: Durch die protestantische Alphabetisierungskampagne und durch die literarische Bewegung des 18. Jahrhunderts wurden Frauen in nicht wenigen Fällen zu Schreibenden. Ebenso wie der Brief bildet auch das Tagebuch ein Übergangsmedium der Literarizität. Von Aufzeichnungen in Hausbibeln, von Haushaltungsbüchern, Alltagskorrespondenz und Frömmigkeitsliteratur ausgehend, konnten auch Frauen zu Tagebuchschreiberinnen werden (Sophie von La Roche, Albertine Pfranger, Elisa von der Recke, Adele Schopenhauer).14 Freilich: Aus sozialgeschichtlicher Sicht dominiert die Frage nach der ­ epräsentativität: Kann eine bestimmte einzelne Person als repräsentativ für R eine Schicht oder Gruppe, für einen Berufsstand oder ein Geschlecht, für eine Alterskohorte oder Generation genommen werden? Letztlich tendiert die sozialgeschichtliche Zugangsweise grundsätzlich zur Überwindung der Individualperspektive. Sie intendiert allgemeine Aussagen, die erst dann möglich werden, wenn mehrere oder viele oder im Idealfall eine repräsentative Stichprobe aus allen Tagebüchern ausgewertet werden können. Eine andere Möglichkeit, die in sozialgeschichtlicher Hinsicht immerhin erwägenswert ist, bildet der ethnologische Zugang:15 Man würdigt einzelne Beispiele (soweit sich dies durch die Überlieferungslage und Materialdichte rechtfertigen lässt) als Zugänge zu einer fremden Welt, die man in ‚dichter Beschreibung‘ zu erschließen sucht.16 Bei solcher Betrachtung kann einer vernachlässigten oder neu aufgefundenen Einzelquelle dann möglicherweise eine ganz neue, unerwartete Funktion zukommen. Es ist der Weg der ‚Mi­ krogeschichte‘, der ‚Alltagsgeschichte‘, welcher Tagebücher dann plötzlich als wertvolle ‚Ego-Dokumente‘ erscheinen lässt und ihnen eine Bedeutungsdimension eröffnet, die wiederum die Individualperspektive in ihr Recht setzt.

III. Kulturgeschichte Damit sind wir schon ganz nahe an einer Form der Kulturgeschichte, die alle menschlichen Äußerungen, alle Werke, alle Realisate auch individuellen Lebens zu Quellen erklärt. Neben den Tagebüchern der Staatsmänner, Feldherren und Kirchenführer, der Schriftsteller und Künstler wird nun (wie auch Calabrese. Beispiele: Ginzburg; Davis. 16  Vgl. Geertz.

14  Vgl.

15  Berühmte

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schon in sozialgeschichtlicher Sicht) jedes Tagebuch zu einer möglichen Quelle. Besonders die anthropologische Dimension17 erschließt sich aus Tagebüchern, denn Fragen der Ernährung und Lebensführung, der Krankheit und des Sterbens, Kindheit und Alter, der Familienbeziehungen und der ­Arbeit machen ohnehin die Hauptmasse der überlieferten Tagebuchtexte aus. Bei solcher Betrachtung werden Tagebücher gerade in ihrer Unmittelbarkeit, Absichtslosigkeit und Zufälligkeit zu entscheidend wichtigen Primärquellen. Sie spiegeln zwar nicht das Leben selbst, bezeugen aber das geglückte Überleben, den vielleicht gefährdeten, aber erkämpften Vollzug der Lebensführung, die Hoffnungen und Ängste der Menschen, die Deutung der entscheidenden Lebenssituationen und Schicksalsschläge. Eine bedeutende Gruppe von Tagebuchschreibern sind gerade die kranken Menschen, Leidende, Vereinsamte: Menschen, die wissen, dass sie eine Krankheit zum Tode haben und denen nun jeder einzelne Tag kostbar wird. Wo wären wir Tagebuchleser ohne Henri-Frédéric Amiel, Marie Bashkirtseff, Katherine Mansfield, Cesare Pavese, Maxie Wander, Brigitte Reimann?18 Aber damit noch nicht genug. Eine reflektierte Kulturgeschichte kultiviert auch ein Bewusstsein der Medialität, eine Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der Öffentlichkeit und ihrer Medien.19 Das bedeutet, dass sie grundsätzlich neben den Möglichkeiten auch die Grenzen der Gattung anerkennt, dass sie Begriffe von der Epochenqualität literarischer Formen analytisch einzusetzen vermag und die sich wandelnde Selbstdeutung in Form von Selbstzeugnissen als Gattungsphänomen erkennbar machen kann. Der Akt des ­Tagebuchschreibens bedeutet schon den Vollzug einer kulturellen Technik, die selber auf allen Ebenen historischem Wandel unterworfen ist: geistes­ geschichtlich, bildungsgeschichtlich, publikationsgeschichtlich. Damit kommt schließlich eine spezifische Qualität der Kulturgeschichte ins Spiel, die sowohl synthetisch als auch analytisch, mikro- und makrohistorisch verfährt. Das Tagebuch, das wir bis hierher zunächst als individuelle Äußerung einer bestimmten Persönlichkeit aufgefasst haben, bietet damit auch die Möglichkeit zu einer Exploration nicht nur eines bestimmten Individuums und zahlreicher Individuen, sondern auch der Individualität überhaupt, der Entwicklung des Ichs.20

Maurer, Historische Anthropologie. Bashkirtseff; Mansfield; Pavese; Wander; Reimann, 1955–1963; dies., Tagebücher 1964–1970. 19  Vgl. Maurer, Kulturgeschichte, S. 125–145. 20  Dazu Dülmen; ders. (Hg.). 17  Vgl.

18  Amiel;



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IV. Die Situation der Öffentlichkeit heute Der Hauptteil der Geschichte des Tagebuches wie auch ihrer Erforschung gilt dem Tagebuch als einer Gattung des Rückzugs eines Individuums auf sich selbst: Die Situation des Tagebuchschreibers in seinem Kämmerlein wird als intime, private aufgefasst. Der Tagebuchschreiber ist, wie es immer wieder emphatisch heißt, mit sich selbst allein, sitzt vor einem leeren Blatt Papier.21 Unter Umständen, und das ist keineswegs selten, thematisieren Tagebücher sogar die Situation des Alleinseins, der Einsamkeit, des ‚Dialogs mit sich selbst‘, um es zum Paradoxon zuzuspitzen.22 Erst in jüngerer Zeit hat man mehr Aufmerksamkeit auf die kommunikative und gruppenbildende Bedeutung von Tagebüchern verwendet. Beispielsweise hat Sibylle Schönborn in ihrer Untersuchung Das Buch der Seele die kommunikative Funktion der Tagebücher Johann Caspar Lavaters herausge­ arbeitet:23 Dieser ‚Autor seines Lebens‘ sammelte durch handschriftlich zirkulierende, schließlich aber auch ‚aus der Handschrift‘ gedruckte Tagebücher eine vertraute Gemeinde. Andere Pietisten wie Philipp Matthäus Hahn leiteten zum Tagebuchschreiben an, um ihre Anhängerschaft zu organisieren, zu kontrollieren, ihre Lebensführung zu überwachen. Für Historiker liegt es nahe, sich in die Position von Empfängern der Nachrichten einzusetzen, welche Diaristen vielleicht nicht an sie persönlich, aber doch an die Nachwelt adressiert haben. „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ – in diesem Satz, den die Herausgeben der Tagebücher Victor Klemperers zum Buchtitel für seine Aufzeichnungen aus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft gewählt haben, ist dies eindrücklich ausgesprochen.24 Es kann nicht bestritten werden, dass dieses Motiv, eine Spur von seinem eigenen Leben zu hinterlassen oder über Gewalt, Unterdrückung oder besondere Lebensumstände Nachricht zu geben, ein Motiv zahlreicher Verfasser autobiographischer Aufzeichnungen ist, sei es nun in ­Tagebuchform oder anders. Vor allem die immer zahlreicher publiziert zugänglich werdenden Aufzeichnungen aus Gefangenschaft, aus Konzentra­ tionslagern, Arrest oder sonstigen lebensbedrohlichen Umständen haben im 20. Jahrhundert mittlerweile eine ganz eigene Untergattung der Tagebuch­ literatur hervorgebracht. Man denke beispielsweise an Anne Frank, Ruth Andreas-Friedrich, Lena Muchina, Petter Moen, Adam Czerniaków, Luise

21  Hier wären ältere Arbeiten zur Geschichte des Tagebuches zu nennen, namentlich die folgenden: Hocke; Boerner; Görner; Wuthenow. 22  Vgl. Canetti. 23  Schönborn. 24  Klemperer, Zeugnis.

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Rinser, Jochen Klepper, Wilhelm Hausenstein, Helmuth James Graf von Moltke.25 Das Bewusstsein, durch persönliche Aufzeichnungen Zeugnis abzulegen von geschichtlichem Geschehen, treibt seit dem 19. Jahrhundert zunehmend Menschen dazu, Tagebücher zu schreiben. In solchem Bewusstsein ist freilich eine bestimmte Form von historischem Denken schon enthalten, außerdem eine bestimmte Vorstellung von der Position des jeweiligen Schreibers in der Welt, in seiner Gesellschaft, in seiner Zeit. Was früher häufig als Familienüberlieferung gemeint war („Ich schreibe dies für meine Kinder, meine Enkel …“), wird in neuerer Zeit immer öfter zur sozialen Überlieferung, zur dokumentierten Teilhabe an gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Bewegungen und Entwicklungsphasen. Diaristen schreiben, um ihren Anteil, ihre Sicht, ihr Erleiden zu dokumentieren. Auf der Gegenseite entspricht dem die Rezeptionsbereitschaft, die Offenheit des modernen Historikers für Dokumente gelebten Lebens. Tagebücher werden als solche aufgefasst und genießen sogar eine primäre Bedeutung in diesem Bereich. Man schreibt ihnen Unmittelbarkeit, Authentizität und absichtslose Wahrhaftigkeit zu. Daraus entsteht natürlich die Gefahr, gerade ihre Schriftqualität, ihre Bildungshorizontbezogenheit, ihre literarische Formung nicht genügend einzubeziehen. Quellenkritik in diesem Sinne ist nicht nur den journalistischen Zeitgenossen fremd, sondern auch einem Teil der Historiker. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Zustand der Öffentlichkeit, der Medien, der Wissenschaften in dem Maße verändert, dass wir geradezu gierig sind nach Zeugnissen gelebten Lebens. Ein Indiz dafür ist etwa der ­spektakuläre Erfolg der Klemperer-Tagebücher.26 Erst dieses exorbitante öffentliche Interesse bietet die Möglichkeit von Fälschungen (Konrad Kujaus ‚Hitler-Tagebücher‘!). Aber auch die Editionen ‚kollektiver Tagebücher‘ hängen mit diesem öffentlichen Interesse zusammen.

V. Die Idee des kollektiven Tagebuches Gehört zum Begriff des Tagebuches nicht das Persönliche, Individuelle, Intime? Kann man verschiedene Tagebücher summieren, um von einem ein25  Andreas-Friedrich; Anonyma; Bolle; [Czerniaków]; Frank; Hausenstein; Kellner; Klepper; [Moen]; Moltke; Rinser; Muchina. 26  Die dicken Bände über die Zeit des ‚Dritten Reiches‘ lagen 1999 schon in 11. Auflage vor. Es gibt Hörbuchfassungen, Fernsehdokumentationen, öffentliche ­Lesungen in Theatern verschiedener Städte. Schließlich wurden auch die bis dahin wenig beachteten Tagebücher desselben Autors aus der Zeit der Weimarer Republik und der DDR publiziert: Klemperer, Leben sammeln; ders., So sitze ich.



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zelnen Tagebuch auf ein Gesamtwerk zu kommen, ohne die Eigenheiten des Tagebuches aufzuheben? Ist das, was sich auf solche Weise zusammensetzt, nicht vielleicht eher eine wissenschaftliche Dokumentation als ein literarisches Tagebuch? Bei Walter Kempowski wird deutlich, wie das persönliche Tagebuch aus einem familiengeschichtlichen Romanwerk hervorwächst und wie dieses an der deutschen Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts orientierte Romanwerk schließlich mit einer gewissen Folgerichtigkeit auch das ‚kollektive Tagebuch‘ hervorbringt. Der erste Teil des Werkes Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch Januar und Februar 1943 erschien nach fünfjähriger Arbeit 1993 in vier Bänden.27 Es beruhte auf einer Sammlung von über 2000 Tagebüchern, Briefkonvoluten und Autobiographien sowie über 300.000 Fotos. In deren Auswertung leistete Kempowski als Privatperson die Arbeit eines Historikers und Archivars, ja die eines ganzen Forschungsinstitutes. In seinem Echolot präsentiert der Herausgeber nicht nur fremde Stimmen aus einer untergegangenen Welt, sondern macht zugleich Stimmen hörbar, die im Chor der Gegenwart verstummt oder (seiner Meinung nach) zu leise geworden sind. Darüber wollte er selbst möglichst zurücktreten.28 Kempowski sah sich als Agent des gesamtkulturellen Anliegens der Memoria: „Ich gebe der Gesellschaft ihre ­Geschichten zurück.“29 Das leitende Prinzip der Collage Das Echolot ist die Gleichzeitigkeit. Alle Texte führen einen Datumsindex mit sich und können einem bestimmten Tag zugeordnet werden. Diese Koinzidenz ist einerseits irritierend – wenn man gleichzeitig das Sterben und das Gebären erlebt, das Leid und die Freude, den Schmerz und den Leichtsinn –, andererseits liegt darin natürlich ein spezifisches Prinzip der Wirklichkeit: So ist das Leben nun einmal! Und genau das ist es, was in Kempowskis Großkunstwerk gezeigt werden sollte: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, und dabei immer wieder Relationen zwischen Drinnen und Draußen, zwischen Heimat und Front, zwischen privater Idylle und öffentlichem Kriegsschrecken. Kempowski hat sich viele Gedanken über die Repräsentativität seiner Stimmen gemacht und beispielsweise beklagt, dass er so wenig Wirtschaftsleute und so wenig Marineangehörige unter seinen Textlieferanten hatte.30 Frauen gibt es übrigens genug! Gerade das Zerreißen der Familien durch die Kriegsläufte machte viele Frauen zu Brief- und Tagebuchschreiberinnen. Der 27  Kempowski,

Echolot Januar und Februar 1943. Hamit, S. 51. 29  Ebd., S. 284. 30  Kempowski, Culpa, S. 171. 28  Kempowski,

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Schriftsteller Kempowski leistete mit seinem ‚kollektiven Tagebuch‘ eine Arbeit, die der eines Historikers, der als Herausgeber tätig wird, zumindest verwandt war. Am 4. Oktober 1989, also in einer frühen Phase der Arbeit am Echolot, reflektierte er darüber in seinem Tagebuch: „Dies Echolot ist eine ziemlich fragwürdige Sache. Alle werden sagen: Das hätte er man lieber lassen sollen. Oder: Das hätten die Historiker besser gemacht. Hätten sie eben nicht! Die kommen dann mit Anmerkungen und Quellen und Verweisen. Wir wollen ein besseres Buch ‚machen‘ (muss man hier schon sagen).“31 Kempowski betonte das Handwerkliche des Künstlers, er legte Wert auf das ‚Machen‘. Dieser Aspekt sollte wichtig werden, als es um die abschließende Gestaltung ging: Kempowski beharrte auf der Collage als einem künstlerischen Prinzip. Zunächst einmal sprach er sich damit frei von der quellenund nachweisfetischistischen Umstandskrämerei der Fachhistoriker. Aber untrennbar damit verbunden ist auch das Schöpferische, die Freiheit, die er sich nahm, mit historischem Material zu schalten und zu walten. Während sich der Historiker grundsätzlich als Diener seiner Quellen sieht, nahm sich Kempowski die Freiheit, über seine Texte zu gebieten. Insofern ist es konsequent, dass er sich nicht als ‚Dokumentar‘ sehen wollte (und den Zusatz ‚Herausgeber‘ auf dem Titelblatt ablehnte!), sondern als ‚Autor‘ im vollen Sinne des Wortes, nämlich als Urheber eines sprachlichen Kunstwerkes. Als solcher freilich wollte er soweit zurücktreten, dass seine Einmischung weitgehend unbemerkt bleiben sollte. Die Aufbereitung des Materials nach künstlerischen Gestaltungsgesichtspunkten, die Transposition der historischen Dokumente in den Bereich der Kunst war insofern unabdingbar, als sie sonst nicht zur Kenntnis genommen worden wären – jedenfalls nicht von einem breiten Publikum. Als Schriftsteller, der sich ein Publikum geschaffen hatte, wusste Kempowski, was das bedeutete, und es lag ihm daran, das Publikum für seine Sache zu gewinnen.32 „Das Persönliche, Private langweilt nie. Es ermöglicht Identifikation.“33 Mit diesem Satz legte er eine Bedingung seiner Wirkungsmöglichkeit offen: Wie der Romanschriftsteller mit seiner Fiktion ein Identifikationsangebot liefert, so wollte auch der montierende Techniker der Collage über die Möglichkeit der Identifikation des Lesers mit dem Zeitzeugen der 1940er Jahre das Interesse fixieren. Gerade die Kriegszeit, die ja in den Schulbüchern aus Großmachtpolitik, Feldzügen, Entscheidungen großer Männer und ansonsten namenlosen Kriegsgräberfeldern besteht, sollte lebendig gemacht und durch sich selbst anschaulich werden. Damit verfolgte Kempowski nicht nur ein zeitloses Anliegen guter Geschichtsschreibung, sondern auch ein spezielles 31  Ebd.,

S. 145. S. 248. 33  Ebd., S. 280. 32  Ebd.,



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Anliegen, das seit den 1980er Jahren in der deutschen Öffentlichkeit breiten Raum gewonnen hatte. Man muss das kollektive Tagebuch insofern auch mit den Bestrebungen der Geschichtswerkstätten zusammensehen, mit dem Drängen auf Alltagsgeschichte und Oral History, mit dem gleichzeitigen Aufbau historischer Museen und erfolgreichen historischen Ausstellungen. Die akademische Geschichtswissenschaft selbst hatte sich diesem Anliegen einer breiten Öffentlichkeit geöffnet und mit Microstoria, Alltagsgeschichte (‚la vie quotidienne‘), Mentalitätsgeschichte (‚histoire des mentalités‘), ‚Erfahrungsgeschichte‘ und ‚Geschichte von unten‘ die einschlägigen Stichwörter geliefert. Kempowski war durchaus auf der Höhe seiner Zeit.34 Ist dieses „gigantische Monstrum“ noch ein ‚Tagebuch‘? Schon die Beifügung ‚kollektives Tagebuch‘ stellt gewissermaßen eine contradictio in adiecto dar, wenn man sich das Tagebuch nämlich als Werk der Beschäftigung eines Menschen mit sich selbst vorstellt. Aber auch die Beschäftigung vieler Menschen mit sich selbst ergibt noch nicht zwangsläufig ein ‚kollek­ tives Tagebuch‘! Das beginnt schon damit, dass das Material, das in dieses Werk eingegangen ist, nur zu etwa einem Fünftel aus Tagebuchmaterial im strengen Sinne besteht. Hinzu kommt eine große Zahl an Briefen, ferner Auszüge aus Autobiographien, Zeitungsartikel, Fahrpläne, Führerbefehle und vieles andere mehr. Betrachtet man das Werk nur unter dem Gesichtspunkt ‚Tagebuch‘, könnte man auf einer ersten Ebene denken, es handle sich um eine Anthologie zur Zeitgeschichte, in welche Tagebuchauszüge eingearbeitet wurden. Auf einer zweiten Ebene kann man das Ganze jedoch tatsächlich als ein Tagebuch betrachten, nämlich als eine Darstellung, die streng von Tag zu Tag fortschreitet. Kempowski hat die jeweiligen Tage absichtlich nach dramaturgischen Prinzipien als künstlerische Einheiten gestaltet: der 1. Januar 1943 bildet das erste Kapitel, der 2. Januar 1943 das zweite Kapitel, und so fort. Bei der Überarbeitung der gesammelten Textmassen hat sich der Autor immer wieder streng an diese Tageseinschnitte gehalten. Dies ist zwar nur ein Formalprinzip, doch handelt es sich dabei immerhin um das wichtigste Formalprinzip der klassischen Gattung.35 Das ‚kollektive Tagebuch‘ folgt der Form des Tagebuches durch die Einteilung wie auch durch die Gestaltung des jeweiligen Textkopfes, welcher immer den Namen des Verfassers nennt (gegebenenfalls mit Pseudonym oder anonymisiert), ferner die Lebensdaten (soweit bekannt), sodann den zum Datum gehörigen Ort der Abfassung. 34  Er stand in Kontakt mit Christoph Stölzl von dem damals im Aufbau befind­ lichen Deutschen Historischen Museum in Berlin; er stand in Kontakt mit entsprechenden Bestrebungen an der Fernuniversität Hagen; er suchte das Gespräch mit Hans Medick vom Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen. 35  Vgl. Maurer, Poetik des Tagebuches, S. 76.

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Ein weiteres wichtiges Merkmal des persönlichen Tagebuches liegt in der Wahllosigkeit der Eintragungen in dem Sinne, dass Kleines neben Großem, Unbedeutendes neben Bedeutendem zu stehen kommt. Bekanntlich sind weite Passagen echter Tagebücher textlich ungeformt und inhaltlich unwichtig: Ein Tagebuchschreiber, der auf sein früher Geschriebenes zurückblickt, findet es häufig belanglos und vernichtenswert. Hier liegt die Sache beim ‚kollektiven Tagebuch‘ deutlich anders: Zwar mögen die zugrundeliegenden Originaltagebücher viel taubes Material enthalten haben; durch die Auswahl des ‚Autors‘ findet aber eine Konzentration auf das Wesentliche, das Sprechende, das Charakteristische statt. Entscheidend ist hier nicht die Perspektive des originalen Verfassers, sondern vielmehr die des gestaltenden Künstlers. Wenn es nämlich der Zweck des persönlichen Tagebuches ist, dem Individuum durch Rückwendung auf das Ich eine eigene Identität aus der Reflexion zu ermöglichen, kann als Zweck des kollektiven Tagebuches genannt werden, dass der Künstler, der hier als Dirigent einen unübersehbaren Chor namenloser Stimmen meistert, damit auch eine Rückwendung auf eine gesellschaftliche Einheit (Volk, Menschheit) bewirken will, welche eine nationale Identität aus der Reflexion ermöglichen soll. Zu den Motiven seiner Arbeit konnte sich Kempowski deshalb gelegentlich (28. April 1992) auch „Schuld abtragen“ notieren.36 Sein unermüdliches Arbeiten konnte sich deshalb nicht auf seine eigene Biographie und Familiengeschichte allein richten; ihm war bewusst, dass er einer von wenigen Überlebenden aus einer schier unübersehbaren Kohorte war. Sein kollektives Tagebuch bildete insofern eine gigantische Memorialaktion. „Es müßte eine kanonisierte, stets lieferbare Bibliothek geben, vom Staat subventioniert, in der alle Verbrechen verzeichnet sind.“37 Alle Verbrechen und alle wertvollen Taten für die Menschheit. Alles Tun und alles Erleiden – und die Reflexion darüber. Ein ‚kollektives Tagebuch‘ eben … Kempowski hat sein Werk fortgeführt;38 und es wurde auch nach seinem Tode noch weitergeführt.39 Er stand Pate für eine Ausstellung und Sammlung von Zeugnissen unter dem Titel Endzeit Europa.40 Der gedruckte Ausstellungsband, von Peter Walther herausgegeben, heißt im Untertitel: Ein kollektives Tagebuch deutschsprachiger Schriftsteller, Künstler und Gelehrter im Ersten Weltkrieg. Ihre Notate aus dem Ersten Weltkrieg (etwa 200 an der 36  Kempowski,

Culpa, S. 218. S. 303. 38  Kempowski, Echolot Winter 1945. ders., Echolot Abgesang; ders., Echolot Barbarossa. 39  Kempowski, Plankton. 40  Walther (Hg.), hier: Geleitwort von Walter Kempowski: S. 5. 37  Ebd.,



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Zahl) bilden so etwas wie ein Gesamtdokument des Krieges – allerdings im Kontrast zu den allgemeinen Verlautbarungen und offiziellen Dokumenten, im Kontrast auch zur Propaganda. Bei der Auswahl wurde streng darauf geachtet, dass es sich um private Aufzeichnungen handeln sollte, es wurden also zum Beispiel keine Briefe aufgenommen, die auch in Zeitungen publiziert wurden oder die später von ihren Autoren selber herausgegeben wurden.41 Allerdings wurde bei der Auswahl dieser Aufzeichnungen keine scharfe Gattungstrennung vorgenommen; auch Briefe wurden aufgenommen. Grob überschlagen, handelt es sich etwa bei der Hälfte der Texte um Briefauszüge, bei der anderen Hälfte um Tagebuchauszüge. Man kann wohl sagen: Kempowski hat auch in der historischen Wissenschaft Schule gemacht. Das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen hat jüngst eine Verborgene Chronik 1914 herausgegeben, die ein ‚kollektives Tagebuch‘ von 37 zumeist unberühmten Persönlichkeiten aus allen Lebenskreisen bietet.42 In gewisser Hinsicht verknüpft sich im ‚kollektiven Tagebuch‘ das immer wache (und in unserer Medienwelt überwache!) öffentliche Interesse an der Dokumentation privaten Lebens mit dem sozialwissenschaftlichen Interesse an einer möglichst repräsentativen Dokumentation und dem historiographischen Ideal einer ‚histoire totale‘. Dies ist etwas prinzipiell Neues. Freilich muss man auch die Kosten bedenken, ohne die solche Erkenntnis nicht zu haben ist: Die dokumentarische Funktion überschreitet fast immer (notwendiger Weise) die Gattungsgrenzen des Tagebuches. Der Herausgeber wird zum collagierenden ‚Künstler‘ und eigentlichen Autor. Das Tagebuch als Selbstzeugnis, das im 20. Jahrhundert im Bewusstsein der Erlebenden über weite Strecken im Zentrum stand, rückt in den Hintergrund – entsprechend dem weniger emphatischen Bewusstsein der Zeitgenossen von Individualität und Persönlichkeit. Dies steht ohne Zweifel im Zusammenhang mit nachlassender Bildung und dem Verzicht auf eine Bildungsemphase, wie sie in einem bürgerlichen Zeitalter habituell gewesen waren.

Literatur Amiel, Henri-Frédéric: Intimes Tagebuch. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Ernst Merian-Genast. Mit Essays von Georges Poulet, Luc Boltanksi und Emmanuel Le Roy Ladurie, München 1986. Andreas-Friedrich, Ruth: Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938–1945. Mit einem Nachwort von Jörg Drews, Frankfurt a. M. 1966. 41  Vgl.

ebd. das exzellente Nachwort des Herausgebers Peter Walther, S. 366. (Hg.), 1914; vgl. nun auch dies. (Hg.), 1915–1918.

42  Exner/Kapfer

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Anonyma: Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945. Mit einem Nachwort von Kurt W. Marek, München 7. Aufl. 2008. Bashkirtseff, Maria: Tagebuch. Aus dem Französischen von Lothar Schmidt, 2 Bde., Breslau/Leipzig/Wien 1897. Baumgart, Winfried (Hg.): Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart. Bd 3. Absolutismus und das Zeitalter der Französischen Revolution (1715–1815). Bearbeitet von Klaus Müller, Darmstadt 1982. Baumgart, Winfried (Hg.): Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart. Bd. 4. Restauration, Liberalismus und nationale Bewegung (1815–1870). Bearbeitet von Wolfram Siemann, Darmstadt 1982. Boerner, Peter: Tagebuch, Stuttgart 1969. Bolle, Mirjam: „Ich weiß, dieser Brief wird dich nie erreichen“. Tagebuchbriefe aus Amsterdam, Westerbork und Bergen-Belsen, Berlin 2006. Bräker, Ulrich: Sämtliche Schriften. Bd. 1. Tagebücher 1768–1778. Bd. 2. Tage­ bücher 1779–1788. Bd. 3. Tagebücher 1789–1798, München und Bern 1998. Calabrese, Rita: „Wie gerne möchte ich einen neuen Ausdruck dazu erschaffen“. Tagebuchliteratur von Frauen, in: Gisela Brinker-Gabler (Hg.): Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 2. 19. und 20. Jahrhundert, München 1988, S. 129–143. Canetti, Elias: Dialog mit dem grausamen Partner, in: Uwe Schultz (Hg.): Das Tagebuch und der moderne Autor, München 1965, S. 49–70. [Czerniaków, Adam]: Im Warschauer Getto. Das Tagebuch des Adam Czerniaków 1939–1942, München 1986. Davis, Natalie Zemon: Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, München und Zürich 1984. Dülmen, Richard van: Die Entdeckung des Individuums 1500–1800, Frankfurt a. M. 1997. Dülmen, Richard van (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2001. Exner, Lisbeth/Kapfer, Herbert (Hg.): Verborgene Chronik 1914. Hg. v. Deutsches Tagebucharchiv, Berlin 2014. Exner, Lisbeth/Kapfer, Herbert (Hg.): Verborgene Chronik 1915–1918. Hg. v. Deutsches Tagebucharchiv, Berlin 2017. Frank, Anne: Tagebuch. Fassung von Otto H. Frank und Mirjam Pressler, Frankfurt a. M. 19. Aufl. 1999. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1987. Ginzburg, Carlo: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt a. M. 1983. Görner, Rüdiger: Das Tagebuch. Eine Einführung, München und Zürich 1986. Hausenstein, Wilhelm: Licht unter dem Horizont. Tagebücher von 1942 bis 1946, München 1967.



Tagebücher als Quellen der Geschichtswissenschaft73

Henning, Eckart: Selbstzeugnisse. Quellenwert und Quellenkritik, Berlin 2012. Hocke, Gustav René: Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten. Motive und Anthologie, Wiesbaden und München 1986. Kafka, Franz: Tagebücher 1910–1923. Hg. v. Max Brod, o. O. [Frankfurt a. M.] 1967. Kellner, Friedrich: „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne“. Tagebücher 1939–1945. Hg. v. Sascha Feuchert, Robert Martin Scott Kellner, Erwin Leibfried, Jörg Riecke und Markus Roth, 2 Bde., Göttingen 2011. Kempowski, Walter: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943, 4 Bde., München 1993. Kempowski, Walter: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Winter 1945. 4 Bde., München 1999. Kempowski, Walter: Das Echolot. Abgesang ’45. Ein kollektives Tagebuch, München 2002. Kempowski, Walter: Das Echolot. Barbarossa ’41. Ein kollektives Tagebuch, München 2004. Kempowski, Walter: Hamit. Tagebuch 1990, München 2006. Kempowski, Walter: Culpa. Notizen zum „Echolot“. Mit Seitenhieben von Simone Neteler und einem Nachwort von Karl Heinz Bittel, München 2007. Kempowski, Walter: Plankton. Ein kollektives Gedächtnis. Hg. v. Simone Neteler, München 2014. Klemperer, Victor: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1941 bzw. 1942–1945. Hg. v. Walter Nowojski, 2 Bde., Berlin 1995. Klemperer, Victor: Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918–1924 bzw. 1925–1932. Hg. v. Walter Nowojski, 2 Bde., Berlin 1996. Klemperer, Victor: So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945–1949 bzw. 1950–1959. Hg. v. Walter Nowojski, 2 Bde, Berlin 2. Aufl. 1999. Klepper, Jochen: Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932–1942. Mit einem Geleitwort von Reinhold Schneider, Stuttgart 1956. Mansfield, Katherine: Tagebuch. Vollständige Ausgabe, Stuttgart 1975. Maurer, Michael: Kulturgeschichte, in: ders. (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften. Bd. 3. Sektoren, Stuttgart 2004, S. 339–418. Maurer, Michael: Neuzeitliche Geschichtsschreibung, in: ders. (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften. Bd. 5. Mündliche Überlieferung und Geschichtsschreibung, Stuttgart 2003, S. 281–499. Maurer, Michael: Historische Anthropologie, in: ders. (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 7. Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003, S. 294–387. Maurer, Michael: Kulturgeschichte. Eine Einführung, Köln/Weimar/Wien 2008.

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Michael Maurer

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Schreiben in Serie – Überlegungen zu Form und narrativer Identität in englischen Tagebüchern der Frühen Neuzeit Von Miriam Nandi Ausgerechnet Paul Ricoeur, der wohl prominenteste Verfechter einer narrativen Anthropologie,1 verrät uns in einem späten Text, dass zwischen dem Leben und der Erzählung eine Lücke klafft: „[S]tories are recounted and not lived; live is lived and not recounted“.2 Und doch besteht, so Ricoeur, ein Zusammenhang zwischen Leben und Schreiben, wie sich nicht zuletzt anhand der Textgattung Tagebuch feststellen lässt. Mein Anliegen in diesem Beitrag ist es, mit Rückgriff auf Ricoeur, das Verhältnis zwischen Leben und Schreiben, von dem das Tagebuch entscheidend geprägt wird, genauer zu bestimmen. Das englische Tagebuch der Frühen Neuzeit stellt hierfür ein besonders anschauliches Beispiel dar, denn es ist integraler Bestandteil frommer Lebenspraxis und nicht bloße Dokumentation von Taten und Gedanken. Daher soll im ersten Teil dieses Beitrages das englische Tagebuch der Frühen Neuzeit als eigenständige Textgattung bestimmt und die Gattungsgeschichte kurz rekapituliert werden. Im nächsten Schritt wird der Frage nachgegangen, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen Darstellungsverfahren, die das Tagebuch prägen, und den Selbstkonzepten, die in Tagebüchern der Frühen Neuzeit artikuliert werden, und wenn ja, wie sich dieser Zusammenhang konkret beschreiben lässt. Pointiert gefragt: sind Schreibverfahren Gussformen für Identität? Und wenn ja, welche Formen und Ausprägungen von Identität können wir im englischen Tagebuch der Frühen Neuzeit beobachten? Im dritten und letzten Teil des Beitrages soll anhand des Tagebuchs des Landpfarrers Ralph Josselin, das er zwischen 1641 und 1683 geführt hat, konkret analysiert werden, wie sich Personen in der Frühen Neuzeit im Rahmen einer bestimmten kulturellen Ordnung und innerhalb einer bestimmten Textgattung selbst thematisieren. Zusammenfassend gesagt verfolgt dieser Beitrag das Ziel, die „narrative Identität“ zu beschreiben, die in Tagebüchern artikuliert und konstruiert wird. 1  Straub,

S. 132–133. Life, S. 20.

2  Ricoeur,

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Der Begriff „narrative Identität“ benötigt eine kurze Erläuterung. Er wurde von Paul Ricoeur geprägt, und ist vielfältig vor allem im Bereich der Phänomenologie, aber auch der Psychologie, beispielsweise von Jerome Bruner, Gabriele Lucius-Hoene und Jürgen Straub benutzt worden. In den Literaturund Kulturwissenschaften ist die Rezeption etwas verhaltener.3 Auf eine Formel gebracht bezeichnet Ricoeur mit dem Begriff „narrative Identität“ die Herstellung von „Konkordanz“ aus der Heterogenität des Lebens. Dafür benötigen wir nicht zwingend einen Schreibprozess, auch mündliches Erzählen kann diese Funktion erfüllen. Darüber hinaus ist wichtig zu erwähnen, dass für Ricoeur das Leben immer schon narrativ präfiguriert ist, wie er es nennt. Wir begreifen Prozesse stets auf narrative Weise (wir denken uns beispielsweise immer automatisch eine Chronologie und eine basale Logik mit, sonst könnten wir selbst so einfache Tätigkeiten wie Kaffeekochen nicht durchführen). Gleichzeitig figurieren wir Alltagserfahrungen in mündlichen und schriftlichen Erzählungen. Darüber hinaus, so die Pointe Ricoeurs, wird das Leben auch immer wieder durch Narrative refiguriert. Juristische Texte sind ein besonders plakatives Beispiel für eine solche Refiguration. Dieser her­ meneutische Dreischritt, Präfiguration – Figuration – Refiguration, ist der Schlüssel zu dem, was Ricoeur als Mimesis bezeichnet. Dabei meint er jedoch eben nicht eine platte Widerspiegelung einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit in der Erzählung, vielmehr geht er davon aus, dass Mimesis in drei Schritten erfolgt. Mit Mimesis I bezeichnet Ricoeur die narrative Präfiguration des Lebens in seiner Zeitlichkeit. Mimesis II ist die Figuration in der Erzählung, Mimesis III die Refiguration des Lebens durch das Narrativ.4 Daher sind für Ricoeur Leben und Erzählen unhintergehbar miteinander verbunden. So ist es auch zu verstehen, dass Identität für Ricoeur stets eine „narrative“ ist.5 Sie ist keine Essenz, sondern schwankt in ihrer narrativen Figurierung gerade zwischen Multiziplität und Homogenität. Um Ricoeurs pointierte Formel aufzugreifen, ist narrative Identität „diskordante Konkordanz“, nicht etwa Totalität. Daher nimmt es nicht wunder, dass narrative Identität für Ricoeur stets etwas Prozesshaftes, Brüchiges, Unabgeschlossenes beinhaltet. Das folgende Zitat mag das verdeutlichen: „[N]arrative Identität ist keine stabile und bruchlose Identität; genauso wie man verschiedene Fabeln bilden kann, die sich alle auf dieselben Vorkommnisse beziehen […] genauso kann man auch für sein eigenes Leben unterschiedliche, ja, gegensätzliche Fabeln ersinnen“.6

jedoch Fludernik, Middeke, Nünning. Ricoeur, Zeit und Erzählung I, S. 115. 5  Ricoeur, Life. 6  Ricoeur, Zeit und Erzählung III, S. 399. 3  Vgl.

4  Siehe



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Interessant mit Blick auf das englische Tagebuch der Frühen Neuzeit ist darüber hinaus, dass narrative Identität bei Ricoeur stets eine relationale ist, d. h. laut Ricoeur „impliziert“ Identität Alterität, Identität entsteht nur in einem Beziehungsgefüge zu anderen Menschen.7 In diesem Sinne kann ich Arno Dusinis Aperçu, Tagebücher seien eben keinesfalls „monologisch“, gerade mit Blick auf die Frühgeschichte der Gattung nur bestätigen.8 Insbesondere in der Kultur der Frühen Neuzeit ist Identität weniger durch Auto­ nomie, sondern vielmehr durch Gemeinschaft und Gehorsam definiert. Hier bietet Ricoeurs Theorie interessante Anknüpfungspunkte, wie das Textbeispiel noch zeigen wird. Davor sind jedoch Überlegungen zur Gattungsdefinition und Gattungsgeschichte des englischen Tagebuchs der Frühen Neuzeit angebracht.

I. Das Tagebuch als Textgattung 1. Strukturelle Merkmale Tagebücher gehören zu den autobiographischen Textgattungen,9 sind jedoch strukturell von der retrospektiven, durch teleologische Plotstrukturen geprägten Autobiographie in der Tradition Rousseaus verschieden. Gemeinsam ist den autobiographischen Textgattungen indes, dass sie von einer ­Ich-Erzählerstimme figuriert werden, die durch einen „autobiographischen Pakt“10 eng mit der des Autors verwoben, strukturell jedoch von ihr verschieden ist.11 Wesentliches Gattungsmerkmal des Tagebuchs ist das Datum auf der Seite. Wie Phillippe Lejeune zu Recht anmerkt, gibt das Datum dem Tagebuch eine Aura von Realitätsnähe, etwa wie der Stempel auf einem offiziellen Dokument.12 Darüber hinaus ist das Tagebuch stets serielles, prozessuales Schreiben. Es ist eine der wenigen Textgattungen, die ihre eigene Herstellungsweise offenbart, wie der Narratologe H. Porter Abbott im Rückgriff auf Gérard Genette vorschlägt: „The diary has an intercalated mode of production“13, eine „dazwischengeschaltete“ Erzählweise. Damit soll das 7  Ricoeur,

Selbst. S. 69. 9  Vgl. ebd., S. 55. 10  Lejeune, Pakt. 11  Ich kann hier nicht auf die lange Debatte um den Tod des Autors (Barthes), bzw. dessen (angebliche) Rückkehr (Jannidis, Walsh) eingehen. Es sei nur angemerkt, dass ich von einer strukturellen Verschiedenheit der Ebenen Text (Erzähler) und Autor (Welt) ausgehe, die auch durch Ricoeurs Theorie der Mimesis, bzw. durch Lejeunes Figur des „autobiographischen Pakts“ nicht aufgelöst werden kann. 12  Lejeune, Diary, S. 84. 13  Abbott, S. 106. 8  Dusini,

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Phänomen bezeichnet werden, dass das Schreiben des Tagebuchs immer zwischen zwei Ereignissen stattfindet, die dann entsprechend im Tagebuch notiert werden. Dies leuchtet mit Blick auf Ricoeurs Mimesis Konzept nicht unbedingt ein, ist das Erzählen doch selbst ein Ereignis – Figuration –, das bereits eine identitätsstiftende Funktion und Wirkung hat. Auch Lejeune lehnt den Begriff ab und schlägt stattdessen „progressiv“ vor.14 Damit ist gemeint, dass das Erzählen im Tagebuch fortschreitet – progrediert – und damit auf die Zukunft hinweist, nicht nur auf die Vergangenheit.15 An dieser Stelle möchte ich ergänzen, dass diese Formel keine irgendwie geartete Vorstellung von Fortschritt und Entwicklung impliziert, wie sie etwa die Autobiographie als Textgattung kennzeichnet. Das Erzählen im Tagebuch ist nicht zielorientiert oder gar teleologisch, sondern vielmehr repetitiv. Es fehlt das, was Genette „iteratives Erzählen“16 nennt, d. h. zusammenfassende Phrasierungen, wie etwa „jeden Sonntag ging x in die Kirche“. In Tagebüchern hingegen notieren Personen (wie etwa Margaret Hoby oder Ralph Josselin) buchstäblich jeden Sonntag pflichtschuldig den Gang zur Kirche. Daher ist das Tagebuch häufig ein fragmentiertes, skizzenhaftes Erzählen. Tagebücher haben außerdem weder selten einen Anfang noch ein Ende, d. h. sie beginnen meist in medias res und haben keinen Schluss, an dem sich lose Enden zusammenfügen. Sie hören einfach irgendwann auf, sei es weil die Autorin nicht mehr schreiben möchte oder zu alt dazu ist oder stirbt. Auch hier ist der Unterschied zur Autobiographie klar zu sehen. Im klassisch17 narratologischen Sinn sind Tagebücher also keine Narrative, da sie keinen Plot haben. Allerdings können einzelne Tagebucheinträge eine Plotstruktur aufweisen, wenn auch das Tagebuch als Ganzes keinen solchen hat. Daher würde ich zwischen zwei Ebenen, die ein Tagebuch hat, unterscheiden: _____________________________ D = (das Tagebuch als Ganzes; „diary“) ____ E1 ____ E2 ____ E3 ____ E4 = (die datierten Einträge) Auf der Ebene E weisen Tagebücher also durchaus Plotstrukturen auf; jedoch auf der Ebene D nicht. 2. Gattungsgeschichte des Tagebuchs: Das Beispiel England Das englische Tagebuch entstand erst im Zuge der Reformation. Die ersten Tagebücher, die in der Forschung genannt werden, stammen aus der Zeit 14  Lejeune,

Diary, S. 208. danke Andrea Albrecht für ihre instruktiven Bemerkungen zum Thema. 16  Genette, S. 64. 17  Zum Unterschied zwischen klassischer und post-klassischer Narratologie siehe ­Alber/Fludernik sowie Herman. 15  Ich



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Königin Elisabeth I.; das früheste mir bekannte Tagebuch ist das der nord­ englischen Landadligen Margaret Hoby, das im August 1599 beginnt. Margaret Hobys Tagebuch ist typisch für die Zeit, da Hoby nicht etwa, wie später seit dem 18. Jahrhundert üblich, im Geheimen schrieb,18 sondern es regelmäßig ihrem Pastor zeigte, bzw. wahrscheinlich daraus vorlas.19 Dies ist nur vor dem Hintergrund der Radikalisierung der Reformationsbewegungen zu verstehen, der hier kurz erläutert werden soll.20 Die Reformation in England verlief aus unterschiedlichsten Gründen etwas anders als auf dem Kontinent. Zunächst einmal kam sie von „oben“: Wie zuletzt in Hilary Mantels Roman Wolf Hall nachzulesen ist, plante Heinrich VIII., sich von seiner ersten Frau Katharina von Aragonien scheiden zu lassen. Um dies gegenüber dem Papst durchzusetzen gründete er, mit Hilfe seines Beraters Thomas Cromwell, die Kirche von England und machte sich selbst zum Oberhaupt dieser neuen anglikanischen Kirche. Die Liturgie und Alltagspraxis glich jedoch noch sehr dem alten katholischen Ritus. Vielen Anhängern der neuen Kirche ging das nicht weit genug und beeinflusst von der Reformation auf dem Kontinent entstanden unzählige neue, unterschiedliche protestantische Gemeinden oder Sekten, die man mit dem Spottnamen „Puritaner“ („puritans“) belegte.21 Viele dieser puritanischen Kirchen verlangten ein schriftliches Zeugnis der Umkehr oder Konvertierung zum neuen Glauben. Diese sogenannten „conversion narratives“ oder „spiritual autobiographies“ dürften in die Textgattung gemündet haben, die im 19. Jahrhundert Autobiographie genannt wurde.22 Gleichzeitig rieten viele dieser reformierten Kirchen an, eine Art Logbuch über das alltägliche Verhalten zu führen. Es galt beispielsweise festzuhalten, wie oft und wie inniglich eine Person gebetet hatte, ob sie hart gearbeitet oder müßig gewesen war, ob und wie lange sie in der Bibel gelesen hatte und so fort. Der puritanischen Prädestinationslehre zu Folge war es wichtig, sich selbst genau zu beobachten, und zwar nicht etwa um durch gottgefälliges Verhalten Gnade zu erringen, das war ja, salopp gesagt, beschlossene Sache – entweder man gehörte zu den Erlösten oder nicht – sondern um heraus18  Entsprechend trifft die Aussage der Encyclopedia of Life Writing, Geheimhaltung definiere das Tagebuch als Gattung und als Praxis, „secrecy defines the diary as both text and practice“ (Cottam, S. 268), nur auf spätere Formen des Tagebuchs zu, wie etwa das des Samuel Pepys, das bekanntlich in einer kodierten Schrift geführt wurde. 19  Vgl. hierzu Hoby, S. 6, Mendelson, S. 184. 20  Zur Auswirkung der Reformation auf die Entstehung des autobiographischen Schreibens in England siehe Cowen Orlin. 21  Eine gut lesbare Einführung in das Thema findet sich bei Bremer. 22  Vgl. hierzu Caldwell, Peterson, Hindmarsh.

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zufinden, ob man vielleicht zu den Auserwählten gehörte. Wenn eine Person sich besonders gottgefällig verhielt (also beispielsweise früh aufstand und hart arbeitete), so konnte sie dieses Verhalten als Zeichen dafür deuten, dass sie zu den Auserwählten gehörte. Das frühneuzeitliche Tagebuch, ist, um eine Formulierung von Sara Heller Mendelson aufzugreifen, eine Art spiri­ tuelle Buchführung – a „sprititual balance sheet“ – oder sie formuliert es noch etwas pointierter: eine göttliche Zwangsjacke, „a godly straightjacket“23, in die man sein Leben täglich aufs Neue hineinzwängte. Im Laufe des 17. Jahrhunderts erschien eine Reihe von Handbüchern, in denen die Kunst des Tagebuchführens gelehrt wurde.24 Wer so lebte, wie in diesen Schriften empfohlen wurde, und außerdem noch in schriftlicher Form darüber Zeugnis ablegte, der hatte möglicherweise das große Glück, zu den Auserwählten zu gehören. Als Beispiel sei Richard Rogers’ Leitfaden Seven Treatises herangezogen. Er stammt aus dem Jahr 1604 und wurde viel gelesen. In diesem Lehrtext legt er die puritanische Praxis der Selbstbefragung und Selbstbeobachtung, über die das Tagebuch Zeugnis ablegen soll, sehr eindrücklich dar. Er entwickelt dabei so etwas wie eine Checkliste, man ist versucht zu sagen – eine frühneuzeitliche App –, die Gläubige täglich beim Verfassen des Tagebuchs durchgehen mögen: „Directions for daily living: 1. That we keep a narrow watch over our hearts, words and deeds continually. 2. That with all care the time be redeemed which hath been idly, carelessly and unprofitably spent. […] 5. That our family will be with diligence and regard, be instructed, watched over and governed. […] 10. That we bestow sometime not only in mourning for our own sins, but also for the sins of the time and age wherein we live.“25

Wichtig ist laut Rogers also nicht nur, dass Tagebuchautoren ihr Verhalten dokumentieren (wie etwa unter Punkt 5 die Supervidierung der Familie, oder das tägliche Gebet – das war Punkt 3), sondern auch eine bestimmte Innerlichkeit. Es soll getrauert werden über die Sündhaftigkeit der Welt und des eigenen Verhaltens („mourning“), und dies täglich. Für die puritanische narrative Identität ist eine ganz bestimmte innere Haltung entscheidend. Diese soll im Tagebuch einerseits festgehalten, andererseits aber auch gewissermaßen hergestellt werden. Das Tagebuch diente also nicht nur zur Dokumentation von Verhalten und Erfahrungen einer Person, sondern es ist gewisserma23  Mendelson,

S. 186. Bibliographie findet sich bei Seelig, S. 226. 25  Rogers, zitiert in Bremer, S. 55. 24  Eine



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ßen auch Konstruktion und Produktion von narrativer Identität. Diese SelbstHerstellung erfolgt jedoch nicht retrospektiv (wie in der Autobiographie), sondern in Form eines repetitiven Prozesses. Jeden Tag soll das Übel der Welt betrauert werden, jeden Tag früh aufgestanden, hart gearbeitet und die Familie zu Disziplin ermahnt werden usw. In diesem täglich stattfindenden Schreibprozess vergewissert sich die Person ihrer Position in der göttlichen Ordnung und damit auch ihrer eigenen Identität. Diese Verzahnung von Leben, Schreiben und Glauben soll nun anhand eines Beispiels beleuchtet werden.

II. Narrative Identität bei Ralph Josselin Josselin lebte zwischen 1617 und 1683 und begann 1641 Tagebuch zu führen. Er verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in dem Dorf Earls Colne in Essex, wo er als Pfarrer tätig war.26 Er stammte aus bescheidenen Verhältnissen; es gab jedoch genug Geld in der Familie, um ein Studium in Cambridge zu finanzieren. Josselin kämpfte im englischen Bürgerkrieg auf der Seite der Parlamentarier, was ihm während der Restoration jedoch nicht zum Verhängnis wurde. Er kam, anders als viele andere, nie vor Gericht. Josselin war verheiratet und hatte elf Kinder, von denen fünf noch sehr jung starben. Der Tod der Kinder wird in den Tagebüchern als ausgesprochen schmerzhaft und krisenhaft beschrieben, was am Schluss dieses Beitrages genauer beleuchtet werden soll. Davor sind jedoch ein paar Bemerkungen zu den allgemeinen Charakteristiken von Josselins Text nötig. Diese lassen sich gut anhand einer Passage aus dem Jahr 1644, in dem Josselin sich eine Erkältung zuzieht, illustrieren: 1644: March: 29 […] Going […] [t]o Cranham I was taken ill with a cold which sadly afflicted me for about 3 weekes, but god delivered mee, and gave mee more health, and cheerfulnes and content in himselfe, wife, children, his wayes, my people then formerly; so that my earnest desire is still towards them.27

Zunächst einmal fällt auf, dass Josselin häufig Wörter aus dem semantischen Feld „Ich“ verwendet; also „I“, „me“, das Possessivpronomen „my“. Allein schon an der narrativen Struktur kann man bis zu einem gewissen Grade nachvollziehen, weshalb der Entdecker und Herausgeber des Tagebuchs, der in Cambridge lehrende Historiker Alan MacFarlane, Josselin als Beispiel für einen im Entstehen begriffenen „Individualismus“ („individualism“) bezeichnet.28

MacFarlane, Family. S. 15. 28  MacFarlane, Family, vgl. auch ders., Origins sowie Mascuch. 26  Siehe

27  Josselin,

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Bei näherer Betrachtung wird jedoch klar, dass diese Wörter fast ausschließlich in Passivkonstruktionen eingebaut sind, d. h. „I was taken ill“, „the cold afflicted me“ (die Erkältung ist in der Subjektposition, das ich in der Objektposition, heute würden man sagen „I caught a cold“, Ich habe mir eine Erkältung eingefangen, da stellen wir uns als Handelnde dar, aber in Josselins Formulierung ist das Ich eher passiv). Ihn befällt eine Erkältung. Dieser Widerfahrnischarakter von Josselins Erfahrungswelt kommt in den nächsten Sätzen noch deutlicher zum Ausdruck. Josselin erzählt uns hier, dass Gott ihn schließlich von den Erkältungssymptomen erlöst, „God delivered mee“, und ihm Gesundheit, Freude und Zufriedenheit im Glauben schenkt, „[God] gave me more health and cheerfulness and content in himself“. Josselins Gefühle, seine Freude und Zufriedenheit, sind also Gott anheimgestellt, sie kommen direkt von Gott und nicht, wie wir heute sagen würden, von innen. Josselin verwendet zwar ein Vokabular für Innerlichkeit, das uns vertraut ist, wie etwa „content“ und „cheerfulness“, aber er verbindet damit keine Innerlichkeit in jenem modernen Sinn, die mit einem klar begrenzten Selbst verbunden ist. Vielmehr ist ihm sein eigenes Selbst, ja sogar sein Glaube von Gott gegeben. Er scheint nicht davon auszugehen, dass ihm dieses Selbst in irgendeiner Form gehört, dass er Kontrolle darüber hat. Auch sein Körper ist letztlich nur ein Vehikel für Gottes Willen in der Welt. Gott schickt ihm durch seinen (Josselins) Körper Strafen oder Gnaden. Ebenso seine Familie, seine Frau und Kinder sind für Josselin Gnadengeschenke Gottes. Die narrative Identität, die artikuliert wird, ist ganz aus dem Glauben und einer damit verbundenen Passivität und Rezeptivität gespeist. Diese These lässt sich anhand einer weiteren Textpassage verdeutlichen. Hier schreibt Josselin über seinen kleinen Sohn Ralph, sein viertes Kind, 1648 geboren. Nur wenige Tage nach seiner Geburt wird der Säugling sehr krank, er hat hohes Fieber, atmet flach, hustet Blut (möglicherweise hat das Kind eine Lungenentzündung). Josselin schreibt fast täglich über das Auf und Ab der Krankheit des kleinen Ralph: 17 Fe 1647[48]: my child was ill, full of phlegme, wee sent for the physitian, he gave it syruppe of roses: it wrought well. My wife perswaded herselfe that it would die it was a very sicke childe indeed: I tooke my leave of it at night, not much expecting to see it alive, but god continued it to morning and it seemed to mee not hopeless: lord its thine. I leave it to thy disposing onely I pray thee give mee and my wife a submitting heart. This weeke dyed in this towne: 1: woman in childbed and 2 children. […] 2 young children more, and one young woman the lord make mee sensible of my mercy. Mrs Mary would not goe home, but staid all night with our babe, hitherto my wife preserved from feavers, and upwards, the lord perfect her recovery, and if thou lord breake in with death into my family, oh make mee more carefull to live unto my god, and waite until my change cometh.29



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Es fällt auf, dass Josselin die Krankheit seines Sohnes in den Geschehnissen in der Gemeinde rahmt: Er notiert, es seien in dieser Februarwoche vier Kinder gestorben sowie zwei Frauen, eine davon im Kindbett. Josselin scheint im Hinterkopf zu haben, dass es genauso seine Frau Jane hätte treffen können; daher versucht er trotz des schlimmen Schicksals noch dankbar zu sein. Generell lässt sich beobachten, wie wichtig andere Menschen in diesem kleinen Eintrag sind. Josselin schreibt beispielsweise darüber, wie seine Frau sich einredet, dass das Kind wohl in der Nacht sterben wird, vielleicht, damit sie der Schmerz nicht so hart trifft; sie wappnet sich gegen den bevorstehenden Verlust und er tut es ihr gleich. Man bekommt den Eindruck, dass die beiden sehr partnerschaftlich miteinander umgehen, Josselin nimmt sie sehr ernst. Er nennt sie, wie in der Zeit üblich, nie beim Vornamen, sondern stets in ihrer Funktion „my wife“ mit dem entsprechenden Possessivpronomen; das ist jedoch in dieser Zeit eher als Zeichen von Achtung zu deuten – Bedienstete werden beispielsweise mit dem Vornamen genannt. Josselin macht sich ganz offenkundig Sorgen um seine Frau und ist dankbar, dass wenigstens sie von Krankheit verschont bleibt. Außerdem scheint er dankbar darüber zu sein, dass die Hebamme Mary „die ganze Nacht,“ wie er schreibt, bei ihnen bleibt. Des Weiteren nehmen die Krankheit und der mögliche Tod des Säuglings einen großen Raum in dem Eintrag ein. Josselin versucht zunächst einmal die Krankheit des Kleinen irgendwie zu diagnostizieren, das tut er im Rahmen der damals noch recht weit verbreiteten Säftelehre „the child was full of phlegme“. Darüber hinaus beschreibt Josselin die Krankheit und den bevorstehenden Tod seines Sohnes ganz im Rahmen seines Glaubens. Der Satz „Lord it is thine, I leave it to thy disposal“, mag formelhaft klingen, ist aber, davon bin ich überzeugt, absolut ernst gemeint. Josselin ringt sichtbar damit, den Tod seines Sohnes demütig hinzunehmen, denn das ist es, was sein Glaube von ihm verlangt. Doch selbst die Demut, d. h. ein innerer Zustand, den wir aus heutiger Sicht ganz klar in uns selbst beheimatet glauben würden, wird von Josselin als von Gott kommend imaginiert und dargestellt. Er betet also nicht darum, dass Gott den Kleinen verschonen möge, er betet darum, dass Gott ihm und seiner Frau ein „demütiges Herz“ geben möge. Dass er im Glauben fest sein möge, ist für Josselin das Allerwichtigste, es scheint fast noch wichtiger zu sein als das Leben und Sterben seiner eigenen Kinder. Dennoch sehe ich in Josselins Tagebuch keinen Beleg für Lawrence Stones berühmte These, dass Eltern für ihre Kinder weniger Gefühle empfanden als wir es heute tun.30 Menschen in der Frühen Neuzeit schreiben anders 29  Josselin, 30  Stone,

S. 112. S. 60.

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über Gefühle, sie rahmen sie wahrscheinlich auch anders (heutzutage würden wir sie sicherlich nicht als von Gott kommend ansehen), aber ich bezweifle, dass der Grundaffekt irgendwie weniger intensiv war als der eines trauernden Vaters 300 Jahre später. Denn bei aller historischen Fremdheit, die Josselins Text innewohnt, kann ich an der Passage auch ablesen, dass Josselin die Gefühle von Schmerz und Verzweiflung, die der Tod eines Kindes in Eltern überall auf der Welt und zu allen Zeiten auslösen dürfte, durchaus kennt. Für ihn sind diese Emotionen jedoch potentiell gefährlich und können daher auch nicht ohne Weiteres benannt und aufgeschrieben werden. Diese Gefühle tragen im Kern immer auch den Zweifel an Gottes Güte und Barmherzigkeit in sich, die Josselin in seiner Identität wahrscheinlich fundamental verunsichern, wenn nicht zerstören würden. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, dass er, nach dem Tod seiner Tochter Mary, über mehrere Wochen nicht schreibt. Erst im Rückblick notiert er, dass er einfach nicht verstehe, was Gott in dieser Prüfung von ihm wolle. Er scheint von Zweifeln geplagt zu sein, was jedoch im fundamentalen Gegensatz zu seiner religiösen Identität steht. Daher vermute ich, dass ein solcher Zweifel erst dann notiert werden kann, wenn er ihn bereits überwunden hat, und nicht in dem Moment, in dem er empfunden wird. Das wäre für Josselin so erschütternd, dass es zu einem Identitätsverlust käme, den er nicht überwinden könnte.

III. Zusammenfassung Das englische Tagebuch der Frühen Neuzeit ist eine prozesshafte, serielle Textgattung, in der Leben und Schreiben miteinander verwoben sind. Es entstand in Zusammenhang mit der Radikalisierung des Reformiertentums im 17. Jahrhundert. Tagebuchschreiben ist im England der Frühen Neuzeit nicht nur die tägliche Dokumentation von Erlebtem, sondern gewissermaßen ein prozesshaftes Erarbeiten von religiöser narrativer Identität. Die narrative Identität, die Ralph Josselin in seinem Tagebuch artikuliert und herstellt, lässt sich als eine prä-individualistische, rezeptive und relationale beschreiben. Er thematisiert sich selbst immer in Zusammenhang mit einem Netzwerk von Beziehungen (wobei die Beziehung zu Gott ebenso wichtig ist wie die Beziehung zu anderen Menschen). Er beschreibt seine Gefühle und Gedanken als Regungen, die ihm nicht ganz selbst gehören, sondern von außen kommen. Gefühle befallen ihn, Dinge widerfahren ihm. Er entwirft tatsächlich so etwas wie Innerlichkeit, aber nicht im Sinne einer klar abgegrenzten Individualität,31 die er zur Not auch gegen soziale, normative Zugriffe vertei31  Vgl. hierzu auch Martin. Weitere instruktive Beispiele, die die Theorie des (angeblichen) frühneuzeitlichen Individualismus konterkarieren, finden sich bei Jancke.



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digen würde, sondern seine Innerlichkeit besteht gerade darin, sich von außen, von Gott leiten zu lassen. Die eingangs gestellte Frage, ob Schreibverfahren Gussformen für narrative Identitäten sind, würde ich also mit „Ja“ beantworten. Anhand von Josselins Tagebuch lässt sich ablesen, wie er immer wieder mit seiner religiösen narrativen Identität ringt. Sie ist ihm nicht wie eine Essenz gegeben, sondern er muss sie immer wieder aufs Neue schreibend herstellen.

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Miriam Nandi

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Die Tagebücher Karl August von Hardenbergs als Quelle der Geschichtswissenschaft Von Thomas Stamm-Kuhlmann Im Jahr 2000 hieß es in einer Rezension zur Edition der Hardenberg-Tagebücher, der wahre Inhalt der Quelle erschließe sich erst durch den Kommentar.1 Von daher mag man sich fragen, ob ein Beitrag zu Hardenberg überhaupt in diesen Sammelband gehört, wenn doch der Seitenblick auf die literarische Qualität von Tagebüchern für die Themenstellung konstitutiv ist. Ob ein Text literarische Relevanz besitzt, entscheidet jedoch nicht der Autor allein. Im Falle Hardenberg sind es in erster Linie die Archivare gewesen, die aus der Notatensammlung einen zusammenhängenden Text konsti­ tuiert haben, indem sie die betreffenden Nachlassbestandteile Hardenbergs zu einem Bestand zusammengefasst und mit entsprechenden Signaturen ver­ sehen haben. Diese Signaturen geben in der Reihenfolge der Nummerierung einen Ablauf und einen Sinnzusammenhang vor, der aus der Biografie hergeleitet wurde. Der Editor hat sodann durch die einheitliche Form der Kommentierung und durch Hunderte von Vor- und Rückverweisen ein Gespinst um die vorgefundenen Textfragmente gelegt, bis das Empfinden für die Zusammengehörigkeit der Fragmente zu einem „Buch“ gefestigt war. Dazu fühlte sich der Editor allerdings berechtigt, weil er festgestellt hatte, dass es sich bei den Fragmenten einerseits um Notizen zu einer politischen Rechtfertigungsschrift und andererseits um Vorstudien zu einer Autobiografie handelte. Womöglich hatte Hardenberg die Absicht, beides in einer Schrift zu erledigen.

I. Die Kultur der Rechtfertigungsschriften Diarische Notationen Hardenbergs liegen ab 1782 vor, aber sie werden mit dem Jahr 1806 zusehends dichter. Auch der Beschreibstoff und der Schriftfluss ändern sich. Wo Hardenberg früher Papierreste genutzt hatte, ging er jetzt zu sorgfältigen Heften über. Dieser Wechsel in der Arbeitsweise fällt wohl kaum zufällig damit zusammen, dass er 1804 die Vertretung für den 1  Vgl.

Langewiesche.

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ersten Kabinettsminister Graf Haugwitz übernommen und damit die Leitung der Außenpolitik anvertraut bekommen hat. Wir befinden uns in jenen Jahren der preußischen Außenpolitik, da die Monarchie versuchte, ihre Neutralität zwischen dem napoleonischen Frankreich einerseits, Großbritannien und Russland andererseits zu wahren. Dieser Versuch führte zu allerlei Manövern und Tricks, die der Glaubwürdigkeit Preußens Schaden zufügten. Er mündete in den Bündnisvertrag, den Graf Haugwitz als Sondergesandter schließlich im Januar 1806 mit Napoleon geschlossen hat und dessen Konsequenz es wurde, Preußen mit Großbritannien zu entzweien. Am Ende stand der überstürzte Krieg, den Preußen, Kurhessen, Sachsen und Russland gegen Napoleon geführt und bekanntlich 1807 verloren haben. Im französisch besetzten Berlin wurde die Zensur höchst einseitig gehandhabt. Frankreichkritische Publikationen blieben natürlich verboten, aber gegen die preußische Monarchie durfte alles geschrieben werden. Das entfesselte die Federn der Schundschriftsteller wie der preußischen Reformautoren gleichermaßen. Die kritische Öffentlichkeit, die seit den Tagen Friedrichs des Großen schrittweise gewachsen war, aber noch unter den typischen Beschränkungen absolutistischer Pressepolitik gelitten hatte, war losgelassen.2 Das veranlasste auch die Akteure der Epoche, mit Rechtfertigungsschriften hervorzutreten. Ich hebe besonders hervor die von Johann Wilhelm Lombard3, der als Kabinettssekretär des Königs eine kaum weniger einflussreiche Rolle gespielt hatte als Hardenberg. Lombard wurde in den teilweise anonym erscheinenden Publikationen, in denen am Regierungsstil Friedrich Wilhelms III. Kritik geübt wurde, in erster Linie für die Unehrlichkeit des preußischen Kurses zwischen den Mächten und für die langjährige Unterwürfigkeit gegenüber Napoleon verantwortlich gemacht. Ob verdient oder nicht, hatte sich dagegen Hardenberg in England das Renommee eines beherzten Napoleonfeindes erworben,4 was in der bekannten Karikatur gipfelte, in der Hardenberg dem König das Schwert reicht, während diesem von anderer Seite eine Schlafmütze dargeboten wird. Auch Napoleon hatte sich angewöhnt, in Hardenberg einen Gegner zu e­ rblicken, so dass er anlässlich der Friedensverhandlungen von Tilsit beim König Hardenbergs Entlassung verlangt hat. Diese Entlassung stempelte Hardenberg endgültig zum Garanten einer eigenständigen preußischen Außenpolitik.

Tschirch; Herrmann. [Lombard], Matériaux; ders., Materialien. 4  Vgl. Simms, S. 62. 2  Vgl. 3  Vgl.



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II. Hardenbergs Memoiren Hardenberg ging nach seiner Entlassung zunächst nach Riga, ließ sich dann für ein paar Monate in Tilsit nieder und kehrte schließlich auf sein Gut Tempelberg in der märkischen Schweiz zurück, das die Franzosen inzwischen geplündert hatten. Diese erzwungene Ruhepause gab seinen literarischen Ambitionen mächtigen Auftrieb. Er verfasste jetzt jenen Text, den ­Leopold von Ranke 1877 als Denkwürdigkeiten des Fürsten von Hardenberg aus dem Geheimen Staatsarchiv ans Licht gezogen und in zwei Bänden veröffentlicht hat, die die Jahre 1803 bis 1807 umfassen.5 Hinzugefügt hat Ranke einen erzählenden Band, der die Vorgeschichte des Krieges von 1806 abdeckt,6 sowie einen Quellenband7 und einen Band, der die Erzählung von Hardenbergs Geschichte bis zum Befreiungskrieg 1813 vorangetrieben hat.8 Hardenbergs Anliegen in den Jahren von 1807 bis zu seiner 1810 erfolgten Rückberufung in die Politik, diesmal unter der Amtsbezeichnung Staatskanzler, musste es sein, seinen Ruf als geradliniger Staatsmann zu rechtfertigen, der die Risiken der preußischen Politik von Anfang an richtig eingeschätzt hat, aber nicht immer so handeln durfte, wie er es gern getan hätte. Seine Diplomatie durfte keine Doppelbödigkeit und keine Kehrtwendungen aufweisen, obwohl sich Brandenburg-Preußen schon im 17. Jahrhundert die krassesten Schwenkungen zwischen den Parteien erlaubt hat. Das war aber zu einer Zeit gewesen, da eine kritische Öffentlichkeit so gut wie nicht vorhanden gewesen war. Zu diesem Zweck wurden die Memoiren geschrieben. Es liegen uns aber auch zwei Tagebücher für das Jahr 1806 vor, von denen mindestens eines in nahem zeitlichem Abstand zu den Ereignissen niedergeschrieben wurde, da es Tagesaktualitäten wie kleine Erkrankungen, das Wetter und den Erntestand enthält. Und hier haben wir nun den Unterschied zum 2014 wieder vielfach diskutierten Riezler-Tagebuch aus der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs in Berlin. In der Edition der Riezler-Tagebücher durch Karl Dietrich Erdmann9 sind von der Julikrise 1914 nur die sogenannten Blockblätter überliefert, von denen man in Anlehnung an Bernd Sösemann10 inzwischen annimmt, dass sie eine nachträgliche Glättung des Tagebuchs durch Kurt Riezler, also den Verfasser selbst, darstellen. Ein ursprüngliches, in dichter Anlehnung an den Verlauf der Ereignisse angefertigtes Tagebuch muss existiert haben und viel5  Ranke

(Hg.), Denkwürdigkeiten (Hg.), Denkwürdigkeiten 7  Ranke (Hg.), Denkwürdigkeiten 8  Ranke (Hg.), Denkwürdigkeiten 9  Erdmann (Hg.), Kurt Riezler. 10  Vgl. Sösemann, S. 348–353. 6  Ranke

Bd. 2 u. 3. Bd. 1. Bd. 5. Bd. 4.

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leicht war es auch 1956 noch vorhanden, was eine Äußerung von Theodor Heuss, einem Bekannten des Tagebuchschreibers, vermuten lässt.11 Jetzt aber ist es verschollen. Bei Hardenberg dagegen sind eben drei Fassungen mancher Schilderungen überliefert, nämlich ein kalendarisch dürres Notat, das ich A nennen möchte, die von Hardenberg vermutlich in nahem zeitlichem Abstand niedergeschriebene stärker reflektierende Fassung B und schließlich die der Tagebuchform entkleidete, als Memoiren formulierte Fassung C, die Ranke gedruckt hat. Ich will ein Beispiel für die Diskrepanz zwischen den verschiedenen Fassungen geben. Hardenberg, der nur als Vertreter des Grafen Haugwitz in die Außenpolitik gelangt war, war in den kritischen Sommermonaten des Jahres 1806 nicht am Ruder, sondern saß in Tempelberg, von wo aus er einen geheimen Kanal zum russischen Kaiser unterhielt, während die offizielle preußische Politik zunächst im Bündnis mit Frankreich agierte, bis die Nadelstiche der französischen Politik Preußen dazu trieben, gegenüber Napoleon herausfordernd aufzutreten und die Räumung des rechten Rheinufers zu verlangen. Die Königin, deren Protektion Hardenberg besaß, sorgte unter anderem dafür, dass sein Rat auch in dieser Lage angehört wurde. Es musste für Hardenberg wichtig sein, dass er einerseits als Mann erschien, der schon immer gewusst hatte, dass mit Napoleon nicht gut Kirschenessen war, und der andererseits nicht leichtfertig zum Krieg gehetzt hatte, der dann so kläglich verloren gegangen war. Im Notationstagebuch A (L 26) heißt es unter dem 17. September 1806 lapidar: „-Écrit au Roi p[our] demander de le voir. Dîné à Charlottenbourg – Audience.“12

In der reflektierenden Fassung B (L 27) dagegen wird die Unterredung zwischen Hardenberg und dem König an diesem Tag ausgeschmückt: „S[a] M[ajesté] me vit après table dans l’ App[artement] de la Reine et en sa présence me fit le récit de toute la situation politique. Son Contenance paroit bonne et son opposition sur la nécessité de la guerre fixée. Je luis dis tout ce que je pûs, pour l’encourager, qu’ il valoit mieux succomber avec honneur, que rester debout avec honte. Il me repliqua que la chance étoit cependant très désagréable. Je repondis, qu’ il ne la courriroit pas, Kräfte würden Kräfte wecken, qu’ il ne s’agissoit que d’agir et de tirer parti du bon esprit qui regnoit partout“.13

Schulte, S.  94 f. Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Rep 92 Hardenberg L 26 Bl. 3v. Gedruckt in: Stamm-Kuhlmann (Hg.), Karl August von Hardenberg, S. 431. 13  Die Hardenberg-Zitate werden im Folgenden jeweils mit der Archivsignatur sowie der Seitenangabe in der Edition bezeichnet: L 27 Bl. 16v. Tagebücher S. 468. 11  Vgl.

12  Geheimes



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Als Randglosse hat Hardenberg den Hinweis vermerkt, dass er damals geglaubt habe, Preußen habe sich anderer Höfe, insbesondere Österreichs, versichert, er habe dem preußischen Militär mehr Energie und dem preußischen Oberbefehlshaber, dem Herzog von Braunschweig, mehr Talent zugetraut. Dieser Vermerk ist ganz offensichtlich aus den Erkenntnissen nach der Schlacht von Auerstedt hinzugefügt.14 In den Memoiren heißt es dazu: „[Der König] schilderte mir kurz und im Allgemeinen die Lage der Dinge und fügte hinzu, sie sei kritisch und gefährlich genug. Ich antwortete, das sei mit einem solchen Feinde als Napoleon allerdings der Fall, aber freilich besser, allenfalls mit Ehren zu unterliegen, als Schande und Abhängigkeit zu erdulden und jenes Schicksal am Ende doch zu haben, der König wisse aber schon, daß ich nicht unterrichtet sei, ich müße voraussetzen, daß man sich bemühet habe, mit den andern Mächten ein vollkommenes Einverständniß einzuleiten, und bemerken, daß mir die Lage immer minder vortheilhaft und viel gefährlicher scheine als 1805. Dieses wollte der König nicht zugeben und erwiderte, Oesterreich sei bereit beizutreten, nur scheine es den ersten Erfolg abwarten zu wollen, auf Rußland könne man rechnen, mit England werde man sich auch einverstehen.“15

Kein Wort also von der Ermunterung: „Kräfte werden Kräfte wecken“ und vor allem nicht von der Einschätzung, überall herrsche ein guter Geist vor, denn diese Einschätzung hatte sich als falsch erwiesen. Nachdem sich die preußischen Festungen so schnell ergeben hatten und preußische Beamte so bereitwillig Napoleon die Treue geschworen hatten, war der mangelnde Widerstandsgeist der Preußen auch zum Thema der regierungskritischen Publizistik geworden. Statt der falschen Einschätzung der Stimmung findet sich der Zusatz, dass die Lage schlechter sei als 1805, wovon im Tagebuch nichts steht. Diese Diskrepanzen sind auch schon den Historikern aufgefallen, die sich die Memoiren kurz nach ihrer Publikation im Jahr 1877 vorgenommen hatten.16 Dem von Ranke veröffentlichten Manuskript hatte Hardenberg am 5. November 1808 vorausgeschickt: „Die Memoires, welche ich über meine Geschäftsführung von 1803 bis 1807 nach dem Tilsiter Frieden aufgesetzt habe, sehe ich nur vorerst als Materialien an, um diejenigen, welche ich dereinst zum Druck bestimme, nach solchen noch viel genauer auszuarbeiten und zu ergänzen. Wiederholungen müssen wegfallen, der Styl muß noch mehr gefeilt und ein Mittel ausfindig gemacht werden, ohne der Gründlichkeit und historischen Genauigkeit zu schaden, das wörtliche Inseriren so vieler Beilagen zu vermeiden. Doch würde ich hierin sehr vorsichtig sein und lieber die Schönheit der Wahrheit aufopfern, die in meiner ganzen Arbeit aufs Genaueste beobachtet ist.“ 14  Randglosse

zum 17. September 1806: L 27 Bl. 16v. Tagebücher S. 469. Denkwürdigkeiten Bd. 3, S. 170 f. 16  Vgl. Lehmann, S. 107. 15  Ranke,

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Hardenberg hat sodann festgelegt, dass etwaige Einnahmen aus dem Druck der Memoiren seiner neuen Frau Charlotte zugutekommen sollten. Er war sich also nicht sicher, in welchem Zeithorizont die Memoiren erscheinen würden, oder wir könnten auch sagen, er war jetzt, im Alter von 58 Jahren, schon auf die Möglichkeit seines Todes gefasst.17 Es gibt nun aber Anzeichen, dass die Memoiren in der von Ranke publizierten Fassung nicht das Endziel aller Niederschriften waren, die wir im Bestand L des Hardenberg-Nachlasses im Geheimen Staatsarchiv finden. Vielmehr scheint Hardenberg die Absicht gehabt zu haben, seine ganze Lebensgeschichte zu veröffentlichen. In der von Ranke dem ersten Band beigegebenen Vorrede Hardenbergs zu den „Memoiren“ heißt es nämlich: „Ich glaube meine Privat-Verhältnisse nicht mit Stillschweigen übergehen zu müssen, denn ohnerachtet diese dem Publikum nur wenig Interesse darbieten können, dienen sie doch dazu, den Charakter und die Handlungen aus einem richtigen Gesichtspunkte aufzufassen.“18 Hardenberg kündigt dann an: „Ich werde mein Werk so eintheilen, daß 1. eine allgemeine Erzählung der Begebenheiten, die ich erlebte, vorangehe, 2. dasjenige einzeln folge, was in meinen verschiedenen Dienstverhältnissen in Absicht auf öffentliche Verwaltung und politische Gegenstände und Begebenheiten von mir geschehn ist.“19

Die „Allgemeine Erzählung der Begebenheiten, die ich erlebt habe“ bringt dann allerdings auf zwei Druckseiten nur einen Hinweis auf die Geschichte seiner Familie seit dem 13. Jahrhundert. Schon literarisch ambitioniert sind seine Betrachtungen über die Vorzüge der adligen Geburt. Dabei belässt er es aber in den Memoiren. Die Kindheit und Jugend werden ausgelassen und die Darstellung springt sofort ins Jahr 1803.

III. Plante Hardenberg eine umfassende Autobiografie? Und wann? Andererseits sind Aufzeichnungen über Hardenbergs Lebensgeschichte vor 1803 vorhanden, die mit seiner Geburt in Essenrode bei Hannover und den Kinderjahren während des Siebenjährigen Krieges einsetzen. Ganz in der Art einer Stoffsammlung hat er hier festgehalten, welche Erinnerungsfetzen ihm noch zu Gebote standen. Zum Beispiel über den 26. April 1756, eine Woche vor dem sechsten Geburtstag: 17  Ranke,

Denkwürdigkeiten Bd. 2, S. IX. S.  3 f. 19  Ebd., S. 4. 18  Ebd.,



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„Ich erinnere mich, wie er [d. h. der Vater] im Zimmer arbeitete und schrieb, die Mutter im Bette liegend im Nebenzimmer, bitterlich weinte.“20 Hintergrund war der Abmarsch des Vaters, der damals kurfürstlich hannoverscher Oberst war und mit seinem Regiment nach England gehen sollte, während der kleine Bruder Fritz gerade zur Welt gekommen war. Es geht dann weiter mit der Erinnerung an eine Mahlzeit von Hafergrütze. Die Schilderung des Aufstiegs zum Minister des Markgrafen von Ansbach enthält dann zum Jahr 1791 den Satz: „Comme on y travailloit“ – das heißt, hier müsste noch eingefügt werden, wie der Arbeitsstil mit dem Markgrafen Alexander kurz vor der Abtretung Ansbachs an Preußen gewesen war. Es gibt die Möglichkeit, dass diese Stoffsammlung ebenfalls in der Zeit der Muße 1808 entstanden ist. Wir sind jedoch zu einer Kette von Vermutungen gezwungen. Zunächst scheint Hardenberg eine komplette Autobiografie beabsichtigt zu haben, durchaus verbunden mit dem Zweck, seine Amtsführung in der preußischen Außenpolitik zu rechtfertigen. Dann wurde ihm möglicherweise bewusst, dass dies zu lange dauern oder zu viel Raum einnehmen könnte, so dass er in der im November 1808 abgeschlossenen Fassung die Jahre vor 1803 ausgelassen hat. Dass er einen konkreten Entschluss gefasst hatte, diese Memoiren in unmittelbarer Zukunft zu publizieren, müssen wir angesichts der Vorrede, in der er über die Verwendung der Tantiemen nach seinem Tod nachdenkt, in Zweifel ziehen. Auf jeden Fall hatte sich das Fenster der Gelegenheit mit der Ernennung zum Staatskanzler im Jahr 1810 schon wieder geschlossen. Die Sammlung von Erinnerungsfetzen aus der Zeit vor 1803 kann nun entweder als Teil des Projekts der Memoiren entstanden sein und wurde aus Zeitknappheit nicht mehr verwendet, sie kann aber auch nach 1810 geschrieben worden sein, denn Anzeichen, dass manche der unter „Tagebücher“ vorliegenden Notizen in Wahrheit Stoffsammlungen für die Autobiografie sind, finden sich auch in den nach 1810 geschriebenen Texten.

IV. Hardenbergs Texte nach 1810 Zunächst geht es aber mit Betrachtungen aus dem Zwangsruhestand weiter, nämlich ob ein solcher Ruhestand nicht überhaupt dem Geschäftsleben vorzuziehen sei. Hier zeigt sich Hardenberg als Schüler Ciceros. Er beginnt sein Tagebuch des Jahres 1810, das vom Archiv die Signatur L 30 bekommen hat, unter dem 1. Januar mit entsprechenden Betrachtungen. So heißt es, er wünsche sich brennend, nicht wieder in den Trubel (tour­ 20  Landeshauptarchiv Potsdam Pr. Br. Rep.  37 Neuhardenberg Nr. 1621 Bl. 1 RS. Tagebücher S. 23.

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billon) der großen Welt hineingezogen zu werden. Allein die Pflicht könne ihn veranlassen, dorthin zurückzukehren. „Vivre dans la rétraite et dans les occupations champêtres, y attendre avec tranquillité la fin de ma carrière en faisant tout le bien dont je suis capable“ – das sei der Gipfel seiner Wünsche. Wegen seiner Schwächen müsse er seufzen, doch sei er getröstet, weil er wisse, dass guter Wille den Grund seines Charakters ausmache.21 Der Ruf der Pflicht aber ließ nicht mehr lange warten, denn inzwischen hatte nicht nur Hardenberg, sondern auch dessen Nachfolger Stein den Zorn Napoleons auf sich gezogen und hatte seinen Rücktritt einreichen müssen. Schon bei der Bildung des Ministeriums, das auf Stein folgte und unter dem Namen der Minister Dohna und Altenstein bekannt ist, war Hardenberg vom König insgeheim ins Vertrauen gezogen worden. Die Ministerliste hat er dem König im November 1808 nach einem geheimen Treffen am Rand von Königsberg zukommen lassen.22 Ein Jahr später aber wurde offensichtlich, dass Dohna und Altenstein nicht imstande waren, den Geldhunger Napoleons zu befriedigen. So wurde Hardenberg, obwohl immer noch außer Amt, vom König beauftragt, zwei miteinander konkurrierende Pläne zur Begleichung der preußischen Staatsschulden zu begutachten. In der reflektierenden Fassung des Tagebuchs von 1810, in der wir auch die Betrachtungen über die Vorzüge des Landlebens finden, hält Hardenberg einem Ausruf ähnlich fest: „Détestable corvée!“23 In einer Parallelfassung, die vom Archiv die Signatur L 31 bekommen hat, berichtet er dagegen: „Ich […] erhielt am 28. [März] unerwartet Nachts eine Staffette […] mit der Aufforderung, zurück zu kommen und meine Meynung über die Lage der Sachen abzugeben. […] Grosse Verlegenheit des Königs und der Königin. Napoleon drang auf Bezahlung der Contribution. Man wusste sich nicht zu helfen; das Ministerium wollte Schlesien abtreten. Die Akten dieserhalb nachsehen.“24

Die letzte Bemerkung reicht aus, um uns klar zu machen, dass L 31 eine Skizze für eine spätere Autobiografie darstellt. In der Tat ist der ganze Faszikel in Form eines durchlaufenden Berichts gehalten, hier fehlen auch die unter dem Eindruck der Stimmung des Tages angestellten Betrachtungen. Hardenberg wurde dann mit Kabinettsorder vom 3. Juni 1810 zum Staatskanzler ernannt und erhielt Vollmachten wie kaum je ein Minister vor ihm. 21  L

30 Bl. 1. Tagebücher S. 667. L 29 Bl. 27v. Tagebücher S. 614. Die Ministerliste in der „Braunsberger Denkschrift“ bei: Hassel, S. 568–575. 23  30. März 1810. L 30 Bl. 9. Tagebücher S. 679. 24  Zwischen dem 29. März und 1. April. L 31 Bl. 1. Tagebücher S. 696. 22  Vgl.



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Von nun an sind Hardenbergs restliche Lebensjahre in einer Abfolge von Aufzeichnungen belegt, bei denen wir uns jedes Mal fragen müssen: Haben wir es hier mit einem Notat aus dem Augenblick heraus zu tun oder mit einer Stoffsammlung? Oder handelt es sich nur um Zweitfassungen des Tagebuchs, die überarbeitet abgeschrieben wurden, analog zu den berühmten Blockblättern von Kurt Riezler? Spannend wird diese Frage, wenn wir uns dem Jahreswechsel 1812 auf 1813 nähern. Denn hier kann man den Versuch machen, Preußens außen­ politischen Kurs zu deuten. Wann begann Hardenberg gegenüber Napoleon wieder mit einem Doppelspiel, ähnlich jenem im Sommer 1806? Mit dem Januar 1813 setzt ein französisch geschriebenes Tagebuch ein, das bis zum Dezember 1813 reicht und die Signatur L 34 trägt. Unter L 35 finden wir dann ein deutsch geschriebenes Tagebuch, in dem es heißt: „Conf[er] Doublette.“25 In L 35 ist unter dem 9. Januar 1813 zu lesen: „S[ain]t Marsan [der französische Botschafter in Berlin] und Hatzfeld [ein preußischer Diplomat] aßen bei mir. Nothwendigkeit gegenüber dem ersten das wahre System zu verbergen, so wie es gegen Golz [dem preußischen Außenminister] und gegen alle geschehn.“26

Wir erinnern uns, dass Preußen zu diesem Zeitpunkt noch der offizielle Verbündete Frankreichs war, die Konvention von Tauroggen aber schon in Berlin bekannt war und bereits Gesandte unterwegs waren, um die Absichten Russlands, Österreichs und Großbritanniens zu sondieren. Schreibt man so etwas im Augenblick der Verschwörung, wo das Tagebuch ja noch einem Spion in die Hände fallen könnte? Dass die Franzosen genug Spione und Geheimagenten unterhielten, musste spätestens nach der spektakulären Publikation von Steins abgefangenem Brief aus dem Jahr 1808 im Moniteur bekannt sein. Oder schreibt man so etwas in der Rückschau? Eine Entscheidungshilfe bietet vielleicht die Eintragung vom 20. Januar 1813: „Hatzfeld heute in Paris eingetroffen.“27 Im Zeitalter vor Einführung des elektrischen Telegrafen sollte man eher erwarten: „Hatzfeld müsste heute in Paris eingetroffen sein.“ Das deutet doch sehr auf eine spätere Redaktion hin. Es sieht insgesamt so aus, als habe Hardenberg die spontanen Aufzeichnungen eher auf Französisch verfasst, während er die deutsche Fassung schon mit Blick auf die spätere Publikation in Deutschland geschrieben haben könnte. Von 1811 schon gibt es dann keine Tagebuchfassung mehr, die das Jahr durchgehend abdeckt. Auf dem Wiener Kongress hat Hardenberg zwar sehr ausführlich begonnen, aber schon bald scheint er hier keine Zeit mehr gehabt 25  L

35 Bl. 1. Tagebücher S. 759. 35 Bl. 1. Tagebücher S. 760. 27  L 35 Bl. 1v. Tagebücher S. 761. 26  L

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zu haben, ähnlich wie Kurt Riezler in den drei Wochen bis zum 14. August 1914 „nicht eine Minute“ gehabt haben will „für eine Notiz“.28 Die Parallele besteht hier auch zu Stein, dessen Tagebuch vom Wiener Kongress am 11. Mai 1815 abbricht,29 obwohl Stein Wien erst am 28. Mai 1815 verlassen hat30 und die Kongressakte erst am 9. Juni unterzeichnet worden ist. Im sogenannten Tagebuch von 1819 findet man dann teilweise großzügig geraffte summarische Einträge, bei denen es sich auch nicht um überarbeitete Tagesaktualitäten handelt. Stattdessen liest man unter dem 1. April 1819: „Hatte meine Frau das Unglück, an ihrem Geburts tage eine Sehne in der Wade zu zersprengen, woran sie ein halbes Jahr gelegen und ganz unfähig gewesen, zu gehen.“31

Der nächste Eintrag auf dieser Seite ist vom 3. Mai 1819 und hat allerdings einen wichtigen Inhalt, er lautet nämlich: „Dem König die Arbeit über die Constitution gegeben.“32 Abgesehen davon sind die Tagebücher der Jahre 1815 bis 1822 großenteils eine Enttäuschung, was Hardenbergs damals wichtigste Aktivitäten, die Fortsetzung der Reformen und die Verfassunggebung, anbetrifft. Einzelne Eintragungen zu Hardenbergs Reformstrategie sind freilich schon vorhanden. Am 22. Juli 1821 hat er noch einmal ein Memoire „wegen der Verfassungs Sache dem König geschickt.“ Künftig wollte er so verfahren: „Ich will die Opposition dadurch entkräften, daß ich mich nicht mit ihr in Contestation weiter setze, da ich meine Meinung gesagt habe.“33 Es sind aber aus den Tagebüchern der Friedenszeit sehr viele kulturelle Fakten zu gewinnen. Hardenberg ist 1818 mit einem Dampfschiff auf Havel und Elbe nach Hamburg gereist. Er hat 1821 Rom besucht und eine Baedeker-Reise avant la lettre daraus gemacht. Das heißt, er hat sich notiert, wann er welche Sehenswürdigkeiten besichtigt hat und die Seitenangabe aus dem Reiseführer hinzugefügt. Er lässt durchblicken, dass er sich mit dem Freiherrn vom Stein endgültig überworfen hat, als ihm dieser, gleichzeitig in Rom weilend, auf die Einladung zu einem Diner ein pampiges Billet geschrieben hat. Dazu notierte sich Hardenberg: „Ich kann es mir gefallen lassen; er schadet sich am mehrsten. Ich finde mich weit über den [hier stehen 28  Erdmann

(Hg.), Kurt Riezler, S. 193. (Hg.), Freiherr vom Stein, S. 316–386. 30  Vgl. Duchhardt, S. 344. 31  L 41 B. 18. Tagebücher S. 870. 32  Ebenda. 33  L 42 Bl. 68v. Tagebücher S. 988. Den Forschungsstand zur Verfassungsfrage fasst inzwischen zusammen: Schmitz. 29  Botzenhart/Hubatsch



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vier Striche] erhaben.“34 Man wüsste nun gern, was für ein Schimpfwort dorthin gehört. Auch diese seine Auslassung könnte als ein Indiz für nachträgliche Redaktion gewertet werden. Hardenbergs letzte Tagebucheintragung stammt vom 9. November 1822. Sie erwähnt, dass seine Geliebte Friederike von Kimsky zusammen mit ­ihrem Scheinehemann bei Hardenberg auf dem Kongress von Verona angekommen sei.35 Am 26. November 1822 ist Hardenberg in Genua gestorben. Mithin ist nicht damit zu rechnen, dass die Notizen zum November 1822 noch überarbeitet werden konnten. Der Editor muss jedoch feststellen, dass das Schriftbild dieses Tagebuchs erst an den letzten Tagen Schwäche erkennen lässt.36 An der äußeren Form sind ansonsten bearbeitete und unbearbeitete Tagebücher nicht zu unterscheiden. Ich habe allerdings keinen Graphologen hinzugezogen, wie das die Streithähne in der Riezler-Kontroverse getan haben.37

V. Wie weit reichten Hardenbergs literarische Ambitionen? Zum Schluss sei noch etwas zu den literarischen Ambitionen dieser Textfetzen ausgeführt. Dass Hardenberg vom antiken Humanismus berührt worden ist, wurde schon angedeutet. Er hat seine Tagebücher mit Zitaten aus Horaz, Tacitus, Seneca und anderen Autoren angereichert. Zum Teil waren es wohl Funde aus dem, was er in den regelmäßigen Lateinstunden, die er sich zumindest während des Ruhestands verordnet hatte, gerade las. In der knappen Vorrede zu den Memoiren findet man aber sogar eine Art von Rechtfertigung. In Auseinandersetzung mit Christoph Martin Wieland, dessen „Agathon“ er hier heranzieht, begründet Hardenberg hier, warum Autobiografien geschrieben werden sollten. Unbeteiligte Dritte, so schreibt Hardenberg, würden noch wilder in ihren Unterstellungen bestimmter Motive bei den Handlungen einer historischen Persönlichkeit sein, als der Selbstbiograf sich seiner Eigenliebe hingeben würde.38 Hardenberg würde also, wäre er mit der Autobiografie fertig geworden, diese mit dem Röntgenblick eines Tacitus, dem keine menschliche Schwäche fremd war, geschrieben haben wollen. Allerdings war seine Eigenliebe beträchtlich und hat möglicherweise auch 34  9. März

1821. L 42 Bl. 43–43v. Tagebücher S. 948. 44 Bl. 16; Tagebücher S. 1020. 36  Wegen seiner Asthmaanfälle hatte Hardenberg das Klima der italienischen Ri­ viera aufgesucht. Wie Hardenbergs erster Biograf, Carl Ludwig Klose, schilderte, hat Hardenberg noch an seinem Todestag den preußischen Konsul in Genua empfangen und Depeschen gelesen. Vgl. Hermann, S. 404. 37  Vgl. Erdmann, S. 380; Schulte, S. 59. 38  Ranke, Denkwürdigkeiten Bd. 2, S. 1 f. 35  L

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zum Charme seiner Persönlichkeit beigetragen. Hardenberg ist nie so bitter geworden wie Stein. Selbstquälerei war seine Sache nicht, und so wären seine Memoiren vielleicht ähnlich ausgefallen wie die 1798 abgeschlossene riesige Lebensgeschichte Giacomo Casanovas, der in seiner Einleitung ankündigt, der Leser werde bei ihm Züge finden, „die einer Generalbeichte zustehen, obschon du im Stil meiner Berichte weder das Gehabe eines Büßers noch die Schuldgefühle eines Menschen finden wirst, der errötend über seine losen Streiche Rechenschaft ablegt“.39 Der Leser erkennt schnell, dass Casanova die Wahrheit zumindest sehr unvollständig ausbreitet, denn man versteht nicht, warum an so vielen Orten Europas immer wieder Polizei und Justiz gegen ihn vorgegangen sind. So erfährt man auch nicht, weshalb Stein Hardenberg verachtete – dazu muss man bei Stein nachlesen, dass er Hardenberg für einen verweichlichten, manipulierbaren Lüstling hielt.40 Aber wir wissen ja, der Mensch kann seine Lebensgeschichte gar nicht betrachten, ohne ihr einen Zusammenhang und einen Sinn zu geben. Diesen Zusammenhang hat im Fall Hardenbergs die Außenwelt hergestellt.

Literatur Botzenhart, Erich/Hubatsch, Walther (Hg.): Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften. Bd. 5, Stuttgart 1964. Casanova, Giacomo, Chevalier de Seingalt: Geschichte meines Lebens. Hg. u. eingel. von Erich Loos. Erstmals nach der Urfassung ins Deutsche übersetzt von Heinz von Sauter. Bd. 1, Berlin/Darmstadt/Wien 1965. Durchhardt, Heinz: Stein. Eine Biographie, Münster 2007. Erdmann, Karl Dietrich: Zur Echtheit der Tagebücher Kurt Riezlers. Eine Antikritik, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), S. 371–402. Erdmann, Karl Dietrich (Hg.): Kurt Riezler. Tagebücher, Aufsätze, Dokumente. Neuausgabe mit einem Vorwort von Holger Afflerbach, Göttingen 2008 [zuerst 1972]. Hassel, Paul: Geschichte der preußischen Politik 1807–1815. Theil 1. 1807/1808, Leipzig 1881. Hermann, Ingo: Hardenberg. Der Reformkanzler, Berlin 2003. Herrmann, Ludger: Die Herausforderung Preußens. Reformpublizistik und politische Öffentlichkeit in napoleonischer Zeit (1789–1815), Frankfurt a. M. u. a. 1998. Langewiesche, Dieter: In dieser Welt war ihm keine Ruhe vergönnt. Vor 250 Jahren wurde der Mann geboren, der Preußen veränderte: Die Tagebücher des Reformers Hardenberg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. Mai 2000, S. 57. 39  Casanova, S. 65. Vgl. die Interpretation der sichtbaren Bestattung von Hardenbergs Herz bei Hermann, S. 14. 40  Vgl. Stamm-Kuhlmann.



Die Tagebücher Karl August von Hardenbergs99

[Lombard, Johann Wilhelm]: Matériaux pour servir à l’histoire des années 1805, 1806, 1807 dediés aux Prussiens par un ancien compatriote, Paris 1808 (auch Frankfort, Leipsic 1808). [Lombard, Johann Wilhelm]: Materialien zur Geschichte der Jahre 1805, 1806 und 1807, seinen Landsleuten zugeeignet von einem Preußen, Frankfurt und Leipzig 1808. Ranke, Leopold von (Hg.): Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg. Bd. 1. Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg bis zum Jahre 1806, Leipzig 1877. Ranke, Leopold von (Hg.): Denkwürdigkeiten des Staatskanzler Fürsten von Hardenberg. Bd. 2 u. 3. Eigenhändige Memoiren des Staatskanzler Fürsten von Hardenberg, Leipzig 1877. Ranke, Leopold von (Hg.): Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg. Bd. 4. Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg vom Jahre 1806 bis zum Jahre 1813, Leipzig 1877. Ranke, Leopold von (Hg.): Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg. Bd. 5. Actenstücke zu den Denkwürdigkeiten des Fürsten von Hardenberg, Leipzig 1877. Schmitz, Christian: Die Vorschläge und Entwürfe zur Realisierung des preußischen Verfassungsversprechens 1806–1819. Eine rechtlichen Bilanz zum Frühkonstitutionalismus der Stein-Hardenberg’schen Reformzeit, Göttingen 2010. Schulte, Bernd F.: Die Verfälschung der Riezler-Tagebücher. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der 50iger und 60iger Jahre, Frankfurt a. M. u. a. 1985. Simms, Brendan: Insulare und kontinentale Politik. Hardenberg und England, 1795– 1815, in: Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.): „Freier Gebrauch der Kräfte“. Eine Bestandsaufnahme der Hardenberg-Forschung, München 2001, S. 61–64. Sösemann, Bernd: Die Tagebücher Kurt Riezlers. Untersuchungen zu ihrer Echtheit und Edition, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), S. 327–369. Stamm-Kuhlmann, Thomas (Hg.): Karl August von Hardenberg 1750–1822. Tage­ bücher und autobiographische Aufzeichnungen, München 2000. Stamm-Kuhlmann, Thomas: Stein und Hardenberg. Reformer auf getrennten Wegen, in: Heinz Duchhardt (Hg.): Stein. Die späten Jahre des preußischen Reformers 1815–1831, Göttingen 2007, S. 99–121. Tschirch, Otto: Geschichte der öffentlichen Meinung in Preußen im Friedensjahrzehnt vom Basler Frieden bis zum Zusammenbruch des Staates 1795–1806, 2 Bde., Weimar 1933–1934.

Beglaubigte Selbstrechtfertigung oder skeptische Selbsthistorisierung? – Überlegungen zu Strategien der Einbindung von Briefen und Tagebüchern in Autobiographien des 20. Jahrhunderts Von Sebastian Rojek

I. Die Literaturwissenschaft ist aufgrund „der spezifischen Welthaltigkeit i­hres Gegenstandes“ immer schon interdisziplinär angelegt.1 Es verwundert daher nicht, dass etwa die Germanistik mindestens seit den 1960er Jahren konstant eine Offenheit gegenüber anderen Wissenschaften aufweist.2 Die hermeneutische Fundierung der Literaturwissenschaft3 ermöglicht dabei eine enge Überschneidung zwischen verschiedenen Geisteswissenschaften und insbesondere mit der Historiographie.4 Nichtsdestotrotz unterscheiden sich die Zugriffe auf bestimmte Gegenstände in Erkenntnisinteresse oder Perspektive. Einzelne literarische Gattungen mögen von der Geschichtswissenschaft stärker als Quelle begriffen werden, die in rekonstruierender Absicht dem Zugriff auf die Vergangenheit dienen sollen, während hingegen die Literaturwissenschaft dieselben eher in ihrer sprachlichen Verfasstheit wahrnehmen mag. Eine Kombination dieser mehr oder weniger unterschiedlichen Zugriffe kann für beide Seiten erkenntnisfördernd ausfallen. Nicht zuletzt deshalb berücksichtigen neuere Einführungen in die historische Interpretation von Textquellen auch methodische Anregungen literaturwissenschaftlicher Provenienz.5 Vor diesem Hintergrund sind in den letzten Jahren speziell Auto­ 1  Wagner-Egelhaaf,

Interdisziplinarität, S. 99. Martus/Thomalla/Zimmer, bes. S. 77, S. 89–91. 3  Vgl. den exzellenten Überblick bei Brenner, bes. S. 5–203, S. 285–322. 4  Vgl. Wagner-Egelhaaf, Interdisziplinarität, S.  102; Fulda, Geschichtswissenschaft, bes. S. 450. Vgl. für ein Verständnis der Hermeneutik – im Sinne einer Kunstlehre des Verstehens – als Grundlage der Geisteswissenschaften Hartmann. 5  Vgl. den Band von Dobson/Ziemann (Hg.), sowie hier insbesondere den Beitrag von Reinfandt. 2  Vgl.

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biographien zum Gegenstand einer literaturwissenschaftlich sensiblen Geschichtswissenschaft bzw. einer historisch stärker kontextualisierten Literatur- und Rhetorikforschung gemacht worden.6 In Anbetracht dessen hat der vorliegende Beitrag zum Ziel, drei literarische Genera in ihrem Zusammenspiel zu beobachten. Es geht darum zu skizzieren, inwiefern und mit welchen Absichten Autoren ihre Briefe und/ oder Tagebücher als Quellen in ihre autobiographischen Erzählungen eingebracht haben. Dabei lassen sich grundsätzlich mindestens vier verschiedene Verwendungsweisen unterscheiden: Erstens können Briefe oder Tagebücher während des Schreibprozesses herangezogen worden sein, ohne allerdings offengelegt zu werden. Zweitens können diese Texte selbst teilweise oder vollständig zitiert werden und damit einen Realitätseffekt unterstützen, indem unmittelbar auf eine außertextuelle Wirklichkeit referiert wird. Drittens ist es Autoren möglich, die zeitgenössischen Papiere in einem Anhang beizugeben, sodass sie einen dokumentarischen Wert gewinnen. Viertens können einzelne Dokumente als Photographie oder Faksimile präsentiert werden, um deren Authentizität zu unterstreichen. Im Ergebnis kann die Berücksichtigung dieser unterschiedlichen Varianten, wie zeitgenössische Texte in Autobiographien eingebracht werden, zu einem besseren Verständnis der retrospektiven Erzählung führen. Um hierzu einen Beitrag zu leisten, geht der Aufsatz in drei Schritten vor: Zunächst werden die Spezifika der jeweiligen Gattungen herausgearbeitet (II.), bevor dann am Beispiel der „Erinnerungen“ des Großadmirals Alfred von Tirpitz die Rolle von Briefen (III.) und anschließend anhand von Peter Schneiders „Mein 68“ in vergleichender Weise die Funktion eines Tagebuchs beleuchtet wird (IV.). Hierbei werden zwei Strategien herausgearbeitet, die vor dem Hintergrund ihres jeweiligen Kontextes deutlich machen, wie Autoren auf ihre Papiere zurückgegriffen haben. Dabei geht es im Folgenden nur um solche Fälle, in denen der Bezug auf solche Dokumente für die Leser transparent gemacht wird.

II. Briefe und Tagebücher auf der einen und Autobiographien auf der anderen Seite unterscheiden sich vor allem durch die temporale Schreibposition ihrer Autoren. Für die Geschichtswissenschaft stellt das Medium Brief primär eine Quelle dar, die als Teil amtlicher Überlieferung oder als privates Selbstzeugnis erscheint und somit einen Zugang zu subjektiven Deutungen eröffnen 6  Vgl. lediglich Sloterdijk; Günther; Depkat (2003); ders. (2007); Heinze; Depkat/ Pyta (Hg.); Sabrow (Hg); Kremer; Wagner-Egelhaaf (2005); perspektivenreich dies. (Hg.), Handbook.



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kann, die zugleich aufgrund ihrer Adressatenbezogenheit Einblicke in das Geflecht aus gesellschaftlichen Erwartungen, Kommunikationsformen und zeitgenössischen Semantiken der Weltaneignung bietet.7 Definiert man die Gattung Brief als eine mehr oder weniger kurze schriftliche Mitteilung an einen abwesenden Adressaten, die ein mündliches Gespräch ersetzt, so sagt das noch wenig über die Form aus. Epistolares Schreiben kann die ganze Spanne der kurzen Gebrauchsform bis hin zur literarisch anspruchsvollen Kunstform abdecken.8 Da sich Briefe in aller Regel als datierte Aufzeichnungen darstellen, in denen sich ein bestimmter Kommunikationsvorgang über einen längeren Zeitraum entfaltet (vorausgesetzt es sind Briefserien überliefert), bietet sich das Potential, Ereignisse und ihre interpretative Aneignung in ihrem Wandel zu beobachten. Briefautoren schreiben in eine offene Zukunft hinein, sie entwerfen also keine mehr oder weniger abgeschlossene Erzählung, sondern sind gezwungen, immer wieder Adaptierungen vorzunehmen, ihre Deutungen und Selbstentwürfe an das Geschehen oder die Reak­ tionen ihrer Briefpartner oder sich wandelnde politisch-gesellschaftliche Bedingungen anzupassen. Ganz ähnliche Merkmale lassen sich für das Medium des (zumeist privaten) Tagebuchs feststellen. Tagebücher können inklusive der Materialität ebenfalls eine breite Formenvielfalt umfassen, von kurzen Notizen in einem Taschenkalender bis hin zu reichhaltig ausgestatteten und in Leder gebundenen Bänden repräsentativen Charakters. Bei all diesen Varianten handelt es sich – so das Minimalverständnis – um eine Textform, in welcher der Schreibende anhand datierter Aufzeichnungen über sein eigenes Leben oder über Ereignisse berichtet, die er beobachtet oder von denen er gehört hat. Analog zum Brief fehlt auch hier die Möglichkeit, eine abgeschlossene Erzählung zu konstruieren, da auch diaristisches Schreiben vor dem Hintergrund einer offenen Zukunft stattfindet.9 Eine Sonderform, die hier ausgeklammert bleibt, bilden literarische10 oder retrospektiv stark bearbeitete Diarien.11 Denn für Henning; Dobson; Depkat (2011); Maurer; Latzel (1997); ders. (1999). insgesamt Nickisch; Schuster/Strobel; breiter Überblick über die Formen bei Beyrer/Täubrich (Hg); zur Frage des Gattungscharakters: Wolfgang Müller (1985); ders. (2009). 9  Vgl. zu den Spezifika des Tagebuchs Lejeune; Steuwer/Graf, bes. S. 27–35; Steuwer, S. 20–35. 10  Vgl. zu den Problemen sogenannter literarischer Tagebücher auch die Ausführungen im Beitrag von Albrecht/Pyta in diesem Band sowie Löcht, S. 19–28, S. 359, die für die Unterscheidung zwischen autor- und fremdpublizierten Tagebüchern plädiert; ein eindrückliches Beispiel bietet Saal, bes. S. 346, S. 367–375. 11  Ein Beispiel bilden die umfassend ausgestatteten und mit großem Aufwand gestalteten 54 Tagebuchbände des Fregattenkapitäns Bogislav von Selchow, der seine Aufzeichnungen immer wieder überarbeitete und Querverweise einbaute. Vgl. hierzu Epkenhans, bes. S. 165–166, Anm. 5. 7  Vgl. 8  Vgl.

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sie gilt nicht, was der Literaturwissenschaftler Philippe Lejeune für Tage­ bücher im eigentlichen Sinne konstatiert: „Das Tagebuch ist auf die Zukunft ausgerichtet. Ich ziehe die Bilanz von heute, um mich auf das Handeln im Morgen vorzubereiten.“12 Diese temporale Ausrichtung ist es, die möglicherweise den zentralen Reiz für Historiker ausmacht, sich diesen Quellen zuzuwenden. Tagebücher erscheinen noch weitgehend unverstellt von nachträg­ lichen Deutungen und erlauben es der historischen Rekonstruktion deshalb, den zeitgenössischen Möglichkeitsraum und die Verhältnisse zwischen „Erfahrungsraum und Erwartungshorizont“13 auszumessen und so kontingenzbewusste Erzählungen des vergangenen Geschehens unter Rückgriff auf diese Quellen zu erzeugen. Kurzum: Es ist das jeweils spezifische Verhältnis zwischen Vergangenheit und Zukunft, das epistolares und diaristisches Schrei­ben auszeichnet und von Autobiographien unterscheidet. Autobiographien oder Memoiren stellen ein notorisch schwer zu bestimmendes Genre dar.14 Jedoch lassen sich einige Merkmale identifizieren, anhand derer sich diese Gattung pragmatisch von anderen abgrenzen lässt. Hierzu zählt insbesondere die Schreibposition. Autobiographisches Schreiben betrachtet das Geschehen aus der Retrospektive und erzählt auf einen gegenwartsnahen Zielpunkt hin. Deshalb geben solche Texte nur sehr vermittelt Aufschluss über Deutungen und Sichtweisen in der Vergangenheit. Sie ermöglichen vielmehr Erkenntnisse über die Perspektiven und Urteile zum Zeitpunkt der Abfassung.15 Der suchende Blick des Forschers verschiebt sich so von der Frage nach dem tatsächlichen Geschehen auf die Frage nach der Art, wie die Vergangenheit erzählt wird.16 Diese Texte erscheinen somit, wie der Historiker Volker Depkat formuliert hat, als „Akte sozialer Kommunikation, die in der Konfrontation mit einer äußeren Realität gründen“.17 Diese äußere Realität bedingt in der Regel ein für autobiographische Werke konstitutives Rechtfertigungsbedürfnis.18 Um ihre vergangenen Sichtweisen zu begründen, bieten sich den Autoren zwei zentrale Erzählvarianten: Sie können entweder eine Kontinuitäts- oder eine Konver­ 12  Lejeune,

S. 44. klassisch Koselleck. 14  Für die Zwecke historischer Untersuchungen erscheint die gelegentlich vorgeschlagene Differenzierung zwischen Memoiren und Autobiographien wenig hilfreich. Beide Ausdrücke werden im Folgenden synonym verwendet. Vgl. Brechtken, S. 18– 19; Depkat (2003), S. 455; Wagner-Egelhaaf (2005), S. 52–57, S. 104. 15  Dies ist etwa gerade dann zu beachten, wenn Autobiographien erst aus dem Nachlass publiziert oder in mehreren Bänden über einen langen Zeitraum hinweg verfasst werden. 16  Vgl. Depkat (2003); Carlson; Fischer-Rosenthal, bes. S. 44–46. 17  Depkat (2003), S. 454. 18  Vgl. Gusdorf, S. 36–39; Fischer-Rosenthal, S. 52–53. 13  Vgl.



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sionsbiographie verfassen.19 Im Falle der Kontinuitätserzählung dominieren „Redefiguren des damals wie jetzt“, während im Falle der Konversion die Figur des „damals und jetzt“20 deutlich macht, dass das schreibende Ich die Dinge inzwischen anders sieht. Gerade diese temporale Spannung kann für die Autoren aber zum Problem werden und ihre Rechtfertigungsabsicht durchkreuzen. Der Text selbst muss nämlich in der Kommunikation mit dem Leser Vertrauen in die Wahrhaftigkeit der Aussagen aufbauen. Hierbei können zahlreiche rhetorische Strategien zum Einsatz gebracht werden, wie etwa die Analyse der apologetischen Memoiren führender Akteure des „Dritten Reiches“ nach 1945 enthüllt.21 Jenseits dessen können die Autoren aber auch zeitgenössische Texte präsentieren, die dazu dienen, ihre Positionen zu beglaubigen oder aber einen Wandlungsprozess zu dokumentieren. Die Quellen, die in der Zeit, über die berichtet wird, selbst entstanden sind, können als Zitat, als Anhang oder als Reproduktion im Text präsentiert werden, sofern sie nicht implizit in die Textkonstitution eingegangen sind. Sie bringen dann ein anderes temporales Verhältnis zum Ausdruck und sind gerade dadurch geeignet die gewählte Erzählstrategie zu unterstützen und beim Leser um Vertrauen zu werben.22 Die Darstellung präsentiert den Autor dann nicht nur als ordnenden Erzähler, der zugleich mit der Hauptfigur identisch ist, sondern als jemanden, der ebenso in anderen temporalen Schreibpositionen steht. Durch den Bezug auf zeitgenössische Texte können sich Autoren entweder in Kontinuität zu ihren früheren Positionen präsentieren oder aber als reflektierte Akteure, die einen Lernprozess auf dem Weg zur Gegenwart ausweisen. Zugleich dienen diese Dokumente auch dazu, den Anspruch auf Faktizität zu unterstützen, indem sie auf die außertextuelle Wirklichkeit verweisen. Diese unterschiedlichen Funktionen gilt es im Folgenden an zwei empirischen Beispielen genauer zu untersuchen.

III. Als im November 1918 der Erste Weltkrieg mit der Niederlage des Deutschen Reiches endete, stand bald die Frage im Raum, wer für dieses Ergebnis und seine Folgen verantwortlich war. In der Weimarer Republik erhöhte sich deshalb der Rechtfertigungsdruck auf die ehemals zuständigen Akteure aus Politik und Militär. Es verwundert daher nicht, dass diese sich bemühten – zu dieser Unterscheidung Sabrow, S. 18–24. (2003), S. 462 (kursiv i. O.). 21  Vgl. hierzu exzellent Kremer. 22  Deshalb füllten beispielsweise die Ghostwriter des Prinzen Max von Baden dessen Memoiren mit zahlreichen Dokumenten an. Vgl. hierzu Machtan, bes. S. 495; allg. Günther, S. 33. 19  Vgl.

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wie der Historiker Johannes Ziekursch schon 1919 erkannte – „ihre Erlebnisse und Eindrücke, ihren Anteil an den Ereignissen vor und während des Krieges in Memoiren eiligst darzustellen“.23 Besonders stark lastete das Rechtfertigungsbedürfnis auf Großadmiral Alfred von Tirpitz (1849–1930). Der Staatssekretär des Reichsmarineamts war für die um die Jahrhundertwende begonnene Flottenrüstung verantwortlich. Mit großem Propagandaaufwand war Tirpitz vor 1914 zum Gesicht der Flottenpolitik stilisiert worden und verkörperte geradezu die Weltmachtambitionen des Kaiserreichs, die durch eine starke Marine erreicht werden sollten. Im Krieg allerdings stellte sich die unter Aufwendung erheblicher finanzieller Mittel gebaute Flotte als strategische Fehlrüstung heraus, so dass die Einheiten größtenteils untätig in den Häfen verblieben und der alliierten Blockade wenig entgegensetzen konnten. Weder der nach langwierigen Debatten schließlich eröffnete uneingeschränkte U-Bootkrieg noch die einzige große Seeschlacht im Sommer 1916 konnten das Blatt noch wenden. Stattdessen dominierte ein Bild, das die Zeitgenossen in den Vers bannten: „Lieb Vaterland magst ruhig sein, die Flotte schläft im Hafen ein.“24 Als die schweren Seestreitkräfte schließlich im Oktober 1918 doch noch eine letzte Konfrontation mit der Royal Navy suchen sollten, meuterten die Matrosen und die Kriegsschiffe des Deutschen Reiches wurden im Zuge des Waffenstillstands von den Briten interniert. Am 21. Juni 1919 versenkten die internierten Matrosen die Hochseeflotte schließlich selbst. Angesichts dieses Kriegsausgangs sahen sich Tirpitz und die Marine schon bald massiven Vorwürfen ausgesetzt, die von der Kriegsschuld über die falschen Versprechungen bezüglich der Leistungsfähigkeit der ­U-Boote bis zur Verantwortung für das revolutionäre Ende der Monarchie und die Niederlage reichten.25 Aufgrund der ungünstigen Lage für die Seestreitkräfte empfand Tirpitz bereits während des Krieges einen hohen Rechtfertigungsdruck.26 Er plante schon mitten im Krieg, „einmal vor der Geschichte gerechtfertigt dazu­ stehen“.27 Dieser Erwartung hingen auch seine Unterstützer an, denn der Großadmiral vertrete „nun einmal die Flotte vor d.[er] Nation u.[nd] Geschichte“ und müsse daher „Rechenschaft“ ablegen „über ihre Verwen­ 23  Ziekursch, S. 441. Vgl. zur Memoirenflut in der frühen Weimarer Republik Hans-Harald Müller (1986), S. 20–35; ders. (2002), S. 776–777; Krethlow, S. 10; Pöhlmann; Barth, S. 321–332. 24  Stumpf, S. 25. 25  Vgl. ausführlich zur Flottenrüstung, Tirpitz’ Image und dem Verlauf des Seekriegs Rojek, S. 58–253. 26  Vgl. z. B. Tirpitz an Capelle (19/20.03.1915), in: BA-MA, Freiburg, N 170/1, Bl. 8–9; Schulze an Tirpitz (17.04.1916), in: ebd., N 253/170, Bl. 37–39; Tagebucheintrag bei Hopmann, S. 420 (29.08.1914). 27  Tirpitz an Schulze (31.03.1916), in: BA-MA, Freiburg, N 253/170, Bl. 35–36.



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dung“.28 Bei diesem Vorhaben sollte dem Großadmiral der rechtskonservative Historiker Fritz Kern29 zur Seite stehen, den er in der sogenannten Vaterlandspartei kennengelernt hatte. Kern sorgte sich in einem Brief an Tirpitz schon im Sommer 1918 um das Negativimage der Seestreitkräfte: „Die heutige Stimmung gegenüber der Flotte ist bis ins Hauptquartier und die konservative Partei hinein eine schlechte. Die Enttäuschung über den U-Bootskrieg […] hat ein Gefühl gegen die Flotte hervorgebracht, welches für ihre Weiterentwicklung stärkste Gefahren birgt.“30 Der Geschichtsprofessor empfahl, Tirpitz solle durch die Publikation von Memoiren eine Rechtfertigung der Flotte liefern, um „die Marine auch in den kommenden Jahren geistig zu leiten.“31 Vor diesem Zielhorizont entstanden in den folgenden Monaten die schlicht „Erinnerungen“ betitelten Memoiren des Großadmirals. Kern fungierte hierbei als Ghostwriter und scheint tatsächlich erhebliche Teile des Buches selbstständig verfasst zu haben. Dabei griff er sowohl auf Aktenbestände als auch Befragungen seines Protagonisten zurück. Tirpitz wiederum las die fertiggestellten Kapitel Korrektur und äußerte Änderungswünsche.32 Hinzu traten weitere ehemalige Offiziere aus Tirpitz’ Umfeld, die ebenfalls Teile korrigierten und ihre Wünsche an das Buch formulieren konnten.33 Einmal mehr enthüllt diese Konstellation, dass Autobiographieproduktion oftmals ein „in mehrfacher Hinsicht kollektiver Prozess“ ist.34 Der Öffentlichkeit blieben diese Zusammenhänge allerdings unbekannt. So dankte Tirpitz seinem Schreiber Fritz Kern lediglich formelhaft im Vorwort des Buches, ohne dessen zentrale Rolle bei der Entstehung zu offenbaren.35

28  Trotha an Tirpitz, zitiert nach Tirpitz an Capelle (19/20.03.1915), in: BA-MA, Freiburg, N 170/1, Bl. 8–9, hier Bl. 9. 29  Vgl. zur Person Schillings; Faulenbach; primär auf Kerns Arbeiten zur mittel­ alterlichen Geschichte konzentriert Liebrecht. 30  Kern an Tirpitz (14.08.1918), in: BA-MA, Freiburg, N 253/456, Bl. 1–5, hier Bl. 1. 31  Kern an Tirpitz (01.10.1919), in: BA-MA, Freiburg, N 253/456, Bl. 71–73, hier Bl. 73. 32  Vgl. Besprechung der Denkschrift: Über die ‚Erinnerungen‘ (o.  D., vermutl. zweite Hälfte 1918), in: BA-MA, Freiburg, N 253/467, Bl. 9–31; Kern an Tirpitz (12.10.1918), in: ebd., N 253/456, Bl. 11. 33  Vgl. Tirpitz an Kern (20.03.1919), in: BA-MA, Freiburg, N 253/456, Bl. 20; Mann an Wolfgang v. Tirpitz (14.03.1919), ebd., N 253/257, Bl. 70; Mann an Hassell (20.03.1919), ebd., Bl. 71; Mann an Tirpitz (14.05.1919), ebd., Bl. 72–73. 34  Depkat (2003), S. 453; ders./Pyta (2017), S. 14–15. 35  Tirpitz (1919), S. VII. Die Verschleierung von Ghostwritern scheint für politische Memoiren in Deutschland generell eher die Regel als die Ausnahme zu sein; siehe hierzu Brechtken, S. 33–37, S. 41.

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Inhaltlich verfolgte das Werk des Großadmirals im Wesentlichen das Ziel, den Tirpitz’schen Flottenbau zu rechtfertigen, ihn von dem Vorwurf der Kriegsschuld freizusprechen und den Aufbau einer starken Flotte für die Zukunft erneut zu empfehlen. Zu diesem Zweck wälzte das Buch die Verantwortung für sämtliche negativen Entwicklungen hauptsächlich auf Reichskanzler Bethmann Hollweg sowie auf linke und demokratische Kreise ab. Tirpitz erschien als ein Mann, der von Beginn an gewusst hatte, was zu tun sei, aber von uneinsichtigen Personen immer wieder zurückgehalten worden sei. Hätte man auf ihn gehört, so der wiederkehrende Tenor, dann wäre der Krieg für Deutschland siegreich ausgegangen.36 Ein solcher rechtfertigender Rückblick auf die Leistungen im Weltkrieg war auch deshalb wichtig, um die eigene Person wieder als politische Führungsfigur für die Zukunft empfehlen zu können.37 Als die Memoiren im Oktober 1919 schließlich in den Buchhandel gelangten, war ein Werk fertiggestellt, an dessen Entstehung neben Tirpitz und Fritz Kern auch zahlreiche andere Marineoffiziere aus dem unmittelbaren Umfeld des Großadmirals beteiligt gewesen waren. Sie alle hatten ihre Erwartungen an das Buch einbringen können, so dass schließlich eine konsensfähige Erzählung entstanden war, die innerhalb der Marine und mindestens auch in konservativen Kreisen plausibel wirken konnte. Diese Erzählung lässt sich als Kontinuitätsbiographie klassifizieren, da grundsätzlich eine Redefigur dominiert, die darauf abhebt, dass Tirpitz noch immer dieselben Ziele vertrat wie ehedem und auch durch die Niederlage des Weltkriegs nicht in seinen Überzeugungen erschüttert worden war. Tirpitz externalisierte sämtliche Fehler und Probleme. Sein Plan und seine Empfehlungen während des Krieges, so die Botschaft, hätten dem Reich den sicheren Sieg bringen können.38 Durch die Betonung der Kontinuität konnte Tirpitz darauf rechnen, dass ihm insbesondere die politische Rechte dieses Festhalten an einmal gesetzten Prinzipien über alle Brüche hinweg als Ausweis besonderer Authentizität und Standhaftigkeit auslegen würde, kam doch in der politischen Kultur dieser Kreise Prinzipientreue ein besonderer Wert zu.39 Zugleich war es ein markantes Kennzeichen der allgegenwärtigen Führererwartung in der Weimarer Republik, dass Anwärter auf die Rolle eines politischen Führers, ein Leben von „hoher biographischer Kontinuität“ aufweisen mussten.40 Der Großadmiral galt seinen Anhängern und Sympathisanten also gerade nicht als politi36  Vgl. zur Analyse der von Tirpitz angebotenen Erzählung ausführlich Rojek, S. 277–284. 37  Vgl. Föllmer, S. 185–187. Vgl. zu Tirpitz’ politischen Ambitionen und Aktivitäten in der Weimarer Republik Scheck, S. 82–212; Kelly, S. 430–443. 38  Vgl. ausführlich zur entfalteten Erzählung Rojek, S. 277–285. 39  Vgl. Mergel (2002), S. 268–269; Kessel, S. 61. 40  Mergel (2005), S. 118.



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scher Konjunkturritter, der sich ähnlich wie die „Vernunftrepublikaner“41 letztlich auf den Boden der neuen Demokratie gestellt hatte. Doch wie konnte Tirpitz seine Prinzipientreue belegen, und wie konnte er plausibel machen, dass er wirklich schon während des Krieges zentrale Probleme erkannt und unermüdlich für eine andere Art der Seekriegführung gekämpft habe? Diesen Zweck sollten ein längerer Anhang mit Privatbriefen aus dem Zeitraum von August 1914 bis August 1915 sowie einige Dokumente zur Schiffsbaupolitik erfüllen.42 Der Großadmiral und sein Ghostwriter banden diese Dokumente in der Regel nicht in den Haupttext sein, sondern etablierten eine zweite Ebene der Erzählung, welche die temporale Schreibposition der zeitgenössischen Quellen nicht unmittelbar in die retro­ spektive Darstellung integrierte. Dies mochte einen Authentizitätseffekt erzielen, folgten die Rezipienten doch der Ausfaltung der Tirpitz’schen Gedanken unmittelbar im Fluss der Zeit. Nichtsdestotrotz verwiesen beide Teile aufeinander, da die Briefe ohne den Kontext, den der Haupttext lieferte, kaum verständlich waren. Zugleich unterlagen die Briefe der Auswahl und Kürzung des ehemaligen Staatssekretärs und seines Ghostwriters. Tatsächlich besteht der unter den Titel „Aus meinen Kriegsbriefen“ gestellte Anhang größtenteils aus kürzeren Einträgen, die mit Orts- und Datumsangabe versehen sind. In der Einleitung des Anhangs ist deshalb auch von „tagebuchartigen Aufzeichnungen die Rede“.43 Angesichts der Kürzungen ist bei den meisten Dokumenten gar nicht erkennbar oder angegeben, ob es sich um tägliche Notizen oder um Briefauszüge handelt. Viel wichtiger als solche Feinheiten war es für den Großadmiral, deutlich zu machen, dass diese aus einer anderen Schreibposition hervorgegangen waren, als die Memoiren, um so einen Beglaubigungseffekt erzielen zu können. So heißt es im Text, die Aufzeichnungen „bildeten eine nicht unwichtige Ergänzung […] vor allem weil sie zeigen, daß die in ihnen niedergelegten Ansichten nicht nach be­ endetem Krieg entstanden sind, sondern sich in allen wesentlichen Punkten mit meiner B ­ eurteilung während des Kriegsverlaufs deckten.“44 Eine solche Funktion konnte der Dokumentenanhang aber nur im Zusammenspiel mit dem Haupttext erfüllen, der den erzählerischen Rahmen und die Interpreta­ tionen vorgab, anhand derer die – wohl gemerkt gekürzten und selektierten – Auszüge erst zur Legitimationsquelle der Memoiren werden konnten. Wie sehr Tirpitz und sein Ghostwriter sich dieser Funktion bewusst waren, zeigt die Publikationsgeschichte des Buches. Denn zwei Monate bevor das Werk in den Handel kam, erschienen plötzlich Auszüge aus den sogenannten Wirsching sowie die Beiträge in diesem Band. Tirpitz (1919), S. 393–503. 43  Ebd., S. 393. 44  Ebd. 41  Vgl. 42  Vgl.

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Kriegsbriefen in der Presse. Tirpitz und Fritz Kern waren schockiert, als sie feststellten, dass einer der befreundeten Korrekturleser jene Auszüge bereits vor dem Erscheinungsdatum an die Medien weitergereicht hatte.45 Damit waren nun die Briefe bereits ohne die Beziehung zum Haupttext an die Öffentlichkeit gelangt. Kern befürchtete deshalb „ein schiefes Bild vom Buch“, beruhigte sich und den Großadmiral aber zugleich mit der Feststellung, dass dieses „Geschreibsel“ zur Folge habe, „daß das Buch einmal heraus [gemeint: erschienen ist, S. R.] gelesen wird“.46 Doch Tirpitz war inzwischen der Ansicht, „dass die Beifügung der Kriegsbriefe ein Fehler gewesen ist, sowohl vom allgemein politischen Standpunkt, als im Interesse meiner persönlichen Stellung. Für die Reklame mögen die Briefe nützlich gewesen sein, aber nicht für mich, und nicht für die Sache“.47 Diese Sorge speiste sich vor allem daraus, dass die Briefe ein überaus negatives Bild der politischen Führung im Kriege insbesondere Kaiser Wilhelms II. zeichneten. Ohne die Verbindung mit dem Haupttext war somit relativ einfach eine „Ausplünderung der Briefe“48 möglich, die den Großadmiral bei Konservativen und Monarchisten Kredit kosten konnte. Tatsächlich bedeutete es für Tirpitz einigen kommunikativen Aufwand, um in der Folgezeit in privaten Briefwechseln mit den Anhängern der Hohenzollern seine Position wieder abzusichern, indem er einen Standpunkt bezog, der der Monarchie lediglich die Funktion zubilligte, nationalen Interessen zu dienen. In diesem Sinne rangierten Marine und Nation über der Monarchie – eine Position, die sich nach dem Sturz der Dynastien auch in nationalen und konservativen Kreisen verbreitete.49 Im Ergebnis der ganzen Affäre um die zu früh an die Öffentlichkeit gelangten Dokumente blieb allerdings ein positiver Werbeeffekt bestehen, denn die Enthüllungen der Briefe mussten notgedrungen auch das Interesse an dem Gesamtwerk anheizen. Kern ging deshalb davon aus, dass „auch das richtige Verständnis der Briefe“ sich dann einstellen werde, wenn die Leser die ganze Monographie rezipieren würden.50 Tatsächlich verkaufte sich das Buch mitsamt dem Briefanhang ausgesprochen gut und der Verlag erlaubte dem Großadmiral deshalb erst nach Jahren – als die Nachfrage langsam zu45  Vgl. Kern an Tirpitz (17.08.1919), in: BA-MA, Freiburg, N 253/456, Bl. 42–44; Kern an Tirpitz (23.08.1919), ebd., Bl. 45–50; Kern an Tirpitz (26.08.1919), ebd., Bl. 53–54; Tirpitz an Kern (26.08.1919), ebd., Bl. 55–56; Kern an Tirpitz (28.08.1919), ebd., Bl. 57–61; Roselius an Tirpitz (10.09.1919), ebd., N. 253/261, Bl. 313; Kern an Tirpitz (01.09.1919), ebd., N 253/171, Bl. 61–63. 46  Kern an Tirpitz (23.08.1919), in: BA-MA, Freiburg, N 253/456, Bl. 49 (Unterstreichung i. O.). 47  Tirpitz an Kern (26.08.1919), in: BA-MA, Freiburg, N 253/456, Bl. 56. 48  Kern an Tirpitz (28.08.1919), in: BA-MA, Freiburg, N 253/456, Bl. 57. 49  Vgl. Rojek, S. 270–274. 50  Kern an Tirpitz (04.09.1919), in: BA-MA, Freiburg, N 253/456, Bl. 65.



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rückging – eine gekürzte Volksausgabe herauszubringen.51 Tirpitz’ Neffe Erich Edgar Schulze, der während des Krieges beim Marinekorps in Flandern gedient hatte, übernahm die Aufgabe, das Buch zu kürzen.52 Jetzt, nachdem die Haupterzählung einmal erschienen war, ließen sich die Briefe als zugkräftiges Kaufargument anführen, denn Schulze war sich sicher, dass „der Band lieber gekauft werden wird, wenn es heißt: es sind die wichtigsten Kriegsbriefe darin“.53 Die ganze Sorge um die Briefe löste sich also nach und nach in Luft auf, als deutlich wurde, dass die autobiographische Erzählung diese wirkungsvoll ergänzte und gewissermaßen wieder einfing. Nun erschien die Publikation von Dokumenten aus dem Arkanbereich privater oder amtlicher Kommunikation nicht mehr als gefährlich, da den Quellen ein Platz innerhalb der apologetischen Erzählung zukam. Der Großadmiral griff dann auch seinen ursprünglichen Plan wieder auf, die Kriegsbriefe „unter Hinzufügung einer Auswahl, [der] in der Friedenszeit geschriebenen Briefe, später in einem besonderen Buch [zu] veröffentlichen“.54 Zwei Quelleneditionen, die Tirpitz Mitte der 1920er Jahre von seinen Mitarbeitern erstellen ließ, erfüllten im Prinzip dieselbe Funktion wie der Dokumentenanhang seiner Memoiren.55 Während die Originalquellen für Wissenschaftler und Öffentlichkeit in der Regel unzugänglich blieben, konnte der Großadmiral sein Archiv nutzen, um seine Erzählung zu stützen, während alternative Interpretationen ausgeschlossen waren. Durch die kontrollierte Freigabe weiterer Dokumente entstand so ein Zusammenhang von Texten, die wechselseitig aufeinander verwiesen. Die Publikation von Archivmaterial erschien insbesondere deshalb erfolgversprechend, da Archivalien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend einen epistemischen Status gewonnen hatten, der vermeintlich die Wahrheit der Erzählung zu garantieren schien. Diejenigen, die sich auf geheime oder nur schwer zugängliche Akten berufen konnten, konnten so erhebliche Evidenzeffekte erzielen.56 Gerade das geschickt gesteuerte Zusammenspiel aus Texten, die aus unterschiedlichen 51  Vgl. Schulze an Tirpitz (07.07.1920), in: BA-MA, Freiburg, N 253/170, Bl. 88; Schulze an Tirpitz (20.12.1922), ebd., Bl. 126–127, hier Bl. 127. Vgl. zur sogenannten Volksausgabe Tirpitz (1925). 52  Vgl. zur Person Milkereit; Coppi, S. 19–26, S. 42–43 sowie die zahlreichen Hinweise bei Rojek. 53  Schulze an Tirpitz (17.06.1920), in: BA-MA, Freiburg, N 253/170, Bl. 87. 54  Tirpitz an Kern (26.08.1919), in: BA-MA, Freiburg, N 253/456, Bl. 56. 55  Vgl. Tirpitz (1923), ders. (1926); zur Genese dieser Bände Rojek, S. 285–294. 56  Vgl. Eskildsen; Philipp Müller (2004), bes. S. 427–431; ders. (2014). Ungefähr im selben Zeitraum erhöhte ein sich entwickelndes Bewusstsein für den Wert von Nachlässen die Aufmerksamkeit für Schriftsteller-Archivalien, die als Möglichkeit galten, die Werke mit dem Leben ihrer Autoren zu verzahnen. Vgl. Sina/Spoerhase.

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Schreibpositionen hervorgegangen waren, konnten also die Memoiren im Sinne einer Kontinuitätsbiographie legitimieren. Sie unterstützten die Überzeugungsrhetorik der Haupterzählung und ließen kaum Raum für alternative Lesarten, zumal auch die autobiographische Erzählung selbst jedes Bewusstsein für Brüche, Kontingenz oder gar das Eingeständnis von Fehlern vermissen ließ.

IV. Die Integration von Briefen oder Tagebüchern in Autobiographien dient jedoch nicht nur der Absicherung der eigenen Position bei hohem Rechtfertigungsdruck. Eine andere Art des Umgangs lässt sich exemplarisch am Beispiel der Memoiren des Schriftstellers Peter Schneider57 (geb. 1940) beobachten. Im Jahr 2008, pünktlich zum Erinnerungsboom anlässlich der vergangenen 40 Jahre, präsentierte Schneider seinen Rückblick auf die Zeit um 1968 und seine Beteiligung am damaligen Protestgeschehen. Der Schriftsteller hatte bereits 1973 mit der Erzählung „Lenz“58, einer literarischen Aufarbeitung der Studentenbewegung, Prominenz erlangt59 und auch in den Folgejahren immer wieder publizistisch in die „Deutungskämpfe um ‚1968‘ “ interveniert.60 35 Jahre später legte er nun eine „autobiographische Erzählung“ vor.61 Diese wiederum präsentiert sich als eine Auseinandersetzung des Autors mit seinem Tagebuch der fraglichen Jahre. Der eigene Nach- oder treffender Vorlass entfaltete also eine poetische Produktivität.62 1969 war Schneider noch davon ausgegangen, dass gemeinsam mit ihm etwa jeder Dritte diaristisch tätig sei, doch es hat den Anschein, dass eine solche Beschäftigung eher die Ausnahme darstellte, räumten doch die Publikationen des sich entwickelnden linksalternativen Milieus subjektiven Ausdrucksweisen ungewöhnlich viel Platz ein und übernahmen damit gewissermaßen eine relevante Funktion des Tagebuchs.63 Angesichts der Möglichkeit, auf seine datierten Aufzeichnungen zurückgreifen zu können, ragte Schneiders Publikation zum 40-jährigen Jubiläum nach dem Urteil der Rezensenten aus der Flut der übrigen „Veteranenliteratur“ heraus, biete sie doch zwei „Zeit­ zur Person knapp Riordan. (1973). Das Buch war ursprünglich mit dem Untertitel „Eine Erzählung von 1968 und danach“ angekündigt worden, s. Delius, S. 96. 59  Vgl. Riordan, S. 17; Delius. 60  Vgl. Behre, hier zu Schneiders Positionierungen S. 21, S. 85, S. 313, S. 344– 346, S. 360. 61  Schneider (2008). 62  Vgl. hierzu allg. Sina/Spoerhase, S. 621. 63  Vgl. Graf, S. 207–209; zum linksalternativen Milieu ausführlich Reichardt. 57  Vgl.

58  Schneider



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ebenen“.64 Diese beiden Zeitebenen, die sich aus den unterschiedlichen Schreibpositionen ergeben, werden im Text konsequent gegeneinandergestellt. Die Erzählung gewinnt dabei ihre Dynamik aus der Tatsache, dass Schneider keine einlinige Kontinuitätsgeschichte konstruiert, sondern seine damaligen Aufzeichnungen als Quelle liest und mit seiner eigenen Erinnerung konfrontiert.65 Gleich zu Beginn wirft er die Frage des Vertrauens in seine eigenen Aufzeichnungen auf: „Welchem ‚Ich‘ soll der Leser dieses Buches trauen? Dem des hin- und hergerissenen Rebellen [des Tagebuchs, S. R.] oder dem des vierzig Jahre Älteren, der sich mal neugierig, mal verständnisvoll, mal entsetzt über den Jüngeren beugt? Sicher ist nur, daß der Ältere das letzte Wort behält.“66 Die autobiographische Erzählung erhält also durch die unterschiedlichen Perspektiven des heutigen Erzählers eine gewisse Offenheit, indem die Quellen aus der Zeit transparent gemacht werden. Nichtdestotrotz bleibt der Leser an die Auswahl Schneiders gebunden, da das Originaltagebuch nicht zugänglich ist und nur von ihm selbst herangezogen und interpretiert wird. Auch deshalb behält Schneider „das letzte Wort“. Eine Aussage, die allerdings doppeldeutig ist: Schneider ist sich bewusst, dass er in dem Sinne das letzte Wort behält, dass er sein Tagebuch nach eigenen und im Einzelnen nicht offen gelegten Kriterien in seine Erzählung einflicht. Zugleich behält Schneider aber nicht das letzte Wort im Sinne einer Deutungshoheit, da er verschiedene Perspektiven auf sein vergangenes Ich einnimmt. So ergibt sich eine skeptische Erzählung, die offen ist für Kontingenz und Irrtümer und nicht mit dem Anspruch auftritt, eine konsequente, oder bruchlose Entwicklung hin zu gegenwärtigen Positionen darzustellen. Anders als bei Alfred von Tirpitz erscheinen die Briefe und Tagebucheinträge nicht als Belege für die Geschichte, wie sie nach Leopold von Rankes bekanntem Diktum „eigentlich gewesen“67 ist, sondern lediglich als perspektivische Ausschnitte mit hohem Kontextualisierungsbedarf. Der selbsthistorisierende Blick Schneiders verortet das eigene Tagebuch deshalb wiederholt nur als eine Quelle unter anderen. So vergleicht er seine Aufzeichnungen über eine Protestaktion Rudi Dutschkes in der Berliner Gedächtniskirche im Dezember 1967 mit anderen Rekonstruktionen und kommt zu dem Schluss, dass seine „Tagebucheintragung […] übertrieben“ erscheine und „eher einen Eindruck von der Dauererregung, in der wir die Ereignisse wahrnahmen, als 64  Lützeler;

vgl. auch Schildt. analoges Verfahren wählte, wenn auch unter gänzlich anderen Bedingungen, der Romanist Victor Klemperer, dessen Autobiographie ebenfalls eine skeptische Auseinandersetzung mit der Aussagekraft seiner Tagebücher bietet. Vgl. exemplarisch Klemperer, Bd. 1, S. 6–7, S. 324–325. 66  Schneider (2008), S. 14. 67  Ranke, S. vi. Dass Rankes berühmter Satz allerdings weniger naiv erscheint, als häufig kolportiert zeigt Buck. 65  Ein

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von dem Ereignis selbst“ überliefere.68 Letztlich, so das wiederkehrende Ergebnis, lassen sich seine eigenen Notizen also eher als Einsicht in die Standortgebundenheit des eigenen „Sehepunkts“69 verstehen. Sie reflektieren die eigene Weltsicht, stellen nur einen Ausschnitt des Geschehens dar, das der Ältere vor dem Hintergrund anderer Quellen und des seitdem erworbenen Wissens immer wieder relativiert. Diese Strategie im Umgang mit dem eigenen Tagebuch läuft auf eine Konversionsbiographie hinaus, etwa wenn er feststellt, dass er sich schließlich aus seinen „intellektuellen und emotionalen Gefangenschaften gelöst hatte und wieder anfing mit [s]einem eigenen Kopf zu denken“.70 Trotzdem bleibt es eine skeptische Konversion, die der Schreibposition des Tagebuchs ihr Eigengewicht lässt. Gerade dadurch hebt sich das Buch von derjenigen Veteranenliteratur ab, die entweder eine einlinige Kontinuitätsbiographie bietet, oder aber eine scharfe Konversion im Sinne einer Abrechnung mit der eigenen Generation vollzieht, wie sie besonders medienwirksam Götz Aly inszenierte.71 Durch den historisierenden und kontextualisierenden Zugriff, der sich einfachen Thesenbildungen, gar mit dem Anspruch für eine ganze Generation zu sprechen, verweigert, gelingt es Schneider, einen Reflexionsprozess vorzuführen, der im Modus einer Selbstkritik in unterschiedlichen Schärfegraden auftritt. Seine autobiographische Erzählung gewinnt ihre Legitimation also dadurch, dass sie teilweise ihre Deutungshoheit über die Vergangenheit oder die eigene Geschichte aufgibt. Das vorgeführte Misstrauen in die eigenen Aufzeichnungen wird so zur Quelle des Vertrauens in den späteren Erzähler, eröffnet es dem Leser doch Interpretationsspielräume, die eine bruchlose Kontinuitätserzählung nicht bieten kann. Die Autobiographie bewegt sich so durch ihre Arbeit mit Quellen und Forschungsliteratur tendenziell an der Grenze zur Historiographie, bleibt aber doch in die Muster einer Autobio­ graphie eingebunden. Deswegen verortete ein Autor wie Winston Churchill (1874–1965) seine großen Darstellungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs, die auf seinen Dokumenten und denjenigen seiner Administrationen beruhten, weder als Memoiren noch als geschichtswissenschaftliche Arbeit, sondern lediglich als „contribution to history“.72 Er versuchte also, sich auf einer 68  Schneider, S. 240. Vgl. für ein solches Verfahren auch die Konfrontation seiner eigenen Erinnerungen mit der historischen Rekonstruktion des 2. Juni 1967 ebd., S. 155–166. 69  Vgl. zu dieser Formel, die sich als frühe Einsicht in die Standortgebundenheit von (wissenschaftlichen) Aussagen lesen lässt, Chladenius, S. 91–115. 70  Ebd., S. 357. 71  Vgl. Aly. 72  Churchill, S.  vii. Vgl. zur Churchills historiographischer Arbeit instruktiv Rowse; Reynolds.



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Grenzlinie zwischen Memoiren und einer Darstellung mit wissenschaftlicher Autorität zu bewegen. Was lässt sich aus dieser Kontrastierung für einen geschichtswissenschaftlichen Umgang mit Autobiographien und deren Verwendung von Briefen und Tagebüchern folgern? Im Ergebnis der vorgelegten Skizze, lassen sich grosso modo mindestens zwei Strategien im Umgang mit eigenen Aufzeichnungen in Autobiographien identifizieren. Einerseits können diese eine geradlinige Kontinuitäts- und Legitimationsgeschichte erzählen, der die zeitgenössischen Quellen als Belege gelten, um die aktuellen Positionen und Deutungen des Autors abzusichern. Demgegenüber steht eine skeptische Selbsthistorisierung, die im Modus der Selbstkritik, den Quellen ihre Eigenzeit lässt und damit die Offenheit vergangener Zukünfte im Blick behält. Gerade für die Geschichtswissenschaft kann es sinnvoll sein, verstärkt darüber zu reflektieren, welche Konsequenzen diese unterschiedlichen Strategien für die Analyse von Memoiren haben, zumal sich die skeptische Variante durch ihre vorgeführte Quellenkritik gewissermaßen selbst wissenschaftlichen Darstellungen annähert. Hier wird dann besonders deutlich, inwiefern die Produktion von Memoiren immer auch als „historiographische Beeinflussungsstrategie“73 anzusehen ist. Ohne ein Bewusstsein für solche rhetorischen Strategien sind autobiographische Quellen kaum adäquat zu interpretieren. Zugleich macht die Analyse deutlich, dass Geschichts- und Literaturwissenschaft (weiterhin) gemeinsam darüber nachdenken sollten, wie wissenschaftliche Darstellungen selbst ihre Quellen in Erzählungen verwandeln, und ob hier nicht ganze ähnliche Strategien vorliegen, wie im Falle quellengestützter Memoiren.

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Die Tagebücher des Dr. phil. Joseph Goebbels. Überlegungen zu Schreibprozess, Überlieferungsabsicht und Literarizität Von Andrea Albrecht und Wolfram Pyta

I. Die Tagebücher von Joseph Goebbels, die sich über die Jahre 1923 bis 1945 erstrecken und in der aktuellen Edition des Instituts für Zeitgeschichte 29 Bände füllen,1 lassen den hybriden Charakter der Textsorte Tagebuch besonders gut hervortreten. Auf der einen Seite besitzen Goebbels Tagebücher einen enormen faktualen Wert. Es handelt sich hier um jene dokumentarischen Zeugnisse einer unmittelbaren Zeitgenossenschaft, die Historiker in ihren Bann schlagen: nichtfiktionale Selbstzeugnisse eines Entscheidungs­ trägers aus der unmittelbaren Nähe Hitlers. Keine Geschichte des „Dritten Reichs“ hat daher bislang auf diese privilegierten Ego-Dokumente verzichtet.2 Aber zugleich haben Historiker ein Problem mit sich herumgeschleppt, welches sie nicht wirklich befriedigend zu lösen vermochten. Denn immer wieder sind Fragen nach der Authentizität dieser Quelle aufgetaucht: Müssen Abstriche im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit dieses Ego-Dokumentes gemacht werden, weil Goebbels seine Aufzeichnungen für eine stolze Summe an den Zentralverlag der NSDAP, den Eher-Verlag, verkauft hatte? Sind also die Tagebuchaufzeichnungen von Goebbels gar keine authentischen Selbstzeugnisse im strengen Wortsinn, sondern von Anfang an auf propagandistische Verwertung ausgerichtete Notate?3 Wie stünde es dann um die präsumierte Faktualität, die Tagebüchern allgemein und Goebbels Tagebüchern im Besonderen zugeschrieben wird? Die mitunter polemisch ausgetragene Debatte unter einigen Zeithistorikern zeugt von einer gedanklichen Engführung. Denn keiner unter den Protagonisten hat es für nötig befunden, über den literarischen Charakter des Goeb1  Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit der Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Rußlands, hg. v. Elke Fröhlich, München 1993–2006, 29 Bde. 2  Vgl. hierzu vor allem Longerich. 3  So die These von Sösemann.

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Andrea Albrecht und Wolfram Pyta

bels-Tagebuchs zu reflektieren. Stattdessen hat man sich in einer sehr akribischen Textkritik verloren, ohne die Frage aufzuwerfen, ob die Debatte anders geführt werden müsste, wenn man das Tagebuch als literarisches Genre betrachtete. Von diesem Blickwinkel aus relativieren sich viele Aufgeregtheiten dieses Mini-Historikerstreits.4 Tagebücher sind eine eigentümliche, gattungstheoretisch nur schwer einzuhegende Textsorte: Es handelt sich, folgt man den literaturwissenschaftlichen Minimalbestimmungen, um eine Mischform aus fiktionalen und nichtfiktionalen Prosatexten „in chronologischer Abfolge, die im allgemeinen durch ihr Entstehungsdatum markiert und durch die Abfolge von Tagen gegeneinander abgegrenzt sind“.5 Tagebücher können ­ ebenso für den privaten Gebrauch wie für die Veröffentlichung bestimmt sein; sie können mit dokumentarischer Absicht, aber auch mit künstlerischer Ambition verfasst sein und eine entsprechende, womöglich nachträgliche ­literarische Überformung aufweisen.6 Gerade wegen ihres Changierens zwischen Literarizität und Historizität, wegen ihrer möglichen Funktionalisierung als literarischem Konstrukt und/oder historischer Quelle können sie aus disparaten Textsorten bestehen. Dass Goebbels neben seinem ‚Haupttagebuch‘ noch vier separate Tagebücher führte – und zwar dann, wenn er auf Reisen war oder sich in seinen Domizilen aufhielt7 –, mag aus dem Skrupel des Editionswissenschaftlers heraus zur Einschätzung führen, die Zusammenfassung aller fünf separat geführten Tagebücher in der vom „Institut für Zeitgeschichte“ verantworteten, auch diesem Beitrag zugrundeliegenden Edition, als „Kompilation“8 zu bewerten. Doch an der diaristischen Struktur der Notate ändert auch die Montage solcher in verschiedenen Büchern festgehaltenen Aufzeichnungen in einer einheitlichen Edition nichts. Gerade literaturwissenschaftlich ist es hinsichtlich der Textsorte Tagebuch von besonderem Reiz, wenn ein Tagebuchschreiber an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Anlässen separate Tagebücher führt, weil er hier eigene Formate für distinkte Schreibsituationen kreiert.9 Es ist ohnehin ein strukturelles Problem der Edition von Tagebüchern, dass eine Edition die Materialität von Schreibwerkzeug und Textträger weitgehend auslöscht. Editionen vereinheitlichen und glätten – und damit wird der edierte Text von materiel-

4  Informativster Überblick bei Hermann, „In zwei Tagen wurde Geschichte gemacht“. 5  Schönborn, S. 574; vgl. auch Steuwer/Graf, S. 29. 6  Vgl. dazu Maurer. 7  „Für Ferien und Reise“, „Tagebuch Schwanenwerder“, „Tagebuch zu Hause“, „Haus am Bogensee“, dazu Sösemann, S. 63. 8  Ebd., S. 62. 9  Vgl. zur „Parallelität mehrerer Tagebücher“ auch die Ausführungen von Fröhlich, Joseph Goebbels und sein Tagebuch, S. 514.



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len Lebenszeugnissen des Autors gereinigt.10 Die Geschichte der GoebbelsEdition ist ein besonders beredtes Beispiel für diese Editionspraxis. Die gelegentliche Schärfe der innergeschichtswissenschaftlichen Debatte über den Quellenwert der Goebbels-Tagebücher steht in einem Missverhältnis zu der Nonchalance, mit der die Frage nach Textsorte und Gattungskonventionen ausgeblendet wird – ein nicht untypisches Exempel dafür, dass Historiker der Literarizität von Texten auch nach der Wiederentdeckung des narrativen Charakters der Historie immer noch zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Die Goebbels-Experten unter den Historikern haben bislang viel zu wenig bedacht, dass dessen Tagebücher sich in eine ausgeprägte Tradition diaristischen Schreibens einbetten lassen.11 Das Verfassen von Tagebüchern reicht weit in die Frühe Neuzeit zurück und konnte und kann die unterschiedlichsten Funktionen erfüllen. In der Moderne aber erscheint es zunehmend als eine adäquate literarische Antwort auf die ubiquitäre Kontingenzerfahrung – und dies gilt auch für den Tagebuchschreiber Joseph Goebels, der in dem Moment das Tagebuchschreiben beginnt, als er mit der Herkunftswelt seines katholischen Milieus bricht. In einer Welt, die nicht mehr eindeutig religiös oder sozial geordnet ist, findet das bindungslos gewordene Individuum nur noch beim eigenen Ich Halt. Das Tagebuch ist eine permanente Standortvergewisserung dieses freigesetzten Ich: der Diarist versucht, die Fragmentierung und Brüchigkeit disparater Welterfahrung in entsprechende Worte zu kleiden.12 Die meisten der geführten Tagebücher dürften privater Natur sein und der Öffentlichkeit nie bekannt werden.13 Allgemeine Aussagen über Formen und Funktionen des Tagebuchschreibens beziehen sich daher grundsätzlich nur auf die publizierten oder archivierten und uns daher überlieferten Tagebücher. Für professionelle Schriftsteller, die unter anderem Tagebücher schreiben, kann man dennoch annehmen, dass künftige Leser oftmals bereits mitgedacht werden und das Tagebuch als eine spezifisch literarische Kunstform schon in Hinblick auf den fremden Leser konzipiert wird – und sei es so, dass der für den eigenen Gebrauch bestimmte Urtext in einem zweiten Bearbeitungsschritt literarische Gestalt gewinnt und diese literarisierte Fassung zur Publikation bestimmt ist. Ernst Jünger ist so vorgegangen – er, der das

Dusini, vor allem S. 54 f. hierzu sind Wuthenow sowie Görner. 12  Vgl. auch Steuwer/Graf. 13  Vgl. für einen Eindruck über den Umfang des Tagebuchmaterials die Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien (http://www.univie. ac.at/Geschichte/sfn/), aber auch das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen (http://www.tagebucharchiv.de/). 10  Vgl.

11  Grundlegend

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Tagebuch sogar zur privilegierten literarischen Form erhob,14 hat seine Kriegstagebücher des Ersten Weltkriegs als Rohmaterial für anspruchsvolle Literatur genutzt. Auch Goebbels verwendete seine Tagebücher als Vorform für spätere Prosa: Er hat eine ganze Reihe von Publikationen vorgelegt, die aus den Tagebüchern schöpften; das interessanteste Beispiel hierfür trägt einen Titel, der Historiker leicht auf eine falsche Fährte führen könnte: „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. Eine historische Darstellung in Tagebuchblättern“. Goebbels greift zu einem Kunstgriff, um die genuin literarische Bearbeitung des Urtextes zu verschleiern und seinem Werk den Charakter einer historischen Darstellung zu verleihen, die anderen Kriterien als denen fiktionaler Literatur gehorcht. Goebbels tagebuchartige Darstellung ist aber primär kein Text, der historisches Insiderwissen ausbreiten will; er ist eine literarische Überformung des Tagebuchs. Und mit diesem Überarbeitungsprozess büßt das Tagebuch seine „potentielle Unabgeschlossenheit“15 ein, die es als Gattung auszeichnet. Ein Diarist weiß nichts vom Morgen und Übermorgen – und auch die im Tagebuch niedergeschriebene Lebensgeschichte ist unabgeschlossen und endet erst mit dem Tode des Verfassers.16 Doch Goebbels macht in seiner Schrift „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“ aus seinem Tagebuch ein abgeschlossenes, retrospektiv finalisiertes Werk, indem er die Zeitspanne vom 1. Januar 1932 bis zum 1. Mai 1933 als Einheit betrachtet, die er nach bestimmten Sinngesichtspunkten quasi teleologisch arrangiert. Diese Transformation gibt Anlass, die Tagebücher von Goebbels grundsätzlich nicht isoliert, sondern in einer Konstellation mit anderen Texten und Textsorten zu betrachten. Neben der schon erwähnten, aus dem Tagebuchmaterial gestalteten Schilderung von Hitlers Aufstieg: „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“ (1934) ist hier vor allem der in drei Stufen zwischen 1919 und 1928 entstandene Roman „Michael“ (1929) zu erwähnen, der ebenfalls im Untertitel als ein „in Tagebuchblättern“ verfasster Text ausgewiesen wird. Das Tagebuch-Schreiben war bei Goebbels jedenfalls nie die alleinige schriftliche Äußerungsform, sondern seine Tagebücher standen immer in ­direkter Relation zu anderen Textsorten.17 Die Formen wie auch die Funk­ tionen des Tagebuchschreibens lassen sich daher nur aus dem Ensemble verschiedener Textsorten und den damit jeweils vom Schreiber eingenommenen unterschiedlichen kommunikativen Handlungsrollen verstehen.

grundlegend Sader. S. 574. 16  Vgl. hierzu auch Steuwer/Graf, S. 30. 17  Zu den publizistischen Zwecken dienenden, von Goebbels verfassten Textsorten vgl. Richter. 14  Dazu

15  Schönborn,



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II. Bevor wir zu der zentralen Frage kommen, welche Schreibstrategien ­ oebbels verfolgte, um sein Rohmaterial literarisch zu veredeln, müssen wir G uns kurz der Person des Autors zuwenden. Denn die Schreib- und Überlieferungsabsicht seiner Tagebücher ergibt sich daraus, dass Goebbels im Laufe der Zeit zum NS-Multitalent aufstieg. Er vereinigte von 1933 an wichtige Parteiämter (Gauleiter von Berlin), staatliche Funktionen (Reichspropagandaminister) – und von 1943 an rückte er immer mehr in die Funktion eines heimlichen Reichskanzlers ein, da Hitler ganz von seinen militärischen Aufgaben ausgefüllt war. Für unsere Fragestellung ist allerdings von besonderer Relevanz, dass Goebbels mit der Feder genauso gut umzugehen wusste wie mit seiner Stimme. Goebbels war ein Redner, dem auch im Angesicht zerstörter Städte die Stimme nicht ausging und der sich – im Unterschied zum stumm gewordenen Hitler – bis zum Schluss performativ als Redner betätigte.18 Zudem war er ein fleißiger Schreiber, der schon in seinen Berliner Gauleitertagen sein Hausorgan, den „Angriff“, regelmäßig mit Beiträgen belieferte und der von 1943 an zusätzlich den Leitartikel für das Prestigeprojekt des NS-Journalismus, die Wochenzeitung „Das Reich“, schrieb.19 Reden und Schreiben bildeten bei Goebbels eine Einheit – und beides sollte künstlerischen Anforderungen genügen. Seinem Pressereferenten sagte er einmal: „Reden ist eine Kunst wie jede andere, und deren unerlässliche Voraussetzung ist nicht nur das Können, sondern Fleiß und Sorgfalt“.20 Aber was bedeutete diese schriftstellerische und rednerische Doppelqualifikation für das Verhältnis von gesprochenem und geschriebenem Wort? Entwarf Goebbels seine Texte primär auf den rednerischen Gebrauch hin und goss sie in dafür geeignete Formen? Dem war nicht so – Goebbels blieb im Kern ein Schriftmensch, der seine Texte nicht für den Redegebrauch produzierte; er ist somit hinsichtlich seiner Stilmittel kein Exempel für das „entfesselte Wort“, das Heinz Schlaffer so eindrücklich bei Nietzsche ausgemacht hat.21 Und auch und gerade die Tatsache, dass Goebbels mit Tagebüchern Texte schrieb,

18  Goebbels als Redner ist unter Performativitätsaspekten bislang nicht systematisch untersucht worden; allerdings hat seine berüchtigte Rede vom 18. Februar 1943 eine gehaltvolle sprachwissenschaftliche Arbeit hervorgebracht: Kegel. 19  Vgl. zu Goebbels breiter journalistischer Tätigkeit vor 1933 Richter; für die späteren Jahre Härtel. 20  Tagebucheintragung vom 10. Oktober 1943, festgehalten bei von Oven, Finale furioso, S. 156. Den Aufzeichnungen von Goebbels’ Pressereferenten von Oven diagnostiziert Ian Kershaw einen hohen Quellenwert und bezieht sich daher mehrfach auf diese Quelle. Kershaw, u. a. S. 605, S. 608, S. 617 und S. 618. 21  Vgl. Schlaffer.

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die sich nicht für die rhetorische Transformation eigneten, belegt den Vorrang des geschriebenen vor dem gesprochenen Wort. Goebbels entstammte der Schriftkultur – und seine Ausflüge in die Redekultur blieben immer nur Abstecher. Hitler hingegen war und blieb immer nur der Redner, der seine Texte hinsichtlich seines rednerischen Gebrauchs konstruierte22 – allein die Vorstellung, dass er Tagebücher geschrieben haben könnte, ist so abwegig, dass man sich im Rückblick von mehr dreißig Jahren immer entgeisterter die Frage stellt, warum dem STERN mit seiner Geschichte der Hitler-Tagebücher auch seriöse Historiker auf den Leim gegangen sind.23 Ein Grund dafür könnte gewesen sein, dass sie sich von der Aura des Tagebuchs blenden ließen und in einem Hitler-Tagebuch ein Buch voller secreta erwarteten, das den Leser in die Geheimkammern des „Dritten Reiches“ führen könnte. Wegen des Fehlens von Hitler-Tagebüchern sind Historiker vermehrt dazu übergegangen, sich der Goebbels-Tagebücher als Ersatzüberlieferung zu bedienen. Sie liegen damit insofern richtig, als sich Goebbels auch zum Ziel setzte, Hitlers Äußerungen zumindest sinngemäß festzuhalten, wobei ihm zugute kam, dass er dazu seit Juli 1941 seinen „Geheimsekretär“ Richard Otte, einen wahren Meister im Stenographieren, einspannte. Goebbels Tagebuch war daher auch eine detaillierte Wiedergabe dessen, was Hitler bei den vor allem in der Kriegszeit ausgedehnten stundenlangen Einzelgesprächen mit Goebbels sagte. Da Hitler einen oralen Herrschaftsstil praktizierte, lassen sich auf diese Weise Äußerungen Hitlers einfangen, die sonst der Wissenschaft verloren gegangen wären. Goebbels fungierte mithin als eine Art Eckermann Hitlers24 – und in diese Rolle wuchs er erst allmählich hinein. Insofern müssen wir die Entwicklungsdynamik der Tagebücher von Goebbels in Rechnung stellen. Sie bilden keinen in formaler wie pragmatischer Hinsicht einheitlichen Text – und gerade auch deswegen sind sie textwissenschaftlich von besonderem Reiz. Außerdem haben wir zu berücksichtigen, dass Goebbels bei seinem ersten ernstzunehmenden literarischen Abstecher die hybride Form eines TagebuchRomans gewählt hatte. Die Vorarbeiten für seinen 1928/29 publizierten Roman Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern25 reichen bis in ausführlich Pyta, vor allem S. 179–220. Kunert. 24  Vgl. hierzu das Habilitationsprojekt der Literatur- und Geschichtswissenschaftlerin Carolin Lange. 25  Goebbels, Michael. Trotz der Angabe in der Titelei ist der Roman im Dezember 1928 erschienen. Es sind zwei Vorfassungen überliefert: Michael Voormanns Jugendjahre. (1. Teil, 1919, handschriftlich) (BA Koblenz, NL 118/126) (3. Teil, 1919, handschriftlich) (BA Koblenz, NL 118/115); Michael Voormann. Ein Menschenschicksal 22  Hierzu 23  Vgl.



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das Jahr 1919 zurück;26 vorausgegangen waren von Goebbels selbst später als minderwertig disqualifizierte lyrische Versuche,27 die teilweise Eingang in die dem eigentlichen Tagebuch vorangestellten „Erinnerungsblätter“28 gefunden haben, sowie wenige Versuche in Prosa29 und einige dramatische Texte, die zum Teil in den 1920er Jahren auch zur Aufführung kamen.30 Goebbels experimentierte in dieser Zeit auch mit anderen literarischen Formen, er schrieb beispielsweise Aphorismen,31 polemische Porträts und mit Karikaturen reich illustrierte Satiren.32 Goebbels ist also durchaus Formbewusstsein zu unterstellen. In seinem Roman Michael setzt Goebbels die Tagebuchform ein, um die Authentizität der im Roman auftretenden Figuren, allen voran die Hauptfigur Michael Voormann, auf diese Weise zu beglaubigen. Während der erste Teil der im Nachlass überlieferten Schriftfassung Michael Voormann’s Jugendjahre (1919) noch auktorial erzählt wird, wechselt Goebbels im dritten Teil unvermittelt zur Tagebuchform und einem entsprechenden Ich-Erzähler über.33 Die im ersten Manuskript zu findende Überschrift „Aus Michael Voormann’s Tagebuch“ wandert in den folgenden beiden Fassungen in den Untertitel des Gesamttexts: Zunächst heißt es 1923 „Ein Menschenschicksal in Tagebuchblättern“, dann 1928/29 „Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern“. Goebbels kann so paratextuell anzeigen, dass er mit seinem Roman nicht nur eine beliebige fiktive Geschichte, sondern eine seiner eigenen Lebensgeschichte sehr ähnliche, aber zugleich repräsentative und exemplarische in Tagebuchblättern. (1923 Manuskript und maschinenschriftliche Ausführung; nicht identisch mit Michael Voormanns Jugendjahre, 1919) (BA Koblenz NL 118/127). 26  Vgl. dazu Michel. 27  Vgl. ebd., S. 35–43. 28  Diese Erinnerungsblätter, die durch Richard Otte auf die Zeit von 1897 bis Oktober 1923 datiert sind, sind nicht in die maßgebliche Edition des Instituts für Zeitgeschichte aufgenommen worden. Vgl. zu deren Aussagkraft Fröhlich, Joseph Goebbels und sein Tagebuch, S. 491 f. 29  Vgl. Oppermann. 30  Joseph Goebbels, Judas Iscariot. Eine biblische Tragödie in fünf Akten von P. Joseph Goebbels. Anka Stahlherm in tiefer Verehrung. (August 1918, handschriftlich) (BA Koblenz, NL 118/117); Heinrich Kämpfert. Ein Drama in drei Aufzügen von P. Joseph Goebbels. (Februar 1919, handschriftlich) (BA Koblenz, NL 118/115). Die Saat. Ein Geschehen in drei Akten von P. Joseph Goebbels (März 1920, handschriftlich) BA Koblenz NL 118/117). Der Wanderer. Ein Spiel in einem Prolog, zehn Bildern und einem Epilog. Von Joseph Goebbels. Dem anderen Deutschland. Geschrieben im Mai 1927. (Theaterexemplar) Bestand Bernd Roscher. Zum dramatischen Schaffen vgl. Oppermann. 31  Goebbels, Wege, S. 5–6. 32  Goebbels, Das Buch Isidor. 33  Vgl. Michel, S. 59.

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Geschichte erzählt: Der hochbegabte soziale Aufsteiger, der von der kapitalistischen Gesellschaft verstoßen wird, weil diese keine adäquate Verwendung für ihn findet. Goebbels hat der 1929 publizierten Fassung, die im parteieigenen Eher-Verlag erschien, eine stark politische Note verliehen: mit einem revolutionären Drang zur Kulturkritik, die sich mit Antisemitismus und vehementem Nationalismus verbindet und nach politischer Erlösung verlangt.34 Aber bedeutet dies, dass Goebbels sämtliche seiner künftigen Schriften ausschließlich ideologischen Verwertungsinteressen unterworfen hätte? Selbst wenn das primäre Ziel seiner Schriften darin bestand, seine Weltanschauung im Gewande solcher Publikationen zu verbreiten, stellt sich immer noch die Frage, warum der promovierte Germanist Dr. phil. Paul Joseph Goebbels ausgerechnet mit der Tagebuchform experimentierte, als er sein literarisches Erstlingswerk veröffentlichte. Allem Anschein nach hat das Tagebuch für ihn zuerst eine privilegierte literarische Funktion besessen, ehe er es im Verlaufe seines politischen Aufstiegs auch als zeitpolitisches Dokument verstand. Die Historiker haben bislang dem Tagebuch von Goebbels nur als Ausweis seiner Zeitgenossenschaft Beachtung geschenkt; doch man wird diesem Text nicht gerecht, wenn man außer Acht lässt, dass sich Goebbels in eine etablierte Tradition deutschen Geisteslebens einschrieb, als er im Oktober 1923 mit dem Tagebuchschreiben begann. Die klassische Quellenkritik des Historikers muss also auch ein Gespür für die ästhetisch-literarische Dimension gerade dieses Tagebuchs entwickeln – denn nur dann lassen sich strittige Fragen hinsichtlich der Überlieferungsabsicht dieses Textes, mit der sich Historiker gern herumschlagen, souveräner beantworten, als wenn man philologische Beckmesserei betreibt. Stellen wir uns also zuerst die Frage, wie Goebbels zum Tagebuchschreiben fand. Als er ab Oktober 1923 zunächst in unregelmäßigen Abständen, dann zunehmend im Tagesrhythmus sein Diarium führte, tat er dies aus Gründen, die typischerweise am Beginn eines solchen Schreibprozesses stehen. Goebbels wähnte sich in einer tiefen Lebenskrise – und das Tagebuch diente ihm als vorzügliches Medium der Selbsterforschung, als Ablagestelle für seine geheimsten und intimsten Gedanken, mithin als klassisches journal intime. Goebbels zelebrierte die Einsamkeit einer sensiblen Künstlernatur, die sich im Tagebuch das Forum für eine einseitige Aussprache mit sich selbst schuf, weil sie sich von der Umgebung nicht verstanden fühlte. Er imaginierte sich in diesen Jahren im Tagebuchschreiben als Künstler, noch nicht als Politiker, Journalist und Redner. In den frühen Tagebüchern fehlen noch die späteren Posen, es fehlt weitgehend auch die Auseinandersetzung mit tagespolitischen Ereignissen, stattdessen kommt es immer wieder zu 34  Generell

hierzu Andres.



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Selbstentblößungen, sentimentalen Introspektionen, geschwätzig-redundanten Passagen, aber auch zu weltanschaulichen Reflexionen über Religion und über politische Wunschvorstellungen – und immer wieder nutzte Goebbels sein Tagebuch auch für antisemitische Tiraden. Darüber hinaus aber berichtete er über seine literarischen Lektüren, notierte seine Gedanken zu Goethe und Schiller, zu Wilhelm Raabe, Gottfried Keller, Nietzsche, Tolstoi, Gogol und Dostojewski, zu Ibsen, Strindberg, Hermann Hesse, Georg Kaiser u. v. m. Goebbels bemühte sich offenkundig um die Erfindung und Pflege seiner künstlerischen persona. Einige wenige Auszüge mögen dies illustrieren: 16. November 1923: „Ich schreibe mir etwas von der Seele herunter. O, wie wohl tut das. So alles in die kleinen Worte hineinzuströmen. Alle Qual und alle Not. Selige Schöpferfreude!“35 17. Dezember 1923: „Von Cöln und Düsseldorf habe ich noch nichts gehört. Meine Manuskripte verschimmeln wahrscheinlich dort in den Theaterkanzleien. Und ich muß warten und warten. Ich werde verzweifeln, wenn ich diesmal nicht an einer Stelle durchbreche. Ich d[ürs]te nach der Freiheit des schöpferischen Gedankens!“36 5. Januar 1924: „Ich fühle, daß ich in Zukunft noch etwas zu bedeuten haben werde. Ich will in schöpferischer Einsamkeit auf den Tag warten. Der Geist und der Gedanke ist im Marschieren. Ich warte – ich warte, ich hoffe und glaube!“37 28. Februar 1924: „Ich habe den Ton. Die Feder fliegt durch die Seiten. Schaffen! Schöpfen!“ 12. April 1924: „Wenn ich dichte, dann will ich ein Goethe werden, nicht ein Walter Blum. […] ich will den Dämon in mir bändigen und abkonter­ feien.“38 28. Juli 1924: „Ich lebe in einer ständigen nervösen Unruhe. […] Nichts will – ja nichts kann gelingen. Man muß zuerst alles ablegen, was man so eigene Ansicht, Zivilkourage, Persönlichkeit, Charakter nennt, um in dieser Welt der Protektion und der Carrière auch eine Zahl zu werden. Ich bin noch keine. Eine große Null. Werde auch wohl schwerlich eine werden.“39 In den ersten Jahren diente das Tagebuch-Schreiben Goebbels primär zum eigenen Gebrauch, als Therapeutikum, als Refugium, zur Affektabfuhr, als Erinnerungsstütze, als Arbeitsjournal, als Steinbruch für die poetische Pro35  Die

Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 1, S. 52. S. 61. 37  Ebd., S. 69. 38  Ebd., S.  122 f. 39  Ebd., S. 181. 36  Ebd.,

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duktion und vor allem als Mittel, um sich ‚in Form‘ zu bringen für eine Karriere als Dichter. Goebbels brachte die intime Funktion des Tagebuchs in der Anfangszeit auch gelegentlich in seinen Notaten zur Sprache. So schrieb er am 25. Januar 1924: „Dies Tagebuch ist mein bester Freund; ihm kann ich alles anvertrauen. Ich habe ja sonst auch niemanden, dem ich dies alles sagen könnte. Und sagen muss man es ja, sonst würde man es nie los.“40 Die katholische Sozialisation von Goebbels machte sich dadurch bemerkbar, dass er sein diaristisches Gegenüber als „mein sorgsamer Beichtvater“41 bezeichnete. „Beichtvater“ bedeutete, dass er sich im Tagebuch frei und ungezwungen aussprechen konnte, weil das, was er sagte, gewissermaßen unter dem Schutz des Beichtgeheimnisses versiegelt war und an keines anderen Menschen Ohr dringen konnte.42 Eine Publikationsabsicht des Tagebuchs ist in diesen frühen Jahren nicht zu erkennen. Dieser intime Charakter des Tagebuchs blieb passagenweise bis zum Schluss erhalten, auch wenn das Politische im Laufe der Zeit das Persönliche immer mehr in den Hintergrund drängte und sich das Tagebuch mit den Jahren mehr und mehr in ein Tagebuch transformierte, in dem unpersönliche und geradezu bürokratische Notate dominierten, was sicherlich auch mit dem Übergang zum Diktieren zusammenhängt. Immer deutlicher treten nun auch chronistische Aspekte und die Politik Adolf Hitlers legitimierende Passagen in den Vordergrund. Hinzu kommt spätestens ab Mitte der 1930er Jahre ein gewisses Nachlassbewusstsein, verbunden mit dem Wunsch, sich selbst in einer kontrollierten Form in das Gedächtnis der Nachwelt einzuschreiben: Die Tagebücher seien „doch zu wertvoll, als daß sie einem evtl. Bombenangriff zum Opfer fallen dürften. Sie schildern mein ganzes Leben und unserer Zeit.“43 Aber es ist unbedingt zu konstatieren, dass Goebbels sich nicht auf die Zunge biss und Schreibhemmungen hatte, weil er aus dem Tagebuch ein lukratives Geschäft gemacht hatte. Gewiss hatte er im Jahre 1936 einen Vertrag mit dem parteiamtlichen Eher-Verlag abgeschlossen, der ihm eine beträchtliche Abschlagszahlung von 250.00 Reichsmark bescherte. Aber die Tagebücher sollten erst 20 Jahre nach seinem Ableben veröffentlicht werden; Goebbels hatte außerdem vor, sie ähnlich zu redigieren, wie er es 1934 mit der „Kaiserhof“-Fassung getan hatte.44 Dies belegt, dass die Originaltage­ bücher niemals in der Rohfassung publiziert worden wären; erst der politi40  Ebd.,

S. 81. S. 285. 42  Hierzu auch Fröhlich, Joseph Goebbels und sein Tagebuch, S. 494 f. 43  Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 9, S. 212 (Eintrag vom 30. März 1941). 44  Grundlegend hierzu ist Hermann, „In zwei Tagen wurde Geschichte gemacht“, vor allem S. 19 ff. 41  Ebd.,



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sche Untergang des Nationalsozialismus und der Spürsinn der Historiker hat diese Absicht von Goebbels zunichte gemacht. Systematischer Ertrag lässt sich aus der Genese ableiten, wie Goebbels überhaupt auf die Idee verfiel, seine Tagebücher einer Zweitverwertung zuzuführen. Denn er machte einen Zwischenschritt, der auch und gerade literaturwissenschaftlich überaus aufschlussreich ist. Im Juli 1933 beendete er die Arbeit45 an einer interessanten Textsorte, einer – wie er es bezeichnete – „Photoreportage mit ganz neuem Stil“.46 Es handelt sich um eine ungewöhnliche Bild-Text-Interaktion, die 1934 unter dem Titel „Das erwachende Berlin“ erschien. Die Bilder zeigten das politische Berlin von der November­ revolution bis zum „Tag von Potsdam“ – und dieser Bilderbogen war mit Bildunterschriften unterlegt, die alle in deutscher Sütterlinschrift gehalten waren. Die kommentierenden Sätze darunter, die Goebbels vermutlich selbst verfasst hat, wurden hingegen in Fraktur gesetzt. Doch die eigentliche Bedeutungszuweisung ging von dem 12-seitigen „Vorwort“ aus, in dem Goebbels geschickt zwei Erzählstränge miteinander verflocht. In beiden Fällen kam es ihm darauf an, die Stadt Berlin, in der nahezu alle gezeigten Bilder aufgenommen worden waren, zu semantisieren. Goebbels griff dabei offensiv die verbreitete Großstadtkritik auf, indem er in Anlehnung an diesen Diskurs Berlin als „Stadtungeheuer“ bezeichnete.47 Goebbels spielte mit diesem Diskurs, schlug aus ihm aber diskursives Kapital für seine eigentliche Botschaft: Berlin besäße ein enormes Potential, weil gerade die Robustheit, Unsentimentalität und das Tempo, mit dem hier gelebt werde, avantgardistisch sei – Berlin machte es anderen deutschen Städten vor. Hier brach sich – und dies ist auch und gerade für seine Tagebücher und deren Zweitverwertung entscheidend – ein Verständnis von historischer Zeit Bahn, dem jede Ehrfurcht vor Herkommen und Tradition fremd war.48 Für den Revolutionär Goebbels war alles möglich, wenn es nur leidenschaftlich gewollt und tatkräftig und professionell angegangen wurde – und genau aus diesem Grund habe der Nationalsozialismus Berlin nicht als hoffnungslosen Fall abgeschrieben. Gewiss: „Berlin war dem Reiche verloren. Es lebte sein eigenes, frivoles Leben“49; es war die röteste europäische Metropole außerhalb von Moskau. Aber man konnte Berlin erobern, wenn man die stillen kulturellen Reserven der Berliner nutzte – und genau dies getan zu haben und damit erschien 1934: Goebbels, Das erwachende Berlin. Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 2/III, S. 231 (Eintrag vom 20. Juli 1933). 47  Goebbels, Das erwachende Berlin, S. 11. Vgl. allg. zu den Topoi der Berlin- u. Großstadtkritik Stremmel. 48  Vgl. ausführlicher zur komplexen „Zeitlandschaft“ im Nationalsozialismus Clark, Zeit, S. 189–229; ders., Time. 49  Goebbels, Das erwachende Berlin, S. 15. 45  Sie

46  Die

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erfolgreich gewesen zu sein, war die Kernbotschaft seiner Schrift. Und auch deswegen widmete er das Werk dem Märtyrer der NS-Bewegung, also jenem Horst Wessel, der Anfang 1930 in einem undurchsichtigen privat-politischen Konflikt umgekommen war.50 Einen Tag nach Fertigstellung seiner Fotoreportage vertraute er seinem Tagebuch an: „Mein Buch ist fertig. Ich sinne über das zweite. Das wird der eigentliche Clou.“51 Und damit beschrieb er das Projekt, seine Tagebücher als Rohmasse in eine aus seiner Beobachterperspektive geformte Darstellung der politischen Zeitereignisse zu überführen: Aus den Notaten des Tagebuchs sollte die Schrift: „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. Eine historische Darstellung in Tagebuchblättern“ werden. Der eher statisch oder synchronistisch angelegte Photoband wurde durch eine an die Tagebuchnarration angelehnte diachrone Textsorte abgelöst.

III. Dieser Transformationsprozess bedarf genauer Untersuchung; vor allem Literaturwissenschaftler sind hier gefragt, weil die traditionelle Textkritik der Historiker in diesem Fall meistens nicht weiterführt. Wir möchten dabei aus der Fülle der möglichen Aspekte zwei herausgreifen: Erstens ist zu fragen, ob Goebbels unterschiedliche Zeitkonzepte verwendet. Kann er es sich leisten, die strukturelle Unabgeschlossenheit seines Tagebuchs – Goebbels wusste nicht, was der nächste Tag bringen werde und hat seine Notate nie im Lichte später gewonnenen Wissens korrigiert – als strukturbildendes Prinzip einer publizistischen Darstellung zu unterlegen, die um den weiteren Fortgang der Geschichte weiß? Pointiert formuliert: Wie sehr kann und will Goebbels der teleologischen Sogkraft nachträglichen Wissens widerstehen? Zweitens ist nach paratextuellen Verfahren zu fragen, die Goebbels anwendet, um die Rezeption seines Werkes zu steuern. Daraus geht auch hervor, wie er selbst dieses Werk einschätzte. Den revolutionär-aktivistischen Stil, den Goebbels in seinen öffentlichen Auftritten beschwor und den er in seinem politischen Handeln vorlebte, hätte er auch in eine korrespondierende literarische Form kleiden können. Die Tagebücher weisen in diesem Zeitraum noch alle Eigenschaften in aller Eile und unter erheblichem Zeitdruck niedergeworfener Notate auf. Sie sind nicht durchkomponiert, bestehen fast durchgehend aus Hauptsätzen; häufig fehlt das begleitende Verb. Gewiss bildet Goebbels auf diese Weise das Hastige, 50  Ebd.

S. 22; vgl. auch den Widmungstext vor dem Inhaltsverzeichnis. Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 2/III, S. 231 (Eintrag vom 21. Juli 1933). 51  Die



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Unrastvolle und Dynamische des politischen Geschäfts ab, das ihn vor allem 1932/33 in Atem hielt. Doch das Stakkatohafte verbraucht sich als originelles Stilmittel, wenn es durchgehend benutzt wird. Auf jeden Fall ist aus jedem Tagebucheintrag herauszulesen, wie ergebnisoffen Goebbels die politische Lage einschätzte – und dass die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 von ihm keineswegs als bloße Krönung einer unumgäng­ lichen Entwicklung angesehen wurde. So verabschiedet er das Jahr 1932 mit den Worten: „Das neue Jahr! Sehr böse sieht es aus. Aber ich hoffe“.52 Von Siegesgewissheit findet sich hier keine Spur – und auch nicht von dem Drang, die Machtübernahme verbal herbeizuzwingen. Goebbels reflektiert in seinem Tagebuch nicht explizit über sein Zeitkonzept, über die Dynamik von „Erfahrungsraum und Erwartungshorizont“ (Koselleck). Er geht auf in der Rolle des politischen Wirbelwindes, dem auch im Tagebuch die Muße fehlt, sich von den Alltagsdingen reflexiv zu distanzieren. Der Alltag bricht mit aller Macht in sein Tagebuch ein – und er wird immer vom Autor-Ich Joseph Goebbels kanalisiert. Goebbels fehlt weiterhin – und so wird es bis an sein Lebensende bleiben – eine Person auf Augenhöhe, mit der er sich ohne politische Hintergedanken hätte austauschen können. Daher fungiert sein Tagebuch weiterhin als Abladeplatz nicht nur für private Dinge, die allerdings mit den Jahren immer weiter in den Hintergrund treten; sondern vor allem als Ausdrucksmedium für die subjektive Wahrnehmung des politischen Alltags. Von einer dokumentarischen Absicht wird man hingegen auch zu diesem Zeitpunkt kaum sprechen können. Wenn Goebbels ein Historiker gewesen wäre, dann hätte er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, von den In­ sidergesprächen mit Entscheidern wie Hitler wichtige Passagen wortwörtlich seinem Tagebuch als eine Art Dokumentensammlung anzuvertrauen und auf diese Weise der historischen Auswertung vorzuarbeiten. Doch bis zum Abbruch seines Tagebuchs im April 1945 finden sich solche Zitatensammlungen in seinem Tagebuch praktisch überhaupt nicht. Goebbels wollte die diskursive Kontrolle über das behalten, was er notierte: er wollte nicht Andere zu Wort kommen lassen – selbst wenn sie Hitler hießen –; er ließ deren Äußerungen nicht einfach stehen, sondern paraphrasierte, kommentierte und bewertete seine politischen Mit- und Gegenspieler. Insofern wimmelt es im Tagebuch von farbigen Adjektiven, mit deren Hilfe sich Goebbels über Andere ausließ – er ließ hierbei (bis auf dem „Führer“) keinem Parteigenossen Schonung angedeihen.

52  Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 2/III, S. 96 (Eintrag vom 2. Januar 1933).

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Goebbels stand seinen Gesprächspartnern generell durchaus offen gegenüber – er hatte kein endgültiges Urteil über Personen gefällt und war in seiner Einschätzung über Weggefährten und Konkurrenten wie Göring, Heß oder Himmler notorisch schwankend. Er setzte sich mithin der Dynamik der aktuellen Lage aus, die in diesem politischen System ohne klare administrative Strukturen die engere Führungsgarde um Hitler mit ständig neuen Aufgabenbereichen konfrontierte. In gewisser Weise lässt sich konstatieren, dass die auf Improvisieren ausgerichtete charismatische Führerherrschaft in Goeb­ bels den idealen Dolmetscher fand. Genau so stakkatohaft, sich im politischen Augenblick ergehend und zu jeder überraschenden Volte bereit, war Hitlers Herrschaftsstil – und davon blieben seine weltanschaulichen Grundkonstanten – in erster Linie Vernichtungsantisemitismus und Hass auf die christlichen Kirchen – unberührt. Überraschungen positiver wie negativer Art hielt der Alltag daher für Goeb­bels immer bereit – und damit taucht die Frage auf, wie Goebbels den 30. Januar 1933 kommentiert, also jenen Tag, an dem Hitler der Sprung in das Reichskanzleramt gelingt. Goebbels wählt den Vergleich mit einer literarischen Form, die nur ganz wenige Male auftaucht und die daher an dieser Stelle ganz bewusst platziert worden ist: „Hitler ist Reichskanzler. Wie ein Märchen!“53 Der 30. Januar 1933 als märchenhafte Geschichte – eine Geschichte, die einem viel zu unwahrscheinlich vorkommt, als dass man sie für real halten könnte; mit diesem Zugang schafft Goebbels Platz für den Einfall des Rätselhaften und Mirakulösen in die Welt der Politik. Aber er nutzt diese Kategorie nicht ab; als das „Dritte Reich“ in den letzten Zuckungen liegt, wird kein Vergleich zu dieser literarischen Gattung bemüht. Goebbels ist kein Märchenerzähler und lässt daher nur ausnahmsweise diesen Ausdruck zu, weil er überwältigt worden ist von der Erlebnishaftigkeit des 30. Januar 1933. Als sich Goebbels im Sommer 1933 an die Zweitverwertung seiner Tagebücher macht, lässt er sich von einem klaren Narrativ leiten. Er möchte die Unwägbarkeit der Lage nutzen, um daraus einen dramaturgischen Spannungsbogen zu erzeugen. Und genau so schildert er im „Kaiserhof“ den 30. Januar – eine Schilderung, für die sich im Tagebuch nicht die geringste Evidenz findet. Hitler wird hier ganz ins Zentrum gerückt – und zwar als derjenige, der die bis dahin Unwissenden, im Hotel Kaiserhof bang auf Nachricht wartenden NS-Größen über den erfolgreichen Ausgang informiert – allerdings nicht durch ein erlösendes Wort, sondern allein durch seine Körpersprache: „Peinigende Stunde des Wartens. Endlich biegt ein Wagen um die Ecke des Eingangs … Der Führer kommt! Einige Minuten später ist 53  Ebd.,

S. 120.



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er bei uns im Zimmer. Er sagt nichts, und wir alle sagen auch nichts. Aber seine Augen stehen voll Wasser. Es ist soweit!“54 Eine solche dramaturgische Erzählkurve hat auch Platz für das Traum- und Märchenhafte: „Alles mutet an, als wäre es ein Märchen“.55 Aber dies ist ein stilistisches Beiwerk, welches das eigentliche Narrativ von Goebbels nicht außer Kraft setzte – das Narrativ von einem planvollen, gezielten Hinarbeiten auf den 30. Januar 1933. Es ist die Synthese von Kampf und Arbeit, wie sie Goebbels in der SA repräsentiert sah, als deren Frucht der 30. Januar ausgegeben wurde: Kein Zufall, kein günstiger Wink des Schicksals – eben bei aller Dramatik im Detail das Ergebnis eines längeren Prozesses: „Das neue Reich ist erstanden. Es wurde mit Blut geweiht. Eine vierzehnjährige Arbeit wurde vom Sieg gekrönt. Wir sind am Ziel“.56 Zufall und Eigendynamik der Geschichte wollte Goebbels aus seinem Narrativ verbannen – und dies zeigt sich auch in der Art und Weise, wie er auf das nächste Großereignis, die Reichstagswahl vom 5. März 1933, hinsteuert. Gewiss lässt auch das Originaltagebuch Siegeszuversicht durchblicken,57 doch in der publizierten Version stilisierte sich Goebbels zum perfekten Organisator, der den Wahlsieg von Anfang an fest in der Tasche hatte. Dabei war der strategische Umgang mit der Ressource Zeit entscheidend – und diese Passagen des „Kaiserhof“ lesen sich partiell wie ein Handbuch des erfolgreichen Wahlkampfes. Es kam darauf an, sich nicht vom revolutionären Überschwang anstecken zu lassen: „Das Tempo der Revolution darf nicht überstürzt werden“.58 Drosselung des Tempos war ein Gebot der Klugheit, um auf den letzten Metern noch eine unverhoffte Temposteigerung vornehmen zu können: „Wir müssen nur dafür sorgen, daß das Tempo der Revolution im Anfang nicht überspannt wird; denn bis zum letzten Tage soll immer noch eine Steigerung möglich sein.“59 Da man sich an diese Regeln hielt, konnte am 5. März reiche Ernte eingebracht werden: „Dann kommen die ersten Resultate. Sieg über Sieg … Eine lange Arbeit wird mit einem letzten Erfolg gekrönt“.60 Das Privatleben von Goebbels war in diesem Erzählmuster nur Staffage; es war die austauschbare und auf jeden anderen auch übertragbare Muster­ 54  Goebbels,

Kaiserhof, S. 252. S. 253. 56  Ebd., S. 254 (30. Januar 1933). Auch diese Passage stützt sich nicht auf Goebbels Tagebucheintragungen. 57  Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 2/III, S. 122 (Eintrag vom 2. Februar 1933). 58  Goebbels, Kaiserhof, S. 262 (15. Februar 1933). 59  Ebd., S. 269 (25. Februar 1933). 60  Ebd., S. 275 (5. März 1933). 55  Ebd.,

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erzählung, dass der unverhofft heimkehrende Sohn emphatisch willkommen geheißen wird. Goebbels verband dies mit einer geradezu klischeehaften Darstellung seines Blitzbesuchs im heimischen Rheydt am 18. Februar 1933: „Diese ganze wunderbare Jugend taucht wieder vor dem geistigen Auge auf. Vieles, was man schon ganz vergessen wähnte, wird wieder wach und steht lebendig vor der Erinnerung.“61 Verräterisch war allerdings, dass Goebbels gar nicht seine Heimatstadt mit Namen erwähnte, die ihm einen solchen herzlichen Empfang bereitet hatte. Denn im Unterschied zum „erwachenden Berlin“, über das sich Goebbels wenige Monate zuvor ausgelassen hatte, war das Semantisierungsangebot seiner Heimatstadt Rheydt überaus limitiert auf das einer deutschen Provinzstadt ohne jeden attraktiven Bedeutungsüberschuss. Goebbels benötigte eine sentimentale Heimkehrgeschichte – aber er hütete sich wohlweislich, sie mit konkreten Ortsangaben zu verifizieren. Kommen wir nun zur zweiten Frage nach dem möglichen Einsatz von Paratexten, um die Rezeption der Leser zu steuern. Dazu möchten wir beim Untertitel beginnen, der für unser Leitthema besonders aufschlussreich ist: „Eine historische Darstellung in Tagebuchblättern (Vom 1. Januar 1932 bis zum 31. Mai 1933)“. Was uns zunächst interessiert, ist der Einsatz des Begriffs „Tagebuchblätter“. Bereits Goebbels einziger Roman Michael war konzipiert als „Roman in Tagebuchblättern.“ Goebbels meinte, wie er in seinem Tagebuch notierte, dass man in seinem so gestalteten Roman „am besten das Spiegelbild einer Seele und ihrer Entwicklung geben“ könne.62 Das Muster der Seelenspiegelung wie auch das Muster des Entwicklungsromans hatte Goebbels von Goethe übernommen, vor allem „Die Leiden des jungen Werther“ und „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ lieferten ihm Vorbilder für die narrative Gestaltung.63 ‚Tagebuchblätter‘ aber waren ein erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts populär gewordenes Genre, das zum einen in der autobiographisch geprägten Reiseliteratur, zum anderen in der Künstler- und Politiker-Biographik und Autobiographik Verbreitung fand. Im Kontext des Weltkriegs kamen zahlreiche Erfahrungsberichte ‚in Tagebuchblättern‘ hinzu. In jedem Fall gab es innerhalb der im weiteren Sinne als historische Erinnerungen zu bezeichnenden Darstellungen vor allem im 19. Jahrhundert eine Fülle von Werken, die mit dem Paratext „Tagebuchblätter“ operierten. Sie bezeichneten einen Texttypus, der dokumentarische Quellenevidenz gezielt einsetzte, indem er den Text mit dem wörtlichen Abdruck authentischer Zeugnisse anreicherte. Dies konnten Tagebuchaufzeichnungen des Verfassers sein; aber es konnten eben auch Briefe darin Aufnahme fin61  Ebd.,

S. 265 (18. Februar 1933). Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 1/I, S. 71 (Tagebucheintrag vom 9. Januar 1924). 63  Vgl. Michel, S. 77 f. und S. 86 f. 62  Die



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den. ‚Tagebuchblätter‘ waren in jedem Fall mehr als eine kommentierte Quellenedition; sie waren eine vom Autor nach seinen Sinngesichtspunkten organisierte Darstellung von wichtigen Begebenheiten, an denen der Autor mitgewirkt hatte. So auch die ‚kriegspoetische‘ Schrift des Berliner Philosophieprofessors Herrmann Reich: „Das Buch Michael mit Kriegsaufsätzen, Tagebuchblättern, Gedichten, Zeichnungen aus Deutschlands Schulen“, das 1916 erschien und einige Ähnlichkeiten mit Goebbels „Michael“-Roman aufweist.64 In der deutschen Buchkultur waren „Tagebuchblätter“ eine eingeführte Marke, was auch daraus ersichtlich wird, dass die „Edelfeder“ Bismarcks, der zeitweise als sein Presseagent wirkende Moritz Busch, am Ende seines Lebens seine „Tagebuchblätter“ in drei Bänden65 vorlegte. Wer über die Hintergründe des Wirkens Bismarcks mehr erfahren wollte, der konnte hoffen, bei Moritz Busch fündig zu werden, der für alle Bismarck-Kenner hoch im Kurs stand. Und daher ist die Vermutung nicht abwegig, dass der bismarckkundige Goebbels auch die von Moritz Busch gepflegte Marke be­ dienen wollte, als er seine Produktion „Tagebuchblätter“ taufte. „Tagebuchblätter“ hielten – so schien es – die Waage zwischen Authentizität und Literarizität: Sie bedachten den Leser mit der Erwartung, dass er unbearbeitete Dokumente zur Lektüre dargereicht bekam, die aber ausgewählt und literarischkunstvoll miteinander verbunden waren. Werbeanzeigen spielten dieses Spiel insofern mit, wenn sie in Bezug auf Goebbels Publikation zwar nicht von „Tagebuchblättern“, aber doch von „Tagebuchaufzeichnungen“ sprachen und damit genau diese Erwartungshaltung bedienten.66 Goebbels hat jedenfalls in seinem „Vorwort“ zum „Kaiserhof“ auf dieser Klaviatur gespielt und suggeriert, dass die von ihm explizit als „Tagebuchblätter“ deklarierten Aufzeichnungen unverstellte Zeugnisse des historischen Augenblicks seien: „Was hier niedergelegt ist, wurde geschrieben im Drange und Tempo der Tage und manchmal der Nächte. Es ist noch durchbebt von den heißen Erregungen, die die Ereignisse selbst mit sich brachten“. Goebbels bestreitet ausdrücklich, dass seine vermeintlichen Tagebuchaufzeichnungen auf ein Telos hin komponiert wurden; er mimt den unwissenden Zeitgenossen, der nicht weiß, wie sich die Welt in drei Monaten drehen würde: „In den sorgenerfüllenden Stunden, da sie niedergelegt wurden, dachte der Verfasser an alles andere als daran, daß sie in absehbarer Zeit schon einen Beitrag abgeben würden zur Erkenntnis der Zeit, die hinter uns liegt.“67 Solche dazu Michel, S. 134 f., sowie Kurz, S. 141. Tagebuchblätter. 66  Vgl. zwei Werbeanzeigen im „Angriff“, April und Mai 1934, zitiert bei Hermann, In zwei Tagen, S. 36, Anm. 46. 67  Goebbels, Kaiserhof, S. 10 f. (für alle drei Zitate). 64  Vgl.

65  Busch,

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Verstellungskunst gehört zum Anforderungsprofil dessen, der den Standpunkt des Zeitgenossen als besonderes Privileg zur Geltung bringen will: Nur das vermeintlich authentische Wort verbürgt die Evidenz des Geschilderten. „Tagebuchblätter“ war dafür die wichtigste paratextuelle Markierung – aber natürlich verdient auch der Haupttitel „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“ Beachtung. Eigentlich hatte Goebbels ein Titel vorgeschwebt, der die Anlage seiner Publikation treffend auf den Punkt brachte: „Weg zur Macht“68 – denn Goebbels schilderte aus seiner Insidersicht nichts anderes als diesen Weg zur Macht. Aber allem Anschein nach suchte Goebbels einen zündenderen Titel und wählte dafür die bildkräftigere Formel „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“. Alle politisch Interessierten wussten zu jener Zeit, dass der Kaiserhof ein Nobelhotel in Berlin bezeichnete, in dem der Stab Hitlers sich aufhielt, wenn wichtige Termine in Berlin anstanden. Goebbels setzte also das semantische Potential zweier hinreichend ausgewiesener Stätten ein, um den „Weg zur Macht“ als verräumlichtes Bild darzustellen. Es spricht im Übrigen Bände, dass Goebbels das „Vorwort“ des „Kaiserhof“ bereits zu Beginn seines Schreibprozesses niederschrieb. Damit gab er die Marschrichtung vor, die Formationen, in welchen er seine Gedanken exerzieren ließ. Fluchtpunkt war zu zeigen, dass „das, was sich vollzog, nur nach dem unabänderlichen Gesetz einer höheren geschichtlichen Entwicklung sich abspielte“.69

IV. Betrachtet man das Schreiberfahren, also das, was in der Literaturwissenschaft zunächst unter dem Begriff critique génétique eingeführt wurde,70 wird ein weiterer wesentlicher Aspekt des Goebbels-Tagebuchs deutlich. Generell ist es gerade bei der Textsorte Tagebuch erheblich, ob das Tagebuch von der Hand geschrieben oder ob es mit Schreibmaschine verfasst wurde. Der handschriftliche Diarist kann durch Eigentümlichkeiten seiner Handschrift den Text so chiffrieren, dass er nur für den Verfasser selbst lesbar ist. Und einen undurchdringlichen Schutzzaun errichtet ein Diarist dann, wenn er sich der Kurzschrift bedient – und das noch in einer individuellen Variante wie bei Carl Schmitt, dessen Tagebücher daher für den Liebhaber von Expedi­tionen in die Untiefen menschlicher Seele eine fast einmalige Lektüre 68  Vgl. Goebbels Tagebucheintragung vom 4. August 1933: „Zu dem neuen Buch ‚Weg zur Macht‘ eine sehr gute Einleitung geschrieben“, Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 2/III, S. 240. 69  Goebbels, Kaiserhof, S. 11. 70  Hier verdankt dieser Beitrag wesentliche Anregungen Carolin Lange. Vgl. generell zu diesem Ansatz Zanetti.



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bieten. Goebbels hat zunächst mit seiner schwer entzifferbaren Schrift eigenhändig Tagebuch geführt; aber ab Juli 1941 ist ein entscheidender Wechsel seiner Schreibpraxis zu registrieren: Goebbels ging vom selbst geschriebenen zum diktierten Tagebuch über. Er verfügte dazu über den wohl besten Stenographen, der in Deutschland dafür aufzubieten war: Regierungsrat Richard Otte. Otte schaffte die rekordverdächtige Leistung von 500 Silben in der Minute;71 er hatte Goebbels Redeentwürfe perfekt aufgenommen und führte seit 1938 die Protokolle der täglichen sogenannten Ministerkonferenzen, auf denen Goebbels den Pressevertretern Sprach- und Regieanweisungen erteilte. Der 1906 geborene Otte war hauptamtlich als Leiter der Aufnahmeabteilung beim Deutschen Nachrichtenbüro, der wichtigsten Nachrichtenagentur Deutschlands, beschäftigt und wurde im Juli 1941 beurlaubt für Sonderaufgaben im Goebbels-Ministerium,72 als Goebbels eine Art menschliches Diktaphon benötigte: einen perfekt funktionierenden und absolut verschwiegenen Stenographen, der imstande war, jeden Tag etwa eine Stunde lang ein Goebbels-Diktat aufzunehmen, in dem er die Ereignisse des Tages festhielt.73 Mit dem Übergang zum Diktat explodierte förmlich die Masse des Stoffs, der als tagebuchwürdig deklariert wurde. So stand am Anfang eines jeden Diktats nun eine ausführliche Darlegung der militärischen Lage – und allein die Aufnahme von Informationen, an deren Zustandekommen Goebbels keinerlei persönlichen Anteil besaß, verdeutlicht, dass das Tagebuch vom ­ Verfasser mit diesem Moduswechsel nur noch als Chronik der wichtigsten Zeitereignisse betrachtet wurde. Goebbels scheint sich im Juli 1941 dazu entschlossen zu haben, weil nach dem Überfall auf die Sowjetunion der Krieg eine andere Dimension erhielt und damit das Geschehen an der Front Primat über die herkömmliche Politik gewann. Doch wie diktierte Goebbels? Stützte er sich bei seinen Diktaten auf Notizen oder memorierte er die Ereignisse des Tages? Und wie stark engagierte sich Goebbels bei der Korrektur der schreibmaschinenschriftlichen Aufzeichnungen, die Otte aufgrund seiner Stenogramme ausfertigte – eine überaus zeitintensive Arbeit, an deren Ende aber kein perfekter Text stehen konnte, da Hörfehler und Missverständnisse vor allem bei Eigennamen selbst bei ­einem professionellen Stenographen wie Otte nicht auszuschließen waren? Dies sind alles Fragen, die eigentlich zum Kernbereich herkömmlicher Queldie Angaben bei von Oven, Goebbels, S. 65–67. Person Ottes ist von der Geschichtswissenschaft bislang weitgehend ignoriert worden; aufschlussreich ist seine Personalakte im „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“, BA Berlin, RW 55/23323, aus der alle hier versammelten Informationen zur Person Ottes stammen, sofern nicht anderweitig belegt. 73  Ottes Funktion ist in systematischer Hinsicht bislang kaum gewürdigt worden; eine Ausnahme bildet Fröhlich, Joseph Goebbels und sein Tagebuch, vor allem S.  497 f. 71  Vgl. 72  Die

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lenkritik zählen, die aber in der aufgeregten Debatte um den Quellenwert der Goebbels-Tagebücher niemals ernsthaft thematisiert wurden. Wir sind daher auf sporadische Quellenfunde angewiesen, wobei sich die tagebuchartigen Aufzeichnungen von Goebbels‘ Pressesekretär als besonders ergiebig erweisen. Demnach vermerkte Goebbels auf einem Notizblock jedes Tagesereignis, welches er in sein abendliches Diktat aufnehmen wollte. Aus solchen Notizen und weiteren handschriftlichen Aufzeichnungen formte sich der Stoff für das abendliche Diktat. Da Goebbels in dieser Zeit überwiegend in seiner Ministerdienstwohnung in der Nähe seines Dienstgebäudes lebte, fanden solche Aufnahmen im Regelfall im Arbeitszimmer des Propagandaministeriums oder in der Dienstwohnung statt.74 Der Schriftsteller Marcel Beyer hat in seinem Roman „Flughunde“, dessen eine Erzählerstimme Goebbels älteste Tochter Helga ist, Helga Goebbels folgende Worte in den Mund gelegt, die den Diktierprozess durchaus adäquat wiedergeben: Wenn Goebbels „diktiert, dann geht er im Zimmer auf und ab, er liest seine Notizen, er formuliert, zieht an der Zigarette und knüllt einen Zettel nach dem anderen zusammen“.75 Aber allem Anschein nach hat Goebbels auch telefonisch diktiert – und zwar dann, wenn ihn Otte nicht auf Reisen begleitete; dies dürfte vor allem für seine Reisen ins Führerhauptquartier gegolten haben. Otte hat in die von ihm erstellte maschinenschriftliche Vorlage gelegentlich hand- und maschinenschriftliche Korrekturen angebracht. Wie bedeutsam Ottes Rolle als Wächter über Goebbels „Goldgrube“76 der Tagebuchaufzeichnungen war, wird daraus ersichtlich, dass sich Otte im Auftrag von Goebbels auch bereits an die Transkription von Goebbels Tagebuchaufzeichnungen gemacht hatte.77 Otte war neben Goebbels der einzige, der einen Schlüssel zum Panzerschrank besaß, in dem die Tagebücher aufbewahrt wurden.78 Warum die Diktate von Goebbels abrupt mit dem 10. April 1945 enden, das ist eine Frage, die uns zu einer kulturwissenschaftlich noch viel ­interessanteren Fragestellung führt: Denn beim Diktieren handelt es sich im 74  Vgl. die Tagebucheintragung von Ovens, 12. Juli 1943, in: von Oven, Finale furioso, S. 66–68. 75  Beyer, S. 95. 76  Goebbels zu von Oven gemäß der Tagebucheintragung von Ovens, 12. Juli 1943: von Oven, Finale furioso, S. 67. 77  Dies wird deutlich aus der überaus schmalen Einführung „Zur Einrichtung der Edition“, mit der das Editionsteam des „Instituts für Zeitgeschichte“ jeden Band der von ihm herausgegebenen Goebbels-Tagebücher einleitete, die aber nicht ausführlich über die textliche Grundlage informiert und die zentrale Funktion Ottes nur en passant streift, hier gemäß: Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 2/III, S.  18 f. 78  Oven, Finale furioso, S. 67 (Eintrag vom 12. Juli 1943).



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Kern um Phono-Graphie, d. h. um die Überführung einer akustischen in eine skripturale Mitteilung. Der Stenograph gewinnt Hoheit über die Redaktion des Textes, während der Diktierende die stimmliche Beglaubigung des von ihm Gesprochenen dem schriftlichen Endprodukt entziehen muss. „Durch die Übersetzung der Stimme in vorzugsweise mechanisch erstellte Schrift neu­ tralisiert das Diktat den Text gewissermaßen“.79 Aber auch der Autor entkörperlicht sich, wenn er mit seiner Handschrift keine unverwechselbaren Markierungen mehr hinterlässt. Solange das Tagebuch für Goebbels noch sein „Beichtvater“ war, sein „Allerheiligstes“, in dem er seine intimsten Gedanken einsperren konnte, wäre Goebbels nie auf die Idee verfallen, sich fremder Hilfe zu bedienen. Dass er dies dann tat, hing nicht nur mit arbeitsökonomischen Aspekten zusammen. Bereits im Januar 1934 hatte er sich das Diktieren zu eigen gemacht, um seinem Buch „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“ auf der Zielgeraden den entscheidenden Impuls zu geben, um publikationsreif zu werden.80 Mit Übernahme staat­ licher Ämter litt Goebbels unter einer permanenten Arbeitsüberlastung, so dass das Diktat zu einer wichtigen zeitsparenden Arbeitstechnik wurde. Aber dennoch führte Goebbels bis Anfang Juli 1941 sein Tagebuch in handschriftlicher Form weiter. Wenn er dann den Sprung zum Diktat machte, gab er damit der Wesensverwandlung seines Tagebuchs unmissverständlichen Ausdruck: Das Tagebuch war mittlerweile eine rein politische Bestandsaufnahme, in der Privates keinen Platz mehr besaß. Das späte Tagebuch des Joseph Goebbels war ein politisches Tagebuch par excellence, welches uns nichts mehr über den Autor als Privatperson verraten möchte, sondern nur noch über den politischen Akteur. Insofern haben wir es eigentlich mit zwei Sorten von Tagebüchern zu tun, die Goebbels zwischen 1923 und 1945 selber schrieb oder diktierte: einem anfänglich sehr persönlichen journal intime und einem politischen Tagebuch, das den Kern der weltanschaulichen Überzeugungen seines Autors enthielt. Der diktierende Joseph Goebbels hat seinen Sekretär Richard Otte, der in bester historistischer Manier sein Selbst auslöschen und zu einem Aufnahmegerät werden sollte, zur Abfassung einer Chronik angehalten.81 Darob sollte allerdings nicht aus dem Blick geraten, dass der tagebuchschreibende Diarist Goebbels, der das Tagebuch als reflexives Gegenüber einsetzt, mit der Textsorte Tagebuch so umgeht, dass er dessen hybrider Form ein breites Spektrum von textlicher Gestaltung aufzwingt. 79  Binczek,

S. 176. seine Tagebucheintragungen vom 14. und 16. Januar 1934, Die Tage­bücher von Joseph Goebbels, Teil 1, Bd. 2/III, S. 357. 81  Zur Chronistenrolle von Goebbels siehe auch Fröhlich, Joseph Goebbels und sein Tagebuch, S. 496 und S. 522. 80  Vgl.

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Andrea Albrecht und Wolfram Pyta

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Die Tagebücher des Dr. phil. Joseph Goebbels143

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Imagination und Inszenierung. Symbolische Distanzregulation in der Briefkultur des 18. Jahrhunderts Von Robert Vellusig

I. Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch Wenn Historiker das Gespräch mit Literaturwissenschaftlern suchen, dann geht es ihnen nicht um Fragen der Archivarbeit oder der Entzifferung von Handschriften. Das können sie selbst. Literaturwissenschaftler sind als Experten für Texte gefragt. Sie blicken, wenn sie Texte lesen, nicht durch die Texte auf eine hinter ihnen liegende Wirklichkeit hindurch, sondern achten auf die Texte selbst: auf ihre ‚Textur‘, die Logik ihrer Verfasstheit. Und mehr als das: Vor der Vorstellung, dass der geschriebene Text ein Fenster zur Welt sein könnte, scheuen Literaturwissenschaftler zumeist zurück; und es scheint so, als wollten sich Historiker diese Skepsis gegenüber der medialen Unscheinbarkeit von Texten, wenn nicht zu eigen machen, so doch zum Vorbild nehmen. Das gilt insbesondere für die Briefforschung. Die Geschichtswissenschaft versteht den Brief als Ego-Dokument, als herausragendes Zeugnis einer vergangenen Lebenswelt, in dem ein Subjekt in seiner Subjektivität in Erscheinung tritt und damit eine Weise der „Selbstwahrnehmung“1 dokumentiert: „Der Brief bewahrt unmittelbar, geprägt von der Stimmung und vom Eindruck des Augenblicks, was Menschen gewollt, getan und erlitten haben“,2 heißt es im Aufriß der Historischen Wissenschaften von Michael Maurer. Anders als Autobiographien oder Memoiren seien Briefe allen Stilisierungen zum Trotz „doch immer Produkt des Augenblicks, des unmittelbaren Eindrucks. Vor allem sind sie aber auf einen Briefempfänger hin konzipiert, auf ein Du. Dessen Wahrnehmungshorizont und Vorwissen, dessen Interessen und eine umrissene Auffassung von dessen Rolle bestimmen grundsätzlich Inhalt und Sprache, Stilebene und Gefühlsamplitude von Briefen.“3 1  Schulze, 2  Maurer, 3  Ebd.

Ego-Dokumente, S. 28. Brief, S. 360.

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Befragt man die Literaturwissenschaft, so scheint es fast, als müsste der Historiographie der Brief als Quelle abhandenkommen, denn diese fühlt sich einem biographischen Agnostizismus verpflichtet, der es ihr verbietet, die Person, von der im Brief die Rede ist, mit dem Verfasser des Briefes zu identifizieren. Jüngere und jüngste Arbeiten werden nicht müde, zu betonen, dass Briefe keine „Dokumente“ sind, „die eine wie immer auch geartete historische Faktizität transportieren“, sondern „als immer schon konstruierte Texturen“ gelesen werden müssen.4 Das Diktum lautet: „Es gibt für den Brief als Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Untersuchung keine Referenz außerhalb des Briefes.“5 Von Selbstmörderbriefen um 1800 heißt es: Sie sind „ein wohl kalkuliertes, strategisches Artefakt“, sie liefern „alles andere als die Wahrheit der Tat und die Wirklichkeit des Täters“ und sind „weder spontaner noch direkter Ausdruck der inneren Befindlichkeit eines Selbstmörders“.6 Es ist kein Zufall, dass sich die hier formulierten Einsprüche gerade gegen Briefe richten, die aus dem 18. Jahrhundert stammen, gilt das 18. Jahrhundert doch als jene Phase der Kulturgeschichte, in der sich der Brief als Medium der Intimkommunikation etabliert. Johannes Anderegg zufolge sind „die Möglichkeiten des Mediums Brief […] kurz nach 1800 weitgehend ausgelotet“.7 Die literaturwissenschaftliche Briefforschung hat sich daher auf besondere Weise dazu herausgefordert gefühlt, die Vorstellung eines ‚natürlichen‘ Schreibens kritisch zu kommentieren und seine vorgebliche Unmittelbarkeit als Illusion zu entlarven. Albrecht Koschorke spricht von „halluzinogener Präsenztäuschung“8 und einer „Mythologie der Un­ mittelbarkeit“.9 „Der angestrengte Sprung aus der Rhetorik endet nur in einer neuen Rhetorik des Authentischen, Ursprünglichen und Naiven,“10 heißt es bei Nikolaus Wegmann. Zwar wird der Brief von der einschlägigen Forschung immer auch in einem „Spannungsfeld zwischen dokumentarischem Charakter und inszenatorisch-fiktionalem Potential“11 angesiedelt, de facto wird die Vorstellung, „durch schriftliche Kommunikation könne persönliche Nähe herbeigeführt werden“, aber als „empfindsame Illusion“ ent4  Kording,

(V)Erschriebenes Ich, S. 11. Authentizität, S. 134. 6  Neumeyer, Augenblick, S. 192. Vgl. zu Abschiedsbriefen von Selbstmördern auch den Beitrag von Udo Grashoff im vorliegenden Band. 7  Anderegg, „Schreibe mir oft!“, S. 12. 8  Koschorke, Körperströme, S. 194. 9  Ebd., S. 195. 10  Wegmann, Diskurse, S. 82. Für eine kritische Auseinandersetzung mit Wegmann vgl. Schlich, Authentizität, S. 61–63. 11  Schuster/Strobel, Briefe, S. XIII. 5  Anton,



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larvt.12 Der Verkehr in Briefen, so das Diktum, ist „ein Verkehr mit Gespenstern“. „Alles Unglück meines Lebens“, heißt es bei Kafka, „kommt, wenn man will, von Briefen oder von der Möglichkeit des Briefeschreibens her. Menschen haben mich kaum jemals betrogen, aber Briefe immer und Kafka undzwar auch hier nicht fremde, sondern meine eigenen. […] Es ist ja ein Verkehr mit Gespenstern undzwar nicht nur mit dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst, das sich einem unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt oder gar in einer Folge von Briefen, wo ein Brief den andern erhärtet und sich auf ihn als Zeugen berufen kann. Wie kam man nur auf den Gedanken, daß Menschen durch Briefe mit einander verkehren können!“13

Bei Kafka, so der Kommentar von Schuster und Strobel, werde der „Täuschungscharakter“ einer „epistolaren Strategie“ aufgedeckt, die meint, Nähe lasse sich mit sprachlichen Mitteln herstellen. Bereits die Tatsache, dass dies „auf sprachlichem Wege“ geschehe, weise diese Nähe „zumindest teilweise als fingiert“ aus.14 – Auch hier mündet die Argumentation also in die Vorstellung, dass die Sprache selbst es ist, die den Anspruch, Nähe herzustellen, unterminiert, weil das Schreiben von Briefen Distanz notwendigerweise vo­ raussetzt und die sprachliche Gestaltung der Mitteilung stets „mehr oder weniger konventionalisiert“ und darum nichts anderes als „eine neue Pose“ sei.15 Wer in solchen Gedankenfluchten die Orientierung nicht verlieren will, ist gezwungen, noch einmal danach zu fragen, von welcher Erfahrung in der Briefkultur des 18. Jahrhunderts die Rede war und auf welche Weise der Brief hier zum Medium einer intimen Kommunikation werden konnte.

II. Schriftliche Gespräche Ich beginne bei Grundsätzlichem. „Das erste, was uns bei einem Briefe einfällt, ist dieses, daß er die Stelle eines Gesprächs vertritt“, heißt es in Christian Fürchtegott Gellerts Praktischer Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen.16 Der Brief, so lässt sich diese medientheoretische Grundsatzbestimmung paraphrasieren, ist ein Punkt-zu-Punkt-Medium; er richtet sich nicht an eine anonyme Medienöffentlichkeit, wie gedruckte Bücher dies tun, sondern ist individuell adressiert. Anrede, Gruß- und ­ ­Abschiedsformeln – elementare Eröffnungs- und Abschlusshandlungen der

12  Ebd.,

S. XXI. Briefe an Milena, S. 315 f. 14  Schuster/Strobel, Briefe, S. XXI. 15  Ebd. S.  XVI f. 16  Gellert, Abhandlung, S. 111. 13  Kafka,

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Kommunikation – etablieren einen „idealisierten Kommunikationsraum“17 und weisen den Brief als funktionales Äquivalent eines Gesprächs aus. Anders als Gespräche aber, in denen das, was gesprochen wird, ein für sich genommen unselbständiger Teil eines umfassenderen Gesprächszusammenhangs ist, besitzt der einzelne Brief eine „sprechsituationsüberdauernde Stabilität“.18 Er lässt sich aus einer Kommunikations- bzw. Schreibsituation in eine andere Kommunikations- bzw. Lesesituation übertragen. Die Briefforschung hat deshalb von einer „zerdehnten Sprechsituation“19 und vom „brieftypischen Phasenverzug“20 gesprochen und damit die temporale Dimension des Briefwechsels angemessen charakterisiert, nicht aber schon die strukturelle Logik des einzelnen Textes eingefangen. Wenn Ludwig Börne in seinen Briefen aus Paris klagt: „Bis von uns einer auf den Brief des andern antwortet, verstreichen gewöhnlich neun Tage, so daß wir oft beide nicht mehr wissen, worauf sich die Antwort bezieht. […] Diderot in seinen Briefen ärgert sich auch oft darüber und sagt: es ist mir wie jenem Reisenden, der zu seinem Gesellschafter im Wagen sagte: ‚Das ist eine sehr schöne Wiese.‘ Eine Stunde darauf antwortete dieser: ‚Ja, sie ist sehr schön.‘ “21 –

dann macht dieser Vergleich auf ebenso drastische wie plastische Weise deutlich, dass Briefe so nicht funktionieren. Sie sind ihrer Struktur nach keine zerdehnten Wechselreden, sondern situationsentbundene Texte, die einen eigenen Sinnzusammenhang entfalten. An die Stelle der „interaktiven“ tritt die „eigenaktive Diskursgestaltung“.22 Nun hat die jüngere Briefforschung zwar nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass der Brief mehr ist als ein geschriebener Text. Er ist immer beides: Ereignis und Objekt. Der Prozess der Artikulation hat sich in ihm materiell vergegenständlicht. Doch auch wenn Briefe als bloße Texte im vollen Sinn des Wortes „keine Briefe mehr“ sind,23 ist die Textualität der Mitteilung ein für die Geschichte des Briefes doch entscheidendes Merkmal epistolarer Kommunikation – insbesondere dann, wenn sich das Medium gegenüber den Mitteln seiner Übertragung autonomisiert. Der Wortlaut eines 17  Vgl. Kilian, Dialogforschung, S. 129; zur von der Forschung meist vernachlässigten Unterscheidung zwischen dem Brief als Medium, als Kommunikationsform und als Gattung vgl. Vellusig, Poesie, S. 57‒61. 18  Ehlich, Text, S. 32. 19  Ebd. 20  Bürgel, Privatbrief, S. 290. 21  Börne, Briefe aus Paris, S. 77 (Brief v. 11.12.1830). 22  Ágel/Hennig, Überlegungen, S. 189. 23  Bohnenkamp/Wiethölter, Einführung, S. IX.



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Briefes, der auf die vermittelnde Aktivität eines Boten24 verzichtet, muss sich von selbst verstehen; Autonomie als Text gewinnt er nur dann, wenn die „Überlieferungsqualität […] in das Übertragungsmittel selbst investiert“ wird, wie Konrad Ehlich sagt.25 Das macht das Schreiben von Briefen zur besonderen Herausforderung und es macht zugleich auch verständlich, weshalb es sinnvoll ist, sich an Vorbildern und Mustern zu orientieren.

III. Textualität und Rhetorik: Literale Prozeduren Im Rahmen der frühneuzeitlichen Schriftkultur wurde die Kunst, Texte zu verfassen, von der Rhetorik gelehrt. Doch damit nicht genug: Der Rhetorik kam im Bildungssystem die Rolle einer „regina artium“ zu: Sie verwaltete die Lehre vom Redeschmuck und den wirkungsmächtigen Argumentationsund Überzeugungstechniken und leitete sowohl zu einer allgemeinen Eloquenz als auch zur Disputationskunst an. Für die Rhetorik ist alles „Rede“. Ihre Grundbestimmungen (persuasio, eloquentia, ornatus etc.) sind so elementar, dass sie es – wie Gisbert Ter-Nedden deutlich gemacht hat – erlauben, „die Differenz zwischen geschriebenen und gesprochenen Texten, zwischen gebundener (poetischer) und ungebundener (prosaischer) Rede, zwischen erfundenen (res fictae) und gefundenen (res factae) Historien, zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Künsten (Musik, Malerei) und zwischen profanen und sakralen Äußerungen als sekundär zu behandeln.“26

Die Kritik, die das 18. Jahrhundert an der Rhetorik üben wird, richtet sich gegen Unzulänglichkeiten, die gerade ihrem imperialen Status innerhalb des frühneuzeitlichen Bildungssystems geschuldet sind. Weil die Schriftkultur als Ganzes auf rhetorischen Fundamenten ruht, ist auch die Epistolographie in einem kaum zu überschätzenden Ausmaß rhetorischem Denken und rhetorischen Routinen verpflichtet. Sie begreift die Ausarbeitung einer Rede als ­argumentative Entfaltung eines Themas und vermittelt dem Verfasser von Briefen Strategien, die den kreativen Prozess des Formulierens in eine Form routinierter Aufgabenbewältigung verwandeln.27 Eine zentrale Bedeutung spielen dabei literale Prozeduren.28 Prozeduren sind Textbildungsverfahren, stabile Schreibroutinen und verbale Programme, 24  Für die Briefkultur des Mittelalters vgl. Köhn, Latein, S. 347 ff.; Moos, Briefkonventionen, S.  174 ff. 25  Ehlich, Text, S. 38. 26  Ter-Nedden, Rhetorik, S. 171. 27  Vgl. Antos, Textherstellen. 28  Vgl. Feilke, Dinge, v. a. S. 3 f.

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die den Status eines „textkonstituierenden sprachlichen Wissens“ besitzen. Sie sind zwischen offenem Prozess und fertigem Produkt angesiedelt, insofern eine komplexe Gedankenfolge in ihnen sprachlich vorgebildet ist. Eine solche literale Prozedur ist die sogenannte Chrie, die „kurze, in sich schlüssige Darlegung und Ausfaltung einer […] These“.29 „Chria est connexio multarum Enunciationum“,30 lautet die Bestimmung, die Christian Weise ihr gibt. Die Chrie beruht auf einer mehr oder weniger feststehenden Folge von Partikeln, mit deren Hilfe sich jedes beliebige Thema in eine wohldisponierte Schlussrede transformieren lässt. Ihr zentraler Stellenwert im Rhetorikunterricht dokumentiert, in welch hohem Maß die Verständlichkeit von Texten an die Verknüpfungsleistung einer Syntax gebunden ist, die die vieldimensionalen Relationen eines Sachverhalts in eine eindimensionale Wortfolge bringt. Während das Sprechen mit einem Minimum an syntaktischer Gliederung auszukommen vermag, sind schriftliche Texte syntaktisch in hohem Maße elaboriert. In seinen Curiösen Gedancken von Deutschen Brieffen preist Christian Weise die Ordnung der Partikel und ihr textbildendes Potenzial als immer und überall anwendbare literale Prozedur: „Da mag ich nur die Particulas wie sie genennet werden / nach einander ansehen: so wird kein Fall in der gantzen Welt können erdacht werden / der sich auff eben diese Manier nicht disponiren ließ. Denn so stehen sie gleich in ihrer Ordnung. 1. Demnach 2. So 3. Wann dann 4. Als 5. Derohalben 6. Daran.“31

Die Probe aufs Exempel ist ein „Hochzeit-Brieff“. Wer einen solchen Brief schreiben möchte, braucht nur „die Particulas, gleichsam von sich selber lauffen [zu] lassen“. Dann formt sich unter der Hand z. B. folgender Text: „Demnach Gott die Gnade gegeben / daß zwischen mir und der geliebtesten Jungfer N. N. ein Christliches Ehe-Verlöbniß getroffen worden: So ist nunmehro der 13. Tag dieses Monats darzu angesetzet / darinne dieses Christliche Werk / durch Priesterliche Copulation soll vollzogen werden. Wann dann mein hochwerther Herr mir jederzeit mit vornehmer Gunsterwogenheit zugethan gewesen; 29  Barner,

Barockrhetorik, S. 286. Vgl. Fauser, Chrie. Chria, S. 5. 31  Weise, Gedancken, S. 14. 30  Weise,



Imagination und Inszenierung151 Als würde meinem Ehren-Tage was grosses mangeln / wenn wir dessen angenehmer Gegenwart nicht sollten theilhafftig seyn. Derohalben ist meine dienstliche Bitte / er wolle so geneigt seyn / und auf den beniemten Tag / als ein lieber vornehmer Gast/erscheinen/und uns seines Gebeths und seiner Fröligkeit geniessen lassen. Daran geschiehet beyderseits geliebter Freundschafft ein hoher Gefallen/welchen sie vor dißmahl mit aller möglichen Auffwartung / Lebenslang aber mit allen angenehmen Diensten zu erwiedern werden befliessen seyn. Verbleibe unter Gottes Obhut / etc.“32

Glanz und Elend solcher Textbildungsverfahren sind evident. Sie entlasten den Verfasser eines Briefes, indem sie ihm die Ordnung der Gedanken in einem sehr konkreten Sinne vorschreiben; sie nehmen ihm aber zugleich auch den Spielraum, sich der „freywilligen Folge seiner Gedanken“33 zu überlassen, indem sie die Syntax auf eine Weise fixieren, die der Rede in der Face-to-Face-Interaktion fremd ist. Das Resultat ist ein Text, in dem sich die syntaktische Elaboriertheit und Explizitheit des schriftlichen Formulierens mit dem amplifizierenden Formelapparat der Rhetorik zu einem medien­ geschichtlichen Unikum verbinden. Zwar schreiben sich solche Texte gleichsam von selbst; der Text, der dabei entsteht, hat mit der Sprache des Umgangs aber wenig gemein: So spricht man nicht, so schreibt man nur. Alle Einsprüche gegen die Rhetorik sind Einsprüche gegen solche Formulierungsroutinen, deren Etablierung sich ihrerseits einer sehr spezifischen kulturgeschichtlichen Konstellation verdankt: der Bindung der Schriftkultur an die Gelehrtenkultur, der Bindung der Gelehrtenkultur an die Latinität und der Bindung der Latinität an die Rhetorik. Wer in der Frühen Neuzeit in die Schriftkultur sozialisiert wurde, lernte das Schreiben im Kontext einer Sprache die „nur in den männlichen und extrafamilialen Institutionen der clerici und literati“ gesprochen wurde.34 Die Literaturwissenschaft hat die Auflösung dieser Konstellation zum erklärungsbedürftigen Phänomen erklärt und die Entstehung einer muttersprachlichen Briefkultur entweder auf die Emanzipationsbewegung des Bürgertums zurückgeführt35 oder in ihr einen Prozess der „Selbstnaturalisation der Kultur“ gesehen, in dessen Verlauf die Medien der Kommunikation un-

32  Ebd.,

S.  14 f. Abhandlung, S. 126. 34  Ter-Nedden, Rhetorik, S. 173. 35  Brüggemann (Gellert, S. 141) spricht von einer bürgerlichen „Forderung nach Gedankenfreiheit“; Schöne (Brief an Behrisch, S. 207) deutet den „Stilwandel“ als „Widerspiegelung und Bekräftigung eines Wandels der sozialen Verhältnisse“. 33  Gellert,

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scheinbar werden.36 Die sozialgeschichtliche Deutung führt den Strukturwandel der Schriftkultur auf einen Antagonismus sozialer Gruppen zurück, die es in der historischen Wirklichkeit selbst so nicht gegeben hat (der Aufstieg des Bürgertums ist eine historiographische Fiktion des 19. Jahrhunderts). Die im weitesten Sinne kultursoziologisch argumentierende Mediologie des 18. Jahrhunderts verweist auf die „Interdependenz von technischer Medialität und Semiose“37 und zeichnet den selbstevolutionären Prozess nach, in dem die Textualität der Kultur ihre „Stimmigkeit und Konsistenz“38 gewinnt. Die Frage, welche lebensweltlichen Erfahrungen sich in der Skepsis gegenüber der Rhetorik zur Geltung bringen, liegt aber außerhalb ihres Horizonts. Erklärungsbedürftig ist nun aber nicht die Tatsache, dass die Rhetorik ihre zentrale Stellung innerhalb der Schriftkultur verlor, sondern, dass sie diesen Stellenwert überhaupt gewinnen und über Jahrhunderte auch behaupten konnte. Der Wandel der Briefkultur, der hier zur Diskussion steht, muss zuallererst als Wandel der Artikulationskultur begriffen werden, der durch die ebenso elementare wie folgenreiche Tatsache provoziert wurde, dass die Schrift den kommunikativen Alltag erreichte. Zur Diskussion steht also jener sprachlich-kulturelle Evolutionsprozess, in dessen Verlauf sich das Verhältnis von Rede und Schrift neu organisierte. Erst durch den Buchdruck kam jener lange und mühsame „Prozeß wechselseitiger Anpassung der gesprochenen und geschriebenen Volkssprachen“ in Gang, in dem sich „jene überregionalen Schriftsprachen […] ausbildeten, die das Monopol des Latein für die Wissensbestände der Schriftkultur beendete“39 – und damit auch die Bedeutung des Rhetorikunterrichts unterminierte. Eine besondere Dynamik gewann dieser Prozess durch die Entstehung der periodischen Printmedien, die den Buchdruck zum ersten Massenmedium der Menschheitsgeschichte machten und eine Schriftkultur im eminenten Sinn hervorbrachte. Von einer solchen lässt sich allen Ernstes nur dann sprechen, wenn eine Gesellschaft „ihr Wissen vor allem in Texten niederlegt und aus Texten bezieht“ und wenn sie „ihre Institutionen – Bildung, Religion, Wissenschaft, Recht – auf Texttraditionen und Textkritik aufbaut“.40 Literalität, so Helmuth Feilke, schließt deshalb „ein verändertes Verhältnis des Menschen zur Sprache, zu sich selbst und zur Gesellschaft“ ein.41

36  Vgl. Koschorke, Körperströme, S. 451: Medien sind „Agenten der Selbstnaturalisation der Kultur“. 37  Ebd., S. 11. 38  Ebd., S. 13. 39  Ter-Nedden, Rhetorik, S. 173. Grundlegend: Giesecke, Sinnenwandel. 40  Feilke, Textwelten, S. 31. 41  Ebd. Vgl. Glück, Schrift, S. 182–187.



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Die Geschichte des Briefes ist Teil dieses Literalisierungsprozesses, dessen kulturrevolutionäre Phase die Namen „Aufklärung“ und „Empfindsamkeit“ trägt und der als solcher nicht weiter erklärt zu werden braucht – am wenigsten durch den Hinweis auf ein gestiegenes Informations- oder Mitteilungsbedürfnis. Kommunikationstechnische Basisinnovationen bringen Bedürfnisse nicht hervor, sondern schließen an Bedürfnisse an und werden erst „dadurch zu Selbstläufern, dass sie den Bedarf, auf den sie antworten, in Form von Rückkopplungsschleifen selbst erzeugen“.42 Menschen sind wissensdurstige und erlebnishungrige Wesen und sie nutzen die Medien, die ihnen zur Ver­ fügung stehen, um diese Bedürfnisse zu befriedigen. Weil sich der Mediengebrauch von selbst versteht, wird auch verständlich, weshalb das bislang Selbstverständliche, die Routinen des Formulierens, merkwürdig werden musste.

IV. Die Sprache des Herzens Rhetorische Dispositionstechniken sind hilfreich, wenn es Texte herzustellen gilt, in denen es um die argumentative und suggestive Entfaltung eines Themas geht; die Ausdrucksbewegung des Sprechens aber, die sich in Form performativer Werte zur Geltung bringt,43 gewinnt dabei nicht Gestalt. Zwar ist sich auch die rhetorische Brieftheorie der Differenz von Sachbezug und Personbezug bewusst, die personale Dimension der Artikulation wird ihr aber nicht zur literarischen Formulierungsaufgabe, sondern der Lehre von den drei genera dicendi überantwortet oder im insinuativen Formelapparat des Grußes, der Anrede und des Abschieds vergegenständlicht. Der zitierte Hochzeitsbrief macht das deutlich: Er ist als Text hochkomplex, in ästhetischer Hinsicht aber nichtssagend. Ganz abgesehen davon, dass er die einzelnen Beweggründe der Einladung in einer Explizitheit zur Sprache bringt, die als solche dysfunktional ist, vermittelt er keine Vorstellung von der Bewegtheit des Sprechens: „die Sprache des Herzens läßt sich in keine Chrie zwingen“,44 lautet denn auch die Kritik Gellerts, dessen Briefsteller dazu anregen will, die im Lateinunterricht vermittelten Formulierungsroutinen wieder zu verlernen. Gellerts „praktische Abhandlung“ will die Sprachaufmerksamkeit schulen, indem sie die (im günstigsten Fall) nüchternen, zumeist aber gedankenlos umständlichen Schriftsätze, die der Rhetorikunterricht produziert, mit der „Beredsamkeit des gemeinen Lebens“45 konfrontiert und daraus Gesichtspunkte gewinnt, an denen das Schreiben von 42  Ter-Nedden,

Kino-Effekt, S. 127. Lösener, Wort, S. 101‒107. 44  Gellert, Abhandlung, S. 129. 45  Ebd., S. 151. 43  Vgl.

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Briefen Maß nehmen kann. Deshalb ist Gellerts eingangs zitierter Gedanke, dass der Brief die Stelle eines Gesprächs vertritt, mehr als eine bloße medientheoretische Grundsatzbestimmung; er macht sich die Differenz von Rede und Schrift zum ästhetischen Problem und entwickelt daraus ein literarisches Programm. Der Brief, der sich als personales Artikulationsmedium zum Medium einer schriftlichen Form des „geselligen Betragens“ (Schleiermacher) macht, versteht sich nicht mehr als argumentative Rede über einen Gegenstand, sondern als Mimesis einer kommunikativen Begegnung, die im ausdrücklich Gesagten nicht aufgeht. Das als „Empfindsamkeit“ zu etikettieren, verkürzt den Strukturwandel der Schriftkultur zu einer mentalitätsgeschichtlichen Phase der kulturellen Evolution. Betroffen sind die Standards der Artikulation, wie sich nicht zuletzt in der Literatur zeigt – und zwar nicht nur im narrativen Schreiben, sondern auch in der Sprache des Dramas.46 Auch hier lässt sich ein Prozess beobachten, den Gottfried Zeißig als „Überwindung der Rede“ bezeichnet hat, d. h. als Überwindung einer Form der Artikulation, bei der die dramatis personae ihre Gefühls- und Seelenlagen räsonierend erörtern, zugunsten einer Ausdrucksweise, die sich als emotional bewegtes Sprechen imaginieren lässt. Als durchaus programmatisch kann eine stilkritische Reflexion Lessings gelten. Sie macht deutlich, in welchem Ausmaß rhetorische Formulierungsroutinen die Artikulation prägen und welche ästhetischen Standards von der zeitgenössischen Kritik eingefordert werden. Lessing entwickelt seine Überlegungen in der Besprechung eines Dramas der französischen Dichterin Françoise de Graffigny, die von Luise Gottsched übersetzt wurde. Die „Sprache des Herzens“, so sein Kommentar, „hat ihre eigene Regeln; und es ist ganz um sie geschehen, sobald man diese verkennt, und sie dafür den Regeln der Grammatik unterwerfen, und ihr alle die kalte Vollständigkeit, alle die langweilige Deutlichkeit geben will, die wir an einem logischen Satze verlangen.“47

Das ist eine Charakterisierung, die auch auf den wohldisponierten Brief zutrifft, der einzelne Bestimmungen der Rede in eine argumentative Schlussfolge bringt. Lessings Kritik entzündet sich an folgender Szene: „Z.E. Dorimond hat dem Mericourt eine ansehnliche Verbindung, nebst dem vierten Teile seines Vermögens, zugedacht. Aber das ist das wenigste, worauf Mericourt geht; er verweigert sich dem großmütigen Anerbieten und will sich ihm aus Uneigennützigkeit verweigert zu haben scheinen: ‚Wozu das?‘ sagt er. ‚Warum wollen Sie sich ihres Vermögens berauben? Genießen Sie ihrer Güter selbst; sie haben Ihnen Gefahr und Arbeit genug gekostet.‘ ‚J’en jouirai, je vous rendrai tous heuTer-Nedden, Unlust. Hamburgische Dramaturgie, S. 280 (20. Stück). – Die folgenden Zitate ebd., S.  280 f. 46  Vgl.

47  Lessing,



Imagination und Inszenierung155 reux‘: läßt die Graffigny den lieben gutherzigen Alten antworten. ‚Ich will ihrer genießen, ich will euch alle glücklich machen.‘ “

Lessing ist entzückt. Er erkennt in der Art und Weise, wie Dorimond antwortet, den Charakter der Figur auf unübertreffliche Weise ausgedrückt. Die Rede der Figur ist in einem prägnanten Sinn ein Spiegel ihrer Seele: sie zeigt sich in der Art und Weise, in der sie sich in der Rede gibt und in der ihre ihr eigentümlichen Tendenzen Gestalt gewinnen. Ein großer Gedanke ist hier auf äußerst lakonische Weise ausgesprochen. Lessings Begeisterung ist ein Echo dieser Artikulationsleistung: „Vortrefflich! Hier ist kein Wort zu viel! Die wahre nachlässige Kürze, mit der ein Mann, dem Güte zur Natur geworden ist, von seiner Güte spricht, wenn er davon sprechen muß! Seines Glückes genießen, andere glücklich machen: beides ist ihm nur eines; das eine ist ihm nicht bloß eine Folge des andern, ein Teil des andern; das eine ist ihm ganz das andere: und so wie sein Herz keinen Unterschied darunter kennt, so weiß auch sein Mund keinen darunter zu machen; er spricht, als ob er das nemliche zweimal spräche, als ob beide Sätze wahre tautologische Sätze, vollkommen identische Sätze wären; ohne das geringste Verbindungswort.“

Umso entsetzter ist Lessing, wenn er dann die deutsche Übersetzung präsentiert: „O des Elenden, der die Verbindung nicht fühlt, dem sie eine Partikel erst fühlbar machen soll! Und dennoch, wie glaubt man wohl, daß die Gottschedin jene acht Worte übersetzt hat? ‚Alsdenn werde ich meiner Güter erst recht genießen, wenn ich euch beide dadurch werde glücklich gemacht haben.‘ Unerträglich! Der Sinn ist vollkommen übergetragen, aber der Geist ist verflogen; ein Schwall von Worten hat ihn erstickt. Dieses Alsdenn, mit seinem Schwanze von Wenn; dieses Erst; dieses Recht; dieses Dadurch: lauter Bestimmungen, die dem Ausbruche des Herzens alle Bedenklichkeiten der Überlegung geben, und eine warme Empfindung in eine frostige Schlußrede verwandeln.“

Warme Empfindung – frostige Schlussrede: Lessing macht mit großem Nachdruck darauf aufmerksam, wie sich hier die rhetorischen Routinen des Schreibens – die „Regeln der Grammatik“ – gegenüber der Logik der zwischenmenschlichen Begegnung verselbständigen und die Person selbst dabei nicht einfach unsichtbar machen, sondern distanziert erscheinen lassen. Das hat damit zu tun, dass die konkrete Formulierung andere Weisen des Sprechens suggeriert. Der Satz „Ich will ihrer genießen, ich will euch alle glücklich machen“ will mit einem Gestus gesprochen werden, in dem sich die „innere Haltung“48 des Sprechenden mitteilt: Die Formulierung legt es nahe, das „will“ zu betonen, und artikuliert damit einen energischen Widerspruch zur Unterstellung, der Großmütige könnte sich durch sein Geschenk selbst berauben; die Parallelführung der beiden Sätze akzentuiert darüber 48  Vgl.

Zutt, Haltung.

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hinaus den inneren Zusammenhang zwischen dem Genuss der eigenen Güter und der Freude über das Glück der anderen. Lessing wird darin eine Paraphrase auf den großen Gedanken von Leibniz gesehen haben, dass Liebe als „delectatio in felicitate alterius“ aufzufassen sei, durch den Leibniz die Frage des Eudämonismus gelöst sah, „wie ein ursprüngliches Interesse am Anderen mit dem unüberwindlichen Wunsch nach eigenem Glück zusammengehen könne“.49 All das nimmt in der diskutierten Szene aber nicht die Züge eines Bekenntnisses an, sondern bleibt in seiner lakonischen Kürze bloß angedeutet. Die Replik verleiht dem Charakter Prägnanz, gerade weil dieser den Werthorizont seines Handelns nicht expliziert. Die innere Bewegtheit seines Sprechens und die Dezenz, mit der er sich scheut, seine Werte zur Schau zu stellen, haben hier einen für Lessing unüberbietbaren Ausdruck gefunden. Die Erfahrung, dass sich eine innere Haltung auf ideale Weise gestaltet findet, variiert eine Erfahrung, die Lessing angesichts der Schauspielkunst der Madame Hensel macht: „Auch der, der nicht weiß, ob die Liebe sich so erklärt, empfand, daß sie sich so erklären sollte.“50 Von Emphase und Dezenz findet sich in der Übersetzung der Gottschedin keine Spur. Dorimond spricht hier so kühl und distanziert wie ein Vulkanier, der Leibniz gelesen hat. Lessings Kommentar macht deutlich, dass hier mehr auf dem Spiel steht als eine bloße Formulierungsroutine. Sein Entzücken („Vortrefflich! Hier ist kein Wort zu viel!“) und sein Entsetzen („O des Elenden, der die Verbindung nicht fühlt, dem sie eine Partikel erst fühlbar machen soll!“) geben zu erkennen, dass sich in der Rede des „gutherzigen Alten“ eine Haltung offenbart, die es nicht nur verdient, wahrgenommen zu werden, sondern die denjenigen, der dazu nicht in der Lage ist, auch zu einem bedauernswerten Geschöpf macht. Lessings Ton ist in dieser Hinsicht selbst sprechend: eine schriftliche Mimesis des Sprechens und seiner personalen Anmutungen. Das dominante Merkmal der Dramensprache, gegen die Lessing sich wendet, ist das Prinzip „mimische[r] Enthaltsamkeit“.51 – Das ästhetische Programm einer „Überwindung der Rede im Drama“ versucht Personen so zum Sprechen zu bringen, dass der dramatische Text dem Spiel zwischen den Personen allererst Raum gibt. „Überwindung der Rede“ heißt: Nachbildung eines personalen, situations- und interaktionsgebundenen Sprechens, das auf suggestive Weise vermittelt, dass das gesprochene Wort nicht alles, sondern nur Teil eines psychischen Geschehens und einer Interaktionsdynamik ist. Sprache wird dabei zu einem elementaren „Illusionsmittel“;52 sie gewinnt 49  Die Formel findet sich u. a. in einem Brief an Magliabecchi vom 3./13. Juni 1698, zit. nach Spaemann, Glück, S. 106 u. 123. Dort auch das Spaemann-Zitat. 50  Lessing, Hamburgische Dramaturgie, S. 206 f. (4. Stück). 51  Zeißig, Überwindung, S. 10. 52  Ebd., S. 104.



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mimisch-gestische Qualitäten. Das „Verlangen nach Ergänzung in Aktion und Gebärde“ ist „den Sätzen und Worten selbst immanent“.53 Im Fazit seines ästhetischen Exkurses kommt Lessing auf die Formen der Anrede zu sprechen. Auch hier zeigt er eine Sensibilität für Fragen des Ausdrucks, die sich mit der von der germanistischen Forschung diagnostizierten „Zeichenvergessenheit“ der empfindsamen Rede nicht recht verträgt, sondern dokumentiert, dass die „Einsicht in die Autonomie sprachlicher poiesis“54 nicht erst eine Einsicht des 20. Jahrhunderts ist: „Denen, die mich verstehen, darf ich nur sagen, daß ungefehr auf diesen Schlag das ganze Stück übersetzt ist. Jede feinere Gesinnung ist in ihren gesunden Menschenverstand paraphrasiert, jeder affektvolle Ausdruck in die toten Bestandteile seiner Bedeutung aufgelöset worden. Hierzu kömmt in vielen Stellen der häßliche Ton des Zeremoniells; verabredete Ehrenbenennungen contrastieren mit den Ausrufungen der gerührten Natur auf die abscheulichste Weise. Indem Cenie ihre Mutter erkennet, ruft sie: ‚Frau Mutter! o welch ein süßer Name!‘ Der Name Mutter ist süß; aber Frau Mutter ist wahrer Honig mit Citronensaft! Der herbe Titel zieht das ganze, der Empfindung sich öffnende Herz wieder zusammen. Und in dem Augenblick, da sie ihren Vater findet, wirft sie sich gar mit einem ‚Gnädiger Herr Vater! bin ich Ihrer Gnade wert!‘ ihm in die Arme. ‚Mon pere!‘ auf deutsch: Gnädiger Herr Vater. Was für ein respectuöses Kind! Wenn ich Dorsainville wäre, ich hätte es eben so gern gar nicht wieder gefunden, als mit dieser Anrede.“

Lessings Kommentar vermittelt eine Vorstellung von den Nuancen der I­ntimität, die sich in den zeitgenössischen Formen der Anrede zur Geltung bringen. Hier ist in einem sehr konkreten Sinn von der Frage die Rede, wie mithilfe der Sprache Nähe hergestellt wird. Wenn Lessing schreibt, dass der „herbe Titel“ „Frau Mutter“ „das ganze, der Empfindung sich öffnende Herz wieder zusammen“ zieht, dann macht er deutlich, was es heißt, sich vor jemandem unwillkürlich zu verschließen. Wenn er pointiert in Erwägung zieht, es wäre besser, ein allzu „respectuöses Kind“ lieber auf ewig verloren zu haben, als es mit einer solchermaßen distanzierten Anrede wiederzufinden, dann zeigt er, dass die Anrede selbst die Erfahrung von Nähe maßgeblich moduliert. Damit kehrt die Argumentation wieder zur Frage des Briefverkehrs zurück. Die „Sprache des Herzens und der Vertraulichkeit“,55 die in der Epistolographie des 18. Jahrhunderts bewusst kultiviert wird, ist Teil einer umfassenderen Revolution der literarischen Artikulationsformen. Sie bezeichnet eine Form der sprachlichen Distanzregulation, in der Nähe auf eine Weise erkundet wird, die in der Interaktion selbst so nicht möglich ist. Der Brief findet 53  Ebd. S. 94.

54  Schuster/Strobel, 55  Gleim/Lange,

Briefe, S. XXII. Freundschaftliche Briefe, S. 33.

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darin seine Autonomie. Das heißt nun aber nicht, „dass die Herstellung von Nähe Distanz voraussetzt“, wie die literaturwissenschaftliche Forschung behauptet;56 schriftliche Distanzkommunikation und symbolische Distanz­ regulation sind zwei voneinander zu unterscheidende Phänomene. – Was ist damit gemeint?

V. Literale Distanzkommunikation – symbolische Distanzregulation Distanzregulation ist eine sozial motivierte, von Artgenossen ausgelöste und auf sie gerichtete Verhaltensweise; sie beruht auf der Disposition, zu ihnen eine optimale Distanz einzunehmen.57 Das ist zunächst sehr konkret zu verstehen: Distanz ist primär eine räumliche Relation. Man geht denen aus dem Weg, denen man nicht über den Weg traut; man sucht die Nähe derjenigen, denen man nahe sein möchte – und die Erreichung dieses Triebziels wird bereits als entspannend bzw. befriedigend erlebt. Wenn Kafka in dem einleitend zitierten Brief an Milena schreibt: „Wie kam man nur auf den Gedanken, daß Menschen durch Briefe mit einander verkehren können! Man kann an einen fernen Menschen denken und man kann einen nahen Menschen fassen, alles andere geht über Menschkraft“ und wenn er behauptet, die Menschheit habe „um möglichst das Gespenstische zwischen den Menschen auszuschalten“ und „den natürlichen Verkehr, den Frieden der Seelen zu erreichen, die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan erfunden“,58 dann akzentuiert er die lokomotorische Distanzregulation als die dem menschlichen Seelenfrieden förderliche Weise, jemandem nahezukommen und in jemandes Nähe zu sein. Für die zur Debatte stehende Frage einer „sprachlich hergestellten Nähe“ ungleich bedeutsamer ist aber die von Kafka geradezu perhorreszierte Möglichkeit, eine räumliche Distanz, die als suboptimal erlebt wird, zumindest teilweise durch sogenannte „symbolische Distanzäquivalente“ zu kompensieren. Das beginnt nicht erst damit, dass Menschen einander Briefe schreiben – ganz im Gegenteil: In der Face-to-Face-Interaktion vollzieht sich die symbolische Distanzregulation vorrangig auf mimisch-gestische, stimmlich-intonatorische Weise: in Gestalt körperlicher Gesten der Zu- oder Abwendung, in den Nuancen und Intensitäten des Blickkontakts, in der Art der Stimmführung 56  Schuster/Strobel,

Briefe, S. XXII. Folgenden vgl. Bischof, Untersuchungen; Bischof, Kraftfeld, Kap. 4 („Figur und Medium“); Bischof, Psychologie, S. 401 f.; Bischof, Moral, S. 304–307. Auf Bischofs Systemtheorie der sozialen Motivation und ihre Bedeutung für eine Anthropologie des Briefes habe ich aufmerksam gemacht in Vellusig, Poesie, S. 64 f. 58  Kafka, Briefe an Milena, S. 302. 57  Zum



Imagination und Inszenierung159

(z. B. in Form eines vertraulichen Flüsterns). Distanzregulation vollzieht sich darüber hinaus aber auch in den vielfältigen Differenzierungen, die das Sprechen selbst ermöglicht: in den mehr oder weniger vertraulichen Formen der Anrede (dem Duzen, Siezen, Erzen oder Ihrzen), in den Formen des Grußes (oder gar seiner Verweigerung), im verwendeten sprachlichen Idiom (dem vertraut-vertraulichen Dialekt oder der distanziert anmutenden Hochsprache), nicht zuletzt: in der Intimität der Gesprächsthemen und – ganz generell – in allen symbolischen Gesten, die der Festigung oder Verwischung von Grenzen dienen: einer verhüllenden oder entblößenden Kleidung, einer bloß angelehnten oder demonstrativ abgeschlossenen Tür usw.59 All das macht deutlich, dass sich auch das Phänomen der räumlichen Distanzregulation nicht primär auf physische, sondern auf psychische Distanz bezieht. Psychische Distanz ist nicht symmetrisch angelegt; sie ist nicht von jeder Seite aus gesehen gleich groß: Die Nähe oder Distanz, die zwei Personen erstreben, kann sich voneinander unterscheiden, und sie tut es de facto immer dann, wenn Personen füreinander nicht dieselbe Relevanz besitzen. An „einen fernen Menschen denken“ heißt immer schon, eine psychische Nähe herzustellen; „einen nahen Menschen fassen“ bedeutet nicht einfach, den metrischen Abstand zu einer Person zu verringern – es ist eine Geste, die sich einer psychischen Nähe vergewissert oder eine psychische Nähe sucht. Die räumliche Nähe oder Distanz zwischen Personen muss vom Phänomen der symbolischen Distanzregulation also grundsätzlich unterschieden werden. Wenn sich die Briefforschung von dem Gedanken faszinieren lässt, dass die Erfahrung, jemandem bei der Lektüre eines Briefes nah zu sein, medial vermittelt ist, und wenn sie diese Erfahrung als „mediale Immediation“60 – als medial vermittelte Unmittelbarkeit – auf den paradox anmutenden Begriff bringt, dann überspielt sie damit die Tatsache, dass menschliche Beziehungen primär ein psychisches Phänomen sind, das in den Formen des Umgangs und des Zusammenlebens seinen lebendigen Ausdruck findet. Räumliche Anwesenheit ist weder ein Indikator noch ein Garant für „Nähe“: Wir können auch in Situationen leiblicher Kopräsenz die Erfahrung machen, dass das Gegenüber abwesend ist, sich verschlossen, abweisend oder unnahbar gibt oder dass wir von ihm nicht wahrgenommen werden. Offensichtlich sind die Phänomene, von denen hier die Rede ist, mit dem Symbolbegriff der „Distanz“ nur unzureichend erfasst. Norbert Bischof hat deshalb vorgeschlagen, von der Modulation einer psychischen Grenze zu sprechen, und die psychische Grenze, die moduliert wird, wenn wir zueinan59  Vgl.

Bischof, Untersuchungen, S. 12. Körperströme, S. 231; Schuster, Kunstleben, S. 15.

60  Koschorke,

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der in Beziehung treten, als „Ichgrenze“ charakterisiert.61 Grenzen unterscheiden ein Innen von einem Außen; sie sind wesentlich einseitig, d. h. asymmetrisch verfasst. Die Ichgrenze ist ein psychisches Distanzäquivalent: Sie ermöglicht es, sich von anderen abzugrenzen (um sich von ihren Stimmungen und Gefühlen nicht anstecken zu lassen) und sich selbst zu objektivieren (d. h. sich aus einer Außenperspektive zu betrachten). Diese Fähigkeit zur Selbstobjektivation ist das Signum der von Plessner sogenannten „exzentrischen Positionalität“62 des Menschen – der Tatsache also, dass wir uns unserer selbst bewusst werden und damit aus der Mitte unseres unreflektierten Selbstempfindens heraustreten. Sie begründet die „Doppelnatur“ unseres Ich-Erlebens, wie sie besonders prominent von William James formuliert wurde.63 Wir erleben uns zugleich als „I“ und als „Me“: als konturloses Kraftfeld unserer vitalen Antriebe und als ein Wesen, das für andere sichtbar ist und als fest umrissene Figur in Erscheinung tritt. Die Selbstobjektivation, mit der wir eine „seelische“ Grenze um uns ziehen,64 hat deshalb immer auch die Funktion, den „Quellgrund unseres Wünschens und Begehrens“65 gegen die Blicke anderer abzuschirmen und dieses Hintergrund-Ich so vor der potenziell beschämenden Erfahrung der Selbstexposition zu schützen. Selbstobjektivation oder Selbstdarstellung muss deshalb als ein Selbstverhältnis begriffen werden, als eine Form, sich anderen zu zeigen und zugleich auch zu verbergen und sich so zur eigenen „Weise des Lebens“66 zu verhalten. Die Briefforschung tendiert dazu, dieses Selbstverhältnis aufzulösen. Die Formen der Selbstdarstellung werden aber nur verständlich, wenn man sie als Ausdrucksformen versteht, in denen jemand für jemanden – und sei es er selbst – wirklich und gegenwärtig wird. „Personen“ – so hat Robert Spaemann das pointiert – „sind nicht Rollen, aber sie sind, was sie sind, nur, indem sie eine Rolle spielen, das heißt sich auf irgendeine Weise stilisieren.“67 Solche Stilisierungen oder „Fassungen“, wie Hermann Schmitz sie genannt hat, sind immer eindeutiger als der subjektive Kern des Ich-Erlebens.68 Als Ausdrucksformen unterliegen sie einer eigenen Prägnanztendenz: Sie bilden wiedererkennbare Muster aus – und sie tun dies in einem kulturellen Rahmen, d. h. in einem überindividuellen Bezugssystem:

Bischof, Moral, S. 305. Plessner, Stufen, S. 360–365. 63  Vgl. Bischof, Psychologie, S. 355. 64  Vgl. Bischof, Kraftfeld, S. 146. 65  Vgl. Bischof, Moral, S. 193. 66  Spaemann, Personen, S. 81. 67  Ebd., S. 94. 68  Vgl. Schmitz, selbst, S. 133–137 sowie Schmitz, Ausgrabungen, S. 299–304. 61  Vgl. 62  Vgl.



Imagination und Inszenierung161 „Schon die individuelle Sprachmelodie ist die persönliche Variation einer in einem Sprachraum vorgegebenen und kann deshalb auch nur bei deren Kenntnis interpretiert werden. Sie ist, wie auch das Schriftbild, weder eindeutiges Produkt eines bewußten Stilwillens noch unmittelbarer Ausdruck der ‚Natur‘ des Sprechenden, sondern beides in einem.“69

Soziale Distanz, so lässt sich resümieren, ist ein objektiv komplexer, semantisch gleichwohl prägnanter Sachverhalt.70 Ihre Komponenten sind vielgestaltig: In der Interaktion sind es v. a. die mimisch-gestischen, ganz allgemein gesprochen: die leiblichen Ausdrucksformen, in denen jemand als Person gegenwärtig wird und zu seinem Gegenüber in Beziehung tritt. Sie vermitteln eine unmittelbare Vorstellung davon, wie und wonach jemandem zumute ist. Das macht sie zu ausgezeichneten Signalen der Kontaktnahme und Kommunikationsbereitschaft.71 Im Brief hingegen erfolgt die Modulation der psychischen Distanz beinahe ausschließlich auf verbale Weise. Damit verschiebt sich der Schwerpunkt der Kommunikation – stärker noch, als das im sprachlichen Mitteilungsverhalten ohnehin der Fall ist – vom „Ausdruck von Bereitschaften“ zur „Mitteilung von Sachverhalten“.72 Während es in der interpersonalen Dynamik der Interaktion einer besonderen Anstrengung bedarf, sich zu verbergen oder sich ‚nichts anmerken‘ zu lassen, gehört es zu den Herausforderungen des Schreibens, als Person überhaupt sichtbar zu werden. Was sich in der Gegenwart des zwischenmenschlichen Umgangs gleichsam von selbst ergibt, muss im Brief bewusst gestaltet werden – und umgekehrt: Die Literarisierung eröffnet der verbalen Selbstdarstellung einen eigenen Spielraum. Das war die Entdeckung, die das 18. Jahrhundert zu einer Epochenschwelle der Briefkultur werden ließ. Die entsprechenden Charakterisierungen betonen die Nähe des Schreibens zu den Anmutungsqualitäten des vertrauten und vertraulichen, informell-zwanglosen, kurzweiligen, heiter-fröhlichen, geistreich-spielerischen und dennoch rücksichtsvollen Umgangs. Dabei ging es nun aber nicht darum, grammatikalische Merkmale der Mündlichkeit nachzubilden oder zu „fingieren“73 – das waren und sind allenfalls Oberflächenphänomene. Der tiefere Sinn des Gedankens, dass der Brief eine „freye Nachahmung des guten Gesprächs“ sei, war die Entdeckung, dass die Rede im Gespräch nicht alles ist, sondern einen zwar wesentlichen, für sich genommen aber unselbständigen Teil eines weitaus komplexeren Beziehungsgeschehens darstellt. An diesem Beziehungsgeschehen Maß zu nehmen, es 69  Spaemann,

Personen, S. 94. Bischof, Psychologie, S. 294. 71  Vgl. ebd., S. 402. 72  Vgl. ebd., S. 341–345. 73  Goetsch, Mündlichkeit.

70  Vgl.

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mit ausschließlich verbalen Mitteln nachzubilden, ist eine ebenso voraussetzungsreiche wie anspruchsvolle Gestaltungsaufgabe. In diesem Sinne betont etwa Herder: „Im Auge, im Antlitz, durch den Ton, durch die Zeichensprache des Körpers – so spricht die Empfindung eigentlich, und überläßt den todten Gedanken das Gebiet der todten Sprache. Nun, armer Dichter! […] du sollst schreiben, daß man es fühlt, und sollst dem wahren Ausdrucke der Empfindung entsagen; du sollst nicht dein Papier mit Tränen benetzen, daß die Tinte zerfließt, du sollst deine ganze lebendige Seele in tote Buchstaben hinmalen, und parlieren, statt auszudrücken.“74

Diese Unterscheidung zwischen dem toten Gedanken und der lebendigen Seele beruht auf derselben Evidenz, die auch Lessing ausbuchstabiert: Sie macht darauf aufmerksam, dass die Schrift das ideale Medium ist, Informa­ tionen festzuhalten und Sachverhalte mitzuteilen (nicht zufällig sind graphische Notationsverfahren dazu erfunden worden, um unpersönliche Daten zu speichern),75 und sie weist darauf hin, dass der Ausdruck von Bereitschaften nicht erst durch die Schrift in die Welt kommt, weil er seinerseits auf vorsprachlichem Mitteilungsverhalten beruht. Anders als die Metaphorik von ‚lebendiger Seele‘ und ‚toten Buchstaben‘ vermuten lässt, formuliert Herder keine Metaphysik. Der sachliche Gehalt seiner Überlegungen liegt in der Einsicht, dass Schrift primär das Medium der kognitiven Evolution ist; sie bringt vor allem die epistemische Dimension der Sprache zur Geltung. Ihr genuines Feld sind deshalb jene Bereiche der Schriftkultur – Verwaltung, Recht, Wirtschaft, Technik, Wissenschaft –, in denen es auf das Subjekt der Rede nicht ankommt. In diesen außeralltäglichen Bereichen ist die Schrift unverzichtbar, während die Rede selbst durchaus nachrangig ist: Hier „fungiert die Schrift nicht als Zweitcodierung der Rede, sondern die Rede als Zweitcodierung der Schrift“.76 Überall dort aber, wo Personen einander als Personen, d. h. als „füreinander objektive Subjektivitäten“77 begegnen, kann auch der geschriebene Text nicht darauf verzichten, sich zur Welt der interaktionsgebundenen Rede und ihren Relevanzen in ein produktives Verhältnis zu setzen.

VI. Intimität und „subjektive Tatsachen“ Selbstdarstellung, so lässt sich vorläufig resümieren, ist eine asymmetrische Grenzmodulation: Sie markiert das Selbstverhältnis, das (1) in der zwischenmenschlichen Begegnung mehr oder weniger unwillkürlich sinnfällig 74  Herder,

Über die neuere deutsche Literatur, S. 402. statt anderer Koch, Graphé; Putschke, Anfang; Schenkel, Ägypter. 76  Ter-Nedden, Medium, S. 7. 77  Spaemann, Wirklichkeit, S. 196. 75  Vgl.



Imagination und Inszenierung163

wird, (2) in der sprachlichen Artikulation eine eigenständige Dimension gewinnt und (3) durch die planende Diskursgestaltung der schriftlichen Kommunikation noch einmal gesteigert werden kann – je nachdem, welches Maß an psychischer Nähe man dabei sucht oder zuzulassen bereit ist. All das betrifft nun aber nicht nur die verbalen Strategien, durch die ein Subjekt in der Rede gegenwärtig wird, sondern auch den Komplex der Themen, von denen im Brief die Rede ist. Die bloße Tatsache, dass sie angesprochen oder gemieden werden, ist ein Indikator dafür, welchen Grad an Intimität jemand im konkreten Fall als angemessen erlebt. Auch hier eröffnet die räumliche Distanz Spielräume der Selbstdarstellung, die über das hinausgehen, was im persönlichen Umgang sagbar wäre. Als Kommunikationsform ist der Brief zwar weder thematisch noch funktional festgelegt, er kann aber doch in einem ungleich größeren Maß zum Artikulations- und Verständigungsmedium für das personale Erleben werden als die Rede selbst. Dabei gewinnt nicht nur der Wortlaut des Briefes eine Autonomie, die der Wechselrede fehlt; auch die prägende Macht der Gesprächssituation selbst wird beim Schreiben depotenziert: „epistula enim non erubescit“, heißt es in Ciceros Epistulae ad familiares (5,12,1) – Briefe erröten nicht, weil der Formulierende dem Blick des Anderen nicht ausgesetzt ist; er muss ihn beim Schreiben mehr oder weniger bewusst imaginieren. Das gilt auch umgekehrt: Briefe haben den Status von Partituren, die während der Lektüre zum Leben erweckt werden wollen und so den Schein des Lebendigen gewinnen. (Lessings Stilkritik hat diese „illusionsbildenden Qualitäten“ des Schreibens sinnfällig gemacht.) – Nähe und Distanz erweisen sich dabei als zwei prägnante Ausdrucksgestalten. Die ihnen zugrunde liegenden Haltungen wirken beim Schreiben wie ein „organizing pattern of awareness“.78 Sie bilden einen Attraktor,79 der die Ausdrucksbewegung auf vieldimensionale Weise organisiert. Während distanziertes Ausdrucksverhalten dazu tendiert, die Form zu wahren und sich – z. B. in Gestalt unverbindlicher Höflichkeit – keine Blöße zu geben, gibt jede Form kommunikativer Vertrautheit und Nähe dem Schreibenden die Möglichkeit, sich in einer Vielzahl von sprachlichen Gesichtern und mutwillig aufgesetzten Masken zu präsentieren. Die Briefkultur des 18. Jahrhunderts entwickelte sich dabei zum Experimentierfeld für Artikulationsformen, die jene Differenzierungsmöglichkeiten erkunden, die mit der literalen Distanzregulation in die Welt kommen. Die literaturwissenschaftliche Forschung hat dies zumeist an der Anstrengung verfolgt, Zuneigung, Liebe und sehnsuchtsvolles Verlangen so zu artikulieren, dass der Leser oder die Leserin des Briefes dieses Ausdrucksverhalten Stern, zit. nach Bischof-Köhler, Entwicklung, S. 149. Bischof, Moral, Kap. 12 („Soziale Selbstorganisation“).

78  Daniel 79  Vgl.

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als verbindlich wahrnehmen kann. Dass dies immer auch eine Inflations­ spirale in Gang setzt, in der sich Formulierungen zu Formeln verfestigen und dabei verbrauchen, versteht sich von selbst, und wurde bereits von den Zeitgenossen beklagt: „Seitdem man in Deutschland anfängt, schöne Briefe zu schreiben, sind auch unsere Briefe in eine Maskerade ausgeartet. Man hat durch einen stilschweigenden Vertrag [!] ein Wörterbuch über die Sprache des Herzens errichtet, woraus man die wärmsten Ausdrükke entlehnt, so wie man in Kanzleien die Verbrämungen der Ceremoniel- oder Amtsschreiben aus gewissen Büchern herholt.“80

Die Klage erinnert daran, wie sensibel Ausdrucksverhalten und Ausdruckswahrnehmung in der menschlichen Kommunikation aufeinander abgestimmt sind. Das gilt bereits für den Prozess der biologischen Evolution, der das vorsprachliche Ausdrucksverhalten einem Prägnanzdruck aussetzt,81 und das gilt in ungleich subtilerer Weise für das sprachliche Ausdrucksverhalten, in dem es um die verbindliche Artikulation „subjektiver Tatsachen“ geht: Subjektive Tatsachen zeichnen sich dadurch aus, dass ich es bin, der von ihnen betroffen ist. Ihre Artikulation ist deshalb an die Verwendung „strikt ich-bezogener Ausdrücke“ gebunden.82 Über ‚subjektive Tatsachen‘ sprechen können zwar auch andere; bezeugen aber kann sie nur der Betroffene selbst, denn sie gewinnen ihr spezifisches Profil dadurch, dass jemand etwas verbürgt, was ihm affektiv nahegeht. Deshalb sind Briefe Ego-Dokumente in einem eminenten Sinn: Sie beziehen ihren Ernst aus der Tatsache, dass ein „ich“-Sager zu erkennen gibt, wie und wonach ihm zumute ist, und dass er es ist, dem solches widerfährt. Überall dort, wo es um Liebe und Zuneigung geht, kommt der Wunsch nach Nähe beim Schreiben von Briefen besonders schmerzlich zu Bewusstsein. Es verwundert deshalb nicht, dass die Briefkultur des 18. Jahrhunderts reich an Zeugnissen ist, die das Ungenügen zur Sprache bringen, allein in Briefen miteinander Umgang zu haben, was besonders dann als unbefriedigend erlebt wird, wenn die Beziehung zwischen den Korrespondenzpartnern noch nicht geklärt ist: „[E]s schauert mir vor einem langjährigen Briefwechsel!“ heißt es etwa in der Korrespondenz zwischen Johann Gottfried Herder und Caroline Flachsland. Und: „Ach! Ich verdenke es Ihnen nicht, daß Ihnen das leidige Briefschreiben unter der Hand ermattet: als Briefschreiben ist es nichts – aber als Täuschung, als Gegenwart, als Hoffnung?“83

80  [Anonymus],

Beiträge, S. 123. Bischof, Psychologie, S. 345 f. („Ritualisation“). 82  Schmitz, selbst, S. 158; vgl. Franzen, „Spricht die Seele“, S. 97. 83  Zit. nach Anton, Authentizität, S. 33 (Flachsland an Herder, 1.10.1770), 34 (Herder an Flachsland, 17.10.1771). 81  Vgl.



Imagination und Inszenierung165

Von solchen meist tränenreichen Briefen soll hier nicht die Rede sein. Zur Kultivierung kommunikativer Nähe gehören auch die Ausdrucksformen von Heiterkeit und Lebendigkeit.84 Ihren verbalen Strategien und ihren Anmutungsqualitäten sind die abschließenden Leseübungen gewidmet.

VII. Imagination und Inszenierung Schriftlich hergestellte Nähe vollzieht sich im Raum der Imagination. Der Reiz, den die im Folgenden kommentierten Briefe entfalten, besteht darin, dass ihre Verfasser die Interaktion mit dem Gesprächspartner nicht nur imaginieren, sondern sie im Brief selbst sprachlich in Szene setzen. Dabei gewinnt der Topos vom Brief als ‚Hälfte eines Dialogs‘ (Artemon) oder als ‚Gespräch unter Abwesenden‘ den Charakter eines ästhetischen Imperativs, der eine Reihe von literalen Prozeduren ausbildet, an denen sich das Schreiben auf effektvolle Weise orientiert. Das geschieht zum einen dadurch, dass die sprachlichen Ausdrucksformen als unvermittelte Rede und Anrede inszeniert werden: Sie gewinnen dabei mimisch-gestische Qualitäten; die „Ergänzung in Aktion und Gebärde“ ist dem geschriebenen Text – mit Gottfried Zeißig zu sprechen – „immanent“. Die Briefe verlangen geradezu nach einer „performativen Interpretation“ – man muss sie sprechen, weil sie sich nur so ‚zum Sprechen bringen‘ lassen, d. h. eine Vorstellung von der Person vermitteln, die hier spricht.85 Darüber hinaus aber inszenieren sie auch ein Gespräch: Sie entwickeln Spielformen „immanenter Dialogizität“,86 d. h. sie nehmen eine Antwort spielerisch vorweg oder vergegenwärtigen eine Interaktion. Sprachliche Vergegenwärtigung ist keine „Präsenztäuschung“, sondern eine literarische Darstellungsstrategie, die eine „Sekundärzeit“87 etabliert: Sie ­vergegenwärtigt ein Ich in einem Hier und Jetzt, das mit dem Hier und Jetzt des Schreibens und dem Hier und Jetzt des Lesens nicht identisch ist und das auch dem Leser des Briefes zumutet, sich im Brief selbst schon vorzufinden. Das erzeugt performative Widersprüche und Inkongruenzen und verleiht dem Brief heiter-ausgelassene Züge. Ich möchte das an einem in dieser Hinsicht besonders sprechenden Beispiel sinnfällig machen. Es stammt von Christiane Caroline Lucius, der knapp 21-jährigen Tochter eines Dresdner Kabinettsregistrators.88 Der Brief Schüsseler, Unbeschwert, Kap. 4. Vellusig, Aufklärung, S.  168 f.; Vellusig, Poesie, S. 71 f. 86  Vgl. Tschauder, Dialog. 87  Vgl. Bischof, Psychologie, S. 381 f. 88  Vgl. Gellert, Briefwechsel, Bd. III, S. 60‒62 (Lucius an Gellert, 21.10.1760)  – Zitatnachweise im fortlaufenden Text. 84  Vgl. 85  Vgl.

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ist an Christian Fürchtegott Gellert gerichtet und eröffnet eine bis zu Gellerts Tod im Jahr 1769 andauernde Korrespondenz, die 1823 erstmals veröffentlicht wurde.89 Gellert selbst war von dem Brief ausgesprochen angetan. Er ist von seiner „aufgeweckten, naifen und überzeugenden Sprache“ beglückt und bezeichnet die Verfasserin als „scherzhafte Babet“90 – eine Anspielung an die von Edmé Boursault herausgegebenen Briefe der Babet, die Lettres De Respect, D’Obligation, Et D’Amour (Paris 1669), die Gellert in einer langen Anmerkung seiner Praktischen Abhandlung als besonders vorbildlich lobt.91 Damit ist die Unbefangenheit auf den Begriff gebracht, mit der sich die Tochter aus gutem Hause dem „Praeceptor Germaniae“ zuwendet. Sie schreibt einen Brief, der in einzelnen Zügen den Briefen nachgebildet ist, die Gellert gemeinsam mit seiner Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen veröffentlicht hatte. Der Brief ist in der Forschung viel beachtet,92 in seiner Kunst der literalen Distanzregulation aber nicht angemessen wahrgenommen worden. Mein Kommentar versucht sie an besonders signifikanten Passagen sichtbar zu machen. Die junge Briefschreiberin beginnt mit einer förmlichen Anrede, fällt dann aber gleichsam mit der Tür ins Haus: Hochzuehrender Herr Professor! Ich bitte Sie nicht, daß Sie mirs erlauben, an Sie zu schreiben; denn ich bin so entschlossen, es nicht zu unterlassen, Sie möchten mir es nun erlauben, oder nicht. (S. 60)

Wenn Gellert das liest, hat er sich auf das Spiel, das hier inszeniert wird, schon eingelassen. Die Respektlosigkeit, die die Verfasserin dieser Zeilen zur Schau stellt, lässt sich erahnen, wenn man sich bewusst macht, dass jede Anrede eine potenzielle Grenzüberschreitung darstellt, weshalb verbale Interaktionsrituale – wie Goffman gezeigt hat – immer auch die Funktion haben, der Grenzmodulation eine verbindliche Gestalt zu verleihen.93 – All das wird von der „badinage“ der Verfasserin souverän ignoriert und in ein spielerisches Räsonnement überführt, das Gellert schmeichelt und sie selbst ganz unbekümmert erscheinen lässt: „Die Freiheit zwar, deren ich mich bediene, ist sehr neu; allein, eben weil sie neu ist und mir gefällt, bin ich nicht davon abzubringen. Sie sollen sehr gütig sein, das hat man mir gesagt; und da, denke ich, will ich schon dafür sorgen, daß Sie mich Gellert/Lucius, Briefwechsel. Briefwechsel, Bd. III, S. 62 (Gellert an Lucius, 22.10.1760). 91  Vgl. Gellert, Abhandlung, S. 133. 92  Vgl. Nörtemann, Begeisterung, S. 16–20; Arto-Haumacher, Briefpraxis, S. 258 f.; Vellusig, Gespräche, S. 101–107; Reinlein, Brief, S. 164 f. 93  Vgl. Goffman, Rede-Weisen, S. 84. 89  Vgl.

90  Gellert,



Imagination und Inszenierung167 nicht für unbescheiden halten. Denn fürs erste bin ichs nicht, das getraue ich mir zu beweisen, wenn ich dazu aufgefordert werden sollte; und dann hoffe ich, Sie auch schon dadurch, daß ich Ihnen alles sage, was ich von Ihnen denke – und ich denke unbeschreiblich gut von Ihnen – auf meine Seite zu bringen, daß Sie mir meine Unbescheidenheit, wenn Sie ja so wollen, und meine andern Fehler, die sich etwa verrathen könnten, gütigst übersehen werden.“ (S. 60 f.)

Der Gedanke, unbescheiden oder aufdringlich und vorlaut zu wirken, wird zunächst mit spielerischer Entschlossenheit abgewiesen, dann durch die geradezu überschwängliche Offenbarung inniger Vertrautheit und Nähe zur lässlichen Sünde kleingeredet, um schließlich, gleichsam en passant, großmütig konzediert zu werden. Damit könnte es sein Bewenden haben – tut es aber nicht. Der Brief verwickelt Gellert in eine kleine dramatische Szene und lässt ihn lesen, wie die Verfasserin sich seine Empörung auf ihre beiläufige Bemerkung („wenn Sie ja so wollen“) vorstellt, um dann – in gespieltem Erschrecken über das unvermutete Aufbrausen des „gütigsten“ Herrn Professors und in ebenso offenherzigem wie souveränem Perspektivenspiel – seine Eitelkeit gegen seinen Widerspruch auszuspielen: – „Es gilt Ihnen gleich, was ich von Ihnen denke?“ – O verzeihen Sie mir! Ich bedeute zwar nicht sonderlich viel in der Welt; aber daß ich Sie so sehr liebe, ist doch wohl ein großer Beweis, daß mein Urtheil nicht zu verachten ist, und daß ich Verstand habe. […] (S. 61)

Gellert und seine Verehrerin sind einander zuvor nie begegnet. Das Spiel, das die junge Frau hier spielt, ist deshalb durchaus riskant: Sie gibt viel von sich preis, sie schützt sich nur durch den Ton der Heiterkeit, durch den sich Gellert im Brief angelacht fühlt. Die Zuneigung, die von diesem „lachenden“ Brief94 zunächst bloß angedeutet wurde („ich denke unbeschreiblich gut von Ihnen“), wird nun explizit ausgesprochen („aber daß ich Sie so sehr liebe“), durch die Ausdrucksbewegung selbst aber nicht akzentuiert. Ähnliches gilt für die Berufung auf das Zeugnis ihres Bruders, der Gellert sagen könnte, „wie sehr ich sie liebe, wie ich eifrig nach Ihnen frage und mir jeden Umstand, um es mir recht einzuprägen, wohl zehnmal wiederholen lasse“ (S. 61). Vielleicht wird man dieses Spiel der indirekten Zuneigungsbekundung auch als Ausdruck einer kleinen Verschämtheit lesen dürfen. Gewagt ist aber, was die Schreiberin dem Leser des Briefes in der Folge zumutet: Sie zeigt sich ihm als intime Kennerin seiner Lebensumstände – „In der That mein lieber Herr Professor, Sie können sichs unmöglich vorstellen, wie gut ich Sie kenne, und wie viel ich von Ihnen weiß.“ – und führt ihm vor Augen, wie sie sich ihn vorstellt – nicht als Professor im Collegium, sondern als Privatmann in seinen eigenen vier Wänden:

94  Gellert,

Briefwechsel, Bd. III, S. 62 (Gellert an Lucius, 22.10.1760).

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„[…] ich weiß nunmehr alles, wie Sie aussehen, wie Sie reden, wie Sie gehen, wie Sie sich kleiden, wie Ihre Perücken, Mützen, Trodelwesten, Schlafpelze u.s.w. aussehen; und das stelle ich mir alles so lebhaft vor, daß ich Sie malen und treffen wollte, ohne Sie gesehen zu haben. Noch mehr, ich kann Ihre Hausgeräthe beschreiben, so gut kenne ichs.“ (S. 61)

„Alle Beziehungen von Menschen untereinander ruhen selbstverständlich darauf, daß sie etwas voneinander wissen“, heißt es bei Simmel.95 – Alles kommt aber auch darauf an, was Menschen voneinander wissen. Lucius dringt in der Imagination in Gellerts Privatsphäre ein, indem sie sich mit den Personen identifiziert, die Gellert im Alltag und selbst in der Nacht nahe sind: „Herr Gödicke – ja! so heißt Ihr Famulus. Der glückliche Mann! Er kann immer bei meinem lieben Gellert seyn. Aber er muß auch, (zum wenigsten hat man mirs gesagt) wenn Sie krank sind und nicht schlafen können, des Nachts bey Ihnen aufsitzen, und wenn er einschläft, werden Sie ungehalten. – Der arme Mann! – Ich könnte das nicht ertragen. Aber warum schläft er auch, wenn er wachen soll!“ (S. 61)

Dabei erreicht der Brief eine mimisch-gestische Dichte, deren Kommentierung auf eine Fülle von Sprechweisen aufmerksam zu machen hätte: freudig auftrumpfend – selig seufzend – naseweis erläuternd – bedauernd mitfühlend – empört. Herr Gödicke, dessen Erwähnung Gellert in Erstaunen versetzt („ja! so heißt ihr Famulus“), ist zunächst der beneidenswert glückliche, dann der bedauernswert arme, schließlich der pflichtvergessene Mann, dessen Verhalten mit Kopfschütteln bedacht wird. Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass der inszenierte Dialog um eine Form des selbstvergessenen Selbstgesprächs erweitert wird, in dem ein intimer Gedankenstrom Gestalt gewinnt. Aus dem „hochzuehrenden Herrn Professor“ wird so unversehens und wie in einem à part „mein lieber Gellert“. Dasselbe Spiel spielt die Briefschreiberin mit Gellerts Bruder, um sich dann selbst zur Zielscheibe der Kritik zu machen: „Sie speisen bei Ihrem Bruder, dem Fechtmeister. Warum ist doch Ihr Bruder ein Fechtmeister geworden? Ich bin ihm nur Ihrentwegen und um des Namens gut. Er soll ein poltrichter Mann seyn. – Ich soll ein geschwätziges Mädchen seyn, werden Sie sagen. Ja das bin ich auch, aber nur im Schreiben; sonst rede ich nicht leicht zu viel. Und darinnen gleiche ich Ihnen, wie ich glaube. Darf ich mir nicht etwas auf die Ähnlichkeit einbilden? Aber wieder zur Sache zu kommen, denn ich muß mich satt schreiben, – ich werde wohl nie wieder aufgemuntert werden, an Sie zu schreiben, – so muß ich Ihnen nur noch die Absicht entdecken, die ich bey diesem ganzen Geschmadere habe.“ (S. 61 f.)

Die Absicht, die die junge Briefschreiberin Gellert entdeckt, ist nichts Geringeres als der Wunsch, von ihm wahrgenommen zu werden und als Zei95  Simmel,

Soziologie, S. 257.



Imagination und Inszenierung169

chen seiner „Gewogenheit“ ein „Geschenk von einem Ihrer Bücher“ zu erhalten: „Sehen Sie also nur, ich kenne Sie so sehr gut und genau, wie ich schon gesagt habe, und da kann ich mirs nun nicht verwehren, den einzigen Weg zu ergreifen, den ich vor mir sehe, um Ihnen zu zeigen, daß auch ich in der Welt bin, und daß dies Ich, das Sie zwar nicht kennen, Sie unendlich hochschätzt und verehrt.“ (S. 62)

So heiter und ausgelassen das Perspektiven- und Inszenierungsspiel des Briefes ist, so rührend ist nun dieses offenherzige Bekenntnis, in dem sich Christine Caroline Lucius dem unendlich Hochgeschätzten und Verehrten zeigt, um von ihm gesehen zu werden. Der Brief der jungen Frau, die „nicht sonderlich viel in der Welt“ bedeutet, artikuliert eine Sehnsucht nach Nähe, und er tut dies, indem er aus dem unbekümmerten Schwatzen eine literarische Kunstform macht. Er „unterhält“ Gellerts Aufmerksamkeit „auf eine angenehme Art“,96 ist aber doch mehr als bloßes Spiel. Seine Inszenierung verleiht der sehr ernsten Absicht, die der Brief verfolgt, eine Fassung, die verhindert, dass die Verfasserin ihre Zuneigung ganz ungeschützt ausspricht. Wenn Gellert sie als „scherzhafte Babet“ bezeichnet, dann hat er diese Qualität ihres Briefes im Sinn: „Es giebt eine muntere Art zu reden, die der Freundschaft und Liebe ins besondere eigen ist. Sie kömmt mehr aus dem Innersten des Herzens, als aus dem Überflusse des Witzes her. Sie ist nicht so wohl sinnreich, als naif. Man sagt seine wahre Meynung mit einer gewissen Sorglosigkeit, mit einer Offenherzigkeit, die den Wohlstand zu vergessen scheint, und die doch gefällt, weil sie aus einem freudigen und immer zufriednen Herzen quillt. So redet die muntere Babet mit ihrem Lieb­ haber. Sie liebt ihn im Ernste, und redet doch selten ernsthaft von der Liebe. Alles ist Scherz, der aus Zärtlichkeit entspringt.“97

Auch Christine Caroline Lucius liebt ihren Gellert „im Ernste“, auch ihr Scherzen entspringt aus „Zärtlichkeit“ – und doch ist ihre „Sorglosigkeit“ gesucht; würde sie diese nicht plastisch zur Schau stellen und drastisch als „Geschmadere“ bezeichnen, wäre der Brief in der Tat takt- und vielleicht auch schamlos. Das hat selbstverständlich damit zu tun, dass eine vertraute Nähe zwischen Lucius und Gellert nicht besteht. Psychische Distanz ist eine asymmetrische Relation. Wenn Gellert den „so lachenden und doch natürlichen Brief“ als „ersten schönen Brief dieser Art, den ich erhalten“, rühmt,98 dann lässt er außer Acht, wie viel für die Verfasserin auf dem Spiel stand und wie sensibel der Balanceakt war, den sie zu meistern hatte. Nicht ohne Grund hofft sie, durch seinen Gunstbeweis von der möglichen „Sorge“ befreit zu werden, „daß meine Freyheit Sie vielleicht könnte beleidiget haben“ (S. 62). 96  Gellert,

Abhandlung, S. 145. S. 146. 98  Gellert, Briefwechsel, Bd. III, S. 62 (Gellert an Lucius, 22.10.1760). 97  Ebd.,

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Das lässt sich vergleichsweise an einem zweiten Brief studieren, der sich ähnlicher verbaler Strategien bedient, aber eine doch ungleich intimere und behaglichere Form kommunikativer Nähe ausbildet. Es stammt aus dem Briefwechsel zwischen Johann Heinrich Voß und Ernestine Boie. Voß stand seit März 1773 mit der Schwester seines Göttinger Bundesbruders Heinrich Christian Boie im Briefkontakt, lernte sie aber erst im März 1774 kennen, als er in Flensburg zu Besuch war. Der Aufenthalt verzögerte sich krankheits­ bedingt. Als Voß Ende Mai wieder nach Göttingen aufbrach, hatte er sich mit Ernestine Boie heimlich verlobt. Wie für so viele Paare wird der Brief auch für Boie und Voß zum eigentlichen Medium ihrer Beziehung. Der Brief datiert vom 18.10.1774.99 Voß schreibt über mehrere Tage. Ich beschränke mich auf den ersten Teil des Briefes. Er beginnt mit einer unvermittelten Anrede, die auf gestisch prägnante Weise eine Szene vergegenwärtigt: „Komm her, mein süßes Mädchen, und setz dich auf meinen Schoß; ich will dir ein wenig erzählen.“ (S. 158)

Albrecht Koschorke hat diesem Eingangssatz abgelesen, dass Briefe „den Übergang oder die Grenze zwischen Körper und Schrift“ „quälend-lustvoll“ umspielen und die abwesenden Körper in „symbolische Diskursinstanzen“ verwandeln.100 Das mag für andere Brautbriefe der Epoche gelten, die Koschorke zufolge eine wahre „Schoßmystik“101 entwickeln. Voß hat gewiss einen ganz unplatonischen Schoß, aber eine sehr lebhafte Szene im Sinn. Der Eingangssatz spannt ein fiktives Zeigefeld auf und will als schriftliche Nachbildung eines situationsgebundenen, mimisch-gestisch ausdrucksreichen Sprechens wahrgenommen werden: als verbalisiertes Winken, als heitere Einladung zu einem intimen Plaudern, die die Leserin an die gemeinsamen ­Momente erinnert, „wenn ich noch meine Pfeife rauchte, und du mit bloßen Haaren ­neben mir oder auf meinem Schooße saßest“ (S. 159). „Seelisches“ – Lebendigkeit, Ungezwungenheit, Heiterkeit, Vertraulichkeit – wird in der Ausdrucksbewegung des Schreibens und in der imaginierten Szene selbst unmittelbar anschaulich. Voß zeigt sich als zärtlich Liebender, der sich zwar nach Nachricht sehnt, von den Gedanken an die Geliebte aber doch so selig erfüllt ist, dass er sein Glück darin finden kann, sich dem „joy of grief“ hinzugeben: „Daß ich am Sonnabend und heute vergeblich einen Brief erwartet habe, und desfalls etwas traurig geworden bin, will ich dir nicht sagen; denn du kannst ja nicht dafür. Ich will dir nur sagen, wie herrlich sich meine Gesundheit und mein froher Muth vermehrt, wie sehr ich dich liebe, und wie oft ich mit seliger Sehnsucht und 99  Vgl. Voß, Brief an Ernestine Boie, S. 157–165. – Zitatnachweise im fortlaufenden Text. 100  Koschorke, Körperströme, S. 211 u. 212. 101  Ebd., S. 212.



Imagination und Inszenierung171 Freudenthränen an dich denke. Unser lieber Vollmond herrscht jetzt wieder mit allen seinen Wonnen, und unter seinem Einfluß denkts sichs ja so schön an das was man liebt. Wenn wir doch uns durch Zeichen an ihm unterreden könnten, was solltest du bisweilen zu hören kriegen! Gar nichts schwermüthiges, nichts trauriges! meine Seele ist heiter wie Mondglanz; aber – fröhlichs doch auch nicht, denn ich weine so oft dabey. Heitre Wehmuth ist doch wohl die göttlichste Empfindung, die man hienieden haben kann.“ (S. 158)

Voß hat viel zu erzählen: nicht nur von seiner Gesundheit, um die sich die Geliebte sorgt, sondern auch von seinen Spaziergängen und Lektüren. Am Ende des ersten Briefes greift er das szenische Spiel des Eingangs wieder auf und steigert es, indem er sich nun nicht nur übermütig und „heiter wehmütig“, sondern auch ungehalten gibt – oder vielmehr: seine Ungehaltenheit auf ebenso drastische wie komische Weise zur Schau stellt und die Leserin des Briefes in dieses kleine Beziehungsdrama szenisch involviert: „Mein voriger Brief war etwas flüchtig, weil mich Böhm trieb. Ich habe vergessen dir zu sagen, daß der versprochne Schattenriß nicht bey deinem Brief lag, und daß ich alle Makulaturhüllen durchkramte, und endlich etwas ärgerlich – denk einmal – ward. Ohne Zweifel hast du deinen Brief nur in der Eile gesiegelt, und von ungefähr den Riß zurückgelaßen, und dann bekomm ich ihn nächstens. Denn zum Besten haben kannst du doch deinen armen Voß nicht. Nun laß dich küßen, meine Liebste, und steh auf, denn Hahn kommt. Morgen, oder wann’s sich fügt, plaudre ich dir mehr vor. Aber eher schick ich mein Geplauder nicht weg, bis ich deinen Brief habe. Und wo’s noch lange daurt, so soll er acht Tage hernach erst auf die Post. Ich kann auch böse werden! Kleine Schelmin, was lachst du? Wer hats dir gesagt, daß ich dich so unaussprechlich liebe, mit einer Liebe, die über alles Bösewerden erhaben ist? Aber steh auf, liebes Dirnchen!“ (S. 159)

Lucius musste ihre Lust, mit Gellert zu plaudern, etwas despektierlich als „Geschmadere“ abtun, um nicht den Eindruck zu erwecken, auf ungehörige Weise geschwätzig zu sein; Voß kann sich seinem „Geplauder“ absichtslos hingeben, kann die Geliebte munter herbeiwinken und ihr in gespielter Forschheit gebieten aufzustehen, weil sich Besuch angekündigt hat. Lucius kleidet ihren Wunsch, von Gellert wahrgenommen zu werden, in ein scherzhaft schmeichelndes Spiel (und tatsächlich liebäugelt Gellert mit dem Gedanken, ihr nicht nur ein Buch, sondern – was ihm dann aber doch unangemessen erscheint – auch ein Porträt von sich zu schicken);102 Voß kann sich einen Schattenriss seiner Geliebten ersehnen und seiner wohl authentischen Enttäuschung über das Ausbleiben von Brief und Bildnis das Ansehen eines kind­ lichen Trotzes geben. Er kann sich einen „armen Voß“ nennen und schmollend mit Konsequenzen drohen („Ich kann auch böse werden!“), die von 102  Vgl. Gellert, Briefwechsel, Bd. III, S. 64 (Gellert an Johanna Erdmuth von Schönfeld, 24.10.1760): „Ich habe ihr die Beaumont zum Praesente geschickt, in meinen Augen ein großes Praesent. Wenn ich ein Portrait von mir hätte, ich glaube, ich schickte es ihr auch; aber wir wollen die Galanterie nicht zu hoch treiben.“

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seiner „kleinen Schelmin“ im brieflich inszenierten Blickkontakt als Maskerade durchschaut werden. Mit dem Abschiedsgruß – „Aber steh auf, liebes Dirnchen!“ – ist der Brief dann aber noch nicht zu Ende. Voß setzt noch einmal neu an und schließt mit der Imagination einer intimen Szene, die ganz aus dem Augenblick des Schreibens heraus formuliert ist: „Noch vor Schlafengehen ein paar Worte! Es war ja so unsre Gewohnheit in Flensburg, wenn ich noch meine Pfeife rauchte, und du mit bloßen Haaren neben mir oder auf meinem Schooße saßest. Du erinnerst dich wohl nicht mehr, wie oft ich die Pfeife ausgehen ließ. Heute fand Overbeck, der mit uns nach Geismar ging, ein kleines armes Vergißmeinnicht, das vielleicht der Nordwind für mich geschont hatte. Ich dachte daran, wie du auf dem Spaziergang nach dem Holze dich meiner bey diesen Blümchen erinnertest, und steckte halb traurig, halb vergnügt die ahndungsvolle Blume auf meinen Hut! Es bebte mir mit neuen Schauern durch die Seele, daß Gott uns zusammengeführt hat, und daß wir gewiß dem Tage der Verheißung entgegenhoffen können. Schlaf wohl, Liebste! du liegst wohl schon im Bette, und Tante trödelt noch mit ihrem Auszug. Träum auch ein wenig von deinem Voß! Willst du?“ (S. 159 f.)

Der Brief des jungen Voß ist nicht nur verspielt, er ist auch innig – und es ist gewiss kein Zufall, dass der Brief mit einem Gutenachtgruß an die Liebste endet und dieser ansinnt, ihm auch träumend nah zu sein. Lucius hatte ihrem „lieben Gellert“ geschrieben, dass sie seinen Hausrat, seine Kleidung, ja sogar seine Schlafgewohnheiten kennt und sich in Gedanken in seine Lebenswelt versetzt. Voß lebt in einer Welt, die von der Gegenwart der Geliebten erfüllt ist und die als anthropomorphe Wirklichkeit am Glück der Liebenden Anteil nimmt: Der Vollmond ist „unser lieber Vollmond“ und als solcher fast ein Liebesbote, das „kleine arme Vergißmeinnicht“, das „vielleicht der Nordwind“ für ihn geschont hat, ist als „ahndungsvolle Blume“ auch eine Erinnerung an die Erinnerung der Geliebten an ihn. Voß stellt Nähe nicht nur durch literale Prozeduren her, die ein ebenso liebevolles wie neckisches Spiel inszenieren, sondern auch dadurch, dass er von einer gemeinsamen Wirklichkeit spricht und die Leserin ahnen lässt, mit wie viel Zärtlichkeit und schauerndem Ernst er diese gemeinsame Wirklichkeit imaginiert.

VIII. Grade der Wirklichkeit oder: Der Brief als Ego-Dokument Ich komme zu einem Fazit und greife dabei noch einmal die Frage auf, inwiefern der Brief dazu geeignet ist, dem historischen Blick eine vergangene Lebenswirklichkeit zu erschließen – oder dem historischen Interesse einen Blick auf eine Lebenswelt überhaupt zu gewähren.



Imagination und Inszenierung173

Die Briefkultur des 18. Jahrhunderts ist Teil einer umfassenden Revolution der schriftlichen Artikulationsformen, die sich als solche auf den Prozess der Alphabetisierung zurückführen lässt. Im Zuge dieses kulturellen Wandels wird die Kunst der sprachlichen Selbstdarstellung zu einer genuin literarischen Herausforderung. Wenn der Brief mehr sein soll als ein bloßes Medium der Informationsvermittlung, wenn er dem Verfasser dazu dienen soll, sich als Person zu zeigen und in der sprachlichen Ausdrucksform gegenwärtig zu werden, ist Stilisierung unvermeidlich. In der Briefforschung wird Stilisierung zumeist als Widerpart von Authentizität gedacht – als dasjenige Moment, das man als Störfaktor in Rechnung stellen muss, wenn man dem Geheimnis der Person auf die Spur kommen möchte. Der Brief, so das Resümee von Rafael Arto-Haumacher, changiert „zwischen den Polen Authentizität und Inszenierung“; er verlangt einen „stetigen Abgleich mit allen innewohnenden Konfliktpotenzialen zwischen Selbstentwurf und der von außen diktierten Erwartungshaltung“.103 Nun ist allerdings jedem Ausdrucksverhalten, das es verdient, authentisch genannt zu werden, der Sinn für die Wirkung der Selbstdarstellung inhärent.104 Ohne Wirkungsbewusstsein würde sie die Integrität der anderen Person schonungslos missachten oder sich selbst schamlos entblößen. Die Fassung, die sich jemand gibt, ist deshalb immer auch eine Frage des Charakters. Lessings Bemerkung, dass Dorimond mit der „wahre[n] nachlässige[n] Kürze, mit der ein Mann, dem Güte zur Natur geworden ist, von seiner Güte spricht, wenn er davon sprechen muß“, macht darauf aufmerksam. „Charakter“, so hat Norbert Bischof das ausbuchstabiert, „heißt soviel wie Profil, Profil ist Grenze, und die ist der Inbegriff dessen, was jemand nicht ohne weiteres zu tun bereit ist.“105 Deshalb vermittelt sie eine Vorstellung davon, wer jemand ist bzw. wofür sich jemand hält: „Wenn wir gewisse Dinge tun und andere lassen, dann deshalb, weil wir die Welt als einen Schauplatz verbindlicher Werte wahrnehmen, die durch unser Handeln gepflegt oder verletzt werden können. Der Charakter als Verhaltensprofil und die Wertwelt als dessen ideelles Gegenstück gehören also zusammen, und beide sind es, woran man eigentlich denkt, wenn man von Identität redet. Identität hat zutiefst etwas mit dem zu tun, was man für wertvoll hält, und damit auch, was man selbst wert ist; sie spiegelt sich in der Matrix der Verpflichtungen, die das Individuum als verbindlich erlebt.“106

Das ist vielleicht ein Schlüssel für ein ebenso vorsichtiges wie umsichtiges Verständnis des Briefes als Ego-Dokument. Bei Sibylle Schönborn heißt es: 103  Arto-Haumacher,

https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=19844. von Thun, Miteinander reden, S. 45 f. 105  Bischof, Kraftfeld, S. 571. 106  Ebd. 104  Schulz

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„Briefe sind […] Medien autofiktionaler Selbstinszenierungen im Kontext diskursiver Subjektivitätskonzepte, deren Besonderheit darin liegt, dass sie im Gegensatz zu monologischen Gattungen wie dem Tagebuch und der Autobiographie durch ihr dialogisches Prinzip instabile, offene, einer permanenten Veränderung und Anpassung unterworfene Identitäten im Dialog mit dem Briefpartner hervorbringen.“107

Man wird durchaus bezweifeln dürfen, dass das „dialogische Prinzip“ des Briefes unsere Identität instabil macht. Wahr ist aber: Wir werden füreinander wirklich, indem wir uns darstellen, und wir verändern uns in dem Maße, in dem Beziehungen für uns identitätsbildend werden, d. h. unsere Wertwelt und damit auch unser Verhaltensprofil modifizieren. Das lässt sich nun aber von jeder Form der Intimkommunikation oder besser doch: von jeder intimen Beziehung sagen – ganz unabhängig davon, ob sie sich ausschließlich in der Face-to-Face-Interaktion oder auch im Medium des Briefes vollzieht. Das eigentliche Spezifikum des Briefes ist die Tatsache, dass sich die i­nteraktionsfreie, ausschließlich verbal operierende Ausdrucksbewegung des Schreibens im Brief zur permanenten Tat-Sache vergegenständlicht und dabei Ambivalenzen erzeugt, die Georg Simmel präzise benannt hat: „Bei unmittelbarer Gegenwärtigkeit gibt jeder Teilnehmer des Verkehrs dem andern mehr, als den bloßen Inhalt seiner Worte; indem man sein Gegenüber sieht, und in die mit Worten gar nicht auszudrückende Stimmungssphäre desselben eintaucht, die tausend Nuancen in der Betonung und im Rhythmus seiner Äußerung fühlt, erfährt der logische oder der gewollte Inhalt seiner Worte eine Bereicherung und Modifikation, für die der Brief nur äußerst dürftige Analogien bietet; und auch diese werden im ganzen nur aus Erinnerungen des persönlichen Verkehrs erwachsen. Es ist der Vorzug und der Nachteil des Briefes, prinzipiell den reinen Sachgehalt unsres momentanen Vorstellungslebens zu geben und das zu verschweigen, was man nicht sagen kann oder will. […] Man kann sagen, daß die Rede durch alles das, was sie an Sichtbarem, aber nicht Hörbarem, und an Imponderabilien des Sprechers selbst umgibt, sein Geheimnis offenbart, der Brief es aber verschweigt. Der Brief ist deshalb deutlicher, wo es auf das Geheimnis des Andern nicht ankommt, undeutlicher und vieldeutiger aber, wo dies der Fall ist. Unter dem Geheimnis des Andern verstehe ich seine logisch nicht ausdrückbaren Stimmungen und Seinsqualitäten, auf die wir doch unzählige Male zurückgreifen, selbst um die eigentliche Bedeutung ganz konkreter Äußerungen zu verstehen.“108

Vermutlich ist darin der Grund zu suchen, weshalb die Forschung den Brief mit so großem Nachdruck als fiktional-inszenatorische Rede ausweist. Die „Zerdehnung“ und „Verdinglichung“ des Artikulationsprozesses zum materiellen „Schriftstück“109 verleiht ihm einen in phänomenaler Hinsicht 107  Schönborn,

Nous deux encore?, S. 353. Soziologie, S. 287 u. 288 („Exkurs über den schriftlichen Verkehr“). 109  Ehlich, Pragmatik, S. 24. 108  Simmel,



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schillernden Wirklichkeitscharakter. Wolfgang Metzger hat in einer eindringlichen Analyse unseres Wirklichkeitsverständnisses auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht: „Während erkenntnistheoretisch […] etwas nur entweder wirklich sein kann oder nicht, ist die anschauliche Wirklichkeit abstufbar. Anschaulich erlebte Tatbestände können mehr oder weniger wirklich sein.“110 In diesem Sinne werfen Briefe die Frage auf, wie wirklich und d. h. wie ernstzunehmend das ist, was man erlebt, wenn man sie liest oder sich von ihnen affizieren lässt. Das hat zunächst damit zu tun, dass sich schriftliche Gespräche im Raum der Imagination ereignen. Imaginierte Gesprächspartner haben einen geringeren Wirklichkeitsgrad als unmittelbar angetroffene. Auch wenn sie bei der Lektüre eines Briefes den Schein der Lebendigkeit gewinnen und den Leser des Briefes unmittelbar anmuten, werden sie doch als bloß vorgestellte und nicht in „halluzinogener Präsenztäuschung“ erlebt. Diese Scheinhaftigkeit brieflicher Kommunikation wird nun aber dadurch konterkariert, dass die Artikulation selbst – insbesondere die Mitteilung subjektiver Tatsachen – eine geteilte und damit eine wirklichere, weil verbindlichere Wirklichkeit etabliert. Bereits das bloße Innewerden und noch unausgesprochene Benennen eines Bewusstseinszustandes verleiht diesem einen höheren Wirklichkeitsgrad – etwa „wenn jemand sich schon eine ganze Weile in die beglückende Nähe eines anderen Menschen gezogen fühlt, und nun plötzlich entdeckt, daß er ‚verliebt‘ ist“ – so das Beispiel, an dem Wolfgang Metzger diesen Sachverhalt erläutert hat.111 Das Gedankenspiel lässt sich fortführen: Von „unausgesprochenen Gefühlen“ wird man sagen dürfen: „sie sind noch in einem virtuellen Bereich, im Bereich der Potentialität“ angesiedelt: „Erst als ausgesprochenes gewinnt das Gefühl objektive Realität“, d. h. es wird als „subjektive Wirklichkeit“ für andere objektiv.112 Der schillernde Wirklichkeitsstatus des Briefes hat mit diesen gegenläufigen Tendenzen zu tun: Als geschriebener, in einem eminenten Sinn ‚formulierter‘ Text ist sein Wortlaut ernstzunehmender als die flüchtige, situationsund interaktionsgebundene Rede; als Artikulationsbewegung aber ist er da­ rauf angewiesen, in der Imagination zum Leben erweckt zu werden. Die Vergegenständlichung der Artikulation verleiht dem Augenblick eine Dauer, die in Wirklichkeit nicht der Rede, sondern der Person selbst zukommt, die sie äußert. Solche Ambivalenzen werden aber wohl erst dann virulent, wenn das ­Schreiben von Briefen zu einem alltäglichen Phänomen geworden ist und 110  Metzger,

keit“).

111  Ebd.,

Psychologie, S. 36. Vgl. Bischof, Psychologie, Kap. 4.1 („Wirklich-

S. 39.

112  Spaemann,

Wirklichkeit, S. 197.

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wenn sich Beziehungen beinahe ausschließlich im Medium des Briefes vollziehen. Dann kann man die Erfahrung machen, bei der Lektüre des eigenen Briefes einer Person zu begegnen, über deren Selbstdarstellung man den Kopf schüttelt oder die einem fremd geworden ist. So geht es dem jungen Goethe, der bei der Lektüre seines Briefes an den Jugendfreund Ernst Wolfgang Behrisch erkennt, dass sein Text eine „hübsche Anlage zu einem Werckgen“ hat, weil der leidenschaftliche Artikulationsprozess in ihm eine prägnante Gestalt gewonnen hat: „Ich habe meinen Brief wieder durchgelesen und würde ihn gewiß zerreissen, wenn ich mich schämen dürfte, vor dir in meiner eigentlichen Gestalt zu erscheinen. Dieses heftige Begehren, und dieses eben so heftige Verabscheun, dieses Rasen und diese Wollust werden dir den Jüngling kentlich machen, und du wirst ihn bedauern. […] Mein Brief hat eine hübsche Anlage zu einem Werckgen, ich habe ihn wieder durchgelesen, und erschröcke vor mir selbst.“113

So geht es der Günderrode, die über ihre Briefe sagt: „Auch die wahrsten Briefe sind meiner Ansicht nach nur Leichen, sie bezeichnen ein ihnen einwohnend gewesenes Leben und ob sie gleich dem Lebendigen ähnlich sehen, so ist doch der Moment ihres Lebens schon dahin: deswegen kommt es mir aber vor (wenn ich lese, was ich vor einiger Zeit geschrieben habe), als sähe ich mich im Sarg liegen und meine beiden Ichs starren sich ganz verwundert an.“114

Und so geht es wohl auch Franz Kafka, wenn er von dem „Gespenst“ spricht, „das sich einem unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt“. Solche Erfahrungen sollten aber weder die Geschichts- noch die Literaturwissenschaft daran hindern, den Brief als Lebenszeugnis zu betrachten – wie immer stilisiert die Person sich auch geben mag. Briefe haben dokumentarischen Charakter, gerade weil sie Kommunikationsformen sind, in denen sich eine Person schreibend darstellt, d. h. als Person zur Geltung bringt. Das macht ihre Lektüre zu einer anspruchsvollen Kunst. Wer Briefe angemessen lesen will, muss sich immer auch mit Kulturen der Artikulation vertraut machen und seinen Sinn für Ausdrucksnuancen ­schulen.115 Dazu bedarf es nicht der Analyse „diskursiver Subjektivitäts­ konzepte“ – wenigstens nicht notwendigerweise. Die Kulturgeschichte des Briefes ist Teil einer umfassenderen Kulturgeschichte der sprachlichen Selbstdarstellung (an der die Medien der Kommunikation einen wesentlichen Anteil haben). Zu einer solchen wird man im vorliegenden Fall wohl zweiernach Schöne, Brief an Behrisch, S. 222 u. 225. Schatten, S. 184 (Günderrode an Clemens Brentano, [1803?]). 115  Vgl. als Fallstudien Wiedemann, Liebesbriefe; Ulbricht, Mikrogeschichte, S. 207–255 (über die Liebesbriefe des Goldschmiedegesellen Ehrenfriedt Andreß Kien, 1716–1717); Vellusig, Mendelssohn. 113  Zit.

114  Günderrode,



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lei zählen dürfen: die Kultivierung der „illusionsbildenden“ Qualitäten des Schreibens, insofern sich dieses als Mimesis des Sprechens begreift, und die Kultivierung der Heiterkeit, die das Spiel mit Sprachmasken und mutwilligen Mienen erkundet und den Witz um Nuancen des Rührenden und Innigen erweitert.116 Dieses literarische Spiel stellt kommunikative Nähe nicht nur her, es ist selbst ein Indiz für die Vertrautheit der Briefpartner. Weil es den Leser des Briefes in hohem Maße affiziert, wäre es irreführend, den Strukturwandel der Briefkultur als Wechsel von einem dominant appellierenden zu einem dominant ausdruckshaften Schreiben verstehen zu wollen.117 Eine Kulturgeschichte des Briefes, die in einer medientheoretisch reflektierten Kulturgeschichte der Selbstdarstellung fundiert ist, hätte aber auf „shifting baselines“ zu achten, d. h. auf die kulturelle Verschiebung der intuitiven Grenzen zwischen Intimität, Vertrautheit und Distanz (nicht zuletzt zwischen den Geschlechtern) – und wäre mithin immer auch Teil einer Kulturgeschichte der Diskretion, des Taktgefühls118 und der Scham. Wer Briefe als Ego-Dokumente lesen möchte, darf darüber hinaus aber nicht außer Acht lassen, dass jeder Brief – mit Goethe zu sprechen – ein „Fragment von Fragmenten“ ist: „das Wenigste dessen, was geschah und gesprochen worden, ward geschrieben, vom Geschriebenen ist das Wenigste übrig geblieben.“119 Briefwechsel sind zumeist unvollständig überliefert und das, was überliefert ist, ist selbst nur Teil eines größeren Lebenszusammenhangs, den es als solches zu erschließen gilt. Das aber ist eine Aufgabe, bei der die Literaturwissenschaft auf das Gespräch mit der Geschichtswissenschaft unmittelbar angewiesen ist.

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Denunziatorische Briefe in der DDR – Form, Intention, Kommunikationsstrategien Von Anita Krätzner-Ebert

I. Einleitung Briefe erscheinen in der DDR als häufig benutztes Kommunikationsme­ dium.1 Gerade durch die räumliche Trennung, die sich in Folge des Zweiten Weltkriegs und der Teilung Deutschlands ergeben hatte, und wegen der geringen, systembedingten Mobilität der ostdeutschen Gesellschaft sowie der allgemeinen technischen Bedingungen am Vorabend der technologischen Revolution bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhundert waren die Menschen auf die schriftliche Kommunikation angewiesen. Verabredungen, Glückwünsche, Beschwerden, aber auch alltägliche private Neuigkeiten – all dies wurde auf brieflichem Wege ausgetauscht. Auch für die Kommunikation mit der Staatsmacht war der Brief in der DDR die erste Wahl: die „Eingabe“ ist dabei nur eine besonders bekannte Mitteilungsform; sie hat seitens der Forschung bereits einiges Interesse hervorgerufen.2 Jedoch bezieht sich eine Eingabe in den meisten Fällen auf die Person des Schreibenden und die Darstellung seiner Probleme an eine Einrichtung, von der die Schreibenden sich Aufmerksamkeit oder Abhilfe versprachen (häufig ging es um Versorgungs- oder Wohnungsfragen). Ein denunziatorischer Brief hingegen berichtet hauptsächlich über dritte Personen. Nichtsdestotrotz können Eingaben einen denunziatorischen Charakter haben, nämlich wenn sie zusätzlich zur Darstellung der Beschwerde auch die Darstellung eines gesetzeswidrigen Verhaltens Dritter beinhalten. Außerdem können Denunziationen in Form von Briefen auch Eingaben- bzw. Beschwerdeelemente enthalten.3 Die Meldung eines missliebigen Verhaltens stellt eine Sonderform der brieflichen Kommunikation dar

1  Der Aufsatz ist im Rahmen des Projektes „Politische Denunziation in der DDR“ der ehemaligen Abteilung „Bildung und Forschung“ beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes entstanden. Er wurde bereits in ähnlicher Form veröffentlicht, siehe: Krätzner-Ebert (2017). 2  Zur Textsorte der Eingabe bisher: Mühlberg; Merkel; Zatlin; Merl. Zum Textmuster von Eingaben: Bock, S. 201–208. 3  Bock, S. 203; Wittich, S. 195–214.

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und zeigt nur einen schmalen Ausschnitt dessen, was auf postalischem Wege der Staatsmacht angetragen werden konnte. War der Begriff „Denunziation“ bis ins 19. Jahrhundert hinein noch ein terminus technicus, der synonym zur Anzeige gebraucht wurde, wandelte sich dieser in der Zeit des Vormärzes; der Denunziant wurde im allgemeinen Sprachgebrauch zu einer missliebigen Person und ihm wurden niedere Motive zugesprochen.4 Aufgrund der pejorativen Prägung des Begriffs fällt eine hinreichend überzeugende Definition des Wortes Denunziation schwer, vor allem in Abgrenzung zur „normalen“ Anzeige. Deswegen konzentriert sich die Untersuchung hauptsächlich auf die politische Denunziation in der DDR. Sie fragt also nach der Anzeige von Delikten politischer oder politisch instrumentalisierter Art von einer Privatperson an eine Institution, Partei oder Massenorganisation des SED-Staates.5 Es gibt drei Beteiligte an einer ­Denunziation: den Denunzianten, den Denunzierten und die Einrichtung, an die sich die Denunziation richtet. Der Denunzierte ist nur Gegenstand der Kommunikation, aus dieser selbst zwischen Denunzianten und bestrafender Instanz bleibt er zunächst ausgeschlossen. Es kann gefragt werden, welche Denunzia­ tionsangebote der Staat gab, wie er Denunziationen forderte, förderte und verarbeitete und ob es auch Beispiele für die Ablehnung von ­ Denunziationen seitens der Behörden gab. Zugleich werden die Erscheinungsformen der D ­ enunziation untersucht. An wen (also an welche staatliche Instanz) wurde denunziert und in welcher Kommunikationsform? Gab es Rückmeldungen, Belohnungen, Verpflichtungen? Wie lässt sich Denun­ ziation als soziales Phänomen beschreiben? Welche Beziehungsverhältnisse herrschten zwischen dem Denunzianten und dem Denunzierten? Wie gelangte der Denunziant in Kenntnis des (vermeintlichen) Delikts? Welche Folgen hatte die Denunziation für das Beziehungsverhältnis von Denunziertem und Denun­zianten? Dabei sollen nicht nur offensichtliche Beziehungen, wie die von Familie, Freunden und Kollegen beleuchtet werden, sondern es wird außerdem gefragt, inwieweit ein gesellschaftlicher Vertrauensbruch durch eine Denunziation vorliegt, selbst wenn der Anzeigesteller und der Beschuldigte sich nicht kannten. Häufig stellt sich die Frage nach dem Motiv des Denunzianten. Es gilt quellenkritisch zu hinterfragen, inwieweit Motive und die mögliche Vortäuschung von Motiven sowie die Reflexion des Denunzianten über seine Motive herausgefiltert werden können.

4  Einen Abriss über die historische Entwicklung des Wortes „Denunziation“ gibt: Schröter, S. 33–70. Zur Abgrenzung des Denunziationsbegriffs zu verwandten Begriffen außerdem: Blickle. 5  Ausführlich dazu: Krätzner (2015).



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Die Kommunikation des Geheimnisverrats bzw. das benutzte Medium spielte bisher in den Untersuchungen der Denunziationsforschung nur eine untergeordnete Rolle oder wurde sogar gänzlich vernachlässigt.6 Gerade deshalb ist es wichtig, diesen Ausschnitt der Informationsübermittlung zu fokussieren sowie die Interpretation der Form und Kommunikationsstrategien, um das Phänomen der Denunziation zu betrachten.

II. Briefkommunikation in der DDR Briefe schreiben die Menschen seit Jahrhunderten; sie dienten in Zeiten der räumlichen Entfernung als Gedankenaustausch, Verbindungen unter Freunden und der Familie oder der Selbstdarstellung und galten – sofern es sich nicht um offizielle Post handelt – als freiwillige Handlung, um mit dem Adressaten in Kontakt zu treten. Nun sind aber bei einer Denunziation, anders als beispielsweise bei Gelehrtenbriefen im 19. Jahrhundert, Absender und Adressat in diesem Fall keine Freunde, die sich über komplexe wissenschaftliche und persönliche Fragen austauschen wollen,7 sondern es handelt sich vielmehr um eine einseitige Kommunikation mit einer gewählten sanktionierenden Instanz. Dennoch gelten für Briefe bestimmte Regeln, die über Jahrhunderte hinweg kennzeichnend sind. Sie stehen zunächst für die Abwesenheit einer Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. In einer Face-toFace-Situation treten beide Kommunikationspartner in einen unmittelbaren Austausch. Nicht nur, dass ein Gespräch mit Rückmeldungen und Antworten über mitgeteilte Inhalte stattfindet, ebenso lassen sich Mimik und Gestik des jeweiligen Gegenübers wahrnehmen und beeinflussen bezüglich ihrer Interpretation den weiteren Gesprächsverlauf. Beim Brief ist das nicht der Fall. In der Briefforschung wird dieses Moment als „Phasenverzug“ bezeichnet. Die Wahl des Mediums Brief für eine Denunziationshandlung könnte darauf hindeuten, dass „eine spontane Reaktion des Kommunikationspartners nicht wichtig oder – dies vor allem – nicht erwünscht ist“,8 selbst wenn die Briefeschreibenden nicht anonym blieben. Ein klassischer Brief enthält einen Text, dem der Absender, der Empfänger, das Datum, der Ort und die Anrede vorangestellt sind. Die Anrede bezieht sich auf den Empfänger. In offiziellen Briefen steht zudem ein Betreff. Am Schluss des Briefes folgen in der Regel eine Grußformel und die Unterschrift des Schreibers des Briefes.9 6  Galanova,

S. 112. S. 3. 8  Nikisch, S. 12. 9  Emert, S. 113. 7  Baasner,

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Abbildung 1: Musterbrief aus dem Duden der DDR (1975)10 – Bearbeitung durch die Autorin. 10  Der Große Duden. Wörterbuch und Leitfaden der deutschen Rechtschreibung. 16. Auflage. Leipzig 1975, S. 730.



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Bei dem Muster aus dem Duden der DDR in Abbildung 1 handelt es sich um ein offizielles Schreiben. Private Briefe enthalten ebenso deren wesentliche Elemente. Ein wichtiges Merkmal für einen Brief ist der verschlossene Briefumschlag, der durch einen Dritten, die Post, zu seinem Empfänger transportiert werden soll. Der Umschlag schützt die Daten, die der Brief enthält, vor dem Zugriff Fremder. Auf einer Postkarte beispielsweise werden die Informationen für alle, die sie in den Händen halten können, zugänglich gemacht, sie bietet außerdem weitaus weniger Platz als der Brief. Bei der Briefkommunikation handelt es sich also durch die Wahl des Mediums um einen vertraulichen Akt. Der Umschlag ist in seiner formalen Gestaltung häufig normiert. Er hat eine bestimmte Größe und enthält zumindest die Adresse des Empfängers. Im Normalfall wird auch die Adresse des Absenders auf dem Briefumschlag vermerkt, damit der Empfänger sofort weiß, von wem der Brief stammt, und zum anderen, damit die Post eventuell in der Lage ist, ihn zurückzuschicken. Diese formalen Regeln waren allgemein bekannt. Das Briefeschreiben gehörte in der DDR zum normalen Handeln im Alltag; nicht alle Menschen verfügten über Zugang zu einem Telefon, und sobald Personen räumlich getrennt waren, griffen sie häufig auf das Medium Brief zurück. Bereits die Schule vermittelte das Schreiben von Briefen. Wies das Schulbuch für den Deutschunterricht der fünften Klassenstufe formale Übungen für das Schreiben von privaten Briefen (einschließlich der Gestaltung des Umschlags) beispielsweise aus dem Ferienlager oder für Glückwünsche an die Mutter zum internationalen Frauentag auf,11 so sollte im Deutschunterricht der sechsten Klasse bereits vermittelt werden, wie „Meldungen“ und amtliche Schreiben zu verfassen waren.12 Das Deutschbuch der siebten Klasse beschäftigte sich unter anderem mit dem Abfassen von Formularen und Telegrammen.13 In der achten Klasse beinhaltete das Schulbuch das Formulieren von Einladungen in Briefform (zum Beispiel: „Formuliere eine Einladung zum Thema ‚Warum ich Offizier der Nationalen Volksarmee wurde‘!“14) und Anfragen. Außerdem enthielt das gleiche Buch drei Seiten über das Thema „Wir beurteilen einen Mitschüler“.15

11  Autorenkollektiv Klasse 5. Berlin 1977, 12  Autorenkollektiv Klasse 6. Berlin 1986, 13  Autorenkollektiv Klasse 7. Berlin 1987, 14  Autorenkollektiv Berlin 1984, S. 37. 15  Ebd., S. 45–47.

unter der Leitung von Theodor Heidrich: Muttersprache. S. 51–58. unter der Leitung von Brunhilde Schrumpf: Muttersprache. S. 44–47. unter der Leitung von Theodor Heidrich: Muttersprache. S. 39–42. unter der Leitung von Lothar Tille: Muttersprache. Klasse 8.

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Die Stasiunterlagenbehörde verfügt vor allem durch die von der Abteilung M16 des Ministeriums für Staatssicherheit abgefangenen beziehungsweise kopierten Briefe über ein riesiges Briefarchiv, das ein großes Potential für alltagsgeschichtliche oder linguistische Untersuchungen zur DDR-Gesellschaft und auch den innerdeutschen Briefverkehr birgt.17 Aus datenschutzrechtlichen Gründen ist die Nutzung für die Forschung derzeit jedoch beschränkt.18 Auch wenn die Post nicht für alle DDR-Bürger zufriedenstellend arbeitete, Briefe häufig eine Woche oder länger unterwegs waren und Nachrichten, die sehr schnell den Empfänger erreichen sollten, meist als Telegramme verschickt wurden, so war die Post ein sicheres und handhabbares Medium, vor allem, wenn ein Bürger mit der Staatsmacht in Kontakt treten wollte. Das Papier zum Briefeschreiben konnte sich jeder leisten – so gut wie alle Menschen besaßen Briefpapier, das Porto war erschwinglich – und deshalb wurde viel geschrieben. Im Vergleich zum Telefon standen Briefe somit jedem Bürger der DDR zur Verfügung, und Briefkommunikation verlief relativ störungsfrei, was sich bis 1989 vom Telefonieren nicht behaupten ließ.19 Fasste jemand den Entschluss, eine Denunziation mittels eines Briefes zu übermitteln, so konnte derjenige demnach auf bekannte Handlungsmuster zurückgreifen, konnte unerkannt bleiben und wusste mit großer Sicherheit, dass der Brief sein Ziel erreichen würde. Dennoch erlangte die schreibende Person keine Gewissheit, ob die Denunziation angenommen beziehungsweise ob das angezeigte Vergehen überhaupt verfolgt wurde. Blieb der Absender anonym, hatte er kaum Möglichkeiten der Rückmeldung – es sei denn, man bekam zum Beispiel mit, wie ein denunzierter Nachbar oder Kollege verhaftet wurde. Bei einer anonymen Denunziation handelt es sich also um eine einseitige Kommunikation, bei der es zu keinem Austausch mit dem Empfänger kommt – aber diese Handlungsoption wählte der Schreibende bewusst.20 Im Fall der denunziatorischen Briefe bot die Auswahl des Mediums „Brief“ einen Schutz davor, mit der Staatsmacht in persönlichen Kontakt zu treten und so beispielsweise beim Betreten des Dienstgeländes gesehen zu werden. Der Schreiber hatte die Wahl, wieviel er oder sie von sich preisgab. Man musste weder einen Absender angeben, noch war man an strikte formale Vorgaben gebunden. Die Schrift lässt sich verstellen, die Absender können Blockbuchstaben verwenden oder Schreibmaschinen, Stempelkästen oder 16  Zur

Abteilung M: Labrenz-Weiß; Reinicke; Kowalczuk (2013), S. 128 ff.

17  Dietzsch.

18  Analog zu den rechtlichen Problemen bei der wissenschaftlichen Auswertung von Telefonabhörprotokollen: Kowalczuk/Polzin (2014). 19  Ebd. S. 24–36. 20  Fitzpatrick, S. 116.



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ausgeschnittene Zeitungen21 benutzen. In kaum einer Kommunikationssituation ist es daher so leicht, sich zu maskieren, wie in einem Brief.22 Dennoch ist allen Briefen gemein, dass sie auf vom Empfänger gewähltem Papier geschrieben, in einen Briefumschlag gesteckt und frankiert werden. Zudem kann sich der Schreiber Zeit nehmen, das Schriftstück anzufertigen, sich vorher Notizen machen und überlegen, was und wie geschrieben werden soll.

III. Der Umschlag Bereits am Briefumschlag kann man erkennen, an welchen Adressaten sich das Schreiben richtete. Dabei variieren die (beabsichtigten) Empfänger sehr stark, ebenso weicht die Präzision der Adressen häufig vom eigentlichen Normalfall ab. Für gewöhnlich sollten gut lesbar der Vorname, der Nachname, die Straße, die Hausnummer, der Ort und die Postleitzahl des Empfängers auf dem Briefumschlag stehen.23 Schon anhand der Couverts zeigt sich, dass die Schreiber oft nur einen diffusen Eindruck von der Institution besaßen, an die sie sich wandten. Als Unterscheidungskriterium hinsichtlich der Briefumschläge können sowohl beabsichtigte Empfänger als auch die Genauigkeit der Angaben herangezogen werden. Empfänger waren alle Institutionen, die DDR-Bürger als Anlaufstelle für Anzeigen kannten. Das waren zum Beispiel der Rat der Stadt oder des Kreises, Gerichte, die Volkspolizei, die SED oder eben die Staatssicherheit. Die Genauigkeit oder Ungenauigkeit der Angaben verdeutlichen, welche Informationen der Denunziant über die Institution, an die er schrieb, besaß. In den wenigsten Fällen waren sie so präzise, dass spezielle Ansprechpartner genannt wurden, wie in Abbildung 2. Dieses Beispiel zeigt nicht nur, dass der Schreiber eine Vorstellung davon hatte, wer in dieser Institution arbeitete, sondern auch, dass er darauf vertraute, dass er das Anliegen ernst nehmen und verfolgen wird. Dieses Wissen über die spezielle Person findet sich üblicherweise nicht bei Briefen, die an die Staatssicherheit gerichtet wurden; hier bezieht sich die Anschrift meist nur auf den Ort, an dem die Staatssicherheit saß. Die Adressen der Kreisdienststellen und Bezirksverwaltungen des Ministeriums für Staatssicherheit standen zwar mit der Angabe der Straße und der Hausnummer im Telefonbuch,24 aber den-

21  Obwohl dies selbst bei Erpresserbriefen – entgegen der Wahrnehmung durch die mediale Verarbeitung – sehr selten vorkommt. Bredthauer, S. 33. Die forensische Linguistik hat sich ausführlich mit Erpresserbriefen beschäftigt und kann daher eine interessante Vergleichsfolie zu den Denunziationsbriefen bieten. Vgl. Dern. 22  Baasner, S. 3. Vgl. Antenhofer/Müller, S. 21. 23  Vgl. Abbildung 1. 24  Zum Beispiel: Fernsprechbuch der Deutschen Post, Leipzig 1980, S. 273.

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Abbildung 2: Briefumschlag adressiert an das Volkspolizeikreisamt Sternberg v. 11.7.1989 (Poststempel)25.

noch enthielt die Adresszeile häufig nur das Gebäude, das die Einwohner unmittelbar mit der Staatssicherheit verbanden. So assoziierten viele Bürger Schwerins das Gerichtsgebäude am Demmlerplatz26 (Abbildung 3) mit der Staatssicherheit, deren Bezirksverwaltung dort ihren Sitz hatte. Dorthin schrieben sie gegebenenfalls und verzichteten dabei oft auch auf Postleitzahlen oder Hausnummern. Sie nahmen vor allem den Ort der Repression als Sitz einer (Polizei-)Behörde wahr und vertrauten darauf, dass hier der Empfänger saß, den sie als „richtigen“ Adressaten für ihr Schreiben vermuteten. Die diffuse Wahrnehmung eines solchen Ortes und auch die Gefühle, die sie damit verbinden, spiegeln sich in diesen Umschlägen wider. Noch ungenauer wurde es, wenn die Schreiber nicht genau wussten, wo die Institution saß oder wie sie zu bezeichnen war. Teilweise vermischten sich in den Anschriften verschiedene Einrichtungen miteinander, so wie das Ministerium des Innern und die Staatssicherheit in Abbildung 4. Es zeigt die unzureichenden Vorstellungen darüber, wer die Strafverfolgung übernehmen wird und wie die (geheim-)polizeilichen Strukturen in der DDR aufgebaut waren. Es könnte aber ebenso der Versuch sein, genau dieses Wissen zu ver25  Briefumschlag adressiert an das Volkspolizeikreisamt Sternberg v. 11.7.1989 (Poststempel). BStU, MfS, BV Schwerin, AOPK 839/89, Bl. 157. 26  Ähnlich verhielt es sich mit dem Dittrichring in Leipzig, an dem die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit saß, oder mit der Normannenstraße, dem Sitz der Zen­ trale des MfS in Berlin.



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Abbildung 3: Briefumschlag adressiert an die Staatssicherheit in Schwerin v. 16.4.195627.

Abbildung 4: Briefumschlag adressiert an die Staatssicherheit v. 14.5.1989 (Poststempel)28.

bergen und bereits den Umschlag in den Maskierungsprozess der eigenen Person einzubeziehen.29 27  Briefumschlag adressiert an die Staatssicherheit in Schwerin v. 16.4.1956. BStU, MfS, BV Schwerin, AP 590/56, Bl. 3. 28  Briefumschlag adressiert an die Staatssicherheit v. 14.5.1989 (Poststempel). BStU, MfS, BV Schwerin, AU 744/89, Bd. 1, Bl. 3. 29  Vgl. Brief Abbildung 7.

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Für gewöhnlich reichte aber als Adresse die Bezeichnung der Einrichtung, an die das Schreiben geschickt wurde. Viele Verfasser waren sich sicher, dass ihr Anliegen eine Instanz erreichen würde, die sich der Mitteilung annahm und mit dieser Vermutung lagen sie richtig.

IV. Die äußere Form der Briefe Die meisten Briefe variieren sehr stark bezüglich der äußeren Gestaltung. Vor allem hinsichtlich der formalen Elemente wie Grußformel, Umfang oder Aufbau des Textteils lassen sich viele Unterschiede feststellen, die zum einen Aufschluss darüber geben, wie umfangreich und detailliert das Mitteilungsbedürfnis des Schreibers an den Empfänger war und welche Absichten er über die reine Informationsvermittlung hinaus verfolgte. Aber je weniger Informationen diese Schreiben enthielten, desto weniger geben sie auch über die Verfasser wieder. Dies zeigt sich sehr deutlich in einem Vergleich zwischen den nun folgenden Signalkarten mit mittellangen und langen Briefen. 1. Signalkarten Einige Briefe haben lediglich den Charakter einer Signalkarte, die außer der scheinbar puren Information kaum weiteren Text enthält. So verhält es sich bei dem Brief in Abbildung 5, der 1954 an die SED-Parteileitung in Güstrow geschrieben wurde. Er enthält auf einer A6 Karte die Worte: „Achtung: Herr [Vorname Nachname] türmt demnächst ([Ort])“. Nur das Wort „Achtung“ ist dem Text vo­ ­ rangestellt, ist also Überschrift und Betreffzeile zugleich. Die knappe ­Information des Briefs in Abbildung 6 von 1989 mutet sehr ähnlich an. In diesen sehr kurzen Briefen geben die Schreiber fast nichts von sich preis. Sie verzichten auf jegliche Grußformeln und nur der Umschlag offenbart, an wen sich die Botschaft überhaupt richtet. Sie enthalten weder den Ort des Verfassers noch ein Datum, sie verraten weder Namen noch Geschlecht des Schreibers oder dessen Motivation und auch nicht, woher die Information stammt. Lediglich über die Denunzierten offenbaren sie so viel, dass die Behörden in der Lage sind, sie zu identifizieren. Im ersten Fall ist es der volle Name und der Ort (ein Dorf), im zweiten Fall ist es der Name der Familie und die Straße und Hausnummer in Sternberg, an deren Volkspolizeikreisamt das Schreiben gerichtet ist. Das sind sehr konkrete Angaben, bei denen man vermuten kann, dass es sich bei den Angezeigten nicht um Zufallsbekanntschaften handelt. Da die Schreiber dieser sehr kurzen Briefe kaum Angaben über die reine Beschuldigung hinaus vornehmen, verbergen sie auch sämtliche Motive, die mit diesen Briefen einhergehen könnten. Ihre



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Abbildung 5: Brief v. 3.6.1954 (Poststempel)30.

Abbildung 6: Brief v. 11.7.1989 (Poststempel)31.

Strategie zielt auf die größtmögliche Maskierung ab, zur eigenen Person äußern sie sich überhaupt nicht. 30  Brief v. 3.6.1954 (Poststempel). BStU, MfS, BV Schwerin, AIM 664/55, PA, Bl. 50. 31  Brief v. 11.7.1989 (Poststempel). BStU, MfS, BV Schwerin, AOPK 839/89, Bl. 158.

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2. Mittellange Briefe Sehr häufig kommen denunziatorische Briefe in mittellanger Größe vor. Dabei kann zwischen formlosen und formhaften Texten unterschieden werden. Formhafte Schreiben halten sich an offiziöse Regeln der Kommunikation mit Behörden. Sie verfügen meist über einen oder mehrere Standards wie Betreffzeilen, Grußformeln und Textgliederungen. In fast jedem Fall wird dort ein (zumeist vorgetäuschter) Beobachtungszusammenhang geliefert, sei es im Text („Ich habe oft dort beim Notariat zu tun.“32, „Ich bin eine der Betroffenen“33. „Es wurde gesehen“34) beziehungsweise in der abschließenden Grußformel („einer, der auf der Beerdigund [sic] dabei war“35). Formlose Texte enthalten meist eine Schilderung des Falls, die ohne Grußformel oder Betreffzeilen auskommt. Dennoch geben die Schreiber in diesen Briefen fast immer etwas von sich preis – sei es der angebliche Beobachtungszusammenhang oder meist versteckte Hinweise auf das (vorgebliche) Motiv. Anhand der Formulierungen lässt sich ablesen, ob die Schreiber mit der sozialistischen Formelhaftigkeit der Sprache in Berührung gekommen sind und sie auf diesen Brief anwenden (z. B. „mit sozialistischem Gruß“) – immerhin kommunizieren sie ja mit dem Staat – oder ob sie eher eine private Form der Sprache bevorzugen. Letztendlich lässt sich feststellen, dass nur in wenigen Schreiben deutlich politisch markierte Wörter wie „feindlich“ oder „Genosse“ verwendet werden; hauptsächlich tragen diese Texte sprachlich den Charakter von privaten Schreiben. 3. Lange Briefe Eher selten sind sehr lange und ausführliche Briefe. Sie treffen dann beim Adressaten ein, wenn die Schreiber beabsichtigen, Beschuldigungen ausführlich zu untermauern. Es sind Schreiben überliefert, die lange Listen über Betrugshandlungen in Betrieben enthalten. Dort versuchen die Verfasser nur sehr selten, ihre Identität zu verbergen. Häufig beschuldigen diese Briefe Arbeitskollegen oder nahe Verwandte; es ist zu erkennen, dass die Schreiber in einem näheren Verhältnis zu den Beschuldigten stehen. Deswegen verfügen sie häufiger über einen Absender als andere denunziatorische Briefe. Auch sonst halten sich solche Schreiben eher an die Konventionen und verfügen meist über eindeutige Adressaten, Betreffzeile, Datumsangabe und 32  Brief

v. 4.10.1983. In: BStU, MfS, BV Schwerin, AOPK 669/87, Bl. 35. (undatiert). In: BStU, MfS, BV Schwerin, AU 496/87, Bl. 4. 34  Brief v. 13.5.1955 (Poststempel). In: BStU, MfS, BV Schwerin, AU 42/55, Bl. 86. 35  Brief v. 27.10.1988 (Poststempel). In: BStU, MfS, BV Schwerin, AOPK 1224/89, Bl. 106. 33  Brief



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Grußzeile.36 Generell zeugen die langen Briefe von einem planvollen Handeln. Einige Briefe beinhalten sogar Tabellen, die Beobachtungen längerer Zeiträume dokumentieren, beispielsweise wann der Beschuldigte zu wem gefahren ist und was er dabei entwendet haben soll.37 Man erkennt, dass sich die Schreiber vorher Notizen über das Fehlverhalten der betreffenden Person gemacht haben und nun als „krönenden“ Abschluss endlich alle belastenden Materialien in einem Brief zusammenführen. In den langen Briefen tritt deutlich hervor, dass sich die Schreiber schon über einen längeren Zeitraum mit den Gedanken getragen haben, „endlich“ an die bestrafenden In­ stanzen heran­zutreten. Der Adressat soll den Eindruck bekommen, es handle sich bei den Absendern um „aufrechte“ Bürger, deren Anzeige gerechtfertigt sei. 4. Schrift Die meisten Briefe sind handschriftlich verfasst worden. Das liegt auch daran, dass nicht jede Person in der DDR eine Schreibmaschine besaß und sie ohne große Schwierigkeiten bedienen konnte. Dennoch machten sich nur die wenigsten Schreiber die Mühe, ihre Schrift zu verfälschen. In einigen Briefen lässt sich erkennen, dass mit einer anderen als der Schreibhand geschrieben wurde, wie in dem Brief der Abbildung 6, der mit links geschrieben wurde, weswegen das Schriftbild stark verfälscht ist.38 Andere Schreiben verwenden Druck- oder Blockschrift oder stark formalisierte „Schönschrift“, wie sie in der Schule gelehrt wurde.39 Dennoch bleibt dies eher die Ausnahme. Die Staatssicherheit hätte bei vorliegendem Bedürfnis durch eine Schriftprobe den Schreiber ermitteln können. Doch die Angst davor scheint bei den Denunzianten nicht besonders groß gewesen zu sein und letztendlich hat sich die Staatssicherheit nur selten die Mühe gemacht, die Verfasser zu ermitteln.

V. Die Denunziation einer vermeintlichen „Republikflucht“ Im Gegensatz zum Telefonat zum Beispiel, auf das eine Person, die sich an eine Instanz zwecks Informationsweitergabe richtet, nur begrenzten Einfluss hat, da das Gespräch durch den Mitarbeiter der Institution in eine be36  Z. B. Brief v. 23.05.1986 (Poststempel). BStU, MfS, BV Schwerin, AOG 327/87, Bl. 41–45. 37  Ebd. 38  Zu dieser Feststellung gelangte auch das Gutachten der Staatssicherheit. Handschriftenvergleich v. 7.11.1988. BStU, MfS, BV Schwerin, AOPK 839/89, Bl. 155. 39  Vgl. Abbildung 7.

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stimmte Richtung geführt werden musste40, verläuft ein Brief planvoll. Der Schreiber kann sich in aller Ruhe Zeit nehmen, sich eventuell vorher eine Kladde anfertigen, Notizen machen und dann eine Reinschrift erstellen. In jedem Fall bestimmt der Verfasser über den Aufwand selbst. Ganz selten finden sich in den denunziatorischen Briefen Durchstreichungen oder Korrekturen, so dass davon ausgegangen werden kann, dass das Endprodukt mit dem Bewusstsein darüber angefertigt wurde, was und wie das zu Sagende aufgeschrieben werden soll. Anhand eines anonymen Briefs (Abbildung 7), der am 14. Mai 1989 in Wittenburg (Bezirk Schwerin, Kreis Hagenow) in einen öffentlichen Briefkasten geworfen wurde, lassen sich einige Beobachtungen verdeutlichen, die bezüglich der Selbstoffenbarungen des Schreibers angestellt werden können. Es handelt sich um einen typischen anonymen Denunziationsbrief, wie er nicht nur an das MfS, sondern auch an die Volkspolizei, die SED und die kommunalen Behörden gerichtet wurde. Der Verfasser41 beschreibt sich selbst als Bürger, der nur seine sozialistische Pflicht verrichten und deswegen aus ideologischer Überzeugung eine geplante Republikflucht melden würde. Zudem gibt er vor, sich um das Wohl anderer Menschen zu sorgen. Der Briefeschreiber suggeriert, er hätte nur zufällig ein Gespräch mitgehört und will den Eindruck vermeiden, man sei mit den Beschuldigten verwandt oder bekannt. Dennoch werden sowohl der Vor- und der Nachnamen und Wohnorte der beiden Personen wiedergegeben. Da es sich um ausgesprochen kleine Ortschaften in der mecklenburgischen Provinz handelt, kann es sein, dass der Schreiber und die Beschuldigten in keiner engeren Beziehung standen, sich aber dennoch kannten. Über die wirklichen Motive und die tatsächlichen Beziehungsverhältnisse offenbart der Brief nur wenig. Sie bleiben durch die Anonymität des Absenders im Dunkeln. Auch während der weiteren Bearbeitung durch die Staatssicherheit spielte die Ermittlung des Verfassers nur eine untergeordnete Rolle; es wurden, wie in den meisten anderen Fällen von anonymen Briefen, keine umfangreichen Schritte wie beispielsweise Schriftproben, Fingerabdrücke oder ähnliches eingeholt, um die Identität festzustellen, obwohl die beiden Beschuldigten einen konkreten Verdacht bezüglich des Absenders hatten (ein Nachbarehepaar). In diesem Fall zählte nur der Wahrheitsgehalt der Denunziation. Der Brief enthält eine Reihe schwerwiegender Rechtschreibfehler, die aber fingiert sein könnten. Auch Erpresserbriefe beinhalten nicht selten diese Form der Täuschung. Den Adressaten suggerieren sie Schreiber niedrigen

40  Zum Vergleich der brieflichen mit der telefonischen Denunziation: Krätzner (2014), S. 191–206. 41  Oder die Verfasserin.

42  Briefumschlag

adressiert an die Staatssicherheit v. 14.5.1989 (Poststempel). BStU, MfS, BV Schwerin, AU 744/89, Bd. 1, Bl. 3.

Abbildung 7: Brief v. 14.5.1989 (Poststempel)42 – Bearbeitung durch Autorin.

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Bildungsgrades (oder bei Erpresserbriefen in der Bundesrepublik ebenso: Personen mit Migrationshintergrund43). Sie dienen in den Denunziationsschreiben dazu, die eigentliche Identität der Schreibenden zu verschleiern Das MfS ging den Hinweisen nach und verhörte beide Personen. Sie gaben zu, befreundet zu sein und gemeinsam am Haus des einen Freundes zu arbeiten. Aber beide schafften es, dem Vernehmer der Staatssicherheit zu vermitteln, dass sie nicht vorhatten, die DDR zu verlassen und dass sie auch nicht wüssten, wie es möglich sei, die Grenze zur Bundesrepublik mit einem Auto zu durchbrechen. Da beide Freunde vehement bestritten, solche Pläne zu haben und die Staatssicherheit auch keine weiteren Beweise zusätzlich zum Brief fand, ließ die Staatsmacht beide frei und die Freunde unternahmen im Anschluss keinerlei Fluchtversuche.44 Der anonyme Brief ist jedoch ein typisches Beispiel für eine Denunziation. Häufig tauchen in dieser kommunikativen Form der Denunziation Bekundungen über die Staats- und Gesetzestreue auf. Zugleich wird sehr oft das Verhältnis zu den Beschuldigten verschleiert. Wenn die Briefeschreiber aber dennoch den eigenen Namen preisgeben, so ist dies noch viel stärker verbunden mit der Unterstreichung der sozialistischen Gesetzestreue, häufig zählen sie Auszeichnungen oder Dienste auf, die sie der DDR Zeit ihres Lebens zur Verfügung stellten. Dieses rechtfertigende Verhalten soll ebenfalls verhindern, dass die bestrafende Institution den Eindruck bekommt, es handle sich um einen Rache- oder Eifersuchtsakt beziehungsweise schlichte Nachbarschaftsstreitigkeiten. Hier wird deutlich, dass die Denunzianten unbedingt den Verdacht vermeiden möchten, sie können aus „niederen Motiven“ handeln. Zugleich vermitteln sie manchmal, Ausgangspunkt sei die Angst vor der eigenen Bestrafung, wenn das Vergehen nicht angezeigt wird – dies vor allem in Verbindung mit der Preisgabe der eigenen Identität. Um die Dienststellen von der „guten Absicht“ zu überzeugen, verwenden die Verfasser die unterschiedlichsten sprachlichen Mittel – im hier geschilderten Fall möchte der Schreiber den Eindruck vermitteln, er sorge sich um das Wohl anderer Menschen, die dabei gefährdet würden und deswegen sei eine solche Flucht nicht zu billigen. Manchmal werden an die Institutionen zusätzliche Handlungsanweisungen gegeben, die zeigen sollen, dass der Verfasser das geltende Recht unterstützt und eine strafrechtliche Verfolgung für unabdingbar hält, z. B.: „Es ist jetzt die Pflicht der Polizei so schnell wie möglich hier

43  Schall,

S.  331 f. v. 6.6.1989. BStU, MfS, BV Schwerin, AU 744/89, Bl. 22.

44  Aktenvermerk



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einzugreifen.“,45 „Sperrt die Frau ein.“46 oder „Eine Hausdurchsuchung würde sich lohnen. […] Sie brauchen nur noch zuzugreifen.“47

VI. Fazit Denunziatorische Briefe lassen sich aufgrund der Empfänger – eine sanktionierende Instanz – nicht dem privaten Schrifttum zuordnen. Ihnen liegt zu großen Teilen eine Maskierungsstrategie zugrunde. Aufgrund der gewählten Art der Kommunikation (denn die Schreiber riefen ja weder in der Dienststelle an noch suchten sie diese persönlich auf) kann geschlossen werden, dass die Schreiber absichtsvoll einen gewissen Abstand zum Adressaten suchten. Sie wollten die angeschriebene Behörde von einer Normabweichung in Kenntnis setzen, unterstrichen aber zugleich ihre Gesetzestreue und versuchten, eigene Motive möglichst zu verbergen. Dazu nutzten sie die beschriebenen Strategien. Die Analyse der Form als auch der Kommunikationsstrategien können bei der Interpretation dieser Quellen helfen. Es wäre wissenschaftlich interessant, denunziatorische Briefe aus anderen Ländern und anderen Epochen zu betrachten, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten der brieflichen Anzeige herauszuarbeiten. Die bisherige Denunziationsforschung hat sich noch nicht intensiv mit dieser Kommunikationsform des Verrats auseinandergesetzt. Welche Gründe dazu geführt haben, diese Briefe zu verfassen, bleibt in den meisten Fällen im Dunkeln, sie geben eher eine Strategie der Schreibenden als eine Antwort auf die Frage wieder. Private Hintergründe bleiben zumeist verborgen, selbst wenn sie den Ausschlag gegeben hätten, und können nur recht selten entschlüsselt werden. Finden sich dennoch Beschreibungen von emotional aufgeladenen Phrasen, so sind sie eher hinsichtlich ihrer Funktion zu deuten, den Adressaten zur Strafverfolgung zu bewegen. Sie sind aber wohl nur selten mit den eigentlichen Motiven der Schreiber gleichzusetzen.

VII. Literatur Antenhofer, Christina/Müller, Mario: Briefe in politische Kommunikation. Einführung, in: dies. (Hg.): Briefe in politischer Kommunikation vom Alten Orient bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2008, S. 9–30.

45  Brief an die BL der SED in Schwerin (undatiert, ca. Januar 1986). LHAS, 10.34–3, 4081, unpag. 46  Brief v. 12.5.1955 (Poststempel). BStU, MfS, BV Schwerin, AU 42/55, Bl. 86. 47  Brief v. 24.1.1956 (Poststempel). BStU, MfS, BV Schwerin, AOP 56/57, Bl. 11.

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Otto von Bismarck. Ein Prominenter des 19. Jahrhunderts in der Briefkultur Von Jochen Strobel

I. Schreibender „Real-Idealist“ Dass Bismarck einst gewaltigen Ruhm auf sich vereinigen konnte, bedarf keiner Erläuterung; indessen zählte er gegen Ende seines Lebens und weit darüber hinaus zu einer Spezies des Überganges: berühmt und prominent. Mediale Aufmerksamkeit und die Existenz einer populären Kultur sind Voraussetzungen der Entstehung von Prominenz1 – von der Feier des greisen Altkanzlers über die Bismarcktürme bis zum Bismarck-Hering lassen sich gewiss zahlreiche Ereignisse und Objekte benennen, die den Kult2 um eine noch lebende prominente Figur des öffentlichen Lebens bezeichnen: „Die Prominenten stellen die Klasse derjenigen Personen dar, von denen allgemein bekannt ist, wer sie sind. Der ursprüngliche Grund für die Bekanntheit ist zweitrangig.“3 Als Reichsgründer und Reichskanzler war Bismarck auch und vor allem ein öffentlicher Mensch: „Durch ihren öffentlichen Status bedingt sind Prominente Bezieher massenhaft gespendeter Aufmerksamkeit.“4 Seit Ende der 1860er Jahre wurde Bismarck auf der Straße erkannt – sein Konterfei war durch zahlreiche Karikaturen jedermann bekannt.5 Das von der Satirezeitschrift Kladderadatsch 1890 zum 75. Geburtstag herausgebrachte Bismarck-Album sammelt die zahlreichen charakteristischen Porträts, die vor allem von Wilhelm Scholz stammten. Er hatte den glatzköpfigen Bismarck in seinen Karikaturen stets mit drei widerspenstigen Haaren versehen – und damit ein unverwechselbares Charakterbild geschaffen.6 Dieses Bild hatte Wippersberg, S. 129 und S. 140 sowie Schneider. Gall (S. 711) ist der „Bismarck-Kult“ „zu einem ganz wesentlichen Teil Bismarcks eigenes Werk“. 3  Franck, S. 118. Selbstverständlich stehen Bismarcks Verdienste in einem nachvollziehbaren Verhältnis zur Resonanz, die er als Person erfuhr. Zur Ausdifferenzierung von ‚celebrity‘ und ‚fame‘ in der Anfangszeit der Massenpresse in den 1860er Jahren vgl. Berenson/Giloi, S. 6. 4  Franck, S. 119. 5  Vgl. Pflanze, Reichsgründer, S. 549. 6  Bismarck-Album http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/klabismarck1890 (18.8.2018). 1  Vgl. 2  Für

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sich verselbstständigt, war zur Marke geworden – die Physiognomie selbst zählte. Bismarcks Ausnahmestellung wurde in zunehmend massenhaft verbreiteten Medien und Objekten greifbar – der Brief ließ zu Bismarcks Lebzeiten und in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod noch eine Kristallisation dieser Ausnahmestellung zu, machte aber im 20. Jahrhundert zunehmend anderen Kommunikationsformen und Medien (in dieser Doppelfunktion wird der Brief hier behandelt) Platz. Und so bediente sich das, was etwas unpräzise als ‚Bismarck-Mythos‘ bezeichnet wurde, älterer und neuerer Praxen und Medien: neben Festkultur und Literatur ist an Souvenirs, Fotos, Bildpostkarten, Filme zu denken.7 Lothar Machtan hat etwa anhand von Bismarcks Tod und des letzten fotografischen Porträts, das Bismarck auf dem Totenbett zeigt, Zuschreibungspraxen beschrieben8: Ereignisse, Handlungen, Texte werden in einer zeittypischen Praxis der Zuschreibung mit zusätzlichen, die zeitgenössische Kultur, also kollektiv relevante Sinnstiftungs- und Identitätsprobleme betreffenden Bedeutungen versehen, namentlich ‚Nation‘ ‚Reich‘, ‚Gemeinschaft‘, ‚Einheit‘. Hinzu kommt, dass derartige Zuschreibungen mit einer Fokussierung von Bismarcks Leiblichkeit, seinem privaten Alltag insbesondere nach dem Rücktritt einhergingen, sodann aber mit Prozeduren der Verehrung, die die dazu bereiten Menschen einstimmten, zusammengeführt wurden und mutmaßlich dazu beitrugen, nationale Einstellungen zu verfestigen, also Denkmäler, Porträts, alltagstaugliche D ­ evotionalien – aber auch Lektürestoff (Text, Fotografie, Karikatur). Dies führte schon vor 1890, dann aber vor allem um 1895,9 bis zu einer quasireligiösen Aufladung der so erst konstruierten großen Persönlichkeit, die, wenn man ihr erst einmal näher gekommen war, „Partizipation an dem [versprach], was die Religion das Heilige nennt“.10 Bismarck selbst förderte und forcierte die Präsenz seines prominenten Konterfeis in den Medien, wie er sich auf dem Altenteil gern auch selbst zeigte, sich Besuchern darbot. Prominente – oder das englische Pendant: celebs – zeichnen sich dadurch aus, dass „their private life will attract greater public interest than their professional life“.11 Das Paradigma des 18. und 19. Jahrhunderts, der Privatbrief, begegnet bei Bismarck bevorzugt, am bekanntesten sind die Briefe an seine Braut und Gattin geworden. Insbesondere seine Briefe wurden als Belege einer besonderen SynthesenSymbolik gedeutet, nämlich Politiker- und Künstlertum produktiv verschmolzen zu haben. Dass die Ausstrahlung dieser Fama bis weit ins 20. Jahrhundert hinein reichte, muss dem ersten Reichskanzler nicht unbedingt schmeicheln. Machtan, Einleitung, S. 7 f. Machtan, Bismarcks Tod. 9  Vgl. Kraus, Größe, S. 306. 10  Machtan, Bismarck-Kult, S. 17, sowie: Braungart. 11  Turner, S. 3, vgl. auch Hansel. 7  Vgl. 8  Vgl.



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Noch Albert Speers amerikanischer Verbündeter Eugene Davidson pries einem britischen Verleger gegenüber die Memoiren seines Schützlings als „prose like Bismarck’s“.12 Der implizite Vergleich besagt, dass künstlerische Begabung erfreulicherweise (und mögliche Bruchlinien heilend) auch hart am Rande des schmutzigen politischen Geschäfts gedeihe – gewiss eine von vielen unangebrachten Speer-Verharmlosungen. Der Vergleich arbeitet mit dem Überraschenden, der Pointe, die sich mittels einer genauen Betrachtung von Bismarcks Lebenswerk (einschließlich seiner Briefe!) den Zeitgenossen zu offenbaren schien. Es ist diese Pointe, die immer und immer wieder zugunsten des Prominenten strapaziert wird: selbst Bismarck war mehr als nur Machtpolitiker. Die Nachgeborenen waren nicht zimperlich. Der zeitweilige George-Jünger und brillante Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf rühmte in der ­konservativen „Europäischen Revue“ 1931 Bismarcks diktiertes Memoirenwerk Gedanken und Erinnerungen umstandslos als „das gewaltigste politische Schriftwerk unseres Volkes“.13 Die Lobeshymnen reißen bis heute nicht ab. Hans-Christof Kraus charakterisiert einerseits die Rezeptionsgeschichte, wenn er die Memoiren „einst fast so etwas wie ein ‚Kultbuch‘ des deutschen Bürgertums“ nennt,14 gibt sich aber selbst enthusiastisch, wenn er aus der Sicht des Jahres 2015 schreibt: „In der deutschen Literatur steht Bismarcks Werk jedenfalls einzig da.“15 Manchem Zeitgenossen standen Bismarcks Texte höher als die politischen Kämpfe des Tages. Der liberale Politiker Ludwig Bamberger wird mit dem Bonmot zitiert: „Wenn ich Bismarcks Briefe lese, verzeihe ich ihm alles, was ich ihm politisch vorzuwerfen habe.“16 Mitzulesen ist die Ergänzung, von jemandem wie Bismarck habe man so etwas nicht erwartet. Hier scheint sich das immer wieder beschworene Widersprüchliche, Moderne an Bismarck zu offenbaren. Eberhard Kolb gilt er als „komplexe Persönlichkeit“.17 Der Bismarck-Forscher und Briefherausgeber Hans Rothfels bringt den ‚Widerspruch‘ so zur Sprache: als Mensch der Tat habe sich Bismarck stets gegen die Bürokratie gewandt, zugleich sei er als Briefschreiber „ ‚literarischer‘ als namhafte Zeitgenossen“.18 Der Liebesbriefforscher Roman Lach konstatiert „Widersprüchlichkeit und Ungreifbar­keit“.19 in: Brechtken, S. 415. S. 259. 14  Kraus, Größe, S. 9. 15  Kraus, Größe, S. 155. 16  Zit. nach Verchau, S. 12. 17  Kolb, S. 11. Gall weist vor allem auf Bismarcks Herkunft hin: „Zwischen zwei Welten“ (Gall, S. 18). 18  Rothfels, S. 13. 19  Lach, S. 79. 12  Zitiert

13  Gundolf,

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Mittlerweile versuchen Bismarck-Forscher seltener, derartige Widersprüche zu glätten (wie zuletzt Hans-Christof Kraus mit der Formulierung „merkwürdige Mischung“20 oder einst etwa, indem in Briefen Synthesenleistungen erkannt werden). Carsten Kretschmanns These von den „Identitätskonflikte[n]“ eines Menschen, der „das offenkundig Unvereinbare sehr bewusst zu ver­ einen trachtete“,21 mündet in politisch-weltanschauliche Antithetik, die aber gleichermaßen als Konfliktlage seiner Epoche bezeichnet werden könnte. Eine medizinisch-psychologische Diagnostik schreibt dem großen Mann bei „gewaltige[m] Arbeitspensum“22 bereits seit 1865 Burnout-Symptome zu. Was einst die Berufung auf ideengeschichtliche Archetypen wie ‚Realismus‘ vs. ‚Idealismus‘ herausforderte, darf nun – im Wortsinn – der Nabelschau dienen, denn Bismarcks Körper wird untersucht, der ab 1871 mehr denn je von Erschöpfungsdepression und chronischer Schlaflosigkeit gepeinigt war.23 Inzwischen ist das Bild eines dauernervösen und rastlosen Burnout-Kanzlers entstanden, der den Dienst immer wieder für längere Zeit unterbrechen musste und mit Rückzugsdrohungen nicht geizte:24 „Überreizte Nerven und physische Schwäche zwangen ihn oft, die Arbeit niederzulegen oder seine Arbeitszeit auf zwei Stunden zu begrenzen.“25 Doch war für lange Zeit ein Leitmotiv der Bismarck-Rezeption der Versuch, einmal erkannte Widersprüche zu versöhnen, und dies durfte, dem harmonistischen Verständnis von ‚Kunst‘ vor der Moderne gemäß, überall dort geschehen, wo Bismarck die Grenze zum Künstler überschritten hatte. Ein kurz nach seinem Tod erschienener Zeitungsartikel legt dies beispielhaft offen: „Wenn es als das erste Kennzeichen eines großen Schriftstellers gilt, den menschlichen Geist bereichert, die Schätze unseres Geisteskapitals vermehrt zu haben, so hat Bismarck diese Voraussetzung zunächst erfüllt in seinen Staatsschriften, die sich heute noch zum großen Theile der Oeffentlichkeit entziehen. […] Am eigenartigsten aber und wohl als Schriftsteller am größten zeigt sich Bismarck in seinen Briefen. Hier spielt sein Geist, seine reiche Phantasie, sein echt deutscher Humor in den buntesten Farben. Trotz einer etwas burschikosen Ader sieht er Menschen und Dinge mit der milden Ruhe eines Philosophen. Inhalt wie Stil dieser Briefe sind derartig, daß eine Sammlung derselben wohl später in keiner deutschen Familie fehlen wird.“26 20  Kraus,

Größe, S. 13. S. 345. Was Bismarck-Biographik angeht, beruft sich Kretschmann sehr häufig auf Otto Pflanze, deutlich seltener auf die kulturgeschichtlich weniger einschlägigen biographischen ‚Klassiker‘ von Ernst Engelberg und Lothar Gall. 22  Kolb, S. 99; hierzu vgl. bei Gall über die letzten Jahre: S. 720 f. 23  Vgl. ebd., S. 116 ff. 24  Vgl. Pflanze, Reichskanzler, S. 83 und S. 94 f. 25  Ebd., S. 579. 26  Rheinisch-westfälische Zeitung Nr. 232 vom 23.8.1898, zit. nach BismarckPortefeuille 4, S. 9. 21  Kretschmann,



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Die Nebenprodukte zeigen, schon aus der Sicht der Zeitgenossen, den wahren Bismarck, dort kehrt er sein Innerstes nach außen. Man traut vor Freud der in der Selbstaussprache zu Tage tretenden Selbsteinsicht des Subjekts noch sehr viel zu; das Vorwort des 1933 erschienenen ersten Briefbandes der Werkausgabe stellt diesen Optimismus nach wie vor zur Schau: „[D] er Gesamtablauf dieses unvergleichlichen Lebens tritt in eigenster Prägung und in dem Lichte, wie Bismarck selbst es gesehen hat, uns entgegen.“27 Eine gründliche Lektüre der Briefe verspricht Einsicht in die ‚Tiefe‘ des Charakters und die Totalität des nach außen hin zerrissenen Mannes. Damit ist offenbar auch die Literarizität der Briefe abgesichert: „Aber gerade bei Bismarck bieten seine intimen, in der Offenheit besonders weitgehenden Äußerungen die günstigste Handhabe, um zum Gesamtbild vorzudringen, soweit das überhaupt in Menschenkraft gegeben ist. Längst sind Bismarcks Briefe anerkannt als unverlierbarer Bestandteil unserer klassischen Literatur. […] Immer wieder wird man das Gnadengeschenk anstaunen, daß ein Mann, der politisch in erschütternder Einsamkeit die Welt umzugestalten vermocht hat, ein Mann der selbstherrlichen und entschlossenen Tat, seinen Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen gewußt hat in der Vollendung höchsten Künstlertums. Wer sich aber bemüht, in die Tiefen dieses Charakters einzudringen, dem wird die völlige Übereinstimmung deutlich, in der Bismarcks Handeln mit seiner sprachlichen Ausdrucksfähigkeit steht.“28

„Gesamtbild“ und „Vollendung“ deuten auf Vermittlung, auf Synthese. Der Literaturwissenschaftler Rolf Parr hat schon zu Beginn der 1990er Jahre darauf hingewiesen, dass der deutschen Publizistik der Zeit zwischen 1860 und 1918 die Figur ‚Bismarck‘ als Repräsentant einer nationalen Mythologie diente, laut der Antagonismen in den ‚großen Männern‘ zum Ausgleich gelangen konnten.29 Diese Denkfigur ist für die weiteren Überlegungen wichtig, liegt es doch nahe, dass die Suche nach den Synthesen in Bismarcks Briefen auf demselben Motiv beruht. Einerseits, so zeigt Parr anhand eines umfangreichen Korpus, bedient Bismarck in Dioskuren-Modellen eine der beiden Facetten, die erst zusammen die Totalität des Nationalcharakters ausmachen – etwa in der (uns hier durchaus interessierenden) Kombination „Feder von Stahl“ (Bismarck) und „Schwert“ (Moltke).30 Dann aber kann Bismarck als zweiter Faust31 diejenige Mitteposition einnehmen, in der sich die beiden (deutschen) widersprüchlichen Seelen integrieren lassen müssen. Ja, mehr noch als Goethe, der Realist, und Schiller, der Idealist (die gemeinsam als Objekte von Ernst Rietschels Weimarer Denkmal ihren Dioskuren27  Windelband/Frauendienst, 28  Ebd.

Parr, S. 9–11. ebd., S. 116. 31  Vgl. ebd., S. 125 ff. 29  Vgl. 30  Vgl.

S. VII.

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Dienst leisten dürfen), darf nun Bismarck als der „Trickster“, der „RealIdealist“32 verehrt werden, der den träumenden Deutschen zur Tat verholfen hat. Die Gewähr dafür, dass die ‚idealistische‘ Komponente nicht verloren gegangen sei, haben Bismarcks über das Amtliche und Politische hinausgehende ‚Werke‘ zu leisten, also vor allem die Briefe. Ist Bismarck ein Poet oder doch ein ‚Autor‘? Als Verfasser von Zeitungsartikeln, Reden, Memoiren gewiss, vielleicht auch als Briefschreiber.

II. Brief und Briefkultur ‚Briefkultur‘ ist ein Begriff, der die Pflege, das Kultivieren einer bestimmten, allgemein üblichen Praxis hervorhebt – wer im 20. Jahrhundert schreiben konnte (und das war in der westlichen Welt fast jeder), der konnte auch Briefe schreiben.33 Er kannte die Geheimnisse des verschlossenen Umschlages, ihm waren der Briefträger, der Briefkasten, die Briefmarke, das Papier höchst vertraut; er vermochte zwischen Liebesbrief und Geschäftsbrief zu unterscheiden. ‚Kultur‘ impliziert weniger Regulierung als etwa ‚Diskurs‘; man könnte meinen, der Austausch von Briefen sei nicht so sehr von Machtbeziehungen geleitet. Dies ist ein Irrtum. Nur weil alle mitmachen können und seit Jahrhunderten gewisse Freiheiten des Kommunizierens bestehen, bezeichnet Briefkultur doch längst kein Machtvakuum. Auch Bismarcks Briefe sind nur im Kontext der sozialen Rollen ihres Schreibers lesbar. Der Brief ist ein Kommunikationsmedium, das der Speicherung und Übertragung schriftlicher oder ikonischer Zeichen an abwesende Adressaten dient, in der Regel mit Zeitverzug. Die Behauptung, er sei ein Gespräch zwischen Abwesenden, ist paradox; besser wäre vielleicht: eine Folge von Briefen, die zwischen mindestens zwei Beteiligten zirkulieren, simuliert ein Gespräch. Bei Gellert heißt es, er vertrete „die Stelle eines Gesprächs“.34 Bis zur Erfindung der Telegraphie war der Brief das einzig zuverlässige, wenngleich lange Zeit mit Kosten und Aufwand verbundene Medium der individuellen Distanzkommunikation. Seit er sich im 18. Jahrhundert von allerlei Normen ­befreit hatte, war er ein weithin beliebtes Medium mit quantitativ, formal, thematisch und stilistisch zunehmend variablem Textanteil. Als Objekt und Gabe schließt der Brief einen in der Regel haltbaren Datenträger auch über seinen oft als zentral gewerteten Schriftcharakter hinaus ein. Distanzkommunikation bedingt eine gewisse Ununterscheidbarkeit zwischen Wahrheit und Lüge oder: wenn ein entsprechender Pakt zwischen 32  Ebd.,

S. 140. der Überlegungen dieses Kapitels finden sich ähnlich in: Strobel, Autor-

33  Einige

schaft. 34  Gellert, S.  2 f.



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Schreibendem und Lesendem einmal geschlossen ist: zwischen Authentizität und Fiktionalität. Der Dialog oder gar die Geselligkeit, die die Briefkultur vorschützt, ist ohnehin nicht ganz echt. Oft musste der Brief echte Geselligkeit ersetzen, sofern die durch den Brief zurückgelegte Strecke nicht auch durch die beiden Kommunikationspartner überwunden werden konnte. Der Schreiber richtet sich nicht an den realen Adressaten, sondern an dessen Projektion, die ihm beim Schreiben sozusagen gegenübersitzt. Der Empfänger hat immerhin den Text des Schreibers (wenn auch nicht ihn selbst) als Anhaltspunkt. Anders als beim Verfassen und Lesen von Romanen gibt es beim Briefeschreiben keinen Fiktionspakt zwischen den Beteiligten, sie haben sich also nicht darauf geeinigt, etwas lediglich für die Dauer der Lektüre für ­authentisch zu halten, was doch erfunden ist. Simulation ist ein passendes Stichwort, wenn es um ‚Brief‘ und ‚Literatur‘ gehen soll. Als das Alltagsmedium mit hohem Gebrauchswert, das er seit dem 18. Jahrhundert und bis heute ist, steht der Brief zunächst nicht mit Zuschreibungen von Autorschaft in Beziehung, ja, er wird als „nicht-fiktionaler“, „an eine explizit genannte bzw. angeredete Person […] gerichteter“ und „nicht zur weiteren [sic] Veröffentlichung bestimmter Text“ definiert.35 Allerdings zeigen sich einerseits in der Geschichte des Briefs vor allem seit dem 18. Jahrhundert vielfältige Korrelationen zwischen ‚Literatur‘ (bzw. ‚Poesie‘) und Brief; sodann ist mit dem Brief eine der Urszenen hochintentionalen Schreibens und der Konstitution des Selbst in der Schrift verbunden, und zwar aus der Notwendigkeit heraus, ‚Ich‘ zu sagen, eine für den Empfänger nicht überprüfbare Mitteilung zu adressieren und die Speicherung wie auch die weitere Verbreitung des Geschriebenen ins Kalkül zu ziehen. Man hat jedoch immer wieder wie folgt argumentiert: Als ‚flexible‘, zunehmend rhetorischer und teils auch generischer Vorgaben entkleidete Kommunikationsform eröffnet der Brief seinem Schreiber die Chance auf adressatenbezogenen kreativen Ausdruck, er kann also eine Schule ästhetisch gelingender schriftlicher Rede sein. Der Sprachwissenschaftler Konrad Ehlich36 hat aus pragmatischer Perspektive die Affinität des Briefs zur Literatur postuliert, u. a. weil Korrespondenten sich häufig (etwa schon zur Zeit der Renaissance) auf je vorgängige ‚klassische‘ Briefe (etwa solche der Antike) bezogen, einen Kanon unterstellten. Der Brief sei „Übungsfeld für die Entwicklung einer ganzen Gruppe von literarischen Formen“ gewesen (so Ehlich),37 die ihnen unterstellte Authentizität provoziert die Frage nach dem bzw. einem Urheber. Dies mag auf das Tagebuch oder auf improvisiertes mündliches Erzählen analog zutreffen – der Brief weist mit individuell sehr 35  Golz

1997, S. 251. Ehlich. 37  Ehlich, S. 33. 36  Vgl.

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variabel auszugestaltender subjektiver Schriftlichkeit (mit Anteilen konzep­ tioneller Mündlichkeit) plus Adressiertheit und einer von ihm ausgehenden Versuchung, ihn als Objekt zu sammeln und zu tradieren, Kennzeichen auf, die ihn besonders im 18. Jahrhundert näher an den entstehenden Literaturbetrieb heranrücken als andere Kommunikationsformen. Autorschaft als Funktion des Briefs ist kaum denkbar ohne die sekundäre Verwertung der für einen Adressaten gedachten Objekte (durch Sammler, Archivare, Editoren und sekundäre Leser, Literaturhistoriker). Das Nach­ leben mancher Autorinnen und Autoren ist geradezu auf Briefpublikationen angewiesen – Beispiel dafür, wie Briefe erst sekundär, genau wie andere Diskurse, zu „Aneignungsobjekten“ (mit Michel Foucault gesprochen) werden, der Brief zu einem (randständigen, aber doch urheberrechtsbewehrten) Teil des ‚Werks‘ werden kann. Bismarck hat hier bereits zu Lebzeiten ‚vorgearbeitet‘. Foucault beharrt in Was ist ein Autor? einerseits darauf, der Privatbrief habe keinen Autor,38 andererseits erhebt er den Brief zu einer Autorschaft geradezu garantierenden Textsorte, denn für ihn ist „der Autor ein bestimmter Brennpunkt des Ausdrucks, der sich in mehr oder minder voll­ endeter Form genauso und im gleichen Wert in den Werken, den Skizzen, den Briefen und den Fragmenten offenbart.“39 Autorschaft als Gattungs­ erwartung setzt bei Briefen angesichts von Anthologien ein (insbesondere solchen mit biographischer Absicht, also ‚Leben in Briefen‘,40 wie es im 19. Jahrhundert hieß), ferner von editorisch rekonstruierten Korrespondenzen und Briefwerken. Indem Anthologien und Editionen oft entlang eines Narrativs konzipiert sind, bestätigen sie die Leseerfahrungen aus dem Briefroman des 18. Jahrhunderts. Erben, Biographen, Editoren erzeugen nicht zuletzt aus nachgelassenen Briefen neue Bilder des Autors; Briefe organisieren und befördern seinen Nachruhm. Gerade Briefe (als Orte des Schreibens und In­ strumente des Lebensvollzuges) und eine Briefkultur aus Anthologie, Edition, Weiterverwertung in der Biographie tragen erheblich zur Sichtbarkeit und Plastizität von Autoren bei. Sammeln, Archivieren und erst recht Edieren waren im 19. und 20. Jahrhundert weitgehend Praktiken, die die Autorfunktion aufrechterhielten: Gesammelt wurde, was wertvoll erschien, Autographen ‚großer Männer‘ – neben Staatsmännern waren das vorwiegend Künstler. Doch hatten bedeutende Herrscher die höchste Geltung und seltene Autographen waren begehrter als diejenigen der besten Autoren. Autorschaft wurde editorisch zementiert (mit Einverständnis der Erben), Literarizität einfach unterstellt, Fiktionalität wohl weniger. Wenn im 19. und 20. Jahrhundert Nicht-Schriftsteller zu ‚Meistern Foucault, S. 211. S. 216. 40  Vgl. Busch. 38  Vgl.

39  Ebd.,



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des Briefs‘41 ernannt und in Anthologien zu Brief-Autoren gemacht wurden, dann waren eine besondere Formulierungskunst und eine glückliche Überlieferungssituation wesentliche Voraussetzungen hierfür. Auf Bismarck trifft das Gesagte zu – er konnte zum ‚Autor‘ werden aufgrund seines Memoirenwerkes, aber namentlich der umfangreiche Band Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin (1900) wurde zum mehrfach aufgelegten Erfolgsbuch.42 Zugrunde liegt ein bürgerliches Narrativ: Brautwerbung – Liebesheirat – lebenslange (glückliche) Ehe. Viele längere Trennungen von seiner Adressatin regen den sprachlich höchst begabten Bräutigam und Ehemann zu Briefen an. Das Publikum bekommt Bismarcks unstetes Reiseleben aus erster Hand geboten und zudem so, dass Intimität und Weltgeschichte untrennbar eins werden. Rainer Baasner unterscheidet in seinem bis heute unersetzten Essay zur Briefkultur des 19. Jahrhunderts zwischen einer produktionsästhetisch orientierten „Briefkultur I“ (hier geht es um die Kommunikationsform Brief) und einer im Zeichen sekundärer Verwertung stehenden „Briefkultur II“ (hier ist der Brief ein vielfältig fungibles und anschlussfähiges Speichermedium).43 Im vorliegenden Beitrag soll uns vor allem die zweite Spielart von ‚Briefkultur‘ beschäftigen. Der Brief nimmt im 19. Jahrhundert eine „Übergangsstellung“ ein, wird von manchen älteren Funktionen (Nachrichtenübertragung; gelehrter Dis­ put)44 angesichts einer Veränderung medialer und kommunikativer Rahmenbedingungen entlastet. Er wird zur pragmatisch genutzten Massenware – dies zeigen die erheblich steigenden Zahlen der beförderten Postalien wie auch die institutionellen Fortschritte im Zeichen von Reichspost und Weltpostverein.45 Der Brief ist noch nicht antiquiert: der Gebildete hat gelernt, Briefe zu schreiben – seine Bildung kann sich hier vor Augen des vertrauten Empfängers bewähren (und im Einzelfall vor den Augen einer Öffentlichkeit); er hat literarische Briefe gelesen, kennt die schon erwähnten biographischen Publikationen, die mit Briefen angereichert sind. Als Sammelobjekte und als begehrte Archivalien sind Briefe nun unikale Geldanlagen; sie versprechen in der Handschrift die Physiognomie der großen Persönlichkeiten präsent zu halten.46 Zugleich beginnen sich infrastrukturelle Bedingungen zu wandeln, beginnen sich zwischen Telegraph und Telephon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Kommunikationstechniken weiter zu beschleunigen, verbesKlaiber/Lyon. Briefe an seine Braut. 43  Vgl. Baasner, S. 13 ff. und S. 28. 44  Baasner, S. 4. 45  Vgl. Vogt. 46  Vgl. Günther/Schulz. 41  Vgl.

42  Bismarck,

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sern sich auch deutlich Transportmittel, die direkte Kommunikation erleichtern. In dieser lange währenden Übergangssituation schreibt Bismarck Tausende von Briefen und werden (zu seinen Lebzeiten und kurz da­rauf) viele dieser Briefe Gegenstand öffentlichen Interesses, weit über eine eventuelle wissenschaftliche Funktionalisierung hinaus. Wird Bismarcks Lebenszeit schlagwortartig etwa als eine des Wandels von ‚Handschrift‘ zu ‚Schreibmaschine‘ gekennzeichnet,47 dann ist der Brief in dieses Verlaufsnarrativ ‚von … zu …‘ mit einzupassen, nämlich: der handschriftliche Privatbrief ist gerade noch aktuell, brisant, spannend – als Kommunikationsform; als Speichermedium wird er noch für lange Zeit von Interesse sein.

III. Bismarck: Bildung – Autorschaft – Briefe Briefe sind Monologe an Abwesende – aus Lesersicht freilich sind es Monologe von Abwesenden. Bismarck – der Bewegliche, stets auf Achse – ist ein solcher Abwesender, der repräsentiert werden muss. Ob als Gesandter in Frankfurt, St. Petersburg oder Paris, ob als Ministerpräsident oder als Reichskanzler: das Pendeln zwischen den Gütern Schönhausen, Friedrichsruh, Varzin und Berlin sowie den anderen Ort seiner Tätigkeit, sodann auch etwa zwischen Berlin und Bad Kissingen, bestimmte Bismarcks Leben. Am jeweils transitorisch zu nennenden Aufenthaltsort „ratterte ununterbrochen der Telegraph, und Kuriere kamen und gingen“.48 Bismarcks Kommunikationsverhalten stellt sich dem heutigen Leser dar als Wechselspiel zwischen der Präsenz des dreinfahrenden Berserkers und empfindlicher oder gar empfindsamer Distanzkommunikation am Rande der Krankheit – beides zusammen empfahl sich wohl als eine Art Arbeitsstil. Und so kam es, dass der selbst­ ernannte Gegner aller Bürokratie in der „lockeren Form des Briefs“ ein für ihn gut geeignetes Gefäß erkannte, sodass er „bei aller Abneigung gegen das Tintenfaß eben doch aus innerster Neigung zu diesem Genre [sic] griff oder sich mindestens in ihm mit einer Unmittelbarkeit ergangen hat wie in keinem anderen“.49 Das ‚Innere‘ eines solchen längst öffentlich gewordenen Reisekanzlers versprach rasend interessant zu sein, schien Bismarck doch selbst den Eindruck zu erwecken, zwischen ‚außen‘ und ‚innen‘ mühelos hin- und herwechseln zu können. Seine Karikaturisten haben das erkannt, namentlich der besagte Wilhelm Scholz. 1877 – auf der gegenüberliegenden Seite des Bis-

Kolb, S.  7 ff. Reichsgründer, S. 579. 49  Rothfels, S. 14. Der Eindruck von ‚Unmittelbarkeit‘ kann selbstverständlich auch auf sehr bewusst eingesetzte Techniken zurückgeführt werden. 47  Vgl.

48  Pflanze,



Otto von Bismarck213

marck-Albums findet sich das Hexametergedicht Bismarck am Telephon50 – zeigt eine Karikatur den Kanzler „Auf der Durchreise“: Er absentiert sich für einen Augenblick, um die „inneren Reichsangelegenheiten“ zu ordnen.51 Der Reisekanzler ist vor allem ‚Außenminister‘ – wo bleibt das ‚Innere‘? Autorschaft ist aber seit der Goethezeit an das ‚Innere‘ geknüpft, das auf verschlungenen Wegen nach außen gelangen kann. An den formalen und biographischen Voraussetzungen wird nicht gezweifelt: Bismarck ist gebil­ det,52 auch literarisch interessiert53 – neben pietistischen Reminiszenzen sind selbst romantische Wurzeln nicht zu leugnen –,54 ein Meister der Konversa­ tion;55 und er ist von Beginn seiner politischen Karriere an ein Schreibender, genauer: ein politischer Publizist. Nach der Auflösung des Vereinigten Landtages 1847 fasst er den Plan einer Zeitschriftengründung; bald darauf wirkt er aktiv an der ‚Kreuzzeitung‘ mit, betätigt sich also selbst journalistisch56 – eine für einen konservativen preußischen Junker vielleicht erst seit den Befreiungskriegen denkbare Option.57 Insbesondere aber nach dem Rücktritt ist Bismarck eine publizistisch aktive Person, nimmt u. a. über Interviews Einfluss auf den öffentlichen Diskurs;58 seine Memoiren werden „zu einem der größten Erfolge in der deutschen Verlagsgeschichte“.59 Die Nachwelt beginnt zwischen Textsorten und ihren Zwecken zwar teils zu differenzieren, doch Gundolf äußert sich in seinem Aufsatz zum Memoirenwerk, dessen „poetisches Fluidum“ er bewundert, zugleich auch über Briefe und Reden60 – ein Werk wird sichtbar, das über Politikerschriften hinausweist. In der Grauzone von adressiertem, im Grunde einmalig fungiblem Schreiben und Veröffentlichung ist etwa auch die weltgeschichtlich bedeutsame „Emser Depesche“ zu sehen, deren Redaktion durch Bismarck bekanntlich erhebliche Folgen zeitigte.61 50  http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/klabismarck1890/0105/ 51  http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/klabismarck1890/0106/

(20.8.2018). (20.8.2018).

zusammenfassend hierzu: Kroll. Kolb, S. 20: vor allem während der Jahre als Gutsbesitzer 1839 bis 1851 habe er viel Literarisches gelesen. Ausführlich zur Byron-Rezeption vgl. Lach, S. 137–158. Vgl. auch Gall, S. 49, zur späten Lektüre nach 1890: Engelberg, Das Reich, S. 597–599. 54  Vgl. Gundolf, S. 261: Leopold von Gerlach sei einer der Freunde Clemens Brentanos gewesen. 55  Vgl. Pflanze, Reichsgründer, S. 553 und S. 558. 56  Vgl. Kolb, S. 30 und S. 35, sowie Kraus, Emanzipation, S. 189. 57  Vgl. Frie. 58  Vgl. Gall, S. 711, sodann Kolb, S. 167, Kraus, Größe, S. 304 f. 59  Ebd., S. 169. 60  Vgl. Gundolf, S. 265. 61  Vgl. Gall, S. 434, Engelberg, Urpreuße, S. 724 f., Kolb, S. 109, Kraus, Größe, S. 125. 52  Vgl. 53  Vgl.

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Bismarck selbst sorgt frühzeitig schon dafür, dass seine privaten Briefe eine neue Funktion als einer Öffentlichkeit anvertraute Dokumente erhielten. Spätestens seit 1869 sind Briefe Bismarcks publiziert worden, die Werkausgabe von 1933 sammelt 1971 Briefe in 2 Bänden.62 Karl Erich Borns 1966 erschienene Bismarck-Bibliographie zählt 38 Briefpublikationen bis 1957.63 Schon das von dem Vertrauten George Hesekiel 1869 veröffentlichte Buch vom Grafen Bismarck ist als designiertes illustriertes Hausbuch sofort erkennbar, ein ‚Leben in Briefen‘ noch zu Zeiten einer umstrittenen Geltung. Literarisierend, verklärend, erzählend wird z. B. „Der Lehr- und Wanderjahre erster Theil“64 einem möglichst breiten Publikum vermittelt. Die Nähe zur Person Bismarcks ist aufgrund des erstmaligen Abdruckes zahlreicher Briefe an Schwester und Braut gegeben. In den späteren Memoiren finden sich Originalbriefe an den Mentor Leopold von Gerlach.65 Wie Bismarck selbst die mit künftigen Brieflektüren verbundenen Zuschreibungen steuerte, ließ sich bereits zu Lebzeiten nachvollziehen. Der Bismarck-Bewunderer Horst Kohl, der 1877, mit 21 Jahren, eine vielfach aufgelegte und erweiterte Bismarck-Briefanthologie herausgab66 und der sein Leben seinem Idol widmete, „ein ‚nützlicher Idiot‘ “,67 fasst die Rezeption von Hesekiels in mindestens fünf Auflagen gedrucktem Buch, das ja erstmals Briefe unters Volk brachte, so zusammen: „Der Mann von Eisen und Blut, der durch seinen Kampf mit dem Abgeordnetenhause um die bedrohten Rechte der preußischen Krone zum bestgehaßten Manne in Preußen geworden war […] – er erschien in diesen Briefen an die Gattin und an die Schwester als ein liebenswürdiger Mensch […], mit dem feinen Humor des geistvollen Plauderers. […] Dazu gab sich Graf Bismarck in diesen Briefen als einen Stilisten kund, der die deutsche Sprache in Lessingischer und Goethischer Klarheit redete […]. Es konnte nicht fehlen, daß diese Briefe alsbald zu einem Schatze des deutschen Volkes wurden.“68 Geradezu phantastisch mutet der weitere Bericht an: „Das Ausland nahm diese Briefe als eine werthvolle Bereicherung der Weltliteratur auf; sie wurden ins Französische, Englische und Niederländische übersetzt und auch in fremder Zunge gern gelesen. Kein Zweifel, daß ein guter Theil der Liebe, die das deutsche Volk für seinen Bismarck fühlt, auf die Rechnung dieser Briefe zu setzen ist.“69

62  Bismarck,

Werke. Born, S.  158 f. 64  Hesekiel, S. 121. 65  Vgl. Kraus, Emanzipation, S. 197. 66  Erweitert u. d. T.: Bismarckbriefe. 67  So Epkenhans, Horst Kohl, S. 195. 68  Kohl, S. VII. 69  Ebd., S.  VII f. 63  Vgl.



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Noch 2014 repetiert Eberhard Kolb, dass die Brautbriefe „seit ihrem Bekanntwerden zum festen Bestand großer deutscher Prosa gehören“.70 2015 lobt der bis dato jüngste Biograph Hans-Christof Kraus Naturmetaphorik und generell Bilderreichtum dieses Korpus.71 Eher am Rande findet die ‚Außenseite‘ Bismarcks Erwähnung, der ‚große Mann‘, der Nationalheld – wohl nicht zufällig in dem 1900 erschienenen Briefwechsel mit seinem Kaiser, einem brieflichen Denkmal um die „beiden Nationalhelden des deutschen Volkes“.72 Die Deutschen kommunizieren mit ‚ihrem‘ Kanzler bis zum Schluss per Brief. Immer wieder finden sich in der Literatur die märchenhaften Zahlen von Bismarcks 80. Geburtstag: Fast 10.000 Telegramme und 450.000 Postkarten und Briefe seien damals in Friedrichsruh angekommen73 – ein definitiv nicht mehr zu bewältigender Posteingang.

IV. Bismarcks Briefe: Semantisierungen Vor allem anhand der mehrfach aufgelegten Briefe an seine Braut und Gattin seien skizzenhaft semantische Zuschreibungen genannt. Da ist erstens das nicht nur im 19. Jahrhundert unmittelbar mit ästhetischer Produktivität und Rezeptivität verknüpfte Ideal der Bildung.74 Zu den berühmtesten seiner frühen Briefe zählt der Werbungsbrief an den künftigen Schwiegervater von Puttkamer von Ende Dezember 1846.75 Heinrich Mann, Golo Mann und Emil Ludwig u. a. äußerten sich zu diesem Schreiben „in der Form eines abbreviierten Bildungsromans“.76 Die in der Erstausgabe 600 Druckseiten umfassende Briefreihe ist voller literarischer Reminiszenzen, neben Lord Byron seien hier nur Jean Paul und Nikolaus Lenau erwähnt.77 Empfindsame Rhetorik und Heine’sche Ironisierung gehen eine glückliche Verbindung ein: „Sans phrase der Deinige von Kopf bis zur Zehe. Küsse lassen sich nicht schreiben.“78 Theologische Fragen wie die 70  Kolb, S. 31. Vgl. nüchterner hierzu, vor allem die Briefe als Quelle für die religiöse Entwicklung nutzend: Engelberg, Urpreuße, S. 238–242, S. 370 f. 71  Vgl. Kraus, Größe, S. 151 f. 72  Penzler, S. VII. 73  Vgl. Kolb, S. 172. 74  Entsprechend bilden die Briefe wesentliches Belegmaterial für folgende Monographie: Prutz. 75  Fürst Bismarcks Briefe, S. 1–5. 76  Lach, S. 89. Dort auch die Hinweise auf die Rezeption. 77  Vgl. Lach, S. 101. 78  Bismarck, Briefe an seine Braut, S. 7.

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nach menschlicher ‚Werkheiligkeit‘ und die Bibelexegese spielen ebenfalls eine Rolle.79 Zweitens seien genannt rhetorische und stilistische Virtuosität sowie Erzähltalent, somit im engeren Sinn literarische Qualitäten. In seiner gründ­ lichen Studie verweist Gerhard Masur auf die Individualität von Bismarcks Sprache: „In Wort und Fügung, in Rhythmus und Syntax, in Willensrichtung und Seelenhaltung offenbart sich hier eine Sprache, die ihresgleichen nicht hat, etwas unverwechselbar Einmaliges, etwas unüberhörbar Individuelles.“80 In den Briefen kristallisiere sich eine „sprachliche Virtuosität“, die „nicht von seiner Persönlichkeit, wohl aber von seiner Leistung abzutrennen“ sei.81 Privatbriefe mögen politische Inhalte transportieren, dem Empfinden ihrer (professionellen) Leser nach verweisen sie auf das Ganze der Persönlichkeit. Entgegen der Widersprüchlichkeit der Person Bismarcks ist die (Brief-)Sprache eine Synthesenleistung – analog zur Reichseinigung, müsste man hier ergänzen, „die einzigartige Verbindung von Wille und Nerv, Energie und Verstand, Dämonie und Nüchternheit, Aktivität und Skepsis“.82 Drittens wird den Briefen Momentverhaftetheit zugeordnet, hierher gehört das Ideal des Plauderns. ‚Plaudern‘ ist eine für das bürgerliche 19. Jahr­ hundert typische Brief-Praxis. Bismarck selbst bedient sich der Vokabel in seinen Briefen, sie erscheint auch in Deutungen.83 Gemeint ist das ungeschützt Spontane, das die Briefe von wohlüberlegten politischen Aussagen unterscheidet, wiederum: das Intime. In der bürgerlichen Kommunikation des 19. Jahrhunderts – derer sich Bismarck als gebildeter, sozial aufgeschlossener Mensch befleißigt – ist ‚Plaudern‘ ein „ungeschützt kommentierende[s] Erzählen, das dem Bedürfnis geschuldet ist, einen Menschen, mit dem man freundschaftlich verbunden ist, am eigenen Leben teilhaben zu lassen, mit ihm Ansichten, Gedanken und Gefühle zu teilen, die Dritten vorenthalten bleiben.“84 Zur Verhaftetheit des Briefs im Augenblick gehört die unterstellte Spontaneität des Schreibvorgangs, die Unverstelltheit und dabei durchaus den Wechsel des Temperaments und der Stimmung zulässt. Gerhard Masur etwa betont Bismarcks „Pathos der Distanz“85 und damit die „aristokratische Reserve“, stellenweise „die Verhaltenheit amtlicher, ja aktenmäßiger Aus­

79  Vgl.

Bismarck an Johanna von Puttkamer am 7.2.1847, in: ebd., S. 18. S. 100. 81  Ebd., S. 101. 82  Ebd., S. 102. 83  Vgl. Kolb, S. 31, sowie das Zitat von Horst Kohl weiter oben (s. Anm. 68). 84  Wich-Reif, S. 612. 85  Masur, S. 102. Das Nietzsche-Zitat ist als solches nicht gekennzeichnet, steht allerdings in Anführungszeichen. 80  Masur,



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drucksweise“.86 Bismarck verfügte über ein breites Repertoire an Ausdrucksweisen, deren Ursprung aber erkennbar ist (Herkunft, Bildung, Verwaltungspraxis, Politik) und die jeweils in Relation zum augenblicklich Erlebten stehen. In summa bedeutet dies also ein Maximum an ‚Echtheit‘: „Viele seiner Briefe an Familienangehörige und Freunde sind Meisterwerke der Briefkunst – im raschen Wechsel witzig, zärtlich, ironisch und beißend, seinen schnell wechselnden Stimmungen entsprechend.“87 Viertens sind die Briefe Bismarcks Confessio, Schatzkästchen der Innerlichkeit. Dies beginnt mit dem Werbungsbrief, einem Beicht- und Bekehrungsbrief, der sich zugleich ganz nüchtern und fast bürokratisch als Bewerbungsschreiben gibt und alsbald ins Metaphysische hinaufsteigt („Ich beginne dieses Schreiben damit, daß ich Ihnen von vorn herein seinen Inhalt bezeichne; es ist eine Bitte um das Höchste, was Sie auf dieser Welt zu vergeben haben, um die Hand Ihrer Fräulein Tochter.“88) Für seine Aufrichtigkeit wird der Briefschreiber Bismarck geschätzt, er beharrt damit auf einer Norm des 19. Jahrhunderts; für das Schreiben von Privatbriefen gilt: „Empfindung ist […] unmittelbar an den sprachlichen Ausdruck gebunden“.89 Komplementär zur Darstellung eigener Emotionalität gilt es Empathie zu bekunden.90 Die Briefe an seine Braut und Gattin vermochten mehr als jedes andere Korpus die Synthese von Öffentlich-Politischem und den intimsten Empfindungen herzustellen, die im vertrauten Brief wie im vertrauten Gespräch zwischen bürgerlichen Eheleuten walten darf. Was daraus hervorgeht, sind Enthüllungen; der Privatbrief ergänzt die öffentliche Verlautbarung um Intimstes: „Das ist eine langweilige Arbeit, die Vorbereitung, die Erwartung ob man drankommt, das stundenlange Corrigiren der höchst unvollständigen stenographischen Berichte, dann die Rede noch einmal für die Neue Preußische schreiben, die gehässigen Entstellungen in andern Zeitungen widerlegen, und dergleichen.“91

Der sächsische Lehrer, Historiker und Altphilologe Theodor Matthias (1859–1934) hat in seiner 1902 erschienenen Monographie Bismarck als Künstler die zugänglichen Briefe akribisch auf ihre formalen, sprachlichen, thematischen Merkmale hin analysiert und entschlüsselt, um schließlich wieder (im Geiste der seinerzeitigen Philologie) synthetisierend sämtliche Teil­ 86  Ebd.,

S. 103 und S. 108. Reichsgründer, S. 553. Die Wertungsschemata haben sich also über 100 Jahre erhalten. 88  Bismarck, Briefe an seine Braut, S. 1. 89  Schikorsky, S.  276 f. 90  Vgl. ebd., S. 278 f. 91  Bismarck, Briefe an seine Braut, S. 150 (vom 7.9.1849). 87  Pflanze,

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ergebnisse zu schematisieren. Es kann kaum verwundern, dass er hinter dem Stil den Menschen erkennt, dessen Briefe „ungetrübte Einsicht in sein innerstes Empfinden“ erlauben92 – am Ende tritt trotz aller Antithetik und ­Paradoxalität en détail die Persönlichkeit als ganze hervor. Fünftens wird der Brief als Physiognomie seines Schreibers gelesen, offenbar bis ins 21. Jahrhundert hinein. Der Zeit-Redakteur Volker Ullrich präsentierte im Jahr 2002 zwei längst bekannte Jugendbriefe im Faksimile, die Handschriften waren jahrzehntelang verschollen gewesen. „[D]ie Handschrift ist von atemberaubender Kühnheit und dürfte der Mutter einige Mühe beim Entziffern bereitet haben. Darin spiegelt sich vielleicht die labile Verfassung, in der sich der Schüler der Plamannschen Lehranstalt zu Berlin damals befand.“93 Solch weitgehende Schlussfolgerungen sind nur möglich, da, wie man schon einhundert Jahre vorher zu sagen wusste, „die unstudierte, frische, quellende Art seiner unmittelbar aus der Seele hervordringenden Darstellungen“94 entzifferbar erscheint, als Text eines Schreibers, der „die Sprache des Herzens zu reden verstand“95 – der ganze, der ‚innere‘ Bismarck steckt im Text und in der Handschrift. Da erscheint es nur konsequent, wenn der überlastete Altkanzler zum 80. Geburtstag seinen Sohn Wilhelm als ‚Ghostwriter‘ beauftragte, Dankesschreiben aufzusetzen, hatte dieser doch eine dem Vater zumindest stark ähnelnde Handschrift.96 Der Graphologe Ludwig Klages las ‚Totalität‘, also wiederum Synthese des scheinbar Widersprüchlichen, in Bismarcks Handschrift hinein, sie sei „ungemein groß […], auffallend eng, sehr winkelig, vermeidet die bescheidensten Zutaten und bietet bei unverkennbar lebhafter und zwangloser Federführung immer dasselbe Bild einer auch ästhetisch erfreuenden Gleich­ mäßigkeit“.97 Einzelzüge bildeten eine Totalität, nämlich „das Zen­trum des rücksichtslosen Zielbewußtseins“.98 Wenngleich bereits Zeitgenossen Bismarcks widersprüchliche Persönlichkeit zu sezieren meinten, so empfahl sich die Handschrift als Körpermedium der Synthese. Einer der am frühesten bekannt gewordenen Briefe Bismarcks funktionierte in seiner Rezeptionsgeschichte immer wieder über das Bild der Handschrift, das Faksimile, das auch physiognomische Zuschreibungen zuließ. Einen Tag nach Sedan schrieb Bismarck an seine Frau einen Brief über seine 92  Matthias, 93  Ullrich.

S. IV.

94  Klaiber/Lyon,

S. 423. S. VIII. 96  Vgl. Engelberg, Private Leben, S. 201 (mit Faksimile). 97  Klages, S. 590. 98  Ebd. 95  Kohl,



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Begegnung mit dem besiegten Napoleon III. Dieser Brief wurde angeblich beim Transport abgefangen und zwei Jahre später dem Chefredakteur der Zeitung „Le Figaro“, Hippolyte de Villemessant, in die Hände gespielt.99 Dem Schreiber geht es in aller Nüchternheit darum, mit seiner unaufdring­ lichen, paradoxalen Rhetorik den tiefen Fall Frankreichs in mythische Dimensionen hinaufzustimmen. Antithese, Paradoxon, Hyperbel, Klimax und nüchterne brevitas sind ihm hierfür dienlich, so etwa im Exordium: „Mein liebes Herz Vorgestern vor Tagesgrauen verließ ich mein hiesiges Quartier, kehre heut zurück, und habe in der Zwischenzeit die große Schlacht von Sédan am 1. erlebt, in der wir gegen 30.000 Gefangne machten, und den Rest der französischen Armee, der wir seit Bar le Duc nachjagten, in die Festung warfen, wo sie sich mit dem Kaiser kriegsgefangen ergeben mußte. […] Ich ritt ungewaschen und ungefrühstückt gegen Sédan, fand den Kaiser im offnen Wagen mit 3 Adjudanten und 3 zu Pferde daneben auf der Landstraße vor Sédan haltend. […] Ein gewaltiger Contrast mit unserm letzten Beisammensein, 67 in den Tuilerien. […] Der vor- und gestrige Tag kosten Frankreich 100.000 Mann und einen Kaiser. […] Es ist ein weltgeschicht­ liches Ereigniß, ein Sieg für den wir Gott dem Herrn in Demuth danken wollen“.100

Der Kontrast von Privatmitteilung und Weltgeschichte, von Tuilerien und einsamem Arbeiterhaus (in dem Bismarck den Verlierer trifft), von Menschenmenge und Isolation beeindruckt, auch die weitreichenden Schlussfolgerungen, die nicht im Reichstag, nicht in einer Zeitung und auch (noch) nicht im Geschichtsbuch verlauten, lassen den Brief zu einem besonderen Dokument werden – dessen Precloser und Closer dann wieder ganz im Zeichen der großen Familie stehen, die mutmaßlich mitlesen wird. Tatsächlich rezipieren den Brief 1872 die Leser einer französischen Tageszeitung, deren Titelseite die eckige, zackige Handschrift des Reichskanzlers füllt – die Kurrentschrift dürfte für die meisten unlesbar sein, die deutsche Sprache unverständlich; eine Transkription ist beigefügt.101 Nicht allein als Text, sondern als Brief in seinem Objektcharakter, zu dem die Physiognomie der SchreiberHandschrift zählt, wird der konfiszierte Brief publiziert, nach Frankreichs Niederlage und in einer höchst angespannten politischen Lage. Dem Redakteur ist die Aura des (archivierten) Originalbriefs wichtig: Zeitungsleser können einen Monat lang zu einer gewissen Tageszeit in die Redaktion kommen und sich den Brief ansehen. Das Skandalon des Briefs für diese Auratiker ist die Emotionslosigkeit des Bismarck’schen Duktus – die (vielleicht aristokratischer dissimulatio geschuldete) ostentative Nüchternheit sei 99  Bismarck, 100  Ebd.

Briefe an seine Braut, S. 579–581.

101  Vgl. Le Figaro vom 6.8.1872 https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k2745874/ f1.item (18.8.2018). – Vgl. hingegen die Schwünge und Rundungen in den lateinisch geschriebenen Wörtern, z. B. „Napoléon“.

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typisch deutsch, so der Kommentator abschätzig. In eine preußenfreundliche Bildpolitik umgesetzt hat den Brief 1878 Wilhelm Camphausen in seinem Gemälde Napoleon III. und Bismarck auf dem Weg zu Wilhelm I. nach der Schlacht von Sedan: hier der hochaufgerichtete Bismarck, dessen Körper und Degen vertikale Linien zeichnen – wie seine Handschrift –, zugewandt, gelassen bis steif – dort der in sich zusammengesunkene Kaiser, einlenkend, zerknittert, mit der rechten Hand gestisch die Niederlage einräumend.102 Noch vor diesem preußischen Propagandagemälde liegt auf französischer Seite das ‚Bild‘ von Bismarcks Handschrift vor, in die Dreispaltigkeit des Zeitungslayouts eingepasst, als sei es eine Nachricht. Die Spitzwinkligkeit der Kurrentbuchstaben, eine schraffurenhafte Schrift, die an Schwärzungen und Streichungen erinnern konnte, hätte auch eine Kriegserklärung sein können. Der Brief wird auf der Zeitungstitelseite endgültig zur Depesche, zur kalten Verlautbarung des Siegers, gar zum Gesicht eines Volkscharakters.103 In seiner Einmaligkeit hält der Brief ein Chronotop fest, ein schicksalhaftes Zusammentreffen an einem besonderen Ort zu einem besonderen Zeitpunkt. Das Schreiben ist intimes Narrativ (auch religiöses Bekenntnis) und lässt doch die Zugehörigkeit zu einer schier endlosen Serie an Feldpostbriefen erkennen, er ist ein ‚Brief nach Hause‘ von vielen. Schließlich zählen sechstens und letztens Sammelbarkeit und Archivierbarkeit von Briefen. Die Präsentation von Faksimiles ist auch eine Beweisführung darüber, dass man im Besitz des Originals ist (ja, dass ein Brief ein ‚Original‘ ist). Ganz selbstverständlich werden Briefe des großen Mannes gesammelt, er selbst verfügt über ein Archiv – gesammelte Schätze dieser Art dürfen gleichwohl der Öffentlichkeit nicht vorenthalten werden.104 Der Bismarck-Fan Heinrich von Poschinger begann in dem Periodikum Bismarck-Portefeuille, das in fünf Bänden zwischen 1898 und 1900 erschien, nicht nur mehr oder weniger wahllos neu aufgefundene (im Zweifel aus Friedrichsruh empfangene) Briefe zu publizieren – wie übrigens zeitgleich Horst Kohl im Bismarck-Jahrbuch105 –, sondern er bediente auch eine Ru­ brik „Bismarck im Antiquariat“. Für den Sammler zählt das Autograph, zählt das Objekt Brief und zählt die Handschrift als Physiognomie:

102  https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f2/BASA-600K-1-1866-6Bismarck_and_Napoleon_III.jpeg (18.8.2018). 103  Zur politischen Absicht der Veröffentlichung vgl. Traub. 104  Vgl. z. B. das Vorwort des Verlags in: Briefe an seine Braut, S. V f. 105  Bd. 4 von 1897 (Vgl. Bismarck-Jahrbuch 1897) z. B. enthält auf 230 Seiten Briefe aus früheren Jahren, auch An-Briefe, sowie in einer Jahreschronik 1896 zahlreiche weitere Telegramme und Briefe von und an Bismarck, nebst dem Wiederabdruck von Zeitungsberichten.



Otto von Bismarck221 „[…] die Sammelwut nach Autographen ergreift immer weitere Schichten, und kein Mann von auch nur etwas Berühmtheit ist bald mehr sicher, plötzlich seine intimsten Briefe in einer Autographen-Mappe vorzufinden. Zur Vollständigkeit einer ­Autographensammlung gehört aber jetzt vor allem ein Bismarck-Brief, sei der Inhalt auch noch so uninteressant.“106

Sämtliche der zuletzt ausgeführten Elemente hätte ein gebildeter Briefleser des späten 19. Jahrhunderts wohl auf Zuruf nennen können. Entscheidend ist, dass Bismarcks Briefen alle diese Merkmale zugeordnet werden können, dass alle Merkmale zur Synthesenbildung taugen und dass sowohl der Schreiber als auch der Publizist Bismarck Sorge dafür trug, dass seine Briefe den Geschmack der Zeit trafen. Auch dann, wenn die große Politik Thema wurde, waren zumindest Bismarcks Familienbriefe der bürgerlichen Briefkultur des 18. und 19. Jahrhunderts zugehörig. Wie in der primären Kommunikationsebene über Emotionalität, Individualität, Authentizität innerfamiliale Stabilität generiert und gestärkt werden sollte,107 so nimmt die in bürger­ lichen Privatbriefen „halböffentlich inszenierte Privatheit“108, die einen größeren Familien- und oft auch Freundeskreis adressierte, die in der sekundären Briefkultur qua Publikation implizierte Generalisierbarkeit des im Brief Ausgesprochenen und des in seinem Namen Verhandelten schon vorweg.

V. Medienwechsel Der Glaube an die Briefe endet bald nach Bismarcks Tod. Das 20. Jahrhundert modelliert Aufmerksamkeit über andere Medien. Ein zunächst körperliches, nun aber wieder zunehmend wichtiges, da ebenfalls konservier­ bares Medium ist die Stimme, die uns bis heute die Wahrhaftigkeit des Sprechenden beglaubigen muss, mehr vielleicht als jeder Brief oder jedes Autogramm. Wann immer des Redners Bismarcks gedacht wird, ist einschränkend von „hoher Stimmlage“ die Rede.109 Vor einigen Jahren ist indessen eine Edisonwalze mit Bismarcks Stimme aufgetaucht.110 Hatte sich Wilhelm II. 1889 auf Anfrage einer Aufnahme verweigert, so legte Bismarck einmal mehr seine Medienaffinität an den Tag, indem er Gedichtauszüge vortrug und schließlich seinem Sohn einen guten Ratschlag übermittelte. Edisons Emissär machte die Aufnahme zu einem gesprochenen Brief, indem er einleitend die Worte sprach „Friedrichsruh, am 7. Oktober 1889“ – die Nachricht an den im Ausland weilenden Sohn, der tatsächlich einige Wochen 106  Poschinger,

Zweiter Band, S. 189. generell: Schikorsky, S. 265. 108  Ebd., S. 266. 109  Kolb, S. 28. 110  https://www.cylinder.de/deeplink_resource_bismarck.html (20.8.2018). 107  Vgl.

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später in Budapest der Walze lauschte, bestätigt die epistolare Funktion.111 Nicht umgesetzt wurde der Promotion-Plan von Edisons Firma, 10.000 Kopien herzustellen, „um sie dann […] kostenlos allen wichtigen deutschen Institutionen und Behörden, gewissermaßen als auditives Amtsstuben-Porträt, zur Verfügung zu stellen“.112 Bismarck hat sich also dieser den Geist des 20. Jahrhunderts atmenden Technik geöffnet – den Kaiser hätte es gewiss verdrossen, wenn Bismarcks Stimme vieltausendfach Verbreitung gefunden hätte. Derweil widerlegte die Tonaufnahme die Fama von Bismarcks hoher (sprich: unmännlicher) Stimme; er hätte also mit dieser seiner stimmlichen Ausstattung zum Politiker der Moderne werden können.

VI. Sammeln – der Name zählt! Die seit 2004 erscheinende „Neue Friedrichsruher Ausgabe“ der Gesammelten Werke Bismarcks trifft in der vielbändigen Abteilung III, welche die „Schriften“ in chronologischer Folge enthält, keine Unterscheidung mehr zwischen „Politischen Schriften“ und „Briefen“.113 Aus der Sicht der Geschichtswissenschaft handelt es sich in jedem Fall (neben den zu Lebzeiten publizierten) um datierte und adressierte Dokumente, also Erlasse, Berichte, Telegramme, Schreiben – so die jeweiligen Bezeichnungen im Untertitel des jeweils edierten Texts. Die kulturell geprägte, ansonsten aber unpräzise Bezeichnung ‚Brief‘ (die allenfalls Unterscheidungen wie ‚privat‘ oder ‚geschäftlich‘ erlaubt) gerät ins Hintertreffen, wo sich gegen politikgeschichtlich wirkmächtige Dokumente jene zu Lebzeiten und bald darauf so hochgeschätzten ‚privaten‘ Zeugnisse behaupten müssen. Komplementär dazu kann aber nicht verwundern, dass Brieffunde aus der Zeit des Kaiserreichs auch heute noch ein interessiertes Publikum zu erreichen vermögen. Als im Jahr 2018 rund 1000 Privatbriefe der letzten deutschen Kaiserin Auguste Viktoria im Potsdamer Neuen Palais gefunden wurden, machte zumindest die „Stiftung Preußische Schlösser und Gärten“ eine kleine Sensation daraus.114 Das Sammeln von Autographen Prominenter ist noch in der Ära nach dem handgeschriebenen Brief als Kulturtechnik bekannt. Bismarck-Briefe finden sich heute auf Wikicommons,115 und preußenPaille, das Zitat S. 409. Seggern, S. 1114. 113  Bismarck, Schriften 1871–1873, S. VII. [Die Herausgeber zur „Neuen Friedrichsruher Ausgabe“ (NFA)]. 114  Vgl. Wehner. 115  https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Letters_by_Otto_von_Bismarck (20.8.2018). 111  Vgl. 112  von



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affine Autographensammler freuen sich über die Unterschrift „Bismarck“, selbst wenn auf den zweiten Blick auffällt, dass es sich trotz knorrigen Schriftzuges nicht um den ‚richtigen‘ handelt.116 Prominenz bemisst sich am Namen, an der bekannten Physiognomie – und an deren Repräsentation in der Schrift, im Brief.

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116  [Anonym:]

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Weitere Weblinks https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Letters_by_Otto_von_Bismarck https://www.cylinder.de/deeplink_resource_bismarck.html http://www.preussensammler.de/pg0002.html https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k2745874/f1.item https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f2/BASA-600K-1-1866-6-Bismarck marck_and_Napoleon_III.jpeg

Abschiedsbriefe. Letzte Zeilen vor dem Suizid als historische Quellen Von Udo Grashoff Wenn im Folgenden von Abschiedsbriefen die Rede ist, dann geht es, in Abgrenzung von einem weiter gefassten Begriffsverständnis,1 ausschließlich um jene kurz vor der Selbsttötung geschriebenen Zeilen, die das Selbstverständnis von Suizidenten sowie ihre Sicht auf Mitmenschen und Umwelt zum Ausdruck bringen. In diesen Zeilen äußert sich oft eine imaginäre Vorwegnahme des Todes, weshalb das Briefschreiben als Teil der suizidalen Handlung angesehen werden kann, und zugleich als Versuch, auf die Zeit nach dem eigenen Tod Einfluss zu nehmen.2 Die letzten Worte richten sich in der Regel an Lebenspartner, Verwandte oder andere nahestehende Personen, sind allerdings oft auch in dem Wissen darum geschrieben, dass Amtspersonen wie Gerichtsmediziner, Kriminalpolizisten oder Anwälte Einsicht nehmen könnten. Das Briefschreiben ist somit Teil eines halböffentlichen kommunikativen Aktes. Anders als bei Bewerbungsschreiben oder Liebesbriefen gibt es jedoch weder einen normativen öffentlichen Diskurs noch Guidelines zum Abfassen der letzten Zeilen. Die ausweichenden Antworten, die ein anonymer Beiträger in einem Internetforum auf die Frage „Was kommt in einen Abschiedsbrief?“ bekam, unterstreichen das: „Einen Leitfaden für so etwas kann es nicht geben“, und: „Das ist eine höchst individuelle Sache und daher gibt es dafür keine Regeln.“3 Eine Studie, bei der einer Gruppe Psychologiestudenten eine Mischung aus echten und simulierten Abschiedsbriefen vorgelegt wurde, zeigte ebenfalls, dass die Vorstellungen hinsichtlich Inhalt und Form von Abschiedsbriefen ausgesprochen uneinheitlich sind.4 Nicht einmal die Angabe von Motiven taugt als kleinster gemeinsamer Nenner; viele Ab-

als Beispiel Berg. Galasinski, Kapitel 6. 3  Gute Frage (https://www.gutefrage.net/frage/ich-will-mich-nicht-umbringen-aberes-interessiert-michwas-kommt-in-einen-abschiedsbrief; eingesehen: 13.6.2018). 4  Das hat z. B. verdeutlicht Leenaars/Lester. 1  Vgl. 2  Vgl.

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schiedsbriefe erfüllen diese Erwartung nicht und bieten, wenn überhaupt, nur vage Erklärungen der Gründe für den Tod durch eigene Hand.5 Wie der französische Soziologe Jean Baechler ausgeführt hat, stellen Selbsttötungen in der Regel Problemlösungen dar.6 Die Funktion, die Abschiedsbriefe in diesem Zusammenhang erfüllen, kann stark variieren. Zu den häufigsten Zwecken gehören die Verabschiedung von Hinterbliebenen, Rechtfertigungen und Entschuldigungen, das mehr oder weniger direkte Zuweisen von Schuld, sowie Anweisungen an die Hinterbliebenen, einschließlich testamentarischer Verfügungen. Teilweise werden Abschiedsbriefe als „manipulative Kommunikation mit der Nachwelt“ erlebt.7 So haben die USamerikanischen Suizidologen Steven Stack und Iain Rockett in ihrem umfangreichen Sample zahlreiche Hass-Botschaften gefunden: „Die eindeutige Bezeichnung der Person oder Institution, die das Opfer in den Suizid getrieben hat, kann als ein Versuch angesehen werden, durch die Leser des Abschiedsbriefes post mortem Rache zu nehmen.“8 Andere Studien haben demgegenüber auf einen (auf den ersten Blick vielleicht überraschenden) hohen Anteil von Liebesbotschaften in den letzten Zeilen von Suizidenten hingewiesen.9 Die Frage, wie die letzten Zeilen trotz aller Heterogenität dennoch als Genre gefasst und näher spezifiziert werden können, ist in letzter Zeit mehrfach aufgeworfen worden, und dieser Essay, der Untersuchungen aus diversen Disziplinen wie Psychologie, Psychiatrie, Linguistik, Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie sichtet und analysiert, versteht sich als eine Bestandsaufnahme dieser Debatte.

I. Schreiben oder nicht Schreiben? Das Verfassen eines Abschiedsbriefes an sich ist bereits ein Statement. Nur eine Minderheit derer, die sich das Leben nehmen, hinterlässt Schriftstücke für die Nachwelt. Das ist eine wichtige Erkenntnis der medizinischen Suizidforschung, die auch bei historischen Interpretationen im Auge behalten werden sollte. Die Prozentangaben variieren, aber den umfangreicheren und ­daher statistisch aussagekräftigen Studien zu Selbsttötungen in der westlichen Welt (Nordamerika, West- und Mitteleuropa, Australien) zufolge wurden nur zu dieser Erwartungshaltung im 18. Jahrhundert: Schlinzig, S.  178 f. Baechler. 7  Lind, S. 316, Fn. 2. 8  Übersetzung des Verf. („Clear communication of the person or institution that drove the victim to suicide can be perceived as a manner for seeking revenge after death through the readers of the note.“) Stack/Rockett, S. 19. 9  Vgl. Ioannou/Debowska. 5  Vgl. 6  Vgl.

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bei etwa einem Drittel der Suizidenten Abschiedszeilen vorgefunden. Diese Befunde haben in der medizinischen Suizidforschung, die sich von den Briefen authentische Einblicke in die Genese von Suizidalität erhofft, eine intensive Debatte darüber ausgelöst, ob aus den Briefen generelle, das heißt für alle Suizidenten geltende Rückschlüsse gezogen werden können. Einige Suizidforscher haben behauptet, dass sich jene, die vor der Selbsttötung ein Schriftstück hinterlassen, kaum von jenen unterscheiden, die kommentarlos aus dem Leben gehen.10 Diese Ansicht wurde allerdings durch neuere Studien in Zweifel gezogen. Ein Forscherteam argumentierte, dass „Abschiedsbriefhinterlasser“, die unmittelbar bevor sie sich das Leben nehmen noch „motiviert sind, sich anderen Menschen mitzuteilen“, allein „deshalb möglicherweise in ihrem psychologischen Profil von Suizidopfern abweichen könnten, die diese Motivation nicht mehr haben.“11 In der bisher umfangreichsten, im Jahr 2018 pu­ blizierten Untersuchung – die 30.570 Suizide ausgewertet hat, bei denen in 10.048 Fällen ein Abschiedsbrief gefunden wurde – haben Stack und Rockett mehrere statistisch signifikante Unterschiede zwischen jenen, die sich vor ihrer Selbsttötung mit einem Brief an die Nachwelt wenden, und jenen, die dies nicht tun, nachgewiesen.12 Der Umstand, dass manche Studien Unterschiede finden und andere nicht, ist zu einem bedeutenden Teil dadurch erklärbar, dass sich letztere zumeist auf grobe soziale Variablen wie Alter, Geschlecht oder psychische Krankheit beschränkt haben, während erstere auch konkrete situative Faktoren in die Analyse einbezogen. Jene Suizidenten, die der Nachwelt noch etwas mitteilen, unterscheiden sich kaum hinsichtlich ihrer Persönlichkeitseigenschaften und vielmehr hinsichtlich ihres Sozialverhaltens in der konkreten Situation unmittelbar vor dem Tod, in der sie anders als die Mehrheit der Suizidenten durch Kommunikation noch etwas bewirken wollen. So fanden die Forscher bei Briefschreibern häufiger akute Beziehungskonflikte und finanzielle Probleme unmittelbar vor der Selbsttötung. Jeder Fall ist somit vor allem aus seiner individuellen situativen Bedingtheit heraus zu verstehen.

Callanan/Davis; Cerel u. a. u. a., S. 1362. 12  Vgl. Stack/Rockett. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch eine Auswertung von 347 Abschiedsbriefen in Tasmanien: Haines u. a.; eine Auswertung von 224 Abschiedsbriefen in Hong Kong: Ho u. a., eine Analyse von 1653 Suiziden in Japan: Kuwabara u. a. Für Deutschland vgl. Heim/Lester. 10  Vgl.

11  Eisenwort

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II. Diagnostischer Optimismus: Abschiedsbriefe als Fenster zur Seele? Die medizinische Suizidforschung hat im Verlaufe der jahrzehntelangen Erforschung von Abschiedsbriefen einen für historisch Forschende lehr­ reichen, recht turbulenten Erkenntnisprozess durchlaufen. In den 1940er und 1950er Jahren herrschte zunächst ein gewisser Pioniergeist vor. Psychiater und Psychologen glaubten, dass die Briefe Fenster zur Seele der Suizidenten seien und suchten nach Hinweisen auf den mentalen Zustand unmittelbar vor der Selbsttötung, um pathologische Entwicklungen diagnostizieren und präventive Maßnahmen bzw. Therapien für Überlebende von Suizidversuchen entwickeln zu können. So erhoffte sich der Schweizer Psychiater Walter Morgenthaler nicht nur Aufschlüsse über Einzelfälle, sondern „wichtige Fingerzeige […] zur psychologischen Abklärung […] sogar des Selbstmordproblems im allgemeinen“.13 Diese Suche nach Anzeichen für den psychologischen Ausnahmezustand vor dem Suizid blieb keineswegs ergebnislos. Als Symptome pathologischer Entwicklungen haben Mediziner einen gewissen „Tunnelblick“ ausgemacht, eine Fokussierung auf scheinbar banale Instruktionen für die Zeit danach, und gleichzeitig eine relativ starre dichotome Logik. Während einige Forscher aber zugleich darauf hinwiesen, dass die in den letzten Zeilen vorgebrachten Argumente oft vage und inkonsistent sind, verkündete etwa der US-amerikanische Suizidologe Edwin Shneidman in den 1950er Jahren überschwänglich: „Suicide notes are the golden road to the understanding of suicide“.14 Der naiven Erwartung, die letzten Zeilen könnten unmittelbare Einsichten in das Denken und Fühlen vor dem Suizid geben, folgte bald die Ernüchterung. Zwei Jahrzehnte später bezeichnete Shneidman sie nahezu verbittert als „one of the world’s most unnecessary documents“. Bei genauerer Prüfung ähnelten Abschiedsbriefe eher den touristischen Ansichtskarten, die vom Grand Canyon oder von den ägyptischen Pyramiden geschickt und nicht einmal im Ansatz das Grandiose der Szenerie und der dadurch evozierten Emotionen wiedergeben würden.15 Die letzten Zeilen von Suizidenten seien, wie auch andere Autoren ausgeführt haben, oft „atemberaubend banal“.16 Angesichts der dürftigen Erkenntnisse über psychopathologische 13  Morgenthaler,

S. 79. S. 10. 15  „Suicide notes are like a parody of the postcards sent home from the Grand Canyon, the catacombs, or the pyramids–essentially unimaginative, pro forma, and not at all reflecting the grandeur of the scene being described, or the grandeur of the human emotions that one might expect to be engendered by the situation.“ Shneidman: Suicide Notes, S. 384. Vorangehendes Zitat im Text ebd., S. 387. 16  Dery, S. 262. 14  Leenaars,

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Entwicklungen, die aus Abschiedsbriefen gewonnen werden konnten, konstatierte etwa der Medizinsoziologe Nikolaus Heim: „In der empirischen Selbstmordforschung wurden lange Zeit grosse Hoffnungen auf die Analyse von Abschiedsbriefen gesetzt. […] Doch über allerletzte Gründen oder wahre Motive der Selbsttötung ist in Abschiedsbriefen kaum etwas zu erfahren.“17 Die weitgehende Begrenzung der medizinischen Abschiedsbriefforschung auf die Texte an sich dürfte dieses Scheitern begünstigt haben. Sicher ist es möglich, allein aus der Analyse der letzten Zeilen Rückschlüsse auf die kommunikativen Strategien von Suizidenten zu ziehen, wie beispielsweise der Sprachwissenschaftler Dariusz Galasinski gezeigt hat.18 Auch lassen sich genuine Abschiedsbriefe anhand bestimmter sprachlicher Merkmale wie geringere Sachlichkeit, weniger häufige Thematisierung positiver Gefühle sowie stärkere Egozentriertheit von simulierten Briefen unterscheiden.19 Ein tieferes Verständnis der suizidalen Situation und der Gründe für die Selbsttötung ist jedoch schwerlich erreichbar ohne zuvor die verfügbaren Informationen über Vorgeschichte und Suizidsituation zusammenzutragen und kritisch zu analysieren. Die letzten Zeilen erlauben schließlich, wie alle Selbstzeugnisse, keine automatischen Rückschlüsse auf die Konflikte und Leiden der wortlos verstummten Mehrheit derjenigen, die Hand an sich legen. Selbst die oft sehr einfühlsamen und erhellenden Interpretationen von Galasinski, der anhand von Abschiedsbriefen polnischer Männer zahlreiche diskursive Strategien herausgearbeitet hat, hängen letztlich in der Luft, weil sich die tatsächliche Bedeutung dieser Strategien nur durch den Kontext erschließen lässt. Um den relativen Wahrheitswert von Äußerungen wie „ich war für diese Welt eine Fehlkonstruktion“ oder „ich kann nicht anders“ abschätzen und die Perspektive der Suizidenten verstehen zu können, muss der Abschiedsbrief im Sinne der historischen Quellenkritik in seinen (möglichst genau rekonstruierten) Entstehungskontext zurückversetzt werden.20 Zu dieser Erkenntnis ist auch Edwin Shneidman gegen Ende seiner Forscher­karriere gelangt: „Life is like a long letter and the suicide note is merely a postscript to it and cannot, by itself, be expected to carry the burden of substituting for the total document.“21

17  Heim.

Galasinski. Bodenstaff, S. 47. 20  Grashoff, S. 64, 114. 21  Shneidman, Voices, S.  58 f. 18  Vgl. 19  Vgl.

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III. Literarische Heroisierung Parallel zur medizinischen Suizidforschung hat auch die literarische Aneignung des Suizidmotivs Vor-Urteile für die Interpretation von Abschiedsbriefen etabliert. Während die medizinische Diagnostik nach Symptomen von Störung und Schwäche sucht, wird die suizidale Handlung in literarischen Abschiedsbriefen oft als Zeichen von Stärke, oder zumindest absurder Selbstbehauptung dargestellt. So trug beispielsweise die von Friedrich II. verfasste Epistel an den Marquis d’Argens zur Etablierung der Vorstellung einer heroischen Ehrenrettung durch Suizid bei.22 Goethe hingegen knüpfte den heroischen Suizid seines Romanhelden Werther an die Handlung des Briefschreibens selbst. Im Roman erscheint die Selbsttötung als ein SichHineinschreiben in den Tod.23 Dass das von dem Buch angeblich ausgelöste „Werther-Fieber“ weitgehend ein Diskursphänomen blieb, wirft ein Schlaglicht auf die Diskrepanz von fiktionaler und tatsächlicher Suizidalität.24 Zwar stimmt es nicht, dass wer von Suizid redet sich nicht umbringt, aber die literarische Rede vom Suizid verfolgt mit Metaphern, Ambivalenz und intertextuellen Verweisen oft andere, nicht primär referenzielle Strategien, und trägt daher nicht immer zum besseren Verständnis von Suizidalität bei. Eine bis in die Gegenwart hineinwirkende Hypothek der literarischen Stilisierung von Selbsttötungen ist, dass den letzten Worten – zumal sie durch den oft gewaltsamen Tod als auf eindringliche Weise beglaubigt erscheinen – eine besondere Autorität zugeschrieben wird. Sie werden als Sichtfenster in die geschlossene Welt des Suizidenten behandelt. Wie Marie Isabel Schlinzig gezeigt hat, haben die fiktionalen Vorbilder in diesem Zusammenhang ein Spannungsfeld von zwei Extrempositionen konstituiert. Prototypisch für das eine Extrem steht die Funktion der Abschiedsbriefe in Euripides’ Tragödie „Hippolytos“. Hier versucht die antike Selbstmörderin Phaedra, die Nachwelt mit Hilfe ihrer letzten Worte irrezuführen, was beinahe gelingt – erst später wird die perfide Taktik ihres Abschiedsbriefes offengelegt.25 Demgegenüber führt der Abschiedsbrief der Perserin Roxane in Montesquieus Roman „­Lettres Persanes“ aus dem Jahr 1721 zur Enthüllung einer zuvor geheim gehaltenen Wahrheit und damit zur Demontage einer Lebenslüge.26

Kühnel, S.  146 f., S.  153 f. Neumeyer, S. 204. 24  Vgl. Neumeyer, S. 34. 25  Schlinzig, S. 25. 26  In diesem Sinne erfüllten Abschiedsbriefe in publizierten Sammlungen von Selbstmörderbiografien im 18. Jahrhundert vor allem die Funktion der Offenbarung bis dato unbekannter Fakten. Vgl. Schlinzig, S. 169. 22  Vgl. 23  Vgl.

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Phaedra (Täuschung) und Roxane (Offenlegung) bilden die Pole, zwischen denen sich oft auch die historische Analyse von Abschiedsbriefen bewegt, wobei die affirmative Nutzung zu überwiegen scheint, bei der sich Forschende – darin der Erwartungshaltung mancher Suizidologen nicht unähnlich – von der eindrucksvollen „Selbstevidenz“ vieler Abschiedsbriefe beeindruckt zeigen. Ein Beispiel hierfür bietet Ursula Baumanns Monografie über Suizid im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in der sie sich überzeugt gibt, dass die letzten Zeilen als Primärquelle über Gründe der Selbsttötung Auskunft geben können: „Die Verfasser bringen darin mit den ihnen zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln klar und verständlich zum Ausdruck, daß und warum sie nicht mehr leben wollen bzw. können“.27 Die in Baumanns Buch präsentierten Beispiele belegen diese erkenntnisoptimistische Aussage nur teilweise. Zwar äußern manche Abschiedsbriefe (analog zu dem literarischen Brief von Roxane) Gründe, die den Suizid nachvollziehbar erscheinen lassen.28 Aber oft bleiben die letzten Zeilen vage und unklar.29 Die Evidenz stellt sich nicht selbst her, sondern bedarf der Bestätigung durch andere Quellen. Baumann liefert diese Tiefendimension, sofern möglich, mit, ihre Auswahl präsentiert allerdings ein rationalisiertes Bild von den letzten Zeilen. Indem nur die verständlichen, einleuchtenden Briefe herangezogen werden, bleibt deren Funktion auf eine Illustration der Suizidsituation beschränkt.30 In kritischer Abgrenzung von Baumann behandelt Moritz Föllmer Abschiedsbriefe in zwei Aufsätzen zu Selbsttötung und Krise in der Weimarer Republik als Elemente der als krisenhaft erlebten Kommunikation. Unter anderem verdeutlicht Föllmer mit einer Auflistung von Zitaten, dass Suizidenten in ihren Briefen auf diverse zeitgenössische Topoi zurückgriffen. Die kommunikativen Strategien, die Abschiedsbriefschreiber mit den letzten Zeilen verfolgen, werden allerdings nicht eingehend analysiert.31 Föllmer

27  Baumann,

S. 340. etwa den im Mai 1790 geschriebenen Abschiedsbrief von Alexander Friedrich Georg von der Schulenburg in: Kühnel, S. 176. 29  Eine Abschiedsbotschaft lautet zum Beispiel: „Hoffentlich werde ich jetzt mal Ruhe haben.“ Baumann, S. 344. Sicherlich ist das ein klares Statement, aber es lässt die Gründe im Dunkeln. Vgl. zur Vagheit von Abschiedsbriefen auch Galasinski, S. 42. 30  Es ist schwer vorstellbar, dass Verzerrungen oder Halbwahrheiten in dem Sample überhaupt nicht vorkamen. Wie Galasinski gezeigt hat, sind Abschiedsbriefe in vielen Fällen eigensinnige kommunikative Handlungen, die eine bestimmte Absicht verfolgen. Diese Dimension geht verloren, wenn man zu sehr bei der Abbildfunktion von Selbstzeugnissen verharrt. 31  Vgl. Föllmer, Good Bye, S. 121 f. 28  Vgl.

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verwendet die Zitate aus Abschiedsbriefen, ganz ähnlich wie Baumann, vorwiegend zur Illustration.32 Eine solche affirmative Praxis ist zum Teil der mangelhaften Quellenlage geschuldet, die es oft nicht zulässt, alle Andeutungen und Details nachzuvollziehen. In zahlreichen Fällen ist es aber durchaus möglich, die diskursiven Strategien im Spannungsfeld von Erklärung (im Sinne Roxanes) und Verklärung (im Sinne Phädras) genauer zu verorten. Zwei Beispiele aus der eigenen Erforschung der Geschichte der Selbsttötung in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) sollen das illustrieren. Im Fall des aus den USA in die DDR übergesiedelten Sängers und Schauspielers Dean Reed erfüllte der Abschiedsbrief, wenn auch verspätet, eher die Funktion der Erklärung eines mysteriös erscheinenden Todes. Verwandte und Freunde des Verstorbenen, darunter auch Reeds Managerin, hatten bereits eine Woche nach der Bekanntgabe des offiziell als „tragischer Unglücksfall“ deklarierten Todes im Juni 1986 den Verdacht geäußert, es könnte ein Mord gewesen sei.33 Zur selben Zeit verbreiteten westlichen Medien, Reeds Leiche sei mit einem Strick um den Hals aus seinem Auto gefischt worden.34 Es wurde spekuliert, dass Dean Reed für westliche Geheimdienste gearbeitet haben könnte, oder dass der Staatssicherheitsdienst ihn durch einen Mord von einer Rückkehr in die USA abhalten wollte. Die Spekulationen, denen die SEDFührung durch das Verschweigen des Abschiedsbriefes und die Angabe einer falschen Todesursache den Nährboden bereitet hatte, setzten sich bis zur im Jahr 2003 erfolgten Veröffentlichung des durch die Staatssicherheit konfiszierten Abschiedsbriefes fort. Nun erst belegte der handgeschriebene 15seitige Brief Reeds, der an einen Genossen gerichtet war, seinen ungebrochenen Glauben an den Kommunismus ebenso wie das Ausmaß des Beziehungsdramas, das ihn offenbar zu seiner Verzweiflungstat motiviert hatte.35 Auch die anhand von Verhören, Fotos und des Obduktionsberichts erfolgte kriminalistische Rekonstruktion des Suizids widerlegte alle Mordtheorien. Reed hatte den in großen, krakeligen Buchstaben geschriebenen Abschiedsbrief auf den Rücksitz gelegt, dann zunächst das Abschleppseil ausgepackt (wahrscheinlich, um sich zu erhängen), war dann aber ins Wasser gegangen, wo er (auch infolge der vorher eingenommenen Tabletten) ertrank.36 Die Obduzenten hatten 32  Vgl. Föllmer, Suicide, S. 210–212. Auch eine historisch präzise Einordnung in den Verlauf der Selbsttötungsrate, die sich beim Thema Krise angeboten hätte, wird nicht vorgenommen. 33  Vgl. Michalski. 34  Schroeder. 35  Vgl. Dean Reed an Eberhard Fensch, 12.6.1986, in: BStU, MfS, AP 2278/92, Bd. 1, Bl. 72–86. 36  Vgl. Präsidium der Volkspolizei Berlin, Selbsttoetungsversuch eines Staatsbuergers der USA, 11.6.1986, in: BStU, MfS, AU 12332/86, Bd. 1, Bl. 20 f.; MfS-Haupt-

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bei der Untersuchung des Leichnams nicht nur spezifische Merkmale für einen Ertrinkungstod, sondern auch eine toxische Menge eines Beruhigungsmittels gefunden.37 Wenngleich das Selbstzeugnis somit falsche politische Verdächtigungen widerlegen konnte, wäre es naiv, Reeds Abschiedsbrief in allen Aspekten Selbstevidenz zuzubilligen. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Schuldvorwürfe an seine Lebensgefährtin, in denen Reeds subjektive Sichtweise zum Ausdruck kommt.38 Im zweiten Beispiel hingegen, dem Abschiedsbrief eines Inhaftierten der Strafanstalt Bautzen, der sich im Oktober 1982 in seiner Zelle selbst verbrannte, verfolgen die Hinweise auf eine politische Motivation eine andere Strategie: „Noch im Tode verfluche ich das mir zutiefst verhaßte System der sogenannten DDR. Möge mein Märtyrertod noch viele Mitmenschen aus ihrer stumpfen Proletahrgie reißen“, hatte der Strafgefangene auf einen Zettel geschrieben, der hinter einem Spiegel gefunden wurde.39 Hauptziel dieses Abschiedsbriefes war es, auf ein Flugblatt hinzuweisen, das der Strafgefangene in hunderten Exemplaren einer DDR-Kinderzeitschrift, in dessen Produktion er eingesetzt war, beigelegt haben wollte. Dazu gab er den gesamten Wortlaut des Flugblattes wieder, das zu Sabotage und zum Mord an SEDFunktionären aufrief. Laut Ermittlungen der Staatssicherheit hatte diese Aktion überhaupt nicht stattgefunden. Die im Abschiedsbrief anzutreffende Mischung aus Protest und Betrug findet sich auch in der Biografie des Strafgefangenen wieder. Nach zwei abgebrochenen Berufsausbildungen war er zunächst Soldat geworden. Wegen Disziplinarvergehen war er aus der Armee ausgeschieden und war danach zweimal wegen Betrugs und Diebstahl verurteilt worden. Durch Amnestie vorzeitig freigekommen, hatte er versucht, in die Bundesrepublik zu fliehen, was eine erneute Inhaftierung nach sich zog. Eine politische Protestaktion, mit der er seinen Freikauf durch die Bundesrepublik bewirken wollte, brachte ihm eine zusätzliche Haftstrafe ein. Zwischenzeitlich war er in den Hungerstreik getreten, zwangsernährt und in ein anderes Gefängnis verlegt worden. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es primär seine Verzweiflung über die langjährige Haft und die schwindende Hoffnung auf Freikauf, die ihn zu der Selbstverbrennung bewegt hatte. Ein zusätzlicher Faktor waren Auseinanderabteilungen IX/7 und XX/7, Bericht zu den Umständen des Todes des Staatsbürgers der USA Dean Reed, Berlin, 18.6.1986, in: BStU, MfS, AP 2278/92, Bd. 1, Bl. 99– 102. 37  Vgl. Geserick u. a., S. 205–215. 38  Vgl. „Sehr persönliche Wahrheit“. Renate Blume zu Reeds Abschiedsbrief, in: Märkische Allgemeine Zeitung, 22.7.2004. 39  Handschriftlicher Abschiedsbrief, Bautzen, 25.10.1982, in: BStU, MfS BV Dresden, AP 2957/88, Bl. 56 f. Rechtschreibung wie im Original.

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setzungen mit Mitgefangenen wegen der Rückzahlung von Schulden in den Tagen unmittelbar vor der Selbstverbrennung gewesen. Seine bereits vor Jahren begonnene Strategie der Politisierung seiner Lebenskonflikte kulminierte im Versuch, als Märtyrer zu sterben. Bevor er sich mit Bohnerwachs einrieb und anzündete, hatte der Gefangene ein Bettlaken zerrissen, auf eine Hälfte mit schwarzer Schuhcreme „Nieder mit der sozial-faschistoiden Diktatur DDR“ geschrieben und an einem Besenstiel aus dem Fenster gehängt. Der andere Teil des Lakens trug die Aufschrift „Tod dem Bolschewisten Honecker“.40 Diese fragwürdige Strategie ging immerhin insofern auf, dass der Fall, wenngleich in der DDR vertuscht und totgeschwiegen, in der bundesdeutschen Presse, gestützt auf Berichte ehemaliger Häftlinge, unter der Überschrift „ ‚DDR‘ treibt Häftlinge zum Selbstmord“ kurz erwähnt wurde.41 Worauf die beiden Beispiele vor allem verweisen ist die Notwendigkeit, der vermeintlich durch den selbst gewählten Tod beglaubigten Autorität von Abschiedsbriefen kritisch gegenüberzutreten und eine quellenbasierte Antwort für den Einzelfall zu ermitteln.

IV. Abschiedsbrief und Öffentlichkeit Wenngleich es bereits antike Beispiele gibt (z. B. Epikur),42 wurde das Schreiben von suizidalen Abschiedsbriefen erst gegen Ende der Frühen Neuzeit üblich, zunächst nur in den gebildeten Kreisen Europas.43 Neben dem Analphabetentum weiter Teile der Bevölkerung setzte die moralische Verdammung des ‚Selbstmordes‘ dem Mitteilungsbedürfnis derjenigen, die Hand an sich legten, auch noch im 18. Jahrhundert enge Grenzen; in der Regel wollten sie ihre Handlung nicht rechtfertigen, sondern vertuschen. So fand Vera Lind, die Selbsttötungen in Schleswig und Holstein untersucht hat, in ihrem Sample von 300 Fällen nur eine einzige Abschiedsnotiz.44 Aber mit dem Aufkommen einer toleranteren Haltung der Gesellschaft etablierten sich Abschiedsbriefe als Gattung. Das geschah zuerst in England, 40  Vgl. BdVP Dresden, Dezernat I/4 Bautzen, Sachstandsbericht, 25.10.1982, in: BStU, MfS BV Dresden, AP 2957/88, Bl. 34–36. 41  „DDR“ treibt Häftlinge zum Selbstmord, in: Die Welt, 20.12.1984, S. 1, S. 8. 42  Vgl. Graitl, S. 121 f. Wie Graitl zutreffend bemerkt, beruht die „Entdeckung“ des ersten Abschiedsbriefes der Menschheit im alten Ägypten (vgl. Thomas) auf einer Fehlinterpretation. 43  Auch blieb dieses ‚Genre‘ zunächst vor allem Männern vorbehalten. Nicht nur in England waren soziale Stellung und Geschlecht im späten 18. und 19. Jahrhundert hoch signifikante Faktoren im Selbsttötungsdiskurs. Wie Morrissey für das zaristische Russland herausgearbeitet hat, waren es vor allem gebildete Männer, die Abschiedsbriefe hinterließen. Vgl. Morrissey, S. 149. 44  Vgl. Lind, S. 315.

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wo die florierende Presse Selbsttötungen zur öffentlichen Angelegenheit machte.45 Die Zeitungen druckten in diesem Zusammenhang bisweilen auch Selbstzeugnisse von Suizidenten, wobei man jedoch hinsichtlich der Häufigkeit keine überzogenen Erwartungen hegen sollte. Während Presseberichte über Selbsttötungen zur Routine wurden, veröffentlichten Londoner Zeitschriften in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts selten mehr als einen Brief pro Jahr.46 Im deutschsprachigen Raum wurden zur selben Zeit Anthologien mit letzten Worten von zum Sterben Verurteilten, Offizieren, Märtyrern etc. zum Zwecke der Erbauung publiziert, die auch vereinzelt Briefe von Suizidenten, zumeist als abschreckende Beispiele, enthielten. Die publizierten Texte waren keineswegs repräsentativ für das Selbsttötungsgeschehen. Es handelte es sich um eine absichtsvolle Auswahl, und, wie Schlinzig gezeigt hat, literarische Muster gaben die Auswahlkriterien für die Veröffentlichung echter Abschiedsbriefe vor.47 So finden sich unter den veröffentlichten Briefen gereimte oder auf klassisches Versmaß getrimmte Abschiedszeilen. Die Literarisierung von Abschiedsbriefen zeigte sich auch darin, dass sich einige Briefe an allgemeine Konventionen des Briefschreibens, der letzten Rede („dying speech“) und des Testaments anlehnten. Der Abschiedsbrief wurde somit im Zuge seiner Etablierung als öffentliche Textsorte durch literarische Konventionen mitgeformt. Dabei bildete sich eine bestimmte Art der Rede über Selbsttötung ebenso heraus wie ein Kanon von akzeptierten Begründungen. Insgesamt brachten diese Texte sowie der interpretative Kontext, in den sie eingebettet wurden, aber eher gesellschaftliche Konventionen zum Ausdruck, als dass sie authentische Einblicke in die suizidale Dynamik vermittelten. Die Literarisierung von Abschiedsbriefen ging bisweilen so weit, dass neben authentischen auch erfundene Abschiedsbriefe veröffentlicht wurden, ohne diese als solche zu kennzeichnen.48 Die britischen Historiker Michael MacDonald und Terence R. Murphy haben in diesem Zusammenhang zudem einen Rückkopplungsmechanismus postuliert: In einigen Briefen finden sich Hinweise darauf, dass die Schreiber sich der Möglichkeit einer künftigen Veröffentlichung bewusst waren und diese entweder wünschten oder zu verhindern suchten.49 Und nicht nur das, manche Schreiber von Abschiedsbrie45  Das hatte den Nebeneffekt, dass die Häufigkeit von Suiziden tendenziell überschätzt wurde, wovon auch das irreführende Attribut der „englischen Krankheit“ zeugt. Vgl. Cheyne. 46  Vgl. Parisot, S. 279. 47  Vgl. Schlinzig, S. 51–56, S. 242 f. 48  „Although presented as genuine examples, a number of the notes undoubtedly tend towards literary artifice, belying their alleged authenticity.“ Parisot, S. 279. 49  MacDonald/Murphy, S. 327.

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fen nutzten Floskeln, die sie aus in Zeitungen abgedruckten Briefen entnommen hatten. Zudem wurden sogar Parodien verfasst.50 MacDonald und Murphy glauben angesichts dessen feststellen zu können, dass sich der Abschiedsbrief um 1770 – nicht ganz zufällig zur Zeit der Veröffentlichung der Übersetzung von Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ – als literarisches Subgenre etabliert habe. Eine Reihe von Beispielen belegen indes, dass die Angleichung der Rhetorik literarischer und echter Briefe, für die MacDonald und Murphy Beispiele aus England angeführt haben, begrenzt war. Literarische Lesebedürfnisse wurden durch echte Briefe kaum bedient, und die zeitgenössische Sentimentalität, die fiktive Suizidtexte durchzieht, fand sich in den letzten Zeilen nur selten.51 Die Rezeption von Werthers letztem Brief an Lotte, der zweifellos eine der wirkungsmächtigsten Abschiedsbotschaften des 18. Jahrhunderts darstellte, unterstreicht das. Zwar sind in authentischen Abschiedsbriefen zahlreiche Querverweise auf Werther nachweisbar, nicht nur im deutschsprachigen Raum. Bemerkenswert ist allerdings, wie unspezifisch und selektiv die Rezeption, die sich oft nur auf isolierte Passagen des Briefes bezog, ausfiel.52 Zu den wenigen Abschiedsbriefschreibern, die tatsächlich eine Brücke zur hohen Briefkultur schlugen, gehörte der 18jährige Carl von Hohenhausen, der sich im April 1834 erschoss, weil er bereits früh körperliche Verfalls­ erscheinungen an sich wahrnahm und daher glaubte, die durch seine Eltern in ihn gesetzten hohen Erwartungen nicht erfüllen zu können.53 Wie Marie Isabel Matthews-Schlinzig gezeigt hat, folgte der suizidale junge Mann weitgehend den gelehrten Konventionen des Briefschreibens, das zu den grundlegenden Techniken gehörte, die in den Schulen des 19. Jahrhunderts gelehrt wurden.54 Der junge Adlige konnte damit rechnen, dass seine literarisch eindrucksvollen Briefe, die er über Monate hinweg schrieb, nach seinem Tod im Kreise der Familie, und vielleicht sogar darüber hinaus zirkulieren würden (wie es bereits mit den letzten Briefen seiner auf natürliche Weise verstorbenen Großmutter geschehen war).55 Es scheint, als ob Hohenhausen alle ihm noch zur Verfügung stehenden Kräfte darauf verwendet hat, 50  MacDonald/Murphy,

S. 326. Parisot, S. 281 sowie den Abschiedsbrief der britischen Frauenrechtlerin Mary Wollenstonecraft in: Todd. 52  Vgl. Schlinzig, S. 210. Und wenngleich es Ähnlichkeiten gab, so unterschied sich die Form, die Goethe ersann, vom Briefstil des historischen Vorbilds Karl Wilhelm Jerusalem deutlich. 53  Vgl. Kühnel, S.  307 f. 54  Vgl. Matthews-Schlinzig. 55  Vgl. Matthews-Schlinzig, S.  39 f. 51  Vgl.

Abschiedsbriefe239

seine suizidale Verfassung in literarische Form zu bringen, um so eine Verständnisebene für das Ungeheuerliche seiner Selbsttötung zu schaffen. Das ist ihm insofern gelungen, als seine Mutter seine Briefe, mit zahlreichen anderen Texten von Verwandten und Bekannten, zwei Jahre nach dem Tod als Buch herausgab.56 Das Beispiel illustriert und unterstreicht somit auch die gewandelte kommunikative Funktion von Abschiedsbriefen. Statt lediglich eine direkte Nachricht an engste Verwandte oder an Gott zu richten, wandten Suizidenten sich nun mit Erklärungen an die Öffentlichkeit – an ein Publikum, das sie vor ihrem Tod nicht hatten.57 Die Veröffentlichung von Abschiedsbriefen steigerte den gesellschaftlichen Einfluss von Suizidenten: Sie erlangten die Möglichkeit, sich aktiv in die Debatte über Selbsttötungen einzubringen und ihren Tod öffentlich zu erklären.58 Das trug zur Ausformung des Genres bei. Der Abschiedsbrief wurde zu einem Mittel der Selbstdarstellung. Suizidenten „adoptierten Elemente der Sterbekunst und erweiterten – entsprechend ihrer Todesart und deren religiösen, juristischen sowie allgemein gesellschaft­lichen Bewertungen – den Bereich letzter Verpflichtungen“.59 Letzte Zeilen gebildeter Suizidenten enthielten Verweise auf historische Vorbilder, mischten sich in philosophische Diskurse ein und wurden teilweise sogar in andere Sprachen übersetzt.60 Zugleich hob die eigenwillige Aneignung tradierter Konventionen die Sonderstellung der suizidalen Abschiedsbriefe unter den letzten Worten im 18. Jahrhundert nicht auf. Die Rezeptionsgeschichte des letzten Briefes des Dresdner Offiziers Gottlieb Georg Ernst von Arenswald, der sich im Jahr 1781 das Leben nahm, belegt das: Sein Abschiedsbrief wurde in eine Sammlung mit Briefen zur Schulung des Briefstils von Frauen aufgenommen – allerdings als negatives Beispiel.61

V. Gescheiterte Literarizität? Für eine gewisse Tendenz zur Normierung und Literarisierung von ­ bschiedsbriefen finden sich Beispiele vornehmlich im 18. Jahrhundert. Im A Zuge der Herausbildung einer individualisierten Massengesellschaft werden Hohenhausen/Hohenhausen. transforming the genre from what was once a final and direct address to the closest of relations, or even God, to an opportunity for a parting public declaration, to claim an audience in death that the suicidal author could never command in life“. Parisot, S. 278. 58  MacDonald/Murphy, S. 336. 59  Schlinzig, S. 183. 60  Vgl. Neumeyer, Kap. VII/4. 61  Vgl. Schlinzig, S. 237–246. Vgl. zu Arenswald ausführlich: Kühnel, Kapitel 2. 56  Vgl.

57  „[…]

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wohl durchdachte, logisch und stilistisch stimmige Briefe, die eine Lebens­ bilanz ziehen und Vorkehrungen für die Nachwelt treffen, wie jene von Carl von Hohenheim, ausgesprochen rar. In der Regel klaffen literarische Suizidtexte und der suizidale Alltag weit auseinander.62 Der Publizist Roger Willemsen unterscheidet angesichts dessen in dem von ihm herausgegebenen Lesebuch mit literarischen Manifesten und echten Abschiedsbriefen zwischen der „hohen Tonlage, der Differenzierung und Detailtreue des literarischen Sprechens, und der fragmentarischen, abgewandten, quasi alogischen Sprechform selbstmörderischen Abschiednehmens“.63 Für die Suizidenten des 20. Jahrhunderts scheinen literarische Konventionen und stilistische Normen weitgehend irrelevant gewesen zu sein beim Verfassen letzter Zeilen. So hat der Schweizer Psychologe Walter Morgenthaler in einer 1945 publizierten Studie festgestellt, dass „auch sonst gute Stilisten […] in diesem letzten Augenblick wenig auf die Form achten und die Neigung haben, sich eher primitiv auszudrücken“.64 Peter Loosen, der in seiner Untersuchung von „Selbstmörderabschiedsbriefen“ ähnliches beobachtet hat, sah die Erklärung hierfür „in der ungeheuren Anspannung des Augenblicks […], die die subtilen Fragen des Stils in den Hintergrund drängt.“65 In ihrer klassischen Studie haben die Psychologen Evelyn Walker und Charles Osgood versucht, die stilistischen Mängel suizidalen Schreibens genauer zu spezifizieren. Dafür haben sie Abschiedsbriefe mit anderen Briefen der gleichen Personen verglichen. Im Unterschied zu regulären Briefen fanden sie eine höhere Stereotypie, eine größere Desorganisation des Geschriebenen, häufigere motivierende Wendungen und Ausdrücke sowie eine höhere Rate von Konflikten zwischen konkurrierenden Motiven.66 Bei den meisten Schriftstücken, die von jenen hinterlassen werden, die sich das Leben nehmen, handelt es sich zudem um Fragmente. Oft sind es verknappte, hastig auf Zettel oder Zeitungsränder gekritzelte Zeilen, oder, in jüngerer Zeit, kurze elektronische Textbotschaften.67 Insofern kommt der englische Begriff der ‚suicide note‘ der Realität möglicherweise näher als der deutsche ‚Abschiedsbrief‘, der die etwas irreführende Vorstellung eines literarischen Konventionen folgenden Briefes erweckt.

Anthologien literarischer Suizidtexte: Dietze; Strohmeyer. S. 415. 64  Morgenthaler, S. 141 f. Bei den wenigen Ausnahmen, wo Briefschreiber auf die Form achteten, sah Morgenthaler „den Ausdruck eines Mangels an Unmittelbarkeit, der bis zur Unnatürlichkeit gehen kann“. 65  Loosen, S.  27 f. 66  Osgood/Walker. 67  Vgl. Behera u. a. 62  Neuere

63  Willemsen,

Abschiedsbriefe241

Angesichts dieser Ergebnisse scheint ein Analogieschluss nahezuliegen: Könnte es nicht sein, dass sich das totale Scheitern, das jene empfinden, die sich das Leben nehmen,68 auch in der Sprache manifestiert? „Suicide is the moment when language fails“, glaubte der US-amerikanische Schriftsteller Mark Dery feststellen zu können.69 Auch Eric Parisot sieht in den Briefen „a precarious and deeply conflicted performance“.70 Andere Autoren hingegen sehen in den stilistischen Mängeln ein oberflächliches Phänomen, wenn nicht gar ein Klischee. So hat eine Studie, die echte und simulierte Abschiedsbriefe verglichen hat, eine stärkere logische Konsistenz von echten Abschiedsbriefen nachgewiesen. Zumindest war die von Außenstehenden erwartete Inkonsistenz größer als die tatsächlich in echten Abschiedszeilen nachweisbare.71 Wie Dariusz Galasinski hervorgehoben hat, müssen zudem das Fragmentarische und die Vagheit vieler Abschiedsbriefe nicht zwangsläufig als Versagen der Verfasser gedeutet werden, sondern können ebenso auch als logische Konsequenz aus der kommunikativen Situation interpretiert werden. Schließlich genügen oft Andeutungen, um Verwandten und Bekannten etwas Entscheidendes mitzuteilen, denen die Details der Vorgeschichte ohnehin länglich bekannt sind, weshalb sie nicht minutiös ausgeführt werden müssen.72 Auch hier wird noch einmal deutlich, dass eine isolierende Fixierung auf den Abschiedsbrief an sich zu Fehlschlüssen verleiten kann; stattdessen ist es „hilfreich, den Brief als Teil größerer kommunikativer Vorgänge zu denken“.73

VI. Bestimmung von Genremerkmalen Eingedenk der prinzipiellen Uneinheitlichkeit dieser Textsorte haben Forscher seit der Pionierstudie des französischen Psychiaters Brière de Boismont, der bereits im 19. Jahrhundert anhand der letzten Zeilen die Gefühle („derniers sentiments“) von Suizidenten analysiert und klassifiziert hat,74 immer wieder versucht, das Genre ‚Abschiedsbrief‘ formal genauer zu bestimmen, und haben im Zuge dessen ihr methodisches Instrumentarium verfeinert. Die Versuche, bestimmte elementare Einheiten von Abschiedsbriefen zu ermitteln, haben bisher zu keinem Konsens geführt, und können es wohl auch nicht. Amery. S. 264. 70  Parisot, S. 278. 71  Vgl. Ioannou/Debowska. 72  Vgl. Galasinski, S. 50. 73  Matthews-Schlinzig/Socha, S. 12. 74  Brière de Boismont. 68  Vgl.

69  Dery,

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In den 1960er Jahren unternahm eine phänomenologische Studie des ­ S-amerikanischen Soziologen Jerry Jacobs einen Versuch, den normativen U Horizont des Abschiedsbriefschreibens abzustecken. Wer die letzten Zeilen verfasst, macht Jacobs zufolge klar, dass er/sie sich einem unerwarteten, unlösbaren und nicht ertragbaren Problem gegenüber sieht, welches kein isoliertes Ereignis darstellt, sondern Teil einer korrespondierenden langfristigen Entwicklung ist. Weiterhin versuchen die letzten Zeilen zu zeigen, dass der Tod die einzige mögliche Lösung ist für dieses Dilemma (das durch soziale Isolation oder Versagung bzw. Unmöglichkeit medizinischer Hilfe noch verschärft wurde). Sie setzen sich mit internalisierten sozialen Normen aus­ einander, um vor allem die moralische Verurteilung (unter gleichzeitiger Bewahrung eines konsistenten Selbstbildes) zu überwinden, und verweisen auf äußere Faktoren, welche das Verhängnis quasi determiniert haben. Schließlich werden zumeist noch Ratschläge gegeben, was die Adressaten in Zukunft besser machen könnten.75 Dieser skizzierte normative Rahmen stellt jedoch lediglich ein Set möglicher Komponenten dar, die keineswegs alle vorkommen. In Jacobs Sample von 112 Abschiedsbriefen entsprach weniger als ein Drittel (35) dieser Norm, und selbst diese waren nicht alle vollständig. Eine neuere Studie zweier US-amerikanischer Linguisten gelangte mit verfeinerter Methodik zu ähnlichen Ergebnissen. Betty Samraj und Jean Mark Gawron haben mit Hilfe einer Strukturanalyse vier häufig auftretende Kernaussagen („core moves“) identifiziert, und zwar: Erklärung, Verabschiedung, Anweisungen für die Zeit nach dem Tod, und Entschuldigungen. Die Linguisten konnten mindestens eine dieser Kernaussagen pro Abschiedsbrief nachweisen. Der Umstand, dass selbst diese vier Motive nicht notwendig zusammen in einem Abschiedsbrief auftreten, unterstreicht den nonkonformen und fragmentarischen Charakter der letzten Zeilen. Was diese und andere Studien somit vor allem zeigen, ist, dass die Struktur des ‚Genres‘ suizidaler Abschiedsbrief nur schwach determiniert ist. Es gibt ein limitiertes Set von Zielen, die den letzten kommunikativen Akt motivieren; hinsichtlich der Auswahl, der Kombination und der Reihenfolge besteht große Varianz. Zwar konnten Linguisten auch gewisse thematische Cluster nachweisen, etwa dass Wünsche für die Zukunft oft mit Liebes- und Dankbezeugungen verbunden sind. Andere Befunde allerdings wie etwa, dass viele Texte widersprüchlich sind und keine klar identifizierbare lineare Ordnung aufweisen, stützen eher die Annahme einer ‚gescheiterten Literarizität‘. Der Abschiedsbrief ist also eher ein performativer Akt in einem begrenzten Möglichkeitsraum als eine klar definierte, homogene Textsorte. Das kor75  Vgl.

Jacobs.

Abschiedsbriefe243

reliert mit Schlinzigs scharfsinniger Beobachtung, „dass sich in Selbstzeugnissen von Suizidenten häufig verschiedene Textinhalte bzw. -formen mischen: allen voran Beichte (bzw. Legitimationsschrift), Tagebuch, Essay, Testament und Privatbrief“.76 Ob Verfasser von Abschiedszeilen diese oder jene Elemente der verschiedenen Textsorten aufgreifen, hängt davon ab, was sie in den Minuten vor dem Tod mitteilen können und wollen. Was die Form von Abschiedsbriefen somit vor allem konstituiert, ist weniger eine rhetorische Norm als vielmehr ihre kommunikative Funktion. Anders gesagt: Nicht Konvention, sondern die konkrete Handlungsmotivation. Insbesondere die jeweilige diskursive Strategie des Suizidenten bedingt eine gewisse Struktur. Eine neuere soziologische Untersuchung von Abschiedsbriefen von politisch motivierten Suizidenten unterstreicht das eindrucksvoll. Obwohl die in der Studie von Lorenz Graitl analysierten letzten Botschaften aus unterschiedlichen historischen Kontexten stammen und die Abschiedsbriefschreiber oft nichts voneinander wussten, zeichnen sich die Texte „durch die Verwendung ähnlicher Motive und einen ähnlichen Sprachgebrauch aus“. Das weltweit zu beobachtende Vorkommen von ähnlichen Mustern lässt sich nur dadurch erklären, dass die Suizidenten trotz verschiedener politischer Ziele ähnliche Kommunikationsprobleme zu bewältigen hatten. Insbesondere die Herausforderung, den selbstgewählten Tod im Gegensatz zum destruktiven „Selbstmord“ als eine sinnvolle, legitime und positive Handlung darzustellen, führte, so Graitl, zu sprachlichen Ähnlichkeiten.77

VII. Diskursive Strategien „Jede Zeit kultiviert ihr Interesse am Selbstmord neu“, hat Roger Willemsen lapidar formuliert, und dementsprechend fallen auch die Problemlagen und Fragestellungen der Geschichtswissenschaft verschieden aus.78 So berührte der Skandal des Selbstmords im 18. Jahrhundert ganz andere gesellschaftliche Bereiche und war in anderen Debatten relevant als etwa im 20. Jahrhundert. Hinsichtlich des Suizidgeschehens in der Frühen Neuzeit liegt der Schwerpunkt auf der Analyse der Wahrnehmung von Selbsttötungen als Herausforderung philosophischer, theologischer und strafrechtlicher Diskurse.79 So verortet beispielsweise Harald Neumeyer die letzten Zeilen pri76  Schlinzig,

S. 195. S. 231. 78  Willemsen, S. 386. 79  Dass die Diskursanalyse oft ohne Alternative ist, darauf verweist Susan Morrissey, die den Umgang mit Selbsttötungen im zaristischen Russland erforscht hat. An den Anfang ihrer Untersuchungen stellt sie die Beobachtung: „[…] notes are often replete with awkward turns of phrase, hackneyed images, bad poetry, and detailed 77  Graitl,

244

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mär im Spannungsfeld der normativen Vorgaben des 18. Jahrhunderts und stellt sie als Rechtfertigungsversuche dar, die darum bemüht sind, die Selbsttötung als kompatibel zu jenen Ordnungen erscheinen zu lassen, „die sie als Vergehen und Zuwiderhandlungen disqualifizieren – der vernünftigen und moralischen, der sozialen und politischen, der anthropologischen und der göttlichen Ordnung.“80 Eine solche strukturalistische Vorgehensweise wird jedoch der chaotischen Empirie der Einzelfälle nicht immer gerecht,81 auch deshalb, weil solche Versuche, von einem bestimmten ‚Sehepunkt‘ aus Korrelationen zwischen den Inhalten der Briefe und normativen Wissensordnungen sowie fiktionalen Suizidtexten herzustellen, zumeist auf einem selektiven Zugriff auf das empirische Material beruhen.82 Im 20. Jahrhundert wurden Selbsttötungen, nachdem sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Statistik als zunehmend verlässliche Mess-Instanz eta­ bliert hatte, oft als massenhaftes Phänomen wahrgenommen und im Nachhall von Émile Durkheims Gesellschaftstheorie des Suizids als symptomatisch für soziale Krisenerscheinungen angesehen.83 Im Kontext der Neuesten und Zeitgeschichte wurden daher vor allem jene Abschiedsbriefe interessant, die das suizidale Einzelschicksal mit kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Problemen der jeweiligen Zeit in Verbindung bringen. Die vermeintlich durch den Tod beglaubigte Autorität der letzten, im Grenzbereich zwischen Leben und Tod geschriebenen Zeilen kann allerdings dazu verleiten, die Selbsttötung aus dem individuellen Erfahrungshorizont zu lösen und sie quasi deterministisch mit der historischen Situation kurzzuschließen.84 Abschiedsbriefe, die gesellschaftliche Institutionen oder politische Entwicklungen für die Selbsttötung verantwortlich machen, können zu Fehldeutungen verleiten, ebenso wie die Rezeption dieser Briefe im Rahmen stereotyper zivilisationskritischer Deutungsmuster. directions on quite mundane issues, such as the disposal of personal belongings.“ Dadurch sei die Möglichkeit historischer Erkenntnis ernsthaft eingeschränkt: „To seek a sublime meaning or a credible cause in the suicide note leads, almost inevitably, to disappointment.“ Morrissey, S. 149. Morrissey abstrahiert angesichts dessen vom Einzelfall und arbeitet kulturell bedingte Suizidmotive und deren Rezeption heraus – die Abschiedszeilen adliger Männer im zaristischen Russland berührten vor allem die Themen Ehre und Lebensüberdruss. 80  Vgl. Neumeyer, Kap. VII, zit. S. 375. 81  Dass keineswegs alle Abschiedszeilen eine Selbstrechtfertigung anstrebten, macht Andreas Bährs Analyse der Semantik der Selbsttötung im 18. Jahrhundert deutlich. Vgl. Bähr. 82  So sieht Florian Kühnel Bährs These der Selbsttötung aus Schuldgefühl durch die aggressive Komponente in mehreren Abschiedszeilen seines Samples suizidaler Adliger widerlegt. Vgl. Kühnel, S. 313. 83  Vgl. Durkheim. 84  Vgl. die Beispiele der beiden jungen Frauen in: Schlinzig, S.  200 f.

Abschiedsbriefe245

Oft zeigt eine genauere Analyse unter Zuhilfenahme ergänzender Quellen, dass bei Korrelationen von Selbsttötung und sozialen Krisenerscheinungen Vorsicht angebracht ist. Angesichts neuerer Erkenntnisse der medizinischen Suizidforschung, wonach Defizite in der frühkindlichen Entwicklung die Wahrscheinlichkeit einer Selbsttötung in einer Krisensituation signifikant beeinflussen, ist es keineswegs unwahrscheinlich, dass viele Suizidenten, die ihre Verzweiflungstat mit gesellschaftlichen Krisenerscheinungen verknüpfen, sich ohnehin „in einer suizidalen Situation befanden und die politische Konjunktur nutzten, um ihrer Geste eine altruistische und glorreiche Bedeutung zu verleihen.“ Baechler zufolge projizieren sie „ihr ganz persönliches Drama auf eine dramatische politische Situation“ und schreiben „ein Stück aus ihrem Innenleben in ein öffentliches Stück“ um.85 Solche Versuche, sich in Krisendiskurse einzuschreiben, können vor allem dann in die Irre führen, wenn die darin beschworene Figur des In-den-Tod-getrieben-Seins unkritisch für bare Münze genommen wird, um etwa den menschenverachtenden Charakter der kapitalistischen Ausbeutung oder einer kommunistischen Diktatur zu belegen.86 In Abschiedsbriefen beschworene Bedrohungsszenarien lassen nicht ohne weiteres Rückschlüsse auf den Zustand des Gemeinwesens zu, zumal die Höhe der Selbsttötungsrate nur bedingt durch historische Ereignisse und eher selten durch politische Strukturen beeinflusst wird. Allerdings gibt es durchaus historischen Phasen extremer sozialer Anomie (wie die Weltwirtschaftskrise 1929–1932) bzw. Zeiten existenzieller Bedrohung (wie die Judendeportation im ‚Dritten Reich‘), zu denen Menschen durch historische Not- bzw. Zwangslagen zu Selbsttötungen gedrängt werden. Auch so genannte Selbstmordepidemien, bei denen religiöse oder ideologische Prägungen eine Rolle spielen, zählen hierzu. In diesen Extremsituationen erweitert sich, wie Baechler treffend bemerkt hat, der Kreis derer, die sich das Leben nehmen, um eine signifikante Zahl von Menschen, die von ihrer Persönlichkeitsstruktur her kaum zum Suizid prädisponiert sind. Der Rückgriff auf Abschiedsbriefe ermöglicht in solchen Kontexten, über die bloße Illustration des Leidens der Opfer hinaus, ein genaueres Verständnis der individuellen Wahrnehmung. Ursula Baumann und Christian Goeschel beispielsweise haben authentische Briefe von Deutschen jüdischer ­Abstammung zitiert, die sich das Leben nahmen, um der Deportation in die NS-Vernichtungslager zu entgehen. Darin wurde unter anderem erkennbar, 85  Baechler,

S. 124. Neubert; als Beispiele für DDR-Propaganda: 24 Selbstmorde an jedem Tag, in: Junge Welt vom 2.10.1958, S. 1; Selbstmord durch Not, in: Junge Welt vom 18.12.1958, S. 2; Sorge um Arbeitsplatz trieb Frau in den Tod, in: Berliner Zeitung vom 28./29.1.1978, S. 5; Friedrich. 86  Vgl.

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dass manche Abschiedszeilen auf affirmativ-anklagende Weise eine patriotische Haltung vertraten.87 Solche Paradoxien erinnern daran, dass Selbsttötungen, selbst wenn sie, wie im Fall der deutschen Juden, erzwungen werden, oder auch dann, wenn Schmerz, Depression und Wahn eine wichtige Rolle spielen, primär menschliche Handlungen sind. Abschiedsbriefe können als individuelle Selbstzeugnisse dazu beitragen, Situation und Motivation besser zu verstehen, wenn sie – wie idealiter jede historische Quelle – in ihren möglichst genau rekonstruierten Entstehungskontext zurückversetzt werden. Das Fragmentarische der meisten Abschiedsbriefe stellt eine Herausforderung an die Imagination des Historikers dar. Oft liegt der Schlüssel zum Verständnis weniger in dem, was in den Briefen steht, sondern in dem, was nicht gesagt wird. Am Ende sei daher noch einmal daran erinnert, was die meisten Selbsttötungen hinterlassen: Schweigen, das wehtut.

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Briefeschreiben in Extremsituationen: Feldpost im Zeitalter der Weltkriege Von Jens Ebert Der Erste Weltkrieg trug maßgeblich dazu bei, dass sich die schriftliche Kommunikation in Deutschland bei breiten Bevölkerungsschichten durchsetzte. Trotzdem war Briefeschreiben für viele Deutsche damals eine Ex­ tremsituation. Lesen und schreiben zu können war nämlich am Anfang des 20. Jahrhunderts noch keine Selbstverständlichkeit. Das Deutsche Reich war erst um 1910 als eines der ersten Länder der Welt vollständig alphabetisiert. Das Habsburger Vielvölkerreich erreichte diesen Stand zum gleichen Zeitpunkt nur in seinen entwickelteren Regionen. Dass die Rechtschreibung erst ab 1901 schrittweise vereinheitlicht wurde, erleichterte zudem nicht unbedingt den Erwerb von Schreibkompetenz und schlug sich noch lange in zum Teil abenteuerlichen Schreibweisen nieder. Doch auch in der Feldpost des Zweiten Weltkrieges finden sich noch zahlreiche Beispiele dafür, wie schwer es Soldaten fiel, verständlich und sprachlich korrekt ihre Situation zu formulieren. Die Masse der Bevölkerung hatte also nur wenig Erfahrung mit dem Verfassen von Briefen, eher schon mit dem Versenden von Postkarten, besonders nach Einführung der Bildpostkarte 1885. Schlagartig wurden 1914 in Europa Millionen Männer aus ihrem sozialen Umfeld gerissen. Väter, Söhne, Brüder, Arbeitskollegen wollten und mussten nun erstmals schriftlich mit ihren Ehefrauen, Müttern, Schwestern und Verwandten sowie mit Freunden und Bekannten Kontakt halten. Es war der Erste Weltkrieg, der Brief und Postkarte als Mittel der Massenkommunikation durchsetzte und damit „nebenbei“ bei den Volksmassen Erwerb und Schulung von Kompetenzen beim Schreiben und Lesen maßgeblich beförderte. Und nun galt es auch noch, die neue Erfahrung Krieg, der letzte deutsche Waffengang lag immerhin schon mehr als 40 Jahre zurück, mit Hilfe dieses eher ungewohnten Mittels – Brief – zu kommunizieren.1 In Zeitungen und Zeitschriften erschienen bereits im August 1914 erste Feldpostbriefe. Sie bezogen ihre Faszination aus der Tatsache, dass sie am Schnittpunkt zwischen privatem Erleben und historischer Aura stehen. Diese 1  Vgl.

Ebert (2014).

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Briefe waren oft recht lang und erzählten präzise und geordnet von den Front­ erfahrungen. Das lässt vermuten, dass sie bereits im Hinblick auf eine Veröffentlichung verfasst wurden oder gar „Auftragswerke“ der Redaktionen darstellen. Sie stammten zumeist von gebildeteren Bürgern, wie Diktion und Stil verraten. Als besonders wirkungsvoll für die Propaganda galten Studenten. Sie waren gebildet, konnten also wirkungsvolle Texte verfassen und waren jung, was ihnen einen hohen Sympathiewert zuschrieb. Gerade bei Studenten ist dann auch zu vermuten, dass die „Hoffnung, die Briefe veröffentlicht zu sehen, […] auch eine Rolle auf der stilistischen Ebene“ spielte.2 Fast alle Briefe waren zudem ohne Zweifel in den Redaktionen bearbeitet worden. Ansonsten hätte sich ein durchweg literarisch anmutendes Niveau der Texte nicht garantieren lassen. Bevor also die Masse der Kriegsteilnehmer selbst Zeit und Muße fand, Briefe über das Leben in der Kaserne, der Etappe oder an der Front nach Hause zu schreiben, waren ihnen gleichsam modellhaft typische Erlebnisse und deren Ausformulierungen bekannt. Diese wurden nicht selten nachgeahmt und kopiert. Hinter dem „Heldentum“ in den Zeitungen wollte zunächst niemand zurückstehen. Es schmeichelte zudem dem eigenen Ego, sich als „ganzer Kerl“ zu fühlen und zu präsentieren. Als aber vielen Frontsoldaten klar wurde, dass die eigenen durchaus konträren Erfahrungen keine vereinzelten, abseitigen waren, sondern massenhaft gemacht wurden, verlor das offizielle Bild sukzessive, so zeigen die überlieferten Briefe, seine normierende Wirkung. Ab Ende 1915 schwand das Pathos langsam aus den Briefen. „ ‚Nun danket alle Gott‘, sangen die begeisterten Massen vor dem Berliner Schloß, als Wilhelm II. die Mobilmachung verkündete.“ So oder so ähnlich prägten die zeitgenössischen Zeitungsberichte das Bild eines kriegsbereiten und kriegsbegeisterten Volkes. Generationen bis in die Gegenwart waren diesem Propagandabild unkritisch aufgesessen. Die in Archiven gesammelten Feldpostbriefe stützen die Annahme eines umfassenden „Augusterlebnisses“ bis auf wenige Ausnahmen nicht. Sie zeigen vielmehr, dass es mit der Kriegsbegeisterung außerhalb des Berliner Regierungsviertels wohl nicht weit her war. In der Masse der Briefe ist zwar eine Erregung zu spüren, jedoch kaum Euphorie und wenn, ist sie eher eine Übernahme der allgegenwärtigen Propaganda. Es mischen sich Ängste und Sorgen, Spannung aufgrund einer ungewissen Zukunft, Glaube an einen kurzen Verteidigungskrieg und mitunter vaterländische Überlegenheitsphantasien. In patriarchalisch geprägten Gesellschaften sind es selbstverständlich die Männer, die als „Vaterlandsverteidiger“ eher der Propaganda erliegen. Trotzdem zogen sie mit bangen Gefühlen ins Unbekannte. Die zurückbleibenden Frauen scheinen sensibler auf kommende Gefahren reagiert zu haben. Bei ihnen verbanden 2  Daviet-Vincent,

S. 133.



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sich die privaten Besorgnisse mit allgemeinen Befürchtungen. Frauen bekamen die Auswirkungen der Mobilmachung nach dem Abmarsch ihrer Männer ohnehin schneller zu spüren und reflektierten „die neue Zeit“ pragmatischer. Sie waren von einem Tag auf den anderen auf sich allein gestellt – und wussten auch oder ahnten es, was das bedeutete. Sie teilten dies auch ihren Männern mit, stießen aber auf wenig Verständnis. Generell schien es fast unmöglich, dem jeweiligen Partner die veränderte Lebenssituation an der Front und in der Heimat adäquat näherzubringen. Missverständnisse türmten sich auf, die nicht einmal in der kurzen Zeit des Fronturlaubs ausgeräumt werden konnten. „Vaterlandsliebe“ war in jener Zeit „Opium“ für die Volksmassen. Sie machte kurzzeitig die katastrophalen Auswirkungen des Kriegsausbruchs auf das Leben jedes Einzelnen vergessen und überdeckte Ängste und Befürchtungen. Über Kriegsursachen wurde kaum nachgedacht, vor allem nicht schriftlich in den Feldpostbriefen. Man glaubte blindlings der nationalen Propaganda und den Verlautbarungen des Kaisers. Eine deutliche Ausnahme – ebenso deutlich eine Minderheit – bildeten hier die sozialdemokratisch und sozialistisch orientierten Soldaten und ihre Angehörigen, die ihr gesellschaftliches Wissen im Umfeld der zum Teil marxistisch geprägten Arbeiterbildungsvereine erworben hatten. In ihren Briefen ist stets ein Blick präsent, der über Alltagsfragen hinausgeht, ein Blick, der tagespolitische und gesellschaftliche Dimensionen einschließt Untrennbar verbunden mit dem patriotischen „Erlebnis“ war das religiöse. In vielen Briefen, die damals veröffentlich wurden, verbanden sich Patriotismus und Religiosität. Dies gilt für alle Religionen. Zwischen Katholiken, Protestanten und Juden ist hier in den öffentlichen Bekundungen kein Unterschied feststellbar. In Kirchenarchiven liegen heute vor allem Briefe aus der christlichen Studentenschaft als spezielle Quelle vor. Diese Verfasser konnten mit Sprache umgehen und es ist kein Zufall, dass gerade sie Gewissensprobleme zu Beginn des Krieges thematisierten. Schnell allerdings erfolgte dann auch bei den christlichen Studenten eine Anpassung an die Kriegsideologie, nicht selten mit dem entschuldigenden Verweis auf die „Hinterhältigkeiten“ des Gegners. Sie können daher kaum als Beispiele dafür dienen, dass man durch Extremsituation „geläutert“ werde, wie es die idealisierende Kriegsphilosophie konservativ-christlicher Kreise behauptete. In Briefen außerhalb der Kirchenarchive findet sich so etwas kaum. Zwar taucht in den Texten Gott sehr häufig auf, aber in der Regel nicht wirklich als inhaltlicher Gottesbezug, sondern als ritualisierte Formulierung. Der Bezug auf Gott scheint während des Ersten Weltkrieges unter dem Eindruck der persönlichen Erfahrungen abzunehmen. Kein Widerspruch dazu ist, dass er in Extremsituationen wieder massiv aufschien.

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Die Briefe im Zweiten Weltkrieg zeugen dann bereits von einer deutlich säkularisierteren Gesellschaft. Der Gottesbezug wird hier zudem teilweise durch die NS-Ideologie ersetzt. Briefe und Karten sind nicht selten in schablonenhafter, konventioneller Sprache geschrieben. Es fehlt ein individueller Zug. In Ermangelung umfangreicher eigener Schreiberfahrungen griffen die Verfasser auf Schlagwörter und Standardformulierungen zum Beispiel aus Zeitungsberichten zurück. In der Heimat gab es schnell Hilfsangebote für jene, die Schwierigkeiten beim Schreiben von Briefen hatten. Ihnen standen staatliche oder von Ver­ einen organisierte Einrichtungen zur Seite. Eine ähnliche Funktion für die Frontsoldaten erfüllten die Soldatenheime.3 Wenige Schreiber nur waren in der Lage, in ihren Briefen eine Sprache zu finden, die das enge emotionale Verhältnis zu den Daheimgebliebenen adäquat weiterführen konnte. Gefühle nach außen zu zeigen, sie gar noch schriftlich zu formulieren, war für die meisten Menschen Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts mehr als ungewohnt. Und so nimmt es nicht Wunder, wenn in den Briefen die Rollenklischees und traditionellen Familienverhältnisse reproduziert wurden: Die Frauen kümmerten sich rührend um ihre Männer, waren verängstigt. Die Männer waren tapfer und bemüht, ihre Rolle als Familienoberhaupt und Autorität weiter zu leben. Tiefe Einblicke in das Seelenleben bekommt man in den Feldpostbriefen nicht. Eine Ausnahme bilden da wiederum Briefe aus sozialdemokratisch geprägten Milieus.4 Zum einen dokumentieren sie eine neue Art von Verhältnis zwischen Frau und Mann, das deutlich mehr von Partnerschaft geprägt ist, als bei bürgerlichen oder eher kleinbürgerlichen Familien. Viele der Briefe sind in einem herzlichen, liebevollen und verbindlichen Ton verfasst, wie er in jener Zeit selten war.5 Auffällig ist, dass die Erzählung von Tod und Sterben im Ersten Weltkrieg noch nicht so kulturell tabuisiert war, wie im Zweiten. Der Tod war noch kein nur privates Ereignis. Für die kurz vor der Jahrhundertwende geborene Generation, die zudem weitaus ländlicher als städtischer geprägt war, war er noch vertrauter, noch mehr im Alltag verhaftet. Es wurde durchaus häufig von Toten geschrieben. Sie waren nach Gefechten und Scharmützeln immer anwesend und auch räumlich nicht von der Sphäre der Lebenden getrennt. Es wurden präzise Angaben von der Anzahl der Gefallenen mitgeteilt. Obwohl es Angehörige der eigenen Kompanie waren, blieben die Toten aber fast immer anonym. Nur bei Toten aus dem engeren sozialen Umfeld wurden Humburg. Bespiel sind die Briefe der Familie Pöhland. Vgl. Kachulle. 5  Stiftung für Sozialgeschichte, Universität Bremen (SfS), Bestand Pöhland. 3  Vgl. 4  Ein



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Namen genannt. Bei den nach Gefechten massenhaft umherliegenden Toten handelte es sich in den Beschreibungen in der Regel um die Angehörigen feindlicher Armeen. Die Berge eigener Toter wurden ausgeblendet. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Tod in der Regel nur dann mitgeteilt, wenn der Gefallene in irgendeinem engeren Verhältnis zum Briefschreiber stand. Hier war dann stets emotionale Betroffenheit spürbar. Der Tod war hier auch mehr tabuisiert, beziehungsweise verdrängt. Da es kaum Stellungskrieg gab und der Tod durch neue Waffen auch räumlich entfernter war, konnte man den Toten real und in den Briefen aus dem Weg gehen. Es starben, so scheint es, meist nur die anderen. Mehr als nur die Nennung der Toten findet sich bei besonders grausamen Todesarten oder wenn man den Tod unmittelbar miterlebte. Hier gibt es Beschreibungen – häufiger im Ersten als im Zweiten Weltkrieg, die in ihrer Präzision oft abschreckend sind. Selten ist den Briefen der Prozess der ­Abstumpfung so deutlich greifbar wie bei den Beschreibungen vom Tod. Sie nahmen im Laufe des Krieges immer mehr ab. Während von Toten und vom Tod zumindest in den ersten beiden Kriegsjahren regelmäßig die Rede war, kamen später das Sterben und der Tod, mittlerweile sind beides Alltagserfahrungen, deutlich seltener vor. Viele Soldaten, ständig in ähnlicher Lebensgefahr wie die gefallenen Kameraden ihrer Berichte, wollten den Tod nicht zu nah an sich herangekommen lassen und vermieden solche Erzählungen. Seltener als das Sterben, nämlich fast überhaupt nie, wurde das Töten thematisiert. Noch waren die moralischen und ethischen Schleusen nicht geöffnet, wie im Zweiten Weltkrieg, wo man, wie die NS-Propaganda trommelte, gegen „Untermenschen“ und „Ungeziefer“ kämpfte. Noch sah man im Gegner auch den Menschen, manchmal gar den Nachbarn. Und noch spielte das Fünfte Gebot im moralischen Bewusstsein eine Rolle. Bei der Beschreibung von Tötungssituationen wurde immer eine gewisse Distanz bewahrt, nicht selten durch einen Ton technischer Beschreibung. Wenn im Zweiten Weltkrieg offen vom Töten berichtet wurde, handelte sich es fast ausnahmslos um fanatische Anhänger des Nationalsozialismus. Das Sterben und Leiden in den Lazaretten hingegen wurde oft sehr eindringlich beschrieben. Der Tod ereilte die Soldaten eben nicht nur auf dem „Feld der Ehre“, sondern sie starben, nicht selten äußerst qualvoll, an Infektionen und Wundbrand, an Influenza, Magen-Darm-Erkrankungen oder Typhus. Von den ca. 2 Millionen toten deutschen Soldaten an der Front starben im Ersten Weltkrieg fast 400.000 an Verwundungen und Krankheiten. Gestorben wurde, ursächlich durch den Krieg bedingt, auch an der „Heimatfront“. Die schlechte und bisweilen katastrophale Versorgungslage, davon sprechen sehr eindringlich die Briefe aus der Heimat, forderte im Ersten Weltkrieg schätzungsweise 800.000 Hungertote in Deutschland und damit

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mehr Opfer als die Bombardierungen deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg. Den ständigen Gefahren, Todesfällen bei Kameraden, den Qualen nach Verwundungen oder dem Anblick verwüsteter Landschaften und zerstörter Natur waren viele Soldaten psychisch nicht gewachsen. Heute würden viele Briefpassagen bei Psychologen sofort Besorgnisse wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung auslösen. Die Ereignisse des Ersten Weltkrieges wurden in den Briefen nur selektiv und oftmals – bewusst oder unbewusst – gefärbt beschrieben. Dies trifft in noch erheblicherem Maße auf den Zweiten Weltkrieg zu. Auch hier wurde die Kriegswirklichkeit nur fragmentarisch vermittelt. Obwohl die Quellenbasis hier bedeutend breiter ist als zum Ersten Weltkrieg, dominieren die immer gleichen Themen wie Post, Wetter, respektive Kälte, Essen re­spektive Hunger und Läuse sowie persönliche Probleme aus dem Familien- und Freundeskreis. Über militärische Kämpfe wurde nur sehr selten und zurückhaltend berichtet. Die uns heute bekannten maßlosen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, an denen der Großteil der Soldaten mittelbar oder unmittelbar beteiligt war, tauchten in den Berichten fast nie auf. Selbst wenn kurz vor oder während des Aufenthalts Verbrechen von deutscher Seite verübt wurden, gibt es in den Briefen meist nicht einmal Andeutungen dazu. Erklärt wird das Verschweigen von bestimmten Themen häufig mit Zensur und Selbstzensur. Doch die Zensur spielte am Anfang des Ersten Weltkrieges nur eine marginale Rolle. Das Briefgeheimnis galt im Deutschen Reich auch nach 1914 offiziell uneingeschränkt weiter. Anders interessanterweise als in Österreich-Ungarn, wo es bereits Tage vor Kriegsausbruch ausgesetzt wurde. Einer Überwachung unterlag im Deutschen Reich ohnehin nur die Post von der Front und auch dies, da keine Regelungen vorhanden waren, nicht gleich mit Kriegsausbruch. Es gab ungefähr 600 Postsperren im Verlauf des Krieges, während derer keine Briefe oder nur offene Schreiben versandt werden durften. Diese Postsperren, nicht selten reine Schikane, wurden auch zur Disziplinierung und Kontrolle genutzt. Damit lernten die Soldaten umzugehen. Die Zensur wurde in beiden Weltkriegen sehr häufig umgangen, indem man Briefe Urlaubern mitgab. Systematisch geregelt und damit der Willkür unmittelbarer und niederer Vorgesetzter entzogen, wurde die Zensur der deutschen Feldpost erst im April 1916. In den Briefen finden sich immer wieder und zu allen Zeiten grobe Verstöße gegen die Geheimhaltungsvorschriften und deutliche Berichte über Missstände. Über mögliche Bestrafungen wegen Verstößen gegen die Zensur ist kaum etwas bekannt. Das war sicher ein Grund dafür, dass die Angst vor der Feldpostzensur im Laufe des Krieges deutlich abnahm.



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Anders im Zweiten Weltkrieg. Das Briefgeheimnis war von den NSMachthabern bereits nach dem Reichstagsbrand aufgehoben worden, die Überwachung der Feldpost also nichts Neues für die Soldaten und ihre Familien. Es gab Verurteilungen wegen defätistischer Äußerungen und mangelnder Geheimhaltung. Doch dies waren angesichts des Postaufkommens (Erster Weltkrieg ca. 29 Mrd. und Zweiter Weltkrieg ca. 41 Mrd. Postsendungen) nur Einzelfälle. Eine umfassende Zensur war unmöglich, Die Zensur wirkte hauptsächlich durch Abschreckung und Angst. Bedeutsamer waren wohl die vielfältigen Gründe für Selbstzensur. Vieles wurde ausgelassen oder umgedeutet, um Angehörige und Freunde nicht zu belasten. Wichtig war dabei der Adressatenbezug: Was man der Mutter verschwieg, konnte man manchmal dem Bruder oder Schulfreund mitteilen. Vieles wurde bewusst, aber noch mehr sicher unbewusst verdrängt. Vieles wollten sich die Soldaten selbst nicht klar machen und scheuten deshalb, es aufzuschreiben. Vieles stand zwischen den Zeilen. Auch Formen der Selbstinszenierung spielten hinein. Das allerdings ist kein Spezifikum des Schreibens im Krieg Bis heute gibt es keine Geschichte der Feldpost im Zweiten Weltkrieg. Das Thema ist wegen der Vielzahl der Aspekte, Frontabschnitte, kriegsführenden Länder, ideologischer Prämissen usw. nur schwer überschaubar. Ich beschränke mich daher hier auf ein Ereignis, das die NS-Volksgemeinschaft quasi en miniature abbildete: Die 6. Armee in Stalingrad.6 Die Bedeutung der Einkesselung schien von den Wehrmachtssoldaten nicht gleich in ihrer ganzen Tragweite erfasst worden zu sein. Anders als in der Heimat war sie zwar auch den einfachen Soldaten bekannt, aber dass eine ganze Armee dem Untergang preisgegeben werden könnte, lag außerhalb jeglichen Vorstellungsvermögens. Der Unbesiegbarkeitsmythos, mit dem die Wehrmacht durch die NS-Propaganda umgeben wurde und der sich in Polen und Frankreich scheinbar bestätigt hatte, war von den Soldaten zum größten Teil verinnerlicht worden und manifestierte sich in Allmachtsphantasien. Sie vertrauten auf den „Führer“, ohne dass dies ein besonderer Beweis für eine nationalsozialistische Gesinnung war. Man hielt sich, nicht zuletzt aus Mangel an Alternativen, an die ausgegebene Parole „der Führer haut euch raus“, die in ihrer Burschikosität die Stimmungslage der Truppe traf. Die Briefe unterscheiden sich inhaltlich kaum von denen aus anderen östlichen Frontabschnitten. Überwiegend wurde über Alltagsprobleme geschrieben. Die Klage über den strengen Winter und die große Kälte war ein Stereotyp aller Briefe von der Ostfront. Die Betonung, man sei gesund, findet sich noch selten. Gute Gesundheit wurde als Normalzustand vorausgesetzt. Die 6  Vgl.

Ebert (2003).

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Soldaten waren mit „Alltagssorgen“ belastet. Man baute an Unterkünften und Bunkern für den kommenden Winter, was in der unwirtlichen Steppe nicht so einfach war. Teilweise schwang Pfadfinder-Romantik mit, wenn über die zusammengesuchte Einrichtung der Behausungen geschrieben wurde, über die „Gemütlichkeit“, die sie boten. Wichtigster Einschnitt nach der sowjetischen Einkesselung war die Tatsache, dass die mit viel Mühe errichteten Unterkünfte wegen eines raschen Rückzugs verlassen und wieder von vorn mit den Bauarbeiten unter noch schlechteren Bedingungen begonnen werden musste. Die Versorgung war karg, aber doch noch ausreichend. Die Post funktionierte noch halbwegs. Unterschwellig kamen beklemmende Gefühle auf. Die „Russen“ waren als Gegner doch weit mehr gefürchtet als Franzosen oder Polen. Ein bedeutend differenzierteres Bild zeichnen die Briefe ab Mitte Dezember. Trotz der mittlerweile extremen Belastungen durch Hunger und Kälte riss man sich zusammen, hielt „einfach“ aus. Die Darstellungen von sich und den Verhältnissen wurden von Wunschbildern durchzogen, in einer Mischung von Selbstschutz und Beruhigung der Familie. Nicht selten auch das Bemühen, sich im entworfenen Selbstbild zwar nicht unbedingt als „Held“, aber doch als „ganzer Kerl“ zu beschreiben. Die Soldaten befanden sich in Verhältnissen, die durchzustehen und zu überleben sich in der Heimat (noch) keiner vorstellen konnte, ja, die sie sich selbst noch vor Monaten nicht hätten vorstellen können. Die Strapazen wurden leichter ertragen, da die Soldaten der Auffassung waren, beziehungsweise da ihnen diese Auffassung angedient wurde, sie sei der Preis für ein besseres und sicheres Leben der Familie in Deutschland. Es tröstete das Gefühl der Selbstlosigkeit, des als sinnvoll angenommenen Leidens für andere. Allenthalben präsent war die vielfach geradezu beschworene Hoffnung auf baldige Besserung der Lage, was ja indirekt andeutete, wie genau man sich am Rande des Unterganges wusste. Persönliches Glück wurde darin gesehen, nach dem Krieg dort wieder anknüpfen zu können, wo das zivile Leben bei Kriegsbeginn unterbrochen worden war. Die gegenwärtigen Leiden wurden durchaus als Preis auch solchen Glücks verstanden. Nicht selten wurde ein Anspruch auf „Wiedergutmachung“ für die durchgestandenen Strapazen geltend gemacht. Man glaubte, ein Recht zu haben, die im Kessel vermissten Annehmlichkeiten des Lebens im baldigen Urlaub ausgiebig nachholen zu können. Im Gegensatz zu denen, die nach dem siegreichen Abschluss der Kämpfe aus dem Vollen schöpfen wollten, gab es auch Stimmen, die sich von früherer Exzessivität, Oberflächlichkeit und Gedankenlosigkeit lossagten und sich dabei christlicher Werte erinnerten. Der Notsituation wurde mitunter sogar eine positive Seite abgewonnen: Man würde endlich wieder einmal gezwungen, über den Sinn des Lebens nachzudenken. Die Situation im Kessel führe nach jahrelangem Wohlleben zu neuer Bescheidenheit, zur Reduzierung des Lebens auf „wirkliche“ Be-



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dürfnisse. Der Hunger veranlasse zur Besinnung auf alte, zur Neubestimmung „wahrer“ Werte; erst jetzt schätze man wieder die Bedeutung des einfachen Brotes. Doch ob nun Vorfreude auf künftigen Genuss oder das Ge­ loben eines späteren besonneneren Lebens – einig waren sich die meisten Briefeschreiber in der Annahme, dass das Leben auch nach der Schlacht wieder unbeschadet in den alten Bahnen verlaufen würde. Der Kessel wurde als Bewährungszeit verstanden, anschließend werde man umso bewusster leben. Oder in den Worten eines zeitgenössischen Schlagers, der immer wieder gebetsmühlenartig zitiert wurde: „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, nach jedem Dezember folgt wieder ein Mai.“ Zu Weihnachten änderte sich der Ton. Die Soldaten begaben sich mit der Rückschau auf schöne Zeiten in eine Märchenwelt, die deutliche Züge von Selbstillusionierung trug. Die sentimentalen Gefühle verdrängten zum Teil auch die Klagen über die Unannehmlichkeiten des alltäglichen Lebens. Seltener beschwerte man sich über den Hunger, sehr jedoch über das Fehlen der Weihnachtspäckchen und anderer Postsendungen oder überhaupt von Lebenszeichen. Die Weihnachtstage waren besonders quälend, da die Soldaten durch die Tradition an gefühlvolle Stunden der Besinnung gewöhnt waren und da sie zum Nachdenken auch etwas mehr Zeit hatten, da der „Dienst“ auf ein Minimum reduziert wurde und auch die Russen an manchen Stellen des Kessels Feuerpausen einlegten. Nach dem sowjetischen Großangriff vom 10. Januar wurden die allgemeine militärische Situation und der Ausgang der Kesselschlacht in den Briefen ambivalent beurteilt: zunehmend skeptisch, doch auch Schimmer der Hoffnung drangen noch durch. Wachsende Beunruhigung empfanden die Soldaten angesichts der nun energischer werdenden Angriffe und wachsenden Kampfkraft der Roten Armee. Fast in jedem Brief finden sich jetzt Sätze, wie „Ich bin gesund (und munter)“ oder „Es geht mir (noch) gut“. Hintergrund dafür mag die Erfahrung sein, dass gerade das Gegenteil zunehmend zum Normalfall im Kessel wurde. Generell ist festzustellen, dass im Laufe der Zeit, also mit Verschlechterung der Lage im Kessel, Wünsche zunehmend in Hoffnungen umschlugen. Das kommt nicht zuletzt im häufigen Gebrauch von Wörtern wie „Hoffnung“, „hoffen“, „hoffentlich“ u. ä. zum Ausdruck. Je länger die Einschließung und damit die Notsituation andauerten, umso bescheidener allerdings wurden die Ansprüche und Vorstellungen von Glück. Die zunehmende Entfremdung von der Familie und vom bislang gewohnten Leben spiegelte sich in gefühlvoller Rückschau. Die zärtliche Anrede der Ehefrau glich nicht selten einer Beschwörung verlorener Gemeinsamkeit. Man erinnerte sich in den Briefen vergangener schöner Erlebnisse und interessierte sich für die Alltagsnöte in der Heimat.

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Die Unbeholfenheit beim Ausdruck von Zärtlichkeit lässt ahnen, dass hier Männer im Angesicht von Elend, Verletzungen und Tod vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben eine emotionale Sprache suchten und gezwungen waren, ihre Gefühle schriftlich mitzuteilen. Die Soldaten waren aus ihren familiären und sozialen Beziehungen gerissen worden. Der Brief war die einzige Brücke zum früheren Leben. Die mangelnde Erfahrung beim Schreiben ließ zahllose Soldaten zu bekannten Stereotypen der Beschreibung von Ansichten und Gefühlen greifen. Auch versuchten offiziell vertriebene Broschüren oder Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften als Handreichungen Einfluss auf das Schreiben zu nehmen. Und so fanden mitunter Phrasen der NS-Propaganda Eingang in private Äußerungen. Doch das liegt weniger daran, dass diese Phrasen wirklich verinnerlicht worden waren, sondern an der Schwierigkeit, eine eigene Sprache, andere, persönlichere Formulierungen zu finden. Die großen Worte waren stets auch Ausdruck von Sentimentalität. Hier schrieben keine „harten“, sondern ausgesprochen „weiche“ Männer, die sich in private Utopien zurückzogen. Krieg ist eine permanente Extremsituation, auch außerhalb der Kampf­ phasen. Ständig stehen die Soldaten unter Stress, körperlich und psychisch. Dies beeinflusst das Schreiben der Brieftexte, selbst wenn die Extremsituation auf Dauer nicht mehr bewusst wahrgenommen wurde. Stalingrad nun war eine extreme Situation unter den Extremsituationen des Zweiten Weltkrieges. Entscheidend war, wo im Kessel – er war immerhin so groß wie die heutigen Bundesländer Berlin und Hamburg zusammen – sich die Briefeschreiber aufhielten und wie sie untergebracht waren, schutzlos in Erdhöhlen in der Steppe, in zerstörten Dörfern, noch halbwegs stabilen Häusern oder in den unübersichtlichen Ruinen der Stadt oder der Industrieanlagen. Während in manchen Gegenden des Kessels die Militärorganisation noch halbwegs funktionierte, waren viele Soldaten sich selbst überlassen. Ob man noch an die überlebenswichtigen Versorgungsadern der Armee angeschlossen war oder nicht, beeinflusste nicht nur Themen und Sprache der Briefe in die Heimat, sondern war oftmals eine Frage von Leben oder Tod. Auch Dienstgrad und Dienststellung spielten eine wichtige Rolle.7 So sind auch die Unterschiede in der Reflexion der militärischen und persönlichen Situation zu verstehen. Während viele Soldaten in der Steppe bereits im Dezember hungerten, kaum mehr versorgt wurden und von der Postbeförderung abgeschnitten waren, besaßen andere noch Reserven, konnten Briefe schreiben und empfangen. Fand sich in den zerbombten Häusern und in den Bunkern manchmal noch ein kleiner Platz zum Briefeschreiben, gar ein Tisch, so konnten auf dem freien Feld meist nur wenige Sätze, die Knie als Unterlage nutzend, aufs Papier gebracht werden. Entscheidend war, 7  Vgl.

Diedrich/Ebert.



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ob man sich in einer Kampfzone oder in relativer Ruhe befand. Nicht immer wussten die Soldaten, ob sie den Brief auch würden beenden können und gaben deswegen nur selten acht auf korrekte Orthografie und Grammatik. Auch der körperliche Zustand hatte Einfluss auf die Formulierungen. Hunger, Krankheit, Unterernährung, besonders Unterzuckerung trübten das Bewusstsein und erschwerten das Verfassen rationaler und stringenter Texte. Das Leben im Krieg ist mit dem Vokabular des Friedens generell nur bedingt mitzuteilen. Erlebnisse werden zu Erfahrungen erst, wenn sie verschriftlicht bzw. kommuniziert werden. Dazu ist es notwendig, sie mit früheren Erlebnissen, also aus Friedenszeiten, zu verbinden, sie gleichsam einrasten zu lassen in bestehende Lebensmuster. Der Krieg beziehungsweise das Leben im Krieg wird meist nur da ausführlich beschrieben, wo es sich mit den aus Friedenszeiten bekannten Vorstellungen, Erfahrungen und Werten formulieren lässt. In den Briefen erscheint der Krieg oft als die Fortsetzung des Lebens im Frieden unter anderen – schwereren, unangenehmeren, gefährlicheren – Bedingungen. Es scheint, dass der Krieg, sofern er sich mit Werten aus der Arbeitswelt in Friedenszeiten artikulieren lässt, z. B. Fleiß, Ausdauer, Durchhalten, Pflicht, Gehorsam, Unterordnung, durchaus angenommen wird. In vielen Briefen ist der Krieg allerdings überhaupt nicht präsent.

Literatur Daviet-Vincent, Marie-Benedicte: Die „Logik der Ehre“ 1914–1918. Göttinger Studentenverbindungen im Ersten Weltkrieg – Zeugnisse aus Feldpostbriefen und Kriegszeitungen, Köln 2008. Diedrich, Torsten/Ebert, Jens: Nach Stalingrad. Walther von Seydlitz’ Feldpostbriefe und Kriegsgefangenenpost 1939–1955, Göttingen 2018. Ebert, Jens: Feldpostbriefe aus Stalingrad. November 1942 bis Januar 1943, Göttingen 2003. Ebert, Jens (Hg.): Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution. Briefe aus dem Weltkrieg 1914–1918, Göttingen 2014. Humburg, Paul: „Friedensarbeit im Kriege“. Über die Arbeit in Soldatenheimen im Osten 1915–1918, hg. u. kommentiert v. Jens Ebert und Martin Humburg. Bonn 2014 Kachulle, Doris (Hg.): Die Pöhlands im Krieg. Briefe einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie aus dem Ersten Weltkrieg, Köln 2006.

Briefe deutscher Amerika-Auswanderer zwischen Text und Quelle Von Volker Depkat Migration ist ein sich zwar in Wellen vollziehendes, aber doch insgesamt kontinuierliches Phänomen der U.S.-amerikanischen Geschichte im Allgemeinen und der deutsch-amerikanischen Beziehungsgeschichte im Besonderen.1 Die deutsche Amerikaauswanderung beginnt im Jahre 1683, als dreizehn Familien aus dem niederrheinischen Krefeld auf Einladung von William Penn und unter der Leitung von Franz Daniel Pastorius nach Pennsylvania auswanderten, um dort in dem von ihnen gegründeten Germantown frei ihren mennonitischen Glaubensüberzeugungen nachgehen zu können. Wie sich die deutsche Einwanderung nach Nordamerika dann zum Beginn des 19. Jahrhunderts gestaltete, weiß niemand so genau, denn die offizielle Einwanderungsstatistik beginnt erst mit dem Jahr 1820, doch dass die deutsche Einwanderung nach Nordamerika zwischen 1683 und 1820 kontinuierlich fortlief, kann als gesichert gelten.2 Nach 1820 ergoss sich dann eine große Flut deutscher Auswanderer über die USA: fast sechs Millionen Deutsche wanderten bis 1920 in die Vereinigten Staaten aus. Danach kam die deutsche Amerikaauswanderung, wie überhaupt die europäisch-atlantische Migration weitgehend zum Erliegen. Die Gründe dafür waren vielfältig: Die Weltkriege des 20. Jahrhunderts stellten nicht nur eine massive Störung der etablierten Verkehrs- und Kommunikationsnetzwerke dar, sondern sie machten die USA und Deutschland zu ideologischen Feinden, die erst in der durch den Kalten Krieg gefügten Wertegemeinschaft des Westens allmählich wieder zueinander fanden. In den USA folgte auf den Ersten Weltkrieg eine Zeit der überaus restriktiven Einwanderungspolitik, wie sie sich im National Origins Act 1924 manifestierte, der die Höchstzahl der grundsätzlich ins Land gelassenen Migranten signifikant absenkte und zugleich ein nationales Quotensystem einführte, das die ethnische Zusammensetzung der Migration so lenken sollte, 1  Zur Migrationsgeschichte in globaler Perspektive siehe Oltmer. Überblicke zur Einwanderungsgeschichte in die USA Daniels, Coming to America und ders., Guard­ ing the Golden Door. Die Einwanderungsgeschichte in die USA in globaler Perspektive erörtert: Hoerder. Zur deutschen Auswanderung in die USA: Helbich, „Alle Menschen sind dort gleich“; Brockhoff, Hamm und Henker; Krebber; Bungert. 2  Grabbe.

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dass die Hegemonie der sozialen Gruppen mit west- und nordeuro­päischem Migrationshintergrund garantiert bliebe. Dieses restriktive Migra­tionsregime wurde erst Mitte der 1960er Jahre zu Gunsten einer liberaleren Einwanderungspolitik überwunden. Die deutsch-amerikanische Migration erreichte freilich nie wieder auch nur annähernd die Dimensionen, die sie vor dem Ersten Weltkrieg gehabt hatte. Die deutschen Amerikamigranten des 18. und 19. Jahrhunderts schrieben massenhaft Briefe nach Hause. Etwa 280 Millionen Briefe wurden zwischen 1820 und 1914 aus den USA nach Deutschland in den Grenzen von 1871 geschickt.3 Das waren selbstverständlich nicht alles private Briefe – da war auch Geschäftsschrifttum dabei – doch liegen Schätzungen, die von 100 Millionen Privatbriefen für den gesamten Zeitraum sprechen, nicht allzu weit daneben. Es war mithin „eine wahre Papierflut, die sich über Deutschland ergoß“.4 Von diesen Briefen hat sich nur ein Bruchteil erhalten. Gerade einmal 5.000 hat die von Wolfgang J. Helbich ins Leben gerufene Bochumer Briefsammlung in langjähriger und mühevoller Arbeit zusammentragen können. Zwar wird diese Bochumer Sammlung gegenwärtig unter der Leitung von Ursula Lehmkuhl an der Universität Trier durch die Nordamerikabriefsammlung der Forschungsbibliothek Gotha ergänzt. Doch an der grotesken Diskrepanz zwischen den Dimensionen der transatlantischen Briefkommunikation des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und der Überlieferung ändert sich dadurch nicht viel: nicht einmal ein halbes Prozent der von deutschen Amerika­ auswanderern geschriebenen Briefe ist heute noch erhalten.5 Diese Briefe stellen die historische Forschung vor große Probleme. Auswandererbriefe sind sprödes Material, und das gleich aus mehreren Gründen. Da ist zunächst die Tatsache, dass es sich bei ihnen meist um Texte von Leuten handelt, die normalerweise nicht schriftlich kommunizierten, denen das Schreiben schwerfiel, für die es schlicht un- und außeralltäglich war, Briefe zu schreiben. Leser von Auswandererbriefen verbringen deshalb oft viel Zeit mit der schlichten Entzifferung der Briefe und der Erschließung des mit den Schriftzeichen Gemeinten. Doch das allein definiert die Sprödigkeit des Materials nicht. Es gibt darüber hinaus wenigstens drei Grundprobleme, die den Zugang zu diesem Quellenmaterial erschweren.6 Erstens ist es meistens überaus schwierig, wenn nicht gar ganz unmöglich, jenseits der biographischen Basisinformationen etwas über die Person der 3  Helbich, 4  Ebd., 5  Ebd. 6  Für

32.

Kampfhoefner und Sommer, 31.

das Folgende vgl. Gerber, 5–10.



Briefe deutscher Amerika-Auswanderer265

Schreiber und ihrer konkreten persönlichen, ökonomischen und sozialen Situation zum Zeitpunkt des Briefeschreibens herauszufinden. In diesem Zusammenhang kommt zweitens erschwerend hinzu, dass wir in der Regel nur die Briefe der Auswanderer an die Daheimgebliebenen haben, nicht aber die Briefe der Daheimgebliebenen an die Emigranten. Uns fehlen mithin die kommunikativen Gegenstücke zu den erhaltenen Briefen. Wir wissen also nicht, auf welche Briefe aus der Heimat ein Auswanderer wie antwortet, und wir wissen auch nicht, welche Reaktionen die Briefe der Ausgewanderten bei den Daheimgebliebenen ausgelöst haben. Ferner können wir keine Aussagen darüber treffen, welches Verhältnis die Briefpartner miteinander hatten. Das, was uns mit den Auswandererbriefen überliefert ist, sind mithin allenfalls Bruchstücke stattgehabter Kommunikation, Überreste eines viel größeren kommunikativen Kontextes, der freilich in seiner Ganzheit verloren gegangen ist. Die uns überlieferten Auswandererbriefe sind materiell fassbare Zeichenspuren schriftförmiger Kommunikation, die, um mit Christof Hardmeier zu sprechen, „wie Notenblätter von Musikstücken als Partituren sprach­licher Sinnbildung zu verstehen und als solche auch zu analysieren“ sind.7 Aus den bisher geschilderten Grundproblemen ergibt sich ein drittes: Weil wir den situativen Kontext eines konkreten Briefes in den Regel nicht rekonstruieren können, wissen wir in der Regel auch nicht, was in den Briefen alles nicht geschrieben wurde, und mehr noch, warum das, was nicht geschrieben wurde, nicht geschrieben wurde. Ungeachtet dieser schwerwiegenden Probleme sind Auswandererbriefe potentiell eine privilegierte Quellen einer kulturwissenschaftlich erweiterten Migrationsforschung, die sich an den Migrationserfahrungen der Migranten interessiert zeigt.8 Sie versprechen Antworten auf Fragen wie beispielsweise: Wie haben deutsche Amerikawanderer die USA wahrgenommen und erfahren? Wie haben sie sich selbst ihre Wanderung und das Phänomen Amerika erklärt, und wie haben sie ihren eigenen Standpunkt gegenüber dieser für sie neuen Welt markiert? Wie haben sie ihr altes Leben in Deutschland zu ihrem neuen Leben in den USA in Beziehung gesetzt? Wie haben sie den Spagat zwischen den Kulturen geschafft? Haben sie ihn je geschafft? Wie haben sie selbst ihre eigene Identität als Auswanderer und U.S.-amerikanische Neubürger definiert? Allerdings ist leider festzustellen: Über diese Dinge schreiben deutsche Auswanderer in ihren Briefen vordergründig betrachtet nicht viel. Es finden sich kaum umfassende Analysen der amerikanischen Gesellschaft oder des politischen Systems der USA, kaum aktuelle politische oder gesellschaftliche Nachrichten, und nur hin und wieder einzelne verstreute und oft stereotype 7  Hardmeier, 8  Depkat,

S. 58. „The Challenge of Biography“; Kempf; Sievers, Griese und Schulte.

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Bemerkungen über die Amerikaner, ihre Gepflogenheiten, ihren Lebensstil und ihren Charakter.9 Auch das komplizierte und teils schmerzhafte SichZurechtfinden in einer anderen Kultur, die auswanderungsgefügte Verunsicherung und Desorientierung – alles dieses bleibt in den Auswandererbriefen, von einzelnen scharfen Schlaglichtern abgesehen, genauso schemenhaft wie Akkulturationsprozesse und migrationsgefügte Identitätstransformationen. Alles dies steht nicht im Zentrum der Briefkommunikation, die ich für diesen Aufsatz gelesen habe; die Auswanderer schreiben über andere Dinge – und das scheint für kulturhistorisch interessierte Migrationshistori­ ker*innen zunächst einmal enttäuschend zu sein. Bevor Historiker*innen nun aber das Quellenmaterial für diese Enttäuschung verantwortlich machen, könnten sie auch einmal darüber nachdenken, ob sie die passenden Fragen an das Briefmaterial stellen. Um nun aber die ‚richtigen‘, also die dem Material angemessenen Fragen stellen zu können, bedarf es der quellenkundlichen Theorie – und gerade hier herrscht nicht nur im Bereich der Auswandererbriefforschung, sondern im Bereich der Brief­ forschung allgemein ein eklatantes Defizit. So beklagt Erika Krauße in der Einleitung zu ihrem Sammelband Der Brief als wissenschaftshistorische Quelle, dass Briefe bisher kaum in einem größeren disziplinübergreifendem Rahmen theoretisch untersucht worden seien.10 Auch Migrationshistoriker haben den Mangel an theoretisch-methodischen Ansätzen, die die Analyse der Auswandererbriefe leiten könnten, beklagt.11

Textpragmatik und Auswandererbriefe Im Lichte dieser Diagnose meine ich nun, dass jede Neubewertung des Quellenmaterials damit anfangen muss, den kommunikativen Status von Auswandererbriefen im Prozess transatlantischer Kommunikation theoretisch in den Griff zu bekommen. Das heißt, es ginge, vor aller Analyse der Brief­ inhalte, zunächst erst einmal darum, die Art der Kommunikation in den Briefen zu fassen und die Funktionen der Briefkommunikation im Migra­ tionsprozess abzustecken. Das wiederum heißt, zunächst einmal nach dem Wie der Kommunikation in den Briefen zu fragen, bevor man in die Analyse von deren Was einsteigt. Erst wenn man diesen ersten, eher formalen Schritt gemacht hat, kann man begründet hoffen, auch die dem Quellenmaterial angemessenen Fragen zu stellen, die ein schwieriges Material wie Auswande­ 9  Helbich,

„Stereotypen“; Helbich, „Letters“. S. 9. 11  Insbesondere Gerber, der mit seinem Buch selbst einen maßgeblichen Beitrag zur quellenkundlichen Neufassung der Briefe von Auswanderern beiträgt. 10  Krauße,



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rerbriefe vielleicht besser als Quellen zu erschließen vermögen, als es die konventionelle historische Quellenkunde bislang vermocht hat. In diesem Zusammenhang eröffnet ein textlinguistischer Ansatz, wie er in diesem Band von Maria Thurmair und Christian Fandrych in Anlehnung an Klaus Brinker vorgestellt wird, die Möglichkeit, Auswandererbriefe auf neue Art als Quelle für die historische Forschung zu erschließen.12 Textlinguistik bindet einen Text in seiner materiell fassbaren, sprachlichen Zeichenfolge und Mustern an sprachliche Handlungen zurück, die in der sozialen Handlungspraxis konkrete kommunikative Aufgaben zu erfüllen haben. Ein Text konstituiert sich mithin sowohl aus den sprachlichen Regeln als auch aus seinen kommunikativen Funktionen im Vollzug sozialer Praxis – und er wird aus dieser Gemengelage heraus auch verstanden, sofern er denn überhaupt verstanden wird und die mit ihm intendierte Kommunikation gelingt. Damit sind Texte für die Textlinguistik Produkte sprachlicher Handlungen, die in kommunikativen Handlungskontexten angesiedelt sind, der den eigentlichen Text, verstanden als materiale Sprachzeichenfolge, weit übersteigt, der zugleich aber die im Text selbst vollzogene Kommunikation steuert. Sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Texten geschieht im Hinblick auf diesen außertextuellen Bezugs- und Handlungsrahmen – und erst dieser Bezug bestimmt dann auch die jeweilige Funktion und auch die Bedeutung der Kommunikation in den Texten. Leider ist nun aber – und das stimmt Historiker*innen traurig – dieser äußere Bezugs- und Handlungsrahmen der in den Texten vollzogenen kommunikativen Akte verloren. Das heißt, um Texte historisch überhaupt angemessen verstehen zu können, müssen Historiker*innen sich nicht nur das Verständnis der materiellen Zeichen in den Texten bemühen, sondern immer auch den außtertextuellen kommunikativen Bezugs- und Handlungsrahmen zu rekonstruieren versuchen, in dem diese mit den Texten vollzogene Kommunikation angesiedelt war. Da dies jedoch mangels anderer Quellen – und das gilt nicht nur für die Auswandererbriefe – in der Regel unmöglich ist, müssen Historiker*innen also versuchen, den kommunikativen Kontext, den ein Text voraussetzt und auf den er sich bezieht, so gut wie möglich aus dem Text selbst zu erschließen. Das wiederum heißt, anhand der empirisch beobachtbaren sprachlichen Phänomene zu untersuchen, wie der Text selbst versucht, Kommunikation zu steuern. Es geht also darum herauszufinden, wie in Texten sprachlich auf einen äußeren Bezugs- und Handlungsrahmen Bezug genommen werden kann und wie dieser textexterne Kontext der Texte auch textintern an ihrer Sprachgestalt erkennbar wird.

12  Siehe Thurmair und Fandrich in diesem Band. Dazu Brinker; Schmidt; Hardmeier. Für das Folgende siehe auch: Depkat, „Plädoyer“.

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Wie kann man das machen? Auf was muss man in den Texten also achten, wenn man den äußeren Handlungs- und Bezugsrahmen, den sie voraussetzen und auf den hin sie ausgerichtet sind, aus ihnen selbst rekonstruieren möchte? Hier sind meines Erachtens drei Dinge besonders weiterführend. Erstens müsste die Medialität des Mediums Auswandererbrief, sein kommunikativer Stellenwert in den Alltagsroutinen der Briefkommunikanten möglichst genau bestimmt werden. In diesem Zusammenhang ist dann auch zu fragen, welche anderen Medien vielleicht noch benutzt worden sind, um die Textkommunikation zu erweitern, ergänzen oder zu intensivieren. So wie im Schauspiel eine Geste oder ein bestimmtes Kostüm das gesprochene Wort bekräftigt oder vielleicht auch konterkariert, so können wir durch ein genaues Lesen der Briefe versuchen, etwas über den Medienverbund zu lernen, in dem die transatlantische Briefkommunikation stattfand. Zweitens ist es wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass es sich bei Texten autorseitig immer nur um ein Kommunikationsangebot handelt, das auf ein von ihm oder ihr selbst im Akt des Schreibens imaginiertes Publikum hin ausgerichtet wird.13 Deshalb kann man danach fragen, mit Hilfe welcher sprachlichen Mittel ein Autor versucht, im Text selbst die kommunikative Interaktion mit seinem imaginierten Publikum zu organisieren. Wie also entwirft er sich selbst als Sprecher? Welche kommunikativen Rollen spielt sie in ihrem Text? Welche Verben und Substantive benutzen sie, um die im Text vollzogenen kommunikativen Akte zu bezeichnen. Das ist dann die Frage nach der Metakommunikation, also der Kommunikation über Kommunikation, wie sie sich vor allem in den verba dicendi ausdrückt. Drittens schließlich kann man untersuchen, wie ein Text selbst sich in Raum und Zeit positioniert, wie auf Raum und Zeit verwiesen wird, wie auf Personen, Objekte und Sachverhalte Bezug genommen wird. Im Falle der Auswandererbriefe ist es nun besonders interessant zu fragen, wie Schrei­ ber*innen das „Ich-jetzt-hier“ sprachlich ausdrücken – und wie er oder sie das Verhältnis zu einem „Du/Ihr-dort“ im Brief selbst organisiert. Die sprachlichen Mittel, über die diese Sprecher-Origo der Redekommunikation definiert wird, sind die Deiktika, also jene sprachlichen Ausdrücke, die wie beispielsweise der Satz „Er ist jetzt dort“ auf eine jeweilige Äußerungssituation verweisen und nur durch diesen Bezug zu dem außersprachlichen Zeigefeld interpretierbar werden. Es ist jetzt an der Zeit, den text- und kommunikationspragmatischen Ansatz einmal anhand von ein paar Auswandererbriefen auszuprobieren. Das soll im Folgenden auf der Basis von 76 Briefen geschehen, die von Mitgliedern der aus Gräfenroda in Thüringen nach Detroit, Michigan ausgewander13  Das

folgende ist maßgeblich inspiriert durch Hardmeier.



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ten Familie Eschrich-Tapert zwischen 1852 und 1884 zu Verwandten und Freunden in Deutschland geschickt wurden.14 Deren Analyse entfaltet sich in drei Schritten. Zunächst werden die Briefe als Spuren transatlantischer Kommunikation in ihrer medialen und kommunikativen Eigenart untersucht. Anschließend wird die Metakommunikation in den Briefen analysiert, um die Art der Kommunikation näher zu bestimmen. Schließlich wird danach gefragt, wie sich der Sprecher, die Sprecherin, in ihren Briefen gegenüber dem von ihnen selbst epistolarisch imaginierten Publikum positionieren. Nachdem auf diese Weise das Wie der Kommunikation charakterisiert wurde, wird abschließend erörtert, was die Ergebnisse der Analyse für die Auswanderer­ geschichte bedeuten können.

Auswandererbriefe als Medien transatlantischer Kommunikation Medialität und kommunikative Eigenart der Auswandererbriefe Am Anfang steht die Feststellung, dass die Auswandererbriefe kollektive Texte waren. Das gilt sowohl für die Autor- als auch für die Publikumsseite. Autorseitig waren sie vielfach von mehreren Autoren geschrieben, und dies entweder weil einzelne Personen noch handschriftliche Zeilen und Absätze an einen Brief anfügten, der bereits von jemand anderem geschrieben worden war, oder aber weil Briefe von mehreren Autoren in einem einzigen Umschlag nach Deutschland geschickt wurden. Die Daheimgebliebenen erhielten mithin mit vielen einzelnen Briefen gleich mehrfache Kommunika­ tionen von mehreren Kommunikanten.15 Darin allein erschöpft sich der kollektive Charakter der Briefkommunikation jedoch nicht. Sie ist vielmehr auch deshalb kollektiv, weil die Briefeschreiber sie an ein aus mehreren Individuen bestehendes Publikum richteten. Die Briefeschreiber in Amerika schrieben immer gleich an mehrere Leute mit ein und demselben Brief: „Liebe Eltern und Geschwister“,16 „Lieben 14  Die Serie Eschrich-Tapert ist Teil der Nordamerikabriefsammlung der Forschungsbibliothek Gotha. Die Briefe lagen mir in transkribierter Form vor, die Frau Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl, Universität Trier, mir freundlicherweise für Forschungszwecke überlassen hat. Dafür bedanke ich mich ganz herzlich. 15  Die Briefe von August Tapert und Amalie Kühn, die beide am gleichen Tag geschrieben wurden, wurden sehr wahrscheinlich zusammen in einem Umschlag verschickt. Amalie Kühn, 29. Juni 1858, Eschrich-Tapert AMK, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha; August Tapert, 29. Juni 1858, Eschrich-Tapert AUT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 16  Wilhelm Kühn, 9. August 1870, Eschrich-Tapert WK, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha.

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Geschwister und Schwägerleute“,17 „Vielgeliebten Schwiegerältern, Geschwister u. Anverwandte“,18 „Inniggeliebten Angehörigen“19 – das sind nur ein paar Beispiele für die Art und Weise, wie die Briefautoren ihr Publikum adressierten. Selbst wenn die Autoren in ihrer Anrede nur eine einzelne Person ansprachen, gingen sie offenbar stillschweigend davon aus, dass mehrere Leute in Deutschland ihre Briefe lesen würden. Emil Tapert hingegen war da ganz offen. In seinem Brief vom 4. Januar 1863 an die „Theure[n] Freunde“, wünscht er sich ausdrücklich, dass die Empfänger den Brief jeden lesen lassen mögen, der es könne.20 Amalie Tapert wiederum ermahnte ihren Vater Friedrich Kühn in einem persönlichen Schreiben, in dem sie ihn um finanzielle Unterstützung beim Kauf eines Stück Landes bat, ihren Brief niemanden anders lesen zu lassen.21 Das autorseitig imaginierte Publikum war mithin nur in den seltensten Fällen eine einzige Person. Vielmehr war es meist die Großfamilie sowie Freunde und Bekannte. Das heißt freilich auch, dass das Lesen der Briefe selbst wohl auch eine eher kollektive Angelegenheit war: Die Briefe von den ausgewanderten Verwandten wurden, so lässt sich begründet vermuten, von mehreren gelesen oder sie wurden im größeren Kreis vorgelesen. Diese Vermutung wird durch das um 1860 entstandene Ölgemälde Ein Brief aus Amerika von Berthold Woltze erhärtet.22 Es zeigt drei um einen Tisch in einem geschlossenen Raum gruppierte Personen – eine Frau mittleren Alters, ein links neben ihr sitzendes junges Mädchen sowie ein hinter den beiden sitzenden Frauen vornüber gebeugt stehender Mann mittleren Alters –, die mit erkennbarer Konzentration und Anteilnahme den Brief eines Angehörigen aus den USA lesen. Bei der Gruppe handelt es sich offenbar um die Familie des Briefeschreibers. Sie bildet ein eng ineinander verschlungenes Dreieck, das im Kern durch den Brief selbst zusammengehalten wird, den die beiden Frauen gemeinsam in der Hand halten. Der Umschlag des Briefes liegt auf dem Tisch, ebenso wie das unordentlich dort hingeworfene Strick17  Adelheide und Heinrich Tapert, 27. Juli 1857, Eschrich-Tapert ADuHT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 18  August Tapert, 9. November 1860, Eschrich-Tapert AUT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 19  August Tapert, 2. Oktober 1864, Eschrich-Tapert AUT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 20  Emil Tapert, 4. Januar 1863, Eschrich-Tapert EMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 21  Amalie Tapert, 18. Juli 1869, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 22  Das Gemälde ist digital verfügbar im Lebendigen Museum Online des Deutschen Historischen Museums unter https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/einbrief-aus-amerika-um-1860.html (letzter Zugriff am 24. März 2020).



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zeug. Offenbar wurde die Handarbeit erst vor kurzem hastig unterbrochen. Die Szene zeigt also den Moment der ersten, gemeinschaftlichen Lektüre eines unmittelbar zuvor eingetroffenen Briefes aus Amerika. Ein zweiter wichtiger Punkt, der die Art der Kommunikation in den Briefen der Eschrich-Tapert Familie bestimmt, ist die Tatsache, dass Briefkommunikation in diesem sozialen Milieu ganz offenbar nicht die übliche Form der Kommunikation war. Sie war etwas Außeralltägliches, und zwar sowohl für die Schreiber als auch die Leser der Briefe. Dies hat die Gestalt der Briefe dahingehend geprägt, dass die Briefautoren immer wieder betonen, dass ihnen das Schreiben schwerfällt und dass sie das, was sie sagen wollen, nur sehr unzureichend in den Briefen ausdrücken können. So berichtet August Tapert in einem undatierten Schreiben von seinem Bruder Heinrich, der auch gerne einmal schreiben würde, seine Gedanken aber nicht zu Papier zu bringen vermöchte. Im Kopf habe er es wohl, aber wenn er es aufschreiben wolle, dann wüsste er nichts mehr.23 Emil Tapert stellt in seinem schon erwähnten Schreiben vom 4. Januar 1863 fest, dass er „des schreibens nicht ganz händig“ sei und „mit den Vieh kaufen oder schlachten“ besser umgehen könne.24 Wilhelm Tapert beginnt den nicht datierten Brief an seinen Groß­ vater in Grafenroda, den er offenbar nie kennengelernt hat, mit der Feststellung: „Ich möchte Euch einen rechten schönen Brief schreiben um Euch meine Liebe und Hochachtung zu bezeugen ich habe aber leider nicht gelernt Briefe zu schreiben.“25 Gleichzeitig sind sich die Briefschreiber selbst bewusst, dass ihr Publikum ebenfalls nicht daran gewöhnt ist, Briefe zu lesen. „Ich wielnuhn mein Schrei­ben Schliesen sonst werdet ihr das lesen miede“, schreiben Heinrich und Adelheide Tapert in einem nicht-datierten Brief an ihren Schwager in Thüringen.26 „Nun will ich schließen, denn das Bapier geht zu Ende und das Lesen wird Euch sonst auch zu lange“, heißt es an anderer Stelle in einem Brief von Amalie und August Tapert.27 Von dem, was die Ausgewanderten dann tatsächlich schrieben, meinten sie mithin, dass es für ihr imaginiertes Publikum interessant und die Mühe des Lesens wert sein könnte. 23  August Tapert, ohne Datum, Eschrich-Tapert AUT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 24  Emil Tapert, 4. Januar 1863, Eschrich-Tapert EMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 25  Wilhelm Tapert, 9. Oktober ohne Jahr, Eschrich-Tapert WT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 26  Heinrich und Adelheide Tapert, ohne Datum, Eschrich-Tapert ADuHT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 27  Amalie und August Tapert, 30. November ohne Jahr, Eschrich-Tapert AMuAUT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha.

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Ein dritter Aspekt definiert die Art der Kommunikation in den hier untersuchten Auswandererbriefen: Sie sind durchsetzt mit Bemerkungen, die anzeigen, dass das Medium Brief eigentlich nicht ausreicht, um die mit der Auswanderung verbundenen Erfahrungen auch nur annähernd befriedigend kommunizieren zu können. Die Grenzen des Kommunikationsmediums Brief werden mithin von den Kommunikanten selbst gesehen und sichtbar gemacht. In einem Brief an seinen Schwager Friedrich Kühn schreibt August Tapert, dass es schlicht unmöglich sei, ein adäquates Bild von Amerika in einem Brief zu entwerfen, gleich wie lang der Brief sei.28 Damit unmittelbar zusammen hängt die Tatsache, dass die Kommunikanten den Brief selbst als nur schwachen Ersatz für das persönliche Gespräch und die direkte kommunikative Interaktion ansahen. Adelheide Tapert berichtet ihrem Schwager Kühn in einem 1857 geschriebenen Brief von der unverhofften Ankunft ihrer Cousine Amalie in Detroit, die sogleich allen erzählen musste, wie es den Verwandten und Bekannten in Gräfenroda ginge. Durch diesen mündlichen Bericht hätten sie, meint Adelheide Tapert, „sehr viel erfahren, mehr als wenn Ihr uns huntert Briefe geschrieben hättet“.29 Ganz auf dieser Linie kommentiert August Tapert an einer Stelle: „Wenn ich viel Geld zu verschwenden hätte, so würde ich bald einmal naus rutschen und Euch alles mündlich erzählen“.30 Eleonore und Max Brong lassen Agathe Kühn wissen, dass sie nur zu gerne mit ihr persönlich über die Erfahrungen der vergangenen Jahre sprechen würden, weil die einfach nicht in einem Brief kommuniziert werden könnten. Eleonore hofft deshalb auf ein Treffen und kündigt an, dass ihr Ehemann Max Brong in zwei bis drei Jahren seine Familie in Lindau am Bodensee besuchen würde. Er habe ihr versprochen, auch Agathe Kühn in Gräfenroda zu besuchen, um ihr über die Geschehnisse der vergangenen Jahre Bericht zu erstatten.31 Diese wenigen Bemerkungen deuten bereits an, dass die zentralen sich mit der Auswanderung verbindenden Erfahrungen gar nicht in Briefen ausgedrückt werden konnten. Es galt also, die tatsächliche Abwesenheit der Briefpartner zu kompensieren, und ein Mittel dazu war die Handschrift des Schreibers. Die Frage, wer einen Brief tatsächlich geschrieben, war für die räumlich getrennten Kommunikanten von zentraler Bedeutung. Es war ganz offenbar nicht dasselbe, 28  August Tapert, 11. August 1857, Eschrich-Tapert AUT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 29  Adelheide Tapert, ohne Datum, 1857, Eschrich-Tapert ADT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 30  Amalie und August Tapert, 25. September 1859, Eschrich-Tapert AMuAUT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 31  Eleonore und Max Brong an Agathe Kühn, ohne Datum 1858, Eschrich-Tapert EBuMB, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha.



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wenn man von einem Dritten Nachrichten und Grüße von einem Verwandten oder Bekannten erhielt, oder wenn diese Person selbst in eigener Handschrift Grüße bestellte oder Informationen mitteilte. Handschrift war eine sichtbare, materielle Spur, die die räumliche Distanz überbrückte und Nähe zwischen den Briefpartnern herstellte. „Lieber Bruder“, schreibt August Tapert am 25. April 1867, „Wenn ich Dir nicht schreibe und Dich um eine Antwort bitte, denkst Du auch nicht dran einmal an mich zu schreiben, weißt vielleicht auch nicht einmal was Du schreiben sollst, das nothwendigste, denkst Du, schreibt der Schwager Kühn immer was sollst Du da auch noch das Papier verschmieren u. Postgeld ausgeben, das ist jadoch für die Langeweile aber ganz recht hast Du da doch nicht es ist schon gut genug, daß sich der Schwager Kühn so annimmt, und uns mit dem Wichtigsten bekannt macht, Gott lohne es ihm! aber man muß sich doch nicht immer auf andere ihre Gutwilligkeit verlassen, und ich sags grade raus, ich möchte auch einmal wieder etwas von Deiner Hand geschriebenes lesen.“32

Ein vierter Punkt ist zur Einschätzung des Status von Briefen in den transatlantischen Kommunikationszusammenhängen wichtig: Die Briefeschreiber waren bemüht, die Briefkommunikation durch andere Medien zu ergänzen, zu erweitern oder zu intensivieren. Ein wichtiges Medium, das die Briefkommunikation zu komplementieren vermochte, waren Bilder der Verwandten und Freunde. Amalie Tapert bittet ihren Vater wiederholt inständig darum, ihr ein Bild von sich zu schicken,33 und ihr Mann August Tapert verspricht seinen Verwandten in Deutschland, dass er ihnen so schnell wie möglich ein Portrait seiner Familie schicken werde.34 Porträts waren ein Mittel, um die tatsächliche Abwesenheit der transatlantischen Kommunikationspartner zu kompensieren. In Kombination mit den Briefen imitierten die Porträts von Verwandten und Freunden eine face-to-face-Situation; sie boten die Möglichkeit, dem Zustand der Ko-Präsenz der tatsächlich durch den Atlantik getrennten Gesprächspartner so nahe wie möglich zu kommen. Als August Tapert seinen Verwandten in Deutschland für die Übersendung ihrer Porträts dankt, wünscht er sich nur noch, dass die Porträts selbst lebendig werden mögen, um sein Glück zu vollenden,35 und in einem anderen Brief stellt er fest, dass er das Porträt seines Vaters ehren würde, als sei es der Vater selbst.36 32  August Tapert, 25. April 1867, Eschrich-Tapert AUT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 33  Amalie Tapert, 16. Februar 1864 und 18. Juli 1869, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 34  August Tapert, 9. November 1860, Eschrich-Tapert AUT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 35  August Tapert, 2. Oktober 1864, Eschrich-Tapert AUT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 36  August und Amalie Tapert, 14. Januar 1870, Eschrich-Tapert AMuAUT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha.

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Neben Zeichnungen, Gemälden oder Photographien waren mitgeschickte Zeitungsartikel, Zeitschriften oder andere Informationsquellen eine Möglichkeit, die epistolare Kommunikation zu erweitern. So schickte August Tapert die Illustrierte Zeitung und die New Yorker Zeitung, zwei deutschsprachige Publikationen, zu seinen Verwandten in Deutschland.37 Die Metakommunikation in Auswandererbriefen Eine weitere Möglichkeit, die Art der Kommunikation in den Auswandererbriefen zu bestimmen, ist, deren Metakommunikation, also die Kommunikation über Kommunikation in ihnen, zu analysieren. Das möchte ich nun anhand der insgesamt sechs Briefe tun, die Amalie Tapert, geborene Kühn an ihren Vater Friedrich Kühn, ihren Bruder Wilhelm und ihre Schwestern Agathe und Selma in Gräfenroda geschrieben hat.38 Amalie Kühn wurde 1835 geboren, und sie emigrierte im Jahr 1857 im Alter von 22 Jahren von Gräfenroda nach Detroit, Michigan, wo sie von Heinrich und Adelheide Tapert als „Cousine“ aufgenommen wurde. Innerhalb von zwei Jahren nach ihrer Ankunft in Detroit heiratete sie August Tapert, mit dem sie wenigstens acht Kinder hatte. Sie war in den USA als Hausfrau und Mutter tätig.39 Wie also stellt sich die Metakommunikation in ihren Briefen dar? Was sofort ins Auge sticht, ist die schiere Häufigkeit von Verben und Substantiven, die auf den Akt des Schreibens selbst rekurrieren. Amalie benutzt das Verb „schreiben“, um anzuzeigen, dass sie Neuigkeiten mitteilt und Informationen liefert. Außerdem betont sie immer wieder, dass sie bestimmte Dinge bereits in früheren Briefen geschrieben habe, oder dass sie nun aufhören müsse, zu schreiben. Sie entschuldigt sich, nicht früher geschrieben zu haben, und bittet ihre Familie in Gräfenroda immer wieder, zurückzuschreiben. Immer wieder drückt sie auch ihre Freude darüber aus, dass jemand geschrieben habe, sie verspricht, dass jemand in Deutschland demnächst einen handgeschriebenen Brief von ihr bekommen würde, und an einer Stelle bewundert sie die schöne Handschrift ihres Bruders Wilhelm, der noch ein kleiner Junge war, als sie nach Amerika auswanderte.

37  August Tapert, 24. August 1863 und 20. Juni 1869, Eschrich-Tapert, AUT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 38  Vier davon lassen sich datieren, und zwar Amalie Tapert, 28. Oktober 1857; 29. Juni 1858; 16. Februar 1864; 18. Juli 1869. Hinzu kommen noch zwei undatierte Briefe. 39  So die biographischen Informationen auf dem Personalbogen Eschrich-Tapert, Amalie, den das von Ursula Lehmkuhl geleitete Projekt zur Sammlung, Transkription und Edition der Nordamerikabriefsammlung an der Forschungsbibliothek Gotha mir dankenswerter Weise zusammen mit den Transkriptionen zur Verfügung gestellt hat.



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Das zweite große charakteristische metakommunikative Merkmal in den Briefen ist das Grüßen. Einige Briefe bestehen überhaupt nur aus Akten des Grüßens. Dabei handelt es sich entweder um individuelle Grüße an bestimmte Personen und bestimmte Gruppen oder allgemeine Grüße an Freunde und Verwandte und alle die den Briefeschreiber noch kennen. Das System an Grüßen erscheint dem heutigen Betrachter sehr ausgeklüngelt und einer klaren Hierarchie folgend. Zuerst wird die Kernfamilie gegrüßt, dann in konzentrischen Kreisen die näheren und ferneren Verwandten, dann die Freunde und schließlich die näheren oder entfernteren Bekannten. Die anderen metakommunikativen Merkmale der Briefe von Amalie Tapert sind nicht so prominent wie die ersten beiden, aber sie verraten ein denkbar breites Spektrum an kommunikativen Akten, die die Briefeschreiber mit ihren Briefen im Prozeß der transatlantischen Kommunikation vollzogen. Amalie Tapert antwortet auf bestimmte Briefe und beantwortet in ihnen gestellte spezifische Fragen. Ferner bedankt sie sich für Briefe, Informationen, Bilder und selbst Geld, das sie aus Deutschland erhalten hat. Ebenso gibt es viele Verben und Substantive in den Briefen, die anzeigen, dass sie etwas berichtet, über etwas informiert und Neuigkeiten mitteilt. Bei letzterem handelt es sich überwiegend über familiäre Angelegenheiten, doch geht es hin und wieder auch um Nachrichten über die Situation in Amerika. Ein weiterer in den Briefen vollzogener kommunikativer Akt ist der des Ratschlagens und Beratens. Ein Großteil der Ratschläge bezieht sich dabei auf Fragen und Probleme, die mit dem Auswandern zu tun haben. Sollen die in Deutschland zurückgebliebenen Verwandten und Freunde auch ihre Koffer packen und nach Amerika ziehen? Was muß man im Falle einer Auswanderung beachten? Wie soll man reisen – wohin soll man in den USA gehen? Was soll man mitnehmen, was läßt man besser zu Hause – alles das sind Probleme, zu denen Amalie Tapert Ratschläge erteilt. Signifikant ist jedoch, dass sie sich eindeutigen Antworten meist verweigert, wohl vor allem, weil sie die Verantwortung für die potentiellen Folgen einer entschiedenen Befürwortung der Auswanderung nicht auf sich nehmen wollte. Gleichzeitig wollte sie aber auch niemandem um die Chance auf ein gutes Leben in den USA bringen. Am 18. Juli 1869 lässt Amalie Tapert so ihren Vater wissen, dass sie ihre Geschwister nur zu gerne einmal wiedersehen würde, und wenn es deren fester Wille sei, in die USA zu kommen, so sollten sie es in Gottes Namen gerne tun. Sie würde ihnen helfen, wie es nur ginge. Sie wolle aber niemanden „mit Gewalt“ nach Amerika locken, „denn daß ist hier eine [---] Sache, den einen gefällts, den andern wieder nicht, denn einen glückts u denn andern wieder nicht, ich vor mein Theil, ich kann mein Vaterland nicht vergeß, u wenn ich es auch noch besser hätte hier in Amerika, es ist hier mit den Vergnügen auch nicht so schlimm, als wie draußen, es ist wohl war

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es verdient hier ein Mann mehr als wie draußen, aber die Ausgaben sind hier auch nicht wenig.“40

In einem anderen, nicht datierten Brief rät sie ihrer Schwester Agathe hingegen in realistischer Einschätzung ihrer Chancen ausdrücklich davon ab, sich in den USA niederzulassen, weil sie mit ihrer kaputten Hand dort nicht viel ausrichten könne. Sie könne gerne „einmal eine Besuchsreise machen,“ aber „für immer hier zu bleiben, rathe ich Dir nicht da ists vor Dich in Deutschland besser, denn warum? Bei Euch ist nicht immer so viele Wascherei, und Bügelei, daß ist hier die meiste Arbeit, und das kannst Du ja doch nicht thun mit Deiner Hand, wer dieses hier nicht in Ordnung hält, der wird schon gar nicht sehr geestemirt, Liebe Schwester, Du mußt es nicht übel nehmen, es ist nicht böse gemeint, ich schreibe Dir bloß die Wahrheit, o wie gerne hätte ich Dich hier, daß wir uns auch einmal wieder aussprechen könnten zusammen, aber was hilft das alles wenn Du nachher da wärst und es gefiel Dir nicht, da thätst Du mir ja die größten vorwürfe mach und thätst sag, hättest Du mich draußen gelassen bei meinen lieben Eltern.“41

Die kommunikative Autorität des Auswandererbriefes war mit großer Verantwortung verbunden. Es geht bei den Akten des Ratschlagens und Beratens jedoch keinesfalls nur um Fragen der Auswanderung. Vielmehr gibt sie ihren in Deutschland verbliebenen Verwandten auch Ratschläge zur Kindererziehung, ermuntert ihre Schwester zur Ehe und ermahnt ihren Bruder zum Gehorsam gegenüber den Eltern und älteren Geschwistern. Ein weiteres Feld der Metakommunikation in den Briefen ist ein breites Spektrum von Verben und Substantiven, die Bitten anzeigen. Amalie Tapert bittet ihre Briefpartner inständig darum zurückzuschreiben. Sie bittet ihre Angehörigen in Deutschland, sie nicht zu vergessen, und sie bittet, wie bereits gezeigt, wiederholt um ein Porträtfoto ihres Vaters. Dass sie einmal sogar ihren Vater um Geld für einen Grundstückskauf in Detroit bittet, wurde ebenfalls oben schon geschildert. Schließlich bittet sie um Nachrichten und Neuigkeiten aus Deutschland, und hier vor allem um Nachrichten über das Wohlbefinden von Angehörigen. Auch Wörter des Wünschens und Hoffens bestimmen einen Gutteil der Metakommunikation in den Briefen. Amalie Tapert wünscht sich von ihren Verwandten mehr Informationen zu bestimmten Sachverhalten in einem nächsten Brief, hofft, dass Ihre Briefpartner ihre Briefe beantworten, und drückt wiederholt den Wunsch aus, ihre deutschen Verwandten und Freunde 40  Amalie Tapert, 18. Juli 1869, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 41  Amalie Tapert, ohne Datum, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha.



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noch einmal wieder zu sehen. Schließlich wünscht sie ihrem Vater zu seinem Geburtstag alles Gute, und in fast jedem Brief wünscht sie ihren Briefpartnern am Ende Gesundheit, Glück und Wohlergehen. Zwei metakommunikative Merkmale stehen isoliert, weil sie nur einmal vorkommen, aber sie sind dennoch bemerkenswert: In einem Brief lädt Amalie ihre deutsche Familie zu ihrer Hochzeit nach Detroit ein, und in einem anderen Fall tröstet sie ihre Schwester, die offenbar einen geliebten Menschen verloren hat. Die deiktische Organisation der Briefe und die Sprecher-Origo Wie organisiert Amalie Tapert in ihren sechs genannten Briefen das Verhältnis von „Ich-hier-jetzt“ und „Du-dort“? Wie also setzt sie sich als Briefeschreiberin zu ihrem imaginierten Publikum in Beziehung, und was heißt dies für die narrative Repräsentation von Wirklichkeit in den Texten? In diesem Zusammenhang ist es zunächst bemerkenswert, dass das „Ich“ der Briefe sich immer als Mitglied der Familie und Verwandter derjenigen, mit denen es kommuniziert, positioniert. Amalie Tapert verwendet große Mühe darauf, sich als Tochter und Schwester zu identifizieren, und sie benennt auch ihre Gegenüber in deren Familienfunktion als Vater, Bruder und Schwester: „Vielgeliebter, theurer Vater u Geschwister“, „Vielgeliebter, guter Vater u. Geschwister“, „Grüß Euch Gott, Innigstgeliebter Vater u Geschwister“, „Lieber, Theurer Vater“, „Innigstgeliebte, theure Geschwister Agathe und Wilhelm Kühn“, „Vielgeliebten Geschwister! Agathe und Wilhelmchen“ – das sind die Anreden, die sie in ihren sechs Briefen wählt. Bemerkenswert daran sind auch die Adjektive, die die anhaltende emotionale Verbundenheit der Schreiberin mit den in Deutschland zurückgebliebenen Adres­saten des Briefes zum Ausdruck bringen. Diese Textsignale sind alles andere als banal, zeigen sie doch an, dass sich die Briefautorin Amalie Tapert weiterhin als integralen Bestandteil des Familienverbandes versteht, den sie mit ihrer Auswanderung hinter sich gelassen hat. Als Briefeschreiberin erfüllt Amalie Tapert mithin weiterhin ihre Rolle im Familienverband als „Schwester“ und „Tochter“. Damit friert sie gewissermaßen ihre Beziehungen zur Familie auf einem Stand ein, der durch die Auswanderung selbst wenigstens problematisch, wenn nicht gar unmöglich geworden ist. Dennoch schimmert der atlantische Graben, der zwischen ihr und ihrer Familie ist, in den Briefen selbst immer wieder durch. An einer Stelle bezieht Amalie Tapert sich auf „das Wasser“, das zwischen ihr und ihren Briefpartnern liege, und wiederholt entwirft sie sich als Ich „in der Ferne“.42 42  „Es grüßt Euch August Tapert und wünschet aus weiter Ferne ein herzliches Lebewohl, Lebt wohl! Lebt alle wohl!“ heißt es in einem der beiden undatierten

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Das „Brief-Ich“ spielt gegenüber seinem imaginierten Publikum verschiedene Rollen innerhalb eines einzigen Briefes. Meistens kommuniziert das Ich des Briefes mit einem multiplen „Du“ in Deutschland, einem „Du“, das sich zusammensetzt aus Vater, Geschwistern, Verwandten, Freunden und Bekannten. Daneben gibt es aber immer wieder auch Passagen in den Briefen, die an spezifische Adressaten gerichtet sind. In einem Brief wendet sich Amalie Tapert so, nachdem sie einige Bemerkungen an das aus Vater, Bruder und Schwester bestehende Publikum gerichtet hat, mit einigen Bemerkungen direkt an ihre Schwester Agathe und Bruder Wilhelm: „Nun liebe Schwester Agathe, wie steht es denn nun mit Dir … und nun Du lieber Bruder Wilhelm, ich wünsche Dir Glück zu Deinem neuen Lehramt.“43 Im Verfassen der Briefe stellte sich Amalie Tapert mithin eine Kommunikationssituation vor, in der sie sich mit der um sie herum versammelten Familie eher locker unterhält, sich mal an alle wendet und mal einzelne Personen direkt anspricht. Ein zweites Merkmal, das ist für die Art der Kommunikation kennzeichnend ist, ist die Tatsache, dass das Brief-Ich selbst in einem scheinbar individuellen und persönlichen Brief sich nicht wirklich als ein isoliertes Ich entwirft. Manchmal entwirft sich das Brief-Ich als Teil eines kollektiven Wir, wobei mit dem „wir“ gelegentlich nur ihre eigene U.S.-amerikanische Kernfamilie, manchmal aber auch das komplexe Netzwerk ihrer U.S.-amerikanischen Großfamilie, manchmal aber auch die in Thüringen verbliebenen Eschrichs und Taperts gemeint sind. Das heißt jedoch, dass die Briefautorin hier epistolarisch einen transatlantischen Familienzusammenhang konstruiert, der die deutsche und die amerikanischen Teile der Familie, die sich de facto gar nicht kennen, über den Atlantik hinweg zu einem Verband zusammenschweißt. Wie organisiert die Briefeschreiberin nun die räumlichen Beziehungen? Unmittelbar ins Auge sticht die Vagheit der Präpositionen, Adverbien und adverbialen Bestimmungen, die räumliche Beziehungen ausdrücken. Amalie Tapert spricht meist ohne nähere Bestimmung von „hier“, deutet an, dass etwas oder jemand „nicht weit weg“ von ihnen sei, verweist wiederholt auf ein „bei uns“ oder spricht schlicht von „in Amerika“. Manchmal werden Ortsangaben durch die Koppelung mit dort wohnenden Familienmitgliedern näher bestimmt („in Busch bei den Schw Christel“,44 „im Busch bei meinem Briefe. Dort gibt sie auch ihrer Verwunderung Ausdruck, dass ein „H Str. […] sich auch übers Wasser rüber gemacht“ habe. In dem anderen undatierten Brief heißt es: „[G]edenket meiner in der Ferne, wie ich Euer gedenke.“ Eschrich-Tapert, AMT, Nordamerika­briefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 43  Amalie Tapert, 16. Februar 1864, Eschrich-Tapert, AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 44  Amalie Tapert 16. Februar 1864, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha.



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Vetter Christel“,45 „nach St. Klär bei den Vetter Meiselbach“46), mitunter aber ersetzt die Erwähnung des Familienmitglieds die Ortsangabe auch gleich ganz („bei den Schwager Heinrich“,47 „bei der Lohre“48). Angesichts dieser generellen Vagheit stechen zwei Konstruktionen heraus. Amalie Tapert benutzt „Hier-und-in-Deutschland“-Konstruktionen, um Unterschiede zwischen den beiden Ländern anzuzeigen, während sie „Hier-wie-in Deutschland“-Konstruktionen einsetzt, um Gemeinsamkeiten hervorzukehren. Aufs Ganze betrachtet, dominieren die unterschiedsanzeigenden Konstruktionen: „hier ists nicht so wie in Deutschland, das die Kinder mit 2 oder 3 Wochen getauft werden müssen“;49 „Lieber Vater Ihr wolltet gerne wissen ob es nicht besser wäre wenn Ihr die Street wißt daß ist unothig weil hier kein Briefträger ist, man muß die Briefe abholen.“50 In diesen Konstruktionen schimmert durch, dass für die Auswanderin Amalie Tapert Deutschland das Normale definiert, von dem aus betrachtet das Leben in Amerika als anders und fremd erscheint. Nur ganz selten zieht sie Parallelen zwischen beiden Ländern, so beispielsweise, wenn sie feststellt: „Du schreibst in Deinem Brief, daß das Scharlachfieber recht herrschend ist bei Euch, das ist hier dasselbe auch, hier werden alle Tage, wer weiß wie viele Menschen begraben.“51 Wie sieht es nun schließlich mit der zeitlichen Orientierung aus, die Amalie Tapert in ihren Briefen organisiert? Wieder sind die entsprechenden Präpositionen, adverbialen Bestimmungen und Adverbien sehr vage. Kaum je einmal ist Amalie Tapert bezüglich Zeiten und Daten präzise. Vielfach benutzt sie „jetzt“ und „nun“, oder blaß bleibende Bestimmungen wie „am Anfang“, oder „für eine Weile“ oder „dann“. Die Fälle, in denen sie präziser wird, sind signifikant, weil sie tiefe Einblicke in die Erfahrungswelten von Auswanderern freigeben. Es kann kaum überraschen, dass für Amalie Tapert das exakte Datum ihres Abschiedes von den Verwandten in Deutschland von herausragender Bedeutung für die subjektiven Periodisierungslinien ist. Wie45  Amalie Tapert, ohne Datum, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 46  Amalie Tapert, 18. Juli 1869, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 47  Amalie Tapert, 16. Februar 1864, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 48  Amalie Tapert, 28. Oktober 1857, Eschrich-Tapert AMK, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 49  Amalie Tapert, 28. Oktober 1857, Eschrich-Tapert AMK, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 50  Amalie Tapert, 29. Juni 1858, Eschrich-Tapert AMK, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 51  Amalie Tapert, ohne Datum, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha.

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derholt datiert Amalie Tapert ihr Leben vom biographischen Einschnitt der Auswanderung her („schon ein Jahr vergangenen, daß wir uns voneinander getrennt haben“;52 „seid 11 Jahren nicht gesehen“53). Diese Beobachtung lässt sich mit einer weiteren kombinieren: die Rhythmen des deutschen Jahres- und Festkalenders bestimmen auch in den USA noch für eine sehr lange Zeit den Horizont ihrer subjektiven Periodisierung. So fragt sie an einer Stelle nach, wie die Kirmes in Gräfenroda gewesen sei und wie die Familie Weihnachten verbracht habe.54 In einem anderen Brief lässt Amalie ihre Leser wissen, dass sie ihr in Amerika geborenes Kind in Detroit an dem Tage taufen lassen möchte, an dem in Gräfenroda Kirmes sei,55 und einmal deutet sie an, dass sie ihren Brief an die Verwandten just zu dem Zeitpunkt schreibe, an dem die Verwandten wohl gerade mit der Ernte­ arbeit beschäftigt seien.56 Außerdem ist Amalie Tapert sehr präzise, wenn es um Geburtstage geht. „Da heute der 23 Februar ist, und mich erinnert lieber Vater an Euern 58ten Geburtstag“, schreibt sie einmal.57 Ein andermal schreibt sie: „mein kleiner Fritz war jetzt den 14 Juni 2 Jahre alt“.58 Die präziseste zeitliche Angabe in ihren Briefe taucht überhaupt im Zusammenhang mit der Geburt ihres Sohnes auf: sie sei „den 25 September früh 7 Uhr“ von ihrem Sohn entbunden worden.59 Ein weiterer Zusammenhang, in dem Amalie Tapert in ihren zeitlichen Angaben sehr präzise wird, ist, wenn sie über Dinge berichtet, die mit Krankheit und Verletzungen zu tun haben. So erfahren wir, dass die Geburt ihres Sohnes eine halbe Stunde gedauert habe und dass sie innerhalb von Tagen an der Ruhr erkrankt sei, die zwei Tage angehalten habe.60 An gleicher Stelle lässt sie ihre Leser wissen, dass ihr Vetter Heinrich sich den Finger 52  Amalie Tapert, 29. Juni 1858, Eschrich-Tapert AMK, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 53  Amalie Tapert, 18. Juli 1869, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 54  Amalie Tapert, ohne Datum, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 55  Amalie Tapert, 28. Oktober 1857, Eschrich-Tapert AMK, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 56  Amalie Tapert, 29. Juni 1858, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 57  Amalie Tapert, 16. Februar 1864, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 58  Amalie Tapert, 18. Juli 1869, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 59  Amalie Tapert, 28. Oktober 1857, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 60  Amalie Tapert, 28. Oktober 1857, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha.



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seiner rechten Hand so verletzt habe, dass er ihn für drei Wochen nicht habe benutzen können.61 Und in einem letzten Zusammenhang wird sie zeitlich präzise: der Tag ihres Einzugs in ein neues, größeres Haus in Detroit wird tagesgenau auf den 9. September 1857 datiert.62

Schluss Was heißt dies nun alles? Wie haben Historiker*innen den Quellenwert von Auswandererbriefen im Lichte dieser Befunde zu bewerten? Welche Rückschlüsse über die sich mit der Auswanderung verbindenden Erfahrungen erlaubt die Art der Kommunikation in den Briefen, die Auswanderer*innen nach Hause schrieben? Die wohl wichtigste Antwort auf diese Frage besteht darin, dass diese Briefe nicht geschrieben wurden, um Historiker*innen farbenreiche Erfahrungsberichte über die Auswanderung oder konzise Analysen der USA als politischem und sozialem Phänomen der Moderne zu liefern. Auch schrieben die Auswanderer ihre Briefe offenbar nicht deshalb, um über Akkulturationsprozesse Auskunft zu geben oder um sich als Individuen in einem welt­geschichtlich bedeutsamen Prozess ihrer selbst zu vergewissern. Vielmehr spricht die hier formal freigelegte Art der Kommunikation in den Auswandererbriefen dafür, diese zunächst und vor allem als Spuren einer transatlantischen Familienkommunikation zu identifizieren, und zwar zwischen Familienangehörigen, deren Zusammenhang durch den Akt der Auswanderung selbst aufgelöst worden ist. Die ausgewanderten Briefeschreiber entwerfen sich weiterhin als Teil der Familie, die sie in Deutschland hinter sich gelassen haben. In ihren Briefen bleiben sie Söhne und Töchter, Brüder und Schwestern derjenigen, die noch in Deutschland leben, und in ihren Briefen versuchen sie eine intime Nähe und ein Beisammen-Sein zu imitieren, das de facto durch die Auswanderung selbst unmöglich geworden ist. Wie die soziologische Familienforschung gezeigt hat, sind Familien Solidargemeinschaften, die, idealerweise emotional verbunden, einander in vielfältigen Zusammenhängen Hilfe leisten, von materieller bis hin zu emotioneller Unterstützung.63 Die Art der textpragmatisch freigelegten Kommunikation zeigt, dass die kommunikativen Funktionen, die die Auswandererbriefe erfüllten, nahezu das ganze Spektrum sozialer und emotionaler Funktionen 61  Amalie Tapert, 28. Oktober 1857, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 62  Amalie Tapert, 28. Oktober 1857, Eschrich-Tapert AMT, Nordamerikabriefsammlung, Forschungsbibliothek Gotha. 63  Hill und Kopp; Huinink und Konietzka.

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abdeckten, die Familien erfüllen. Die Briefe kommunizierten Familienneuigkeiten und spekulierten über Möglichkeiten des Wiedersehens. Auch lieferten sie eine breite Vielfalt von Informationen, die für die Daheimgebliebenen relevant, interessant und vor allem zuverlässig sein sollten. Die nach Amerika ausgewanderten erbaten vielfältige Formen der Unterstützung von ihren Verwandten in Deutschland und sie bedankten sich für erhaltene Hilfe. Sie gaben Ratschläge – und dies keinesfalls nur bezogen auf die eventuelle ­Auswanderung weiterer Familienmitglieder –, und spendeten Trost über den ­Atlantik hinweg. Vor allem aber waren sie bestrebt, in und mit ihren Briefen soziale und emotionale Beziehungen aufrecht zu erhalten, die durch die Auswanderung selbst problematisch geworden waren. Dabei waren sie sich offenbar vollauf bewusst, dass die Briefe selbst die einzigen materiellen Verbindungen zwischen ihnen und ihren Familien, Freunden und Bekanten in Deutschland waren. Die Amerikamigranten waren sich im Akt des Schreibens der Fragilität der transatlantischen Familienbeziehungen bewusst; wenn die Briefkommunikation aufhörte, gelangten die Beziehungen zu den Freunden und Verwandten in Deutschland als solche an ihr Ende. Vielleicht dreht sich deshalb soviel der Metakommunikation in den Briefen um das Schreiben selbst. Gleichzeitig aber schimmert doch auch immer wieder durch, dass die Briefe von den Schreibern als ein insgesamt unbefriedigendes Kommunika­ tionsmedium erachtet wurden. Gemessen an dem, was sie mit der transatlantischen Briefkommunikation eigentlich erreichen wollten – emotionale Beziehungen aufrechterhalten, einer tatsächlichen Gesprächssituation so nahe wie möglich zu kommen und über ihre Auswanderungserfahrungen berichten – gemessen an diesen weitreichenden kommunikativen Zielen also waren die Briefe selbst nur ein ganz schwacher Ersatz für eine persönliche Unterhaltung in einer direkten face-to-face Interaktion. Große Bereiche der Auswanderungserfahrung waren buchstäblich jenseits der Briefkommunikation, und sowohl die Auswanderer als auch die Daheimgebliebenen wussten das. Von daher erklärt sich das Bestreben, die Möglichkeiten der Briefkommunikation durch andere Medien zu ergänzen, zu erweitern und zu intensivieren. Das konnte durch Porträts geschehen, das konnte auch durch das Beilegen von Zeitungsartikeln geschehen, es konnte aber auch dadurch geschehen, dass man einen Reisenden damit beauftragte, die Verwandten im anderen Weltteil zu besuchen, um ihnen Neuigkeiten mündlich mitzuteilen. Hier waren die Amerikaauswanderer in einer leicht besseren Situation, denn es war wahrscheinlicher, dass jemand aus der deutschen Heimat sich in die Neue Welt aufmachte, um dort ebenfalls sein Glück zu suchen, als dass die einmal Ausgewanderten noch einmal wieder nach Deutschland zurückkehrten.



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Autorpositionierungen – zur „inneren Geschichte“ der Vermarktung schöner Literatur Von Maria Zens Literarische Märkte und die besondere Situation des inkommensurablen Guts schöne Literatur sind ein Thema, das die Literatur- und Kulturgeschichte schon lange beschäftigt.1 Während in den Anfängen der Literaturwissenschaft die profanen Umstände der literarischen Produktion noch kaum Aufmerksamkeit erfuhren,2 rückten sie spätestens mit dem gesteigerten Interesse an der Geschichte des Buchhandels,3 des Lesens4 oder an massenkulturellen Phänomenen und Publikationsformaten5 (im Gegensatz zum kanonisierten ‚Höhenkamm‘) in den Blickpunkt. Dabei wird fast immer ein Gegensatz, mindestens ein Spannungsverhältnis, zwischen der Kunst und ihren ästhetischen Normen einerseits und der Notwendigkeit des Verkaufens und den Bedingungen des literarischen Mark1  Der Text berücksichtigt die Diskussionen der Marbacher Tagung; ich danke den Organisatoren und allen Teilnehmenden, insbesondere ‚meinem‘ Kommentator Bernhard Gotto (München), für die zahlreichen Hinweise und Anregungen. 2  Dies ist u. a. daran abzulesen, dass Geschäftsbriefe zwischen Autor und Verleger, wie sie hier verhandelt werden, der Philologie als nicht editionswürdig oder gar störend galten. Explizit gemacht wird das z. B. durch Alfred Dove bei der Herausgabe der Briefe Gustav Freytags an das Verlagshaus Hirzel. Die Edition sollte ein Bild zeichnen „möglichst vollständig, aber frei von ermüdender Wiederholung. Von den verschiedenen Seiten des geschäftlichen Verkehrs sind daher nur einzelne Proben herausgegriffen“ (Gustav Freytag, S. IX). Selbst bei Friedrich Hirth, der solche Verkürzungen in der Herausgabe von Heines Briefwechseln ausdrücklich vermeiden will, heißt es noch: „Nun ist es ja fraglos, daß die breite Ausspinnung von materiellen Angelegenheiten in Dichterbriefen ermüdend wirkt, daß es wenig erhebenden Eindruck macht, wenn in solchen Briefen die Worte ‚Honorarzahlungen‘, ‚Wechseltrassierungen‘, ‚finanzielle Transaktionen‘ usw. bis zur Unerträglichkeit wiederkehren. Rein ästhetisch genommen, gewinnen also Heines Briefe durch diese Evakuierungen, biographisch verlieren sie einen wichtigen Teil ihres Wertes.“ Hirth, Bd. 1, S. 20. 3  Statt zahlreicher weiterer Publikationen seien hier die übergreifenden Untersuchungen Wittmanns, Buchmarkt, ders., Geschichte genannt. 4  Jäger; Schneider; zuletzt und zusammenfassend der Themenschwerpunkt „Historische Leseforschung“ in IIASL 39,1 (2014). 5  Hier ist z. B. die Forschung zur Entwicklung von populären Zeitschriften zu nennen, insbesondere Barth.

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tes andererseits gesehen, die je nach Fragestellung in die eine oder andere Richtung akzentuiert werden. Wir sind gewohnt, Kunst nicht in erster Linie unter dem Aspekt ihrer Verkäuflichkeit sehen zu wollen, ihren Wert anders zu bemessen. Sobald es um anerkannte Schriftsteller geht, wird der doppelte Verkauf ihrer Werke – zunächst an den Verleger, dann an das Publikum – zum praktischen Testfall des kunstautonomen Anspruchs. Was ist der Autor bereit zu tun, damit seine Arbeit in Verlag geht, wie ist das Verhältnis zum kaufenden und lesenden Publikum, wie werden Wertschätzung und ästhetische Anerkennung umgemünzt? Was gehört, umgekehrt, zur Pflege der Autoren, die dem Segment der hochgewerteten Literatur zugeordnet werden, was können sie verlangen, was erwarten? Wie, wo und nach welchen Kriterien wird Literatur bewertet? Briefe zeigen besonders deutlich und unmittelbar, wie sehr die Praxis des Literaturhandelns von widersprüchlichen Erwägungen bestimmt ist. Im Folgenden sollen deshalb Briefe zwischen Autoren und Verlegern des ‚langen‘ 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt stehen.6 Akteure, Textsorte und Zeitraum sind mit Bedacht gewählt. Diese Korrespondenzen zeigen den Dialog zwischen zwei Systemstellen; sie eignen sich, um nicht nur Standpunkte, sondern auch Kompromisse und Bewegungen in einer unausweichlichen Allianz nachzuzeichnen. Verleger sind die wichtigsten ‚gatekeepers‘ des Literaturbetriebs und machen als Vermittler den Erfolg von Literatur erst möglich, Autoren können zumindest im hier betrachteten Zeitraum an ihnen nicht vorbei. Briefe sind dabei besondere Quellen, deren Format zwischen Literatur und Geschichte vermittelt: als kommunikative Akte sind sie soziale Handlung mit festen Anhaltspunkten im Konkreten, als Texte sind sie in ihrer Rhetorik und Verankerung in epistolaren Gepflogenheiten zu deuten. Sie stehen in ihrer Erklärungsleistung somit zwischen literarischen Texten, die als ästhetisch überformte und polyvalente Artefakte kaum als verlässliche Dokumentationen der empirischen Welt dienen können,7 und dem Material der eher quantitativ orientierten Sozialgeschichte wie Buchhandelsstatistiken oder Honorarverzeichnissen. Der Literaturbetrieb einer Zeit scheint an vielen Stellen auf und gerade die Bedingungen des sich entwickelnden Literaturmarkts – das Selbstverständnis des ‚Schriftstellerstands‘,8 das Entstehen neuer Publikationsformen, die Mo6  Ausführlicher zu den konkreten geschäftlichen Verabredungen sowie zur Überlieferung von Autor-Verleger-Korrespondenzen Zens. 7  Auch aus Sicht der Geschichtswissenschaft wird die Neigung problematisiert, „Literatur als eine von vielen Quellensorten mit imperialem Gestus zu vereinnahmen und sie auf dieselbe Stufe wie das von ihnen bevorzugt untersuchte Geschäftsschriftgut zu stellen“. Pyta, S. 385. 8  Der Begriff des „Schriftstellerstands“, seine Verwendung in Vorstößen zur berufsständischen Organisation und rechtlichen Absicherung einerseits, seine Ablehnung

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dernisierung von Buchproduktion und -handel – werden in zahlreichen Texten kommentiert. Öffentlicher Diskurs und tatsächliches Handeln sind aber nicht unbedingt deckungsgleich und Absichten können nicht immer eingehalten werden. Jedes Interesse an der kulturhistorischen Kartierung des literarischen Felds und an den Motivationen der dieses Feld aufspannenden Akteure muss deshalb tiefer schürfen. Der Blick auf die – großzügig verstandene – Mitte des 19. Jahrhunderts ist besonders aufschlussreich, weil vieles in Bewegung ist, was die Position der Autoren prägt. Das gilt für die Rolle des öffentlichen Intellektuellen in politisch bewegten Zeiten, die Herausbildung des Schriftstellerberufs, den technologischen Wandel der Buch- und Zeitschriftenproduktion, die Entwicklung des Lesepublikums und nicht zuletzt die Diversität ästhetischer Programme von littérature engagée bis Realismus. Diese rasche Entwicklung in vielen das literarische Leben bestimmenden Bereichen äußert sich in der Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Konzepte von Literatur, Autorschaft, Schriftsteller­ beruf und Öffentlichkeit. Das ist der historische Rahmen, in dem die Briefwechsel zwischen Verlegern und Autoren zu deuten sind und den sie andererseits mit ihren Entscheidungen auch mitbestimmen. Hier soll vor allem das interessieren, was jenseits des Offenkundigen – Literatur ist eine Ware, Verleger führen ein Geschäft, Schriftsteller ist ein Beruf – über die „innere Geschichte“ (Robert Darnton) der Vermarktung schöner Literatur und die Handlungen strukturierenden Normen und Wahrnehmungen gesagt werden kann. Die Briefe von Verlegern und Autoren lassen uns nachzeichnen, wie sich diese multiplen Faktoren zu konkreten Entscheidungen verdichten. Zunächst soll geklärt werden, warum die Verhandlung über den Preis von Literatur überhaupt prekär ist und eine feingranulare Betrachtung lohnend macht. Im Rückgriff auf die soziologische Theorie ­Pierre Bourdieus wird das literarische Feld als sozialästhetischer Handlungsraum verstanden, der mit anderen Segmenten der Gesellschaft im Austausch steht, dabei nach eigenen spezifischen Regeln funktioniert, in dem sich Akteure aber durchaus unterschiedlich positionieren können und das auch tun. Die Gründe hierfür nennen sie in ihren Briefen, sie diskutieren das Ausmessen, Anwenden und Überschreiten der vorgegebenen Normen und stellen alternative Wertskalen gegen die der Geldökonomie. Interessieren soll auch, wie es um die Konvertibilität dieser ‚Währungen‘ am literarischen Markt steht und wie die Akteure versuchen, ihren Standpunkt argumentativ und stilistisch überzeugend zu vertreten.

als unangemessene Kollektivierung andererseits würde eine eigene Betrachtung lohnen.

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Die Muster und wiederkehrenden Konfliktlinien, die auf diese Weise herausgearbeitet werden, verweisen auf die Bedingungen von schriftstellerischer Professionalisierung und Literaturwandel im 19. Jahrhundert. Im Anschluss an diesen systematischen Aufriss soll am Beispiel Wilhelm Raabes auf die konkrete Positionierung eines Berufsschriftstellers eingegangen werden. Auf der Seite der Literaturverleger möchte ich mit Verweis auf Julius Campe, Georg von Cotta und Otto Janke zeigen, wie unterschiedlich beinahe gleichzeitig agierende Literaturhändler ihre Rolle ausfüllen. So verschieden und eigenwillig sich die Autoren verhalten, so unterschiedliche Handlungsmuster finden sich auch auf Seiten der Verleger. Als Thema zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft nimmt die Untersuchung von Autor-Verleger-Korrespondenzen bereits eine interdiszi­ plinäre Perspektive ein, zum Schluss sollen weitere, vor allem sozialwissenschaftliche Anknüpfungspunkte zumindest genannt werden.

I. Zugänge zur „inneren Geschichte“ des Literaturhandels Wenn im Folgenden literaturbezogene Geschäftsbriefe den Ausgangspunkt bilden, ist damit die Vorstellung verbunden, einer „inneren Geschichte“ der Vermarktung von Literatur näherzutreten. Robert Darnton hat in seiner Studie zur Encyclopédie des Diderot genau diese in den Vordergrund gerückt.9 Die Verbindung von Hermeneutik und soziokulturellem Interesse an geschicht­ lichen Zusammenhängen, der Blick auf außergewöhnliche Individuen in ihrem systemischen Handlungskontext integriert empirische und qualitativ-textorientierte Forschung. In der Vorbemerkung fragt Darnton zunächst und rhetorisch, „was weiß man denn über die innere Geschichte von Geschäften zu irgendeiner Zeit?“ um zu postulieren, ein „paar Briefe eines Buchhändlers“ könnten mehr sagen als „eine ganze Studie über den Buchhandel“ – und anschließend genau dies vorzulegen: eine große Studie über den Buchhandel.10 Was ein paar Briefen eines Buchhändlers zugemessen wird, gilt umso mehr für die Wechselrede, wie sie die Korrespondenzen zwischen Autoren und Verlegern darstellen. Über das Handelsgeschichtliche hinaus geben diese Auskunft über die Literatursituation in ihren ästhetischen, politischen, ökonomischen Bezügen. Literaturbezogene Geschäftsbriefe sind zunächst diese Autor-Verleger-Korrespondenzen, der Großteil des Korpus ist aus solcher Kommunikation gezogen. Daneben geben aber auch Briefe an Dritte, in denen kommentierend über Verlagsgeschäfte berichtet oder beispielsweise ein erfahrener Kollege um Rat gefragt wird, wichtige Einblicke. 9  Darnton. 10  Ebd.,

S. 16, S. 15.

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Derartige Blicke auf die „innere Geschichte“ offenbaren die feinen Unterscheidungen und Positionierungen, zu denen alle am Literaturbetrieb Beteiligten fähig und durch den besonderen Charakter der verhandelten Waren auch aufgefordert sind. Die Geschäfte reflektieren die „sozialen Existenzformen von Autoren“11 und wirken auf diese zurück, zugleich werden diese ökonomischen Interessen überformt von symbolischen Auseinandersetzungen und Wertzuschreibungen. Die Briefwechsel zwischen Verlegern und Autoren bewegen sich auf dieser Grenze zwischen Kunst und Ökonomie. Idealtypisch betrachtet stehen beide Schreiber auf verschiedenen Seiten dieser Linie, nähern sich ihr, in der Verhandlung überschreiten sie diese Grenze, sind empathisch oder beharren auf ihrem Standpunkt, anerkennen das Interesse des anderen, suchen ihr eigenes zu verfolgen. Die Regeln dieses Spiels werden mit werbenden und abgrenzenden Äußerungen ausgelotet, der Erfolg des Einzelnen hängt von den zur Verfügung stehenden Ressourcen ab und auch davon, wie souverän er sich ihrer bedient. Es geht somit um den argumentativen Inhalt, um Briefe als Medium und um ihre soziale Funktion. Briefe sind nicht-öffentlich, zumeist auf die dialogische Kommunikationssituation ausgerichtet. Der konkrete und dem Schreiber bekannte Empfänger ist in den Text eingeschrieben, dies im wörtlichen Sinne als namentlich genannter Adressat, aber auch im weiter gefassten als Zielpunkt von Argumentation, sprachlicher und stilistischer Ausgestaltung, als derjenige, um dessen Zustimmung und Leistung geworben wird. Zur genaueren Bestimmung dieser „inneren Geschichte“ tragen die folgenden Punkte wesentlich bei: (1) Literaturbezogene Geschäftsbriefe thematisieren den zweifachen Verkauf literarischer Werke. Die unterschiedlichen Inte­ ressenkonstellationen prägen den Ton der Verhandlung. Beim ersten Verkauf versucht der Autor, sein Manuskript in Verlag zu bringen; die wirtschaftlichen Interessen von Autor und Verleger stehen gegeneinander. Beim folgenden zweiten Verkauf – durch die Arbeit des Verlegers ist aus dem Manuskript ein Buch geworden, das ans lesende und kaufende Publikum gebracht werden will – sind die ökonomischen Interessen von Autor und Verleger weitgehend deckungsgleich; beide sind an einem möglichst hohen Absatz interessiert, an Rezensionen und öffentlicher Resonanz. Vor dem Hintergrund dieser Kon­ stellation erscheint das Wechselspiel aus Miteinander und Gegeneinander gar nicht mehr widersprüchlich – in jede Verhandlung des ersten Verkaufs ist die Spekulation über den zweiten eingeschrieben und wird häufig als Versprechen oder Kalkulation explizit benannt.

11  Parr

(mit Schönert), S. 342.

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(2) Der briefliche Austausch zeigt die Rückbindung der Kunst an die ­olitische, soziale und ökonomische Wirklichkeit. Die Argumente, die im p Werben für die eigene Arbeit angeführt werden, machen deutlich, wie sehr der Autor als sozialer Akteur und auch die ästhetischen Artefakte eingebettet sind in die soziopolitischen und wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit. Zu nennen sind etwa Zensurbestimmungen, technologische Entwicklungen wie neue Druckverfahren oder die Rahmenbedingungen des Literaturkonsums wie Bildungsgefüge, Lesergruppen, Kaufkraft, Leihbibliotheken, in denen kulturelle, politische, soziale und wirtschaftliche Faktoren ineinandergreifen. (3) Die Briefe zwischen Autoren und Verlegern sind vor allem deshalb wichtige Dokumente, weil sie diese Einflüsse nicht nur dokumentieren, sondern auch zeigen, wie die Akteure sich ihnen gegenüber verhalten. So scheint in der Verhandlung von einzelnen Verlegern und Autoren der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang von Kunst und Literatur auf – und zwar dort am deutlichsten, wo Grenzen und Austauschbeziehungen verhandelt werden: zwischen Geschäft und Privatem, Ökonomie und Kunst, Freiheit und Anpassung. (4)  Vor allem die Briefe der Autoren sind deshalb immer auch ein Medium der Beobachtung und Kommentare zur Literatursituation der Zeit. Autorenbriefe an Verleger sind zugleich an einen praktischen Handlungskontext geknüpft, sie bleiben nicht rein diskursiv, denn ihr argumentativer Erfolg hat unmittelbare Konsequenzen für die wirtschaftliche Situation. (5) Nicht zuletzt sind die Verhandlungen mit Verlegern Voraussetzung, damit Autoren aktive Teilnehmer der Öffentlichkeit sein können, was für jede Wirkungsabsicht unabdingbar ist. Publizität ist, ohne in der einen oder anderen Weise in geschäftliche Verhandlungen zu treten, im 19. Jahrhundert kaum möglich – und Briefe sind hierfür das schriftliche Medium der Wahl.

II. Literatur als prekäre Ware Autoren sind auf das Feilbieten ihrer Werke angewiesen, Verleger brauchen literarischen Nachschub. Das grundsätzlich Notwendige ihrer wechselseitigen Beziehung – „Eine Waare, die nicht feilgeboten wird, findet keinen Käufer“12 – bestimmt aber noch nicht, ob diese als Abhängigkeit, notwendiges Übel oder beiden Seiten Gewinn bringende Situation wahrgenommen wird.

12  Theodor Fontane an Wilhelm Wolfsohn, 9.1.1850, in: Keitel/Nürnberger, Bd. I, S. 102.

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Wenn der Verleger Eduard Brockhaus an seinen Autor Karl Gutzkow schreibt, „Autoren und Verleger können nicht ohne einander sein“13, klingt das nach gegenseitiger Versicherung in einer nicht unkomplizierten Beziehung. Tatsächlich sind die Konfliktlinien meist komplexer als die Trennung von „Geld und Geist“ oder „Genie und Geld“,14 da beide Parteien im doppelten Verkauf sowohl gemeinsame als auch gegensätzliche Interessen haben. Zudem ist es ja durchaus so, dass Autoren geschäfts- und Verleger kunst­ sinnig sein können, wie weiter unten noch genauer gezeigt werden wird. Keiner der an ihrer Vermarktung Beteiligten leugnet den Warencharakter der schönen Literatur, zugleich möchte ihn niemand als das ‚Wesen‘ des literarischen Verkehrs sehen, zumindest nicht im Bereich der hochgewerteten Literatur. Die Vermarktung ist Teil der Buchhandelsindustrie, derer man sich nicht erwehren kann, zugleich wird jedoch genau das versucht: als Kunst soll die Literatur vor Prägungen durch den Massenmarkt geschützt bleiben. Besonders anschaulich wird das in einer brieflichen Äußerung Gottfried Kellers an Hermann Hettner. Keller ist über seinen Verleger Vieweg erbost und schreibt an den Freund: „Dies ist eine so nackte und unverschämte Fabrikbehandlung, daß es kaum zu ertragen ist, und beinahe wären jene Verleger vorzuziehen, welche kein Geld haben, aber dafür wenigstens phrasenreich dankbar und aufmerksam sind, wenn sie etwas Gutes zu verlegen bekom­ men.“15 Aus Kellers kurzer Äußerung werden eine ganze Reihe von Aspekten ersichtlich: zum einen wird die „Fabrikbehandlung“ als Gegenpol zum vom Autor Erwarteten genannt und so der Kontrast von literaturbezogenen Handeln und seiner einzigartigen Produktion und moderner Wirtschaftsentwicklung mit dem Ziel der vielfachen kostengünstigen Reproduzierbarkeit hergestellt. Wenn sie mit den Epitheta „nackt und unverschämt“ versehen wird, heißt das, eine höflich ‚eingekleidete‘ Konzentration aufs Geschäftliche wäre besser angekommen. Die entscheidenden Wörter der argumentativen Kette sind aber „kaum“ und „beinahe“, in denen letztlich das ganze Problem umfasst ist: für den Autor ist diese Art der Behandlung „kaum“ zu ertragen (also eben doch) und die Anerkennung eines Verlegers wäre „beinahe“ (aber eben nur beinahe) seinem Geld vorzuziehen. Keller beschreibt damit sehr präzise sein Abwägen und seine persönliche Grenzziehung. Die Nüchternheit eines Verlegers kann aber auch ganz anders wahrgenommen werden, nämlich positiv, wie ein Brief des noch unbekannten Theodor Fontane zeigt. Er charakterisiert den Verleger Heinrich Hertz gegenüber dem bereits etablierten Paul Heyse: „Ich finde Hertz’ Brief ganz nett, etwas nüchtern, aber das ist ganz in der Ordnung und mir eher lieb als nicht. Adlige Brockhaus an Karl Gutzkow, 11.8.1868, in: Friesen, Verleger, S. 197. titelgebend bei Corino und Brenner. 15  Gottfried Keller an Hermann Hettner, 2.11.1855, in: Jahn, S.  142 f. 13  Eduard 14  So

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müssen adlig sein und Geschäftsleute geschäftsmäßig. Es ist nie gut, wenn die einen wie die andern über ihr Geschäft hinweg sind.“16 Neben der Anerkennung des Geschäftsmäßigen als Kern einer Verlagsbeziehung ist diese Stelle vor allem deshalb aufschlussreich, weil Fontane ausdrücklich Hertz’ Briefstil als Grundlage seiner Einschätzung benennt. Das belegt, wie sehr die Korrespondenzen Anbahnung und Ausgestaltung literarischer Geschäfte tatsächlich prägen. Die Äußerungen Kellers und Fontanes zeigen auch, dass der Antagonismus von Kunst und Vermarktung sich im Bereich der schönen und insbesondere der hochgewerteten Literatur keineswegs als einfache Dichotomie ausdrückt. Gerade die Literatur, die als singuläres Produkt mit Kunstanspruch produziert und rezipiert wird, ist ein komplexes Objekt des Tauschs. Sie ist einem Einkaufs- und Verkaufsprozess unterworfen, ihr Wert erschöpft sich aber nicht im ökonomischen Tauschwert oder überhaupt einem herkömm­ lichen Gebrauchswert. Das Besondere der Literatur ist der symbolische Mehrwert, den sie – genau wie andere Kunstformen auch – erwirtschaftet. Gebrauchs-, Tausch- und Symbolwert der Literatur stehen in einem Wechselverhältnis; entscheidend ist dabei, dass die symbolische Wertung der schönen Literatur in die Überlegungen und Kalkulationen von Autoren, Verlegern, Redakteuren, Kritikern und nicht zuletzt des Publikums eingeht. Das führt dazu, dass gerade der Autonomieanspruch, ein Hang zur Insubordination und Ablehnung heteronomer Normen als Kennzeichnen kritischer Intellektualität wertsteigernd wirken können. Auch die Distanz zum Massenmarkt, zum literarischen ‚Fabrikgeschäft‘,17 gehört zur elitären Auszeichnung der Hochliteratur. Die alternativen Wertskalen, die gegen die Rechnung der guten Verkäuflichkeit in Anschlag gebracht werden, führen zu einer spezifischen ‚Ökonomie des Literarischen‘, in der die Wechselkurse dieser Währungen und ihre Deckung im Symbolischen permanent verhandelt werden. Diese widersprüchlichen Strukturen grundieren den literarischen Markt auch viele Jahrzehnte später noch. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat der Schriftsteller Dieter Wellershoff in einem Essay zu „Kunst als Ware“ den literarischen Markt „als Ort der Freiheit und der Entfremdung“ charakterisiert, seine Akteure als „Mitspieler, die die Regeln und Symbole des Spiels begriffen haben“.18 Und selbst ein kurzer Blick in unsere zeitgenössischen

Fontane an Paul Heyse, 20.12.1859, in: Petzet, S. 78. etwa dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ist die Abgrenzung vom „Fabrikgeschäft“ und der „Buchhandelsindustrie“ mit dieser Semantik nachzuweisen; sie zeigt, wie das Vordringen ökonomischer Rationalität erkannt und zugleich abgewehrt wird. 18  Wellershoff. 16  Theodor 17  Seit

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Feuilletons genügt, um zahlreiche Belege für das topische Gegensatzpaar von Kunst und Geld zu finden.

III. Das literarische Feld als sozialästhetischer Handlungsraum Die von Wellershoff verwendeten Begriffe Feld und Spiel und auch die von ihm aufgerissene Spannung zwischen Freiheit und Entfremdung lassen unmittelbar zu Bourdieus Literatursoziologie überleiten. Im Rückgriff auf die Arbeiten des französischen Soziologen wurde bereits von Feld, Kapitalien und symbolischer Position gesprochen. Dieser theoretische Rahmen erlaubt, die komplexen Mehrebenenbedingungen literarischen Handelns – ästhetische Normen, ökonomischer Erfolg, vorhandene Ressourcen etc. – aufeinander zu beziehen und die Frage nach der relativen Autonomie des Literarischen (oder allgemeiner: der Kunst) recht präzise zu stellen. Den Begriff des „literarischen Felds“ hat Bourdieu in zahlreichen Schriften entwickelt und in Les règles de l’art (1992, dt. 1999) ausgeführt. Die Besonderheit seines Ansatzes liegt darin, Faktoren wie die ästhetisch-konzeptionelle Präferenz, den ökonomischen Erfolg und die öffentliche Anerkennung gleichermaßen und gleichgewichtig zu berücksichtigen, ohne sie in ­ihren je spezifischen Funktionen und Wirkungsweisen zu nivellieren. Die komplexe Struktur des literarischen ‚Kraftfelds‘, in die jeder Akteur eintritt und zu der er wiederum beiträgt, verarbeitet diese Einflüsse zu einem Netzwerk sozialer Regelung, das gleichwohl eine Fülle von Handlungsmöglichkeiten bereithält. Damit wird die Gleichzeitigkeit auch grundverschiedener Entscheidungen erklärbar, ohne dass auf einfache Zurechnungen, die von der Bewertung des Ergebnisses ausgehen – beim einen setzt sich das Engagement durch, beim anderen das Honorar –, zurückgegriffen werden muss. Der Bereich der Literatur und des literarischen Handelns unterscheidet sich in Bourdieus Perspektive nicht grundsätzlich von allen anderen Bereichen der sozialen Welt und wird mit denselben Begriffen erschlossen: Feld, Struktur, Habitus, Praxis, Kapitalien, Position und Positionierung. Das literarische Feld wird – wie andere Felder – als Netz objektiver Relationen verstanden. Verglichen mit anderen Bereichen des Sozialen erscheinen Literatur und die darauf bezogenen Handlungen aber als ein flexibles, unterdeterminiertes Segment des sozialen Raums, mit Positionen, „die eher zu gestalten als schon fertig ausgestaltet sind“.19 Briefe lassen die Strukturen des literarischen Feldes hervortreten. Jeder Brief ist Text und Handlung. Als Teil einer Korrespondenz und gerichtete 19  Bourdieu,

S. 358.

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Kommunikation aktualisiert er jeweils eine Linie im Netzwerk des Felds. Er dokumentiert eine konkrete Interaktion und reflektiert zugleich die das Feld konstituierenden Strukturbeziehungen. Im Gegensatz zum fiktionalen Text ist der Brief direkt mit der empirischen objektiven Position des Autors verknüpft und bietet diesem zugleich die Möglichkeit, kommentierend über die Verhältnisse hinauszugreifen. Im Prinzip enthält jeder Brief einen Selbstentwurf des literarischen Autors; er wird von der aktuellen Position aus verfasst, enthält die Erfahrung vorangegangener Kommunikation und ist ein jeweils neuer Ansatz der Positionierung. Als Kommunikationsmedium ist der Brief ein Zwischenglied, das sich einerseits von den Zwängen und Anforderungen der objektiven Stellung im Feld abhebt, indem er diese beschreibt, ergänzt, bestätigt oder verwirft, andererseits die im literarischen Artefakt reklamierte Freiheit rückbindet an die empirische Handlungswelt des Autors und seiner Zeitgenossen. Als „Posi­ tionsnahmen“ im Raum möglicher Handlungen verdeutlichen Briefe die Spannung zwischen objektiver Feldstruktur und individueller Handlungsfreiheit. Ein solches Bezugssystem verhindert die einfache Zurechnung von Entscheidungen (z. B. auf Persönlichkeitsmerkmale: dem einen Autor ist der Verdienst wichtig, dem anderen der renommierte Verlag, der eine Verleger verhandelt härter als der andere); stattdessen wird eine „Mehr-Felder-­ Zugehörigkeit“ und auch „Mehr-Zeiten-Zugehörigkeit“ beschreibbar, wie sie ­besonders in Umbruchsituationen (politisch gesehen: um 1848 oder 1870) zu beobachten ist. Ebenso finden verschiedene Systemebenen Berücksichtigung, die in den Briefen reflektiert werden. Die Briefe selbst sind Teil der Mikro­ ebene individuellen Handelns und zeigen, wie die einzelnen Akteure argumentieren und entscheiden. Zu Mustern generalisiert verweisen diese Interaktionen auf die Mesoebene literaturbezogenen Handelns, d. h. die Normen, Rollenbilder, Infrastrukturen des Publizierens, Standardsituationen des Verhandelns, die Entstehung eines populären Zeitschriftenmarkts. Sie werden ebenso einbezogen wie die Makroebene ökonomischer und staatlich-politischer Entwicklung, die als Rahmenbedingung und Thema auf die Literatur zurückwirken. Diese Bezüge sind als konkrete Verweise auf die historische Wirklichkeit aus den Texten zu extrahieren (z. B.: welche Publikationsorte werden genannt, welche Summen verhandelt), zugleich greifen Briefe kommentierend aus und geben uns Einblick in Wertungen und Abwägungen (z. B.: welchen Ruf genießen Zeitschriften, wie stellt ein Autor seine ökonomische Situation dar, welche Einblicke gewährt ein Verleger). Briefe sind leistungsstarke Quellen: im Vergleich mit literarischen Texten sind sie zuverlässiger, sie unterliegen keiner Fiktionalitätskonstruktion und

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sind historisch konkret; im Vergleich mit Geschäftsdokumenten und Kassenbüchern sind sie reichhaltiger, sie zeigen Prozesse der Aushandlung und nicht nur deren Ergebnis, sie verweisen auf buchmarktgeschichtliche Fakten, aber auch auf Sichtweisen, Bewertungen und konkurrierende Normsysteme. Als nicht-öffentliche Texte enthalten Briefe Aussagen und Informationen, die sich in von vornherein zur Veröffentlichung bestimmten Dokumenten nicht finden. Die Briefe zwischen Verlegern und Autoren sind zudem bemerkenswert, weil sie in ihrer Positionierungsleistung sehr persönlich sein können, aber nicht den Privatbriefen zuzurechnen sind. Auch diese Bedeutung, die dem Individuellen und dem Einblick ins Persönliche in der Korrespondenz beigemessen wird, zeigt, dass Pflege und Wertschätzung des Anderen als Teil einer gelingenden Verhandlung gesehen werden. Die Briefschreiber nehmen als Individuen, Geschäftspartner und Repräsentanten einer Berufsgruppe jeweils verschiedene Rollen ein. Eine Typologie der verschiedenen Handlungsmöglichkeiten im Bereich der Literaturproduktion und -vermarktung würde gleichzeitig unterschiedliche Stufen des Modernisierungs- und Professionalisierungsprozesses repräsentieren. Dabei hat der Gegenstand – essayistische Arbeiten, Unterhaltungs- oder schwerer vermittelbare Hochliteratur – auf den Geschäftston Einfluss. Ebenso das jeweilige Selbstverständnis der Akteure: sieht sich der Verleger zumindest auch als Anwalt der Literatur, sucht er den berühmten oder den erst noch Erfolg versprechenden Autor? Wie weit identifiziert der Autor sich mit seinem Produkt, wie weit ist er bereit, auf Verlegerwünsche einzugehen, gilt sein Interesse in erster Linie der respektablen Publikation oder der einträg­ lichen Vermarktung? Die Stärke der Verhandlungsposition wird auf beiden Seiten zusätzlich bestimmt von vorgängigen Erfolgen und Niederlagen, kurz: der zu Recht oder Unrecht bestehende Ruf von Autor wie Verleger beeinflusst die geschäftliche Transaktion in hohem Maße. In dieser Phase werden der Ware Literatur Merkmale zugewiesen; objektivierbare Qualitätskriterien gibt es nicht, erst recht nicht solche, die einen Erfolg kalkulieren ließen. Der Wert der Literatur ist Verhandlungssache, allein aus diesem Grunde ist der pure Geschäftsstil selten zu finden.

IV. Maßzahlen und Konvertibilität der ‚Währungen‘ In literarischen Geschäftsbriefen geht es vor allem um Wert und Preis der Literatur. Beides sind bis in die Alltagssprache hinein mehrdeutige Begriffe. Die Anerkennungssysteme und Regulationsmedien des literarischen Austauschs sind selbst in dezidierten Geschäftsbriefen nicht auf Finanzielles beschränkt.

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Neben das den ökonomischen Markt regulierende Medium Geld treten z. B. die Anerkennung der Peers, Kaufneigung des Publikums, Lob der Kritik, die eigenständige Qualität der literarischen Schöpfung (konsensuell oder behauptet) sowie die bereits etablierte Stellung im Feld. Der Gegen-Wert der Literatur ist deshalb eine Verhandlungssache, in die all dies als feldspezifisches Kapital einfließt. Kulturelle Güter sind gleichzeitig Ware und Bedeutung, sie haben einen symbolischen und einen ökonomischen Tauschwert. Ihre Normen sind Akkumulationsort kulturellen und sozialen Kapitals, wobei die maximale Entfernung des Literaturprogramms von heteronomen Standards mit der maximalen symbolischen Wertschätzung einhergeht. Künstle­ rische Autonomie ist dabei ein ästhetisches Merkmal der Positionsnahme, keine tatsächliche Verweigerung der ökonomischen und symbolischen Verwertung. Der normative Abstand zum Ökonomischen bestimmt den Kern des Künstlerischen und ist zugleich ein wichtiges Verkaufsargument. Aufschlussreich ist, dass in den brieflichen Äußerungen nicht nur diese verschiedenen Wertskalen benannt werden, sondern sie explizit als konkurrierende herausgestellt werden und die Konvertibilität der unterschiedlichen Währungen eingefordert wird. Gottfried Keller argumentiert: „[D]a man mich für einen passablen Schriftsteller erklärt, wünsche ich auch als ein solcher taxiert zu werden.“20 In ähnlicher Weise erklärt Gutzkow den „Ruf“ des Schriftstellers zu dessen Geschäftsgrundlage: „Dem Kaufmann bildet sich ein Credit, dem Dichter ein Ruf.“21 Und Wilhelm Raabe schreibt an Otto Janke: „Wie Sie Ihren geschäftlichen Ruf, so habe ich meinen schriftstellerischen zu erhalten“.22 Für alle gilt, dass der Literaturschaffende mit der positiven Anerkennung durch die wertenden Instanzen des Literaturbetriebs (Kollegen, Kritik, Publikum) wirtschaftet, um diese in ökonomische umzusetzen. Dass die Argumentation auch in umgekehrter Richtung funktioniert, zeigt sich an einer Äußerung Friedrich Hebbels, der das Honorar als unbezweifelbaren Ausweis seiner inzwischen gesicherten Position als Schriftsteller sieht: „Mir werden jetzt ansehnliche Honorare geboten, und da die Kaufleute Nichts zu verschenken pflegen, so müssen meine Sachen auch doch abgehen. Haben Sie gegen die Objectivität dieser Auffassung etwas einzuwenden?“23 Andere hingegen sind in einer weniger komfortablen Situation; so der Philosoph Arthur Schopenhauer, dessen Werke sich zu Lebzeiten kaum verkaufen, er bietet das Manuskript der „Parerga und Paralipomena“ dem Verleger an Vieweg, 25.6.1855, in: Helbling, Keller, Bd. III/2, S. 105. Gutzkow an Feodor Wehl, 3.8.1852, in: Wehl, S. 237. 22  Wilhelm Raabe an Otto Janke, 15.6.1864, zit. n. Koller, S. 89. 23  Friedrich Hebbel an Felix Bamberg, 31.8.1850, in: Werner, Bd. IV, S. 241. 20  Keller 21  Karl

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Brockhaus schließlich sogar ohne Honorar an. Seine erste Sorge ist, sein Werk überhaupt in Verlag zu bringen, um Öffentlichkeit zu erlangen. Die Kränkung, die sich mit dieser Lage als literarischer Bittsteller verbindet, ist nicht einfach zu ertragen: „Bin ich denn danach ein Mann dessen Sachen nicht die Druckkosten werth sind?“ fragt der Autor, um im Anschluss die Güte seiner Schriften nicht an deren Verkäuflichkeit zu messen: „Aber freilich weiß ich sehr wohl, das der Werth der Dinge nicht mit dem Absatz parallel geht.“24 Und obwohl diese Demütigung auch Jahre später für Schopenhauer un­ vergessen ist – „Meine Parerga, welche Sie nicht umsonst haben nehmen wollen, hat Hayn in Berlin“25 – konzediert er doch die Berechtigung unterschiedlicher Interessen und, ohne den seinen aufzugeben, akzeptiert er den Standpunkt des Verlegers: „Inzwischen mache ich es Ihnen durchaus nicht zum Vorwurf, daß Sie von Ihrem Standpunkte aus reden, wie ich von dem meinigen. Wechsel auf die Nachwelt sind nicht diskontabel, das weiß ich.“26 Mehr noch: er anerkennt, dass Ruhm und Absatz sich gegenseitig befördern, wenn er aus Anlass der öffentlichen Ehrung seiner Person die Konvertierung des Ruhms in Bücherabsatz in Aussicht stellt: „Die Büste vermehrt meine Fama und dadurch den Absatz des Buches: also – wasche eine Hand die andere.“27 Die Binnenverhandlung eines Autor-Verleger-Verhältnisses wird belebt durch die tatsächliche oder angedrohte Konkurrenz. Ganz in diesem Sinne instruiert Gottfried Keller den Freund Hermann Hettner: „Schließlich können wir nur gewinnen, wenn wir die Verleger aneinanderhetzen“28. Wenn Heinrich Heine gegenüber Julius Campe erwähnt, dass er vom Konkurrenten Cotta jeden Preis verlangen könnte, geht es nicht in erster Linie um den Verkaufswert seiner Schriften, sondern darum, seine Stellung als wichtigster Lyriker seiner Zeit zu unterstreichen und die Möglichkeit des Wechsels auszumalen: „Mein Freund Kolb aus Augsburg, der jüngst hier war, wiederholte mir die Freude, die ich ihnen allen machen würde, wenn ich im Cottaschen Verlag, zu jedem mir beliebigen Honorare, ein Buch herausgäbe. ich brauchte nur zuzustimmen. Cottas Steckenpferd ist die Lyrik, und für einen Band Poesie könnte ich seine Hose haben.“29 24  Arthur Schopenhauer an Friedrich A. Brockhaus, 17.5.1843, in: Lütkehaus, S. 55. 25  Arthur Schopenhauer an Friedrich A. Brockhaus, 8.8.1858, in: ebd, S. 87. 26  Arthur Schopenhauer an Friedrich A. Brockhaus, 27.1.1859, in: ebd., S. 97. 27  Arthur Schopenhauer an Friedrich A. Brockhaus, 3.11.1859, in: ebd., S. 113. 28  Gottfried Keller an Hermann Hettner, 28.6.1854, in: Jahn, S. 118. 29  Heinrich Heine an Julius Campe, 15.10.1853, in: Heine, Bd. 23, S. 296. Die Äußerung erinnert an Georg Christoph Lichtenbergs bekannten Sudelbuch-Eintrag: „Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.“

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Die Zitate zeigen, wie von den Autoren diese unterschiedlichen Systeme von Ruf, Ruhm, Qualität in Anschlag gebracht werden. Und vor allem, dass sie als eigenständige Maßstäbe und als Gegenentwürfe zur Geldökonomie vorgebracht werden. Keller will aufgrund seines Könnens als Schriftsteller taxiert werden, Schopenhauer muss sein intellektuelles Selbstgefühl mit Verweis auf den sicheren Nachruhm durch Zeiten der Unverkäuflichkeit wahren, durch seinen Ruf und vorgängige Erfolge ist ein Autor kreditwürdig usw. Was trägt zu einer starken Verhandlungsposition bei? Konkurrenzsituationen (wie Keller oder Heine deutlich machen), eine hohe Nachfrage und ein überzeugendes Angebot; oder, in Bourdieus Terminologie, die Fähigkeit, kulturelles Kapital aus einer symbolisch starken Position heraus in ökonomisches zu verwandeln. Konflikte entstehen, wenn die Wertsysteme zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen kommen oder die Integrität des Literarischen gefährdet scheint.

V. Demarkationen Die wichtigste Argumentationsfigur in solchen Konfliktsituationen ist die Abgrenzung des eigenen professionellen Herrschaftsbereichs. „Wie wenig kennen Sie Tun und Lassen eines Verlegers!“ schreibt Julius Springer an seinen Schweizer Autor Jeremias Gotthelf,30 und Campe mahnt Heine, sich aus ökonomischen Dingen herauszuhalten, Heine seinerseits reklamiert die intellektuelle – geistige – Letztverantwortung für seine Publikation. Er tut dies unter doppeltem Hinweis auf das Autor-Ich: „Ich, nicht Sie, ich habe das Buch vor dem Publikum geistig zu vertreten“; der Verleger verwahrt sich gegen Einmischung ins Ökonomische: „Lieber Heine, soll ich Ihnen rathen – ? Dann laßen Sie mich ohne alle Belästigung gewähren, kümern Sie Sich um solche oekonomische Dinge garnicht.“31 In ähnlicher Weise weist Otto Janke seinen Autor Gutzkow in die Schranken und mit ihm sämtliche „Herren Autoren, wenn sie mir in meine geschäftliche Betriebsweise hineinreden und mit wohlmeinenden Rathschlägen bei der Hand sein wollen, obschon ich es komisch finde, daß sie auf den seit vielen Jahren gewiegten Geschäftsmann u. Verleger oft sehr wenig Rücksicht nehmen + z. B. mir (dem Verleger) das meist nicht gönnen wollen, was sie sich (der Autor) gewiß nicht nehmen lassen: die Freiheit der Arbeit.“32

Springer an Jeremias Gotthelf, 15.10.1853, in: Hunziker/Bloesch, S.  63 f. Heine an Julius Campe, 23.9.1851, in: Heine, Bd. 23, S. 224, sowie Julius Campe an Heinrich Heine, 27.10.1854, in: ebd., Bd. 27, S. 247. 32  Otto Janke an Karl Gutzkow, 25.8.1869, in: Friesen, Belletristik, Sp. 83. 30  Julius

31  Heinrich

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Vergleichbare Äußerungen finden sich sehr häufig, regelmäßig führt die Abgrenzung neben der Berufskompetenz auch das buchhändlerische, kaufmännische oder ästhetische Ehrgefühl des jeweils Schreibenden an, mit dem das Recht auf den eigenen Standpunkt begründet wird. Solche deutlichen Demarkationen des Eigenen konturieren die Rollen von Autor und Verleger, sobald diese angegriffen werden; auf der anderen Seite ist es für eine gelingende Beziehung notwendig, die Interessen des anderen anzuerkennen. Insbesondere bei der Anbahnung einer neuen Zusammenarbeit wird Empathie und Anerkennung für die Position des Gegenübers geäußert und man versichert, die Wertskala des jeweils anderen zu respektieren. Der Verleger Cotta bekundet gegenüber Gottfried Keller, die Freiheit des Schriftstellers zu respektieren: „[Der] Deutsche, zumal der deutsche Gelehrte ist eben ein selbständiger Mann von Gesinnung, nicht der literarische Hausknecht des oder irgend eines spekulationssüchtigen Verlegers.“33 In dieser Versicherung schwingt vielleicht auch das Wissen um die schwierige Entstehungsgeschichte des beim Konkurrenten Vieweg erschienenen „Grünen Heinrich“ mit, ganz sicher das Wissen, dass Keller ein eigenwilliger Autor ist. Der erfahrene Literat Gutzkow versichert dem Verleger Otto Janke, dessen wirtschaftliche Interessen nicht nur zu respektieren, sondern zu einer Frage auch der eigenen Ehre zu machen: „Ich bin nicht eitel genug, nicht egoistisch spekulativ genug, um in einem Verleger, den ich schätze und liebe, nur ein Werkzeug zu sehen. Erlitten Sie Verlust an mir, so wären meine Schwingen geknickt.“34 Cotta zollt der künstlerischen Freiheit Respekt, Gutzkow verspricht Janke, die Gewinnaussichten des Verlegers zu achten. Beides hat Vorgeschichte, und die Empathie auch einen strategischen Hintergrund. Was bei der Zusammenschau dieser beiden Briefauszüge darüber hinaus ins Auge springt, ist die aus beiden Perspektiven negative Konnotation des Begriffs der „Spekulation“, der einen Mangel an geschäftlicher Seriosität und Redlichkeit impliziert. Auf beiden Seiten der literarischen Warenwirtschaft gilt also eine Norm der Deckung als unverzichtbar. Die wechselseitige Anerkennung der Einflusssphären erleichtert das täg­ liche Arbeiten und auch die Verhandlungen. Prinzipiell gilt das sogar für die Anerkennung einer grundsätzlichen Normenkonkurrenz, die ja eigentlich Konfliktstoff bietet. Werden also sogar die für die eigene Position dysfunk­

von Cotta an Gottfried Keller, 24.5.1861, in: Helbling, Bd. III/2, S. 214. Gutzkow an Otto Janke, 1.10.1869, in: Friesen, Belletristik, Sp. 96.

33  Georg 34  Karl

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tionalen Ansichten und Handlungsweisen des jeweils anderen zumindest diskursiv akzeptiert, so ist dies die Basis für Wohlwollen und Zugänglichkeit. Was in den zitierten Briefen auch deutlich wird, ist die Unvermitteltheit, mit der die unterschiedlichen Wertmaßstäbe nach- und nebeneinander abgehandelt werden. Daraus resultieren Kommunikations- und Stilbrüche, Pri­ vates wird mit Geschäftlichem vermischt, ästhetische Reflexion steht neben profanen Mitteilungen über Produktionsschritte. Da es sich bei den Schreibenden durchweg um Formulierungsprofis handelt, ist nicht davon auszugehen, dass dies Stilmängel sind, die einfach unterlaufen. Diese Brüche charakterisieren vielmehr das literaturbezogene Geschäftshandeln und sie werden auch als Bruch inszeniert, wie die Bemerkung von Gottfried Kinkel beispielhaft zeigt, der eine Briefpassage an Cotta so zusammenfasst: „Allein dies sind Reflexionen, welche mit Geschäftsbriefen wenig zu tun haben.“35 Die vorangegangenen Abschnitte haben zu zeigen versucht, wie sich die Dichotomie von Marktrationalität und Kunstanspruch zu generalisierbaren Strukturmerkmalen verdichtet, die das literarische Feld organisieren. Vor diesem Hintergrund können die Positionen einzelner Autoren und Verleger genauer bestimmt werden. Die Position, die der einzelne einnimmt, wird bestimmt durch seine ökonomische Situation, die zur Verfügung stehenden Kapitalien wie literarischer Ruf und Anerkennung durch die Kritik, persön­ liches Verhandlungsgeschick, professionelle Kontakte.

VI. Beruf: Schriftsteller Betrachten wir die professionelle Situation von auch heute noch bekannten Autoren des 19. Jahrhunderts, so zeigen sich recht unterschiedliche Erwerbsmodelle. Etliche der in den Kanon eingegangenen Schriftsteller gehen einem literaturfremden „Brotberuf“ nach; Beispiele hierfür sind Theodor Storm, Adalbert Stifter und Eduard Mörike. Andere – wie Heinrich Laube, Karl Gutzkow, Theodor Fontane, Robert Prutz oder Friedrich Spielhagen – verdienen ihr Geld in erster Linie als Redakteure und Journalisten. Sich in dieser Weise ‚breit aufzustellen‘ könnte als professionelle Diversifizierung gewertet werden. Die Tätigkeit als „angestellter Scriblifax“36 oder „Angstarbeiter der Tagespresse“, wie Prutz es zugespitzt bezeichnet,37 wird aber meist geringer geschätzt als die Arbeit am Werk. Das gilt nicht nur für Kinkel an Georg von Cotta, 26.9.1860, in: Fehling/Schiller, S. 460. Fontane an Berhard von Lepel, 31.10.1851, in: Keitel/Nürnberger, Bd. I,

35  Gottfried 36  Theodor

S. 194. 37  Prutz, Bd. 2, S. 61.

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die Reputation im Literaturbetrieb, sondern auch für die Sicht der Akteure auf sich selbst – als abhängig Beschäftigte generieren sie ein Einkommen, das nicht selten die wenig lukrative oder in den Anfängen begriffene literarische Arbeit querfinanziert. Das ist bei Wilhelm Raabe anders. Er ist einer der wenigen wirklichen Berufsschriftsteller, die auch heute noch bekannt und geschätzt sind, und lebt unmittelbar vom Ertrag seiner literarischen Texte.38 Raabe nimmt zudem im Literatursystem seiner Zeit eine Position ein, in der sich Erfolg mit Außenseitertum verbindet. Raabe ist damit das vielleicht interessanteste Beispiel literarischer Professionalisierung im vorletzten Jahrhundert, an dem das Prekäre der schönen Ware Literatur zum Ausdruck kommt. Der Autor selbst literarisiert diese besondere Stellung und macht sie zum ironischen Anküpfungspunkt, wenn er die Erzählung „Der Lar“ als „Eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte“ untertitelt – und damit in der vermeintlichen Übererfüllung der Genrekonventionen diese ad absurdum führt. Genauer noch zeigt das vorangestellte Motto, dass Autorintention und Erwartungshorizont des Publikums nicht übereinstimmen (sollen): „O bitte, schreiben auch Sie doch wieder mal ein Buch, in welchem sie sich kriegen!“39 Obwohl Raabe als einer der wichtigsten Autoren des literarischen Realismus gilt, müssen seine Arbeiten doch in vielem geradezu als Unterwanderung des realistischen Literaturprogramms gesehen werden: die Vorliebe für skurrile Figuren, für Außenseiter, der Entwurf alternativer Familien, die Beschreibung von Modernisierungsschäden, die Menschen und Umwelt erleiden. Wenn die Anliegen des Realismus Harmonisierung von Gegensätzen, Versöhnung und Beruhigung sind, so bieten die Texte Raabes oft genug Verstörung, Eigensinn, Anti-Helden. Potenziert wird dies durch Raabes Erzählweisen, die nicht versichern, sondern im Gegenteil, multiperspektivisch gebrochen, Sicherheiten auflösen und den Lesern unzuverlässige Erzähler und lose Enden zumuten. Der Bruch mit den ästhetischen Erwartungen der Zeitgenossen ist erklärte Absicht und die gemischten oder sogar verstörten Reaktionen von Publikum, Kritik und Verlegern bestätigen dies nur allzu häufig. Trotz seines Erfolgs ist Raabe also mit Sicherheit kein Mainstream-Autor ohne Ecken und Kanten. Raabe kennt natürlich die Mechanismen des Literaturmarkts, er bewegt sich in ihnen und sie sind eine Grundlage seines Handelns. Die Freiheiten, die er sich diesen gegenüber beim Schreiben nimmt, sind jedoch der Kern seines Autorbewusstseins. Er sieht sich als einen Produzenten von Kunst, der mit 38  Vgl.

Koller.

39  Hoppe/Schillemeit,

Bd. 17, S. 222.

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seiner und für seine ästhetische Ware Käufer sucht, nicht jedoch als Dienstleister in Sachen Literatur. Diese Stellung Raabes, in der sich Außenseitertum und Erfolg verbinden, wird erwartungsgemäß auch in seinen Briefen reflektiert. In einem Brief an Adolf Glaser drückt Raabe seine Auffassung von Literatur als Beruf aus: Er erklärt seine Absage an den Redakteur der Westermann’schen Monatshefte mit dem professionellen und ökonomischen Interesse, das ihn verpflichte, das bessere Angebot eines Konkurrenten (Otto Janke) anzunehmen: „Es thut mir wirklich sehr leid, daß wir nun in diesem Jahre keine Correcturen mehr wechseln werden; aber wenn Du Dich objectiv auf Deinen Standpunkt als Schriftsteller stellst und den Westermann’schen Redacteur bei Seite läßt, wirst Du mir Recht geben, daß ich mit demselben Recht so schnell und sicher meine Arbeitskraft zu verwerthen suche wie Herr G. Westermann sein Kapital.“40

Das bessere Angebot ist aber etwas, das er erst sucht, nachdem er seine Texte nach bestem Können und Gutdünken verfasst hat. Genauso wie die Wahrung seines wirtschaftlichen Vorteils gehört die Wahrung der literarischen Integrität zu seinem professionellen Selbstbild. In einem weiteren Brief an Glaser schreibt er: „Ich darf mir mit Genug­ thuung sagen, daß mein Streben immer ernster, und daß mir alles literarische Fabrikwesen immer verhaßter wird. Für die Kritik, wie sie sich jetzt manifestirt, bin ich todt und freue mich darüber.“41 Mit dieser expliziten Formulierung seiner Berufsauffassung distanziert sich Raabe sowohl vom Lohnschreibertum der aufkommenden Zeitschriftenliteratur als auch von der Anerkennung der Literaturkritik. In der Selbstbeschreibung Vergleichbares, wenn auch nicht in der Bewertung der Konsequenzen, erhält der Prager Verleger Ignac Kober: „Ach, glauben Sie mir, es macht mir viel Sorgen, daß es mir nicht gelingen will, den Dichter u Schriftsteller in den Literaten zu begraben. Ich glaubte es zu können, aber ich habe erfahren, daß ich es nicht kann u kein Vermögen erwerben werde, durch die Feder.“42 Und viele Jahre später heißt es in einem Brief an Siegmund Schott: „– ich habe mich nie für einen guten Unterhaltungsschriftsteller gehalten“.43 Raabe impliziert hier die Gegenläufigkeit von ästhetischem Wert und Massengeschmack und aktualisiert hiermit einen Topos, der ‚wahre Literatur‘ und ‚Ware Literatur‘ nicht nur unterscheidet, sondern für inkompatibel hält. Einfach gesagt: was ein großes Publikum unterhält, kann keine Kunst sein. 40  Wilhelm S. 97. 41  Wilhelm 42  Wilhelm 43  Wilhelm

Raabe an Adolf Glaser, 24.7.1863, in: Hoppe/Schillemeit, Erg.-Bd. 2, Raabe an Adolf Glaser, 10.10.1863, in: ebd., S. 102. Raabe an [Ignac Leopold] Kober, 17.9.1859, in: ebd., S. 45. Raabe an Siegmund Schott, 28.10.1893, in: ebd., S. 344.

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Es ist von entscheidender Bedeutung, sich gegenüber dem Verleger auf der richtigen Seite dieser Dichotomie positionieren zu können. Die Selbststilisierung zum besonderen und damit nicht einfach austauschbaren Schriftsteller ist die Voraussetzung, um „nicht nach der Elle“44 bezahlt zu werden, sondern den ästhetischen Anspruch in Honorar ummünzen zu können. Raabe gelingt es, das Eigene, Schöpferische und Besondere als Merkmal von Kunst und Literatur als zu bezahlende Qualität herauszustellen. Diese Überformung der Welt mit einer eigenen Perspektive formuliert er auch in einem Brief an einen jungen Schriftsteller als Aufgabe, die jeder Autor mit eigenen Mitteln zu lösen habe: „Über ‚Zunftgeheimnisse‘ kann ich Sie leider nicht unterrichten. Die giebt es meiner Meinung nach garnicht. Die Individualität ist da Alles und sogenannter guter Rath Nichts.“45 Für Raabe ist der symbolisch-ästhetische Eigenwert von Literatur fest mit einer Position der Idiosynkrasie, Freiheit und Unsicherheit verbunden. Nur sie ermöglichen die allesbestimmende Individualität, die er dem jungen Dichter anrät. Die Stärkung der eigenen Stellung im literarischen Feld geschieht über die Aufladung mit solchen Elementen der Nichtaustauschbarkeit. Sie stehen in Relation und Konkurrenz zu den gleichzeitigen Positionsnahmen anderer Schriftsteller, aber auch in Spannung zu den heteronomen Ansprüchen, die an Literatur, Text und Autor herangetragen werden. Da, wo die Praxis die Nähe zu diesen zu groß und den Unterschied zu gering werden lässt, nutzt Raabe seine Briefe, um die von ihm gewünschten Abstände diskursiv wiederherzustellen. Damit repräsentiert er eine Qualität des literarischen Felds, denn das Autonomiebestreben der Literatur ist ihre soziale Position und ihr spezifisches Kapital. Es negiert die Regeln des Felds der Macht und erwirtschaftet damit eine starke Austauschposition und einen eigenen Machtanteil.

VII. Beruf: Literaturverleger Nicht nur der Beruf des Schriftstellers gewinnt schärfere Konturen, indem sich die Akteure mit ihrer Tätigkeit als einer Erwerbsarbeit auseinandersetzen, auch der des Verlegers verändert sich spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die beiden Anforderungen an die prekäre Ware Literatur – Konkurrenz und der Druck zur ökonomischen Effizienz auf der einen Seite, auf der anderen Hort desjenigen zu sein, das sich diesen Kennzeichen der modernen Industriegesellschaft gerade zu widersetzen sucht – klimatisch zu vereinen, ist 44  Wilhelm 45  Wilhelm

Raabe an Adolf Glaser, 13.10.1869, in: ebd., S. 136. Raabe an Wilhelm Speck, 10.4.1892, in: ebd., S. 326.

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eine Aufgabe des Verlegers schöner Literatur. Er muss möglichst souverän mit der doppelten Kodierung seines Handelsguts umgehen und darf sich weder im einen Bereich noch im anderen als vollkommen unglaubwürdig erweisen. Der Verleger hat dabei verschiedene Aufgaben; er ist Literaturmittler, er betreut Autoren und sorgt für die Veröffentlichung; er ist ein Literaturunternehmer, der betriebswirtschaftlich kalkuliert; er ist Literaturhändler, der Autoren und Publikum gleichermaßen zufriedenstellen muss. Durch diese vielfache Anbindung ist Verlegern aber auch eine größere Bandbreite möglichen Handelns eröffnet: im Gegensatz zu Produktion und Verkauf von Gütern mit geringerer symbolischer Aufladung, ist Erfolg im Falle des Handels mit ­Literatur komplexer definiert. Während Bilanzen – vielleicht noch im Verein mit bürgerlicher Kaufmannsehre (wir betrachten schließlich das 19. Jahrhundert) – üblicherweise hinreichende Auskunft geben, kann die nicht-lukrative Förderung eines genialen Künstlers dem Verleger soziale Anerkennung einbringen, die sich sogar wieder in ökonomischen Gewinn umsetzen lässt. Diese Normen sind aber nur ein Faktor; in jedem Fall auseinandersetzen müssen sich die Verleger mit den Rahmenbedingungen ihres Handelns, die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich verändern. Der expandierende Lese-Markt stellt neue Anforderungen an die Institution Verlag, neue technische Herstellungsmöglichkeiten verändern die Produktion, die Verschiebungen im System staatlicher Zensurbestimmungen befördern einzelne mediale Formen, die sich dem Zugriff von vornherein entziehen können; gleichzeitig erhöht die steigende Zahl freier Schriftsteller, die vom Schreiben leben wollen, das Literaturangebot, aus dem der Verleger auswählt. Die Autoren ihrerseits können und müssen die bestmögliche Vermarktung ihres Produkts betreiben, und dazu gehört auch, aus einer permanenten Konkurrenz der Verleger Vorteil zu ziehen. An drei Beispielen – Julius Campe, Georg von Cotta, Otto Janke – soll gezeigt werden, wie unterschiedlich sich Verleger trotz des grundlegenden ökonomischen Interesses zeigen, wie sie um Autoren werben und was sie als das jeweils Besondere ihres Hauses in Anschlag zu bringen vermögen. Die drei Genannten sind ausgewählt worden, weil mit ihnen zumindest eine kleine Typologie vorgestellt werden kann. Ziel ist vor allem, zu zeigen, dass nicht nur die literarischen Autoren in ihrer Individualität zu würdigen sind, sondern auch die Verleger mit ihrem literaturbezogenen Handeln die Möglichkeiten des Felds ausloten.

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1. Julius Campe – der politische Verleger Julius Campe (1792–1867) ist ein politischer Verleger, dessen Einsatz für die gesellschaftliche Wirkung von Literatur ihn zu einem gesuchten Partner macht. Heine und Ludwig Börne gehören zu seinen Autoren und es gelingt ihm, den Bann der Jungdeutschen durch geschickte Publikationspolitik zu umgehen. Campe zeigt sich als engagierter Verleger und intellektueller Unternehmer. Wenn er mit Heine über die Möglichkeiten der Zensurumgehung korrespondiert, ist das Teil seines spezifischen verlegerischen Wissens. Den souveränen Umgang mit der Zensurtopographie und die Einbindung des Autors in das Unterlaufen der Preßgesetze will er als Ausweis seiner verlegerischen Professionalität verstanden wissen. Dieses praxisbezogene Spezialwissen in Sachen Zensur bringt Campe auch Jahre nach Verbot des „Jungen Deutschland“ vor – es geht nun um die Verbreitung von Heines „Romanzero“: „Denn aus einem Oesterreichischen Verbote mache ich mir wenig, weil dahin doch kein rechter Abzug ist, die menschen sind zu stupid und die Zahl, welche dergl. kauft, ist sehr klein; andern Theiles sind die Buchhändler dort von jeher gewohnt, Gegen dieses Gebote zu sündigen – ebenfalls habe ich bemerkt, daß das Oesterr. Verbot nur an solchen Orten existiert: die im Belagerungszustande erklärt sind – an andern geht es seinen Gang, vonwo ich schmuggeln laße. […] Dagegen ist ein Verbot in Preußen ein böses, bitteres Ding! Die Buchhändler sind nicht so, wie in Oesterreich demoralisiert, sie achten das Verbot.“46

Und auch die Freiheit, dem bildungswilligen Bürgertum Frivoles unterzujubeln, nimmt sich der Hanseat: „Grade die Frommen zu ärgern, habe ich eine Uebersetzung des Eunuchen des Terenz, von Dr Gravenhorst, in die Preße gegeben. Sie wißen, das Stück spielt von A bis Z im Hurenhause.“47 Das Verhältnis zwischen Campe und seinem Star-Autor hat zum einen beinahe freundschaftlich zu nennende Züge, ist aber auch von Misstrauen, gegenseitigen Anwürfen und Auseinandersetzungen geprägt. Heine lobt den Verleger (auch gegenüber Dritten), doch wenn sich dessen Geschäftssinn gegen ihn richtet oder zu richten scheint, werden, wie bereits gezeigt wurde, die Auseinandersetzungen deutlich und die Geschäftspartner weisen einander in die Schranken. Eine längere Passage aus einem zeitlich früheren Brief Heines an Karl Varnhagen von Ense mag noch genauer beleuchten, welche Gründe Heine bei der Verlegerwahl leiten; hier werden die unterschiedlichen Kalkulationen, die weiter oben abstrakt beschrieben worden sind, explizit ausgeführt. Heine skizziert, wie seine „äußere Lage“ – seine ökonomische

46  Julius 47  Julius

Campe an Heinrich Heine, 11.12.1851, in: Heine, Bd. 26, S. 363. Campe an Heinrich Heine, 7.4.1852, in: ebd., Bd. 27, S. 37.

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Situation – es erlaubt oder eben nicht erlaubt, finanzielle Zugeständnisse zu machen und was ihn über das Honorar hinaus an Campe bindet: „Aber täglich verdüstert sich mehr und mehr meine äußere Lage, und die Studien, die mich so stark ergriffen, und obendrein die Weltereignisse haben mich meinen eigenen Angelegenheiten leider mehr entfremdet, als ich gegen mich selbst verantworten kann. Dazu kommt, daß ich manchmal wie mit Blindheit geschlagen war, mich von allen Seiten betrügen ließ und diese Tage mich auch wieder von meinen Buchhändler betrügen ließ, und zwar ganz auf dieselbe Weise wie vorig Jahr. Ich hab zu sehr Kopfschmerzen, und es ärgert mich zu sehr, sonst würde ich es Ihnen zur Ergötzung erzählen. Ich will Ihnen aber nächstens darüber schreiben, ich fürchte Hoffmann und Campe, oder vielmehr Julius Campe ist in sehr schlechten Umständen, und ich muß, wenn ich diesen Winter nicht verhungern will, mich in andere Buchhändlerverhältnisse stürzen. Da ist aber die größte Vorsicht nöthig, jener Mensch ist ein Filou, ist durch schlechte Speculazionen seit einigen Jahren sehr demoralisirt, ist der schlimmsten Tücken fähig, und ich will solang als möglich bonne miene à mauvais jeu machen. Dies alles ist mein Oheim schuld, der mir vorig Jahr noch Holland und Brabant versprach, so daß ich in Geldsachen nicht difficil war und gern etwas sacrificirte, litterarischer Interessen wegen. Denn in Beförderung dieser letzteren giebt es keinen besseren Verleger als Julius Campe, und wenn es nur irgend möglich ist, behalte ich ihn auch deßhalb.“48

Die Passage zeigt zum einen, wie komplex selbst eine nach außen ungemein erfolgreich erscheinende, enge und langandauernde Autor-Verleger-Beziehung in ihrer Entstehung sein kann. Sie zeigt auch, dass für die Seite der Verleger gilt, was wir für die Autoren bereits festgehalten haben: Sehr unterschiedliche Qualitäten werden in die Waagschale geworfen und können zum Honorar addiert werden. Heine ist bereit, „litterarischer Interessen wegen“ etwas zu „sacrificiren“. Engagement, das tatsächlich in sozialer Wirkung mündet und professionelles Agieren am Literaturmarkt, das auch dem Autor nützt, sind einsetzbare Ressourcen. 2. Georg von Cotta – Klassik, Lyrik und Journale Cotta nimmt als Verlag der Weimarer Klassik eine zentrale Stellung ein, die vor allem für den süddeutschen Raum auch Jahrzehnte später unangefochten ist; er besitzt aber auch die Göschen’sche Buchhandlung in Leipzig. Insbesondere als Verleger für Lyrik ist seine Hegemonie anerkannt – Heines Behauptung, Cottas Hosen für einen Band Lyrik fordern zu können, ist weiter oben bereits zitiert worden. Auch die im Verlag erscheinenden Zeitschriften und Zeitungen – namentlich die „Augsburger Allgemeine Zeitung“ –, sind eine Macht. Bezeichnend für die Stellung ist, dass bereits früh eine 48  Heinrich Heine an Karl Varnhagen von Ense, 19.11.1830, in: ebd., Bd. 20, S.  422 f.

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mehrbändige Auswahledition der Briefe von und an Georg von Cotta (1796– 1863) vorliegt. Wenn überhaupt, ist es eher üblich, Verlegerbriefe bei der Herausgabe von Autorbriefwechseln zu berücksichtigen, eine eigene, um den Verleger zentrierte Edition, ist ungewöhnlich. Diese Korrespondenzen zeigen, dass Georg von Cotta, der das Unternehmen um die Mitte des 19. Jahrhunderts führt, persönlich stark in die Verlagsund Publikationsgeschäfte eingebunden ist: Autoren seiner Periodika wenden sich häufig mit Angeboten direkt an ihn und nicht an die jeweilige Redaktion; er erstellt persönlich das Jahresregister der „Allgemeinen“ und redigiert die „Vierteljahrsschrift“, äußert detaillierte Vorstellungen über die politische Richtungnahme seiner Blätter, holt Informationen über potentielle Mitarbeiter ein. Außerdem liest Cotta selbst Buchmanuskripte, macht Verbesserungsund Kürzungsvorschläge. Über Honorarstreitigkeiten oder nur -verhandlungen findet sich wenig in den Briefen, wohl eine Aufstellung über Lyrik-Honorare. Deutlich wird, dass die Zahlung von Honorar an Statuszuschreibung (Autoren) und Verkaufs­ erfolg (Verleger) geknüpft wird. Auch die Briefe Georg von Cottas offenbaren seine kulturell-politische Wirkungsabsicht, sein Verantwortungsgefühl und auch die wichtige Position, die die Cotta’schen Journale in der politischen Entwicklung einnehmen; die Briefe, die er erhält, zeigen, wie umworben sein Haus als Publikationsort ist. Auch Friedrich Hebbel möchte gerne hier publizieren, in seiner Anfrage stellt er die Reputation Cottas als Lyrikverlag heraus: „Ich bin nicht um eine Buchhandlung in Verlegenheit. […] Aber Deutschland ist seit lange gewohnt, Gedichte bei Ihnen zu suchen, und ich frage daher zunächst bei Ihnen an, ob Sie meine Sammlung in Verlag nehmen wollen.“49 Einige Jahre früher hatte Hebbel eine Publikation bei Cotta wegen geringer Honoraraussichten noch kritisch gesehen; im bereits oben zitierten Brief an Felix Bamberg vom 31. August 1850 wägt er ab: „[…] auch Cotta, der mich vorigen Winter besuchte, schien Neigung zu verrathen. Der soll freilich sehr schlecht zahlen und das kommt auch in Betracht, denn von den Lobsprüchen der Allg. Zeitung, die einem Cotta’schen Verlags-Artikel niemals fehlen, wird man nicht fett.“ Cottas kulturpolitisches Selbstverständnis zeigt sich, wenn er im Brief an seinen Autor Wilhelm Heinrich Riehl ausdrücklich (und typographisch) die intellektuelle vor der ökonomischen Leistung betont: „Ich werde die Freude mit ins Grab nehmen, zu Lists Nationalökonomie, wie zu Ihrer „bürgerlichen

49  Friedrich

Hebbel an Georg von Cotta, 22.12.1856, in: Fehling/Schiller, S. 538.

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Gesellschaft“, einen wenn auch sehr leisen, doch geistig (nicht merkantil) buchhändlerischen Anstoß gegeben zu haben.“50 Die politische Wirkungsabsicht Cottas manifestiert sich in erster Linie bei soziopolitischen Schriften wie den genannten und als Journalpolitik. Ohne direkte Einmischung in den Redaktionsalltag sucht Cotta doch, die Linie seiner Blätter in seinem Sinne zu gestalten. Deutlich machen das z. B. seine persönlichen Bemühungen bei der Rekrutierung der Redakteure. Seinen Wunsch, in der Redaktion des „Allgemeinen Zeitung“ seine Position des großdeutschen Ausgleichs inhaltlich und klimatisch vertreten zu wissen, formuliert er gegenüber Ludwig Karl Aegidi: „Ein Korrespondent also, welcher gewandt im Ausdruck, mit dem nötigen Takt ausgestattet, und von der besten lautersten Quelle schöpfend, es unternehmen könnte, solchen Annäherungsplanen beider Großstaaten Ausdruck zu geben, und als Träger zu dienen, ohne zu Berlin und Wien anzustoßen, müßte uns also, nach dem eben Ausgesprochenen nur willkommen sein, hoch willkommen.“51

Die Verleger Campe und Cotta sind gleichermaßen an politischer Gestaltung und kultureller Wirkung interessiert, doch der Vergleich zeigt, dass Zielrichtung und Verfahren unterschiedlich sind und eine solche Einflussnahme zwischen Agitation und Ausgleich gefasst werden kann. 3. Otto Janke – der moderne Erfolgsverleger Julius Campe und Georg von Cotta sind bekannte Figuren des Literaturlebens und werden in zahlreichen literaturwissenschaftlichen Arbeiten erwähnt; auf Otto Janke (1818–1887) trifft beides nicht zu. Der Berliner Buchhändler ist ein Beispiel für eine neuartige Verlegerkar­ riere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; die Zeitgenossen nennen ihn modern und er gilt als der umtriebigste Verleger von Romanliteratur seiner Zeit. Janke entwickelt neue Präsentations-, Distributions- und Werbungsformen, sein Verlag unterscheidet sich von traditionellen Unternehmen in Technologieeinsatz, Akquise und Programmgestaltung. Er trägt zweifelsfrei die Gründermentalität der 1870er Jahre in den Literaturbetrieb und unternimmt mit der Verknüpfung von Buch- und Zeitschriftenproduktion etwas, was heute crossmediales Publizieren genannt würde. Janke macht vieles anders als seine Verlagskonkurrenten und auch anders, als die Autoren schöner Literatur es gewohnt sind und daher erwarten. Mit seinen Methoden macht er sich nicht nur Freunde; aber für ihn gilt die Regel, 50  Georg 51  Georg

von Cotta an Wilhelm Heinrich Riehl, 16.11.1852, in: ebd., S. 599. von Cotta an Ludwig Karl Aegidi, 4.6.1858, in: ebd., S. 134.

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dass nichts erfolgreicher ist als der Erfolg: obwohl oft geschmäht, suchen die Autoren ihn. Bei Janke können sie sicher sein, dass er ihre gemeinsame Ware in hohen Auflagen absetzt. Seine geschäftlichen Erfolgsstrategien der wohlfeilen Ausgaben und lauten Werbung sind aber auch die Grundlage von Zwistigkeiten. Die Autoren schätzen ihn wegen seines modernen Geschäftsstils, gleichzeitig missbilligen sie die Begleiterscheinungen des profitorientierten und kostenbewussten ökonomischen Handelns, sobald es um das besondere Produkt Literatur – vor allem ihr eigenes – geht. Die Selbstpräsentation Jankes in Briefen zeigt, wie er als Akteur an anderen Maßstäben orientiert ist als die beiden Vorgenannten. Auch sein Bild des Autors ist nicht das eines in seiner Singularität geschätzten Intellektuellen, sondern bemisst sich an äußeren Kennzeichen des Erfolgs. Unweigerlich erscheint Spitzwegs „Der arme Poet“ vor dem geistigen Auge, wenn Janke die Reputation des Dichters an die Wohnverhältnisse koppelt: „Endlich ein Autor eine Treppe hoch zu finden! Die meisten derselben wohnen 3 Treppen wie Spielhagen, der schöne Adolph [Stahr], Hesekiel u. A. Das ist aber ihre Schuld allein.“52 Der Brief ist an seinen soeben umgezogenen Autor Gutzkow gerichtet, und das Lob, es in die Beletage geschafft zu haben, ist vermutlich ernstgemeint, entspricht es doch ganz den auf Repräsentation ausgerichteten Normvorstellungen Jankes. Trotzdem scheinen Autor und Verleger nicht denselben Werten anzuhängen, denn in einem anderen Brief heißt es mokant: „Aber, aber, mein unpraktischer Herr Doktor! wie konnten Sie nur so viele Meubles nach Berlin schleppen? Hier giebt’s ja so schöne u. zu billigen Preisen. Ich für meine Person freue mich immer, wenn ich alte Meubles los werden kann; denn neue gefallen mir stets besser. Es ist ja auch ein Fortschritt im Meublesbau!“53

Das Bild des erfolgreichen und zeitgemäßen Schriftstellers, das Janke gegenüber Gutzkow zeichnet, ist das eines modernen, praktischen, sachlichen, dabei auf repräsentative Äußerlichkeiten und Novitäten bedachten Bürgers – also die genaue Entsprechung seiner eigenen Geschäftsprinzipien. Wie wenig diese Orientierungen mit den Dingen des Herzens zu tun haben, lässt sich aus dem Postscriptum eines anderen Briefes an Gutzkow ablesen. Hier heißt es: „Mit meiner Frau, die ein angeborenes kluges Urtheil hat, durch u. durch aber weiblich u. mit seltener Herzensgüte begabt ist, spreche ich selten über geschäftliche Dinge, namentlich über geschäftl. Unternehmungen u. habe meinen eigenen Kopf, der nicht gern sich beeindrucken läßt.“54 Ganz deutlich wird zwischen Männersache und Herzensgüte, zwischen WeltgewandtJanke an Karl Gutzkow, 13.8.1869, in: Friesen, Belletristik, Sp. 78 f. Janke an Karl Gutzkow, 1.10.1869, in: ebd., Sp. 94. 54  Otto Janke an Karl Gutzkow, 25.8.1869, in: ebd., Sp. 85. 52  Otto 53  Otto

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heit und Natürlichkeit, zwischen Stärke und Klugheit unterschieden. Wissen muss man allerdings auch: Es war Gutzkow, der zuvor Jankes Frau als kritisch-besonnene Instanz und zur Stärkung seiner eigenen Argumentation in den Briefverkehr hatte hineinziehen wollen: „Ich will Ihnen, Ihrer scharf urtheilenden, besonnenen Frau nicht gegenüber stehen mit dem Gefühl, Sie hätten zuviel an mich gewagt“55 hatte er wenige Tage zuvor geschrieben. Janke verwahrt sich mit seiner Replik vielleicht gegen allzu Privates, sicher aber gegen die Annahme, Verlagsgeschäfte dem Urteil (s)einer Frau unterwerfen zu sollen.

VIII. Fazit Literarische Geschäftsbriefe geben Auskunft über die „innere Geschichte“ der Vermarktung schöner Literatur und zeigen die (Selbst-)Positionierung der Autoren und Verleger im ästhetischen, ökonomischen und politischen Gefüge ihrer Zeit. Dabei werden nicht nur verschiedene Professionalisierungsstra­ tegien sichtbar, wir gewinnen auch Einblicke in die situationsbezogen ab­ wägenden Entscheidungen von Akteuren, die in der Regel auf Augenhöhe miteinander kommunizieren. Ihre Bezüge auf die unterschiedlichen Bewertungssysteme von ästhetischem Eigensinn, öffentlicher Anerkennung und Verkäuflichkeit zeigen, wie die relative Autonomie der Kunst in der Praxis ausgemessen wird. Kunst und Literatur können sich dabei genauso wenig wie alle anderen kulturellen Ausprägungen ökonomischer Rationalität entziehen: „Die Liebe, die Freundschaft, der Patriotismus, die Religion, Alles bedarf einer kleinen Hinterthür, durch welche die Zehnthalerrollen ihren geheimnißvollen Verkehr betreiben können.“56 Der durch Form und Inhalt ihrer Artefakte entstehende ästhetische Mehrwert schafft jedoch eigenes symbolisches Kapital, das als Regulationsmedium das literarische Feld organisiert und als eigenständige Leistung in andere Bereiche des Gesellschaftlichen eindringen kann. Wir können damit die Bedingungen von heteronomen Erkenntnisweisen in ökonomisch durchformten Gesellschaften nachzeichnen. Die Versuche, mit einem Gut wirtschaftlich zu reüssieren, dessen symbolische Leistung und bestes Verkaufsargument seine Distanz zu den allgemeinen Gesetzen des Warenverkehrs ist, bedürfen der Begründung und Verhandlung. Im 19. Jahrhundert werden mit der Durchsetzung der ökonomischen Moderne die Grundlagen hierfür gelegt. Bis heute hat sich an dieser Konstellation wenig geändert, im Gegenteil: gerade in einer durchökonomisierten Welt sähen wir 55  Karl

Gutzkow an Otto Janke, 19.8.1869, in: ebd., Sp. 82. S. 361.

56  Gutzkow,

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es gerne, wenn das Schöne nicht käuflich wäre und ausschließlich an anderen, eigenen Maßstäben gemessen würde. Die Briefe von Autoren und Verlegern zeigen Anpassung, Widerstand und Wandel literarischer Normsysteme, sie sind Teil der Geschichte von Intellektualität und der Konstitution von Öffentlichkeit. Jeder Brief ist dabei ein ‚Vektor‘ im mehrdimensionalen Feld literarischen und literaturbezogenen Handelns und aktualisiert eine Möglichkeit der Positionierung, die seinen Verfasser von anderen unterscheidet, zugleich jedoch zur Genese und Tradierung von Strukturmustern und Habitusformen beiträgt. Eine besondere Qualität von Korrespondenzen ist die, gleichermaßen Text und soziale Handlung, in diskursiven Traditionen und empirischem Handeln verankert zu sein. Diese doppelte Verpflichtung eröffnet uns nach beiden Seiten aufschlussreiches Zusatzwissen, insofern Briefe einfach erscheinende Fakten diskursiv einordnen und manifestartige Äußerungen praktisch relativieren; das ist besonders reizvoll, wenn es wie hier um Kontroversen und Grenzverhandlungen geht. Zum Schluss lässt sich fragen, wie über den konkreten und begrenzten Untersuchungsgegenstand hinauszugreifen ist. An erster Stelle wäre die historische Verlängerung zu nennen, die unter dem Aspekt der Professionalisierung die Veränderung von Autor-Verleger-Beziehungen nachzeichnet. Eine genauere und theoretische Ausarbeitung würde auch verdienen, wie sich institutionen- und organisationsgeschichtliche Fragestellungen besser mit dem Blick auf die Individuen verknüpfen lassen oder wie sozialwissenschaftliche Theorien der Anerkennung auf historische Literatursituationen angewandt werden können. Ein theoretischer Ansatz wie der Bourdieus ist zunächst geeignet, die verschiedenen Ebenen von Handlung und Struktur dynamisch zu verbinden sowie die Interaktion unterschiedlicher Segmente von (auch historischen) Gesellschaften zu erfassen. Materialerschließung und Typologie der Relationen sollten sich dabei ergänzen ̶ im besten Fall hilft der generalisierende Blick auf Feldstrukturen, Netzwerke und Systeme, die genaue Beschäftigung mit der Fülle des historischen Materials zu organisieren.

Literatur Barth, Dieter: Das Familienblatt – ein Phänomen der Unterhaltungspresse des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 15 (1975), Sp. 121–316. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 1999 [frz. Originalausgabe: Les règles de l’art. Genése et structure du champ littéraire, Paris 1979].

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Brenner, Peter J. (Hg.): Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1993. Corino, Carl (Hg.): Genie und Geld. Vom Auskommen deutscher Schriftsteller, Nördlingen 1987. Darnton, Robert: Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopédie. Oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn?, Berlin 1993 [engl. Originalaus­ gabe: The Business of Enlightenment, Cambridge, Mass./London 1979]. Fehling, Maria/Schiller, Herbert (Hg.): Briefe an Cotta. Bd. 3. Vom Vormärz bis Bismarck. 1833–1863, Stuttgart 1934. Friesen, Gerhard K.: „Es ist schwere Sache mit der Belletristik“. Karl Gutzkows Briefwechsel mit Otto Janke 1864–78, in: AGB 22 (1981), Sp. 1–206. Friesen, Gerhard K.: „Der Verleger ist des Schriftstellers Beichtvater“. Karl Gutzkows Briefwechsel mit dem Verlag F. A. Brockhaus 1831–78, in: AGB 28 (1987), S. 1–213. Gustav Freytag an Salomon Hirzel und die Seinen. Mit einer Einleitung von Alfred Dove, o. O. u. J. Gutzkow, Karl: „Staatswirtschaftslehre“, in: ders.: Beiträge zur Geschichte der neuesten Literatur. Neue wohlfeile Ausgabe, Stuttgart 1839, S. 354–379. Heine, Heinrich: Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Bde. 20– 23. Briefe; Bde. 24–27. Briefe an Heine, Berlin/Paris 1970 ff. Helbling, Carl (Hg.): Gottfried Keller. Gesammelte Briefe in vier Bänden, Bern 1950–1954. Hirth, Friedrich (Hg.): Heinrich Heines Briefwechsel, 3 Bde., München 1914. Hoppe, Karl/Schillemeit, Jost (Hg.): Wilhelm Raabe. Sämtliche Werke, 20 Bde. und 5 Erg.-Bde., Braunschweig 1951 [ab 1960: Göttingen], 1994. Hunziker, Rudolf/Bloesch, Hans (Hg.): Jeremias Gotthelf. Sämtliche Werke, München [ab 1921 Erlenbach-Zürich] 1911–1977; Erg.-Bd. 9. Briefe, 6. Tl. (1853–1854). Bearb. von Kurt Guggisberger und Werner Juker, 1954. Jäger, Georg: Historische Lese(r)forschung, in: Werner Arnold u. a. (Hg.): Die Erforschung der Buch- und Bibliotheksgeschichte in Deutschland, Wiesbaden 1987, S. 485–507. Jahn, Jürgen (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Gottfried Keller und Hermann Hettner, Berlin/Weimar 1964. Keitel, Walter/Nürnberger, Helmuth (Hg.): Theodor Fontane. Briefe, 4 Bde., Frankfurt a. M./Berlin 1987. Koller, Ulrike: Wilhelm Raabes Verlegerbeziehungen, Göttingen 1994. Lütkehaus, Lutker (Hg.): Das Buch als Wille und Vorstellung. Arthur Schopenhauers Briefwechsel mit Friedrich Arnold Brockhaus, München 1996. Parr, Rolf (unter Mitarbeit von Jörg Schönert): Autoren, in: Georg Jäger u. a. (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1. Das Kaiserreich 1871–1918, Berlin/New York 2010, S. 342–408.

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Offene Briefe als Auslöser von Medienskandalen in Deutschland seit 1945 Von Sebastian Hansen

I. Im Sommer 1983 verfassten drei Mitarbeiterinnen der Bundestagsfraktion der Grünen einen Offenen Brief, in dem sie sich über den „krassen Sexismus“1 beklagten, dem sie sich an ihrem Arbeitsplatz ausgesetzt sahen. Dieser zeige sich insbesondere im Verhalten eines Abgeordneten, der sie dadurch belästige, dass er ihnen immer wieder an den Busen fasse. Der Name der betreffenden Person wurde nicht genannt, und der Kreis der Angesprochenen war eng begrenzt. Der Offene Brief richtete sich an alle Mitglieder und Mitarbeiter der Bundestagsfraktion der Grünen und wurde diesen bekannt gemacht, indem man das Schreiben in die Postfächer der 28 Abgeordneten legte. Wenige Tage später, am 7. August 1983, erschien die Bild am Sonntag mit der Titel-Schlagzeile: „Wieder ein Grüner! Sex-Skandal in Bonn. Flugblatt empörter Frauen gegen einen eigenen Bundestagsabgeordneten“. Der Offene Brief hatte damit die Medien und die breite Öffentlichkeit erreicht. Bereits am 8. August ging die tageszeitung (taz) weiter auf das Thema ein und bot eine Dokumentation des Offenen Briefes an. In den nachfolgenden Tagen und Wochen entfaltete sich schließlich eine größere Debatte, an der sich auf breiter Ebene die verschiedenen Zeitungen, Zeitschriften, der Rundfunk und auch ausländische Medien beteiligten.2 Betrachtet man die gesamte Angelegenheit von ihrem Ausgangspunkt bis zum Weg in die Medien beziehungsweise durch die breite Medienlandschaft hindurch, fallen drei Dinge besonders auf. Erstens: Der Offene Brief der drei namentlich in Erscheinung getretenen Grünen-Mitarbeiterinnen richtete sich nur an einen begrenzten Empfängerkreis. Die breite Öffentlichkeit wurde nicht auf Anhieb gezielt gesucht. Zumindest ging der Brief nicht von Seiten der drei Verfasserinnen an die Presse, um dort als Offener Brief publiziert zu 1  Dokumentation: An alle Frauen und Männer der grünen Bundestagsfraktion, in: taz, 8.8.1983, sowie hierzu und zu den nachfolgenden Ausführungen Klein; Bredow. 2  Vgl. die Übersicht zu den Veröffentlichungen in den einzelnen Medien bei Klein, S. 144–149.

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werden. Zweitens: Unabhängig davon, dass zumindest die betroffenen Frauen und vielleicht auch die Leser des Briefs die kritisierten Zustände als skandalös betrachteten, wurde die Angelegenheit erst durch die Zeitung zu einem spezifischen Thema geformt, mit dem die Journalisten auf eine breite Empörung zielten. Allein die erstmalige Präsentation mit der Schlagzeile auf der Titelseite erklärte die aufgegriffene Angelegenheit wortwörtlich zum Skandal. Der Zuschnitt des Themas und die Wortwahl gaben bereits der weiteren Berichterstattung und Debatte eine bestimmte Richtung. Drittens: Erst die Bild am Sonntag holte den zuvor namentlich nicht genannten Bundestags­ abgeordneten aus der Anonymität und präsentierte ihn mit einem Foto im Rahmen der Schlagzeile auf der Titelseite. Die Zeitung bot damit der Öffentlichkeit den ‚Übeltäter‘, den Antihelden, an dem sich das Thema weiter anschaulich konkretisieren und als belegbarer Fall zuspitzen ließ. Aus einem Offenen Brief war somit ein Medienskandal erwachsen, der eine eigene Dynamik und Logik besaß, durch die er sich vom ursprünglichen Schreiben der drei Grünen-Mitarbeiterinnen deutlich unterschied. Der hervorgerufene Skandal richtete sich vom ersten Moment an nicht gegen einen einzelnen Grünen, sondern die Grünen insgesamt – „Wieder ein Grüner!“, hatte die Bild am Sonntag geschrieben. Nachdem die 1980 gegründete Partei bei der Bundestagswahl im März 1983 erstmals in das Hohe Haus eingezogen war, hatte es bereits zahlreiche Skandalberichte gegeben, an die man im Sommer dieses Jahres anknüpfen konnte. Allein die Bundestagsrede von Waltraud Schoppe am 5. Mai, in der sie zentrale Gedanken der damaligen Frauenbewegung vortrug und die Abgeordneten dazu aufforderte, „den täg­ lichen Sexismus hier im Parlament einzustellen“,3 sorgte für Furore. Der auch hierauf rekurrierende „Sex-Skandal“ der Bild am Sonntag drei Monate später erschien als sinnfälliger Beweis für die empörenden Zustände bei „ausgerechnet jene[r] Partei“, so formulierte es der Spiegel, „die nach Bonn ausgezogen ist, um die Etablierten Mores zu lehren“.4 Klaus Hecker, der als „Busen-Grabscher“ identifizierte Bundestagsabgeordnete, war zudem durch seine hervorgehobene Stellung als Listenführer der hessischen Grünen bei der zurückliegenden Bundestagswahl sowie als amtierender Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Forschung und Technologie von nicht unerheb­ lichem öffentlichen Interesse.5 Für die Medien verdichteten sich im „Fall Hecker“ geradezu mehrere Skandal-Diskurse, die von der fehlenden Seriosi-

3  Plenarprotokoll 10/5 Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 5. Sitzung, 5.5.1983, S. 249; vgl. ferner hierzu und zur Frauenbewegung Wolfrum, S. 511–514. 4  „Das sind Sachen, die dauernd passieren“, in: Der Spiegel, Nr. 33, 15.8.1983, S. 76–78, hier S. 76. 5  Vgl. Vierhaus/Herbst, S. 687.



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tät und Glaubwürdigkeit der Grünen über die Doppelmoral bis hin zu den Themen Sex, Sexismus sowie Belästigung am Arbeitsplatz reichten. Zweifelsohne war es ein Offener Brief, der im Sommer 1983 einen Medienskandal zur Folge gehabt hatte. Doch betrachtet man den Zusammenhang zwischen dem Brief und den Medien noch einmal näher, stößt man auf eine nicht zu vernachlässigende Diskrepanz. Der Offene Brief war, wie bereits erwähnt, von Seiten der drei Verfasserinnen nicht zur Veröffentlichung an die Medien gerichtet. Nach eigener, später erteilter Auskunft sollte er, eine „fraktionsinterne Sache“ betreffend, nur „intern behandelt“ werden.6 Unter diesem Gesichtspunkt erscheint der Offene Brief untypisch: Der abgefasste Offene Brief war ein offener Brief ohne Öffentlichkeit. Gerade die Öffentlichkeit jedoch ist ein fester Bestandteil derartiger Texte. Der Offene Brief bedarf „zu seiner vollen Sinnkonstituierung des intendierten Mitlesens einer Öffent­ lichkeit“.7 Im Gegensatz zu Privatbriefen richtet er sich nicht nur an den angesprochenen Empfänger, sondern zugleich an ein breites Publikum, das sich über verschiedene verfügbare Medien erreichen lässt. Der Offene Brief bezweckt „Öffentlichkeitswirkung“.8 Wir können an dieser Stelle zunächst die Beantwortung der Frage zurückstellen, wie die Bild am Sonntag an den Brief gelangte und inwieweit bereits die Verfasserinnen eine Weiterverbreitung zu bedenken oder auch einkalkuliert hatten. Vielmehr möchte ich, ausgehend von dem aufgeführten Beispiel, ganz allgemein der Frage nachgehen, warum und inwieweit Offene Briefe Auslöser für Medienskandale bilden können. Denn üblicherweise werden Offene Briefe von Seiten der Verfasser gezielt veröffentlicht. Doch nicht jeder angebotene Brief wird von den Medien auch publiziert. Sofern die Journalisten ihnen einen Nachrichtenwert zusprechen, wird über sie berichtet; werden sie dagegen abgedruckt, scheint den entsprechenden Briefen aus Sicht der Medien eine spezifische Wirkkraft eigen zu sein, die nicht zuletzt in der besonderen Form des Briefes begründet liegt. Wenn wir Émile Zolas 1898 erschienenen Offenen Brief bedenken, mit dem sich der Schriftsteller in die Dreyfus-Affäre einschaltete und durch sein J’accuse einen Medienskandal auslöste, haben wir einen Fall par excellence vor Augen, der zeigt, welche Wirkung ein in der Zeitung abgedruckter Offener Brief entfalten kann.9 Doch ein Blick auf die zahllosen Offenen Briefe, die seitdem allein in Deutschland erschienen sind und ganz unterschiedliche Aufmerksamkeit er6  Klein, S. 126. Dies Aussage gaben die beiden Verfasserinnen des Briefes Chris­ tiane Friedrich und Gisela Härtel im Interview mit Ingrid Klein. 7  Essig, S. 16. 8  Müller, Sp. 64. Vgl. ferner generell zu den Merkmalen und Analyseaspekten Offener Briefe Dücker; Wellmann; Essig, S. 15–20; Essig/Nikisch, S.  12 f. 9  Vgl. hierzu Essig, S. 173–194; Schoeps sowie zuletzt Mollenhauer.

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regt haben, verdeutlicht, dass die Publikation derartiger Briefe keinesfalls automatisch die erhoffte oder überhaupt irgendeine Wirkung, geschweige denn Skandale hervorruft. Ich möchte daher im Folgenden anhand von drei unterschiedlichen Beispielen seit 1945 genauer in den Blick nehmen, wann und warum Offene Briefe in Deutschland zum Auslöser von Medienskandalen wurden und anschließend ergänzend die umgekehrte Frage beantworten, warum dies in anderen Fällen nicht gegeben war. Erst hierdurch wird weiter deutlich, welchen Stellenwert Offene Briefe für Medienskandale besitzen und welche besonderen Merkmale damit verbunden sind. Zum genaueren Verständnis müssen wir uns jedoch zuvor kurz der Frage zuwenden, wie ein Medienskandal zu definieren ist.

II. Folgt man dem Medienwissenschaftler Steffen Burkhardt, bietet sich bei der analytischen Betrachtung von Skandalen eine präzisierende Einteilung in drei Medialisierungsgrade an: erstens der Skandal ohne Medienberichterstattung, zweitens der medialisierte Skandal und drittens der Medienskandal.10 Diese Unterteilung ist für eine genauere Betrachtung von Medienskandalen hilfreich, weil sie noch einmal vor Augen führt, dass genau zu betrachten und zu bewerten ist, woher ein Skandal rührt und warum er in den Medien präsent ist. Denn nicht jeder Skandal gelangt in die Medien. Sofern ein Skandal, also der thematisierte Verstoß gegen etablierte Normen und Werte einer Gesellschaft,11 nur eine geringe Teilöffentlichkeit betrifft und von den beteiligten Akteuren oder vom Thema her keine Aufmerksamkeit und kein Inte­ resse für die Medien bietet, bleibt er als Skandal zwar bestehen, scheint ­jedoch nur von geringer Bedeutung zu sein, wenn man die Medienbericht­ erstattung als Maßstab nimmt. Mediale Skandale hingegen sind jene Skandale, die bereits Aufmerksamkeit erregt haben und von einer gewissen Bedeutung erscheinen, die dazu führt, dass die Medien über den entsprechenden Skandal berichten, ohne jedoch das Ereignis selbst weiter zu skandalisieren. Demgegenüber kennzeichnet den Medienskandal, dass die Medien selbst erst einen Skandal produzieren. In diesem Falle wird man auf die Eigenheiten dieser besonderen Kommunikationspraxis achten müssen, die durch spezifische Narrative und zeit­ liche Abläufe gekennzeichnet ist, von denen Journalisten angesichts der 10  Burkhardt, Medienskandale; Burkhardt, Skandal; ferner auch Thompson, der nur zwei Medialisierungsgrade nennt; auch generell Bulkow/Petersen; Gelz/Hüser/RußSattar. 11  Vgl. eingehender hierzu, auch mit Blick auf den Wandel in der Begriffsgeschichte, Bösch; Imhof; Mork.



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hohen und komplexen Publizität Gebrauch machen. Dieser Aspekt braucht uns nicht weiter zu interessieren. Für unsere Betrachtung ist vielmehr die Feststellung zentral, dass Offene Briefe folglich nicht nur von Seiten der Verfasser oder des Themas einen bestimmten Grad an Interesse für die Öffentlichkeit besitzen müssen, sondern dass es bei den Medien selbst eines Interesses daran bedarf, den Brief zu veröffentlichen. Anders gesagt: Für einen Medienskandal ist ein Offener Brief erforderlich, der durch die persönliche Form des namentlich bekannten Verfassers und des direkt angesprochenen Adressaten sowie durch das Thema beziehungsweise den appellativischen Charakter, der damit häufig einhergeht,12 besticht und Wirkung verspricht. Die Medien und die Verfasser von Offenen Briefen bilden eine Zweckgemeinschaft, die darauf ausgerichtet ist, eine Botschaft zu setzen. Ob beide Beteiligte damit verbunden einen Skandal hervorrufen oder zumindest forcieren, muss von Fall zu Fall besehen werden. Wenn Offene Briefe Normverstöße beklagen oder selbst bewirken möchten, ist ihnen der Skandal, das heißt genauer: der Medienskandal, zumindest grundsätzlich inhärent.

III. Wenden wir uns nun drei markanten Beispielen zu, die verdeutlichen, warum und wie Offene Briefe Medienskandale erzeugen können. Das erste Beispiel betrifft den Offenen Brief des Schriftstellers Walter von Molo, mit dem dieser im August 1945 Thomas Mann zur Rückkehr nach Deutschland aufforderte, um „den zertretenen Herzen Trost“ zu geben und „wie ein guter Arzt“ seinem Volk zu helfen.13 Die Menschen, die in Deutschland geblieben seien, so Molo, haben „im innersten Kern nichts gemein mit den Missetaten und Verbrechen, den schmachvollen Greueln und Lügen, den furchtbaren Ver­irrungen Kranker“, die das Volk zwölf Jahren lang beherrschten. Ohne Hitler oder den Nationalsozialismus namentlich zu erwähnen, schrieb Molo den Deutschen eine Opfer-Rolle zu, indem die Nationalsozialisten als kranke Täter dargestellt wurden, die Deutschland allmählich zu einem „großen Konzentrationslager“ hatten werden lassen. Der Brief bildete bekanntlich den Beginn jener später so genannten ‚großen Kontroverse‘,14 zu der sich bereits kurz nach Molos Brief die öffentliche Stellungnahme von Frank Thiess gesellte, mit der die begonnene Debatte auch den Fokus auf die Bedeutung der inneren Emigration und das Verhältnis der in Deutschland verbliebenen Wellmann; mit Einschränkungen Essig, S. 16. Zitate stammen von Molo, Walter von: Offener Brief an Thomas Mann. Münchner Zeitung, 13. August 1945, in: Schröter, S. 334–336. Die nachfolgenden Zitate ebd. Zum falschen Erscheinungsdatum siehe weiter unten. 14  Vgl. Grosser. 12  Vgl. 13  Die

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Künstlern zu jenen fokussierte, die – so formulierte es Thiess – „aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie zuschau­ te[n]“.15 Es bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Auffächerung und Bewertung der Debatte, die ein zentraler Bestandteil des „Selbstverständigungsdis­ kurses“16 im Deutschland der frühen Nachkriegszeit war. In unserem Zusammenhang ist nur die Frage interessant, warum der Offene Brief Walter von Molos zum Auslöser eines Medienskandals wurde. Betrachten wir zunächst das Zustandekommen und die Erscheinungsform des Briefes. Von Molo hatte Thomas Mann, den er persönlich durch die gemeinsame Arbeit in der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie in den 1920er Jahren kannte, bereits einen Brief zum 70. Geburtstag am 6. Juni 1945 geschrieben, den der in den USA lebende Schriftsteller jedoch erst Ende August erhielt.17 Wenngleich er darin die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen zum Ausdruck brachte, war damit noch keine ausdrückliche Aufforderung zur Rückkehr nach Deutschland verbunden. Warum aber beließ von Molo es nicht bei einem persönlichen Briefwechsel, um Thomas Mann zu einer Rückkehr nach Deutschland zu bewegen, sondern wählte nach seinem ersten Schreiben noch einmal mit einem neuen Brief den öffentlichen Weg? Soweit wir bisher sehen können, war es Johannes Franz Gottlieb Grosser, der Walter von Molo dazu bewegen konnte, sich erneut, nun aber in Gestalt eines Offenen Briefes an den Nobelpreisträger zu wenden.18 Der Sinn hierfür lag nicht nur darin, dem zunächst formulierten Anliegen noch einmal Nachdruck zu verleihen. Vielmehr war es das Ziel, Thomas Mann zu einer öffentlichen Stellungnahme zu provozieren, die das Potential eines klärenden Skandals besaß. Grosser war, wie sich anhand mosaikartiger Hinweise bisher rekonstruieren ließ, während des Zweiten Weltkriegs Reserveoffizier im Oberkommando der Wehrmacht und hier als Verfasser und Herausgeber verschiedener Schriften wie Funker am Feind (1941), Dienende Herzen. Kriegsbriefe von Nachrichtenhelferinnen des Heeres (1942) oder Die Führungstruppe. Weg und Wert einer Waffe (1944) tätig gewesen.19 1945 entging er offensichtlich der Kriegsgefangenschaft. Grosser selbst berichtete lediglich 15  Thiess, Frank: Die innere Emigration. Münchner Zeitung, 18. August 1945, in: Schröter, S. 336–338. Ob Thiess Teil einer konzertierten Aktion war, ist nicht eindeutig zu sagen. Der Nachlass ist noch gesperrt, vgl. Vaget, Mann, der Amerikaner, S. 487. 16  Zitat: Lühe, S. 311; ferner zum gesamten Komplex Vaget, Mann, der Amerikaner, S. 479–502; Vaget, Der Unerwünschte; Gut; Hajdu. 17  Wysling, S. 365 (Walter von Molo an Thomas Mann, 6.6.1945); Mann, S. 247 (Tagebucheintrag vom 30.8.1945). 18  Vgl. zu diesem gesamten Vorgang Krenzlin, Große Kontroverse, S. 7–25; Krenzlin, Geschichte des Scheiterns; Krenzlin, Ich hebe keinen Stein auf. 19  Vgl. entsprechende Nachweise bei Krenzlin, Große Kontroverse, S. 13.



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von seiner Flucht über die Alpen, die am 7. Mai von St. Veit an der Glan aus begann und seinem Besuch bei Walter von Molo in Murnau Ende Juli.20 Nach eigenen Angaben hatten beide bei ihrem letzten Beisammensein Monate zuvor dieses erhoffte Wiedersehen einander versprochen. Bei dieser Gelegenheit, Ende Juli 1945, habe Grosser auch Molo aufgefordert, einen weiteren Brief an Thomas Mann zu schreiben – und zwar einen Offenen Brief, „der ihn vor der ganzen Welt bittet zurückzukehren“.21 Doch betrachtet man einige Widersprüche sowie die bis heute weit im Dunkel bleibende Person Grosser etwas näher, wird deutlich, dass diese Aufforderung offenbar einer eigenen Intention folgte. Grosser verfolgte offensichtlich mit politischer Aspiration die Artikulation nationaler Interessen gegenüber den Besatzungsmächten.22 Es war daher sein Kalkül, mittels eines Offenen Briefes Thomas Mann vor eine Entscheidung zu stellen. Entweder würde der angesehene Schriftsteller dem Appell, als „guter Arzt“ nach Deutschland zurückzukehren, folgen, wodurch die Möglichkeit bestünde, dass sich Thomas Mann als Sprecher der Deutschen vom besetzten Deutschland aus für die nationalen Belange gegenüber den Alliierten einsetzten könnte oder sogar einspannen ließe; oder aber Thomas Mann folgte der Aufforderung zur Rückkehr nicht, wodurch er seine Meinungsführerschaft, deren Bedeutung für die weitere Zukunft Deutschlands 1945 noch nicht genau absehbar war, verspielen und auf diese Weise als Antiheld „das Lager der antifaschistischen Umerzieher“23 schwächen würde. Grosser selbst sorgte entsprechend für eine breite Veröffentlichung von Molos Text, indem er ihn – nach eigener Auskunft – zur Münchner Zeitung brachte, die den Brief daraufhin am 13. August veröffentlicht habe.24 Abgesehen davon, dass Grosser in seinem Rückblick von 1963 ein falsches Datum angab – der Brief erschien de facto bereits am 4. August 1945 in der Münchner Zeitung –, erweckte er den Eindruck, den Brief nur an diese Zeitung 20  Grosser,

S. 10–13. S. 16. Diese Äußerung von 1963 deckt sich durchaus mit einer brief­ lichen Äußerungen Molos gegenüber Grosser aus dem Jahr 1955, auf die Krenzlin, Große Kontroverse, S. 14, hinweist und näher eingeht. In seinen 1957 publizierten Erinnerungen erwähnt Molo an entsprechender Stelle allerdings Grossers Mitwirkung nicht, vgl. ebd., S. 23, Anm. 21. 22  Vgl. Krenzlin, Geschichte des Scheiterns, S. 62; Krenzlin, Große Kontroverse, S. 13. Ein Nachweis dafür, dass Grosser 1934 angab, seit 1930 Nationalsozialist zu sein, bietet Krenzlin, Ich hebe keinen Stein auf, S. 98. 23  Krenzlin, Geschichte des Scheiterns, S. 62. 24  Vgl. Grosser, S. 17. Am Rande sei bemerkt, dass Grosser in seiner Veröffent­ lichung von 1963 keine positiven Stimmen zu Thomas Mann wie zum Beispiel den zu dieser Debatte gehörenden Leserbrief von Ralph Giordano aufführte, der am 19.1.1946 in der Hamburger Freien Presse erschien, vgl. den Nachweis und Auszug bei Heine/Schommer, S. 417. 21  Grosser,

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gegeben zu haben. Doch wie konnte der Brief dann am gleichen Tag auch in der Hessischen Post erscheinen, die ebenfalls von der amerikanischen 12. Heeresgruppe herausgegeben wurde? Es ist viel wahrscheinlicher, wie Leonore Krenzlin bereits vermutete, dass Grosser den Offenen Brief Hans Habe zukommen ließ, einem österreichischen Schriftsteller und Journalisten, der zu dieser Zeit Leiter jener Abteilung der amerikanischen Public Information Division war, die die Veröffentlichung einer Reihe von Zeitungen betrieb, solange noch keine lizensierten Zeitungen erschienen.25 Habe war somit, in seinen eigenen Worten ausgedrückt, „eine Zeit lang Chefredakteur aller in Deutschland erscheinenden Zeitungen“.26 Eine breite Veröffent­lichung des Briefes erscheint ohne Habe kaum denkbar. Er selbst erwähnte später, dass er die beiden Briefe von Molo und von Thiess erhalten und veröffentlicht habe.27 Doch wie ihn diese Schreiben erreichten, erwähnte er, ebenso wie den Namen Grosser, nicht. Hinzu kommt, dass sich entgegen der bis heute allgemein verbreiteten Annahme, der Offene Brief an Thomas Mann sei zuerst am 4. August in den genannten Zeitungen erschienen, anhand einer überlieferten Ausgabe der Stuttgarter Stimme zeigen lässt, dass der Brief bereits erstmals am 3. August in der ersten Ausgabe der Stuttgarter Stimme unter der Überschrift „Brief an Thomas Mann“ auf der letzten Seite publiziert wurde.28 Hierdurch wird die Aussage Grossers noch unglaubwürdiger und die Kontaktaufnahme zu Hans Habe noch ein Stück plausibler. Wie im Einzelnen der Ablauf und die Kontakte jedoch aussahen, bleibt allerdings nach wie vor nicht ganz ersichtlich und bedarf noch einer eingehenderen Untersuchung. Dies gilt auch für die erste öffentliche Reaktion auf den Offenen Brief Walter von Molos. Thomas Manns erhielt den abgedruckten Brief bereits am 10. August durch das Office of War Information.29 Bevor er seine Antwort hierauf jedoch abschloss, erschien am 18. August in der Münchner Zeitung der bereits erwähnte Artikel von Frank Thiess zur inneren Emigration. Da der relevante Nachlass von Frank Thiess bislang nicht zugänglich war, muss auch in diesem Falle die Frage offen bleiben, ob er möglicherweise von Johierzu Krenzlin, Große Kontroverse, S. 14 ff. Ich stelle mich, S. 478. 27  Vgl. Habe, Im Jahre Null, S. 79 f. 28  Vgl. Molo, Walter von: Brief an Thomas Mann, in: Stuttgarter Stimme, 3.8.1945. Ein Exemplar befindet sich im Nachlass von Kurt Schimmel (1879–1967) im Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Archivalieneinheit P 2 Bü 81, und ist als Digitalisat online über diesen Bestand auf der Website des Landesarchivs verfügbar (Permalink: http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=1-584421). Krenzlin erwähnt zwar in einer Anmerkung bereits diese Veröffentlichung, führt aber zunächst weiterhin den 4.8. als Publikationsdatum des Briefes an, vgl. Krenzlin, Große Kontroverse, S. 12. 29  Mann, S. 239 (Tagebucheintrag vom 10.8.1945). 25  Vgl.

26  Habe,



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hannes F. G. Grosser hierum gebeten und damit Teil einer konzertierten Aktion geworden war.30 Ohne die gelungene Nutzung der Medien hätte der Offene Brief Molos nicht seine Wirkung entfalten können. Der öffentlich vernehmbare Appell des zuvor in der NS-Zeit zurückgezogen in Deutschland lebenden Schriftstellers an Thomas Mann verlangte nach einer Antwort, zumal der Offene Brief eine zutiefst moralische und gesellschaftspolitische Frage beinhaltete, die bereits das Potential zum Skandal in sich trug. Denn er bezog sich auch auf einen Beitrag Thomas Manns, den dieser unter dem Eindruck eines Berichts der Time über die deutschen Konzentrationslager Anfang Mai verfasst hatte und der zunächst als Rundfunkbotschaft am 8. Mai in Deutschland und anderen europäischen Ländern Verbreitung fand sowie am 10. Mai in der Frankfurter Presse unter dem Titel Die deutschen KZ, zwei Tage später in der Hessischen Post und der Ruhr-Zeitung (hier unter dem Titel Die Konzentrationslager) und schließlich am 18. Mai in der Bayerischen Landeszeitung unter dem offensichtlich nicht autorisierten und für die Rezeption nicht un­ erheblichen Titel Thomas Mann über die deutsche Schuld erschien.31 Darin äußerte der Schriftsteller, dass angesichts der Konzentrationslager „alles Deutsche, alles was deutsch spricht, deutsch schreibt, auf deutsch gelebt hat, […] von dieser entehrenden Bloßstellung mitbetroffen“32 sei. Thomas Mann zielte damit auf die Übernahme von Verantwortung, die sich hieraus für alle Deutschen ergebe und durch die sich erst die Rückkehr der Deutschen zur Menschheit erweisen müsse. Der Offene Brief Walter von Molos dagegen umging trotz seiner argumentativen Nähe zu Thomas Mann diese Forderung, indem er vielmehr auf das „nunmehr seit einem Dritteljahrhundert“ bestehende Leid der Deutschen abhob, die daheim geblieben seien „in dem allmählich gewordenen großen Konzentrationslager, in dem es bald nur mehr Bewachende und Bewachte verschiedener Grade gab“.33 Nur wer diese Situation mit eigenen Augen sehe, so lautete implizit die Botschaft, werde hierüber urteilen und sprechen können. Damit wurde die Frage nach der Autorität und dem Verhältnis zwischen jenen, die Deutschland verlassen hatten, und jenen, die im Land geblieben waren, wieder akut und bot den Anstoß zu einer entzweienden Debatte, die durch weitere öffentliche Wortmeldungen entstand und auf beiden Seiten für Empörung sorgte. Der Offene Brief hatte die sich aufdrängende Frage nach dem Umgang mit der nationalsozialistiVaget, Mann, der Amerikaner, S. 487; Krenzlin, Große Kontroverse, S. 17. Kurzke/Stachorski, S. 375–377; zur Rundfunkveröffentlichung vgl. Valentin, S. 262. 32  Kurzke/Stachorski, S. 11. 33  Molo: Brief an Thomas Mann. Abdrucke dieses Briefes sind zu finden bei Grosser (1997), S. 18–21, Schröter, S. 334–336. 30  Vgl. 31  Vgl.

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schen Vergangenheit aufgeworfen und war damit zum Auslöser eines öffentlich über die Medien geführten Skandalthemas geworden. Ein anderes, zweites Beispiel für unser behandeltes Thema stellt der Offene Brief des Schriftstellers Ralph Giordano an Bundeskanzler Helmut Kohl im November 1992 dar. Diese Wortmeldung stand im Kontext der sehr emotional geführten Asyldebatte der späten 1980er und frühen 1990er Jahre, die mit aufsehenerregenden ausländerfeindlichen Exzessen verbunden war, als durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und den Jugoslawienkrieg die Zahl der jährlichen Asylbewerber rasant anstieg, von 120.000 im Jahr 1989 auf 438.000 drei Jahre später.34 Dabei erwies sich die Situation in den neuen Bundesländern als besonders problematisch. Der geringe Anteil an Ausländern in der DDR, zu denen hauptsächlich streng separiert lebende Männer aus den sozialistischen Bruderstaaten Vietnam und Mosambik gehörten, die als Vertragsarbeiter und ohne Familie ins Land geholt worden waren,35 trug dazu bei, dass eine fremdenfeindliche Stimmung entstand und sich mit der wachsenden Zahl an Asylbewerbern immer stärker entlud. „Rassismus und Ausländerfeindlichkeit kommen jetzt ungehindert zum Ausbruch“, schrieb der Spiegel im April 1990 in dem Artikel „Schon nahe am Pogrom“.36 Dies galt insbesondere mit Blick auf die neuen Bundesländer, in denen es zahlreiche Gewaltausbrüche gegen Ausländer gab. Nachdem am Ostersonntag 1991 Jugendliche in Dresden einen Mosambikaner, der in der ehemaligen DDR als Vertragsarbeiter beschäftigt gewesen war, überfallen und vor eine Straßenbahn gestoßen hatten, mit der Folge, dass das Opfer wenig später seinen schweren Verletzungen erlag, ereignete sich schließlich im September des gleichen Jahres in Hoyerswerda ein „aufsehenerregender feindlicher Exzess“,37 indem einige hundert Jugendliche mehrere Tage lang unter dem Beifall von Zuschauern ein Wohnheim für Ausländer mit Steinen und Brandsätzen bewarfen und auch die Polizei angriffen, die das Gebäude zu schützen suchte und kurz darauf die Bewohner mit Bussen evakuierte. Zahlreiche weitere ausländerfeindliche Anschläge folgten in West- und Ostdeutschland. Im Sommer 1992 kam es zu einem „mehrtägigen Pogrom“38 in Rostock-Lichtenhagen, begleitet von zahlreichen weiteren Übergriffen mit Todesfolge. Als am 23. November 1992 im schleswig-holsteinischen Mölln 34  Herbert, S. 1171–1180. Nach Änderung des Grundgesetz-Artikels 16 im Dezember 1992 ging die Zahl der Asylbewerber wieder auf die Zahl von 1989 zurück. Gemessen an der Bevölkerungszahl hatte Deutschland damit in den 1990er Jahren im Vergleich zu Ländern wie Schweden und der Schweiz eine geringere Quote, vgl. ebd. 35  Vgl. hierzu auch Priemel. 36  Vgl. „Schon nahe am Pogrom“, in: Der Spiegel, Nr. 14, 2.4.1990, S. 98–106. 37  Herbert, S. 1174. 38  Herbert, S. 1175.



Offene Briefe als Auslöser von Medienskandalen325

ein Haus in Brand gesteckt wurde, bei dem drei türkische Bewohner starben, verfasste Ralph Giordano umgehend seinen Offenen Brief, der am 25. November in der taz erschien.39 In diesem Offenen Brief, der mit der vollständigen Anschrift des Adressaten, Anrede und Grußformel auf Seite 10 der Zeitung erschien, sprach Gior­ dano der Regierung Kohl sein Misstrauen aus.40 Im Plural erklärte er, dass man angesichts der jüngsten Mordfälle „den Glauben und die Hoffnung“ verloren habe, von der Regierung noch wirksam gegen „Rechtsextremismus und seine antisemitischen Gewalttäter“ geschützt zu werden. Da die Über­ lebenden des Holocausts, zu denen auch Giordano gehörte, nie wieder bereit seien, ihren „Todfeinden“ wehrlos gegenüberzustehen, sei man dazu übergegangen, „die Abwehr von potentiellen Angriffen auf unsere Angehörige und uns in die eigenen Hände zu nehmen, und zwar bis in den bewaffneten Selbstschutz hinein.“ Es war das Anliegen des Briefes, dies dem Bundeskanzler mitzuteilen und ihn zugleich wissen zu lassen, dass er und seine Regierung aufgrund „der unentschuldbaren staatlichen Schwäche gegenüber den rechten Mördern“ für alle möglichen Folgen dieser Selbstverteidigung verantwortlich seien. Der Brief wurde umgehend von den anderen Medien des In- und Auslands aufgegriffen und entzündete eine Debatte, in der nicht zuletzt die hervorgerufene Empörung und Wut den Ton verschärften.41 Giordanos Wortmeldung prägte aber auch die Debatte im Deutschen Bundestag mit, der am 25. November seine Haushaltsberatungen fortsetze.42 Dabei erklärte Bundeskanzler Kohl, dass das Gewaltmonopol des Staates „von niemandem angetastet werden“ dürfe und derjenige, der dies versuche, „muß die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen“.43 Die Regierung wies den Vorwurf der Ohnmacht zurück, hielt die zuständigen Bundesbehörden aber umgehend dazu an, noch entschiedener gegen Rassisten und rechtsextremistische Gewalttäter vorzugehen. Giordanos Offener Brief hatte einen Nerv getroffen. Er setzte die Regierung und generell die Politik unter Druck, artikulierte und verstärkte die Empörung über die vorhandene Gewalt von Seiten der Rechtsextremen beziehungsweise der Antisemiten und bot schließlich selbst einen zusätzlichen Skandal, indem er die Staatsgewalt und den Rechtsstaat infrage stellte. diesem Anschlag insgesamt Cords/Kahl; Herbert, S. 1176. Ralph Giordano schreibt an Helmut Kohl, in: taz, 25.11.1992, S. 10, abgedruckt bei Essig/Nickisch, S. 233 f. Die nachfolgenden Zitate ebd. Hervorhebung im Original. 41  Vgl. Essig/Nikisch, S. 236, sowie ausführlich hierzu Giordano. 42  Vgl. Plenarprotokoll 12/123 Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 123. Sitzung, 25.11.1992. 43  Plenarprotokoll 12/123, S. 10475. 39  Zu

40  Dokumentation:

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Der entfachte Medienskandal konnte weitere Anschläge wie beispielsweise 1993 in Solingen nicht verhindern, doch er dynamisierte die Debatte um die skandalösen Zustände, aus der noch im Dezember 1992 ein Asyl-Kompromiss hervorging.44 Das dritte und letzte Beispiel gilt einem Literaturskandal, der eine politische Dimension besitzt und nicht zuletzt einen ebenfalls sehr anschaulichen Medienskandal darstellt. Am 21. August 1995 bot der Spiegel auf seinem Titelbild eine Fotomontage, die den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki beim Zerreißen des Romans Ein weites Feld von Günter Grass zeigte und damit verbunden einen Beitrag „über das Scheitern eines großen Schriftstellers“ ankündigte.45 Man verwies damit auf den Offenen Brief, den der Kritiker geschrieben hatte und der in der Spiegel-Ausgabe in großer Aufmachung veröffentlicht wurde. Der Steidl-Verlag hatte zuvor das neue Werk seines Autors als „Jahrhundertroman“46 angekündigt, und Marcel Reich-Ranicki versuchte nun mit Verve darzulegen, dass dies nicht der Fall sei. Dabei führte er nicht nur eine schlechte Qualität des Werks an, sondern fokussierte insbesondere die politische Haltung und Rolle des Schriftstellers. Die Form des Offenen Briefs diente entsprechend als Instrument, um auf Anhieb den Binnenbereich der Literatur zu verlassen und die politische beziehungsweise gesellschaftliche Dimension des Werks und seines Autors in den Mittelpunkt zu stellen. Reich-Ranicki nahm den neuen Roman, der das Deutschland der Wiedervereinigung thematisiert, zum Anlass, Günter Grass, der sich seit seinem ­erfolgreichen Debüt der Blechtrommel von 1959 als Schriftsteller und politisch engagierte Stimme auf vielfältige Weise in der Bundesrepublik und darüber hinaus Gehör verschafft hatte, zu attestieren, dass dieser seit den 1960er Jahren als „Amateurpolitiker“47 agiere und nun von einem „heutigen Deutschland“ schreibe, das ihm, Reich-Ranicki, „ganz und gar mißfällt“. Es verschlage ihm die Sprache, dass Günter Grass der DDR „eine kleine Träne“ nachweine und in seinem Werk keine „Wut und keine Bitterkeit, keinen Zorn und keine Empörung“ über diesen „schreckliche[n] Staat“ zeige, der „Millio­ nen Menschen unglücklich gemacht“ habe. Kurz, der anerkannte Schrift­ steller und Repräsentant Günter Grass wisse gar nicht, wovon er rede und schreibe. 44  Herbert,

S.  1176 f. Der Spiegel, Nr. 34, 21.8.1995, Titelseite; ferner: … und es muß gesagt werden. Ein Brief von Marcel Reich-Ranicki an Günter Grass zu dessen Roman „Ein weites Feld“, ebd., S. 162–169. 46  Braun, S. 590. 47  Reich-Ranicki, Marcel: … und es muß gesagt werden. Die nachfolgenden Zitate ebd. 45  Vgl.



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Es war der Spiegel, der Marcel Reich-Ranicki darum gebeten hatte, das „mit mächtigem Wirbel promovierte Grass-Epos“48 zu würdigen, und der Kritiker hatte sich hierauf eingelassen und hierfür die Form des Offenen Briefs gewählt. Auf diese Weise konnte er ein Ziel erreichen, für das diese Kommunikationsform ideal zu sein scheint: Der Betroffene ließ sich direkt anreden, sodass Textformen umgangen wurden, in denen nur über ihn und damit deutlich distanzierter gesprochen worden wäre. Zugleich wurde jene Öffentlichkeit unmittelbar einbezogen, der die erklärte Fragwürdigkeit dieses Schriftstellers ebenso galt, weil die öffentliche Autorität und die gesellschaftliche Relevanz von Günter Grass nicht zuletzt auf einer öffentlich ausgehandelten und zugesprochenen Anerkennung basierte. Der Offene Brief diente damit einem sorgfältig inszenierten Medienskandal, dessen Sinn im Kern die öffentlich wieder zu verhandelnde Bedeutung von Günter Grass sowie der damit verbundenen allgemeinen Themenkomplexe Literatur und Politik, Umgang mit der DDR-Vergangenheit und Haltung gegenüber dem wiederver­ einigten Deutschland war.

IV. Wenn wir die drei vorgeführten Beispiele im Ganzen besehen, ist unschwer zu erkennen, dass es prominente Schriftsteller und Politiker waren, die als Verfasser und als Adressaten dieser Offenen Briefe in Erscheinung traten. Angesichts ihrer jeweiligen Bedeutung in der Öffentlichkeit ist dies wenig verwunderlich. Die Briefe fixierten Themen des öffentlichen Interesses und erzeugten aufgrund der beteiligten Personen eine besondere Aufmerksamkeit. Allerdings gab es allein in den zurückliegenden Jahrzehnten viele Offene Briefe, die trotz vergleichbarer Veröffentlichung keine besondere Resonanz erhielten, geschweige denn, dass sie einen Medienskandal darstellten. Wie ist das zu erklären? Wenn man diese Frage beantworten möchte, muss man zunächst noch einmal etwas genauer besehen, welche grundsätzlichen Eigenschaften und Kennzeichen einem Offenen Brief zukommen. Denn der Offene Brief stellt eine Kommunikationsform dar, bei der es unterschiedliche Grade von angestrebter beziehungsweise erlangter Aufmerksamkeit gibt. Grundsätzlich bietet der Offene Brief dem Einzelnen wie mehreren Personen die Möglichkeit, sich öffentlich mit einem Anliegen an eine oder mehrere konkrete Personen, Gruppen oder Institutionen zu wenden. Dabei ist, wie wir bereits festgehalten haben, das intendierte Mitlesen der Öffentlichkeit beziehungsweise die Öffentlichkeitswirkung ein konstitutives Merkmal dieser 48  Hausmitteilung

Betr. Günter Grass, in: Der Spiegel, Nr. 34, 21.8.1995, S. [3].

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Texte.49 Das formulierte persönliche Anliegen soll – im Gegensatz zum privaten Brief – die Öffentlichkeit erreichen und hierdurch wirksam werden. Dabei scheint mir in der einfachen Kenntnisnahme des Briefes durch andere, unbekannte und unbeteiligte Personen bereits eine Minimalform von Wirksamkeit gegeben. Ein Offener Brief vermag folglich sogar nur eine einfache Meinungsäußerung zu sein, die jedoch stets gekennzeichnet ist durch eine konkrete (briefliche) Anrede und den namentlich genannten Verfasser (der durchaus auch fiktiv sein kann). Eine solche Textform bietet somit beispielsweise die Option, dass eine Person einen Brief an den Bundespräsidenten verfasst, den sie ungefragt in einer Stadt an einigen Stellen wie etwa an einer Mauer in einer Einkaufsstraße, einer Bushaltestelle oder der Eingangstür eines öffentlichen Gebäudes anbringt. Aus naheliegenden Gründen ruft ein solches Vorgehen in der Regel wenig Aufmerksamkeit hervor. Denn der Brief erreicht zwar die Öffentlichkeit, doch ist damit auf Anhieb weder eine breite Öffentlichkeit angesprochen, noch scheint es wahrscheinlich, dass zugleich eine Aufmerksamkeit erzeugt wird, die bis zum angesprochenen Bundespräsidenten reicht. In erster Linie ist lediglich eine lokale, auf die entsprechenden Passanten begrenzte Öffentlichkeit angesprochen. Doch das Beispiel führt zwei Aspekte genauer vor Augen. Es veranschaulicht erstens, dass der Offene Brief grundsätzlich ein verfügbares Mittel darstellt, um öffentlich eine Äußerung abzugeben. Dies kann schlicht eine Meinungsäußerung oder aber ein Anliegen sein, das dem Schreiben einen Appell-Charakter verleiht. Deshalb ist grundsätzlich das Motiv – und damit die Wirkungsabsicht – des Verfassers zu betrachten, das zur Abfassung und Veröffentlichung eines solchen Briefes führt. Zweitens gilt es, die gewählte Form der Veröffentlichung und damit verbunden den namentlich angesprochenen Empfänger des Briefes zu besehen. Denn der gewählte Weg der Veröffentlichung ist – vor dem Hintergrund der hierbei bestehenden Möglichkeiten betrachtet – mitbestimmend für die anvisierte Aufmerksamkeit sowie die Absicht des Anliegens. Ein Offener Brief an den Bundespräsidenten, der in überregionalen Tageszeitungen als Anzeige erscheint, erreicht im Vergleich zur lokalen Straßenpublikation allein aufgrund der Präsenz in den gewählten Medien weit eher den direkt angesprochenen Adressaten sowie eine größere Öffentlichkeit beziehungsweise Aufmerksamkeit. Aus historischer Sicht stellen Offene Briefe folglich eine Quelle dar, die vielfältige Einblicke in die Motive, Formen und Mechanismen gesellschaft­ licher Kommunikation sowie die Bedeutung bestimmter angesprochener Themen in einer Gesellschaft ermöglicht. Allein für die Geschichte der politischen Kultur in Deutschland nach 1945 eröffnet sich hierüber eine weitere Zugangsmöglichkeit, die im Kontext auch zu anderen Formen wie beispiels49  Vgl.

Essig, S. 16; Müller, Sp. 64.



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weise den Bürgerbriefen oder den Petitionen zu besehen ist.50 In der Bundesrepublik fanden Offene Briefe seit den 1960er Jahren zunehmend Verbreitung, indem sie für einzelne Bürger, Interessengruppen, Künstler und Wissenschaftler zu einem gefragten Mittel der politischen Beteiligung und Auseinandersetzung wurden.51 Man griff damit auf eine etablierte Form zurück, die auch dazu geeignet war, der eigenen Empörung Ausdruck zu verschaffen und zugleich Empörung zu erzeugen. Doch nicht jeder Offene Brief rief auch einen Skandal oder sogar einen Medienskandal hervor. Kehren wir daher wieder zur Frage zurück, warum einige Offene Briefe Medienskandale auszulösen vermochten, es bei vielen dieser Veröffentlichungen jedoch nicht der Fall war. Es bedarf offensichtlich zunächst unbedingt einer besonderen Brisanz des Themas, die der Offene Brief aufgreift und die erst er auf eine bestechend treffende Weise derart zur Sprache bringt, dass die Medien ihn möglichst ungefiltert zur Wirkung zu bringen versuchen. In einem solchen Fall vermag der Brief potentiell Anstoß zu einem relevanten Thema zu geben oder zumindest einem gesellschaftlich akuten Thema eine neue Facette abzugewinnen, die diesem eine aufwühlende Aktualität sowie Aussicht auf Veränderung zu verleihen vermag. Im Falle von Marcel Reich-Ranicki war es die Rolle von Günter Grass als repräsentativer Schriftsteller im wiedervereinigten Deutschland, im Falle von Ralph Giordano und Bundeskanzler Kohl die mangelnde Eindämmung der ausländerfeindlichen und antisemitischen Gewalt und im Falle von Walter von Molo und Thomas Mann die Frage nach der Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen beziehungsweise die Haltung Thomas Manns und der Deutschen hierzu, die als Themen jeweils im Raum standen und deren Klärung noch offen, also ohne eine bereits eingesetzte Verfestigung in der (latent) vorhandenen Debatte waren. Gerade deshalb eigneten sich diese Offenen Briefe, deren Verfasser und Adressaten mit dem jeweiligen Thema repräsentativ in Verbindung standen, auch für einen Medienskandal. Anderen, nicht weniger brisanten Briefen fehlten hingegen teilweise diese Eigenschaften. Dies zeigt zum Beispiel der Offene Brief der beiden Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre und Günter Grass, der wenige Tage nach dem Beginn des Mauerbaus 1961 verfasst wurde und die Mitglieder des Deutschen Schriftstellerverbandes in der DDR aufforderte, entweder die Maßnahmen der Regierung öffentlich zu billigen oder zu verurteilen.52 In diesem hierzu Fenske. Essig, S. 295, S. 298. 52  Vgl. Grass, Günter/Schnurre, Wolfdietrich: An die Mitglieder des Deutschen Schriftstellerverbandes, in: Die Welt, 18.8.1961, abgedruckt bei Essig/Nikisch, S.  178 f. 50  Vgl. 51  Vgl.

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Falle reagierten die westdeutschen Medien bereits beim Abdruck zurückhaltend – die erste Veröffentlichung erschien relativ unauffällig in der Welt – und zeigten sich auch anschließend insgesamt überwiegend ablehnend.53 Einer möglichen Aussicht auf wirksamen Protest gegen den Mauerbau standen die totalitären Verhältnisse in der DDR entgegen, die die im Offenen Brief erhobene Forderung grundsätzlich problematisch machte. Man wird daher stets bei abgedruckten Briefen auch die Motive der Medien berücksichtigen müssen, die eine Veröffentlichung ermöglichten oder ablehnten. Wieviel weniger vermögen daher die vielen Offenen Briefe einen Medienskandal zu befördern, die nicht von prominenten Personen verfasst werden oder inzwischen in kaum überschaubarer Zahl im Internet erscheinen? Es war deshalb durchaus ungewöhnlich, geradezu untypisch, dass 1983 ein Offener Brief von drei völlig unbekannten Mitarbeiterinnen der Bonner Grünen im Bundestag zum Auslöser eines Medienskandals wurde. Zwar lässt sich nicht nachweisen, wie der Text an die Medien gelangte. Im Rückblick äußerte eine der befragten Verfasserinnen, der Text sei „eindeutig aus politischem Kalkül“54 lanciert worden. Doch an diesem Ort war es nicht unwahrscheinlich, dass ein solcher Brief nicht nur im internen Kreis bleiben würde. Losgelöst von der Absicht, waren es schließlich die Weitergabe dieses Textes und das politische Interesse der zum Axel-Springer-Verlag gehörenden Bild am Sonntag am Thema, die ein skandalöses Thema zu einem Medienskandal machten. Nicht ohne Grund sprach die Zeitung anstelle des Offenen Briefs nur vom Flugblatt.

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Essig/Nikisch, S. 191. S. 126.

54  Klein,



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