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German Pages 443 [444] Year 2006
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger
Band 105
Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert
Herausgegeben von Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnh.ddb.de abrufbar. ISBN-13: 978-3-484-35105-9
ISBN-10: 3-484-35105-5
ISSN 0174-4410
€> Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag G m b H , München http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Christine Brandtner und Bettina Bauer, beide Darmstadt Druck: Laupp & Göbel G m b H , Nehren sowie A Z Druck und Datentechnik G m b H , Kempten Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Inhaltsverzeichnis
Hans-Edwin Friedrich / Fotis Jannidis / Marianne Einleitung
Willems IX
I Theorie Wolfgang Ruppert Anmerkungen zum Verhältnis von Sozial- und Kulturgeschichte
3
Alois Hahn Bürgerliche Kultur als menschliche Bildung
15
Michael Maurer Kultur und bürgerliche Vergesellschaftung
31
Angelika Linke »Ich«: Zur kommunikativen Konstruktion von Individualität. Auch ein Beitrag zur kulturellen Selbsterfindung des >neuen< Bürgertums im 18. Jahrhundert
45
TT Zur Semantik des Bürgerbegriffs Cornel Zwierlein Das Glück des Bürgers. Der aufklärerische Eudämonismus als Formationselement von Bürgerlichkeit und seine Charakteristika
71
Carsten Zelle Mündigkeit und Selbstgefühl. Versuch über das aufgeklärte Subjekt am Ende des 18. Jahrhunderts
115
Friedrich Vollhardt Die Bildung des Bürgers. Wissensvermittlung im Medium der Moralischen Wochenschrift
135
VI Hans-Edwin Friedrich »Nur der wahre Weltbürger kann ein guter Staatsbürger sein«. Zur Reflexion des Bürgerbegriffs im Werk Christoph Martin Wielands . . . .
149
III Bürgerlichkeit und Literatur Marianne Willems Individualität - ein bürgerliches Orientierungsmuster. Zur Epochencharakteristik von Empfindsamkeit und Sturm und Drang . . . .
171
Katja Meilmann Das Buch als Freund - der Freund als Zeugnis. Zur Entstehung eines neuen Paradigmas für Literaturrezeption und persönliche Beziehungen, mit einer Hypothese zur Erstrezeption von Goethes Werther
201
John A. McCarthy Faktum und Fiktion. Die Darstellung bürgerlicher Schichten zur Zeit des Sturm und Drang
241
Hans-Jürgen Lüsebrink Plebejische Sichtweisen. Zur Wahrnehmung und Semantik des Bürgertums in populären Autobiographien und Druckwerken des 18. Jahrhunderts . . . .
269
Marisa Siguan Einheit der Poetik und Geburt der Nationalliteraturen. Juan Andres Ansatz zwischen Deskription und normativer Wertung versus Herders Universalismus
285
IV Bürgerliches Trauerspiel Lothar Pikulik »Sonst ist alles besser an Euch, als an Uns«. Über Odoardos Lobrede auf die Frau in Emilia Galotti
303
Teruaki Takahashi »Identitätskrise« und die diskursive Formierung der bürgerlichen Subjektivität in Lessings bürgerlichem Trauerspiel Miß Sara Sampson . . . .
323
VIT Hartmut Reinhardt Märtyrerinnen des Empfindens. Lessings Miß Sara Sampson als Fall von Richardson-Rezeption
343
Erich Schön Schillers Kabale und Liebe: (K)ein bürgerliches Trauerspiel. Schiller und Otto von Gemmingens Der deutsche Hausvater
377
Hans-Edwin Friedrich / Fotis Jannidis / Marianne Willems
Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert
Die These, die Literatur im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sei bedingt durch den >Aufstieg des BürgertumsAufstieg des Bürgertums< den theoretischen Unterbau und damit die Erklärungskraft entzogen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes halten am Projekt der Korrelierung von Gesellschafts- und Ideengeschichte fest und zeigen, daß der >Aufstieg des Bürgertums< bestenfalls eine unglückliche Formel für einen ausgesprochen komplexen gesellschaftsstrukturellen und kulturellen Umbau ist, der mit den alten Theorieformeln der >kausalen Bestimmung< und der >Widerspiegelung< nicht annähernd erfaßt werden kann. >Bürgerlichkeit< bleibt eine unverzichtbare Kategorie literarhistorischer Analysen zum 18. Jahrhundert. Diese Kategorie gilt es jenseits der problematisierten geschichtsphilosophischen Grundlagen neu zu bestimmen. Um den folgenden Beiträgen einen angemessenen Rahmen zu geben, wird die Einleitung den Begriff des >Bürgers< in der Semantik des 18. Jahrhunderts rekonstruieren (1.), dann die Genese des Konzepts vom >Aufstieg des Bürgertums< als entscheidende Erklärungsvariable für die Entwicklung der Literatur in der Literaturwissenschaft skizzieren (2.) und zuletzt Theorieperspektiven erläutern, die den Zusammenhang von Gesellschaft und Literatur angemessener modellieren (3.).
1. Zur Semantik des B e g r i f f s »Bürger« im 18. Jahrhundert Die These von einer Emanzipation des Bürgertums, die sich im 18. Jahrhundert vollzogen habe, setzt eine Kompaktheit des Begriffs voraus, von der keine Rede sein kann. Im Gegenteil ist gerade in den entscheidenden Jahrzehnten eine außerordentliche Vielgestaltigkeit der Semantik zu verzeichnen. Heinrich Godfried Scheidemantel, an einer begrifflich distinkten, juristisch validen Definition interessiert, unterschied zwar den Bürger »nach besonderer« von dem »in allgemeiner« Bedeutung, mußte darüber hinaus aber feststellen: »Man findet Untertanen, die keine Bürger sind, z.B. Fremde oder Knechte; andere sind zugleich Bürger. Hinge-
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Hans-Edwin
Friedrich / Fotis Jannidis / Marianne
Willems
g e n gibt es B ü r g e r , die nicht U n t e r t a n e n sind, z.B. der M o n a r c h . « 1 D i e s e s e m a n t i s c h k o m p l i z i e r t e Situation zeigt an, w a s die sozialhistorische F o r s c h u n g
der
1970er J a h r e k o n s t a t i e r e n wird: » Z u m B ü r g e r t u m als der S u m m e der nichtadelig e n , n i c h t b ä u e r l i c h e n u n d n i c h t u n t e r s t ä n d i s c h e n K r ä f t e n g e h ö r e n so h e t e r o g e n e S c h i c h t e n und G r u p p e n , d a ß v o n einer E i n h e i t nichts z u e r k e n n e n ist.« 2 Z u unters c h e i d e n sind hier z w e i v e r s c h i e d e n e P r o b l e m e : z u m e i n e n ist die B e d e u t u n g v o n » B ü r g e r « mit all seinen A b l e i t u n g e n n i c h t eindeutig; z u m z w e i t e n b e s t e h t U n k l a r heit über die K o r r e l a t i o n z w i s c h e n d e m B e g r i f f und seiner s o z i a l h i s t o r i s c h e n R e f e renz. W e i t e r e S c h w i e r i g k e i t e n e r g e b e n sich im 18. J a h r h u n d e r t aus der M i s c h u n g p r ä s k r i p t i v e r u n d deskriptiver E l e m e n t e im B e g r i f f . D i e s e P r o b l e m l a g e w i r d d u r c h den h i s t o r i s c h e n W a n d e l der S e m a n t i k n a c h 1750 zusätzlich e r s c h w e r t . A m E n d e dieser E n t w i c k l u n g steht die K o n z e p t i o n der » b ü r g e r l i c h e n G e s e l l s c h a f t « als j u r i s t i s c h e G r u n d l a g e des m o d e r n e n Staates. 3 M a n f r e d R i e d e l hat f ü r das 18. J a h r h u n d e r t vier v e r s c h i e d e n e g ä n g i g e B e d e u t u n g e n des W o r t e s » B ü r g e r « h e r a u s g e a r b e i t e t : der S t a d t b e w o h n e r ; das M i t g l i e d des b ü r g e r l i c h e n S t a n d e s i m G e g e n s a t z z u m Geistlichen, A d e l i g e n und B a u e r n ; d e n Staatsuntertan; schließlich d e n M e n s c h e n als » B ü r g e r « . 4 D a r ü b e r h i n a u s erlebt
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Heinrich Godfried Scheidemantel: Repertorium des tentschen Staats- und Lehnsrechts. Bd. 1. Leipzig 1782, S. 439. Franklin Kopitzsch: Einleitung. Die Sozialgeschichte der deutschen Aufklärung als Forschungsaufgabe. In: Ders. (Hg.): Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland. Zwölf Aufsätze. München 1976, S. 11-169; Zitat S. 37. Vgl. Manfred Riedel: Gesellschaft, bürgerliche. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2. E-G. Stuttgart 1972, S. 719-800; John Keane: Despotismus und Demokratie. Über die Unterscheidung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat 1750-1850. In: Jürgen Kocka (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Bd. 1. München 1988., S. 303-39; Lothar Gall: Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. München 1993. Manfred Riedel: Bürger, Staatsbürger, Bürgertum. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Α-D. Stuttgart 1972, S. 672-725; hier vgl. S. 681. Vgl. Jürgen Kocka: Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutsche Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert. In: Ders. (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen 1987, S. 21-63; bes. S. 27ff.; Jürgen Kocka: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten. In: Ders. (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. München 1988. Bd. 1, S. 11-76; bes. S. 33ff.; Ulrike Spree: Die verhinderte >Bürgerin